Verräter: Geschichte eines Deutungsmusters [1 ed.] 9783412511920, 9783412221867

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Verräter: Geschichte eines Deutungsmusters [1 ed.]
 9783412511920, 9783412221867

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Verräter André Krischer (Hg.)

Geschichte eines Deutungsmusters

André Krischer (Hg.)

Verräter Geschichte eines Deutungsmusters

Böhlau Verlag wien köln weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Judas, den Beutel mit den dreißig Silberlingen in der Hand, führt die Tempelwächter zu Jesus, der im Garten Getsemani betet. Das Fresko aus einem 46-teiligen Zyklus von Bildern aus dem Leben Jesu und Mariens in der Kapelle Sveta Marija na Škriljinah (Kroatien) wurde um 1470 von Vincenzo da Castua geschaffen. (Aufnahme: André Krischer). Korrektorat  : Ulrike Weingärtner, Gründau Einbandgestaltung  : Guido Klütsch, Köln Satz  : Michael Rauscher, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51192-0

Inhalt André Krischer

Von Judas bis zum Unwort des Jahres 2016  : Verrat als Deutungsmuster und seine Deutungsrahmen im Wandel. Eine Einleitung.. . . . . . . . . .

  7

Fabian Schulz

Brutus, Tyrannen- oder Vatermörder  ? Machtkampf und Deutungshoheit ..

 45

Gerald Schwedler

Tassilo III. als Verräter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 57

Ulrich Hoffmann

Verräter in der Literatur des Mittelalters. Zu Dantes ›Göttlicher Komödie‹, zum ›Rolandslied‹, ›Prosalancelot‹ und ›Nibelungenlied‹.. . . . . . . . . .

 67

Gabriele Haug-Moritz

Verraten und verraten werden. Herzog Moritz von Sachsen (1521–1553) und François de Lorraine, duc de Guise (1520–1563) . . . . . . . . . . . .

 93

Tim Neu

Meutmacher, rebellen undt Landsverräther. Warum die hessischen Ritter 1623 als Verräter galten und schon 1625 niemand mehr darüber sprach.. .

115

Andreas Pečar

Könige als Verräter  ? Die Hinrichtungen Karls I. von England und Ludwigs XVI. von Frankreich als blutige Übergangsrituale republikanischer Staatsgründung . . . . . . . . . . . . .

137

Tilman Haug

»Eine Unvereinbarkeit der Chargen«  ? Wilhelm von Fürstenberg (1629–1704) als Verräter an Kaiser und Reich . . . . . . . . . . . . . . . .

153

André Krischer

›Papisten‹ als Verräter. Gewaltimaginationen und Antikatholizismus im frühneuzeitlichen England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Volker Depkat

Der Name des Verrats. Benedict Arnold und die Amerikanische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Oberhofer

Franz Raffl, der »Judas von Tirol«. Zur Konstruktion und Dekonstruktion einer Verräterfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213

Katrin Dircksen

Malinche. Von der indigenen Dolmetscherin zur Verräterin und Mutter der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

Fabian Thunemann

»Ich halte es für meine Pflicht …« Verrat und Verschwörungsdenken im Stalinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

Malte Zierenberg

Verrat und Volksgemeinschaft. Der Fall Ernst Röhm.. . . . . . . . . . . .

281

Massimiliano Livi

Verrat und Loyalität in Italien 1943–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

Olaf Stieglitz

Bilder der Rosenbergs. Die Visualisierung von Verrat in den USA im frühen Kalten Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

315

Peter Hoeres

Verrat der Neuen Ostpolitik. Die Mobilisierung einer diskursiven Ressource. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331

Die Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

347

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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André Krischer

Von Judas bis zum Unwort des Jahres 2016  : Verrat als Deutungsmuster und seine Deutungsrahmen im Wandel Eine Einleitung

Verratsvorwürfe haben seit einiger Zeit wieder Konjunktur.1 Ließen sich noch vor zehn Jahren nur mit einiger Mühe Beispiele dafür zusammentragen, so änderte sich dies nachhaltig, seit der NSA-Mitarbeiter Edward Snowden im Sommer 2013 zahlreiche vertrauliche Dokumente dieses US-amerikanischen Geheim­diensts der Presse zuspielte und anschließend über Umwege in Russland Zuflucht suchte.2 Bald darauf meldeten sich amerikanische Politiker zu Wort, die die Weitergabe der geheimen Dokumente als Verrat und Snowden als Verräter (traitor) bezeichneten. Solche Vorwürfe wurden nicht nur von Konservativen wie Dick Cheney, sondern auch vom damaligen demokratischen Außenminister John Kerry erhoben.3 Die Frage, ob Snowden wirklich Verrat im strafrechtlich relevanten Sinne der amerikanischen Verfassung begangen hatte, wurde publizistisch ausführlich diskutiert und unterschiedlich beantwortet. Die Strafverfolgungsbehörden machten sich den Vorwurf zwar nicht zu eigen – Snowden wird wegen Spionage gesucht.4 Das ändert aber nichts daran, dass Snowden für viele Amerikaner zumindest im moralischen Sinne ein Verräter (traitor) ist und der Begriff nach langer Zeit wieder an Aktualität gewann. Hochverräter, Superverräter, Volksverräter  : Auch die neuen rechtsextremen und populistischen Protestbewegungen bedienen sich des Begriffs und imaginieren etwa Hochverratsprozesse gegen die Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere Regierungspolitiker.5 Indem sie die Strafe gleich mit imaginieren, 1 Ich danke allen BeiträgerInnen für ihre Geduld, der Band hat lange gebraucht. Viele Beiträge wurden bereits lange vor dem Erscheinen eingereicht. Ich danke Laura Günther, Julia Möhlmann, Miklas Böhmer und Christian Froese für ihre Mitarbeit an der Fertigstellung des Bands. 2 Vgl. dazu im Detail Greenwald, The surveillance state. Greenewald war ein Journalist, dem Snowden die Dokumente zugespielt hatte. 3 Hertzberg, Hendrik, Some Dare Call It Treason, in  : The New Yorker, 28.6.2013. 4 Broughton, The Snowden Affair and the Limits of American Treason. 5 Zwischen September und Oktober 2015 wurden bei Google besonders häufig die Begriffe ›Merkel‹ und ›Hochverrat‹ gesucht  ; diese Häufung wiederholte sich im August 2017 (Quelle  : Google Trends).

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André Krischer

werden ihre Kundgebungen zu Tribunalen. Die »sehr lange[] Gefängnisstrafe«, zu der Demonstranten im oberbayerischen Traunreut Angela Merkel Ende ­Januar 2016 verurteilten, wirkt dabei noch fast milde im Vergleich zum Tod durch den Strang, den ›Pegida‹-Anhänger der Kanzlerin und dem Bundesminister Sigmar Gabriel im Oktober 2015 in Dresden wegen »Volksverrats« androhten und durch eine Galgenattrappe auch visualisierten.6 Bei den Aufmärschen von ›Pegida‹ und ähnlichen rechtspopulistischen Gruppierungen gehört das Wort ›Volksverräter‹ – eine Vokabel aus der Sprache des Nationalsozialismus – zum festen Bestand im Arsenal der Schmähungen.7 Der Verratsbegriff kommt im neurechten Milieu auf ganz unterschiedliche Weise zum Ausdruck  : Er wird bei Aufmärschen skandiert und auf Banner geschrieben.8 Vor allem aber ist er in den ›Sozialen Medien‹ und den neurechten ›Filterblasen‹ präsent, wo die Bezichtigung Verräter gegenüber Politikern aus dem demokratischen Spektrum geradezu topisch ist und unzählige Male gebraucht wird. ›Verräter‹ und ›Verrat‹ sind ganz offenbar zu Grundbegriffen eines rechtspopulistischen ›Shitstorms‹ geworden – und in der Variante ›Volksverräter‹ zum Unwort des Jahres 2016. Auch außerhalb Deutschlands konnte man den Begriff registrieren  : In der Türkei gelten z. B. die Putschisten aus dem Juli 2016 als Verräter. Es war sogar geplant, sie auf einem eigenen ›Verräterfriedhof‹ (Hainler Mezarlığı) bei Istanbul zu verscharren.9 Präsident Erdoğan begründete im Juli 2017 seine Unterstützung zur Wiedereinführung der Todesstrafe ebenfalls mit der Notwendigkeit härtester Maßnahmen gegen Verräter.10 Kritiker seines autoritären Kurses wie der Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu klagen ihrerseits über Hassmails von Deutschtürken, die mich als Vaterlandsverräter sehen.11 In Polen schmähte Ende Juli 2017 der Vorsitzende der Partei PiS, Jarosław Kaczyński, bei einer Parlamentsdebatte die Vertreter der Opposition als Verräter. Der Begriff (zrdada)

 6 Locke, Stefan, Scharfe Kritik an Pegida-Demonstranten in Sachsen, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2015, Nr. 239, 4.   7 Der Begriff wurde nicht erst von den Nationalsozialisten geprägt, aber doch von ihnen maximal mobilisiert und zur Grundlage der Justizmorde des ›Volksgerichtshofs‹ gemacht, vgl. Wagner, Der Volksgerichtshof.  8 »Heidenau  : Merkel guckt nach dem Rechten«, http://www.sueddeutsche.de/politik/merkel-in-hei denau-kanzlerin-guckt-nach-den-rechten-1.2622610-3 (3.4.2018)  ; Geyer, Christian, Die Unkultur in Reinkultur, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.9.2017, Nr. 213, 13.   9 »Turkey builds ›traitors’ cementry‹ for insurgents who died in failed coup«, https://www.theguar dian.com/world/2016/jul/28/turkey-builds-traitors-cemetery-for-insurgents-who-died-in-failed-coup (3.4.2018). Offenbar wurde von dem Vorhaben aber wieder Abstand genommen. 10 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.7.2017, Nr. 163, 1. 11 »Yücel soll freikommen, aber …«, http://www.zeit.de/politik/2017-03/deniz-yuecel-deutschtuerkentuerkei-pressefreiheit-protest (3.4.2018).

Von Judas bis zum Unwort des Jahres 2016 

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gehört auch hier seit einiger Zeit wieder zur politischen Sprache.12 In England lancierte im Oktober 2016 ein konservativer Politiker eine Petition mit dem Ziel, die Verwendung von Symbolen der EU oder Proteste gegen den Brexit in die Hochverratsgesetzgebung aufzunehmen.13 Umgekehrt stellte die vielgelesene Juristenzeitung New Law Journal im Juni 2017 die Preisfrage, ob die sich als unwahr herausgestellten Behauptungen der Brexit-Befürworter während der Kampagne als Hochverrat (high treason) einzustufen seien.14 Nicht vergessen sei hier der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, der die zurückhaltenden Reaktionen der Demokraten auf seine Rede zur Lage der Nation im Februar 2018 als treasonous bewertete.15 Den einen dienen die Begriffe ›Verräter‹ und ›Verrat‹ (und ihre Entsprechungen in anderen Sprachen) also dazu, um Praktiken und (angebliche) Normbrüche als besonders schändlich, verächtlich, niederträchtig und gemeingefährlich zu charakterisieren. Andere kritisieren wiederum eben solche Verratsvorwürfe als bedenklich, infam oder skandalös. Für den Historiker Andreas Wirsching sind die aktuellen ›Volksverräter‹-Vorwürfe beispielsweise Indizien für eine gefährliche Polarisierung des Politischen.16 Es ist jedenfalls kein Zufall, dass der Begriff des Verrats derzeit genauso Konjunktur hat wie der Rechtspopulismus. Definiert man diesen nämlich im Sinne des Politologen Jan-Werner Müller durch seine antipluralistische Logik, durch den Anspruch, das ›wahre Volk‹ zu sein oder es allein zu repräsentieren, dann erscheint Verrat geradezu als einer seiner Grundbegriffe  : Verräter sind diejenigen, die nicht umstandslos den Willen des ›wahren Volkes‹ exekutieren, oder aber, aus Sicht der populistischen Führer, diejenigen, die andere Meinungen, Positionen und Werte vertreten als dieses ›wahre Volk‹.17 In beiden Fällen ist dieses ›wahre Volk‹, das als vollkommen homogene Einheit mit einem klaren Willen vorgestellt wird, nichts anderes als eine Fiktion – allerdings eine handlungsleitende Fiktion, die die neue Konjunktur der Verrats erklärbar macht. Wenn der »Verrat im 20. Jahrhundert« – so der Titel des vierbändigen Werks von Margret Boveri (1956–1960) – vor allem 12 Dehnel, Jacek, Sprache der verbrannten Erde. Wenn die Opposition zum Todfeind wird und das Parlament zum Werkzeug der Rache  : Besichtigung der rhetorischen Schlachtfelder in Polen, in  : Süddeutsche Zeitung, 29.7.2017, 15. 13 »Calls for UK to rejoin EU ›should be treason‹, urges Tory petition«, https://www.theguardian. com/politics/2016/oct/17/call-to-keep-uk-in-eu-should-be-treason-urges-tory-councillors-petition (3.4.2018). 14 »Brexit  : Treason felony  ?«, https://www.newlawjournal.co.uk/content/brexit-treason-felony (3.4.2018). 15 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.2.2018, Nr. 32, 4. 16 Wirsching, Andreas, Appell an die Vernunft, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.4.2017, Nr. 95, 8. 17 Müller, Was ist Populismus  ?, 130.

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als Loyalitätsverletztung gegenüber der jeweiligen Nation verstanden wurde, dann ist der Verrat, dann sind die Verratsvorwürfe im 21.  Jahrhundert nicht ohne diese antipluralistische Logik zu verstehen.

Verrat als Deutungsmuster Wie kann aber nun die historisch-kulturwissenschaftliche Forschung mit diesem Begriff umgehen  ? Was kann dieser Band zur Diskussion beitragen  ? Die Antwort darauf muss zunächst berücksichtigen, wie in diesem Forschunsgfeld bislang mit dem Begriff des Verrats umgegangen wurde. Der grundlegende Aufsatz des Juristen und Schriftstellers Bernhard Schlink scheint mir dafür in paradigmatischer Weise zu stehen  : Schlink definiert den Begriff durch seine triadische Struktur  : »Der Verrat hat drei Beteiligte  : den Verräter, den Verratenen und den, an den der Verräter den Verratenen verrät, den Nutznießer des Verrats.«18 In dieser Dreiecksbeziehung handelt es sich demnach bei den Verrätern stets um Personen (auch um juristische Personen), beim Verratenen aber nicht unbedingt  : »Man kann ein Geheimnis verraten, eine religiöse Gewißheit, eine politische Überzeugung, eine Liebe, eine Aufgabe, die Revolution.« Auch der dritte Eckpunkt des Verrats sei amorph, »kann der Nutznießer des Verrats die Gestalt von allem haben, woran man ausgeliefert werden kann. Er kann eine Person, eine Sache, eine Idee und eine Situation sein«.19 Neben dieser triadischen Struktur definiert Schlink Verrat auch durch verschiedene »Spielarten« wie Verleugnung, Denunziation, Kollaboration, Korruption, hochverräterischer Umsturz sowie, unter bestimmten Umständen, auch Renegaten- und Konvertitentum. Zudem gibt es nicht nur den ›bösen‹, sondern auch den ›guten‹ Verrat (z. B. Whistleblowing), im Falle von Judas sogar den heilsnotwendigen Verrat. Mit Margret Boveri erinnert Schlink zudem auch an vielfach konkurrierende Loyalitäten als einem Signum der Moderne »und die daraus folgende Fülle von Verratssituationen«, nicht zuletzt im Milieu der Intellektuellen. Schlink entwirft hier einen Begriff von Verrat, der dazu dienen kann, unterschiedliche Konstellationen, Figurationen und Szenarien von Loyalitäts- und Vertrauensbrüchen zu beschreiben. Es handelt sich also um ein analytisch-interpretatives Konzept von Verrat, das in der kulturwissenschaftlichen Forschung 18 Schlink, Der Verrat, 14. Auf die triadische Struktur des Verrats haben auch schon aus sozialpsychologischer Sicht Åkerström, Betrayal and betrayers, 27 und Schehr, Sociologie de la trahison, 317, verwiesen. 19 Schlink, Der Verrat, 14.

Von Judas bis zum Unwort des Jahres 2016 

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in den vergangenen zwanzig Jahren vielfach und mit großem Erkenntnisgewinn eingesetzt wurde.20 Versteht und definiert man Verrat als eine Art von Oberbegriff für die Varianten von Treulosigkeit und Geheimnispreisgabe, dann sind »die Beispiele für Verrat in der Geschichte« allerdings »Legion«21, dann hat es den Anschein, als ob es sich dabei um eine »zentrale anthropologische Grundkonstante« handelt.22 Dieser Band verfolgt indes einen anderen Ansatz. Es geht nicht darum, bestimmte Vorgänge oder Ereignisse als Verrat zu interpretieren. Ebenso wenig geht es (primär) um die Frage, was Verrat eigentlich ›ist‹, oder darum, wie jemand zum Verräter wird. Eine solche Herangehensweise tendiert dazu, das Phänomen Verrat zu essenzialisieren, ihm also eine überhistorische Substanz beizulegen.23 Daher präsentiert dieser Band auch keine Geschichte ›berühmter Verräter‹, weil auf diese Weise ebenfalls eine feststehende Figur vorausgesetzt wird, die dann nur noch in unterschiedlicher Weise Gestalt annimmt.24 Stattdessen fokussieren die Beiträge das Deutungsmuster ›Verrat‹ bzw. ›Verräter‹. Es geht also um die Geschichte von Zuschreibungen und Stigmatisierungen, darum, wie die Etiketten ›Verrat‹ und ›Verräter‹ unterschiedlichen Vorgängen und Personen angeheftet wurden.25 Das impliziert auch die Frage nach der Haltbarkeit dieser Etiketten 20 Ein analytisches Konzept von Verrat liegt auch schon der Pionierstudie von Boveri, Der Verrat im 20. Jahrhundert, zugrunde, vgl. ferner für diesen Ansatz z. B. Ben-Yehuda, Betrayal and treason  ; Javeau/Schehr, La trahison  ; Thiranagama/Kelly, Traitors  ; Danzer, Zwischen Vertrauen und Verrat  ; Giorello, Il tradimento  ; Engelhardt, Verrat  ; Flores, Traditori  ; Brittnacher, Verräter  ; Margalit, On betrayal. Eine Sonderstellung nimmt hier die Studie von Horn, Der geheime Krieg, ein, insofern die Verfasserin hier Schriftsteller, Publizisten und Filme dabei beobachtet, wie diese Verrat als Zeitund Ereignisdiagnose einsetzen. 21 Hofmann, Das Trauma des Verrats in der Arbeiterbewegung, 9. 22 Seidenglanz, »Wer hat uns verraten  ?«, 218. 23 Dazu tendieren auch soziologische und sozialpsychologische Arbeiten, vgl. Arndt, Vernunft und Verrat  ; Petitat, Secret et formes sociales  ; Pozzi, Le paradigme du traître  ; Schehr, Traîtres et trahisons. Vor allem die althistorische und mediävistische Forschung hat gezeigt, wie fruchtbar es ist, Verrat für eine bestimmte Epoche zu untersuchen, vgl. Billoré/Soria/Aurell, La trahison au ­Moyen Âge  ; Queyrel-Bottineau/Couvenhes/Vigourt, Trahison et Traîtres dans l’Antiquité  ; Montecchio, Tradimento e traditori nella Tarda antichità  ; für die neuere Geschichte vgl. aber auch Cornwall, Traitors and the meaning of treason, und aus sprachwissenschaftlicher Sicht mit Bezug auf die Weimarer Republik Seidenglanz, »Wer hat uns verraten  ?«. 24 So etwa bei Wharam, Treason  ; Pollet, Figures du traître  ; Pryce-Jones, Treason of the heart  ; Anceau, Les traîtres et autres Judas de l’histoire  ; Webb, First World War trials and executions  ; Schreiber, Verräter  ; Archer, Treason in America  ; Chaitkin, Treason in America. 25 Damit folgt der Band einem Ansatz, den auch schon Olaf Stieglitz in Bezug auf das Phänomen Denunziation verfolgt, wenn er schreibt  : »Ich will zeigen, wie der Begriff und die Figur des Denunzianten kreiert, mit Sinn besetzt, verhandelt, umkämpft und repräsentiert worden sind«, Stieglitz, Undercover, 24 f. Zur Etikettierungstheorie vgl. Schwerhoff, Historische Kriminalitätsforschung, 35–37.

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und den Gründen für ihre Ablösung. Zudem muss die Zuschreibung als Verräter oder Verrat in irgendeiner Weise von den Zeitgenossen öffentlich vollzogen und öffentlich verhandelt worden sein. Der Blick richtet sich also auf die Frage, was von wem als Verrat oder als verräterisch bezeichnet wurde, wie dieser Vorwurf erhoben und lanciert wurde, welche medialen Ressourcen dazu mobilisiert wurden oder welche institutionellen Voraussetzungen dafür sorgten, dass dieses Etikett haften blieb – zu denken ist hier etwa an Gerichtsprozesse und Gerichtsurteile oder an die zeitgenössische Traditionsbildung, z. B. durch Geschichtsschreibung oder Verbildlichung. Wenn Verrat in diesem Sinne als Deutungsmuster verstanden wird, dann hat man es mit einem nicht allein kleineren, sondern auch genauer umrissenen Gegenstandsfeld zu tun als bei der Verwendung von Verrat als Analysekategorie. Daher behandeln die Beiträge dieses Bandes auch nur Fälle, bei denen tatsächlich von Verrat und Verrätern (bzw. den Entsprechungen in anderen Sprachen) oder von unmittelbaren semantischen Äquivalenten (Judas, Eidbrecher) die Rede war. Die Fallstudien und Essays erschöpfen sich dabei aber nicht in wort- und begriffsgeschichtlicher Arbeit, sondern fragen auch danach, welche Rolle die Semantik des Verrats bei politischen, sozialen, rechtlichen oder religiösen Konflikten oder in der Erinnerungskultur spielte oder inwiefern sie als Zeitdiagnose virulent wurde.

Deutungsrahmen Ohne Frage dürfte Verrat im Sinne eines Loyalitäts- und Vertrauensbruchs in allen vor- und frühmodernen Gesellschaften, die als Personenverbände organisiert waren oder auf einer Art Lehensordnung beruhten, die jedenfalls auf Treueversprechen aufbauten, ein Problem dargestellt haben. Derartig organisierte Gesellschaften und entsprechende Verratsdiskurse gab es nicht nur in Europa, sondern auch in den alten Hochkulturen der Welt, in Asien, Afrika oder Südamerika.26 Gleichwohl haben sich durch die antiken sowie durch die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen europäischen Diskurszusammenhänge bestimmte Deutungsrahmen ausgebildet. Seine dezidiert pejorative Sinnaufladung, seinen Status als dramatischer Inbegriff der Niedertracht, hat der Begriff des Verrats vor allem durch zwei Traditionsstränge erlangt  : durch die christliche Tradition mit der Figur des Judas einerseits und als Kategorie des Strafrechts seit der grie26 Vgl. z. B. Faruqui, The Princes of the Mughal Empire, 240 f.; La Garza, The Mughal Empire at War, 165 f.; Mote, Imperial China 900–1800, 98 f.; Somervill, Empire of the Aztecs, 88 f.; Kilinçoglu, Economics and capitalism in the Ottoman Empire, 188 f.

Von Judas bis zum Unwort des Jahres 2016 

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chisch-römischen Antike andererseits. Durch das Strafrecht, und hier vor allem in seiner anglo-amerikanischen Variante, erfuhr das juristische Verratskonzept seit dem 18. Jahrhundert zudem eine globale Diffusion, es überformte oder ergänzte vielfach lokale Traditionen. Inwiefern das auch für die Judasfigur gilt, die im Laufe der Zeit in gewissem Maße säkularisiert wurde, bliebe zu prüfen. Mit einiger Sicherheit lässt sich aber sagen, dass Verrat in seinen landessprachlichen Varianten heute auf der Welt einen vergleichbaren und vergleichbar dramatischen Klang besitzt und dass dies auch auf die europäischen Traditionsmuster zurückzuführen ist. Da beide Deutungsrahmen und Traditionsstränge für die in diesem Band erzählten Verräter- und Verratsgeschichten wichtig sind, sollen sie im Folgenden zumindest skizziert werden. Ihre Verbreitungswege und Grenzen werden zum Teil in den Beiträgen dieses Bandes thematisiert oder aber bleiben Gegenstand einer noch zu schreibenden Globalgeschichte des Verrats.

Der Judasverrat Um Judas Iskariot kommt eine Geschichte des Verrats nicht herum. »In ihm personifiziert sich […], was den Verrat im Verständnis der Zeitgenossen kennzeichnete – das verräterische Handeln als Ursache wie Ausdruck des Umsturzes der göttlichen wie weltlichen Ordnung«, so formuliert es Gabriele Haug-Moritz in diesem Band.27 Der Evangelist Markus, von dem wohl die älteste Darstellung der Szene am Ölberg stammt, spricht von Judas als dem paradidous und von seinem Handeln als paradidomi, was so viel bedeutet wie jemanden auszuliefern, der gerichtlich gesucht wird. Die anderen drei Evangelisten sind Markus bei dieser Wortwahl – Judas als ›Auslieferer‹ (paradidous) – zwar gefolgt, verzichteten aber nicht darauf, die Tat und die Beweggründe des Judas auszuschmücken und zu dramatisieren. Bei Lukas heißt es etwa, der Satan sei in Judas gefahren, als dieser zu den Hohenpriestern und den Hauptleuten [ging und mit ihnen beriet], wie er Jesus an sie ausliefern könnte.28 An einer Stelle spricht dann auch Lukas von Judas wörtlich als Verräter (prodotis).29 Obwohl es sich bei der Tat des ­Judas auch aus der Sicht der Evangelisten um ein heilsnotwendiges Geschehen handelte, das sie Jesus selbst an verschiedenen Stellen vorhersehen ließen30, so 27 Vgl. S. 101. 28 Lk 22, 4, nach der deutschen Einheitsübersetzung. 29 Lk 6, 16. 30 Etwa bei Mk 14, 21 (Einheitsübersetzung)  : Der Menschensohn muss zwar seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt. Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre.

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ließen sie aber auch keinen Zweifel daran, dass der Verrat eine teuflische Sache war – und sie verliehen dem bereits im griechischen Strafrecht bekannten Begriff prodosia damit zugleich einen neuen, zugespitzten Sinngehalt. Bei Johannes wird Judas wegen seines Verrats sogar zum Teufel selbst, wenn Jesus beim Abendmahl fragt  : Habe ich nicht euch, die Zwölf, erwählt  ? Und doch ist einer von euch ein Teufel. Er sprach von Judas, dem Sohn des Simon Iskariot  ; denn dieser sollte ihn verraten  : einer der Zwölf.31 Der Teufel des Neuen Testaments steht für die radikale Abkehr von Gott, für den Widersacher Gottes (diabolos32), für denjenigen, der als Lügner die Ordnung der Dinge verkehrt33, für das Böse schlechthin.34 Der Judas als Verräter übernimmt diese Eigenschaften. Hinzu kommt in seinem Fall aber auch noch die Aufkündigung der Loyalität eines Jüngers an seinen Rabbi, der Treuebruch in einem besonders engen sozialen Verhältnis. Für diese beiden Dinge  : die Abkehr von Gott und den sozialen Treuebruch, stand der durch Judas personifizierte Verrat in der christlichen Tradition der Spätantike und des Mittelalters. Seine Tat wurde konstitutiv für das nachantike Verständnis von Verrat als einer über alle Maße verwerflichen, ja perversen Handlung.35 Eigentlich wurde nicht Judas zum Verräter, sondern umgekehrt, der Verräter wurde zum Judas. Im Laufe des Mittelalters wurde die Figur des Judas-Verräters weiter a­ usgemalt, und zwar im Wortsinn. Denn neben erzählerischen Ausgestaltungen wie etwa in der Legenda aurea des Jacobus von Voragine (1228/29–1294) und anderen, durchaus weit verbreiteten Heiligenviten36 trat der Verrat des Judas den Zeitgenos­sen vor allem auch bildlich vor Augen. Ob auf Altären, Fresken, Statuen, Kirchenfenstern, Kanzeln, Lettnern, Portalen oder auch in Chroniken, Stundenbüchern, Armenbibeln, Evangeliaren, Psaltern, Missalen und anderen liturgischen Gebrauchstexten  : Die Figur des Judas gehörte zu den zentralen Motiven der vormodernen christlichen Ikonographie und fungierte dabei das Sinnbild des Verrats. Seit dem 15. Jahrhundert sorgten auch Drucktechniken wie Holzschnitt, Kupferstich und Radierung für eine noch einmal intensivierte und konfessionsübergreifende Popularisierung dieses Motivs auf Einblattdrucken und in Büchern. Bei dieser Ikonographie lassen sich vier Stationen des Judas-Verrats unterscheiden  : Die erste Station bildete sein Pakt mit den Hohepriestern, wie er  – um nur zwei Beispiele von vielen anzuführen – an dem um 1250 entstandenen 31 Joh 6, 70. 32 1 Joh 3, 8. 33 Offb 12, 9. 34 Vos/Otten, Demons and the Devil in ancient and medieval Christianity. 35 Billoré, Introduction, 19–21  ; Lafran, Le parangon du traître. 36 Bei Judas handelt es sich natürlich um die Vita eines »Unheiligen«, vgl. Hammer, Erzählen vom Heiligen, 344–353.

Von Judas bis zum Unwort des Jahres 2016 

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Abbildung 1  : Relief (Sandstein) an der Brüstung des Westlettners im Naumburger Dom, um 1250. Die Hohenpriester tragen die seit dem Hochmittelalter üblichen und obrigkeitlich vorgeschriebenen Judenhüte. Eine Assoziation mit dem (durch das christliche Zinsverbot begründeten) Geldverleih durch Juden drängt sich auf. Ohne Frage war das Judas-Motiv Bestandteil des christlichen Antijudaismus.

Lettner des Naumburger Doms gezeigt wurde (Abb. 1) oder in einer Buchillustration aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die den Vorgang auch schon moralisch kommentiert  : Verräther  ! ist der Schöpffer aller Ding dann nicht mehr werth als dreisig Silberling (Abb. 2).37 Die zweite Station bildet das Abendmahl, bei dem Jesus den Verrat ankündigte (Amen, amen, das sage ich euch  : Einer von euch wird mich verraten [paradôsei me]).38 Ein Relief am Lettner von Santa Maria Assunta (Volterra, Abb. 3) aus dem frühen 13. Jahrhundert zeigt Jesus, wie er Judas, in den schon der Teufel gefahren war, die Kommunion reicht. Wenn Verrat immer auch mit der Vorstellung von der Exklusion des Verräters aus der sozialen Gemeinschaft verbunden war, dann konnte die Abendmahlsikonographie dafür Anknüpfungspunkte liefern.39 37 Bei den Stationen des Verrats folge ich Dithmar, Der »Verräter« Judas, 20–59. 38 Joh 13,21. 39 Schehr, Sociologie de la trahison, 315.

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Abbildung 3  : Das Relief (ca. 1185–1215) zeigt die sogenannte Judaskommunion.

Abbildung 2  : Die Seite wurde aus einem Buch entnommen, dessen Titel ebenso unbekannt ist wie der Stecher der Radierung.

Der Kuss bei der Gefangenahme Jesu am Ölberg bildet die dritte Station und war das am häufigsten visualisierte Motiv des Judasverrats. Die volkstümlich wirkenden Fresken aus der Wallfahrtskirche Sveta Marija na Škriljinah (Beram, Kroatien, Abb. 4) aus dem späten 15. Jahrhundert sind ein Beispiel. Der Stich, den Boëtius Adamsz Bolswert für Joannes Bourgois’ Vitae passionis et mortis Jesu Christi Somini nostri mysteria (Antwerpen 1622, Abb. 5) anfertigte, überschrieb die Szene wiederum mit De Iudæ proditione, mit dem gleichen Begriff (proditio) also, mit dem auch in den lateinischen juristischen Traktaten des 16. und 17. Jahrhunderts ›Verrat‹ bezeichnet wurde.40 An der Gleichsetzung von Verrat als Verbrechen mit der Tat des Judas hatten allerdings auch die lateinischen Bibeltexte (Vulgata) der Spätantike und des Mittelalters ihren Anteil, in denen paradidous, der Überlieferer oder Denunziant, stets als traditor übersetzt wurde  : dederat autem traditor eius signum eis dicens quemcum-

40 Zum Beispiel Deciani, Tractatus Criminalis, Lib. VII, Cap. XXIX. Mit De Iudæ proditione ist auch der Stich von Hieronymus Wierix für Jerónimo Nadals Evangelicae Historiae Imagines (Antwerpen 1593) überschrieben.

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Abbildung 4  : Das Gebet auf dem Ölberg (links) und der Judaskuss (rechts), zwei von 46 gotischen Fresken in der Kirche Maria im Stein (Beram), die um 1470 von verschiedenen Künstlern geschaffen wurden. Das erklärt, warum der Judas am Ölberg anders aussieht als der küssende Judas. Abbildung 5  : Das Bild hat zwei Ebenen, im Hintergrund taumeln die Soldaten, nachdem sich Jesus zu erkennen gegeben hat.

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Abbildung 6 (l.)  : Der Selbstmord des Judas. Der Teufel holt seine Seele aus dem aufgeplatzten Bauch. Fresko von Giovanni Canavesio aus dem Passionszyklus in der Chapelle Notre-Dame-des-Fontaines de la Brigue von 1491. Abbildung 7 (r.)  : Das englische Hinrichtungsritual für Verräter (hier Hugh Despenser d. J., 1326), Illustration (ca. 1470) aus der Chronik des Hundertjährigen Kriegs von Jean Froissart. Dem Verurteilten wird der Bauch aufgeschnitten, die Körperteile werden verbrannt.

que osculatus fuero ipse est tenete eum et ducite.41 Traditor konnte zwar auch ›Kirchenlehrer‹ heißen, gewöhnlich aber doch Verräter. Die französischen, englischen, italienischen und spanischen Begriffe für Verrat (trahison und treason) haben im Begriff traditor ihren semantischen Ursprung. Mit den reformatorischen Bibelübersetzungen diffundierte diese Semantik auch in die Volkssprachen. Schließlich die vierte Station, der Tod des Judas  : Nach der Apostelgeschichte kaufte sich Judas von seinem Lohn ein Stück Land, auf dem er sich das Leben nahm. In Luthers Übersetzung hatte er  sich erhenckt / vnd ist mitten entzwey geborsten / vnd alle sein Eingeweide ausgeschüt (Apg  1,18). Auch dieses Motiv, das Erhängen und Bersten seines Unterleibs, wurde vielfach verbildlicht, am eindrücklichsten wohl um 1490 auf einem Fresko von Giovanni Canavesio für die Kapelle Notre-Dame-des-Fontaines in La Brigue (Abb. 6). 41 Und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen genannt und gesagt  : Welchen ich küssen werde, der ist’s  ; den ergreift und führt ihn ab (Mk 14,44).

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Dieser schauerhafte Vorgang – Judas lebt noch, als sein Bauch platzt – war in England Vorbild für das Hinrichtungsritual von Verrätern in Spätmittelalter und beginnender Neuzeit (Abb. 7). Auch hier wurden die Delinquenten noch lebend wieder vom Galgen geschnitten und dann – zum Teil bei vollem Bewusstsein – ausgeweidet. So wie bei Judas die Seele aus dem Leib entweicht, direkt in die Hände des Teufels, so stellte man sich auch in England die Eingeweide als diejenigen Körperteile vor, in denen der Verrat ersonnen worden war und die deswegen nach der Entnahme verbrannt und damit vernichtet wurden.42

Der Verrat im Recht Solche Hinrichtungsrituale verweisen darauf, dass eine weitere Rahmung des Deutungskonzepts ›Verrat‹ durch das Recht erfolgte, und zwar vor allem da, wo die Rechtsgeschichte ihre Wurzeln in der griechisch-römischen Antike hat. Wenn Verrat als ein Verbrechen behandelt, verfolgt und auf qualvolle Art und Weise bestraft wurde, dann deshalb, weil es zuvor als ein solches definiert worden war, weil es nicht nur als ein sozialer, sondern auch als ein rechtlicher Normbruch behandelt wurde. Der folgende Gang durch die Rechtsgeschichte des Verrats ist natürlich sehr kursorisch und lückenhaft. Es geht nur darum, die großen Linien nachzuzeichnen. Antike Grundlagen und mittelalterliche Traditionen

In der antiken römischen Rechtstradition implizierten die fraglichen Delikt-Kategorien, nämlich perduellio, proditio und crimen maiestatis, ein sehr breites Spektrum an Vergehen, darunter die Übermittlung von Botschaften und Zeichen an die Feinde des populus Romanus, die Unterstützung seiner Feinde, sei es mit Waffen, Pferden oder Geld, das Anstiften von Unruhen, etwa durch Verschwörungen, oder die Aufstachelung von Provinzen gegen die Herrschaft der Römer.43 Perduellio (bzw. griech. Prodosia) bedeutete im Wortsinn ›schlimme Feindschaft‹, gemeint war damit die Verbindung eines Römers mit den (äußeren) Feinden des populus Romanus zu dessen Schaden.44 Proditio (bzw. prodidonai) bedeutete dagegen im Wortsinn ›verraten‹, ›preisgeben‹ oder ›mitteilen‹. Beide Begriffe waren letztlich auf eine ähnliche Menge an Vorgängen bezogen worden, die als besonders schlimm, feindselig und das ganze Gemeinwesen be42 Bellamy, The Tudor law of treason, 204 f. 43 Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, 16. 44 Brecht, Perduellio, 616 f.

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drohend dargestellt wurden.45 Ob perduellio oder proditio  – in beiden Fällen wurden besonders grausame und schändliche Strafen ausgesprochen  : Kreuzi­ gung mit vorheriger Auspeitschung oder Erhängung in Fesseln, Vierteilung durch Pferde, ebenfalls mit vorheriger Geißelung. Die Hingerichteten verfielen zudem der damnatio memoriae.46 War schon das Verhältnis von perduellio und proditio zueinander unklar, so trat mit dem crimen maiestatis im ersten vorchristlichen Jahrhundert ein weiteres Delikt hinzu, mit dem bestimmte Handlungen als staatsfeindlich, als adversus populum Romanum vel adversus securitatem eius (›gegen das römische Volk und gegen seine Sicherheit‹) klassifiziert werden konnten. Perduellio und proditio gingen mit der Zeit allerdings im crimen maiestatis auf.47 Mit der Kaiserzeit fielen auch tätliche oder verbale Angriffe auf den Kaiser und die Falschmünzerei (bei der man sich am Bild des Kaisers verging) unter die Majestätsverbrechen.48 Die römische Rechtstradition legte nicht allein den Grundstein für das triadische Verständnis von Verrat als Preisgabe von etwas durch jemanden an einen Dritten, sondern reicherte dieses Verständnis zugleich mit einer überaus negativen Semantik an  : Es ging um die Preisgabe an einen Feind, was diesen Akt selbst zu einer feindlichen Handlung machte. Zugleich tendierte die Semantik des Verrats zur Entgrenzung, weil dabei nicht nur an die Preisgabe von Informationen gedacht wurde, sondern auch an die ›logistische‹ Unterstützung der Feinde oder an Verschwörungen als feindselige Akte im Inneren. In letzter Konsequenz führten perduellio und proditio demnach nicht nur zu einem Schaden für das Gemeinwesen, sondern vielmehr zu dessen Zersetzung und Untergang. Eben deswegen konnte man sich nur die härtesten Strafen dafür vorstellen, die den zum Superfeind gewordenen Mitbürger geradezu physisch zerstörten. Die in der römischen Rechtstradition entwickelten Verratskonzepte implizierten also Szenarien höchster Gefahr und kollektiver Bedrohung. Durch die Rezeption des römischen Rechts prägten solche Konnotationen auch noch das Rechtsverständnis von Verrat in Spätmittelalter und Frühneuzeit. In Rechtssammlungen wie den französischen Coutumes de Beauvaisis aus dem 13. Jahrhundert wurde Verrat als ein monströses Verbrechen charakterisiert, das die gottgewollte Ordnung der Dinge auf den Kopf stellte.49 Entsprechend maßlos fielen auch hier die Strafen aus, die etwa in Chroniken visualisiert wurden (Abb. 8). An dieses Straf45 Fuhrmann, proditio, 1223. 46 Brecht, Perduellio, 624 f.; Fuhrmann, proditio, 1226. 47 Brecht, Perduellio, 638. 48 Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, 15 f.; vgl. dazu ferner auch den Überblick bei Czech, Der Kaiser ist ein Lump und Spitzbube, 29–32. 49 Billoré, Introduction, 20.

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Abbildung 8  : Zerstückelung eines Verräters, Mitte des 14. Jahrhunderts.

regime konnte das frühneuzeitliche Recht anknüpfen und sein eigenes ›Theater des Schreckens‹ bei Verrätern entfalten.50 Verrat im Gemeinen Recht der Frühen Neuzeit

Das Gemeine Recht, also das im mittleren, westlichen und südlichen Kontinentaleuropa maßgebliche, aus römisch-kanonischen Quellen gewonnene und weiter ausgelegte Zivil- und Strafrecht der Frühneuzeit, kannte in seiner deutschsprachigen Version bereits im 16. Jahrhundert den Begriff der verreterey, und die Strafgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, die Carolina, kann auch sagen, wie diese zu bestrafen ist  : durch viertheylung bei Verrätern, durch ertrencken bei Verräterinnen. Hatte der Verrat grossen schaden oder ergernuß angerichtet oder hatte jemand das eigene landt / statt / seinen eygen herrn verraten, dann wurde die Strafe noch durch schleyffen oder zangenreissen gemert – so wie man dies etwa 1536 mit den Anführern des Täuferreichs von Münster gemacht hatte.51 Was aber unter Verrat zu verstehen ist, wird nicht von der Carolina, sondern von zeitgenössischen Kommentatoren wie dem Venezianer Tiberio Deciani (1509–1582) erklärt. Sein 1590, also posthum, in Frankfurt am Main erschienener Tractatus Criminalis wird zum Meilenstein des frühmodernen, kontinenta50 Zur Geschichte der Todesstrafe vgl. jetzt Schuster, Verbrecher, Opfer, Heilige. 51 Keyser Karls des fünfften peinlich gerichts ordnung, Art. cxxiiij  ; van Dülmen, Das Täuferreich zu Münster.

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leuropäischen Strafrechts gezählt.52 Wenn die praktischen Juristen im 17. Jahrhundert wissen wollten, wie man vor Gericht etwas als Verrat darstellen konnte, dann schauten sie in Decianis Traktat nach. Im Sinne der ­antiken Rechtstradition und als eine Erscheinungsform des Majestätsverbrechens (crimen læsæ maiestatis) changiert Verrat hier zwischen perduellio und proditio und umfasst dabei sowohl Attentate auf den Herrscher, Verschwörungen und Geheimgesellschaften (coniurationes und conuenticula), subversive Umtriebe (seditiones), Aufstände (rebelliones), Gefangenenbefreiung, jegliche Art von Feind­­­begünstigung (vom Geheimnisverrat bis zur Desertion), oder auch Falsch­münzerei.53 Ebenso wenig wie im antiken Rom war die breite Auslegung auch bei Deciani kein Ausweis mangelnder Systematik. Vielmehr verschaffte der angehäufte Fundus an unterschiedlichen Tatbeständen den Herrschenden theoretisch die Möglichkeit, die unterschiedlichsten Vorgänge als Verrat einzustufen und anzuklagen, etwa unter dem Vorwand, dass die öffentliche Sicherheit (securitas publica) bedroht sei.54 Dass die Unbestimmtheit der Majestätsgesetze ein überaus scharfes, tendenziell despotisches Herrschaftsinstrument war, sollte später auch der Aufklärer Montesquieu bemerken.55 Als Archetyps des ­Verräters (verus proditor) nannte Deciani den Judas Iscariot, er kannte aber neben dem Verrat am Herrscher auch schon die Figur des Vaterlandsverräters (patria proditor).56 Bemerkenswert war bei Deciani darüber hinaus die enge Verbindung von Verrat und Verschwörungen  : Diese sind nicht nur in jedem Fall verräterisch, weil sich Verschwörungen stets um feindselige Aktivitäten drehen, sondern auch deshalb, weil dem Verrat in aller Regel eine Verschwörung zugrunde liegt. Im strafrechtlichen Denken galt Verrat gerade nicht als Schandtat eines Einzelnen, sondern als eine Verabredung zu bösen Taten von mehreren. Deciani assoziiert Verrat daher mit dubiosen und obskuren Vorgängen bei Nacht und Nebel, bei denen üble Gestalten das verräterische Unternehmen ausheckten und beschlossen.57 Gerade wegen solcher im Wortsinn dunklen Ursprünge des Verrats galt er für Deciani und andere gelehrte Juristen als das schlimmste und gefährlichste aller 52 Vgl. die Beiträge in Cavina, Tiberio Deciani. Eine weitere gemeinrechtliche Auseinandersetzung mit Verrat aus dem 16. Jahrhundert findet sich etwa bei dem sächsischen Juristen Rauchdorn, vgl. Rauchdorn, Practica Vnd Process, Kap. 34. 53 Deciani, Tractatus Criminalis, Liber septimus, cap. I, vi, vii, viii, x, xi, xiii, xv, xix. 54 Ebd., cap. xvi. 55 Das Verbrechen der beleidigten Majestät darf nur unbestimmt seyn, um die Regierung in Despotismus ausarten zu lassen, so wird seine Einsicht aus dem ›Geist der Gesetze‹ in einer Übersetzung aus dem späten 18. Jahrhundert wiedergegeben, Charles de Secondat, Baron de, Des Herrn von Montesquieu Werk vom Geist der Gesetze, 14. 56 Deciani, Tractatus Criminalis, Liber septimus, cap. xxix. 57 Ebd., cap. vii, xviii.

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Verbrechen (perduellionis crimen grauißimum omnium bzw. proditionis crimen atrocissimum).58 Verrat legte demnach die Axt an die Wurzel des Gemeinwesens, er zersetzte und unterminierte den Staat. Mehr noch  : Verrat war für Deciani ein Verbrechen gegen das, was die Menschheit im Innersten zusammenhielt (vinculum quo humana societatis continetur), nämlich Vertrauen, Treue und Gehorsam gegen die Obrigkeit. Deshalb kamen für Deciani bei Verrat auch nur die härtesten, grausamsten und am meisten abschreckenden Strafen in Betracht. Varianten dieses gemeinrechtlichen Denkens über Verrat fanden sich in den frühneuzeitlichen Jahrhunderten in Portugal, Spanien, Frankreich, den italienischen Fürstentümern und Republiken, den Niederlanden, dem römisch-deutschen Reich und seinen Territorien, in Polen-Litauen, Ungarn und später sogar in Russland.59 Konkrete Fälle lassen sich hingegen fast an einer Hand abzählen. So wurde etwa Wallenstein nach seiner Auflehnung gegen Ferdinand II. 1634 in der Publizistik des kaiserlichen Hofs als Verräter bezeichnet.60 1673 wurde der Versuch, den mit Frankreich verbündeten Münsteraner Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen zu entführen und abzusetzen, von dessen Umfeld als eine grausame und gefährliche Verrätherey bezeichnet.61 Hier kam es tatsächlich zu einem gerichtlichen Prozess, der Angeklagte wurde für pro proditore, also für einen Verräter gehalten und zum Tod durch Vierteilung verurteilt.62 Gnädigerweise wurde ihm allerdings zuvor der Kopf abgeschlagen. Auch die (gescheiterten) Attentate auf den französischen König Ludwig XV. 1757 und den portugiesischen König Joseph I. ein Jahr später wurden – u. a. – als Verrat gewertet und extrem grausam bestraft. Darüber hinaus wurden auch bäuerliche oder adlige Aufstände verschiedentlich als Verrat beurteilt und mit entsprechenden Strafen geahndet.63 Verrat im englischen Common Law

Eine ganz andere Konjunktur des Verrats gab es dagegen im frühneuzeitlichen England. Hier wurde Verrat – treason – als ein eigenständiges Delikt behandelt und nicht unter die Majestätsverbrechen rubriziert, die im Common Law auch 58 Ebd., cap. vi, xxx. 59 Vgl. den instruktiven Überblick über das Majestätsverbrechen im vormodernen europäischen Recht bei Rustemeyer, Dissens und Ehre, 30–101  ; zu Portugal vgl. Maxwell, Pombal, 79 ff.; zu den Niederlanden van Nierop, Treason in the Northern Quarter, 99 f.; speziell zur deutschen Rechtsgeschichte vgl. Schaffstein, Verräterei und Majestätsdelikt  ; Schnabel-Schüle, Das Majestätsverbrechen. 60 Kampmann, Reichsrebellion und kaiserliche Acht. 61 Wiens, Sammlung fragmentarischer Nachrichten, 418. 62 Ebd., 440. 63 So etwa in Bayern 1633/34, vgl. Blickle, Rebellion oder natürliche Defension, oder bei der sogenannten ungarischen Magnatenverschwörung von 1671.

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keine Rolle spielten. Zudem wurde sehr präzise definiert  – und zwar bereits 1351  –, was als Verrat galt und was nicht  : Des Verrats schuldig machte sich dem­nach, wer den Tod des Königs, seiner Königin oder des Kronprinzen plante und entsprechende Maßnahmen ergriff  : When a Man doth compass or imagine the Death of our Lord the King, or of our Lady his Queen or of their eldest Son and Heir.64 Verrat war es ebenso, als Untertan im Reich die Waffen gegen den König zu erheben oder seine Feinde in irgendeiner Art und Weise zu unterstützen  : if a Man do levy War against our Lord the King in his Realm, or be adherent to the King’s Enemies in his Realm, giving to them Aid and Comfort in the Realm, lautete dafür die englische Übersetzung.65 In das Statut aufgenommen wurde schließlich auch der Mord an königlichen Ministern und Richtern sowie die Münzfälschung. Gerade an diesem letzten Punkt zeigte sich, dass auch das englische vom römischen Rechtsdenken beeinflusst worden war. Eine ganz eigene Entwicklung war hier aber die Unterscheidung von high treason und petty treason, von Hoch- und Kleinverrat  : ›Hoch‹ war der Verrat im englischen Rechtsdenken insofern, als er sich auf sozial hochstehende Personen – König und Königin, die königliche Familie und die höchsten Minister – bezog. Mit dem ›kleinen Verrat‹ wurde hingegen der Vater- oder der Gattenmord bezeichnet – Vergehen, die an die Grundfesten des Gemeinwesens gingen. Immerhin wurde das Oberhaupt einer Familie getötet, sozusagen ein kleiner König, sodass es nahelag, hier ebenfalls von Verrat und nicht nur von Mord oder Totschlag zu sprechen. Nicht nur deswegen spielte das Verratsdelikt in England auch eine viel größere Rolle als auf dem Kontinent. Die großen politischen, sozialen und religiö­ sen Konflikte Englands – Reformation, Bürgerkrieg und Revolution von 1649, ›Glorious Revolution‹ von 1688/89, Großer Jakobitenaufstand von 1746, die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution bis 1820 – wurden vielmehr immer auch mit Hochverratsvorwürfen und vor allem mit Hochverrats­ prozessen ausgetragen. Rund 600 solcher Fälle wurden zwischen 1500 und 1800 vor Gericht verhandelt. Gerade dort zeigte sich, dass Hochverrat auch in England als eine Art Superverbrechen galt, wurde den Angeklagten doch regelmäßig vorgeworfen, die Zerstörung des Reichs und die Abschlachtung der Untertanen in Kauf genommen zu haben. Die spezifische Fassung der englischen Verratsdefinition – treason war zuallererst die ›Imagination‹ des Königsmords – gab zudem Verschwörungstheorien in einem ganz anderen Ausmaß als auf dem Kontinent Auftrieb. Die Verräter, die man in England fürchtete, waren nicht allein potenzielle Königinnen- und Königsmörder, sondern auch Leute, die das Reich unter fremde Herrschaft bringen konnten, unter die des Papstes 64 Das – heute noch gültige – Gesetz wird zitiert als 25 Edward 3, Statute 5. 65 Ebd.

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oder Frankreichs. Die englische Verratskonzeption steht daher in besonderer Weise für die »paranoide Struktur« des Verrats, auf die Hans Magnus Enzensberger hingewiesen hat  : »Für die Logik der Paranoia gibt es keine Unschuldigen, nur solche, die des Verrats noch nicht überführt worden sind, also maskierte Verräter. Überall wittert sie Verschwörungen  ; es handelt sich nur darum, sie zu entlarven, ihnen ›die Maske vom Gesicht zu reißen‹.«66 Varianten des Verrats im Recht der Moderne

Im preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, das mit der gemeinrechtlichen Tradition teilweise brach, diente der Begriff Hochverrath zur Bezeichnung eines Verbrechens, welches auf die gewaltsame Umwälzung des Staats, oder gegen das Leben und die Freiheit seines Oberhaupts abzielt.67 Es ging also in erster Linie um den Schutz des Staats gegen subversive, den Staat zersetzende und seinen Bestand gefährdende Umtriebe, erst in zweiter Linie um die Person des Fürsten, der hier als erster Diener des Staats verstanden wird. Unter Majestätsbeleidigung wurde dagegen nicht länger die Zufügung physischen Leids verstanden, sondern ›Beleidigung‹ im modernen Sinne, nämlich unterschiedliche Formen der Schmähung eines Herrschers oder Staatsoberhaupts. Die diffusen Komponenten des gemeinrechtlichen Majestätsverbrechens  – Verschwörungen und Attentate, Feindbegünstigung, körperliche und verbale Angriffe auf den Herrscher usf. – wurden also auf unterschiedliche Delikte verteilt und damit für die Rechtsprechung handhabbarer gemacht. Vor allem wurde nun auch hier Verrat als ein eigenständiges Delikt konstituiert. Unterschieden wurde dabei zwischen Hochverrat als Mord am Staat, und Landesverrat, wodurch der Staat gegen fremde Mächte in äussere Gefahr und Unsicherheit gesetzt wird.68 Anders als Hochverrat stellte Landesverrat im Rechtsdenken des 19. Jahrhunderts zwar keine Gefahr für den Bestand des Staates als solchem dar. Trotzdem galt der Landesverrat als moralisch schlimmer, weil der Verräter hier im besonderen Maße unpatriotisch handelte, wenn er, wie auch immer, den Staat an einen äußeren Feind auslieferte. Landesverrat wurde mit einer, je nach Tatbestand, fünfzehnjährigen bis lebenslänglichen Zuchthausstrafe geahndet. Auf Hochverrat stand der Tod, wenn damit der Mord oder Mordversuch an ­einem Fürsten bzw. nach 1871 am Kaiser bestraft werden sollte, eine Festungshaft 66 Enzensberger, Zur Theorie des Verrats, 372. 67 Zit. nach Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, 39. Der Begriff Hochverrat war dabei ein Import des englischen high treason-Konzepts. 68 Ebd. Von Mord bzw. Mörder am Staat sprach dabei der Jurist Paul Johann Anselm Feuerbach in seiner Untersuchung über das Verbrechen des Hochverraths.

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jedoch in allen sonstigen Fällen. Deren Länge bemaß sich daran, ob der hochverräterischen Tat eine ›ehrenvolle‹ oder ›ehrlose‹ Gesinnung zugrunde lag.69 Mit der Differenzierung von Hoch- und Landesverrat im Allgemeinen Land­ recht wurde eine bis heute im deutschen Recht gültige Unterscheidung getroffen. Die beiden Delikte wurden dabei im Laufe der Zeit unterschiedlich modelliert – und zwischenzeitlich, im Nationalsozialismus, auch pervertiert. Hier galt bereits das Hören von ausländischen Radiosendern oder die ›Mundpropaganda‹ als Hochverrat. Mit dem Beginn der NS-Herrschaft wurde Hochverrat auch wieder generell mit dem Tod bestraft.70 Die 1934 eingeführte Kategorie ›Volksverrat‹ korrespondierte mit der NS-Ideologie der ›Volksgemeinschaft‹ und bezeichnete eine indefinite Menge an unmittelbar gegen das deutsche Volk gerichtete Verbrechen eines Volksgenossen, der die politische Einheit, Freiheit und Macht des deutschen Volks zu erschüttern trachtet.71 Was das genau war, blieb der skrupellosen Auslegung des ›Volksgerichtshofs‹ unter seinem Vorsitzenden Roland Freisler überlassen. Mit diesen vagen Verratskategorien (darunter fielen auch ›Wehrkraftzersetzung‹ und Spionage) wurden zwischen 1936 und 1945 mehr als 17.000 Urteile gefällt, 5000 davon waren Todesurteile.72 Der alliierte Kontrollrat und die Bundesrepublik brachen mit den ›völkischen‹ Verratskonzepten des NS-Regimes. Im demokratischen Verfassungsstaat schützt das Hochverratsgesetz den Bestand der Bundesrepublik und seine verfassungsmäßige Ordnung.73 Konkrete Hochverratsfälle oder -prozesse kennt die Bundesrepublik gleichwohl nicht. Seit dem Sommer 2015 gingen zwar über 1000 Anzeigen wegen Hochverrats gegen die Bundeskanzlerin Merkel bei der Bundesanwaltschaft ein. Diese haben sich freilich allesamt als haltlos erwiesen.74 Nach der Verhaftung des ehemaligen katalonischen Präsidenten Carles Puigdemont im März 2018 hatten die Richter des Oberlandesgerichts Schleswig allerdings darüber zu entscheiden, ob die ihm in Spanien zur Last gelegten Vorwürfe der Rebellion dem deutschen Hochverratsrecht gleichen und insofern einen Auslieferungsgrund nach dem Europäischen Haftbefehl darstellen.

69 Eine ›ehrenvolle‹ Gesinnung glaubte das Münchner Volksgericht z. B. 1923 bei Hitlers Putschversuch zu erkennen und verurteilte den Nationalsozialisten zu einer Haft auf der Festung Landsberg, die schon nach neun Monaten endete. 70 Verordnung vom 28.02.1933, Reichsgesetzblatt I, 85. 71 http://www.lexikon-drittes-reich.de/Volksverrat (16.4.2018). 72 Grimm/Lauf, Die Abgeurteilten des Volksgerichtshofs. 73 § 81, Abs. 1 StGB. 74 »Bundesanwaltschaft weist 1000 Strafanzeigen gegen Merkel wegen »Hochverrats« ab«, https:// www.stern.de/politik/deutschland/angela-merkel--bundeskanzlerin-wegen--hochverrats--ange zeigt--7599408.html (3.4.2018).

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Dies wurde allerdings mit Blick auf die im Hochverratsparagraphen genannte Gewalt­anwendung oder -drohung verneint.75 Landesverrat erlangte dagegen im Kontext der industriellen Herstellung von Rüstungsgütern seit dem letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts eine wachsende Bedeutung.76 Schon Deciani kannte den Vaterlandsverräter (patria proditor), aber erst im Zusammenhang mit der Erfindung des modernen Nationalismus im Sinne der zunehmend aggressiven politischen und ethnischen Abgrenzung unterschiedlicher ›Völker‹ im 19. Jahrhundert erlangte Landesverrat seine spezifisch neuzeitliche Gestalt. Bei dem »Verrat im 20. Jahrhundert«, den Margret Boveri vor Augen hatte, handelte es sich im Wesentlichen um Fälle von Landesverrat. Der Affäre um den französischen Hauptmann Alfred Dreyfus, die Frankreich in den 1890er Jahren auf allen Ebenen beschäftigte und in eine politische wie moralische Krise stürzte, lag ein Landesverratsvorwurf zugrunde.77 Einen »Abgrund von Landesverrat« sah auch Bundeskanzler Adenauer 1962 in einem kritischen Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel über ein NATO-Manöver. Die Zuschreibung unpatriotischen bzw. illoyalen Verhaltens gegenüber den Verbündeten taugte hier allerdings nur noch bedingt zur Skandalisierung, die Ermittlungen und Verhaftungen von Redakteuren führten vielmehr zu einer Regierungskrise und einem Ministerrücktritt.78 In den Vereinigten Staaten und in Großbritannien hat man wiederholt vorgeschlagen, terroristische Verbrechen als treason anzuklagen – und zwar nicht erst infolge der massiven Anschläge islamistischer Terroristen in New York 2001 und London 2005, sondern bereits nach Anschlägen der IRA in den 1980er Jahren.79 Tatsächlich aber haben die Ankläger am Ende immer wieder davon Abstand genommen.80 Seine Weigerung, den Anschlag auf Premierministerin Thatcher 1983 in Brighton als Hochverrat anzuklagen, erklärte der britische Generalstaatsanwalt z. B. damit, dass es schwierig sei, solche Taten mit sechshundert Jahre alten Formulierungen anzuklagen, wo das aktuelle Strafrecht mit Bezug auf Mord und den Einsatz großkalibriger Feuerwaffen viel bessere Argumente liefere.81 Die Befürworter von Hochverratsanklagen sehen dies zwar genau umgekehrt  : Gerade weil Terroristen Feinde der Menschheit seien, müsse ihnen mit 75 Helene Bubrowksi, Kein Automatismus. Beim EU-Haftbefehl verbleibt der Justiz ein Spielraum für eine eigene Prüfung, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 84, 11.04.2018, S. 8. 76 Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, 96 ff. 77 Whyte, The Dreyfus Affair, 39 f. 78 Ein ähnlicher Boomerang-Effekt war auch bei den 2015 gegen die Journalisten des Blogs ›Netzpolitik.org‹ geführten Ermittlungen wegen Landesverrats zu beobachten. 79 Vgl. etwa Eichensehr, Treason in the Age of Terrorism. 80 Head, Counter-terrorism laws. 81 Vgl. Walker, Terrorism and the law, 245.

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jenem Gesetz begegnet werden, das diese verräterische Feindschaft ernst nehme und entsprechend bestrafe.82 In der Anklagepraxis spielt treason allerdings nach wie vor keine Rolle. Der letzte Hochverratsprozess im Vereinig­ten Königreich wurde 1945 gegen den Nazi-Kollaborateur William Joyce geführt. In den Vereinigten Staaten wurde diskutiert, Dschochar Zarnajew, der 2013 den Anschlag auf den Boston-Marathon verübte, als Verräter anzuklagen. Das wurde zwar letztlich nicht gemacht, aber in ihrer Wortwahl nahmen die Ankläger durchaus Anleihen bei der traditionelle Hochverratssemantik, wenn Zarnajew conspiring to use a weapon of mass destruction resulting in death und malicious destruction of properties resulting in death vorgeworfen wurde.83 Auch das ›Leaking‹ und ›Whistleblowing‹ von Akteuren wie Wikileaks oder Edward Snowden wird aller Wahrscheinlichkeit nicht als Verrat vor Gericht landen, das hat bereits der Fall von Chelsea Manning gezeigt, die am Ende wegen Spionage verurteilt und von Präsident Obama bereits begnadigt wurde. Zu sehr hat sich bei diesen Praktiken die Idee vom ›guten Verrat‹ durchgesetzt, auch wenn die Veröffentlichung von E-Mails der demokratischen Bewerberin um das US-Präsi­dentenamt, Hillary Clinton, im Wahlkampf 2016 durch Wikileaks an dieser Idee gewisse Zweifel gesät haben.84

Die ›Großen Erzählungen‹ des Verrats Judas in der vormodernen Erinnerungs- und Bildkultur sowie der Verrat als Rechtskategorie  – damit verbinden sich nicht nur Deutungsrahmen, sondern auch ›Große Erzählungen‹. Wer eine Person mit Judas verglich oder gleichsetzte, der stellte die Verbindung her zu einem Treue- und Vertrauensbruch, der schändlicher nicht sein konnte. Zugleich aktivierte der Judas-Vergleich eine Art von Drehbuch für das nachfolgende Geschehen  : So wie der Verrat des Judas 82 Ibrahim, Azeem, Terrorists aren’t just criminals – they are traitors to Britain and should be tried for treason, in  : The Telegraph, 5.6.2017  ; Etzioni, Amitai, Charge American Terrorists With Treason. Individuals like Dzhokhar Tsarnaev or Anwar al-Awlaki shouldn’t be classified as enemy combatants, nor should we pretend they are common criminals., in  : The Atlantic, 24.5.2013. 83 U.S. Attorney’s Office for the District of Massachusetts official Twitter  : https://twitter.com/DMA news1/status/326389100867375106 (5.7.2018)  ; United States vs. Dzhokhar Tsarnaev, Case 1  :13-mj02106-MBB Criminal Complaint (with FBI affidavit), https://www.justice.gov/iso/opa/resources/ 363201342213441988148.pdf (5.7.2018). 84 Ioffe, Julia, The Secret Correspondence Between Donald Trump Jr. and WikiLeaks, in  : The Atlan­ tic, 13.11.2017  ; vgl. dazu auch die Einschätzung von Domscheit-Berg, Daniel, Der gute Verrat. Das Whistleblowing im Internet schlittert in eine Krise, aber die Idee darf nicht sterben. Man muss sie nur besser umsetzen, in  : Der Freitag, 14.10.2010.

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im Neuen Testament heilsnotwendig war, so gingen auch bei seinen ›Nachfolgern‹ die Verratenen aus dem Verrat als strahlende Helden hervor, während die Verräter zwar nicht gerichtlich zur Rechenschaft gezogen, aber doch von ihren Zeitgenossen dauerhaft stigmatisiert wurden.85 Auch der Verrat im Recht implizierte eine derartige Erzählung  : Proditio, perduellio, high treason und Landesverrat umfassten nämlich viel mehr als nur einen Treue- und Vertrauensbruch. So wie das Delikt in Gemeinem Recht und Common Law dargestellt wurde, handelte es sich vielmehr um ein Schreckensszenario, um subversive und staatszersetzende Taten, mit diabolischer Akribie geplant und durch eine Verschwörung ins Werk gesetzt. Wer jemanden in dieser rechtlichen Hinsicht als Verräter bezeichnete, knüpfte unweigerlich die Verbindung zu diesem Szenario aus Konspiration, Subversion und grausamen Strafen. Wie kaum ein anderes Strafrechtsdelikt war Verrat dramatisch aufgeladen, und die Bühnen für dieses Drama waren vor allem Gerichte, Hinrichtungsstätten, aber auch die Publizistik. Das musste aber nicht immer den Anklägern in die Karten spielen. In nicht wenigen Fällen wurden aus den verurteilten Verrätern der einen die Märtyrer der anderen.

Zu den Beiträgen dieses Bands Selbst wenn man das Deutungsmuster-Kriterium als Maßstab anlegt, also nur Fälle berücksichtigt, bei denen tatsächlich von Verrätern und Verrat die Rede war, stünde immer noch eine Reihe an möglichen Beispielen zur Auswahl, nicht zuletzt aus dem 19. Jahrhundert. Insofern mag dieser Verräter-Band voller Lücken sein. Ebenso kann man ihm ein eurozentrisches Übergewicht vorwerfen. Dennoch vermögen die essayistisch gehaltenen Beiträge das Deutungsmuster Verrat zumindest in dieser Zentrierung in repräsentativer Weise zu konturieren, stehen sie in exemplarischer Weise nicht nur für das, was in den verschiedenen Epochen  – Antike, Mittelalter, Frühneuzeit, Neuzeit und Zeitgeschichte  – jeweils unter Verrat verstanden wurde. Vielmehr wird auch deutlich, wie sich das Deutungsmuster im Lauf der Zeit wandelte und veränderte. Brutus fehlt in keiner Liste berühmter Verräter. Fabian Schulz nimmt diese scheinbare Selbstverständlichkeit zum Anlass, um nach der zeitgenössischen Entstehung und Virulenz dieser Zuschreibung zu fragen. Denn die heutigen Brutusbilder sind Produkte der Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts, darun85 Vgl. dazu die Beiträge von Gabriele Haug-Moritz, Andreas Oberhofer oder Fabian Thunemann in diesem Band.

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ter auch Cäsars verwunderte Feststellung ›Et tu, Brute‹, mit dem der Verratene den Verrat selbst sprachlich markierte – wenn er es denn so gesagt hätte. Schulz begibt sich auf eine Spurensicherung, die zunächst ins Leere läuft  : Cäsar starb vermutlich schweigend. Umso interessanter ist dann aber die Frage, wer mit welchen Absichten Geschichten über einen Verrat an Cäsar erzählte. Schulz zeigt, wie sich diese Deutungsfragen mit Machtfragen vermischten, wie es besonders dem zweiten Triumvirat um Octavian (der spätere Kaiser Augustus) gelang, eine Verratsgeschichte zu lancieren, mit denen sich ihre Maßnahmen rechtfertigen ließen. Nur locker erscheint dabei allerdings der Bezug zum Recht. Von den Mördern als proditores im rechtlichen Sinne war nur am Rande die Rede. Dafür dominierte der Topos des Vatermords, der allerdings von einem übergreifenden Verständnis von Verrat nicht zu trennen war. Im Common Law des Spätmittelalters galt Vatermord als ›kleiner Verrat‹ (petty treason). Welche Verratsbegriffe gab es im Frühmittelalter  ? Für die ältere Rechtsgeschichte war die Frage klar  : Hochverräter gab es demnach auch schon unter den Merowingern oder Franken, und der baierische Herzog Tassilo III. war ein heraus­ragendes Beispiel dafür. Dieser Tassilo hatte in den 770er Jahren versucht, in seinem Herzogtum königgleiche Macht aufzubauen, mithin zum König in Baiern aufzusteigen. So begab er sich allerdings auf Kollisionskurs mit dem fränkischen König Karl. Dieser konnte den Baiern 787 schließlich bezwingen. Ein Jahr später wurde Tassilo dann auf dem Hoftag von Ingelheim als Verräter verurteilt. Gerald Schwedler zeigt hingegen, dass die Sache durchaus komplexer war. Zum einen war es, wie Schwedler formuliert, »eine mediale Meisterleistung der karolingischen Geschichtsschreibung«, Tassilo als eine Figur zu repräsentieren, die den Lesern der Reichsannalen als Verräter entgegentritt. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten sind die Historiker dem karolingischen Deutungsvorschlag gefolgt. Zum anderen aber ist in den Annales regni Francorum an keiner Stelle von lateinischen Begriffen für Verrat und Verräter wie proditor die Rede. Auch bei dem, wie Schwedler schreibt, »Schauprozess« (62) von Ingelheim fehlten solche Begriffe. Die Rede war dort allerdings von harisliz, einem germanischen Wort, das wohl so viel wie Heeresflucht bedeutete. Dieser Begriff wurde in den Quellen nach der Krönung Karls zum Kaiser im Jahr 800 durch Begriffe aus dem Fundus des römischen Majestätsverbrechens ersetzt, die die modernen Historiker wiederum mit Verrat übersetzten. Schwedler weist damit eine zweigleisige Verräter-Konstruktion auf  : Zum Verräter gemacht wurde Tassilo III. sowohl durch die Praktiken des späten 8. Jahrhunderts (Schauprozess und nachfolgende Klosterhaft) als auch durch die nachträglichen Darstellungen des Geschehens mit entsprechend stigmatisierenden Formulierungen.

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Finden sich für Verratsbegriffe im Frühmittelalter eher Spuren – was nicht heißt, dass die Zeitgenossen keine Vorstellungen von diesem Konzept gehabt hätten –, so war die Literatur des Hochmittelalters, wie Ulrich Hoffmann zeigt, von der Figur des Verräters geradezu beherrscht. Das ist ein starkes Indiz für die Relevanz des Konzepts vor allem für die höfische Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts als den Rezipienten des Rolandslieds, des sogenannten Prosalancelots und des Nibelungenlieds. Die dort konturierten Verräterfiguren, Genelun aus dem Rolandslied und Mordret aus dem Lancelotepos, finden sich allerdings auch in Dantes Göttlicher Komödie, und zwar in der tiefsten Hölle, wo nur die schlimmsten Verbrecher gequält werden. Dass sie in Dantes Hölle am untersten Grund festgefroren sind, nimmt Hoffmann als Zeichen dafür, dass Verrat im Hochmittelalter als endgültige Grenzüberschreitung verstanden wurde, als Verletzung einer politisch-sozialen Ordnung, in der Treue einen der höchsten Werte darstellte. Für diese Überschreitung konnte spiegelbildlich nur die absolute Festsetzung im Eis als Strafe in Frage kommen. Zeigen schon der Ort der Verräter in der Göttlichen Komödie und Botticellis eindrucksvolle Illustrationen dazu, dass Verrat im Laufe des Mittelalters zum Superverbrechen ausgedeutet worden war, so verfeinern Hoffmanns Analysen der höfischen Epen diesen Befund noch weiter  : Schaut man genau hin, dann drehen sich Rolands- und Nibelungenlied und der Lancelot um komplexe Figurationen aus Verrat und Gegenverrat. Zugleich erweist sich das Verratsmotiv als eine narrative Ressource, mit der sich einmal Unerklärliches wie die Niederlage Karls des Großen bei einer Schlacht in den Pyrenäen (nach dem insgesamt erfolglosen Sarazenenfeldzug) erklären ließ. Ein anderes Mal diente das Motiv als Kontrastfolie, um Grundwerte der mittelalterlichen Gesellschaft wie Treue, Ritterlichkeit und Aufopferungsbereitschaft herauszustellen. Gabriele Haug-Moritz untersucht zwei Fälle von Verrat, die sich durch zwei Besonderheiten auszeichneten  : Sowohl der Verrat von Moritz von Sachsen als auch der Verrat an dem Herzog von Guise waren eingebettet in die gewaltsamen Konflikte des Konfessionellen Zeitalters. Beide Fällen erlangten zudem durch den neuzeitlichen Medienwandel  – also die im 16.  Jahrhundert zunehmende Ausbreitung und Bedeutung gedruckter Schriften – eine bemerkenswerte »kommunikative Reichweite« (93). Der erste Fall dreht sich um den abrupten Wechsel des sächsischen Herzogs aus dem Lager der Protestanten auf die Seite des altgläubigen Kaisers, der 1547 über den Schmalkaldener Bund triumphierte. Herzog Moritz besiegte dabei seinen Vetter, den Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen, dessen Kurwürde und Kurlande Moritz kurz darauf übertragen wurden. Diesem militärischen und politischen Erfolg stand aber die überaus wirkmächtige Stigmatisierung als Verräter gegenüber. Haug-Moritz zeigt, wieso

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diese Stigmatisierung gerade über die Figur des Judas funktionieren konnte, die in unterschiedlichen medialen Formaten zum Ausdruck gebracht wurde. Im zweiten Fall stand weniger der Attentäter Jean Poltrot als Verräter im Vordergrund, sondern vielmehr die Repräsentation seines Opfers, François de Guise, als Verratenem. Poltrot wurde auf die gleiche Weise hingerichtet wie sonst Königsmörder, sodass in diesem Hinrichtungsritual der Mord an Guise wie ein Verbrechen am französischen Staat erschien. Beide Fälle zeigen, dass der Rede vom Verrat im 16.  Jahrhundert eine gemeinsame Semantik zugrunde lag, sie also zu einer übergreifenden politischen Sprache des Konfessionellen Zeitalters gehörte. In diesem zeitlichen Kontext bewegt sich auch der Beitrag von Tim Neu. Er demonstriert, am Beispiel der Landgrafschaft Hessen-Kassel zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs, ebenfalls die Wucht von Verratsvorwürfen unter den Bedingungen des eskalierenden politisch-konfessionellen Konflikts. In diesem Fall hatte sich der protestantische Fürst, Landgraf Moritz, für eine aktive Verteidigungspolitik gegen die Heere der katholischen Liga entschieden. Seine adligen Stände, die Ritter, versuchten hingegen, sich so gut wie möglich aus allen Kampfhandlungen herauszuhalten. Eben dieses Verhalten brachte ihnen von fürstlicher Seite den Vorwurf des Landesverrats ein. Es ist sehr aufschlussreich für die Wahrnehmung von Verratsvorwürfen im deutschen 17.  Jahrhundert, dass die Ritter diese Stigmatisierung unter keinen Umständen auf sich sitzen lassen wollten und deswegen sogar den katholischen Kaiser um einen Schutzbrief ersuchten. Für die Ritter war mit dem Vorwurf ›Landesverräter‹ eine rote Linie überschritten worden, weil der Vorwurf nicht nur ihre Lehnspflichten in Zweifel zog, sondern sie auch bei ihrer ständischen Ehre packte. Verglichen mit der Bezichtigung des Verrats erschien der Vorwurf des Majestätsverbrechens fast schon wie ein Beitrag zur Deeskalation. Neu zeigt also, dass der Begriff ›Landesverrat‹ bereits am Beginn des 17.  Jahrhunderts »moralisch hochaufgeladen[]« war, dass mit ihm Vorstellung von Feindschaft und Feindbegünstigung einhergingen, an die das gleichlautende Konzept des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 anknüpfen konnte. Vor allem aber zeigt er das Potenzial zur Eskalation, das mit der Verwendung dieses Begriffs verknüpft war. Wer, so Neu, den anderen zum Verräter stempelt, signalisiert damit zugleich, dass dieser Andere grundsätzlich verzichtbar ist. Eine solche Position war aber in einem auf Konsens und Ausgleich beruhenden Ständestaat mehr als dysfunktional, weswegen die verbale Abrüstung von landgräflicher Seite, die Vermeidung von weiteren Verratsvorwürfen, mehr als nahelag. Der am hessischen Beispiel aufgezeigte semantische »Zusammenhang von Verrat und Verzichtbarkeit« (131) bleibt über diesen Fall hinaus eine wichtige und bedenkenswerte Einsicht.

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Am 20. Januar 1649, so zeigt der Beitrag von Andreas Pečar, ereignete sich in der Geschichte des Verrats eine spektakuläre Wende. Dieses Delikt, das seit der Antike immer ein Instrument der Herrschenden gewesen war – ein Majestätsverbrechen, das nur an, aber nicht von einer Majestät verübt werden konnte –, wurde tatsächlich gegen einen König, Karl I. von England, in Stellung gebracht. Handelte es sich bei dem High Court of Justice, an dem der Hochverratsprozess gegen Karl stattfand, also um eine Art frühneuzeitliches Kriegsverbrechertribunal  ? Immerhin hatte dieser König sechs Jahre lang Krieg gegen das Parlament und, wie man dort behauptete, auch gegen sein Volk geführt. Er hatte, so seine Ankläger, gegen alle Fundamentalgesetze des englischen Königreichs verstoßen und sich an Amt und Ideal des Königtums vergangen. Diente der Hochverratsprozess also dazu, dieses Amt zu retten, indem man dem Amtsinhaber Verrat an den Idealen der Monarchie vorwarf  ? Pečar macht klar, dass die Idee, den König als Verräter vor Gericht zu stellen, erst ganz am Ende des Bürgerkriegs entstand, und zwar unter dem massiven Druck der Militärs um Oliver Cromwell, die nicht zögerten, Skeptiker aus dem Parlament zu verjagen. Er verdeutlicht weiter, dass sich die Ankläger bei dem Prozess selbst, der vor einem eigens dafür geschaffenen Tribunal, eben dem High Court stattfand, durchaus eindrucksvoll aus dem Arsenal der politischen Theorien bedienten. Es ging um Lehren vom Tyrannen, von den zwei Körpern des Königs und von den Freiheiten und Rechten des englischen Volks – also um Argumente dafür, dass auch die Untertanen von i­ hrem König verraten werden konnten. Tatsächlich verlor Karl I. einige Tage nach dem Prozess seinen Kopf. Die Hinrichtung erwies sich dabei nicht als Beitrag zur Rettung der Monarchie, sondern als Beitrag zu ihrer Abschaffung. Die darauffolgende Republik fußte indes nicht auf den Prinzipien von Machtbalance, Achtung vor dem Recht und der Freiheiten der Untertanen, deren Missachtung man dem König vorgeworfen hatte, sondern vielmehr auf dem religiösen Eifer, die die Militärs um Cromwell eben auch auszeichnete. In diesem Lichte erschienen die Anklage gegen Karl wie ein Vorwand, den man offenbar nur deswegen wählte, weil sich der eigentliche Vorwurf, wonach der König ein Verräter an Gott war, noch weniger plausibilisieren ließ. Gerade dieser religiöse Faktor unterschied die Beseitigung der Monarchie 1649 von der in Frankreich 1792/93, auf die Pečar abschließend blickt. Auch hier wurde ein König, Ludwig XVI., als Verräter an seinem Volk verurteilt und hingerichtet, allerdings mit der gleichen Rhetorik, auf die auch die Republik gegründet wurde. Tilman Haug schildert einen scheinbar klaren Fall  : Der von Frankreich alimentierte und protegierte Wilhelm von Fürstenberg (1629–1704), der zugleich als Minister und Berater des Kölner Kurfürsten fungierte, war ein Landesverräter. Das sahen nicht nur die Publizisten des späten 17.  Jahrhunderts so, sondern

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auch die Historiker des 19. Jahrhunderts. Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich der Fall eben doch nicht als so einfach. Multiple Einkommens­quellen und mehrfache, gleichsam kooptierte Loyalitäten waren für Diplomaten des 17. Jahrhunderts nämlich nicht ungewöhnlich. Nur so konnten sich mindermäch­tige Fürsten überhaupt fähige Minister leisten. Als die kriegerischen Unternehmungen Ludwigs XIV. in den 1670er Jahren auch das römisch-deutsche Reich tangierten, änderte sich diese Wahrnehmung allerdings. Genauer gesagt  : Die French connection ließ sich in der kaisernahen Publizistik skandalisieren, nicht zuletzt als Verrat an einem als »deutsche Identitätsgemeinschaft« (164) konzeptualisierten Reich. Adressiert waren solche Publikationen allerdings nicht an die Untertanen des Reichs, sondern an die politisch handelnden Akteure. Verrat fungierte als Vokabel einer politischen Sprache, nicht als Ausdruck einer neuen Mentalität. Bezeichnenderweise rekurrierte selbst der Kaiser nicht auf dieses ›moderne‹, die deutsch-französische ›Erbfeindschaft‹ vorwegnehmende Verratskonzept, sondern deutete Fürstenbergs Handeln im feudalrechtlichen Sinne als Vergehen gegen seine Treuepflichten. Entsprechend kam es auch nicht zu einem Verratsprozess, den Fürstenberg zwecks Selbstdarstellung durchaus begrüßt hätte. Grundsätzlich, so Haug, zeigt sich am Fall Fürstenberg eine aufschlussreiche Uneindeutigkeit  : Ein modernes, auf nationale Identitäten verweisendes Verratskonzept deutet sich an, bleibt aber nur eine Facette neben »personalen Konzepten des Verrats« (im Sinne von Treuebruch). Der Fall steht daher weniger für den Beginn der ›Erbfeindschaft‹ als für das Ende von diplomatischer Rollenvielfalt. Die englischen Protestanten waren im 17.  Jahrhundert davon überzeugt, dass Katholiken – die sie als ›Papisten‹ bezeichneten – Verräter waren. Diesen Verrat stellte man sich allerdings nicht nur als Treuebruch gegenüber dem König vor, sondern auch als Bereitschaft, ein katholisches Regime unter Inkaufnahme von Gewalt und Massakern zu restaurieren. Der Thronfolger James, Herzog von York, stand um 1680 selbst im Verdacht, ein verräterischer ›Papist‹ zu sein (so wie man Jahrzehnte zuvor ›Papisten‹ auch im Umfeld Karls  I. identifiziert hatte). André Krischer rekonstruiert, wie sich die Gleichung  : ›Papisten sind Verräter und Verrat bedeutet zügellose Gewalt‹, ausgebildet hatte. Dazu geht der Blick zurück ins späte 16.  Jahrhundert, als echte und fiktive Mordkomplotte gegen Königin Elisabeth – die Garantin des englischen Protestantismus –, der Angriff der Armada und die Pulverfassverschwörung den Nährboden für eine kollektive Paranoia bildeten. Verrat wurde seit dieser Zeit mit Verschwörungen assoziiert, die nicht allein das Leben der Monarchen, sondern die Existenz des Gemeinwesens, die politisch-religiöse Ordnung insgesamt, bedrohten. Entfalten konnte sich dieses Deutungsmuster auch hier vor dem Hintergrund der printmedialen Revolution.

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Die Schreckensbilder papistischer Verräter zirkulierten in Pamphleten und illustrierten Flugblättern. Das Stichwort ›Verrat‹ lieferte Erklärungen für die meisten politischen Konflikte dieser Zeit. Das Bedrohungs- und Untergansszenario, die »paranoide Struktur« (Hans Magnus Enzensberger), das neuzeitlichen Verratskonzepten vielfach innewohnte, wurde hier zum ersten Mal ausgebildet. Das macht die untersuchten Zusammenhänge über die Gleichsetzung von ›Papisten‹ mit Verrätern hinaus für die Geschichte des Deutungsmusters interessant. Die Verräterfiguren Benedict Arnold und Franz Raffl, die Volker Depkat und Andreas Oberhofer untersuchen, weisen einige Gemeinsamkeiten auf. Beide wurden um 1800 für nationale Gründungserzählungen gebraucht. Ihr Verrat war jeweils das Gegenteil jener heroischen Aufopferung für die Nation, wie es die amerikanischen Unabhängigkeitskämpfer und der Anführer der Tiroler Aufstandsbewegung, Andreas Hofer, unter Beweis gestellt hatten. Zugleich wurden beide Figuren im Laufe der Zeit von ihren initialen Verratshandlungen entkoppelt. Sie avancierten jeweils zum Inbegriff bzw. Topos verräterischen Treibens, auf den in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen rekurriert werden konnte. Für beide Figuren wird der Weg zum Verrat rekonstruiert. Es wird aber genauso deutlich, dass weitere Zuschreibungsinstanzen und Medien nötig wurden, um aus Arnold und Raffl Verräter zu machen. Dabei spielten Gerüchte und mündlich zirkulierende Geschichten ebenso eine Rolle wie, im Falle von Arnold, karnevaleske Umzüge oder, im Falle von Raffs, Passionsspiele. Für Raffl zeigt Oberhofer, wie durch literarische, dramatische und filmische Ausgestaltungen die Figur des ›Judas von Tirol‹ zunächst konstruiert und ab den 1980er Jahren auch wieder filmisch dekonstruiert wurde. Demnach war Verrat dann moralisch zu rechtfertigen, wenn er dem Volk am Ende den Frieden bringt. Nicht Hofer, sondern Raffl erscheint damit als Erlöser. Als negative Figur und Sündenbock der nationalen Mythologie hat Raffl heute offenbar ausgedient. Für Arnold lässt sich eine derartige Dekonstruktion nicht aufweisen. So zeigen etwa Comics, dass er in den Vereinigten Staaten immer noch als identitätsstiftende Abgrenzungsfigur taugt, zu der er im Laufe des 19. Jahrhunderts aufgebaut worden war. Malinchista  – so wird heute in Mexiko eine Verräterin an der eigenen Nation bezeichnet. Aber galt dieses Stigma bereits für die historische Person, die La Malinche genannt wurde. Über deren Leben, so Katrin Dircksen, kaum mehr bekannt ist, als dass sie aus der aztekischen Oberschicht stammte, versklavt wurde, in den Besitz des Konquistadoren Hernán Cortés gelangte, getauft und mit ihm vermählt wurde, mit ihm ein Kind bekam und fortan als seine Dolmetscherin fungierte. Diese Rolle als linguistische Grenzgängerin und Vermittlerin zwischen den Kulturen wurde u. a. in dem illustrierten Kodex Lienzo de Tlaxcala

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(ca. 1585) eindrucksvoll ins Bild gesetzt. Für eine Verratssemantik finden sich allerdings weder hier noch in der spanischen Überlieferung aus dem 16. Jahrhundert Anhaltspunkte. Die triadische Struktur des Verrats  : Malinche verrät ihr Volk an die spanischen Invasoren, war vielmehr eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, eine identitätsstiftende Erzählung des unabhängig gewordenen Mexiko. Nach der mexikanischen Revolution (1911–1920) wurde dieses Verratskonzept in bemerkenswerter Weise und unter geschlechtsspezifischen Vorzeichen modi­ fiziert  : La Malinche galt nun als Mutter einer Nation aus Mestizen, ihr Verrat war demnach die sexuelle Vereinigung mit Cortés, der als nationaler Zeugungsakt zugleich beklagt und affirmiert wurde. Malinche stand und steht damit für einen widersprüchlichen Verrat, der die Nation zugleich erschuf und stigmatisierte. In dieser Widersprüchlichkeit kann der Malinche-Verrat noch heute als »Symbol der Schwierigkeit der Mexikaner im Umgang mit ihrer Vergangenheit« (254) verstanden werden. Fabian Thunemann zeigt, wie sehr das politische Denken im Stalinismus um das Problem des Verrats kreiste. Es scheint fast so, als wären Verrats- und Verschwörungsvorstellungen neben der entgrenzten Gewalt ein Kennzeichen des Stalinismus gewesen. Da die bolschewistische Bewegung in ihren Anfängen auf konspirative Mittel setzte, unterstellte sie ihren Gegnern die gleiche Vorgehensweise – und litt fortan »unter der Obsession, dass sich Verräter bei ihnen eingeschlichen hätten« (267). Die des Verrats Verdächtigten galten als Konterrevolutionäre, bisweilen standen sie auch im Verdacht, Agenten oder die ›fünfte Kolonne‹ obskurer ›ausländischer Mächte‹ zu sein. Besonders offensiv wurde in politischen und ökonomischen Krisenphasen die Allgegenwart von solchen ›Feinden‹ und ›Verrätern‹ postuliert. Die den Verratsdiskursen fast immer inhärenten paranoiden Elemente erreichten im Stalinismus sicher einen Höhepunkt. Dass es sich dabei nicht nur um politische Propaganda handelte, sondern der Machtzirkel um Stalin diese Verrats- und Verschwörungsszenarien offenbar als Realität betrachtete, zeigt sich an ihrer nicht für die Öffentlichkeit bestimmten, internen Korrespondenz. Dabei bestätigten »Realitätsfetzen« (276) wie Attentate auf Gefolgsleute von Stalin diese paranoide Mentalität. Der Stalinismus stand aber nicht nur für eine Hochkonjunktur des Verratsdenkens, sondern auch für eine der Verratspraktiken. Von den Untertanen wurde die Denunzierung ›konterrevolutionärer‹  – also im Sinne des Regimes verräterischer  – Handlungen gefordert, auch im engsten Familienkreis. Die Auslieferung derartiger ›Verräter‹ an die Staatsmacht konnte dem Denunzianten aber selbst den Vorwurf des Verrats einbringen, sodass es für die politische Führung darauf ankam, hier die Deutungshoheit zu behalten. Die Heroisierung und regelrechte Kanonisierung des minderjährigen Denunzianten Pavlik Morozov stehen exemplarisch für sol-

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che staatlichen Deutungsversuche. Zugleich heizten die zahllosen denunziatorischen Schreiben die Paranoia des Regimes weiter an. Wie wichtig Verratsvorwürfe für die Entfaltung der stalinistischen Terrorherrschaft waren, zeigen die vier Millionen Urteile wegen Verrats zwischen 1921 und 1953, die in zwanzig Prozent mit Hinrichtungen endeten. Malte Zierenberg nutzt den Mord am SA-Anführer Ernst Röhm 1934 für eine zweidimensionale Interpretation von Verratsdiskursen  : Zum einen spiegeln sich in diesem Fall Verratsvorstellungen, wie sie in Deutschland seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ausgebildet wurden. Zum anderen lässt sich zeigen, wie die Propagandisten des NS-Regimes durch dramatisch ausgestaltete Geschichten des Röhm-Verrats Legitimationskrisen unmittelbar nach der Machtergreifung übertünchen konnten. Das konnte deshalb funktionieren, weil ›Verrat‹ in der Weimarer Republik zu einem zentralen Element gesellschaftlicher Selbstbeobachtung geworden war, zur Grundvokabel einer »Gesellschaft im Lauerzustand« (295). Verratsvorwürfe verteilten sich über alle politischen Lager, aber im Verständnis der nationalsozialistischen Bewegung waren sie nicht zuletzt das semantische Äquivalent zu ihrer Verachtung der demokratischen Verfahrensweisen. Die Nationalsozialisten ließen nur den als ›natürlich‹ gedachten, unmittelbaren Zusammenhang von Führer und Volk gelten. Als die öffentliche Irritation über das gewaltsame Auftreten der SA 1934 zum Problem für das NS-Regime wurde, wurde der Mord an Röhm als heroischer Schlag gegen einen Verräter inszeniert, indem ihm und der SA-Führung nicht nur konspirative Machenschaften, sondern auch unnatürliche Praktiken und ein unmoralischer Lebenswandel vorgeworfen wurden. Die Beseitigung der Verräter konnte als Beseitigung einer für die ›Volksgemeinschaft‹ inakzeptablen charakterlichen Unordnung gedeutet werden. Mit den komplexen Dynamiken von Verratsvorwürfen im Italien der spätfaschis­ tischen Phase beschäftigt sich Massimiliano Livi. Damit leistet er einerseits ­einen Beitrag zur Zeitgeschichte des Verrats in Italien, andererseits aber auch einen Beitrag zur Geschichte der italienischen Erinnerungspolitik der Gegenwart. Bei Letzterem geht es nicht nur um die Bewertung des Verhaltens der Bevölkerung in dem vom NS-Regime besetzten Norditalien, sondern auch um die historische Aufwertung faschistischer Akteure, deren Nachfolger »in der Hochphase des Berlusconismus« (301), wieder in Regierungsämter strebten. Livi geht davon aus, dass Verrat im Königreich Italien (1861–1946) zunächst einmal den Treuebruch gegenüber dem König implizierte, ganz im Sinne der traditionellen Majestätsgesetze. Ausgangspunkt des Bedeutungswandels war dann ein erinnerungspolitisch höchst umstrittenes Datum, nämlich der 8.  September 1943. Mussolini war im Juli dieses Jahres, nach der Landung der Alliierten auf Sizilien,

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abgesetzt worden. König Viktor Emanuel III. hatte daraufhin Marschall Pietro Badoglio mit der Bildung einer Militärregierung beauftragt, die wiederum am genannten Datum mit den Alliierten einen Waffenstillstand beschloss. Daraufhin befreite das Deutsche Reich Mussolini, besetzte den Norden Italiens und installierte auf diesem Territorium mit der Repubblica Sociale Italiana einen faschistischen Satellitenstaat. Die faktische Zweiteilung Italiens stellte die Italiener nicht nur vor die Wahl ›Loyalität oder Verrat‹ am König, sondern führte vor allem in der Repubblica Sociale zu einer Entgrenzung der Verratsvorwürfe  : Wer nicht aktiv die Partisanen bekämpfte, konnte als Verräter denunziert werden. Im Zusammenwirken mit den gnadenlosen Vergeltungspraktiken von Wehrmacht und Waffen-SS erwiesen sich gerade solche Verratsvorwürfe als Vehikel und Legitimation von Massakern an der Zivilbevölkerung. Ihren Status als Deutungsmuster erlangten ›Verrat‹ und ›Verräter‹ nicht nur durch sprachlich-diskursive Mittel, sondern auch durch Visualisierungen – die zahlreichen Abbildungen in diesem Band belegen das deutlich. Olaf Stieglitz fragt in seinem Beitrag nun systematisch nach der Rolle von Bildern bei der Produktion von Verräterfiguren. Er führt diese Wirkmacht des Visuellen am Fall des Ehepaars Rosenberg vor. Den Rosenbergs war 1951 Rüstungsspionage vorgeworfen worden, die zur erfolgreichen Entwicklung sowjetischer Atomwaffen beigetragen habe. Julius und Ethel Rosenberg, beide Mitglieder der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten, wurden 1951 zum Tode verurteilt und, nach erfolgloser Berufung und abgelehntem Gnadengesucht, 1953 hingerichtet. Man weiß heute, dass die Vorwürfe gegen Julius Rosenberg durchaus berechtigt waren, gegen seine Frau Ethel aber nicht. In der aufgeheizten Atmosphäre der McCarthy-Ära (1950–1955), die der Historiker Richard Hofstadter als herausragendes Beispiel für den »paranoiden Stil des Politischen« (1964) gewertet hat, galt jedoch vor allem Ethel als Verräterin. Stieglitz zeigt nun, wieso sich diese Paranoia und das für die meisten Verratskonjunkturen charakteristische Verschwörungsdenken gerade auf diese Frau richteten  : Wenn aus Sicht des damaligen FBI-Direktors Hoover kommunistische Verräter unsichtbar im Land lebten, dann war ihre Demaskierung ein immenser Erfolg, ein erlösender Schlag gegen das Böse. Gerade die von den Rosenbergs publizierten Polizei- und Pressefotos wurden von Teilen der Öffentlichkeit nun als Entschleierung des Atom-Verrats und seiner treibenden Kraft gedeutet. Bei Ethel meinte man z. B., dass bereits ihr Gesichtsausdruck eine ganze Reihe unamerikanischer Wesenszüge offenbare, die wiederum darauf schließen ließen, dass die Anstiftung zum Verrat von ihr ausgegangen sein müsse. Allerdings konnten die zur »Ereignisikonen« (317) avancierten Bilder der Rosenbergs auch ganz anders gedeutet und bei den internationalen Kampagnen gegen ihre Hinrichtung verwendet werden.

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Wenn es um den Zusammenhang von Verratsvorwürfen und der Ostpolitik der Regierung Brandt geht, denkt man gewöhnlich an entsprechende Invektiven aus rechten Kreisen gegenüber dem sozialdemokratischen Bundeskanzler. Dass aber auch solche Vorwürfe von Seiten regierungsfreundlicher Medien wie Spiegel und Stern an die Adresse der christdemokratischen Opposition und der konservativen Presse von FAZ über Quick bis zu Springer erhoben wurde, zeigt Peter Hoeres. Zugleich kommt damit auch eine weitere Variante des Verrats in den Blick  : Es geht hier nicht um den Wechsel ins Lager der Feinde oder um Verräter, die man sich als Staatsfeinde vorstellt und entsprechend verfolgt, sondern um Leaking-Praktiken, um das ›Durchstoßen‹ geheimer Papiere, mit der Absicht, die Regierung zu desavouieren. Diese Praktiken erreichten 1972 einen Höhepunkt, als die Quick Auszüge aus den Verhandlungsprotokollen deutscher Regierungsvertreter mit sowjetischen Funktionären veröffentlichte, die der Illustrierten zugespielt worden waren. Dabei sorgten bestimmte Authentizität und simulierende Layouttechniken für eine weitere Dramatisierung der geleakten Verhandlungsgegenstände, bei denen etwa die deutsche Wiedervereinigung keine Rolle mehr zu spielen schien. Obwohl auch damit stillschweigend Verratsvorwürfe transportiert wurden, wurde der Verratstopos tatsächlich aber recht exklusiv von Spiegel und Stern mobilisiert, kulminierend in der Spiegel-Ausgabe vom 24. April 1972, in der ausführlich über Verrat in Bonn berichtet wurde. Dass die eher linken Magazine hier von Verrat sprachen, war allerdings nicht mehr ein rhetorisches Mittel. Vielmehr betrachteten sie das Leaking klassifizierter Papiere nicht nur als Akt der Bloßstellung, sondern als Angriff auf Staat und Demokratie, mithin also als einen subversiven Akt, für den der Begriff des Verrats gerade recht war. Zugleich sorgten die Verratsvorwürfe für eine enorme Polarisierung von Politik und Medien, die sich aber nicht allein durch Zeitumstände (Kalter Krieg) erklären lässt, sondern vielmehr durch diese diskursive Ressource selbst erzeugt wurde. Gibt es zwischen den Verratsdiskursen bei Brutus, Tassilo III., Moritz von Sachsen, den hessischen Rittern, Franz Raffl, den Rosenbergs, der Ostpolitik und den anderen in diesem Band untersuchten Fällen Verbindungslinien oder wiederkehrende Merkmale  ? Was lässt sich über den Wandel, also die Geschichte des Deutungsmusters Verräter/Verrat von der Antike bis zur Gegenwart sagen  ? Ich möchte dies abschließend in fünf Punkten versuchen zu beantworten  : 1. In keinem der Fälle ergab sich die Deutung der Vorgänge und Personen als Verrat oder Verräter gleichsam ›von selbst‹. Sie musste explizit vor- und eingebracht werden. Dies lenkt den Blick auf die Medien des Deutungsmusters. Solche Medien waren die Geschichtsschreibung (bei Brutus und Tassilo) und die höfische Literatur des Mittelalters. Mit dem Beginn der Frühneuzeit wurde

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Verrat bzw. wurden Verratsdiskurse dann zum Gegenstand von Druckmedien, sei es beim Herzog von Guise, bei den Fürstenbergs, bei Benedict Arnold oder der Ostpolitik. Dass es in den Jahrhunderten nach 1500 immer mehr Verratsfälle gab, hatte auch mit der Medienrevolution und dem Aufstieg der ›Gutenberg-Galaxis‹ zu tun. Insofern ist es kein Zufall, dass wir aktuell, im Kontext der zweiten, digitalen Medienrevolution, erneut eine singuläre Hochkonjunktur von Verratsdeutungen beobachten können. 2. Verratsvorwürfe bildeten politische Polarisierungen und Konflikte nicht bloß ab. Vielmehr wohnte und wohnt solchen Vorwürfen auch eine performative Wucht inne  : Sie erzeugen demnach das, was sie bezeichnen. Wer von Verrat spricht, setzt diesen unter bestimmten Umständen auch als soziales Faktum in die Welt. Inwiefern dies gelingt, hängt ganz maßgeblich wiederum von den medialen Umständen ab  : Geschichtsschreibung und Massenmedien haben sich dabei als wichtige Faktoren erwiesen. Im mündlichen Austausch von Angesicht zu Angesicht waren Verratsvorwürfe dagegen besonders prekär und wurden eher vermieden, wenn nicht eine asymmetrische Machtverteilung (wie etwa vor Gericht) die Aussprache solcher Vorwürfe erleichterte. 3. Verratsvorwüfe waren und sind Mittel zur Inklusion und Exklusion  : Sie erzeugen Gemeinschaften von Verratenen, denen Verräter und Verschwörer gegenüberstehen. Deren Ausschluss konnte ganz unterschiedlich ausgestaltet werden  : Verräter schmorten in der Hölle, wurden physisch vernichtet, verbannt oder der ›damnatio memoriae‹ unterworfen. In der Gegenwart zeigt sich aller­ dings, dass der Vorwurf des Verrats auch auf diejenigen zurückfallen kann, die ihn leichtfertig erhoben haben und die sich auf diese Weise selbst aus der demokratischen Diskursgemeinschaft exkludieren. Als akzeptierte Vokabel der politischen und gesellschaftlichen Sprache war und ist Verrat ein Kennzeichen vordemokratischer, postdemokratischer, autoritärer und totalitärer Zustände. 4. In rechtlicher Hinsicht wurde Verrat sowohl als Verbrechen am Herrscher konzipiert als auch als Verbrechen an einem Kollektiv, am populus, an der existierenden Herrschafts- oder Verfassungsordnung. Aus diesem Grund konnte Verrat auch als kollektive Bedrohung verstanden werden und nicht nur als interpersonaler Vertrauensbruch. Dieses generalisierende Verratsverständnis wurde immer wieder instrumentalisiert  ; mit ihm ließ sich die unnachgiebige Verfolgung von Personen rechtfertigen, die als Verräter oder ›innere Feinde‹ typisiert wurden. 5. Verstärkt durch Druck- und Massenmedien konnte sich ein generalisierendes Verratsverständnis zur einer »paranoiden Struktur« (Enzensberger) auswachsen. Die Tendenzen dazu nahmen im Laufe der Neuzeit nicht ab, sondern zu. Im Nationalsozialismus, Faschismus und Stalinismus dienten Verratsvorwürfe nicht mehr nur als Legitimationsvorwand für die Verfolgung einzelner Gegener, sondern für Massenmorde. Auch wegen dieses ›Erbes‹ tun sich demo-

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kratische Gesellschaften heute mit dem Begriff schwer, widersteht man etwa der Versuchung, Verrat als Straftatbestand zu mobilisieren, zögert man, Whistleblower als Verräter zu bezeichnen. Quellen und Literatur Åkerström, Malin, Betrayal and betrayers. The sociology of treachery, New Brunswick (NJ) u. a. 1991. Anceau, Éric, Les traîtres et autres Judas de l’histoire, Paris 2013. Archer, Jules, Treason in America. Disloyalty Versus Dissent, New York 1971. Arndt, Hans-Joachim, Vernunft und Verrat. Zum Stellenwert des Treubruchs in der Politischen Theorie, in  : Theory and Politics. Festschrift zum 70. Geburstag für Carl Joachim Friedrich, hrsg. v. Klaus von Beyme, Dordrecht 1971, 589–609. Bellamy, John Gilbert, The Tudor law of treason (Studies in social history), London/Toronto/Buffalo 1979. Ben-Yehuda, Nachman, Betrayal and treason. Violations of trust and loyalty (Crime & society), Boulder (Colo.) 2001. Billoré, Maïté/Soria, Myriam/Aurell, Martin (Hrsg.), La trahison au Moyen Âge. De la monstruosité au crime politique (Ve–XVe siècle) (Collection Histoire), Rennes 2009. Billoré, Maïté, Introduction, in  : La trahison au Moyen Âge. De la monstruosité au crime politique (Ve–XVe siècle), hrsg. v. Maïté Billoré/Myriam Soria/Martin Aurell (Collection Histoire), Rennes 2009, 19–34. Blickle, Renate, Rebellion oder natürliche Defension. Der Aufstand der Bauern in Bayern 1633/34 im Horizont von gemeinem Recht und christlichem Naturrecht, in  : Dies., Politische Streitkultur in Altbayern. Beiträge zur Geschichte der Grundrechte in der frühen Neuzeit, Berlin/Boston 2017, 60–90. Boveri, Margret, Der Verrat im 20. Jahrhundert, Reinbek 1976. Brecht, Christoph, Perduellio, in  : Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaften. Neue Bearbeitung, 37. Halbband. Pech bis Petronius, hrsg. v. Georg Wissowa/Wilhelm Kroll, Stuttgart 1937, 615–639. Brittnacher, Hans Richard (Hrsg.), Verräter. Studien zu Natur, Kultur und Film (Projektionen, 9), München 2015. Broughton, J. Richard, The Snowden Affair and the Limits of American Treason, in  : Lincoln Memorial University Law Review (2015). Cavina, Marco, Tiberio Deciani (1509–1582). Alle origini del pensiero giuridico moderno (Strumenti di storia del Friuli, 2), Udine 2004. Chaitkin, Anton, Treason in America. From Aaron Burr. to Averell Harrima, New York 1984. Cornwall, Mark, Traitors and the meaning of treason in Austria-Hungary’s Great War, in  : Transactions of the Royal Historical Society 25 (2015), 113–134. Czech, P., Der Kaiser ist ein Lump und Spitzbube. Majestätsbeleidigung unter Kaiser Franz Joseph, Wien 2010. Danzer, Doris, Zwischen Vertrauen und Verrat. Deutschsprachige kommunistische Intellektuelle und ihre sozialen Beziehungen (1918–1960) (Freunde – Gönner – Getreue, 5), Göttingen 2012. Deciani, Tiberio, Tractatus Criminalis D. Tiberii Deciani Utinensis, Comitis, Equitisque, Ac Cele­ berrimi Iuris Utriusque Consultissimi […]. Hanc Novam Editionem P. Corn. Brederodius IC. sin­ gulari Tractatu seu Locis communibus auxit, de novo recensuit, recognovit  ; Summariis, Notis interdum, & Indicibus illustravit, Literarum denique varietate distinxit, Frankfurt a. M. 1613.

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1  : Jesus bezeichnet Judas Ischariot als seinen Verräter, Relief (Sandstein) an der Brüstung des Westlettners im Naumburger Dom, um 1250, © Bildarchiv Foto Marburg. Abbildung 2  : Judas erhält die dreißig Silberlinge, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Graph. C  : 526. Abbildung 3  : Die Judaskommunion (ca. 1185–1215), Relief am Lettner von Santa Maria Assunta (Volterra), KHI Florenz  : 586359 (s/w, 6x7) Signatur  : Arch. Rom. u. Got., Aufn. Sigismondi, Roberto, Zugang  : 2004.03.08 (Aufnahme von 2003). Abbildung 4  : Das Gebet auf dem Ölberg und der Judaskuss. Zwei von 46 gotischen Fresken in der Kirche Maria im Stein (Beram, Kroatien), um 1470, eigene Aufnahme. Abbildung 5  : Boëtius Adamsz. Bolswert, Judas verrät Christus mit einem Kuss, 1622, Rijksmuseum Amsterdam, RP-P-BI-2158. Abbildung 6  : Der Selbstmord des Judas aus dem Passionszyklus in der Chapelle Notre-Dame-­desFontaines de la Brigue von 1491, Wikimedia Commons. Abbildung 7  : Die Hinrichtung des Hugh Despenser d. J.,1326. Illustration (ca. 1470) aus der Chronik des Hundertjährigen Kriegs von Jean Froissart, Bibliotheque Nationale MS Fr. 2643, folio 11r, Wikimedia Commons. Abbildung 8  : Zerstückelung eines Verräters, Mitte des 14. Jahrhunderts, aus  : Bernardus Guidonis, Fleurs des chroniques, BM Besançon, MSs 677, fol. 91.

Fabian Schulz

Brutus, Tyrannen- oder Vatermörder  ? Machtkampf und Deutungshoheit

In den Iden des März 44  v.  Chr. wurde Julius Caesar im Senat ermordet. Der geniale Feldherr, der fünf Triumphe gefeiert hatte und gerade einen Feldzug gegen die Parther vorbereitete, hatte sich gründlich verschätzt. Es war ihm nicht gelungen, für seine immer autokratischere Stellung die Akzeptanz der Senats­ aristokratie zu gewinnen. Ihn trafen 23 Stiche. Die Attentäter hegten die trügerische Hoffnung, dass ihre Tat die Republik wiederbeleben würde. Der prominenteste unter den mehr als 50 Verschwörern war Marcus Iunius Brutus, dessen Geschlecht sich rühmte, durch die Vertreibung des letzten Königs, Tarquinius Superbus, vor über vierhundert Jahren die Republik begründet zu haben. Brutus scheint spät zu den Verschwörern gestoßen, dann aber gleich ihr Anführer geworden zu sein (andere halten Cassius oder seinen Namensvetter Decimus Brutus für den Kopf).1 Über die Frage, ob Caesar ein Tyrann war, dessen Beseitigung legitim war oder nicht, gehen die Meinungen von der Antike bis heute auseinander.2 Entsprechend betrachten die einen die Verschwörer als Mörder und Verräter, die anderen als Befreier, Helden und Märtyrer.3 Das Gleiche gilt für Brutus.4 Die Beurteilung seiner Tat hängt nicht nur davon ab, wie man seinen Anteil an der Verschwörung und seine Motive, sondern auch wie man sein Verhältnis zu Caesar einschätzt. Denn Nähe oder Distanz entscheiden darüber, ob ein Vertrauens- und Loyalitätsverhältnis verletzt wurde, sodass man von Verrat sprechen kann. Auf diesen Punkt möchte ich mich im Folgenden konzentrieren, ohne mich dabei zum Richter über Brutus aufzuschwingen oder Forschungsmeinungen zu referieren. Vielmehr sollen die antiken Diskurse zu dieser Frage nachgezeichnet und in ihrem historischen Kontext verortet werden  : Es ging um die Deutungshoheit und die Macht, die aus ihr erwächst. 1 2 3 4

Baltrusch, Caesar und Pompeius, 165–167. Christ, Caesar. So zuletzt Dahlheim, vgl. Schulz, Rez. Dahlheim. Gotter, Der Diktator ist tot, 207–212 arbeitet die jüngere Forschung auf  ; Clarke, The noblest Roman besonders die Rezeptionsgeschichte  ; Rawson, Cassius and Brutus differenziert die antiken Quellen.

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›Auch du, mein Sohn‹ ›Auch du, mein Sohn (Brutus)‹, ist ein geflügeltes Wort, mit dem wir g­ espieltes oder echtes Erstaunen zum Ausdruck bringen, wenn jemand zur Gegenpartei überläuft und uns in den Rücken fällt.5 Caesar soll diese Worte (es waren bekanntermaßen seine letzten) gesprochen haben, als er Brutus unter den Männern sah, die sich anschickten, ihn im römischen Senat zu ermorden. Die Variante mit Eigenname ist klangvoller, da sie sich mit Auftakt, Daktylus und Spondeus wie das Ende eines Hexameters anhört. Daneben kursieren lateinische Fassungen, die besonders im angelsächsischen Raum beliebt sind  : Et tu, Brute und bisweilen Tu quoque, (Brute) mi fili. Den wenigsten, die diese Worte im Mund führen, ist bewusst, dass mit Cae­ sars letzten Worten viele sprachliche und historische Probleme verbunden sind. Die lateinischen Versionen, die so authentisch klingen, sind nicht antik  : Et tu, Brute stammt aus Shakespeares’ Stück »Julius Caesar« und Tu quoque, mi fili aus der Caesarvita von Charles François Lhomond, die erstmals 1779 erschien. Et tu quoque, Brute, fili mi ist bereits im frühen 17. Jahrhundert bei Martín Doyza belegt. Bei Sueton (1./2.  Jh.  n. Chr.), dem einzigen lateinischen Autor, der die letzten Worte bezeugt6, sagt Caesar hingegen auf Griechisch  : καὶ σὺ τέκνον – auch du, Kind, wofür sich verschiedene Erklärungen anführen lassen  : Entweder fällt Caesar in die Bildungssprache oder zitiert einen griechischen Autor, den wir nicht kennen. Der Satz lässt sich verschieden interpretieren  : als Frage oder Feststellung. Τέκνον kann nicht nur das eigene Kind, den Sohn, sondern auch ein fremdes bezeichnen. Filius ist also eine Zuspitzung, aber eine naheliegende. Meistens wird ›Kind‹ nämlich als ›Sohn‹ verstanden, also als Ausdruck der Betroffenheit oder Resignation eines Mannes mit väterlichen Gefühlen. Umgekehrt lässt sich τέκνον auch abfällig oder drohend deuten  : auch du wirst so enden, Kleiner, was ich aber für unwahrscheinlich halte. Denn das passt nicht zu Caesars Charakterisierung, für die Milde und Selbstbeherrschung zentral sind, und den Regeln der Dramatik. Wörtliche Zitate sind in antiken Texten immer verdächtig, zumal wenn sie in Quellen mit großer zeitlicher Distanz überliefert werden. Gerade dieser Satz klingt nach Ausschmückung. Dessen war sich anscheinend nicht nur Sueton, sondern auch Cassius Dio (2./3. Jh. n. Chr.), der einzige griechische Autor, der diesen Satz bezeugt, bewusst  : Beide halten es für wahrscheinlicher, dass Caesar schweigend starb.7 Wenn sie ihn doch bringen, dann weil er gut erfunden ist, 5 Es ist in diesem Wortlaut bereits im 18. Jahrhundert belegt. 6 Sueton, Kaiserbiographien, Caesar, 82,3. Ferner Cassius Dio, Römische Geschichte, 44,19. 7 Bei Appian und Plutarch wehrt sich Caesar lautstark, gibt aber beim Anblick von Brutus auf (Appian, Römische Geschichte, 2,117  ; Plutarch, Große Griechen und Römer, Brutus, 17).

Brutus, Tyrannen- oder Vatermörder  ? 

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und Caesars Ende einen dramatischen Höhepunkt verleiht. Denn hier fallen nach antiker Dichtungstheorie der Moment der Erkenntnis (Anagnorisis) und der Wendepunkt (Peripetie) zusammen  : Caesar erkennt, dass sein Vertrauter, sein Ziehsohn, zum Verräter geworden ist  – das Attentat bringt einen Umschwung vom Glück ins Unglück. Wenn Caesar mit diesen Worten andeutet, dass er Brutus für seinen leiblichen Sohn hält, wird Brutus sogar zum Vatermörder – schlimmer als Orest. Sueton berichtet, dass Caesar in jungen Jahren ein Verhältnis mit Brutus’ Mutter hatte.8 Plutarch und Appian bezeugen Gerüchte, dass Brutus die Frucht dieser Verbindung, also Caesars leiblicher Sohn war (1./2. Jh. n. Chr.).9 Ihre Vorbehalte teilen die modernen Historiker, da gegen Vaterschaft der geringe Altersabstand von fünfzehn Jahren zu sprechen scheint. Anerkannt hat Caesar Brutus jedenfalls nie. Beide Autoren berichten auch ausführlich von den Wohltaten, die Brutus von Caesar erhielt  : Obwohl dieser im Bürgerkrieg auf der Seite von Caesars Gegner, Pompeius, kämpfte, soll jener seinen Offizieren vor der Schlacht von Pharsalos (48 v. Chr.) aufgetragen haben, diesen lebendig gefangen zu nehmen oder laufen zu lassen. Nach dem Sieg hat Caesar ihn begnadigt und, wo er nur konnte, gefördert  : 46 v. Chr. übergab er Brutus die Verwaltung der Provinz Gallia Cisalpina  ; 44 v. Chr. das Amt des Praetors und versprach ihm für 41 v. Chr. sogar das Konsulat.10 Cassius Dio spricht hingegen beiläufig und unspezifisch von Wohltaten, die Brutus empfangen habe.11 Sueton und er sind also, was die Nähe von Brutus und Caesar angeht, eher vorsichtig. Beide sind aber die einzigen Autoren, die von dem Beschluss berichten, die Iden des März ›Vatermordstag‹ zu nennen und an ihnen nie wieder eine Senatssitzung abzuhalten12, was einen an Caesars καὶ σὺ τέκνον zurückdenken lässt.

Der Brutus-feindliche Diskurs in der kaiserzeitlichen Literatur Die Reaktion von Caesars Anhängern auf dessen Tod scheint der Ausgangspunkt für einen Brutus-feindlichen Diskurs gewesen zu sein, der bei Sueton und Cassius Dio im καὶ σὺ τέκνον und bei Plutarch und Appian in den Gerüchten über die Vaterschaft und den vielen Wohltaten hervorblitzt, die Brutus inkriminieren. Bei anderen Autoren ist er prononcierter. Wir wollen uns Diskurs  8 Sueton, Kaiserbiographien, Caesar, 50,2.  9 Appian, Römische Geschichte, 2,112 und Plutarch, Große Griechen und Römer, Brutus, 5–7. 10 Plutarch, Große Griechen und Römer, Caesar, 62. 11 Cassius Dio, Römische Geschichte, 44,13,1. 12 Sueton, Kaiserbiographien, Caesar, 88 und Cassius Dio, Römische Geschichte, 47,19,1.

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und Ausgangspunkt im Folgenden näher ansehen. Am schärfsten urteilt Valerius Maximus (frühes 1. Jh. n. Chr.). Er berichtet von einem Vorzeichen, das Brutus nach dem Vatermord ein gebührendes Ende angekündet habe  : durch die Pfeile des Gottes Apollon, der in der Schlacht bei Philippi (42 v. Chr.) auf Seiten von Octavian, Caesars Adoptivsohn, und Antonius, seinem früheren General, kämpfen werde.13 An anderer Stelle heißt es  : Indem Markus Brutus am Vater des Vaterlandes Vatermord beging, gab er nicht nur jenem, sondern auch seinen eigenen Tugenden den Tod. Denn diese einzige Handlung begrub all sein Gutes in Vergessenheit, und belastete das Gedächtnis seines Namens mit unauslöschlichem Fluch.14 Hier wird deutlich, dass ›Vatermord‹ zwischen leiblicher Vaterschaft mit Brutus und einer metaphorischen Vaterschaft für alle Bürger changiert  : ›Pater patriae‹ war ein Ehrentitel, der Caesar ungefähr ein Jahr vor seinem Tod verliehen worden war. Brutus erscheint also als Landesverräter. Velleius Paterculus (frühes 1. Jh. n. Chr.) fällt ein ganz ähnliches Urteil über Brutus  : Eine einzige verwegene Schandtat habe alle seine Tugenden zunichte gemacht.15 Obwohl Caesar ihm das Konsulat versprach, habe er Brutus nicht gewinnen können. An dem Mordplan waren, heißt es noch wörtlich, noch einige seiner engsten Freunde beteiligt, die ihre hohe Stellung dem Erfolg von Caesars Partei verdankten.16 Caesar erscheint als Opfer von Undankbarkeit  : So erwartete er von anderen die gleiche großmütige Milde, die er selbst immer geübt hatte, und wurde aus Unvorsichtigkeit ein Opfer der Undankbarkeit.17 Seine Mörder missachten das Prinzip der Reziprozität. Tacitus (1./2. Jh. n. Chr.) berichtet von einem Majestätsprozess (25 n. Chr.) gegen einen Geschichtsschreiber, dem vorgeworfen wurde, Brutus und Cassius ausgezeichnete Männer und nicht Banditen und Vatermörder zu nennen, den Vokabeln, mit denen sie gegenwärtig belegt würden.18 Unter der Herrschaft von Kaiser Tiberius (14–37 n. Chr.) scheint es also eine etablierte Sprachreglung gegeben zu haben. Sie scheint auf der Wertung der Ereignisse durch Octavian bzw. Augustus zu beruhen (Tiberius’ Vorgänger), der aber noch abweichende Meinungen zugelassen hatte (s. u.).

Valerius Maximus, Denkwürdige Taten und Aussprüche, 1,5,7. Valerius Maximus, Denkwürdige Taten und Aussprüche, 6,4,5. Velleius Paterculus, Römische Geschichte, 2,72. Velleius Paterculus, Römische Geschichte, 2,56  : D. Brutus und Trebonius, auf dessen Undankbarkeit er zurückkommt (ebd. 2,69). 17 Velleius Paterculus, Römische Geschichte, 2,57  ; vgl. Cassius Dio, Römische Geschichte, 44,39. 18 Tacitus, Annalen, 4,34,3. 13 14 15 16

Brutus, Tyrannen- oder Vatermörder  ? 

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Die Propaganda der Caesarianer Diese Caesar-freundliche, Brutus-feindliche Tradition lässt sich auf die Reaktion der Caesarianer auf den Mord zurückführen. Bald nach dem Mord hatten die Attentäter nämlich die Initiative verloren.19 Ihre Hoffnung, mit dem Tod des Tyrannen werde die Republik neu erstehen, wurde enttäuscht. Antonius (Cae­ sars ehemaliger General und jetzt Konsul), den sie verschont hatten, trieb ein doppeltes Spiel  : einerseits Appeasement gegenüber den Mördern, andererseits versuchte er, Caesars Veteranen an sich zu binden. Den einen Tag ließ er im Senat die Amnestie verkünden, am nächsten verlas er öffentlich Caesars Testa­ ment, das viele seiner Mörder begünstigte, worüber die Menge empört war.20 Außerdem hielt er eine Leichenrede, in der er die Mörder ins Unrecht setzte.21 Die Menge tobte und machte Jagd auf die Attentäter, die Rom überstürzt verließen. Die Caesarianer behaupteten, seine Nachsicht (clementia) sei ihm zum Verhängnis geworden.22 Antonius ging einer offenen Konfrontation mit den Mördern aus dem Weg und versorgte sie sogar mit kleineren Ämtern. Bald musste er aber eine härtere Gangart einschlagen, wollte er nicht gegenüber einer neuen politischen Kraft ins Hintertreffen geraten  : nämlich Octavian, dem gerade Volljährigen, den Caesar testamentarisch zu seinem Erben bestimmt hatte. Dem Adoptivsohn gelang es, Antonius das politische Erbe Caesars streitig zu machen, indem er sich konsequenter als Vollstrecker von Caesars letztem Willen gerierte. Er warf Antonius Untätigkeit vor und versprach, Caesar zu rächen.23 Caesars Anhängerschaft war nun gespalten, aber sie hatte einen gemeinsamen Gegner. So wurden die Verschwörer zu »ideologischen Prügelknaben«, die zwischen beiden Lagern zerrieben wurden.24 Brutus und Cassius saßen über Wochen auf ihren Landgütern und mussten tatenlos mit ansehen, wie sich die Lage immer weiter zuspitzte. Nachdem Antonius sie hin- und kleingehalten hatte, wollte er sie nun loswerden. Er gab ihnen den Auftrag, sich um Getreidelieferungen aus Sizilien und Asia zu kümmern, und stellte ihnen die Verwaltung unbedeutender Provinzen in Aus19 Diese Zeit wird gut beschrieben von Gotter, Der Diktator ist tot. 20 Sueton, Kaiserbiographien, Caesar, 83 und Appian, Römische Geschichte, 2,143. 21 Appian, Römische Geschichte, 2,144 und Cassius Dio, Römische Geschichte, 44,49. Gotter, Der Diktator ist tot, 267 hält die Version von Cassius Dio für eine erfundene Deklamation und gibt Appian (und Cicero) den Vorzug. 22 Cicero, Atticus-Briefe, 14,22,1 [Mai 44]. 23 Appian, Römische Geschichte, 3,15–17  ; Cassius Dio, Römische Geschichte, 45,5–6 und Nikolaos von Damaskus, Fragment 130, 27–28 (Die Fragmente der griechischen Historiker)  ; vgl. Gotter, Der Diktator ist tot, 79. 24 Gotter, Marcus Iunius Brutus, 337.

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sicht. Cassius und Brutus nahmen das Angebot widerwillig an und verließen im August Italien, angeblich, um ihren Aufträgen nachzukommen, tatsächlich, um sich für den abzeichnenden Bürgerkrieg zu rüsten. Zu Ciceros Entsetzen ließ Antonius nun für Caesar eine Statue errichten mit der Inschrift dem höchst verdienten Vater und bezeichnete die Verschwörer vor dem Volk (im Oktober 44) als Hochverräter (proditores) und Vatermörder (parricidae).25 Durch die Sorge für den Übervater und die verbalen Spitzen scheint er mit Octavian in Sachen Legitimation und Radikalität gleichziehen zu wollen. Die folgenden Monate sind unübersichtlich  : Antonius wollte den Caesarmörder D. Brutus aus Gallien vertreiben. Ein Heer des Senats, auf dessen Seite sich überraschend Octavian geschlagen hatte, fiel ihm dabei in den Rücken. Im April 43 v. Chr. feierte man einen Pyrrhussieg über Antonius. Aber als dieser wieder erstarkte, zerbrach die inhomogene Koalition seiner Gegner. Octavian besetzte Rom und erzwang seine Wahl zum Konsul (19. August 43 v. Chr.). Mit der Lex Pedia setzte er die Verfolgung der Caesarmörder ins Werk. Sie wurden in Abwesenheit verurteilt und zu Feinden des römischen Volks erklärt. Außerdem bereitete er eine Einigung mit Antonius vor, indem er dessen Ächtung aufhob. Auf dem »Kadaver der Republik« schlossen Antonius und Octavian im November 43 v. Chr. ein Bündnis, das Zweite Triumvirat.26 Dritter im Bunde war Lepidus, auch ein ehemaliger General Caesars. In die Folgezeit fallen Beschlüsse zu Cae­sars Andenken und Maßnahmen gegen seine Mörder und deren Sympathisanten, z. B. die erwähnte Einführung des ›Vatermordstags‹ (s. o. Anm. 13). Um den Krieg gegen die Caesarmörder in Übersee führen zu können, benötigten die Triumvirn Geld und eine sichere Heimatfront. Um beides zu bekommen, griffen sie zu einem Mittel, von dem seit Sulla niemand mehr Gebrauch gemacht hatte  : Proskriptionen, mit denen sie ihre Gegner ächteten und für vogelfrei erklärten. Caesar hatte diese Maßnahme immer vermieden und auf seine Clementia gesetzt, was ihm zum Verhängnis geworden war. Die lange27 Liste von Namen (darunter Cicero), die den Bekanntmachungen angehängt war und die in den nächsten Wochen abgearbeitet wurde, sollte ein neues Kapitel des leidvollen Jahrhunderts der Römischen Bürgerkriege eröffnen. Dessen waren sich die drei Initiatoren natürlich bewusst, aber sie beanspruchten gegenüber der Öffentlichkeit das Recht und setzten ihre Gegner ins Unrecht, wobei das Argument des Verrats eine besondere Rolle spielte. Da Appian dieses Musterstück

25 Cicero, Briefe an seine Freunde, 12,3,1–2. [Okt. 44]. Selbst sprach er von Tyrannenmördern. 26 Gotter, Marcus Iunius Brutus, 337. 27 Die abweichenden Angaben in den Quellen bringt Bengtson auf einen Nenner, vgl. Bengtson, Zu den Proskriptionen der Triumvirn, 17 f.

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der Propaganda in griechischer Fassung überliefert hat28, lohnt es sich, einen Blick auf den Wortlaut zu werfen  ; ich zitiere und interpretiere den Beginn  : Marcus Lepidus, Marcus Antonius und Octavius Caesar, vom Volke gewählt, das Staatswesen zu ordnen und zu regeln, erklären  : Wenn nicht treulose Schurken kläglich um Gnade gefleht hätten, nach ihrer Begnadigung aber zu Feinden, schließlich zu Verschwörern gegen ihre Wohltäter geworden wären, so wäre weder Gaius Caesar denen zum Opfer gefallen, die er als Kriegsgefangene aus Mitleid schonte, ja sogar zu seinen Freunden machte und insgesamt mit Ämtern, Ehren und Geschenken auszeichnete, noch wären wir jetzt gezwungen, eine solche umfassende Strenge gegen jene anzuwenden, die uns beleidigt und zu Landesfeinden erklärt haben. Nun aber, da wir sehen müssen, dass sich die Bosheit derer, die gegen uns gearbeitet haben und unter deren Händen Caesar starb, nicht zähmen lässt, so wollen wir lieber unseren Gegnern zuvorkommen als unter ihnen leiden. Keiner soll angesichts von all dem, was sowohl Caesar als auch uns widerfahren ist, unser Vorgehen für ungerecht oder grausam oder maßlos halten  ! Obwohl Caesar alle Macht besaß, Pontifex maximus war, die den Römern gefährlichsten Völkerschaften bezwungen und ihrem Reiche einverleibt hatte, als erster Mann jenseits der Säulen des Herakles das bisher unbefahrene Meer kennenlernte und ein Land entdeckte, von dem die Römer noch nichts wussten, wurde er doch mitten in dem für heilig erklärten Senatsgebäude und unter den Augen der Götter durch 23 Wunden frevelhaft niedergestreckt. Die Tat aber wurde vollbracht von Menschen, die von ihm im Kriege gefangengenommen, dann aber geschont, ja sogar zum Teil als Miterben seines Besitzes testamentarisch bestimmt worden waren.29

Am Anfang steht der Vorwurf der Treulosigkeit bzw. des Vertrauensbruchs (ἀπιστία  – lateinisch wohl perfidia). Diejenigen, die Caesar beschenkt, geehrt und gefördert habe  – als seine Freunde  –, seien zu seinen Feinden geworden und hätten sich gegen ihn verschworen. Dass Caesar ihr Leben geschont hatte, kontrastiert mit ihrem perfiden Mord. Die Treulosigkeit (und Undankbarkeit) gegenüber ihrem Wohltäter bzw. ihren Wohltätern, hier benutzen die Triumvirn suggestiv den Plural, sei nicht nur für Caesars Tod verantwortlich, sondern erfordere die anstehende Zwangsmaßnahme  – quasi als Reaktion. Seine Mörder erscheinen als ihre alten und aktuellen Gegner (die uns beleidigt und zu Landesfeinden erklärt haben, unbändige Bosheit). Da sie sich nicht besänftigen lassen, muss man ihnen zuvorkommen  : Die geplanten Proskriptionen wirkten also wie ein präventiver Akt der Selbstverteidigung. In Anbetracht des Erlitte28 Communis opinio für Echtheit, vgl. Bengtson, Zu den Proskriptionen der Triumvirn, 10–13. 29 Appian, Römische Geschichte, 4,8 in der Übersetzung von Veh, in der ὑπὸ φιλανθρωπίας fehlt.

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nen (ἡμᾶς οἷς πεπόνθαμεν) kann man verstehen, dass sie nicht mehr leiden wollen (ἢ παθεῖν). Die Triumvirn identifizieren sich mit Caesar (Wohltäter, Opfer von Aggression und Verrat) und setzen ihre zu proskribierenden Gegner mit dessen Mördern gleich, obwohl diese bereits außer Landes waren. Sie erklären ihr privates Anliegen zum öffentlichen. Die Niederträchtigkeit (πονηροί), Bosheit (κακία) der Gegner kontrastiert mit der Nachsicht (ἐλέῳ) Caesars und der eigenen Humanität (φιλανθρωπία). Die Triumvirn scheinen den Leser nicht nur zu dem Schluss bewegen zu wollen, dass ihr Vorgehen nicht ungerecht, sondern sogar gerecht ist, da es gegen Verräter und Mörder geht. Die Absicht, Caesar zu rächen, erscheint als posthumer Treuebeweis, der im Gegensatz zur Treulosigkeit der Gegner steht.30 Der Vorwurf der Treulosigkeit, der am Ende wieder aufgegriffen wird, fungiert als Klammer und als Klimax, wie ich gleich erläutern werde. Dazwischen steht ein Passus, in dem die Größe und Stellung Caesars herausgestrichen wird, was den Verlust immens und die Tat noch ungeheuerlicher erscheinen lässt  : Caesar wird als der Mann evoziert, der die physischen und intellektuellen Grenzen der Römer als Entdecker (Britanniens) und Eroberer (Galliens) erweitert hat (so hatte er sich immer dargestellt, was viele begeistert rezipiert hatten). Wenn die Täter das weltliche und religiöse Oberhaupt (pontifex maximus) angegriffen haben, erscheinen sie als Aufrührer und Frevler, was sich in der Entweihung des Senatsgebäudes bestätigt. Das kontrastiert mit der Legitimität, die die Triumvirn eingangs herausgestrichen haben  ; mit ihrer ordnenden Kraft (vom Volk gewählt). Die Empörung über das Sakrileg (vor den Augen der Götter) scheint bei Valerius Maximus nachzuklingen, der Apollon auf Seiten von Octavian und Antonius kämpfen lässt.31 Dass die Tat von Menschen begangen wurde, denen Caesar das Leben geschenkt hatte, ist eine Wiederholung  ; dass er sie teilweise sogar als Erben eingesetzt hatte, kommt als bittere Pointe hinzu. Das ganze Repertoire an Vorwürfen, das später in der Caesar-freundlichen Historiographie durchdekliniert wird, ist hier bereits vorhanden. So verwerflich die Proskriptionen aus Sicht der Zeitgenossen (Augustus distanzierte sich später) und der Nachwelt erschienen, sie erfüllten ihren Zweck32  : In Rom blieb es während der Feldzüge gegen die Caesarmörder ruhig. Als letzte wurden Brutus und Cassius bei Philippi geschlagen und beide begingen Selbstmord. Danach sollte es zum Konflikt zwischen Antonius und Octavian kommen, den dieser für sich entschied (bei Actium 31 v. Chr.). Jetzt war Octavian an dem 30 Laut Nikolaos von Damaskus, Fragment 130, 16 soll Octavian von Anfang an auf den Rachedurst derjenigen gesetzt haben, die von Caesar profitiert hatten. 31 Wie Anm. 13. 32 So urteilt Bengtson, Zu den Proskriptionen der Triumvirn, 3 f., 15 f. und 36.

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Punkt, an dem Caesar gewesen (und gescheitert) war  : Er war unangefochten der mächtigste Mann im Staat. Aber er hatte aus dessen Fehlern gelernt und arbeitete nicht gegen den Senat, sondern mit ihm  : In der Folgezeit propagierte er einerseits die Wiederherstellung der Republik und baute andererseits seine Stellung als Alleinherrscher aus. Das war ein Spagat, der sich auch im Andenken an Caesar und dessen Mörder zeigte. Auf der persönlichen Ebene knüpfte er an Caesar an (er rühmte sich, den Mord am Vater gerächt zu haben33), auf der politischen Ebene wahrte er Distanz  : akzeptierte sogar, wenn andere Brutus als Freiheitshelden rühmten.34

Der apologetische Gegendiskurs Gründe, Brutus zu loben, ließen sich viele finden. Selbst Caesar-freundliche Quellen wie Valerius Maximus und Velleius Paterculus kamen nicht umhin, von Brutus’ früheren Tugenden zu sprechen. Viele andere Autoren beschreiben diese Tugenden ausgiebig, ohne deswegen seine Tat gutzuheißen.35 Trotzdem bringen sie für sein Verhalten mehr oder weniger Verständnis auf. Manche scheinen ihn regelrecht vom Vorwurf des Verrats reinwaschen zu wollen. Die Frage, ob Brutus Caesar verpflichtet war, ließ und lässt sich auch anders beantworten, als es die Caesar-Anhänger taten. Brutus hat nach dem Mord Reden gehalten, um sich zu rechtfertigen.36 Sie sind verloren, aber vielleicht gingen sie in die Richtung der Worte, die Appian ihm in den Mund legt  : Denn obwohl wir an Caesars Seite sichere Ehrenstellungen innehatten, achteten wir doch unser Vaterland höher als diese.37 Nikolaos von Damaskus, der Brutus’ Qualitäten lobt und ihn dadurch aus der Menge der gemeinen Verschwörer heraushebt, findet folgende Erklärung für das Verhalten von Caesars Freunden  : Die früheren Freunde Caesars waren diesem nicht mehr wie sonst wohlgesonnen, sahen sie doch diejenigen, die früher Feinde, aber von Caesar gerettet worden waren, in gleicher Weise wie sie selbst [Caesars Freunde] geehrt. Doch auch jene hatten nicht mehr das gleiche Wohlwollen, sondern stärker als Dankbarkeit (nämlich für die scho-

33 Augustus, Tatenbericht, 2. 34 Clarke, The noblest Roman, 80. 35 Vgl. Rawson, Cassius and Brutus, 109 ff. und Clarke, The noblest Roman, 81 ff. Mit Ausnahme von Lukan. 36 Clarke, The noblest Roman, 41. 37 Appian, Römische Geschichte, 2,139.

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nende Behandlung) war jetzt der alte Hass, und der pflanzte ihnen nicht die Erinnerung an das an, was sie infolge ihrer Bewahrung durch Caesar Gutes erfahren hatten, sondern der Gedanke an die Güter, derer sie durch die Niederlage beraubt waren, stachelte sie noch an. Ja, gerade dadurch/dass sie durch ihn gerettet worden waren, wurden viele gegen ihn aufgebracht, obwohl er sie doch wirklich ganz ohne Schimpf in allem behandelt hatte. Dennoch, dass sie durch Gnadenakt empfingen, was an sich Herrschenden sehr leicht zuzukommen pflegt, das prägte sie tief und zermarterte sie.38

Diese Analyse ist bestechend und wird von vielen Historikern wie z. B. Gotter geteilt39  : »Der Dictator hatte gehofft, sich die politische Elite Roms durch Wohltaten zu verpflichten, doch sein Kalkül ging nicht auf. Die Vergabe von Posten als persönliche Gunst war für traditionsbewusste Adlige der römischen Republik letztlich nicht akzeptabel.« Mit Blick auf Brutus bemerkt Gotter zu Recht, dass hinter Caesars Gunst sicherlich auch Kalkül steckte  : Je größere Namen er auf seiner Seite hatte, desto legitimer erschien seine Sache.40 Appian spekuliert über Brutus’ Beweggründe, nachdem er von Caesars Gunst­­bezeugungen und möglicher Verwandtschaft berichtet hatte41  : Vielleicht war Brutus ein undankbarer Mensch (wie seine Gegner sagen), wusste nichts von den Fehltritten der Mutter oder wollte nichts davon wissen, oder fühlte sich als glühender Freund der Freiheit (also als Republikaner) dem Vaterland (mehr als Caesar) verpflichtet und seinem großen Namen. Die Frage, ob Brutus es zulassen durfte, dass Caesar ihm (nach Pharsalos) das Leben schenkte, wo er doch dessen Tod wünschte, wurde laut Seneca (gestorben 65 n. Chr.) viel diskutiert.42 Er nennt Brutus einen großen Mann, der aber bei seinem Attentat falsche politische Ziele verfolgt habe. Seneca meint damit die Abkehr von der Monarchie und den als naiv erachteten Glauben, dass niemand dem Modell Caesars nacheifern würde. Kurzum  : Seneca beurteilt Brutus’ Tat politisch, nicht moralisch oder rechtlich, etwa als Ausdruck von U ­ ndankbarkeit oder als Vatermord  : Obwohl er Caesar sein Leben verdankte, habe Brutus ihn nicht als (Zieh-)Vater ansehen müssen, da dessen Wohltat auf Gewalt fußte. Insofern sei Caesar nicht sein Wohltäter gewesen. Laut Gotter hat Brutus zu Caesar selbst in Zeiten der Nähe eine kritische Distanz gewahrt.43 Baltrusch

38 Nikolaos von Damaskus, Fragment 130, 19. Übersetzung nach Baltrusch, Caesar und Pompeius, 159. 39 Stillschweigend Gotter, Marcus Iunius Brutus, 336  ; Gotter, Der Diktator ist tot, 225. 40 Vgl. Gotter, Der Diktator ist tot, 219. 41 Wie Anm. 9. 42 Seneca, Über die Wohltaten, 2,20,1–3. 43 Gotter, Der Diktator ist tot, 219 f.

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meint, Brutus habe sich von Caesar bereits 46 v. Chr. und nicht erst 44 v. Chr. abgewandt.44

Fazit Es ergibt sich folgendes Fazit  : Vatermord ist die schlimmste Form des Verrats, die in allen Kulturen geächtet war und ist. Aber wer Caesars Söhne waren, war umstritten  : Caesar wurde von seinen Anhängern als Pater patriae zum Übervater erhoben, um seine Mörder und deren Sympathisanten zu inkriminieren und zur Rache aufzurufen  ; Brutus wurde sogar unterstellt, Caesars leiblicher Sohn zu sein – als kämpften die guten Söhne gegen die schlechten. Brutus, die Mitverschwörer und ihre Sympathisanten haben sich geweigert, diese Zuschreibungen zu akzeptieren. Zwischen Antonius und Octavian kam es zu einem regelrechten Kampf um die Vaterschaft Caesars, bei dem Octavian als Adoptivsohn freilich die besseren Karten hatte. Gleichzeitig überboten sie sich in der Ächtung der Mörder, denen sie Verrat und Undankbarkeit unterstellten. Die Verschwörer gerieten so unter die Räder  : erst rhetorisch, dann juristisch. Die Prozesse waren reine Formsache, da sie in Abwesenheit geführt wurden und die Urteile auf dem Schlachtfeld vollstreckt wurden. Der Verrat der Caesarmörder wurde von den Triumvirn als Rechtfertigung für das Morden der eigenen Gegner genutzt. In diesen Auseinandersetzungen lag der Ausgangspunkt für den Brutus-feindlichen Diskurs, der sich unter Tiberius zuspitzte und sich über Valerius Maximus und Velleius Paterculus bis zu Dante zieht. Brutus-kritische Töne klingen im antiken καὶ σὺ τέκνον nach, das in latinisierter und eingedeutschter Form in unseren Kultur- und Wortschatz eingegangen ist. Aus der Perspektive der Verschwörer gab es hingegen gute Gründe, die sie der Treuepflicht gegenüber Caesar entbanden und zum Handeln zwangen. Darauf fußt der Brutus-freundliche Diskurs, der diesen zum Tyrannenmörder und Befreier erhebt. Beide Diskurse lassen sich also auf einen Kampf um die Macht und die Deutungshoheit zurückführen. Quellen Appian, Römische Geschichte, übersetzt u. hrsg. v. Otto Veh, 2 Bde., Stuttgart 1987–1989. Augustus, Tatenbericht, Lateinisch/Griechisch/Deutsch, übersetzt, kommentiert und hrsg. v. Marion Giebel, Stuttgart 1980. Cassius Dio, Römische Geschichte, übersetzt u. hrsg. v. Otto Veh, 5 Bde., Zürich 1985–1987. 44 Baltrusch, Caesar und Pompeius, 165  ; anders Gelzer, Brutus, Sp. 987 f.

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Cicero, Atticus-Briefe, Lateinisch-deutsch, hrsg. v. Helmut Kasten, München 1975. Cicero, Briefe an seine Freunde, Lateinisch-deutsch, hrsg. v. Helmut Kasten, München 1976. Nikolaos von Damaskus, Fragmente, in  : Nikolaos von Damaskos, Die Fragmente der griechischen Historiker, Teile 2 A u. C, hrsg. v. Felix Jacoby, Berlin 1926. Plutarch, Große Griechen und Römer, übersetzt v. Konrad Ziegler, 6 Bde., Zürich 1954–1965. Seneca, Über die Milde / Über die Wohltaten = De clementia / De beneficiis, Lateinisch und Deutsch, hrsg. v. Manfred Rosenbach, Darmstadt 1989. Sueton, Kaiserbiographien, Lateinisch und Deutsch, hrsg. v. Otto Wittstock, Berlin 1993. Tacitus, Annalen, Lateinisch-deutsch, hrsg. v. Erich Heller, München und Zürich 1982. Valerius Maximus, Denkwürdige Taten und Aussprüche = Memorable doings and sayings, übersetzt u. hrsg. v. David Roy Shackleton Bailey, 2 Bde., Cambridge 2000. Velleius Paterculus, Römische Geschichte = Historia Romana, Römische Geschichte, Lateinisch/ Deutsch, hrsg. v. Marion Giebel, Stuttgart 1989.

Literatur Baltrusch, Ernst, Caesar und Pompeius, Darmstadt 2004. Bengtson, Hermann, Zu den Proskriptionen der Triumvirn (Sitzungsberichte/Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 1972, 3), München 1972. Christ, Karl, Caesar. Annäherungen an einen Diktator, München 1994. Clarke, Martin, The noblest Roman. Marcus Brutus and his reputation (Aspects of Greek and Roman life), Ithaca (NY) 1981. Couhade-Beyneix, Cynthia, La trahison dans les mentalités tardo-républicaines  : Un acte méprisable dont on s’accommode, in  : Trahison et Traîtres dans l’Antiquité, hrsg. v. Anne Queyrel-Bottineau/ Jean-Christophe Couvenhes/Annie Vigourt, Paris 2012, 173–187. Gelzer, Matthias, M. Iunius Brutus, in  : Paulys Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, X, 1, hrsg. v. Georg Wissowa, 1918, 973–1020. Gotter, Ulrich, Der Diktator ist tot  ! Politik im Rom zwischen den Iden des März und der Begründung des Zweiten Triumvirats (Historia Einzelschriften, 110), Stuttgart/Freiburg 1996. Gotter, Ulrich, Marcus Iunius Brutus oder die Nemesis des Namens, in  : Von Romulus bis Augustus. Große Gestalten der römischen Republik, hrsg. v. Karl-Joachim Hölkeskamp/Elke Stein-Hölkeskamp, München 2000, 328–339. Held, Martin, Caesar im Senat niedergestochen  !, Stuttgart 2010. Rawson, Elizabeth, Cassius and Brutus. The Memory of the Liberators, in  : Past perspectives. Studies in Greek and Roman historical writing, hrsg. v. John Smart/Anthony Woodman, Cambridge 1986, 101–120. Schulz, Fabian, Rez. zu Dahlheim, Werner, Julius Caesar. Die Ehre des Kriegers und die Not des Staates, Paderborn 2011, in  : Sehepunkte 13 (2013), 2.

Gerald Schwedler

Tassilo III. als Verräter Dass er selbst ein Verräter sei, bemerkte Herzog Tassilo  III. von Baiern (741– ca. 794) erst, als es zu spät war und er sich als Angeklagter in einem inszenier­ ten Schauprozess vor König Karl dem Großen wiederfand. Selten zeigt sich an einer historischen Persönlichkeit so klar, wie der Verratsvorwurf politisch missbraucht und im Nachhinein immer stärker als unumstößliches strafbedingendes historisches Faktum präsentiert wurde, wie im Fall Tassilos. Seine Verurteilung im Prozess von Ingelheim im Jahre 788 erfolgte eingebettet in eine im Frühmittelalter bis dahin nicht gekannte publizistische Kampagne. In kaum zu überbietender Weise wurden von der Seite des karolingischen Imperiums alle Register gezogen, um Tassilo nach seiner Absetzung und Verurteilung zu ewiger Klosterhaft im Nachhinein als Verräter erscheinen zu lassen. Tassilo entschied sich nie dafür, eine gemeinsame Sache zu verraten – er stand lediglich der Expan­sionspolitik Karls des Großen als Herrscher des Frankenreichs im Wege und wurde zum Verräter ›gemacht‹, um seine Beseitigung den nachfolgenden Generationen gerechtfertigt erscheinen zu lassen.

Sieger- und Verrätergeschichtsschreibung Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrschte die negative Darstellung Tassilos die öffentliche Meinung. Dass das Bild von Tassilo als einem Verlierer, kleinem Geist, Treubrüchigen und Verräter so lange unangefochten gelten konnte, muss als eine mediale Meisterleistung der karolingischen Geschichtsdeutung gewertet werden. Durch Diffamierung, Überschreibung und bewusster Tilgung ist nur mehr ein Zerrbild des einst königgleichen Herrschers aus Baiern übriggeblieben. Nach wie vor sind präzise Aussagen zum Konflikt zwischen König Karl dem Großen, Herrscher des Frankenreichs, und Herzog Tassilo III. von Baiern nicht möglich, denn die meisten Ereignisse sind nur durch karolingerfreundliche Quellen belegt. In den erhaltenen Texten werden bewusst Einzelheiten verschleiert, Beweise unterschlagen und damit Geschichte verfälscht. Gegenstimmen sind kaum vernehmbar, lassen sich allenfalls als fernes Echo vereinzelt, wie beispielsweise in einem Psalter (der verschleppt wurde und heute in Montpellier aufbewahrt wird) oder in subtilen Anspielungen chronikalischer Texte, wahrnehmen. Umso mehr Spürsinn wurde in den letzten Jahren verwendet, um die höchst einseitigen Lobeshymnen auf Karl den Großen auf ihre Belastbarkeit

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hin zu prüfen, ja zu hinterfragen, ob man den Geschichtsschreibern von damals überhaupt Vertrauen schenken dürfe. Und deren Ansehen nahm mit jeder entdeckten Falschaussage und Klitterung ab. Der Fall Tassilos zeigt wie sonst kaum ein politischer Coup in der Geschichte, wie sehr die Geschichte von Siegern geschrieben ist und ihre Glaubhaftigkeit darauf aufbaut, dass die Unterlegenen es nicht vermögen, sich mit der eigenen Position durchzusetzen und in Erinnerung zu bleiben, und vor allem  : sich vom Vorwurf des Verrats zu befreien.

Die Ursprünge des Konflikts Die Gründe für die Auseinandersetzungen zwischen Tassilo III. und Karl dem Großen gehen weit zurück. Das Hauptproblem war das ungeklärte Verhältnis zwischen dem Frankenreich und dem Herzogtum Baiern. Denn während einerseits das Frankenreich de jure die Oberherrschaft beanspruchte, hatten de facto die Herzöge von Baiern, vor allem Theodo, Odilo und später Tassilo  III. eine Politik betrieben, die zu einem Königtum in Baiern führen sollte. Vielfach traten sie königsähnlich in ihrem Reich auf. Nach innen herrschten sie durch den Aufbau einer eigenen Verwaltungsstruktur und teilten das Reich unter ihren Söhnen auf, so wie es merowingische Könige zu tun pflegten. Sie stellten sich als unangefochtene Leiter der Kirchenorganisation dar, indem sie beispielsweise eigene Synoden einberiefen, eigentlich königliche Prärogative. Zahlreiche Kirchenstiftungen und auch der Bau eines Doms in Salzburg mit enormen Ausmaßen, wie sie für eine Krönungskirche angemessen gewesen wären, sind Zeichen für die regalen Aspirationen. Dem entspricht auch die Herrschaft nach ›außen‹, also das Verhältnis zu den umliegenden Reichen. Die Dynastie der Agilolfinger, die Baiern seit Mitte des 6. Jahrhunderts regierte, war eng mit dem Königshaus der Langobarden verwandt, man pflegte enge Beziehungen mit den umliegenden Herzögen, wobei in Alemannien bisweilen auch Agilolfinger herrschten. Dabei unterhielt man gute Beziehungen zu den fränkischen Königen, den Merowingern. Doch gegenüber den eigentlich regierenden Hausmeiern, den Arnulfingern bzw. Karolingern war man zurückhaltend, wenn nicht gar feindlich gesinnt. Ein Agilolfinger namens Chrodoald, der zu den austrasischen Großen gehörte, kam bereits im Jahre 624 mit Bischof Arnulf von Metz bzw. Pippin dem Älteren, den Stammvätern der späteren Karolinger, in Konflikt, fiel in Ungnade und wurde von einem eigenen Getreuen ermordet. Sollte bereits hier ein Familienzwist belegt sein, der nach mehr als hundertfünfzig Jahren 788 in der radikalen Eliminierung der letzten Agilolfinger durch Karl den Großen sein Ende fand  ? Zumindest darf die familiäre/dynastische Note nicht übersehen werden, wenn es um die Beurteilung des Konfliktes von Tassilo und Karl geht.

Tassilo III. als Verräter 

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Seit Chrodoald blieb das Verhältnis der Hausmeier zu den Herzögen spannungsreich, und immer wieder suchte man von Seiten der Arnulfinger bzw. Karolinger durch militärischen und diplomatischen Druck, den Alpenmachtblock zu schwächen, zuletzt kam es 725 und 743 zu Feldzügen gegen Baiern. Nachdem 751 die Karolinger zur Königswürde aufgestiegen waren, indem sie die merowingischen Könige mit Hilfe des Papsttums absetzten – ›Könige nur dem ­Namen nach‹ sollte die karolingische Propaganda später kolportieren – suchten sie immer stärker ihre Herrschaft zu intensivieren und Baiern ohne Sonderstatus in das Frankenreich zu integrieren, was mit der Entmachtung Tassilos 788 und der Ausrottung der Agilolfinger erfolgreich abgeschlossen wurde. Als jedoch Tassilos Vater Odilo 748 starb, übernahm seine Mutter Hiltrud für ihn die Herrschaft, da er noch minderjährig war. Als Tochter Karl Martells war sie also eine Karolingerin. Diese Verschwägerung von Karolingern und Agilolfingern war bewusst zur Entspannung des Verhältnisses der beiden Familien eingegangen worden, nachdem Karl Martell 725 noch einen Teil der bairischen Agilolfinger samt Herzog Hugbert aus dem Weg geräumt hatte. Die Eigenständigkeit Baierns blieb formell gewahrt, doch nach dem Tode Hiltruds 754 übernahm Pippin, seit 751 König, die Vormundschaft Tassilos. Im Jahre 757 reiste der sechzehnjährige Tassilo mit Gefolge zur Reichsversammlung in Compiègne und wurde von Pippin aus der Vormundschaft entlassen. Tassilo habe laut den offiziellen Reichsannalen unzählige Eide als Vasall geleistet, was aus heutiger Sicht als Übertreibung zu deuten ist. Ohnehin sind die Reichsannalen, Annales regni Francorum, trotz ihrer vielen detaillierten Schilderungen gerade wegen ihrer Hofnähe überaus vorsichtig zu verwenden. Bei diesem Werk handelte es sich, wie in der Forschung nachgewiesen werden konnte, nicht um ein Kompendium jährlicher Geschichtsaufzeichnung, was die geradezu unschuldige Annalenform vorgibt. Vielmehr ist es ein etwa um 790 erstelltes Gesamtwerk in Annalenkapiteln, das auf belastetenden Prozessdokumenten von 788 aufbaut und gewissermaßen ein a­ nti-tassilonisches Weißbuch darstellt. Alternative Quellen zu den Ereignissen von 757 gibt es nicht. Traut man den Reichsannalen nicht, so bleibt als Lösung die Annahme eines lockeren Abhängigkeitsverhältnisses, das aus Sicht der Karolinger gefestigt worden zu sein scheint. In diese Frühzeit der Herrschaft Tassilos fällt auch die Synode von Aschheim 756, bei der die Bischöfe Baierns zusammentraten – Baiern wird hierbei als regnum bezeichnet, was allerdings auch einfach Herrschaftsgebiet heißen kann – wobei die Bischöfe zwar die unruhigen Zeiten bemängeln, aber zu ihrem Herzog stehen. Die Bestrebungen Tassilos, seine Herrschaft in den darauffolgenden Jahren zu festigen und seine Unabhängigkeit auszubauen, wurden später mit dem Vorwurf des Verrats endgültig beendet.

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Worte und Taten Laut den Reichsannalen erfolgte im Jahre 763 ein Ereignis, dem später höchste Auf­­merksamkeit beigemessen wurde. Pippin befand sich auf einem Feldzug gegen Herzog Waifar von Aquitanien. Tassilo habe angeblich an diesem Feldzug zunächst teilgenommen, sich dann aber angeblich nach Baiern zurückgezogen, ohne die Erlaubnis des Königs einzuholen. Damit habe er gegen die fränkischen Bündnisverpflichtungen verstoßen, die er selbst beeidet habe. Doch seltsamerweise unterließ Pippin die Verfolgung dieser Tat. War er wirklich so sehr mit den Aquitaniern beschäftigt  ? Ein geplanter Feldzug gegen Baiern unterblieb, wohl auch da der strenge Winter 764/5 kaum Spielraum für zusätzliche militärische Aktionen ließ. Durch den Tod Pippins und den Übergang der Herrschaft an seine beiden rivalisierenden Söhne Karlmann und Karl entstand ein Machtvakuum, in dem Tassilo die Politik der Eigenständigkeit Baierns ausbauen konnte. Sowohl die engere Kooperation mit dem Königreich der Langobarden – seine Ehefrau Liutpirg war die Tochter von König Desiderius – und die Gebietserweiterung Richtung Osten zeigen sein expansionistisches Bestreben – 772 konnte er einen karantanischen Aufstand niederschlagen und die Reste Karantaniens in sein bairisches Reich eingliedern. Auch die Tätigkeit im Landesinneren wurde intensiviert, die Bistumsstruktur ausgebaut, angeblich 60 Zellen und Klöster gestiftet. Im Zusammenhang mit diesem Ausbau der Position als geistigem Landesvater Baierns ist auch eine für Herzöge im Grunde außergewöhnliche Annäherung an das Papsttum zu sehen. Mehrfach reiste er nach Rom, und 772 taufte Papst Hadrian I. Tassilos Sohn Theodo und wurde damit dessen Pate. Politisch und kirchenpolitisch war Tassilo am Höhepunkt seiner Macht im königgleichen Baiern angelangt, ohne zu wissen, dass er bereits zwanzig Jahre zuvor einen Verrat begangen habe, der für ihn und seine Familie das Ende bedeuten würde.

Der verratene Herzog Tassilo III. Insgesamt sind die 770er Jahre als Höhepunkt von Tassilos Macht zu sehen, denn nach dem Tod Karlmanns (771) und dem Beginn der Alleinherrschaft Karls sollten sich die Verhältnisse drastisch ändern. Karl konnte sich nun vollends auf die Einnahme Baierns konzentrieren. Ein erster Schritt der wohlüberlegten Strategie bestand darin, Tassilo zu isolieren. Aquitanier, Sachsen und Thüringer wurden nach und nach als Verbündete ausgeschaltet. Als größter Erfolg darf die Eroberung des Langobardenreichs gelten, was Karl nicht nur die Langobardenkrone, den Langobardenschatz und die reichen Einkünfte Norditaliens sicherte. Er war auch dem Ziel nähergekommen, Baiern zu übernehmen. Zudem ging es darum,

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das enge Band zwischen den Agilolfingern und dem Papsttum zu zertrennen. Berech­nend näherte sich Karl an Papst Hadrian I. an, ließ seinen Sohn Pippin von ihm taufen und salben. Aus dem Sieg über die Langobarden konnte Karl der Große ebenso Gewinn schlagen, indem er Papst Hadrian Gebiete zurückgab, die einst die Langobarden erobert hatten, die aber laut Pippinischer Schenkung zum Heiligen Stuhl gehörten. Als Papst Hadrian – endlich – im Jahre 787 Tassilo fallen ließ, überstürzten sich die Ereignisse geradezu. Sicherlich ist dies auch als Ausweis dafür zu werten, wie wichtig der päpstliche Rückhalt als Stütze der Macht zu sehen ist. Als Karl der Große in Rom weilte, distanzierte sich Papst Hadrian öffentlich von Tassilo. Wie es in den Reichsannalen heißt, drohte er zu Ostern 787 mit dem Kirchenbann (supra ducem eorum vel suis consentaneis anathema posuit) für den Fall, dass Tassilo seine Verpflichtungen gegenüber Karl vernachlässigen sollte. Schon bei der Rückkehr aus Rom eröffnete Karl seine militärischen Feindseligkeiten. Aus drei Richtungen ließ Karl Heeresabteilungen auf Baiern zumarschieren, gerade so als ob das päpstliche Anathem den Startschuss dazu gegeben hätte. Der Angriff an drei Fronten war etwas, dem die bairische Abwehr nicht gewachsen sein konnte. Die Verteidigung brach zusammen, als Tassilo von seinen Getreuen im Stich gelassen wurde. Aus Sicht Tassilos hatten diese ihn verraten. Dadurch war er zur Aufgabe der eigenständigen Herrschaft in Baiern gezwungen. Nach den Reichsannalen erstattete er dem König auf dem Lechfeld bei Augsburg das Herzogtum zurück und leistete persönlich den Vasalleneid.

Der Coup von Ingelheim Im darauffolgenden Jahre 788 lud Karl Tassilo auf die Reichsversammlung nach Ingelheim. Diese Einladung schien auf eine Versöhnung hinauszulaufen. Erhal­ten ist ein schmeichlerischer, ja mit Komplimenten geradezu überladener Brief an Tassilos Tochter Cotani. In schwülstigem und konfusem Latein wird sie ­zunächst umgarnt und aufgefordert, doch auch nach Ingelheim zu kommen. Gelockt, gelenkt und gezwungen fanden sich alle Familienmitglieder der Agilolfinger auf dem Hoftag in Ingelheim ein, Tassilo und Liutpirc, deren Söhne und Töchter und angeblich auch der Schatz der Agilolfinger wurden herbeitransportiert. Nach Angaben der Reichsannalen klagten auf dieser Versammlung fränkische, bairische, langobardische und sächsische Adlige den Herzog an, er habe ein Bündnis mit den Awaren geschlossen. Einem Herzog, so die Unterstellung, stehe eine eigenständige Außenpolitik nicht zu. Implizit enthält der Vorwurf des Awarenbündnisses den modernen Strafbestandtat des Landesverrats. Dieser Vorwurf reichte allen offenbar nicht aus und wurde durch schwerer wiegende andere Vorwürfe ergänzt.

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Tassilo habe etwa darüber hinaus den eigenen Leuten befohlen, gegen König Karl zu handeln und falsche Eide abzulegen. Das Handeln gegen die Gewalt des Königs war ein Treuebruch, der – zumal er ja beeidet war – sowohl das Ansehen des Herzogs als auch dessen persönliches Seelenheil zerstörte. Vor allem sollte Tassilos verräterisches Verhalten dadurch bewiesen werden, dass ihm vorgeworfen wurde, er habe unter König Pippin den Heereszug verlassen, »was man in der Volkssprache den harisliz nennt«. Dieser Vorwurf der Fahnenflucht war wohl der schwerwiegendste, stellen ihn doch die Verfasser der Reichsannalen als dritten und schwersten dar. Dabei drängten die Kläger auf den Tod Tassilos. Allein der Herzog und seine Familie seien durch »den frommen König Karl aus Erbarmen, aus Liebe zu Gott und da er sein Vetter war« begnadigt worden. Die Strafe wandelte Karl großzügig in Klosterhaft um. Liutpirc, die Söhne Theodo und Theodebert wie auch die Töchter Cotani und Rotrud wurden ebenso in Klöstern ›beseitigt‹. Einige Große Baierns, die laut Reichsannalen »in ihrer Gegnerschaft zu Karl verharrten«, wurden des Landes verwiesen. Auch hierfür schien es keine klare Rechtsgrundlage zu geben, zumindest legen sich die Reichsannalen nicht fest. Wichtige Schaltstellen wurden nun mit Franken oder verlässlichen Baiern besetzt. Zuoberst wurde Gerold, ein fränkischer Adliger, als Graf eingesetzt  – Baiern war damit bis ins 10. Jahrhundert kein Herzogtum mehr.

›harisliz‹ oder die Konstruktion des Verrats Das Besondere an jenem Schauprozess, bei dem es darum ging, die gesamte Dynastie der Agilolfinger mit dem Klostertod abzuurteilen, ist die überaus raffinierte Verwendung des Strafbestands der harisliz. Dieser ist allgemein und spezifisch zugleich und umfasst, wie zu zeigen sein wird, die modernen Rechtskategorien von Landesverrat und Hochverrat in einem. Dabei wurde der Vorwurf der Heeresflucht Tassilos zu Recht schon früh als Scheinargument entlarvt. Denn fünfundzwanzig Jahre lang spielte das Entfernen von der Truppe unter König Pippin keine Rolle. Im Gegenteil, denn der angebliche harisliz ­verhinderte nicht, dass es zwischen Karolingern und Agilolfingern zu einer Verschwägerung kommen konnte und dass sogar Tassilo, Karl und König Desiderius gemeinsame Vereinbarungen trafen. Dennoch lag in der erinnerten Heeresflucht Tassilos ein Argument mit ausreichend Sprengkraft, den Herzog aus seiner Position zu drängen. Dieser konstruierte Vorwurf, die ›gemeinsame Sache‹ verraten zu haben, ist entsprechend auch der Schlüssel zum Verständnis für die Entmachtung der gesamten bairischen Herrschaftssippe. Es bleibt vorerst festzuhalten, dass im Rahmen der Polemiken gegen Tassilo nicht die Begrifflichkeit eines proditor verwendet wurde. Für eine derartige Zuspitzung reichten Tassilos ­Vergehen – wenn

Tassilo III. als Verräter 

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sie denn welche waren – nicht aus. Vielmehr griff man auf den sehr viel komplexeren Verratstatbestand, den über eine Generation zurückliegenden Verrats­ tatbe­stand im Rahmen der Heeresverfassung, zurück. Doch auch der Vorwurfs­ tatbestand der harisliz erfuhr eine karolingische Bedeutungsveränderung, die einen genaueren Blick wert ist. Zum Begriff harisliz sei vorausgeschickt, dass in den wenigen ­mittelalterlichen Quellen außerhalb der Reichsannalen der Vorgang in der Regel als herisliz bezeichnet wird. Diese Schreibung steht der Etymologie näher und wird entsprechend häufiger in der Forschung verwendet. Die Wortbestandteile heri- (Heer) und -sliz (von sleit, zerreißen, spalten) sind gemeingermanischen ­Ursprungs. Als Handschriftenvarianten sind harisliz, herisliz, heriscliz, erisliz oder auch herisclit belegt. Die Wortbildung ist nicht ungewöhnlich und aufgrund der Wort­bestandteile müsste das Wort als Heeresschlitzung, Heeresspaltung oder Heeres­zersplitterung übersetzt werden. Der sprachliche Vergleich zeigt, dass das germanische sliz in allen germanischen Sprachen immer Unrechtstatbestände höchster Ordnung darstellte. Wer einen sliz betreibe, der spalte Heere, Reiche, Völker und arbeite deren Untergang entgegen. Auch in anderen germanischen Sprachen wurden Bildungen mit sliz für schwere Vergehen verwendet, und sie waren somit für Sprecher germanischer Dialekte gemeinhin verständlich. Die Verwendung des Begriffs in den Reichsannalen, die auf um 790 zu datieren sind, stellt den frühesten Beleg für den Begriff überhaupt dar. Der Verfasser der Reichsannalen stellt dort fest, dass Tassilos Vergehen in der Volkssprache so genannt werde (quod theodisca lingua harisliz dicitur). Dieser Passus ist gleichzeitig auch die erste Verwendung des Wortes theodisc für die deutsche Sprachgemeinschaft, erhielt daher auch entsprechend die Aufmerksamkeit der unterschiedlichen Disziplinen. Man geht in der Forschung davon aus, dass der Begriff den Gegensatz der gesprochenen Sprache zur Schriftlichkeit des Lateins betont. Dabei erstaunt, dass nach dieser ersten Verwendung in den Reichsannalen (und deren Abschriften) der Begriff harisliz nicht mehr häufig verwendet wurde. Die einzeln aufgespürten Belege zeigen, in welchen Kontexten die Verwendung des Begriffs möglich war, um den Verrätertatbestand zu bezeichnen. Zunächst wird harisliz in der Gesetzgebung Karls des Großen, den Kapitularien, verwendet. Insgesamt ist der Begriff viermal nachweisbar. Im sogenannten Capitulare Italicum aus dem Jahre 801 wird im dritten von acht Kapiteln festgelegt, dass der, der sich vom Heer ohne Erlaubnis des Königs entferne, was in der Volkssprache herisliz genannt werde, als Majestätsverbrecher (ut reus maiestatis) der Todesstrafe verfalle. Damit wurden erstmals die zwei unterschiedlichen Rechtssphären entstammenden Konzepte von Verrat in eins gebracht  : das gemeingermanische Konzept des herisliz und die römisch-rechtliche Vorstellung des Majestätsverbrechens. Warum dies nicht schon früher erfolgt war, dürfte nicht nur auf

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Quellenverluste zurückzuführen sein. Vielmehr war am karolingischen Hof die antik-römische Vorstellung eines reus maiestatis erst nach dem längeren Aufenthalt in Rom zur Kaiserkrönung Karls 800 und 801 ins fränkische Rechtsdenken aufgenommen worden  : Nur ein Imperator konnte auch die imperiale Maiestas beanspruchen und einen Verrat entsprechend als Majestätsverbrechen verfolgen. Allerdings ist in keinem der wenigen germanischen Sprachzeugnisse der Begriff herisliz zu finden, weder in juristischen noch in narrativen Texten. Dabei wurden in beiden Textsorten die Straftaten von Verrat behandelt, sei es als normativ zu behandelnde Abweichung oder als beliebtes Motiv zwischen Mut und Tod. Auch in keiner nachkarolingischen Quelle wird der Begriff erwähnt, es sei denn, man bezieht sich auf Tassilo oder die späteren Kapitularien von 801 bzw. 811. Dies bedeutet in keiner Weise, dass nach dem Tode Karls des Großen 814 kein Verrat auf dem Feld mehr erfolgt sei. Fahnenflucht wurde aber durch andere Formulierungen – mit anderen juristischen Implikationen – bezeichnet. Diese diffamierende Bezeichnung für Verrat fand keinen Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch. Dies legt den Schluss nahe, dass der Begriff zur Zeit Karls des Großen entstand – und danach wieder verschwand. Ein weiterer Aspekt ist für die Deutung des Begriffs herisliz zentral. Der Begriff wurde auf dem Ingelheimer Hoftag (788) verwendet, um Tassilo zu diskreditieren. Nach ausdrücklichen Angaben der Reichsannalen waren als Teilneh­mer Franken und Baiern, Langobarden und Sachsen erschienen (Franci et Baioarii, Langobardi et Saxones). Dadurch, dass die beiden Wortbestandteile heri- und -sliz in allen germanischen Sprachen zumindest in Wortverwandtschaften vertreten sind, war das Wort herisliz bzw. harisliz ein Vorwurf, den jeder der Anwesenden germanischer Sprache sofort verstand. Das ist vermutlich auch der Grund, warum dies als thiodisc bezeichnet wird, also mit einem germanische und keinem fränkischen oder bairischem Begriff. Denn die Angabe als Fränkisch könnte ebenso bedeuten, dass es sich um den Geltungsbereich des fränkischen Rechts handle. Hätte allerdings Tassilo nur gegen die fränkische Rechtsauffassung versto­ßen, so würde dies die Argumentation des karolingischen Hofs – Tassilo habe Verrat begangen, der alle Verbündeten anging  – einschränken. Harisliz sollte indes als Vorwurf denkbar sein, den man in allen germanischen Dialekten des Frankenreichs verstand, aber nicht als Vergehen gegen die Franken auffasste, sondern als Frevel an der germanischen Heeresorganisation an sich. Harisliz war in besonderer Weise Verrat am Heer als solchem, dem kämpfenden Verband von Freien. Damit stellt er gleichermaßen den Verrat am König wie an der Gemeinschaft dar. Noch einen Schritt weitergedacht würde dies bedeuten, dass harisliz das Verratsvergehen war, das nur möglich war, wenn der Verband aller thiodisc Sprechenden verraten wurde, gewissermaßen ein Vergehen gegen die noch nicht vollzogene Gesamtheit der unterschiedlichen Stämme.

Tassilo III. als Verräter 

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Tassilo als der ewige Verräter Man muss nicht so weit gehen und harisliz als Kunstwort des karolingischen Hofes deuten, das eigens für die Verhandlungen 788 gebildet wurde. Doch wird man im Tassilo-spezifischen Kontext die Gründe zu suchen haben, warum das Wort grundsätzlich stammesübergreifend verständlich war, aber dennoch nur kurz und sehr beschränkt Verwendung fand  : Nach einem plötzlichen Bekanntwerden im Rahmen des Hoftags folgte bis zur Rezeption des Capitulare Bononiense ein baldiges Unverständnis und Vergessenwerden. Daraus ist zu folgern, dass alle Belegstellen mit harisliz mit dem Sturz Tassilos in Verbindung zu bringen sind. Ohne weitere Belege, die eine eigenständige Verwendung nahelegen, scheint die Kreation einer Formulierung für die Entfernung vom Heer einen einzigen Täter im Auge zu haben  : Tassilo. Sein Name wurde mit dem Vergehen verbunden und das Vergehen mit ihm – harisliz ist das ›crimen Tassilonis‹. Doch im Gegensatz zu vielen anderen am karolingischen Hof entwickelten Denkmustern, die im weiteren Verlauf Europa formen sollten, kam dem Begriff harisliz keine kulturell prägende Bedeutung zu. Harisliz blieb wohl zu stark an die Verwendung innerhalb des karolingischen Heereswesens gebunden, um zu einem allgemein gültigen Verräterbegriff zu avancieren. Zudem boten sich wohl durch die Wiederentdeckung der römischrechtlichen Argumentationen wie dem Begriff des crimen laesae maiestatis bessere Möglichkeiten gegen politische Feinde vorzugehen. Dass sich der Vorwurf des Majestätsverbrechers effektiver und zugleich geschmeidiger einsetzen ließ, beweist die Deutung Tassilos. Schon wenige Jahre nach der Verurteilung wurde Tassilo in der Geschichtsschreibung nicht mehr der harisliz für schuldig befunden, sondern des sehr viel präziseren Vorwurfs des Majestätsverbrechens. So schreiben die sogenannten Einhardsannalen von 814 ihm nur noch dieses Vergehen zu, was sich als allgemeine Deutung durchsetzte. In den darauffolgenden Jahrhunderten galt Tassilo als Majestätsverbrecher. In der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts kam es sogar zu einer weiteren Verschärfung der Begrifflichkeiten, die Tassilo belasteten. Denn durch die rechtshistorische Schule wurde im 19. Jahrhundert der Straftat­ bestand des Hochverrats entwickelt. Dieser wurde nun aufgrund der Begriffe hari­sliz und crimen laesae maiestatis auf den bairischen Herzog angewendet. Nach mehr als eintausend Jahren konnte Tassilo nun sogar als ›Hochverräter‹ bezeichnet werden. Doch ist dieser Verratsvorwurf genauso unzutreffend und gibt die historischen Verhältnisse des 8. Jahrhunderts in keiner Weise wieder.

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Literatur Airlie, Stuart, Narratives of Triumph and Rituals of Submission. Charlemagne’s Mastering of Bavaria, in  : Transactions of the Royal Historical Society, sixth series 9 (1999), 93–119. Becher, Matthias, Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen, Sigmaringen 1993. Billoré, Maïté/Soria, Myriam (Hrsg.), La trahison au Moyen Âge. De la monstruosité au crime politique (Ve–XVe siècle), Rennes 2009. Classen, Peter, Bayern und die politischen Mächte im Zeitalter Karls des Großen und Tassilos III, in  : Die Anfänge des Klosters Kremsmünster, hrsg. von Siegfried Haider, Linz 1978, 169–187. Depreux, Philippe, Tassilon III et le roi de Francs  : examen d’une vassalité controversée, in  : Revue historique 593 (1995), 23–73. Freund, Stephan, Von den Agilolfingern zu den Karolingern. Bayerns Bischöfe zwischen Kirchenorganisation, Reichsintegration und karolingischer Reform (700–847), München 2004. Jahn, Joachim, Ducatus Baiuvariorum  : Das bairische Herzogtum der Agilolfinger (Monographien zur Geschichte des Mittelalters), Stuttgart 1991. Kolmer, Lothar, Zur Kommendation und Absetzung Tassilos III., in  : Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 43 (1980), 291–327. Schieffer, Rudolf, Ein politischer Prozess des 8. Jahrhunderts im Vexierspiegel der Quellen, in  : Das Frankfurter Konzil von 794. Kristallisationspunkt karolingischer Kultur. Akten zweier Symposien anlässlich der 1200-Jahrfeier der Stadt Frankfurt a. M. (Bd. 1–2), hrsg. v. Rainer Berndt, Mainz 1997, 167–182. Schmidt-Wiegand, Ruth, Quod theodisca lingua harisliz dicitur  : Das Zeugnis der Lorscher Annalen (788) im Kontext frühmittelalterlicher Rechtssprache, in  : Grammatica ianua atrium. Festschrift für Rolf Bergmann zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Elvira Glaser/Michael Schlaefer, Heidelberg 1997, 85–91. Schröder, Friedrich-Christian, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, München 1970. Wolfram, Herwig, Tassilo III. höchster Fürst und niedrigster Mönch (Kleine bayerische Biografien), Regensburg 2016.

Ulrich Hoffmann

Verräter in der Literatur des Mittelalters Zu Dantes ›Göttlicher Komödie‹, zum ›Rolandslied‹, ›Prosalancelot‹ und ›Nibelungenlied‹

Macht man sich auf die Suche nach Verrätern, wird man in der Literatur des Mittelalters schnell fündig. Wenn man sich darüber hinaus vor Augen führt, dass Verräter nicht nur Verbrecher sind, sondern sie sich auf schändlichste Weise an der für das Mittelalter in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzenden Tugend der Treue versündigt haben, dann ist man wohl kaum überrascht, Verräter in der Hölle anzutreffen. Steigt man also unter sachkundiger Führung Vergils an der Seite Dantes in die Unterwelt hinab, hat man zwar zunächst einen langen und beschwerlichen Weg durch zahlreiche Höllenkreise zu überwinden, doch wird man schließlich fündig. Am tiefsten Grund der Hölle, im neunten und letzten Höllenkreis nach der Zählung in Dantes ›Divina Commedia‹1, schmoren sie – die Verräter. Doch eigentlich schmoren sie nicht, sie frieren, sie sind vor Frost erstarrt, eingefroren im Eis des Sees Kozytos. Die Vorstellung von im Eis der Hölle erstarrten Sündern mag zunächst verwundern, doch mag sie der im Folgenden genauer darzulegenden Vorstellung von Verrätern in der höfischen Literatur des Mittelalters geradezu gerecht werden. Dante hat den tiefsten Grund der Hölle den schlimmsten Sündern vorbehalten – und das sind, nach den Wollüstigen und Gefräßigen, nach den Zornigen und Ketzern, nach Mördern und Selbstmördern, nach Betrügern, Verführern, Huren, Simonisten, Zauberern, Wahrsagern, Fälschern, Heuchlern, Dieben, Glaubensspaltern und schließlich auch nach den hinterlistigen Beratern, eben die Verräter. Doch anders als es den Anschein haben mag, herrscht in der Hölle kein chaotisches Durcheinander, vielmehr unterliegt alles einer strengen Ordnung. Und dies trifft vor allem auf den tiefsten Ort der Hölle zu, auf den Ort der Verräter. Dante unterscheidet verschiedene Kategorien des Verrats, wenn er vier Kategorien von Verrätern aufstellt  : Erstens gibt es die Verräter an Verwandten, die in der Caina anzutreffen sind, dem nach Kain, dem Bruder Abels, benannten Ort. Dann gibt es die politischen Verräter in der Antenora, benannt nach dem trojanischen Fürsten Antenor, der Troja an die Griechen verraten haben soll.

1 Dante, La Commedia. Vgl. hierzu auch den Kommentar  : Dante, Göttliche Komödie.

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Abbildung 1  : Dante in Begleitung Vergils unter den Verrätern in der Caina, Antenora und Tolomea.

Drittens gibt es die Verräter an Freunden  ; sie büßen in der Tolomea, benannt nach Ptolemäus, der seine Gäste bei einem Festmahl ermorden ließ (Abb. 1). Und schließlich – das sind bei Dante die schlimmsten Sünder – gibt es die Verräter an Wohltätern  ; namentlich sind dies Brutus und Cassius, die Caesar ermordeten, und natürlich Judas, der Verräter schlechthin, nach dem der letzte Ort der Hölle auch Giudecca benannt ist (Abb. 2). Allen diesen Typen von Verrätern ist dabei nicht nur gemein, dass sie für ihre Sünden in der Hölle büßen müssen, sondern dass sie auf schändlichste Weise untreu waren. Sie standen einst in einem besonderen Vertrauensverhältnis, das sie aufgekündigt haben. Damit wurden sie erst zu Verrätern, zu Verrätern an den Grundlagen ebendieses Vertrauensverhältnisses, der politischen oder religiösen Gemeinschaft, der Verwandtschaft oder der Freundschaft. Das Verb ›verraten‹ bewahrt noch diesen Zusammenhang zur Untreue, und das in seiner ursprünglichen Bedeutung von »falschen rat geben, falsche unterstützung geben, irre leiten«2. Das Treueverhältnis zweier Personen ist unmittel­ bar aufgerufen, innerhalb dessen falsch gehandelt wird, etwa – und so die engere Bedeutung des auch mittelhochdeutschen Wortes nach Grimm  – indem »etwas nicht auf den weg der mittheilung gehöriges unbefugter weise« mitgeteilt 2 Deutsches Wörterbuch, Sp. 985.

Verräter in der Literatur des Mittelalters 

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Abbildung 2  : Lucifer in der Giudecca frisst die Verräter Brutus, Cassius und Judas.

wird.3 Mit ›verraten‹ ist somit ein Treuebruch angezeigt, der durch eine Aussage erfolgt, sei es der falsche Rat oder die Preisgabe exklusiven, dem Treueverhältnis vorbehaltenen Wissens. In geradezu beißend ironischer Manier führt Dante dies am Beispiel Buosos da Duera vor, eines Ghibellinen aus Cremona, der noch in der Hölle seinen Mitbüßer verrät, wenn er Dante dessen Namen nennt, hier Boccas degli Alberti, der seinerseits die Ghibellinen an die Guelfen verraten hatte, indem er zum Schein auf deren Seite in der Schlacht bei Montaperti gekämpft, heimlich also die Seiten gewechselt hatte.4 Der Verräter – dies lässt sich allgemein festhalten – wechselt die Seiten, er fällt aus einer Ordnung heraus, die auf Treue basiert und der er notwendigerweise angehört hat, sonst könnte er kaum mit seinem Wissen von dieser Ordnung diese verraten. Der Verräter überschreitet damit eine Grenze. Den Moment der Grenzüberschreitung setzt Dante wiederum eindrucksvoll ins Bild. Die Strafen, die die Sünder in der Hölle erleiden müssen, folgen bei Dante durchweg dem Prinzip des ›contrapasso‹, der gegensätzlichen Vergeltung der auf Erden verübten Tat. So tragen etwa die falschen Wahrsager in der Hölle ihren Kopf verkehrt herum, sodass sie nicht mehr nach vorne blicken können und folglich rückwärts 3 Ebd. 4 Dante, Göttliche Komödie, XXXII, 73–117.

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gehen müssen.5 Entsprechend sind die Verräter bei Dante am Ende eingefroren im Eis des Kozytos. Denn haben sie vormals mit ihrem Verrat eine Grenze nicht nur verletzt, sondern diese überschritten, haben sie die Seite gewechselt  ; im Eis sind sie unschädlich gemacht, ihrer Bewegungsfreiheit beraubt und in jeder Hinsicht arretiert. Es ist diese Arretierung der Verräter bei Dante, die spiegelbildlich auf eine Dynamik verräterischen Handelns rekurriert, auf eine Dynamik mithin, in der ein Potenzial für ein Erzählen von Verrat liegt. Dieses narrative Potenzial soll im Folgenden genauer dargestellt und schlaglichtartig anhand unterschiedlicher Erzählungen aus der höfischen Literatur beleuchtet werden. Bleibt man jedoch zunächst noch einen Moment mit Dante in der Hölle, begegnet man dort zahlreichen Verrätern, die überwiegend den Parteikämpfen des 13. Jahrhunderts zwischen den Ghibellinen und den Guelfen zuzuordnen sind. Zwei Verräter jedoch, die Dante gleichfalls trifft, fallen hier heraus  : Es handelt sich zum einen um Genelun, den Verräter aus dem Gefolge Karls des Großen, der als politischer Verräter in der Antenora büßt  ; und es handelt sich zum anderen um Mordret, Sohn von König Artus, der als Verräter am Verwandten in der Caina büßt.6 Diese beiden, Genelun und Mordret, sind die einzigen aus der Lite­ ratur entnommenen Figuren, die Dante hier nennt und denen er somit einen geradezu repräsentativen Status zuweist. Von daher lohnt ein genauerer Blick zunächst auf Genelun einerseits, auf Mordret andererseits, um aufzuzeigen, wie jeweils vom Verrat erzählt wird, im ›Rolandslied‹ sowie im ›Prosalancelot‹.7

Der Verräter Karls des Großen im ›Rolandslied‹ Das ›Rolandslied‹, ein Kreuzzugsepos, das der Pfaffe Konrad vermutlich im Auftrag Herzog Heinrichs des Löwen gedichtet hat, wird gemeinhin in die Jahre um 1170 datiert.8 Im Zusammenhang der Frage nach der Datierung ist interessant, dass das deutsche Wort ›Verräter‹, mittelhochdeutsch verrâtære, hier seinen ältesten Beleg hat.9 Und tatsächlich könnte man sich dazu verleiten lassen, im 5 Ebd., XX, 10 ff. 6 Ebd., XXXII, 122 und XXXII, 61 f. 7 Die folgenden Thesen konnte ich im März 2012 auf einem gemeinsam von Sara Poor, Monika Schausten und Bruno Quast veranstalteten Workshop in Princeton vorstellen. Den Teilnehmern möchte ich an dieser Stelle für Anregungen und Kritik danken. 8 Zum ›Rolandslied‹ einführend  : Nellmann, Pfaffe Konrad. Die folgenden Zitate mit Übersetzung und Angabe der entsprechenden Verse nach der Ausgabe  : Das Rolandslied des Pfaffen Konrad  ; die altfranzösische ›Chanson de Roland‹ nach der Ausgabe  : Das altfranzösische Rolandslied. 9 Vgl. Stackmann, Karl und Genelun, hier 267, Anm. 13.

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›Rolandslied‹ ein Lied ausschließlich über einen Verräter zu sehen, über den Verräter Genelun. Doch natürlich erzählt es zunächst vom Kreuzzug Karls des Großen in Spanien, es erzählt von den Kämpfen gegen die Heiden und es erzählt vom Tod Rolands und der übrigen Paladine. Doch dass ebendiese Geschichte erzählt werden kann, indem so prominent vom Verrat erzählt wird, mag schon ein Hinweis sein auf das besondere Potenzial, das im Erzählen von Verrat liegt. Worum es schließlich geht, wird gleich in den ersten Versen deutlich. Kaiser Karl, gotes dienestman (31), wie er genannt wird, erhält von einem Engel den Auftrag zur Mission in Spanien. Diesen Auftrag macht er im Rat seiner zwölf treuesten Fürsten bekannt, und so fällt der Entschluss, in Bereitschaft zum Martyrium an der Seite des Kaisers das Kreuz zu nehmen. Nach ersten erfolgreichen Kämpfen gegen die Truppen des heidnischen Königs Marsilie unterbreitet dieser durch seinen engsten Berater Blanscandiz ein nur scheinbar aufrichtig gemeintes Friedensangebot, sodass Karl sich erneut mit seinen Fürsten zur Beratung zurückzieht. Während sich die Paladine um Roland schnell einig werden, ist es einzig Genelun, der eine Gegenposition vertritt und auf das Angebot der Heiden zur gütlichen Konfliktbeilegung eingehen möchte. Doch Genelun bleibt überstimmt, und so beschließt Karl, das Angebot zurückzuweisen  ; ausgerechnet Genelun soll auf Vorschlag Rolands als kaiserlicher Bote die Nachricht den Heiden überbringen. Genelun gerät damit in eine prekäre Situation. Dies wird sogleich deutlich bei seinem Abschied. Er nimmt Abschied von seinem Gefolge, nicht ohne seine Sorge um seine zurückgelassenen Besitzungen sowie seine Familie zum Ausdruck zu bringen  ; und er sinnt auf Rache an den Paladinen, namentlich an Roland, der ihn skrupellos in den sicheren Tod schicken würde, um an sein Erbe zu kommen.10 In diesem Rachestreben sowie den ausschließlich weltlichen ­Dingen zugewandten Sorgen Geneluns mögen dann auch die Motive für seinen später verübten Verrat gesehen werden.11 Allemal deutlich wird jedenfalls seine Position als Außenseiter in Abgrenzung zu den zum Märtyrertod bereiten Fürsten. Doch ist Genelun als kaiserlicher Bote zugleich Repräsentant des Hofes – und als solcher wird er auch investiert  : In prächtigen Gewändern, ausgestattet mit Mulagir (1584), dem besten Schwert, und Taskprûn (1649), dem schnellsten Pferd, verkörpert er geradezu die Größe und die Macht des Kaisers. Selbst die Heiden müssen später an seinem Äußeren, an seinem antlizze (2179), erkennen, daz er deme rîche wole zæme (2182), dass er der Herrschaft des Kaisers also durch­aus würdig sei. Genelun ist damit zugleich Repräsentant des Hofes, wie er von diesem ausgegrenzt ist. 10 So der Vorwurf Geneluns in den Versen 1384–1403. 11 Vgl. Hoffmann, Genelun, hier 348.

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Was somit schon beim Abschied Geneluns vom Hof des Kaisers förmlich zu sehen ist – die Position Geneluns als Repräsentant und Renegat –, entfaltet sich anschließend auf der Handlungsebene in den Gesprächen mit den Heiden Blanscandiz und Marsilie. Als Repräsentant des Hofes legt er ihnen die vröude der heiligen kristenheit dar, die Reichweite von Gottes Wirken sowie die Größe und den Großmut Kaiser Karls (1788–1821). Doch dem Renegaten genügt nur ein Hinweis von Blanscandiz auf Roland, um endgültig die Seite zu wechseln. Wenn sich Genelun mit den Heiden gegen Roland und die anderen christlichen Ritter verbündet, wird er für den Erzähler konsequent zum ungetriuwe[n] hûs­ geno­ze[n] (1945). Und so ist er dazu bereit – und er ist durchaus in der Lage dazu –, dem König Marsilie ausführliche Informationen über die Wachen Karls zu geben, über seine militärischen Stellungen und Truppenformationen (2285– 2308)  ; und er ist dazu bereit, dem Heiden zu unterbreiten, wie er taktisch vorzugehen habe (2415–2476). Genelun ist Teil der kaiserlichen Ordnung, er ist Eingeweihter und repräsentiert diese. Doch er bricht mit seinem Auftrag der Repräsentation, wenn er sein exklusives Wissen preisgibt und damit die von ihm repräsentierte Ordnung untergräbt, ja aushöhlt. Der Erzähler bedient sich hierfür eines altbekannten Spruches  : er ervolte daz altsprochene wort. jâ ist gescriben dort  : ›under scœnem schade liuzet, ez en ist nicht allez golt, daz dâ glîzet.‹ Genelûn was michel unde lussam, er muose sîne natûre begân. michels boumes schœne machet dicke hœne. er dunket ûzen grüene, sô ist er innen dürre. sô man in nider meizet, sô ist er wurmbeizec. er ist innen vûl unde üble getân. daz bezeichenet den man, der ûzen wole redet unde valsches in deme herzen phleget. (1956–1971) Er machte ein altes Wort wahr. Es steht nämlich geschrieben  : ›Der schöne Schein trügt  ! Es ist nicht alles Gold, das glänzt  !‹ Genelun war stattlich und schön und mußte doch seiner inneren Anlage folgen. Die Schönheit eines mächtigen Baumes täuscht oft. Au-

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Abbildung 3  : Genelun mit den Heiden unter dem Ölbaum.

ßen sieht er grün aus, innen aber ist er abgestorben. Wenn man ihn fällt, ist er wurmzerfressen, ist er innen faulig und morsch. Das ist ein Bild des Menschen, der öffentlich Gutes spricht, im Herzen aber Betrug hegt.

Damit erreicht das Erzählen vom Verrat eine die Handlung übersteigende, in ihrer Zeichenhaftigkeit allgemein gehaltene Ebene, die die Frage nach der Repräsentation nicht nur stellt, sondern diese im Wortsinne entlarvt. Angezeigt ist die geradezu notwendige Maskierung des Verräters, die von Beginn an Grundlage des Verrats ist. Und so schließt die Verschwörung unter dem Ölbaum (Abb. 3) nicht nur mit einem Eid auf den heidnischen Gott Apoll (2364), sondern sinnfälligerweise mit der Übergabe von Geschenken, von hermelinbesetzten Gewändern, von Schwert, Helm und Schmuck für Genelun und seine Familie (2477–2580). Die Verschwörung schließt gleichsam mit einer zweiten Investitur, mit der Umcodierung mithin des repräsentativen Zeichenhaushalts. Der Rest ist Geschichte. Karl der Große hat am 15.  August 778 tatsächlich eine verheerende Niederlage einstecken müssen. Beim Rückzug aus Spanien wurde seine Nachhut in den Pyrenäen von den Waskonen aufgerieben  – niemand überlebte. Das Epos erzählt von dieser Schlacht von Ronceval, es ist die älteste ausführliche Schilderung einer Schlacht in der deutschen Literatur. Und schon im Hornschall Rolands klingt die Katastrophe nach, den noch Dante in der Unterwelt hört.12 Die Erinnerung an diese Niederlage Karls des Großen 12 Dante, Göttliche Komödie, XXXI, 18.

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Ulrich Hoffmann Abbildung 4  : Karl inmitten seiner Paladine träumt von einem Bären.

war jedoch problematisch, noch dazu im Kampf gegen die Sarazenen. Und so ist es gerade die Figur des Verräters, die diese Erinnerung zuallererst erträglich machte. Erst mit der ältesten umfassenden narrativen Darstellung dieser Schlacht, erst mit der etwa an den Beginn des 12. Jahrhunderts zu datierenden altfranzösischen ›Chanson de Roland‹, die Grundlage auch für die mittelhochdeutsche Bearbeitung war, wird der Verrat Geneluns Teil der Überlieferung.13 Der Verrat ist notwendig, denn der Verrat bietet ein Erklärungsmodell für das sonst Unerklärliche. Und auch im mittelhochdeutschen ›Rolandslied‹ ist die Notwendigkeit des Verrats stets angezeigt. Verbinden sich mit dem Verrat Geneluns immer wieder Vorausdeutungen des Erzählers auf den Tod unzähliger Christen, sind es die Träume Karls, die in visionärer Schau das katastrophale Ende in der Geschichte ankündigen, wenn etwa der Verräter in Gestalt eines Bären dem Kaiser im Schlaf auflauert (3066–3081  ; Abb. 4). Vor allem aber ist es die typologische Überhöhung von Geneluns Verrat, die diesen notwendig erscheinen lässt und geradezu heilsgeschichtlich verankert  : zesamne si gesâzen under einem öleboume. si rieten mit Genelûne den aller wirsesten rât, der under disem himele ie gevrumt wart. 13 Vgl. Spiewok, Der Verrat des Genelon/Genelun, hier 75.

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Genelûn geriet michel nôt. den armen Judas er gebildôt. dô unser hêrre ze merde gesaz unde er mit ime tranc unde az, in den triuwen er in verriet wider die meintætige diet. er verkouphte in mit gedinge umbe drîzic phenninge. daz ime sît vil üble ergienc, wand er sich selben erhienc. des en was alles nehein rât, ez was lange vore gewîssaget. und verkouphte Judas in einen, Genelûn verkouphte wider die heiden mit ungetriuwen listen manigen hêrlichen kristen. (1919–1939) Sie setzten sich zusammen unter einen Ölbaum. Sie schmiedeten mit Genelun den bösesten Plan, der je unter dem Himmel ausgeführt wurde. Geneluns Rat entsprang großes Unglück. Er ist ein Abbild des elenden Judas. Als unser Herr beim Abendmahl saß und er mit Ihm trank und aß, da hatte er Ihn in Wahrheit schon verraten an das verbrecherische Volk. Er verkaufte Ihn vereinbarungsgemäß um dreißig Silberlinge. Das hatte bald darauf sehr schlimme Folgen für ihn, denn er erhängte sich. Es mußte alles so kommen, es war längst prophezeit. Während aber Judas den einen verriet, verkaufte Genelun den Heiden durch Treuebruch viele edle Christen.

Der Verrat Geneluns ist damit nicht nur ein Verrat an der Treue gegenüber dem Kaiser, er ist zugleich zum Verrat auch gegenüber Gott erhöht.14 Es ist diese der Kreuzzugsideologie geschuldete Erweiterung gegenüber der französischen Vorlage, die den deutschen Text auszeichnet.15 Und so bestätigt der Abschluss, die Bestrafung Geneluns auf dem Hoftag zu Aachen, in ebendieser doppelten Perspektive, mit der auch das Lied anhebt, die Grundlagen der höfisch-christlichen Ordnung. Im Gericht über Genelun, das als Gottesgericht im Zweikampf ausgefochten wird16, bekräftigt sich die Treue gegenüber Gott und dem Kaiser. 14 Es ist mithin auch ein Verrat gegenüber den Heiden, da diesen infolge der Abwehr der Mission jede Aussicht auf das Seelenheil durch die Bekehrung verwehrt ist (2395–2414). 15 Vgl. Haug, Die geistliche Umformulierung, 79 f. 16 Vgl. die Grundlegung zum Zweikampf von Tirrich (8834 f.) sowie die Gebete der Anwesenden (8881 ff.).

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Am Ende obsiegt die von Karl garantierte Ordnung, während Genelun seinem Vergehen gemäß bestraft wird  : Der Verräter wird seiner Bewegungsfreiheit beraubt, er wird gefesselt, er wird seiner Handlungsmöglichkeiten beraubt, wenn ihm Arme und Beine an Pferde gebunden werden, die ihn schließlich zerreißen (9009–9016).17 In aller heute grausam erscheinenden Deutlichkeit wird durch die Figur des Verräters sowie durch deren Bestrafung – die nebenbei bemerkt nicht der zeitgenössischen Rechtspraxis entspricht18 – die auf Treue und Einheit basierende Ordnung vor Gott und dem Kaiser offenbar. Der Verrat bietet hierfür die Folie, das Erzählen vom Verrat ihr produktives Muster, das in seiner die Einheit destruierenden Anlage ebendiese Einheit auch nachhaltig bekräftigen lässt. Dieses spannungsgeladene Verhältnis von Ideal und Abweichung verhandelt dann auf ganz eigene Weise auch der ›Prosalancelot‹.

Vielerlei Verrat am Artushof im ›Prosalancelot‹ Der sogenannte ›Prosalancelot‹ ist eine vermutlich schon vor 1250 begonnene und von verschiedenen Autoren über einen längeren Zeitraum fortgeführte Bearbeitung einer französischen Vorlage, die – so zumindest im mittelhochdeutschen Text  – Gautier Map zugeschrieben wird.19 Wenngleich diese Zuschreibung heute als Verfasserfiktion zu werten ist, unterstreicht sie zumindest den Anspruch einer einheitlichen Gestaltung dieses ersten Prosaromans in deutscher Sprache.20 Erzählt wird in ganzer Breite von der Geschichte des höfischen Rittertums, von der Liebe zwischen Lancelot und Ginover, von der Suche nach dem Heiligen Gral, schließlich auch vom Tod des Königs Artus und vom Untergang der gesamten Artuswelt. Mit Blick auf dieses Ende erscheint die Artuswelt in einem steten Kampf um die eigenen Ideale  : die Ideale höfischer Liebe, ehrenvollen Rittertums, gerechter Herrschaft. Es verwundert kaum, dass sich das verhängnisvolle Finale als ein Geflecht verratener Beziehungen darstellt. Und entsprechend dem für den Roman typischen erzähltechnischen Verfahren des Entrelacements21 laufen verschiedene, vom Verrat bestimmte Handlungs17 Damit erleidet Genelun den in der Literatur typischen Tod des Verräters  ; vgl. Ohly, Der Tod des Verräters, 429. 18 Vgl. ebd., 430 f., der vielmehr von einem Einfluss des literarischen Motivs auf das später kodifizierte Recht ausgeht. 19 Die folgenden Zitate mit Übersetzung und Angabe der entsprechenden Seiten und Zeilen aus  : Die Suche nach dem Gral. 20 Zum ›Prosalancelot‹ einführend  : Ruberg, ›Lancelot‹. 21 Der Begriff des Entrelacements geht zurück auf  : Lot, Étude sur le Lancelot en prose, vgl. darin das

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stränge zusammen und verknoten sich gleichsam im Verrat Mordrets an seinem Vater König Artus. Diesem Verrat voraus geht die verbotene Liebe zwischen Lancelot und Ginover. Es handelt sich um einen Liebesverrat22, dem hier nicht weiter nachgegangen werden kann, in dessen Folge sich jedoch die Rivalitäten am Artushof ins Unermessliche steigern, bis schließlich Lancelot im Kampf den Bruder Gawans tötet. Um jeden Preis, auch gegen den Rat aller anderen Artusritter, will Gawan daher Rache nehmen. Auch wenn Lancelot der beste Ritter sei, fürchte er ihn nicht, da jeder wisse  : unrecht und ungetrúwekeyt die machent den besten ritter von aller welt den aller bösten, und getruwekeyt macht uß dem aller bösten den aller besten (872,25–27). Vor dem König klagt er schließlich Lancelot des Verrats an und möchte im Zweikampf bewisen das Lanczlot mynen bruder verreteclichen erschlagen hat (886,28f.). Mit dieser für den Artushof prekären Konstellation – dem Antagonismus der Artusritter Lancelot und Gawan – beginnt jedoch zunächst eine ganze Reihe von Treuebeweisen. Lancelot gewinnt die Oberhand im Kampf gegen Gawan, doch verschont er ihn und möchte  – nach Ablauf der in Sachen Verrat vorgesehenen Kampfzeit23  – vielmehr selbst den Hof verlassen. Artus gewährt ihm diese Bitte und wünscht ihm Gottes Schutz, ihm, dem besten ritter den ich ye gesah (906,27). Gawan dagegen bleibt weiterhin an der Seite des Königs, er bleibt sein bevorzugter Ratgeber, den Artus dann auch ins Vertrauen zieht, als er die Nachricht vom Einfall der Römer in Gallien und von den Tributforderungen Kaiser Maxentius’ erhält. Der römische Kaiser Maxentius war im Mittelalter durch die Legende der Heiligen Katharina von Alexandria bekannt  ; 306 n. Chr. hatte er die Kaiserwürde verräterisch an sich gerissen, bis er 312 von Konstantin schließlich besiegt wurde.24 Im Roman sind es die Artusritter, die mit Heeresmacht gegen Maxentius zu Feld ziehen und in der Schlacht groß wunder zeigen, allen voran Artus, der konig besunder mit synselbs libe, das da zu der zyt nÿmands was als bÿderbe als er (916,30 f.). Lancelot und Gawan, auch die übrigen Artusritter, demonstrieren somit ihre Treue gegenüber dem König, der im ruhmreichen Sieg über den verräterischen Kaiser den höchsten Preis davonträgt. An diesem Höhepunkt, der a­ bgewiesenen Katastrophe im Zweikampf der besten Ritter, der Bestätigung arthurischen Rechts nach innen wie nach außen, an diesem Höhepunkt nun, desselben tages Kapitel ›Du principe de l’entrelacement‹, 17–28. Vgl. auch Stierle, Die Verwilderung des Romans, hier vor allem 271–279. 22 Vgl. hierzu Matt, Liebesverrat  ; zu Lancelot und Ginover im Kontext der Rezeption bei Dante ebd., 85 f. 23 Ein Gerichtskampf in Sachen Verrat muss vor der Vesper entschieden sein (904,20–23). 24 Vgl. Steinhoff, Anm. zu 914,24, 1214 der hier zugrunde gelegten Ausgabe.

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(920,8), erreicht den König die Nachricht vom neuerlichen Verrat  : Während sich Artus als Verteidiger des Rechts im fernen Gallien behauptet, hat sein Sohn Mordret die Herrschaft im Reich an sich gerissen. Vor dem Aufbruch nach Gallien hatte Mordret seinem Vater noch unbedingte Treue versprochen, womit er erstmals als handelnde Figur im Roman auftritt. Er tritt auf mit dem Angebot, die Statthalterschaft im Reich zu übernehmen und auch für die Königin zu sorgen. Artus vertraut ihm die Staatskasse sowie seine Frau an und lässt seine Untertanen einen Eid auf ihn schwören, was Artus später  – so der Erzähler  – noch bereuen sollte, gerade so, also daß diß bůch noch schinbarlichen erzelen sol (838,21). Und so erzählt das Buch vom Verrat Mordrets  : Da bedacht er sich von einem großen verretniß, da von sitherre alle zyt geredet ist und noch sol gerett werden als lang die welt gesteet. Wann er dete brieff machen mit eim falschen ingesiegel, gemacht geyn des konig Artus siegel, und die brieff wurden gesant der koniginne und wurden gelesen vor den fursten von dem lande die da waren, und sie lase ein bischoff von Ißlande. Und in dißen brieffen was geschriben  : »An uch herren und fursten von dem konigrich von Logres […] enbiete ich mynen grůß als der da dotwůnt geschlagen ist von Lanczlots henden und alle myn volck erschlagen  ! […] krnet yn [Mordret] vor eynen konig zu Logres, wann ir gesehent mich númmer men. Wann Lanczlot, on zwyvel, hat mich dottwund geschlagen und Gawin mynen neffen erschlagen und noch manchen biederben ritter. Und bitten uch off den eydt den ir mir gethan hant das ir myn frauwe die konigin, die ich als lieb hett, im zu eynem wybe gebent. […]« (850,4–27) Da ließ er sich einen Verrat einfallen, über den man seither immer wieder gesprochen hat und auch weiter sprechen wird, solange die Welt besteht. Denn er ließ Briefe mit einem gefälschten Siegel schreiben, das dem Siegel des Königs Artus nachgebildet war, und diese Briefe wurden der Königin gesandt und den Fürsten des Landes vorgelesen, die dort anwesend waren  ; ein Bischof von Irland trug sie vor. In diesen Briefen stand folgendes  : »Euch, Herren und Fürsten des Königreichs Logres […] entbiete ich meinen Gruß. Ich bin von Lancelots Hand tödlich verwundet, und mein ganzes Heer ist erschlagen  ! […] Krönt ihn [Mordret] zum König von Logres, denn mich werdet Ihr nicht wiedersehen. Lancelot hat mich tödlich verwundet, daran gibt es keinen Zweifel, und meinen Neffen Gawan und viele andere tapfere Ritter getötet. Ich bitte Euch bei dem Eid, den Ihr mir geschworen habt, ihm die Königin, die ich so geliebt habe, zur Frau zu geben. […]«

Mordret fälscht diesen Brief mit königlichem Siegel und der Ermahnung zur Treue, die mit dem Hinweis auf Lancelots vorgeblich verräterisches Handeln nur umso notwendiger erscheint. Auch handelt Mordret im Verborgenen, er handelt verdeckt (850,35), wie es heißt, um sich Herrschaft und Frau zu sichern. Er verstellt sich

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in Anbetracht der Nachricht vom vermeintlichen Tod des Königs, er det recht als er in onmacht were gevallen und begunde den grösten jamer zu stellen von der welt (852,3f.). Und Mordret lässt sich – in lehens wise (864,17f.) und mit Eid auf die heyligen (864,2) – erneut die Treue der Vasallen versichern wiedder alle die welt (864,2). Die Tat im Verdeckten, die Verstellung in der Öffentlichkeit, schließlich die Täuschung im Wissen von den Spielregeln politischer Ordnung sichern Mordret eine Machtposition, von der aus er Einfluss auf das Handeln anderer gewinnt.25 Es sind der Liebesverrat Lancelots und Ginovers, der im ritterlichen Zweikampf mit Gawan zur Disposition stehende Verrat, der in den Krieg mündende Verrat des römischen Kaisers, über denen allen scheinbar souverän König Artus steht.26 Doch es sind ebendiese unbewältigten, da nur unter größten Verlusten abgewehrten Konflikte, die die Frage nach der Treue eher aufwerfen als sie beantworten. Am Ende ist es der Verrat Mordrets, in dem sich die Treue zu Land, Frau und Ritterschaft bricht  ; es sind die Säulen der arthurischen Ordnung, auf die der Verrat zielt, die er geradezu ausstellt, um sie zu untergraben. Die von innen kommende, subversive Dynamik des Verrats führt dann auch notwendig in die Katastrophe, die sich sogleich und wiederholt in der Erzählung ankündigt. Denn nach seiner Rückkehr aus Gallien, zurück auf heimischem Boden, hat Artus merkwürdige Träume. Er träumt von einer wunderschönen Frau. Sie setzt ihn hoch oben auf ein Rad, von wo aus er die ganze Welt überblicken kann. Es ist das radt von gluck (954,27f.), von dem sie ihn sodann grausam und in aller Härte wieder auf die Erde zurückwirft. Am nächsten Morgen erzählt Artus diesen Traum von Fortuna dem Erzbischof, der ihn daraufhin vor dem Feldzug gegen Mordret warnt, von dem er nicht lebend zurückkommen werde. Doch Artus bleibt fest entschlossen zum Kampf, und so kommt es – wie mehrfach prophezeit27 – zur entscheidenden Schlacht bei Salisbury, bei der 80.000 Ritter den Tod finden. Unter den Toten ist auch Iwein, der von Mordret erschlagen wird  : Da der konig Artus das gesah, da sprach er  : »Ach got, warumb verhengest du das das ich gesehen das der böst verreter von der welt hatt dot geschlagen den bÿderbsten ritter von ertrich  !« Und Segremors der antwurt im und sprach  : »Herre, es sint die spiel von glúcke. Nůn mogent ir gesehen das uch nů sere dúre verkeufft ist die groß ere und der groß gewalt die ir in dißer welt hant gehabt  ! […]« (992,9–15) 25 Somit erscheint Mordret geradezu als Prototyp des literarischen Verräters  ; vgl. den Artikel zum Verräter bei Frenzel, Motive der Weltliteratur, hier 788 f. 26 Die zum Ende des Romans hin zunehmende Idealisierung des Königs sieht als Voraussetzung für den anschließenden Niedergang Meyer, König und Verräter, hier 294 f. 27 Schon Gawan warnt ihn vor Mordret, auch nach seinem Tod im Traum  ; Wahrsager sagen die Schlacht voraus, und auf dem Feld von Salisbury liest Artus selbst noch die Prophezeiung Merlins auf dem Stein.

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Als König Artus das sah, sagte er  : »Ach Gott, warum läßt du zu, daß ich mit ansehen muß, wie der gemeinste Verräter der Welt den edelsten Ritter des Erdreichs getötet hat  !« Und Segremors antwortete ihm  : »Herr, das sind die Spiele des Glücks. Nun könnt Ihr sehen, daß Euch der hohe Ruhm und die große Macht, die Ihr auf Erden besessen habt, teuer zu stehen kommen. […]«

Der Schlag des Verräters firmiert geradezu als Ausdruck des unabwendbaren Schicksals. Jede Frage nach personaler Schuld und Verantwortung wird angesichts dieses heillosen Weltlaufs der Fortuna obsolet.28 Die im Verrat von innen ausgehöhlte Ordnung geht im Festhalten an ihren Grundsätzen notwendig ihrem Ende zu. Es ist nur konsequent, wenn Artus – bis zuletzt seine Welt verteidigend und noch von Mordret tödlich verwundet – den Verräter mit der Lanze durchbohrt, sodass ein Lichtstrahl der Sonne durch die klaffende Wunde fällt29  : Darnach sagt uns diß buch das von dem stich der glenen kam ein glancz der sonnen in die wunden das es Giflet schinbarlichen sah und die von dem lande sitherre dick da von sagten, es wer ein zeichen von unserm herren got, das ist ein zeichen von zorn. (996,26–30) Das Buch berichtet uns, daß ein Sonnenstrahl durch die Wunde fiel, was Giflet deutlich sah, und die Bewohner des Landes sagten später oft davon, das sei ein Zeichen unseres Herrgotts gewesen, ein Zeichen seines Zorns.

Nach allem Verrat bleibt am Ende einzig dieser Lichtblick, ein Lichtblick aber des Zorns. Und so bleibt am Ende nichts als der Moniage, die allem entsagende Weltflucht.30

Das narrative Potenzial des Verrats Fasst man die am ›Rolandslied‹ und am ›Prosalancelot‹ angestellten Beobachtungen zusammen, lassen sich im Wesentlichen drei Ergebnisse zu einem Erzählen vom Verrat festhalten  : Es ist zunächst die Figur des Verräters, die kontrastierend zur Darstellung unbedingter Treue dient, indem sie andere Figuren in ihrer Größe nur umso 28 Vgl. Müller, Fortuna, hier 154. 29 Diesen für einen Verräter in der Literatur eher untypischen Tod Mordrets ist für Ohly der »gesteigerten Gefühlswelt des Romans« geschuldet  ; Ohly, Der Tod des Verräters, 432. 30 Zum Moniage vgl. Biesterfeldt, Moniage, hier vor allem 146 f.

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deutlicher hervortreten lässt. Natürlich greift hier das Modell des Zweikampfs. Schon der Zweikampf von Lancelot und Gawan macht in der Anklage des Verrats den Gegensatz von Treue und Untreue explizit. Und am Ende steht der Zweikampf von Artus und Mordret, der diesen Gegensatz abschließend zur Anschauung bringt, wenngleich er nach einem letztlich unentwirrbaren Geflecht von durch Verrat bestimmten Handlungssträngen im wechselseitigen Todschlag endet. Auch das ›Rolandslied‹ endet mit dem notwendigen Zweikampf, doch gerät Genelun schon zu Beginn in Außenstellung und damit in Gegenposition zu den Paladinen um Karl den Großen. Wenn sich Genelun einzig um seine weltlichen Besitzungen sorgt, tritt die Bereitschaft der Kreuzritter zum Martyrium nur umso deutlicher hervor. Dieses Ideal der Treue gegenüber Kaiser und Gott zeichnet den deutschen Text gegenüber der französischen Vorlage aus, und es ist die Figur Karls des Großen, die diese Einheit garantiert. Der Verrat verweist damit aber auf ein Ideal, und das Erzählen vom Verrat macht eine als ideal gedachte Ordnung dann auch in besonderer Weise transparent. Dies erfolgt jedoch nicht im Sinne einer bloßen Umkehrung idealer Verhältnisse, auch nicht allein über eine Kontrastierung im Zweikampf, sei es auf dem Schlachtfeld oder vor Gericht. Das Erzählen vom Verrat macht die Ordnung transparent in repräsentativer Hinsicht, indem der Verrat auf Grundlagen der verratenen Ordnung rekurriert. Genelun ist Repräsentant der idealen Ordnung, er verkörpert sie geradezu und macht sie gegenüber den Heiden ansichtig. Schließlich entfaltet er ihnen sein Wissen von dieser Ordnung. Erst dadurch kann der Verrat erfolgen, können die Ereignisse ihren Lauf nehmen. Auch Mordret hat dieses Wissen von der Ordnung, von den Spielregeln der Politik. Wie Genelun tritt er aus dieser Ordnung aus, wenn er gegen deren Grundlagen verstößt, wenn er deren Spielregeln jedoch konsequent anwendet und – wie auch Genelun – nach außen hin vertritt. So erst funktioniert die Täuschung, so erst funktioniert der Verrat im Zeichen des gefälschten königlichen Siegels oder auch im Bild des ausgehöhlten Baums. Das Erzählen vom Verrat bietet, da es immer auch ein Erzählen von Treue ist, schließlich ein Erklärungsmodell für Unerklärliches. Mit den Fragen nach Treue und Repräsentation sind die Grundfragen der höfischen Kultur berührt. Und die Literatur verhandelt diese Fragen. Dem Ideal um Karl den Großen eignet ein Erzählen, das sich in typologischer Überhöhung des Verrats der Heilsgeschichte öffnet  ; der Katastrophe im Artusroman bleibt dagegen lediglich, doch folgerichtig ein Modell, wie es Fortuna bereithält. Der Verrat bietet in jeder Hinsicht ein geeignetes Erzählmuster, anhand dessen von Treue und Ordnung, doch zugleich auch von Untreue und Untergang erzählt werden kann und das Anschlussmöglichkeiten bietet, die erzählte Geschichte in ein übergeordnetes Geschichtsmodell zu integrieren. Die jeweilige Erzählung findet hier ihren kul-

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turellen und auch geistesgeschichtlichen Anschluss. Ein zumindest knapper Blick auf das ›Nibelungenlied‹ mag dies abschließend bekräftigen.

Verrat und Gegenverrat im ›Nibelungenlied‹ Wie vielleicht kaum ein anderes mittelalterliches Epos entwirft das um 1200 aufgeschriebene ›Nibelungenlied‹ ein ganzes Geflecht an Treuebindungen, von dem die nibelungische Gesellschaft durch und durch geprägt ist. Einander mitunter widersprechende, da in Konkurrenz zueinander stehende Verpflichtungen in verwandtschaftlichen, herrschaftlichen oder auch freundschaftlichen Beziehungen führen geradezu zwangsläufig zu einem Konflikt und enden damit ebenso zwangsläufig im kollektiven Untergang.31 Es ist diese Treue bis in den Untergang, die als sogenannte Nibelungentreue einen geradezu mythischen Status erlangt hat. Im ›Nibelungenlied‹ stellt sich diese Aporie als eine kaum mehr aufzulösende Verkettung von Treuebrüchen dar, von Verrat und Gegenverrat, die nicht erst mit der heimtückischen Ermordung Siegfrieds durch Hagen ihren Ausgang nehmen. Schon zu Beginn zeichnet sich der Antagonismus zweier Helden ab, von Verräter und Verratenem. Während Hagen neben anderen wie Dankwart und Volker als einer der besten recken (6,3) im Dienst der burgundischen Könige vorgestellt wird, ist Siegfried selbst eins vil edelen kuneges kint (18,1), wie er gleichwohl und seinerseits als degen guot (19,1) bezeichnet wird. Mit der kollektiven Waffenbrüderschaft auf der einen, der verwandtschaftlich-dynastischen Bindung auf der anderen Seite geht jedoch in gleicher Weise über die herrschaftlichen Treueverpflichtungen hinaus auch die Exorbitanz des Helden einher. So tritt Siegfried bei seiner Ankunft in Worms in heroischer Begleitung von hêrlichen recken (78,2) den Königen Gunther, Gernot und Giselher gegenüber, während es konsequent nur Hagen ist, der – seinerseits mit recken hinze hove (80,4) kommend  – Näheres über den Fremden mitzuteilen weiß. Hagen erzählt von Siegfrieds Heldentaten, vom Gewinn des Nibelungenhortes, vom Schwert Balmunc und der Tarnkappe, schließlich auch von Siegfrieds Kampf gegen den Drachen, in dessen Blut er gebadet habe, weshalb er unverwundbar sei (84,1–99,4). Es ist dieses exklusive Wissen, das Hagen nicht nur als Gegenspieler Siegfrieds von ihrer ersten Begegnung an ausweist  ; exklusives Wissen bietet ihm auch im Folgenden erst die weitere Grundlage für seinen Verrat  :

31 Vgl. grundlegend Müller, Spielregeln, hier vor allem 153–170  ; ferner Hoffmann, Treubrüchige und Verräter, hier 14–17. Zitate aus dem ›Nibelungenlied‹ im Folgenden mit Übersetzung und A ­ ngabe der entsprechenden Strophen und Verse nach der Ausgabe  : Das Nibelungenlied.

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Der Verrat, den Hagen in treuer Verpflichtung gegenüber Gunther und seiner Herrin Brünhild begeht, mündet im Mord Siegfrieds während einer höfisch veranstalteten Jagd. Schon im Vorfeld bereitet Hagen alles Nötige für den Anschlag vor. Unter dem Vorwand eines angeblich kriegerischen Einfalls sächsischer und dänischer Truppen entlockt Hagen Kriemhild das Geheimnis der einzig verwundbaren Stelle Siegfrieds zwischen seinen Schulterblättern, wo sich ein Lindenblatt während des Bades im Drachenblut befunden hat. Damit Hagen ebendiese Stelle im Kampf besonders beschützen könne, solle Kriemhild sie ihm kenntlich machen. Si sprach  : ›mit kleinen sîden næ ich ûf sîn gewant ein tougenlichez kriuze. dâ sol, helt, dîn hant den mînen man behüeten, sô ez an di herte gât, swenn er in den stürmen vor sînen vîenden stât.‹ ›Daz tuon ich‹, sprach dô Hagene,   ›vil liebiu vrouwe mîn.‹ dô wând ouch des diu vrouwe, ez sold im vrume sîn. dô was dâ mit verrâten der Kriemhilde man. urloup nam dô Hagene. dô gie er vrœliche dan. Des küneges ingesinde was alliz samt gemuot. ich wæne, immer recke mêr deheiner tuot sô grôzer meinræte, sô dâ von im ergie, dô sich an sîne triuwe Kriemhilt diu küneginne lie. (901,1–903,4) Sie sagte  : ›Mit kleinen Seidenstichen nähe ich auf sein Gewand ein kaum sichtbares Kreuz. Dort soll Deine Hand, treuer Held, meinen Mann beschützen, wenn es Ernst wird, also immer dann, wenn er im Kampf vor seinen Feinden steht.‹ ›Das mache ich‹, sagte Hagen, ›meine liebe Herrin.‹ Da glaubte auch die Herrin, es sollte Siegfried von Nutzen sein. Aber damit war der Mann Kriemhilds verraten. Hagen verabschiedete sich und ging froh hinweg. Der Hofstaat des Königs war durchweg gut gelaunt. Ich glaube, einen so hinterlistigen Verrat wird niemals mehr ein Recke begehen wie damals Hagen, als sich die Königin Kriemhild auf seine vermeintliche Treue einließ.

Das aufgenähte Kreuz markiert nicht nur die verwundbare Stelle Siegfrieds, es zeichnet Siegfried in geradezu exzeptioneller Weise als den im Drachenblut gebadeten Helden aus. Und in ebendieser doppelten Funktion der Anzeige von

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Stärke und Verwundbarkeit ist es Ausdruck auch von Kriemhilds Sorge um ihren Mann, wie es zugleich Ausdruck des Verrats Hagens ist, des meinrâts, den er gegenüber Kriemhild leistet. Dem Kreuz kommt damit ein ambivalenter Status zu, es ist Zeichen von Stärke wie von Schwäche, und es changiert zwischen Treue und Untreue  : der Treue Kriemhilds gegenüber Mann und Verwandtem, der Untreue Hagens gegenüber der Herrin und dem Kampfgefährten.32 Die für die nibelungische Gesellschaftsordnung konstitutiven Treuebindungen von Herrschaft, Verwandtschaft und Waffenbrüderschaft werden gleichermaßen aufgerufen, im Bezeichnen des Exzeptionellen verdichtet, damit aber geradezu repräsentativ untergraben, wenn Hagen seinen Plan ausführt. Denn nachdem falsche Boten den vorgeblichen Angriff der Dänen und Sachsen abgesagt haben, sodass die Hofgesellschaft unter fröhlichem Schall zur Jagd aufbricht, kann am Rande des die Jagd abschließenden Festmahls Hagen nach einem letzten Kräftemessen im Wettlauf zur Quelle im Wald seinem Gegenspieler den finalen Stoß versetzen (Abb. 5)  : Dâ der herre Sîfrit ob dem brunnen tranc, er schôz in durch das kriuze, daz von der wunden spranc daz bluot im von dem herzen vaste an Hagenen wât. sô grôze missewende ein helt nimmer mêr begât. (978,1–4) Als Herr Siegfried über die Quelle gebeugt trank, schoss Hagen durch das Kreuz hindurch, so dass aus der Wunde viel Blut vom Herzen bis an Hagens Kleidung sprang. Eine so folgenschwere Untat wird nie wieder ein Held begehen.

Markierte das Kreuz auf Siegfrieds Gewand die Stelle, an der das Blut des Drachen den Helden nicht bedeckte, befleckt das Blut Siegfrieds jetzt das Gewand Hagens. Der Kontrast von Verratenem und Verräter könnte kaum eindrücklicher ins Bild gesetzt sein. Und so bestätigt vor den Augen des Verräters Siegfried ein letztes Mal seine unbedingte Treue gegenüber dem König, den Verwandten und allen tüchtigen Rittern33, während er alle diejenigen anklagt, die ihn verraten hätten, di ûf in gerâten heten den ungetriuwen tôt (985,4). 32 Kriemhild hatte zuvor noch Hagen als mâc angesprochen (895,1), Siegfried bezeichnet sie korrekt als den mînen man (901,3), während Hagen sie auffallend in dieser Szene wiederholt als vrouwe tituliert (892,2 u. 4  ; 894,1 u. ö.) und er Siegfried in Anbetracht des vermeintlich bevorstehenden Krieges als Kampfgefährte beistehen möchte (894,4). 33 Gegenüber Gunther und Hagen erinnert Siegfried an seine dienest (986,2) ebenso wie an die mâgen (986,4) und grenzt sie von aufrichtigen Helden ab  : mit laster ir gescheiden sult von guoten recken sîn (987,4). Auf engstem Raum integriert Siegfried in seine Klage damit Ideale der Treue in herrschaftlichen, verwandtschaftlichen wie freundschaftlichen Beziehungen.

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Abbildung 5  : Hagen ermordet Siegfried an der Quelle abseits der Jagdgesellschaft.

Die Figur des Verräters dient nicht nur kontrastierend der Idealisierung des Helden, der Verräter bestätigt seinerseits ebendiese vom Helden verkörperten Ideale, wenn er sie gerade dadurch untergräbt, dass er sie gegenüber Dritten – hier Kriemhild – scheinbar vertritt. Am Ende bleibt selbst die Ambivalenz des Kreuzes noch gewahrt, wenn Siegfried sterben muss, wand er des tôdes zeichen in liehter varwe truoc (984,3), bis er schließlich blutüberströmt in di bluomen sinkt (985,1). Die glanzvolle höfische Jagd bietet für diesen tödlichen Verrat dann auch den adäquaten Anlass, zumal sie mit dem Festmahl gerade die Gemeinschaft stiftende und auf Treue basierende Ordnung repräsentiert.34 Doch schon beim Aufbruch zur Jagd, die in vollendeter höfischer Prachtentfaltung veranstaltet wird, bleiben Andeutungen auf das fatale Ende nicht aus. Kriemhild möchte nach einem Besorgnis erregenden Traum ihren Mann von der Jagd abhalten  : Si sprach zuo dem recken  : ›lât iuwer jagen sîn. mir troumte hînat, wi zwei wildiu swîn jageten über heide, dâ wurden bluomen rôt.‹ (918,1–3). Sie sagte zu dem Recken  : ›Lasst Eure Jagd sein. Ich habe heute Nacht geträumt, wie Euch zwei wilde Eber über das freie Feld jagten, da wurden die Blumen rot.‹ 34 Diese Bedeutung kann der Jagd in der höfischen Literatur allgemein zugeschrieben werden  ; vgl. mit Blick auf die Jagd im ›Nibelungenlied‹ Müller, Spielregeln, 425.

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Ist mit den vom Blut benetzten Blumen das gewaltsame Ende der von Hagen und Gunther mit untriuwen – so der Erzähler (913,2) – angesetzten Jagd bereits vorgezeichnet, kündigt auch hier, wie im ›Rolandslied‹ und im ›Prosalancelot‹, ein Traum das bevorstehende und unausweichliche Verbrechen an. Fügt sich der Traum von König Artus in eine Reihe mehrerer Prophezeiungen seines Endes, träumt Karl der Große vielmehr konkret von einem Bären, der seine Ketten zerbricht und ihm den Arm zerfleischt (3066–3081). Der Bär mag dort zweifelsohne auf Genelun verweisen, und er schließt an eine auch andernorts nachweisbare ikonographische Tradition des Verräters an.35 Im ›Nibelungenlied‹ ist es dann bezeichnenderweise gerade ein Bär, den Siegfried noch auf der Jagd fängt und mit an den Hof führt, wo er sich der Fesseln entledigt über die Speisen hermacht und die ganze Gesellschaft in angsterfüllte Aufregung versetzt. Doch zwischen Bändigen und Wüten des Bären bietet seine Präsentation am Hof zugleich auch die Gelegenheit, nochmals öffentlich die Stärke und Größe Siegfrieds in ganzen sieben Strophen zu unterstreichen (948–954)36  : Im prächtigsten Jagdgewand und mit Balmunc bewaffnet erscheint Siegfried in geradezu nibelungischer Idealität, in höfischer Vollkommenheit und heroischer Kraft, sodass ihm noch im Steigbügeldienst die höchste Ehre des Hofes zuerkannt wird  : Dô reit der ritter edele vil weidenliche dan. in sâhen dort komen her di Guntheres man. si liefen im engegen und enpfiengen im daz marc. dô fuort er bî dem satel einen bern grôz und starc. (954,1–4) Da ritt der edle Ritter einher, jeder Zoll ein Jäger. Gunthers Männer sahen ihn auf sich zukommen. Sie liefen ihm entgegen und nahmen ihm das Pferd ab. Da brachte er am Sattel einen großen, starken Bären mit.

Die Präsentation des Bären dient nicht zuletzt der Repräsentation der durch ihn bedrohten Ordnung. Und so mag der Bär wie auch im ›Rolandslied‹ schon hier 35 Karl hat unmittelbar zuvor einen ersten Traum von Genelun, der ihm einen Speer zerbricht (3029– 3047). Ein Bezug lässt sich ebenso über die altfranzösische Vorlage herstellen, in der Karl ebenfalls u. a. von einem Bären träumt (725–736 u. 2555–2569). Nach der Gefangennahme Ganelons lässt er diesen schließlich wie einen Bären, cum un urs (1827), in Ketten legen. Den Bezug zur christlichen Ikonographie nennt Janz, Genelun, hier 321, dort mit einem Hinweis auf die Bernwardstür im Hildesheimer Dom von 1015, auf der ein Bär dargestellt ist, wie er Pilatus zuflüstert. 36 Die symmetrische Anordnung der Szene, in der die sieben Strophen des Preises Siegfrieds von je fünf Strophen von Gefangennahme und Wüten des Bären gerahmt sind, hat Maurer dargestellt, der sie mit dem nur vordergründigen Titel »Sîvrits Scherz mit dem Bären« überschreibt, doch im »heitere[n] Kontrast« zur folgenden Mordszene sieht  ; Maurer, Über die Formkunst, hier 45.

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auf den Verrat verweisen, wenn er die Ordnung des Hofes im Inneren stört, die erst mit seinem Tod wiederhergestellt ist, sodass die geretteten Speisen erneut aufgetischt werden können  : ez enkunde baz gedienet den helden nimmer sîn  : heten si dar under niht sô valschen muot, sô wæren wol di recken vor allen schanden behuot. (961,2–4) Es hätte den Helden niemals besser aufgewartet werden können. Hätten sie nur unter dieser Oberfläche nicht eine solche Falschheit verborgen, so wären wohl die Recken von jeder Schande frei geblieben.

Die hier und auch im Folgenden37 immer wieder vom Erzähler angedeutete latente Bedrohung bleibt jedoch nach dem Mord an Siegfried weiterhin bestehen, zumal die Verantwortlichen übereingekommen sind, alles zu verschweigen, daz man ez verhæle, daz ez hete Hagen getân (996,4). Und wie schon im geradezu ikonisch anmutenden Auftritt Siegfrieds mit dem Bären38 Ideal und Abweichung auf einem Höhepunkt der Handlung inmitten der höfischen Gesellschaft präsent und repräsentiert sind, bleibt dann auch die Sanktionierung des Verrats aus. Eine Antwort findet allein die rachsüchtige Kriemhild – im Verrat an den Verrätern  : Jahre später, Kriemhild hat inzwischen König Etzel geheiratet, lädt sie auf Rache sinnend ihre Verwandten an den Hunnenhof. Mit dieser verräterischen Einladung und ihrer Annahme durch Gunther nimmt sodann die Katastrophe ihren Lauf, die begleitet von mehrfachen Prophezeiungen geradewegs in den Tod mündet.39 Das ›Nibelungenlied‹ folgt unaufhaltsam seiner eigenen aporetischen Struktur, es erzählt die unauflösbaren Antagonismen aus, die folgerichtig und notwendig in den finalen Kampf und Untergang führen.40 Der auf den Verrat 37 So etwa in den Versen 966,4  ; 967,4  ; 968,4. 38 Diese Szene hat dann gerade im 19. Jahrhundert Beachtung gefunden, wovon nicht nur die Fresken Julius Schnorr von Carolsfelds in den Nibelungensälen des Königsbaus der Münchner Residenz (1831–67) zeugen, sondern gleichfalls Zeichnungen von u. a. Peter Cornelius (1817), Ferdinand Fellner (1825/30) oder Carl Sandhaas (um 1820/24). Einen eindrücklichen Bezug zwischen dem Verräter Hagen und dem von Siegfried gebändigten Bären stellte 1913 auch Karl Schmoll von Eisenwerth über die Anordnung seiner 1945 zerstörten Wandbilder im Wormser Cornelianum her  : Dem Bild von Siegfried mit dem Bären dient als Pendant das gegenüberliegende Bild von Dietrich von Bern, wie er in analoger Darstellung Hagen fesselt. Vgl. hierzu Schmoll genannt Eisenwerth, Der Wormser Nibelungen-Wandbildzyklus, hier Abb. 130 und 133. 39 Von eigentümlichen Prophezeiungen sind gerade Aufbruch und Reise der Burgunden begleitet (25. Aventiure). 40 Vgl. Müller, Spielregeln, 453.

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antwortende Gegenverrat mag diese Struktur vielleicht bloßlegen, eine nachhaltige Perspektive eröffnet er jedoch nicht. Geradezu exemplarisch führt dann diese Ausweglosigkeit im Festhalten an den Idealen der Treue Rüdigers Dilemma vor. Rüdiger, der aufgrund seiner Bekanntschaft mit den Burgunden von Etzel bereits auf Werbungsfahrt um Kriemhild nach Worms geschickt worden war (1144–1150) und schon bald seiner neuen Herrin unbedingte Treue geschworen hat (1253–1255), beherbergt die Gäste zunächst in Bechelaren. Dort bekräftigt er mit Geschenken seine Verbundenheit mit Hagen und mit Gunther, mit Gernot und mit Giselher (27. Aventiure), doch gerät er nach Etzels und Kriemhilds Aufforderung zum Kampf unausweichlich zwischen die Fronten  : Dô sprach aber Rüedegêr  : »wie sol ichz anevân  ? heim zuo mînem hûse ich si geladen hân. trinken und spîse ich in güetlichen bôt und gab in mîne gâbe. wi sol ich râten in den tôt  ? Di liute wænent lîhte, daz ich sî verzaget. deheinen mînen dienest hân ich in versaget, den vil edeln fürsten unt den iren man. ouch riuwet mich diu vriuntschaft, di ich mit in geworben hân. Gîselher dem degene gab ich di tohter mîn. sine kunde in dirre werlde niht baz verwendet sîn ûf zuht unde ûf êre, ûf triuwe unde ouch ûf guot. ine gesach ni künec sô jungen sô tugentlich gemuot. (2156,1–2158,4) Da erwiderte Rüdiger  : ›Wie soll ich es anfangen  ? Ich habe sie in mein Haus geladen. Ich habe sie mit Speis und Trank bewirtet und mit meinen Gaben beschenkt. Wie sollte ich ihren Tod wollen  ? Die Leute glauben vielleicht, ich sei feige. Aber ich habe den edlen Fürsten und ihrem Gefolge gegenüber keinen Dienst abgelehnt. Auch schmerzt mich die verwandtschaftliche Bindung, die ich mit ihnen eingegangen bin. Giselher, dem Ritter, habe ich meine Tochter versprochen. Sie hätte in dieser Welt an höfischer Bildung, Ansehen, Treue und Vermögen keine bessere Wahl treffen können. Ich habe niemals einen so jungen und vorzüglich gebildeten König kennengelernt.‹

Am Vorabend des finalen Kampfes ruft Rüdiger damit ein letztes Mal die allverbindliche Treue in Erinnerung  : die Treue in herrschaftlichen und verwandt-

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schaftlichen Beziehungen wie auch die Treue gegenüber den Gastfreunden. Doch mit der Erinnerung an seinen ihr geleisteten Eid, gerade wegen seiner grôzen triuwe (2148,1), kann Kriemhild Rüdiger in den Kampf gegen die Burgunden schicken, in dem er ausgerechnet und bezeichnenderweise durch das eigene Schwert, das er zuvor Gernot geschenkt hatte, zu Tode kommt, nicht ohne dem getreuen Gegner aber selbst noch einen tödlichen Schlag zu versetzen  : Jâne wart ni wirs gelônet sô rîcher gâbe mêr. | dô vielen beide erslagene, Gêrnôt und Rüedegêr (2218,1f.). Und mit ihrem Fall beginnt der letzte Kampf, in dem nahezu alle Beteiligten den Tod finden. Wenn der am Hofe Etzels weilende Dietrich von Bern mit Blick auf die Toten wehmütig fragt, Wi kunde ez sich gefüegen […] daz si alle sint erstorben (2317,1f.), dann mag nur eine Antwort für das Unerklärliche vielleicht eine Erklärung bereithalten  : Kriemhild hat Rache genommen für den Mord an Siegfried. Mit einem Verrat hat sie auf den Verrat geantwortet und im Überschreiten jeglicher Grenzen einen Treuebruch nicht nur gegenüber den Gästen und Verwandten, sondern ebenso gegenüber ihren eigenen Untergebenen begangen. Am Ende erfährt dann auch sie die einer Verräterin zukommende Bestrafung, wenn Hildebrand, Gefolgsmann Dietrichs, Kriemhild mit seinem Schwert in Stücke schlägt  : ze stucken was gehouwen dô daz edele wîp (2374,2). Mit letzter Konsequenz und in geradezu potenzierender Gewissheit führt das ›Nibelungenlied‹ in aporetischer Verflechtung miteinander unvereinbarer Treueverpflichtungen die fatalen Folgen des Verrats vor. Das Erzählen vom Verrat entfaltet auch hier, wie im ›Rolandslied‹ und ›Prosalancelot‹, sein Potenzial auf der Ebene der Figuren über Kontrastierungen in antagonistischen Besetzungen, auf kultursemiotischer Ebene in Momenten der Repräsentation, schließlich auf narrativer Ebene, wenn es der Begründung von Handlung und Geschichte dient. In einer auf unbedingter Treue und den Glauben an festen Ordnungen gründenden Gesellschaft stellt der Verrat ein weitreichendes, vielleicht das schlimmste Vergehen dar. Ist der Verräter Hagen bereits für Hildebrand ein tiufel (2308,4), ist entsprechend Kriemhild schon für Dietrich und noch selbst für Hagen eine vâlandinne (1745,4  ; 2368,4). Und Verräter wie Verräterin sind folgerichtig und nicht von ungefähr am tiefsten Grund der Hölle zu verorten. Dante hält für sie einen Platz bereit  : Sei es in der Antenora, dem Ort der politischen Verräter, in der Caina, dem Ort der Verräter an Verwandten, oder in der Tolomea, dem Ort der Verräter an Freunden – sie finden einen ihnen angemessenen Ort.

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Quellen Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, italienisch u. deutsch, übersetzt u. kommentiert v. Hermann Gmelin, IV  : Kommentar, Erster Teil, Die Hölle, Stuttgart 1954. Dante Alighieri, La Commedia. Die Göttliche Komödie, I  : Inferno/Hölle. Italienisch u. deutsch. In Prosa übersetzt u. kommentiert v. Hartmut Köhler, Stuttgart 2010. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch u. Neuhochdeutsch, hrsg. v. Dieter Kartschoke, Stuttgart 1996. Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig, übersetzt u. kommentiert v. Wolf Steinsieck, Nachwort v. Egbert Kaiser, Stuttgart 1999. Die Suche nach dem Gral. Der Tod des Königs Artus. Prosalancelot V., nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hrsg. v. Reinhold Kluge, übersetzt, kommentiert u. hrsg. v. Hans-Hugo Steinhoff (Bibliothek des Mittelalters, 18), Frankfurt a. M. 2004. Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch u. Neuhochdeutsch, nach der Handschrift B, hrsg. v. Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt u. kommentiert v. Siegfried Grosse, Stuttgart 2016.

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Verräter in der Literatur des Mittelalters 

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1  : Dante in Begleitung Vergils unter den Verrätern in der Caina, Antenora und Tolomea, Sandro Botticelli, Illustration zu Dantes Göttlicher Komödie, Inferno XXXIII, 1480‑90, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin. Abbildung 2  : Lucifer in der Giudecca frisst die Verräter Brutus, Cassius und Judas, Sandro Botticelli, Illustration zu Dantes Göttliche Komödie, Inferno XXXIV-1, 1480–90, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin. Abbildung 3  : Genelun mit den Heiden unter dem Ölbaum, Pfaffe Konrad, Rolandslied, Cod. Pal. germ. 112, fol. 26r, Ende 12. Jahrhundert, Universitätsbibliothek Heidelberg. Abbildung 4  : Karl inmitten seiner Paladine träumt von einem Bären, Pfaffe Konrad, Rolandslied, Cod. Pal. germ. 112, fol. 41v, Ende 12. Jahrhundert, Universitätsbibliothek Heidelberg. Abbildung 5  : Hagen ermordet Siegfried an der Quelle abseits der Jagdgesellschaft, sogenannter Hun­ deshagenscher Codex, Ms. germ. fol. 855, fol. 58v, zwischen 1436 und 1442, Staatsbibliothek Berlin.

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Verraten und verraten werden Herzog Moritz von Sachsen (1521–1553) und François de Lorraine, duc de Guise (1520–1563)

In beiden Protagonisten dieses Beitrags, dem ›Verräter‹, Herzog/Kurfürst Moritz von Sachsen, und dem ›Verratenen‹, François de Lorraine, duc de Guise, verkörpert sich beispielhaft ihre geschichtliche Zeit mit den ihr eigenen Heraus­ forderungen. Die beiden nahezu Gleichaltrigen gehören der Generation des Hochadels an, deren Leben unauflöslich mit den fundamentalen Transformationsprozessen verbunden ist, die kennzeichnend für die europäische Geschichte seit der Zeit um 1500 sind. Nur zwei für das Verständnis des Folgenden wichtige Bestandteile dieses beschleunigten historischen Wandels, von dem ihr Lebensweg ebenso geprägt war wie sie selbst prägend auf diese Transformationsprozesse einwirkten, seien eingangs knapp skizziert. (1) François wie Moritz sind Vertreter der ersten Fürstengeneration, die in eine Welt hineingeboren wurde, die unter dem Vorzeichen der neuen Formen christlichen Bekennens stand – der Reformation lutherischer Prägung im Falle Moritz’, der Reformation Schweizer Prägung im Falle Guise’. Und auch wenn die innerweltlichen Folgen der religiösen Pluralisierung in ihrem jeweiligen Lebensraum, dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Falle Moritz’, Frankreichs im Falle Guise’, ganz unterschiedliche Konsequenzen zeitigten und diese zudem zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten virulent wurden, so steht doch ihr gewaltsamer Tod  – im Falle Moritz’ der Schlachtentod (9.  Juli 1553 Verwundung  ; 11. Juli 1553 Tod), im Falle Guise‹ (18.2.1563 Verwundung  ; 24.2.1563 Tod) seine Ermordung – für ein Signum ihrer Zeit  : für den unauflöslichen, wenn auch keiner simplen Kausalität gehorchenden Zusammenhang von Religionsdissens und Friedlosigkeit, wie er für die europäische Geschichte bis ins ausgehende 17. Jahrhundert charakteristisch ist. (2) Ein weiteres Moment, das schon zeitgenössisch als integraler Bestandteil der Veränderungsprozesse wahrgenommen wurde und dem gerade auch in Hinblick auf die kommunikative Reichweite des Verratstopos entscheidende Bedeutung zukommt, ist der Medienwandel. Beide Konflikte, in die die Protagonisten involviert waren – der erste französische Religionskrieg und die im Reich zwischen 1542 und 1554 militärisch ausgefochtenen Konflikte, allen voran der Schmalkaldische Krieg (1546/47) – waren (im Falle Frankreichs sogar transna-

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tionale) Medienereignisse. In der immensen Kommunikationsverdichtung im Vorzeichen des gewaltsamen Konfliktaustrags wird der durch die Druckmedien mit ihrer Möglichkeit, Informationen zeit- und raumübergreifend mitzuteilen, zu speichern und potenziell allen zugänglich zu machen, evozierte Wandel des Medienensembles, das bis dahin personal, kleinräumig und situativ strukturiert und von mündlicher Face-to-Face-Kommunikation und skriptographischen (von Hand erzeugten) Medien bestimmt war, ebenso greifbar, wie der gesteigerte gesellschaftliche Kommunikationsbedarf diesen Wandel weiter vorantrieb. Der Medienwandel steigert die Komplexität gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse, auch und gerade über das Gebaren derjenigen, die wie François de Guise und Moritz von Sachsen, in ihrem Tun und Lassen für das Konfliktgeschehen ausschlaggebend sind. Betrachtet man mit diesem Vorwissen die Medialität der Kommunikationsprozesse über den Verräter und den Verratenen, so möchte ich vier Aspekte besonders hervorheben  : 1. Aussagen über den Verrat und das Verraten-Werden finden sich in skripto- wie typographischen Medien1 gleichermaßen, und diese Aussagen bedienen sich primär der (Volks-)Sprache, nicht der Bilder. 2. Wird die Ermordung François de Guises (nicht jedoch der in seiner Ermordung zum Ausdruck kommende Verrat) erstmals 1570 als Bestandteil der ›Quarante Ta­ bleaux‹ von Tortorel und Pereissin, dann aber in europaweiter Verbreitung ins Bild gesetzt2, so findet sich eine einzige, auf die Zeit nach Juni 1547 zu datierende kolorierte Zeichnung des Verräters Moritz in Form einer Armenbibel in den Beständen des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden.3 3. Für beide Länder ist zudem die enge Verflochtenheit von alten skriptographischen und neuen typographischen Medien charakteristisch.4 4. In beiden Ländern schließlich ist der Vorwurf des Verrats nur ein und zudem ein kontroverser Teil der Konfliktkommunikation. Es sind die Konfliktkonstellationen und die Kommunikationskontexte, in die das Deutungsmuster Verrat eingebettet ist, die die Rede vom Verrat in ganz spezifischer Weise konturieren.

1 Die Texte sind im Einzelnen nachgewiesen bei Haug-Moritz, Judas, 254–259  ; Haug-Moritz, Sterben, 253–256. 2 Benedict, Graphic history, Tafel 24. 3 Vgl. Abbildungsnachweis  ; beste Reproduktion, auch mit einer teilweisen Transkription des Textes in  : Gross/Kobuch/Müller, Martin Luther, 286–288, 391 f. 4 So weisen etwa tagebuchähnliche Aufzeichnungen und diplomatische Korrespondenzen eine große inhaltliche Nähe zur gedruckten Fassung des Poltrotschen Geständnisses (vgl. unten Anm.  22) auf  : Despatches of Michele Suriano, 79 f. (Bericht vom 27.2.1563)  ; Letters and State Papers, Elizabeth I. (Smith to the Queen, 26.2.1563), http://www.british-history.ac.uk/report.aspx?compid=72053 (11.4.2018)  ; La Fosse, Mémoires, 54  ; Mémoires de Claude Haton, 320–322.

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Der Verräter – Moritz von Sachsen5 Das Geschehen  : Als Herzog Moritz am 30.  Oktober 1546 gemeinsam mit Truppen des Römischen Königs Ferdinand, des Bruders und designierten Nachfolgers Kaiser Karls V., in die Lande seines ernestinischen Vetters einmarschierte, setzte er in die Tat um, was er seinen schmalkaldischen Bündnispartnern drei Tage zuvor brieflich angekündigt6 und auch in seiner gedruckten ›Erklärung‹7 kundgetan hatte – seine Absicht, die Lande seines ernestinischen Vetters, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, militärisch einzunehmen. Dieser Schritt Moritz’ bedeutete nicht nur, dass sich in dem bislang in Süddeutschland zwischen Kaiser Karl V. und den Vormächten des Schmalkaldischen Bundes, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, samt ihrem schmalkaldischen Anhang ausgefochtenen Konflikt (›Donaufeldzug‹) eine neue Front auftat, sondern auch, dass Moritz eine politische Option wählte, die ihn jenseits seiner bisherigen konfessionellen, dynastischen und politischen Bezugsfelder stellte. Als Anhänger der Confessio Augustana (CA), zu der er sich in seiner ›Verleugnung‹ dezidiert bekannte, trat er an die Seite des altgläubigen Kaisers und Königs  ; als Schwiegersohn des hessischen Landgrafen und Angehöriger der albertinischen Linie des Hauses Sachsen, stellte er sich offensiv gegen seine engste Verwandtschaft und dies, wiewohl er sich (so die Sicht seiner Gegner) hatte vertraglich darauf verpflichten lassen, in militärischen Konfliktsituationen den Mitgliedern des Schmalkaldischen Bundes wie denen der sächsisch-brandenburgisch-hessischen Erbeinung Militärhilfe angedeihen zu lassen. Mit einem eindeutigen Bekenntnis zur CA sowie einer ihm erteilten kaiserlichen Erklärung, dass der Krieg nicht (wie von den Schmalkaldenern behauptet) der Religion wegen geführt werde, argumentierte er in seiner nahezu fünfzigseitigen Erklärung gegen den Vorwurf der konfessionellen Unzuverlässigkeit an. Mit dem Argument, das sich niemands frembdes um unsers Vetters Lande annehme, noch understünde die Lande mit gewalt in frembde hende vom Hause zu Sachssen zuwenden, trachtete er, den potenziellen Vorwurf der dynastischen Illoyalität zu entkräften. Und mit dem Hinweis, das do kein mittel ist, und die macht der Oberkeit [d. i. der Kaiser, G.  H.-M.] dringt, derer uns mit gewalt zu widerstehen nicht geziemen will, auch uns beharlich nicht möglich ist und er mit dem Einverständnis seiner Stände handle, führte er politische Gründe für sein Verhalten ins Feld. Die seinen territorialen und Statusambitionen vorteilhaf5 Eine Bilanz der Forschungen zu Moritz wird unternommen in Blaschke, Moritz von Sachsen. Dort finden sich, auch zum Schmalkaldischen Krieg, zahlreiche weiterführende Literaturhinweise. 6 Politische Korrespondenz, 902–904. 7 Anon., Vnnser von Gotts genaden Moritzes Hertzogen zu Sachssen […] Erklerunge.

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ten Verträge mit Kaiser und König, die er zu Kriegsbeginn (19.6.1546) wie im unmittelbaren Vorfeld des Kriegszuges (14.10.1546) geschlossen hatte, wie die, auf den Tag seiner Verwahrungsschreiben datierende Urkunde, mit der ihm die Kurwürde, die sein Vetter innehatte, übertragen wurde (27.10.1546), verschwieg er geflissentlich.8 War den herzoglich-sächsischen und den böhmischen Truppen das Kriegsglück hold und konnte Moritz am 22.  Dezember 1546 dem Kaiser berichten, dass die Lande seines Vetters mit Ausnahme der Städte Gotha und Wittenberg vollständig eingenommen seien9, so wandte sich das Blatt als der vom süddeutschen Kriegsschauplatz Ende November 1546 abgezogene sächsische Kurfürst am 22. Dezember in Gotha mit seinen Truppen eintraf. Während die süddeutschen Bundesmitglieder auf Gnade und Ungnade sich dem Kaiser ergaben und Landgraf Philipp militärisch nicht mehr handlungsfähig war, publizierte Kurfürst Johann Friedrich seine Kriegserklärung10 und schickte sich an, nun seinerseits die Lande seines Vetters einzunehmen. Sein Handeln als genotdrängte Defension rechtfertigend, ziehe er nicht seinen Vetter, wohl aber die Vertreter des ständischen Ausschusses, die Moritz’ militärisches Engagement gebilligt hatten, ihrer vorretterliche[n] und untrewe[n] Handlung, zu der sie durch Finantzerey und vorretterlich Judas gelt11 veranlasst worden seien. Vermochte der sächsische Kurfürst bis Jahresende mit der Übergabe der Erzbistümer Magdeburg und Halberstadt an ihn einen beträchtlichen militärischen Erfolg zu erzielen, so stellte sich im neuen Jahr rasch eine Pattsituation zwischen den Konfliktparteien ein, die sich erst im April 1547, als Karl V. seinem Bruder und dessen Verbündeten militärisch zur Hilfe kam, zu Gunsten der kaiserlichen Kriegspartei wendete. Am 26. April 1547 wurde der sächsische Kurfürst gefangen genommen, am 19. Juni 1547 ergab sich sein Bündnispartner Landgraf Philipp, und der Schmalkaldische Krieg war, obwohl noch nicht alle schmalkaldischen Bündnismitglieder kapituliert hatten (Konstanz, Magdeburg, Hamburg), mit einer desaströsen Niederlage der Schmalkaldener zu Ende gegangen. Vermochte Karl V. seinen militärischen Sieg nur unzulänglich politisch umzumünzen, so gilt dies für seinen Bündnispartner Moritz nicht  : Mit seiner auf dem Augsburger Reichstag 1547/48 vollzogenen Belehnung mit der sächsischen Kurwürde und den Kurlanden, war der letzte Schritt getan, der die albertinische

  8 Deutsche Reichstagsakten, 460  ; Politische Korrespondenz, Bd. 2, 872–876 (Offensiv- und Defensivbündnis, Oktober)  ; Bucholtz, Geschichte, 393–397 (Verleihungsurkunde).   9 Politische Korrespondenz, Bd. 2, 988. 10 Anon., Abgetrueckte Copey. 11 Ebd., Biii und B verso.

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Linie des Hauses Sachsen zum größten Profiteur des Kriegsgeschehens der Jahre 1546/47 machte. Nicht im unmittelbaren, aber doch mittelbaren Zusammenhang mit diesem Geschehen stand Moritz’ früher Tod (Schlacht von Sievershausen, 9.7.1553). Gerade sein Sterben aber zeigt, dass er das negative Image, das ihm sein Verhalten im Schmalkaldischen Krieg eingebracht hatte, allen seinen Erfolgen zum Trotz, nicht mehr abstreifen konnte.12 Ein, nicht der einzige, aber eminent wirkmächtiger kommunikativer Bestandteil dieses Images ist der Vorwurf, Moritz’ Verhalten während des Schmalkaldischen Krieges sei das eines Verräters gewesen. Das Deutungsmuster  : Begegnen in der Beschreibung Moritz’ als Verräter dieselben inhaltlichen Elemente, die es auch erlaubten, eineinhalb Jahrzehnte später mit dem Deutungsmuster des Verrats zu argumentieren, so unterscheidet sich der Topos des Verrats in einem zentralen (und in der Folge ausschließlich erörterten) Punkt von demjenigen in Frankreich – in der, wie gerade die einzige Quelle, die den Verrat bildlich darstellt, augenfällig macht, Parallelisierung des Verhaltens Moritz’ gegenüber dem sächsischen Kurfürsten mit demjenigen, das Judas Ischarioth gegenüber Christus an den Tag legte. Wie dieser in Frankreich nur marginal13, im Reich, primär im Herrschaftsgebiet des Hauses Sachsen, hingegen dominant repräsentierte theologische ›Denkrahmen‹ (Cornel Zwierlein) das Deutungskonzept Verrat in ganz spezifischer Weise prägte, sei vorgestellt. Der in Form einer bereits im Spätmittelalter weit verbreiteten Armenbibel gestaltete Bilderzyklus, der (in seinen überlieferten Teilen) das Geschehen des Schmalkaldischen Kriegs (Juli 1546–26.  April 1537) darstellt, ordnet das aktuelle Geschehen in einen heilsgeschichtlichen Kontext ein (Abb.  1). Sich des tradierten theologischen Deutungsverfahrens der Typologie bedienend, werden die auf die Passionsgeschichte Christi (untere Bildreihe) vorausweisenden Geschichten des Alten Testamentes (obere Bildreihe) visuell und sprachlich dargestellt und – in diesem speziellen Fall – in Bezug gesetzt zu den zeitgeschichtlichen Ereignissen (mittlere Reihe). Texte wie Bilder verklammernder Bezugspunkt ist die Vertrauen und einvernehmliches soziales Miteinander ebenso voraussetzende wie stiftende Tischgemeinschaft  : In der oberen Reihe ist das Mahl, das Jakob seinem Vater Esau 12 Haug-Moritz, Judas. 13 Einziger mir bekannter Beleg bei Mémoires de Claude Haton, 321. (Die Bezahlung Poltrots wird von dem katholischen Kleriker Claude Haton dahingehend gedeutet, dass Poltrot damit angehalten worden sei, das zu tun, was Judas getan habe  ; pour faire comme fit Judas).

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Abbildung 1  : Schmähbilder auf Kurfürst Moritz in Form einer Armenbibel. Die heilsgeschichtlich fundierte Deutung des Verrats von Moritz am sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich wird auf dem dritten Bild v.l. in der mittleren Reihe dargestellt.

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reicht, um ihn zu täuschen und seinen Segen zu erschleichen (1 Mos. 27, 20–25), abgebildet. Unten sieht man das letzte Abendmahl, in dem Jesus seinem Jünger Judas mit dem Bissen, den er ihm reicht, als denjenigen markiert, der ihn verraten hat, und von dem, in dem Moment als ihm der Bissen gereicht wird, der Teufel Besitz ergreift (Joh. 13, 21–27). Und in der mittleren Reihe (drittes Bild v.  l.) erscheint der durch Kleidung wie Physiognomie kenntliche Kurfürst im Kreise seiner Vertrauten, der einem in gelber Judaskleidung bekleideten Kind, Christi gleich, den Bissen reicht. Der Text erläutert  : Die mir mir zu disch geseßen, mit mir getrunken und geßen, / die ich bekleydet, getrenkt, gespeiset / haben mir itzt boses beweyset. / Die ich für Kinder auferzogen, / haben mich itzt boslich betrogen, / und die ich erhalten bey dem seyn, / stehet mir itzund nach dem mein. / Den ich land, leut, gelt, gut geben, / stehen mir itzt nach meim leben. / Mein Gott, deinen verreter hastu wol kand, / meine sein mir aber gewesen unbekand, / Wolan, in deinem namen las ichs walten, / thu mich bey rechtem glauben erhalten.

Bildaufbau, Kolorierung und auch der Text parallelisieren das zeitgeschichtliche und neutestamentarische Geschehen dabei wesentlich eindeutiger als den Jakob-Judas-Bezug. Zentrale Bestandteile dessen, was auch in den zahlreichen anderen handschriftlichen wie gedruckten Texten, die sich insbesondere der Liedform bedienen, begegnet, um die Räte Moritz’, vor allem aber seine Person selbst, des Verrats zu bezichtigen14, findet sich hier ins Bild gesetzt und sprachlich erläutert  : die Undankbarkeit des Kindes gegenüber demjenigen, der ihm Gutes erwiesen hat, und damit eine besonders schimpfliche und alltagsweltlich verankerte Form der Illoyalität sowie die Täuschung des Verratenen, mit dem man gemeinsam das Mahl einnimmt, wiewohl man ihm nach seinem Leben, im Falle Moritz’ darüber hinaus auch noch nach seinem Hab und Gut, trachtet. Mit der schon in der mittelalterlichen Literatur und Ikonographie, aber auch in der Theologie Luthers prominent vertretenen Figur des Judas verbindet sich freilich noch mehr – all diejenigen Eigenschaften, die in der (dominierenden) moritzfeindlichen Publizistik dem Herzog und seinen Ratgebern expressis verbis zugeschrieben werden  : Eigennutz (›Judasgeld‹), Ehrgeiz und Hochmut. Doch die Gleichsetzung Moritz’ mit Judas reicht in ihren kommunikativen Implikationen weit über die Möglichkeit der moralischen Diskreditierung (primär) der Person Moritz hinaus. Judas nämlich ist wie keine andere Figur in (nicht nur protestantischer) Verkündigung, dramatischen Aufführungen und bildlichen Darstellungen in die gesellschaftlichen Wissensbestände als der An14 Vgl. hierzu und zum Folgenden mit Detailnachweisen Haug-Moritz, Judas, 248–251.

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tipode Christi und der Inbegriff des Bösen und Teuflischen eingeschrieben. In ihm personifiziert sich daher, was den Verrat im Verständnis der Zeitgenossen kennzeichnete – das verräterische Handeln als Ursache wie Ausdruck des Umsturzes der göttlichen wie weltlichen Ordnung. Wie ein roter Faden durchzieht die Charakterisierung Moritz’ und seiner Ratgeber als des ›Teufels Kind(er)‹, als dessen ›Schüler‹ und als derjenige bzw. diejenigen, von denen die ›Diener des Teufels‹ unterstützt werden, die gedruckt und (vor allem nach 1547) handschriftlich überlieferte Kommunikation, die sich gegen den Herzog richtet.15 In der Kommunikationssituation des Schmalkaldischen Krieges, den die Schmalkaldener als endzeitlichen Kampf derer, die für Gott gegen den Teufel kämpfen, vorstellen, ermöglichte die Gleichung Moritz (und seine Räte) = Judas zudem, das Geschehen in Sachsen plausibel in die Gesamtdeutung des Konflikts16 zu integrieren und diese zugleich zu bestätigen. Die Konfliktkonstellation und der für den ›Verräter‹ vorteilhafte Konfliktverlauf beraubte den sächsischen Kurfürsten (1547 zum Herzog degradierten) Johann Friedrich und seinen Anhang der Möglichkeit, den ›Verräter‹ für sein Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen. Und genau hieraus erklärt sich, warum Moritz seit Dezember 1547 bis zu seinem Tod immer wieder aufs Neue mit der Person des Judas gleichgesetzt wurde, sodass sein Name und die Bezeichnung als ›Judas aus Meissen‹ noch in der wissenschaftlichen Forschung als austauschbare Bezeichnungen firmieren. Denn wenn der Verräter schon nicht für seine Taten bestraft werden konnte und der erfolgreiche Kriegsverlauf die Deutung der Gegner plausibel machte, dass nicht sie, sondern die Partei des Kurfürsten die (nunmehr wiederhergestellte) gottgewollte Ordnung bedroht hätten, so war das sich mit der Judasfigur verbindende prognostische Deutungspotenzial besonders ›wertvoll‹. Denn ebenso wie der Verrat des Judas für die Feinde Jesu von Erfolg gekrönt war und den Tod Jesu zur Folge hatte, führte auch das verräterische Verhalten Moritz’ zu einem für ihn guten Ende. Doch ein solcher irdischer Erfolg der Feinde des Verratenen war, wie das Geschick des Judas lehrt, nur ein temporärer, die göttliche und menschliche Verdammnis eines solchen Verhaltens aber eine immerwährende. In Thomas Naogeorgs (eigentlich  : Kirchmeyer) 1552 publiziertem Drama ›Judas Iscariotes‹  – und auch in vielen bildlichen Darstellungen des Judas17 – ist es genau dieser Aspekt der Judasgeschichte, der besonders nachdrücklich hervorgehoben wird. Weder Ausflüchte noch die Be15 Vgl. als ein besonders aussagekräftiges Beispiel Die historischen Volkslieder, 464–467 (Nr. 572). 16 Vgl. hierzu Haug-Moritz, Konstruktion, 345–374. 17 [Art.], Judas Ischariot, Sp. 444–448  ; vgl. auch z. B. die untere Zone im Tympanon über dem Westportal des Freiburger Münsters (um 1300), http://www.freiburgermuenster.info/html/content/innen portal_tympanon.html?&#tympanon (5.4.2018).

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schuldigung Dritter noch die späte Reue vermögen zu bewirken, dass Judas ein von Gott und allen Christus liebenden Menschen auf ewig Verstoßener ist.18 Der schändliche Tod des Verstoßenen und Verzweifelten, sein Selbstmord, zu dem ihm sein teuflischer Verführer den Strick reicht, ist die folgerichtige Konsequenz. Und auch diese Auslegung fügt sich nahtlos in die Gesamtdeutung der Niederlage19 des Kurfürsten und seiner Bundesgenossen ein, die niemals Nieder­lage genannt, sondern als eine Prüfung des kleinen Häufleins der ›wahren‹ Christen vorgestellt wurde, das seit 1548 nicht nur von den Altgläubigen, sondern auch von den albertinischen Abweichlern vom ›wahren Wort Gottes‹ (Leizpziger Interim) angefochten wurde. Über kurz oder lang aber musste sich, wie sich ebenfalls aus der biblischen Geschichte beweisen ließ (Daniel in der Löwengrube  ; Dan.  6) und bezogen auf den ehemaligen sächsischen Kurfürsten auch bewiesen wurde, das Blatt wenden und den wahren Christen göttlicher Lohn, den Verrätern aber die göttliche Strafe winken. Und so erstaunt es nicht, dass 1553 eine Leipziger Wirtin aus Anlass des Todes Moritz’ verlauten ließ, den Kurfürsten habe der Teufel geholt, und dem albertinischen Fürstenhaus nahestehende Theologen und Drucker eine umfängliche Kommunikationsoffensive starteten, um den Beweis zu erbringen, dass das Gegenteil dessen, was die Leipziger Wirtin behauptete, zutraf.

Der Verratene – François de Lorraine, duc de Guise20 Das Geschehen  : Als am Abend des 18. Februar 1563 Trompetenstöße das Heranrücken François de Guise’ verkündeten, der sich auf dem Weg von ­seinem Feldlager vor Orléans zu einem Treffen mit seiner Gattin Anna d’Este und seinem ältesten Sohn, Henri (1549–1588), nach Les Valins befand, nahm das Geschehen seinen Lauf. Mit der sich abzeichnenden Einnahme von Orléans, das seit nahezu einem Jahr (April 1562) von seinen mächtigsten hugenottischen Feinden aus den Häusern Bourbon-Vendôme (Louis de Bourbon, prince de Condé, 1530–1569) und Montmorency-Châtillon (Gaspard de Châtillon, admi­ ral de Coligny, 1519–1572) besetzt gehalten wurde, stand die endgültige Krönung seines sich seit Herbst 1562 abzeichnenden militärischen Triumphs als oberster Befehlshaber der königlichen Truppen (Einnahme Rouens, 26.10.1562  ; Schlacht bei Dreux, 19.12.1562) unmittelbar bevor. Der berittene François, der, 18 Roloff, Judas, 368 f. 19 Haug-Moritz, Konstruktion, 345–374. 20 Zur Familie Guise zuletzt Carroll, Martyrs, 61–86.

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um sich zu erfrischen, seinen den ganzen Tag getragenen Harnisch abgelegt hatte, begegnete einem bewaffneten Mann, der ihn grüßte und der von ihm gegrüßt wurde, als plötzlich drei Schüsse abgefeuert wurden, die den von kleinem Gefolge umgebenen Herzog an der Schulter trafen und ihn sofort zum Ausruf veranlassten  : Je suis mort. Im allgemeinen Tumult vermochte der Attentäter zu fliehen. Guise, schwer verletzt, aber einen des Weges kommenden Reiter beauftragend, umgehend seinen Bruder, Louis, Cardinal de Guise (1527–1578) in Paris über das Geschehene zu unterrichten, wurde blutüberströmt nach Les Valins gebracht, wo er am Morgen des 24. Februar seinen Verletzungen erlag. Mit seinem Tod war der Positionsgewinn, der das Haus Guise (vor allem) in den vergangenen fünfzehn Jahren zu einer der mächtigsten Familien des französischen Hochadels hatte werden lassen, gefährdet wie niemals zuvor. Vier Tage zuvor, am Morgen des 20. Februar, war sein Attentäter, Jean Poltrot, der sich selbst als Seigneur de Merey bezeichnete, verhaftet worden und, wie vom Verhafteten gewünscht, der Vormünderin Katharina überstellt worden, die sich, auf der Reise von Blois nach Orléans zu Friedensverhandlungen, ganz in der Nähe der Guise’schen Unterkunft aufhielt. Am 22.  Februar wurde Poltrot von der Königin in Anwesenheit ihres Rates und etlicher Mitglieder des königlichen St.  Michael-Ordens verhört. Das Geständnis wurde, so wird in dessen gedruckter Fassung behauptet, in einer durch die Unterschrift Poltrots beglaubigten Form verschriftlicht.21 Eine coppie, ob handschriftlich oder gedruckt, lässt sich nicht entscheiden, wurde am 10.  März an die vor Caen lagernden Truppen Colignys verteilt, der von Poltrot neben François de LaRochefoucauld (1521–1572, (Stief-)Neffe Colignys und Schwager Condés) und Theodor de Bèze, (1519–1605) beschuldigt wurde, ihn zu seiner Tat angestiftet zu haben. Ihr aller ›Antwort‹ (Response à l’Interrogatoire) ist datiert auf den 12. März. Sie erreichte allein im Jahr 1563 neun französische, eine deutsch- und englischsprachige sowie eine lateinische Auflage22 – und war damit nach der ersten Rechtfertigungsschrift Condés – die auflagenstärkste hugenottische Schrift des ersten Religionskrieges. Wörtlich das Poltrot’sche Geständnis zitierend, wurde seine Aussage Punkt für Punkt ›beantwortet‹ und widerlegt. 21 Druck  : Anon., Response a l’interrogatoire  ; obwohl das Verhör Jean Poltrots als ›Nouuellement Imprimé // à Paris. // Auec priuilege‹ ausgewiesen wird, lässt sich nur eine Ausgabe dieser Schrift nachweisen. Originalakten der Befragung und des Geständnisses existieren nicht (Histoire générale, 202/1). In deutscher Übersetzung  : Anon., Warhafftiger vnnd grundtlicher Bericht  ; zum Tat­her­ gang am detailliertesten de Vaissière, Jean Poltrot, 486–496, Zitat  : 490  ; vgl. auch Sutherland, Fran­ çois Duc de Guise, 283–285  ; Coester, Venus, 173–177. 22 Anon., Response a l’interrogatoire  ; weitere Ausgaben erschienen in  : Orléans (4), Caen (1), Lyon (3)  ; Anon., Warhafftige, bestendige, vnwidersprechliche verantvortung  ; Anon., An answere to the examination.

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Gegen den ausdrücklichen Wunsch Colignys, der die Königin um eine Gegenüberstellung mit dem Attentäter ersuchte, wurde Poltrot pour reparation de l’homicide23 am 18. März 1563, einen Tag vor dem Pariser Leichenzug für den ermordeten Guise‹, auf Initiative des Parlament de Paris, nicht aber der Vormün­ derin24, mit glühenden Zangen gefoltert und bei lebendigem Leib auf der Place de Grève im Beisein einer großen Pariser Volksmenge viergeteilt, sein vom Leib abgetrennter Kopf als Trophäe auf dem Rathausplatz ausgestellt und sein toter Körper verbrannt. Nachdem er mehrfach die bei seinem ersten Verhör gemachten Vorwürfe bestätigt (27.2., 7.3.1563) und widerrufen (15.3., 18.3.1563) hatte, bekräftigte er in seinen letzten Worten an die Pariser Volksmenge während seiner Hinrichtung, die unmittelbar nach seiner Gefangennahme gemachte Aussage, dass Coligny und Bèze ihn zu seinem Tun angestiftet hätten.25 Nachdem, noch bevor das Geständnis Poltrots im Umlauf gewesen sein kann, Gerüchte (rumour) kursierten, dass Poltrot ein gedungener Mörder und ein servant of Châtillon sei26, unterbreitete der Attentäter in seinem Geständnis die bis in den Sommer 1562 (Juni/Juli) zurückreichende Vorgeschichte seiner Tat. Raum, Zeit und handelnde Personen stets präzise benennend und damit in einer, die Glaubwürdigkeit des Gesagten unterstreichenden Form des Erzählens, werden die zentralen Wendepunkte der Vorgeschichte des 18.  Februar ausgeführt. Im Einzelnen  : 1. Erstes Vieraugengespräch mit Coligny in Orléans, wo er sich im Gefolge Jean de Parthenay-L’Archesvesque, baron de Soubise‹ (1512–1566), dem Anführer der Hugenotten in Lyon, im Lager Condés aufgehalten habe (Sommer 1562)  : Nachdem Coligny alle Anwesenden zum Gehen aufgefordert habe, habe dieser ihn angehalten, sich ins Guise’sche Lager zu begeben, pour tuer le dit sieur de Guyse qui persecutoit les fideles, il feroit un oeuvre meritoire e(n)vers Dieu & envers les hommes. Poltrot aber zweifelt an seiner Fähigkeit zu einer solchen Tat (qu’il n’eust entreprendre si grande charge) und wird daraufhin von Coligny mit der Bitte (le pria) de tenir ce propos secret entlassen. 2. Zwei Wochen nach der Schlacht bei Dreux (19.12.1562), als nach dem Tod respektive der Gefangennahme nahezu aller Truppenführer auf hugenottischer wie altgläubiger Seite nur noch Coligny, LaRochefoucauld und Guise als handlungsfähige Akteure übrig geblieben waren, erteilt Soubise Poltrot den Auftrag, 23 Histoire générale, 202 (18.3.1563). 24 Erst am 17.  März 1563 hatte sich das Parlement de Paris mit dem Ersuchen der Hinrichtung Poltrots an Katharina, die sich immer noch zu Friedensverhandlungen in St. Mesmin in der Nähe von Orléans aufhielt, gewandt (Lettres de Catherine de Medici, 529–531). 25 Zur grausamen Hinrichtung Vaissiere, Poltrot, 636–639. 26 Despatches of Michele Suriano, 79 f. (Bericht an den Dogen, 23.2.1563).

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sich nach Orléans zu begeben, wo sich Coligny inzwischen aufhalte, um zu hören, was dieser ihm zu sagen habe. 3. Zweites Gespräch mit Coligny in Anwesenheit von Bèze und eines anderen, ihm unbekannten Geistlichen. Nunmehr lässt er sich von Coligny überzeugen, dass der Tyrannenmord nicht nur eine iuste querelle ist, sondern ihm auch die ewige Seligkeit einbringen wird. Zur Durchführung seiner Tat erhält er 20 Ecus. 4. Poltrot begibt sich daraufhin in das Lager von Guise, spricht ihn an und bittet, nachdem er zuvor les armes contre le Roy geführt habe, bei ihm dienen zu dürfen, was Guise mit Wohlgefallen aufnimmt. 5. Rückkehr zu Coligny und drittes Gespräch mit ihm, in dem er Coligny mitteilt, dass er den Mut nicht habe, die Tat auszuführen, da Guise sich immer in Begleitung Bewaffneter befinde. Coligny, Bèze und der andere Geistliche erinnern ihn an sein Versprechen und geben ihm 100 Ecus, um ein Pferd zu kaufen, pour se sauuer apres avoir fait le coup. 6. Kauf des Pferdes und endgültige Entscheidung, den Anschlag durchzuführen, nachdem sich abzeichnet, dass Orléans in die Hände Guise’ fällt. 7. Schilderung des Anschlags und der Flucht. 8. Auf Nachfrage der Königin, si autres estoient consentans à la dite entreprise, bekundet er, dass LaRochefoucauld wohl eingeweiht gewesen sei, der luy faisoit bon visage, dass aber weder Condé noch d’Andelot, der Bruder Colignys, noch Soubise den Plan gekannt hätten. 9. Warnung der Königin durch Poltrot, dass Coligny und sein Anhang mauvaise volonté gegen sie hegten, disans qu’elle les a trahis, wie überhaupt mehrere Personen, auch solche des Hofes, im Begriff stünden executer pareilles & semblables entreprises. 10. Mitteilung Poltrots, dass der Marechal de St. André nicht seinen Verwundungen erlegen, sondern ermordet worden sei (19.12.1562). Noch bevor Guise verstarb, findet die Rede vom Verräter Poltrot Eingang in die Deutung der Ermordung Guise’27, um sich im druckgestützten Kommunikationsraum in den folgenden Monaten endgültig zu etablieren. Nicht die Deutung, aber die Grundlagen der Etikettierung von Poltrot als gedungenem Verräter zu falsifizieren, intendierte die ›Antwort‹, wenn sie einer­seits den von ihren Feinden geführten Diskurs als Schmährede (calomnie), Betrug (imposture) und Lüge (mensonge) charakterisierte, sich andererseits aber offen zu dem bekannte, was für den politischen Verrat konstitutiv ist – zur dynastisch wie religiös begründeten Feindschaft gegenüber dem ›Verratenen‹.28 Eine Um27 Ebd., 80 (Bericht an den Dogen, 23.2.1563)  ; vgl. auch La Fosse, Les Mémoires, 54. 28 In seinem, der ›Antwort‹ vorangestellten Brief an Katharina von Medici heißt es  : cependant ne

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deutung Poltrots vom Verräter zum Helden – zum neuen Brutus, Decius, Mutius Scaevola –, hingegen tritt, besonders häufig in Form von Liedern, nur in der handschriftlichen Überlieferung hugenottischer Provenienz entgegen.29 Keine der beiden Deutungen machten sich die englischen Korrespondenten König Elisabeths und auch die Vormünderin Katharina von Medici zu eigen.30 Bis in den Januar 1566, als König Karl IX. Coligny förmlich für unschuldig erklärte31, dauerte die Deutungskontroverse offen fort und grundierte, bis zur Ermordung Gaspard de Colignys in der Bartholomäusnacht des Jahres 1572, die französische Politik.32 Sie war integraler Bestandteil der Machtbehauptungsstra­ tegien der Häuser Guise und Montmorency-Châtillon und erweist damit auch in diesem Fall den Topos vom Verräter als das, was er auch im Falle Moritz’ ist und schon im Mittelalter gewesen war – ›un outil stratégique‹.33 Das Deutungsmuster  : Entscheidend dafür, dass sich die Etikettierung des Geschehens um die Ermordung von Guise als die Tat eines gedungenen Verräters als kommunikativ vorherrschendes Deutungsmuster zu etablieren vermochte, wiewohl sich die Poltrot’sche Aussage bis zum heutigen Tag weder eindeutig veri- noch falsifizieren lässt34, ist, dass es die Guise-Faktion verstand, ihre Deutung mit Worten und Taten zu plausibilisieren und in der Medialität der Kommunikation deren Wahrheit zu beglaubigen. Denn, was öffentlich gemacht wird, ist, so der zeitgenössische Begriff des Öffentlichen, nicht nur das, was alle angeht, sondern auch das Wahre.35 Der neue druckgestützte und die altüberkommenen, personalen Räume des Öffentlichen, seien es die des Hofes (Verhör) oder des Pariser Rathausplatzes (Place de Grève  ; Hinrichtung, Abb. 2), stehen in einem engen, wechselseitig aufeinander verweisenden, evidenzsteigernden Zusammenhang. pensez pas que ce que j’en di [Bitte um Gegenüberstellung], soit pour regret que j’aye à la mort de monsieur de Guyse  : car j’estime que ce soit le plus grand bien qui pouvoit advenir à ce royaume et à l’Église de Dieu, et particulièrement à moi et à toute ma maison. 29 Deren wichtigste  : BNF Mss. fr. 22560–22565 (Collection de Rasse de Noeux)  ; auszugsweise gedruckt bei Tarbé, Recueil, hier  : 103–154. 30 Vgl. Letters and State papers, Nr. 354–770 (26.2.–20.5.1563)  ; Lettres de Catherine de Medici, 516 f. (Katharina an Madeleine de Montmorency, Herzogin von Savoyen, 25.2.1563) u. ö. 31 BNF Mss fr. Nr. 3189 (65), fol. 65–67 (Erklärung Charles IX., dass Gaspar de Coligny zu Unrecht wegen des Todes von Guise beschuldigt wird, 29.1.1566)  ; Vaissière, 645. 32 Coester, Anna, 186–205. 33 Leveleux-Teixeira, Conclusion, 389–391. 34 Sutherland, Assassination, 288–295. 35 Vgl. zu dieser Konnotation z. B. in Colignys ›Antwort‹, dass er sich conformer au desir de beaucoup de gens, & pour leur satsisfaction pour les moins les informer au vray  : & mesme[n] les estra[n]gers com[m] ce faict s’estoit passé und dass er durch seine Schrift la verité […] en evidence stelle.

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Abbildung 2  : Die Strafe der Verräter. Jean de Poltrot wird gevierteilt. Stich mit deutschsprachiger Legende von Frans Hogenberg nach Jean Perrisin, 1570.

Bereits seit dem 13. Jahrhundert tritt in Frankreich der Verräter als eine affektiv stark aufgeladene Figur in doppelter Gestalt entgegen.36 Er ist einerseits derjenige, der vom Hass getrieben ist, den anderen aber über seinen Hass täuscht, und andererseits derjenige, der, seinen tödlichen Hass zum Maßstab seines Handelns nehmend, denjenigen, den er hasst tue ou fet tuer, ou bat ou fet b­ atre.37 Dass beide für den Vorwurf der Verräterei schon im mittelalterlichen Europa konstitutiven Elemente – der Verräter als der als Freund maskierte Feind und die aus seinem Hass sich speisende (oftmals gewaltsame) Tat – sich nicht, wie im Falle Moritz’, zwingend auf ein und dieselbe Person(enkreis) beziehen müssen, sondern dass der kommunikative Mehrwert der Bezeichnung eines Geschehens als Verrat gerade darin bestehen kann, auch Dritte zu involvieren, zeigt die verräterische Ermordung Guise’ beispielhaft. So erscheint Poltrot in seinem Geständnis als derjenige, der zwar im Vorfeld seiner Tat gleich mehr36 Billoré, Présentation, 11–34  ; vgl. auch Martin, Traître. 37 Power, »La rage méchante des traîtres prit feu.«, 53–65, Zitat Philippe de Beaumanoir  : 58  ; vgl. auch Leveleux-Teixeira, Conclusion  ; noch in den (wenigen) modernen Definitionsversuchen finden sich beide Komponenten des Verratsbegriffs (Pohlmann, Verrat, 255 f.).

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fach den Verratenen täuscht (Eintreten in den Dienst von Guise  ; Gruß) und dann auch zur Tat schreitet, doch erst das Geld und die guten Worte Colignys, LaRochefoucaulds und Bèzes bewegen den Zaudernden zum Handeln. Letztere aber, allen voran Gaspard de Coligny, sind die eigentlichen Feinde Guise’, die, geleitet von ihrem Hass gegen den katholischen Glauben und die Vormünderin, hinterhältig (Verpflichtung zur Geheimhaltung), mit großer Zielstrebigkeit und langem Atem (drei Gespräche  ; Bezahlung Poltrots) erst eigentlich der Tat den Boden bereiten. Die Janusgesichtigkeit dessen, was als verräterisches Handeln etikettiert werden kann, macht damit den Kreis derjenigen, der dieses Vorwurfs bezichtigt werden kann, unspezifisch und bezichtigt ihn zugleich einer affektiven Verfasstheit, die diejenigen Haltungen, auf denen die gesellschaftliche Ordnung ruht, Liebe und Freundschaft38, in ihr Gegenteil verkehren. Verrat ist demnach seit dem Mittelalter eine »Chiffre [de] ce qui bouleverse l’ordre établi«39 – die weltliche wie die göttliche gleichermaßen. Wenn aber verräterisches Verhalten die gesamte Ordnung (auch im Wortsinn) ›verkehrt‹ – ein Sinngehalt des Deutungsmusters Verrat, das im Reich in der Figur des Judas personifiziert begegnete – dann müssen nicht nur diejenigen, die von der verräterischen Tat unmittelbar betroffen sind, danach trachten, die rechte Ordnung wiederherzustellen (reparation), sondern die Bestrafung des Verräters wird zu einer die Gesellschaft insgesamt betreffenden Aufgabe, bei der diejenigen, die die Bestrafung vollziehen, ihrer ordnungsstiftenden Funktion gerecht werden und diese zugleich bekräftigen. Ist verräterisches Verhalten kein auf spezifische soziale Gruppen eingegrenztes und zudem kein per se sanktionierbares Verhalten, wie gerade das Beispiel des ›Judas von Meissen‹ gezeigt hat, so ist der schon mittelalterlich vom ›kleinen Verrat‹ (petite trahison) geschiedene Verrat am Königtum, d. h. an der Person des Königs, aber auch an den königlichen Amtsträgern, Hochverrat und ein Majestätsverbrechen.40 Und gerade bei der Bestrafung von Majestätsverbrechen begegnet, was ansonsten in der breiten Palette der rechtlich nur in geringem Maß normierten Strafen für Verräter (Erniedrigungsrituale, Konfiskationen, Inhaftierung, Bannung) nur selten begegnet – die grausame Hinrichtung des Verräters und die vollständige rituelle Auslöschung der von ihm ausgehenden Bedrohung der göttlichen wie weltlichen Ordnung im ›reinigenden‹ Feuer. 38 Vgl. zur zeitgenössischen Affektenlehre Till, Text, 286–304  ; und zu den Hass und Feindschaft dort diametralen Werten der Liebe und Freundschaft als Topoi sozialer Kohäsion Eickels, Bruder, 195– 222. 39 Billoré, Présentation, 18–20, Zitat  : 18. 40 Zur kategorialen Scheidung verschiedener Verratsformen vgl. ebd.,17 f.

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Damit aber gewinnt die Exekution Poltrots einen weit über die Bestrafung des Verräters hinausreichenden Sinn. Sie kommuniziert den Verrat an Guise nicht als den Verrat an einem verdienten königlichen Truppenführer durch eine verfeindete Adelsfaktion, sondern als ein Verbrechen am französischen Königreich als Corpus politicum. Bei einem solchen politischen Verrat freilich konnte die Hinrichtung des Täters nur ein erster Schritt sein. Viel wichtiger, und von der Witwe Guise’ in den folgenden Jahren mit großem Nachdruck (wenn auch vergeblich) betrieben, aber war die Bestrafung der eigentlichen Verräter aus dem hugenottischen Hochadel. Dass das Geschehen der Bartholomäusnacht Zeitgenossen und lange Zeit auch Teilen der historischen Forschung als Racheakt der Witwe Françoises erschien, ist in dieser Perspektive nur folgerichtig.

Fazit Bilanziert man am Ende, so erscheint die Rede vom Verräter und Verratenen, trotz aller den divergierenden Konflikt- und Kommunikationskonstellationen geschuldeten Unterschiede, in der Mitte des 16. Jahrhunderts als ein in Europa in hohem Maß konsistentes Deutungskonzept und als ein integraler Bestandteil der europäischen ›politischen Sprache‹. Eine offene Forschungsfrage ist derzeit, inwieweit die Neukonfiguration des Medienensembles und die daraus erwachsenden  – und in diesem Beitrag für Frankreich en détail nachweisbaren – Länder und Sprachräume übergreifenden Kommunikationsprozesse, die tradierten, ins Spätmittelalter zurückweisenden Konzeptualisierungen dessen, was verräte­ri­sches Handeln ausmacht, veränderten und überdies dazu beitrugen, neben den älteren Handlungsbegriff (Verräter/Traître, verräterisch/proditoirement han­deln) im 16. Jahrhundert den neuen Begriff des ›Verrats/trahison‹ treten zu lassen, was sich sowohl für den deutschen als französischen Sprachraum ­belegen lässt. Wie schon für England gezeigt41, tritt auch im Reich und in Frankreich der Begriff in einem doppelten Bedeutungsgehalt entgegen. Er beschreibt einerseits eine affektiv stark aufgeladene und negativ konnotierte Haltung des Verräters gegenüber dem Verratenen und das daraus resultierende Verhalten (subjektive Dimension), andererseits das aus dieser Einstellung abgeleitete Handeln, das auf die physische und/oder soziale Auslöschung desjenigen zielt, dem man Feind ist und den man verrät (objektive Dimension). Beide Dimensionen können, wie im Falle Moritz’, müssen aber nicht, wie am Beispiel Guise’ gezeigt, in eins fallen. Wird Verrat von denjenigen begangen, denen, wie in den Beispielfällen, im Ge41 Krischer, Verräter, 105 f.

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meinwesen eine herausgehobene Verantwortung für die Aufrechterhaltung der ›rechten‹ Ordnung im Corpus politicum zukommt, so gewinnt der Vorwurf ein besonderes Gewicht und wird zum ›großen‹, zum politischen Verrat. Politisch ist ein solcher Verrat  – und hieraus erwächst ihm seine eminente Wirkmächtigkeit als strategisch eingesetztes Deutungskonzept in Konfliktsituationen  –, weil er von der Verkehrung der weltlichen und göttlichen Ordnung schlechthin kündet und damit nicht nur Verräter und Verratenen betrifft, sondern eine kollektive Bedrohung darstellt und den Verräter zugleich aus diesem Kollektiv ausgrenzt. Diese Ausgrenzung kann, so im französischen Beispiel, in einem rechtlich fundierten Reinigungsritual bestehen, das als Ritual per se über die rein funktionale Ebene des Bestrafens hinausweist und, im konkreten Fall, den politischen Verrat als Hochverrat kommuniziert. Sie kann aber auch, wie im Reich, wo die Bestrafung des Verräters nicht möglich war, in seiner, heilsgeschichtlich verankerten, moralischen Diskreditierung bestehen. Entscheidend ist aber nicht die Form der Ausgrenzung, sondern dass der Verräter aus der Gemeinschaft eliminiert werden muss, soll die, die menschliche Existenz im Zeitlichen wie Ewigen gewährleistende Ordnung wiederhergestellt werden. Und so erfüllt derjenige, der den Verräter als Verräter benennt und diese, auch durch die Medialität der Kommunikation beglaubigte ›Wahrheit‹ allen kundtut und durch die neuen Druckmedien auch allen kundtun kann, eine entscheidende Aufgabe  : Er bewahrt die Gemeinschaft vor Schaden und erlaubt es ihr, indem sie sich der Zerstörung der Ordnung widersetzt, sich über deren fortdauernde Geltung zu vergewissern. Dass man die Behauptung ein ›Verräter‹ zu sein zwar, was Moritz wie Coligny taten, bestreiten konnte, dass man aber, stand der Vorwurf einmal im Raum, dieser ›Logik‹ nicht entkommen konnte, zeigt das Leben beider Protagonisten, deren gesamter weiterer Lebensweg von diesem Vorwurf grundiert wurde. Und insofern ist die Konjunktur, die das Verraten und Verraten-Werden gerade im 16. und 17. Jahrhundert hatte, eines der Momente, das von der für die europäische Geschichte charakteristischen gesteigerten gesellschaftlichen Konflikthaftigkeit bedingt war und diese zugleich bedingte.

Quellen Bibliothèque Nationale de France (BNF), Mss fr. Nr. 3189 (65), fol. 65-67. Bibliothèque Nationale de France (BNF), Mss. fr. 22560-22565. Anon., Abgetrueckte Copey Hertzog Johans Fridrichen Churfürsten zu Sachssen und Burggraffen zu Magdeburg Vorwarung yegen Hertzog Moritzen seins Vettern Landschafften/ zu seiner Churf[ue] rstlichen Gnaden vnuormeidlichen vnd genodtrengten Defension. Datum den XXII. Decembris. Anno.etc. XLVI., Magdeburg 1546 (urn:nbn:de:bvb:12-bsb00028426-8). Anon., An answere to the examination that is sayde to haue bene made of one named Iohn de Poltrot,

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calling himself the Lord of Merey, vpon the death of the late Duke of Guyse by the Lord of Chastillon admyrall of Fraunce, and others named in the saide examination. At Caen. 1562, London 1563. Anon., Response a l’interrogatoire qu’on dit auoir esté fait à un nommé Jean de Poltrot soy disant seigueur de Merey, sur la mort du feu Duc de Guyse par Monsieur de Chastillon, Admiral de France, y autres nommez au dit interrogatoir, o. O. 1563. Anon., Responsio Illvstris viri D. Castilionæi Amiralii Franciæ, aliorúmque, quorum nomina in eo Indicio ædita iactantur, Ad falsum Indicium quod professus esse dicitur quida[m] Ioannes Poltrotius Dom. Meræi, quum de morte Ducis Guisiani quæstio haberetur. Eisdem D. Amiralii prolixior narratio & explicatio facti consiliique sui in quibusdam capitibus, ex quibus nonnullos perperam ipsum criminari, & falsas co[n]iecturas ducere audierat. Omnia ex Gallico bona fide in Latinum versa, [Genf] 1563. Anon., Vnnser von Gotts genaden Moritzes Hertzogen zu Sachssen […] Erklerunge wie wir der Christlichen Religion geneigt Vnnd welcher vrsach halben wir Vns wider die Kayserliche Maiestat nicht eingelassen noch vmbgehn haben k[oe]nnen Vns vmb Vnsers Vettern Landen anzunehmen, Leipzig 1546 (urn:nbn:de:bvb:12-bsb00031530-6). Anon., Warhafftige, bestendige, vnwidersprechliche verantvortung vnnd widerlegung deß Hochgebornen Herrn Caspars von Coligny […] Admiral in Franckreich, vnd S.G. mitverwandten aller Puncten vfi Artickeln, welche Johan von Poltrot […] so den Hertzogen von Guyß den 18. Februarij dises […] 1563. jars vor Orliens erschossen, zum theil selbs sol bekennt haben, vnd zum theil jm fürgehalten worden. [Zürich] 1563 (urn:nbn:de:bvb:12-bsb00026385-8). Anon., Warhafftiger vnnd grundtlicher Bericht der Bekandtnuß Jhan von Paultret, was jn bewögt hat den Hertzog von Guise zuerschiessen, mit desselben Thäters angehengkter straff, o. O., 1563 (urn  :nbn  :bvb  :12-bsb00026384-3). Bucholtz, Christoph Joachim, Geschichte der Regierung Ferdinands I., Urkunden-Band, Wien 1838. Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, Bd. 4, hrsg. v. Rochus von Liliencron, Leipzig 1869. Despatches of Michele Suriano and Marc Antonio Barbaro, venetian ambassadors at the court of France, 1560-1563, hrsg. v. Henry Layard, Lymington 1891. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Der Reichstag zu Regensburg 1546 (Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe, 17), bearb. v. Rosemarie Aulinger, München 2005. Histoire générale de Paris. Registres des délibérations du Bureau de la ville de Paris, Bd. 5, 1558-1567, 202/1, hrsg. v. Alexandre Tuetey, Paris 1892. Lettres de Catherine de Medici, Bd. 1, 1533–1563, hrsg. v. Hector de La Ferrière, Paris 1880. La Fosse, Jehan de, Les Mémoires d’un curé de Paris (1557–1590) au temps des guerres de religion, hrsg. v. Marc Venard (Travaux d’humanisme et renaissance, 393), Genève 2004. Letters and State Papers, Foreign Series, Elizabeth  I, vol.  6, 1563, http://www.british-history.ac.uk/ report.aspx?compid=72053 (11.4.2018). Martin Luther. Dokumente seines Lebens und Wirkens. Martin-Luther-Ehrung der DDR, hrsg. v. Reiner Gross/Manfred Kobuch/Ernst Müller, Weimar 1983. Mémoires de Claude Haton contenant les récit des événements accomplis de 1553 à 1582, hrsg. v. Félix Bourquelot, Paris 1857. Politische Korrespondenz des Herzogs und Kurfürsten Moritz von Sachsen – bis zum Ende des Jahres 1546, Bd. 2, hrsg. v. Erich Brandenburg, Berlin 1983.

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Gabriele Haug-Moritz

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1  : Schmähbilder auf Kurfürst Moritz in Form einer Armenbibel, Sächsisches Staatsarchiv, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09158/10. Abbildung 2  : Jean de Poltrot wird gevierteilt. Stich mit deutschsprachiger Legende von Frans Hogenberg nach Jean Perrisin, 1563, Rijksmuseum Amsterdam, RP-P-OB-78.784-34.

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Meutmacher, rebellen undt Landsverräther Warum die hessischen Ritter 1623 als Verräter galten und schon 1625 niemand mehr darüber sprach*

Im November 1962 war sich Bundeskanzler Konrad Adenauer im Bundestag sehr sicher  : »Nun, meine Damen und Herren, wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande«1. Gemeint war das Wochenmagazin Der Spiegel, das aufgrund des Verratsvorwurfs zu diesem Zeitpunkt auch tatsächlich ernsthaft in Gefahr war  : Die Redaktionsräume waren besetzt, viele Mitarbeiter, und nicht zuletzt der Herausgeber Rudolf Augstein, saßen in Untersuchungshaft. Aber Adenauers Deutung hatte keinen Bestand. Nachdem noch im selben Jahr die Redaktionsräume wieder freigegeben und die meisten Mitarbeiter aus der Haft entlassen worden waren, lehnte es der Bundesgerichtshof im Mai 1965 endgültig ab, wegen des Vorwurfs des »fortgesetzten gemeinschaftlichen Landesverrats«2 überhaupt eine Hauptverhandlung zu eröffnen. Nach diesen nicht einmal drei Jahren geißelte niemand mehr Augstein und den Spiegel als Verräter  ; ganz im Gegenteil  : Sie wurden zu Heroen des investigativen Journalismus stilisiert. Zwar ist die historische Bedeutsamkeit der bald so genannten ›Spiegel-Affäre‹ jüngst relativiert worden, aber gleichwohl brannte sie sich ins kollektive Gedächtnis ein und hat heute in den Geschichts- wie den Schulbüchern einen festen Platz.3 Und obwohl dieser ›Erinnerungsort‹ der deutschen Geschichte zumeist mit der Stärkung der Pressefreiheit und der Herausbildung eines kritischen Journalismus assoziiert wird4, so ist doch auch der »Abgrund an Lan* Eine anders perspektivierte Fassung des vorliegenden Artikels erschien unter dem Titel »Verrat  ! Zur performativen Wirkung antagonistischer Begriffe an einem frühneuzeitlichen Beispiel« in  : Saeculum 67,1 (2017), 103–122. 1 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Bd. 51, 1984  ; für einen kurzen Abriss der Ereignisse vgl. etwa Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 381–386  ; vgl. jetzt die Dokumentensammlung Spörl (Hrsg.), 50 Jahre Spiegel-Affäre und die historischen Bewertungen in Doerry/Janssen (Hrsg.), Die Spiegel-Affäre. 2 BGH, Beschluss vom 13.5.1965 – 6 StE 4/64. 3 Vgl. Thiel, Thomas, Abbau am Mythos, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 224, 25.9. 2012, 33. 4 Zum Konzept des Erinnerungsortes vgl. klassisch François/Schulze, Einleitung  ; für ein Beispiel vgl. etwa die Behandlung der Spiegel-Affäre in Wolfrum, Bundesrepublik Deutschland  ; zur Stärkung

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desverrat« geradezu sprichwörtlich geworden, was darauf hinweist, dass die Affäre ein Lehrstück in Sachen Verrat darstellt. Erstens macht sie deutlich, dass der Begriff ›Verrat‹ nicht so sehr konkrete Handlungsweisen beschreibt, sondern eher ein Deutungsmuster bezeichnet, das auf bestimmte Handlungen angewendet werden kann  – Verrat ist ein Zuschreibungsphänomen.5 Strittig war ja nicht, ob das Magazin den Artikel Bedingt abwehrbereit veröffentlicht hatte, sondern ob diese Handlung als Landesverrat zu gelten habe. Zweitens lässt sich an der Affäre klar erkennen, was den Bedeutungskern des Begriffs ausmacht – »Verrat ist verratene Treue«6, also der Bruch einer Loyalitätsbeziehung. Als es nämlich vor dem Bundesverfassungsgericht um die Rechtmäßigkeit der unter dem Verdacht des Landesverrats vorgenommenen Durchsuchungen der Redaktionsräume ging, da betonte die Bundesregierung explizit die »Treuepflicht der Presse«7, und in einem juristischen Lehrbuch der Zeit hieß es  : »Der Begriff des Landesverrats ist nicht denkbar ohne eine ihm vorgegebene Treupflicht.«8 Es ging also wieder nicht um die Handlung selbst, die Veröffentlichung von angeblichen Staatsgeheimnissen in dem besagten Artikel, sondern viel fundamentaler um den damit mutmaßlich verbundenen »Treuebruch gegen die Bundesrepublik«9, wie der Bundesgerichtshof 1967 in einem ähnlichen Kontext formulierte. Kurz  : Wer von Verrat spricht, der deutet Handlungen als Treuebruch. Wenn Verrat aber gar keine eindeutig feststellbare Tatsache, sondern vielmehr eine perspektivische Deutung von Tatsachen ist, dann wird aus der letztlich einfachen, mit Ja oder Nein zu beantwortenden Frage, ob es sich in einem bestimmten Fall ›wirklich‹ um Verrat gehandelt habe oder nicht, die komplexe Frage danach, in welchen Situationen das Deutungsmuster von welchen Akteuren mit welchen Absichten eingesetzt wird, welche Folgen die Rede vom Verrat hat und unter welchen Umständen die damit verbundenen Zuschreibungen behauptet werden können. Der Verrat, darauf hat die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn zu Recht hingewiesen, wird damit zu einem Phänomen, das »Jorge Luis Borges in Anlehnung an die Musik ein ›Thema‹ nannte  : stabil in seiner Grundstruktur, aber unendlich variierbar in seinen Versionen«10. der Pressefreiheit vgl. das sogenannte ›Spiegel-Urteil‹ des Bundesverfassungsgerichts  : BVerfG, Teilurteil vom 5.8.1966 – 1 BvR 586/62, 610/63, 512/64.   5 Zur Konzeptualisierung des Phänomens ›Verrat‹ vgl. vor allem Schlink, Der Verrat  ; dann auch Pohlmann, Der politische Verrat  ; Giraud, De la trahison  ; Javeau, Anatomie de la trahison  ; Ben-Yehuda, Betrayal and treason  ; Åkerström, Betrayal and betrayers.  6 Marcel, Metaphysisches Tagebuch 1915–1943, 187.   7 BVerfG, Teilurteil vom 5.8.1966 – 1 BvR 586/62, 610/63, 512/64.  8 Arndt, Landesverrat, 26.   9 BGH, Urteil vom 13.03.1967 – III ZR 28/64. 10 Horn, Der geheime Krieg, 32  ; vgl. auch Stieglitz, Undercover, 29 ff., der sich auf Horn bezieht.

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In einer solchen Situation liegt es nahe, die Perspektive auszuweiten und das Phänomen im historischen Längsschnitt zu untersuchen.11 Möglich ist ein solches Unterfangen, da der Verrat aufgrund seiner stabilen ­Grundstruktur in allen historischen Epochen verhältnismäßig leicht als ›Thema‹ identifiziert werden kann. Aussichtsreich ist es darüber hinaus, weil auf diese Weise die unterschiedlichsten ›Versionen‹ der Verratssemantik deutlich werden, deren Gegenüberstellung und Vergleich dann zu einer genaueren Konturierung des Phänomens führen können. Hier setzt die im Untertitel dieses Bandes erwähnte ›Geschichte eines Deutungsmusters‹ an. Sie ist, mit Michel Foucault und gegen das Alltagsverständnis gesprochen, gerade keine »Ausgrabung der Knochen der Vergangenheit«12, versucht also nicht, in verschiedenen historischen Situationen immer wieder dieselbe ›knöcherne‹ Grundstruktur des Verrats  – den zugeschriebenen Treubruch – wiederzufinden.13 Stattdessen zielt sie – »im Sinne eines Wortspiels« – auf das ebenfalls vom griechischen archē abstammende »Archiv« einer Zeit und damit auf die »Analyse der historischen Bedingungen, die zu erklären vermögen, was gesagt oder was verworfen […] wird«14. Diese Form der historischen ›Archäologie‹ ermöglicht es zunächst einmal, dem Phänomen als Erkenntnisgegenstand gerecht zu werden, weil sie die Historizität des ›Verrats‹ zugänglich macht und er damit als epochenspezifisch bedingtes und konfiguriertes Deutungsmuster erfasst werden kann. Darüber hinaus aber lässt sich das so ermittelte Set von historischen ›Verratsvarianten‹ auch als Erkenntnismittel nutzen, denn aufgrund des stabilen Bedeutungskerns sagt die Art und Weise, wie der Verrat zu einer bestimmten Zeit konzipiert und damit im Vergleich zu anderen Zeiten eben auch variiert wurde, etwas über das Profil dieser Zeit selbst aus.15 11 Für die historische Erforschung des Phänomens vgl. den Klassiker Boveri, Der Verrat im 20. Jahrhundert. Darüber hinaus steht der Verrat etwa seit der Jahrtausendwende verstärkt im Fokus der Aufmerksamkeit der Forschung  ; vgl. etwa Telp, Ausmerzung und Verrat  ; Barrell, Imagining the king’s death  ; Steffen, Defining a British state  ; Cunningham, Imaginary betrayals  ; Orr, Treason and the state  ; Bavendamm, Spionage und Verrat  ; Fuller, The foe within  ; Lemon, Treason by words  ; Smith, Treason in Tudor England  ; Horn, Der geheime Krieg  ; Boulouque/Girard (Hrsg.), Traîtres et trahisons  ; Pollet/ Sys (Hrsg.), Figures du traître  ; Schehr, Traîtres et trahisons  ; Thiranagama/Kelly (Hrsg.), Traitors  ; Engelhardt (Hrsg.), Verrat  ; Seidenglanz, Wer hat uns verraten  ?  ; Flores, Traditori  ; Brittnacher (Hrsg.), Verräter. Vgl. zudem schon früh Matt, Liebesverrat, und einige Texte an der Schnittstelle von Literatur und Wissenschaft (Jaeggi, Versuch über den Verrat  ; Enzensberger, Zur Theorie des Verrats). 12 Foucault, Die Geburt einer Welt, 1000. 13 Vgl. für einen solchen Ansatz aber Wharam, Treason  ; Valode, Les grands traîtres de l’Histoire  ; Crofton, Traitors & turncoats  ; Valode, Les plus grands salopards de l’histoire. 14 Foucault, Die Geburt einer Welt, 1000  ; zu Foucaults Konzept der ›Archäologie‹ vgl. Bublitz, Archäologie und Genealogie. 15 Zu diesem Übergang von Erkenntnisgegenstand zu Erkenntnismittel vgl. Bachmann-Medick, Cultural turns, 25–27.

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Das Interessante und Erklärenswerte an der ›Spiegel-Affäre‹ ist dabei vor allem die offenkundige Diskrepanz zwischen der Schwere des Vorwurfs und seiner Kurzlebigkeit  : 1962 mit massiven Konsequenzen für die Betroffenen erhoben, fand das Deutungsmuster ›Landesverrat‹ keine drei Jahre später überhaupt keine Anwendung mehr. Ein auf den ersten Blick ganz ähnlicher Fall ereignete sich nun im frühen 17. Jahrhundert in der Landgrafschaft Hessen. Bevor diese Ähnlichkeit jedoch genauer bestimmte werden kann, muss die Spezifizität der frühneuzeitlichen Geschehnisse ›archäologisch‹ bestimmt werden  : Dazu wird nach einer kurzen Einführung in den Kontext zunächst geschildert, wie es überhaupt zu einem Verratsvorwurf kommen konnte und welche politischen Konsequenzen der Einsatz dieses Deutungsmusters nach sich zog. Danach wird aufgezeigt, worin in diesem Kontext die spezifische Variation bestand, um abschließend zu fragen, welches zeitdiagnostische Potenzial dieser Fall aufweist, sowohl für das frühneuzeitliche Hessen als auch für die Gegenwart.

Kontext  : Hessen zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges Zunächst gilt es, sich einen Überblick über die historischen Rahmenbedingungen zu verschaffen. Ort des Geschehens ist die Landgrafschaft Hessen-Kassel, ein Territorium des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation.16 Die Zeitgenossen sprachen von den Hessischen Lande[n] Casselischen Antheiles17, was genauer zum Ausdruck bringt, was sich hinter dem Begriff ›Hessen-Kassel‹ verbirgt  : Im 16. Jahrhundert hatte Landgraf Philipp ›der Großmütige‹ die Landgrafschaft Hessen regiert, diese jedoch in seinem Testament unter seinen vier Söhnen aus erster Ehe aufgeteilt.18 Nach Philipps Tod im Jahre 1567 gab es dann zwar weiterhin lehnsrechtlich nur eine Landgrafschaft und auch einige gesamthessische Institutionen, aber jeder der vier Söhne herrschte fortan über ein eigenes, weitgehend selbstständiges Territorium. Zwei dieser Fürsten blieben jedoch kinderlos, sodass nach deren Ableben 1583 bzw. 1604 die ›hessischen Lande‹ nur noch in zwei ›Anteile‹ zerfielen, die ihren Namen von den Re16 Vgl. einführend die landeshistorischen Standardwerke  : Rommel, Geschichte von Hessen, 10 Bde.; Demandt, Geschichte des Landes Hessen  ; Heinemeyer (Hrsg.), Das Werden Hessens  ; Philippi, Die Landgrafschaft Hessen-Kassel  ; vgl. auch den Forschungsüberblick von Gräf, Dynastien, Territorien und Land. 17 Engelhard, Erdbeschreibung der Hessischen Lande Casselischen Antheiles. 18 Vgl. allgemein Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung  ; zur Landesteilung selbst vgl. Römer, Der Landgraf im Spagat  ?, und Neu, Die Erschaffung der landständischen Verfassung, 158–176  ; zu Philipp vgl. zuletzt Rüther, Familiensinn, Glaubensfrage, Machtprobe  ; Gräf/Stößer (Hrsg.), Philipp der Großmütige.

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sidenzstädten der beiden verbliebenen fürstlichen Linien erhielten – Kassel und Darmstadt. Der Herrschaftsbereich der Kassler Landgrafen umfasste dabei vor allem ›Niederhessen‹, ein relatives kompaktes, um die nordhessische Stadt Kassel zentriertes Gebiet von etwa 4000 Quadratkilometern. In dieser Region, die ungefähr anderthalbmal so groß war wie das heutige Saarland, lebten noch 1770 ungefähr nur 180.000 Menschen  ; so viele wie heute allein in Saarbrücken.19 Trotzdem gehörte die ›zusammengesetzte Monarchie‹ der Kasseler Landgrafen, die neben Niederhessen noch verschiedene andere, kleinere Gebiete umfasste, zu den mittelgroßen und -mächtigen Reichsterritorien, wobei die Landgrafen stets bestrebt waren, ihre Macht durch den Erwerb neuer Gebiete weiter zu steigern. Damit ist auch schon der erste wichtige Akteur im Kontext des angeblichen Landesverrats genannt – der Landgraf von Hessen-Kassel. Das war im frühen 17. Jahrhundert Moritz ›der Gelehrte‹, der 1592 seinem Vater Wilhelm IV. als zweiter Landgraf der Kasseler Linie nachgefolgt war. Gelehrt war der bei Regierungsantritt zwanzigjährige Fürst zwar in der Tat, es lägen aber auch weniger schmeichelhafte Beinamen nahe, wird ihm doch von bedeutenden Landeshistorikern »weitgehende Verständnislosigkeit für die politische Wirklichkeit«20 attestiert. Und in der politisch-sozialen Realität des Fürstentums, die der Landgraf in seinen späteren Jahren so oft nicht erkennen konnte oder wollte, nahm nun der hessische Adel – der zweite Hauptakteur – eine herausgehobene Position ein. Die ›Ritterschaft‹, so lautete die Sammelbezeichnung für die Menge der Adeligen, die auf welche Weise auch immer den Landgrafen verbunden waren, teilte dabei das Schicksal der Landgrafschaft insgesamt, insofern sie in bestimmten Hinsichten gesamthessisch verfasst war, während gleichzeitig auch jedes Teilfürstentum über seine eigene Ritterschaft verfügte.21 Verkompliziert wurde die Lage dadurch, dass es um 1600 noch keine festen Kriterien für die Zugehörigkeit zur Ritterschaft gab und die adeligen Familien bzw. deren einzelne Linien gleichzeitig in unterschiedlichen Fürstentümern politisch aktiv sein konnten.22 Gleichwohl lassen sich für Hessen-Kassel etwa vierzig adelige Geschlechter aus19 Vgl. zur Größe Niederhessens Brakensiek, Fürstendiener, 51. 20 Demandt, Geschichte des Landes Hessen, 251  ; zu Landgraf Moritz (1572–1632, reg. 1592–1627) vgl. zuletzt mit weiterer Literatur Gräf, Der Konfessionalist als Friedenspolitiker  ?  ; Borggrefe/Lüpkes/Ottomeyer (Hrsg.), Moritz der Gelehrte  ; Menk (Hrsg.), Landgraf Moritz der Gelehrte  ; eine Übersicht über die Beurteilungen des Landgrafen in der Geschichtsschreibung findet sich in Menk, Regent, 26–40. 21 Vgl. allgemein Conze/Jendorff/Wunder (Hrsg.), Adel in Hessen, und zur Ritterschaft als Landstand einführend und mit Literatur Hollenberg, Einleitung, 17–20. 22 Vgl. Wunder, Neuer Adel, 350.

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machen, deren führende Mitglieder sich untereinander persönlich kannten und denen in der politischen Praxis erhebliche Mitspracherechte zustanden. Dazu gehörte vor allem das Steuerbewilligungsrecht, das in Hessen wie in Hessen-Kassel gleichermaßen kollektiv von zwei Kurien ausgeübt wurde, ›Prälaten und Ritterschaft‹ einerseits und der ›Landschaft‹ andererseits. Beide Namen sind leicht missverständlich  : In der ersten Kurie saßen nämlich mit einer Ausnahme seit der Einführung der Reformation in Hessen gar keine Prälaten mehr, sondern Vertreter von weltlichen Institutionen, die als Rechtsnachfolger der Äbte auch deren Landstandschaft ausübten. Da diese Institutionen mehrheitlich von hessischen Adeligen geführt wurden, dominierte in der ersten Kurie das Interesse der Ritterschaft, und man kann mit einigem Recht auch abkürzend von einer Ritterkurie sprechen. Die zweite Kurie umfasste trotz ihres Namens keine Landgemeinden oder Ämter, sondern hier kamen ausschließlich die landtagsfähigen Städte zusammen, wobei die ›Landschaft‹ ständisch hinter der ersten Kurie rangierte und wesentlich weniger Einfluss hatte. Kurz  : Wollte der Landgraf Steuern erheben, so musste er sich faktisch vor allem mit seinem Adel einigen.23 In den ersten Jahrzehnten nach Moritz’ Regierungsantritt funktionierte dieses System trotz aller Konflikte im Einzelnen erstaunlich gut. Die Grundlage dafür bot eine allseits geteilte Befürchtung  : Sowohl der Landgraf als auch die Landstände, darunter eben maßgeblich die Ritter, sahen nämlich ›Vaterland und evangelisches Wesen‹, so die zeitgenössische Formulierung, existentiell bedroht von der konfessionell-politischen Krise, in die das Alte Reich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts geraten war und die sich scheinbar immer weiter verschlimmerte. Als nun die Konflikte zwischen dem protestantischen und dem katholischen Lager 1608 sogar dazu führten, dass mit dem Reichstag die wichtigste Institution handlungsunfähig wurde, von der eine Überwindung der Krise hätte ausgehen können, und sich kurz danach mit Union und Liga konfessionelle Militärbündnisse bildeten, schweißte das Moritz und seine politischen Eliten noch enger zusammen  : In Erwartung einer größeren militärischen Auseinandersetzung wurden von 1609 bis 1620 die fürstlich-ständischen Beziehungen massiv intensiviert und immer höhere Steuern bewilligt, um die Verteidigung der Landgrafschaft zu verbessern und die bündnispolitischen Pflichten Hessens gegenüber der Union zu erfüllen.24 23 Zur Entwicklung des Steuerbewilligungsrechts vgl. Neu, Die Erschaffung der landständischen Verfassung, 145–158. 24 Vgl. dazu jetzt ebd., 201–239. In Bezug auf die Vorgeschichte des Dreißigjährigen Kriegs wird von der Forschung in jüngerer Zeit betont, dass die politischen Entwicklungen seit der Jahrhundertwende nicht zwangsläufig auf einen Krieg hinsteuerten. So richtig diese Beobachtungen im Detail sind, so wenig berücksichtigen sie, dass zumindest einige Fürsten – darunter Moritz von Hessen-­ Kassel  – trotzdem subjektiv den Eindruck hatten, dass es sich so verhielt. Vgl. Schulze (Hrsg.), Friedliche Intentionen – kriegerische Effekte.

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Als der so lange schon befürchtete Krieg dann tatsächlich ausbrach, zerbrach das Einvernehmen jedoch und die folgenden Jahre waren »erfüllt von bitteren Konflikten«25. Deren Ausgangspunkt war die Unvereinbarkeit der Reaktionen auf den unverkennbaren Zusammenbruch des protestantischen Lagers. Nach der Schlacht am Weißen Berg im November 1619, der Verhängung der Reichs­ acht über Friedrich  V. von der Pfalz im Januar des folgenden Jahres und der Selbstauflösung der Union strebte Moritz eine bewaffnete Neutralität an und wollte Hessen, folgt man Günter Hollenberg, dem besten Kenner der hessischen Ständegeschichte, »zu einem militärischen Bollwerk machen, das selbst ein mächtiger Gegner wegen des zu erwartenden Widerstandes nicht angreifen würde«26. Ritter und Städte hingegen, so Hollenberg weiter, »sahen ihr Heil in einem Appeasement der Liga und des Kaisers«27. Die Unvereinbarkeit der politischen Zielvorstellungen resultierte also daraus, dass Moritz seine Politik der militärischen Stärke, die er schon seit Jahrzehnten verfolgte, auch und gerade angesichts des Scheiterns der Union unbedingt fortsetzen wollte, während die Stände, die ihren Landesherrn bisher trotz aller Auseinandersetzungen im Einzelnen immerhin finanziell unterstützt hatten, sich seit Ende 1620, als die ersten Auswirkungen des Krieges Hessen erreichten, grundsätzlich von einer aktiven Verteidigungspolitik abwandten. In der Praxis hieß das vor allem, dass man versuchte, das Steuerbewilligungsrecht als Hebel einzusetzen, um den Landgrafen von einer aktiven Militärpolitik abzubringen.28 Zeigte sich Moritz schon über diesen Politikwechsel seiner Stände, wie er selbst schrieb, bestürtzt und befrembdet29, so zogen insbesondere die Ritter zusätzlich seinen Zorn auf sich, da sie sich dem landgräflichen Plan widersetzen, das von ihnen als hessischen Vasallen im Falle der Landesnot zu stellende Lehnsaufgebot zu einer schlagkräftigen und permanenten Reitertruppe umzuformen.30 In dieser angespannten Lage genügte nun ein Funke, um einen tiefgreifenden Konflikt auszulösen. 25 Hollenberg, Primat der Innenpolitik  ?, 126. Auch für Hollenberg beginnt 1621 eine neue Phase der »Politik der hessen-kasselischen Stände« (ebd., 125). Zum allgemeinen Kontext vgl. zuletzt Arndt, Der Dreißigjährige Krieg, und Wilson, Europe’s Tragedy  ; für Hessen vgl. Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655)  ; Malettke, Der Dreißigjährige Krieg in Hessen und seine Folgen  ; Weiand, Hessen-Kassel und die Reichsverfassung. 26 Hollenberg, Primat der Innenpolitik  ?, 126. 27 Auch Hollenberg geht davon aus, dass hier ein »grundsätzlicher Dissens« (ebd.) vorliegt. 28 Vgl. Neu, Die Erschaffung der landständischen Verfassung, 239–263, und Hessische Landtagsabschiede 1605–1647, 126–248. 29 Hessisches Staatsarchiv Marburg (= HStAM) 17 I Nr. 1804 fol. 101, zitiert nach Hessische Landtagsabschiede 1605–1647, 174, Anm. 282. 30 Vgl. dazu umfassend Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung, und zuletzt Gräf, Landesdefension oder »Fundamentalmilitarisierung«  ?

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Thema  : Die hessischen Ritter als Landesverräter Anfang 1623 war es dann soweit  : Truppen des Ligagenerals Tilly lagen an den Grenzen der Landgrafschaft im Winterquartier, und es war absehbar, dass sie bei Frühlingsbeginn durch Hessen ziehen würden. Und als Tilly dann Anfang Mai tatsächlich die Grenzen überschritt, traf er nur in Ausnahmefällen auf Widerstand, der zudem noch leicht überwunden wurde, sodass schon kurze Zeit später große Teile der Landgrafschaft besetzt waren – entgegen der landgräflichen Vorgaben war ein flächendeckender Abwehrkampf nicht zustande gekommen.31 In dieser angespannten Lage kam es nun zum Vorwurf des Landesverrats. Moritz selbst befand sich zum Zeitpunkt der Besetzung außerhalb Hessens und brachte seinen Ärger über den mangelnden Widerstand auf eine Art und Weise zum Ausdruck, die sehr deutlich seine »problematische Persönlichkeit«32 erkennen ließ  : Am 28. Mai verfasste er einen Brief an seine Räte in Kassel, den er zu publizieren befahl, was einem massiven Affront gleichkam, denn er warf ihnen darin explizit vor, sie hätten alles in Zerrüttung, Unordnung, Verzag- undt Zitterung kommen laßen. Wäre das nicht geschehen, so hätten sie dem nunmehr leyder begegnetem großen Unheil nach bestem Vermögen wie Männer und nicht wie Weyber begegnet und vorgebauet haben können. Noch schlimmer aber stehe es um andere, nämlich diejenigen, die bey Unsern Ständen die Unwilligkeit machen, die Defensionsmittel verschlagen, Unsern Feinden und Einbrechern mehr als Uns selbsten favor, respect, Willen undt Befurderung erzeigen.33 Die schnelle Besetzung Hessens durch die Ligatruppen, so deutete der Landgraf hier an, sei also möglicherweise darauf zurückzuführen, dass einzelne Mitglieder der Stände  – gemeint waren vor allem die Ritter – mit dem Feind kollaboriert hätten. Daher, so Moritz weiter, werde er Generalaudienzierer Dr.  Wolfgang Günther beauftragen, den Sachverhalt aufzuklären. Für Günther, seit einiger Zeit der engste Ratgeber des Landgrafen, war der Fall schnell klar, wie sich bald herausstellen sollte.34 Während eines Treffens im Rahmen der besagten Untersuchung in der Landesfestung Ziegenhain soll der bürgerliche Generalaudienzierer im Sommer 1624 einigen Ritters nämlich in Gesicht gesagt haben, die Ritterschaft sei gleich31 Vgl. Rommel, Geschichte von Hessen, Bd. 7, 568  ; Maruhn, Necessitäres Regiment, 27. 32 Menk, »Zweite Reformation«, 157. 33 ›Landgraf Moritz an Obrist und Räte zu Kassel. Wolfenbüttel 1623 Mai 28‹, in  : HStAM 73 Nr. 32, unfoliiert, 7 S., hier 1, 2 und 5. 34 Zum ›Fall Günther‹ vgl. Gräf, »Vndt also …«  ; ferner Grotefend, Der Prozeß des landgräflichen Raths Dr. Wolfgang Günther (1627–1628)  ; darüber hinausgehend mit Korrekturen Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel. Zu militärischen Besetzungen vgl. allgemein Meumann/Rogge (Hrsg.), Die besetzte ›res publica‹.

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samb die Brücke, darüber der General Tilly in dies […] Fürstenthumb und Landen gezogen. Nachdem diese Äußerung jegliche Zusammenarbeit zwischen Günther und den Adeligen unmöglich gemacht hatte, wandte sich die Ritterschaft direkt an den Landgrafen, der sich inzwischen wegen der Besetzung erneut und für länger außer Landes begeben hatte. In einem langen Brief schilderten sie zunächst den Ziegenhainer Vorfall und zogen dann selbst die Konsequenzen aus der von Günther gebrauchten Metapher  : Es ginge im Land das Gerücht um, dass man mit Kopfabhauen und Hencken gleich als Landtsverräthern, Rebellen und Ubelthätern mitt Unser einstheils gebahren [=verfahren] wolle. Die Ritter verlangten, dass Günther wegen dieser Äußerung gerichtlich belangt und der gute Name der Ritterschaft wiederhergestellt würde, sodass sie nicht für eidtsvergeßene und -brüchige Leuthe, ja für Landtsverräther35 gehalten würden. Aber es kam anders. In der einen Monat später eintreffenden Antwort teilte der Landgraf lapidar mit, Günther sei nichts vorzuwerfen, da er weiter nichts, als was er wohl von Uns selbst gehöret undt verstandten, undt also ex mente, animo & ore nostro nachgeredt haben mag.36 Damit hatte sich Moritz den Vorwurf des Landesverrats an seine Ritter faktisch zu eigen gemacht.37 Die geschilderte Situation weist alle charakteristischen Elemente des ­›The­mas‹ Verrat auf  : Zunächst gibt es einen unbestrittenen Vorgang – die mehr oder weniger widerstandslose Besetzung Hessens durch die Ligatruppen. Die landgräfliche Seite deutet nun das Handeln der Ritter im Rahmen dieses Vorgangs als Verrat, was die Ritter strikt von sich weisen. Neben dem offenkundigen Zuschreibungscharakter wird zudem deutlich, dass auch hier im Zentrum ein Treuebruch steht, denn nicht zufällig ist in der oben zitierten Stelle aus dem ritterschaftlichen Schreiben in einem Atemzug von ›Eidesbruch‹ und ›Landesverrat‹ die Rede. Gemeint sind hier vor allem die Lehnseide der Ritter, die im Verständnis der Zeit sogar zu einer besonders intensiven Form der Treue gegenüber dem Landesherrn verpflichteten. Das Deutungsmuster ›Verrat‹ ist klar erkennbar  : Die fürstliche Seite beschreibt die Handlungen der Ritter im Kontext der Besetzung Hessens als Bruch ihrer eidlich begründeten Treuepflicht gegenüber dem Landgrafen.

35 ›Ritterschaft an Landgraf Moritz. o. O. 1624 Juli 1‹, in  : HStAM 73 Nr. 32, unfoliiert, 12 S., hier 2, 3 und 5  ; Druck in Rommel, Geschichte von Hessen, Bd. 7, 682–690. 36 ›Landgraf Moritz an Räte. Wolfenbüttel 1624 August 2‹, in  : HStAM 73 Nr. 32, unfoliiert, 3 S., hier 2. Diese und alle weiteren Datumsangaben folgen dem julianischen Kalender. 37 Von Landesverrat ist auch die Rede in den Standardwerken Demandt, Geschichte des Landes Hessen, 252 (allerdings mit Bezug auf das später erfolgte mandatum de non offendo), und Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung, 303. – Nach der Abdankung Moritz’ 1627 wurde Günther – nach einem mehr als anfechtbaren Prozess – schließlich hingerichtet.

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Gleichzeitig lässt sich an diesem Fall auch noch ein weiteres typisches Merkmal der Verratssemantik herausstellen, nämlich das sogenannte »Verratsdreieck«, wie es der Schriftsteller Bernhard Schlink einmal genannt hat. Der Verrat, so Schlink, »hat drei Beteiligte  : den Verräter, den Verratenen und den, an den der Verräter den Verratenen verrät, den Nutznießer des Verrats«38. Demnach ist der vorliegende Fall noch nicht ausreichend damit beschrieben, dass die Ritter angeblich den Landgrafen verraten hätten, sondern man müsste hinzufügen, dass sie ihn angeblich an das von Tilly geführte Ligaheer und damit allgemeiner an die kaiserlich-katholische Kriegspartei verraten hätten. Hieran zeigt sich u. a. die europaweite Verbreitung und zeitliche Kontinuität des Deutungsmusters, denn der im frühen 17.  Jahrhundert in Hessen angesprochene Tatbestand ist jenem vergleichbar, der im Bereich des englischen Common Law schon seit 1351 unter der Bezeichnung »be adherent to the King’s Enemies in his Realm, giving to them Aid and Comfort«39 als (Hoch-)Verrat strafbar war und der 1794 im preußischen Allgemeinen Landrecht mit »Begünstigung der Feinde des Staates« ähnlich umschrieben und als »Landesverrätherey der Zweyten Classe«40 bestraft wurde. Unter den Bedingungen der vormodernen politisch-sozialen Ordnung, in der die ständische Ehre ein unbedingt zu schützendes Gut war, konnten die Ritter diese Vorwürfe unmöglich einfach hinnehmen.41 Was aber sollten sie tun angesichts der Tatsache, dass sich Landgraf Moritz nicht nur weigerte, den Auslöser des Konflikts, seinen Favoriten Wolfgang Günther, zur Rechenschaft zu ziehen42, sondern ihnen sogar selbst indirekt Landesverrat unterstellt hatte  ? Die Adeligen erinnerten sich eines zwar nicht sehr engen, aber immerhin schon bestehenden Kontaktes und wandten sich an – den Kaiser. Im November 1624, ein gutes Vierteljahr nach der provokativen Antwort des Landgrafen, sandten die Ritter einen Brief nach Wien, in dem sie darum baten, Adell undt Ritterschafft deß Niederfürstenthumbs Hessen in den kaiserlichen Schutz und Schirm auf- undt anzunehmen. Diesen Schutz erbaten sie dabei nicht ganz allgemein, sondern explizit zu dem Zweck, dass sie auf diese Weise sampt und ein ieder insonderheit davor sicher seien, dass Ihre F[ürstliche] G[naden] oder alle dero […] officire, Räthe undt Beampten ihre Gerechtsame verletzten oder sie uber undt wieder daß ubliche undt beweisliche Herkommen […] beschwerdt belegt und betrückt würden.43 Sie ersuchten also um Schutz gegen ihren eigenen Landesherren. 38 Schlink, Der Verrat, 17 und 14. 39 Treason Act 1351, 25 Edw. 3, stat. 5, c. 2. 40 Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, § 106. 41 Vgl. Münch, Lebensformen, 247  ; Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider, 301. 42 Vgl. Gräf, »Vndt also …«, 73. 43 ›Niederhessische Ritterschaft an Kaiser Ferdinand  II. Calden 1624 Nov.  16‹, in  : HStAM  340 v. Dörnberg Nr. 9, unfoliiert, 9 S., hier 6.

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Dieses Anliegen legitimierten sie explizit damit, dass sie gleichsamb ärger als fuer Meutmacher, rebellen undt Landsverräther außgegeben44 würden. Ferdi­ nand II. ließ sich diese Gelegenheit, einen seiner Gegner zu schwächen, nicht entgehen, erteilte der Ritterschaft im März des folgenden Jahres den erwünschten Schutzbrief und sandte zudem ein offizielles mandatum de non offendo an Moritz.45 Diesem war es fortan reichsrechtlich verboten, die Ritterschaft als ganze sowie ihre einzelnen Mitglieder wieder und uber das ubliche und beweißliche Herkommen zu beschweren, und er war dagegen gehalten, sie sicher und unbetrübet [zu] laßen.46 In letzterem Dokument taucht dann auch wieder die schon genannte Formel auf, dass nämlich die Ritterschaft für ›Meuterer, Rebellen und Landesverräter‹ gehalten würde. Und da der Landgraf dieser Situation bisher nicht abgeholfen und die Ehre der Ritter wiederhergestellt hätte, tue dies nun der Kaiser höchstpersönlich. Diese Entwicklung zeigt eines ganz deutlich  : Die Metapher vom ›Verratsdreieck‹ ist eigentlich viel zu statisch, um die Wirkungen des Deutungsmusters wirklich erfassen zu können. Die Ritter stehen nicht eigentlich an einer bestimmten Stelle und bilden mit Landgraf und Kaiser ein stabiles Dreieck, sondern mit ihrem Verhalten bewegen sie sich vielmehr vom Landgrafen weg und zum Kaiser hin. Und diese Bewegung, diese Eskalation wird nicht zuletzt durch die Verratssemantik selbst hervorgebracht, denn es war eben insbesondere der Vorwurf des Landesverrats, der die Ritter dazu brachte, sich an den Kaiser zu wenden. ›Verrat‹ ist also mitnichten eine ›neutrale‹ Zuschreibung, sondern ein Deutungsmuster, dessen Einsatz eine massive Eigendynamik erzeugen kann  : Wegen Passivität während der Besetzung des Verrats bezichtigt, suchten die Ritter nun auch aktiv den Schutz des Kaisers, was aus Sicht des Landgrafen ihren Verrat nur noch schlimmer machte. Handlungen als Verrat zu deuten, führt also paradoxerweise oftmals dazu, dass es zu noch mehr ›verräterischen‹ Handlungen kommt. Die Rede vom Verrat ist eine ›dia-bolische‹, eine im ursprünglichen Wortsinne ›auseinander-werfende‹ Sprachhandlung, sie bringt den Treuebruch, den sie angeblich nur benennt, selbst mit hervor. Sie verwandelt Getreue, die falsch gehandelt haben, mindestens in Unterstützer von Feinden, wenn nicht sogar überhaupt in Feinde.47 Auch diese ›performative‹ Wirkung gehört jedoch 44 Ebd., 2. 45 ›Kaiserlicher Schutzbrief für die niederhessische Ritterschaft. Wien 1625 März  2. Abschrift‹, in  : HStAM 340 v. Dörnberg Nr. 10, unfoliiert, 5 S. 46 ›Mandatum de non offendo. Wien 1625 März  2. Notariell beglaubigte Kopie‹, in  : HStAM  304 Nr. 443, unfoliiert, 15 S., 10 und 14. 47 Ob der Verräter auch weiterhin Teil der Rechtsgemeinschaft bleibt und als ›Verbrecher‹ behandelt werden muss, oder ob er sich durch seine Tat außerhalb stellt und dadurch zum ›Feind‹ wird, war schon in der Frühen Neuzeit umstritten und ist es noch heute. Während etwa Edward Coke im

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zu den typischen Merkmalen des Deutungsmusters. Worin besteht aber in diesem Fall die spezifische ›Variation‹  ? Diese wird erst deutlich, wenn man die weitere Entwicklung betrachtet.

Variation  : Vom Verrat zum Verbrechen Die Eskalation des Konflikts, von der ersten indirekten Beschuldigung durch Moritz im Mai 1623 bis zur expliziten Erwähnung des Vorwurfs im mandatum de non offendo vom März 1625, hatte sich im Wesentlichen zugetragen, während Hessen von kaiserlichen Truppen besetzt und der Landgraf im Exil gewesen war, also während einer Zeit des verminderten und nur schriftlichen Kontaktes zwischen Landgraf und Rittern. Kurz darauf aber änderte sich die Situation grundlegend  : Im Mai 1625 begann der Abzug der Ligatruppen und im Juni kehrte dann auch Moritz nach fast zweijährigem Exil zurück nach Hessen.48 Als die Ritter kurz darauf ihren Schutzbrief der fürstlichen Seite durch einen Notar offiziell zustellen lassen wollten, reagierten die landgräflichen Räte auf ungewöhnliche Weise, nämlich mit einer offenen Schrift. Diese nahmen die Ritter vor allem deswegen mitt großer Verwunder- und Befremdung auch Gemüthsbestürtzung49 zur Kenntnis, weil der Konflikt mit dem Landgrafen erneut thematisiert wurde. Dieser Schritt veranlasste nun wiederrum die Ritter zu einer eigens aufgesetzten Verteidigungsschrift – die Eskalation schien sich ungebrochen fortzusetzen. Im Zentrum der von den Räten verfassten Schrift stand wohl die Erwirkung des kaiserlichen Schutzbriefes, und die fürstliche Seite ging davon aus, dass die Ritter die Erteilung des Kay. Schirm- und Schutzbrieffs dazu mißbrauchen wollten, sich der landgräflichen Jurisdiction und Landes-Obrigkeit [zu] endtziehen.50 Und in diesem Kontext wurden dann wohl auch Begriffe wie Rebellen und crimen laesae Majestatis (Majestätsverbrechen) verwendet, um die Ritter und ihre Handlungen zu charakterisieren.51 Indem die Räte die angebliche Kollaboration der Ritter bei der Besetzung Hessens 1623 unter den Tisch fallen ließen und sich auf den Kontakt der Ritter zum Kaiser konzentrierten, nahmen sie eine Verschiebung vor, die auf den ersten Blick der Eskalation des Konflikts folgte und diese noch weiter anzuheizen schien. Allerdings änderte sich doch etwas frühen 17. Jahrhundert für die erste Position plädierte (vgl. Coke, Institutes, Bd. 3, 11), vertrat nur einige Jahre später Thomas Hobbes die letztere (vgl. Hobbes, Leviathan, 242). 48 Vgl. Neu, Die Erschaffung der landständischen Verfassung, 264 (Exil) und 288 (Besetzung). 49 ›Niederhessische Ritterschaft an Vizekanzler und Räte zu Kassel. o. O. 1625 Okt. 20‹, in  : HStAM 304 Nr. 445, unfoliiert, 22 S., hier 1 und 1 f. 50 Ebd., 5. 51 Ebd., 18 und 8, vgl. Steinberg, Hochverrat.

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Wesentliches, denn von Verrat war auf einmal keine Rede mehr, weder explizit noch implizit. Die Räte nahmen stattdessen einen Kurswechsel vor und verwendeten, wie aus den oben zitierten Passagen hervorgeht, nunmehr vor allem juristische Deutungsmuster, die zwar in der Sache immer noch massive Vorwürfe artikulierten, aber im Ton doch deutlich ›sachlicher‹ waren als die moralisch hochaufgeladene Verratssemantik. Gleiches gilt nun für die Ritter  : Diese hatten bisher noch aus den indirektesten Bemerkungen der fürstlichen Seite den Vorwurf des Treuebruchs herausgelesen und sich lautstark als diejenigen präsentiert, die zu Unrecht des Landesverrats bezichtigt würden. In dem Moment aber, als die fürstliche Seite auf juristische Argumente umschwenkte, wechselten sie zu einer ›positiveren‹ Rhetorik und klagten nicht mehr über den ihnen unterstellten Treubruch, sondern betonten hingegen ihre ungebrochene Treue und Gehorsamsbereitschaft. Sie wüssten nicht, wie sie ein so groß crimen laesae Maiestatis oder dergleichen begangen haben sollten, und unterstrichen, dass sie getrew- und gehorsame adeliche Unterthanen sein und biß zu unsern letzten Athem auch bis zum letzten Blutstropffen verbleiben wollten. Diese allgemeine Treuebestätigung wurde ergänzt und konkretisiert durch die Versicherung, dass sie sich keinesfalls der Herrschaft des Landgrafen entziehen wollten, davon sei auch in dem kaiserlichen Schutzbrief keine eintzige Syllab, ja oder geringst Buchstab darin nicht zu finden oder draus zu nehmen oder zu schließen.52 Diese erste Veränderung zeigte sich nach dem Ende des landgräflichen Exils, fand aber immer noch im Schriftverkehr statt, also in medial vermittelter Kommunikation. Als es dann aber auch wieder zu fürstlich-ständischen ›Face-to-Face‹-­Interaktionen kam, verstärkte sich die Tendenz zur ›rhetorischen Abrüstung‹ noch mehr.53 Nachdem Moritz im Juni 1625 wieder nach Hessen zurückgekehrt war, ließ er für November einen ersten Landkommunikationstag ausschreiben. Es handelte sich jedoch um eine ungewöhnliche Ständeversammlung, denn bei der Eröffnung wurden zwei Propositionen verlesen, deren zweite sich ausdrücklich an die Ritterschaft richtete und ihr Verhalten thematisierte. An den seit Jahren bestehenden Vorwürfen hatte sich in der Sache nichts geändert  : Die Ritterschaft hätte sich den Verderbern des Landts anhengig gemacht, denselben wider Uns und Unßere Underthanen allen Vorschub gethan und in summa nichts, als was zu der Extremiteth gehörig, underlaßen. Diese Formulierung bezieht sich vor allem auf das Verhalten der Ritter während der Besetzung, 52 ›Niederhessische Ritterschaft an Vizekanzler und Räte zu Kassel. o. O. 1625 Okt. 20‹, in  : HStAM 304 Nr. 445, unfoliiert, 22 S., 8, 6 und 5. 53 Zur Bedeutung von schriftlicher und mündlicher Kommunikation in der Frühen Neuzeit vgl. Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden.

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den angeblich ›ersten‹ Verrat, der aber hier nicht mehr als solcher gedeutet wird. Weiter hieß es, die Ritter hätten die kaiserlichen Schutzbriefe dazu missbrauchen wollen, sich Unßer uber sie unläugbar hehrgebrachter Jurisdiction und Landsfürsten Hoch- und Obrigkeitt dadurch zu entbrechen und zu entziehen.54 Auch dieser weitergehende Vorwurf wird nicht als Verrat angesprochen, und trotz der allgemeinen juristischen Rahmung der Proposition kommen die eigentlichen Tatbestandsbezeichnungen ›Rebellion‹ und ›Majestätsverbrechen‹ zumindest nicht mehr explizit vor, so naheliegend sie allen Beteiligten auch erscheinen mussten.55 Und ganz so wie die Ritter in ihrer Verteidigungsschrift ihre Treue betont hatten, so wird auf einmal von der fürstlichen Seite ein allgemeiner Pardon in Aussicht gestellt, wenn die Ritter vermöge ihrer Aydt und Pflichten nichts anders köndten, dan bey Uns als ihr Haupt und Landsfürsten zu tretten.56 Die von allen Seiten angestrebte Aussöhnung kam zwar erst über ein Jahr später, nach dem Rücktritt Moritz’ im März 1627, zustande, aber von Verrat war da schon lange nicht mehr die Rede. Warum aber verschwand die Verratssemantik so plötzlich nach der Rückkehr des Landgrafen  ? Dazu muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass beide Parteien nach dem Ende des von Exil und Besatzung gekennzeichneten Ausnahmezustandes ein starkes Interesse an einer Einigung haben mussten, da sie in der jetzt zu restituierenden, ›normalen‹ politischen Praxis aufeinander angewiesen waren  : Die Ritter mussten sich mit der Herrschaft des Landgrafen arrangie54 ›Abermahlige Propositio, Ihro f.g. Landtgraff Moritzen, zue Heßen. etzlichere von der Ritterschafft undt den Stetten, zue Milsungen gethan, belangendt vornemblich Erkendnis, Abbitt, undt Außsöhnung dero Ritterschafft mit Ihro f.g. dati 19t. 9bris. ao. 1625‹, in  : HStAM  340 v. Dörnberg Nr.  13, unfoliiert, 3  S., hier 1 und 2. Auszüge auch in Hessische Landtagsabschiede 1605–1647, 240 f., Anm. 374, dort mit leicht anderem Wortlaut nach dem Origial in HStAM 17 I Nr. 1811. 55 Die Strategie, so schwere Verbrechen nur anzudeuten, wurde von der fürstlichen Seite häufiger eingesetzt. So wurden die Ritter einige Jahre später in einem Prozess vor dem Reichskammergericht indirekt der Rebellion und des crimen laesae majestatis bezichtigt (vgl. ›Exceptiones sub- et obreptionis articulatae Anwaldts der […] Amelien Elisabethen Landgravin zue Heßen […], so dan IFG. Vicecantzlers, geheimbter Kriegs- und Regirungs- Räthen zu Caßel, contra die sambtliche Ritterschafft des Niederfürstenthumbs Hessen‹, Präsentationsvermerk  : Speyer 1651 Jan. 7, in  : HStAM  255 H Nr.  139, 28  S., Art.  7 und Art.  49). Daraufhin beschwerten sich die Ritter beim Landgrafen (vgl ›Copia Schreibens an IFG Herrn Landtgraff Wilhelmen zu Heßen von sämptlicher Ritterschafft des Nieder- undt Oberfürstenthumbs Heßen Caßelleschen Theil‹ [o. O. 1651 März 6], in  : HStAM 5 Nr. 14660, fol. 25r–27v), dessen Räte erwiderten, so Maruhn, »es habe sich lediglich um ›nötige defensiones‹ gegen das Vorbringen der Kläger gehandelt. Man beschuldige sie nicht der Rebellion.« (Maruhn, Necessitäres Regiment, 49). 56 ›Abermahlige Propositio, Ihro f.g. Landtgraff Moritzen, zue Heßen. etzlichere von der Ritterschafft undt den Stetten, zue Milsungen gethan, belangendt vornemblich Erkendnis, Abbitt, undt Außsöhnung dero Ritterschafft mit Ihro f.g. dati 19t. 9bris. ao. 1625‹, in  : HStAM 340 v. Dörnberg Nr. 13, unfoliiert, 3 S., hier 2.

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ren, weil die Alternative, ein reichsunmittelbarer Status, mit ihren Ressourcen weder faktisch erkämpft noch normativ ausreichend legitimiert werden konnte, weshalb sie einen solchen Status auch tatsächlich nicht anstrebten.57 Und der fürstlichen Seite musste an einer Einigung gelegen sein, weil bei einem Bruch mit der Ritterschaft die Landtage auf Dauer blockiert worden wären, die auch von den Fürsten als Träger des Steuerbewilligungsrechts angesehen wurden.58 Beide Seiten setzten also nunmehr auf Versöhnung  ; die – metaphorisch gesprochen  – ›Bewegung‹ der Ritter vom Landgrafen hin zum Kaiser sollte beendet und umgekehrt werden. Diese Absetzbewegung aber war, wie sich im vorigen Abschnitt gezeigt hatte, maßgeblich von der ›diabolischen‹ Eigendynamik der Verratssemantik vorangetrieben worden. Als nun diese Eskalation aus pragmatischen Gründen untragbar und eine Annäherung der beiden Parteien unumgänglich wurde, da mussten die Ritter zunächst von ›Unterstützern des Feindes‹ wieder in zumindest potenziell ›Getreue‹ umgedeutet werden, und dazu war es vor allem wichtig, auf die Verratssemantik zu verzichten  – was Landgraf wie Ritter in der Folge dann auch taten. Zwar lässt sich dieser Zusammenhang nicht direkt kausal belegen, aber die Tatsache, dass der politische Ausnahmezustand und die Verratsvorwürfe exakt zur gleichen Zeit aufhörten, macht es hinreichend plausibel, dass nicht mehr von Verrat gesprochen wurde, weil die konfliktverschärfende Wirkung des Deutungsmuster die nach der Rückkehr der Landgrafen von allen Seiten angestrebte Aussöhnung ansonsten verhindert oder zumindest massiv erschwert hätte. Hierin liegt nun die für diesen Fall spezifische ›Variation‹ des allgemeinen Verratsthemas  : Die Konfliktparteien selbst gaben das Deutungsmuster auf, und zwar schon während des Konflikts, nicht erst nach seiner Beilegung. Und sie taten dies aller Wahrscheinlichkeit nach, um sich von der auf Eskalation drängenden Eigendynamik des Verratsvorwurfs zu befreien. Dass es sich hier tatsächlich um eine Variation handelt, sogar um eine sehr spezielle, wird daran deutlich, dass ›typische‹ Verratsfälle bzw. die von ihnen inspirierten Narrative auf den zuletzt unumkehrbaren Bruch zwischen Verräter und Verratenem und die massiven Folgen für beide Seiten hinauslaufen – die Namen Judas und Brutus stehen exemplarisch für diese Standardkonfiguration. Im hessischen Fall aber konnte keiner Partei an einer solchen Endgültigkeit gelegen sein, weshalb es nur folgerichtig war, dass der Verratsvorwurf stilschweigend fallengelassen wurde.

57 Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, 29. 58 Vgl. Neu, Die Erschaffung der landständischen Verfassung, 460.

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Fazit Der ›Verrat der hessischen Ritterschaft‹ ist damit als Erkenntnisgegenstand hinreichend aufgearbeitet. Ausgangspunkt war die 1623 erfolgte Besetzung Hessens durch feindliche Truppen. Der Landgraf und seine engsten Berater begriffen die Handlungen der Ritter in diesem Kontext als Bruch ihrer eidlich begründeten Treuepflicht gegenüber dem Landgrafen – als Verrat, genauer als Verrat an die kaiserlich-katholische Kriegspartei. Dies hatte jedoch schwerwiegende Folgen  : Der Konflikt eskalierte nicht zuletzt wegen der ›diabolischen‹ Eigendynamik der Verratssemantik, welche die Entfremdung zwischen dem im Exil weilenden Landgrafen und der Ritterschaft nur noch vertiefte und letztere an die Seite des Kaisers trieb, was aus Sicht des Landgrafen den Verrat nur noch schlimmer machte. Als der Ausnahmezustand von Exil und Besatzung jedoch 1625 zu Ende ging und die Eskalation gestoppt werden musste, wurde u. a. auch die Verratssemantik in gegenseitigem, wenngleich stillschweigendem Einvernehmen aufgegeben und das Handeln der Ritter von Seiten des Landgrafen in juristischen Begriffen neu definiert, während die Ritter sich darauf verlegten, ihre Treue und Gehorsamsbereitschaft zu betonen. Der Konflikt bestand weiter, aber der Verratsvorwurf war aus der Welt.59 Wie lässt sich dieser Fall nun als Erkenntnismittel nutzen, welche allgemeinen Erkenntnisse lassen sich aus ihm gewinnen  ? Es wird häufig argumentiert, dass die Verwendung des Deutungsmusters ›Verrat‹ im Feld des Politischen zunimmt, wenn sich die Akteure in diesem Feld immer intensiver als Feinde und nicht mehr als Getreue, Alliierte oder Gegner begreifen. Das ist nachvollziehbar, denn zum Verrat gehört immer auch derjenige, an den man verrät, und das ist typischerweise eben ›der Feind‹.60 Wer also den Eindruck hat, immer mehr Feinden gegenüberzustehen, für den wird Verrat immer wahrscheinlicher, und je intensiver die Feindschaft ist, desto schlimmer auch der mögliche Verrat. Solche Zusammenhänge sind für so unterschiedliche Fälle wie die Herrschaft der Tudors in England und die Weimarer Republik beschrieben worden.61 Der hessische Fall weist hingegen, überspitzt gesprochen, darauf hin, dass man sich solche Deutungsmuster, also Feindschaft und Verrat, auch ›leisten‹ können muss oder will, denn mit Feinden und Verrätern, den Unterstützern der Feinde, kann man eigentlich keine wie auch immer gearteten Beziehungen unterhalten. Kurz  : 59 Zum weiteren Konfliktverlauf vgl. Neu, Die Erschaffung der landständischen Verfassung, 308–323. 60 Vgl. die oben zitierten Verratsdefinitionen des Treason Act und des Allgemeinen Landrechts für die preussischen Staaten. Für die genuin ›politische‹ Unterscheidung von Freund und Feind vgl. klassisch Schmitt, Der Begriff des Politischen. 61 Vgl. Smith, Treason in Tudor England  ; Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung, 363.

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Wer jemanden einen Verräter nennt und daran festhalten will, der muss letztlich auf diesen verzichten können. Dieser Zusammenhang von Verrat und Verzichtbarkeit lässt sich nun als Indikator nutzen, um – bei aller Vorsicht – einige allgemeine Aussagen zu treffen. Im Hessen des frühen 17.  Jahrhunderts konnte es sich, wie gezeigt, keine der beiden Konfliktparteien leisten, auf die andere völlig zu verzichten und endgültig mit ihr zu brechen. Und genau deswegen war die Verratssemantik so gefährlich und wurde daher von den Beteiligten noch während des Konflikts wieder aufgegeben  – in ihrem eigenen Interesse. So ungewöhnlich sich diese Konfiguration auch in Hinblick auf das allgemeine Verratsthema ausnehmen mag, so lässt sie ein typisches Merkmal der frühneuzeitlichen politisch-sozialen Ordnung erkennen  : Im Rahmen der meisten europäischen Gemeinwesen waren die Monarchen und die politisch führenden Stände, vor allem der Adel, fundamental aufeinander angewiesen, weshalb man diese Herrschaftsordnung auch zu Recht ›ständische Monarchie‹ nennen kann. Weder die Fürsten noch die einzelnen Stände verfügten in der Regel über genügend eigene Machtmittel, um eine ganze politische Führungsgruppe ausschalten und auf deren Leistungen verzichten zu können, ohne den Bestand des Gemeinwesens zu gefährden.62 Für Einzelpersonen galt dies wohlgemerkt nicht  ; diese waren in der Regel verzichtbar, wenn sie es nicht vermochten, ihren eigenen Stand hinter sich zu versammeln. Dieses prinzipielle Aufeinander-angewiesen-Sein verhinderte politische Konflikte zwar nicht  – trotz aller sozialromantischen Phantasien der Moderne –, aber es setzte ihnen doch Grenzen. Auseinandersetzungen zwischen Monarchen und den politisch bevorrechtigten ständischen Gruppen wurden daher zumeist unter der allseits geteilten Vorannahme geführt, dass die Parteien auch während des Konflikts Teil derselben Herrschaftsordnung blieben und nach einer Einigung im Rahmen dieser Ordnung wieder kooperative Beziehungen zueinander unterhalten würden.63 Diese Vorannahme wurde auch noch dadurch bestärkt, dass Herkommen, Tradition und Kontinuität zentrale Eckpfeiler der frühneuzeitlichen politischen Kultur waren. Bedenkt man nun die auf Eskalation und Trennung drängende Eigendynamik des Deutungsmusters ›Verrat‹, dann unterstreicht die Tatsache, dass in Hessen-Kassel 1625 alle Beteiligten von sich aus von diesem abrückten, deutlich die geschilderten Eigenschaften frühneuzeitlicher ›Staatlichkeit‹. 1962 standen dem Staat jedoch ganz andere Machtmittel zur Verfügung, und anders als Moritz von Hessen-Kassel rückte die Bundesregierung in der Spie62 Vgl. statt vieler nur Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 183–189, und Asch, Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit, 235–274. 63 Für den hessischen Fall vgl. Neu, Die Erschaffung der landständischen Verfassung, 450.

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gel-Affäre keineswegs selbst von den Landesverratsvorwürfen ab. Nun könnte man die Affäre im Kern für eine Fehde zwischen Verteidigungsminister Strauß und einem Nachrichtenmagazin halten, also um einen Konflikt zwischen Einzelakteuren, der dem hier untersuchten Typus des Konflikts zwischen ganzen politischen Führungsgruppen nicht entspricht. Allerdings rückte die Bundesregierung auch dann nicht von den Vorwürfen ab, als sich fast die gesamte bundesdeutsche Presse mit dem Spiegel solidarisiert hatte  – sie musste von den Gerichten dazu gezwungen werden. Mehr noch, ein durchgehendes Merkmal der von Adenauer geführten Regierungen lag in dem »Bestreben […], die Massenmedien ihrer Kontrolle zu unterwerfen«64. Da also die führenden Köpfe der »Kanzlerdemokratie«65, allen voran der autoritär regierende Adenauer selbst, eine kritische Presseöffentlichkeit für verzichtbar hielten, kann es im Licht der am hessischen Fall herausgearbeiteten Zusammenhange kaum überraschen, dass gegenüber kritischen Blättern dann auch die Verratssemantik eingesetzt wurde. Da also der Rede vom Verrat häufig genug die Vorstellung zugrunde liegt, auf den ›Verräter‹ könne auch gut und gerne verzichtet werden, sollten lautstark erhobene Verratsvorwürfe überzeugte Demokraten immer stutzig machen – egal um wen es geht. Quellen Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, hrsg. v. Hans Hattenhauer, Neuwied/ Berlin 31996. BGH, Beschluß vom 13.5.1965 – 6 StE 4/64. BGH, Urteil vom 13.3.1967 – III ZR 28/64. BVerfG, Teilurteil vom 5.8.1966 – 1 BvR 586/62, 610/63, 512/64. Engelhard, Regnerus, Erdbeschreibung der Hessischen Lande Casselischen Antheiles mit Anmerkungen aus der Geschichte und aus Urkunden erläutert, Bd. 1, Kassel 1778. Hessische Landtagsabschiede 1605–1647, hrsg. v. Günter Hollenberg (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 48, 10  ; Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen 33), Marburg 2007. Treason Act 1351, 25 Edw. 3, stat. 5, c. 2, http://www.legislation.gov.uk/aep/Edw3Stat5/25/2 (5.5.2018). Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, 4. Wahlperiode, Bd. 51, Bonn 1962.

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64 Hodenberg, Konsens und Krise, 153. 65 Vgl. ebd. und allgemein Doering-Manteuffel, Strukturmerkmale der Kanzlerdemokratie.

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Könige als Verräter  ? Die Hinrichtungen Karls I. von England und Ludwigs XVI. von Frankreich als blutige Übergangsrituale republikanischer Staatsgründung

Kann man einen König als Verräter an seinem Volk vor Gericht ziehen und verurteilen  ? Wir mögen heute, in der Zeit eines internationalen Menschenrechtsgerichtshofs, geneigt sein, diese Frage zu bejahen. Nimmt man indes England bzw. die europäischen Monarchien insgesamt zu Beginn des 17. Jahrhunderts ins Visier, ergibt sich ein anderes Bild. Der König saß auf Gottes Thron auf Erden (Ps.  82), galt den Kronjuristen und den Hofgeistlichen als Gesalbter des Herrn und damit als unantastbar. Auch und gerade das Common Law bot in England keine Handhabe, um einen König vor Gericht zu ziehen. Hochverrat war dort seit einem Gesetz Edwards III. aus dem Jahr 1352 definiert als Anschlag auf das Leben des Königs, der Königin, des Thronfolgers, eines weiteren Mitglieds der Königsfamilie oder eines hohen königlichen Amtsträgers während der Ausübung seiner Amtshandlungen. Ferner zählten dazu Kriegshandlungen gegen den König auf dessen Herrschaftsgebiet oder Parteinahme für einen erklärten Kriegsgegner des Königs und die Fälschung von Münzen oder dem Großen Siegel.1 Im Kern war die Anklage wegen Hochverrats in England stets verbunden mit dem Vorwurf des Königsmords bzw. mit Handlungen, die das Leben des Königs, seiner engsten Familie und seiner hohen Amtsträger gefährdeten. Wie hätte der König an einem Komplott gegen sein eigenes Leben schuldig werden können  ? Im Folgenden geht es um die Frage, wie es trotz dieser Rechtstradition möglich war, Karl I. im Januar 1649 als Hochverräter schuldig zu sprechen. Es wird dabei zu klären sein, wer genau den Vorwurf des Hochverrats erhob bzw. für die Anbahnung und die Durchführung des Prozesses gegen den König verantwortlich zeichnete und die Hinrichtung Karls I. propagierte. Es geht zweitens darum, wie man den König zum Verräter stempelte, mit welchen Verfahren und mit welchen Argumenten man diesen Bruch mit der englischen Rechtstradition und den Prinzipien der Monarchie legitimierte. Und drittens geht es um die Frage, warum die Fürsprecher einer Hinrichtung mit großer Entschiedenheit diesen 1 Statutes at Large, Bd 1, 261 f. Vgl. ferner Orr, Treason, 11–29.

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politischen Kurs verfolgten, der ihnen weder in England, Schottland und Irland noch auf der europäischen Bühne großen Applaus einbrachte. Schließlich soll in einem kurzen Ausblick gezeigt werden, wie der Prozess gegen Karl I. während der Französischen Revolution plötzlich von manchen Revolutionären als Vorbild dafür entdeckt wurde, wie mit einem unliebsamen König zu verfahren sei.

Der englische Bürgerkrieg und die Erosion der königlichen Herrschaft Die Hinrichtung Karls I. vor den Mauern seines Königspalastes in Whitehall am 30. Januar 1649 steht am Ende einer langen Folge von Ereignissen, mit denen die Königsherrschaft Karls  I. untergraben wurde. Der Ausbruch der schottischen Rebellion im Sommer 1637 markiert den Anfang eines Bürgerkrieges, in dem verschiedene Akteure in allen drei Ländern der Stuartmonarchie – seit 1641 in Irland und zuletzt seit 1642 in England – die Herrschaft Karls I. offen herausforderten. Ohne den lang dauernden, blutigen Bürgerkrieg wäre die Hinrichtung Karls I. kaum denkbar gewesen. Zugleich gilt aber auch  : Die Initiatoren notfalls gewaltsamen Widerstands gegen Befehle Karls I. verfolgten zu keiner Zeit das Ziel, Karl I. vor Gericht zu ziehen, und noch weniger war die Abschaffung der Monarchie ihre Absicht. Den schottischen Aufständischen, die sich alsbald unter dem Namen Cove­ nanters politisch formierten, ging es darum, das Ideal einer vollständig reformierten Kirche in Schottland in die Tat umzusetzen, d. h. die schottische Kirche als presbyterianische Kirche zu bewahren und ihre Angleichung an die englische Bischofskirche und die Einführung der englischen Gottesdienstordnung, des book of common prayer, zu verhindern. Den Mitgliedern des englischen Langen Parlaments, das seit November 1640 kontinuierlich tagte, ging es vor allem darum, mit der »personal rule« Karls I. zu brechen, also mit dem durchaus erfolgreichen Versuch des Königs, England ohne das Parlament zu regieren.2 Hierzu zogen sie demonstrativ zwei der am meisten verhassten Amtsträger des Königs aus dem Verkehr und machten ihnen im Parlament den Prozess. Dabei beschnitten sie zahlreiche königliche Prärogativrechte, um eine zukünftige Königsherrschaft ohne Zustimmung des Parlaments zu verhindern. Hierzu annullierten sie die Religionspolitik Karls I., die von ihnen als Entfremdung Englands vom Protestantismus gedeutet wurde und ihnen daher ein Dorn im Auge war.

2 Zur positiven Einschätzung dieser Herrschaftsweise vgl. Sharpe, Personal Rule.

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Abbildung 1  : Eine im deutschen Sprachraum erschienene Darstellung der Hinrichtung Karls I., ca. 1649.

Wieso kam es im ›unrevolutionären England‹3 überhaupt dazu, dass das Parlament sich eine eigene Armee zulegte und gegen die Truppen des Königs mobil machte  ? Hierzu bedurfte es eines äußeren Anlasses, des katholischen Aufstands in Irland. Mit diesem Aufstand gingen die schlimmsten Befürchtungen einher. Neben die Meldungen von Massakern an den Protestanten in Irland trat die Angst, der König könne mit den Iren gemeinsame Sache machen und damit die vom Parlament betriebene politische Neuausrichtung gewaltsam beenden, er könne mit Hilfe seiner katholischen, aus Frankreich stammenden Gemahlin Henrietta Maria französische Söldner anwerben und damit Englands Freiheit und Rechtgläubigkeit bedrohen.4 Der Aufbau einer eigenen Armee schien den Aktivisten unter den Abgeordneten des Unterhauses der sicherste Weg, um diesen Gefahren zu begegnen. Sie ließen sich auch von der Weigerung des Königs, 3 Russell, Unrevolutionary England. 4 Hibbard, Charles I.

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solch weitreichenden Forderungen zuzustimmen, nicht beirren. Sie wähnten England im Notstand und sahen sich als berechtigt an, die im Notstand notwendigen politischen Maßnahmen zu treffen, notfalls auch ohne gesetzliche Grundlage und gegen die politische Verfassung des Landes.5 Damit war der Krieg in England unausweichlich geworden. Diese politische Eigendynamik im politischen Handeln der Mehrheit der Unterhausabgeordneten, die Hans-Christoph Schröder treffend mit dem Begriff »Sicherheitsradikalismus«6 umschrieb, änderte jedoch nichts daran, dass es sich auch bei diesen Aufständischen um Fürsprecher der englischen Monarchie handelte und es keinerlei Hinweise dafür gibt, dass die Abgeordneten das Ziel verfolgt hätten, Karl I. den Prozess zu machen oder gar die Monarchie abzuschaffen. Es mag paradox anmuten, doch aus Sicht der Abgeordneten war der Griff zu den Waffen nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Das Ziel war weiterhin, den König zum Einlenken zu zwingen und zu Zugeständnissen zu nötigen, nicht aber, ihn hinzurichten oder sein Amt abzuschaffen. Was diesem Ziel im Wege stand, war allerdings das Misstrauen gegen Karl I. als Person. Ohne Vertrauen in die Person Karls I. war es schwierig, mit dem König Einvernehmen in grundsätzlichen Fragen der königlichen Herrschaftsbefugnisse und der Religionspolitik in England zu erzielen. Diese widersprüchliche Haltung des Parlaments spiegelte sich bei den Generälen der Parlamentsarmee wider  : Auf die kritische Anfrage Oliver Cromwells, weshalb man den König nicht entschiedener attackiere, antwortete dessen Vorgesetzter in der Armee der Eastern Association, der Earl of Manchester  : If we beat the King ninety and nine times yet he is king still  ; but if the King beat us once we shall all be hanged.7 Auch bei einem Anführer der Parlamentsarmee, der gegen Karl I. Krieg führte, war das Bewusstsein stets präsent, dass er sich damit des Hochverrats schuldig machte, nicht aber der König, wenn er mit Gewalt um den Erhalt seiner Herrschaft kämpfte. Sein Widersacher in dieser Auseinandersetzung, Oliver Cromwell, sollte indes ab 1645 zunehmend den künftigen Kurs der Armee bestimmen, die als New Model Army von Sieg zu Sieg eilte. Diese Sieghaftigkeit der Parlamentstruppen war für die Abgeordneten jedoch kein Grund zur Freude. Zwar sahen sie nun die Chance gekommen, mit dem König aus der Position der Stärke heraus zu verhandeln. Zugleich mussten sie jedoch einsehen, dass ihnen mit der Armee ein politischer Konkurrent erwachsen war, der zunehmend eigenständig politische Forderungen erhob. Für die Abgeordneten war die Armee ein Werkzeug, aber 5 Mendle, Parliamentary Sovereignity. 6 Schröder, Revolutionen, 57. 7 Kishlansky, Monarchy Transformed, 162.

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keine legitime politische Stimme in den Auseinandersetzungen. Für zahlreiche Offiziere und Soldaten war die Armee hingegen das eigentliche Sprachrohr der Interessen des englischen Volkes und die Parlamentsmehrheit in deren Augen ähnlich tyrannisch wie vormals der König. Nachdem es 1648 sowohl zu einem Aufstand in zahlreichen englischen Grafschaften als auch zu einer Erhebung der schottischen Truppen gegen England gekommen war – für beides machte die Armeeführung Karl I. persönlich verantwortlich –, rissen die Truppenführer die politische Initiative an sich, nahmen den König gefangen und besetzten London. Für Cromwell und seine Mitstreiter stand seit dem erneuten Sieg über seine Widersacher fest, dass Karl I. als Schuldiger zur Verantwortung gezogen werden musste. Im Parlament war er damit in der Minderheit. Die Abgeordneten nahmen vielmehr im Herbst 1648 erneut Verhandlungen mit Karl I. auf, als wenn nichts gewesen wäre. Das politische Ziel, Karl I. wegen Hochverrats vor Gericht zu bringen, erforderte daher weitere Zwangsmaßnahmen. Die Entschlossenheit der Truppenführer, Karl I. zur Strecke zu bringen, zeigt sich daran, welche politischen Kosten sie auf sich nahmen, um dieses Ziel zu verwirklichen. Die Widerstände gegen einen Prozess gegen den amtierenden König waren schließlich beträchtlich. Die Schotten waren von Beginn an gegen ein solches Verfahren. Karl I. vor Gericht zu stellen bedeutete daher, die Schotten als Bündnispartner zu verlieren, bedeutete die Gefahr eines neuen Krieges zwischen englischen und schottischen Truppen, der dann ja in den Jahren 1650/51 Wirklichkeit wurde. Die Mitglieder des Parlaments waren ebenfalls mehrheitlich gegen ein Gerichtsverfahren gegen den König. Diese Skepsis der Abgeordneten ließ sich nur dadurch überwinden, dass man zum einen das Oberhaus für politisch bedeutungslos erklärte, da deren Mitglieder sich weigerten, eine Anklage des Königs wegen Hochverrat mitzutragen. Zum anderen verwehrten die Befürworter eines Prozesses gegen Karl I. mit einem Gewaltstreich allen Zweiflern den Zutritt zum Unterhaus und ›reinigten‹ das Parlament so von allen Kritikern des eingeschlagenen Kurses. Dieser Putsch wurde als Pride’s Purge bekannt, übrig blieb danach nur noch ein ›Rumpfparlament‹. Man führte Karl I. im Namen des Volkes vor Gericht, ohne die Mehrheit der Volksvertreter hinter sich zu wissen. Cromwell und seine Mitstreiter waren bei all dem die treibende Kraft.

Die politische Theorie der Hochverratsanklage gegen den König Das politische Ziel, sich des Königs zu entledigen, sagt noch nichts aus über die dabei eingesetzten Mittel, über die Argumente, mit denen man zuerst die Rebellion gegen den König und schließlich die Anklage wegen Hochverrats legitimierte.

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Während des Bürgerkrieges war es das oberste Ziel des Parlaments, die Rebellion gegen Karl I. umzudeuten in einen Dienst an König und Vaterland. Hierfür bedurfte es eines kreativen Umgangs mit den geistigen Säulen, auf denen die Monarchie ruhte. Eine dieser Säulen war die Lehre von den zwei Körpern des Königs, der Vorstellung, dass der König die Monarchie nicht nur mit seinem physischen, sterblichen Leib verkörpert, sondern auch den politischen Leib der Monarchie, der niemals sterben oder vergehen könne und dessen Verkörperung nach dem Tod eines Königs unmittelbar von seinem Nachfolger geleistet werde.8 Trotz dieser Unterscheidung des natürlichen und des politischen Körpers galten beide als untrennbar mit der Person des regierenden Monarchen verbunden. Zugleich wohnte dieser Rechtsfiktion im 17. Jahrhundert allerdings die Tendenz inne, den politischen Körper des Königs zunehmend unpersönlich aufzufassen, ihn mit dem Königreich insgesamt, dem realm, gleichzusetzen. Daher machte sich jeder wegen Hochverrats schuldig, der im Königreich einen Aufstand anzettelte, auch wenn der König davon persönlich gar nicht tangiert sein sollte. Der Aufstand galt dem realm, also dem politischen Körper des Königs, und damit dem König selbst. Diese abstrakte Auffassung vom Königreich als politischem Körper des Königs machte sich das Lange Parlament in seinem Kampf gegen Karl I. zunutze. Die Fürsprecher des Parlaments bezogen sich auf Ciceros Maxime, dass das Heil des Volkes das höchste Gesetz sei, und leiteten daraus einen eigenen Handlungsauftrag ab, den politischen Körper, also das Königreich und das englische Volk, im Moment größter Gefahr zu beschützen. Solange der König sich weigere, die zum Schutz des Königreiches notwendigen Dinge mitzutragen, also konkret dem Parlament eine Armee zur Verteidigung Englands zuzugestehen, müsse der politische Körper des Königs zur Not auch gegen den Willen des Königs verteidigt werden  : We fight the king to defend the king, mit dieser Formel sahen die Abgeordneten des Unterhauses ihr Handeln als gerechtfertigt an, diese Devise prangte auch auf manchen Regimentsfahnen der Parlamentstruppen.9 Bekämpft wurde der König dieser Argumentation zufolge nur, da er sich bösen Beratern ausgeliefert habe, die England in eine popish tyranny verwandeln wollten. In dieser Argumentation war nicht der König ein Verräter, und ebenso wenig das Parlament  : Verräter waren allein die bösen Berater, weshalb die Abgeordneten ja auch den zwei prominentesten unter ihnen, dem Earl of Strafford und dem Erzbischof von Canterbury, William Laud, wegen Hochverrats den Prozess machten.10 Das Parlament setzte sich zum Ziel, den König aus dieser  8 Kantorowicz, Zwei Körper, 41–46.  9 Sharpe, Image Wars, 366. 10 Orr, Treason, 61–140.

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›Gefangenschaft‹ zu befreien, um ihn anschließend wieder mit seinem Volk zu versöhnen, wobei die Abgeordneten kriegerische Mittel durchaus als legitim ansahen. Entscheidend ist aber nicht nur, womit das Parlament seine Konfrontationspolitik legitimierte, entscheidend ist auch, welche Argumente das Parlament unterließ. Im Alten Reich, in Frankreich, in Böhmen hatten seit dem 16. Jahrhundert immer wieder Schriften Konjunktur, in denen unterschiedliche Autoren, von ihren Gegnern als ›Monarchomachen‹ verächtlich gemacht, der Tyrannenherrschaft den Kampf ansagten und mitunter sogar einen Tyrannenmord für legitim und notwendig erklärten. Auch englische und schottische Autoren hatten sich während der Regierungszeit Maria Tudors (1553–1558) an dieser Debatte beteiligt. Nimmt man die offiziellen Verlautbarungen des Parlaments und die Traktatliteratur zum Maßstab, so kämpften die Truppen des Parlaments zwar zur Abwehr der Tyrannei, nicht jedoch gegen einen Tyrannen. Auch nach mehreren Jahren blutiger Kämpfe blieben direkte verbale Angriffe auf den König tabu. Nachdem im Sommer 1648 die Armeeführung auch die politische Initiative an sich gerissen hatte, hatte sich auch dieses Tabu erledigt. Das erklärte politische Ziel bestand nun darin, den König zur Verantwortung zu ziehen, wie die Armee in einem Forderungskatalog an das Unterhaus unmissverständlich darlegte. Politische Verhandlungen seien mit dem Angeklagten nicht weiter zu führen. Erst seitdem aufgrund dieser politischen Trendwende der König persönlich zum Ziel der Angriffe wurde, griffen die Gegner des Königs die verbreiteten Topoi der Tyrannenherrschaft auf und brandmarkten Karl I. als Tyrannenherrscher. Dies kam dann auch in der Anklagerede von John Cook gegen den König zum Ausdruck. Karl  I. wurde vorgeworfen, eine unlimited and tyrannical power to rule according to his will angestrebt und dafür Rechte und Freiheiten des englischen Volkes beseitigt zu haben. Ferner habe er Krieg gegen das eigene Volk geführt, seine Hände seien besudelt mit dem Blut unschuldiger englischer Protestanten. Er habe sich auch nicht gescheut, Irish Rebels gegen seine englischen Untertanen ins Feld zu schicken, und all das nur, um seine private Gier nach Macht zu befriedigen, gegen das Wohl des Volkes, auf Kosten von Frieden, Freiheit und Wohlergehen seiner Untertanen.11 In einer im selben Jahr veröffentlichten ausführlichen Anklageschrift versammelte Cook alle Argumente, die eine Hinrichtung des Königs nahelegten. Vor allem anderen stünde dem englischen Volk qua Naturrecht zu, über Karl I. zu richten, der sie zu Sklaven seines Willens herabwürdigen wollte, ohne nach 11 The Constitutional Documents, 371–374.

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Recht und Gesetz zu fragen, der sie aufgrund seiner Grausamkeit mit Krieg und Gewalt überzog. Sich gegen die Bedrohung zur Wehr zu setzen sei ein elementares Menschenrecht, für das es keine formale Gesetzesgrundlage bedürfe  : this is the first necessary Fundamental Law of every Kingdom, which by Intrinsecal rules of Government must preserve it self  ; and this Law needed not to be exprest, That if a King become a Tyrant, he shall dye for it.12

Dieser Anklage folgte das Gericht. John Bradshaw verkündete als Vorsitzender des Tribunals schließlich das Urteil und verhängte über Karl I. die Todesstrafe. Bradshaw und das Tribunal sahen in ihm keinen König, sondern einen Tyrrant, Traytor, a Murtherer, and a Publique Enemy to the Common Wealth of England.13 Die Aktivisten um Cromwell wählten bewusst ein gerichtliches Verfahren, um sich des Königs zu entledigen. Allerdings zeigte sich bereits vor Beginn des Prozesses, dass ein gerichtsförmiges Verfahren keineswegs automatisch auch als rechtsförmig gelten konnte. Um Karl  I. vor Gericht zu ziehen, mussten seine Ankläger und Richter gleich mehrfach gegen die englische Rechtstradition verstoßen. Zunächst und vor allem war gegen den König ohnehin kein Verfahren möglich, kein Gerichtshof vorgesehen, was Karl I. dem Tribunal immer wieder vorhielt, sofern man ihn zu Wort kommen ließ.14 Sieht man Karl  I. aber als oberste Spitze des englischen Hochadels und nicht als König, so hätte sich Karl I. vor der Jury verantworten müssen, d. h. vor dem House of Lords. Da sich im Oberhaus jedoch niemand bereitgefunden hätte, Karl I. den Prozess zu machen, wurde eigens ein neues Tribunal für den Königsprozess einberufen, der High Court of Justice, eingesetzt nur mit der Mehrheit der Abgeordneten des vorher im Pride’s Purge ›gereinigten‹ Unterhauses, ohne Zustimmung des Oberhauses oder gar des Königs. Keine hochadligen Standesgenossen sollten über den König Recht sprechen, sondern 135 bestellte Kommissare, von denen die Hälfte nie zu den Beratungen erschien, während andere nur sporadisch den Sitzungen beiwohnten. Nur 59 Kommissare, also weniger als die Hälfte, haben den Hinrichtungsbefehl unterschrieben, darunter allein acht Verwandte Oliver Cromwells.15 Weder die Art der Einrichtung des Tribunals noch dessen Zusammensetzung und die Art der Verhandlung vermochten dem Verfahren Legitimität zu verleihen. Kevin Sharpe urteilte über den Prozess treffend  : »The Commonwealth

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Cook, King Charls his Case, 22 f. Orr, Treason, 203. The Stuart Constitution, 293. Langomarsino/Wood, The Trial of Charles I, 115.

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Abbildung 2  : Der High Court of Justice.

began its life not with a reputation for justice but – probably among a majority – a reputation for murder.«16 Stattdessen wurde in diesem Tribunal jedoch etwas anderes sichtbar  : Bereits vor der Hinrichtung des Königs beanspruchte das Rumpfparlament mit der Einsetzung des Tribunals die volle Souveränität für sich, abgeleitet vom Anspruch, der eigentliche, ja der einzige Repräsentant des englischen Volkes zu sein.17 Und aus diesem Grund rief das Verfahren gegen Karl I. auch Kritiker wie John Lilburne und die Levellers auf den Plan, die zwar nichts an einem Verfahren gegen den König auszusetzen hatten, wohl aber den Herrschaftsanspruch des Rumpfparlamentes missbilligten.18 Noch bevor das Urteil über den König gefällt war, zeigte sich die Uneinigkeit unter den Befürwortern einer neuen politischen Ordnung. Der Tod des Königs sollte daran nichts ändern. 16 Sharpe, Image Wars, 384. 17 The Stuart Constitution, 292. 18 Lilburne, Englands New Chains, 161.

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Das politische und religiöse Weltbild der ›Königsmörder‹ Welche Gründe haben Cromwell und seine Mitstreiter dazu veranlasst, sich nicht nur des Königs zu entledigen, sondern der Monarchie insgesamt  ? Wieso hat man Karl I. nicht vom Thron abgesetzt, wofür es mit Edward II., Richard II. und Heinrich VI. gleich mehrere Präzedenzfälle gegeben hätte, sondern ihn als König vor Gericht gezerrt  ? Das Urteil gegen Karl I. wegen Hochverrats verurteilte ihn zum Tod aufgrund seines persönlichen Fehlverhaltens. Nach seinem gewaltsamen Tod ging die Königsherrschaft aber nicht auf seinen Nachfolger über, vielmehr wurde die Monarchie insgesamt abgeschafft. Per Unterhausbeschluss wurde die Königsherrschaft am 17. März 1649 in England aufgehoben, alle Erbansprüche der Nachkommen Karls  I. wurden für null und nichtig erklärt. Zur Begründung hieß es  : to have the power thereof in any single person, is unnecessary, burdensome and dangerous to the liberty, safety and public interest of the people.19 Die Hinrichtung Karls  I. markiert daher zugleich den sichtbaren Übergang Englands von einer Monarchie in eine Republik. Diese politische Entscheidung ließ sich nun nicht mehr auf ein persönliches Fehlverhalten Karls I. zurückführen. Vielmehr zeigt sich, dass die Argumente, mit denen man die Hinrichtung Karl I. legitimierte, für die Akteure um Cromwell nicht die Ursache waren, weshalb sie sich ein Ende der Monarchie herbeisehnten. Es bleibt daher die Frage zu klären, welches politische Weltbild es für sie nahelegte, mit der Königsherrschaft in England zu brechen. Interessanterweise lassen die von ihren Gegnern nunmehr ›Königsmörder‹ (regicides) Genannten wenige Neigungen zur Idee eines Republikanismus neorömischer Prägung erkennen. Zwar stammen die profiliertesten republikanischen Staatsutopien aus der königslosen Zeit des Commonwealth. Doch richteten sich diese Konzepte vor allem gegen den Lord Protector Cromwell selbst, dessen Herrschaft von zahlreichen ehemaligen Mitstreitern zunehmend als semimonarchisch empfunden und dementsprechend kritisiert wurde.20 Die Gesinnungsgenossen Cromwells setzten der Monarchie Karls I. nicht das Ideal einer Republik, d. h. einer Selbstbestimmung des englischen Volkes entgegen, sondern das Ideal einer direkten Königsherrschaft Christi auf Erden, wie sie in der Offenbarung des Johannes prophezeiht worden sei.21 So rechtfertigte der Cromwell besonders nahestehende Kaplan John Owen die Hinrichtung Karls I. in einer Fastenpredigt vor dem Unterhaus einen Tag nach diesem Ereignis da-

19 The Stuart Constitution, 306. 20 Worden, English Republicanism. 21 Hierzu ausführlicher Pečar, Karl I.

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mit, dass große Taten Gottes große Erschütterungen unter den Menschen hervorriefen, um dann mit Verweis auf Heb. 12, 26–27 und Dan. 7,27 fortzufahren  : As the days approach for the delivery of the decree, to the shaking of Heaven and Earth, and all the powers of the world, to make way for the establishment of that kingdom whichshall not be given to another people (the great expectation of the Saints of the most high before the consumation of all) so tumults, troubles, vexations and disquietnes, must certainly grow and increase among the sons of men.22

Die Hinrichtung Karls  I. sei daher ein Baustein in Gottes Heilsplan, eine notwendige Erschütterung, um die Königsherrschaft Christi in England zu etablieren. An die Stelle der Monarchie sollte eine chiliastische Theokratie treten, in der Christus zusammen mit seinen Saints auf Erden die Herrschaft übernahm. Cromwell ließ wenig Zweifel daran, dass die Saints niemand anderes seien als er selbst und seine Weggefährten in der Armee. Als Beweis führte er seine zahlreichen Schlachterfolge an, die am besten dokumentierten, dass Gott mit ihnen sei und sie nichts anderes darstellten als die Werkzeuge Gottes auf Erden. Auch der Verrat Karls I. wird von Cromwells Mitstreitern im Rückblick auf grundsätzliche Weise gedeutet. Verrat war nicht mehr allein die Politik Karls I., als Verrat wurde die Monarchie als Herrschaftsform generell angesehen. Die Monarchie galt den Regicides aber nicht vornehmlich als ein Verrat an den Interessen des Volkes. Vielmehr sei mit der Etablierung der Monarchie Gott verraten worden, man habe dessen Königsherrschaft auf Erden Konkurrenz gemacht.23 John Cook, ehemals Chefankläger im Prozess gegen Karl  I., verfasste im Jahr 1651 die Schrift mit dem bezeichnenden Titel Monarchy  : No creature of Gods making. Er zitiert auf dem Titelblatt die Prophetenschrift Hosea 8,4  : Sie setzen Könige ein, aber gegen meinen Willen  ; / sie wählen Fürsten, doch ich erkenne sie nicht an. Und weiter (Hos. 13,9)  : O Israel (O England) Thou wouldst have destroyed thy selfe but in God is help, he will be thy King.24

In diesem auf England applizierten Bibelzitat findet sich die gesamte politische Botschaft der Akteure wieder. Die Monarchie ist eine Abkehr von Gott, da Gottes Herrschaft über sein Volk auf Erden Konkurrenz gemacht wird. Die Rettung verheißt allein die Rückkehr zu Gott  : he will be thy King, dies war das politische 22 Owen, Sermon, A3r. 23 Zu den überwiegend alttestamentlichen Bausteinen dieser Anschauung vgl. Pečar, Macht der Schrift, 244–269. 24 Cook, Monarchy, Frontispiz.

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Ziel der Aktivisten im Umfeld Cromwells, die sich selbst als Saints benannten. Nur wenn Gott auch als König auf Erden über England herrscht, ist sein Reich nahe. In seinem an die Abgeordneten des Unterhauses gerichteten Vorwort nennt Cook die wahren Gründe, weshalb die Errichtung eines Free State für England notwendig gewesen sei. Wer hierfür nur die Unterdrückung und Versklavung des Volkes anführt, gegen die man sich habe zur Wehr setzen müssen, verkenne den wahren Grund. Das Königtum wurde vielmehr abgeschafft, because God commanded them so to doe. Es geschah nicht for the ease of the People, but for a Divine precept. Und weiter  : to suffer Monarchy is to make themselves wiser then God.25 Der Free State war in Cooks Augen kein Mittel zur Etablierung einer Herrschaft des Volkes, sondern notwendige Voraussetzung zur Rückkehr in die Arme Gottes. Der weltliche Thron musste geräumt werden, damit Christus selbst darauf Platz nehmen konnte.

Parallelen zur Französischen Revolution  ? Blickt man zum Schluss auf Frankreich während der Revolution, zeigen sich interessante Parallelen. In Frankreich haben die Revolutionäre im Nationalkonvent zuerst die Monarchie für abgeschafft erklärt und die Republik ausgerufen und dann über das Schicksal Ludwigs XVI. entschieden. Trotz dieser vertauschten Reihenfolge war jedoch auch hier der Tod des Königs das entscheidende Übergangsritual, der symbolische Akt der Staatsgründung Frankreichs als Republik. Als am 21. Januar 1793 der staunenden Menge der abgeschlagene Kopf Ludwigs  XVI. präsentiert wurde, antwortete die Menge mit Vive la Nation  !  – Vive la République  !.26 Mit dem Tod des Königs war Frankreich als Republik neu gegründet worden, die Souveränität sichtbar in die Hand des Volkes übergegangen, so die Botschaft. Auch der Nationalkonvent stand indes vor der Herausforderung, wie man den König zur Rechenschaft ziehen sollte und welcher Argumente man sich dabei bediente. Dabei debattierte man im Nationalkonvent offen die Frage, ob man den König vor ein Gericht stellen oder ihn einfach per Mehrheitsbeschluss zum Tode verurteilen sollte. Für ein politisches Todesurteil ohne Verfahren plädierte Saint-Just und griff dabei Argumente auf, wie sie bereits in der Anklageschrift von John Cook gegen Karl  I. zu finden waren. Saint-Just zufolge sei keine Verhandlung über Schuld und Unschuld zu führen, sondern ein politi25 Cook, Monarchy, fol. a2r-a3r. 26 Furet/Richet, Französische Revolution, 239.

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scher Feind zu bekämpfen. Dieser Kampf sei jedoch nicht auf der Grundlage der bürgerlichen Gesetze Frankreichs auszufechten, die in einem Gerichtsverfahren Entscheidungsgrundlage seien. Vielmehr ginge es um die Rechte des französischen Volkes, die dem Volk qua Naturrecht zustünden. Für Saint-Just steht außer Frage, dass es sich bei Ludwig XVI. um einen Tyrannen und einen Verräter handele. Ein Tyrann sei er, da er die freie Nation Frankreich unterdrückt habe, da seine Verbrechen überall mit dem Blut des Volkes geschrieben sind.27 Ein Verräter Frankreichs sei Ludwig Capet aber allein aufgrund der Tatsache, dass er König gewesen sei  : Jeder König ist ein Rebell und ein Usurpator.28 Saint-Just hält aus diesem Grund die Tötung des einstmaligen Königs für gerechtfertigt, als legitimen Tyrannenmord, den jeder begehen könne wie einst römische Senatoren gegen Caesar  : damals wurde der Tyrann im vollen Senat ermordet, ohne irgendeine andere Formalität als dreiundzwanzig Dolchstiche, und ohne ein anderes Gesetz als Roms Freiheit.29 Saint-Just konnte sich mit seinem Plädoyer für eine sofortige Tötung Ludwig Capets nicht durchsetzen. Auch in Frankreich wurde daher ein Sondertribunal errichtet, das über den König ein Urteil fällen sollte, anders gesagt, es wurde der gesamte Nationalkonvent zu einem Gerichtshof umfunktioniert. Rechtsförmig war dieses Tribunal ebenso wenig wie der High Court of Justice, der über das Schicksal Karls  I. zu befinden hatte. Vielmehr ging es um den Anschein der Rechtsförmigkeit, ging es um die Breitenwirkung, die eine Verurteilung Ludwigs XVI. hatte. Die öffentliche Meinung, so zahlreiche Stimmen im Konvent, fiele besser aus, wenn der König ein ordentliches Verfahren zugestanden bekam. Die Anklage lautete schließlich, ebenso wie im Falle Karls  I., auf Verrat. Grundlage waren Schriftstücke, aus denen die Kontakte Ludwigs  XVI. mit den Gegnern der Revolution erkennbar wurden. Über das Argument des Verteidigers, dass dem König in der Verfassung von 1791 Immunität zugesichert worden sei und dass Ludwig Capet als einfacher Bürger auch dieselben Rechtsansprüche habe wie jeder andere Bürger vor Gericht, sah man großzügig hinweg.30 Die inszenierte Gerichtsförmigkeit unterschied sich im Ergebnis nicht sehr von Saint-Justs Forderung, den Tod Ludwig Capets auf politischem Wege zu beschließen. Daran konnte auch kein Verteidiger für den Angeklagten etwas ändern. Verurteilt wurde der Angeklagte nicht aufgrund offenkundiger Gesetzesverstöße, sondern aus politischen Erwägungen. Eine große Mehrheit befand

27 Reden der Französischen Revolution, 217–225, hier 221. 28 Ebd., 222. 29 Reden der Französischen Revolution, 218. 30 Furet/Richet, Französische Revolution, 233.

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Ludwig Capet des Verrats für schuldig, eine knappe Mehrheit votierte außerdem für die Todesstrafe. Am 21. Januar 1793 wurde das Urteil vollstreckt.

Schluss Es hat Tradition, die englischen Revolutionen (1642–1649 und 1688) und die Französische Revolution miteinander in Beziehung zu setzen und beide als Gründungsereignisse des modernen Europa zu deuten. Auch in der Art und Weise, wie die Revolutionäre sich in England und Frankreich ihrer Monarchen entledigten, sind zahlreiche Parallelen erkennbar. Dies betrifft zum einen die Absicht, den Königen mit einem gerichtsförmigen Verfahren den Prozess zu machen, hierfür aber ad hoc neue Institutionen schaffen zu müssen, da die etablierten Instanzen der Rechtsprechung für einen Prozess gegen den eigenen König  – sei er nun im Amt wie Karl  I. oder bereits für abgesetzt erklärt wie Ludwig XVI. – nicht ausgelegt waren. Dies betrifft zum anderen die Autoritätsquellen, mit denen man den Vorwurf des Verrats und das Urteil der Todesstrafe rechtfertigte. Nicht die positive Rechtstradition der jeweiligen Länder diente als Legitimationsquelle, sondern das Naturrecht wurde bemüht, gepaart mit Anleihen am Antityrannendiskurs, der bis in die Antike zurückreicht. In beiden Fällen ließen die Ankläger außerdem keinen Zweifel daran, dass es letztlich politische Gründe waren, die eine Exekution des Königs unausweichlich machten, dass der König als Feind des Volkes definiert wurde und daher zu bekämpfen sei. Als Volksfeinde hatten sowohl Karl I. als auch Ludwig XVI. in den Augen ihrer Ankläger und Richter ihr Lebensrecht verwirkt. Der Vorwurf des Verrats machte es möglich, die Könige zu Volksfeinden zu stempeln und damit aus der Gemeinschaft der Nation, die gerade das politische Bewusstsein erlangt habe, so die Überzeugung der Revolutionäre sowohl in England im Jahre 1648 als auch in Frankreich im Jahr 1792/93, auszustoßen. Bei allen Parallelen sollte man die Unterschiede zwischen beiden Ereignissen nicht außer Acht lassen. Der größte Unterschied bestand sicherlich darin, welcher politische Sinn der Abschaffung der Monarchie von den Akteuren jeweils zugeschrieben wurde, welche politische Utopie damit verbunden war. In England wird man die Handlungen der Regicides nicht erklären können, wenn man nicht deren religiöses Weltbild in die Betrachtungen mit einbezieht. Ihr nach außen getragenes Selbstverständnis, als Saints zu agieren, war mehr als nur eine Bemäntelung brutaler Machtinteressen. Vielmehr speiste sich der Legitimitätsglauben der Handelnden ganz wesentlich aus der Vorstellung, am Ende der Zeiten zu stehen und mit den eigenen Taten die Etablierung der Königsherrschaft Christi auf Erden zu befördern. Diese Vorstellungswelt der Akteure steht auch

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allen Versuchen im Wege, die englische Revolution als Gründungsmoment der Moderne aufzufassen. In der Französischen Revolution war die politische Vorstellungswelt der Akteure sicherlich eine andere, spielten Vorstellungen einer Königsherrschaft Christi keine Rolle mehr. Wohl aber hat man es hier mit einer säkularen Spielart endzeitlicher Hoffnungen zu tun, die insbesondere mit Hilfe der Freiheits- und Tugendrhetorik weltverändernde Kräfte mobilisieren konnten. Für Könige war in beiden Weltbildern kein Platz mehr. Und ob man in ihnen nun Verräter Gottes erblickte oder Verräter des Volkes, das Schicksal, dem Karl I. und Ludwig XVI. entgegengingen, war in beiden Fällen dasselbe. Quellen Cook, John, King Charls his Case, or, an Appeal to all Rational Men, Concerning his Tryal at the High Court of Justice, London 1649. Cook, John, Monarchy, No Creature of Gods Making, Wherein is Proved by Scripture and Reason, that Monarchicall Government is against the Mind of God, Waterford 1651. Reden der Französischen Revolution, hrsg. v. Peter Fischer, München 31989. The Constitutional Documents of the Puritan Revolution 1625–1660, hrsg. v. Samuel  R. Gardiner, Oxford 31906. The Stuart Constitution 1603–1688. Documents and Commentary, hrsg. v. John P. Kenyon, Cambridge 21986. The Trial of Charles I. A Documentary History, hrsg. v. David Langomarsino/Charles T. Wood, Hanover (NH) 1989. Lilburne, John, Englands New Chains Discovered, in  : The Leveller Tracts, 1647–1653, hrsg. v. William Haller/Godrey Davies, ND Gloucester (MA) 1964. Owen, John, A Sermon Preached to the Honourable House of Commons, in Parliament Assembled. On January 31, A Day of Solemne Humiliation, London 1649. The Statutes at Large, 18. Bde., London 1763–1800.

Literatur Furet, François/Richet, Denis, Die Französische Revolution, Frankfurt a. M. 1987. Hibbard, Caroline M., Charles I and the Popish Plot, Chapel Hill (NC) 1983. Kantorowicz, Ernst, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990. Kishlansky, Mark, A Monarchy Transformed. Britain 1603–1714, London 1996. Mendle, Michael, Parliamentary Sovereignity. A Very English Absolutism, in  : Political Discourse in Early Modern Britain, hrsg. v. Nicholas Phillipson/Quentin Skinner, Cambridge 1993, 97–119. Orr, D. Alan, Treason and the State. Law, Politics and Ideology in the English Civil War, Cambridge 2002. Pečar, Andreas, Macht der Schrift. Politischer Biblizismus in Schottland und England zwischen Re-

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Andreas Pečar

formation und Bürgerkrieg (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 69), München 2011. Pečar, Andreas, Warum mußte Karl I. sterben  ? in  : Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm, Praxis, Repräsentation, hrsg. v. Christoph Kampmann, Köln/Weimar/Wien 2013, 235–250. Russell, Conrad, Unrevolutionary England 1603–1642, London 1990. Schröder, Hans-Christoph, Die Revolutionen Englands im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986. Sharpe, Kevin, The Personal Rule of Charles I., New Haven/London 1992. Sharpe, Kevin, Image Wars. Promoting Kings and Commonwealths in England 1603–1660, New Haven/London 2010. Worden, Blair, English Republicanism, in  : The Cambridge History of Political Thought, 1450–1700, hrsg. v. J. H. Burns/Mark Goldie, Cambridge 1991, 443–478.

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1  : Eine im deutsche Sprachraum erschienene Darstellung der Hinrichtung Karls  I., ca. 1649, National Portrait Gallery, London, D1306. Abbildung 2  : Der High Court of Justice, aus  : John Nalson, A true copy of the journal of the High Court of Justice, for the tryal of K. Charles I., London 1684, Folger Shakespeare Library, Nr. 16471.

Tilman Haug

»Eine Unvereinbarkeit der Chargen«  ? Wilhelm von Fürstenberg (1629–1704) als Verräter an Kaiser und Reich Am 14.  Februar 1674 ereignete sich an einem Hohlweg außerhalb von Köln Ungeheuerliches  : Der kurkölnische Minister und Diplomat Fürst Wilhelm von Fürstenberg kehrte gerade von einem Besuch bei der Gräfin Marck, die mit seinem Neffen verheiratet und, glaubt man bösen Zungen, zugleich Fürstenbergs Mätresse war, zurück. Plötzlich wurde er in seiner Kutsche von adeligen kaiserlichen Offizieren überfallen und beschossen. Fürstenberg hatte einen solchen Überfall offenbar vorhergesehen und für diesen Fall eigens eine bewaffnete Leibgarde angeheuert. Es kam zu einer dramatischen Schießerei. Am Ende blieben Fürstenbergs Kutscher und einer der kaiserlichen »Cavalliere« tot im Straßengraben zurück. Fürstenbergs ungeschicktem Versuch, sich dem Zugriff durch einen beherzten Sprung aus der Kutsche zu entziehen, war kein Erfolg beschieden. Ein kaiserlicher Offizier bemächtigte sich seiner und bedrohte ihn mit dem Degen. Schließlich wurde der Gefangene rheinabwärts auf eine lange Reise in die österreichischen Erblande geschickt, wo er für die nächsten fünf Jahre das gewohnte diplomatische Parkett mit der Gefangenschaft in wesentlich bescheideneren Räumlichkeiten vertauschte. So wusste es jedenfalls das Theatrum Europaeum, ein seit der Mitte des 17. Jahrhunderts erscheinendes zeitgeschichtliches Kompendium, zu berichten. Aber warum ließ der Kaiser so offene und brutale Gewalt gegen einen Fürsten des Reiches anwenden  ? Auch darauf hatte das Theatrum Europaeum eine Antwort  : Fürstenberg sei um seiner mit Franckreich gepflogenen gefährlichen Verständnisse willen gefangengesetzt worden. Er habe wider Ihr. Kayserliche Majest. und das Reich gefährliche Anschläge machinirt, seinen Herren mit gefährlichen consiliis fehlgeleitet, zu allem Überfluss auch noch schimpflich und übel wider Ihr. Kayl. Maj. bey Mahlzeiten/ und auch bey anderen Zusammenkünfften geredet.1 1 Theatrum Europaeum oder außführliche und wahrhafftige Beschreibung aller und jeder denkwürdiger Geschichten  VIII, 1657–1661, beschrieben durch Georg Schleder, Bd.  11, Frankfurt a. M. 1682, 489, 492. Der vorliegende Beitrag orientiert sich eng an den Ausführungen zu dem hier behandelten Fallbeispiel in meiner Dissertation, siehe Tilman Haug, Ungleiche Außenbeziehungen und grenzüberschreitende Patronage. Die französische Krone und die geistlichen Kurfürsten (1648–1679), Köln/Weimar/Wien 2015, v.a. S. 417–449.

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Tilman Haug

Aber wer war dieser Wilhelm von Fürstenberg, und warum unterstellte man ihm solch ruchlosen Verrat und eine Verschwörung wider Kaiser und Reich  ?

Stichworte zur Biographie Fürstenbergs Wilhelm Egon von Fürstenberg stammte aus einem weit verzweigten schwäbischen Grafengeschlecht.2 Nach dem Tode des Vaters, der als Obrist in bayerischen Diensten stand, 1635 wurden Franz Egon und sein älterer Bruder in die Obhut des aus dem Hause Wittelsbach stammenden Kölner Kurfürsten Ferdinand, einem Bruder des bayerischen Kurfürsten Maximilian, gegeben. Sie sollten dort auf eine geistliche Karriere vorbereitet werden. Der älteste Bruder Ferdinand Friedrich kam an den Kaiserhof, der jüngste Hermann Egon ging an den bayerischen Hof nach München. Dies alles folgte einer seit dem späten 15.  Jahrhundert eingespielten Familientradition. Die Angehörigen des Hauses Fürstenberg orientierten sich nämlich traditionell bei ihrer »Karriereplanung« an den Habsburgern und an den bayerischen Wittelsbachern zugleich. Bereits unter Ferdinand von Köln, vor allem jedoch unter dessen exzentrischem Nachfolger Max Heinrich stiegen Franz und Wilhelm von Fürstenberg bald zu den einflussreichsten Ministern und Gesandten des Kölner Kurfürsten auf. In dieser Position sorgten sie allerdings schon bald für einen folgenreichen Bruch der fürstenbergischen Familientradition  : Beide waren spätestens seit der Kaiserwahl von 1657/58, bei der man auf französische Initiative hin versuchte, den Habsburgern ihr faktisches Monopol auf die Kaiserkrone zu entreißen, zu einem festen Bestandteil der habsburgfeindlichen französischen Diplomatie im Reich geworden. Sie konnten als die wichtigsten Agenten und Vermittler französischer Reichspolitik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert gelten. Dabei stellten sie ihre Rolle als Ratgeber und Vertraute des Kölner Kurfürsten und ihre zahlreichen Kontakte im gesamten Reich in die Dienste Frankreichs. Vor allem Wilhelm von Fürstenberg instrumentalisierte zum einen seine informellen Einflussmöglichkeiten, trat aber auch ganz offiziell als französischer Unterhändler auf. Im Gegenzug erhielten die Brüder neben reichen Pensionengeldern auch Zugriff auf kirchliche Pfründe. 1663 gelang es Franz Egon beispielsweise mit großzügiger französischer Unterstützung zum Bischof von Straßburg gewählt zu werden.

2 Zur (politischen) Biographie Wilhelm von Fürstenbergs, vgl. Braubach, Wilhelm von Fürstenberg  ; O’Connor, Negotiator.

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Erbfeind und Verräter  : Die Frankreichbindungen in der älteren Forschung Es ist kein Wunder, dass die Brüder Fürstenberg in der älteren nationalistisch geprägten deutschen Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts »schlechte Presse« bekamen. Die Kooperation mit dem französischen »Erbfeind« wurde als korrupte Amtsführung und als Verrat verurteilt. Sie leisteten einer aggressiven französischen Reichspolitik Vorschub und galten als Mitschuldige am Ausverkauf vitaler Interessen des Reiches. »Unter solchen Werkzeugen der französischen Politik, solchen Verräthern an deutscher Ehre und deutschem Namen stehen allen oben an die Brüder Franz Egon und Wilhelm Egon von Fürstenberg-Heiligenberg«, schrieb etwa Leonhard Ennen 1856 in seiner Geschichte Kurkölns.3 Solches Handeln war aber nicht nur die moralische Verfehlung einzelner. Denkhintergrund solcher Deutungen war die Annahme, dass das Alte Reich nach dem Westfälischen Frieden 1648 an mangelnder Staats- und Nationsbildung krankte, was dem französischen »Erbfeind« umfangreiche Einflussspielräume in einer sich auf einem historischen Tiefststand befindlichen politischen Kultur des Alten Reiches eröffnete. In der aus den geistlichen Staaten bestehenden »Pfaffengasse« am Rhein sah der protestantische (Wahl)Preuße Heinrich von Treitschke »ein Gewirr winziger Staaten, unfähig jeder ernsthaften Kriegsrüstung, durch das Gefühl der Ohnmacht zum Landesverrate gezwungen«. Daher hätten »fast alle rheinischen Höfe […] Pensionen aus Versailles« erhalten.4 Unter diesen Umständen gerierten sich gerade die Brüder Fürstenberg und andere als »Führer des katholischen Westens im Reich, welcher […] allmählich einem unheimlich stillen Sumpfgewässer nicht unähnlich wurde, in welchem man herrlich im Trüben fischen konnte«.5 Offenbar vor dem Hintergrund moderner bürokratischer Vorstellungen von Verwaltung und nationaler Zugehörigkeit urteilte auch der mit den politischen Verhältnissen der Epoche bestens vertraute Bonner Historiker Max Braubach kurz nach dem Zweiten Weltkrieg über die Frankreichbindung der Brüder Fürstenberg, dass der »merkwürdige Pakt zweier deutscher Grafen, die als solche dem Reich und zudem als Minister dem Kurfürsten von Köln verpflichtet waren, mit einer fremden Krone keines weiteren Kommentars« bedürfe.6

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Ennen, Frankreich und der Niederrhein, 156 f. Treitschke, Deutsche Geschichte, 20 f. Joachim, Die Entwicklung des Rheinbundes, 61. Braubach, Der Pakt der Brüder Fürstenberg, 41.

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Multiple Loyalitäten in den Außenbeziehungen des 17. Jahrhunderts Ohne eine moralische Bewertung und ohne Maßstäbe eines modernen »Staatsdienstes« anzulegen, muss zunächst konstatiert werden, dass es sich bei den Praktiken der Brüder Fürstenberg in der Mitte des 17. Jahrhunderts prinzipiell um weithin akzeptiertes politisches Alltagsgeschehen handelte. Dass Fürsten in anderen Herrschaftsgebieten über Agenten und Parteigänger verfügten, die Informationen beschafften oder Entscheidungsträger im Sinne ihrer Auftraggeber »berieten«, betrachteten auch namhafte zeitgenössische Theoretiker der Politik und der Diplomatie wie Jean Bodin oder Abraham de Wicquefort als normal und legitim, solange man dabei nicht zur offenen Rebellion aufrief oder auf andere Weise politischen Schaden anrichtete.7 In den 1650er und 1660er Jahren finden wir daher auch eine weitestgehende Akzeptanz der Frankreichbindung der Brüder Fürstenberg. Ihr Kölner Dienstherr Kurfürst Max Heinrich wusste nicht nur von diesen Verbindungen und von den Geldern, die seine Minister von französischer Seite einstrichen. Er unterstützte sie sogar bei deren Beschaffung, ließ sogar seinen Gesandten Aldenhoven intervenieren, um den Brüdern bei der Einforderung von Außenständen ihrer Pensionszahlungen zu helfen.8 Es ist sicher richtig, dass Max Heinrich kein besonders initiativfreudiger und umsichtiger Herrscher war. Der Kölner Kurfürst zog sich oft tagelang zu obskuren alchemistischen Experimenten in das Kloster St.  Pantaleon zurück. Es verwundert nicht, dass er von seinen Ministern weitgehend »gesteuert« werden konnte. Dies war jedoch sicher nicht der alleinige Grund, warum Max Heinrich die Brüder Fürstenberg gewähren ließ. Für »mindermächtige« Akteure wie einen geistlichen Reichsfürsten war es durchaus politisch und finanziell rational, Minister und Gesandte mit mehrfachen Loyalitäten und Finanzierungsquellen in ihren Reihen zu haben. Für sie war dies ein Mittel, um sich politische Interessenvertretungen im Reich und auf europäischer Ebene überhaupt leisten zu können. Auf dem sich jahrelang hinziehenden Westfälischen Friedenskongress hatte es daher ein System »kooptierter« Finanzierung von Gesandtschaften gegeben, bei dem sich Gesandte auch von ihren Verhandlungspartnern und Verbündeten bezahlen ließen.9 Dies kam nicht nur den Interessen der chronisch unterfinanzierten Gesandten entgegen, sondern diente auch der Entlastung ihrer Dienstherren, die häufig von sich aus 7 Bodin, Les six livres de la république, 871  ; de Wicquefort, L’Ambassadeur, 96 f., 100. 8 Johann von Aldenhoven an Robert de Gravel, Frankfurt, 2.4.1662 (AMAE, CP Cologne 3, fol. 112r). 9 Bosbach, Die Kosten des Westfälischen Friedenskongresses, 212 f.

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kaum in der Lage waren, solche Gesandtschaften zu unterhalten. Die Annahme fremder Gelder bzw. das eigenständige Einwerben von Ressourcen am Dienstort durch die Gesandten erleichterte also nicht zuletzt die Unterhaltung diplomatischer Vertretungen. Die Frankreichbindung der Fürstenbergs gab dem Kölner Kurfürsten aber nicht nur erweiterte politische, sondern auch finanzielle Handlungsspielräume. Von den eigenen mit ungewöhnlich weitgehenden Budgetrechten ausgestatteten Landständen eher kurz gehalten, bezog der Kölner Kurfürst nämlich selbst beträchtliche französische Jahrgelder.10 Mit der Zahlungsmoral der französischen Krone stand es bei solchen Geldtransfers üblicherweise nicht zum Besten. Wilhelm von Fürstenberg, der als »Freund« und »Diener« des Königs auch mit wichtigen Entscheidungsträgern am französischen Hof verbunden war, gelang es in den 1660er Jahren einen regelmäßigen Fluss dieser Summen für seinen Herrn in voller Höhe zu gewährleisten. Bisweilen brachte er sie persönlich in bar nach Bonn. Fürstenbergs Vernetzung am französischen Hof konnte also durchaus auch im Sinne des Kurfürsten gebraucht werden. Unter diesen Umständen hatte Max Heinrich also kaum einen Grund, sich von seinen Ministern verraten vorzukommen. Auch Kaiser Leopold I., der Wilhelm von Fürstenberg in dem geschilderten dramatischen Coup gefangen nehmen ließ, reagierte auf die Brüder Fürstenberg in den 1650er und 1660er Jahren keineswegs wie auf Verräter und Treuebrecher. Und das, obwohl die Fürstenbergs bei der Kaiserwahl von 1657/58 gemeinsam mit den französischen Gesandten alle Hebel in Bewegung gesetzt hatten, um zu verhindern, dass Leopold überhaupt Kaiser wurde. Die Beziehungen zu den Fürstenbergs, deren Angehörige sich seit Generationen auch in habsburgische Dienste begaben und Ländereien in den österreichischen Erblanden besaßen11, waren damit keineswegs in offene Feindschaft umgeschlagen. Die Kaiserlichen schienen vielmehr zu versuchen, der Tätigkeit der Fürstenbergs für die französische Krone die Spitze zu nehmen. Sie boten in der Hoffnung, die fürstenbergische Frankreichtreue abzumildern, insbesondere Franz Egon von Fürstenberg Pensionengelder und kirchliche Güter an. Dabei ließen sie sich auf die ökonomische Logik eines »Patronagemarktes« ein, auf dem es zumindest Anteile an der Loyalität von Akteuren zu erwerben gab. 1664 wurde sogar allen Brüdern Fürstenberg der prestigeträchtige Rang von Reichsfürsten verliehen und so ein Aufstieg in die Beletage des Hochadels im Reich ermöglicht.12

10 Vgl. Hartmann, Geld als Instrument europäischer Machtpolitik, 23. 11 Vgl. Knittler, »Mehrers ein Fürstenthumb als Herrschaft zu titulieren«. 12 Vgl. Decker, Frankreich und die Reichsstände.

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Diese Strategie schien vor allem deshalb Erfolg zu versprechen, weil beide Brüder eine Doppelstrategie fingierten, bei der sich Wilhelm von Fürstenberg als bedingungsloser Frankreichfreund gab, während Franz Egon von Fürstenberg den Eindruck forcierte, einen Teil seiner Loyalität in die Dienste der Habsburger stellen zu wollen. Die Brüder wurden von den Kaiserlichen nicht nur nicht als Verräter betrachtet, ebenso konnten sie politische Konkurrenzverhältnisse so geschickt ausspielen, dass sie mit Hilfe der Kaiserlichen ihren politischen, sozialen und ökonomischen Aufstieg im Reich beförderten.

Veränderte Vorzeichen während des Holländischen Kriegs Ab dem Beginn der 1670er Jahre ging diese Rechnung aber immer weniger auf. Den Brüdern Fürstenberg wehte ein zunehmend feindseligerer Wind ins Gesicht. Dies hing vor allem damit zusammen, dass die Stimmung im gesamten Reich zunehmend gegen das nun immer stärker expansionistisch auftretende Frankreich umschlug und Wilhelm von Fürstenberg sich durch seine Verhandlungstätigkeit bei den nordwestdeutschen Reichsfürsten zur Vorbereitung des französischen Überfalls auf die Niederlande als »Kriegstreiber« in französischen Diensten unbeliebt gemacht hatte. Die Tatsache, dass er seit 1669 ein auch bei diesem Feldzug eingesetztes französisches Armee-Regiment kommandierte, trug nicht gerade zu einer Verbesserung seines Images bei.13 1673 begann der französisch-niederländische Krieg allmählich auf das Reich überzugreifen. Im selben Jahr kam schließlich in der Stadt Köln ein Friedenskongress zustande, der den Konflikt beenden sollte. Schweden und eine als »Dritte Partei« bezeichnete Gruppe von Reichsfürsten versuchten zu vermitteln, wenngleich keine der am Konflikt beteiligten Parteien ein besonderes Friedensinteresse hatte. Die »Dritte Partei« für französische Interessen zu vereinnahmen, wie es der ebenfalls anwesende Wilhelm von Fürstenberg versuchte, war nicht von Erfolg gekrönt. Dennoch war dies der Auslöser, den die Kaiserlichen nutzten, um den immer mehr zum Ärgernis gewordenen Fürstenberg loszuwerden.14 Gleichzeitig war die Attacke auf den exponierten Frankreichfreund Fürstenberg ein deutliches Zeichen für die Entschlossenheit des Kaisers, aktiv in den Krieg einzugreifen. Bis zum Frühjahr 1674 traten dann Kaiser und Reich tatsächlich in einen solchen Kriegszustand mit Frankreich ein.15 13 Vgl. Braubach, Wilhelm von Fürstenberg, 231 f. 14 Decker, Frankreich und die Reichsstände, 216 ff.; vgl. zum Scheitern des Kongresses auch Renaudin, L’échec du congrès de Cologne, 223–249. 15 Aretin, Das Alte Reich, 261 f.

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Wilhelm von Fürstenberg selbst kam erst 1679 nach einer fünfjährigen Gefangenschaft auf freien Fuß. Das Versprechen, das Wilhelm vor seiner Freilassung leisten musste, künftig nicht mehr gegen den Kaiser für den französischen König zu arbeiten, war jedoch rasch wieder vergessen, und Fürstenberg nahm seine französischen Dienste wieder auf. 1689, zehn Jahre nach seiner Freilassung, stand Wilhelm von Fürstenberg erneut im Fokus von Verratsvorwürfen und heftiger publizistischer Kritik.16 Inzwischen zum Kardinal erhoben, versuchte er sich kurz vor dem Tod Max Heinrichs zum Koadjutor und designierten Nachfolger Max Heinrichs wählen zu lassen. Er erlangte zwar eine Stimmenmehrheit, Papst und Kaiser verhinderten jedoch, dass er die Pfründe formell in Besitz nehmen konnte. Diesen Anlass nutzten die Franzosen, um Kurköln militärisch zu besetzen. Unter dem unbehaglichen Schutz eines französischen Besatzungsregimes, versuchte sich Wilhelm in seinen neu erworbenen Territorien einzurichten.17 Der Kaiser und seine Verbündeten waren jedoch entschlossen, diesen Erzbischof und Kurfürsten von französischen Gnaden mit Waffengewalt loszuwerden, und vertrieben Wilhelm und die französischen Garnisonen. Europa stürzte im selben Jahr in einen erneuten Krieg, der neun Jahre dauern sollte. Nach der Episode des Jahres 1689 konnte sich Fürstenberg endgültig nicht mehr im Reich halten. Wilhelm ging seiner kirchlichen Benefizien verlustig und musste sich nach Frankreich absetzen, wo er Abt von St.  Germain-de-Près wurde. 1704 starb er in Paris. Noch heute erinnert die nach ihm benannte »Place de Furstenberg« unmittelbar vor der Abtei an sein Wirken bei ihrer Wiederinstandsetzung. Der Familienzweig Fürstenberg-Heiligenberg, aus dem Wilhelm stammte, starb 1716 mit dem Tod seines Neffen Anton Egon aus. Der Reichsfürstentitel ging auf die Verwandten aus dem Hause Messkirch über. Die Frankreichbindung sollte sich insgesamt als dead end in der Geschichte des Hauses Fürstenberg erweisen. Das gesamte Geschlecht setzte im 18. Jahrhundert die alte Familientradition im Gefolge des Kaiserhauses fort – diesmal eindeutiger und enger als in früheren Jahrhunderten.18 Dass einer der Ahnen im Geruch von Verrat an Kaiser und Reich stand, war ein Makel im Bild des habsburgtreuen Adels-

16 Iriniphilus Nugaeserius Freymund, Aller Rebellionen Ausgang, Ist der Rebellen Untergang  : Der nach seinem Untergange ringende Fürstenbergische Hochmuth […], s.l. 1689; [Anonymus], Der in einen Abt verwandelte eingebildeter Französischer Churfürst/ worinnen enthalten Viel ­notable Particularitäten von des Cardinals von Fürstenberg Person/ Geburth und geführten Actionen/ Frantzösischen Intriquen […], s.l. 1690; [Anonymus], Wahre Abbildung des durch die Europae­ ischen Potentaten unter Ludwig den XIV. bekriegten Franckreichs […], Köln 1690, v. a. S. 13–15. 17 Braubach, Wilhelm von Fürstenberg, 456–469. 18 Mauerer, Südwestdeutscher Reichsadel.

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geschlechtes, der nach Möglichkeit aus den späteren Familienchroniken getilgt werden sollte.19 Wie aber konnte Wilhelm von Fürstenberg vom akzeptierten oder zumindest tolerierten diplomatischen Vermittler, der zusammen mit seinem Bruder von allen Seiten Gelder und Titel bekam, so schnell zum prototypischen Verräter an Kaiser und Reich werden  ? »Besann« man sich in Zeiten von Krieg und Krise auf einmal zumindest vorübergehend auf jene Normen von nationaler Zugehörigkeit und staatlicher Loyalität, deren Fehlen die Historiker im 19. und 20. Jahrhundert so vehement beklagt hatten  ? Konnte man überhaupt erfolgreich so einfach die Spielregeln ändern und alltägliche diplomatische Praktiken von »Grenzgängern« wie Fürstenberg zum Verrat stempeln und entsprechend bestrafen  ? Diesen Fragen wollen wir im Folgenden anhand der lebhaften Debatten um die eingangs geschilderte spektakuläre Gefangennahme Wilhelms von Fürstenberg nachgehen.

Delegitimierungen konkurrierender Rollen Trotz der wachsenden antifranzösischen Stimmung gerieten die Kaiserlichen unmittelbar nach ihrem Coup gegen Fürstenberg in die Defensive. Offenbar hatte man den Bogen überspannt. Gerade bei den Reichsständen führte die Aktion zu kontroversen Reaktionen.20 Wenn der Kaiser in seiner Reichsstadt einen missliebigen Diplomaten aus dem Verkehr zog, konnte dies dann nicht auch grundsätzlich alle anderen treffen  ? Hier zeigte sich bereits ein erstes Problem bei der Beurteilung und Sanktionierung von Fürstenbergs Verrat. Wogen seine Vergehen wirklich so schwer, dass man andere Rechtsgüter wie den seit dem Westfälischen Frieden als fest etabliert geltenden Schutz von Gesandten an einem neutralen Kongressort aufheben konnte  ? Die kaiserlichen Gesandten in Köln, Fischer und Lisola, mahnten daher ihren Dienstherren, es sei die sach in ein solchen standt khomben, daß man wegen dieses incidentis nit mehr unthetig sein darff.21 Es galt nun, die Aktion entsprechend zu legitimieren, und einer der Gesandten, François Paul de Lisola, wurde mit der Abfassung einer entsprechenden Flugschrift beauftragt. Lisola selbst stammte aus der spanisch beherrschten Freigrafschaft Burgund und war als kaiserlicher Gesandter u. a. in Brandenburg, in England, bei den niederländischen Generalstaaten und kurzzeitig auch

19 Mauerer, Die »Egoniden«, 81–96. 20 von Aretin, Das Alte Reich, 259 f. 21 Fischer und Lisola an Leopold I., Köln, 1.3.1674 (HHStA, Rep. N, 61, pars 1, fol. 88v).

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am spanischen Hof tätig gewesen.22 Wilhelm von Fürstenberg war er in seiner Funktion selbst des Öfteren persönlich begegnet und hatte kein gutes Haar an ihm gelassen. In seiner Korrespondenz hatte er ihn u. a. mit einem Häretiker verglichen.23 Bereits während des zwischen Spanien und Frankreich 1667/68 geführten Devolutionskrieges hatte er sich auch in Flugschriften gegen die französische Politik gewandt.24 1674 versuchte Lisola, zunächst eher knapp gefasst, den kaiserlichen Coup mit kasuistischer Argumentation als gesandtschaftsrechtlich unbedenklich darzustellen. Fürstenberg sei schließlich zum Zeitpunkt seiner Gefangennahme nie als Gesandter anerkannt worden.25 Das ließ nicht nur unerklärt, warum genau man Fürstenberg eigentlich kidnappte. Auch juristisch stand die Argumentation auf reichlich tönernen Füßen. Die meisten Gesandten auf dem Kölner Kongress hatten Fürstenberg nämlich sehr wohl als ihresgleichen anerkannt. Dies schloss auch Lisola selbst mit ein  !26 Er hatte sich von Fürstenberg u. a. eine erste Visite abstatten lassen, was nach dem gängigen Gesandtschaftszeremoniell einer Anerkennung als legitimer Kongressteilnehmer gleichkam.27 An diesen und anderen Ungereimtheiten nahm schließlich der schwedische Esaias Pufendorf in einer vermutlich im französischen Auftrag formulierten Flugschrift Anstoß, in der er die Unrechtmäßigkeit der Aktion gegen Fürstenberg nachzuweisen suchte.28 Lisola sah sich bald gezwungen, einen weiteren, diesmal etwas umfangreicheren Traktat mit dem programmatischen Titel Détention de Guillaume, Prince de Furstenberg, nécessaire pour maintenir l’authorité de l’empereur, la tranquilité de l’empire et pour procurer une paix juste, utile et nécessaire nachzulegen, der später in verschiedene Sprachen übersetzt wurde.29 Lisolas Schrift bediente sich zweier Argumentationsstränge, die sich immer wieder miteinander verbinden sollten  : Zum einen versuchte Lisola seine Behauptung, Fürstenberg sei als Gesandter nie formal anerkannt worden und habe daher auch nie einen entsprechenden Schutz genossen, auf eine breitere Grundlage zu stellen. (Freilich ohne 22 Vgl. Zu Werk und Person Franz von Lisolas Pribram, Franz Paul Freiherr von Lisola (1613–1674). 23 Lisola an Grana, Den Haag, 26.1.1672 (HHStA, KA 148, fol. 397r). 24 Vgl. etwa de Lisola, Bousclier d’Estat et de Justice  ; vgl. zu den Hintergründen Baumanns, Das publizistische Werk, 165 ff. 25 Vgl. de Lisola, Lettre d’un Gentilhomme à un chevalier Anglois. 26 O’Connor, Negotiator, 65. 27 Vgl. Krischer, Souveränität als sozialer Status, 9. 28 So etwa die Publikation einer Bittschrift des schwedischen Residenten Esaias Pufendorf, vgl. ders., Abschrifft Eines Von dem Königl. Schwed. Residenten  ; Zu den die causa Fürstenberg betreffenden Publikationen vgl. Strohmeyer, »Aller Rebellionen Ausgang ist der Rebellen Untergang«, 65–77. 29 de Lisola, Detention de Guillaume  ; vgl. auch die deutschen und lateinischen Übersetzungen  : ders., Gerechte/ nützliche bzw. ders., Guilielmi Principis Fürstembergii Detentio.

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deren sachliche Probleme lösen zu können). Zum anderen argumentierte Lisola, dass Fürstenberg nicht nur formalrechtlich kein Gesandter war, sondern es auch gar nicht sein durfte. Da die Kurfürsten ebenfalls mit geheimen Reichsangelegenheiten befasst seien, dürften ihre Vertreter grundsätzlich keine verdächtige fremde Abhängigkeit pflegen.30 Aus den einander widersprechenden Rollen Fürstenbergs als kaiserlicher Lehnsmann, kurkölnischer Minister, französischer Unterhändler und Oberst ergäbe sich daher schlicht eine Unvereinbarkeit der Chargen in der Person des Fürsten Fürstenberg.31 Damit war Fürstenberg nicht nur formell, sondern auch moralisch als Gesandter delegitimiert. Lisola sprach hier also auch über Normen, denen Gesandte bzw. Amtsträger im Allgemeinen zu entsprechen hätten. Es folgte eine beißend kommentierte Rekapitulation von Fürstenbergs Untaten. Lisolas Traktate waren ein wichtiger Teil einer seit dem späten 17. Jahrhundert über das Reich hinwegschwappenden Welle antifranzösischer Flugschriftenpublizistik.32 Dieses sich gegen die Feinde des Reiches richtende Schrifttum ist in der neueren Geschichtsschreibung als ein wichtiger Katalysator einer frühnationalen, spezifisch deutschen Identität in einem sich immer noch als Universalmonarchie verstehenden Heiligen Römischen Reichs begriffen worden. Für diesen Prozess der Identitätsbildung durch Abgrenzung war auch die Polemik gegen die als »Teutschlinge« und »Teutsche Frantzosen« bezeichneten Parteigänger Frankreichs von Bedeutung. Sie wurden aus einer ideellen reichsdeutschen Identitätsgemeinschaft ausgeschlossen. Titel wie Teutsch-Lands Clag-, Straff- und Ermahnungsrede, An Seine untreuen und verrätherischen Kinder und Autorenpseudonyme wie Germanicus Hanenfeind sprachen hierbei für sich selbst. 33 Solche politischen Pamphlete und ihre Leserschaft bildeten bereits in der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts einen wichtigen Bestandteil einer entstehenden politischen Öffentlichkeit. Die zentralen Akteure, die diesen Meinungsmarkt bedienten oder bedienen ließen, waren jedoch häufig die politisch Verantwortlichen selbst.34 Dies war auch bei der Öffentlichkeitskampagne, die der Kaiserhof zur Begründung der Gefangennahme Fürstenbergs lancierte, der Fall. Dabei versuchte man allerdings weniger eine frühnationale Identitätsgemeinschaft zu konstruieren, aus der Verräter an Kaiser und Reich wie Fürstenberg ausgeschlossen wurden. Zwar machte auch Lisola »deutsch-französische Fron30 de Lisola, Detention de Guillaume, 40. 31 […] incompatibilité des charges en la personne du prince de Furstemberg, de Lisola, Detention de Guillaume, 52. 32 Vgl. hierzu etwa Schillinger, Pamphlétaires allemands  ; Wrede, Das Reich und seine Feinde, 324– 545. 33 Wrede, Das Reich und seine Feinde, 435 ff.; Schillinger, Pamphlétaires allemands, 46. 34 Vgl. dazu etwa Burgdorf, Der intergouvernementale publizistische Diskurs, 75–97.

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ten« auf, verwandte Schlagworte wie die stets gefährdeten libertés allemandes oder verwies auf Fürstenbergs Verfehlungen gegenüber seiner patrie (die aber als ein breiter Überbegriff für alle möglichen politischen Gemeinschaften und Zugehörigkeiten fungieren konnte).35 Zentral war für Lisola jedoch, dass Fürstenberg die vielfachen traditionellen auf personalen Bindungen beruhenden Loyalitäten gegenüber dem Reich, seinem Oberhaupt und seinen Körperschaften gebrochen und verraten und so das Reich an Frankreich »verkauft« habe. Lisola ging es dabei auch, aber nicht nur, um die bereits angesprochenen generationenübergreifenden Dienstverhältnisse der Fürstenbergs gegenüber dem Kaiserhaus. Er führte auch die Beziehungen des Hauses Fürstenberg gegenüber den Habsburgern als Lehens- und Landesherren ins Feld, um Wilhelms Verhalten zu diskreditieren, er hat einen Eid geleistet […] dergestalt dass er durch dieses Mittel gleichsam Erbvasall und Untertan des Territoriums wurde, der dem Kaiser durch mehr als einen Eid verbunden war.36 Vasallentum bezog sich in diesem Fall nicht nur auf die Lehenstreue des Adels im Alten Reich gegenüber dem Kaiser, sondern auch darauf, dass die Fürstenbergs gegenüber den Habsburgern als erbländischen Landesherren durch ihre im frühen 17. Jahrhundert erworbenen Besitzungen in Niederösterreich und Böhmen direkt lehenspflichtig waren.37 Verrat am Reich ließ sich für Lisola nur vor dem Hintergrund solcher traditioneller personaler Beziehungen und der »archaischen« Lehenstreue denken.38 Mit Verweis auf Lehensbeziehungen konnte Lisola dann auch argumentieren, dass Fürstenberg nicht erst den Kaiser verraten habe, als er im Vorfeld des Krieges gegen Frankreich in französischen Diensten verblieben sei. Dies sei vielmehr schon der Fall gewesen, als er es gewagt habe, bei der Kaiserwahl 1657/58 gegen seinen Lehnsherren zu arbeiten.39 Die reichspatriotische Publizistik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts konnte zwar frühnationale Züge annehmen. Lisolas Perspektive entsprach jedoch einem mehr »kaiserpatriotischen« Strang dieses Schrifttums.40 An diesen eher dynastischen Diskurs konnte gerade Lisola, der als Bürger der Stadt Salins in der Freigrafschaft Burgund zugleich Reichsangehöriger und Untertan des spanischen Königs und vom Kaiser für seine Dienste zum Reichsfreiherr geadelt 35 Vgl. de Lisola, Detention de Guillaume, 42 bzw. 43, 100. 36 […] il a fait hommage […] tellement que par ce moyen il est comme vassal hereditaire et sujet du territoire, obligé à l’Empereur par plus d’un serment, de Lisola, Detention, 42. 37 Zu den fürstenbergischen Besitzungen in den Erblanden, vgl. Knittler, »Mehrers ein Fürstenthumb denn als Herrschaft zu titulieren«, 200–217. 38 Zur zentralen Rolle von Lehensverhältnissen während der gesamten Geschichte des Alten Reiches, vgl. Roll, Archaische Rechtsordnung oder politisches Instrument  ? 39 de Lisola, Detention de Guillaume, 62. 40 Zur reichspatriotischen Glorifizierung Kaiser Leopolds, vgl. Schumann, Die andere Sonne.

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worden war, in seinem zunächst französisch, Lisolas Muttersprache, verfassten Text leicht Anschluss finden.41

Verrat an der deutschen Identitätsgemeinschaft  ? Der Fall Fürstenberg aus der Sicht des Kaisers Eine solche Darstellung des Falles Fürstenberg hing allerdings keinesfalls nur an Lisolas nicht sehr deutschen Identitäten. Sie entsprach der Art und Weise, wie man am Kaiserhof selbst mit der Gefangennahme Fürstenbergs umging. Noch während Lisola seinen ersten Traktat zu Papier brachte, hatte der Kaiser bereits seine eigene »Rechtsgüterabwägung« vorgenommen, die deutlich machte, was er als ausschlaggebende Rechtsgrundlage der Gefangennahme Fürstenbergs ansah  : Seine Sanktionsrechte als Feudal- und Landesherr  : Fürstenberg habe die qualitet sonderlich eines erbunderthan also besessen, welche, so Leopold, mit der geburth der Person dergestalt mitgegeben ist, daß sie durch kein anderen Characteren, wer der auch seye […] aufgehebt oder dadurch einem Erbunderthan erlaubt werden könne, wieder seines Erbherrn oder Erblandesfürstens Person oder dessen Stants etwas widerwerttiges oder feindtliches anzuthun.42 Das Reich als deutsche Identitätsgemeinschaft spielte für den Kaiser sichtlich nicht die geringste Rolle. Nicht einmal die Tatsache, dass man Fürstenberg mit den feinjustierten Mitteln des römischen Rechtes eines »Majestätsverbrechens« am Kaiser als Reichsoberhaupt bezichtigen konnte, kam in den Überlegungen des Kaisers zur Sprache.43 Auch die gesandtschaftsrechtlichen Überlegungen, an denen sich Lisola abarbeitete, erklärte der Kaiser intern für zweitrangig. Selbst für den hypothetischen Fall einer Legitimation Fürstenbergs als Gesandter, thäte doch die qualitet des Erbunderthanen, Lehns- und Landtmanns solche […] völlig aufheben.44 Ähnlich gestaltete sich die Position des Hofskanzlers Johann Paul Hocher, der damit betraut wurde, Fürstenberg zu verhören. Hocher führte ebenfalls zunächst die Lehensabhängigkeit und die fürstenbergische Familientradition der Habsburgloyalität ins Feld, die es verbiete, dass ein Sohn von so treuen und mit wirklicher Pflicht zugethan gewesten Eltern dem Kaiser den Rücken kehre. Wilhelm hätte sich als ein geborner Erbunderthan und Vasall des Kaisers zu verstehen, was ihm nicht erlaube, die Treue zum Kaiser aufzukündigen.45 41 Pribram, Lisola, 7 ff. 42 Leopold I. an Fischer und Lisola, Wien, 25.2.1674 (HHStA, Rep. N, 61, pars 1, fol. 45v). 43 Lieberwirth, »Crimen laesae maiestatis«. 44 Leopold I. an Fischer und Lisola, Wien, 25.2.1674 (HHStA, Rep. N 61, pars 1, fol. 46v). 45 Gemeinsames Protokoll. Auch durch ihre Besitzungen in Niederösterreich und Böhmen, waren die

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Lehensverhältnisse hatten für Hocher aber noch weitere Implikationen. Ihm zufolge waren sie es auch, die Fürstenbergs Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich begründeten und ihn zur unverbrüchlichen Loyaliät gegenüber dem Kaiser verpflichteten  : Die Tatsache, dass er aus fürstlichen Stiftern und Lehen des Röm. Reiches zu Cölln und Strassburg […] Beneficien geniesse, bewirke auch, dass er mit dem Röm. Reich glichwolln mit solcher Obligation verbunden seye, dass er folgends Euer Kay  : May  : und dem Röm. Reich trew zu sein habe.46 Wie für Lisola war auch für Hocher das Reich vor allem ein über personale Loyalitäten zusammengehaltener Lehensverband, kein durch territoriale Grenzen oder nationale Zugehörigkeiten definiertes staatliches Gebilde. Fürstenberg wurde aus habsburgischer Perspektive eher ein erweiterter Bruch der Lehenstreue, die Felonie, als ein »Majestästsverbrechen« oder gar eine Form von »Landesverrat« unterstellt.

Fürstenbergs Rechtfertigungen Wilhelm von Fürstenberg selbst sah seine Treuepflicht im Verhör mit Hocher im Übrigen völlig anders  : Er finde dieses alles nicht für so erheblich. An der Tatsache, dass er sich für französische Dienste entschieden habe, sei der Kaiserhof nämlich selbst nicht unschuldig. Man habe ihn lange auf legitimen finanziellen Forderungen sitzen lassen und überdies einen Erbschaftsstreit in der Familie für ihn so ungünstig geschlichtet, dass im allein 400 Reichstaller vorbehalten. Er habe dennoch stets verlangt in die Kayl. Dienste zu komben […], seye aber darvon von dem Fürsten von Auersperg und dem damalligen Spanischen Pottschafter dem Castell Rodrigo verhindert [worden]. Unter diesen Umständen habe er ja nothwendig sein Glükh anderwertig suechen müssen und habe sich in Frankreich begeben.47 Dem Standpunkt Hochers stellte er eine Sichtweise entgegen, der zufolge personale Loyalitäten auch einer »Logik des Marktes« folgen müssten. Traditionelle Loyalitäten gegenüber Lehnsherren und Patronen behielten nur dann ihre Verbindlichkeit, wenn sie regelmäßig durch finanzielle und andere Leistungen erneuert würden. Fürstenberg kontrastierte denn auch das Verhalten der Kaiserlichen mit der Großzügigkeit, die man ihm in Frankreich entgegenbrachte. Man hätte ihm sogleich ein Abbtei von 5000 Cronen ertheilt, ehe er entschlossen Fürstenbergs den Habsburgern als erbländischen Landesherrn lehenspflichtig, vgl. Tumbült, Das Fürstentum Fürstenberg, 125. 46 Gemeinsames Protokoll, 173. 47 Ebd., 171.

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gewesen, sich in französische Dienste einzulassen. Solche Angebote ausschlagen oder darauf zu Gunsten seiner Loyalität gegenüber Kaiser und Reich verzichten, habe er weder wollen noch können, denn, so die entwaffnende Begründung  : die Beneficien weren einmalln zu gross zu gewesen.48 Doch Fürstenberg ging in seiner Verteidigung gegen die Vorwürfe Hochers noch weiter. Er sei schon seit einiger Zeit in Frankreich naturalisiert und damit Untertan des französischen Königs geworden. Daher habe er bey sich keine Obligation mehr gegen E  : K  : M. und dem Röm. Reich gefunden oder erkennet.49 Von Verrat könne also überhaupt keine Rede sein, da er, Fürstenberg, jenem Reich, gegen das er angeblich verräterisch gehandelt habe, als französischer Untertan ja gar nicht mehr angehörte. Dass eine solche Naturalisierung eine rechtlich einwandfreie Möglichkeit war, aus einem politischen Verband aus- und in einen anderen einzutreten, war eine unter Völkerrechtlern und Diplomatietheoretikern gängige, jedoch nicht unumstrittene Ansicht. Der Niederländer Abraham de Wicquefort behauptete etwa, mit dem Treueid gegenüber einem neuen souverain sei man nur noch diesem zur Loyalität verpflichtet, während der vorherige alle Jurisdiktionsrechte verliere.50 Er knüpfte einen solchen Wechsel an die Bedingung, dieser müsse mit der Zustimmung oder der stillschweigenden Erlaubnis des Souveräns des Geburtsortes geschehen.51 Auf den Fall Fürstenberg angewandt, blieben hier aber Fragen über Fragen  : Wer war im Falle eines Reichsangehörigen der Souverän, dessen Erlaubnis eingeholt werden musste  ? Der Kaiser  ? Die Reichsstände  ? Sein Kölner Dienstherr  ? War die langjährige allseitige Akzeptanz der Praktiken Fürstenbergs schon eine stillschweigende Erlaubnis  ? Wicquefort selbst wollte seine Ausführungen trotz der offenkundigen Parallelen zum Fall Wilhelm von Fürstenberg explizit nicht als Rechtfertigung für dessen Verhalten verstanden wissen. Vielmehr erklärte er die zur Zeit der Erstausgabe des Traktats De l’Ambassadeur et ses Fonctions immer noch in lebendiger Erinnerung stehende Angelegenheit für zu komplex, um hierzu Stellung beziehen zu können.52 Im Verhör selbst ließ es sich Fürstenberg ebenfalls nicht nehmen, auf den abrupten und nicht eben konsequenten Gesinnungswandel der Kaiserlichen bezüglich der gegen ihn erhobenen Verratsvorwürfe hinzuweisen. Aufgrund der Tatsache, dass die Kaiserlichen ihn gewähren ließen, ja sich lange genug auf die von Fürstenberg skizzierte ökonomische Logik eingelassen hatten, hätte er stets 48 Gemeinsames Protokoll, 172. 49 Ebd. 50 Vgl. Wicquefort, L’Ambassadeur, 142. 51 Vgl. ebd. 52 Vgl. ebd., 159.

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geglaubt, dass solcher sein Handl und Wandl, auch Euer Kay  : May  : nicht missgefallen haben werde […] und dass er gesehen, dass E  : K  : M  : auch gegen andere vill Sachen nicht geandet und dass er also geglaubet hat, dass die R.[eichs]stände derglichen in Crafft irer Freyheyten und Privilegien thuen könten.53 Allerdings war auch Fürstenberg hierbei inkonsequent  : Denn im selben Zuge, in dem er seine Identität als französischer Untertan hervorhob, der nicht für Verrat an Kaiser und Reich bestraft werden konnte, berief er sich gleichzeitig auf seine Freyheyten und Privilegien als Angehöriger des Reiches.

Die rechtliche Uneindeutigkeit des Falls Fürstenberg Solche Inkonsequenzen verweisen auf ein Vexierspiel mit Identitäten, das symptomatisch war für die Art und Weise, wie im Fall Fürstenberg Verratsvorwürfe erhoben und Strafmaßnahmen erwogen bzw. wie diese zurückgewiesen und verhindert wurden. Ein auffälliger Zug der Maßnahmen gegen Wilhelm von Fürstenberg war, dass es nie zu einem Prozess gegen ihn kommen sollte. Ein solches schwebendes Verfahren lag allerdings gerade nicht im Interesse Fürstenbergs. Er beklagte sich vielmehr, dass der zustandtt in welchen ich mich befinden nicht allein meiner zeithlicher fortuna gantz nehmben sondern auch meine öhr [sic  !] in compromis stellen thätte.54 Fürstenberg brannte geradezu darauf, dass ihm ein Prozess gemacht werde, bei dem er sich und sein Handeln verteidigen konnte. Keinen Geringeren als den berühmten Rechtsgelehrten und frankreichfreundlichen Publizisten Hermann Conring wollte er dafür als Advokaten benennen.55 Dass es nie zu einer Anklage und zu einem Prozess gegen Fürstenberg kommen sollte, verwundert zunächst und lässt sich wohl auch nicht abschließend erklären. Denn Rechtsmittel für einen Verratsprozess waren durchaus vorhanden. Formell konnte man gegen »Rebellen« wie Fürstenberg einzuschreiten, indem man vor dem in Wien sitzenden Reichshofrat einen Prozess zur Verhängung der Reichsacht führte. Seit dem Tod Rudolfs II. im Jahre 1612 war dieses Rechtsmittel außer Gebrauch gekommen.56 Zwar konnte der Kaiser theoretisch auch ohne den Reichshofrat ein Achtverfahren eröffnen. Von dieser Möglichkeit hatte man vor allem beim Vorgehen gegen Wallenstein während des Dreißigjährigen Krieges Gebrauch gemacht, allerdings um den Preis gehöriger Span-

53 Gemeinsames Protokoll,172 f. 54 Wilhelm von Fürstenberg an Hocher, Neustadt, 26.10.1674 (HHStA, Rep. N 61, pars. 2, fol. 253r). 55 Zum Beispiel Braubach, Wilhelm von Fürstenberg, 300  ; O Connor, Negotiator, 70. 56 Landes, Achtverfahren vor dem Reichshofrat, 164 f.

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nungen zwischen Kaiser und Reichsständen.57 Mit der Wahlkapitulation Kaiser Ferdinands III. 1636 war das Verfahren schließlich so modifiziert worden, dass die Zustimmung aller Kurfürsten vor der Verfahrenseröffnung notwendig war.58 Dies war aber nicht nur wegen Fürstenbergs Dienstherrn Max Heinrich problematisch. Selbst der Wilhelm von Fürstenberg beileibe nicht wohlgesonnene »Große Kurfürst« Friedrich Wilhelm von Brandenburg ließ dem Kaiser über seinen Gesandten Krockow von einem Prozess gegen Fürstenberg abraten.59 Im Rahmen dieser Kompetenzen ging der Kaiser allerdings im Oktober 1674 gegen Wilhelms Bruder Franz Egon, der sich als Bischof von Straßburg seit Jahren überwiegend in der Nähe des Hofes und des Königs aufhielt, vor. Hierbei konnte man sich eindeutig auf ein kaiserliches Mandat stützen, das den französischen König zum Reichsfeind erklärte und den Krieg zwischen Reich und Frankreich besiegelte. Mit Zustimmung des Reichstages wurde Franz Egon nun zum Treubrecher gegenüber Kaiser und Reich erklärt, da er auch nach Erlass eines eindeutigen kaiserlichen Verbotes noch in Frankreich verblieben sei. Zur Strafe wurden ihm Sitz und Stimme auf dem Reichstag, die er als Reichsfürst besaß, aberkannt. Der Erlass gegen Franz Egon führte zwar auch den Kampf um die teutsche libertät ins Feld und beschuldigte ihn, er habe sich auf feindlichem Boden außerhalb des Reiches aufgehalten. Die Sprache, mit der Franz Egons Verrat beschrieben wurde, blieb jedoch klar an das Bild eines mit Körpermetaphern beschriebenen Reiches als eines hierarchischen Personenverbandes mit dem Kaiser an der Spitze geknüpft  : Franz Egon von Fürstenbergs Absicht sei es gewesen, die Dismembration zwischen des Reichs höchstem Ober-Haupt/ und dessen getreuen Mitgliedern zu suchen. Die Strafe gegen ihn falle so aus, wie es einem Stand des Reichs/der sich solcher Gestalt gegen seinem von Gott vorgesetzten Oberhaupt/ und das Heilige Roem[ische] Reich gröblich vergriffen/ zukomme.60 Damit wurde zugleich deutlich, dass politischer Verrat in der Frühen Neuzeit sich nicht nur auf die Person des Herrschers bezog, sondern die gesamte göttliche Ordnung, auf die seine Herrschaft fußte, mit betraf.61 Bezeichnenderweise beruhte die Maßnahme, der das Vorgehen gegen Franz Egon zugrunde lag, auf einem »Reichskrieg« gegen Frankreich, den die rö57 Kampmann, Reichsrebellion, 170 ff. 58 Ebd., 214 ff. 59 Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Bd. 13. Politische Verhandlungen, Berlin 1915, 624. 60 Theatrum Europaeum oder außführliche und wahrhafftige Beschreibung aller und jeder denkwürdiger Geschichten  VIII, 1657–1661, beschrieben durch Georg Schleder, Bd.  11, Frankfurt a.  M. 1682, 533. 61 Vgl. Schnabel-Schüle, Das Majestätsverbrechen, 37.

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misch-deutsche Universalmonarchie noch gar nicht als außenpolitisches Faktum beschreiben konnte. Man musste sich mit einer Serie von Verordnungen behelfen und bediente sich im Grunde derselben Verfahren, mit denen man gegen »Rebellen« und andere innere Feinde von Kaiser und Reich einschritt.62 Erst im unmittelbaren Vorfeld der u. a. durch Wilhelm von Fürstenberg ausgelösten Krise 1688/89 gelang es, das Reich angesichts der Bedrohungen von außen abseits traditioneller Modelle als geschlossenen Sicherheitsrahmen zu beschreiben und ein eigenes Verfahren zur Erklärung eines Kriegszustandes zu etablieren.63 Auf Wilhelm von Fürstenberg konnte man den Erlass jedoch nicht ohne Weiteres übertragen, da er zu dem Zeitpunkt, als die entscheidende Erklärung gegen Ludwig XIV. erlassen wurde, sich bereits zwangsweise in kaiserlicher Gefangenschaft eingerichtet hatte. Daneben blieb allerdings die grundsätzliche Frage offen, ob sich Wilhelms Verrat überhaupt mit einem reichsrechtlichen Verfahren ahnden ließ. Schon die Frage, ob Wilhelm nicht durch seine Charge als Gesandter davor geschützt war, hatte allerorten für heftige Kontroversen gesorgt. Bei den Verhören mit Hocher changierte Fürstenberg zudem zwischen französischer und reichischer Zugehörigkeit. Ebenso verwies er noch auf eine weitere Identität, nämlich jene des Klerikers. Er verlangte daher, an die Kurie ausgeliefert zu werden, oder zumindest, dass ein Prozess vor einem geistlichen Gericht gegen ihn geführt würde.64 Auch der päpstliche Nuntius am Kaiserhof, Albizzi, vertrat die Ansicht, dass Fürstenberg wegen seines Status als Inhaber geistlicher Ämter keiner kaiserlichen Gerichtsbarkeit unterstehen könne, und verwehrte sich folglich gegen die Idee eines Prozesses gegen Fürstenberg als Reichsverräter oder treubrüchigen Vasallen.65 Stattdessen versuchte auch Albizzi, Fürstenbergs Auslieferung an den Papst zu erlangen.66 Allerdings ist unklar, wie nachdrücklich der Nuntius dieses Ansinnen tatsächlich verfolgt hat. Auch die französische Krone versuchte über die Kurie den Druck auf den Kaiserhof zu erhöhen, um etwa durch eine Kardinalspromotion für Fürstenberg die Hemmschwelle für jedes weitere juristische Vorgehen denkbar hoch anzusetzen. Lisola hatte in seinem Pamphlet gegen Fürstenberg von einer »Unvereinbarkeit der Chargen« in Bezug auf Fürstenberg gesprochen. Fürstenbergs zuvor einfach nebeneinander bestehende Rollen und Identitäten waren bei der Verengung von 62 Kampmann, Reichstag und Reichskriegserklärung, 48 f. 63 Vgl. dazu jetzt  : Kampmann, Ein neues Modell von Sicherheit, 213–233. 64 Gemeinsames Protokoll, 174. 65 Albizzi an Nerli, Wien, 10.6.1674 in  : Nuntiaturberichte vom Kaiserhofe Leopolds I. (1670, Mai bis 1679, August), hrsg. v. dems., in  : Archiv für österreichische Geschichte 106 (1918), 169  ; Albizzi an Nerli, Wien, 28.10.1674, in  : ebd., 172. 66 Albizzi an Nerli, Wien, 16.6.1675, in  : ebd., 181  ; Albizzi an Nerli, Wien, 15.3.1676, in  : ebd., 184.

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Handlungsspielräumen im Rahmen eines Krieges in einen unauflösbaren Widerspruch geraten, sodass ihm Verrat an Kaiser und Reich vorgeworfen werden konnte. Es war jedoch genau diese Gemengelage von Identitäten, die es so sehr erschwerte, Fürstenbergs Verrat rechtlich zu erfassen und zu sanktionieren. Jede dieser Identitäten barg zugleich Möglichkeiten, sich einer Bestrafung zu entziehen. Bereits unmittelbar nach seiner Gefangensetzung ließ sich das Argument, Fürstenberg hätte in seiner Rolle als legitimer und »immunisierter« Gesandter an einem neutralen Kongressort nicht gefangengesetzt werden dürfen, kaum entkräften. Fürstenberg selbst konnte sich auch als Mann der Kirche gegen das Vorgehen des Kaisers und dessen Jurisdiktion verwehren. In Wien mochte man die französische Identität Fürstenbergs als französischer Untertan und Klient des Königs nicht anerkennen, ja als Provokation empfinden. Ludwig XIV. und seine Diplomaten verschafften ihr jedoch schlussendlich entscheidendes Gewicht. Der »Sonnenkönig« ließ die 1676 in Nimwegen begonnenen Friedensverhandlungen zunächst blockieren, bis die Brüder Fürstenberg schließlich selbst auf Veranlassung des Königs baten, dass Wilhelms Gefangenschaft die Verhandlungen nicht weiter verhindern möge.67 Die Freilassung Wilhelms und die Restitution der Fürstenberg blieb jedoch eine zentrale Friedensforderung an den Kaiser, die Ludwig XIV. erlaubte, sich als Protektor seiner »Freunde« und »Diener« zu inszenieren.68 Fürstenberg hatte seine Freilassung schlussendlich dem französischen König und seinen Diplomaten zu verdanken. Der Friedensvertrag zwischen Frankreich und dem Kaiser enthielt einen Paragraphen, der das Schicksal Wilhelms von Fürstenberg, seines Hauses und seiner materiellen und übermateriellen Besitztümer regelte. Das Haus Fürstenberg-Heiligenberg, hieß es da, sei vollständig »in seinem Stand, seinem Ruf und seinen Würden« wiederherzustellen.69

Schluss Fassen wir die Befunde dieses Beitrages knapp in drei Thesen zusammen  : 1. Die Verratsvorwürfe gegenüber Wilhelm von Fürstenberg zeigen typische Züge der problematischen Kategorie »Verrat«. Verrat war (und ist) kein fixierbares Delikt, sondern eine Frage der Perspektive, der »politischen Konjunktur« und der Deutungshoheit  : Der Verrat Fürstenbergs war zunächst vor allem eine 67 Vgl. Spiegel, Gefangenschaft, 94 ff.; Braubach, Wilhelm von Fürstenberg, 303. 68 Höynck, Frankreich und seine Gegner, 117. 69 […] in […] eum statum, famam, dignitates  ; vgl. Vast (Hrsg.)  : Les grands traités du règne de Louis XIV., 110.

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Folge der Umdeutung von zuvor tolerierbarer und teilweise strukturnotwendiger Außenverflechtung und Rollenvielfalt und komplementär dazu neuer Schwerpunktsetzungen bei der Bewertung von auf traditionellen Lehensbindungen beruhenden politischen Loyalitäten. 2. Der Kampf gegen den ›äußeren‹ wie den ›inneren Feind‹ in der publizistischen Öffentlichkeit war ein bedeutender Impuls für die Herausbildung einer deutschen Identität. Obwohl gerade der Fall Fürstenberg zu einem Musterfall des Verrates an einem frühnational und territorial gedeuteten Reich stilisiert werden konnte, nahmen die Kaiserlichen selbst solche »zukunftsweisenden« Argumentationsformen nur spärlich auf, sondern arbeiteten vielmehr mit personalen Konzepten des Verrates, etwa den Eidbruch des Untertanen gegenüber seinem Landesherrn, den Bruch der Lehenstreue oder die eigenmächtige Aufkündigung generationenübergreifender Dienstbeziehungen gegenüber den tradi­tionellen Patronen der Familie. Parallel zur Herausbildung neuer geradezu »frühnationalistischer« Identitätsstiftung in der Polemik gegen die »teutschen Frantzosen«, konnten die Verratsvorwürfe gegen Fürstenberg ebenso den hierar­chischen Charakter des Reiches und den Wert von Lehenstreue und anderen traditionellen personalen Loyalitäten unterstreichen. 3. Es war gerade die Gemengelage von Identitäten Fürstenbergs, die ihm so geschadet hatte und auf die sich auch die Ablehnung seines Handelns fokussierte, die es so schwierig machte, Wilhelm von Fürstenberg, jenseits der politisch-moralischen Problematisierung und der durch Flugschriften stimulierten Empörung, als Verräter an Kaiser und Reich beizukommen. Dabei zeigt der Fall Fürstenberg, wie sehr die Möglichkeiten, einerseits Außenverflechtung in einer Situation von Krieg und Konflikt als Verrat zu brandmarken und ihn andererseits in einer vormodernen politischen Ordnung mit uneindeutigen politischen Zugehörigkeiten als Delikt fassbar zu machen und zu bestrafen, auseinanderklaffen konnten. Quellen Archives du ministère des Affaires étrangères (Paris), CP Cologne 3 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, KA 148 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Rep. N 61, pars 1 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Rep. N 61, pars. 2 Bodin, Jean, Les six livres de la république. Avec L’Apologie de René Herpin. Paris 1583, (Reprint  : Aalen 1977). Gemeinsames Protokoll der Verhöre vom 12. April 1674 zu Vösendorf und vom 19. Mai 1674 zu Wiener Neustadt, in  : Wilhelm Egon von Fürstenbergs Gefangenschaft und ihre Bedeutung für die Friedensfrage 1674–1679, hrgs. v. Käthe Spiegel, Bonn 1936.

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Lisola, François de, Bousclier d’Estat et de Justice  : Contre Le dessein manifestement découvert de la Monarchie Universelle, Sous le vain pretexte des pretentions de la Reyne De France, o. O. 1667. Lisola, François de, Detention de Guillaume, Prince de Furstenberg, nécessaire pour maintenir l’authorité de l’empereur la tranquilité de l’empire et pour procurer une paix juste, utile et nécessaire, o. O. 1674. Lisola, François de, Gerechte / nützliche / Und Zu Erhaltung Ihro Käyserl. Majest. Höchsten Gewalt / Zu Des Reichs Ruhe-Stand / Und Zu Beförderung des Friedens / Nothwendige Gefangenschafft Des Printz Wilhelm von Fürstenberg, o. O. 1674. Lisola, François de, Guilielmi Principis Fürstembergii Detentio, Ad Caesaris Authoritatem, Ad Tranquillitatem Imperii, Ad Pacis promotionem, Iusta, Perutilis, Necessaria  : Ex Germanico in Latinum traducta, o. O. 1674. Lisola, François de, Lettre d’un Gentilhomme à un chevalier Anglois de la chamber des Communes du Parlement, au sujet de l’Emprisonnement de Monsieuer de Furstenberg, o. O. 1674. Nuntiaturberichte vom Kaiserhofe Leopolds I. (1670, Mai bis 1679, August) hrsg. v. Artur Levinson, in  : Archiv für österreichische Geschichte 106 (1918), 495–728. Pufendorf, Esaias, Abschrifft Eines Von dem Königl. Schwed. Residenten / Herrn von Puffendorff / Zu Wien Der Röm. Kaiserl. Majestät / Wegen der Fürstenbergischen Verhafftung / Uberreichten Memorials. Und der darauff allergnädigst-ertheilten / Kaiserlichen Erklärung, o. O. 1674. Theatrum Europaeum oder außführliche und wahrhafftige Beschreibung aller und jeder denkwürdiger Geschichten VIII, 1657–1661, Bd. 11., hrsg. v. Georg Schleder, Frankfurt a. M. 1682. Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Bd. 13. Politische Verhandlungen, Berlin 1915. Wicquefort, Abraham de, L’Ambassadeur et ses fonctions, Bd. 1, Den Haag 1681.

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André Krischer

›Papisten‹ als Verräter Gewaltimaginationen und Antikatholizismus im frühneuzeitlichen England

Vor den Schranken der Justiz stand 1680 niemand Geringeres als der Papismus (popery) selbst – jedenfalls in der Vorstellung einer in diesem Jahr anonym unter dem Titel News from the Sessions House publizierten Flugschrift.1 Die Anklage lautete auf Hochverrat (high treason) gegen das Königreich England und auf Verschwörung gegen die protestantische Religion. Mit diabolischen Praktiken und dem Teufel im Bunde habe der Angeklagte versucht, die Untertanen des Königs zu verführen. Anderswo in Europa sei er gnadenlos und mit unmenschlicher Gewalt eingefallen, Königen und Fürsten habe er seine verdammungswürdige Religion (damnable religion) aufgezwungen, zum Leidwesen aller Untertanen. Der Angeklagte scheue weder Königsmord noch Massenmord. Wenn nötig, brenne er ganze Städte nieder und raube jedes Haus aus. Derweil halte er die Stadt Rom besetzt, wo er sich in blasphemischer Weise mit Gott gleichsetze und davon fabuliere, dass er alle Sünden vergeben könne. Die zwölf Geschworenen waren in diesem Fall u. a. die Gerechtigkeit, die Barmherzigkeit, die Gnade und der Glaube. Sie sprachen den Angeklagten nach kurzem Prozess, bei dem die Heilige Schrift und die Nackte Wahrheit als Zeugen aufgetreten waren, in allen Punkten schuldig. Der Richter verurteilte den Papismus daraufhin, auf ewig und unter größten Qualen in der Hölle zu schmoren. Offenbar traf die Flugschrift den Geschmack der Leser. Sie wurde in den folgenden Jahren jedenfalls mehrfach wieder aufgelegt. Die literarische Anklage des ›Papismus‹, wie die römische Papstkirche von den Wortführern des englischen Protestantismus abwertend genannt wurde2, korrespondierte dabei mit Hochverratsprozessen, die Ende des 17.  Jahrhunderts während des sogenannten Popish plot tatsächlich gegen Jesuiten sowie andere katholische Kleriker und Laien geführt worden waren. Diese Geschichte von der ›Papistenverschwörung‹ war eine reine Erfindung, eine gewaltige und maßlose Verschwörungstheorie, die allerdings für dreißig Männer mit den Qualen einer Hinrichtung durch

1 Anon., News from the sessions-house. 2 Zum zeitgenössischen Sinngehalt des Begriffs popery vgl. Lake, Antipopery.

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Hängen, Ausweiden und Zerreißen endete.3 Der Hochstapler Titus Oates hatte die Geschichte 1678 in die Welt gesetzt, erst 1681 nahmen die Zweifel daran überhand. Bis dahin war in den Gerichtsprozessen davon die Rede, dass Verräter Tod und Vernichtung über König und Untertanen bringen würden. Im Prozess gegen fünf Jesuiten im Juni 1679 zog der Anklageführer, Kronanwalt Sir Creswel Levinz, eine rote Linie von den konfessionellen Gräueltaten in den spanischen Niederlanden im späten 16. Jahrhundert und bei der Pariser Bartholomäusnacht (1572) zum aktuellen Fall  : Die Jesuiten seien einmal mehr im Begriff gewesen, to make a general Massacre of all Protestants here.4 Wer keine Gelegenheit hatte, solchen Prozessen persönlich beizuwohnen, konnte ihren Ablauf schon kurz nach dem Urteil im Druck nachlesen.5 Zugleich wurde die Botschaft, dass ›Papisten‹ skrupellose Gewalttäter seien und nicht zögerten, Protestanten abzuschlachten, auch in bebilderten Flugschriften verbreitet. 1681 warnte eine solche Bildergeschichte (Abb.  1) mit dem Titel A Scheme of Popsih Crvelties vor den Konsequenzen einer katholischen Thronfolge in England – tatsächlich lebte der jüngere Bruder König Karls II., Jakob, offen katholisch, und er blieb auch katholisch, als er 1685 als Jakob II. die Herrschaft antrat. Die Flugschrift malte nun aus, dass die Stadt London dann erneut in verräterischer Weise in Brand gesetzt werden würde (treacherously set on fire), diesmal in den Flammen aber auch viel Blut fließe. Der große Brand von 1666 galt als Werk der ›Papisten‹, davon erzählen noch heute die Reliefs der 1677 fertiggestellten und als Monument bekannten Säule nahe der London Bridge. Es würde aber, so die an einen Comicstrip erinnernde Flugschrift, diesmal alles noch viel schlimmer kommen  : Lustgetriebene Papisten würden gnadenlos über englische Frauen herfallen und ihre Babys töten, würden Protestanten die Hälse durchschneiden und sie auf dem Scheiterhaufen verbrennen, würden den Tower besetzen und von dort auf die Stadt schießen, würden mit ihrem Mummenschanz Gotteslästerung betreiben, bis am Ende französische Soldaten in England einfielen und die Massaker gnadenlos fortsetzten. Das Bild war Teil einer großangelegten Kampagne gegen einen katholischen Thronfolger, lanciert von der politischen Gruppierung der Whigs, die zu dieser Zeit entstand. Ihre Gegner, die Tories, machten im letzten Bild der Flugschrift gemeinsame Sache mit den französischen Invasoren. Die Tories galten als Anhänger eines machtvollkommenen Königtums, wie es auch die regierenden Stu3 Kenyon, The Popish plot. 4 Anon., A Complete Collection of State-Trials, and Proceedings for High-Treason, and Other Crimes and Misdemeanours, II, 834. 5 Vgl. zum Popish Plot als Medienereignis Hinds, »The horrid Popish plot«.

›Papisten‹ als Verräter 

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Abbildung 1  : Imaginationen katholischer Grausamkeiten in einer Art Comicstrip  : A scheme of Popish crvelties; A prospect of what wee must expect under a Popish successor, 1681.

art selbst vor Augen hatten. Die Whigs setzten hingegen auf die Dominanz des Parlaments und des Protestantismus. Ihre Kampagne zielte dabei nicht zuletzt auf die Mobilisierung und Aufstachelung der Londoner Unterschichten durch Verschwörungstheorien oder Bildgeschichten wie die von den Popish Crvelties.6 Die Kampagne und die dabei mobilisierten Schreckensbilder, einschließlich des weitverbreiteten Glaubens an den Popish plot, funktionierten allerdings deswegen, weil dabei an eine rund hundertdreißig Jahre alte antikatholische Tradition angeknüpft wurde. Dieser englische Antikatholizismus fußte ganz maßgeblich auf der Vorstellung, dass man es bei den ›Papisten‹ mit potenziellen oder notorischen Verrätern zu tun hatte und dass diese Verräter zu extremer Gewalt neigten. Dieser Antikatholizismus ging also über konfessionelle und doktrinäre Gegensätze weit hinaus. Wie aber kam es zu dieser Gleichsetzung von Katholiken mit Verrätern, und wieso verbanden sich damit derartige Ge6 Allgemein dazu Harris, London crowds in the reign of Charles II.

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waltvorstellungen  ? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir in die Mitte des 16. Jahrhunderts zurückgehen, an die Anfänge des konfessionellen Konflikts in England. Zuerst werden wir allerdings sehen, dass die Hochverratsgesetze selbst Anknüpfungspunkte für derartige Sinnaufladungen boten. Anschließend wird gezeigt, wie sich im Kontext von Hochverratsprozessen gegen jesuitische Missionare eine Art von kollektiver Paranoia ausbildete. Abschließend wird skizziert, wie sich die hier entfalteten Schreckensbilder und Verschwörungstheorien in der englischen Erinnerungskultur des 17. Jahrhundert festsetzten und ein Verständnis von Verrat als kollektiver Bedrohung ausbildeten, das beim Popish plot mobilisiert werden konnte.

Das englische Hochverratskonzept Verrat wurde in England rechtlich früher und eindeutiger definiert als etwa in Frankreich oder im Römisch-Deutschen Reich, wo die kaiserliche Gerichtsordnung von 1532 zwar die Strafe für verreterey festlegte (viertheylung), nicht aber erklärte, welche Tatbestände dafür erfüllt sein mussten. Dagegen wurde in England bereits unter König Edward III. 1351 statuiert, dass Verrat (treason) dann der Fall sei, wenn jemand den Tod des Königs, der Königin oder des Thronfolger plane oder ›imaginiere‹, wenn er gegen den König Krieg führe, sich mit dessen Feinden verbünde oder sie unterstütze, wenn er der Königin, der Tochter des Königs oder der Frau des Thronfolgers Gewalt antue, wenn er königliche Siegel oder Münzen fälsche und wenn er einen der königlichen Richter töte.7 Mit der Formulierung, es sei Verrat, when a Man doth compass or imagine the Death of our Lord the King, or of our Lady his Queen […], war gemeint, dass nicht erst Gewalthandlungen selbst den Tatbestand erfüllten, sondern auch Absichten dazu, die etwa in Form von Beratungen oder Schriften Gestalt annehmen konnten. Was eine verräterische Absicht – imagining the King’s death – war, wurde von den Juristen sehr unterschiedlich ausgelegt.8 So galt etwa die Gefangennahme des Königs als Verrat in diesem Sinne, weil es nicht auszuschließen war, dass der König dabei ums Leben kam. Im 18. Jahrhundert sprach man bei solchen und ähnlichen Auslegungsweisen von constructive treason. Auf jeden Fall leistete die Rede von der Imagination im Gesetz den mit Verrat verbundenen Gewaltimaginationen Vorschub. Das Verratsstatut von 1351 implizierte also auf der einen Seite eine Steigerung königlicher Macht, insofern Aufstände, Rebellionen und andere Gewalthand7 25 Edw. III, St. 5, c.2. Das Statut ist bis heute weitgehend in Kraft  ; vgl. zu Geschichte und Bedeutung Bellamy, The law of treason in England, 59–101. 8 Vgl. dazu vor allem Cunningham, Imaginary Betrayals.

›Papisten‹ als Verräter 

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lungen der Magnaten als Beweise (overt acts) für eine verräterische Gesinnung behandelt und bestraft werden konnten und nicht länger durch rituelle Unterwerfungen oder ähnliches ausgesöhnt wurden. Indem Gewalt als Mittel adliger Konfliktführung delegitimiert wurde, schloss das edwardianische Verratskonzept nicht nur an feudalrechtliche Traditionen des Treuebruchs gegenüber dem Lehnsherrn an, sondern auch an das Majestätsverbrechen des Römischen Rechts  : Krieg und andere Formen organisierter Gewalt wurden damit als alleiniges Recht eines souveränen Fürsten bzw. der königlichen Majestät postuliert.9 Auf der anderen Seite schränkten die Definitionen des Statuts auch allzu willkürliche Auslegungen ein, indem sehr klar zwischen Verrat und anderen schweren Kriminaldelikten (felonies) wie Mord unterschieden wurde. Zudem mussten alle Abänderungen des Statuts und die Ausweitung von Tatbeständen im Parlament beschlossen werden. Diese ursprünglich beschränkende Unterscheidung zwischen treason und felonies führte allerdings im Lauf der Zeit dazu, Verrat den Status eines Superverbrechens zuzuschreiben, das als viel schlimmer galt als Raub, Mord und Totschlag.

Hochverrat als Machtmittel unter den Tudors Als effektives Machtmittel erwies sich diese Hochverratsdoktrin für den Tudorkönig Heinrichs  VIII. 1534 verabschiedeten König und Parlament ein Gesetz, das jedwede Kritik  – by expresse writing or wordes  – an seiner Kirchen- und Dynastiepolitik als Hochverrat einstufte.10 Wer also in Worten oder Schriften bezweifelte, dass der König the supreme head of the Church of England war (nach dem Act of Supremacy aus dem gleichen Jahr) und die Heirat mit Anne Boleyn rechtmäßig war, war dem Gesetz nach ein Verräter. Der Humanist und Lordkanzler Sir Thomas More wurde auf dieser Grundlage zum Tode verurteilt.11 Zwei Jahre später wurde allerdings auch Anne Boleyn geköpft, der man auf der Grundlage des Gesetzes von 1351 eine hochverräterische und inzestuöse Beziehung zu ihrem Bruder unterstellte. Der Herrschaftsantritt Elisabeths  I. 1558, der gemeinsamen Tochter aus dieser Ehe, wurde ebenfalls durch ein Hochverratsgesetz flankiert. Nach dem katholischen Intermezzo unter Maria I. (1553–1558) musste zunächst der Act of Supremacy erneuert werden, zugleich aber auch die durchaus angreifbare Thronfolge – denn die schottische Königin Maria aus dem Haus Stuart konnte  9 Orr, Treason and the State, 12. 10 Elton, Policy and Police, 263–292. 11 Ebd., 409–417.

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als Enkelin einer Schwester Heinrichs VIII. gut begründete Ansprüche erheben. Daher schärfte das Gesetz ein, wenn jemand in Wort oder Schrift behaupte, that the Queenes Maiestie that now ys […] ys not or ought not to be Queene of this Realme, Hochverrat begangen habe.12 Zugleich galt auch weiterhin der Akt von 1351 mit allen seinen Bestimmungen. Hochverrat hatte unter den Tudors also eine Bedeutungsveränderung erfahren. Im 14. und 15. Jahrhundert diente es dem jeweiligen Herrscher zur Kriminalisierung konkurrierender Ansprüche auf die Krone und zur Bestrafung adliger Rebellen.13 In der Zeit Heinrichs VIII. und der Englischen Reformation diente Hochverrat allerdings nicht länger (nur) zur Abwehr von Ursupationsversuchen, sondern vor allem zur Stabilisierung der neu geschaffenen politisch-kirchlichen Ordnung. Auch in der Regierungszeit Elisabeths I. (1558–1603) fungierten die Hochverratsgesetze als Bollwerk gegen einen erneuten Regimewechsel und als Stütze des protestantischen Regimes.

Die Hochverratsgesetze als Stütze des elisabethanischen Regiments Dabei waren die Gefahren für das elisabethanische Regime durchaus konkret  : Denn nachdem Maria Stuart 1568 als schottische Königin abdanken und nach Nordengland fliehen musste, wurde sie zum Dreh- und Angelpunkt konspirativer Umtrieb enttäuschter katholischer Aristokraten um den Herzog von Norfolk. Geplant war, dass Maria Stuart und Norfolk heiraten und dann sowohl Schottland als auch England regieren sollten. Die katholischen Earls of Northumberland und Westmoreland zettelten 1569 einen Aufstand im Norden Englands an, der dieses Vorhaben unterstützen sollte. Der Aufstand konnte zwar rasch niedergeschlagen werden, und Norfolk kam vorerst in den Tower. Doch dann wurde Elisabeth I. 1570 exkommuniziert, zugleich entband der Papst Pius V. die englischen Untertanen von Treue und Gehorsam gegenüber ihrer Königin. Aus Sicht der Krone war dies ein Aufruf zu Hochverrat, und es gab tatsächlich ein Komplott, bei dem Elisabeth ermordet und durch Maria Stuart ersetzt werden sollte. Der Plan wurde enthüllt, Norfolk verlor seinen Kopf. Doch die königlichen Berater und die puritanische Fraktion im Parlament versetzten sich nun in höchste Alarmbereitschaft. Elisabeth war für diese Männer der einzige Garant des protestantischen Staatswesens, und damit von heilsgeschichtlicher Bedeutung. 12 1 Eliz., c. 5.; vgl. dazu Bellamy, The Tudor law of treason, 61 f. 13 Vgl. dazu kursorisch Bellamy, The law of treason in England, 138–176.

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Was die Restauration katholischer Herrschaft bedeutete, hatten die englischen Protestanten unter Königin Maria erlebt, die fast 300 Menschen als Ketzer hatte verbrennen lassen, denen der Publizist John Foxe 1563 mit seinem (vielfach wieder aufgelegten und weitverbreiteten) Book of Martyrs ein wort- und vor allem bildgewaltiges Monument gesetzt hatte. Noch das Scheme of Popsih Crvelties nahm darauf Bezug (Abb. 1). Ohne eigene und legitime Nachkommen kam es auf Elisabeths Überleben an, dessen unbedingte Sicherung ab 1570 zur Staatsräson zählte. Ausdruck dessen war nicht nur der Aufbau eines Netzwerks von Informanten, um die konspirativen Zirkel um Maria Stuart zu durchdringen, sondern auch der Erlass eines neuen, ausgreifenden Hochverratsgesetzes (1571). Dieses ging davon aus, dass Königsmord und Bürgerkrieg nicht nur im Lande imaginiert und vorbereitet wurden, sondern auch im Ausland. Der Tatbestand wurde also auf exterritoriale Vorgänge ausgeweitet. Man dachte dabei an englische Exil-Katholiken, die spanische Truppen dafür gewinnen wollten, nach England überzusetzen und das Land gewaltsam zu rekatholisieren.14 Das Gesetz artikulierte damit eine der kollektiven Ängste der Engländer in der Neuzeit, nämlich die Angst vor der Invasion, vor Forreyners or Straungers w[i]th Force to invade this Realme or the Realme of Ireland.15 Diese Invasionsängste verbanden sich fast immer auch mit Verratsvorstellungen. Reine Phantasie war das aber nicht  : Es gab unter den katholischen Mächten durchaus Invasionsabsichten. Diese zeigten sich nicht erst beim (erfolglosen) Angriff der spanischen Armada 1588, sondern bereits zehn Jahre zuvor, als der englischstämmige Priester Nicholas Sanders im Juli 1579 mit 600 spanischen Soldaten an der irischen Südküste anlandete und die dortigen Rebellen um James Fitzmaurice unterstützte. Das Unternehmen konnte zwar abgewehrt werden, wurde in London aber dennoch als Beleg für drohendes Unheil gewertet. Mit Entsetzen war man in England auch den Massakern an den Hugenotten im August 1572 in Frankreich gewahr geworden. Francis Walsingham, der von 1573 bis 1590 als Prinzipalsekretär die Spitzel- und Aufklärungsaktivitäten der Krone organisierte, hatte das Blutbad der Bartholomäusnacht als englischer Botschafter in Paris miterlebt. Es diente ihm und anderen Mitgliedern des politischen Führungszirkels forthin als eindringliches Exempel für die Grausamkeit der Katholiken gegenüber den Protestanten und die Notwendigkeit entsprechender Gegenmaßnahmen.16 Und auch die Missionare, die seit 1574 nach England übersetzten – bis 1603 waren es fast 500 – kamen nicht nur der Seelsorge wegen, selbst wenn ihre zeitgenössischen Apologeten und die ältere katholische 14 Bellamy, The Tudor law of treason, 62. 15 13 Eliz. c. 1. 16 Cooper, The queen’s agent, 77 ff.

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Geschichtsschreibung dies immer wieder behaupteten. Die englischen Priester, die in eigenen Seminaren in Douia/Reims (gegründet 1561), Rom (1579) und Valladolid (1589) ausgebildet worden waren, sollten ohne Frage die Rekatholisierung Englands unter einem katholischen Monarchen vorantreiben  – und damit die Bestimmungen der päpstlichen Bulle von 1570 erfüllen.17 Dennoch implizierte die Mission keine Gewalt an Engländern, sondern vielmehr die Bereitschaft, Gewalt zu erleiden, bis hin zum Martyrium.18

Paranoide Reaktionen auf die katholischen Missionare Dennoch nahm die Auseinandersetzung mit den Missionaren in den 1580er und 1590er Jahren paranoide Züge an, und zwar vor allem bei den königlichen Sekretären Francis Walsingham und Lord Burghley sowie den Puritanern im Parlament. Die Königin stand derweil den Fragen ihrer Sicherheit mit demonstrativer royaler Gelassenheit gegenüber.19 Mit Paranoia ist, im Sinne des amerikanischen Historikers Richard Hofstadter, keine Pathologie gemeint, sondern vielmehr ein bestimmter Stil der politischen Kommunikation, der durchsetzt war von dichotomischen Zuspitzungen, Alarmismus, Verdächtigungen und Verschwörungstheorien.20 Die Bedrohung wurde als noch größer eingeschätzt, als 1580 durch Spitzelberichte klar wurde, dass nun auch Jesuiten nach England übersetzten  – während sich noch spanische Truppen in Irland befanden und Fitzmaurice’ Aufstand andauerte. Als dann die Jesuiten Edmund Campion und Robert Persons kurz nacheinander in Dover anlandeten und den Wachleuten trotz aller Vorkehrungen entwischten, begann eine regelrechte Jagd auf die beiden, begleitet von den antijesuitischen Klischees, einer Art ›Schwarzen Legende‹, die nun auch in England üblich wurden.21 Jesuiten galten als ebenso geniale wie skrupellose Agenten des Papstes, der wiederum immer mehr als der Antichrist selbst erschien.22 Entsprechend schmähte ein Publizist die beiden Jesuiten als instruments of Satan.23 17 Kilroy, Edmund Campion, 156 f. 18 Cano-Echevarría/Sáez-Hidalgo, Educating for Martyrdom. 19 Loades, Elizabeth I, 152 f. 20 Hofstadter spricht von »heated exaggerations, suspiciousness, and conspiratorial fantasy«, Hofstadter, The paranoid style in American politics, 3. Eine paranoide Mentalität innerhalb der politisch-sozialen Elite Englands im 16. Jahrhundert konstatiert in einem umstrittenen, aber dennoch instruktivem Buch, auch Smith, Politics and paranoia. 21 Burke, The black legend of the Jesuits. 22 Nelson, The Jesuit legend, 108. 23 Walsham, »This Newe Army of Satan«, 47.

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Verschwörungstheorien im Hochverratsprozess Campion wurde im Juli 1581 schließlich aufgespürt, festgenommen und im November 1581, zusammen mit anderen Missionaren, vor Gericht gestellt. Die Anklage warf ihnen vor, dass sie nur zum Schein missionierten. Das wahre Ziel bestehe darin, Elisabeth vom Thron zu stoßen und unter Maria Stuart eine Spanien und dem Papst ergebene Monarchie zu installieren. Weil sie aber am Ende einen gewaltsamen und blutigen Staatsumsturz planten und eine Invasion ausländischer Mächte vorbereiteten, seien die Priester und Jesuiten nichts weiter als Verbrecher und Verräter nach den Buchstaben des Gesetzes Edwards III. Bewiesen werden sollten diese Vorwürfe  – Missionare sind Verräter  – vor allem durch die Berichte zweier Informanten, die in den Jahren zuvor in Rom gewesen waren und sich in das dortige Englische Seminar eingeschlichen hatten. Der eine, Charles Sledd, hoffte durch seine akribische, tagebuchartige ›Abhandlung über die Machenschaften des Papstes‹ (Discourse of the Popes Holynes devices) wohl auf eine Anstellung im Staatsdienst24, der andere, Anthony Munday, gab seinen Bericht, eine Art ›histoire scandaleuse‹ über The English Romayne Lyfe, in den Druck und verdiente gut damit.25 Beide zitierten vor Gericht ausführlich aus ihren Aufzeichnungen. Sledd und Munday schilderten das Englische Kolleg in Rom als Treffpunkt gewaltbereiter Feinde der Königin, die dort beständig Consultationes for conspiracies in England abhielten. Sledd hatte Sanders und Fitzmaurice dort ein- und ausgehen sehen.26 Der Papst sei fest entschlossen, die Königin zu stürzen, sei es bei conspiring her deathe secretly, or openly, by rebellyone & sodayne envasione of her lands.27 Die zweite Option sei aber verworfen worden, wusste wiederum Munday  : Eine Invasion sei derzeit aussichtslos, England is too strong yet. Daher seien verdeckte Operationen das Mittel der Wahl, an eine Invasion sei nicht zu denken, till the people be secretly perswaded. Für diese innere Kriegsführung (war within bzw. secret rebellion) würden Priester nach England geschickt, jeden Tag mehr.28 Die Seminare seien also nichts anderes als Kaderschmieden, in denen die Verräter in der Kunst der secret rebellion ausgebildet würden. Englische Missionare seien für dieses Unterfangen besonders geeignet, da sie ja Land und Leute bestens kannten und sich daher im Land unauffällig bewegen konnten. 24 Talbot, Miscellanea  : Recusant records, 193–245. 25 Alford, The watchers, 67 u. 84–87. 26 Talbot, Miscellanea  : Recusant records, 215 u. 218. 27 Ebd., 238. 28 Munday, The English Romayne lyfe, 10.

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Während Lord Burghley solche Verräter als Verlierer erachtete, sie als Bettler, vaterlandslose Vagabunden und Bankrotteure ansah29, stellte sich Munday den Weg der Engländer in den Abgrund des Verrats etwas komplexer vor  : Demnach gab es in England Verbindungsmänner des Papstes, die junge Katholiken darin bestärkten, nach Rom zu gehen, und sie dafür mit den nötigen Papieren sowie Geld ausstatteten. In Rom würden sie dann durch die Priesterweihe auf unbedingten Gehorsam gegenüber dem Papst verpflichtet. Die Weihe sei in Wahrheit ein Fluch und kein Segen. Letzte Reste englischer Loyalität würden den Geweihten dann durch Drohungen, Mummenschanz (styncking Reliques, Crosses, and Medalles) und Hexerei ausgetrieben.30 In seinem English Romayne Lyfe behauptete Munday, dass sich die englischen Priester, derart gefügig gemacht, im Seminar gegenseitig radikalisierten und regelrechte Schmähwettbewerbe veranstalteten  : in all their talke, they striue who shall speake wurst of her Maiesty. Er könne solche horrible and vnnaturall spéeches hier gar nicht wiederholen, schon die Erinnerung daran ließe ihn erschaudern. Es sei nur klar, dass unter den englischen Seminaristen hochverräterisches Gerede an der Tagesordnung sei und beständig neue horrible Treasons […] againste her Maiestie and this Realme ersonnen würden.31 Indem diese Schilderungen bei Gerichtsprozessen gegen Campion und andere Missionspriester als Beweise vorgetragen und anerkannt wurden, erhielten sie den Status von Tatsachen.

Verrat, Verschwörung und die Logik der Paranoia In der Forschung zur Geschichte des Verrats spielt die Frage eine wichtige Rolle, wann dieses Delikt seine moderne Gestalt erlangte, wann also nicht länger (nur) der Monarch, sondern auch der Staat als Geschädigter in Erscheinung trat. Wichtige Wendepunkte waren hier der Bürgerkrieg, die Glorious Revolution und die Zeit der Französischen Revolution.32 Es ist aber die Frage, ob sich nicht bereits in der Zeit Elisabeths I. wichtige Bedeutungsverschiebungen eingestellt haben. Man kann darüber diskutieren, ob bereits hier mit Verrat auch das Abstraktum Staat gemeint war, wenn es etwa hieß, dieser schade und verletze Königin und Reich (to the harme of our gracious Soueraigne, and hurt of the whole Realme33). Denn 29 Burghley, The execution of iustice, A.iii.f. 30 Munday, A discouerie of Edmund Campion, C.i.–C.ii.v. 31 Munday, The English Romayne lyfe, 4, 8, 10, 28. Zur Mundays Stilisierung des römischen Seminars als Abgrund des Verrats vgl. auch schon Alford, The watchers, 56–68. 32 Orr, Treason and the State  ; Steffen, Defining a British state  ; Barrell, Imagining the king’s death. 33 Munday, The English Romayne lyfe, 11 f.

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Elisabeth wurde als persönlicher Garant dieses Staates gesehen, um ihre Person kreisten die Gedanken ihrer Sekretäre und Berater zum Thema Sicherheit. Eine Veränderung zeigt sich aber ganz deutlich auf anderer Ebene, insofern der paranoide Stil der Regierenden nun auch das englische Verratskonzept überformte. Wenn die »Logik der Paranoia« nach Enzensberger eine wesentliche Facette des modernen Verständnisses von Verrat darstellt34, dann waren dessen Anfänge im England des späten 16. Jahrhunderts zu finden. Als Verräter galten nicht länger nur machthungrige oder frustrierte Magnaten, die den Thron erobern wollten, oder kritische Untertanen, die sich nicht mit dem kirchlichen Supremat der Krone anfreunden konnten, sondern vielmehr Verschwörer (conspirators), die irgendwo im Ausland oder in England die schlimmsten Dinge planten. Verrat und Verschwörung gingen von nun an eine enge Verbindung ein. Verratsvorwürfe implizierten Verschwörungstheorien – also Theorien über die »verborgenen Intentionen, heimlichen Verabredungen und koordinierten Planungen«35  – und umgekehrt. Dabei boten die Hochverratsgesetze zahlreiche Anknüpfungspunkte für solche Theorien, denn die Imagination des Königsmords stellte man sich schon im Spätmittelalter als eine gemeinschaftliche, konspirative Aktion vor.36 Nach 1570 sah man dabei auch den Teufel im Spiel, führte man den Verrat in den Anklagen auf seine Anstiftungen zurück (the insti­ gation of the devil).37 Auf diese Weise konnten auch einzelgängerische Verräter als Verschwörer dargestellt werden  – sie waren dann auf jeden Fall mit dem Teufel im Bund. Indem das englische Verratskonzept in der elisabethanischen Zeit mit antikatholischen, apokalyptischen und konspirativen Narrativen aufgeladen wurde, war es endgültig nicht nur eine weitere, etwas zugespitzt formulierte Variante des Majestätsverbrechens. Vielmehr implizierte Verrat nunmehr ein Szenario kollektiver Bedrohung. Verrat mochte von ›verkommenen‹ Subjekten begangen worden sein38, aber dahinter steckte doch stets etwas Größeres und Gefährlicheres, das man aber nicht sofort sah. In der Publizistik luden sich Verrat und Verschwörung gegenseitig semantisch auf  : Als Erzeugnis einer papistischen oder jesuitischen Verschwörung, der wicked practices and conspiracies of that 34 Enzensberger, Zur Theorie des Verrats, 371 f. 35 Klausnitzer, Poesie und Konspiration, 7. Die antikatholische bzw. antijesuitische Verschwörungstheorie gehört zu jenen Verschwörungstheorien, die sichtbaren Intuitionen (der römischen Papstkirche, dem Jesuitenorden) unsichtbare, geheime und daher gefährliche Absichten zuschreiben  ; eine andere Variante fokussiert auf verborgene Institutionen (z. B. ›die Weisen von Zion‹) mit verborgenen Aktivitäten, vgl. zu dieser Unterscheidung Butter, Plots, Designs, and Schemes, 57. 36 Krischer, Die Macht des Verfahrens, 175 ff. 37 Vgl. Johnstone, The devil and demonism, 184–193. 38 Rotten subjects, so der Publizist Whetstone, The censure of a loyall subject, Vorrede.

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hellish rable39, erschien Verrat im besonderen Maße als horrible, hateful, dangerous, wicked, damnabel, most hainous, unnatural usf. Und als Zusammenschluss von Verrätern erlangten Verschwörungen den Charakter einer maximal staatsgefährdenden Straftat. Diese Botschaft konnte auch durch die Dichtkunst verbreitet werden  : Haue sought by all the subtile means, the Devil cound invent, / To slay our Queene, confound the Realme, and kil the innocent.40 Vor allem aber setzte das Narrativ eine von Druckmedien getragene Öffentlichkeit voraus. Nur so konnte es seine politische und gesellschaftliche Relevanz entfalten.41

Verrat als kollektive Bedrohung in der protestantischen Bildund Erinnerungskultur bis zum Ende des 17. Jahrhunderts 1605, zwei Jahre nach dem Regierungsantritt Jakobs  I., versuchte eine Bande um die Katholiken Robert Catesby und Guy Fawkes, die allem Anschein nach mit dem Jesuiten Henry Garnet in Verbindung stand, einen Sprengstoffanschlag auf König und Parlament. Die Bande hatte über zwei Tonnen Schwarzpulver (gunpowder) in den Keller des alten Westminster-Palastes geschmuggelt, das bei einer gemeinsamen Sitzung von König, Ober- und Unterhaus detonieren sollte. Allerdings wurden der Plan und das Pulver rechtzeitig entdeckt. Die Pulverfassverschwörung führte in der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion nicht nur zu einer neuen Welle des Antikatholizismus, der auch durch den ab 1612 üblichen Gedenktag am 5. November zu einer englischen Institution wurde.42 Sie bot auch einen Anlass zur Entfaltung weiterer Diskurse über die abgrundtiefen Gefahren von Hochverrat. Beim Prozess gegen die Verschwörer am 27. Januar 1606 in der Westminster Hall erklärte der Kronanwalt Sir Edward Philips den Geschworenen, es ginge hier um treason, but of such horror, and monstrous nature, that before now, the tongue of man never deliver’d  ; the ear of man never heard  ; the heart of man never conceited  ; nor the malice of hellish or earthly devil ever practised.43 Auch im weiteren Verlauf des Verfahrens war immer wieder von dem horror of this treason oder von most wicked and horrible treasons die Rede, oder davon, dass treason is like a tree whose root is full of poison.44 Hochver-

39 Anon., A true and plaine declaration, 45. 40 Kempe, A dutiful inuectiue, q 2. 41 Das betonen auch Zwierlein/Graaf, Security and conspiracy in modern history, 13. 42 Sharpe, Remember, remember, 88. 43 Howell/Cobbett, Cobbett’s Complete Collection of State Trials, 164. 44 Ebd., 167.

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Abbildung 2  : Die Pulverfassverschwörer stecken auf diesem Stich von 1606 ihre Köpfe zusammen und begehen durch ihre Beratschlagungen Hochverrat.

rat – das war also das schrecklichste und monströseste Verbrechen überhaupt, in ihm kulminierte das Böse aus der Hölle. In der Bildpublizistik bot der Gunpowder plot wiederum die Möglichkeit, die enge Verbindung von Verrat und Verschwörung zum Ausdruck zu bringen. Die ikonische Darstellung der Bande um Catesby und Fawkes stammte aus der Werkstatt des Kölner Kupferstechers Frans Hogenberg und erschien bereits im Februar 1606, kurz nach der Hinrichtung der Verurteilten (Abb.  2).45 Deren blutige Stationen werden auf den unteren drei Bildern gezeigt. Das obere Bild zeigt hingegen, wie ettliche englische Edellevte einen Rath schließen den König sampt dem gantzen Parlament mit Pulver zuvertilgen. Dieser Ratschluss, diese Entscheidung, das war Hochverrat im Sinne des Gesetzes  : imagining the King’s death, und er ging in diesem Fall aus einer konspirativen Aktion hervor. 45 Bei der Zuordnung des Stichs zu der Werkstatt von Hogenberg folge ich dem Rijksmuseum Amsterdam, vgl. https://www.rijksmuseum.nl/nl/collectie/RP-P-OB-78.785-335 (18.7.2018).

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Abbildung 3  : Hochverrat wie die Pulverfassverschwörung geht aus konspirativen Planungen hervor, bei denen der Teufel den Vorsitz hat. So sah das 1621 zumindest der puritanische Prediger und Publizist Samuel Ward in seinem als ›The Double Deliverance 1588–1605‹ bekannten Stich.

Bei Hogenberg steckten die Verschwörer bei der Planung ihres Verrats noch die Köpfe zusammen. Auf dem Stich The Double Deliverance, mit dem der puritanische Prediger Samuel Ward 1621 an den misslungenen Angriff der Armada 1588 und den ebenso misslungenen powder treason erinnert  – beides wurde demnach von der göttlichen Vorsehung selbst vereitelt –, planten die Verschwörer ihren Hochverrat jedoch sitzend am Tisch (Abb. 3). Wenn Ward dabei den Teufel, den Papst, den spanischen König und katholische Kleriker zeigt, dann als Drahtzieher all dieser Machinationen im Hintergrund. Ziel ihres Verrats, so die Botschaft, war dabei nicht allein der Tod des Königs, sondern vielmehr die Zerstörung des ganzen Staats  : they decree Great Brytanes State ruinate should bee. Mit solchen Bildern, Texten und performativen Akten wie Gerichtsprozessen oder Predigten am 5.  November (die ihrerseits beide wieder Gegenstand von Publizistik wurden) verfestigte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts die Vorstellung und Gleichsetzung von Katholiken als potenziellen oder notorischen

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Abbildung 4  : Das Frontispiz dieses Pamphlets von 1641 will zeigen, dass auch der Bürgerkrieg das Werk einer hochverräterischen, katholischen Verschwörung war.

Verrätern.46 Bei politischen Konflikten und Krisen erlangte dieser Topos sofort Konjunktur. Wards The Double Deliverance entstand z. B. anlässlich der umstrittenen Heiratspläne des Kronprinzen Karl mit einer spanischen Infantin.47 Auch der englische Bürgerkrieg wurde als ein großer ›papistischer‹ Verrat betrachtet.48 Pamphlete konnten 1641 z. B. mit Enthüllungsgeschichten über horrible and bloody treason and conspiracie against the Protestants of this kingdome in generall aufwarten.49 Im Wortsinn holzschnittartig wurden zudem die konspirative, hochverräterische Vorbereitung ins Bild gesetzt (Abb. 4). Der Bürgerkrieg wurde demnach nicht nur durch Verrat ausgelöst. Vielmehr zeigte sich daran für die antikatholischen Publizisten auch, wozu ›papistische‹ Verräter in der Lage waren. Besonders drastisch wurde diese Gewalt 1642 in einer Bildfolge zu James Cranfords The Teares of Ireland ausgemalt (Abb. 5). Die 46 Für eine detaillierte Rekonstruktion der antikatholischen Memorialkultur in England vgl. Marotti, Religious ideology, 131–201. Natürlich dachte man bei den Verrätern zuerst an katholische Priester, die auch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Hochverräter hingerichtet wurden. 47 Pierce, Unseemly pictures, 35 f. 48 Marotti, Religious ideology, 147. 49 Anon., A discovery of a horrible and bloody treason.

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André Krischer Abbildung 5  : Aus James Cranford. The teares of Ireland […], London 1642.

cruelties and perfidious treacheries of blood-thirsty Jesuits and the popish faction wurden etwa daran demonstriert, dass katholische Rebellen, also Verräter, ihre Hände im aufgeschlitzten Unterleib einer Frau wuschen oder Babys aufspießten und ins Wasser warfen. Ohne Zweifel gab es beim irischen Aufstand von 1641, besonders in der Region Ulster, Gräueltaten an protestantischen Siedlern.50 Aber längst nicht in der Größenordnung, wie dies durch Cranford und andere Publizisten insinuiert wurde.51 Cranfords Gewaltgeschichten und Gewaltbilder folgten der propagandistischen Absicht, Katholiken als Verräter und Verrat als skrupellose Bereitschaft zum Massaker an englischen Protestanten darzustellen.52 Diese Erzählung behielt ihre Plausibilität bis ins letzte Drittel des 17.  Jahrhunderts, sie gehörte zu den Kernelementen der anglo-protestantischen Erinnerungskultur. Sie wurde zwar dadurch erschüttert, dass der Popish Plot 1681 vor allem durch den Zensor und Chefpropagandisten der Krone, Roger L’Estrange, als Erfindung entlarvt werden konnte. Gleichwohl wollten viele Engländer auch 50 Vgl. dazu D’Arcy, The Irish Rebellion, 107 f. 51 Clarke, The ›1641 massacres‹. 52 Marotti, Religious ideology, 153.

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weiter an die immensen Gefahren glauben, die angeblich von katholischen Verrätern ausgingen. Die erfolgreiche Wiederauflage des Pamphlets News from the Sessions House, bei dem der Papismus wegen Hochverrats vor Gericht gestellt wurde, im Jahr 1689 zeigte das ebenso eindrücklich wie die im selben Jahr erfolgte Rehabilitierung des Hochstaplers Titus Oates, der 1685 wegen Meineids verurteilt worden war. Erst im Laufe des 18.  Jahrhunderts, als die protestantische Thronfolge gesichert war, ebbte die Gleichsetzung von Katholiken und Verrätern ab. Doch noch 1780 ließ sich in London ein Mob gegen die Katholikenemanzipation zur Gewalt aufstacheln. Ihr Anführer, George Lord Gordon, wurde wegen dieser Gewalteruption des Hochverrats angeklagt. Doch das ist ein anderes Kapitel aus der englischen Verratsgeschichte.

Fazit Hochverrat wurde in England 1351 als Planung des Mords am König, seiner Familie und seiner höchsten Minister definiert. Auf diese Weise konnten die Gegner des Königs verurteilt werden, noch bevor sie zu den Waffen gegriffen hatten. Justiziabel wurde damit das, was angeblich im Kopf des Verräters vorgegangen war  : imaginig the King’s death. Durch diese Deutung konnten auch Rebellen, die nicht einmal in die Nähe eines Königs gelangt waren, auf dem Schafott enden. Ab der Regierungszeit Elisabeths I. wurde dieses Verständnis von Hochverrat noch einmal dramatisch zugespitzt, insofern es nun nicht länger nur um die Auseinandersetzung mit Aufständischen, sondern mit katholischen Missionaren ging. Diesen wurde unterstellt, dass sie nur vordergründig Seelsorge betrieben, tatsächlich aber darauf zielten, das protestantische England unter die Oberhoheit des Papstes zurückzubringen – wenn nötig mit Gewalt. Verrat implizierte damit nun nicht mehr allein die Bedrohung der Herrscherin, sondern vielmehr der protestantischen Herrschaftsordnung. Insofern erlangte der Kampf gegen ›papistische‹ Verräter eine geradezu heilsgeschichtliche Relevanz. Spitzel berichteten den königlichen Ministern zudem, dass Verschwörer im Verborgenen (vorzugsweise in Rom) gefährliche Pläne schmiedeten und sich dunkler Kanäle und Machenschaften bedienten, um diese Pläne ins Werk zu setzen. Für solche konspirativen und paranoiden Aufladungen bot das englische Verratskonzept besondere Anknüpfungspunkte, insofern es Verrat als eine Sache der Imagination begriff. Dabei enthielten die Spitzelberichte aus Rom neben vielen Fiktionen auch eine Reihe von »Realitätsfetzen«53, genauso wie der Angriff der spanischen 53 Vgl. zu diesem Begriff den Beitrag von Thunemann in diesem Band, hier 276.

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Armada (1588) und die Pulverfassverschwörung (1508) die schlimmsten Befürchtungen über einen katholischen Superverrat zu bestätigen schienen. Doch genauso standen die englischen Protestanten und Puritaner unter dem Eindruck selbsterzeugter Schreckensbilder, die bei Hochverratsprozessen oder auch im Wortsinn, durch Holzschnitte und Kupferstiche, erzeugt worden waren. Das unheilvolle Agieren von ›papistischen‹ Verrätern wurde zum wirkmächtigen Erklärungsmodell für die politischen Konflikte des Konfessionellen Zeitalters. Noch am Ende des 17. Jahrhunderts ließ es sich bei der politischen Kampagne gegen eine katholische Thronfolge mobilisieren. Es trug erheblich dazu bei, erneut eine paranoide Stimmung zu erzeugen, die Unschuldige an den Galgen brachte. Bald darauf hatte das Modell zwar seinen Zenit überschritten. Doch das paranoide Element, das neuzeitlichen Verratsvorstellungen zu eigen ist, erwies sich als bleibendes Erbe der Gleichsetzung von ›Papisten‹ mit Verrätern. Quellen Anon., News from the sessions-house. The tryal, conviction, condemnation and execution of Popery for high-treason for betraying the kingdom and conspiring the ruin, subversion, and death of the Protestant religion, [London] 1689. Anon., A true and plaine declaration of the horrible treasons, practised by William Parry the traitor, against the Queenes Maiestie the maner of his arraignment, conuiction and execution […] London [1585]. Anon., A discovery of a horrible and bloody treason and conspiracie against the Protestants of this kingdome in generall, but especially against divers of the nobility, and many of the honourable House of Commons in Parliament, and also against some of the citizens of London […], London 1641. Anon., A Complete Collection of State-Trials, and Proceedings for High-Treason, and Other Crimes and Misdemeanours. From the Reign of King Richard  II. to the Reign of King George  II., The Second Volume, London 1742. Burghley, William Cecil Baron, The execution of iustice in England for maintenaunce of publique and Christian peace, against certeine stirrers of sedition, and adherents to the traytors and enemies of the realme […], London 1583. Howell, Thomas B./Cobbett, William, Cobbett’s Complete Collection of State Trials, and Proceedings for High Treason and Other Crimes and Misdemeanors from the Earliest Period to the Present Time, London 1809–1820. Kempe, William, A dutiful inuectiue against the moste haynous treasons of Ballard and Babing, London 1587. Munday, Anthony, A discouerie of Edmund Campion, and his confederates […], London 1582. Munday, Anthony, The English Romayne lyfe. Discouering the liues of the Englishmen at Roome […], London 1582. Talbot, Clare, Miscellanea: Recusant records (Publications of Catholic Record Society, 53), London 1961. Whetstone, Georg, The censure of a loyall subject, London 1587.

›Papisten‹ als Verräter 

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1  : Anon., A scheme of Popish crvelties; A prospect of what wee must expect under a Popish successor, London 1681, Bodleian Library, Oxford. Abbildung 2  : Die Pulverfassverschwörer, aus der Werkstatt von Frans Hogenberg, 1605, Rijksmuseum Amsterdam, RP-P-OB-78.785-335. Abbildung 3  : Samuel Ward, The Double Deliverance 1588/1605, 1621, Rijksmuseum Amsterdam, RP-P-OB-80.075. Abbildung 4  : Frontispiz aus Anon., A conspiracy discovered, or The report of a committee to the House of Commons in Parliament, of the examination of divers of the conspirators and others in the late treason, London 1641, British Library, London. Abbildung 5  : James Cranford, The teares of Ireland […], London 1642, S. 75, Folger Shakespeare Library, Washington, D.C., 166–401q.

Volker Depkat

Der Name des Verrats Benedict Arnold und die Amerikanische Revolution

Treason of the Blackest Dye1 – Der Straftatbestand Der Name Benedict Arnold ist in der amerikanischen Geschichte gleichbedeutend mit ›Verrat‹ (treason), und das Komplott, das sich mit ihm verbindet, ist in der Geschichtskultur der USA bis heute in hohem Maße präsent.2 In der militärisch prekären Situation des Jahres 1780, in der der Ausgang des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges noch völlig offen war, wollte der General der Kontinentalarmee nicht nur das von ihm kommandierte Fort West Point, das ein ganzes System von amerikanischen Befestigungsanlagen im Tal des Hudson River in New York kontrollierte, gegen eine angemessene Belohnung an die Briten übergeben. Vielmehr sah Arnolds über mehrere Monate gereifter Plan am Ende auch vor, General George Washington, den Oberkommandierenden der Kontinentalarmee, und einen Teil seines Führungsstabes gefangen zu nehmen und an die Briten auszuliefern. Dies hätte wohl die Niederlage der USA im Unabhängigkeitskrieg besiegelt und die fortgesetzte Herrschaft der Briten über den nordamerikanischen Kontinent garantiert. Arnold hatte bereits im Mai 1779 eine konspirative Korrespondenz mit General Sir Henry Clinton, dem Oberkommandierenden der britischen Truppen, und seinem Spionagechef Major John André eröffnet und aus freiem Entschluss seine Dienste angeboten. Dabei zeigte er sich durchaus offen für ein breites Spektrum von Aktivitäten. Arnold, der in der Schlacht von Saratoga zum bewunderten Helden der Amerikanischen Revolution geworden war, bot den Briten an, entweder durch sofortiges Überlaufen oder die Planung eines größeren Komplotts die amerikanische Kriegsanstrengung zu schwächen. Major André vernahm die Botschaft Arnolds, die ihm am 9. Mai 1779 von zwei Mittelsmän1 So charakterisierte George Washington den Verrat Benedict Arnolds am Tag danach  : Nathanael Greene, September 26, 1780, General Orders, George Washington Papers, Series 3, Varick Transcripts, 1775 to 1785, Subseries 3G, General Orders, 1775 to 1783, Letterbook 5  : April 11, 1780– Sept. 5, 1781. 1780. Manuscript/Mixed Material. Retrieved from the Library of Congress, https:// www.loc.gov/item/mgw3g.005/ (5.10.2017). 2 Die folgenden Ausführungen beruhen auf  : Wallace, Traitorous Hero  ; Randall, Benedict Arnold  ; Brandt, Man in the Mirror  ; Martin, Benedict Arnold  ; Palmer, George Washington.

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nern in New York überbracht wurde, zunächst mit ungläubigem Staunen, dann mit zunehmender Verzückung. Ohne Arnolds Identität überhaupt schon zu kennen, steckte André einen großen Rahmen verräterischer Dienstleistungen ab, die der Anonymus erbringen könnte. Er könne militärisch wichtige Informationen liefern oder den Kriegswillen der Amerikaner durch defätistische Agitation zersetzen. Militärische wie politische Erfolge seien gleichermaßen willkommen und würden entsprechend entlohnt. Das war der Beginn einer sich über die nächsten fast anderthalb Jahre erstreckenden konspirativen Korrespondenz zwischen Arnold und André, in deren Verlauf der große Verrat in vielen unerwarteten Wendungen zunehmend Gestalt annahm. Sie folgte einem sehr ausgeklügelten System der Geheimhaltung. Kodierte Nachrichten wurden mit unsichtbarer Tinte zwischen die Zeilen scheinbar unverfänglicher Briefe geschrieben. Die unsichtbare Tinte wurde sichtbar, wenn man den Brief über eine Kerze hielt oder ihn mit Säure bürstete, was die unsichtbaren Zeilen schwärzte. Für ihre Korrespondenz bedienten sich Arnold und André eines weit gespannten konspirativen Netzwerks von Vertrauensmännern, die als Briefboten zwischen Philadelphia, wo Arnold von 1778 bis 1780 Militärgouverneur war, und New York, wo die Briten damals ihr Hauptquartier hatten, fungierten. Allerdings kann man nicht über das Komplott Arnolds berichten, ohne über die wichtige Rolle der Frauen in diesem Geschehen zu schreiben, denn Arnolds Ehefrau Peggy war von Beginn an in die verräterischen Pläne ihres Ehemannes eingeweiht und half mit bei der Kodierung und Dekodierung der Nachrichten. Es ist wichtig, ihre Teilhabe am konspirativen Geschehen zu betonen, denn die im 18./19. Jahrhundert zirkulierenden Frauenbilder ließen es als buchstäblich undenkbar erscheinen, dass Frauen überhaupt fähig sein könnten, sich aktiv an konspirativ-politischen Tätigkeiten zu beteiligen. Interessanterweise nutzten Arnold und André diese kulturell tief verankerte Prämisse weiblicher Politikunfähigkeit für ihre verräterischen Machenschaften aus und sahen sich zugleich durch sie geschützt. Seit dem Sommer 1779 übersandte Arnold wichtige politische Informationen und militärische Geheimnisse an die Briten. Einiges davon wirkte sich unmittelbar auf die britische Kriegsführung aus und bescherte der Kontinentalarmee deshalb einige empfindliche Rückschläge, jedoch war nichts an der verräterischen Arbeit Arnolds für die amerikanische Kriegsanstrengung so gefährlich wie der Plan zur Auslieferung von West Point, der im Laufe des Sommers 1780 Gestalt annahm. In einer Reihe von Briefen und Mitteilungen ließ Arnold Major André und General Clinton im Juni/Juli 1780 wissen, dass er sich bei Washington um das Kommando über West Point bemühen wolle, um es samt seiner Besatzung an die Briten zu übergeben. Für diese Aktion verlangte Arnold eine

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Aufwandsentschädigung in Höhe von £ 20.000, Schutz für sich und seine Familie sowie einen Generalsposten in der britischen Armee. Auch forderte er ein persönliches Treffen mit einem Verbindungsmann, der die Ernsthaftigkeit der britischen Absichten bekräftigen und zugleich die Details der Übergabe klären würde. Nach einigem Hin und Her nahmen Clinton und André das Angebot Arnolds am 24. Juli 1780 offiziell an. Allerdings war es gar nicht so einfach für Arnold, an das Kommando über West Point zu kommen, denn Washington hatte andere Pläne mit ihm. Am 1. August 1780 ernannte er Arnold zum Divisionskommandeur über die linke Flanke der Kontinentalarmee im Hudsontal. Als Arnold davon erfuhr, entgleisten ihm nach Augenzeugenberichten alle Gesichtszüge. Er lamentierte, dass er das Kommando im Feld nicht wahrnehmen könne, weil sein seit der Schlacht von Saratoga verkrüppeltes Bein nach wie vor stark schmerze und er sich kaum für längere Zeit im Sattel halten könne. Eine Garnisonstätigkeit als Kommandeur von West Point sei das Einzige, was er in seinem körperlichen Zustand übernehmen könne. Arnolds Zetern und Lamentieren hatte Erfolg. Am 3. August 1780 machte Washington ihn zum Kommandeur von West Point. Arnold trat seinen Posten unverzüglich an und machte sich gleich an die Arbeit. Akribisch sammelte er Informationen über Truppenstärke, Feuerkraft und Vorräte. Er kartierte die Positionen von Artilleriegeschützen und Verteidigungsanlagen. Zugleich schwächte er die Verteidigungskraft der Garnison  : Er zog Truppen ab und brauchte darüber hinaus alle Vorräte auf, sodass West Point eine längere Belagerung unmöglich überstehen konnte. Es wurde nun Zeit für ein persönliches Gespräch zwischen Arnold und André. Ein erstes Treffen wurde für den 11.  September anberaumt, kam aber nicht zustande. Daraufhin wurde ein weiteres Treffen für den 20.  September vereinbart. Zuvor jedoch erreichte Arnold am 15. September 1780 die überraschende Nachricht, dass Washington mit einer kleinen Entourage nach Norden ziehen würde, um sich in Hartford mit den Oberkommandierenden der französischen Streitkräfte zu treffen. Auf dem Weg dorthin würde er am 17. September ganz in der Nähe von West Point in Peekskill übernachten. Auf seiner Rückreise wollte Washington am 24.  September in West Point Zwischenstation machen. Washington trug Arnold auf, für militärischen Schutz zu sorgen und bestand auf äußerste Geheimhaltung seiner Reise. Arnold leitete diese Information umgehend an die Briten weiter. Am 17. September ritt Arnold mit einer Eskorte Washington entgegen und geleitete ihn und dessen Entourage nach Peekskill. Als Washington mit seinem Gefolge den Hudson überquerte, tat er dies in Sichtweite des britischen Kriegsschiffes Vulture, doch Arnolds Nachricht hatte die Briten nicht rechtzeitig erreicht, sodass die Gruppe unbehelligt an ihr Ziel kam. Daraufhin schlug Arnold

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den Briten vor, ihren Vormarsch auf West Point am 24. September zu starten. Dies sei der ideale Zeitpunkt nicht nur für die Übergabe des Forts, sondern auch für die Gefangennahme des Oberkommandierenden der Kontinentalarmee, der sich dann auf dem Rückweg befinden würde. Zuvor kam es jedoch in der Nacht vom 21. auf den 22. September 1780 am Westufer des Hudson River südlich von Haverstray Bay im Niemandsland hinter den amerikanischen Linien zu dem seit langem geplanten Treffen zwischen André und Arnold. André hatte sich vom Dreimaster Vulture über den Fluss setzten lassen und unterhielt sich im Schutz des Waldes in den frühen Morgenstunden des 22. September für etwa zwei Stunden mit Arnold, ohne dass jemals rekonstruiert werden konnte, um was es in dem Gespräch ging. Sicher ist jedoch, dass Arnold eine Reihe von Dokumenten zum Zustand der Bastion an André übergab. Der Anfang vom Ende des Komplotts kam, als die angeheuerten Ruderleute sich im Morgengrauen weigerten, André zurück auf die Vulture zu rudern, weil sie zu erschöpft seien und die Reise bei Tageslicht viel zu gefährlich sei. André saß hinter den amerikanischen Linien fest, und als die Kontinentalarmee nach Tagesanbruch die Vulture beschoss und sie zum Rückzug zwang, war André nicht nur die Möglichkeit einer schnellen Rückkehr verbaut, sondern auch die Chance vertan, Washington durch einen schnellen Angriff auf West Point gefangen zu nehmen. André versuchte daraufhin im Schutz eines von Arnold ausgestellten Passierscheins, die bei Dobbs Ferry ankernde Vulture auf dem Landweg zu erreichen. Bei diesem Versuch stieß er am Morgen des 23. September in Sichtweite der britischen Linien auf die wegelagernden amerikanischen Milizsoldaten John Paulding, Isaac Van Wart und David Williams. André dachte fälschlicherweise, er wäre auf eine Gruppe von Loyalisten gestoßen und gab sich deshalb als britischer Offizier zu erkennen, woraufhin er sofort gefangen genommen wurde. Eigentlich waren die Milizen hinter Andrés Geld her, fanden dabei aber die Papiere in seinen Socken und identifizierten ihren Gefangenen sofort als Spion. Die Nachricht von Andrés Festnahme erreichte Arnold am Montag, den 25.  September, während er in seinem Quartier in Robinson House mit dem Frühstück auf Washington wartete. Oberst John Jameson, der Kommandeur von North Castle, hatte seinem Vorgesetzten per Eilboten Meldung gemacht. In der Nachricht hieß es, dass André geschnappt worden sei und dass sich in seinem Besitz ein von Arnold ausgestellter Passierschein sowie eine Reihe von Dokumenten mit vertraulichen Informationen befunden hätten. Diese Papiere habe er unverzüglich an General Washington gesandt, ließ Jameson mitteilen. Als Arnold diese Nachricht erhielt, war der Oberkommandierende der Kontinentalarmee nur noch wenige Minuten von West Point entfernt. Hals über Kopf floh

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Arnold am 25. September aus seinem Quartier, ließ sich den Hudson herunter rudern und erreichte gegen Mittag die Vulture. Nachdem er übergelaufen war, kämpfte Arnold mit großem Einsatz und noch größerer Rücksichtslosigkeit gegen die amerikanischen Revolutionäre, doch so recht warm wurde er mit den Reihen seiner neuen Bündnispartner nie. Bis zu seinem Tod im Jahr 1801 versuchte Arnold sich gegenüber den Briten zu rechtfertigen, wobei er stets darauf verwies, aus Pflicht gegenüber dem Empire gehandelt zu haben. Allerdings wurde er auch in England den Ruf nicht los, aus reiner Gier und Selbstsucht gehandelt zu haben. Seine berufliche Karriere verlief insgesamt glücklos. Ein neues Kommando in den Reihen der britischen Armee bekam er nicht, seine geschäftlichen Projekte in England und Kanada scheiterten, und seine materielle Situation war bis zu seinem Tod prekär. Als Arnold am 14. Juni 1801 in London von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt starb, hinterließ er seiner Familie Schulden in Höhe von rund £ 6000. Juristisch ist der Fall klar. Arnolds geplantes Komplott stellte eine massive Gefährdung der Sicherheit der USA dar. Er kollaborierte mit dem Feind, verriet Geheimnisse, plante die Übergabe strategisch wichtiger militärischer Einrichtungen und wollte den Oberbefehlshaber der Kontinentalarmee gefangen nehmen. Damit deckte sein Agieren, das George Washington als so hellish a plot bezeichnete, ein breites Spektrum an strafrechtlich definierten Normbrüchen ab, das sich in jeder Hinsicht als ›Verrat‹ klassifizieren lässt, und zwar selbst im Sinne der sehr restriktiven Definition der US-Verfassung.3 »Als Verrat gegen die Vereinigten Staaten«, heißt es dort im Artikel III, Abschnitt 3, »gilt nur die Kriegsführung gegen sie oder die Unterstützung ihrer Feinde durch Hilfeleistung und Begünstigung«.4 Dieser juristische Tatbestand erklärt freilich nicht allein, weshalb der Name Benedict Arnold als Inbegriff des Verrats bis heute sehr präsent ist. Es hat vielmehr etwas mit seinem Ort in den identitätsprägenden Narrativen einer konstruierten ›usable past‹ zu tun.5

Gefallener Engel – Arnold als Held der Amerikanischen Revolution In den USA ist der Verrat Arnolds bis heute weder vergessen noch vergeben. Im Schlusskapitel seiner 1954 erschienenen wissenschaftlichen Arnold-Biographie, die bis heute als Standardwerk gilt, reflektiert Willard  M. Wallace den histo3 Quellenzitat wie Anm. 1. 4 Sautter, Die Vereinigten Staaten,193. 5 Zur Idee der ›usable past‹  : Commager, Usable Past, 3–27.

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rischen Ort Arnolds im Vergleich zu allen anderen Verrätern in der amerikanischen Geschichte. Er kommt zu dem Schluss, dass Arnolds Komplott zwar leichter zu verstehen, aber schwerer zu vergeben sei.6 »Wenngleich kein amerikanischer Verräter seinem Land jemals so wertvolle Dienste erwiesen hat«, schreibt Wallace, »so kommt doch auch kein anderer Verrat seinem an Perfidie gleich.«7 Mit dieser Bemerkungen stößt Wallace zur grundsätzlichen Spannung vor, in der die geschichts- und erinnerungspolitischen Narrative über den Verräter Benedict Arnold bis heute angesiedelt sind  : Es ist das Thema vom gefallenen Engel, denn bevor Arnold zum Verräter wurde, hatte er sich bis 1778 den Status eines Helden der Revolution erarbeitet, der unter wagemutigem Einsatz seines Lebens sowie einem Gutteil seines eigenen Vermögens für die Sache der Amerikaner gekämpft hatte. In der Schlacht von Saratoga hatte er im September/ Oktober 1777 entscheidend dazu beigetragen, den glanzvollsten und – wie wir heute wissen – auch kriegsentscheidenden Sieg der Kontinentalarmee zu erfechten. Damals hätten deshalb nur die wenigsten Amerikaner geglaubt, dass der allseits bewunderte Arnold nur zwei Jahre später zum Verräter werden würde. Der am 14.  Januar 1741 in Norwich, Connecticut, geborene Arnold entstammte einer in vierter Generation in Neuengland ansässigen puritanischen Familie, die im Zuge der sogenannten Great Migration während der 1630er Jahre nach Nordamerika gekommen war und sich nach kurzer Zwischenstation in Boston 1636 in der von Roger Williams gegründeten Kolonie Rhode Island angesiedelt hatte. In den 1730er Jahren war Arnolds Vater Benedict Arnold Senior auf der Suche nach neuen Chancen nach Norwich übergesiedelt, hatte dort die wohlhabende Witwe Hannah Waterman King geheiratet und sich als Kaufmann mit weit verzweigten geschäftlichen Beziehungen nach Neuengland und in die Karibik Wohlstand und Ansehen erarbeitet. Dann jedoch begannen die Geschäfte in den 1740er Jahren schlechter zu laufen. Die Abwärtsspirale hatte bereits eine ganze Weile angehalten, als die Gelbfieberepidemie des Jahres 1753 zwei seiner Kinder dahinraffte. Dieser Schicksalsschlag scheint Arnold senior vollends aus der Bahn geworfen zu haben. Er wurde zum stadtbekannten Trunkenbold, der Ansehen und Vermögen der Familie in der von rigiden puritanischen Moralvorstellungen geprägten Lebenswelt von Norwich komplett zerstörte. Für Arnold junior war der Niedergang seiner Familie ein tiefer lebensgeschichtlicher Einschnitt – aus Sicht einiger seiner Biographen war es sogar der alles entscheidende Bruch.8 Der sich in aller Öffentlichkeit vollziehende Bank6 Wallace, Traitorous Hero, 323. 7 Ebd., 324. 8 So vor allem Brandt, Man in the Mirror.

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rott der Familie stellte nicht nur eine soziale Demütigung dar, er beendete auch alle Aussichten des jungen Benedict Arnold auf ein Leben als Gentleman in den höchsten Kreisen der kolonialen Gesellschaft. Als er im Alter von vierzehn die Privatschule von Reverend Dr.  James Cogswell verlassen musste, weil die Familie sich das Schulgeld nicht mehr leisten konnte, kehrte Arnold nach Norwich zurück und begann eine kaufmännische Lehre in der Apotheke der Brüder Lathrop. Von diesem biographischen Tiefpunkt aus arbeitete sich Arnold Schritt für Schritt wieder empor. Seine siebenjährige Lehre meisterte er mit Bravour. Nach dem Tod seines Vaters 1761 machte er sich selbstständig und siedelte 1762 nach New Haven, Connecticut, über, wo er sich in kurzer Zeit durch Fleiß, unternehmerisches Geschick und glückliches Agieren im Westindienhandel ein Vermögen erarbeitete. Bis zum Vorabend der Amerikanischen Revolution war der umtriebige Arnold zu einem der reichsten Kaufleute der Kolonie geworden. Diesen Erfolg gönnten ihm in New Haven freilich nur die wenigsten. Die etablierten Kreise sahen ihn als neureichen Emporkömmling und akzeptierten ihn nicht. Als Außenseiter in der städtischen Gesellschaft war Arnold ein Revolutionär der ersten Stunde. Seine geschäftlichen Interessen waren durch die neue Politik der strafferen imperialen Kontrolle, auf die das britische Mutterland nach dem Siebenjährigen Krieg einschwenkte, besonders stark betroffen. Deshalb organisierte Arnold in New Haven schon Protest und Widerstand gegen die als despotisch empfundenen britischen Steuergesetze, als sich die etablierten Kreise noch vor allem um Ruhe und Ordnung sorgten. Als der Konflikt zwischen den Kolonien und dem Mutterland nach der Boston Tea Party vom 16. Dezember 1773 eskalierte und ein militärischer Konflikt im Laufe des Jahres 1774 immer wahrscheinlicher wurde, war Arnold wiederum einer der ersten, der in New Haven aktiv wurde. Zusammen mit 64 Bürgern des Ortes rief er am 28. Dezember 1774 eine Milizeinheit ins Leben, die sich selbst ausrüstete, ihre Ausbildung selbst organisierte, Arnold zu ihrem Hauptmann wählte und sich auf einen Krieg gegen England vorbereitete. Nach den Gefechten von Lexington und Concord am 19. April 1775 zog Arnold eigenmächtig mit fünfzig Mann nach Boston, um den Patrioten zu helfen. Das war der Beginn einer atemberaubenden militärischen Karriere, in deren Verlauf Arnold es bis zum General und besten Feldoffizier der Kontinentalarmee brachte. Im Mai 1775 eroberte er zusammen mit den rabaukenhaften Green Mountain Boys von Ethan Allen das am Lake Champlain in New York gelegene britische Fort Ticonderoga. Anschließend gehörte Arnold zu denjenigen, die energisch auf die Invasion des zu dem Zeitpunkt noch schwach befestigten Kanada drängten. Am 27. Juni 1775 beschloss der Kontinentalkongress diesen Angriff, bei dem amerikanische Verbände auf zwei Routen nach Quebec ziehen

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sollten. Während General Philip Schuyler von Fort Ticonderoga aus den Lake Champlain hoch schippern, Montreal einnehmen und dann den St. Lawrence River hinunter auf Quebec City zu segeln sollte, würde Arnold ein zweites Kontingent entlang des Kennebec River in Maine nach Quebec führen, sich dort mit Kontingenten von Schuylers Armee vereinigen und die Stadt angreifen. Der von Arnold kommandierte Marsch durch die Wildnis von Maine war eine der härtesten und entbehrungsreichsten Operationen des Amerikanischen Revolutionskrieges. Sie stand von Beginn an unter einem schlechten Stern. Es war schon spät im Jahr, als die Expedition nach langen Vorbereitungen im September 1775 aufbrach. Die eigens für diese Expedition gebauten Ruderboote waren schwerfällig und undicht. Die Soldaten waren die meiste Zeit völlig durchnässt, der mitgeführte Proviant verdarb, und obendrein brach der kanadische Winter früher ein als sonst. Bereits Anfang Oktober fielen die Temperaturen nachts unter den Gefrierpunkt. Krankheiten und Erschöpfung dezimierten Arnolds Truppen. Die Expedition stand kurz vor dem Abbruch, einige Einheiten setzten sich ab, doch Arnold bewies Führungsstärke und überzeugte seine Soldaten weiterzumarschieren, wobei sein eigenes Vorbild an selbstloser Hingabe die Soldaten offenbar zum Weitermachen inspirierte. Anfang November erreichte Arnold Quebec nach einem höchst entbehrungsreichen Marsch mit nur noch 600 der einstmals 1100 Mann und begann die Belagerung der Stadt. Anfang Dezember stießen die von General Richard Montgomery befehligten Einheiten der Schuyler-Expedition hinzu. Am Silvestertag des Jahres 1775 starteten die Amerikaner einen konzentrierten Angriff auf die Stadt, der jedoch zurückgeschlagen wurde und der Kontinentalarmee große Verluste zufügte. General Montgomery fiel, Arnold wurde am linken Bein schwer verwundet, 48 amerikanische Soldaten fanden bei der versuchten Erstürmung Quebecs den Tod und 34 wurden verwundet. Dennoch setzten die amerikanischen Truppen die Belagerung der Stadt noch bis April fort und zogen sich dann mit dem einsetzenden Frühjahr im Mai/Juni 1776 zurück. Wenngleich die Invasion Kanadas gescheitert war, so ging Arnold aus dieser Operation als Kriegsheld hervor. Viele sahen in ihm einen galanten Offizier, der mit Führungskraft, Charisma, militärischem Talent und großem persönlichen Einsatz die Truppen bei der Stange gehalten und alles für die Sache der Revolution gegeben hatte. Nach dem Rückzug aus Kanada gab General Horatio Gates, seit Juni 1776 neuer Befehlshaber des Kanadischen Departements der Kontinentalarmee, Arnold das Kommando über die amerikanische Marine auf dem Lake Champlain und betraute ihn mit der Aufgabe, die dort für den Herbst erwartete britische Invasion aufzuhalten. Die Streitmacht, die Arnold für die Verteidigung des Lake Champlain zur Verfügung hatte, war beklagenswert schwach. Seine Flotte bestand lediglich aus 17, nur leicht bewaffneten Kanonenbooten. Seine Soldaten

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Abbildung 1  : Als Benedict Arnold noch ein Held war. Der zeitgenössische Kupferstich von 1776 zeigt Arnold in Siegerpose nach der – letztlich erfolglosen – Belagerung Quebecs.

waren keine gelernten Matrosen, und die Munition war knapp. Im Vergleich dazu war die britische Armada übermächtig. Dennoch lockte Arnold sie in einem tollkühnen Manöver an einer Engstelle von Valcour Island in einen Hinterhalt. Am 11. Oktober kam es dort zu einer Seeschlacht, die trotz der britischen Übermacht und schwerer Schäden an fast allen amerikanischen Schiffen unentschieden endete, weil die Briten gegen den Nordwind seeaufwärts kämpfen mussten. Zwar saß Arnold mit seiner schwer beschädigten Flotte anschließend in der Falle, doch es gelang ihm mit einem abenteuerlichen Manöver in der nebeligen Nacht zum 12. Oktober die Flucht ins offene Wasser des Lake Champlain. Es kam zu einer wilden Verfolgungsjagd, bei der Arnold zwar entkommen konnte, doch einen Großteil seiner ohnehin schon angeschlagenen Flotte entweder durch Kapitulation oder Selbstversenkung verlor. Anfangs erschien Arnolds Einsatz auf dem Lake Champlain in sehr positivem Licht. Er wurde als Held und galanter Verteidiger des Landes verehrt. Dann jedoch wurden Stimmen laut, die Arnold eine Fehleinschätzung der Lage, Ruhmsucht und den Verlust der Flotte vorwarfen. Auch sonst begann sich um die Jahreswende 1776/77 einiges über Arnold zusammenzubrauen. Er hatte sich einige Feinde gemacht, die sich systematisch an die Zerstörung seines guten Namens machten. Hinzu kamen Rivalitäten mit an-

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deren, um Ruhm und Ehre buhlenden Kommandeuren der Kontinentalarmee, und das im Kontext einer noch völlig ungefestigten politischen Ordnung, in der einerseits Fragen des föderalen Proporzes über Beförderungen entschieden und andererseits die zivile Gewalt darauf bedacht war, den Primat über die militärische Gewalt zu behaupten. Zudem hatte Arnold zwischenzeitlich so viel eigenes Geld in die Revolution gesteckt, dass er in finanzielle Engpässe geriet. Zu Arnolds Nemesis wurde John Brown, Offizier in den Reihen der Kontinentalarmee, mit dem Arnold im Verlauf der Kanadaexpedition mehrfach heftig aneinandergeraten war und der seitdem einen Rachefeldzug gegen seinen ehemaligen Kommandeur führte. Am 1. Dezember 1776 ging Brown mit einer Liste von dreizehn Vorwürfen gegen Arnold an die Öffentlichkeit, die Arnolds militärisches Verhalten in Kanada scharf verurteilten. Brown warf Arnold eigenmächtiges Handeln, Plündereien und Diebstähle sowie andere Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, außerdem Rücksichtslosigkeit im Umgang mit den eigenen Truppen, Missbrauch der Befehlsgewalt sowie ruhmsüchtige Tollkühnheit vor, die den Amerikanern schwere Verluste beschert hätte. Diese für ihn gefährliche Sache ließ Arnold zunächst laufen und übernahm das ihm von Washington angetragene Kommando über die amerikanischen Einheiten in Rhode Island, wo sich die Briten in Newport festgesetzt hatten. Dieser Gunstbeweis des Oberkommandierenden der Kontinentalarmee stieß General Gates sauer auf. Er fühlte sich übergangen und machte sich im Folgenden nun auch daran, Arnolds Karriere zu zerstören. Als der Kongress am 19. Februar 1777 fünf Brigadegeneräle zu Generalmajoren beförderte, wurde Arnold übergangen. Bei dieser Entscheidung spielten nicht nur Zweifel an seinem Charakter und seinen militärischen Fähigkeiten eine Rolle, sondern auch föderale Machtkämpfe und die Selbstbehauptung der zivilen Gewalt gegenüber dem immer mächtiger werdenden General Washington, der sich für die Beförderung Arnolds ausgesprochen hatte. Arnold nahm den Beschluss des Kongresses allerdings rein persönlich, blieb jedoch auf Bitten Washingtons bei der Stange und forderte die gerichtliche Klärung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Just als Arnold im Begriff war, zu seiner Anhörung vor dem Kongress nach Philadelphia zu reisen, platzte am 26. April die Nachricht ins Haus, dass britische Verbände in der Nähe von Norwalk, Connecticut gelandet seien. Umgehend sammelte Arnold seine Truppen und stellte sich einer britischen Übermacht bei Ridgefield, Connecticut, entgegen, und es gelang ihm, den Vormarsch der Briten vorerst zu stoppen. Diese heroische Aktion Arnolds nahm der Kongress zum Anlass, ihn doch noch zum Generalmajor zu befördern, allerdings ohne zugleich seine Seniorität gegenüber den zuvor beförderten Generälen festzustellen. Das war Arnold zu wenig, und er verlangte eine Untersuchung seiner Angelegenheit vor dem

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Kongress. Der Kongress überwies Arnolds Anliegen an das Board of War, das ihn von allen Vorwürfen freisprach, aber nichts zur Frage der Seniorität sagte und in der finanziellen Entschädigung weit hinter den Erwartungen Arnolds zurückblieb. Am 11. Juli 1777 übergab ein frustrierter und in seiner Ehre zutiefst gekränkter Arnold dem Kongress sein Rücktrittsgesuch. Es kam jedoch nicht zum Rücktritt, denn am 6. Juli hatten die Briten das strategisch wichtige Fort Ticonderoga zurückerobert und waren von dort aus gegen das südlich gelegene Albany, New York, vorgerückt. In dieser militärischen Notsituation verlangte Washington ausdrücklich nach dem erfahrenen Feldoffizier Arnold, und dieser stellte sich auch zur Verfügung, weil er glaubte, dass die bevorstehende Schlacht von Saratoga eine entscheidende sein würde. Allerdings war sein Verhältnis zu General Gates, dem neuen Kommandeur des Nördlichen Departements, sehr gespannt. Gates hatte am 19. August den durch den Fall von Ticonderoga diskreditierten Philipp Schuyler ersetzt und igelte sich bei Saratoga ein, während Arnold energisch auf Offensive drängte. Am 19. September 1777 kam es zur ersten Schlacht von Saratoga bei Freeman’s Farm, während der Arnold als Kommandeur des linken Flügels in einer kühnen Attacke die Briten sturmreif schoss. Doch weil der zögerliche Gates mit der Hauptstreitmacht nicht nachsetzte, verstrich die Chance auf einen Sieg ungenutzt. Arnold war außer sich. Es kam zu einem erbitterten Wortgefecht mit Gates, nach dem Arnold das Feldlager verlassen wollte, um sich zu Washington zu begeben. Gates war nur zu gerne bereit, seinen Rivalen ziehen zu lassen, doch als die dem charismatischen Arnold zugetanen Soldaten lautstark protestierten, gab Gates zähneknirschend nach. Arnold blieb im Feldlager, doch entzog Gates ihm das Kommando über den linken Flügel. Als es am 7. Oktober zur zweiten Schlacht von Saratoga bei Bemis Heights kam, versah Arnold deshalb zunächst Lagerdienst, doch dann erschien er unverhofft auf dem Schlachtfeld, übernahm eigenmächtig sofort das Kommando und führte die Amerikaner zu einem glänzenden Sieg. Der Preis war allerdings hoch  : Arnold wurde ins linke Bein getroffen und fiel dann unter sein ebenfalls getroffenes Pferd. Dieser Trümmerbruch des Beines, das in Quebec schon einmal verwundet worden war, machte Arnold für den Rest seines Lebens zu einem Hinkenden. Nach halbjähriger Rekonvaleszenz stieß ein an Krücken humpelnder Arnold am 21.  Mai 1778 wieder zur Kontinentalarmee, und Washington setzte den Invaliden als Militärgouverneur von Philadelphia ein. Die Stadt, die bis vor Kurzem von den Briten besetzt gewesen war, war ein Ort, an dem die ungelösten politischen und sozialen Konflikte der revolutionären Gesellschaft mit großer Wucht aufeinanderprallten. Hier wohnten einige der radikalsten Whigs und einige der treuesten Loyalisten des Landes. Letztere hatten während der

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britischen Besetzung der Stadt 1777/78 eng mit den Besatzern kooperiert und wurden nun von den Whigs verfolgt. Als Militärgouverneur hatte Arnold die Aufgabe, für Recht und Ordnung zu sorgen, und geriet deshalb schnell zwischen alle Stühle. Gleichzeitig wurde er wegen seines pompösen Lebensstils mit großem Haushalt, vielen Dienern und spektakulären Festen schnell zur Zielscheibe der Kritik der radikalisierten Whigs. Darüber hinaus machte Arnold, dessen finanzielle Situation immer prekärer wurde, weiterhin Geschäfte, die nicht immer ganz sauber waren. So requirierte er als Militärgouverneur Kutschen zum Transport privater Handelsware. Auch kaufte er im Geheimen konfiszierte Waren loyalistischer Stadtflüchtlinge auf, um sie mit großem Gewinn weiterzuverkaufen, während gleichzeitig alle Geschäfte in Philadelphia auf seine Anordnung hin geschlossen bleiben mussten. Als sei das alles nicht bereits genug, um das Misstrauen der Whigs in der Stadt zu erregen, verliebte Arnold sich im Sommer 1778 auch noch in Margaret ›Peggy‹ Shippen – ausgerechnet Peggy Shippen, die achtzehnjährige, attraktive Tochter des stadtbekannten Loyalisten und Richters Edward Shippen  ! Im September 1778 hielt Arnold um ihre Hand an, am 8.  April 1779 heirateten die beiden, und Arnold driftete im Folgenden immer stärker in das Lager der Loyalisten. Das blieb den Whigs nicht verborgen. Unter der Führung von Joseph Reed, der am 1. Dezember 1778 als Präsident von Pennsylvania inauguriert worden war und scharf gegen alle agitierte, die sich nicht der Amerikanischen Revolution anschließen wollten, starteten sie eine Kampagne gegen Benedict Arnold, dessen Amtsführung, dessen Lebensstil und dessen Liebesleben. Die öffentliche und immer vehementer werdende Agitation der Whigs warf ihm Unregelmäßigkeiten in der Amtsführung, Ausnutzung amtlicher Macht für private Geschäfte, Parteinahme für die Loyalisten und fehlenden Respekt gegenüber der Autorität der gewählten Regierung Pennsylvanias vor. Daraufhin eröffnete der Kontinentalkongress im März 1779 ein Untersuchungsverfahren gegen Arnold, überwies die Angelegenheit dann jedoch an ein von Washington einzuberufendes Militärtribunal. Arnold drängte auf ein schnelles Verfahren, doch Reed, der noch Beweise gegen Arnold sammeln wollte, setzte erfolgreich eine Verschiebung auf unbestimmte Zeit durch. In dieser Situation bot Arnold im Mai 1779 mit Wissen und Billigung seiner frisch angetrauten Ehefrau Peggy den Briten erstmals seine Dienste an, doch erst die folgenden Ereignisse und Entwicklungen bestärkten ihn in seinem zunächst offenbar noch nicht ganz festen Entschluss, mit den Briten gemeinsame Sache zu machen. Sein Prozess vor dem Militärtribunal begann am 1. Juni 1779, wurde dann aber noch am selben Tag verschoben, weil die Briten im Norden angriffen. Erst am 23. Dezember 1779 trat das Gericht wieder zusammen, und

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am 26. Januar 1780 wurde das Urteil verkündet. Arnold wurde zwar von den meisten Vorwürfen freigesprochen, wegen der öffentlichen Requirierung von Kutschen für private Transporte und der freigiebigen Ausstellung von Passierscheinen für Loyalisten wurde er jedoch deutlich ermahnt, ohne aber wirklich juristisch belangt zu werden. Arnold hielt sich für rehabilitiert und ließ den Wortlaut des Urteils auf seine eigenen Kosten drucken. Washington sah das jedoch anders und meinte vor allem wegen des Dauerkonflikts zwischen ziviler und militärischer Gewalt ein Zeichen setzen zu müssen. In seinem Tagesbefehl vom 6. April 1780 distanzierte er sich offiziell und in scharfem Ton von Arnolds Agieren bei der Ausstellung von Passierscheinen und in der Beschlagnahmung von Kutschen. Im Verhältnis zu der insgesamt eher unsauberen Amtsführung des Militärgouverneurs war diese öffentliche Maßregelung des unter großem politischem Druck stehenden Washington eine eher milde Reaktion, die Arnold jedoch völlig unvorbereitet traf. Ohne Gespür für die komplizierte Gemengelage nahm er Washingtons Kritik persönlich und war bis ins Mark erschüttert. Kurz nach Washingtons Tagesbefehl veröffentlichte das Board of Treasury am 22.  April 1780 seinen Bericht über die Ermittlungen zu Arnolds finanziellen Forderungen, die aus dem Feldzug gegen Kanada resultierten. Das Gremium stellte fest, dass die Entschädigungsforderungen Arnolds in Höhe von gut £ 2500 unberechtigt seien, und stellte dem General darüber hinaus noch £ 1000 für Ausgaben in Rechnung, für die er keine Belege beibringen konnte. Diese Forderungen Arnolds waren aber, wie wir heute wissen, eigentlich berechtigt gewesen. Allerdings hatte er durch die öffentliche Missbilligung Washingtons für viele seine Glaubwürdigkeit so grundlegend verloren, dass selbst berechtigte finanzielle Forderungen nicht mehr anerkannt wurden. Der nach sozialer Anerkennung strebende Arnold sah sich einer undankbaren Nation gegenüber, für deren Freiheit er nicht nur einen Teil seines Vermögens, sondern auch sein Bein geopfert hatte. Offenbar restlos von der Revolution, ihren Politikern und ihren Gremien enttäuscht, war der von finanziellen Sorgen geplagte Arnold nun endgültig zum Verrat entschlossen.

Die Dämonisierung Benedict Arnolds und die Erfindung der Nation Arnolds Verrat wurde bereits unmittelbar nach der Tat zum Gegenstand sozialer Selbstverständigungsdebatten, in denen sich die amerikanischen Revolutionäre über sich selbst, die Rechtmäßigkeit ihrer Sache und ihre eigene moralische Überlegenheit gegenüber der Korruption des ›alten Europa‹ verständigten.

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Der Verräter Arnold spielte eine zentrale Rolle in diesen identitätsprägenden Selbstbeschreibungen, die in der Vorstellung von den amerikanischen Revolutionären als einer tugendhaften, selbstlos dem Gemeinwohl und dem Kampf zur Befreiung der Menschheit hingegebenen Solidargemeinschaft ankerten. Diese stereotype Idealisierung der revolutionären Gründergeneration war strukturell gekoppelt an die Dämonisierung Benedict Arnolds, dessen scheinbar rein egoistisches und von ehrgeiziger Ruhmsucht getriebenes Verhalten die selbstlose Tugendhaftigkeit der amerikanischen Patrioten in einem umso helleren Licht erstrahlen ließ. Die tragenden Elemente der damals entstehenden historischen Meistererzählung waren  : eine tyrannische Regierung des Mutterlandes, ein verrückter König, eine verschworene Gemeinschaft von opferbereiten Amerikanern, die alles für den Erhalt ihrer Freiheit taten, und ein extrem seltener Abtrünniger mit Namen Benedict Arnold.9 Die Nachricht von dessen Komplott verbreitete sich im Herbst 1780 wie ein Lauffeuer. Ein Aufschrei ging durch die Teile der amerikanischen Bevölkerung, die der revolutionären Sache zugetan waren. Prompt und einhellig wurde Arnold als perfider, von persönlicher Habgier und Ehrsucht getriebener Schurke, als doppelzüngiger Abgesandter des Teufels, als Schande für die Menschheit verurteilt. Schon am 30. September 1780 fuhren Freunde der Revolution in Philadelphia unter lautem Gejohle des die Straßen in großer Zahl säumenden Publikums einen karnevalesken Festwagen durch die Stadt. Auf diesem saß eine lebensgroße Figur von Arnold, die, mit dem Rücken zu einer Teufelsfigur sitzend, in der rechten Hand eine Maske und in der linken einen Brief von Beelzebub hielt. Der hinter Arnold stehende Teufel klimperte in seiner linken Hand mit einem Geldbeutel und richtete mit seiner rechten eine Mistgabel auf den General, drauf und dran diesen in die Hölle zu stoßen. An der Spitze des Festwagens war eine Laterne mit der Inschrift »Hochverrat« angebracht.10 In New York wurde ein öffentlicher Danksagungstag abgehalten, mit dem man dem allmächtigen christlichen Gott dafür dankte, dass er das Komplott rechtzeitig hatte auffliegen lassen, und überall in Nordamerika war Arnolds Perfidie Tagesgespräch. Die aufgebrachten Revolutionäre verloren keine Zeit, die Erinnerung an Arnold in ihrem Sinne zu prägen. Alle Andenken an ihn wurden systematisch vernichtet. Am 4.  Oktober 1780 wurde sein Name auf Anordnung des Kontinentalkongresses aus der Ehrenliste der Kontinentalarmee gestrichen. Das nach ihm benannte Fort im Festungsgürtel West Point wurde umbenannt. Viele Zeitgenossen und Weggefährten, die ursprünglich anderes gesagt und gedacht dachten, schrieben ihre Erinnerungen an Arnold um. Niemand wollte jemals 9 Dazu Martin, Benedict Arnold, xii. 10 Zu dieser Episode mit einer Abbildung  : Irvin, Robes of Sovereignty, 251–253.

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Abbildung 2  : Eine der frühesten Visualisierungen von Arnolds Verrat setzt diesen in negativen Bezug zum amerikanischen Triumph  : Während holländische, französische und spanische Schiffe die amerikanische Küste erreichen und florierenden Handel symbolisieren, weint die Figur der Britannia mit dem Teufel im Rücken. Die Siedlung im rechten oberen Bildrand stellt New York dar. Benedict Arnold hat sich, nach dem Vorbild von Judas, voller Reue an einem der Häuser erhenkt. Tatsächlich starb Arnold 1801 eines natürlichen Todes in London.

etwas mit ihm zu tun gehabt haben, und diejenigen, die das nicht verleugnen konnten, schrieben nun nur das Schlechteste über Person und Charakter des Benedict Arnold. Selbst seine unbestreitbaren militärischen Verdienste bei der gescheiterten Invasion Kanadas, der Verteidigung des Lake Champlain und vor allem in der Schlacht von Saratoga wurden nun plötzlich als Manifestationen von grenzenlosem Ehrgeiz, zerstörerischer Ruhmsucht und eitlem Egoismus dargestellt. Dadurch entstand bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert ein Bild von Benedict Arnold als einem immer schon bösartigen, moralisch durch und durch verdorbenen Charakter, der aus niederen Beweggründen und purer Geltungssucht die gerechte Sache der Amerikanischen Revolution hinterhältig verraten hatte.

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Abbildung 3  : Als eine Art Familienzusammenführung stellt dieses Flugblatt am Ende des Bürgerkriegs das gemeinschaftliche Rühren von Arnold und Jefferson Davis, dem Sezessionistenführer und Präsidenten der Konföderierten Staaten von Amerika, in einem Kessel mit einem Gebräu aus Verrat (›Treason Toddy‹), in das der Teufel miniaturhafte Sklaven fallen lässt, dar. Davis hatte sich bei seiner Flucht vor den Unionstruppen als Frau zu verkleiden versucht, ein Umstand, der verschiedentlich karikiert wurde.

Dieses Bild wurde im weiteren Verlauf des 19.  Jahrhunderts festgeklopft. Für Generationen von Amerikanern war Arnold der Buhmann der Nation. Das Grab seiner Eltern in Norwich wurde zerstört, sein Geburtshaus sowie auch sein stattliches Wohnhaus in New Haven wurden dem Verfall preisgegeben. Sein Nachlass ist nirgends geschlossen gesammelt. Das 1887 von John Watts de Peyster – Veteran des Amerikanischen Bürgerkriegs und führender Militärhistoriker der Zeit – auf dem Schlachtfeld von Saratoga zu Ehren Arnolds errichtete Monument erwähnt dessen Namen nicht und zeigt nur den Stiefel seines linken Beins. Arnold und sein Verrat haben die Imagination der Amerikaner seit den Anfangstagen der Republik angeheizt. Arnold wurde zum unverzichtbaren Bestandteil vieler gelehrter und populärer Darstellungen zur Geschichte der

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Amerikanischen Revolution. Darüber hinaus konnten auch weitere als Verrat gedeutete Vorgänge im Amerika des 19. und 20. Jahrhunderts mit der Referenz zu Benedict Arnold als besonders perfide markiert werden, wie Abbildung 3 zeigt, auf dem Benedict Arnold zusammen mit Jefferson Davis, dem Präsidenten der Confederate States of America, den sezedierten Südstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg, unter Anleitung des Teufels ein ›Verratsgebräu‹ anrührt. Sein Leben und Handeln bot Stoff für unzählige Romane und Jugendbücher sowie neuerdings auch für Comics und Graphic Novels. Das Arnold-Thema wurde in Theaterstücken verarbeitet, und es ist seit dem frühen 19. Jahrhundert auch integraler Bestandteil der visuellen Narrative zur Amerikanischen Revolution, wie sie sich in Stichen und Drucken, illustrierten Geschichten, Gemälden und Filmen manifestieren. Dabei verständigten sich Amerikaner in der Auseinandersetzung mit Benedict Arnold und seinem Verrat immer auch über sich selbst und ihren Ort in der Welt, wer sie sind und wer sie sein wollen, was sie gut finden und was schlecht. So wurde Arnold zu einem identitätsrelevanten significant other im Sinne George Herbert Meads, gegenüber dem die imaginierte Gemeinschaft der amerikanischen Nation ihre Einheit behauptete und zugleich die ungelösten sozialen Konflikte und bestehenden Frontstellungen während der Revolution und anderer Phasen der US-Geschichte in der Fiktion innerer Einheit negierte. Literatur Brandt, Clare, The Man in the Mirror. A Life of Benedict Arnold, New York 1994. Commager, Henry Steele, The Search for a Usable Past and Other Essays in Historiography, New York 1967. Depkat, Volker, Die Erfindung der republikanischen Präsidentschaft im Zeichen des Geschichtsbruchs. George Washington und die Ausformung eines demokratischen Herrscherbildes, in  : ZfG 56 (2008), 728–742. Depkat, Volker, Verräter und Patriot. Die Biographik zu Benedict Arnold in den Selbstverständigungsdebatten der USA seit 1945, in  : Non Fiktion 8 (2013), 69–88. Irvin, Benjamin H., Clothed in Robes of Sovereignty. The Continental Congress and the People out of Doors, Oxford 2011. Martin, James Kirby, Benedict Arnold, Revolutionary Hero. An American Warrior Reconsidered, New York 1997. Palmer, Dave R., George Washington and Benedict Arnold. A Tale of Two Patriots, Washington (D.C.) 2006. Randall, Willard Sterne, Benedict Arnold. Patriot and Traitor, New York 1990. Royster, Charles, »The Nature of Treason.« Revolutionary Virtue and American Reactions to Benedict Arnold, in  : William and Mary Quarterly 36 (1979), 163–193. Sautter, Udo, Die Vereinigten Staaten. Daten, Fakten, Dokumente, Tübingen 2000. Wallace, Willard M., Traitorous Hero. The Life and Fortunes of Benedict Arnold, New York 1954.

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1  : Benedict Arnold nach der Belagerung Quebecs 1776, Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington, D.C., PC 1 – 5331 (A size) [P&P]. Abbildung 2  : America triumphant and Britannia in distress, Boston 1782, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C., 2003690789. Abbildung 3  : A proper family re-union, 1865, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C., PC/US – 1865.H293, no. 3 (A size) [P&P].

Andreas Oberhofer

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« Zur Konstruktion und Dekonstruktion einer Verräterfigur

Die Erzählung über Andreas Hofer (1767–1810), den ›Sandwirt‹ von Passeier, der 1809 den sogenannten Freiheitskampf der Tiroler gegen französische und bayerische Truppen angeführt hat, endet bekanntlich mit der Verhaftung und der Hinrichtung des ›Helden‹ am 20. Februar 1810 in Mantua. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Story ist der Verrat durch Franz Raffl, einen armen Bauern, der für Hofers Auslieferung reichlich entlohnt wurde. In allen Versionen der Hofer-Geschichte, die im Laufe von mittlerweile zweihundert Jahren Rezeption geschrieben, vertont, verfilmt oder aufgeführt wurden, spielt Raffl eine zentrale Rolle  ; die Episode um den Verrat wurde teilweise als Stilmittel sogar als Klammer um die gesamte Narration gelegt.1 Seit den 80er Jahren des 20.  Jahrhunderts wurde die Raffl-Figur noch stärker in den Vordergrund gerückt, während die Heldengeschichte um Hofer an Attraktivität verlor. Dies verdankt sich einer Ermüdung in der Auseinandersetzung mit patriotischen, katholischen und nationalistischen Heroen. Der Verräter aber wurde zum Untersuchungsobjekt und Experimentierfeld, seine Geschichte zur Parabel. Raffl wurde, wie dies ein Kolumnist 2002 beschrieb, durch seine »tragisch[e] Erlösungstat« zur Symbolfigur, durch die »Verbindung von Religion, Geschichtsmythos und menschlichem Einzelschicksal« entstand »aus der Figur des Raffl/Judas ei[n] fast schon metaphorische[r] Heimat- und Gottverräter«.2 Das Konzept des ›Judas von Tirol‹ ist heute dermaßen kanonisiert, dass es von der Figur des Franz Raffl komplett gelöst und auf andere vermeintliche Landesverräter transponiert werden kann. Ähnliches gilt für Andreas Hofer, in dessen Fußstapfen aber nur Persönlichkeiten treten können, die ihn nicht ersetzen, sondern ihm lediglich nachgereiht und mit ihm verglichen werden können.3 Die Berührungsängste, mit dem Mythos um den großen Namen zu konkurrieren, sind offenbar noch groß. Dies ist in Raffls Fall anders, er kann durchaus durch neue und jeweils moderne ›Judasfiguren‹ ersetzt werden. 1 Vgl. z. B. Anon., Il Sandwirth. 2 Anon., Der Judas von Tirol von Karl Schönherr, in  : Lananer Gemeindeblatt, 15. Jg. (2002), Nr. 7, 1 f., hier 2. 3 Vgl. Oberhofer, Hofer als Ikone, 337–338.

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Andreas Oberhofer

Als Beispiel sei Carl Techet alias Sepp Schluiferer genannt, dessen polemisches Bändchen »Fern von Europa« 1909 zu einem veritablen Literaturskandal in Tirol und zur Verbannung des Autors nach Mähren führte.4 Für unsere Fragestellung aber ist ein Auszug aus einem Zeitungsartikel über Techet von Interesse, welcher 1984 erschien. Darin schreibt Ursula Strohal  : Den Gästen baut man [in Tirol, A. O.] Häuser, deren alpiner Kitsch nur von den begnadetsten Karikaturisten erfunden werden kann, und anläßlich einer Sportgroßveranstaltung gestattete man landesweit ein Plakat mit halbdebilem Großvater und Conter­ gan-­Enkel in Landestracht, das niemand haargenau zu beschreiben wagte, weil er sonst als ›Raffl III‹ davongejagt worden wäre.5

›Raffl‹ wird als Synonym für ›Landesverräter‹ gebraucht, mit Raffl II dürfte wohl Techet selbst gemeint sein. 1909 erging ein anonymer Brief an den Münchner Verlag, in dem das Buch erschienen war, mit den Zeilen  : »Ihr Herr Schluiferer ist ein Verräter an seinem Volke, wenn er ein Tiroler ist, gleich dem, der den Andreas Hofer verraten und verkauft hat.«6 Bereits der – wenn wir ihn so nennen dürfen – Heimatdichter Peter Rosegger allerdings erkannte, dass »es mancherlei Arten, wie die Geschichte vom Verrä­ ther erzählt wird«, gebe.7 Offensichtlich kursierten lange Zeit unterschiedliche Varianten der Geschichte um den Verrat an Hofer, die sich erst im späteren Verlauf der Rezeption und Myth(olog)isierung zu einem einheitlichen Erzählstrang verdichteten. Dieser um 1900 ausgebildete Topos des Verräters wurde danach immer wieder übernommen und unhinterfragt tradiert. Eine Ausgabe von Karl Schönherrs Stück »Der Judas von Tirol« (Erstaufführung Wien 1897), die 1955 von Vinzenz Chiavacci herausgegeben wurde und »zum Unterrichtsgebrauch als Klassenlesestoff an Haupt- und Mittelschulen zugelassen« war8, führt beispielsweise in der Einleitung an  : »Andreas Hofer und Raffl sind geschichtliche Personen. Schönherr hat sie wahrheitsgetreu dargestellt.«9 Machen wir uns also auf die Suche nach diesen »geschichtliche[n] Personen«.

4 Vgl. Gürtler, Fern von Europa, 122–136. 5 Zit. nach  : Ebd., 139 f. 6 Zit. nach  : Ebd., 124. 7 Rosegger, Geschichtenbuch, 142. 8 Chiavacci, Judas, 4. 9 Ebd., 7.

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

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Spurensuche Nachdem die Tiroler im vierten Gefecht am Innsbrucker Bergisel am 1.  November 1809 eine vernichtende Niederlage erlitten hatten und offensichtlich war, dass weiteres Kämpfen sinnlos wäre, zog sich Andreas Hofer mit einem seiner Schreiber, Kajetan Sweth, am 11.  Dezember in eine Berghütte auf der sogenannten Pfandleralm in den ›Prantacher Mähdern‹ im Passeier zurück, wo er sich versteckt halten wollte. Obwohl ihm öfters nahegelegt wurde, sich nach Österreich (Tirol gehörte seit 1805 zu Bayern) abzusetzen, konnte er sich nicht zur Flucht entschließen. Später stießen seine Frau Anna und sein Sohn Johann, vielleicht auch eine der Töchter zu ihm, was den Aufenthalt in der bescheidenen Hütte noch gefährlicher werden ließ. Boten, die zur Alm aufstiegen, um Nachrichten und/oder Nahrungsmittel zu bringen, hinterließen im Schnee verräterische Spuren. Die Pfandleralm war also keineswegs von der Außenwelt abgeschnitten, sondern es herrschte ein regelmäßiges Kommen und Gehen – allem Anschein nach diente die Hütte als Quartier für die Beratschlagung von Flucht- und weiteren Verteidigungsplänen. Die Notwendigkeit des Verrats ist allein aufgrund dieser Tatsache relativ zu sehen. Die gängige Version der Verratsgeschichte lehrt, Raffl habe die Versteckten beim Heuführen an Neujahr 1810 zufällig entdeckt. Am 5. Jänner 1810 meldete er Hofers Aufenthalt an Peter Ilmer, einen von den Franzosen bestellten Ortsaufseher in St. Martin in Passeier. Dieser weigerte sich zunächst, dem Landrichter Andreas Auer die Denunziation weiterzuleiten, weshalb Raffl sich drei Wochen später direkt an diesen wandte, ein Schreiben desselben nach Meran brachte und es dem französischen General Leonard Huard de St.  Aubin überreichte.10 So beschrieb Karl Klaar, der 1921 die bis dato einzige Biographie Franz Raffls in der Form einer Monographie, ein Heftchen mit 32 Seiten, publiziert hat, die verhängnisvollen Ereignisse. Andreas Dipauli von Treuheim, Tiroler Jurist und Privatgelehrter, stellte die Umstände um die Entdeckung von Hofers Versteck anders, und zwar folgendermaßen dar  : Obwohl sein [Hofers, A. O.] Aufenthalt in Passeyr allgemein bekannt war, verrieth ihn doch Niemand, bis ein Passeyrer in einem Gasthause unbedachtsamer Weise in Gegenwart eines Soldaten sich äußerte, er wisse wo der Sandwirth sey. Dieß rapportirte der Soldat  ; der Bauer wurde arretirt, zeigte den Ort an, und mußte bey der Gefangennehmung des Sandwirths als Wegweiser dienen. Dafür lud er sich aber den allgemeinen

10 Klaar, Raffl, 6–14.

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Haß des Volks so sehr auf, daß er gezwungen war, Passeyr und Tirol zu verlassen, u. nach Alt-Baiern zu übersiedeln.11

Der Protagonist dieser Erzählung scheint Raffl zu sein. Bemerkenswert ist, dass nach dieser Darstellung der Akt der Denunziation nicht dem freien Willen des Verräters entsprang, sondern dieser wäre ein Opfer der Verkettung unglücklicher Umstände geworden. Dipaulis Einschätzung ist insofern von Bedeutung, als er 1809/10 als Beamter in bayerischen Diensten gestanden und die Ereignisse in Tirol aus nächster Nähe miterlebt hatte. Auch ein zweites Ego-Dokument belegt, dass die Zeitgenossen und -zeugen in ihrer Einschätzung von Raffls Schuld relativ vorsichtig waren. Josef Thurnwalder, ein gebürtiger Passeirer Wirtssohn, schrieb in einem Brief an seinen Bruder Johann Nepomuk, einen Kämpfer des Jahres 1809  : Allgemein ist hier die Sage, daß Raffl der Verräther sei und daß er geglaubt hat, vieles Geld zu bekommen, man ist hier in der Meinung, daß er sehr wenig oder gar nichts erhalten hat […].12

Thurnwalder weist somit Raffl (er nennt keinen Vornamen  !) keine Schuld zu, sondern verweist lediglich auf eine »Sage«, die im Passeiertal und somit in einem sehr begrenzten regionalen Rahmen zirkuliere. Angesichts unterschiedlicher Überlieferung ist es also sinnvoll, den vermeintlichen Verräter selbst sprechen zu lassen. Raffl gab am 31. März 1810 vor dem Gericht in Meran zu Protokoll  : […] Und dies alles rührt hauptsächlich von daher, weil ich den Sandwührt [sic  !] Hofer verrathen haben soll. Ich will aber die Sache hierinfalls angeben wie solche in reiner Wahrheit besteht.13

Die folgende Schilderung bringt zum Ausdruck, dass nicht Raffl, sondern ein gewisser »Kurber Peter« aus St. Martin in Passeier Hofers Verräter gewesen sei.14 Klaar identifizierte diesen mit Peter Ilmer (im »Kurzerhäusl« in St. Martin habe sich Ilmers Krämerei befunden), maß aber ansonsten Raffls Aussagen wenig Wert zu.15 11 12 13 14 15

Dipauli, Anekdoten, 110r–v. Zit. nach  : Schmid, Karl, o. T., in  : Neue Tiroler Stimmen, 34. Jg., Nr. 127, 6.6.1894, 2. Zit. nach  : Klaar, Raffl, 18. Vgl. ebd., 18 f. Ebd., 23.

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

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In einem Majestätsgesuch an den bayerischen König von 1811 deklarierte sich Raffl zwar als Verräter  : »›Mit Treue und Klugheit‹ habe er ausschließlich und ganz allein den ›Rebellen Chef Sandwirth Hofer‹ aufgehoben.«16 Hierin kann aber ein Versuch gesehen werden, die Belohnung für den Verrat, welche ihm bis dato nicht ausbezahlt worden war, doch noch – zumindest teilweise – zu erhalten. Obwohl es sich bei diesem von Klaar zitierten Text um ein Selbstzeugnis handelt, liefert er dennoch wenig Information. Unklar ist nämlich die Bedeutung des Begriffes »aufgehoben« an dieser Stelle. Er muss nicht zwangsläufig auf vorsätzlichen Verrat hinweisen, sondern könnte auch das Hinführen der Soldaten zum Versteck bedeuten, über welches Sweth berichtete  : »Wie die Juden mit Judas an der Spitze unseren Herrn überfallen haben, so haben es die Franzosen mit dem Hofer gemacht, der Raffl, der Lump, hat sie geführt.«17 Alle genannten Quellen stimmen darin überein, dass Raffl die Soldaten zur Hütte geleitet habe  ; das der Verhaftung vorhergehende Prozedere aber kann nur aus zwei zeitgenössischen Zeugnissen rekonstruiert werden, die sich diametral widersprechen  : den Aussagen Raffls selbst zum einen und den Aufzeichnungen Andreas Dipaulis zum Anderen. Letztere bilden die Grundlage einer Theorie über den Verrat, die lange Zeit weder widerlegt noch bestätigt werden konnte.

Josef Daney als wahrer Verräter  ? Andreas Dipauli von Treuheim verfasste eine Biographie des Geistlichen Josef Daney, der 1809 in Hofers Umfeld eine wichtige Rolle gespielt hatte. Darin weist er darauf hin, die zur Festnahme des ›Sandwirts‹ abkommandierten Truppen seien »von einem gewissen Raffl als Wegweiser geführt worden«.18 Dipauli aber spricht explizit von einer »Sage«, die sich im Land verbreite, dass nämlich Daney dem französischen General Baraguay d’Hilliers Hofers Aufenthaltsort, den er selbst von Raffl erfahren habe, verraten hätte. Deshalb hätte er, Dipauli, mit Daney darüber gesprochen, und Daney hätte die Anschuldigungen als unbegründet und falsch zurückgewiesen.19 1814 verfasste Daney ein Manuskript, in welchem er über seine tatsächliche Rolle in der Verratsgeschichte informieren, d. h. sich selbst rehabilitieren wollte. Darin schrieb er  :

16 Zit. nach  : ebd., 29. 17 Zit. nach  : Hörmann, Ludwig von, Der Adjutant des Sandwirts, in  : Bothe für Tirol und Vorarlberg, 86. Jg. (1900), Nr. 89, 768 f. 18 Zit. nach  : Blaas, Aufstand, 44. 19 Ebd.

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Am 27. Jänner [1810, A. O.] schickte eine bedeutende Zivilperson in Passeier […] einen gewissen Josef [sic  !] Raffl, Bauersmann, mit einem Briefe nach Meran zum General Huard. Dieser hatte das Schreiben, worin ihm die Anzeige von Hofers Aufenthalt gemacht wurde, kaum erbrochen [geöffnet, A. O.] und durchgelesen, als er schon den besagten Überbringer desselben zu verwachen befahl. Am Abend wurden mehrere Kompanien Franzosen nach Passeier beordert.20

Als eigentlicher Verräter wird in dieser Version des Vorgefallenen Andreas Auer, der Pfandrichter von Passeier, dargestellt, Raffl selbst lediglich als Briefbote. Daney geht in dem Text noch ein zweites Mal auf den Verrat und seine vermeintliche Rolle dabei ein. Am 2.  Mai 1810 nämlich hatte die Innsbrucker Zeitung folgende vom »General-Lieutenant Oberkommandirende[n] der französischen Truppen in Tyrol« unterzeichnete Richtigstellung gedruckt  : Ich Endesunterschriebener bezeuge an Ansuchen des Herrn Joseph Danej, Priester von Schlanders im Vintschgau, daß er an den Anzeigen, die dem General-Stab des Armee-Korps des [sic  !] verborgenen Aufenthalt des Andre Hofer und seiner Familie entdecket und die Gefangennehmung dieses Haupt-Anführers der Tyroler Insurrection zur Folge hatten, nicht den geringsten Antheil habe.21

Daney schrieb dazu  : Diese […] Widerrufung […] ließ ich bloß des Auslandes wegen machen. Denn in Tirol und vorzüglich in der Gegend von Meran hat sich die boshaft mir angedichtete Verräterei von selbst und um so mehr widerlegt, als bestimmter jedermann den eigentlichen Verräter und seinen verächtlichen Mietling, nämlich den oben erwähnten Josef [sic  !] Raffl, kannte und mit Fingern darauf zeigte […].22

Mit dem »eigentlichen Verräter« ist wiederum der Passeirer Pfandrichter gemeint, mit dem »Mietling« der Überbringer von dessen Botschaft. Joseph von Hormayr, der 1809 Intendant in Tirol gewesen war, vermutete in seiner »Geschichte Andreas Hofer’s, Sandwirths aus Passeyr« (1817) Daney als Ränkeschmied und »Staffel« als ausführendes Werkzeug  : Das Verdienst derselben [der Gefangennehmung, A.O.] erwarb sich Donay. Er flüsterte Baraguay d’Hilliers zu, Staffel [sic  !] wisse Hofers Asyl, er sey furchtsam, eigennützig, 20 Zit. nach  : ebd., 362 f. 21 Zit. nach  : ebd., 366 f. 22 Zit. nach  : ebd., 367.

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

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seines Geschäftes längst müde. Der General ließ nun Staffel nach Botzen bringen, und brachte ihn durch Versprechen, und durch die Todesangst dahin, daß er Hofers Aufenthalt verrieth, und selbst Wegweiser der mobilen Kolonne wurde, die ihn fangen sollte.23

In der Neuauflage seines Werkes (1845) gab Hormayr Raffls Vornamen als »Franz Joseph« an24, eine Korrektur, die aber nur teilweise rezipiert wurde.25 Johann Jakob Staffler, der von 1810 bis 1813 bayerischer Landrichter im Passeier gewesen war, ging auf die These von Daney als eigentlichem Verräter in seiner topographisch-historischen Beschreibung von Tirol und Vorarlberg (1846) ausführlich ein  : »Bisher wurde nach Hormayr’s Angabe ziemlich allgemein der Priester Donay als Hofer’s Verräther, und Raffl nur als das Werkzeug genannt, dessen jener sich bedient haben soll.«26 Raffl sei unvorsichtig gewesen, hätte sich anmerken lassen, dass er Hofers Versteck kenne, und die Franzosen hätten ihm ein Geständnis abgezwungen.27 Staffler nun versuchte eine Rehabilitierung Daneys  : »Allein mit allem Rechte läßt sich […] Donay’s Beschuldigung als unrichtig und grundlos erklären  ; eine Beschuldigung, die nichts anderes als gewagte Vermuthungen für sich hat.«28 Die Theorie um Daney als eigentlichem Verräter Hofers lebte lange fort. Noch im November 1959 sah sich der Tiroler Historiker Hans Kramer verpflichtet, den Geistlichen zu rehabilitieren  : In verschiedenen Zeitungen war mit einer gewissen Spitze im letzten Jahr [1959, 150-Jahr-Jubiläum von 1809, A. O.] zu lesen, daß eigentlich nur der Priester Josef Danei Hofer verraten habe. Nun war Danei ein nicht immer sympathischer ›Gschaftlhuber‹ [Wichtigmacher, Wichtigtuer, A. O.]. […] Aber der Verräter Hofers war er nicht. Das war einzig und allein Franz Raffl.29

23 [Hormayr], Geschichte 1817, 449. 24 [Hormayr], Geschichte 1845, 507. 25 In einem Buch, das nach 1834 in München erschien, wird wiederum auf »Joseph Staffel« hingewiesen  : Raible, Sandwirth, 10. Ebenso in einer Publikation von 1893  : Kerausch, Hofer. 26 Staffler, Tirol, 721. 27 Ebd. 28 Ebd., 722. 29 Anon., Der »Spiegel« stempelt den Sandwirt zum Feigling. Unverständlicher Angriff in einer deutschen Zeitschrift gegen Andreas Hofer – Stellungnahme eines Historikers zu den Anwürfen, in  : Tiroler Tageszeitung, 6.11.1959, 3.

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Verwirrung um eine historische Identität Der erwähnte Raffl-Biograph Karl Klaar stützte sich im Wesentlichen auf die Ausführungen des Tiroler Historikers Joseph Rapp, die dieser 1852 veröffentlicht hatte  : Rapp hatte die Meinung vertreten, Hofer hätte in seiner Hütte Besuch von Joseph Raffl erhalten, einem Menschen, »der zwar in Passeier ansäßig, aber in dürftigen Umständen und von schlechtem Rufe war«.30 Raffl habe den Kordonisten Peter Ilmer und Alois Non (der zweite Name ist bei Klaar nicht mehr genannt) sein Geheimnis anvertraut, am 27.  Jänner 1810 hätte Richter Auer dem französischen General Huard einen Bericht geschickt, den Raffl nach Meran gebracht hätte.31 Rapp wusste um die Ereignisse genau Bescheid, hatte er doch persönliche Notizen von Hofers Mitkämpfer und intimem Freund Andreas Ilmer vorliegen, die über den Verrat und die Person des Verräters genaue Auskunft gaben.32 Und doch bezeichnete Rapp den vermeintlichen Denunzianten als Joseph, nicht als Franz Raffl. Zehn Jahre vor Rapp hatte der Arzt und Schriftsteller Gottfried Wilhelm Becker anonym in Leipzig ein Buch mit dem Titel »Andreas Hofer und der Freiheitskampf in Tyrol« 1809 veröffentlicht, in welchem er abwechselnd Joseph und Franz Raffl erwähnt.33 Becker kannte die gängige Literatur über 1809, da er über Raffl schrieb, »den Andere auch Staffel nennen«34, und bezog sich explizit auf Sweths und Thurnwalders Berichte, die er miteinander verglich. Die Verschiedenheit der Namen aber problematisierte er nicht. Auch Johann Jakob Staffler bezeichnete den Verräter als Joseph Raffl und stützte sich auf die gängige Variante der Erzählung.35 In einem »Historische[n] Roman«, der 1862 in Mainz gedruckt wurde, lesen wir von Franz Raffl.36 Ein ›offizielles‹ Werk der österreichischen Geschichtsschreibung von 1866 hingegen weist nur den Familiennamen Raffl aus.37 Der Bote für Tirol und Vorarlberg brachte noch im Jahr 1876 eine anonyme Reminiszenz an »Josef Raffl, den Verräther A. Hofers«.38

30 Rapp, Tirol, 795. 31 Ebd., 795 f. 32 Granichstaedten-Czerva, Garde, 279. 33 [Becker], Hofer, 188–192. 34 Ebd., 188. 35 Staffler, Tirol, 720 f. 36 Dreyer, Kinder, 78 und passim. Vgl. auch  : Ders., Bilder, 164 und passim. 37 Werner, Franz, 190. 38 Anon., Eine Reminiszenz an Josef Raffl, den Verräther A. Hofers, in  : Bote für Tirol und Vorarlberg, 62. Jg. (1876), Nr. 99, 715.

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

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Die Angelegenheit wäre eigentlich wenig geheimnisvoll gewesen, ist doch bereits in den Meraner Gerichtsprotokollen von 1810 klar niedergelegt, dass Franz Raffl über den Verrat an Hofer verhört wurde, wenngleich er als Analphabet nicht imstande war, eigenhändig zu unterschreiben.39 Auch Peter Ilmer wies in seiner Aussage vom 19. November 1817 eindeutig Franz Raffl als Denunzianten aus.40 Erst am Ende des 19. Jahrhunderts aber war die Raffl-Story, so wie sie auch heute noch tradiert wird, ausgestaltet, und damit auch der Name des Verräters fixiert.41 1909 erschien Josef Hirns wegweisendes Werk »Tirols Erhebung im Jahre 1809«, welches die Erzählung um den Verrat an Hofer nach dem Protokoll der Aussage von Peter Ilmer wiedergibt und den Namen des Verräters als Franz Raffl endgültig festschrieb.42 Wie man über den historischen Raffl bis zum vermeintlichen Verrat an Hofer im 19. Jahrhundert nicht (mehr) viel Sicheres wusste, war auch sein weiteres Schicksal nach 1810 eine Spielwiese der Auslegungen. Josef Daney etwa berichtet  : Die ganze Geschichte, wie Hofer eigentlich verraten und gefangen worden, ist nachhin ad acta genommen […] worden. Der besagte Raffl, billig von jedermann gehaßt und verachtet, fand nämlich in ganz Passeier und Schenna für sich und seine Familie keine Wohnung und Unterkunft mehr. Jedermann warf ihn zum Hause hinaus oder schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Raffl sah sich daher gezwungen, den Schutz der bayerischen Regierung anzuflehen. Seine Geschichte wurde gerichtlich erhoben und er damit nach München instradiert [geschickt, Anm.]. Daselbst wurde er wie ein Schautier in der ganzen Stadt herumgeführt, dem Minister Montgelas, Seiner Majestät, dem König, Seiner Königlichen Hoheit dem Kronprinzen und verschiedenen andern Herren vorgestellt, und infolge der Empfehlungen, die er mitbrachte, erhielt er bei der königlichen Maut die Anstellung als Waagknecht. In dieser Eigenschaft habe ich ihn selbst zu München auf der Maut mehrmals gesehen. Später ließ er auch sein Weib und seine Kinder nach München kommen. Nach seinem Aussehen zu urteilen, muß ihn die an dem Hofer verübte Verräterei nicht sehr kränken, und das Münchner Bier und die bayerischen Dampfnudeln müssen ihm besser als in Tirol die magern Tagelöhnerbrocken anschlagen, denn er trägt einen Bauch und Kopf herum, dem an Größe und Fett jedes Prälaten Kaliber nachstehen müßte.43

Diese Schilderung ist in ihrem Quellenwert zwar hoch zu schätzen, dürfte aber dennoch an manchen Stellen übertrieben sein. Mit der Aussage Josef Thurnwal39 Vgl. Abdruck des Vernehmungsprotokolls vom 31. März 1810, in  : Klaar, Raffl, 17–21. 40 Vgl. Abdruck des Vernehmungsprotokolls vom 19. November 1817, in  : ebd., 21 f. 41 Vgl. z. B. Prem, Freiheitskrieg, 44. 42 Hirn, Erhebung, 838 f. 43 Zit. nach  : Blaas, Aufstand, 367.

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ders ist sie insofern deckungsgleich, als auch dieser schreibt, Raffl sei im heimatlichen Tal nicht mehr geduldet worden und deswegen nach Bayern geflohen. Seine zweite Frau sei ihm nach längerer Zeit nachgefolgt, und Raffl hätte »im Hallamt bei der Waage (Saline) in München« Arbeit gefunden. Auch Thurnwalder will ihn in München persönlich gesehen haben.44 Raffl verbrachte  – so viel ist belegbar (s. u.)  – seinen Lebensabend in Reichertshofen bei Ingolstadt und wurde dort begraben. Dennoch gab und gibt es auch über seine Lebensumstände nach dem Wegzug aus Tirol unterschiedliche Meinungen. Der Bote für Tirol und Vorarlberg etwa berichtete in der bereits erwähnten Meldung 1876 in Anlehnung an eine Ausgabe des Neuen Wiener Tagblattes, bei einer »Bücher-Auktion« in der Kaiserstadt sei ein »vornehmer Herr« ständig überboten worden. Dieser hätte sich erhoben, um seinen unerbittlichen Gegner endlich kennen zu lernen. ›Der ist’s‹  ? murmelte er verächtlich, ›mit dem habe ich nichts zu thun und würde mich sogar schämen, mit ihm – zu lizitiren.‹ Sprach’s und ging. Der also Gemiedene war aber auch eine unedle Persönlichkeit, es war des Antiquars Bader langjähriger Lizitations-Famulus, der übel berüchtigte Raffl, der häßliche schielende Zwerg, der den armen Andreas Hofer […] aufstöberte und an seine Mörder verrieth  ; Raffl, jener abscheuliche Tiroler-Judas, der allüberall verjagt und geächtet, nur in der sorglos lustigen Kaiserstadt eine Heimatstätte fand, wo er seinen Sündenlohn als trauriges Gnadenbrod unbehindert aß und erst vor ein paar Dezennien – einige Biographen ließen ihn längst in Baiern sterben – hochbetagt kümmerlichst verendete.45

Bezeichnend ist auch, dass im Jahr 1950 noch die Frage öffentlich gestellt wurde, ob ein gewisser Johann Haller, der 1826 in Kärnten gestorben war, in Wirklichkeit Hofers Verräter gewesen sei. »Den amtlichen Eintragungen« im Standesbuch (d. h. einer Pfarrmatrikel) einer nicht genannten (!) Gemeinde nämlich hatte »eine unbekannte Hand die Bemerkung angefügt  : ›Das ist der Raffl, der Verräter des Andreas Hofer in Tirol. Schande ihm  !‹«46 Auffallend ist, dass von Franz Raffl kein einziges als solches ausgewiesenes Porträt existiert. Bevor wir diese Tatsache aber einer Damnatio Memoriae zuschreiben, ist festzuhalten, dass wir auch von Andreas Hofer, Josef Speckbacher oder Pater Haspinger kaum zeitgenössische Abbilder haben, die ›nach der Na44 Schmid, o. T. 45 Anon., Eine Reminiszenz an Josef Raffl, den Verräther A. Hofers, in  : Bote für Tirol und Vorarlberg, 62. Jg. (1876), Nr. 99, 715. 46 Anon., Wo starb Raffl, der Verräter  ? Eine mysteriöse Eintragung im Standesbuch einer Kärntner Gemeinde, in  : Dolomiten, 5.7.1950, 3.

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

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tur‹, also zu Lebzeiten gemalt wurden. Die überlieferten Porträts wurden vielmehr zum Großteil nachträglich, basierend auf schriftlichen Quellen, ›konstruiert‹.47 In das Bild einer Damnatio Memoriae scheint aber das Schicksal von Raffls Grabstätte zu passen  : 1930 soll der Grabstein noch an der Kirchenmauer in Reichertshofen gelehnt haben, das Grab aber sei nicht mehr vorhanden gewesen  ; später soll auch der Stein »verschwunden« sein.48 Die Sage hingegen erzähle, so informiert uns Peter Rosegger, dass Raffl »hinter einem Kirchhofe des Passeierthales begraben sei, daß aber auf seinem Grabe nicht ein einziger Grashalm wachse bis auf den heutigen Tag«.49 Als Fußnote hierzu sei eine aktuelle Bestandsaufnahme angefügt  : Das österreichische Telefonbuch weist den Namen ›Franz Raffl‹ nur ein Mal aus, während es 125 Personen namens ›Andreas Hofer‹ auflistet.50

Das Klischeebild des Judas von Tirol Sobald die Geschichte um den tragisch gescheiterten Franz Raffl fertig ausgestaltet und kanonisiert war, begann die kollektive Erinnerung, die Verräterfigur mit einer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden ›Passionsgeschichte‹ um Andreas Hofer, der teilweise sogar zum Märtyrer für sein ›heiliges Land‹ stilisiert wurde, zu verweben. Raffl wurde zum Gegenpart des ›Sandwirts‹, der selbstlos für ›Gott, Kaiser und Vaterland‹ gekämpft hatte. Dieser Dualismus kommt in einem Wortpaar deutlich zum Ausdruck, welches bereits 1834 geprägt wurde  : Hofer galt als der »Edl[e]«, dem »Verrath gestreut« worden war, der Verräter hingegen als ein »Nichtswürdige[r]«.51 Produkt einer damit beginnenden Entwicklung ist, dass der Name Franz Raffl heute noch eine Signatur für das ›Verräterische‹ und ›Böse‹ an sich ist. Wenngleich es Berichte über die Beschimpfung des vermeintlichen Verräters durch Mitglieder seiner Dorf- und Talgemeinschaft gibt (s. o.), findet sich die explizite Bezeichnung Raffls als ›Judas‹ in der weiteren Rezeption erst relativ spät. Eine erste Erwähnung bringt der bereits mehrfach erwähnte Text im Bote[n] 47 Vgl. Oberhofer, Mensch, 340–342. 48 Pichler, Rudolf, Franz Raffl, der »Judas von Tirol«. Flucht des Verräters Andreas Hofers, in  : Dorfzeitung Schenna, 31. Jg. (2011), Nr. 2, 24–26. 49 Rosegger, Geschichtenbuch, 143. 50 Online-Telefonbuch www.herold.at, Suchworte »Andreas Hofer« und »Franz Raffl« (6.4.2018). Im italienischen Telefonbuch ist das Verhältnis ausgeglichener  : Hier finden wir aktuell fünf Personen namens »Franz Raffl« und 19 mit dem Namen »Andreas Hofer«  : Online-Telefonbuch www.paginebianche.it, Suchworte »Andreas Hofer« und »Franz Raffl« (6.4.2018). 51 Schulz, Hofer.

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für Tirol und Vorarlberg von 1876 (»abscheuliche[r] Tiroler-Judas«). 1885 erschien Peter Roseggers »Geschichtenbuch des Wanderers«, das u. a. auch eine »Geschichte« um den »Judas von Tirol« enthält.52 Diese feste Wendung dürfte somit der literarischen Produktion entstammen. Sobald der Judas-Topos ausgeprägt war, konnte er beliebig mit negativen Charakteristika ausgestattet werden. Parallel zur Ausgestaltung der Hofer-Figur zum katholischen, kaisertreuen, deutschen oder bäuerlichen ›Helden‹ wurden Raffl Attribute angedichtet, die zum Klischeebild des heimtückischen Verräters passten. Wie Hofer zum Synonym für Widerstand und Hoffnung wurde, wurde Raffl zum Synonym für die Hoffnungslosigkeit  ; so beschrieb Helga Kutscha 1984 das Gegenspiel der beiden Symbolfiguren.53 Zur geradezu diabolischen Rolle, die dem Verräter bzw. Bösewicht zufällt, gehört ein auffälliges äußeres Erscheinungsbild. In der Textstelle über die Wiener Auktion (s. o.) wird Raffl als »häßliche[r] schielende[r] Zwerg« dargestellt. Detailliertere Beschreibungen bietet ein »Hausbuch für christliche Unterhaltung« von 1860, das »Zwei Bilder aus der Passionszeit Tirols« als Vorlage für die szenische Darstellung enthält. Darin wird Raffl durch »lauernde Blicke« und »stechend[e] Augen« charakterisiert sowie als »kleine[r] Mann mit […] struppigen Haaren«.54 Peter Rosegger beschreibt Raffl als »Rothschädel« und als »schielenden Tiroler Bauer[n] mit dem fuchsroten Haar« mit einem »Ausbund von Falschheit im Angesicht«, der »immer nur mit einem giftigen Seitenblick seines Weges gegangen« sei55, Alois Menghin stellt ihn 1909 als ›kleines, rothaariges und triefäugiges Männlein […]‹ dar.56 Dies alles passt natürlich in einen Traditionsstrang, wonach das ›Böse‹ bevorzugt als hässlich dargestellt wurde und wird. Derartige Auffassungen liegen nicht zuletzt aber auch in der volkstümlichen Vorstellung des biblischen Judas begründet, der regelmäßig in den populären Passionsspielen vor Augen geführt wurde  ; in der christlichen Ikonographie wird der Christusverräter als rothaarig und -bärtig inszeniert.57 Die Geschichte um Andreas Hofers Flucht, Verrat und Tod wurde in direkten Bezug zu den Passionsspielen gesetzt, Raffl mit Judas verglichen. Anton Dörrer schrieb 1948 in seinen Memoiren über die Passionsspiele in Erl über den ›Roanerbauern‹, der für die Rolle des Judas geradezu prädestiniert gewesen zu sein scheint  :

52 Rosegger, Geschichtenbuch, 127–143. 53 Kutscha, Helga, Tiroler Film in Cannes vielbeachtet  : »Raffl« läuft heute an, in  : Neue Tiroler Zeitung, 25.5.1984, 12. 54 Neues Hausbuch für christliche Unterhaltung, 160, 165. 55 Rosegger, Geschichtenbuch, 127, 143. 56 Menghin, Hofer, 156. 57 Judas Ischariot, in  : LCI. Allgemeine Ikonographie 2, Rom u. a. 21994, Sp. 444–448.

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

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Abbildung 1  : Raffl erhält sein Blutgeld, um 1820.

Freilich, seine kleine, gedrungene Gestalt, sein von rotblondem Haar eingesäumtes Gesicht, seine Schalksaugen, seine Springlebendigkeit und Zungenfertigkeit  – das alles wies ihn auf den Judaspart. Am meisten aber wohl sein hochentwickelter Geschäftssinn und sein Geschick und Wagnis, sich im Leben durchzuwinden, in welche Lage er auch immer kam.58

Man schloss also darauf, dass der historische Raffl als Verräter rothaarig gewesen sein »müsse«, obwohl eine derartige Beschaffenheit von dessen Haupt- oder Barthaar in keiner Quelle erwähnt ist. In einer der drei59 bis dato bekannten bildlichen Darstellungen Raffls aus dem 19.  Jahrhundert, zugeschrieben Leopold Puellacher (1820), trägt der Verräter einen breitkrempigen Hut und keinen

58 Dörrer, Judas, 5. 59 Ein Ölgemälde, das im Folgenden nicht weiter thematisiert wird, befindet sich in Privatbesitz und ist abgebildet in  : Gemeinde Schenna (Hrsg.), Dorfbuch Schenna 2002, Schenna 2002, 111. Es dürfte aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammen und zeigt Franz Raffl zwischen französischen und bayerischen (?) Soldaten vor Hofers Geburts- und Wirtshaus, dem Sandhof in Passeier, stehend und mit der linken Hand den Weg zum Versteck weisend.

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Bart (Abb. 1), was der damaligen Gewohnheit der Bauern entspricht, sich »recht und schlecht« zu rasieren.60 Bei der Aufführung von Karl Schönherrs »Der Judas von Tirol« aber wird dem Raffl- und zugleich Judas-Darsteller bisweilen ein roter Theaterbart angeklebt.61 Schönherr lässt den »Christus« sagen  : »Da hast den Judasmantl und den Judasbart  !«62 Der Autor weist dabei nicht auf eine allfällige Farbe der Gesichtszier hin, aber der schwarze Bart bleibt doch traditionell als Zeichen von Ehrhaftigkeit, Männlichkeit und Väterlichkeit dem ›Sandwirt‹ Andreas Hofer vorbehalten.63 Parallel zur äußeren, körperlichen Stigmatisierung wurde Raffl auch mit charakterlichen Schwächen ausgestattet. Bereits Joseph von Hormayr stellte ihn in der zweiten Auflage seiner Hofer-Biographie (1845) als armen und »schlechte[n] Kerl« dar, der sich »auf der Streu bei den Bauern in Passeyr, heute hier, morgen dort« herumgetrieben, im Sommer als Viehhirt und im Winter mit Branntweinschmuggel durchgeschlagen habe.64 Wies Hormayr auch nicht explizit darauf hin, dass Raffl diese Lebensumstände selbst verschuldet hätte, so betonte er doch den Vertrauensbruch  : »Nun so trink’ auf meine Gesundheit, sagte Hofer, ihm zwei Kronenthaler in die Hand drückend. Aber schwöre mir bei der ewigen Seligkeit, Niemanden [sic  !] meinen Aufenthalt zu entdecken. […] Mit den heiligsten Schwüren schied Raffel [sic  !] […].«65 Raffl hätte also ein Versprechen gebrochen, das er auch in der Form eines »heiligen« Schwurs und damit im Namen seines Glaubens gegeben hatte, was sein Vergehen ungleich gravierender erscheinen lassen sollte. Der Pfarrer, der das Sterberegister der Pfarrei St.  Margaretha in Reichertshofen führte, glaubte zu wissen, dass Raffl »in seiner Jugend als Soldat bei mehreren Fürsten« gedient habe und »öfters« desertiert sei.66 Dieser Hinweis legt nahe, dass der Schritt hin zu einem zweiten Verrat am Vaterland, als der die Denunziation Andreas Hofers interpretiert werden konnte, nicht mehr groß gewesen sei. Auch in einem dramatischen Werk von 1893 wurde Joseph (!) Raffl als Deserteur dargestellt67, obwohl die Desertionen historisch nicht belegbar sind. 60 Marquis de Paulmy, Précis d’une histoire générale de la vie privée des Français (1779), zit. nach  : Braudel, Sozialgeschichte, 356. Vgl. Oberhofer/Schneider, Hofer, 42 f. 61 Vgl. z. B. Szenenfotos in  : Kurier Tirol, 29.7.2006, 10. 62 Zit. nach  : Chiavacci, Judas, 19. 63 Vgl. Oberhofer/Schneider, Hofer, 51 f. 64 Hormayr, Geschichte (1845), 507. 65 Ebd., 526. 66 Zit. nach  : B[uzas], H., Der pensionierte Hallamtsdiener Raffl starb an »Hemmeroihden«, in  : Tiroler Tageszeitung, 10.9.1984, 9. 67 Kerausch, Hofer.

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

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Dass er bereits vor seiner Auswanderung aus Tirol mit den Bayern sympathisiert und somit ebenfalls seine Heimat verraten habe, wird in dem bereits erwähnten »Hausbuch« von 1860 angedeutet  : Er hätte die Tiroler ermahnt, die bayerische Herrschaft als legitim zu akzeptieren und zu respektieren.68 Schönherr ließ sogar die französischen Soldaten, denen Raffl den Dienst des Verrats erwiesen hatte, ihm in der Retrospektive keineswegs Respekt zollen, sondern ihn ebenso wie die Bevölkerung des Passeiertales verachten. Der Dramatiker kleidete dies in die Worte eines französischen Offiziers  : »Wo sein das Swein  ? Vielleicht schon Teubel geholt  !«. In einer Regieanweisung lesen wir  : »Offizier, der sich Raffl wie etwas Ekliges möglichst weit vom Leib hält, stellt seine Laterne auf die Armhöhe der Betbank, holt ein Geldsäckchen hervor und legt es mit gestrecktem Arm, um nicht nahe an Raffl herankommen zu müssen, auf die Betbank. Eisig  : Sweihundert Dukate  ! Will sich entfernen.«69 Die Abscheu vor dem Verräter kommt noch deutlicher in einer weiteren Regieanweisung zum Ausdruck  : »Da Raffl, der mit gierigen Fingern das abgezählte Gold zusammenscharrt, zufällig die Hand des Offiziers berührt, fährt dieser drohend auf  : Nikt berühren du meine Hand  !«70 1900 erschien Hans Schmölzers kanonbildendes Werk »Andreas Hofer und seine Kampfgenossen«, welches auch dem Verrat an Hofer ein kurzes Kapitel widmet. Franz Raffl wird darin als Kleinbauer beschrieben, »der in der Gegend als herabgekommen und lüderlich galt […]«  ; »hämische Freude« hätte den »dürftige[n] Mensch[en]« mit »böse[r] Gemüthsart« erfüllt, als er Hofers Versteck entdeckte.71 Raffl wird als Feigling charakterisiert, der, nachdem er die Soldaten zur Hütte geführt hat, die Flucht ergriffen habe, um von Hofer und den Seinen nicht gesehen zu werden.72 Karl Klaar bestätigte ein sexuelles Verhältnis Raffls zu einer seiner Stieftöchter, deren unehelichen Kindes Vater er geworden sei.73 Weiters bestätigt Klaar den auf diesen Skandal folgenden Tod der ersten Frau und die erneute Vermählung 1807, wobei Raffl bereits »dem Trunke ergeben« gewesen sei.74 Den Verrat schildert Klaar in traditioneller Manier nach älteren Vorbildern (s. o.). Der Biograph weicht von der Objektivität des Historikers insofern ab, als er Schlagworte wie »Verführer«, »Habsucht«, »Verworfenheit« oder »Judas« verwendet.75 68 Neues Hausbuch für christliche Unterhaltung, 165. 69 Zit. nach  : Chiavacci, Judas, 59. 70 Zit. nach  : ebd. 71 Schmölzer, Hofer, 203. 72 Ebd., 204. 73 Klaar, Raffl, 6. 74 Ebd., 8. 75 Ebd., 10–14.

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Ein singulärer Hinweis stellt Raffls geistige Gesundheit in Frage  : Die Konduitlisten seines Arbeitgebers in Bayern weisen demnach zwar aus, er habe »in ausgezeichneter Treue, mit sehr großem Fleiße und sehr lobenswürdigen Sitten […], verträglich und ruhig« gearbeitet, jedoch »sehr beschränkte Geisteskräfte« besessen.76 Ebenso singulär ist auch ein Hinweis darauf, dass Raffl zum Mörder geworden bzw. prinzipiell zum Mord durchaus fähig gewesen sei  : In dem bereits erwähnten Schreiben Josef Thurnwalders schilderte dieser, im Passeier gäbe es die Vermutung, Raffl habe seine zweite Frau umgebracht.77 Die vermeintlichen Charakterschwächen des Verräters färbten sogar auf seine Nachkommen ab  : »Über die hinterbliebenen Söhne kursieren diverse Gerüchte. […] Sie zogen […] vagabundierend durch die Lande und genossen keinen guten Ruf. Simon Raffl, einer der beiden, soll drei Jahre im Strafarbeitshaus von Kaisheim gesessen sein. Es gab sogar das Gerücht, dass ein Nachfahre Raffls der berühmt-berüchtigte Verbrecher Gumpp gewesen sei.«78 Wie zementiert die Vorurteile waren, zeigen auch Beispiele der jüngeren Rezeptionsgeschichte. Die Südtiroler Tageszeitung Dolomiten etwa berichtete am 20. Februar 1954 – dem Todestag Andreas Hofers, der in Tirol bis heute von Landespolitik und Traditionsverbänden als Gedenktag begangen wird –, »der im ganzen Tal übel beleumdete trunksüchtige Bauer Franz Raffl sei ständig in Geldnöten gewesen, weswegen er einen Spießgesellen für seine schwarze Tat« gesucht habe  : Ilmer wollte davon nichts wissen und suchte Raffl die Sache auszureden, doch dieser bedrängte ihn ganz brutal und sagte  : ›Du bist ja dazu angestellt zum Berichtmachen. Wenn du’s nicht tust, dann gehe ich zum General nach Meran, und dann magst du sehen, was dir passiert  !79

76 Zit. nach  : Klaar, Raffl, 30. Klaar bezieht sich hier auf eine Konduitliste, ohne einen Quellenhinweis auf diese zu geben  ; an anderer Stelle aber verweist er auf einen Bestand von »Personalakten über Franz Raffel im Kreisarchive von Landshut unter der Signatur Repert. V., Verzeichnis 3, Litt. R Fasz. 1 Nr. 7 Saal 9.« Klaar, Raffl, 29 Anm. 2. 77 Schmid, o. T. 78 Pichler, Raffl, 26. In den Unterlagen des oberösterreichischen Appellationsgerichts gibt es zwar einen Kriminalakt über einen Simon Raff(e)l aus den Jahren 1797/98, dem wegen Notzucht eine Haft- und Arbeitsstrafe von acht Jahren auferlegt wurde (ÖStA, AVA, Justiz, OJSt JS TS 36.57). Ein Verwandtschaftsverhältnis zu Franz Raffl ist aber nicht eindeutig auszumachen. Simon Raffl wird hier als Bruder des Joseph und Sohn von Anna Hetin verwitweter Rafflin geführt. Damit ist ausgeschlossen, dass es sich um Brüder des Franz handelt, da dessen Mutter Maria Aigner hieß (Klaar, Raffl, 24 Anm. 1). 79 Sepp, [N.], Franz Raffl, der Judas von Tirol, in  : Dolomiten, 20.2.1954, 9.

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

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Das Motiv der Erpressung ist historisch keineswegs verbürgt. Der Artikel indes fährt in ähnlichem Tonfall fort  : Das weitere Schicksal Andreas Hofers ist weltbekannt. Nicht so jenes des schurkischen Verräters. Er wurde gemieden wie die Pest. […] Das Judasgeld brachte ihm keinen Segen. […] Er ist als Judas von Tirol in die Geschichte eingegangen.80 Auch 1960 wurde in einem Artikel in den Dolomiten das ganze Register an Vorurteilen bedient, die Raffl anhaften. So sei sein Vater ein »rechtschaffener Bauer« gewesen, der Sohn Franz aber habe sich »dem Trunke« ergeben, »seinem Weibe die Treue nicht« gehalten und seine fünfzehnjährige Stieftochter geschwängert. Zur »Untat«, d. h. zum Verrat, habe Raffl, dessen »schlechte[r] Ruf […] allgemein bekannt« gewesen sei, alsdann seine »Habsucht« getrieben  ; er habe Hofer sein Wort gegeben und dieses Versprechen, das er mit Handschlag besiegelt hätte (eine im bäuerlichen Umfeld um 1800 aufgrund geringer Schriftlichkeit äußerst verbindliche Geste), gebrochen. In der Folge hätte er Peter Ilmer erpresst, indem er ihm »zuraunte […], er wisse das Versteck des Hofer«. Nach dem Verrat wäre Raffl als Feigling davongelaufen, um von Hofer nicht erkannt zu werden.81 Auf die Schilderung des Vorgefallenen folgen moralisierende Lektionen  : »Judas Raffl [habe] seine Tat bitter büßen« müssen, er sei »als Abschaum der Menschheit« gemieden worden. Als er aber eine eigene Version des Vorgefallenen vorgebracht hatte, dass er nämlich »im betrunkenen Zustand« einem anderen Passeirer Hofers Versteck verraten habe, habe er »sich bei dieser Aussage um die Wahrheit nicht viel gekümmert«, denn  : »Die Lüge sitzt ihm locker auf der Zunge.« Schlussendlich – und damit versuchte der Autor, auch noch Raffls Tiefpunkt aufzuzeigen  – habe er nochmaligen Verrat an seiner Heimat begangen, als er sich dem bayerischen König anbiederte. Abschließend wird vermerkt, dass Raffls Familie in Reichertshofen ausgestorben und das Leben »des Judas von Tirol« kein »beneidenswertes« gewesen sei, denn  : »Verrat hat sich noch immer gerächt.«82 Für derartige Mahnungen wurde die Raffl-Figur bereits im 19. Jahrhundert benutzt. Eine volkstümliche Erzählung etwa, entstanden nach 1834, nimmt auf das Schicksal des vermeintlichen Verräters Bezug  : »[B]öse Handlungen werden von dem Gewissen immer sehr auf dieser Erde gerächt. In seinen besten Jahren siechte er [Joseph Staffel, A. O.] dahin und starb, von Niemand geliebt, von Niemand betrauert, und sein Gedächtniß lebt nicht mehr in den Guten.«83 Bei der 80 Ebd. 81 J. S., Wie es dem Verräter Andreas Hofer erging, in  : Dolomiten, 17.2.1960, 3. 82 Ebd. 83 Raible, Sandwirth, 35. An den Schluss der Erzählung über Hofer und seinen »Befreiungskampf« wurde quasi als Anhang ein kurzes Kapitel mit Der Lohn des Verräthers gestellt.

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zweiten bildlichen Darstellung neben jener Puellachers (s. o.), in der eine Figur gezeigt ist, die Raffl sein könnte, handelt es sich um ein sogenanntes Zweiwege-Bild (d. h. ein christliches Lehrbild mit der Darstellung des Himmels- und des Höllenweges), ein Ölgemälde des Passeirer Malers Benedikt Auer d. J. aus dem Jahr 1816 (Abb. 2). Hier ist, vielleicht als Personifikation der Habgier, ein Mann mit Passeirer Tracht und mittelbraunem Vollbart dargestellt, der einen Sack mit Geld in der Hand hält und sich eindeutig auf dem mit Rosen geschmückten Weg zur Hölle befindet.84 Dass dieses Gemälde eine moralisierende Absicht hat(te), steht bereits durch den kirchlichen Kontext seiner Herkunft außer Zweifel. Sogar Raffls Todesursache versuchte man in eine zwielichtige Ecke zu stellen. So berichtete die Tiroler Tageszeitung 1984 mit zufriedenem Tonfall, »Franz Raffel, pensionierter Hallamts-Diener, Landgerichts Neuburg in Stokau, verheirathet«, sei an »Hemmeroihden [sic  !]« gestorben  ; als Quelle hierfür diente der bereits erwähnte Eintrag im Sterberegister der Pfarrei St. Margaretha.85 Obwohl Karl Klaar auf mehrere falsche Angaben in diesen Aufzeichnungen hinwies, die der »Fama« zu verdanken seien, und sich um Richtigstellung bemühte, sind Sterbejahr, Sterbeort und Todesursache doch genügend verbürgt.86 In ihrer Dramatik steht die genannte Todesursache aber jener des biblischen Judas wenig nach  : Dieser soll seine Tat bereut haben, darüber verzweifelt sein und sich nach dem Verrat an Jesus erhängt haben (Mt 27,3–5).

Rehabilitierung Wurde Raffl lange Zeit als Heimatverräter schlechthin und somit als Gegenpart zum Heros Andreas Hofer stilisiert, so setzte im 20. Jahrhundert, teilweise noch parallel hierzu, eine Entwicklung hin zur Rehabilitierung ein. Raffl wurde zum negativen Helden, zum Opfer einer Gesellschaft, die ihn als Außenseiter nicht akzeptierte. Wesentlich war das Aufzeigen von Mechanismen, die den historischen Akteur zum Werkzeug hatten werden lassen, zum Ausführenden, der im Namen einer anonymen Gruppe handelte. Seine dämonische Rolle wurde somit stark relativiert. Freilich wäre es dafür notwendig gewesen, seine Lebensum84 Ich danke den Mitarbeitern des Museum Passeier – Andreas Hofer für den Hinweis auf diese Darstellung, die sich in diesem Museum als Leihgabe der Pfarrei St. Leonhard befindet, und meiner Kollegin Dr. Birgit Huber für die Einordnung des Bildtypus. Die Beischrift auf dem Gemälde weist »1000 Gulden in Sack« bzw. »133 Gulden in Silber und 99 Kreutzer« aus – das auf Hofer ausgesetzte Kopfgeld betrug aber – so die gängige Überlieferung – 1500 Gulden (vgl. z. B. Hirn, Erhebung, 838). 85 B[uzas], H., Der pensionierte Hallamtsdiener Raffl starb an »Hemmeroihden«, in  : Tiroler Tageszeitung, 10.9.1984, 9. 86 Klaar, Raffl, 31 f.

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

Abbildung 2  : Ölbild von Benedikt Auer d. J. (Passeirer Malerschule), datiert 1816.

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stände genauer zu erforschen, ein Vorhaben, das aber – abgesehen von Klaars knappem biographischem Werk – nicht in Angriff genommen wurde. Die Geschichtswissenschaft kümmerte sich überhaupt wenig um Raffl. Die Hofer-Geschichte war, wie bereits erwähnt, seit der Jahrhundertwende festgeschrieben, und der Heldenstatus des ›Sandwirts‹ wurde erst seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in Zweifel gezogen.87 Die Rolle und Identität des vermeintlichen Verräters wurde dabei gar nicht mehr hinterfragt, obwohl sie für die Herausbildung des Hofer-Mythos von entscheidender Bedeutung gewesen war  : Es hatte des Gegenspielers bedurft, um den ›Sandwirt‹ seinem ›Gethse­mane‹88 zuzuführen. Wäre Hofer nämlich nicht verraten und hingerichtet worden, wäre seine Person vielleicht bald in Vergessenheit geraten.89 Der Umgang mit der Narration um den ›Judas von Tirol‹ im 20. Jahrhundert unterschied sich also wesentlich von jenem mit dem Andreas-Hofer-Mythos. Während Hofer zunächst weiter mythologisiert und mystifiziert wurde, um dann entmythisiert zu werden, glitt Raffl in die Anonymität einer Gruppe ab, die den sinnlosen Krieg zu beenden versuchten und keinen anderen Ausweg gefunden hatte, als den Rädelsführer der Tiroler Insurgenten zu denunzieren. Das Handeln und Denken dieses Kollektivs wurde zunehmend hinterfragt. Die analytische Aufarbeitung der Verräterfigur überließ man dabei in erster Linie der Kunst, vornehmlich der Literatur, dem Theater und dem Film, die das Thema mit Begeisterung für sich zu nutzen wussten. Ein Vorreiter in dieser Hinsicht war Peter Rosegger, der Raffl 1885 als Verräter darstellte, der seine Tat »Nicht des Geldes wegen, Gott bewahre  !« begangen habe, sondern um das Land vor weiterem Unglück zu schützen, so sei »der Hofer am Ende halt doch nichts anderes, als ein Empörer und Volksverhetzer und bring[e] das Land noch in ein weit tieferes Unglück, als in dem es ohnehin schon liegt. Für alles Elend, das die letzte Zeit her über Tirol gekommen ist, dürfen wir uns beim Sandwirth bedanken, und er will noch nicht Fried’ geben  !«90 Für die Zeit vor der Jahrhundertwende war eine derartige Aussage einigermaßen modern und mutig. Ein frühes Beispiel für die Rehabilitierung war auch Schönherrs »Der Judas von Tirol«, der bei der Erstaufführung »nur wenig Beifall« fand.91 Raffl wurde hier als Findelkind und Knecht und somit als von Geburt an sozial stigmatisierter Außenseiter gezeigt, dessen Hass und Rachsucht lediglich Folge dieser 87 Vgl. Oberhofer, Mythos, 87 f. 88 Plant, Berg-, Burg- und Thalfahrten, 155  : »Des Sandwirts Andreas Hofer Gethsemane.« 89 Heiss, Hofer, 14 f. 90 Rosegger, Geschichtenbuch, 136. 91 Chiavacci, Judas, 6.

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

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prekären Ausgangslage gewesen wären, der Verrat ein »Racheakt eines Ausgegrenzten an der Gesellschaft«.92 In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts beabsichtigte der irische Autor James Joyce, ein Drama über Andreas Hofer zu schreiben. Joyce beurteilte Raffls Rolle folgendermaßen  : Die jungen Leute haben ihn [Andreas Hofer, A.O.] bedrängt, die wollten unbedingt, daß er weiterkämpfe. Und einer von diesen war der Raffl. Dieser aber hat den Hofer eigentlich nicht verraten, weil er Geld haben wollte, sondern er hat ihn verraten, weil er gesagt hat  : ›Zuerst geht er her und macht das ganze Land rebellisch und jetzt, wo es um das Ganze geht, wo wir trachten müßten, die Franzosen endgültig aus dem Land zu jagen, jetzt gibt er nach‹.93

Ganz ähnlich interpretierte Johann Juen 1981 Raffls Schicksal und schrieb einen Artikel im Föhn, den er mit »Versuch einer Rehabilitierung« betitelte, wobei die Rehabilitierung sowohl auf Andreas Hofer als auch auf Raffl abzielte. Juen hob hervor, dass man den »Bauern Raffl« in der Rezeption bewusst »als lasterhaft-trunksüchtig« hingestellt habe, um Hofers bzw. Tirols Tragik glaubhafter machen zu können  : Vielleicht war Raffl nicht nur jener Verräter, der nichts zu verlieren hatte  ! War er wirklich nur geldgierig  ? Vielleicht gibt’s noch andere Gründe […]. Vielleicht waren damals bereits ›echte‹ Tiroler nicht mehr in der Lage, dem sinnlosen Blutvergießen noch irgendwelchen Sinn abzugewinnen  ? Was, wenn der kleine Bauer Raffl dazu gehört hätte  ?94

Eine etwas andere Absicht maß Christl Stadler dem Film »Raffl« von Friedrich Christoph Schmidt (Drehbuch) und Christian Berger (Regie und Kamera)95 zu, der zum Publikumserfolg avancierte und 1984 im Rahmen des internationalen Filmfestivals in Cannes gezeigt wurde. Raffl wäre demnach vom Pfarrer bedrängt worden, um des Friedens willens den Verrat zu begehen. Raffl habe dies auch getan, nachdem er zusätzlich noch von den Franzosen unter Druck gesetzt worden sei  : »Die Prämie bekommt er nicht, aber Prügel von seinen Landsleu92 Seyr, Hugo, Von einem Opfer der Sozialhierarchie. Tiroler Volksschauspiele 2006, »Der Judas von Tirol« von Karl Schönherr, in  : Dolomiten, 1. August 2006, 4. 93 Zit. nach  : Gruber, Joyce, 44. 94 Juen, Johann, Versuch einer Rehabilitierung  : Andreas Hofer, Tirols Heimatheld, in  : Föhn 1981, Heft 9, 29 f. 95 Vgl. Schneider, Rebellen, 473 f. Berger/Heltschl/Weinberger, 1810.

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ten.«96 Der Zuschauer schwanke, so eine Rezensentin, zwischen Anhaltspunkten, dass Raffls Verrat gerechtfertigt gewesen sei, und gegenteiligen Hinweisen, der Verrat werde aber grundsätzlich als »menschliche Tragödie« dargestellt.97 Tatsächlich empfindet sich der Film-Raffl selbst als Verratsopfer. Er versucht im Dorfpfarrer einen Verbündeten zu finden, der Geistliche aber missbraucht das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Raffl bemüht sich nach seiner Flucht nach Bayern, eine bürgerliche Existenz aufzubauen, scheitert aber schlussendlich an seiner Verzweiflung und vielleicht auch an Schuldgefühlen und der Sehnsucht nach der ›Heimat‹. Sein Ende bleibt zwar offen, Christian Berger aber schreibt über ›seinen‹ Raffl  : Er beginnt zu begreifen  : Geschichte, die mit ihm geschehen ist  ; seine Rolle im Spiel der Mächtigen. Er schält sich aus seiner Vergangenheit heraus. Plötzlich sieht er sich selbst, seine Wurzeln, und muss erkennen, dass er einen Raffl entdeckt hat, den es gar nicht mehr gibt, den man ihm gestohlen hat. Mit diesem Verlust kann Raffl nicht leben.98

Gerade das Kino, so Peter Angerer über den Film, greife gerne auf Verräterfiguren zurück, um Gefühle frei werden zu lassen.99 Angerer gibt auch die Begründung wieder, die die Filmbewertungskommission im April 1984 dazu gebracht habe, »Raffl« abzulehnen  : »Als Aussage scheint zu bleiben […], daß der Verrat am Volk, wenn er Frieden bringt, eine gute Tat ist und den Charakter des Verräters zum Positiven umkehrt.«100 Erst nach einer eingebrachten Berufung erhielt der Film das Mindestprädikat ›sehenswert‹. Im Jahr 2002 wurde der Fernsehfilm »Andreas Hofer  – Die Freiheit des Adlers« (Regie Xaver Schwarzenberger) erstmals gezeigt. Der Drehbuchautor Felix Mitterer versuchte, den Verräter weiter zu rehabilitieren  : Raffl gibt sich Hofer während dessen Verhaftung zu erkennen, was seinen tradierten Status als Feigling aushebelt. Nach seinem Verrat stellt er das Kopfgeld Hofers Frau als Wiederaufbauhilfe zur Verfügung, was dem Vorwurf der Habgier entgegensteht. Am Ende des Films wird er von seinem Knecht erschossen, was ihm die Entscheidung über die weitere Lebensgestaltung abnimmt. Hans Karl Peterlini schrieb über diesen Film  : »[D]ie Szene, bei der Raffl mit seinen Kindern durch den Wald läuft und ihm eines nach den [sic  !] anderen weggeschossen wird, ist 96 Stadler, Christl, Sprödes für Geduldige, in  : Präsent, 24. Mai 1984, 13. 97 Ebd. 98 Berger, Winter, 160 f. 99 Angerer, Peter, Geschichte Raffls in einer Bildersprache. Christian Bergers Beitrag zum Gedenkjahr, in  : Tiroler Tageszeitung, 25.5.1984, 8. 100 Zit. nach  : ebd.

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

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die beste des Films  : sie verschafft dem Judas 197 Jahre später etwas Rechtfertigung.«101 Im Jahr 2005 feierte ein weiterer Raffl-Film, Werner Asams Der Judas von Tirol, Premiere, eine Verfilmung von Schönherrs Theaterstück. In einer Rezension war zu lesen, dass es sich hierbei in erster Linie um eine Sozialstudie handle, was ganz Schönherrs Intention entspreche.102

Fazit René Girard hat eine Theorie des Sündenbockes aufgestellt, wonach im Fall einer gesellschaftlichen und kulturellen Krise ein Opfer ausgewählt werde (das auch ein Personenkollektiv sein könne), welchem die Verantwortung für die Krise aufgebürdet werde. Man versuche, der Krise Herr zu werden, indem »die Opfer vernichtet oder zumindest aus der Gemeinschaft, die sie ›verunreinigen‹, ausgestoßen werden«.103 In unserem Fall aber ist das Opfer – Raffl – gar nicht notwendig. Durch seinen Verstoß aus der Gesellschaft kann sich an der Krisensituation nichts mehr ändern – Hofer ist tot, das Land darbt weiter. Bezeichnend ist, dass die feindliche Stimmung gegen den vermeintlichen Verräter im heimatlichen Tal nicht durch Primärquellen belegt ist (abgesehen von der bildlichen Darstellung der »zwei Wege«), sondern die Berichterstatter, die Raffls ›Verfolgung‹ zu kennen glauben, beziehen sich allein auf das Hören-Sagen. Die tatsächliche Ächtung entsprang vielmehr der Feder einer gebildeten Elite, die im Gegensatz zu Raffls Landsleuten überhaupt erst imstande war, ihre Meinung aufzuschreiben und medial zu verbreiten. Hierbei spielten, wie aufgezeigt wurde, die ersten Bücher über den Aufstand von 1809 und seine Folgen eine wesentliche Rolle, die (kleine) Gruppe der Verfasser rekrutierte sich ausschließlich aus dem adeligen, bürgerlichen und geistlichen Milieu. Die Stimmen der Bauern, Handwerker, Arbeiter und Kleinhändler, mit denen Raffl zeitlebens bekannt war, sind – mit Ausnahme des Protokolls über das Verhör von Peter Ilmer – hingegen nicht aufgezeichnet. Wenngleich, um ein Beispiel zu nennen, oben erwähnter Johann Jakob Staffler 1810 bis 1813 bayerischer Landrichter im Passeier war und die Geschehnisse als Zeitzeuge miterlebte, spricht auch in seiner Einschätzung schlussendlich eine bürokratische Elite, die seit der Übernahme Tirols durch 101 Peterlini, Hans Karl, Ach, wie schießt ihr schlecht, in  : FF  – Die Südtiroler Illustrierte, 29. August 2002, Nr. 35, 13. 102 Anon., Die Geschichte eines Verrates. Werner Asams Film »Der Judas von Tirol« feiert Premiere – Statisten aus Südtirol, in  : Dolomiten, 11.10.2005, 16. 103 Girard, Sündenbock, 38.

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Bayern von der einheimischen Bevölkerung angefeindet wurde und deren subjektive Meinung somit von Frust und Ermüdung gekennzeichnet sein könnte. Dass Raffl im Nachhinein zum charakterschwachen und verbrecherischen Menschen gemacht wurde, passt in Girards Konzept des Sündenbockes  : »Im Mythos […] gibt es wahrhaft mythologische Anschuldigungen wie Vatermord, Inzest, moralische oder physische Vergiftung der Gemeinschaft. Diese Anschuldigungen sind charakteristisch für die Art und Weise, wie entfesselte Mengen sich ihre Opfer vorstellen.«104 Die Anschuldigungen, die dem Verräter Andreas Hofers im Lauf von zweihundert Jahren Rezeption zugeordnet wurden, sind tatsächlich »mythologisch«, allerdings kann keineswegs von einer entfesselten Menge die Rede sein. Der vermeintliche Verräter wurde laut den mit Vorsicht zu lesenden Berichten zwar verunglimpft und gemobbt, de facto aber nicht verfolgt. Er konnte aus rechtlicher Sicht gar nicht zur Rechenschaft gezogen werden, da er im Sinne eines gemeinsamen Zieles, der Befriedung des Landes, gehandelt, und mit seinem Verrat am Partisanen Hofer, der durch die Fortführung des Aufstandes tatsächlich Hochverrat begangen hatte, die legale Herrschaft gestützt hatte. Der Verrat an Hofer wurde aus diesem Grund auch nie zum Rechtsfall, der eine breitere Öffentlichkeit interessiert hätte  : Die überlieferten Gerichtsprotokolle, die von bayerischen Beamten aufgenommen wurden, dienten keineswegs der Ahndung eines Verbrechens, sondern allein der Wahrheitsfindung zum Schutz des sich durch seine Landsleute bedroht fühlenden Franz Raffl. Der vermeintliche Verräter wurde also nicht durch ein Gemeinwesen oder eine Judikative bestraft, sondern die retrospektive Betrachtung durch die Rezeptionsgeschichte stellte dar, wie er durch seine Tat die Chance auf ein glückliches und erfülltes Leben verwirkt habe und durch das Schicksal an sich zur Rechenschaft gezogen worden sei. Der Verlust von ›Heimat‹, Familie und Freunden hätten ihm zugesetzt, seine Schuldgefühle ihn zuletzt zugrunde gerichtet. Der Verlust der Memoria und die Verunglimpfung der Nachkommen sollten dieser Entwicklung einen unrühmlichen Schlusspunkt setzen. Vieles davon aber gehört dem Mythos an, es gibt mehr Spekulationen als gesicherte Informationen etwa über Raffls Lebenswandel in Bayern oder das Schicksal seiner Kinder. Die Darstellung Raffls als Sündenbock scheint insgesamt dem Zweck gedient zu haben, posthum seinem vermeintlichen Opfer, Andreas Hofer, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, aber – und das ist wesentlicher – auch Hofers Schicksal als Passionsgeschichte inszenieren zu können. Die Erzählung über den Verrat am »Sandwirt« lehnt sich dabei stark an die Verratsgeschichte des Neuen Testaments an und wurde in der wissenschaftlichen, vor allem aber der künstlerischen Aufbereitung durch die Verknüpfung mit den Passionsspielen mit dieser 104 Ebd., 41.

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

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verwoben. Im Vordergrund steht in beiden Fällen, bei Judas und bei Raffl, die Geldgier, also der Verrat nicht aus politischen, sondern aus ›privaten‹ Gründen. Erst später wurde in Raffls Fall, quasi als zweite große Erzählung, ein selbstloser Dienst an der Gemeinschaft hineininterpretiert, der eine Rolle gespielt haben könnte  : Raffl habe Hofer verraten, damit das Land endlich befriedet würde. Für die politische Rezeption von ›Anno neun‹ indes ist ein anderer Aspekt von Verrat viel wichtiger, nämlich jener der Tiroler durch das Kaiserhaus. Dass die Habsburger die Tiroler in ihrem ›Freiheitskampf‹ zunächst unterstützt, danach aber im Stich gelassen hätten, schwingt in der Erinnerungskultur bis heute nach. Wenn demnach Bernhard Sandbichler 2002 eine Anthologie mit dem Titel »Andreas Hofer 1809. Eine Geschichte von Treue und Verrat« herausgab105, so ist hier weniger der vermeintliche Verrat Raffls an Hofer, sondern eher der Verrat Österreichs an den Tirolern gemeint – auf jeden Fall aber Verrat in zweifachem Sinn. Quellen Andreas Hofer 1809. Eine Geschichte von Treue und Verrat. Ein Lesebuch, hrsg. v. Bernhard Sandbichler, Innsbruck/Wien/Bozen 2002. Anon., Il Sandwirth del Tirolo (racconto storico) (Biblioteca del Menestrello, 4), Vicenza 1899. [Becker, Gottfried Wilhelm], Andreas Hofer und der Freiheitskampf in Tyrol 1809, Leipzig 1841. Berger, Christian, Es ist Winter 1810, in: Andreas Hofer 1809. Eine Geschichte von Treue und Verrat. Ein Lesebuch, hrsg. v. Bernhard Sandbrichler, Innsbruck/Wien/Bozen 2002, 160–162. Chiavacci, V[inzenz] K. (Hrsg.), Karl Schönherr  : Der Judas von Tirol. Volksschauspiel in 3 Akten, Wien [1955]. Dipauli, Andreas, Anekdoten aus der Insurrectionsgeschichte von 1809. Andreas Hofer betreffend. Handschrift, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck (TLMF)  : Dip. 1377/II, fol. 109–110. Dörrer, Anton, Der Judas von Erl. Erinnerungen des Tiroler Passionsspielleiters Dr. Anton Dörrer, Innsbruck [1948]. Dreyer, Hermann, Die Kinder des Verräthers. Historischer Roman aus der Zeit Andreas Hofers. Erster Band, Mainz 1862. Ders., Zwei Bilder aus der Passionszeit Tirols, in  : Neues Hausbuch für christliche Unterhaltung. Erzählungen, Novellen, Gedichte, Legenden, Sagen, Reisebeschreibungen, Schilderungen aus dem Kunst-, Natur- und Menschenleben, fünfter Band, hrsg. v. Ludwig Lang, Augsburg 1860, 155–194. [Hormayr, Joseph von], Geschichte Andreas Hofer’s, Sandwirths aus Passeyr, Oberanführers der Tyroler im Kriege von 1809. Durchgehends aus Original-Quellen, aus den militairischen Operations-Planen, so wie aus den Papieren Hofer’s, des Freyh. Von Hormayr, Speckbacher’s, Wörndle’s, Eisenstecken’s, der Gebrüder Thalguter, des Kapuziners Joachim Haspinger und vieler Anderer, Leipzig/Altenburg 1817. Ders., Geschichte Andreas Hofer’s, Sandwirths aus Passeyr, Oberanführers der Tyroler im Kriege von 1809. Durchgehend aus Originalquellen, aus den militairischen Operationsplanen, sowie aus den 105 Sandbichler, Hofer.

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Papieren des Freiherrn von Hormayr, Hofer’s, Speckbacher’s, Wörndle’s, Eisenstecken’s, Ennemoser’s, Sieberer’s, Aschbacher’s, Wallner’s, der Gebrüder Thalguter, des Kapuziners Haspinger’s und vieler Anderer. Zweite, durchaus umgearbeitete und sehr vermehrte Auflage, Zweiter Theil (= Das Land Tyrol und der Tyrolerkrieg von 1809. Zweiter Theil), Leipzig 1845. Kerausch, Joseph, Andreas Hofer. Ein Zeitbild aus den Tiroler Befreiungskriegen, als Dramatisches Festspiel verfasst, o. O. 1893. Menghin, Alois, Andreas Hofer und das Jahr 1809. Ein Geschichtsbild für Jugend und Volk, Graz 1909. Neues Hausbuch für christliche Unterhaltung. Erzählungen, Novellen, Gedichte, Legenden, Sagen, Reisebeschreibungen, Schilderungen aus dem Kunst-, Natur- und Menschenleben, 5. Bd., hrsg. v. Ludwig Lang, Augsburg 1860. Plant, Fridolin, Berg-, Burg- und Thalfahrten bei Meran und Bozen. Mit Illustrationen nach Zeichnungen des Verfassers, Meran 1885. Prem, S. M., Der Tirolische Freiheitskrieg 1809. Neue Beiträge zur Geschichte der letzten Kämpfe, in  : XXVI. Jahresbericht der k.k. Staats-Oberrealschule in Marburg, Marburg an der Drau 1895–1896, 25–46. Raible, Wilhelm, Der Sandwirth Andreas Hofer und der heldenmüthige Befreiungskampf der tapfern Tyroler. Für’s Volk erzählt, München o. J. Rapp, Joseph, Tirol im Jahre 1809. Nach Urkunden dargestellt, Innsbruck 1852. Rosegger, P[eter] K., Das Geschichtenbuch des Wanderers. Neue Erzählungen aus Dorf und Birg, aus Wald und Welt. Erster Band, Wien/Pest/Leipzig 1885. Schmölzer, Hans, Andreas Hofer und seine Kampfgenossen. Ein Jugend- und Volksbuch, Innsbruck 1900. Schulz, Joseph, Andreas Hofer, Oberanführer der Tyroler, in ihrem Kriege um den alten Herrn und um ihr altes Recht gegen fremde Bothmäßigkeit im Jahre 1809. Ein historisch-biographisches Gedicht. Den Hochlöblichen Herren Ständen der gefürsteten Grafschaft Tyrol ehrfurchtsvoll gewidmet, Wien 1834. Staffler, Johann Jakob, Tirol und Vorarlberg, topographisch, mit geschichtlichen Bemerkungen, 2. Bd., 2. Heft, Innsbruck 1846. Werner, Karl, Kaiser Franz vom Antritte seiner Regierung bis nach dem Frieden von Luneville 1792– 1803 (Oesterreichische Geschichte für das Volk XV), Wien 1866.

Zeitungen und Zeitschriften Bote für Tirol und Vorarlberg Das Fenster Distel Dolomiten Dorfzeitung Schenna FF – Die Südtiroler Illustrierte Föhn Kurier Tirol Lananer Gemeindeblatt Neue Tiroler Stimmen Neue Tiroler Zeitung präsent

Franz Raffl, der »Judas von Tirol« 

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Tiroler Kulturzeitschrift Tiroler Tageszeitung

Literatur Berger, Christian/Heltschl, Markus/Weinberger, Lois, 1810 verriet der Tiroler Raffl Andreas Hofer an die Franzosen – 1984 fahren die Tiroler mit Raffl nach Frankreich, in: Das Fenster. Tiroler Kulturzeitschrift 34/35 (1984), 3453–3460. Blaas, Mercedes (Hrsg.), Der Aufstand der Tiroler gegen die bayerische Regierung 1809 nach den Aufzeichnungen des Zeitgenossen Josef Daney (Schlern-Schriften, 328), Innsbruck 2005. Braudel, Fernand, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Bd. 3  : Der Alltag, München 1990. Girard, René, Der Sündenbock. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh, Zürich 1988. Granichstaedten-Czerva, Rudolf, Andreas Hofers alte Garde, Innsbruck 1932. Gruber, Alfred, James Joyce plant Drama über Andreas Hofer. Erinnerungen von einstigen Schülern, in: DISTEL 4 (1938), 42–45. Gürtler, Werner, Fern von Europa  – Ein Literaturskandal und seine Folgen, in  : Fern von Europa. Tirol ohne Maske. Kurze Geschichten aus finsteren Breiten in 34 Bildern. Schilderung von Land und Leuten von nicht alltäglicher satirischer Art. Jubiläumsausgabe, hrsg. v. Sepp Schluiferer (Carl Techet), Innsbruck 13 2009, 116–141. Heiss, Hans, Andreas Hofer in seiner Zeit. Einspruch gegen den Mythos, in  : Mythos Andreas Hofer, hrsg. v. Grüne Bildungswerkstatt Tirol, Wien 2008, 13–23. Hirn, Josef, Tirols Erhebung im Jahre 1809, Innsbruck 21909. Klaar, Karl, Franz Raffl der Verräter Andreas Hofers (Anno Neun. Geschichtliche Bilder aus der Ruhmeszeit Tirols. Eine Jahrhundertgabe für das Volk, 31), Innsbruck 1921. Oberhofer, Andreas, Andreas Hofer als Ikone, Idol, Reliquie, Popanz, Objekt, Statue  ? Zur Konstruktion, Verwendung und Dekonstruktion eines fetischähnlichen Konzepts im historiographischen, »nationalen«, künstlerischen und politischen Diskurs, in  : Fetisch als heuristische Kategorie. Geschichte ‒ Rezeption ‒ Interpretation, hrsg. v. Christina Antenhofer, Bielefeld 2011, 313–347. Ders., Der Andere Hofer. Der Mensch hinter dem Mythos (Schlern-Schriften, 347), Innsbruck 2009. Ders., Der Andreas-Hofer-Mythos  : Mehr Schein als Sein  ?, in  : Hinter den Kulissen. Beiträge zur modernen Mythenforschung, hrsg. v. Claus Oberhauser/Wolfgang Knapp, Innsbruck 2012, 71–100. Oberhofer, Andreas/Schneider, Karin, Der »Generale Barbone«. Andreas Hofer und sein »Heldenbart«, in  : Der Schlern 84 (2010), 32–55. Schneider, Karin, Tiroler Rebellen im Kino. Andreas-Hofer-Rezeption im Spielfilm, in  : Abschied vom Freiheitskampf  ? Tirol und ›1809‹ zwischen politischer Realität und Verklärung (Schlern-Schriften, 346), hrsg. v. Brigitte Mazohl/Bernhard Mertelseder, Innsbruck 2009, 461–501.

Abbildungsverzeichnnis Abbildung 1  : Leopold Puellacher, Raffl erhält sein Blutgeld, um 1820, Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Ältere Kunstgeschichtliche Sammlungen, Inv.Nr.  Gem 2096c. Foto  : Tiroler Landesmuseen. Abbildung 2  : Benedikt Auer d. J., Zweiwege-Bild (Himmel und Hölle), 1816, 110x160 cm. Museum Passeier – Andreas Hofer, Dauerausstellung. Leihgabe der Pfarrei St. Leonhard in Passeier, Autonome Provinz Bozen-Südtirol, Italien.

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Katrin Dircksen

Malinche Von der indigenen Dolmetscherin zur Verräterin und Mutter der Nation

Keine andere weibliche Figur der Geschichte wird in Mexiko mit dem Vorwurf des Verrats am eigenen Volk zusammengebracht wie Malinche1, jene indigene Frau, die während der Eroberung Mexikos (1519–1521) dem Spanier Hernán Cortés als Dolmetscherin diente. In den letzten zwei Jahrhunderten ist die historische Figur der Malinche mit ihrer bedeutenden Vermittlungsrolle in der sprachlich Neuen Welt zunehmend in den Hintergrund geraten. Stattdessen haben sich um Malinche aus unterschiedlichen, bisweilen antagonistischen Perspektiven positive und vor allem negative Mythen und Legenden gebildet. In den 1930er Jahren entstand der Neologismus malinchismo, der den Verrat an der eigenen Nation und die Unterwerfung unter eine andere Macht ausdrückt. Als malinchista wird jemand bezeichnet, der eine Öffnung Mexikos für ausländische Einflüsse in der Politik, Wirtschaft und im kulturellen Bereich befürwortet und generell das Fremde gegenüber dem Eigenen vorzieht.2 Im folgenden Beitrag soll gezeigt werden, dass es sich bei dem Vorwurf des Verrats der Malinche um ein Konstrukt des 19. und 20. Jahrhunderts handelt, das von der allgemein positiven Bewertung der Malinche in den spanischen und indigenen Quellen des 16. Jahrhunderts deutlich abweicht.

Die historische Malinche Als wichtigste Quelle zum Leben der Malinche und ihrer Rolle in der Conquista gilt bis heute die Historia verdadera de la Conquista de la Nueva España (Wahr1 Malinche hieß ursprünglich Malinali, ein Name, der sich vom zwölften Monat des Aztekenkalenders ableitet. Von den Indígenas soll sie Malintzin genannt worden sein. Das Suffix -tzin wird im Nahuatl als Zeichen des Respekts an den Namen angehängt und deutet auf ihre adlige Herkunft hin. In diesem Beitrag wird der Name Malinche verwendet, der synkretistische Name, unter dem sie heute bekannt ist. Vgl. Thomas, Eroberung, 248  ; Messinger Cypess, La Malinche, 2  ; Peters, Weibsbilder, 47 f. 2 Vgl. dazu auch  : Wurm, Historische Figur, 195  ; Paz, Labyrinth, 89 f.; Leitner, Malinche-Komplex, 209–210.

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Katrin Dircksen

hafte Geschichte der Eroberung von Neu-Spanien) des Spaniers Bernal Díaz del Castillo (1498–1582), der den Eroberungszug von Cortés begleitet hatte. Díaz del Castillo schreibt, dass Malinche um 1502 in Painala, in der aztekischen Provinz Coatzacoalco, an der mexikanischen Ostküste geboren wurde. Sie gehörte als Tochter eines Kaziken der Oberschicht an. Ihr Vater starb früh, die Mutter heiratete erneut und gebar in ihrer zweiten Ehe einen Sohn, der von den Eltern als alleiniger Erbe des Kazikats bestimmt wurde. Nach Díaz del Castillo soll die Mutter das Gerücht vom Tod Malinches verbreitet und sie als Sklavin an Händler aus Xicalango verkauft haben, die das Mädchen wiederum an Händler aus Potonchán gaben. Die Muttersprache der Malinche war das Nahuatl, die Sprache der Azteken. Als Sklavin eines Mayaherrschers in Potonchán lernte sie die Sprache der Maya. Nachdem die Spanier am 25. März 1519 in der Schlacht von Centla die Maya von Potonchán besiegt hatten, erhielten sie am 15. April 1519 als Versöhnungsgeschenk zwanzig  Sklavinnen, darunter Malinche. Malinche war somit nicht freiwillig an die Spanier herangetreten, sondern sie war, ohne dass die Spanier Kenntnis von ihrer Sprachbegabung hatten, verschenkt worden. Der Mönch Bartolomé de Olmedo taufte die zwanzig Frauen. Von den Spaniern wurde Malinche fortan Marina bzw. Doña Marina genannt.3 Der Titel Doña war in Spanien Kennzeichen einer hohen Adligen. Malinche wurde somit von der Sklavin ›zur Dame‹ erhoben. Nach der Taufe vergab Cortés die Frauen an seine Offiziere. Bernal Díaz del Castillo berichtet  : Dann wurden die Frauen getauft. Die hübscheste, gewandteste und aufgeweckteste erhielt den Namen Donna Marina und wurde von Cortes dem Alonso Hernandez Puertocarrero, einem wackeren Kavalier, zur Frau gegeben. Als dieser später nach Spanien ging, nahm Cortes Donna Marina zu sich, und sie bekam einen Sohn von ihm.4 Über die Beziehung zwischen Cortés und Malinche ist nicht viel bekannt, als sicher gilt allerdings, dass um 1522 ein Kind, Martín Cortés, aus dieser Verbindung hervorgegangen ist. Nach der Eroberung des Aztekenreiches verheiratete Cortés Malinche 1524 in Ojeda mit Juan Jaramillo, einem seiner wichtigsten Offiziere. Malinche stand Cortés weiterhin als Dolmetscherin zur Seite und übersetzte auch noch die Predigt der Franziskanermönche, als der letzte Aztekenherrscher Cuauhtémoc am 28.  Februar 1525 in der Provinz Acalán gehängt wurde.5 Nach der Rückkehr von der Expedition nach Honduras 1526 verlieren sich ihre Spuren in der Geschichtsschreibung. Es ist lediglich überliefert, dass Malinche später mit Juan Jaramillo und der gemeinsamen Tochter María in Mexiko-Stadt lebte. Cortés hatte ihnen Ländereien geschenkt, und sie galten als eine wohlhabende und an3 Vgl. Díaz del Castillo, Geschichte, 80–83. 4 Ebd., 81. 5 Ebd., Díaz del Castillo, Geschichte, 83, 513, 525.

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gesehene Familie. Über das Todesdatum von Malinche herrscht keine Klarheit. Es besteht lediglich Einigkeit darüber, dass sie sehr jung starb.6 Malinche unterstützte Cortés sechs Jahre lang als Dolmetscherin. Cortés hatte das Glück, bereits einige Tage nach seiner Ankunft auf Yucatán auf den schiffbrüchigen andalusischen Priester Jerónimo de Aguilar gestoßen zu sein, der ihm zu Beginn des Eroberungszuges als Spanisch-Maya-Dolmetscher diente. Als Cortés von der Ostküste gen Norden in Richtung Tenochtitlán zog, stießen die Sprachkenntnisse seines Dolmetschers Aguilar an ihre Grenzen. Hier tritt nun Malinche in die Geschichte der Eroberung ein. Cortés und Aguilar wurden auf die Sprachfähigkeiten der Sklavin Malinche aufmerksam, als sie sich mit den Einheimischen in einer den Spaniern unverständlichen Sprache, dem Nahuatl, unterhielt. Da sowohl Malinche als auch Aguilar Maya sprachen, erfolgte die Verständigung über die folgende Übersetzungskette  : Cortés sprach Spanisch mit Aguilar, der das Spanische in das Maya übersetzte, das dann von Malinche ins Nahuatl übertragen wurde. Durch dieses sukzessiv Dolmetschen konnte eine Verständigung mit den verschiedenen mesoamerikanischen Bevölkerungsgruppen erfolgen, die zwar langwierig war und die Gefahr der Verzerrung des Inhalts barg, die aber ohne Hilfe der beiden Dolmetscher nur mit Zeichensprache unter schwierigen Bedingungen hätte stattfinden können.7 Malinche soll aufgrund ihres Sprachtalents innerhalb eines kurzen Zeitraumes von Aguilar die spanische Sprache gelernt haben. Nach dem Aufenthalt an der Ostküste wurde Malinche zur unentbehrlichen Dolmetscherin und treuen Begleiterin des Cortés auf seinem Zug durch das Aztekenreich nach Tenochtitlán.

Zeitgenössische Quellen zu Malinche Allgemein lässt sich festhalten, dass es nur wenige Quellen zur Biographie von Malinche und ihrer Dolmetscherfunktion aus der Zeit der Eroberung gibt. Der Lienzo de Tlaxcala, eine Bilderhandschrift, die den Eroberungszug des Cortés von Tlaxcala bis in die Aztekenhauptstadt Tenochtitlán aus der Perspektive der verbündeten Tlaxcalteken darstellt, zeigt auf 22 der insgesamt 48 Bilddarstellungen Malinche. Sie ist darauf durch ihre Bekleidung mit einem huipil deutlich als indigene Frau gekennzeichnet und nimmt einen zentralen Platz entweder an der Seite von Cortés oder als Vermittlerin zwischen Spaniern und Einheimischen

6 Vgl. Wurm, Historische Figur, 37. Hingegen datiert Baudot ihr Todesjahr auf 1551  : Baudot, Política, 81. 7 Vgl. Pietschmann, Eroberung, 12 f.

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ein.8 Auch der Códice Florentino, ein mit Hilfe von Indígenas verfasster und bebilderter Text in Nahuatl und Spanisch, der von dem spanischen Missionar Bernardino de Sahagún (1500–1590) veröffentlicht wurde, beschreibt Malinche als eine Frau von großer Bedeutung für die Eroberung des Aztekenreiches. Bei der Schilderung von Gesprächen zwischen Indígenas und Spaniern wird sie ausdrücklich genannt und darüber hinaus auf sieben der 161 Bilder in einer zentralen Position dargestellt.9 Kritischer hingegen ist der Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas (1475–1566), der in seiner Historia de las Indias lediglich die Vorgeschichte Malinches sowie kurz ihre Rolle als Dolmetscherin anführt. Er übt Zweifel an ihren Dolmetscherfähigkeiten, indem er behauptet, die Verständigung zwischen den Akteuren sei überwiegend durch Gesten und nicht durch Worte erfolgt.10 Hernán Cortés verfasste in den Jahren 1519–1526 fünf Cartas de Relación (Briefberichte über die Eroberung Mexikos) an Kaiser Karl V., in denen er sein Vorgehen während der Eroberung Mexikos rechtfertigt und seine Treue gegenüber der spanischen Krone ausdrückt. Er erwähnt seine indigene Dolmetscherin lediglich an zwei Stellen und verschweigt sowohl ihre wichtige Rolle während der Conquista wie auch seine Beziehung zu ihr gegenüber Kaiser Karl V.11 Die fehlende Anerkennung des Wirkens der Malinche beruht auf der allgemeinen Intention von Cortés, seine eigene Rolle in den Cartas de Relación hervorzuheben und somit Anerkennung und Titel vom König zu erhalten.12 Die ungefähr vierzig  Jahre nach der Eroberung verfasste Historia verdadera de la Conquista de la Nueva España von Bernal Díaz del Castillo stellt den kritischen Kontrapunkt zu den Briefen des Hernán Cortés dar. Er berichtet aus der Perspektive des unmittelbar Beteiligten und beabsichtigt mit seinem Werk, die Verdienste der anonymen Soldaten und anderer Teilnehmer der Conquista vor dem Vergessen zu bewahren. Vor diesem Hintergrund sind seine durchweg positiven Aussagen zur Malinche auch kritisch zu betrachten. Die erfolgreiche Eroberung Mexikos sei seiner Auffassung nach eine Mannschaftsleistung gewesen, innerhalb derer Malinche eine herausragende Position gehabt habe. Er widmet ihr ein eigenes Kapitel und wiederholt immer wieder seine Bewunderung für ihre Person und stellt sie gar als Retterin und Beschützerin der Spanier dar  :

 8 Dröscher, La Malinche, 19.  9 Vgl. Wurm, Historische Figur, 44–46. 10 Vgl. Las Casas, Historia, 466, 469  ; Wurm, Historische Figur, 51–53. 11 Vgl. Cortés, Cartas, 104, 368. Martín Cortés war nach dem Vater von Hernán Cortés benannt worden. Cortés bat später Papst Klemens VII. um die Anerkennung des Martín als seinen Sohn. Dies erfolge über eine päpstliche Urkunde am 16. April 1529. 12 Vgl. Baudot, Malintzin, 61 f.

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Diese Frau war ein entscheidendes Werkzeug bei unseren Erkundungsfahrten. Vieles haben wir unter Gottes Beistand nur mit ihrer Hilfe vollbringen können. Ohne sie hätten wir die mexikanische Sprache nicht verstanden, zahlreiche Unternehmungen hätten ohne sie einfach nicht durchgeführt werden können.13

Interkulturelle Kommunikation und Verhandlungen  : Malinches Rolle bei den spanischen Eroberungen Trotz der Betonung der Sprachkenntnisse der Malinche ist sicherlich einschränkend zu sagen, dass Malinche nicht in jedem Fall eine problemlose Verständigung herstellen konnte. Das Nahuatl hatte sich zwar schon vor der Conquista als Handels- und Verwaltungssprache bis nach Mittelamerika durchgesetzt und war die Koiné, die Lingua franca des Aztekenreiches.14 Auch aufgrund dialektaler Unterschiede ist allerdings davon auszugehen, dass Malinche auf Gestik und Mimik zurückgreifen musste, um ihre Übersetzungen zu verdeutlichen. Zudem hält es Las Casas für unmöglich, dass Malinche abstrakte Gesprächsinhalte über die katholische Religion, spanische Institutionen und das kastilische Königreich fehlerfrei übermitteln konnte.15 Den Quellen zufolge hatte sie aufgrund ihrer Sprach- und Landeskenntnisse wichtige ökonomische, soziale, kulturelle und religiöse Funktionen inne, die seitens der Chronisten hervorgehoben und positiv bewertet wurden. So berichten die Quellen, dass Malinche Nahrungsmittel für die Spanier besorgte sowie wichtige Informationen über die jeweils vorherrschende Kultur mit ihren Glaubens- und Lebensvorstellungen und die Topographie der Gebiete auf der Marschroute von San Juan de Ulúa nach Tenochtitlán lieferte (Abb. 1).16 Nicht nur diese Dienste waren für die Spanier bei ihrem Eroberungszug überlebenswichtig, sondern vor allem erste friedliche Begegnungen mit den Indígenas und das Finden von Bündnispartnern. Als Cortés 1519 an der mexikanischen Küste landete, reichte das Aztekenreich vom Atlantik bis zum Pazifik. Tenochtitlán, das heutige Mexiko-Stadt, war die Hauptstadt der Azteken, die sich selber mexica nannten. Unter ihrer Herrschaft standen zahlreiche unterworfene und tributpflichtige Völker. Diese mussten dem Aztekenherrscher Moctezuma militärische Gefolgschaft leisten, hatten aber eine eigene 13 Díaz del Castillo, Geschichte, 83. 14 Vgl. Thomas, Eroberung, 29  ; Noll, Amerikanische Spanisch, 61. 15 Vgl. Las Casas, Historia, 469. Zu ihrem Umgang mit den unterschiedlichen regionalen Dialekten des Nahuatl vgl. ausführlich Karttunen, Rethinking, 300–303. 16 Vgl. Díaz del Castillo, Geschichte, 528, 540  ; El Lienzo de Tlaxcala, 21  ; Códice Florentino, 71.

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Abbildung 1  : Cortés’ Marschroute von San Juan de Ulúa nach Tenochtitlán.

politische Führung. Unter den verschiedenen Völkern hatten sich Gegensätze und Konflikte ausgebildet, zudem hatte sich Widerstand gegen die Herrschaft Moctezumas entwickelt. Cortés erhielt über Malinche differenzierte Angaben zu internen Problemen und Konflikten der indigenen Völker und konnte diese Informationen für seine Allianzpolitik ausnutzen und wichtige Bündnispartner für den Kampf gegen den Aztekenherrscher Moctezuma gewinnen.17 Malinche war jedoch nicht nur die Stimme der Spanier, sondern auch die Indígenas kommunizierten über sie. So trafen die Spanier gemeinsam mit den Tlaxcalteken vor ihrer Ankunft in Cholula auf Kaziken und Götzenpriester, die Malinche baten, für sie eine Aufforderung zu verdolmetschen  : Zum Zeichen des Friedens räucherten die Papas den Generalkapitän und uns Krieger an. Als sie die Tlaxcateken sahen, baten sie die Donna Marina, Cortes darauf aufmerksam zu machen, daß es sehr unpassend wäre, wenn ihre Feinde als seine Begleiter mit Waffen in den Händen in die Stadt einzögen. Cortes ließ daraufhin haltmachen […].18

Díaz del Castillo berichtet zudem, dass Cortés seit dem Aufenthalt in Tlaxcala Malinche, capitán Malinche oder Señor Malinche gerufen wurde.19 Cortés wurde somit von den Indígenas nach seiner Dolmetscherin benannt, was darauf schließen lässt, dass sie den aktiven Part in den Verhandlungen innehatte und Cortés eher eine Nebenrolle einnahm. Diese Verhandlungen, die letztlich nur über Ma-

17 Vgl. Pietschmann, Eroberung, 7 f.; Landa, Doña Marina, 23  ; Leitner, Zunge, 50. 18 Díaz del Castillo, Geschichte, 177. 19 Ebd., 161, 208 f.

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linche möglich waren, haben weiteres Blutvergießen sowohl zu Lasten der Indígenas, aber vor allem der Spanier verhindern können. Das politische Gefüge des Aztekenreiches begann sich zu lösen, als sich den verschiedenen Völkern ein Bündnis mit den Spaniern gegen Moctezuma und damit eine Alternative gegen die bisherige politische Herrschaft anbot. Zu der wichtigen spanisch-indigenen Allianz, ohne die die Eroberung Mexikos unmöglich gewesen wäre, gehörten die Totonaken, Cholulteken und die Tlaxcalteken. Díaz del Castillo berichtet von dem Besuch der Totonaken im spanischen Lager  : Die Tracht und die Sprache dieser Indianer war ganz anders als die der Leute des Moteczuma. […] Donna Marina fragte sie, ob einer von ihnen die mexikanische Sprache verstehe. Da meldeten sich zwei, und die Unterhaltung konnte beginnen. […] Für Cortes war dies Gespräch außerordentlich aufschlussreich. Er hörte zum ersten Mal etwas über die Feinde des Moteczuma und war deshalb sehr freundlich zu den Männern, beschenkte sie und gab ihnen den Auftrag, ihrem Herrn seinen Besuch anzukündigen.20

Die wichtigsten Gespräche, die Malinche ermöglichen sollte, waren die mit den Tlaxcalteken. Diese bildeten eine starke militärische Föderation aus 200  Ortschaften, die sich in vier Bezirke mit jeweils einem Herrscher unterteilte.21 Nach einigen Konfrontationen und Verhandlungen schlossen sich Tausende von Kämpfern den Spaniern an. Von den zahlreichen Begegnungen zwischen Spaniern und Indígenas auf dem Weg nach Tenochtitlán, bei denen Malinche vermittelte, sind die Ereignisse in Cholula zentral für den Verlauf der Eroberung. In Cholula sollte sich am 16./18.  Oktober 1519 in besonderem Maße die Loyalität der Malinche gegenüber den Spaniern zeigen. Nach einer ersten friedlichen Begegnung zwischen den Cholulteken auf der einen Seite und Spaniern und Tlaxcalteken auf der anderen Seite kamen in der Stadt Gerüchte über eine Verschwörung auf. Malinche soll der Frau eines Kaziken eingeredet haben, sie werde von den Spaniern gefangen gehalten. Die Frau erzählte ihr daraufhin von einem geplanten heimlichen Überfall der Cholulteken im Auftrag Moctezumas auf das Lager der Spanier. Mit diesen Informationen eilte Malinche zu Cortés, der daraufhin die Kaziken aufsuchte. Er wandte sich mit schweren Anschuldigungen an die Kaziken, und Donna Marina verdolmetschte den Indianern diese Rede sehr deutlich.22 Nach dieser Rede ließ Cortés zusammen mit den verbündeten Tlaxcalteken ein schweres 20 Ebd., 92. 21 Vgl. dazu ausführlich  : Thomas, Eroberung, 333–335. 22 Díaz del Castillo, Geschichte, 186.

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Katrin Dircksen Abbildung 2  : Das Massaker von Cholula.

Massaker an den Cholulteken anrichten. Ob Moctezuma tatsächlich die Cholulteken aufgefordert hatte, die Spanier gegen eine Belohnung umzubringen, ist fraglich, vielmehr handelt es sich bei der Erzählung um eine spanische Perspektive, welche zur Legitimierung der Tötung der Cholulteken herangezogen wurde.23 Im Lienzo de Tlaxcala findet sich eine Darstellung des Massakers von Cholula (Abb. 2). Das Bild zeigt den gewaltvollen Überfall der Spanier und ihrer Verbündeten auf die Cholulteken, der am Tempel der Gottheit Quetzalcoatl ausgetragen wird. Malinche partizipiert nicht mit Waffen an dem Massaker, sondern spricht und zeigt mit ihrem Finger auf das Geschehen. Der in der oberen Bildmitte dargestellte Cholulteke erzählt zwei Tlaxcalteken von dem geplanten Überfall, wovon sich der rechte Tlaxcalteke an Malinche wendet und die Information an sie weitergibt. Hier ist es also nicht eine Cholultekin, die Malinche über den geplanten Überfall unterrichtet, sondern es sind die verbündeten Tlaxcalteken.24 Dies lässt sich durch die Intention der indigenen Verfasser erklären, die in ihrer Bilderhandschrift auf die wichtige Rolle der Tlaxcalteken bei der Eroberung des Aztekenreiches hinweisen und daher hier an ihren Beitrag zur Aufdeckung der Verschwörung erinnern wollten. Demgegenüber schreibt Cortés in seinen Briefen an Kaiser Karl V., dass Malinche von einer Cholultekin von dem geplanten

23 Vgl. Oesterreicher, Massaker, 112–114  ; Townsend, Malintzin’s choices, 81. 24 Vgl. El Lienzo de Tlaxcala, 26 f.; González Hernández, Doña Marina, 235  ; Herren, Representing, 174 f.

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Abbildung 3  : Die Begegnung von Moctezuma und Cortés in Tenochtitlán

Übergriff erfahren habe. Diese habe zunächst Jerónimo de Aguilar darüber informiert, der dann Cortés benachrichtigt habe.25 Neben den indigenen Völkern konnte Cortés über Malinche auch mit dem Aztekenherrscher selbst verhandeln. Im Códice Florentino stellt ein Bild das erste Zusammentreffen von Moctezuma und Cortés dar, in dem Malinche vermittelt (Abb. 3). Die Zungen, die die Sprachwege repräsentieren, gehen von Moctezuma über Malinche zu den Spaniern und umgekehrt. Da sowohl die Spanier als auch die Azteken über Malinche kommunizieren, steht sie nicht hinter Cortés, sondern in der Mitte zwischen beiden Parteien. Die ersten friedlichen Kontaktaufnahmen und Gespräche von Cortés bzw. Malinche mit dem Aztekenherrscher haben Moctezuma sicher davon abgehalten, zunächst kriegerisch gegen die Spanier vorzugehen. Die Spanier lebten ein halbes Jahr lang gut versorgt in Tenochtitlán und standen während des Aufenthaltes im engen Kontakt zu Moctezuma. Das Zögern Moctezumas und seine Bereitschaft zu einem Dialog mit den Spaniern waren letztlich einige der Gründe für den schnellen Erfolg der Conquista.

25 Vgl. Cortés, Cartas, 104.

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Verrat am eigenen Volk  ? Da von Malinche keine eigenen Aufzeichnungen existieren, kann nicht genau geklärt werden, was die Motivation für ihre Unterstützung und Loyalität gegenüber den Spaniern war. Die Frage ist, ob es für sie eine Alternative gegeben hätte. Karttunen sieht ihren Einsatz für die Spanier gar als einzig mögliche Überlebensstrategie an.26 Der Vorwurf des Verrats am eigenen Volk ist schon daher vorsichtig zu bewerten, da er zum einen voraussetzt, dass es sich bei den Gesprächs- und Verhandlungspartnern aus Cholula, Tlaxcala oder Tenochtitlán um ein Volk gehandelt habe, und zum anderen, dass diese sich selbst als ein indigenes Volk in Abgrenzung zu den spanischen Invasoren sahen. Das Aztekenreich war aber tatsächlich ein instabiles Reich aus vielen kleinen und teilweise untereinander verfeindeten Völkerschaften, die sich eben nicht als eine einheitliche indigene Gruppe wahrnahmen. Der Vorwurf der mangelnden ethnischen Loyalität der Malinche ist daher nicht ohne Weiteres zutreffend.27 Als ein wichtiger Beweggrund für die Unterstützung der Spanier wird ihre Dankbarkeit gegenüber Cortés angeführt, der sie aus der Sklaverei befreit hatte. So berichtet vor allem Díaz del Castillo von ihrem radikalen sozialen Abstieg von einer Prinzessin zur Sklavin und dem durch ihre Dolmetschertätigkeit erneuten gesellschaftlichen Aufstieg zur ›Doña‹. Als zweites Motiv für ihre Loyalität wird ihr Einsatz für die von Moctezuma unterdrückten Völker genannt, deren Situation zu verbessern ihr ein Anliegen war. Als dritter Grund wird von den Chronisten des 16. Jahrhunderts ihr christlicher Glaube aufgeführt, den sie von den Spaniern angenommen hatte und den sie den indigenen Völkern weitervermitteln wollte.28 Ab dem 17. Jahrhundert fand Malinche zunächst kaum noch Erwähnung, bis dann im 19. Jahrhundert der Bruch mit der positiven Bewertung der Malinche erfolgte. Nach dem Erreichen der Unabhängigkeit von Spanien setzte in Mexiko der Prozess der Ausbildung einer eigenen Nation ein und damit verbunden auch die Suche nach einer nationalen Identität und einem Gründungsmythos. Im Zuge dessen fand eine Rückbesinnung auf die aztekische Vergangenheit statt, und es entwickelte sich eine Antihaltung gegenüber den Spaniern (antiespañolismo). Die Unabhängigkeitskämpfer gaben an, Mexiko von den Folgen der Eroberung befreien zu wollen und bezeichneten sich als Erben der Azteken. Dass Malinche die Spanier bei der Eroberung des Aztekenreiches unterstützt hatte, wurde nun so ausgelegt, dass sie ihr eigenes Volk betrogen habe. Vor allem die Ereignisse von Cholula wurden für das Bild der Malinche als Verräterin ihres 26 Vgl. Karttunen, Rethinking, 311. 27 Ebd., 304. 28 Vgl. Wurm, Historische Figur, 29.

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eigenen Volkes herangezogen. Sie wurde zur Verräterin der einheimischen Werte und zum Symbol für Untreue gegenüber dem eigenen Volk  ; Cortés wurde als Zerstörer der antiken mexikanischen Kulturen bewertet und Cuauhtémoc gleichsam zum Nationalhelden erhoben.29 Malinche war fortan nicht mehr eine junge Indígena, die von der Mutter verkauft, versklavt und als Geschenk an die Spanier gelangte. Es wurde ihr stattdessen vorgeworfen, dass sie freiwillig zu den Spaniern übergetreten war und diesen gedient hatte. Der Verratsvorwurf war die Kollaboration der Malinche mit dem spanischen Feind.30

Verrat als Mythos bei der Konstruktion nationaler Identität in Mexiko Im Zuge der mexikanischen Revolution (1911–1920) erfolgte eine erneute Zuwendung zum prähispanischen und kolonialen Erbe, die neue Deutungen der kolonialen Vergangenheit hervorbrachte. In dem postrevolutionären Projekt der Konstruktion einer nationalen Integration und Einheit wurde die pluriethnische Gesellschaft verschleiert und Mexiko als eine homogene Nation aus Mestizen dargestellt. Zur Definition einer genuin mexikanischen Identität wurde das Konzept der mestizaje herangezogen, demnach die nationale Identität auf dem Verschmelzen der europäischen und spanischen Bevölkerung und Kultur beruhte. Dabei wurde das indigene Element als weiblich, das spanische Element als männlich definiert. In diesem Zusammenhang wurde auch die Bewertung der Malinche weiter ausgebaut, insbesondere durch den mexikanischen Autor Octavio Paz (1914–1998). In seinem Essay El laberinto de la soledad (Veröffentlichung 1950 mit dem Titel »Das Labyrinth der Einsamkeit«) versucht er mittels Mythen und Geschichten die mexicanidad, den mexikanischen Nationalcharakter, zu definieren. In diesem Essay findet sich das Kapitel Los hijos de la Malinche, in dem Malinche mit ›La Chingada‹, der geschändeten indigenen Mutter Mexikos, assoziiert wird. Paz prägte damit den Mythos der ›vergewaltigten‹ Malinche und der mexikanischen Nation als das Erbe der kolonialen Vergewaltigung.31 Der Verratsvorwurf von Paz lautete, dass Malinche sich freiwillig den Spaniern angeschlossen hatte. Durch den Verrat an der indigenen Bevölkerung, der hier nicht ausschließlich auf ihre Dolmetschertätigkeiten, sondern vielmehr auf dem eingegangenen Verhältnis mit Cortés beruhte, trage sie gleichsam die Schuld für das Trauma der Söhne  : 29 Vgl. dazu ausführlich  : Bartra, Cage, 155 f.; Wurm, Historische Figur, 120–122. 30 Vgl. Peters, Weibsbilder, 50. 31 Vgl. Wurm, Geschichtsschreibung, 55  ; Palma, Malinche, 31  ; Klingler-Clavijo, Frau, 15.

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Katrin Dircksen Abbildung 4  : Cortés y la Malinche.

Es stimmt, dass sie sich freiwillig dem Conquistadoren hingab und dass dieser sie vergaß, als sie ihm nicht mehr nützen konnte. Diese Doña Marina ist zu einer Gestalt geworden, die für alle jene Indiofrauen steht, die von Spaniern verzaubert, verführt, vergewaltigt worden sind. Und wie ein Kind seiner Mutter nicht verzeiht, wenn diese es verläßt, um dem Vater nachzulaufen, so verzeiht auch Mexiko Doña Malinche den Verrat nicht. […] Unser Schrei ›Viva México, hijos de la Chingada  !‹ ist demnach Ausdruck unseres Willens, nach außen abgeschlossen zu leben, vor allem abgeschlossen gegen die Vergangenheit. In diesem Schrei verfluchen wir unseren Ursprung und verabscheuen unser hybrides Blut. Die unbegreifliche Zähigkeit, mit der Cortés und die Malinche sich in der Vorstellung und im Gefühl des modernen Mexikaners halten, zeigt, daß sie mehr als nur geschichtliche Figuren sind. Sie sind Symbole eines geheimen Konfliktes, den wir nicht zu lösen vermochten. Indem der Mexikaner die Malinche verstößt […] zerreißt er das Band zur Vergangenheit, verleugnet er seinen Ursprung und spinnt sich – einsam – in das Leben ein, das als Geschehen immer Geschichte ist.32

Die Deutung der Malinche als unterwürfige indigene Mutter und Cortés als dominanten spanischen Vater einer homogenen Mestizen-Nation wurde auch von 32 Paz, Labyrinth, 89 f.

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mexikanischen Wandmalern (muralista) wie Diego Rivera und José Clemente Orozco übernommen und fand so neben der Literatur auch Einzug in die mexikanische Kunst des 20. Jahrhunderts.33 Das aus dem Jahre 1926 stammende Wandbild von José Clemente Orozco (1883–1949) mit dem Titel Cortés y la Malinche (Abb. 4) repräsentiert die mestizaje in der Neuen Welt durch die Verbindung von Cortés und Malinche, die nackt als Adam und Eva dargestellt sind. Cortés hat eine weiße Hautfarbe und europäische Gesichtszüge, während Malinche mit dunkler Hautfarbe und indigenen Zügen abgebildet ist. Die Füße von Cortés stehen auf einem nackten Indígena. Cortés verhindert, dass Malinche sowohl mit ihrem Fuß als auch mit ihrer Hand den am Boden liegenden Indígena berühren und somit eine Verbindung zu diesem aufbauen kann. Malinche und Cortés sind zwar als gleichgroßes Paar dargestellt, aber Cortés nimmt eine überlegene und aktive Position gegenüber der untergeordneten und wehrlosen Malinche ein.34

Von der Verräterin zur Mutter der Nation Das postrevolutionäre Bild der Malinche als Mutter der Nation, das noch heute in Schulbüchern auftaucht, entstammt der mythischen Deutung der Geburt des ersten Mestizen aus der Beziehung des dominanten spanischen Cortés mit der unterwürfigen indigenen Malinche. Die Geburt von Martín Cortés wurde somit zum Gründungsmythos der mexikanischen Nation, eine Deutung, die beinhaltet, dass nicht erst mit der Unabhängigkeit, sondern bereits mit der spanischen Eroberung der Grundstein für die Gründung der mexikanischen Nation gelegt wurde. Zu den Deutungen der Malinche als Verräterin der eigenen Nation, als aktive Kollaborateurin der grausamen spanischen Eroberer und als Vergewaltigungsopfer kamen im Zuge von Identitätsdiskursen weitere neue Deutungen hinzu, die sowohl negativ, aber auch positiv konnotiert sind. Malinche gilt bis heute als mexikanische Eva, deren Sünde der Verrat am eigenen Volk war, der den grausamen Eroberungszug des Cortés erst ermöglicht hatte.35 Gleichzeitig ist Malinche auch die symbolische Mutter der Chicanas, der Nachfahren von mexikanischen Migranten in den USA. Für die Chicanas hat Malinche einen positiven Symbolcharakter  : Sie wird vor allem von Schriftstellerinnen als Vorbild für eine erfolgreiche kulturelle Grenzgängerin und Vermittlerin herangezogen. Gleichzeitig gilt sie als Symbol für all die Frauen, so auch die Chicanas, die sich 33 Vgl. Taylor, Malinche, 818. 34 Ebd., 831–832. 35 Ebd., 818, 824–825, 834–835.

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zwischen zwei Kulturen bewegen.36 Seit den 1990er Jahren erfährt Malinche in der Debatte um die multikulturelle Identität Mexikos, in Abgrenzung zu der homogenen Mestizennation der postrevolutionären Phase, eine Neubewertung. Vor allem ihre Mehrsprachigkeit, ihre interkulturelle Mittlerrolle und ihre multiple ethnische Zugehörigkeit werden darin positiv hervorgehoben.37 Bei der Betrachtung der indigenen und spanischen Quellen aus dem 16. Jahrhundert fällt auf, dass unabhängig davon, mit welcher Absicht und aus welcher Perspektive die Quellen verfasst wurden, Malinche, im Gegensatz zur Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts, nicht als Verräterin bezeichnet wurde. Vielmehr betonen die Chronisten ihre adlige Abstammung, ihre Loyalität, ihr großes Verhandlungsgeschick und ihre besondere Sprachbegabung, die sie zu einer mächtigen und zentralen Figur an der Seite der Spanier machte. Aus den genannten Motiven der Malinche für die Unterstützung der Spanier lässt sich folgern, dass Malinche nicht böswillig oder rücksichtslos ihr eigenes Volk verraten hat. Vielmehr spielen hier Beweggründe wie das erhoffte bessere Leben an der Seite der Spanier, fernab von Sklaverei und Tyrannei der aztekischen Herrscher, eine Rolle. Da von der historischen Figur Malinche eigentlich nur nachweisbar ist, dass sie Cortés 1519 in Tabasco übergeben, dann auf den Namen Marina getauft wurde, mit ihm den Sohn Martín hatte und als Dolmetscherin für ihn tätig war, hat die Persönlichkeit Malinche Raum für vielerlei Spekulationen, Mythen und Legenden hergegeben. Im 19. und 20.  Jahrhundert erfolgte die Entfremdung von der historischen Malinche. Aus unterschiedlichen politischen und soziokulturellen Umständen und Interessen heraus wurden ihr Handeln und ihre Figur umgedeutet. Im 20. Jahrhundert ist Malinche, wie gezeigt, zur Personifikation des Verrats und zum Symbol der Schwierigkeit der Mexikaner im Umgang mit ihrer Vergangenheit geworden.38 Nicht nur ein Vulkan im mexikanischen Hochland trägt ihren Namen, sondern sie ist bis heute in zahlreichen Theaterstücken, Opern, Tänzen, Romanen, in Zeitungsdebatten, in der Musik und Kunst präsent. Die Schriftstellerin Margo Glantz resümierte in dem Tagungsband einer internationalen Konferenz zu Malinche zutreffend  : »No importa, ya sea como heroína o como traidora, Malinche es sujeto de la historia y objeto de una mitificación.«39 Ob sie im nationalistischen Diskurs, von mexikanischen Feministinnen, Künstlern oder Schriftstellern benutzt, als Verräterin des eigenen Volkes, als unterwürfige Mutter der Nation, als geschändete Frau oder als 36 Vgl. Wurm, Geschichtsschreibung, 57  ; Cutter, Malinche’s Legacy, 1. 37 Vgl. Leitner, Malinche-Komplex, 215. 38 Vgl. Potthast-Jutkeit, Rolle, 45. 39 Glantz, Nota, 13. [»Es ist nicht wichtig, ob sie Heldin oder Verräterin ist. Malinche ist ein Subjekt der Geschichte und ein Objekt der Mythisierung.«].

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symbolische Mutter der Chicanas gedeutet wird  : Die Diskurse der letzten zwei Jahrhunderte über Malinche haben wenig mit der historischen Malinche gemein. Quellen Cortes, Hernán, Cartas de relación. Crónicas de América, Bd. 10, hrsg. v. Mario Hernández (Historia, 16), Madrid 1985. Díaz del Castillo, Bernal, Geschichte der Eroberung von Mexiko, hrsg. v. Georg A. Narciß, Frankfurt a. M. 1988. El Lienzo de Tlaxcala, hrsg. v. Alfredo Chavero, Mexiko-Stadt 1979. La conquista de México según las ilustraciones del Códice Florentino, hrsg. v. Marta Dujovne, Mexiko-Stadt 1978. Las Casas, Bartolomé de, Historia de las Indias, in: Obras escogidas de Fray Bartolomé de Las Casas, 5 Bde, hrsg. v. Juan Pérez de Tudela/Emilio López Otto, Madrid 1957.

Literatur Bartra, Roger, The Cage of Melancholy. Identity and Metamorphosis in the Mexican Character, New Brunswick 1992. Baudot, Georges, Malintzin, imagen y discurso de mujer en el primer México virreinal, in  : La Malinche, sus padres y sus hijos, hrsg. v. Margo Glantz, Mexiko-Stadt 2001, 55–89. Baudot, Georges, Política y discurso en la Conquista de México. Malintzin y el diálogo con Hernán Cortés, in  : Anuario de estudios americanos 45 (1988), 67–82. Cutter, Martha J., Malinche´s Legacy. Translation, Betrayal, and Interlingualism in Chicano/a Literature, in  : Arizona Quarterly 66 (2010), 1–33. Dröscher, Barbara, La Malinche. Zur Aktualität der historischen Gestalt für die Lateinamerikaforschung, in  : La Malinche. Übersetzung, Interkulturalität und Geschlecht, hrsg. v. Barbara Dröscher/Carlos Rincón (Tranvía Sur, 8), Berlin 2001, 13–40. Glantz, Margo, Nota introductoria, in  : La Malinche, sus padres y sus hijos, hrsg. v. Margo Glantz, Mexiko-Stadt 2001, 10–16. González Hernández, Cristina, Doña Marina (La Malinche) y la formación de la identidad mexicana, Madrid 2002. Herren, Angela Marie, Representing and Reinventing Doña Marina. Images from the Florentine Codex and the Lienzo de Tlaxcala, in  : Latin American Indian Literatures Journal 16 (2000), 158– 181. Karttunen, Frances, Rethinking Malinche, in  : Indian Women of Early Mexico, hrsg. v. Susan Schroeder/Stephanie Wood/Robert Haskett, Norman, London 1997, 291–312. Klingler-Clavijo, Margrit, Die Frau in der mexikanischen Literatur der Gegenwart (Beiträge zur Soziologie und Sozialkunde Lateinamerikas, 41), München 1987. Landa, María Elena, Doña Marina, Madrid 1993. Leitner, Claudia, Der Malinche-Komplex. Conquista, Genus, Genealogien, München 2009. Leitner, Claudia, Zunge des Eroberers. Markenzeichen kultureller Alteritäten, in  : Zunge und Zei-

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1  : Cortés’ Marschroute von San Juan de Ulúa nach Tenochtitlán, aus  : Hugh Thomas, Die Eroberung Mexikos. Cortés und Montezuma, Frankfurt a. M. 1998, 320 f. Abbildung 2  : Das Massaker von Cholula, aus  : Lienzo de Tlaxcala, lám. 9, University of Glasgow, Wikimedia Commons. Abbildung 3  : Bernardino de Sahagún, Begegnung von Moctezuma und Cortés in Tenochtitlán, Historia General de las Cosas de la Nueva España, Códice Florentino, World Digital Library. Abbildung 4  : José Clemente Orozco, Cortés y la Malinche, Wandbild am Antiguo Colegio de San Ildefonso, Mexico City, 1926, Wikimedia Commons.

Fabian Thunemann

»Ich halte es für meine Pflicht …« Verrat und Verschwörungsdenken im Stalinismus*

Der unbeugsame Mann im Hause Nummer eins saß immer noch in seinem Arbeitszimmer. Die Fenster waren blind von den zugezogenen Vorhängen. Wieder brannte der Kamin. Das Haus erstarb in der Stille, genauso, als sei die Stille von Jahrhunderten aufgespeichert. Der Mann saß auf seinem harten Stuhl. […] Er schrieb russisch, mit Tinte, in einer geradlinigen Schrift. Jene Bücher, die er vor sich hatte, waren Bücher über Staat, Recht und Macht. In dem Raum fiel das Licht von der Decke, und so war das Gesicht dieses Menschen zu sehen  : Es war sehr unfreundlich, vielleicht sogar hart, aber auf jeden Fall wirkte es sehr konzentriert und keineswegs ermüdet.1

Für die damaligen Leser dieser Zeilen war unschwer erkennbar, dass der ›Unbeugsame‹ in wenig entfremdeter Weise Stalin nachempfunden war. Ihn hatte der Schriftsteller Boris Pil’njak in der Erzählung ›Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond‹ als Drahtzieher der Chloroformvergiftung des ›Befehlshabers‹ nahegelegt und den bis heute umstrittenen Tod des Bürgerkriegshelden Michail Frunze aufgegriffen. Seit Frunzes Tod im Jahre 1925 hatte man hinter vorgehaltener Hand davon gesprochen, dass Stalin sich mit ärztlicher Unterstützung eines populären Heerführers und potenziellen Rivalen entledigt habe. Daher galt Pil’njaks unverhüllte Schilderung dieser Ereignisse nur ein Jahr nach dessen Tod beinahe als authentisch und alarmierte die Staatsmacht. Das Politbüro2 wertete die Erzählung Pil’njaks als einen bösartig konterrevolutionären und verleumderischen Angriff auf das Zentralkomitee und die Partei. Stalin selbst sah in ihrem Verfasser einen Schwindler und Betrüger (Pil’njak žul’ničaet i obmanyvaet nas).3 Nicht zuletzt * Ich danke der EH Stiftung für die Finanzierung eines Forschungsaufenthaltes in der Russischen Föderation im Jahre 2011 und dem DAAD für die Finanzierung eines Forschungsaufenthaltes an der Hoover Institution, Stanford University im Jahre 2012. 1 Pilnjak, Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond, 242 f. 2 Die Umschrift russischer Begriffe und Namen erfolgt im Text entsprechend der wissenschaftlichen Transliteration  ; Ausnahmen sind etablierte Schreibweisen wie Politbüro, ZK und Bolschewiki, anstatt Politbjuro, CK und Bol’ševiki. Ferner kann es durch Zitation zu mehreren Schreibweisen kommen (etwa Voronskij/Woronski  ; Trockij/Trotzki oder Frunze/Frunse). 3 Sarnov, Stalin i Pisateli, Dokumente 4 und 6 zu Pil’njak.

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deshalb hatte Pil’njak bald nach dem Erscheinen seiner Erzählung Selbstkritik zu üben. Jetzt sehe er, daß vieles von dem, was ich in der Erzählung geschrieben habe, verleumderische Erfindung ist.4 Dennoch sollte er den Vorwurf ›Verrat an der Revolution‹ nicht mehr loswerden und musste sich schließlich parallel zum zweiten Moskauer Schauprozess im Januar 1937 weiterer Verdächtigungen erwehren, wobei auch seine persönlichen Beziehungen zu Trockij, Bucharin, Voronskij und Radek zusehends bedrohlich wurden. Unter erheblichem Druck bekräftigte Pil’njak abermals, dass die Abfassung der ›Geschichte vom nichtausgelöschten Mond‹ nicht frei vom Einfluß der Trotzkisten gewesen sei.5 Drei Monate später fand sich Pil’njak vor der Vollversammlung der Moskauer Schriftsteller u. a. wegen seiner Frunze-Erzählung und vorgeblicher Unterstützung trockistischer Verräter wiederholt scharfen Angriffen ausgesetzt. Diese Unterstützung, so Pil’njak zu seiner allmählich aussichtslosen Verteidigung, hat es gegeben. 1925 ist General Frunse gestorben. Woronski erzählte mir von seinem Tod – das ist ein Thema, sagte er, die Kollision von Individuum und Kollektiv, schreiben Sie. Ich schrieb eine Erzählung und widmete sie Woronski. […] Ich wußte 1925 nicht, daß Woronski […] ein Trotzkist ist, jetzt ist mir klar, daß der Verräter Woronski damals mit mir ganz und gar nicht deshalb gesprochen hat, weil ihn die Kollision von Kollektiv und Individuum interessierte – mein schriftstellerisches Können sollte in provokatorischer Weise Wasser auf die trotzkistischen Mühlen sein. Aber auch für mich hatte das Thema vom »Mond« 1926 einen guten Klang, und daran bin ich selbst schuld.6

Der ›geradlinigen Schrift‹ des Unbeugsamen fielen im Stalinismus Millionen Menschen zum Opfer. Auch Pil’njak bekam diesen Stil zu spüren, als er mit Nikolaj Ežov, dem notorischen Handlanger Stalins während des Großen Terrors, sogar einen persönlichen Zensor erhielt, der ihn Seite für Seite aufforderte, dieses zu streichen, jenes hinzuzufügen.7 Dennoch wurde der Schriftsteller 1938 zum Tode verurteilt  ; Aleksandr Voronskij war bereits ein Jahr zuvor hingerichtet worden. In all diesen Fällen markierte der Vorwurf des Verrats, der Konterrevolution  – das Kardinalverbrechen in einem System, das durch Revolution die Macht erstritten hatte  – meist den Beginn eines lang vollzogenen Niedergangs. Diese Vielschichtigkeit des Verrats lässt sich geradezu exemplarisch am Fall Pil’njak und Frunze nachvollziehen. Denn aus der Perspektive vieler Untertanen mochte zunächst Stalin selbst als Verräter erschienen sein, der mit List 4 5 6 7

Pilnjak, »… ehrlich sein mit mir und Rußland«, 111. Vgl. ebd., 225. Ebd., 228 f. Serge, Erinnerungen eines Revolutionärs, 300 f.

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einen möglichen Kontrahenten aus dem Weg zu räumen verstand. Eine Version übrigens, die auch von Stalins damaligem Sekretär und späteren Überläufer Boris Bažanov in seinen Erinnerungen verbreitet wurde.8 Aus der Perspektive des Herrschers allerdings ließen diejenigen, die sich derlei Mutmaßungen und Gerüchte zu eigen machten, vor allem einen Mangel an Loyalität erkennen. Und eben deshalb brachten die sowjetischen Machthaber auch in diesem Fall eine zentrale Prärogative souveräner Herrschaft in Stellung  : die Definitionshoheit über den Verrat. Der Stalinismus war gekennzeichnet von einer stetigen Überlappung von Realitätssplittern und Fiktion. Exemplarisch zeigt sich dieses Gemisch etwa in den Erinnerungen von Anastas Mikojan an diesen Fall. Dort berichtet der langjährige Vertraute Stalins von einem Gespräch zwischen Frunzes behandelndem Arzt, Stalin und ihm selbst, in dem ihnen der Arzt offensichtlich zu verstehen gab, dass er die beabsichtigte Operation bei seinem eigenen Bruder nicht würde durchführen lassen  ; eine erstaunliche Übereinstimmung mit der literarischen Verarbeitung des Stoffes. Wenige Zeilen später jedoch zieht sich Mikojan dann, ohne selbst Stellung zu beziehen, hinter die Meinung eines gewissen Aleksej Snegov zurück, der von Stalins Verwicklung in den Tod Frunzes überzeugt schien und von einer typisch stalinistischen Inszenierung sprach. So habe Stalin angesichts des internen Machtkampfes nach Lenins Tod die Rote Armee in den Händen einer ihm ergebenen Person wissen wollen, und daher musste der unabhängige Frunze dem Stalingetreuen Kliment Vorošilov weichen.9 In dieser Lesart scheint Stalins Verwicklung in den Tod Frunzes erwiesen. Auch später, etwa bei der Ermordung Kirovs im Jahre 1934 wurde das Eingreifen des Führers immer wieder vermutet.10 Allerdings ist dabei nicht nur der berühmte Ausspruch von Charles de Talleyrand aufschlussreich, als er Verrat zu einer Frage des Datums erklärte, sondern auch die in Bezug auf Verrat oder Verschwörungen typische Frage des cui bono  – die Frage also nach dem Nutzen, die bis in die Gegenwart den Umgang mit zwielichtigen politischen Ereignissen bestimmt und immer wieder zur Vermutung über dunkle Allianzen führt.11 Gerade weil die Revolution in Russland selbst als große Verschwörung begonnen hatte, war ihre Bewahrung von Beginn an von der Angst vor Häresie geprägt. Aus diesem Klima erwuchs ein politischer Raum, der von Verdächti 8 Vgl. Bažanov, Vospominanija byvšego cekretarja Stalina, 135–138. Vgl. ferner Nad (Dobrjucha), Kto ubil Michaila Frunze.  9 Vgl. Mikojan, Tak bylo, 283–285. 10 Entscheidend geprägt wurde diese Interpretation durch die Geheimrede Chruščevs aus dem Jahr 1956. Vgl. Rossijskij gosudarstvennyj archiv novejšej istorii (RGANI), Fond 1, op. 2, d. 17, ll. 23–24. 11 Vgl. zu diesem Umstand klassisch Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 181–190.

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gungen, Verrat und Denunziation durchsetzt war. Man könne nicht einmal ausspucken, schrieb 1932 ein gewisser Matjuchin in einem Brief an das nominelle Staatsoberhaupt Michail Kalinin, ohne einem widerlichen Verräter oder Lügner in die Fresse zu treffen.12

Komplizenschaften Im modernen Europa zeichnet sich der ›gute Bürger‹ dem Historiker Robert Gellately zufolge durch seine Bereitschaft aus, die staatliche Ordnung über empfundene Missstände zu informieren.13 Dabei ermuntern insbesondere politische Krisenzeiten den Bürger zu dieser janusköpfigen Form politischer Teilhabe. Denn schließlich sind Krisen nichts anderes als Zeiten der Entscheidung oder Grenzziehung und auf besondere Weise dazu angetan, die Grenzen der Loyalität neu abzustecken, wobei der Verrat die ambivalente Grenze zwischen den vermeintlich Getreuen und den mutmaßlichen Häretikern markiert.14 Diese besondere staatspolitische Verwicklung lässt sich weit in die russische Geschichte zurückverfolgen und dem Verrat kam hierbei stets die Funktion eines ebenso wirkmächtigen wie brüchigen Bindemittels zwischen einem autokratischen Staat und seinen Untertanen zu.15 Unverkennbare Legitimation erhielt diese Komplizenschaft von Staat und Gesellschaft mit Gründung des bolschewistischen Geheimdienstes, der sie zum Eckpfeiler der eigenen Arbeit und als probates Mittel der Machtteilung erklärte.16 Während sich ›Verrat‹ (izmena bzw. predatel’stvo) in der allgemeinsten Bedeutung als Form des Treuebruchs verstehen lässt und auch in der russischen Sprache negativ konnotiert ist, wird ›Denunziation‹ (donos) in zwei einschlägigen Enzyklopädien der Jahrhundertwende als die private Meldung eines illegalen Aktes bestimmt und verdeutlich damit unverkennbar die begriffliche Mehrdeutigkeit, die mit diesem Begriff seit jeher einhergeht.17 In der angeführ12 Brief vom Dezember 1932, abgedruckt in  : Siegelbaum/Sokolov, Stalinism as a Way of Life, 125. Vgl. zur Vielschichtigkeit des Verratthemas Boveri, Der Verrat im 20. Jahrhundert. 13 Vgl. Gellately, Denunciations in Twentieth-Century Germany, hier 931. 14 Vgl. Koselleck, Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹  ; Altmann, Vorüberlegungen zum Ernstfall und Fitzpatrick/Gellately, Introduction to the Practices of Denunciation in Modern European History, hier 763. 15 Vgl. Kleimola, The Duty to Denounce in Muscovite Russia  ; Mommsen, Hilf mir, mein Recht zu finden  ; Hellie, The Origins of Denunciation in Muscovy und Scherbakova, Die Denunziation in der Sowjetunion und im postsowjetischen Rußland. 16 Vgl. Lauchlan, Chekist Mentalité and the Origins of the Great Terror, 27 f. 17 Vgl. Brokgauz/Efron, Ėnciklopedičeskij slovar’, 26 f.; Dal’, Tol’kovyj slovar’ živogo velikorusskogo

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ten Bestimmung schwingt auch die Tradition der Französischen Revolution mit, mit deren Auftreten der Bericht an die Staatsmacht als bürgerliche Tugend und zentrales Merkmal eines neuen Staatsverständnisses ausgegeben wurde. Diesem Verständnis zufolge vermochte der denunziatorische Akt sogar die unzweideutige Komplizenschaft mit den Herrschenden herzustellen und konnte somit als Garant dafür gelten, dass der Staatsbürger seine egoistischen Partikularinteressen der Vormacht des Staates unterordnete.18 An diese Komplizenschaft erinnerte auch Stalin das Zentralkomitee im März 1937, als er darauf verwies, dass Lenin uns gelehrt hat, nicht nur die Massen zu belehren, sondern auch durch die Massen belehrt zu werden.19 Dabei ging es Stalin natürlich vor allem darum, die Bevölkerung zum Wohle der eigenen Macht eingespannt zu wissen und folgte dabei der Devise  : Wenn an einem Bericht, einer Denunziation nur zehn Prozent zutreffen, dann ist die ganze Angelegenheit als Faktum zu betrachten.20 Die revolutionäre Bewegung der Bolschewiki war von Beginn an von Verrat und Denunziation geprägt. Allerdings erfolgte erst während der Herrschaft Stalins ein erster gesetzlicher Klärungsversuch. So setzte Absatz 12 des berüchtigten Artikels 58 (konterrevolutionäre Verbrechen) im Strafgesetzbuch des Jahres 1926 die Strafe für unterlassene Mitteilungen hinreichend bekannter bevorstehender oder vollzogener Verbrechen konterrevolutionärer Natur mit bis zu einem Jahr Freiheitsentzug fest.21 Seit dieser gesetzlichen Regelung war unverkennbar, dass die Staatsmacht ihre Gesellschaft zum Verrat anzustiften suchte, um so der Fragilität der revolutionären Ordnung und der mutmaßlichen Gegenmacht der Feinde entgegenzuwirken. Diese politische Stoßrichtung baute nicht nur auf der über Jahrhunderte gewachsenen »Form der Massenkommunikation von unten« aus dem Zarenreich auf, sondern rief sogar noch zu ihrem Ausbau auf, indem das sowjetische Regime einem gewissermaßen atavistischen Verfahren vorrevolutionärer Zeit den Anstrich staatsrechtlicher Regelung gab.22 jazyka, Sp. 1162 f. Vgl. auch Kozlov, Denunciation and Its Functions in Soviet Government und Schröter, Wandlungen des Denunziationsbegriffs. 18 Vgl. Lucas, The Theory and Practice of Denunciation in the French Revolution. 19 Rossijskij gosydarstvennij archiv social’no-političeskoj istorii (RGASPI), Fond 17, op. 2, d. 612(3), l. 48. 20 Vgl. Khrushchev, Memoirs of Nikita Khrushchev, 99 und Talbott, Khrushchev Remembers, 283. 21 Vgl. Ugolovnyj kodeks RSFSR 1926, § 58, 12. Vgl. zum literarischen Versuch einer Typologie des Verräters im Stalinismus Grossman, Alles fließt, 67–80. Unter den Begriff des Verrates fielen im Stalinismus auch die Phänomene Konterrevolution und Denunziation. Je nach Kontext und Schwerpunktsetzung kam einer dieser drei Begriffe als Mittel der Grenzziehung zwischen Freund und Feind zur Anwendung. 22 Mommsen, Hilf mir, mein Recht zu finden, 112. Vgl. ferner Holquist, »Information Is the Alpha and Omega of Our Work«  ; Brandenberger/Dubrovsky, ›The People Need a Tsar‹ und Tikhomirov, The Regime of Forced Trust.

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Wie viele Menschen sich an die Macht wandten, wie oft sie unumwunden Verrat übten oder nur ihre Loyalität zu bekunden trachteten, ist nicht zu klären. Denn schon in den Briefen an die Staatsinstanzen charakterisierten die Bürger ihre Anliegen sehr unterschiedlich, und daher kann ein genaues Ermessen der Quellenbestände nur approximativ bleiben. So war es für die sowjetischen Machthaber keine Seltenheit, dass sie Mitteilungen mit den relativ nüchternen Titeln ›Brief‹ (pis’mo) oder ›Eingabe‹ (sajavlenie) erhielten, die ihnen allerdings weit mehr Anhaltspunkte zur Überprüfung lieferten als Dokumente mit dem schillernden Titel ›Denunziation‹ (donos).23 Ungeachtet dessen erahnten bereits die Zeitgenossen das Ausmaß der Komplizenschaft zwischen Regime und Gesellschaft  : Wer hatte nicht schon einen Brief an die höchste Instanz, an den metallischen Namen [sc. an Stalin] geschrieben  ? […] Mehr als in allen anderen schriftlichen Zeugnissen haben sich hier die Spuren des Lebens unserer Zeit eingeprägt, denn sie sprechen von den Kränkungen, Beleidigungen, Schlägen, von Gruben und Fallen.24

Neben derlei Erinnerungen gehen weniger prosaische Angaben davon aus, dass beispielsweise allein Kalinin in dem Zeitraum 1923 bis 1935 jährlich ungefähr 150.000  Briefe und Bittgesuche zu bestreiten hatte und dass einzig die Leningrader Prokuratur 600 Briefe täglich erhielt.25 Entsprechend geht der Historiker Stephan Merl in einer kürzlich veröffentlichten Arbeit davon aus, dass sich auf das Jahr gerechnet etwa zwei Prozent der Bevölkerung an das Regime wandten.26 Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Menschen während der Herrschaft Stalins mit ›schreiben‹ und ›denunzieren‹ umgangssprachlich ein und dasselbe bezeichneten.27 In dieser spezifischen Form politischer Kommunikation stehen Partizipationsbedürfnis und Kontrollabsicht, Rachepläne und Kontrollverlust nebeneinander, und gerade an dieser Stelle konnte im Stalinismus der Verrat grassieren. Dabei begünstigte der Alltag in der Diktatur eine besonders charakteristische Form des Verrats, die sich in unzähligen Quellen niederschlug und insbesondere in der Memoirenliteratur immer wieder Erwähnung findet. So schrieb etwa eine gewisse A. Priezževa an Molotov, den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, dass ihr Arbeitgeber sehr viele Besucher zu Hause 23 Vgl. beispielhaft Livšin/Orlov, Pis’ma vo vlast’. 1917–1927  ; Livšin/Orlov/Chlevnjuk, Pis’ma vo vlast’. 1928–1939  ; Siegelbaum/Sokolov, Stalinism as a Way of Life und Sokolov/Žuravlev/Kabanov, Golos naroda. 24 Mandelstam, Das Jahrhundert der Wölfe, 111. 25 Vgl. Fitzpatrick, Everyday Stalinism, 175 f. 26 Vgl. Merl, Politische Kommunikation in der Diktatur, 87. 27 Vgl. Goldman, Inventing the Enemy, 28–31 und Figes, Die Flüsterer, 29 f.

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empfängt, die unter Arrest stünden. Dabei muss angemerkt werden, dass man mich nach Ankunft der Besucher für gewöhnlich irgendwo hinschickt.28 Schließlich wird in dem Gesuch der Priezževa auch noch ein Mitarbeiter des Sicherheitsbehörde OGPU beschuldigt, er habe ihre Mitteilungen nicht ernst genommen und sich um nichts gekümmert. So ging denn die Sicherheitsbehörde der Angelegenheit nach  ; die Verdächtigungen passten einfach zu sehr zu den beschworenen Befürchtungen des Regimes. Allerdings ging es vermutlich auch in diesem Fall nur um ein Grundbedürfnis, welches sich auf exemplarische Weise bei Nadežda Mandel’štam, der Frau des berühmten und unter Stalin verfolgten Lyrikers Osip Mandel’štam, beschrieben findet  : Zukünftige Generationen werden nicht verstehen können, was in unserem Leben das Wort ›Wohnraum‹ bedeutete. Viele Verbrechen wurden wegen des Wohnraums begangen. Und viele hatten sich dem Terror so angepaßt, daß sie gelernt hatten, aus ihm Nutzen zu ziehen. Den Nachbarn zu denunzieren, um seine Wohnung oder seinen Arbeitsplatz zu bekommen, war nahezu schon selbstverständlich.29

Die Lage in den Städten verschärfte sich noch, als während der Kollektivierung der Landwirtschaft im Zuge des ersten Fünfjahresplans die Situation auf dem Land außer Kontrolle geriet und allein über zwanzig Millionen Menschen in den Städten Zuflucht suchten.30 In der allgegenwärtigen Not sahen sich die Menschen gezwungen, ihr wirkliches Wesen, ihre soziale Herkunft und Vergangenheit zu verheimlichen. Dabei führte das Misstrauen jeglichen sozialen Bindungen gegenüber schließlich dazu, dass die Menschen in ihrem Gegenüber meist entweder Spitzel zu erkennen glaubten oder fürchteten, dass ihr Gegenüber in ihnen selbst Spitzel vermuten könnte.31 Diese Atmosphäre des Verdachts bestimmte jedoch nicht nur das Leben in den Städten, sondern vor allem auch auf dem Land. Da nur auf dem Land die Nahrung für die im Aufbau begriffene Sowjetunion, für die Städte, die Armee und den Export produziert werden konnte, schien mit der erbarmungslosen Requirierung von Nahrungsmitteln und dem ersten Fünfjahresplan die Zeit des Bürgerkrieges zurückzukehren. Vor dem Hintergrund dieser vom Regime forcierten »Binnenkolonisation« (Lynne Viola) versteckten unzählige Bauern aus blankem Überlebenswillen Nahrung, und Millionen Men28 Gosydarstvennij archiv Rossijskoj Federacii (GARF), Fond R-5446, op. 89, d. 22, ll. 189–190, abgedruckt in  : Livšin/Orlov/Chlevnjuk, Pis’ma vo vlast’. 1928–1939, 217 f. 29 Mandelstam, Das Jahrhundert der Wölfe, 158, 352. 30 Vgl. Lloyd Hoffmann, Peasant Metropolis. 31 Vgl. Mandelstam, Das Jahrhundert der Wölfe, 105, 113, 249.

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schen traten in der Hoffnung auf ein besseres Leben die Flucht in die Stadt an. Allein im Jahre 1930 nahmen ungefähr zwei Millionen Bauern an rund 13.000 Aufständen in der Sowjetunion teil und setzten sich damit gewaltsam gegen eine Politik zur Wehr, die sie als zweite Leibeigenschaft und Verrat an den Idealen der Revolution empfanden.32 Die eigene Politik konnte die sowjetische Führung jedoch nicht als Ursache der Krise gelten lassen, und deshalb wurden stets neue Feinde ausgemacht, die das Regime zur Verantwortung zog.33 Nicht zuletzt aus diesem Grund eskalierte unter Stalins Herrschaft die ›Feindproduktion‹. Denn Mängel ließen sich überall finden, und der Politikstil Stalins verstärkte diese eher noch, als dass er Linderung hätten schaffen können. Diese Form der Projektion bestimmte die Epoche des Stalinismus auf besondere Weise. Umso mehr sich also das Regime von Problemen umgeben sah, desto mehr Feinde schienen ihre Finger im Spiel zu haben und desto notwendiger wurden positive Beispiele, die den Menschen Orientierung zu geben vermochten. Wird durch den Verrat zwar stets das Vertrauen einiger Menschen verletzt, so ist er doch zugleich auch ein Loyalitätsbeweis gegenüber anderen. »Jeder Kommunist«, so forderte Molotov daher vor Vertretern der ukrainischen Parteiführung im Jahr 1930, »muss jetzt ein Agent« werden.34 Kanonischen Ausdruck erhielt diese Forderung in dem sowjetischen Heldenepos, das sich um den dreizehnjährigen Pavlik Morozov und die Region Gerasimovka in West-Sibirien rankt. Der Legende nach verriet der Pionier Pavlik im Jahre 1931 seinen Vater, den Vorsitzenden des lokalen Dorfsowjets, bei der Sicherheitsbehörde OGPU wegen der Unterschlagung von Getreide. Daraufhin wurde der Vater wegen Kulakentums zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt und die Verwandtschaft nahm an Pavlik und seinem jüngeren Bruder mörderische Rache. Nun hatte das sowjetische Regime endgültig klarzustellen, wer die wahren Verräter waren und ließ Pavliks Häscher im Anschluss an einen spektakulären Schauprozess erschießen. Die sowjetische Propaganda erhob den Bauernjungen Pavlik schon bald in den Olymp der sowjetischen Märtyrer, denen man u. a. am Eingangstor zum Roten Platz gedenken konnte. Er wurde zum Namenspatron von Kolchosen und Schulen, zum Helden sowjetischer Schulbücher und Sportpokale. Pavlik Morozov, so lehrte es die Propaganda des Regimes, war die wahre Epiphanie des 32 Vgl. Viola, Peasant Rebels under Stalin. 33 Vgl. Kets de Vries, Lessons on the Leadership by Terror, 93–113  ; Kotkin, Magnetic Mountain, 344–348 und Ellman, The Role of Leadership Perceptions and of Intent in the Soviet Famine of 1931–1934. 34 Zitiert nach Baberowski, Verbrannte Erde, 177.

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›Neuen Menschen‹, und sein Leidensweg sollte die Jugend fortan daran gemahnen, dass die sowjetische Großfamilie der althergebrachten Familie überlegen war und vor allem jedem offenstand, der sich mit aller Konsequenz bereit zeigte, die Rudimente vergangener Zeiten abzustreifen. Wer folglich in Pavliks Tat nun immer noch allein niederträchtigen Verrat zu erkennen vorgab, der enttarnte sich selbst als Verräter und Unterstützer der Feinde der Revolution.35 Auch wenn sich die sowjetische Gesellschaft dem Mythos um Pavlik Morozov schwerlich entziehen konnte, so blieb seine Adaption ambivalent. Zwar sind in den Quellen unzählige Fälle vom Verrat innerhalb der Familie überliefert, allerdings unterstreichen diese Fälle eher, wie sehr der Heldenmythos um Pavlik allein eine sowjetische Schöpfung war, um eine Realität zu verschleiern, die überhaupt erst den Verrat hervorbrachte.36 Entsprechend zeigen diese Fälle nicht so sehr gelehrige Schüler des mythologischen Pavlik, sondern sie legen Zeugnis ab über die menschlichen Bedürfnisse und Beschwerlichkeiten des sowjetischen Alltags.37 Selbst Pavlik hatte seinen Vater offenbar nicht aus bolschewistischer Standfestigkeit verraten, sondern vermutlich allein aus dem ideologiefreien Umstand, dass der Vater die Familie wegen einer jüngeren Frau zu verlassen beabsichtigt hatte. Der Mythos der sowjetischen Großfamilie verfing nur bedingt, zumal die Menschen begriffen, dass das Regime ihre Privatsphäre vor allem aus Gründen der besseren Kontrolle zu zerstören gedachte. Daher suchten die Menschen insbesondere seit dem Angriff auf das Dorf im Zuge des ersten Fünfjahresplans ihre Herkunft zu verschleiern. In diesen Jahren verließ auch Aleksandr Tvardovskij, der gut zehn Jahre nach Stalins Tod den ›Ivan Denisovič‹ von Aleksandr Solženicyn herausbringen und damit für eine Sensation sorgen sollte, seinen als Kulak geltenden Vater.38 Obgleich es auch offenen Verrat gegeben haben mag, so erschien doch die Verleugnung des eigenen Vaters als beinahe mythologisches Abbild von einem bedrückenden Leben in der Diktatur. Somit erodierte frühzeitig allein die Möglichkeit eines vertrauensvollen Verhältnisses zwischen dem Regime und seinen Untertanen, und damit blieb auch das Problem der Machtsicherung sowohl de facto, aber vor allem auch als bedrohliche Vorstellung stets virulent.

35 Vgl. Druzhnikov, Informer 001 und Kelly, Comrade Pavlik. Vgl. ferner Figes, Die Flüsterer, 202– 220, 255 f. zum Morozov Kult. 36 Vgl. zum Verrat innerhalb der Familie und dem Versuch ihrer Ersetzung durch eine sowjetische Großfamilie Goldman, Inventing the Enemy, 140–250  ; Alexopoulos, Stalin and the Politics of Kinship und Figes, Die Flüsterer. 37 Vgl. Sokolov/Žuravlev/Kabanov, Golos naroda und Danilov, Tragedija sovetskoj derevni. 38 Vgl. Figes, Die Flüsterer, 215–220 und Kharkhordin, The Collective and the Individual in Russia.

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In einem anonymen Brief vom Frühjahr 1933 an Molotov und Stalin kommt dieser Umstand exemplarisch zu Ausdruck. Denn den Machthabern wird mit einem bewaffneten Aufstand (vooružennoe vosstanie) in der Stadt Penza gedroht, sollte sich die Versorgungslage nicht umgehend verbessern. Aus dem Schutz der Anonymität konnten die Verfasser die Führer des Staates mit der Lebenswirklichkeit konfrontieren und ihnen kleine Stiche versetzen. Daher waren es insbesondere diese anonymen Zuschriften, sogenannte anonimki, denen das Regime mit besonderem Engagement nachging, um die Absender ausfindig zu machen.39 In dem angeführten Brief, der auf dem Höhepunkt einer Hungersnot und desaströsen Versorgungslage verfasst worden ist, wird den Führern unumwunden mit der Aufkündigung der Gefolgschaft, dem Verrat an der Revolution gedroht. Denn der Hunger, so der Verfasser, zwinge die Menschen dazu, einen konterrevolutionären-terroristischen Zirkel zu organisieren, um die Vertreter der Sowjetmacht zu vernichten.40 Die Angst des Regimes vor einem Aufstand, die vor allem im Zuge der Ereignisse des ersten Fünfjahresplans noch zunahm, war stets virulent. Sie wurde durch die ernüchternden Stellungnahmen ›von unten‹ nicht nur immer wieder beflügelt, sondern von den Menschen vermutlich auch bewusst instrumentalisiert. Zumal sie natürlich sehr genau wussten, welche Tasten sie anschlagen mussten, um sich beim Regime Gehör zu verschaffen. So entstand eine verderbliche Komplizenschaft zwischen dem Regime und seiner Gesellschaft, in der der Verrat grassieren konnte und in der die Hoffnung auf Mitbestimmung und Schonung letztlich für beide Seiten einer Illusion gleichkam. Denn obgleich das Regime »auf ein Netz ständiger Denunzianten und auf Informationen der freiwilligen Zuträger« zurückgreifen konnte, waren die Menschen auch »ganz durcheinander, und jeder sagte, was ihm gerade in den Sinn kam, rettete sich, wie er konnte«.41

39 Vgl. Livšin/Orlov/Chlevnjuk, Pis’ma vo vlast’. 1928–1939, 7 f.; Kozlov, Denunciation and Its Functions in Soviet Government, 895 f. und Fitzpatrick, Everyday Stalinism, 186. Zum Zwecke der Verfolgung realer und eingebildeter Feinde bediente sich das Regime offenbar aber auch der Methode, sich selbst Dokumente auszustellen und diese als anonyme Schreiben zu deklarieren. Das offenbarte Chruščev den Delegierten auf dem 20. Parteitag 1956. Vgl. RGANI, Fond 1, op. 2, d. 17, l. 58. 40 GARF, Fond R-5446, op. 89, d. 21, ll. 186–187, abgedruckt in  : Livšin/Orlov/Chlevnjuk, Pis’ma vo vlast’. 1928–1939, 201. 41 Mandelstam, Das Jahrhundert der Wölfe, 364, 346. Das Verfassen anonymer Briefe war unter Stalin offenbar so weit eskaliert, dass man solchen Schreiben nach seinem Tod überhaupt keine Aufmerksamkeit zu schenken gedachte. Vgl. dazu ebd., 104.

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Misstrauen und Verschwörungsdenken »Das Geheimnis«, schrieb Georg Simmel, »legt eine Schranke zwischen die Menschen, zugleich aber den verführerischen Anreiz, sie durch Ausplaudern oder Beichte zu durchbrechen […]. Darum findet die soziologische Bedeutung des Geheimnisses ihr praktisches Maß, den Modus ihrer Verwirklichung, erst an der Fähigkeit oder Neigung der Subjekte, es auch bei sich zu behalten, bzw. an ihrem Widerstand oder Schwäche gegenüber der Versuchung zum Verrate.«42 Von einem Durchbrechen der Schranke und der Versuchung zum Verrat sahen sich die Verfechter der revolutionären Geheimlehre seit den ersten Tagen ihres Aufbruchs gefährdet. Denn nicht nur die äußeren Feinde stellten für sie eine Gefahr dar, sondern vor allem der Verrat im Inneren. Der Mord an einem gewissen Ivan Ivanov, Mitglied einer revolutionären Verschwörergruppe um den zwielichtigen Sergej Nečaev, im Jahre 1869 ist gleichsam die Geburtsstunde einer Grenzüberschreitung, die später den Stalinismus kennzeichnen sollte.43 Denn damals wurde erstmals ein Mitglied der eigenen Gruppe wegen vorgeblichen Verrats umgebracht. Später stellten bolschewistische Hasardeure wie der sagenumwobene Kamo – den Maksim Gor’kij als Künstler der Revolution feierte – ihre eigenen Leute routinemäßig auf die Probe, indem man sie in fingierte Hinterhalte geraten ließ, wo sie anschließend langen Verhören, psychischem Druck und Folterungen ausgesetzt wurden, um ihre Gruppentauglichkeit zu überprüfen, ›wahre‹ von ›falschen‹ Revolutionären zu scheiden.44 Die Erklärung der Gewalthaftigkeit des Stalinismus allein über den persönlichen Faktor verkennt die systemimmanenten Mechanismen revolutionärer Kameradschaft und diktatorischer Herrschaft. Seit ihren Ursprüngen litt die bolschewistische Bewegung – gewissermaßen wie jede revolutionäre Gruppe – unter der Obsession, dass sich Verräter bei ihnen eingeschlichen hätten. Diese Angst wurde dabei noch durch eine besondere Form der Projektion verstärkt, derzufolge der politische Kampf gar nicht anders als im Modus der Verschwörung stattfinden konnte. Somit wurde dem realen oder empfundenen Gegner eine Kampfweise unterstellt, die auch das eigene politische Vorgehen stets bestimmt hatte. Wer sollte denn tatsächlich glauben, so fragte Kaganovič den Publizisten Feliks Čuev, dass »alte und erfahrene Konspirateure nicht die Erfahrung 42 Simmel, Soziologie, 409 f. 43 Dieser Fall hat besondere Wirkmächtigkeit durch den Roman ›Dämonen‹ von Dostoevskij erhalten. Darin ist die Figur des Petr Verchovenskij dem radikalen Nečaev und Ivan Šatov dessen Opfer Ivanov nachempfunden. Zu der Affäre um Nečaev vgl. beispielhaft Venturi, Roots of Revolution, 354–388. 44 Vgl. zu Kamo [Simon Aršakovič Ter-Petrocjan] Mikojan, Tak bylo, 131 f., 360 f. und Geifman, Thou Shalt Kill, 166–168, 255 f.

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nutzen, sich zusammenschließen« und die Kampfmethoden »gegen uns richten werden«  ?45 Folglich schienen den Bolschewiki ihre Gegner ebenso gerissen und entschlossen wie sie selbst und so galten ihnen unvorhergesehene Ereignisse als unverkennbarer Ausdruck der geheimen Sabotagearbeit des Feindes. Daher sollte diese spätere Stellungnahme eines engen Vertrauten Stalins nicht vorschnell als schlichte Exkulpation verstanden werden. Denn in der Tat kannten die Bolschewiki den Verrat in den eigenen Reihen sehr gut, und für die Erklärung der fortwährenden Suche nach Feinden ist diese historische Erfahrung von entscheidender Bedeutung. Einer der berühmtesten Fälle war sicherlich Roman Malinovskij, Mitglied des Zentralkomitees, Fraktionsvorsitzender der Bolschewiki in der vierten Staatsduma und zugleich Agent der zarischen Sicherheitsabteilung Ochrana.46 Während seiner Doppelkarriere hatte Malinovskij nicht nur das Vertrauen herausragender Bolschewiki gewinnen können, sondern auch zentrale Repräsentanten, darunter Sverdlov, Stalin, Ordžonikidze und Rykov, durch Verrat in die Verbannung gebracht.47 Als Malinovskij schließlich aufzufliegen drohte, verließ er die Duma und setzte sich vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ab. Vier Jahre später kehrte er nach Russland zurück, obwohl seine Verbindung zur Ochrana hinlänglich bekannt war und er den Bolschewiki als ›Judas‹ (Kamenev) galt. So wurde Malinovksij in einer geheimen Sitzung des obersten Revolutionstribunals  – die Anklage führte Stalins späterer Justizkommissar Nikolaj Krylenko – zum Tode verurteilt und im November 1918 erschossen.48 Malinovksij hatte den Bolschewiki erheblich zugesetzt. Allein dank seiner Unterstützung war es der Ochrana gelungen, dass zeitweilig kein einziger bolschewistischer Führer außer ihrem eigenen Agenten in Russland auf freiem Fuß war.49 Obwohl Malinovksij aufgrund seiner herausragenden Stellung immer wieder Verdächtigungen ausgesetzt war, blieb ihm zunächst die Gunst Lenins sicher. Mit dem plötzlichen Ausscheiden aus der Duma allerdings war auch 45 Čuev, Tak govoril Kaganovič, 139. Vgl. ferner Holquist, »Information Is the Alpha and Omega of Our Work«. 46 Malinovksij war zunächst stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten  ; nach dem Zerfall der Fraktion im September 1913 führte er die Bolschewiki in der Duma an. 47 Zur scheinbar vertrauensvollen Korrespondenz zwischen Malinovksij, Stalin und anderen vgl. RGASPI, Fond 558, op. 1, d. 47, l. 237 (02.02.1913), d. 5393, ll. 6–7 (November 1913) und op. 4, d. 220 (ein Dokument, Paginierung unleserlich). Zur Enttarnung von Provokateuren vor der Oktoberrevolution vgl. Hoover Institution Archives, Vladimir Burtsev, Box 1, Folder 48. 48 Vgl. Zinov’ev, Vospominanija. Malinovksij, 184–209  ; zur Bezeichunung Malinovskijs als Judas vgl. den Artikel von Lev Kamenev in der Pravda No. 18 vom 26. März 1917, 6. Vgl. ferner Wolfe, Lenin and the Agent Provocateur Malinovsky  ; Brackman, The Secret File of Joseph Stalin, besonders 63–133 und Sebag Montefiore, Young Stalin. Warum Malinovskij unter den genannten Umständen überhaupt nach Russland zurückgekehrt war, muss offen bleiben. 49 Vgl. Ebd., 230.

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für Lenin eine Linie überschritten und das ZK der Sozialdemokraten schloss ihn als Deserteur aus ihren Reihen aus. Anschließend wurde eine Kommission zusammengerufen, um den Fall Malinovksij aufzuarbeiten. Dabei war mit der Klärung des Falles neben Lenin, Zinov’ev, Bucharin, Krylenko auch ein gewisser Maksimilian Savel’ev betraut.50 Dieser Savel’ev stieg später zum Kandidaten des ZK und Redakteur des Parteiorgans Pravda auf und hatte Stalin schließlich im November 1932 eine wichtige Mitteilung zu machen. Savel’ev war über einen Bekannten zu Ohren gekommen, dass sich um Aleksandr Smirnov und Nikolaj Ėjsmont eine konspirative Gruppe gebildet habe, die den Sturz Stalins vorbereite. Dieser Bekannte, ein gewisser Nikolaj Nikol’skij hatte mit Ėjsmont beruflich zusammengearbeitet, war aber mittlerweile als Informant des Regimes tätig. Er ließ nun die Information durch, dass Ėjsmont, damals stellvertretender Kommissar für Handel in der Sowjetunion, während eines geheimen Treffens davon gesprochen habe, dass die Mehrheit im Zentralkomitee eigentlich gegen Stalin sei, aber man in den Abstimmungen dann doch immer einstimmig für Stalin stimme. Auf solchen Treffen habe nun auch Smirnov, der Mitglied des ZK und Vorsitzender des Allunionsrates für den Binnenmarkt war, offenbar regelmäßig die rhetorische Frage gestellt, warum sich denn niemand gefunden habe, der ihn, also Stalin, wegschaffen könnte (mog by »ego« ubrat’).51 Die Mitteilung erreichte Stalin vor dem Hintergrund chaotischer Auswüchse auf dem Land, inmitten von Aufständen, einer prekären Versorgungslage und epidemischen Hungersnot. In diesen Jahren hatten die Führer des Regimes schon häufiger Drohungen erhalten. Allerdings erreichte Stalin diesmal nicht irgendein Brief aus irgendeiner Provinz, sondern hier standen Personen unter Konspirationsverdacht, mit denen die Funktionselite und vor allem Stalin regelmäßig zusammentraf und die in der Wahrnehmung und den Verlautbarungen des Regimes nur die Spitze des Eisberges markierten. Inwiefern das Regime an diese Verschwörungsszenarien tatsächlich glaubte, muss dahin gestellt bleiben. Allerdings ist eine der interessantesten Erkenntnisse seit Öffnung der Archive, dass die geheime Kommunikation des Führungszirkels nicht von öffentlichen Verlautbarungen abwich. Die Gleichschaltung galt folglich für alle, und man verhielt sich zumindest so, als ob man die vielfach beschworenen Verschwörungsszenarien für real hielt.52 Dabei ist nicht unwahrscheinlich, dass Stalin 50 Vgl. Zinov’ev, Vospominanija, 196. 51 Vgl. Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk, Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b)  – VKP(b) 1923 – 1938 gg. Tom 3. 1928–1938 gg., 641–644. 52 Vgl. zur identischen Kommunikation innen und außen Arch Getty/Naumov, The Road to Terror, 22 und Fitzpatrick, Everyday Stalinism, 21 f. Vgl. zu einer Form zynischer Ehrlichkeit des Regimes Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk, Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b)  – VKP(b) 1923  – 1938 gg. Tom 3. 1928–1938 gg., 695–697. Zum Vertrauen bzw. Misstrauen und einer Politik des

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sich als Leser – oder zumindest intuitiver Zögling – Machiavellis an der Warnung orientierte, dass durch Verschwörungen mehr »Machthaber Leben und Herrschaft verloren haben als durch offenen Krieg«53. Im Chaos des ersten Fünfjahresplans florierte jedenfalls das stalinistische Verschwörungsdenken. Ihm gemäß deutete das Regime die permanenten Rückschläge nicht als eigenes Versagen, sondern als unzweifelhaften Ausdruck gesteigerter Feindtätigkeit. Hierbei überlagerte sich die reale Möglichkeit einer Verschwörung mit der Erkenntnis, dass die eigene Politik diese Gefahr nur noch mehr steigerte. Denn »wer sich in die Notwendigkeit versetzt sieht, entweder zu handeln oder zu leiden, wird für den Machthaber außerordentlich gefährlich […]«.54 Diese antizipierte Angst vor dem Rückstoß der eigenen Politik mögen die Briefe, die etwa Trockij aus dem Exil u. a. an das Politbüro direkt schrieb, und in denen er mit konspirativer Arbeit drohte, nicht unbedingt beruhigt haben.55 Auch die Drohung, die der betrunkene Michail Tomskij Stalin während einer Grillparty 1928 ins Ohr geflüstert hatte – »bald werden unsere Arbeiter auf Dich schießen, sie werden es« –, blieb offensichtlich haften.56 Angesichts einer solch undurchdringlichen Lage hielt der Diktator das Regime an, jeden Mangel an Beweisen eher als Indiz dafür zu deuten, dass der Feind seine konterrevolutionären Methoden stetig verbesserte, denn es als beruhigendes Zeichen gelten zu lassen. Die Affäre um Smirnov war insbesondere deshalb prekär, weil das Regime erst kürzlich von einer Gruppe um Martem’jan Rjutin, der sogenannten Rjutin-Plattform, erfahren hatte, die in einem über hundert Seiten umfassenden Pamphlet Stalin unverhüllt als »schändlichsten Feind der Partei und proletarischen Revolution« bezeichnet und alle Mitglieder der Partei zur »gewaltsamen Vernichtung dieser Clique (siloju ustranit’ ėtu kliku)« aufgefordert hatte.57 Natürlich blieb dem Regime verborgen, wer alles von diesem Dokument Kenntnis oder es sogar gelesen hatte. Daher setzte das Regime auch hier die potenziellen Als-Ob Zelter, Die Politik des Als-Ob in der Theorie, Praxis und Literatur der Renaissance-Zeit und Hosking, Trust and Distrust in the USSR. 53 Machiavelli, Discorsi, 296. Vgl. zu Stalins Beziehung zu Machiavelli Rees, Political Thought from Machiavelli to Stalin  ; Kuromiya, Stalin, 22, 128, 208 und Tucker, Stalin in Power, 282, 645. 54 Machiavelli, Discorsi, 297 f. Vgl. ferner zum Phänomen der ›Befehlsangst‹ Canetti, Masse und Macht, 364. Dieser Befund ist jüngst empirisch belegt worden. In dem Zeitraum 1946–2008 verloren von über 300 untersuchten Diktaturen beinahe 70 % der Führer aufgrund einer Verschwörung Leben bzw. Amt. Vgl. Svolik, The Politics of Authoritarian Rule. 55 Vgl. Arch Getty, Trotsky in Exile. 56 Vgl. Wynn, The «Right Opposition” and the «Smirnov-Eismont-Tolmachev Affair”, 103. 57 Kurilov/Michajlov/Naumov, Reabilitacija, 432–434. Vgl. ferner Getty/Naumov, The Road to Terror, 52–64. Stalin hatte von der Gruppe durch Denunziation im September 1932 erfahren.

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Mitwisser als Maßstab für die eigene Reaktion an. Schnell gelangten neben weniger hochrangigen Personen auch prominente Figuren  – Kamenev, Zinov’ev, Rykov und Bucharin – in Verdacht. Sie alle wurden beschuldigt, von dem Verrat gewusst, aber in verschwörerischer Absicht geschwiegen zu haben. Sie alle sollten nach Parteiausschlussverfahren, Gefängnis- oder Lagerhaft schließlich den Tod wegen ihres vorgeblichen Verrats finden. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass Stalin am 20. November 1932, einen Tag nach der ersten Mitteilung über die Angelegenheit Smirnov und Ėjsmont, mit dem Informanten Savel’ev für 15 Minuten in seinem Büro im Kreml zusammentraf.58 Über den Inhalt dieses Gesprächs kann nur spekuliert werden. Allerdings erhielt Stalin schon einen Tag später einen noch ausführlicheren Bericht von Savel’ev, diesmal unter Mitarbeit Nikol’skijs, dem Agenten in der Gruppe. An einem solchen Punkt gingen die informelle Politikführung (konspiracija) des Regimes und die Vorstellung, gerade auch die Feinde bedienten sich dieser Methoden zum Zwecke einer Verschwörung (zagovor) gegen den Staat, eine unheilvolle Allianz ein. In einem Brief an Kliment Vorošilov, den Nachfolger des eingangs erwähnten Frunze im Volkskommissariat für Heer und Marine, schrieb Stalin im Dezember 1932  : Die Angelegenheit Ėjsmont-Smirnov verhält sich ähnlich wie der Fall Rjutin, obgleich weniger klar […]. Ich fühle mich immer noch schlecht, schlafe wenig, genese schleppend, aber während der Arbeit ist es nicht bemerkbar.59 Die Ereignisse blieben undurchdringlich. Zumal selbst der seit Längerem der rechten Abweichung bezichtigte und in der Angelegenheit Smirnov und Ėjsmont abermals verdächtigte Aleksej Rykov im Verlauf einer Politbüro-Sitzung offen bekannte, dass man sich während gemeinsamer Treffen natürlich nicht über den Mond oder irgendeine Sonate von Beethoven unterhalte. Schließlich leben wir in der Revolution und wenn wir uns treffen, dann sprechen wir über politische Fragen und über nichts anderes.60 Neben Rykov geriet auch der erwähnte Tomskij unter Verdacht, an einer Verschwörung gegen den sowjetischen Staat und vor allem Stalin beteiligt gewesen zu sein. Dabei wurde ihm – aber auch Smirnov – immer wieder vorgehalten, sich erst kürzlich einer Sitzung des Zentralkomitees anlässlich der Rjutin-Plattform entzogen zu haben.61 Eine spätere 58 Vgl. Černobaev, Na prieme u Stalina, 79. Stalin traf während seiner Herrschaft insgesamt nur dreimal mit Savel’ev zusammen, und das letzte Mal ausgerechnet in der Zeit der beschriebenen Affäre. Es liegt also nahe, dass die Angelegenheit um Smirnov und Ėjsmont der Anlass ihres Treffens war. 59 RGASPI, Fond  74, op.  2, d.  38, l. 80, abgedruckt in  : Kvašonkin/Košeleva/Chlevnjuk/Rogovaja/ Kvašonkin/Košeleva, Sovetskoe rukovodstvo, 196. 60 Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk, Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) - VKP(b) 1923  – 1938 gg. Tom 3. 1928–1938 gg., 578. 61 Vgl. ebd., 558, 573, 614.

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Stellungnahme Rykovs vor dem Zentralkomitee machte dabei die Lage noch komplizierter und legte immer mehr Anschlusswege der längst außer Kontrolle geratenen Verschwörungstheorie offen. So erzählte Rykov im Februar 1937, dass es 1932 auf der Datsche Tomskijs zu einem Treffen gekommen sei, auf dem er, gemeinsam mit dem Gastgeber und anderen von der Angelegenheit der Rjutin-Plattform nicht nur erfahren, sondern offenbar auch ihr Programm gelesen habe.62 Nach diesem Treffen blieb Tomskij nun einer Sitzung des ZK, in der die Angelegenheit Rjutin verhandelt wurde, womöglich nur deshalb fern, um sich einer Auseinandersetzung zu entziehen, Rykov dagegen war in der besagten Sitzung hinter allgemeinen stalinistischen Formeln in Deckung gegangen. Dabei waren es genau solche Situationen, die das Verschwörungsdenken Stalins erst recht befeuerten, wobei hierbei nicht allein die manichäische Weltsicht des Diktators hervorzuheben, sondern vor allem die undurchsichtige Lage zu betonen ist, in der sich die antizipierte und reale Gefahr einer Palastrevolution immer wieder anzunähern schienen. So verwundert es nicht, dass Stalin nach dem erfolgreichen Attentat auf den Leningrader Parteiführer Sergej Kirov vom Dezember 1934 die Partei eindringlich an den Verräter Malinovksij, die Mißgeburt (vyrodok) unserer Partei, erinnerte und den Kirov Mörder, den Judas-Verräter mit Parteiausweis, als Inbegriff der neuen Gefahr beschwor.63 Der Suche nach Feinden im Inneren korrespondierte im Stalinismus stets auch eine außenpolitische Dimension, und so verwies das Regime bei all den Verschwörungsszenarien immer wieder nachdrücklich auf die Gefahr einer ›fünften Kolonne‹. Damit wurde nicht nur ein klassischer Topos politischen Verschwörungsdenkens perpetuiert, sondern in der Tat auch der damalige Zeitgeist reflektiert.64 Nicht verwunderlich ist also, dass die Vertreter des Regimes vor allem nach dem Attentat auf Kirov ausländische Mächte im Spiel wähnten und sich bereits kurze Zeit später auf Indizien beriefen, die scheinbar Botschaftsangehörige in Deutschland, England und Lettland belasteten.65 Obgleich diese vermeintlichen Belege meist mit heißer Nadel gestrickt waren, vermuten einige der führenden Vertreter der aktuellen Forschung hinter der schrillen Propag62 Vgl. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 584, ll. 171–178. Vgl. ferner RGASPI Fond 17, op. 2, d. 575, ll. 124– 126 und Wynn, The »Right Opposition« and the »Smirnov-Eismont-Tolmachev Affair«, 107. 63 Vgl. zu den Zitaten Zakrytoe pis’mo CK VKP(b). Uroki sobytij, svjazannych s zlodejskim ubijstvom tov. Kirova, in  : Izvestija CK KPSS 8 (1989), 97, 99. 64 Der Begriff ›fünfte Kolonne‹ wurde im spanischen Bürgerkrieg geprägt. Der damalige Kriegsberichterstatter Ernest Hemingway publizierte 1938 sogar ein Drama unter dem Namen ›The Fifth Column‹. 65 Vgl. etwa das Prozessprotokoll vom 28. Dezember 1934 RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 128. Vgl. ferner Kirilina, Neizvestnyj Kirov und Lenoe, The Kirov Murder and Soviet History.

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anda dennoch einen wahren Kern und plädieren deshalb für eine veränderte Deutung, eingedenk der damaligen weltpolitischen Lage und des heraufziehenden Weltkrieges.66 Das Amalgam aus Realität und Projektion war der Nährboden einer Politik, die Verschwörungen und Verrat für die Regel und die Bekundung von Loyalität und Systemkonformismus zunehmend zu einer besonders perfiden Form feindlicher Maskerade erklärte. Die Angst vor dem Schisma hatte die revolutionäre Geschichte Russlands seit den 1860er Jahren geprägt. Allerdings wurde sie in dem Moment zur Obsession, als die letzten, sich auch öffentlich bekennenden Feinde zum Schweigen gebracht worden waren. Nun kalkulierte die stalinistische Führung mit dem Umstand, dass ihren Feinden einzig der Weg aus dem Hinterhalt offen blieb.67 In genau diesem Klima wurden die etablierten Feindbestimmungen auch von der Figur des Terroristen ergänzt. Und da diese Figur seit jeher vage genug ist, um auf sie vieles zu projizieren, war sie im Falle des Stalinismus eine willkommene Ergänzung des Diskurses.68 Somit wurde die Behauptung stalinistischer Souveränität zu einer spezifischen Form des Schattenboxens, bei dem die Machthaber nur die Oberhand behalten zu können glaubten, wenn sie jedes Anzeichen von Widerstand, jede dehnbare Äußerung als erwiesene konspirativ-terroristische Tätigkeit werteten. Entsprechend folgten die Aufforderungen zum Verrat einem Machtkalkül, das im Sinne einer vorgestellten Ordnung stets auch den Exzess in Kauf nahm. Es sei die Aufgabe, so der gewöhnliche Zeitungston dieser Jahre, eines jeden ehrlichen Sowjetbürgers, die heimtückischen und »verräterischen Aktivitäten« der maskierten Feinde zu erkennen.69 Auch Stalin selbst ermunterte seine Zuhörer in einer Rede vor dem erweiterten Kriegsrat im Juni 1937 offenherzig zur Denunziation, als er sie aufforderte, jeden Mangel mitzuteilen. Und selbst wenn nur fünf Prozent ihrer Hinweise stimmten, »dann ist das auch Brot«.70 Anläss66 Klassisch stalinistisch zum Phänomen der ›fünften Kolonne‹ vgl. Čuev, Sto sorok besed s Molotovym, 390, 416 und Čuev, Tak govoril Kaganovič, etwa 35–56. Vgl. zur Forschung Chlevnjuk, Chozjain  ; Chlevnjuk, The Objectives of the Great Terror  ; Kuromiya, Stalin’s Great Terror and International Espionage und Kuromiya, Accounting for the Great Terror. 67 Vgl. als offenes Bekenntnis zu diesem Umstand den Redebeitrag von Molotov während der Politbüro-Sitzung zum Fall Smirnov Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk, Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) 1923–1938 gg. Tom 3. 1928–1938 gg., 600. 68 Exemplarisch RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 114, d. 120, d. 128, d. 129  ; Chaustov/Naumov/Plotnikova, Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPU-NKVD, janvar‹ 1922  – dekabr‹ 1936, 599–682 und Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk, Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b)  – VKP(b) 1923  – 1938 gg. Tom 3. 1928–1938 gg., 610. 69 Vgl. Goldman, Inventing the Enemy, 59 f. 70 Vgl. Chaustov/Naumov/Plotnikova, Lubjanka. Stalin i glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD, 1937 – 1938, 209.

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lich des 20. Jahrestages der Oktoberrevolution sprach Stalin bei einem Mittagessen die, wie er selbst sagte, nicht sehr festlichen Worte, dass man »jeden, der mit seinen Taten oder Gedanken (ja, Gedanken) einen Anschlag auf die Einheit des sozialistischen Staates verübt, gnadenlos vernichten wird«.71 Überall wurden Mörderbanden gejagt, Feinde demaskiert und ihre Nester ausgehoben. Somit geriet die antizipierte Gegnerschaft zur zentralen Voraussetzung für einen Gewaltexzess, den die stalinistischen Führer in einem todbringenden Spiegelkabinett aus Illusion und Realitätssplittern dirigierten.72

Zurichtungen Er habe gesehen und erkannt, schrieb der Schriftsteller Varlam Šalamov, dass der russische Mensch einen »unwiderstehlichen Drang zur Denunziation, zur Beschwerde (k donocu, k žalobu)« hat.73 In gewohnter Nüchternheit notierte Šalamov diese Lektion nach seiner rund achtzehnjährigen Odyssee durch verschiedene Gefängnisse und Lager, in die er sich nach Verrats- und Verschwörungsvorwürfen verschlagen fand. Der Chronist der berüchtigten Kolyma-Region im fernen Sibirien war einer der vielen ›58er‹, die ›als Konterrevolutionäre verurteilt, in unwirtlichen Regionen ihre Strafe zu verbüßen hatten. Dabei spiegelte sich insbesondere auch in Šalamov der vielschichtige und ambivalente Umgang des stalinistischen Regimes mit seinen Feinden. Denn in der Tat hatte Šalamov zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution an einer Demonstration unter der Losung ›Nieder mit Stalin‹ teilgenommen und mit führenden Oppositionellen dieser Jahre sympathisiert  – ein Engagement, das vielfach tödlich endete und im Falle Šalamovs wohl seine letzten Jahre in einer psychiatrischen Anstalt vorbereitete. Der Lagerkomplex, die Gefängnisse und Schießplätze waren die Orte, an denen das Regime mit der eigenen Angst vor Verrat abrechnete. Zugleich waren diese Orte aber auch Erinnerungsstützen, die den Repräsentanten nicht nur die eigene Angst, sondern vor allem auch die Masse der (zumeist selbstproduzierten) Feinde vor Augen führte. In diesem Geist findet sich in der Aphorismensammlung, in der auch der soeben angeführte Satz zu lesen ist, eine weitere 71 Nevežin, Zastol’nye reči Stalina, 148. 72 Zum Verhältnis von Gedanken und Taten, offenen und versteckten Feinden vgl. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 612(3), ll. 3-6ob und Košeleva/Rogovaja/Chlevnjuk, Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP(b) - VKP(b) 1923–1938 gg. Tom 3. 1928–1938 gg., 600. Die vermutlich eindringlichste Schilderung dieser Atmosphäre bleibt ›Meister und Margarita‹ von Michail Bulgakov. 73 Schalamow, Durch den Schnee, 292.

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Bemerkung verzeichnet, die gewissermaßen die Grundangst des Regimes ausdrückt. So schreibt Šalamovs von seiner Einsicht, dass die Siege auf dem Rücken Unschuldiger errungen wurden, dass aber eine Organisation, wenn auch der Zahl nach zehnmal kleiner, aber eine Organisation »Stalin in zwei Tagen hinweggefegt (organisacija cmela by Stalina)« hätte.74 Diese Erkenntnis verband die Täter mit den Opfern, und gerade weil sich Stalin dessen nur allzu bewusst war, führte er fortwährend einen Kampf gegen Möglichkeiten. Einen Kampf, der die realen und vorgestellten Gegner eliminieren sollte, aber gerade dadurch erst recht die Obsession des Belagerungszustandes auf Dauer stellte. Die Furcht vor der Konterrevolution ist nicht nur elementarer Bestandteil einer jeden revolutionären Bewegung, sondern vor allem ein wesentlicher Erklärungsansatz, der sprichwörtlichen Dialektik der Aufklärung.75 Aber auch jenseits ideologischer Überlegungen ist gerade für den sowjetischen Fall das Zusammenspiel der gesamten Geschichte des revolutionären Untergrundkampfes und systemischer Eigenschaften der Diktatur von wesentlicher Bedeutung. Insbesondere die historische Prägung der Bolschewiki mit der Erfahrung konspirativer Politikführung auf der einen und die Ahnung der stalinistischen Führung, dass seit der Niederschlagung der letzten öffentlichen Opposition ihren Gegnern einzig der Weg der Verschwörung blieb, auf der anderen Seite, war aufgrund ihrer Unbestimmtheit ein entscheidender Beitrag für die Eskalation der Gewalt. Für die Beschreibung des Stalinismus haben sich Begriffe wie Willkür und Despotie festgesetzt. Legt man diesbezüglich den Satz Montesquieus an, dass gerade in der Unbestimmtheit dessen, was als Verrat zu gelten habe, eine Regierung zur Despotie werde, so erfüllt der Stalinismus diesen Test zweifellos.76 In dem Zeitraum seit dem Ende des Bürgerkrieges 1921 bis zu Stalins Tod 1953 wurden Schätzungen zufolge allein vier Millionen Menschen wegen vorgeblichem Verrats an der Revolution (Artikel  58) verurteilt, von denen gut zwanzig Prozent den Tod fanden.77 Den übrigen der Konterrevolution Bezichtigten und ihren Angehörigen blieb einzig das Klagen an der Kremlmauer, wie die Schriftstellerin Anna Achmatova die zumeist ausweglosen Bittgesuche an

74 Ebd., 289. 75 Vgl. dazu beispielhaft Mayer, The Furies und Koselleck, Kritik und Krise. 76 Vgl. de Montesquieu, The Spirit of the Laws, 194 (Book 12, Ch. 7).Vgl. ferner Enzensberger, Zur Theorie des Verrats, 369–371. 77 Vgl. GARF, Fond  9401, op.  1, d.  4157, ll. 201–205, abgedruck in  : Mozochin, Pravo na repressii, 741–743 und Popov, Gosudarstvennyj terror v sovetskoj Rossii, besonders 27 f. Vgl. zum Problem der Datenerhebung beispielhaft Wheatcroft, The Great Terror in Historical Perspective  ; Arch Getty/ Rittersporn/Zemskov, Victims of the Soviet Penal System in the Pre-War Years  ; Ellman, Soviet Repression Statistics und Wheatcroft, Victims of Stalinism and the Soviet Secret Police.

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die Macht umschrieb.78 Im Stalinismus geriet der ubiquitäre Verrat zum Signum einer verschworenen Welt, die schließlich nicht nur das Leben der Opfer bestimmte, sondern auch von den Tätern selbst Besitz ergriff. So lässt sich proportional zu der zunehmenden Abschottung der Machtelite die Zunahme der Verdächtigungen auch im innersten Kreis der Macht feststellen, wobei sich die Verschwörungsszenarien zunehmend von realen Verdachtsmomenten lösten. Dennoch brachen auch immer wieder Realitätsfetzen in diese Welt als Verschwörung ein – so etwa das Kirov-Attentat von 1934 und die unübersichtliche außenpolitische Lage dieser Jahre. Solche Erscheinungen setzten die Angst des Regimes gewissermaßen immer wieder ins Recht. Somit bleibt die Geschichte des Stalinismus eine Geschichte ohne Helden, an dessen Ende der Demiurg einer verschwörerischen Realität womöglich selbst Opfer seiner eigenen Schöpfung wurde.79 Quellen Allilujewa, Swetlana, Zwanzig Briefe an einen Freund, Wien 1967. GARF, Fond 9401, op.  1, d.  4157, ll. 201–205, abgedruckt in  : Oleg  B. Mozochin, Pravo na repressii. Vnesudebnye polnomočija organov gosudarstvennoj bezopasnosti (1918–1953). Statističeskie svedenija o dejatel’nost’ VČK-OGPU-NKVD-MGB SSSR, Moskva 2011. GARF, Fond R-5446, op. 89, d. 21, ll. 186–187, abgedruckt in  : Pis’ma vo vlast’. 1928–1939. Zajavlenija, žaloby, donosy, pis’ma v gosudarstvennye strukury i sovetskim voždjam, hrsg. v. A.Ja. Livšin/ I.B Orlov/O.V. Chlevnjuk, Moskva 2002. Khrushchev Remembers, hrsg. v. Strobe Talbott, Boston 1970. Lubjanka. Stalin i glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD, 1937–1938, hrsg. v. V.  N. Chaustov/V. P. Naumov/N. S. Plotnikova, Moskau 2004. Lubjanka. Stalin i VČK-GPU-OGPU-NKVD, janvar’ 1922  – dekabr’ 1936, hrsg. v. V.  N. Chaustov/V. P. Naumov/N. S. Plotnikova, Moskau 2003. Memoirs of Nikita Khrushchev. Vol. 2. Reformer (1945–1964), hrsg. v. Sergei Khrushchev, University Park PA 2006. RGANI, Fond 1, op. 2, d. 17, l. 58. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 575, ll. 124–126. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 584, ll. 171–178. RGASPI, Fond 17, op. 2, d. 612(3), ll. 3–6ob. RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 114, d. 120, d. 128, d. 129. RGASPI, Fond 671, op. 1, d. 128. RGASPI, Fond 74, op. 2, d. 38, l. 80, abgedruckt in  : Sovetskoe rukovodstvo. Perepiska 1928–1941 gg.,

78 Zu dem Zitat aus Anna Achmatovas Gedichtzyklus ›Rekviem‹ vgl. Mandelstam, Das Jahrhundert der Wölfe, 163 f. 79 Vgl. Brent/Naumov, Stalin’s Last Crime  ; Allilujewa, Zwanzig Briefe an einen Freund, 19–30, 297– 307 und ferner zur Geschichte ohne Helden Goldman, Inventing the Enemy, 298–314.

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Malte Zierenberg

Verrat und Volksgemeinschaft Der Fall Ernst Röhm

Der »Verrat« Ernst Röhms hat viele Interpreten gefunden. Ein Großteil der historischen Deutungen fragt nach dem Stellenwert der Ereignisse rund um den »Röhm-Putsch« für die Stabilisierung der NS-Diktatur  ; danach also, auf welche Art und Weise und mit welchen Folgen Hitlers Coup zur Durchsetzung seiner Führerherrschaft angesichts schwelender Konflikte zwischen den Machtzentren in Staat und Bewegung beigetragen hat. Daneben fand der Fall u. a. Aufmerksamkeit, weil sich an ihm Fragen nach dem Zusammenhang von Politik, Männlichkeit, Homosexualität und Skandalisierungsprozessen untersuchen lassen. In den Blick geriet damit jene eigentümliche Mischung aus Klandestinität, politischen Intrigen und Macht, die die Skandalisierungsfähigkeit sexueller Praktiken und die Herabsetzung politischer Gegner berührte.1 Wenn hier Konstellationen und Semantiken von Verrat in den Mittelpunkt rücken, dann ist damit eine Akzentverschiebung verbunden. Man kann, wenn man die Geschichte um den »Fall Röhm« daraufhin befragt, welche Verratswahrnehmungen und -zuschreibungen in ihr erkennbar werden, den Fall über die unmittelbare Konstellation der Jahre 1933/34 hinaus gewissermaßen als eine Sonde nutzen, um etwas über die in Deutschland virulente Deutungsfigur des Verräters zu erfahren, wie sie seit dem Ersten Weltkrieg die politische Kultur maßgeblich prägte. Und man kann die propagandistische Rede über den »Verrat« des »Röhm-Putsches« auch als Teil einer rhetorischen Strategie untersuchen, die darauf abzielte, das Thema von Gemeinschaft und Abweichung, von Treue und Verrat als dynamisierendes Element zur emotionalen und praktischen Bindung zwischen »Führer« und »Volk« auszunutzen. Erkennbar werden dann sowohl die weiter zurückreichenden Verratsinterpretamente, welche den Aufstieg der NSDAP begleiteten, als auch die Verfestigung einer politischen Kultur, in der der Kult um die Volksgemeinschaft in hohem Maße über die Identifizierung 1 Vgl. die Darstellungen und Analysen bei  : Frei, Führerstaat, 9–27 (2013 bei C. H. Beck neu aufgelegt mit veränderten Seitenzahlen)  ; Kershaw, Hitler, 627–662  ; zur SA  : Reichardt, Faschistische Kampfbünde  ; Longerich, Geschichte der SA  ; daneben zum Thema Homosexualität  : zur Nieden, Aufstieg und Fall des virilen Männerhelden  ; dies. u. Sven Reichardt, Skandale als Instrument des Machtkampfs in der NS-Führung. Eine detaillierte Ereignisdarstellung bei Höhne, Mordsache Röhm.

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und Verfolgung von Abweichlern und kleinen und großen Verrätern propagiert und in praktische, gewaltförmige Politik umgesetzt wurde. Indem Verrat und Verräter als Möglichkeit stets mitgedacht und beschworen wurden, schloss der Nationalsozialismus einerseits an etablierte politische Phobien an, verstärkte sie andererseits aber auch und setzte damit ein dynamisches System von Beobachtungen und von permanenten Ein- und Ausschließungspraktiken frei, dessen Dynamik sich im Zweiten Weltkrieg noch einmal verstärkten sollte.

Verrat und Verräter in Weimar Das Thema Verrat durchzog die politischen Debatten der Weimarer Jahre und fand seinen Niederschlag in unzähligen Wortmeldungen und Publikationen. Zu denjenigen, die am häufigsten von Verrat und Verrätern sprachen, gehörten die Nationalsozialisten. Im Jahr 1928 veröffentlichte der Münchener Verlag Franz Eher die Autobiographie eines der prominentesten Parteimitglieder der NSDAP. Ernst Röhms Darstellung seines Lebens erschien unter einem Titel, der nur wenige Jahre später wie eine eigentümliche Ironie der Geschichte wirken sollte  : »Die Geschichte eines Hochverräters«. Das Werk verkaufte sich gut und erlebte bis 1934, Röhms Todesjahr, immerhin sechs Auflagen.2 Die Ironie des Titels lag darin, dass Röhm selbst nur wenig mehr als ein Jahr nach der Machtübernahme von Hitler und seinen Getreuen als Verräter »enttarnt« und ermordet wurde. Wie kaum ein zweiter Begriff spielten damit unterschiedliche Deutungen von Verrat und Verräter eine entscheidende Rolle – nicht nur in Röhms Biographie, sondern auch im Politikverständnis der nationalsozialistischen Bewegung und der deutschen Gesellschaft allgemein. Natürlich war der Titel von Röhms Buch eine Provokation. In seinen Augen war der Begriff Hochverräter aber auch eine Auszeichnung. Denn für nichts schämte sich Adolf Hitlers loyaler Begleiter wohl weniger als für jene Episode, in der die beiden vom verhassten Weimarer »System« als Hochverräter angeklagt worden waren. Der Putschversuch des Jahres 1923 bildete  – im Gegenteil  – für Röhm ein herausragendes Ereignis, gerade weil es Hitler und ihn im Kampf gegen die neue Republik zusammengeschweißt hatte. Röhm hatte Hitler zuvor bereits protegiert, ihm Kontakte zu wichtigen Militärs innerhalb der Reichswehr wie Erich Ludendorff verschafft, Munition und Kriegsgerät für die Bewegung aus Reichswehrbeständen organisiert und schließlich auch dafür gesorgt, dass der aufstrebende »Trommler« die Führung des »Deutschen Kampfbundes« übernehmen konnte. 1920 war es ihm gelungen, der NSDAP 2 Röhm, Geschichte.

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60.000 Mark aus Reichswehrmitteln zuzuschanzen, damit die Partei den »Völkischen Beobachter« kaufen und fortan als Parteizeitung nutzen konnte. Insgesamt war Röhm nicht nur ein Wegbegleiter, sondern auch ein Geburtshelfer von Hitlers politischer Karriere. Wegen seiner Beteiligung am Putsch, für die er im Hochverratsprozess von 1924 fünf Monate Haft erhielt, sollte ihm 1933 der erste »Blutorden« der NSDAP verliehen werden, das »Ehrenzeichen des 9. November 1923«.3 In seiner Autobiographie räumte Röhm dieser Frühphase der NS-Bewegung und seiner Freundschaft mit Hitler breiten Raum ein. Die Zeit als »partners in crime«, als gemeinsame »Hochverräter«, spielte dabei eine wichtige Rolle. Der 9. November 1923, schrieb er, sah auf der einen Seite Idealismus, glühende Vaterlandsliebe, Begeisterung, Mut, Entschlossenheit, Offenheit und Ehrlichkeit, in einem Wort  : das junge Deutschland. Auf Seiten der Republik mochte er dagegen nichts weiter erblicken als den verzweifelten Versuch eines absterbenden Geschlechts, sich an der Macht zu halten. Dass man, so fasste er die Politik jener »Nützlichkeitspolitiker«, »Goldempfänger« und »Gesinnungsjongleure« zusammen, um den Staat zu retten, das Volk verraten muss, diese Weisheit hat auch die spitzfindigste gegnerische Beweisführung mir nicht vermitteln können.4 Nicht Hitler, Röhm und ihre Getreuen waren die Verräter, sondern jene, die als »Erfüllungspolitiker« den siegreichen Alliierten nach dem verlorenen Weltkrieg bei ihren Reparationsforderungen entgegenkamen, für demokratische Prinzipien eintraten und damit die Republik stützten. Darin, so Röhm, konnte man als deutscher Mann nur einen Verrat am deutschen Volk erkennen. Vom Verrat und von Verrätern war in der Weimarer Republik zwar allgemein viel die Rede. Auch das Verhältnis zwischen KPD und SPD etwa kannte den gegenseitigen Verratsvorwurf. Und eine empörte Öffentlichkeit war, angeheizt nicht zuletzt von einer sensationslüsternen Presseberichterstattung, geneigt, eine ganze Reihe von populären Verratsvorwürfen zu goutieren, etwa mit Blick auf Skandale, die das Fehlverhalten von Politikern, Verwaltungen und Unternehmern und damit auch die Dysfunktionalitäten des politischen Systems thematisierten.5 Insbesondere die radikale Rechte hetzte aber gegen den jungen Staat, indem sie Teilen der Weimarer Gesellschaft ihren »Verrat« an der Armee im Krieg vor3 Kershaw, Hitlers Macht, 61 f. 4 Röhm, Geschichte, 293. 5 Fulda, Press and Politics in Weimar Germany. Vgl. darin vor allem Kapiel 5  : »Conquering Headlines. Violence, Sensations, and the Rise of the Nazis, 1928–1930«, 131–168  ; daneben Geyer, Der Barmat-Kutisker-Skandal und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der politischen Kultur der Weimarer Republik.

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hielt. Für die revanchistischen Stimmen der völkischen und nationalistischen Rechten lag darin der eigentliche Verrat am deutschen Volk. Sozialdemokraten, Kommunisten und Liberale hatten es ins Unglück gestürzt – und setzten diese Politik auch nach dem Krieg fort. Von der Obersten Heeresleitung noch während des Krieges in Umlauf gebracht, unterstellte die »Dolchstoßlegende« den demokratischen Kräften an der »Heimatfront«, dem eigentlich siegreichen Heer einen »Dolchstoß« von hinten gesetzt und damit die Niederlage gegen die Alliierten besiegelt zu haben. Diese Verratsgeschichte und die Grundkonstellation, die in ihr formuliert wurde, sollten die vergifteten und gewalttätigen Auseinandersetzungen der folgenden Jahre bestimmen.6 Das Reden über Verrat und Verräter, wie es rund um die »Röhm-Krise« 1934 in den Propaganda-Artikeln der neuen Regierung hörbar wurde, hatte also einen Echoraum, der bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs und zum Kriegsende 1918 zurückreichte. Die von vielen als Schmach empfundene Niederlage war zum Ausgangspunkt für heftige Auseinandersetzungen geworden, in denen die politischen Gegner, ihre je eigenen Interpretationen der Niederlage vertreten und damit zugleich unterschiedliche Positionen zur neuen Staatsform, der Republik, zum Ausdruck gebracht hatten. Der Verratsvorwurf traf gerade die prominentesten Vertreter der Republik. Dabei wurde er teilweise von der Justiz gedeckt. Als Reichspräsident Friedrich Ebert wegen Rufmordkapagnen eine Beleidigungsklage anstrengte, um gegen die Bezeichnung als Verräter vorzugehen, meinte das Magdeburger Schöffengericht feststellen zu können, dass Eberts Eintritt in die Streikleitung der Berliner Munitionsarbeiter Anfang des Jahres 1918 ein Fall von Landesverrat gewesen sei. Im Folgenden wurde das Akzeptieren des »Schandfriedens« von Versailles durch republikfreundliche Politiker zu einem immer wieder aufs Neue skandalisierten angeblichen Verratshandeln. Wie folgenreich und vehement die Ablehnung der neuen politischen Ordnung ausfiel, machten die politischen Morde der Weimarer Anfangsjahre deutlich. Walther Rathenau und Matthias Erzberger wurden erschossen, weil sie in den Augen ihrer völkischen Mörder »Erfüllungspolitiker« und »Verräter« waren, die den »Feinden« Deutschlands ihren »Diktatfrieden« unterschrieben und die Reparationsforderungen akzeptiert hatten. Freikorps und andere aggressiv nationalistische und völkische Gruppierungen agitierten nicht nur gegen die neue Republik, sie griffen auch ihre Repräsentanten an und töteten sie. Bis 1924 erlebte die Weimarer Republik über 400 politische Morde von rechts, von denen 330 ungesühnt blieben. Die Mörder legitimierten ihr Tun, indem sie auf die Figur des Verräters rekurrierten  : »Verräter verfallen der Feme«, hieß es etwa bei Angehörigen der Or6 Vgl. Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration.

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ganisation Consul, auf deren Konto einige der prominentesten Mordaktionen gingen. Es »genügte der Verratsverdacht, um eine Hinrichtungsaktion auszulösen«, und Freikorpsführer Ritter von Epp verteidigt die Morde an »Verrätern« als einen »Akt der Notwehr und ein sittliches Recht«. Zu den Fememördern der Weimarer Republik gehörten auch der spätere Auschwitz-Kommandant Rudolf Höss und Parteikanzleichef Martin Bormann.7 Im hier aufscheinenden Verständnis von Verrat und Verrätern drückte sich auch das politische Selbstverständnis der nationalsozialistischen Bewegung aus. In der Rede vom Verrat schwangen unterschiedliche Konnotationen mit, die nicht nur zum Kernbestand ihrer Ideologie gehörten, sondern auch zur Grundlage ihres politischen Handelns wurden. Was »Verrat« hier meinte und hervorhob, war die Bedeutung von einer Gemeinschaft (der Verratenen)  ; von einer gemeinsamen Sache  ; war die Abgrenzung von einem auf sachlichen und regelgeleiteten Austrag von Interessenkonkurrenzen gerichteten anonymen politischen System. Diese Ablehnung war nicht nur in der radikalen Rechten zu Hause, sondern fand sich z. B. auch in der Kommunismus-Begeisterung etlicher Intellektueller wieder. Ulrich Herbert hat darauf hingewiesen, »dass eine politische Kultur, die auf der öffentlichen Auseinandersetzung und dem Ausgleich von Interessen basierte, in Deutschland keine langen Traditionen besaß und zudem auch weithin als uneffektiv wahrgenommen wurde«.8 Eine weit verbreitete »Haltung der Unbedingtheit« ließ sich hier erkennen. In der »Tendenz zur großen Geste kam«, so Herbert, »das irritierte Unbehagen an der Kompliziertheit der modernen Gesellschaft ebenso zum Ausdruck wie die Verachtung von Mehrheitsprinzip und Massengesellschaft«.9 In dieser Situation bildete die nicht ausschließlich in der Rechten vorhandene Sehnsucht nach einer homogenen Volksgemeinschaft das Pendant zu Führer-Imaginationen, denen der Wunsch nach Eindeutigkeit und Durchschlagskraft zugrunde lag. Die »Stilisierung Hitlers zum ›Führer‹, zum verklärten und den Interessenkämpfen des Alltags enthobenen, genialen Einzelnen trug erheblich dazu bei, die Partei zu einigen, und wurde zum ausschlaggebenden Unterscheidungsmerkmal gegenüber den anderen nationalistischen Gruppierungen in Deutschland«.10 Zugleich sollte sich diese Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Stärke aber auch als attraktiv für andere Bevölkerungsgruppen erweisen. Politik war Verheißung und sollte Erlösung bringen, Politiker sollten nicht gute  7 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4  : Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, 410 ff.  8 Herbert, Geschichte, 259.   9 Ebd., 269. 10 Ebd., 283.

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Administratoren sein, sondern moralische Vorbilder. In solchen Wahrnehmungen wirkte nicht zuletzt die im Ersten Weltkrieg eingeübte Dramatisierung und Eschatolisierung von Politik nach. Dabei wurde die Idee vom verräterischen Feind des Volkes, der wahlweise Jude, Bonze oder Ausländer sein konnte, gewissermaßen immer mitgedacht und geisterte in vielerlei – antisemitischer oder auch antirepublikanisch-populistischer  – Gestalt durch die Debatten der Weimarer Zeit. Das Denken in Führer und Gefolgschaft, in besonderer emotionaler Bindung an eine gemeinsame »Sache«, dachte den möglichen Verrat immer schon mit  ; der Verräter verriet eine Gemeinschaft oder eine Sache, die größer und wichtiger war als der Einzelne. Deshalb bildete die weit verbreitete Verratssemantik eigentlich nur die Kehrseite einer politischen Haltung, die alles verfahrensmäßig Demokratische negierte und in quasi natürlichen Kategorien von Volk, Führer und Gefolgschaft dachte.11 Auf dieser Klaviatur spielte die nationalsozialistische Propaganda mit wachsendem Erfolg. Als sich nach der »Machtergreifung« die innenpolitische Situation für die neuen Machthaber zusehends verschlechterte, war die deutsche Öffentlichkeit somit durch eine Phase heftiger politischer Auseinandersetzungen gegangen, in der der Verratsvorwurf weite Verbreitung gefunden hatte. Auf den ersten Blick hatte es sich dabei vornehmlich um Konflikte zwischen konkurrierenden politischen Strömungen gehandelt. Das sollte sich 1934 ändern.

Die Röhm-Affäre und ihre Vorgeschichte Norbert Frei hat mit Blick auf das Frühjahr 1934 von einer »Katerstimmung« gesprochen.12 Nach dem Machtgewinn und der großen Begeisterung über die neue Zeit, die damit angebrochen schien, machte sich nicht nur in bislang loyalen oder wenigstens nicht feindlich gesinnten Teilen der Bevölkerung, sondern auch in Teilen der Partei Ernüchterung breit. Den Beobachtern der Sozialdemokratischen Partei im Ausland (Sopade), die regelmäßig Berichte über die Stimmung in Deutschland zusammenstellten, entging das nicht. Im Bericht aus dem April 1934 notierten sie  : Der überraschend große äußere Erfolg der Gleichschaltung hat uns zunächst zu sehr geblendet, als daß wir hätten sofort erkennen können, wie unzulänglich die Machteroberung in Wirklichkeit gelungen war. Heute, knapp anderthalb Jahre nach dem Umsturz wird es klar, daß die Nazis nicht in der Lage sind, die wirklichen Machtpositionen zu 11 Mergel, Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. 12 Frei, Führerstaat, 9.

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besetzen und den Staat auf die Dauer wirklich zu beherrschen. Wer regiert heute wirklich in Deutschland  ? Sind es die Hitler, Göring, Goebbels und Röhm oder sind es nicht vielmehr die Schacht, Schmitt, Schwerin-Krosigk, Popitz usw., von der Reichswehr ganz zu schweigen  ? […] Die viel gerühmte Gleichschaltung entpuppt sich als das, was sie von Anfang an war  : ein grober Dilettantismus der Machteroberung. […] Diese eine Feststellung kann man schon heute treffen  : Die Stellung des Regimes in der Gesellschaft ist eine andere als vor einem Jahr. Nicht mehr im Angriff, sondern in die Verteidigung gedrängt sind die Nazis weiter von der Eroberung der wirklichen Machtpositionen entfernt als je, müssen sie sich mit dem Schein der äußeren Macht begnügen.13

Und dieser Stimmungsumschwung blieb auch der nationalsozialistischen Führung nicht verborgen.14 Das lag einerseits daran, dass die vielen Funktionäre der Partei ihre Eindrücke »nach oben« weitergaben, andererseits war die Bereitschaft der Unzufriedenen noch relativ groß, ihren Unmut deutlich zu äußern. Kleine Gewerbetreibende sahen ihre Interessen nicht genug berücksichtigt und beklagten die Konkurrenz durch mächtige Warenhäuser  ; die Einkommenssituation vieler Leute aus dem Mittelstand und der Arbeiterschaft blieb prekär  ; Arbeitslosigkeit bildete nach wie vor ein drängendes Problem  ; die zentrale Produktallokation im Bereich der Landwirtschaft war ineffizient und rief Proteste unter den Bauern hervor  ; Klagen über die knappe Versorgungslage kamen von allen Seiten, das betraf nicht nur private Haushalte, sondern auch die Industrie, der wichtige Rohstoffe für die Weiterverarbeitung fehlten  ; Staatsdiener in allen Bereichen der Verwaltung spürten den neuen Einfluss von Parteimitgliedern, die ihren Anspruch auf Einflussnahme häufig nicht nur ohne Sachkenntnis, sondern auch auf bevormundende und aggressive Art erhoben. Alles in allem sah die neue Regierung sich zu Beginn des Jahres 1934 deshalb mit einer schlechten Stimmungslage konfrontiert. Schon sprach Propagandaminister Goebbels davon, dass immer klar gewesen sei, »dass der Nationalsozialismus nur Zug um Zug« zu verwirklichen sei, und auf dem Wege dahin mit aller Macht gegen reaktionäre Kräfte und andere »Miesmacher« vorgegangen werden müsste. Dabei hatte Goebbels eine weitere Ursache für die zunehmende Kritik an den Verhältnissen unter der neuen Regierung gar nicht angesprochen  : die unberechenbare Brutalität, mit der Angehörige der mittlerweile auf mehrere Millionen Mitglieder angewachsenen SA zu Werke gingen.15 Junge Männer, die in der SA 13 Alle Zitate  : Deutschland-Berichte, 169–171. 14 Das Folgende nach Frei, Führerstaat, 9–16. 15 Die Forschung nennt unterschiedliche Zahlen. Vgl. zuletzt Herbert, Geschichte, 321, der von knapp vier Millionen ausgeht.

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eine Orientierung und Gemeinschaft versprechende Heimat suchten, waren in Scharen seit Beginn der 30er Jahre eingetreten und fanden nicht zuletzt in den gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den »Roten« und anderen Gegnern des Regimes eine eigene Lebensform, die ihnen ein Gefühl von Dazugehörigkeit vermittelte. Saufereien, Schlägereien und Übergriffe auf echte und vermeintliche Gegner gehörten zum Alltag und schufen eine Atmosphäre der Einschüchterung, die nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch bei unbeteiligten Beobachtern und selbst bei Anhängern der Nationalsozialisten auf Kritik und Ablehnung stießen. In dem Maße, wie sich die SA zu einer immer größeren und auch eigenständigeren Organisation entwickelte, deren Mitglieder keineswegs immer auch Parteimitglieder waren, vergrößerte sich die Distanz zwischen Röhms Untergebenen und der Partei sowie anderen Machtzentren im vielfältigen Netz der NS-Organisationen. Ihren Hauptgegner sollte Röhms SA allerdings in der Reichswehr finden, deren militärische Leitung ihren Führungsanspruch durch die braunen paramilitärischen Kampfverbände bedroht sah. Ernst Röhm selbst, der in der »Geschichte eines Hochverräters« sein Selbstverständnis als Soldat mit gefühligen Worten zum Ausdruck gebracht hatte, hegte militärische Ambitionen und forderte, seine Organisation als braune Volksmiliz führen zu können. Der Reichswehr machte Röhm nicht nur ihr Waffenmonopol, sondern auch ihre Existenz als Armee des Reiches streitig, weil er darauf drängte, dass die Reichswehr in der Armee der Braunhemden aufgehen sollte. Das Nebeneinander dieser Machtblöcke stellte Hitler vor loyalitäts- und machttaktische Probleme. Im Kern ging es um die Frage  : Was sollte mit den braunen Bataillonen nach der Machtübernahme passieren, wenn ihre Aufgaben im Straßenkampf der Weimarer Jahre erledigt waren  ? Ihr aggressives Auftreten, das in der »Bewegungsphase« den Nationalsozialisten Aufmerksamkeit und eine wörtlich zu nehmende Durchschlagskraft verschafft hatte, war jetzt nicht mehr gefragt. Dabei war diese »Dynamik« nicht nur ein Kennzeichen der SA, sondern der gesamten Bewegung gewesen. Es war jener »unermüdliche Organisationsaktivismus, der das eigentliche Identitätsmerkmal« auch » der NSDAP ausmachte«  : »Bewegung in Permanenz, Bewegung um ihrer selbst willen, Bewegung als ständiger Beweis vorwärtsdrängender Dynamik  : das war das Credo der NSDAP«.16 Welchen Stellenwert und welche Rolle sollten der SA als dem Fußvolk der »Bewegung« jetzt noch zufallen  ? Und wie konnte diese neue Rolle so ausfallen, dass die Reichswehr, auf deren Führung Hitler auch mit Blick auf die Kriegsvorbereitung angewiesen war, ihren Platz im Machtgefüge des »Dritten Reiches« behalten konnte  ? 16 Peukert, Die Weimarer Republik, 232.

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Im ersten Regierungsjahr zeichnete sich bereits ab, dass Hitler zur SA und zu Röhm auf Distanz ging. Zugleich aber näherte er sich der Reichswehr an und meinte, die SA ermahnen zu müssen, weiterhin »treu und standhaft hinter ihm zu stehen«.17 Spätestens Anfang 1934 erkannte Hitler wohl, dass er seinen »übermächtigen Untergebenen Röhm in die Schranken weisen« musste, weil dessen Machtanspruch zur Gefahr wurde. Dabei blieb unklar, wie das genau aussehen sollte. Und auch in der Reichswehrführung spielte man auf Zeit und wartete in dem Bewusstsein ab, dass es bald zu einer »entscheidenden Kraftprobe« kommen werde. Wahrscheinlich ordnete Hitler selbst eine Überwachung der SA an. Jedenfalls gab der Chef der Gestapo, Rudolf Diels, zu Protokoll, dass ihn Hitler im Januar 1934 gebeten habe, belastendes Material über SA-Ausschreitungen zu sammeln. Ab Ende Februar trug auch die Reichswehr eigene Erkenntnisse zusammen und leitete diese an Hitler weiter. Im April weitete die preußische Gestapo unter der Führung Himmlers und Heydrichs die Ermittlungen weiter aus. Im Kern ging es um den Verdacht, dass Röhm sowohl über geheime Auslandskontakte verfügte als auch mit dem ehemaligen Reichskanzler Kurt von Schleicher konspirierte, um seine Machtinteressen durchzusetzen. Im Frühsommer 1934 wurde die SA für Hitler damit zu einem Teil »der ersten drohenden Existenzkrise des NS-Regimes«. Die weit verbreitete Unzufriedenheit in der Bevölkerung, das tyrannische Auftreten der SA, verbunden mit der unklaren Machtverteilung zwischen SA und Reichswehr und der Befürchtung, die Konservativen in der Regierung könnten darauf abzielen, Hitler aus dem Amt zu bringen – die Zeichen mehrten sich, dass etwas geschehen musste, um einen Umschwung herbeizuführen. Zum entscheidenden Auslöser sollte eine Rede werden, die Vizekanzler Franz von Papen am 17. Juni an der Marburger Universität hielt. In ihr warnte von Papen vor der »Entartung des neuen Staates« und geißelte »Auswüchse«, die sich »unter dem Deckmantel der deutschen Revolution« ausgebreitet hätten. Auch warnte er vor einem »neuen Personenkult«  – ohne freilich Hitler direkt anzugreifen, was ihm wahrscheinlich das Leben rettete. Die Rede, die in Auszügen in der Frankfurter Zeitung abgedruckt wurde, glich einer Sensation. Gefahr für die Regierung Hitler, so schien es, drohte eben nicht allein von der machthungrigen SA, sondern auch von konservativer Seite. Entsprechend scharf äußerte sich Hitler auf einer Kundgebung deshalb gegen diese »Reaktionäre«  : »Wenn sie aber einmal versuchen sollten, auch nur im kleinsten von ihrer Kritik zu einer neuen Meineidstat zu schreiten, dann mögen sie überzeugt sein, was ihnen heute gegenübersteht, ist nicht das feige und korrupte Bürgertum des Jahres 1918, sondern das ist die Faust des ganzen Volkes«. Viele Beobachter gingen in der Folge 17 Das Folgende nach Kershaw, Hitler, 636–646.

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davon aus, dass ein Vorgehen gehen diesen politischen Gegner wahrscheinlicher war als ein Schlag gegen die SA. Druck kam in dieser Situation auch von der Reichswehr. Zeitgleich arbeiteten SS und Gestapo weiter an ihren Dossiers in Sachen SA, die davon sprachen, dass ein Putsch drohe, wobei gefälschte Beweise die Absichten Röhms belegen sollten. Gerüchte um eine bevorstehende Aktion erreichten Teile der Münchener SA. Es kam zu Tumulten in der Stadt, auf den Straßen skandierten SA-Mitglieder  : »Der Führer ist gegen uns, die Reichswehr ist gegen uns, SA heraus auf die Straße  !« Als Hitler davon erfuhr, soll er vom »schwärzesten Tag« seines Lebens gesprochen haben. Hitler ließ die Führung der SA zu einer Besprechung für den 30. Juni nach Bad Wiessee einbestellen. Dort nahm er selbst an der Verhaftung von Röhm und anderen SA-Mitgliedern teil. Während einige sofort exekutiert wurden, blieb Röhm vorerst am Leben, weil Hitler offensichtlich unschlüssig war, wie er mit ihm verfahren sollte. Auf Drängen, vermutlich von Himmler und Göring, stimmte er schließlich zu, dass Röhm sterben sollte, wollte ihm aber Gelegenheit zum Selbstmord geben. Nachdem Röhm von der ihm zur Verfügung gestellten Waffe keinen Gebrauch machte, wurde er in seiner Zelle von SS-Offizieren erschossen. Mit ihm starben in den Tagen um den 30.  Juni 1934 mindestens 150 Personen, von denen nicht alle Mitglieder der SA waren. Die Nationalsozialisten nutzten die Aktion zur Begleichung alter Rechnungen. Als die Vorgänge publik wurden, wirkten sie »wie ein Blitz aus heiterem Himmel«, wie die Deutschland-Berichte der Sopade vermerkten.18 Jetzt ging es um das, was in den Augen der nationalsozialistischen Führung wohl genauso wichtig war wie der Vorgang selbst – die richtige Deutung der Morde.

Botschaften  : Heroentum und Moral In weiten Teilen war die Inszenierung das, worum es eigentlich ging. Der besorgte »Führer«, die sich vermeintlich verdichtenden Vorboten des Verrats, die konspirative Vorbereitung des Enthauptungsschlages – hörte man Goebbels im Radio sprechen oder las einen seiner Propaganda-Artikel, so konnte man den Eindruck gewinnen, der Reichskanzler und seine Getreuen hatten einen Umsturz geplant – und nicht ihre Gegenspieler um den Führer der SA, Ernst Röhm. Goebbels Rundfunkansprache war ein szenischer Bericht, der an Dramatik kaum zu übertreffen war. Breit in den Zeitungen des Reiches abgedruckt, schil-

18 Deutschland-Berichte, 198.

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derte er die Ereignisse um den 30. Juni in dichten, den Führer als Heroen darstellenden Sequenzen  : Meine Volksgenossen und Volksgenossinen  ! Noch sehe ich den Führer um die Mitternachtsstunde des Freitagabend auf der Terrasse des Rheinhotel Dreesen in Godesberg stehen. Der Führer schaut ernst und nachdenklich in den dunklen Nachthimmel hinein und nimmt, mit erhobener Hand grüßend, die Begeisterungsstürme des rheinischen Volkes entgegen. Noch weiß niemand von all den vielen Menschen da unten, was unmittelbar droht. Auch von denen, die die oben auf der Terrasse stehen, sind nur einige wenige informiert worden. […] Kein Zucken in dem angespannten Gesicht verrät auch nur die leiseste innere Bewegung. Und trotzdem wissen wir paar Menschen, die wir jetzt wie in allen schweren Stunden bei ihm stehen, wie tief verwundet er in seiner Seele, aber auch wie fest er in seinem Entschluß ist, mit aller Erbarmungslosigkeit zu handeln und die reaktionären Rebellen, die, unter dem Stichwort einer zweiten Revolution an ihm und der Bewegung die Treue brechend, das Land in unabsehbare Wirren stürzen wollen, zu Boden zu werfen.

Nach dem gemeinsamen nächtlichen Flug nach München machte sich die Gruppe, Goebbels Bericht zufolge, im Morgengrauen auf den Weg zum Treffpunkt der SA-Führung nach Bad Wiessee  : Ohne Widerstand zu finden, können wir in das Haus eindringen und die Verschwörergilde noch beim Schlaf überraschen und sofort dingfest machen. Der Führer selbst nimmt die Verhaftungen mit einem Mut ohnegleichen persönlich vor. Es sei mir erspart die widerlichen und fast Brechreiz verursachenden Szenen zu schildern, die sich dabei unseren Augen bieten. Ein einfacher SS.-Mann faßt unsere maßlos empörte Stimmung in die richtigen Worte zusammen  : ›Ich wünschte nur, daß jetzt die Wände niederfielen und das ganze deutsche Volk Zeuge dieses Vorgangs sein könnte, um zu verstehen, wie gut der Führer daran tut, jetzt hart und ohne Gnade die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und sie ihr Verbrechen an der Nation mit dem Tode bezahlen zu lassen‹. Kurz nach der Verhaftung trifft eine Stabswache von Röhm aus München ein. Der Führer tritt ihr aufrecht und männlich entgegen und gibt ihr in einem Satz Befehl, augenblicklich die Rückfahrt anzutreten. Der Befehl wird sofort mit einem Heil auf ihn ausgeführt. […] Dann spricht der Führer vor den versammelten SA.-Führern und Politischen Leitern. Seine Rede ist ein einziges Strafgericht über die kleine Gilde der nunmehr dingfest gemachten Verbrecher. Sie haben die Ehre und das Ansehen unserer SA. durch ein Lotterleben ohnegleichen in Verruf und Mißkredit gebracht. Sie haben durch Protzentum und Schlemmereien

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den Gesetzen der Bewegung auf Einfachheit und persönliche Sauberkeit offen Hohn gesprochen. Sie waren im Begriff, die ganze Führung der Partei in den Verdacht einer schimpflichen und ekelerregenden sexuellen Abnormität zu bringen. Sie haben die Pläne des Führers, die auf weite Sicht eingestellt sind, durch engstirnige und böswillige Kurzsichtigkeit, nur ihren persönlichen Machtgelüsten zuliebe zu durchkreuzen versucht. […] Sein ganzes Leben gilt dem deutschen Volke, das ihn deshalb liebt und verehrt, weil er groß und gütig ist, aber auch erbarmungslos sein kann, wenn es notwendig wird. Der Führer pflegt alles, was er tut, ganz zu machen. Die ewigen Quertreiber aber mögen aus diesem Beispiel lernen, was es heißt, sich an der Sicherheit des deutschen Staates und an der Unantastbarkeit des nationalsozialistischen Regimes zu vergreifen. Wir sind weit davon entfernt, kleinliche Meckereien und Nörgeleien allzu tragisch zu nehmen. Wer sich aber bewußt und planmäßig gegen den Führer und seine Bewegung erhebt, der darf davon überzeugt sein, daß er ein leichtfertiges Spiel mit seinem Kopf treibt. Das Volk aber kann sich nur zu den Ereignissen des 30. Juni beglückwünschen. Die breite Masse unserer SA.-Kameraden, die mit dem verwerflichen Treiben der Verschwörerclique gar nichts zu tun hatte, darf davon überzeugt sein, daß jetzt an ihrer Spitze wieder eine Führung der Sauberkeit und des Anstandes steht. Der SS. und ihrer Führer gebührt höchstes Lob und der Dank der Nation für ihre vorbildliche Treue und Disziplin, die sie, wie so oft schon in schwierigen Situationen, auch hier wieder bewiesen haben. Dem Volk aber und der ganzen Welt sei es hiermit gesagt  : In ganz Deutschland herrscht Ruhe und Ordnung. Die öffentliche Sicherheit ist wiederhergestellt. […] Die Nation geht wieder an ihre Arbeit. Der Führer hat gehandelt. Die Früchte seines Handelns werden dem ganzen Volk zugute kommen.19

In dieser wie in anderen propagandistischen Aufbereitungen der Ereignisse wurden drei Motive immer wieder aufgegriffen und als Kernbotschaften erkennbar. Erstens das Heroentum Hitlers. Einsam und allein und dabei mehr wissend als alle anderen fällt der »Führer« die richtigen Entscheidungen und setzt sie höchst selbst in die Tat um. Er überwindet alle Hindernisse mit Mut, aber auch mit Leichtigkeit und setzt die entscheidenden Schläge. Die Darstellung von Hitlers entschlossenem Handeln und der Dankbarkeit der Bevölkerung formulierte ein Narrativ von Fürsorge und dankbarer Gefolgschaft, welches die Bindung zwischen Führer und Volk als Produkt der Abwehr verräterischer Umtriebe darstellte. Die Verräterfigur wurde zum bekräftigenden Element einer natürlichen Verbindung, die zwar immer bestanden hatte, aber jetzt durch Hitlers Handeln bekräftigt und gestärkt wurde. Die zweite Botschaft lautete, dass ein möglicher 19 Baruther Anzeiger, Nr. 78, 69. Jg., 03.07.1934, 1.

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Verrat und die Verräter angesichts der seherischen Fähigkeiten des Führers keine Chance haben konnten  – und keine Gnade erwarten durften. Vor allem aber ist, drittens, aufschlussreich, dass die eigentliche vermeintliche Verratshandlung zwar erkennbar wird, aber seltsam nebulös bleibt, nicht im Mittelpunkt steht und flankiert wird von breiten Schilderungen des Lebensstils der Verräter. Goebbels wie auch anderen NS-Kommentatoren ging es vor allem um die Legitimierung der Aktion. Was die Aktion rechtfertigte, war demnach aber nicht in erster Linie der im engeren Sinne politische Verratsvorwurf, der darin bestand, dass Röhm und seine SA-Männer einen Umsturz planten. Vielmehr zielte ein zentraler Vorwurf in der öffentlichen Darstellung auf die Frage der richtigen Lebensführung, zielte auf Fragen des vorbildlichen Verhaltens und Werte wie Sauberkeit, Bescheidenheit und ein heterosexuelles Privatleben. Was dem breiten Publikum damit vor Augen geführt wurde, waren – am Beispiel der SA ausgeleuchtet  – Verhaltensweisen, die die nationalsozialistische Ideologie eigentlich von jedem Deutschen erwartete. Damit wurden in der Inszenierung wichtige, propagandistisch weiterhin auszuschlachtende Elemente eines Sets an Verhaltensvorstellungen zum Ausdruck gebracht, die  – über den aktuellen Bezugsrahmen des Putsches hinaus – Kernvorstellungen vom richtigen Verhalten »guter Volksgenossen« enthielten. Im »Angriff«, der Berliner Gauzeitung der NSDAP, schilderte ein Autor am 2. Juli wie man sich das Betragen ordentlicher SA-Männer und »Volksgenossen« vorzustellen habe  : schien es aber denn nicht, dass nach der Machtübernahme die Regierungsgeschäfte, die Wirtschaftsfragen, die Außenpolitik in Summe Beschlag belegten, dass [Hitler] den unmittelbaren Kontakt mit dem Volke, mit dem kleinen Mann, verlor  ? fragten die Besorgten. Sie wussten nicht, wie genau der Führer sein Volk kennt. Sie hörten seine Reden und Gespräche mit den Unterführern nicht, mit denen er ihnen gleich nach der Machtübernahme die Gesetze des persönlichen Lebenswandels vorschrieb, mit einer Deutlichkeit, die sie nur ein Vater seinen Söhnen, mit einer Offenheit, wie sie nur ein Bruder seinen Brüdern gegenüber besitzt. Festessen, Diners, Amtsprotzereien, Luxussport, dies alles nannte er schon damals Todsünde gegen den Geist der Revolution. Er führte den Eintopf-Sonntag ein  – es war sichtbares Vorbild. Er blieb bei seinem schmucklosen Braunhemd – es war mehr als eine Geste. Er aß mit den Bauarbeitern der Reichskanzlei an einem Tisch – es sollte den Unternehmern ein Beispiel sein.20

Die Ermordung von Ernst Röhm und einiger seiner SA-Anhänger wurde von der NS-Propaganda maßgeblich dadurch gerechtfertigt, dass sie auf die Amo20 Der Angriff, Nr. 152, 8. Jg., 02. Juli 1934, 1 f.

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ralität der »Verräter« abhob. Zugleich erschienen damit auch ein bestimmtes Verhalten und eine bestimmte Lebensführung selbst als Verrat. In der kaum zu überblickenden Flut an öffentlichen Stellungnahmen, die die »Röhm-Affäre« nach sich zog, vermischte sich beides  : der eigentliche Vorwurf der hochverräterischen Verschwörung gegen den »Führer« und »sein Volk« und der Verrat als charakterloses Verhalten wider die Regeln der »Volksgemeinschaft«.

Schluss Am 3.  Juli bereits genehmigte das Reichskabinett das »Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr«. Dessen einziger Satz lautete  : Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens.21 Zuvor hatte Hitler dem Kabinett erläutert, dass im Angesicht der Gefahr, die von den Hochverrätern angeblich ausging, blitzschnelles Handeln geboten gewesen sei. Reichswehrminister Generaloberst von Blomberg dankte Hitler, den veröffentlichten Darstellungen zufolge, im Namen des Reichskabinetts und der Wehrmacht für sein entschlossenes und mutiges Handeln, durch das er das deutsche Volk vor dem Bürgerkrieg bewahrt habe.22 Auf einer machtpolitischen Ebene hatte Hitlers Vorgehen gegen die »Verräter« um Ernst Röhm vollen Erfolg. Die Machtbalance war zu Gunsten der Reichswehr und der SS und zu Ungunsten der SA, die eine neue Führung erhielt, in ein neues Verhältnis gebracht worden. Hitler selbst erschien als entschlossener und durchsetzungsfähiger Staatsführer. Zugleich bedeutete die »Niederschlagung« des »Verrats« auch einen weiteren Schritt auf dem Weg zur »nationalsozialistischen Diktatur, in der es […] hemmende Bindungen« an unterschiedliche Richtungen und deren Führer innerhalb der Bewegung nicht mehr gab.23 Die »Nacht der langen Messer« ist deshalb vor allem als eine strategische machtpolitische Aktion gedeutet worden. Und das zu Recht. Daneben war die Aktion allerdings auch ein Signal, ein öffentlichkeitswirksam gelenktes Medienund Propagandaspiel, in dem die NS-Führung Botschaften auszusenden suchte, die um die Figur des Verräters kreisten  : Indem Röhm und seine Getreuen als Verräter am deutschen Volk und seinem Führer Adolf Hitler gezeichnet wurden, gelang es der NS-Propaganda, Ordnungssehnsüchte und -vorstellungen aufzugreifen, die zum Teil auf Vorstellungen aus der Zwischenkriegszeit rekurrierten, 21 Deutsches Reichsgesetzblatt, Bd. 1934, Teil I, Nr. 71, 529. 22 Baruther Anzeiger, Nr. 79, 69. Jg., 05.07.1934, 1. 23 Herbert, Geschichte, 322.

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und zugleich jenes dynamische Moment gegenseitiger Beobachtung in Gang zu halten und zu bestärken, welches die gewaltsame, auf Abweichung und Verrat fokussierte Überwachungsmentalität der deutschen Gesellschaft in den Folgejahren prägen sollte. Die Identifizierung von Fremden, Feinden und Abweichlern in den eigenen Reihen war das wesentliche Moment einer Gesellschaft im Lauerzustand, die einen erheblichen Teil ihrer Energie darauf verwenden sollte, starke Gemeinschaftsgefühle über die Exklusion von Minderheiten und Verrätern am Volkswohl herzustellen. Quellen Baruther Anzeiger, Nr. 78, 69. Jg., 03.07.1934. Baruther Anzeiger, Nr. 79, 69. Jg., 05.07.1934. Der Angriff, Nr. 152, 8. Jg., 02. Juli 1934. Deutsches Reichsgesetzblatt, Bd. 1934, Teil I, Nr. 71, 529. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934–1940. Erster Jg. 1934, ND, Frankfurt a. M. 1980, 169–171.

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Massimiliano Livi

Verrat und Loyalität in Italien 1943–1945 Einleitung Bereits seit ihrer Gründung fand die Italienische Republik ihre symbolische Grundlage in der Widerstandserzählung gegen den Faschismus (die ›Resistenza‹, 1943–1945) und in einer Reihe von Ereignissen und Daten, welche zu (vermeintlichen) Gründungssymbolen einer jedoch nie völlig entwickelten zivilen Religion hätten werden sollen.1 Denn trotz ihrer prominenten Rolle in der Straßenbenennung und im Nationalkalender sind Daten wie der 25.  April 1945 (Befreiung Italiens und Ende des Zweiten Weltkrieges) und der 2. Juni 1946 (Geburtsdatum der Italienischen Republik) heute immer noch (ja sogar wieder  !) höchst umstritten. Besonders kontrovers (da sie mit Verrat verbunden werden) sind jene Daten, die den Anfang dieses ›Epos‹ definieren  : der 25. Juli 1943 und der 8. September 1943.2 Diese Daten sollen im Folgenden in ihrem Kontext etwas ausführlicher erläutert werden. Am 25. Juli 1943 gelang es dem italienischen König Viktor Emanuel III. mit der Unterstützung des ›Gran Consiglio del Fascismo‹, Benito Mussolini abzusetzen und festnehmen zu lassen. Dies war aufgrund der Landung der Alliierten auf Sizilien und der inzwischen desaströsen Kriegsführung, welche eine zunehmende Unzufriedenheit des italienischen Volkes zur Folge hatte, sowie dank der internen Krise des ›Partito Nazionale Fascista‹ (PNF) möglich geworden.3 Der umstrittene General Pietro Badoglio wurde der Nachfolger als Ministerpräsident. Obwohl er den Faschismus und sein Regime als überholt deklarierte, verkündete er am gleichen Tag die strategische Weiterführung der Allianz mit Deutschland und somit des Krieges. Anderthalb Monate später, am 8. September 1943, musste Badoglio allerdings diese Erklärung in einer Radioansprache zurücknehmen, da er selbst bereits am 3. des Monats den Waffenstillstand mit den Alliierten unterzeichnet hatte. 1 Vgl. Ridolfi, Le feste nazionali, 300. 2 Die Bedeutung der Daten ist so kontrovers, dass dem Thema der nationalen Spaltung und der darauffolgenden schwachen nationalen Identität eine Vielzahl an Publikationen und Studien gewidmet worden ist, vgl. unter anderem Di Nucci/Galli della Loggia, Due nazioni und Galli della Loggia, L’identità italiana, 176. 3 Vgl. Osti Guerrazzi, »La repubblica necessaria«, 9–12.

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Während dieser 45 Tage hatten die Deutschen ihre Militärpräsenz auf italienischem Boden zwischen den Alpen und Rom deutlich verstärkt und besetzten nun, nach dem 8. September, diese Territorien samt der Hauptstadt. Infolgedessen verließen Badoglio und der König fluchtartig Rom und suchten im bereits von den Alliierten befreiten Süditalien Zuflucht. Dies bedeutete die formelle und faktische Auflösung der italienischen Armee, die plötzlich ohne Oberbefehlshaber und überhaupt ohne Instruktionen dastand. Die Flucht des Königs und Badoglios wurde – so die historiographische Meistererzählung – von vielen Soldaten und Offizieren sowie von Zivilisten als Anlass genommen, sich in den Untergrund zu begeben und in unterschiedlichen Gruppierungen einen bewaffneten Widerstand für die endgültige Befreiung Italiens vom Faschismus und von der deutschen Besatzung zu organisieren. Wie im Folgenden noch deutlich werden soll, begriffen allerdings die meisten Italiener die Flucht des Königs und Badoglios als einen regelrechten Verrat an der Nation und am Volk. Fakt ist, dass der 8. September als der tragischste und zugleich umstrittenste Tag in der Geschichte Italiens wahrgenommen wird. In den Tagen nach der Bekanntgabe des Waffenstillstandes wurde Mussolini aus seinem Gefängnisort in den Bergen von deutschen Fallschirmjägern befreit und nach München gebracht. Nachdem er nach Italien zurückgekehrt war, konnte er in den besetzten Gebieten, also unter deutscher ›Schirmherrschaft‹, die sogenannte ›Repubblica Sociale Italiana‹ (RSI) als vermeintlich legitimen Rechtsnachfolger des italienischen Staates ins Leben rufen. Diese Republik war de facto eine von den Deutschen stark beeinflusste autonome Regierung mit Hauptsitz am Ufer des Gardasees, deren Hauptanliegen eine Neubelebung der faschistischen Ideale sowie die Weiterführung der legitimen Allianz mit Nazi-Deutschland waren. Nach der Landung der Alliierten in Salerno zwischen dem 9. September und dem 1. Oktober 1943 erkannten die Angloamerikaner an, dass das in Süditalien regierende Kabinett von Badoglio sich mit Deutschland im Krieg befand. Das Kabinett hatte am 13.  Oktober mit dem militärischen Einsatz des Nationalen Befreiungskomitees (›Comitato di Liberazione Nazionale‹  : CLN)4 Deutschland 4 Das CLN war eine Allianz aller wieder gegründeten antifaschistischen Parteien. Es koordinierte sowohl politisch als auch militärisch die inzwischen im Norden Italiens organisierten Gruppierungen des ehemaligen regulären Militärs und vor allem die freiwilligen Partisanengruppen im Kampf gegen die deutsche Besatzungsarmee und gegen die Truppen der RSI aus den befreiten Territorien heraus. Zu den wichtigsten der freiwilligen Partisanengruppen gehörten sicherlich die kommunistische ›Brigate Garibaldi‹ sowie die ›Brigate Giustizia e Libertà‹, der ›Partito d’Azione‹, die ihre Rolle sowohl in der aktiven Kriegsführung als auch in der Vorbereitung eines Volksaufstandes im ganzen Norden sahen. Die Widerstandsbewegung, bzw. die Befreiungsarmee, umfasste bis Ende des Krieges insgesamt ca. 310.000 kämpfende Männer und Frauen. Diese waren vor allem in Gue-

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den Krieg erklärt. Somit war die italienische Halbinsel nicht nur territorial und militärisch, sondern auch politisch und ideologisch endgültig zweigeteilt. Darauf folgten zweieinhalb Jahre bürgerkriegsartige Verhältnisse. Der ›Befreiungskrieg‹ des CLN ging symbolisch am 25. April 1945 zu Ende. An jenem Tag fand ein Volksaufstand in Mailand und Turin statt, nachdem bereits Bologna (21. April) und andere Städte befreit worden waren bzw. sich befreit hatten. Dies markierte das Ende eines über zwanzig Jahre andauernden faschistischen Regimes und eines fünf Jahre währenden Krieges. Trotz (oder vielleicht gerade wegen) des hochsymbolischen Sieges des CLN hinterließ die Spaltung nach dem 8. September 1943 tiefe kulturelle und politische Wunden in der italienischen Gesellschaft, die sich während der gesamten ›Ersten Republik Italiens‹ (1948–1992)5 auswirkten. Denn es gab eine nicht gerade unbedeutende Minderheit, welche sich bereits 1943 loyal gegenüber der RSI und Mussolini verhalten hatte und die Darstellung des Widerstandes als Gründungsmythos der Italienischen Republik ablehnte. Diese Lesart des Widerstandes wurde unmittelbar nach dem Krieg durch die neu gegründeten Institutionen und durch Intellektuelle, Politologen und Historiker favorisiert, die die Notwendigkeit anerkannten, diese Spaltung im nationalen Gefüge und im kollektiven Bewusstsein zu verringern.6 In diesem Kontext wurde ein patriotischer Mythos des zweiten ›Risorgimento‹ verbreitet7, d. h. des erneuten kollektiven Opfers für die Befreiung des Vaterlandes von einer fremden Herrschaft, welcher durch den Aufbau einer offiziellen Erinnerungskultur zu einer demokratischen Neubelebung des Patriotismus und der nationalen Zugehörigkeit hätte beitragen sollen. Hinzu kam die Entwicklung einer Rhetorik des antifaschistischen Kampfes als moralischer Hauptreferenz für die Republik. In der Tat bremste die rhetorisch erfolgreiche Strategie, auf dieser Basis eine harmonische nationale Identität aufzubauen, bereits ab 1947 eine objektive Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit und vor allem die Entstehung einer genuinen gemeinsamen kollektiven Erinnerungskultur. Ein Beispiel dafür ist wiederum die Auslegung jenes 25. Aprils, welche bis heute die politischen Mei-

rilla- sowie Sabotageaktionen involviert. Vgl. u. a. Gallo, For love and country  ; Pavone, Una guerra civile  ; Rusconi, Resistenza e postfascismo  ; Wilhelm, The other Italy. 5 Die Formulierung ›Erste Republik‹ ist eher eine politologische Definition. Diese bezeichnet vor allem die Dauer des politischen Parteiensystems, das im Widerstand seine politische Begründung fand. Vgl. Pasquino, The Birth of the »Second Republic«. 6 Paxton, Die fünf Stadien des Faschismus  ; Ciucci, Gli architetti e il fascismo. 7 Ponzani, Il mito del Secondo Risorgimento nazionale  ; Cooke, La resistenza come secondo risorgimento.

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nungen spaltet, ebenso wie die Hinrichtungen Benito Mussolinis und weiterer Faschisten ohne Verfahren, die auch auf lokaler Ebene Monate lang andauerten.8 Erst durch die tiefgreifende politische Krise der frühen 1990er Jahre9 und das Ende des Kalten Krieges wurde auf historiographischer Ebene eine neue differenzierte Auslegung der Ereignisse zwischen 1943 und 1945 praktiziert. Diese rezipierte – bzw. antizipierte zum Teil sogar – wissenschaftlich die entstehende heftige politische Debatte über das Erbe des Widerstandes in der Republik und vor allem über die Bedeutung der RSI in der politischen Kultur Italiens.10 Der historiographische Paradigmenwechsel wurde 1991 von Claudio Pavone gewagt, der als Erster nach streng wissenschaftlichen Kriterien die interpretative Kategorie des Bürgerkrieges für die Ereignisse nach dem 8. September 1943 benutzte, die auch bis dato nur von der neo- und post-faschistischen Publizistik verwendet wurde.11 Das Werk von Pavone zeigte nicht nur die Schwachstelle der republikanischen Rhetorik des Widerstandes, sondern vor allem ihre umstrittene Symbolik, welche jahrzehntelang ein nun deutlich sichtbares ideologisches (und gleichzeitig geographisches) ›divide‹ um die Wahrnehmung und die Aufarbeitung dieser Meistererzählung unterschwellig am Leben hielt und zugleich versteckte.12 Denn wenn südlich von Rom die Kriegserfahrung kurz und relativ undramatisch war13, wurde die Bevölkerung in den Territorien oberhalb der Gotenlinie härter und direkter in das Kriegsgeschehen verwickelt und gezwungen, sich nach dem 8. September 1943 gegenüber der deutschen Besatzung und

  8 Am Abend des 25. April versuchte Mussolini aus Mailand zu fliehen, wohin er selbst wenige Tage zuvor den Hauptsitz der Regierung versetzt hatte. Unter dem Druck, eine bedingungslose Kapitulation zu akzeptieren, versuchte er im Auto erst Como zu erreichen und dann, am nächsten Tag, von dort aus wahrscheinlich die Schweiz. Der Duce wurde aber bei Dongo am Comosee von einer Partisanenbande zusammen mit seiner Geliebten und einigen anderen faschistischen Hierarchen aufgehalten und festgenommen. Zwei Tage später, am 28. April, wurden dann die Festgenommenen von einem höheren Partisanenkommandanten ohne Prozess erschossen und nach Mailand transportiert, wo sie daraufhin auf dem Piazza Loreto öffentlich an den Füßen aufgehängt wurden. Vgl. Pavone, Le brigate Garibaldi nella Resistenza  ; Luzzatto, Il corpo del duce.  9 Fix, Italiens Parteiensystem im Wandel  ; Koff/Koff, Italy, from the First to the Second Republic. 10 Neri Serneri, A Past to Be Thrown Away  ?  ; Rusconi, Resistenza e postfascismo  ; de Felice, Mussolini l’alleato  ; Della Galli Loggia, La morte della patria  ; Lepre, La storia della repubblica di Mussolini. 11 Pavone, Una guerra civile. 12 Crainz, Autobiografia di una repubblica, 32. 13 Die Landung der Alliierten auf Sizilien und dann die Befreiung weiterer Territorien verschonten die süditalienische Bevölkerung größtenteils von Bombardierungen, Plünderungen und vor allem von Vergeltungsmaßnahmen und Morden seitens der Besatzer. Diese mildere Kriegserfahrung erklärt die verbreitete Nostalgie sowie die zum Teil wohlwollende Wahrnehmung eines Faschismus, der dort eine gewisse Modernisierung bewirkt hatte.

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vor allem der neugegründeten faschistischen Republik politisch und moralisch zu positionieren. Die Neubewertung der damaligen subjektiven bzw. kollektiven Reflexion über eine politische Positionierung dem Widerstand bzw. der RSI gegenüber ließ in den Jahren 2000–2001, also in der Hochphase des Berlusconismus, eine öffentliche Polemik entflammen14, welche durch eine Aufwertung der sozialrepublikanischen Vergangenheit auf die endgültige Legitimation der Ex/Post-Faschisten in der Regierung abzielte.15 Vor allem die Vereinbarkeit zwischen der Schwere des politischen Geschehens nach dem Waffenstillstand und der moralischen Subjektivität wurde daher in den Mittelpunkt der Polemik gestellt. Dabei spielte die Kategorie ›Verrat‹ bzw. die Konzeptualisierung des Begriffs in Bezug auf seine intrinsische Beziehung mit Loyalität und ideologischer Integrität keine marginale Rolle. Ganz im Gegenteil rückte diese als eine Art sowohl synchronisches als auch diachronisches argumentatives ›fil-rouge‹ dezidiert und prominent in den Mittelpunkt der Debatte.16 Jenseits der Bestätigung der (etwas plakativen) These Margret Boveris, dass der Verrat im 20. Jahrhundert beinahe allgegenwärtig sei17, hebt die neue historiographische Forschung der 1990er und der 2000er Jahre – aber auch die öffentliche politische Polemik – hervor, welche Komplexität und vielfältige Valenz diese Kategorie und ihre Konzeptualisierung gerade in der Zeit zwischen 1943 und 1945 annahm. Durch eine Rekonstruktion der dichotomischen Struktur des Verrats  : ›Wer hat wen verraten  ?‹, wird in diesem Beitrag eine ›archäologische‹ Arbeit über den 8. September 1943 geleistet, in der der Übergang von der Konzeptualisierung von Verrat als Bruch staatsbürgerlicher Loyalität dem Souverän gegenüber hin zu einem ambivalenten argumentativen Instrument der Legitimation bzw. Delegitimation von Seitenwechsel, Widerstand oder Kollaboration deutlich wird.18 14 Mit einer beunruhigenden Zuspitzung der Auseinandersetzung wie im Falle des neofaschistischen Ex-Ministers Francesco Storace, der vorschlug, die Lehrbücher für Geschichte neu zu schreiben, in  : Pedullà, Parole al potere. 15 Ciampi, Anche i ragazzi di Salò volevano un’Italia unita, La Repubblica, 15 ottobre 2001  ; Quella lettera che ha ispirato le parole di Ciampi su Salò, Corriere della Sera, 17 ottobre 2001  ; Tabucchi, L’Italia alla deriva. Critica alle dichiarazioni di Ciampi sui ragazzi di Salò, l’Unità, 21 ottobre 2001  ; Tutti Cavalieri, anche i combattenti di Salò. La proposta di An, Corriere della Sera, 24 novembre 2001  ; Urbani interviene su »Le Monde« e difende Ciampi dalle critiche di Tabucchi su Salò, Il Messaggero, 24 ottobre 2001  ; Veneziani  : »Riconosciuta la buona fede«, la Repubblica, 16 ottobre 2001. 16 Nur als Beispiel vgl. Vivarelli, La fine di una stagione, sowie Vivarelli, La lezione di una diatriba, 143–155. 17 Boveri, Der Verrat im 20 Jahrhundert. 18 Friedrich, The pathology of politics.

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Der König, der General, der Duce und die Italiener Gewiss ist es kein Zufall, dass diese Umwandlung u. a. durch die Delegitimierung der Monarchie ausgelöst wurde. Der König spielte zwar eine zentrale Rolle bei der Entmachtung Mussolinis19, die zu einer zeitweiligen Wiederbelebung der alten Verbundenheit der Beamten und teils der öffentlichen Meinung zur Krone führte. Jedoch wurde diese von vielen als die verspätete Geste einer mit dem Faschismus zu lange nachsichtigen Monarchie angesehen. Ferner waren sich spätestens nach dem 8. September, in einer Zeit der tiefsten politischen und militärischen Verwirrung, alle Akteure darüber einig, dass Viktor Emanuel III. und sein neuer Ministerpräsident Badoglio seit dem 25.  Juli einen Bruch des sogenannten »Treueids des Untertanen« begangen hatten, indem sie ihre Verpflichtungen zum Schutz und zur Hilfe des Volkes missachteten.20 Noch während der dramatischen 45  Tage von der Absetzung bis zum Waffenstillstand nahm in der Bevölkerung das Gefühl zu, verraten worden zu sein. Dieses wurde durch das Zögern des Königs und Badoglios in den Verhandlungen mit den Alliierten und mit den Italienern selbst hervorgerufen. Noch am Abend des 25. Juli erklärte Badoglio zwar, dass mit dem Fenstersturz Mussolinis der Faschismus überholt sei, aber er machte auch seine Intention deutlich, den Krieg weiterzuführen.21 Auch die von den Italienern ersehnte Entfaschistisierung wurde missachtet.22 In der Tat wurde in dieser Zeit der Faschismus in den befreiten Gebieten Italiens durch eine monarchische Autokratie ersetzt, welche auf der Armee, der Polizei und der ehemaligen faschistischen Bürokratie basierte.23 Vor allem Letztere ermöglichte, dass die Parteifunktionäre unbehelligt verschwinden oder sich reinwaschen konnten.24 Außerdem wurden die spontanen Demonstrationen der Freude und der Sturm auf die Symbole des Faschismus durch die Armee mit Gewalt unterdrückt.25 Sowohl die politische Zensur als auch die Rassengesetze blieben bestehen, und die Register mit den Namen der italienischen Juden wurden nicht vernichtet. Der König lehnte in dieser Phase jede Kollaboration mit den prä- und antifaschistischen Kräften ab. Er verbot dabei die Neugründung der politischen Parteien und bevorzugte auch deswegen Pietro Badoglio, den früheren Spitzenmilitärof19 De Felice, Mussolini l’alleato, 1236. 20 Boveri, Der Verrat im 20 Jahrhundert, 15. 21 Zit. in  : Candeloro, Storia dell’Italia moderna, 192–193. 22 Gagliani, La strana defascistizzazione del 25 luglio 1943. 23 Mack Smith, Storia d’Italia dal 1861 al 1997, 561. 24 Pavone, 1943, 95  ; Woller, I conti con il fascismo  ; Canosa, Storia dell’epurazione in Italia. 25 Mit dem erschreckenden Resultat von 83 Toten, 308 Verletzten, 1553 Festgenommenen  ; Gagliani, La strana defascistizzazione del 25 luglio 1943.

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fizier von Mussolini, als neuen Ministerpräsident. Gewiss lag das Zögern, eine radikale Veränderung zuzulassen, auch in den bevorstehenden Entscheidungen bezüglich des Krieges begründet. Obwohl in der Casablanca-Konferenz eine bedingungslose Kapitulation Italiens beschlossen wurde, verhandelte die savoyische Diplomatie im Geheimen mit den Alliierten bis zum 3.  September 1943 über den Waffenstillstand und den Frontwechsel. Diesen und die weiteren Auflagen der Kapitulation26 hielt die Regierung wiederum fünf Tage lang den Italienern vor. Erst am Abend des 8. Septembers, unter dem Druck der Amerikaner, sah sich Badoglio gezwungen, die Nachricht öffentlich zu machen. Dies geschah durch eine aufgezeichnete Radioansprache, welche über die Unmöglichkeit, den ungleichen Kampf gegen die erdrückende gegnerische Macht fortzusetzen berichtete.27 Die Nachricht setzte mit dem generischen Hinweis fort, dass allerorts alle Handlungen italienischer Einheiten gegen anglo-amerikanische Kräfte eingestellt werden müssen. Auf mögliche Angriffe von jedweder anderen Seite [gemeint sind Deutsche, M. L.] haben die italienischen Streitkräfte jedoch zu reagieren.28 Da sich Badoglio und der König zum Zeitpunkt der Ansprache auf der Flucht nach Brindisi über Pescara befanden, war das Auseinanderfallen der italienischen Armee nicht mehr zu kontrollieren. Im Endeffekt kam die Nachricht sehr überraschend, und keine Institution im Lande hatte dafür gesorgt, Bevölkerung und Streitkräfte auf ein solches Ereignis und vor allem auf seine Konsequenzen vorzubereiten. Eine Konsequenz davon war die Festnahme der Mehrheit der Einheiten, die in Mittel- und Norditalien ebenso wie im Ausland operierten. Diesbezüglich ist das Massaker von 5.200 Soldaten der italienischen Division ›Acqui‹ auf Kephallonia beispielhaft.29 Im Inland begriffen vor allem die einfachen Soldaten den Waffenstillstand als das Ende des Krieges und aller militärischen Operationen.30 Die meisten warfen die Uniform weg und gaben mit ihr die eher vage Aufgabe auf, die Bevölkerung nun vor den Deutschen zu schützen. Tatsächlich blieb sogar die Hauptstadt wehrlos und wurde sofort von der Wehrmacht im Rahmen des ›Falls Achse‹ besetzt, nachdem bereits im September das gesamte Norditalien unter deutscher Kontrolle stand.31 Für die zivile Bevölkerung in diesen

26 Candeloro, Storia dell’Italia moderna, 205. 27 Aga-Rossi, Una nazione allo sbando. 28 Italienischer Text in Tamaro, Due anni di storia 1943–45, 590–593. 29 Schminck-Gustavus, Kephalloniá, 1943–2003  ; Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943–1945. 30 Pavone, 1943. 31 Die Deutschen bewegten in den Tagen zuvor in ganz Italien 18 Divisionen  ; O’Neill, A democracy at war, 185.

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Gebieten bedeutete der Waffenstillstand eine bittere Enttäuschung, und zwar die erneute Fortsetzung des Krieges, welcher bald zum internen Krieg wurde.32 Die Faschisten, die weiterhin Mussolini folgten, bezeichneten die Handlungen Badoglios und des Königs als Erste als Verrat. Nach seiner Befreiung erklärte Mussolini, kein Italiener sei derart verraten worden wie er.33 Er fühlte sich allerdings auch von jenen Italienern verraten, die seine imperialen Träume zerstört hatten. Der König war für Mussolini der schlimmste Verräter überhaupt. In seiner Münchener Ansprache vom 18. September 1943 hielt er dem König vor, das Vaterland getötet zu haben, um die Zukunft der Krone zu retten.34 Mussolini bezeichnete den ›Putsch‹ vom 25. Juli als die gewollte Zerstörung des gesamten Wertesystems des neuen Staates bzw. die Zerstörung des faschistischen Vaterlandes, wovon er eine zentrale Institution war.35 Das alles bedeutete für ihn die eindeutige Entbindung aller Italiener vom Treueid zum König und die Bekräftigung des Eides ihm gegenüber. Somit formulierte er nicht nur die zentrale Idee des sogenannten ›Mythos des Verrats‹, das Hauptargument der Propaganda der RSI, sondern er schuf eine politisch-ideologische Grundlage für die bevorstehende Errichtung der faschistischen Republik von Salò. Mit seiner Deutung des Königs als Verräter stand Mussolini nicht allein da. Gaetano Salvemini, einer der wichtigsten Antifaschisten, betrachtete die Handlung Viktor Emanuels III. ebenfalls als einen hinterlistigen Verrat, wenn er auch gegen ein Bandit wie Hitler verübt wurde, mit der Konsequenz, dass  – so Salvemini  – ein Übeltäter kein Gentleman wird, wenn er einen anderen Übeltäter verrät.36 Gemeint war damit, dass im Mai 1939 das Bündnis mit Deutschland sowohl vom Monarchen als auch von Marschall Badoglio selbst unterzeichnet worden war. Die beiden Verräter hatten somit – für die Antifaschisten – das Bild der Italiener als unzuverlässige Partner bekräftigt.37 Im Übrigen war es in der ›Resistenza‹-Bewegung eine verbreitete Meinung, dass Badoglio und der König mit ihrem Verhalten nicht nur die Deutschen, sondern auch die Amerikaner verraten hatten.38 Die Alliierten hatten ihrerseits schon lange diesen Eindruck. Sie misstrauten Badoglio und dem König, die mit ihrer Flucht ihr Volk verraten hatten, zutiefst. Besonders negativ beurteilten die Alliierten aber ihr Zögern, den Waffenstill32 Pavone, 1943, 90. 33 Pavone, Una guerra civile, 59. 34 Rede von Benito Mussolini aus München vom 18.9.1943 in Tamaro, Due anni di storia 1943–45, 590–593. 35 Ebd. 36 Salvemini zit. in Merola (a cura di), G. Salvemini, Lettere dall’America 1944–1946, 53–54. 37 Ebd. 38 Tutto il potere al CLN, in »Italia Libera«, 28.01.1944.

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stand zu unterzeichnen, und das darauffolgende Schweigen Badoglios. Dieser war zunächst der festen Überzeugung, Italien hätte um Hilfe beim Gegner bitten können, ohne zuvor zu kapitulieren  ; nach der Unterzeichnung glaubten er und der König, noch genug Spielraum zu haben, den Waffenstillstand zu revidieren. Dieses Vorgehen wurde sowohl von der Angst diktiert, zwischen Alliierten und Deutschen eingekesselt zu werden, als auch durch die Überschätzung seiner Vermittlungsfähigkeit. Diese Oberflächlichkeit führte bei den Alliierten, die Badoglio weiterhin als Feind betrachteten, zu weiterem Misstrauen gegenüber Italien.39 Obwohl in der Literatur auch die Perspektive eines ursprünglichen deutschen Verrats an Italien nicht vernachlässigt wurde40, steht es außer Zweifel, dass Badoglio und der König mit dem Waffenstillstand in erster Linie die Allianz mit dem Dritten Reich verraten hatten. Diese waren allerdings für die Deutschen bereits nach dem 25.  Juli Treubrüchige.41 Deswegen überraschte der Waffenstillstand des 8. Septembers die Deutschen nur bedingt und hatte hinsichtlich der Entscheidung, Italien zu besetzen, keine große Bedeutung mehr.42 Gleichwohl waren die von Hitler getroffenen Maßnahmen viel weniger drastisch, als sich Goebbels dies gewünscht hätte, da Mussolini mit der RSI eine politisch autonome, allerdings militärisch von Deutschland abhängige Regierung aufbauen konnte.43 Die Befreiung Mussolinis und die Errichtung eines neuen faschistischen Regimes waren für Hitler selbstverständlich wichtig, auch um seine Position in der Achse und in Deutschland zu stärken.44 Seinerseits erneuerte Mussolini seine absolute Loyalität gegenüber dem Führer. Denn das unverhoffte Hilfsangebot Hitlers bedeutete für Mussolini die Chance, bei allen Einschränkungen, einen neuen faschistischen Staat zu errichten, der frei von den Banden der Monarchie war.45 Aus diesem Grund beurteilte Mussolini die deutsche Präsenz in Italien als militärische Gewährleistung der RSI  ; als Gegenleistung garantierte er den Nationalsozialisten zur Bekräftigung der Allianz

39 Pavone, 1943, 91 und O’Neill, A democracy at war, 185  ; Candeloro, Storia dell’Italia moderna, 207. 40 In Hinblick auf eine Unterschätzung des militärischen Theaters im Mittelmeer und vor allem auf die verfehlte militärische Unterstützung Italiens in Sizilien in der Zeit nach der Landung der Alliierten, vgl. Kuby, Verrat auf deutsch. 41 So z. B. Joseph Goebbels in seiner Aufzeichnung vom 10.9.1943, Goebbels/Reuth, Tagebücher. 42 Hierzu vgl. Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik in Norditalien, 48–54  ; Deakin, Die brutale Freundschaft, 248. 43 Vgl. Klinkhammer, L’occupazione tedesca in Italia 1943–1945  ; für eine Auflistung der Besatzungsund Kollaborationstypologien vgl. Hoffmann, Collaborationism in France during World War II. 44 Vgl. die Aufzeichnung vom 11. September 1943 in Goebbels/Reuth, Tagebücher. 45 Fioravanzo, Mussolini e Hitler, 70.

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die Unterstützung aller Faschisten.46 Die einschneidenden Folgen dieses Paktes wurden vor allem nach dem 13. Oktober 1943 sichtbar. Die formelle Kriegserklärung der Regierung Süditaliens an Deutschland bedingte eine deutliche Verschärfung der gemeinsamen Vergeltungsmaßnahmen von Nationalsozialisten und faschistischen Milizen gegen die zivile Bevölkerung und die italienischen Juden als Reaktion auf die Partisanenaktionen.47 Für die italienischen Juden war die neue politische Lage besonders folgenschwer, da diese u. a. den Beginn ihrer Deportationen bedeutete.48

Die Loyalitätsfrage oder  : Wer hat wen verraten  ? Bereits die Darstellung der unterschiedlichen Argumentationsmuster aller Beteiligten zeigt, welche ambivalente argumentative Dimension die Kategorie Verrat annahm, als das Prinzip der staatsbürgerlichen Treue gegenüber dem Souverän an Eindeutigkeit und sogar Verbindlichkeit verlor. Daher verwundert es nicht, dass auch die Kategorie Loyalität zu einem ambivalenten Deutungsmuster avancierte. Nach dem 8. September rückte dieser Begriff in den Mittelpunkt des politischen Konfliktes. Unterschiedliche Akteure versuchten damit, die eigenen Handlungen zu begründen. Allerdings galt es nun auch für die Italiener insgesamt Position zu beziehen und die eigene Loyalität entweder zu bekräftigen oder neu zu definieren. Der Zusammenbruch der Armee, der Institutionen und der Verwaltung sowie die Flucht der neuen Regierung und des Königs aus Rom bedeuteten für die Italiener nämlich eine tiefe Desorientierung gegenüber einer nun nicht mehr offensichtlichen legitimen Autorität. Diese Desorientierung wurde dadurch verstärkt, dass die ganze italienische Gesellschaft durch zwanzig Jahre Faschismus an eine totale Bindung zum Staat und zu dessen Gehorsamssystem von ›Zucht und Ordnung‹ gewöhnt war. Daraus folgten »Ungewissheiten, Anwandlungen und Ängste«49, die teilweise zu konfusen Loyalitätsgefühlen und tragischen Episoden führten. 46 Nach der Analyse von Dianella Gagliani stellte die RSI im Vergleich zu anderen Ländern eine deutlich komplexere Dimension des Kollaborationismus dar. Gagliani, Il ruolo di Mussolini nella Repubblica sociale italiana e nella crisi del 1943–1945, 157–158. 47 Bis Ende des Krieges starben insgesamt circa 20.000 Zivilisten, die Hälfte davon Juden, wegen Repressalien und Vergeltungsmaßnahmen. Unter den Partisanen starben ca. 45.000 im Kampf, weitere 21.000 wurden kriegsversehrt und ca. 40.000 (vor allem Soldaten) starben in deutschen Konzentrationslagern. Vgl. Andrae, La Wehrmacht in Italia. 48 Sarfatti, Gli ebrei nell’Italia fascista. 49 Crainz, Autobiografia di una repubblica, 33.

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Auf Sardinien versuchte z. B. ein höherer Offizier der Marine, der stellvertretende Generalstabschef Bechi Luserna, die Offiziere von zwei Abteilungen seines Regiments zu überzeugen, sich im Namen des Treueeids zum König nicht der dort stationierten 90. Panzergrenadier-Division anzuschließen. Diese lehnten allerdings die Legitimität der Befehle der Regierung Badoglios ab, die nun feindlichen deutschen Kommandos und Abteilungen schnellstmöglich aus der Insel zurückzudrängen50 und erschossen daraufhin Bechi Luserna als Verräter am ›Duce‹ und seinen deutschen Verbündeten.51 Das umgekehrte Beispiel gaben ca. 600.000 italienische Soldaten, welche die Eingliederung in die Wehrmacht im Namen ihrer Loyalität zum König ablehnten.52 Als Konsequenz wurde ihnen der Status von Kriegsgefangenen verweigert, und sie wurden als ›Italienische Militärinternierte‹ eingestuft – eine eher leere Begriffsbestimmung, die nur zur Unterscheidung von den jüdischen und den sowjetischen Gefangengen diente.53 Die Schwierigkeit, eine reflektierte Position einzunehmen und somit die eigene Verbindlichkeit konsequent zu legitimieren, zeigte sich aber weniger in diesen tragischen Episoden. Vielmehr wird sie in der oftmals zurückhaltenden Reaktion eines großen Teils der Bevölkerung sichtbar. Im Kontext des totalen Krieges und der unmittelbaren Beteiligung der Bevölkerung am Geschehen des Bürgerkrieges, distanzierten sich zwar viele Italiener in den besetzten Territorien mehr oder weniger erkennbar vom (neuen) Regime, aber die meisten standen trotzdem einem direkten Engagement im Widerstand zurückhaltend gegenüber.54 Darunter waren auch viele Soldaten, die sich nicht in die Armee der RSI eingliedern ließen, aber sich auch nicht mit den Partisanen zusammenschlossen.55 Nichtsdestotrotz ist es ein Fehler – der auch den Nationalsozialisten unterlief – die Italiener in der RSI als überzeugte Faschisten zu betrachten. In vielen Fällen verhinderten die diffusen politischen Verhältnisse und vor allem die Zersetzung von Staat und Nation eine bewusste Entscheidung im antifaschistischen Sinne. Zugleich war die Zurückhaltung dem Widerstand gegenüber auch die Folge von zwanzig Jahren Mussolini-Regime. Der Faschismus hatte durch die ständige ›Steuerung und Führung‹ der öffentlichen Meinung und trotz seines Anspruchs auf Massenpolitisierung eine weitgehende Entpolitisierung der italienischen Gesellschaft bewirkt. Ferner fand auch in der Sozialre50 Tedde/Sanna, Un ufficiale scomodo, 64. 51 Cannas, Radio brada  : 8 settembre 1943, 31. 52 Peli, La Resistenza in Italia, 178. 53 Hierzu Avagliano/Palmieri, Gli internati militari italiani  ; Giulianelli, La prigionia dei militari italiani nella Germania nazista. 54 Anders als die Meistererzählungsthese der bewussten Befreiungsbewegung und des Volksaufstands, vgl. Focardi, La memoria della guerra in Italia, 92. 55 Crainz, Autobiografia di una repubblica, 36.

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publik ein großer Teil der Bevölkerung aufgrund einer Mischung aus Ergebung und einem Mangel an ethisch-politischen Enthusiasmus einen ›modus vivendi‹, welcher die Typologie der afaschistischen Italiener prägte.56 Bei den Italienern, die doch eine bewusste und deutliche Entscheidung trafen, war diese durch ein Zusammenspiel von ethisch-politischen Gründen und Sorgen um die Zukunft Italiens bedingt. Dies gilt, bei allen Relativierungen, sowohl für die Partisanen als auch für die Unterstützer der RSI. Wie schon Margret Boveri bemerkte, wurde zu dieser Zeit und wahrscheinlich so stark wie nie zuvor in Italien das Verräterische zum Heldenhaften und umgekehrt, weil die Entscheidung der Verbindlichkeit des eigenen Gewissens folgt.57 Im besetzten Italien wurde die Formulierung einer Entscheidung für viele zur subjektiven Gewissensfrage. Diese wurde sehr unterschiedlich ausgelegt, nicht zuletzt in Bezug auf das Problem der bis dato geltenden doppelten Loyalität gegenüber der Monarchie und dem Faschismus. Während des Regimes hatten beide Instanzen mehrmals einen Eid verlangt, den beinahe jeder Italiener als Soldat, Beamter oder sonstiger Angestellter im öffentlichen Dienst sowie als Mitglied in einer der unzähligen faschistischen Organisationen sowohl dem König als auch dem ›Duce‹ gegenüber abgelegt hatte. Nach dem 8.  September war es dann ebenso notwendig wie schwierig eine Entscheidung darüber zu treffen, welcher der zwei nun nicht mehr kompatiblen Eide als vorrangig zu erachten und gegenüber dem eigenen Gewissen anzuwenden war. Dabei war die Forderung Mussolinis nach einem neuen Eid und seiner Präzisierung, dass eine Ablehnung einem Verrat entsprach, sicherlich keine Hilfe.58 Ganz nach dem Modell, dass »die Ideologie, mit der sich ein Staat identifiziert, zudem einem schnelleren Wechsel unterworfen ist als etwa die Identifikation des Staates mit einem (erblichen) regierenden Fürstenhaus«59, betrachteten die Gegner der RSI den Eid als Beweis der endgültigen Aufhebung des ursprünglichen faschistischen Eids. Der CLN erklärte dabei jeden Italiener als Verräter, der ihn nun ›ex novo‹ abgelegt hatte.60 Sogar der König befand sich in der Position, Personen des Verrats zu beschuldigen, welche den deutschen und den sozialrepublikanischen Forderungen nachgegeben hätten. Dies geschah aus der Perspektive heraus, dass der König im Endeffekt weiterhin Staat

56 Pavone, Una guerra civile, 245 und Pavone, 1943, 93. 57 Vgl. ›Verrat als Massenware‹, in  : Der Spiegel, 12.9.1956, 41. 58 Für die Formel des neuen Eids, vgl. u. a. de Felice, Mussolini l’alleato, 634. 59 ›Verrat als Massenware‹, in  : Der Spiegel, 12.9.1956, 42. 60 Vgl. die Zeitungsartikel La storia del preteso tradimento, in  : Riscossa Italiana, 20.10.1943  ; Un documento d’infamia, in  : Risorgimento Liberale, 29.10.1943  ; Il caso dell’Ungheria, in  : Risorgimento Liberale, aprile 1944  ; Non c’è tradimento, in  : L’azione, 20.11.1943.

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und Vaterland verkörperte  ; der ›Duce‹ hingegen nur die Regierung und das Regime darstellte.61 Vor dieser ambivalenten Entscheidung befanden sich u. a. Tausende von Jugendlichen in den Gebieten der RSI, die von der neuen Wehrpflicht betroffen waren. Trotz Androhung der Todesstrafe desertierten viele junge Männer oder schlossen sich Partisanengruppen an  ; viele andere entschieden sich allerdings bewusst für die RSI.62 So auch ca. 100.000 Soldaten, die sich unmittelbar nach dem 8.  September zunächst der Wehrmacht und dann den republikanischen Milizen anschlossen.63 Eine Reihe ehemaliger Monarchisten schloss sich wiederum deswegen dem der RSI an64, weil sie eine Einschätzung von Mussolini teilten  : Wenn eine Monarchie ihre Aufgaben verfehlt, verliert sie den Grund zu Überleben.65 Allerdings ließ sich diese Entscheidung für die Republik auch als Entscheidung für den Faschismus deuten. Denn Mussolini betrachtete die RSI nicht als die neue Republik der Italiener, sondern als die Republik der (wahren) Faschisten. Nach der Devise, dass der Verrat uns, unter so vielen Missgeschicken, die Möglichkeit gegeben hat, die großen Wahrheiten des Faschismus glänzen zu lassen,66 sahen viele Faschisten in der Gründung der Republik nicht nur die Möglichkeit, die Ehre des Vaterlandes, sondern auch jene des Faschismus zu retten. Die faschistische Identität, ihre Bestätigung bzw. ihre Neufindung rückte in den Mittelpunkt der ideologischen Gründung der RSI. Die Republik sollte an die revolutionären Ursprünge des Faschismus anknüpfen und daher politisch und militärisch besonders intransigent sein. Dies hatte einerseits die Rückgewinnung des deutschen Vertrauens, andererseits die politische Entwurzelung der alten Mächte (Monarchie und Armee) zum Zweck.67 Sein erster Schritt war daher die Neugründung der aufgelösten PNF als ›Partito Fascista Repubblicano‹ (PFR), samt der dazu gehörenden faschistischen Miliz, der sogenannten Schwarzhemden.68 Beide Maßnahmen fungierten gleichzeitig als Abzählung der Getreuen im Lande und als Zeichen des allgemeinen Misstrauens den ›restlichen‹ Italienern gegenüber. Denn bereits in der Radioansprache und dann in 61 Für Informationen über den Eid vgl. Pavone, Una guerra civile, 49 ff. 62 Pavone, Una guerra civile, 227  ; vgl. auch Giulianelli, La prigionia dei militari italiani nella Germania nazista  ; Melloni, Ottosettembre 1943  ; Quartermaine, Mussolini’s last republic. 63 Ilari, Storia del servizio militare in ltalia, 44  ; Meldi, La Repubblica di Salò. 64 Für eine detailliertere Beschreibung der Gründe vgl. Scipione Rossi, Mussolini e il diplomatico. 65 Münchener Radioansprache von Mussolini vom 18.9.1943, Abschrift in Tamaro, Due anni di storia 1943–45, 590–593. 66 Brief eines Ex-Kapitäns des aufgelösten Heeres an Mussolini, zit. in Pavone, Una guerra civile, 36. 67 Gentile, Fascismo, 235–264. 68 Dazu eine kurze, aber sehr nützliche Beschreibung in Leoni, Storia dei partiti politici italiani, 468– 478.

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den sogenannten Tagesordnungen erklärte Mussolini, dass sich die neuen Republikaner durch die unbedingte Bereitschaft zum Kampf gegen innere Feinde auszeichnen müssten.69 Mit dem Ausdruck ›innerer Feind‹ waren in erster Linie die ›Verräter‹ des 25. Juli gemeint, angefangen mit Galeazzo Ciano. Ciano hatte als Minister und Botschafter des Regimes fungiert. Vor allem aber war er der Schwiegersohn Mussolinis. Ohne Rücksicht darauf erklärte dieser aber Ciano zum obersten Verräter und ließ ihn hinrichten. Für Mussolini kam deswegen nur die härteste Strafe in Betracht, weil er aus Sicht des ›Duce‹ zugleich den Faschismus, die Nation, Deutschland und seine eigene Familie verraten hatte.70 Nach der gleichen Logik wurden nicht nur aktive Partisanen, sondern alle Italiener, die sich gegenüber der Widerstandsbewegung passiv verhielten, zu inneren Feinden deklariert. Mit dieser Entgrenzung der Verratsvorwürfe gegen jeden, der nicht tätig den Widerstand bekämpfte, legitimierten die ›repubblichini‹ die Massaker von Wehrmacht und Waffen-SS an Zivilisten.71 Wer sich für die Miliz, die Schwarzhemden, entschied, konnte also davon ausgehen, dass er in erster Linie gegen die feigen und abtrünnigen Antifaschisten kämpfen würde.72 Auf die Einsetzung der CLN-Brigaden in Norditalien im Oktober 1943 reagierten die republikanischen Milizen mit harten Vergeltungsmaßnahmen gegen Partisanen, zumeist im Verbund mit Wehrmacht und SS. Beispiele dafür waren die Massaker im Dorf Sant’Anna di Stazzema im August 1944 mit über 1000 Toten, in Marzabotto im September 1944 mit 560 Toten und in Rom im März 1944 mit 335 Toten.73

Schlussbetrachtungen Die aufgeführten Beispiele zeigen, wie sich das Deutungsmuster ›Verrat‹ entgrenzte, wenn es sich nicht länger auf Treubruch gegenüber dem Souverän bezog. Während der unübersichtlichen Lage in Italien zwischen 1943 und 1945 fungierte Verrat als argumentatives Instrument zur kollektiven Legitimation bzw. Delegitimation von Autorität und Loyalität. Die Entgrenzung zeigte sich 69 Tagesordnung 4 in Tamaro, Due anni di storia 1943–45, 586–587. 70 Fioravanzo, Mussolini e Hitler, 72–77. 71 Hierzu Gagliani, Il ruolo di Mussolini nella Repubblica sociale italiana e nella crisi del 1943–1945, 159–161. 72 Briefe von Soldaten der RSI zit. in Pavone, Una guerra civile, 242. 73 Klinkhammer, Stragi naziste in Italia  ; Paoletti, Sant’Anna di Stazzema  ; Schreiber, La vendetta tedesca 1943–1945. Vgl. die Auflistung von deutschen Vergeltungsmaßnahmen in Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik in Norditalien, 1943 bis 1945, 451–462.

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daran, dass Verrat nicht länger nur zwei Subjekte betraf – den Verräter und den Souverän – sondern in ganz unterschiedlicher Weise alle möglichen Vertrauensverhältnisse in der Gesellschaft in Frage stellte. In den Beispielen wurde deutlich, dass diese Entgrenzung des Verrats gleichzeitig auch eine Neubegründung der ›Loyalitätskoordinaten‹ erforderte. Beide Deutungsmuster – Verrat und Loyalität  – waren untrennbar aufeinander bezogen. Das zeigte sich auch daran, dass beide Muster mit ähnlichen Semantiken aufgeladen wurden, nämlich mit Semantiken der Emotionalität und des Betrugs. Die emotionale Komponente in der Definition der eigenen Positionierung vermischte nicht nur die Ebene kollektiv/subjektiv bzw. öffentlich/privat, sondern verlagerte auch die Bedeutung der Handlung – z. B. die Handlungen Badoglios oder des Königs, aber auch die Cianos oder Grandis in das semantische Feld des Betruges.74 Wie in einer Ehe brach mit dem Betrug die Beziehung zusammen, und alle Parteien waren gezwungen, sich neu zu positionieren, da »der Betrug einen Umbruch in der Geographie der Positionen verursacht, die die Menschen in der Beziehung haben. Der Betrug produziert nicht nur Emotions-, sondern auch Identitätsverschiebungen, welche eine Re-Komposition der Karten erfordern«.75 Aus der Perspektive dieser abschließenden Beobachtung wäre eine empirische Vertiefung dieser Überlegungen in Bezug auf eine Verortung der diffusen Definition von Verrat, die man aus diesem Beispiel gewinnt, in den soziologischen Rahmen der Theorien der Postmoderne oder besser der flüssigen Moderne sicherlich interessant und ertragreich.76 Denn viele Elemente, wie die Vermischung der semantischen Felder des Verrats und des Betruges, suggerieren eine Analyse in diesem Sinne. Diese ersten Beobachtungen zeigen, dass das Geschehen zwischen 1943 und 1945 nicht nur das Einrücken der Subjektivität in die eher kodifizierte politische Bewertung von Verrat, sondern auch weitere postmoderne Züge wie u. a. die Aufhebung der Verbindlichkeit gegenüber der Souveränität und das Verschwinden der (nationalen) Bindungen durch den Bürgerkrieg hervorgebracht hat.

74 Es sei hier nur kurz erwähnt, dass sowohl Betrug als auch Verrat auf Italienisch mit dem Wort ›tradimento‹ zu übersetzen sind und dass die etymologische Wurzel die gleiche wie von ›tradurre‹ (übersetzen) ist. 75 Turnaturi, Tradimenti. L’imprevedibilità nelle relazioni umane, 18  ; vgl. auch Mapelli, Nuove virtù, 140–146. 76 Lyotard, Das postmoderne Wissen  ; Bauman, Liquid modernity.

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Bilder der Rosenbergs Die Visualisierung von Verrat in den USA im frühen Kalten Krieg

Abbildung 1  : Ethel und Julius nach ihrer Verurteilung.

Abbildung 2  : Die Rosenbergs küssend im Transportfahrzeug.

Das Bild hatte schon auf die Zeitgenossen in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus eine enorme Strahlkraft, und von ihr hat es bis heute nicht viel verloren (Abb. 1). Aufgenommen wurde es im April 1951 von Roger Higgins, einem Fotoreporter der auflagenstarken Tageszeitung New York WorldTelegram, und es zeigt zwei Menschen, Mann und Frau, die nebeneinander, aber durch einen Maschendraht voneinander getrennt, in einem Gefangenenbus sitzen und in das Objektiv der Kamera schauen. Julius und Ethel Rosenberg waren kurz zuvor von einem New Yorker Gericht für schuldig befunden worden, während des Zweiten Weltkriegs für die Sowjetunion Atomspionage getrieben zu haben. Der zuständige Richter, Irving R. Kaufman, hatte das Ehepaar daraufhin zum Tode verurteilt. In den Wochen und Monaten danach wurde es in zahlreichen nationalen wie internationalen Zeitungen und Zeitschriften nachgedruckt, oftmals wurde dabei nur ein Ausschnitt des Bilds verwandt, der auf die Gesichter der beiden Verurteilten fokussierte. Eine weitere Fotografie zeigt das Paar küssend  : Im August 1950 aufgenommen, am Tage der Verlesung der Anklageschrift, sitzen die beiden gleichfalls nebeneinander in einem Transportfahrzeug, es ist deutlich zu erkennen, dass Julius Rosenberg Handschellen trägt (Abb. 2).

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Abbildung 3 und 4  : Erkennungsdienstliche Fotos der Rosenbergs.

Diese beiden Bilder waren indes nur die bekanntesten und prägnantesten einer Vielzahl von Abbildungen (Fotos, Collagen, Zeichnungen), die damals von Julius und Ethel Rosenberg kursierten. Die erkennungsdienlichen Fotos, die vom Federal Bureau of Investigation (FBI) aus Anlass der Verhaftung aufgenommenen mugshots, wurden gleichfalls häufig reproduziert (Abb. 3 u. 4). All diese Bilder gingen um die Welt, sie wurden sogar im wahrsten Sinne des Wortes um die Welt getragen  : Auf den vielen Demonstrationen, die es in den USA und in Europa gab, um gegen (und bisweilen auch für) das Urteil und die bevorstehende Hinrichtung zu protestieren, waren diese und andere Bilder der Rosenbergs sehr präsent (Abb.  5). Und noch viele Jahre später begleiteten sie die Erinnerung an das Verfahren gegen die beiden der Spionage bezichtigten US-Amerikaner. Diesen Visualisierungen von zwei mutmaßlichen Spionen, zwei vermeintlichen Landesverrätern, von Ehepartnern und Eltern zweier junger Kinder, möchte ich im Folgenden auf den Grund gehen. Warum waren Bilder der beiden in dem Zeitraum ab ihrer Verhaftung über die Gerichtsverfahren bis schließlich in die Phase unmittelbar vor und nach den Hinrichtungen so omnipräsent  ? Welchen Anteil hatten diese Bildgebungen für die Debatten um Spionage und Verrat, um Schuld oder Unschuld, um Gerechtigkeit oder Willkür, die sowohl in den USA als auch darüber hinaus im Zusammenhang mit dem Fall der Ro-

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Abbildung 5  : »Rettet die Rosenbergs«. Demonstration am 18. Juni 1953 in Paris.

senbergs geführt wurden  ? Ich werde versuchen zu zeigen, dass dieser Visualisierung eine tragende Bedeutung zugemessen werden kann, dass sie sowohl für Befürworter wie Gegner des Urteils wichtiger Teil ihrer Argumente war. Dazu greife ich eine Methodenentwicklung auf, welche die Zeitgeschichtsforschung in den letzten Jahren nicht unwesentlich mitgeprägt hat. Auch in diesem Zweig der Geschichtswissenschaften, der Bildquellen lange Zeit sehr skeptisch gegenübergestanden hatte, setzt sich die Erkenntnis durch, dass Visualität  – sehen, ansehen, beobachten, erkennen, identifizieren – zu den tragenden bedeutungsgebenden Zusammenhängen in den menschlichen Lebenswelten zählt, die Handlungsentscheidungen, Erfahrungen, Sinnproduktionen wie Erinnerungen prägt.1 Die Bilder der Rosenbergs sind somit als ›Ereignisikonen‹ anzusprechen, welche sowohl zeitgenössisch bedeutsam waren und noch heute die Erinnerung an den frühen Kalten Krieg mitstrukturieren.2 Mir geht es hier vor allem um die zeitgenössische Aufladung der Bilder, die von den Rosenbergs zirkulierten, um die Frage danach, in welchem diskursiven Umfeld sie seinerzeit wahrgenommen und verstanden werden konnten. Ich werde bei meiner Betrachtung 1 Lindenberger, ›Vergangenes Hören und Sehen‹. 2 Paul, ›Das Jahrhundert der Bilder‹  ; zu ikonischen Fotos und ihrer Rolle in der Zeitgeschichts- sowie Erinnerungsforschung vgl. auch Hariman/Lucaites, No Caption Needed.

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in zwei Schritten vorgehen  : Ein erster Teil wird einen Überblick geben über das Verfahren gegen Julius und Ethel Rosenberg, über das Urteil, seine Relevanz und die Kontroverse, die es auslöste. Im Anschluss daran werde ich den Stellenwert der angesprochenen Bilder vor dem Hintergrund der visuellen Logik, mit der der frühe Kalte Krieg in den USA ausgetragen wurde, diskutieren.

»Worse than murder« – Das Verfahren gegen die Rosenbergs, seine Bedeutung und seine Folgen Sommer 1950  : Der Kalte Krieg hatte die USA zu diesem Zeitpunkt voll erfasst. Ein Jahr zuvor war in China, dem bevölkerungsreichsten Land der Erde, die kommunistische Revolution erfolgreich gewesen  ; dieser ›Verlust Chinas‹, wie man damals sagte, wurde zu einer großen politischen Bürde der Administration des demokratischen Präsidenten Harry S. Truman. Darüber hinaus zündete die Sowjetunion im August 1949 ihre erste Atombombe – das Geheimnis der nuklearen Waffe, so sah man es in den USA, war verloren gegangen, war offenbar verraten worden, die militärische Überlegenheit eingebüßt. Beide Ereignisse zusammen potenzierten in der US-Bevölkerung die Ängste vor einer vermeintlichen kommunistischen Verschwörung im Inneren des Landes und einem scheinbar unausweichlichen dritten, dann nuklearen Weltkrieg. Im Februar 1950 behauptete der bis dahin wenig bekannte Senator Joseph McCarthy aus Wisconsin, er habe Beweise dafür, dass im US-Außenministerium eine große Zahl von Kommunisten beschäftigt seien  – und intensivierte damit eine Welle von antikommunistisch motivierten Verdächtigungen und Untersuchungen, die das Land bereits seit 1948 erfasst hatte. Der Ausbruch des Korea-Kriegs im Sommer 1950 schien diese um sich greifenden Befürchtungen zu bestätigen  ; und es war in dieser Atmosphäre, als die Verhaftung von mutmaßlichen Atomspionen für riesiges Aufsehen sorgte. Im Januar 1950 konnte der in Rüsselsheim geborene Kernphysiker Klaus Fuchs, ein britischer Staatsbürger und wichtiger Mitarbeiter im US-amerikanischen ›Manhattan Projekt‹, das in Los Alamos (New Mexico) den Bau der ersten Atombomben betrieben hatte, von britischen Sicherheitsbeamten als Spion enttarnt werden. Sein Geständnis löste eine Kettenreaktion aus, durch die Mitglieder mehrerer Gruppen bekannt wurden, die im Zweiten Weltkrieg unterschiedliche geheime industrielle wie militärische Informationen an den damaligen Verbündeten Sowjetunion weitergeben hatten. Als seinen Kontaktmann und Kurier nannte Fuchs den Chemielaboranten Harry Gold, welcher wiederum bei Befragungen durch das FBI den ebenfalls in Los Alamos als Mechaniker tätig gewesenen David Greenglass als weiteres Mitglied eines Spionagerings preisgab. Greenglass bekannte sich im Verlauf der Verhöre durch das FBI schuldig und

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demonstrierte  – in berechtigter Hoffnung auf ein mildes Urteil  – seine volle Kooperationsbereitschaft, indem er den Ehemann seiner Schwester als diejenige Figur der Gruppe ausmachte, die den Kontakt zum sowjetischen Geheimdienst hielt – den zweiunddreißigjährigen Ingenieur Julius Rosenberg, der selbst nie am Bau der Bombe mitwirkte. Das Ehepaar Rosenberg lebte mit seinen beiden Söhnen zu diesem Zeitpunkt in New York City. Julius wie Ethel waren in Familien jüdischer Einwanderer hineingeboren worden, hatten 1939 geheiratet, und waren beide als Mitglieder der Kommunistischen Partei der USA (CPUSA) politisch aktiv. Als Ingenieur arbeitete Julius Rosenberg im Verlauf des Weltkriegs als Kontrolleur von technischen Versuchslaboren in New York und New Jersey, eine Position die es ihm ermöglichte, im Einklang mit seiner politischen Überzeugung Helfer anzuheuern, um kriegswichtige Informationen zu sammeln und sie an Kontaktleute sowjetischer Geheimdienste weiterzugeben. Am 17. Juli 1950 wurde er aufgrund der Aussage seines Schwagers verhaftet, der über seine Schwester Ethel indes gesagt hatte, sie sei in die Spionagevorgänge in Los Alamos nicht eingeweiht gewesen. Rosenberg zeigte sich dem FBI gegenüber schweigsam, und so entschloss sich J. Edgar Hoover, der Direktor des FBI, ihn durch die Verhaftung seiner Frau zur Zusammenarbeit und zu einer Aussage zu drängen. Daraufhin wurde auch Ethel Rosenberg am 11. August in Haft genommen.3 Hoovers Plan ging nicht auf, die Rosenbergs schwiegen zu den Vorwürfen und wurden im Folgenden beide auf Basis des Spionagegesetzes von 1917 wegen ›Verschwörung zur Spionage in Kriegszeiten‹ und damit aufgrund eines Kapitalverbrechens angeklagt. Vor Prozessbeginn im März 1951 befragte das FBI David Greenglass erneut, und dieser änderte seine Aussage nun dahingehend, dass er auch seine Schwester Ethel der aktiven Mitarbeit im Spionagering bezichtigte. Sie habe, so äußerte er sich nun, für Julius Berichte abgetippt, und sei zudem in alle Aktivitäten eingeweiht gewesen. Es gilt heute als beinahe sicher, dass diese zweite, für den Prozess so folgenreiche Aussage vom FBI mit dem Versprechen erkauft wurde, Greenglass lediglich zu einer vergleichsweise kurzen Gefängnisstrafe zu verurteilen. Begleitet von einer großen Presseberichterstattung begann der Prozess gegen Julius und Ethel Rosenberg am 6.  März 1951 im New Yorker Bundesgerichtsgebäude am Foley Square. Mit auf der Anklagebank saßen David Greenglass, der zum Kronzeugen der Anklage wurde, sowie ein weiteres Mitglied der New 3 Für die Anordnung Hoovers vgl. sein Memorandum vom 19. Juli 1950, abgedruckt in Schrecker, The Age of McCarthyism, 165. Für Überblicksdarstellungen des Rosenberg-Verfahrens vgl. Radosh /Milton, Rosenberg File  ; Garber/Walkowitz (Hrsg.), Secret Agents. Eine knappe aber lesenswerte Interpretation des Falls in deutscher Sprache bietet Horn, Geheimer Krieg, 393–404.

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Yorker Spionagegruppe, Morton Sobell. Das Verfahren dauerte die damals vergleichsweise lange Zeit von drei Wochen, und außer Greenglass wiesen alle Angeklagten die gegen sie erhobenen Anschuldigungen zurück. Befragt nach ihrer Mitgliedschaft in der CPUSA verweigerten die Rosenbergs die Aussage und beriefen sich dabei auf den fünften Zusatz zur US-Verfassung, der es ihnen ermöglichte, sich nicht selbst belasten zu müssen – in der damaligen Lesart der Öffentlichkeit ein sicheres Indiz für ihre Schuld. Am 29. März verkündeten die Geschworenen ihr Urteil  : Die Angeklagten wurden für schuldig befunden. Richter Kaufman verurteilte die Mitangeklagten Greenglass (fünfzehn Jahre) und Sobell (dreißig Jahre) zu Gefängnisstrafen und verhängte die Todesstrafe sowohl gegen Julius als auch Ethel Rosenberg. Seine Worte bei der Urteilsbegründung am 5.  April 1951 gelten heute als ein Schlüsseldokument zum Verständnis des innenpolitischen Kalten Kriegs in den USA, sie seien darum hier ausführlich wiedergegeben  : […] Die Frage nach dem Strafmaß in diesem Fall präsentiert sich vor einem einzigartigen historischen Hintergrund. Es ist so schwierig den Menschen deutlich zu machen, dass unser Land sich in einem Kampf um Leben und Tod mit einem komplett verschiedenen politischen System befindet. Diese Auseinandersetzung manifestiert sich nicht allein äußerlich zwischen diesen beiden Mächten, sondern wie dieser Fall zeigt verwendet der Feind darin sowohl geheime wie offen agierende Agenten innerhalb unseres Volks. Deshalb sind alle demokratischen Institutionen direkt in diesen Konflikt involviert. Ich bin überzeugt dass unser Land in seiner Geschichte noch niemals mit einer derartigen Bedrohung konfrontiert gewesen ist, die unsere ganze Existenz in Frage stellt. […] Der Wettbewerbsvorteil der Vereinigten Staaten bei den Atomwaffen hat einer neuen Gattung von Spionen Gewicht gegeben – der einheimischen Variante, welche ihre Loyalität gegenüber fremden Mächten über diejenige zu ihrem Heimatland stellt. Das Strafmaß in diesem Fall muss daher das maximale Interesse an der Sicherheit unserer Gesellschaft vor den Verrätern in unserer Mitte widerspiegeln. […] [Die Angeklagten, O. S.] haben sich dazu entschieden, ihr Leben der russischen Ideologie zu widmen, die die Existenz Gottes verleugnet, die Unantastbarkeit des Individuums bestreitet, und stattdessen einen aggressiven Kampf gegen die Rechte freier Menschen überall auf der Welt führt. [Sich direkt an die Angeklagten richtend, O. S.] Ich halte Ihre Verbrechen für schlimmer als Mord. Ein von langer Hand geplanter Mord ist eine Kleinigkeit gegenüber den von Ihnen begangenen Verbrechen. […] Ich bin überzeugt, dass Ihre Tat  – nämlich Russland die A-Bombe einige Jahre früher geliefert zu haben, als unsere führenden Wissenschaftler es für möglich hielten – bereits die kommunistische Aggression in Korea verursacht hat […] und wer weiß, wie viele Millionen unschuldige Menschen den

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Preis für Ihren Landesverrat noch zahlen müssen. Ohne Zweifel hat Ihr Verrat den Verlauf der Geschichte zuungunsten unseres Landes verändert. […].4

Die Rosenbergs legten gegen das Urteil und das Strafmaß Berufung ein, ein Instanzenweg, der sich bis Januar 1953 hinzog. Schließlich reichten sie ein offizielles Gnadengesuch ein, über das der aus seinem Amt scheidende Präsident Truman aber nicht mehr befinden wollte. Sein Nachfolger Dwight D. Eisenhower verweigerte eine Umwandlung der Strafe, und so wurden Julius und Ethel Rosenberg am 19. Juni 1953 im Gefängnis Sing Sing in Ossining (New York) auf dem elektrischen Stuhl exekutiert. Eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in den USA, das zeigen repräsentative Meinungsumfragen, begrüßten das Urteil gegen die vermeintlichen Atomspione und hielten auch die Todesstrafe in diesem Fall für durchaus angemessen. Die meisten großen Zeitungen im Land unterstützten ebenfalls die Entscheidung von Richter Kaufman, und die Boulevardpresse nahm seine drastische Urteilsbegründung zum Anlass, das Ehepaar Rosenberg als Inbegriff des kommunistischen Bösen aufzuladen. Allerdings wurden andere Stimmen nach Prozessende auch immer deutlicher wahrnehmbar, die den Prozessverlauf und das resultierende Urteil mehr oder weniger drastisch kritisierten. In Teilen der linksliberalen Presse hielt man zwar Julius Rosenberg für der Spionage überführt, bewertete aber die Todesstrafe gegen ihn und vor allem gegen seine Frau, über deren tatsächliche Mitwirkung erhebliche Zweifel bestanden, als völlig überzogen. Darüber hinaus bildete sich das National Committee to Secure Justice in the Rosenberg Case, das auf seinen Protestveranstaltungen zunächst die Unschuld der Angeklagten unterstrich und später mit Nachdruck auf ihre Begnadigung drängte. Gerade in den ersten Monaten des Jahres 1953, als Eisenhowers Entscheidung anstand, organisierten sich in Washington, in anderen US-Großstädten sowie in Ost- wie Westeuropa zahlreiche Protestdemonstrationen, auf denen in unterschiedlicher Radikalität der Prozess und/oder das Urteil angeprangert wurden. Eine große Anzahl an Intellektuellen und Künstlern schlossen sich diesen Protesten an  : Jean-Paul Sartre, Pablo Picasso, Albert Einstein, Bert Brecht, Dashiell Hammett, Frida Kahlo, Diego Rivera, um nur die bekanntesten zu nennen. Selbst Papst Pius XII. intervenierte und bat den US-Präsidenten um Gnade für das Paar. Gerade diese internationale Dimension des Protests spielte bei den Überlegungen Eisenhowers und seiner Berater eine gewichtige Rolle, zumal darin immer wieder direkt oder indirekt auf vermeintliche antisemitische Implikationen des Falls hingewiesen wurde.5 4 Abgedruckt in Schrecker, The Age of McCarthyism, 166–168. 5 Clune, Great Importance World-Wide. Der Vorwurf, das Verfahren sei auch durch antisemitische

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In den Jahrzehnten nach der Hinrichtung hat der ›Fall Rosenberg‹ eine zentrale Position in den politischen wie akademischen Debatten um den Charakter des innenpolitischen Kalten Kriegs eingenommen. Vielen galt und gilt der Prozess als Beleg für die Exzesse einer politischen Justiz in den Vereinigten Staaten. Seit einigen Jahren haben sich diese Auseinandersetzungen teilweise entschärft. Der Grund hierfür ist die Publikation der Ergebnisse des sogenannten VENONA-Projekts  : Unter diesem Namen firmieren die nachrichtendienstlichen Bemühungen, geheime Funksprüche zu decodieren, die zwischen Moskau und der sowjetischen Botschaft in Washington gesandt wurden, die Mehrzahl in den Jahren 1942–1945. venona lief 1943 an und produzierte nach Ende des Krieges verwertbare Ergebnisse für das FBI und andere Geheimdienste. Diese unterlagen allerdings einer so hohen Geheimhaltung, dass sie der Öffentlichkeit vorenthalten wurden und eben auch nicht vor einem ordentlichen Gericht Verwendung finden konnten – sie spielten mithin für den Prozess am Foley Square 1951 keine Rolle. Nachdem das venona-Material 1995 schließlich doch freigegeben wurde, konnte die Spionagetätigkeit von Julius Rosenberg mit seiner Hilfe klar belegt werden. Genauso zweifelsfrei verdeutlichen die dechiffrierten Nachrichten allerdings die Unschuld seiner Frau – und halten so die Einschätzung eines in einer politisch aufgeladenen Atmosphäre gesprochenen Fehlurteils aufrecht.6

Schuld & Unschuld – Die Ambiguität der visuellen Botschaften Die Red Scare in den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg, dieses mit dem Begriff des McCarthyism nur sehr unzureichend beschriebene Phänomen, war kein leicht zu überschauendes politisches bzw. kulturelles Schlachtfeld. Der Kalte Krieg funktionierte innerhalb der US-Gesellschaft nicht als ein von den Eliten abwärts in die Bevölkerung durchgesetztes, kohärentes Programm. Folgt man der Analyse der Historikerin Ellen Schrecker, dann ist es gerade sein Charakter als Netzwerk mit ganz unterschiedlichen und zum Teil von widersprüchlichen Interessen besetzten Knotenpunkten, der die antikommunistische Welle des frühen Kalten Kriegs in den USA ausmachte und sowohl öffentliche wie private, offizielle und inoffizielle, gewählte und sich berufen fühlende AkMotive bestimmt, hatte sich in oppositionellen Kreisen rasch verbreitet. Von offizieller Seite wurde dem entgegengesetzt, dass auch andere wichtige am Prozess beteiligte Personen Juden seien, so etwa Richter Kaufman oder der Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, Roy Cohen, der etwas später Berater Joseph McCarthys werden sollte. Vgl. hierzu auch Arnold /Kistenmacher, ›Der Fall Ethel und Julius Rosenberg‹. 6 Zu VENONA, vgl. Haynes/Klehr, VENONA. Zur Stellung dieses Materials in politischen und historiografischen Debatten, vgl. Schrecker (Hrsg.), Cold War Triumphalism.

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teure auf den Plan rief. Zu diesen Knoten des Netzes gehörten die beiden großen politischen Parteien des Landes, die Regierungen auf Bundes- und Einzelstaatenebene – und zwar ganz gleich, ob sie von den Demokraten oder den Republikanern gestellt wurden –, das FBI, Gewerkschaften wie Wirtschaftsorganisationen, patriotische (Veteranen-)Verbände, die Bosse der Hollywood Studios, evangelikale Priester, Hausfrauenvereinigungen und lokale Vigilantengruppen. Sie alle bezogen sich auf ›den Kommunisten‹ als das unmittelbar Böse, als die Quintessenz des Unamerikanischen, eine Figur, die zu verachten und auszumerzen sei.7 Allerdings sah man sich bei dieser Kennzeichnung mit einem kritischen Dilemma konfrontiert, das J. Edgar Hoover so auf den Punkt brachte  : Heutzutage sind die meisten hier lebenden und arbeitenden Kommunisten in den USA geboren. Andere besitzen die Staatsbürgerschaft, weil sie bereits lange Zeit hier leben, nur wenige sind Ausländer. Die meisten Kommunisten sind ganz normal aussehende Menschen, so wie Ihr Sitznachbar im Bus oder der Verkäufer in einem Laden in der Nachbarschaft.8

Antikommunismus war keine neue Erscheinung nach dem Zweiten Weltkrieg, doch hatte er seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auf einer vermeintlichen sichtbaren Äquivalenz von Fremdheit und Subversion beruht  : Der Kommunismus galt als etwas, das von außen an das US-Gemeinwesen herangetragen worden war, mitgebracht von radikalen Immigrantinnen und Immigranten, die weder Englisch sprachen noch wie ›richtige Amerikaner‹ aussahen. Zwar hatte sich an der grundsätzlichen Überzeugung, der Kommunismus sei seinem ganzen Wesen nach unamerikanisch, nichts geändert, doch musste man sich eingestehen, dass die scheinbar bekannten Muster von Identifikation nicht mehr länger hinreichend waren.9 Die Vokabel von der ›Fünften Kolonne‹ hatte sich im Verlauf des Weltkriegs auch in den USA etabliert. Sie indizierte zu dieser Zeit die Sorge vor dem unerkannt bleibenden deutschen Spion, der sicher im Inneren des Landes agieren kann, und auch nachdem diese Gefahr vorüber war, blieb die Idee einer im Gemeinwesen unerkannt verborgen schlafenden Gruppe von Subversiven lebendig. Dazu trug auch die Logik des Kriegs bei, die der ›Kalte‹ vom Weltkrieg geerbt hatte, und welche die Denkmuster von Spionage und Sabotage 7 Schrecker, Many Are the Crimes  ; Fried, Russian Are Coming  ! 8 Hoover, Masters of Deceit, 97  ; meine Übersetzung. Das Buch setzt sich aus Beiträgen Hoovers zusammen, die er in den Jahren zuvor bereits an anderer Stelle geäußert hatte, es kann daher über seine Positionen zu Beginn der 1950er Jahre Aufschluss geben. 9 Für einen Überblick vgl. Bennett, Party of Fear.

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so naheliegend erscheinen ließ. Solche subversiven Akte waren, so räsonierte man, umso wahrscheinlicher und ihr Erfolg umso sicherer, wenn sie aus einer gelungenen Camouflage heraus durchgeführt werden konnten, von Menschen, die sich unerkannt in den Zentren der Wirtschaft, des Militärs oder der Politik aufhalten und aus ihnen heraus ihre Vorhaben in die Tat umsetzen konnten. Kommunistische Menschen, so erklärte es Hoover, seien per Definition Meister der Täuschung (Masters of Deceit, so der Titel seines meistgelesenen Buchs), sie seien ganz besonders gut ausgebildete Expertinnen und Experten in Spionage, Sabotage sowie darin, die US-Öffentlichkeit hinters Licht zu führen  : Im Ernstfall können diese Schläfer zu Saboteuren werden, weil sie verborgen an Schlüsselpositionen ihre Kompetenzen zum Einsatz bringen können. Ein einziger ausgebildeter Kommunist kann die Arbeit von Tausenden zum Erliegen bringen, indem er lediglich einen Schalter umlegt, an einem Hebel zieht oder aber einen todbringenden Keim freisetzt.10

Folgt man dieser Denkbewegung, dann waren gerade Kommunistinnen und Kommunisten eben keineswegs einfach zu klassifizieren, sondern gerade sie mussten erst in einem mühevollen Prozess gefunden, identifiziert und entlarvt werden – ein Eindruck im Übrigen, der durch den (aufgezwungenen) klandestinen Charakter der Partei unterstrichen und verstärkt wurde. Kommunistische Spionage musste aus dieser Logik heraus auch gerade deswegen erfolgreich sein, weil ihre Agenten ausdrücklich nicht an leicht wahrnehmbaren Merkmalen zu erkennen waren, seien diese nun körperlicher Art oder anders beschaffen. Im Gegenteil – ihr Nutzen hing im Wesentlichen davon ab, unsichtbar zu sein, was im Gegenzug eben eine Logik der Wahrnehmung und Identifizierung provozieren musste. Es war sehr viel Aufwand nötig, das für das US-Gemeinwesen dieser Jahre notwendige politische, soziale und kulturelle ›Andere‹ zu imaginieren und zu visualisieren, es ganz allgemein als Sicherheitsrisiko und spezifischer als kommunistisch zu etikettieren. Ziel dieser Visualisierungsstrategien war es, Handlungen zu stimulieren, die zugleich ›den Feind‹ markieren und ausgrenzen sollten, zugleich aber der Reproduktion und Stabilisierung von Hegemonie und Kohärenz dienten.11 Das Sicherheitsdispositiv des McCarthyism baute auf eine Logik des Blicks, auf eine Semantik des Erkennens und einer mit ihr einhergehenden Evaluierung. Den Bildern der Rosenbergs kam in dieser Konstellation eine Schlüsselposition zu. Das lag zum einen an der ›Schwere ihres Verbrechens‹ und am Zeitpunkt 10 Hoover, Masters of Deceit, 284. 11 Stieglitz, ›Gegner im Verborgenen‹.

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ihrer Entlarvung. Das alleinige Wissen über die Produktion von Atomwaffen galt nach dem Weltkrieg als Garant des internationalen Führungsanspruchs der USA, im Inneren galt es als Ausweis technologischer wie politischer Überlegenheit. Für vier Jahre, vom August 1945 bis zum August 1949, stand die Atombombe in den USA für das Ende eines ›guten‹ Krieges und für den Aufbruch in eine neue, sichere Zukunft.12 Der Atomtest der Sowjetunion entzog dieser Vorstellung abrupt jede Grundlage, und die Verhaftungen des ersten Halbjahres von 1950 schienen den einzig denkbaren Grund für den Verlust des Geheimnisses zu bestätigen  : Verrat. Die Fragen nach den Tätern und ihren Motiven verlangten zuerst nach Gesichtern, nach Bildern vom Feind. Warum gelangten die vom FBI nach den Verhaftungen angefertigten Fotos so schnell in die Presse (Abb. 3 + 4)  ? Sie waren aus mehr als einem Grunde erkennungsdienlich. Zunächst signalisierten sie den Erfolg der, in ihrem Selbstverständnis besten Polizeitruppe der Welt über die ›Meister der Täuschung‹  ; sie waren in diesem Sinne bestätigende Botschaften intakter Überlegenheit und Unbesiegbarkeit. Doch darüber hinaus dienten sie als Entlarvung wie als Appell  : Mit ihnen wurde dem Feind die Maske vom Gesicht gezogen, er (und sie) wurde in seiner ganzen Schlichtheit, aber auch seiner (und ihrer) ganzen Verschlagenheit erstens für alle sichtbar und zweitens erkennbar. In der Kommunikation zwischen den FBI-Fotos und ihren Betrachterinnen und Betrachtern wurde ein Aufruf zur Mitarbeit, zur Wachsamkeit aktualisiert. So verstanden gaben sie dem ›wachsamen Staatsbürger‹ einen Auftrag, sie wiesen in die Zukunft und funktionierten beinahe wie Fahndungsfotos – nicht im eigentlichen Sinne, um eben diesen bestimmten Menschen habhaft zu werden, aber als Mahnung vor einem Typ, vor einer gefährlichen Gattung namens ›Spion‹.13 Zusammen mit den beiden anderen vorgestellten Bildern (Abb.  1 + 2) verstärkte sich die das Gemeinwesen stabilisierende Funktion der FBI-Fotos weiter. Es waren die Presseaufnahmen des Ehepaars Rosenberg, in denen sich das Narrativ vom Verrat und seiner Aufdeckung umso eindringlicher verdichtete. Indizierte das Arrangement der FBI-Fotos unmittelbar zum einen anhaltende Gefahr und verübtes Verbrechen und zum anderen Wachsamkeit und erfolgreiche Aufklärung, so öffneten diese Fotografien ein weites semantisches Feld, in dem es u. a. um Geschlechterrollen, Sexualität und den Stellenwert von Familie ging – gesellschaftliche Aspekte, die seinerzeit auf vielfache Weise untrennbar mit der vermeintlichen kommunistischen Gefahr verwoben waren. Wie die sozial- und kulturhistorische Forschung zum domestic Cold War in den USA in den letzten zwei Dekaden betont hat, bediente sich die antikommunistische Rhetorik im 12 Boyer, By the Bomb’s Early Light. 13 Hall, Wanted  ; Stieglitz, Undercover.

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frühen Kalten Krieg nicht selten einer Sprache, die als deviant gekennzeichnete Sexualität oder als unangemessen bewertete Geschlechterverhältnisse an politische Gesinnung koppelte. So wurden in den Augen vieler sogenannter Expertinnen und Experten aus ›normalen‹ amerikanischen Kindern Kommunistinnen und Kommunisten, weil sie von aggressiv-dominanten Müttern erzogen worden waren. Dieser krude Freudianismus des ›Momism‹ legte gleichzeitig nahe, dass diese Menschen homosexuell sein mussten  – ein Zusammenhang, der nirgendwo eindringlicher geschildert wurde als in My Son John, dem vielleicht bedeutendsten antikommunistischen Hollywood-Spielfilm dieser Jahre.14 Eine Ehe konnten kommunistische Menschen aus diesem weit verbreiteten Verständnis heraus nur zum Schein eingehen, und insbesondere Ehen zwischen kommunistischen Partnern galten als bloße Fassade, als eine weitere Camouflage der ›Meister der Täuschung‹. Die Kinder solcher Partnerschaften erklärte etwa Hoover für bedauernswerte und zugleich gefährliche ›Geiseln‹ – eine Einschätzung, die im Zusammenhang mit den Rosenbergs noch zum Tragen kommen sollte.15 Die vorgestellten Pressefotografien der Rosenbergs riefen diese Äquivalenzketten auf. Das zeitlich frühere von ihnen zeigt das Paar küssend in einem Gefangenentransporter (Abb.  2). Julius Rosenberg ist mit Handschellen gefesselt, ein Gefangener nicht nur des Staats, sondern offenbar auch seiner Frau, die – augenscheinlich nicht gefesselt – auch in diesem sowohl öffentlichen wie degradierenden Moment fordernd bleibt. So gelesen wird das Foto zu einem wichtigen Teil der Versuche, Ethel Rosenberg als die eigentlich treibende Kraft hinter der Atomspionage zu markieren. Schon Richter Kaufman hatte in seinem Urteil die Spionage des Paars mit verschobenen Geschlechterverhältnissen in Verbindung gebracht  : Die Beweise verdeutlichen recht klar, dass Julius Rosenberg der Kopf der Verschwörung war. Doch machen wir uns keine falschen Vorstellungen über die Rolle, die seine Ehefrau Ethel Rosenberg darin hatte. Anstatt ihn von seinem unrühmlichen Vorhaben abzubringen, ermutigte und unterstützte sie ihn in seinem Tun. Sie ist eine reife Frau – fast drei Jahre älter als ihr Mann und fast sieben Jahre älter als ihr Bruder. Sie war ein vollwertiger Partner in der Durchführung der Verbrechen.16

Die Historikerin Kathryn Olmsted konnte in einem Aufsatz zeigen, wie Ethel Rosenberg im Anschluss an solche Einschätzungen in zeitgenössischen Pres14 Für eine neue Interpretation von ›My Son John‹ vgl. Stieglitz, ›Is Mom to Blame  ?‹ sowie ders., Undercover. 15 Vgl. Hoover, Masters of Deceit, 106 f. 16 Schrecker, The Age of McCarthyism, 166.

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seberichten als dominante, kaltherzige Ehefrau und Mutter beschrieben wurde. Im New York World-Telegram etwa hieß es über sie im Januar 1953 in einem Artikel mit der Überschrift Mrs. Rosenberg Was Like a Red Spider  : »Im Tierreich spricht man davon, dass Weibchen die tödlicheren Spezies seien. Man kann dies auch auf Julius und Ethel Rosenberg übertragen«17. Und Bezug nehmend auf den Umstand, dass es bei der Hinrichtung der angeblichen Spionin zu einer Panne kam, äußerte sich ein Berichterstatter so  : »Wie schon zu Lebzeiten zeigte es sich auch beim Sterben, dass Ethel die stärkere der beiden war.«18 Die diesen und andere Artikel begleitenden Fotos schienen ihre ›für eine Frau unnatürliche‹ Dominanz und Kälte zu unterstreichen. Das ikonische Foto von Roger Higgins aus dem April 1951 zeigt sie mit festem, unnachgiebigen Blick in die Kamera schauend, ihre Haltung offenbart aus diesem Verständnis heraus eine beinahe arrogante Unbeugsamkeit. Ihr Mann hingegen befindet sich nicht allein im Hintergrund des Bilds und hinter dem Draht, sein Gesichtsausdruck vermittelt darüber hinaus eher Verzweiflung und Erniedrigung, er erregt eher Mitleid als Entsetzen bei den Betrachterinnen und Betrachtern. Doch ist mit diesen gesellschaftlich regulierenden und stabilisierenden Lesarten der angesprochenen Fotografien nur eine Hälfte ihrer enormen Wirkmächtigkeit dargestellt und erklärt. Die Tatsache, dass sie zeitgenössisch in kritischen Texten reproduziert wurden, ihren Weg auf die Transparente von Demonstrantinnen und Demonstranten fanden und dabei häufig abgeändert oder kopiert wurde, verweist auf die ihnen inhärente Ambiguität. Und obgleich den Rosenbergs negativ gegenüberstehende Lesarten auf vielfache Weise in umlaufende antikommunistische Diskurse eingebunden waren, öffneten die verbreiteten Bilder für Sympathisantinnen und Sympathisanten auch Optionen positiver Umdeutung und politischer Aneignung. Im Umfeld politischen Protests platziert, boten die FBI-mugshots auch die Möglichkeit, Bilder von unschuldigen Opfern zu generieren. Auch diese Lesart ist in die Geschichte des Verbrecherfotos eingeschrieben, sie verknüpft sich in den USA im Allgemeinen mit der romantischen Vorstellung des folkloristischen ›Outlaw‹ als Sozialbanditen sowie im Besonderen mit den Bildern zweier anderer legendärer linker Justizopfer  : den beiden Anarchisten Ferdinando Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, die in den 1920er Jahren in einem als unfair eingeschätzten Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt worden waren. Auch in diesem Fall hatte eine künstlerisch reich bebilderte Solidaritätsbewegung die damalige Auseinandersetzung begleitet.19

17 Vgl. Olmstead, ›Blond Queens‹, 88. Vgl. auch Philipson, Ethel Rosenberg  ; sowie Ashe, ›The Bell Jar‹. 18 Zitiert nach Olmstead, ›Blond Queens‹, 88. 19 Hall, Wanted  ; zu Fall Sacco & Vanzetti vgl. allgemein Tropp, Sacco and Vanzetti Case.

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Von besonderer Bedeutung war das Foto des sich küssenden Paares für diese politische Umdeutung (Abb. 2). Konnte es zum einen, wie oben angedeutet, als Repräsentation geschlechtlicher wie sexueller Devianz interpretiert werden, so erlaubte es doch zur gleichen Zeit, diese politische Botschaft in ihr Gegenteil zu kehren. In dieser veränderten Lesart zeigt das Bild ein sich liebendes Ehepaar, in dem eine Frau ihrem gefesselten, machtlosen, unschuldigen Mann ihre Unterstützung und ihr Vertrauen zusichert. So verstanden, bebildert es eben nicht die antikommunistische Vorstellung einer gefühllosen Ehe als Camouflage, sondern ruft stattdessen nicht zuletzt die beiden nicht abgebildeten Söhne der Rosenbergs, Robert und Michael, in die Erinnerung der Betrachterinnen und Betrachter. Diese spielten in der Presseberichterstattung nach der Verhaftung von Ethel Rosenberg eine beständige Rolle  : Was sollte mit den beiden geschehen, wenn beide Elternteile inhaftiert waren  ? Diese Debatte spitzte sich nach den Todesurteilen weiter zu und wurde zu einem zentralen Argument derjenigen, die sich dafür aussprachen, zumindest Ethel Rosenbergs Strafe in einen Gefängnisaufenthalt umzuwandeln. In diesem Zusammenhang erschienen auch Bilder von Robert und Michael, die die beiden bei einem Besuch ihrer Eltern in der Strafanstalt zeigten. Gerade dieses letzte Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass sich damals beide Seiten in der Auseinandersetzung um die Macht der Bildgebung bewusst waren. Auch wenn die unmittelbare politische Kontroverse um die als Atomspione verurteilten und hingerichteten Julius und Ethel Rosenberg in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre abebbte, so sorgte nicht zuletzt die Tradierung der hier diskutierten sowie anderer Bilder dafür, dass die Rosenbergs für lange Jahre danach ein zentraler Referenzpunkt in der Bewertung des innenpolitischen Kalten Kriegs in den USA blieben. Das wird u. a. in einem von Rob Okun zusammengestellten Band deutlich, in dem die den Rosenbergs gewidmete Bildproduktion bis in die 1980er Jahre hinein nachgezeichnet wird.20 Darin begegnen den Leserinnen und Lesern nicht nur zahlreiche zeitgenössische Interpretationen des Paars (z. B. die bekannten Zeichnungen Pablo Picassos), sondern auch modifizierte Versionen der hier angesprochenen Fotografien. Häufigkeit und Vielfalt, mit der sie in den nachfolgenden Dekaden künstlerisch eingesetzt wurden, signalisieren und verfestigen ihren ikonischen Wert. Die Fotos der Rosenbergs erlaubten es einer Generation von Menschen, sich ein Bild von Atomspionen zu machen und mit ihrer Hilfe sowohl ihr Entsetzen über Verrat als auch ihre Solidarität mit politischen Gefangenen zum Ausdruck zu bringen.

20 Okun, The Rosenbergs.

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Literatur Arnold, Sina/Kistenmacher, Olaf, Der Fall Ethel und Julius Rosenberg. Antikommunismus, Antisemitismus und Sexismus in den USA zu Beginn des Kalten Kriegs. Münster 2016. Ashe, Marie, »The Bell Jar« and the Ghost of Ethel Rosenberg, in  : Secret Agents. The Rosenberg Case, McCarthyism, and Fifties America, hrsg. v. Marjorie Garber/Rebecca L. Walkowitz, New York/ London 1995, 215–231. Bennett, David H., The Party of Fear. From Nativist Movements to the New Right in American History, Chapel Hill (NC) 1988. Boyer, Paul, By the Bomb’s Early Light. American Thought and Culture at the Dawn of the Atomic Age, Chapel Hill (NC) 1985. Clune, Lori, Great Importance World-Wide. Presidential Decision-Making and the Executions of Julius and Ethel Rosenberg, in  : American Communist History, 10/3 (2011), 263–284. Fried, Richard M., The Russians Are Coming  ! The Russians Are Coming  ! Pageantry and Patriotism in Cold-War America, NewYork/u. a. 1998. Garber, Marjorie/Walkowitz, Rebecca L. (Hrsg.), Secret Agents. The Rosenberg Case, McCarthyism and Fifties America, New York 1995. Hall, Rachel, Wanted. The Outlaw in American Visual Culture, Charlottesville (VA) 2009. Hariman, Robert/Lucaites, John Louis (Hrsg.), No Caption Needed. Iconic Photographs, Public Culture, and Liberal Democracy, Chicago 2007. Haynes, John Earl/Klehr, Harvey, VENONA. Decoding Soviet Espionage in America, New Haven (CT) 1999. Hoover, J. Edgar, Masters of Deceit. The Story of Communism in America and How to Fight It. New York 1958. Horn, Eva, Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a. M. 2007. Lindenberger, Thomas, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in  : Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1/1 (2004), 72–85. Okun, Rob A., The Rosenbergs. Collected Visions of Artists and Writers, New York 1988. Olmsted, Kathry S., Blond Queens, Red Spiders, and Neurotic Old Maids. Gender and Espionage in the Early Cold War, in  : Intelligence and National Security 19/1 (2004), 78–94. Paul, Gerhard, Das Jahrhundert der Bilder. Die visuelle Geschichte und der Bildkanon des kulturellen Gedächtnisses, in  : Das Jahrhundert der Bilder – 1900–1949, hrsg. v. dems., Göttingen 2009, 14–39. Philipson, Ilene, Ethel Rosenberg. Beyond the Myths. New Brunswick (NJ) 1993. Radosh, Ronald/Milton, Joyce, The Rosenberg File, New York 1983. Schrecker, Ellen, Many Are the Crimes. McCarthyism in America, Princeton (NJ) 1998. Schrecker, Ellen, The Age of McCarthyism. A Brief History with Documents, Boston/New York 2002. Schrecker, Ellen (Hrsg.), Cold War Triumphalism. The Misuse of History After the Fall of Communism, New York 2004. Stieglitz, Olaf, Gegner im Verborgenen. Strategien der Visualisierung ›des Feindes‹ in den USA im frühen Kalten Krieg, in  : Rundfunk und Geschichte 36 (2010), 17–26. Stieglitz, Olaf, Is Mom to Blame  ? Anti-Communist Law Enforcement and the Representation of Motherhood in Early Cold War U.S. Film, in  : Inventing the American Family. Family Values and Social Change in 20th Century United States, hrsg. v. Isabel Heinemann, Frankfurt a. M./New York 2012, 244–264.

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Stieglitz, Olaf, Undercover. Die Kultur der Denunziation in den USA. Frankfurt a.  M./New York 2013. Tropp, Michael M., The Sacco and Vanzetti Case  : A Brief History with Documents. Boston/New York 2005.

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1  : Ethel und Julius Rosenberg nach ihrer Verurteilung, Foto von Roger Higgins, Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington, D.C., Nr. 97503499. Abbildung 2  : Ethel und Julius Rosenberg in einem Polizeifahrzeug, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C., Nr. 947552. Abbildungen 3 und 4  : Erkennungsdienstliche Fotos der Rosenbergs, U.S. National Archive and Records Administration, Nrn. 596909 u. 596910. Abbildung 5  : Demonstration für die zum Tode verurteilten Rosenbergs im Juni 1953 in Paris, Wikimedia Commons.

Peter Hoeres

Verrat der Neuen Ostpolitik Die Mobilisierung einer diskursiven Ressource

Ende der 1950er Jahre diagnostizierte die Journalistin Margret Boveri eine sich ausbreitende ›Landschaft des Verrats‹. Seitdem die Loyalität Nationen und Staaten und ihren wechselnden, entorteten Ideologien gelte, also seit der Französischen Revolution, und nicht mehr einzelnen Monarchen, sei der Verrat fluide geworden. Wer heute Loyalist sei, könne schon morgen Verräter sein und umgekehrt. Boveri beschrieb in vier Bänden und an Beispielen aus den Weltkriegen, dem Nachkrieg und dem Kalten Krieg, wie hypernervös der Staat wurde und ganze Gruppen nach abstrakten Merkmalen zu potenziellen Verrätern stempelte. Neu sei nicht der Verrat selbst, sondern dessen Omnipräsenz, der alle und jeden zu potenziellen ideologischen  – und nur diese Motivation interessierte sie  – Verrätern mache.1 Der Verrat wurde damit, wie schon der wandlungsfähige Talleyrand bemerkte, zu einer Frage des Zeitpunktes, abhängig vom jeweiligen Hauptstrom der öffentlichen Meinung. Talleyrand selbst beherzigte diesen Grundsatz so gut, dass es ihm gelang, mehreren aufeinanderfolgenden Regimen nach der Französischen Revolution zu dienen.2 Kurze Zeit nach Boveris Quadrologie machte Hans Magnus Enzensberger in einem schlanken, thesenhaften Gegenessay den Verräter ganz zum Konstrukt staatlicher Paranoia, das Staatsgeheimnis als Erfindung des späten 19. Jahrhunderts zum modernen Herrschaftsinstrument.3 War Enzensbergers Theorie von der Omnipräsenz des Kalten Krieges mit seinen zahlreichen Spionage- ergo Verratsfällen geprägt, so hatte Carl Schmitt ungefähr zum selben Zeitpunkt einen Horizont vom spanischen Guerilla-Krieg gegen Napoleon bis zum irregulären Widerstand gegen die Dekolonisierung in Algerien vor Augen, als er Boveris Personal in der Figur des Partisanen verdichtet sah.4 Die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn suchte nun zuletzt angesichts des Irrgartens und der Fluidität des Verrats nach diesem im Medium der Fiktionalität, da es »keine Wahrheit des 1 Vgl. Boveri, Der Verrat. Ich danke Frank Becker (Essen-Duisburg), Gerd Schwerhoff (Dresden) und André Krischer (Münster) für Anregungen und Hinweise. 2 Vgl. Willms, Talleyrand. 3 Vgl. Enzensberger, Politik, 361–383. 4 Vgl. Schmitt, Partisanen, 76, Anm. 48.

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Verrats [gebe], vielmehr immer nur den expliziten oder verleugenden Verweis darauf, dass alles auch anders (gewesen) sein könnte, anders erzählt werden müsste und damit die Positionen von Erlöser und Verräter, Held und Schurken, Großtat und Verbrechen sich radikal umkehren würden«5. In der Literatur und im Film wird diese Fiktionalität sichtbar. Auch in der Moderne gibt es also den Verrat, als rechtlichen und politischen Tatbestand, vor allem aber als diskursive Ressource, die immer wieder mobilisiert werden kann. Dies zeigte sich auch bei den Veröffentlichungen von amerikanischen Depeschen durch die Plattform WikiLeaks im Jahr 2010 und den harschen Reaktionen darauf. Damit war der Widerstreit zwischen Arkanpolitik und Öffentlichkeitsbeteiligung, Geheimhaltung und Verrat wieder ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit getreten. Die Piratenpartei fordert nun totale Transparenz, und nach der Cicero-Affäre 2005 hat der Deutsche Bundestag eine Gesetzesnovelle im Strafund Strafprozessrecht (PrStG) beschlossen.6 Nach dem Gesetz machen sich Journalisten nun grundsätzlich nicht mehr der Beihilfe zum Geheimnisverrat strafbar, wenn sie geheimes Material, das ihnen zugespielt wurde, veröffentlichen. Dies war zu Zeiten der sozialliberalen Koalition noch anders, als Kanzleramtsminister Horst Ehmke den Staatsanwalt ermächtigen konnte, ein Verfahren gegen verräterische Journalisten einzuleiten, und aus den Medien selbst der Vorwurf des Verrats gegen Kollegen erhoben wurde. Dies stand in Kontrast zu Willy Brandts schon legendärem Anspruch, mehr Demokratie zu wagen, der das Ende von exekutiver Geheimniskrämerei und die Beteiligung der Öffentlichkeit am Politikprozess verhieß. Erst 1967 war der ›Reptilienfonds‹ der Bundesregierung, aus dem Adenauer teilweise seine PR-Arbeit finanzieren ließ, in der Großen Koalition der parlamentarischen Kontrolle unterworfen worden. Jetzt, nachdem sich zahlreiche Journalisten für den neuen Kanzler engagiert hatten und einige von ihnen Stellen im Regierungsapparat annahmen, sollte eine neue Ära der öffentlichen Partizipation beginnen. Die Spiegel-Affäre lag bereits eine gefühlte Generation zurück und das Nachrichtenmagazin warf sich nun für die neue Regierung in die Bresche. Der amtierende Chefredakteur Günter Gaus hatte 1967, damals noch als Fernsehredakteur, mit Günter Grass die Sozialdemokratische Wählerinitiative (SWI) initiiert, und sein Vorgänger, der ehedem auf Betreiben der Bundesregierung verhaftete Chefredakteur Conny Ahlers, wurde nun Regierungssprecher. Doch gerade jetzt eskalierte die Dialektik von Geheimhaltung und Öffentlichkeit zur einer diskursiven Schlacht mit neuen politischen Fronten, bei welcher der Verratsvorwurf von der linkslibera5 Vgl. Horn, Krieg. 6 http://presseservice.pressrelations.de/pressemitteilung/gesetz-fuer-einen-besseren-schutz-von-journalisten-beschlossen-489249.html (23.3.2018).

Verrat der Neuen Ostpolitik 

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len Seite gegen den Publizitätsanspruch der konservativen politisch-medialen Opposition mobilisiert wurde.7 Im Folgenden wird zunächst die Vorgeschichte dieses Konflikts skizziert und dann die Mobilisierung des Verratstopos in der Auseinandersetzung um die Neue Ostpolitik analysiert. Schließlich werden die Ergebnisse in längerfristige Perspektiven eingeordnet.

Ein Akt gezielter Indeskrition Schon Ende Januar 1968 sorgte ein vertraulicher Bericht des deutschen Botschafters in den USA, Heinrich Knappstein, an das Auswärtige Amt für Aufsehen. Inhaltlich ging es um amerikanische Reaktionen auf die Ostpolitik von Außenminister Brandt. Der Autor war der Diplomat Berndt von Staden, aber den diplomatischen Gepflogenheiten entsprechend unterzeichnete der Botschafter als Gesamtverantwortlicher den ausgehenden Bericht. Dieser war eigentlich differenziert geschrieben, in der Rückschau hält von Staden ihn aber für »ein wenig dramatisiert«8. Vor allen Dingen wurde er zugespitzt in der Welt am Sonntag und dann in der katholischen Wochenschrift Echo der Zeit von deren Bonner Redakteur Heinz Vielain wiedergegeben.9 Dies war offenbar ein Akt gezielter Indiskretion, worüber Botschafter Knappstein sich auch beschwerte.10 Der Bericht beschäftigte sich mit Sorgen des ›State Department‹ bezüglich des deutsch-sowjetischen Dialogs, wo man amerikanischerseits die Kontrolle gerade hinsichtlich Berlins behalten wolle und eine zu optimistische deutsche Sicht sowie einseitige Konzessionen bis hin zur Anerkennung der DDR befürchte. Außenamtssprecher Jürgen Ruhfus, ein CDU-Mann, beeilte sich sogleich zu beteuern, es gebe keinerlei Meinungsverschiedenheiten mit den Amerikanern über die Neue Ostpolitik. Diese Erklärung bezeichnete Echo der Zeit als wider besseres Wissen abgegeben.11 Die Stoßrichtung der Welt am Sonntag zielte auf Brandt  : Offensichtlich fühlen sich die Amerikaner von der Bundesregierung nicht umfassend genug unterrichtet. Dies scheint besonders für die Geheimgespräche zu gelten, die Außenminister Brandt seit Wochen mit dem Sowjet-Botschafter Zarapkin führt.12   7 Vgl. dazu ausführlicher Hoeres, Außenpolitik.  8 Vgl. Staden, Eiszeit, 69.   9 Vgl. den Bericht vom 30.1.1968, in  : AAPD 1968, Nr.  37, 117–120  ; Hoff, USA Über Bonns Ostpolitik besorgt, in  : WamS vom 4.2.1968, 1  ; Vielain, Bonn zwischen Fronten der Weltmächte  ?, in  : Echo der Zeit, 11.2.1968, beides auch abgedruckt in  : DzD V/2/1, 126–129 mit Anm. 1. 10 Vgl. AAPD 1968, Nr. 37, 120 f., Anm. 8  ; Taschler, Herausforderungen, 239. 11 DzD V/2/1, 127 mit Anm. 2. 12 Hoff, USA Über Bonns Ostpolitik besorgt, in  : WamS, 4.2.1968, 1.

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In den zahlreichen Rundfunkkommentaren zu diesem Vorfall gingen die Meinungen auseinander  : Während der Norddeutsche Rundfunk den Botschafterbericht durch die bruchstückhafte Wiedergabe für aufgebauscht hielt und der Westdeutsche Rundfunk von einer hellen Begeisterung im ›State Department‹ über die Ostpolitik bei einem Besuch des damaligen Berliner Bürgermeisters Brandt berichtete, hielt der Süddeutsche Rundfunk den Bericht für eine Warnung vor der nächsten drohenden Isolierung der BRD. Der Deutschlandfunk machte einen Rapallo-Komplex in den USA aus und folgerte für die Ostpolitik  : Immer langsam voran  ! Nach Einschätzung des Hessischen Rundfunks lag die Bedeutung des Berichtes nur in seiner Veröffentlichung.13 Die Stoßrichtung der Indiskretion gegen Brandt und seine Ostpolitik war jedenfalls offenkundig. Brandt hielt dies nicht für eine Gefährdung seiner Politik, wie er in der ›Report‹-Sendung des Deutschen Fernsehens sagte, sondern nur für ein bißchen störend.14 Tatsächlich regte sich Brandt ungemein über Indiskretionen und von ihm nicht angeordnetes Leaking auf, wie sein späterer Persönlicher Referent berichtet.15 Kurz darauf drohte er sogar mit Rücktritt, wenn er die vereinbarte Außenpolitik nicht mehr umsetzen könne.16 Nach der Regierungsübernahme der sozialliberalen Regierung polarisierte sich die Medienlandschaft dann in vorher nicht für möglich gehaltenen Ausmaßen. Den linksliberalen Print- und Rundfunkmedien standen die Verlage Springer und Bauer und den eher linken Magazinsendungen der ARD Gerhard Löwenthals ›ZDF-Magazin‹ gegenüber. Dem konservativen Medienverbund aus Verlagen und Löwenthals Redaktion gelang es in Zusammenarbeit mit Unionsabgeordneten immer wieder, durch die Veröffentlichung und Kommentierung interner außenpolitischer Dokumente die sozialliberale Koalition in Bedrängnis zu bringen. Insbesondere der bereits erwähnte Heinz Vielain, nun Bonner Chef von Springers Inlandsdienst, spielte bei der Beschaffung der Papiere eine Schlüsselrolle.17 Vielain sah die Aufdeckungstätigkeit als patriotischen und demokratischen Dienst  : Vieler Geheimhaltungsgebote wegen musste die Presse notgedrungen den Part der Nachrichtenübermittlung an das Parlament übernehmen, und zwar auf dem Umweg über die Unterrichtung der Öffentlichkeit.18 13 Vgl. BPA Kommentarübersicht 9.2.1968, 1–4, Zitat Seite 4  ; 12.2.1968, 5, dort das zweite Zitat. 14 Sendung vom 9.2.1968, 20.45 Uhr, vgl. BPA Kommentarübersicht 9.2.1968, 12.2.1968, Anhang I, 2. 15 Vgl. Wilken, Willy Brandt, 20. 16 BPA Kommentarübersicht 13.2.1968, 5. 17 Vgl. Der Spiegel, 24.01.1972, 20–22  ; Zundel, »Pflichtübung« des Grauzonenspähers Heinz Vielain, in  : Die Zeit, 11.7.1980, 8  ; Löwenthal, Erinnerungen, 312. 18 Vielain, Waffenschmuggel, 142–150, Zitat 150.

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Durch die auflagenstarken Tageszeitungen des Springer Verlages und Bauers Illustrierte Quick, vor allem aber durch Löwenthals Fernsehmagazin erhielten die geleakten Papiere eine große Resonanz, zumal Löwenthals Meinung von der Bevölkerung eine hohe Relevanz zugesprochen wurde. Bei der Allensbach-Frage ›Von wem interessiert Sie besonders, was er zu politischen Fragen sagt oder schreibt  ?‹, führte er zwischen November 1970 und August 1972 die Antwortliste prominenter Journalisten oft mit großem Vorsprung an.19 Das ist der Hintergrund für den Verratsdiskurs, der wiederum von einem politisch-medialen Verbund, bestehend aus Regierungsvertretern und vor allem dem Spiegel initiiert wurde, um die staatsloyalen Konservativen in ihrer Ehre und Moral zu treffen und sie damit öffentlich zu diskreditieren.

Leakings als Verrat Ironischerweise mobilisierte also vor allem das investigative Magazin par excellence, Der Spiegel, den Verratsvorwurf in der Auseinandersetzung um die Neue Ostpolitik gegen die Opposition und konkurrierende Medien. Dabei bediente sich das Magazin einer kriminalisierenden Sprache. So wurde Axel Springer als publizistische[r] Komplice der CDU/CSU20, Springer, Bauer und das ZDF-Magazin als die publizistischen Helfershelfer21 der Union und die Whistleblower als verräterische[] Helfershelfer22 gebrandmarkt. Die die ganze Neue Ostpolitik begleitende Serie von Leakings sensibler Regierungspapiere durch Springer, Quick und ›ZDF-Magazin‹ wurde in einer Titelgeschichte mit der Schlagzeile Verrat in Bonn als rechte Verratsoffensive ausgegeben.23 Dieser Diskurs erreichte parallel zur Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition mit zwei längeren Spiegel-Stücken und einem Interview mit Außenamtsstaatsekretär Paul Frank im Frühjahr 1972 seinen Höhepunkt, als die zusammengeschnittenen Protokollauszüge der Verhandlungen über den Moskauer Gewaltverzichtsvertrag an die Opposition und die Öffentlichkeit gelangten. Aus den Protokollen wurde dann in der mit erotischen Covern aufwartenden Illustrierten Quick, in der Welt und in der FAZ zitiert. Quick-Chefredakteur Wilfried Ahrens meinte in seinem ›Lead‹, schon mög19 Vgl. Noelle-Neumann, Jahrbuch 1968–1973, 183. Zu Löwenthal vgl. die biographischen Studien von Winckler, Journalist  ; Winckler, Löwenthal. 20 Der Spiegel, 17.4.1972, 21. 21 Der Spiegel, 24.4.1972, 25. 22 Ebd., 22. 23 Vgl. ebd., 21–34, Zitat 26.

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liche Vorwürfe antizipierend, die SPD müsse den Absender der Papiere in den eigenen Reihen suchen. Die Indizien dafür waren freilich dünn  : Der Absender nannte sich »Kurt Schuhmacher«. Umso brisanter war der Inhalt, zeigte er doch die bereitwillige Abkehr der deutschen Regierungsvertreter von allen bisherigen deutschlandpolitischen Grundsätzen. Die Wiedervereinigung schien keine Rolle mehr zu spielen. Die Protokollauszüge erlaubten gleichsam einen Einblick in die Herzkammer der Neuen Ostpolitik, deren Zentrum der Moskauer Vertrag bildete (Abb. 1).24 Anfang 1970 hatten die Moskauer Verhandlungen an Fahrt gewonnen, als der bundesdeutsche Botschafter Helmut Allardt durch Brandts Intimus Egon Bahr, Staatssekretär im Bundeskanzleramt, als Verhandlungsführer ersetzt worden war. Bahrs Beratungen mit dem sowjetischen Außenminister Gromyko wurden als Verschlusssachen eingestuft und nur einem eingeschränkten Verteiler in der Botschaft Moskau  – der Bundesnachrichtendienst (BND) wurde ausgeschlossen25  – sowie in Bonn zugänglich gemacht. Gleichwohl wurde sowohl ein ›Bahr-Papier‹, eine zehn Punkte umfassende schriftliche Fixierung der Gesprächsergebnisse von Bahr und Gromyko aus dem Mai 197026, als auch ein weitgehend damit identisches ›Gromyko-Papier‹, das Gromyko am 6. März 1970 Bahr übergeben hatte und mit dem die Übernahme von sowjetischen Vorstellungen durch Bahr demonstriert werden sollte, an die Presse geleakt.27 Dann gelangte Unionsfraktionschef Rainer Barzel – wann zuerst, ist unklar – und eine Reihe weiterer Oppositionspolitiker und danach eben die vom Spiegel sogenannte ›Oppositionspresse‹ der Verlage Springer und Bauer sowie die Frankfurter Allgemeine Zeitung durch anonyme Postsendungen mit abgetippten Auszügen in Besitz der Moskauer Verhandlungsprotokolle der Gespräche von Bahr mit Gromyko bzw. Kossygin sowie von Scheel und Staatssekretär Frank mit Außenminister Gromyko und Botschafter Falin, ferner der Unterredungen von Brandt mit Kossygin. Die Bundesregierung hatte nur ganz auszugsweise aus diesen Gesprächsnotizen die Opposition unterrichtet. Der Spiegel mobilisierte nun den Verratsvorwurf als kriminellen Akt gegen die Veröffentlichungsstrategie der Opposition  : Die Christenunion, die sich als Staatspartei stets auf parlamentarische Sitte und politischen Anstand berufen hatte, scheute letzte Woche nicht davor zurück, ein kriminel24 Vgl. Quick, 26.4.1972  ; Die Welt, 18.4.1972  ; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.4.1972, 4  ; Hoeres, Außenpolitik, Kapitel IV, 11  ; Grau, Strom, 272–275  ; Schneider, Mertes, 123–150. 25 Vgl. Der Spiegel, 24.4.1972, 32. 26 Vgl. Bild, 12.6.1970, 1 u. letzte S.; Bild, 1.7.1970, 1. u. letzte Seite  ; Quick, 8.7.1970, 20–22 u. 90. 27 Vgl. Der Spiegel, 3.8.1970, 26–28.

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Abbildung 1  : Durch das Layout erhielten die Protokollfragmente die Anmutung eines Originals. Einschlägige Stellen werden von der Redaktion durch Unterstreichungen und Erläuterungen am Rand entsprechend geframed, die Zitate damit gleichsam übersetzt. Die Fotografie samt Caption (»Zufrieden mit den Verhandlungen«) unterstreicht die Aussage des Stückes  : Deutsche und Sowjets sitzen einträchtig am Tisch, die deutschen Politiker Scheel und Bahr wirken dabei geradezu fröhlich.

les Delikt in ihrem Kampf gegen die verhaßte Linkskoalition auszuschlachten. Sie bediente sich des Fünf-Seiten-Elaborats eines unbekannten Verräters aus manipulierten Protokoll-Fragmenten der Moskauer Vertragsverhandlungen von 1970, um der SPD/ FDP-Regierung den Ausverkauf nationaler Interessen anzulasten.

Für das Nachrichtenmagazin war das der schwerste Fall von Geheimnisverrat in Deutschland, seit Pensionär Bismarck am 24.  Oktober 1896 den supergeheimen ›Rückversicherungsvertrag‹ zwischen dem Deutschen Reich und Rußland preisgab […].28 Im Versuch der Skandalisierung benutzte Der Spiegel allein in einem Artikel 27 Komposita des Verratsbegriffes, dabei auch verbale Neuschöpfungen wie den sinnigen Begriff ›Verratsunion‹. Vor allem fokussierte das Magazin semantisch personalisierend auf den ›Verräter‹, der damit zum Kriminellen abgestempelt wurde. Der Spiegel scheute auch nicht davor zurück, einen Verdächtigen namentlich zu benennen, und zwar den Botschaftsrat der bundesdeutschen Botschaft Joachim Peckert, der als strammer CSU-Mann gelte.29 Dieser Verdacht 28 Beide Zitate in  : Der Spiegel, 24.4.1972, 21. 29 Der Spiegel, 17.4.1972, 23.

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Peter Hoeres Abbildung 2  : Der Spiegel-Titel vom 24.4.1972 lud die Veröffentlichung der Verhandlungsprotokolle über den Moskauer Gewaltverzichtsvertrag eindeutig auf  : die rote, schräg gestellte Schlagzeile gab die Wertung der Veröffentlichung eindeutig vor. Die Dachzeile »Moskauer Geheimprotokolle«, grafisch zurückgesetzt, steuert die Konnotation einer Spionagegeschichte bei.

bestätigte sich freilich nicht. Das Magazin versuchte nun en détail den aus den Leaks hervorgehenden Eindruck der Komplizenschaft Bahrs mit Gromykos entgegenzuwirken, indem vor allem immer wieder auf den Montage-Charakter der Protokollauszüge und die unlauteren Absichten verwiesen wurde.30 Der Vorwurf gegen die Oppositionspresse war angesichts der dezidierten Parteinahme des Magazins unter seinem Chefredakteur Gaus, der später auch in den Dienst der Regierung trat, heikel, zumal angesichts der erst zehn Jahre zurückliegenden Spiegel-Affäre, in der es bekanntlich ebenfalls um ›Geheimnisverrat‹ gegangen war. Im Rückblick verdächtigte Egon Bahr einen anderen Botschaftsrat aus Moskau, Immo Stabreit, als Quelle der Publikation des ›Bahr-Papiers‹. Angeblich hatte Bahr, so seine Auskunft31, von Rainer Barzel den Hinweis auf Stabreit erhalten. Sowohl Stabreit als auch Barzel dementierten energisch, und Bahr hat das respektiert.32 Stabreit hielt es, wie er versicherte, auch nicht für möglich, dass die sensiblen Informationen überhaupt von Angehörigen des Auswärti30 Vgl. Der Spiegel, 24.4.1972, 21–34. 31 Vgl. Bahr, Zeit, 325. 32 Brief Bahrs an den Verfasser vom 29.7.2010.

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gen Dienstes weitergegeben worden seien.33 Amtsinterne Untersuchungen der 1970er und erneut der 1990er Jahre brachten jedenfalls bis heute kein Licht in die ›Durchstechereien‹34. Beamte des Auswärtigen Amtes entdeckten aber auf einem Faksimile des ›Bahr-Papiers‹ im Stern 1970 einen Eingangsstempel des Bundeskanzleramtes.35 Als Quelle der Leaks vermutete Der Spiegel immer wieder den deutschen Auslandsgeheimdienst BND, auch Außenamt-Staatssekretär Frank deutete das an.36 Frank erregte sich besonders und auch öffentlich über die ›Verratskette‹37. Schon vor den Leaks der Moskauer Verhandlungen hatte Frank mit Blick auf geleakte Botschaftstelegramme aus Washington – auch hierbei ging es um Zugeständnisse Bahrs gegenüber den Sowjets, nämlich die zuvor abgelehnte Einrichtung eines Generalkonsulats in West-Berlin – in der FAZ die ›Verräter‹ in die Nähe der NPD-nahen ›Aktion Widerstand‹ gerückt  : Welche ausländische Regierung würde in der Zukunft noch Neigung haben, mit Vertretern der Bundesregierung vertrauliche Gespräche zu führen, wenn sie mit der Möglichkeit rechnen muß, die Berichte unserer Botschaften in Illustrierten der Bundesrepublik abgedruckt zu finden. […] Wer diese Entscheidung [über die Ratifizierung der Ostverträge, P.H.] mit den Mitteln der ›Aktion Widerstand‹ vorwegnehmen will, zerstört auf lange Sicht den Staat und die Demokratie. Und da gibt es nichts herunterzuspielen.38

Die Berichterstattung über die Schriftstücke im ›ZDF-Magazin‹ hatte Außenamts-Pressereferent Guido Brunner noch erfolglos zu verhindern gesucht.39 Die Quick, deren Chefredakteur Wilfried Ahrens von Löwenthal bereits interviewt worden war, machte nun groß mit der Schlagzeile Bonn will Berlin verschenken auf und stellte die sowjetischen und westlichen Positionspapiere in den Berlin-Verhandlungen gegenüber und konfrontierte diese mit Bahrs Gesinnungswechsel.40 Nun wurde auch die Bonner Staatsanwaltschaft zur Ermittlung gegen die Journalisten nach dem überkommenen § 353c StGB (Geheimnisverrat 33 Brief Stabreits an den Verfasser vom 6.7.2010. 34 Vgl. Schwarz, Bahrs Blindgänger, in  : Focus, 16.9.1996, http://www.focus.de/politik/deutschland/ ostpolitik-bahrs-blindgaenger_aid_159844.html (11.4.2018). Andere verdächtigen Kissinger als Urheber der Indiskretionen, was Bahr für abwegig hält, vgl. Fuchs, Dreiecksverhältnisse, 242–245. 35 Vgl. Der Spiegel, 3.8.1970, 26–28. 36 Vgl. Franks Interview mit dem Spiegel vom 24.4.1972, 24 f. 37 Der Spiegel, 24.4.1972, 24. 38 Frank, Die Washingtoner Papiere, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.8.1971, 5. 39 Abdruck des Fernschreibens bei Löwenthal, Erinnerungen, 319, 322. 40 Quick 4.8.1971, 8–11.

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durch Nichtgeheimnisträger) von Kanzleramtsminister Ehmke am 13. August 1971 ermächtigt  ; die Bundesregierung musste nach diesem, erst 1979 aufgehobenen Tatbestand der Ermittlung zustimmen.41 Große Aufregung erregten dann die zunächst wegen einer möglichen Steuerhinterziehung, dann wegen ›Verwahrungsbruch‹ erfolgten Hausdurchsuchungen beim Bonner Quick-Korrespondenten Paul Limbach, an welche sich, ebenfalls wegen ›Verwahrungsbruchs‹, Hausdurchsuchungen in den QuickBüros in München und Bonn und im Bauer-Verlag in Hamburg im Sommer 1972 anschlossen. Der Quick-Informant konnte bei diesen Aktionen freilich nicht identifiziert werden. Quick und Welt nannten den Vorgang in Anlehnung an das berühmte Spiegel-Vorbild ›Quick-Affäre‹. Redaktionsleiter Heinz van Nouhuys beschwerte sich bei Willy Brandt, der ebenso wie Ehmke und Justizminister Jahn jede Beteiligung von sich wies.42 Skepsis in Bezug auf Ehmke und den Hautgout des Ganzen zeigten aber auch linksliberale Printmedien, was wiederum die Quick aufnahm.43 Die parlamentarische Aufklärung des Ganzen verlief im Sande, da im Falle Limbachs der nordrhein-westfälische Finanzminister Wertz gerichtlich zur strikten Beachtung des Steuergeheimnisses verpflichtet wurde  ; von Limbach selbst war eine einstweilige Verfügung beantragt worden.44 Der Verfassungsbeschwerde gegen die Durchsuchung der Münchener QuickBüros, welche die Bonner Staatsanwaltschaft beim Münchener Amtsgericht erwirkt hatte, wurde 1976 durch das Bundesverfassungsgericht stattgegeben.45 Die Ermittlungen zur Weitergabe dieser Telegramme endeten erst zwei Jahre später ohne Ergebnis bzw. mit der Aufhebung einer Geldstrafe gegen Ahrens. Parallel wurde im Regierungsapparat ermittelt, ebenfalls ohne Ergebnis. Löwenthal, der selbstredend auch ins Visier der Staatssicherheit geriet, wertete die Auseinandersetzung als »Verschwörung zu einem Anschlag auf die Pressefreiheit, der ohne Beispiel ist in der Geschichte der Bundesrepublik«, mithin die Spiegel-Affäre in den Schatten stelle.46 Aus historischer Perspektive ist diese Einschätzung sicherlich überzogen, denn diesmal wurde niemand inhaftiert. Allerdings geriet der ganze Vorgang schnell aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit, auch die historische Forschung hat sich damit kaum befasst. Von daher 41 Vgl. Löwenthal, Erinnerungen, 316–334, hier 304. In seiner Autobiographie äußert sich Ehmke zu dem Sachverhalt nicht, vgl. Ehmke, Mittendrin. 42 Vgl. die Materialien in  : WBA, A 8, Mappe 16. 43 Vgl. »Die Weltpresse ist solidarisch mit der QUICK«, in  : Quick, 30.8.1972, 11b. 44 Vgl. Der Spiegel, 25.9.1972, 54–57. Auch Der Spiegel-Artikel benutzte den Begriff ››Quick‹-Affäre‹, allerdings eher auf die Steuerverfehlungen des Intimfeindes Limbach gemünzt. 45 Vgl. den Beschluss des Zweiten Senats vom 26. Mai 1976, http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv042212. html (11.4.2018). 46 Vgl. Löwenthal, Erinnerungen, 316–334, Zitat 331.

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versuchte Löwenthal mit seiner Formulierung die Aufmerksamkeit auf das doch erhebliche staatliche Vorgehen gegen Journalisten zu lenken. Jedenfalls trug diese Auseinandersetzung überdeutlich die Signatur der innermedialen Polarisierung über die Neue Ostpolitik. Abseits der amtlichen Ermittlungen nutzten Ehmke und SPD-Geschäftsführer Wischnewski mit Wolfgang Göbel einen Informanten des im Jahr1969 gegründeten, seinerseits über geheime Verbindungen ins Regierungslager verfügenden Axel-Springer-Inland-Diensts (ASD). Göbel gab über die Aktivitäten des Springer-Verlages und Lecks in der SPD-Fraktion Auskunft. Bezichtigt wurde der SPD-Abgeordnete Franz Seume, der vom Stern (zusammen mit dessen Kollegen Willy Bartsch) als großer Verräter der Ostpapiere präsentiert wurde47  – vorschnell, wie Der Spiegel mit einem Seitenhieb auf den ›Brandt-Sympathisant[en]‹ Henri Nannen feststellte, denn Seume, der bald nach diesen Berichten die SPD-Fraktion verließ und Gast der Unionsfraktion wurde, hatte eher nachgeordnetes Material an den ASD geliefert.48 Göbel wiederum gab zu, Meldungen und Hausmitteilungen des ASD weitergegeben und auch über Aufträge zur Dokumentenbeschaffung informiert zu haben, nicht jedoch geheime Unterlagen gestohlen zu haben. Er selbst habe sich, erschrocken über die Feindseligkeit bei Springer und die vorzeitige Veröffentlichung des deutsch-sowjetischen Vertrages, an Wischnewski gewandt. Umgekehrt hätte Vielain ihn als Informanten bei der SPD einspannen wollen. Gerhard Löwenthal berichtete noch einmal am 5.  September 1973 über diese Spitzelgeschichte.49 Die staatliche Geheimdiplomatie via geheimdienstlich organisierter back channels hatte ihr mediales Pendant in der Konspiration und (Gegen-)Spionage von Medien, Regierungsstellen und Parteien erhalten. Ein weiteres Scharmützel im Illustriertenkrieg zwischen Stern und Quick, welche auflagenmäßig die Oberhand zu gewinnen drohte, war 1973 der Versuch des Stern, seinen ehemaligen Mitarbeiter und nunmehrigen Quick-Redaktionsdirektor Heinz van Nouhuys als Doppelagent von MfS und BND in den 50er Jahren zu entlarven.50 Dies geschah just, als ein Bundestagsuntersuchungsausschuss sich mit einer Quick-Veröffentlichung beschäftigte, in welcher der Unionsabgeordnete Julius Steiner angegeben hatte, er sei von SPD-Geschäftsführer Wienand, dem nach der Wende Spionage für die Stasi gerichtsfest nachgewiesen 47 Vgl. Seufert, Spionage, 118 f. 48 Vgl. Der Spiegel, 24.1.1972, 20–22. Auch Der Spiegel machte den Bonner ASD-Korrespondenten Heinz Vielain als Materialbeschaffer Springers aus. Woher der sein Material bezog, konnte Der Spiegel aber nur im Fall des Berliner Rahmenabkommens herausfinden, das Vielain von der britischen Botschaft erhalten habe (vgl. ebd., 21). 49 Vgl. Nawrocki, Spitzel oder Vaterlandsretter, in  : Die Zeit, 28.9.1973. 50 Vgl. Der Doppelagent, in  : Stern, 25.10.1973, 198–208.

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wurde, für seine Stimmabgabe gegen Barzels Misstrauensvotum bestochen worden.51 Der Stern hatte Quittungen und Informationen von der Stasi erhalten, die den erbitterten Feind der Ostpolitik van Nouhuys so diskreditieren wollten. Den Kontakt zur Stasi hatte ein Bundestagsabgeordneter hergestellt. Der Stern hatte sich in der Sache außerdem eng mit hochrangigen SPD-Leuten im BND, nämlich Vizepräsident Dieter Blötz und Abteilungsleiter Herbert Rieck sowie Kanzleramtschef Horst Grabert abgestimmt. Von Grabert hatte Stern-Mann Manfred Bissinger die ersten Informationen erhalten, daraufhin hatte er seine Leute auf den verhassten Kollegen Nouhuys angesetzt. Auch Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau sekundierte. BND-Mann Blötz wurde jedoch sowohl von nachgeordneten Mitarbeitern bloßgestellt, die bestritten, dass es sich bei den Stasi-Unterlagen um beweiskräftiges Material handle, als auch von BNDChef Gerhard Wessel, der vor dem Vertrauensmännergremium des Bundestages eine Tätigkeit von Nouhuys für BND und Stasi bestritt. Im sich anschließenden Rechtsstreit bekam Nouhuys mit seiner Klage vor dem Münchener Landgericht zunächst recht. Die Kooperation von Stasi und Stern, von Stern und Grabert, sowie dem BND und Bundestagsabgeordneten hatte noch diverse parlamentarische Nachspiele zur Folge und erregte immer wieder die Opposition und Teile der Medien. Erst 1988 beendete das Münchener Oberlandesgericht den Rechtsstreit mit einem Unentschieden  : Der Stern habe seine Sorgfaltspflicht nicht verletzt, Nouhuys Rolle in den 1950er Jahren sei aber nicht mehr mit Sicherheit aufzuklären. Beide Seiten, Stern und die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter auf der einen (deren Kontakt bis zu den ›Hitler-Tagebüchern‹ andauerte), Nouhuys auf der anderen Seite, blieben bei ihren Positionen. Nouhuys bestritt nicht Kontakte zu den beiden Geheimdiensten, dementierte aber nachdrücklich eine Spionagetätigkeit.52 Der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes Richard Meier bestätigte 1984 in einem Gutachten, dass die Stasi-Unterlagen eine nachrichtendienstliche Tätigkeit von Nouhuys nicht belegten.53 Unabhängig davon zeigt diese Kampagne gegen Nouhuys, wie SPD-Seilschaften zwischen den ehemals unionsdominierten Behörden Bundeskanzleramt und BND entstanden, diese bei der Aktion gegen die Quick mit deren Konkurrenz vom Stern eng zusammenarbeiteten und teilweise mit der Stasi über Bande spielten, die gleichzeitig den Unionsabgeordneten Steiner bestechen konnte. 51 Vgl. Merseburger, Visionär, 690–697. 52 Vgl  ; Der Spiegel, 21.10.1975, 44 f.; Der Spiegel, 22.7.1991, 58–63  ; Koch, Fund, 237–267  ; Schell, Protokoll  ; Schmidt-Eenboom, Undercover, 233–241  ; Waske, Liaison, 191 f. Nichts Erhellendes findet sich zu diesem Komplex in den Memoiren Horst Graberts, vgl. Grabert, Lebensweg, 156 f. 53 Vgl. Knabe, Charme, 278.

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Die Zeit von Brandts Kanzlerschaft war also eine Zeit intensiver Verräterei  : Leaking, Spionage und Gegenspionage im Geflecht von Politik, Geheimdiensten und Medien kennzeichneten eine polarisierte politische und mediale Landschaft. Als Willy Brandt 1971 in den USA in einem ABC-Interview zur Publizierung der ›Pentagon Papers‹ über Vietnam durch die New York Times befragt wurde, klang es für die Ohren deutscher Beobachter sehr merkwürdig, dass der Kanzler dazu – als wäre das nach den ersten Veröffentlichungswellen 1970 nur hypothetisch – sagte  : Ich glaube aber, obwohl ich selbst Journalist bin, wenn ich als Kanzler erleben würde, daß von der Regierung als vertraulich klassifizierte Papiere veröffentlicht würden, dann würde mir das vermutlich auch nicht sehr gefallen.54 Die Gegnerschaft Brandts zu Springer, Bauer und Löwenthal war da bereits, auch aufgrund der zahlreichen ›Verratsaffären‹, fixiert und kochte auch aus anderen Anlässen immer wieder hoch.55

Die linksliberale Mobilisierung der Verratsvorwürfe in der Ära Brandt Zur Zeit des hier beschriebenen außenpolitischen Verratsdiskurses wurde der Radikalenerlass verabschiedet, der sich gegen linksextreme Disloyalitäten im öffentlichen Dienst wendete, gegen potenzielle Verräter also. An dem Beschluss hatte Willy Brandt 1972 mitgewirkt. Zwei Jahre später stürzte er über einen Verräter aus seiner engsten Umgebung, den DDR-Spion Günter Guillaume. Der Verratsvorwurf war unterdessen politisch gewandert. Die linksliberalen Medien, vor allem Spiegel und Stern, Diplomaten und Politiker mobilisierten ihn gegen die konservative Opposition in Politik und Medien. Konservative Journalisten und Politiker adaptierten dagegen die Rolle der Investigatoren und sahen sich als kritische Öffentlichkeit, die aber ihrerseits explizit oder implizit den Verratsvorwurf mobilisierte, und zwar gegen die Arkanpolitiker der sozialliberalen Regierung, welche die nationalen Interessen an den Ostblock verrieten. Man wanderte damals also in der von Boveri beschriebenen ›Landschaft des Verrats‹, der Verratsvorwurf war omnipräsent und konnte jederzeit mobilisiert werden. Bei einem vom Selbstverständnis her kritisch-investigativem Magazin wie dem Spiegel war angesichts der engen Abstimmung von Brandt und Bahr mit Gaus trotz einiger Streite die journalistische Unabhängigkeit kaum mehr gewährleistet, zumal Gaus noch ständig für ein politisches Amt im Gespräch war, 54 BPA Kommentarübersicht 22.6.1971, Anhang 1, 6. 55 Vgl. Münkel, Vierte Gewalt, 150 f.; Löwenthal, Erinnerungen, 288–358.

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das er dann auch übernahm. Systemtheoretisch gesprochen waren die Kommunikationen des Magazins nicht mehr Teil der Umweltbeobachtung des Politiksystems, sondern Kommunikationen des Politiksystems selbst.56 Die konservativen und nationalliberalen Journalisten separierten sich mit ihrer strikten Oppositionshaltung von dieser Symbiose aus Regierung und Medien, auch wenn nicht überall der Kontaktfaden abriss. Auch hier war jedoch keine journalistische Neutralität und Äquidistanz zu den Parteien vorhanden, vielmehr arbeiteten viele dieser Journalisten eng mit Oppositionspolitikern zusammen. Sie entdeckten nun Investigation und Enthüllung als journalistische Kardinaltugenden. Dabei nahmen sie die Beschaffung und Publikation von regierungsinternen Akten wie selbstverständlich in Anspruch. Auch hier veränderte sich also das journalistische Selbstverständnis. Es kann geradezu von einem Rollenwechsel der journalistischen Lager gesprochen werden, denn die linksliberale Seite kritisierte jetzt die Veröffentlichung von Dokumenten aus dem Arkanbereich der Regierung als Verrat. Dabei kam es zu einer in dieser Schärfe neuartigen Polarisierung innerhalb der Medien, sowohl in den Printmedien als auch im Fernsehen. Besonders bei den Printmedien spielten Konkurrenzmotive eine Rolle, so bei der Spiegel-Kampagne gegen Springer, so auch bei der Stern-Attacke gegen Quick und ihren Redaktionsdirektor van Nouhuys. Hatten Springer, Quick und das ›ZDF-Magazin‹ Informanten und Verbündete im Regierungsapparat, welche sie mit internen Dokumenten versorgten, so interagierten bei den Gegenmaßnahmen Regierungspolitiker, Geheimdienstleute und Journalisten, die ebenfalls über Zuträger im anderen Lager verfügten. Ebenso mischte die DDR-Staatssicherheit mit. War dieses Klima des Verrats dem Kalten Krieg geschuldet  ? Kriegszeiten sind für den Verrat besonders fruchtbare Zeiten und der Kalte Krieg bildete auch und gerade die Signatur der Entspannungsära. Die besondere Schärfe des Verratsvorwurfes ergab sich bei den aufgezeigten Fällen einerseits durch die Bindung vieler Politiker und Journalisten an die Person Willy Brandts. Der anonyme Verrat an eine anonyme Öffentlichkeit wurde dadurch personalisiert und verstärkt. Zudem wurden zwar trotz aller Anstrengungen und Verdächtigungen nicht die eigentlichen Verräter aus dem Behördenapparat dingfest gemacht, mit Barzel, Limbach, Löwenthal, Nouhuys, Vielain und Springer erhielten aber die ›Helfershelfer‹ Gesichter  ; auch und letztlich primär auf sie fiel dann der Verratsvorwurf. Dass der Verrat vor dem Hintergrund des Kalten Krieges eine Angelegenheit des nationalen Interesses und von Krieg und Frieden war, worauf auch immer

56 Vgl. dazu Luhmann, Politik, 311f.

Verrat der Neuen Ostpolitik 

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man den Verrat im Einzelnen bezog, gab der Auseinandersetzung zu Beginn der 1970er Jahre die spezifische Schärfe. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist der Verrat freilich nicht ausgestorben, wie Wikileaks und ›Vatileaks‹ zeigen. Loyalitäten und Geheimnisse und die Möglichkeit ihres Verrates spielen weiter eine Rolle. Im Internetzeitalter mit den Forderungen nach totaler Transparenz scheinen diese Kategorien relevanter denn je zu sein, da der Geheimnisbruch unkontrollierbare Folgen zeitigt, erreicht er doch gleich eine tendenziell totale Öffentlichkeit. Daher wird auch der Verrat als diskursive Ressource zur moralischen und rechtlichen Diskreditierung der Illoyalität weiterhin mobilisiert werden können. Quellen Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1968, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte, Hauptherausgeber  : Hans-Peter Schwarz, München 1999. Dokumente zur Deutschlandpolitik, V. Reihe/Bd. 2, 1. Januar bis 31. Dezember 1968, Erster Halbband (1.1.–30.6.1968), hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, bearbeitet von Gisela Oberländer, Frankfurt a. M. 1987. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Kommentarübersicht (Rundfunk- und Fernsehdienst), Bonn 1968, 1971. Willy Brandt Archiv im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.

Zeitungen und Zeitschriften Bild Echo der Zeit Frankfurter Allgemeine Zeitung Quick Stern Der Spiegel Die Welt Welt am Sonntag Die Zeit

Literatur Bahr, Egon, Zu meiner Zeit, München 1996. Boveri, Margret, Der Verrat im XX. Jahrhundert, Hamburg 1956–1960. Enzensberger, Hans Magnus, Zur Theorie des Verrats, in  : Ders., Politik und Verbrechen. Neun Beiträge, Frankfurt a. M. 1978, 362–383.

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Peter Hoeres

Fuchs, Stephan, »Dreiecksverhältnisse sind immer kompliziert«. Kissinger, Bahr und die Ostpolitik, Hamburg 1999. Grabert, Horst, Wehe, wenn Du anders bist  ! Ein Politischer Lebensweg für Deutschland, Dößel 2003. Grau, Andreas, Gegen den Strom. Die Reaktion der CDU/CSU-Opposition auf die Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition 1969–1973, Düsseldorf 2005. Hoeres, Peter, Außenpolitik und Öffentlichkeit. Massenmedien, Meinungsforschung und Arkanpolitik in den deutsch-amerikanischen Beziehungen von Erhard bis Brandt, München 2013. Horn, Eva, Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a. M. 2007. Knabe, Hubertus, Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien, Berlin/München 2001. Koch, Peter-Ferdinand, Der Fund. Die Skandale des »Stern«, Gerd Heidemann und die Hitler-Tagebücher, Hamburg 1990. Löwenthal, Gerhard, Ich bin geblieben. Erinnerungen, München/Berlin 1987. Luhmann, Niklas, Die Politik der Gesellschaft, hrsg. von André Kieserling, Frankfurt a. M. 2000. Merseburger, Peter, Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart/München 2002. Münkel, Daniela, Willy Brandt und die »vierte Gewalt«. Politik und Massenmedien in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt a. M./New York 2005. Noelle-Neumann, Elisabeth, Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1968–1973, Allensbach/Bonn 1974. Schmitt, Carl, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1995. Schneider, Georg S., Alois Mertes (1921–1985). Das außenpolitische Denken und Handeln eines Christlichen Demokraten, Düsseldorf 2012. Schell, Manfred, Protokoll eines Komplotts, Mainz 1980. Schmidt-Eenboom, Erich, Undercover. Wie der BND die deutschen Medien steuert, München 1999. Staden, Berndt von, Zwischen Eiszeit und Tauwetter. Diplomatie in einer Epoche des Umbruchs. Erinnerungen, Berlin 2005. Taschler, Daniela, Vor neuen Herausforderungen. Die außen- und deutschlandpolitische Debatte in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion während der Großen Koalition (1966–1969), Düsseldorf 2001. Vielain, Hans, Waffenschmuggel im Staatsauftrag. Was lange in Bonn geheim bleiben mußte, Herford 1986. Waske, Stefanie, Mehr Liaison als Kontrolle. Die Kontrolle des BND durch Parlament und Regierung 1955–1978, Wiesbaden 2009. Wilke, Reinhard, Meine Jahre mit Willy Brandt. Die ganz persönlichen Erinnerungen seines engsten Mitarbeiters, Stuttgart/Leipzig 2010. Willms, Johannes, Talleyrand. Virtuose der Macht 1754–1838, München 2011.

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1  : Aus der Quick, 26.4.1972, ULB Münster, Zeitungs- und Pressearchiv. Abbildung 2  : Der Spiegel-Titel vom 24.4.1972, ULB Münster, Zeitungs- und Pressearchiv.

Die Autorinnen und Autoren Depkat, Volker, Dr. phil., Universitätsprofessor für Amerikanistik an der Universität Regensburg. Dircksen, Katrin, M.A., ECIU Secretary General, University of Twente. Haug, Tilman, Dr. phil., Postdoc an der Universität Duisburg-Essen. Haug-Moritz, Gabriele, Dr. phil., Universitätsprofessorin für Allgemeine Geschichte der Neuzeit, Institut für Geschichte der Universität Graz. Hoeres, Peter, Dr. phil., Universitätsprofessor für Neueste Geschichte, Institut für Geschichte der Universität Würzburg. Hoffmann, Ulrich, Dr. phil., Akademischer Oberrat a. Z. am Germanistischen Institut der Universität Münster. Krischer, André, Dr. phil., Privatdozent und Akademischer Rat a.Z. am Historischen Seminar der Universität Münster. Livi, Massimiliano, Dr. Dr. phil., Privatdozent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier. Neu, Tim, Dr. phil., Juniorprofessor für die Geschichte der Europäischen Expansion, Historisches Institut der Universität Bochum. Oberhofer, Andreas, Dr. phil., Leiter des Stadtarchivs Bruneck. Pečar, Andreas, Dr. phil., Universitätsprofessor für Geschichte der Frühen Neuzeit, Institut für Geschichte, Universität Halle-Wittenberg. Schulz, Fabian, Dr. phil., Leiter der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe »Macht und Einfluss. Einflussnahme auf den Herrscher zwischen Antike und Mittelalter«, Universität Tübingen.

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Die Autorinnen und Autoren

Schwedler, Gerald, Professor für Spätes Mittelalter und Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Christian-Albrechts Universität Kiel. Thunemann, Fabian, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Geschichte Osteuropas, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin. Zierenberg, Malte, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 20.  Jahrhunderts, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin.

Personenregister Achmatova, Anna 275f. Adenauer, Konrad 27, 115, 132, 332 Aguilar, Jerónimo de 243, 249 Ahlers, Conny 332 Ahrens, Wilfried 335, 339f. Albizzi, Mario 169 Allardt, Helmut 336 Allen, Ethan 201 André, John 195–198 Angerer, Peter 234 Appian von Alexandria 46f., 49f., 53f. Arnold, Benedict 35, 40, 195ff. Arnold, Benedict Sen. 200 Arnulf, Bischof von Metz 58 Asam, Werner 235 Auer, Andreas 218, 220 Auer, Benedikt d.J. 230f. Augstein, Rudolf 115 Augustus/Octavian, römischer Kaiser 30, 48ff., 52, 55 Badoglio, Pietro 38, 297f., 302–305, 307, 311 Bahr, Egon 336–339, 343 Baltrusch, Ernst 54 Baraguay d’Hilliers, Louis 217f. Bartsch, Willy 341 Barzel, Rainer 336, 338, 342, 344 Bažanov, Boris 259 Becker, Gottfried Wilhelm 220 Berger, Christian 233f. Bèze, Theodor de 103ff. Bissinger, Manfred 342 Blomberg, Werner von 294 Blötz, Dieter 342 Boccas degli Alberti 69 Bodin, Jean 156 Boleyn, Anne 179 Bolswert, Boëtius Adamsz 16 Borges, Jorge Luis 116 Bormann, Martin 285

Bourgois, Joannes 16 Boveri, Margret 9ff., 27, 301, 308, 331, 343 Bradshaw, John 144 Brandt, Willy 39, 332ff., 336, 340, 343f. Braubach, Max 155 Brecht, Bertolt 321 Brown, John 204 Brunner, Guido 339 Bucharin, Nikolai 258, 269, 271 Buosos da Duera 69 Campion, Edmund 182ff. Canavesio, Giovanni 18 Cassius Dio 45–50, 52, 69 Catesby, Robert 186f. Cecil, William, 1st Baron Burghley 182, 184 Cheney, Dick 7 Chiavacci, Vinzenz 214 Chrodoald 58f. Ciano, Galeazzo 310f. Clemente Orozco, José 253 Clinton, Hillary 28 Clinton, Sir Henry 195ff. Cogswell, James 201 Coligny, Gaspard II. de 102–106, 108 Coligny-d’Andelot, François de 105 Conring, Hermann 167 Cook, John 143, 147f. Cortés, Hernán 35f., 241–254 Cortés, Martín 242–254, Cranford, James 189f. Cromwell, Oliver 33, 140f., 144, 146ff. Cuauhtémoc 242, 251 Čuev, Feliks 267 Damaskus, Nikolaos von 52f. Dante Alighieri 31, 55, 73, 77, 89 Daney, Josef 217ff., 221 Deciani, Tiberio 16, 21ff., 27 Decimus Brutus 45

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Personenregister

Decius 106 Desiderius, König der Langobarden 60, 62 Diaz del Castillo, Bernal 242, 244, 246f., 250 Diels, Rudolf 289 Dörrer, Anton 224 Doyza, Martín 46 Dreyfus, Alfred 27 Edward II., König von England 146 Edward III., König von England 178, 183 Ehmke, Horst 332, 340f. Einstein, Albert 321 Eisenhower, Dwight D. 321 Ėjsmont, Nikolaj 269, 271 Elisabeth I., Königin von England 34, 106, 179ff., 183ff., 191 Ennen, Leopold 155 Enzensberger, Hans Magnus 25, 35, 40, 185, 331 Epp, Franz Xaver Ritter von 285 Erdoğan, Recep Tayyip 8 Erzberger, Matthias 284 d’Este, Anna 102 Ežov, Nikolaj 258 Falin, Walentin 336 Fawkes, Guy 186f. Ferdinand I., römisch-deutscher Kaiser 95 Ferdinand II., römisch-deutscher Kaiser 23, 125 Ferdinand III., römisch-deutscher Kaiser 167 Ferdinand, Kurfürst von Köln 154 Feuerbach, Paul Johann Anselm 25 Fischer, Johann 160 Fitzmaurice, James 181ff. Foucault, Michel 117 Foxe, John 181 Frank, Paul 335f., 339 Frei, Norbert 286 Freisler, Roland 26 Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz 121 Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg 167 Frunze, Michail 257ff., 271 Fuchs, Klaus 318, 339 Fürstenberg, Franz Egon von 154f., 157, 168 Fürstenberg, Wilhelm von 33, 153ff., 157–162, 165–168, 170f. Fürstenberg-Heiligenberg, Anton Egon von 159

Fürstenberg-Heiligenberg, Hermann Egon zu 154 Gabriel, Sigmar 8 Gaius Iulius Caesar 45–55, 68, 149 Galen, Christoph Bernhard von 23 Garnet, Henry 186, Gates, Horatio 202, 204f. Gaus, Günter 332, 338, 343 Gellately, Robert 260 Girard, René 235f. Glantz, Margo 254 Gnaeus Pompeius Magnus 47 Göbel, Wolfgang 341 Goebbels, Joseph 287, 290f., 293, 305 Gold, Harry 318 Göring, Hermann 287, 290 Gor’kij, Maksim 267 Gotter, Ulrich 54 Grabert, Horst 342 Grass, Günter 332 Greenglass, David 318ff. Gromyko, Andrei 336, 338 Guillaume, Günter 343 Guise, François de Lorraine, duc de 32, 93–109, 111 Guise, Henri I. de Lorraine, duc de 102 Günther, Wolfgang 122ff. Hadrian I., Papst 60f. Haller, Johann 222 Hammett, Dashiell 321 Haspinger, Pater 222 Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen und Bayern 70 Heinrich VIII., König von England 179f. Herbert, Ulrich 285 Hernandez Puertocarrero, Alonso 242 Heydrich, Reinhard 289 Higgins, Roger 315, 327 Himmler, Heinrich 289f. Hirn, Josef 221 Hitler, Adolf 26, 281ff., 285, 287–290, 292ff., 304f., 311, 342 Hocher, Johann Paul 164f., 169 Hofer, Andreas 35, 213–224, 226–230, 232–237 Hofer, Anna 215

Personenregister 

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Hofer, Johann 215 Hofstadter, Richard 38, 182 Hollenberg, Günter 121 Hoover, J. Edgar 38, 319, 323f., 326 Hormayr, Joseph von 219, 226 Horn, Eva 11, 116f., 331 Höss, Rudolf 285 Huard de Saint-Aubin, Léonard Jean Aubry 215 Hugbert, Herzog der Bajuwaren 59

Kaufman, Irving R. 315, 320–322, 326 Kerry, John 7 Kirov, Sergej 259, 272, 276 Klaar, Karl 215ff., 220, 227f., 230, 232 Knappstein, Heinrich 333 Konstantin der Große 77 Kossygin, Alexei 336 Krylenko, Nikolai 268f. Kutscha, Helga 224

Ilmer, Peter 215f., 220f., 228f., 235 Ivanov, Ivan 267

L’Estrange, Roger 190 LaRochefoucauld, François de 103–105, 108 Las Casas, Bartolomé de 244f. Laud, William 142 Lenin, [Wladimir Iljitsch] 259, 261, 268f. Leopold I., römisch-deutscher Kaiser 157, 163f. Lhomond, Charles François 46 Lilburne, John 145 Limbach, Paul 340, 344 Lisola, François de 160–165, 169 Lorraine-Guise, Louis II. de 103 Louis de Bourbon, prince de Condé 102 Löwenthal, Gerhard 334f., 339–341, 343f. Ludendorff, Erich 282 Ludwig XIV., König von Frankreich 34, 169 Ludwig XV., König von Frankreich 23 Ludwig XVI., König von Frankreich 33, 137, 148–151 Lukas der Evangelist 13 Luserna, Bechi 307 Luther, Martin 18, 100

Jahn, [Gerhard] 340 Jakob II., König von England 176 Jameson, John 198 Jaramillo, Juan 242 Jesus von Nazareth 13ff., 17, 98, 100, 230 Johann Friedrich, Kurfürst von Sachsen 31, 95f., 101 Johann Nepomuk 216 Johannes der Evangelist 14, 146 Joseph I., König von Portugal 23 Joyce, James 233 Joyce, William 28 Judas Iskariot/Ischarioth 10, 12–19, 22, 28, 32, 44, 68f., 75, 91, 96ff., 100ff, 108, 129, 209, 217, 224, 227, 230, 237 Juen, Johann 233 Kaczyński, Jarosław 8 Kaganovič, Lasar 267 Kahlo, Frida 321 Kalinin, Michail 260, 262 Kamenev, Lew 268, 271 Karl der Große 30f., 57f., 60–64, 70–74, 76, 81, 86, Karl I., König von England 33f., 137–151, Karl II., König von England 176, 189 Karl IX., König von Frankreich 106 Karl Martell 59 Karl V., römisch-deutscher Kaiser 21, 95f., 244, 248 Karlmann I., König der Franken 60 Katharina von Alexandria 77 Katharina von Medici, Königin von Frankreich 105f.

Malinche 35f., 241–255 Malinovskij, Roman 268f, 272 Manning, Chelsea 28 Marcus Antonius 51 Marcus Iunius Brutus 29, 39, 45–55, 68f., 106, Marcus Lepidus 50f. Maria I., Königin von England 143, 179, 181 Maria I., Königin von Schottland 179–181, 183 Mark Anton = Antonius 48–52, 55 Markus der Evangelist 13 Max Heinrich, Kurfürst von Köln 154, 156f., 159, 168 Maxentius, römischer Kaiser 77 Maximilian I., Herzog/Kurfürst von Bayern 154 McCarthy, Joseph 318, 322

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Personenregister

Mead, George Herbert 211 Meier, Richard 342 Menghin, Alois 224 Merkel, Angela 7f., 26 Merl, Stephan 262 Mikojan, Anastas 259 Mitterer, Felix 234 Moctezuma 245–250 Molotow, Wjatscheslaw 262, 264, 266, 273, Montgomery, Richard 202 Moritz, Herzog/Kurfürst von Sachsen 31, 39, 93–98, 100ff., 106f., 109f. Moritz, Landgraf von Hessen-Kassel 32, 119–128, 131 Morozov, Pavlik 36, 264 Morus, Thomas 179 Munday, Anthony 183f. Mussolini, Benito 37f., 297–300, 302–305, 307–310 Mutius Scaevola 106 Nannen, Henri 341 Naogeorg, Thomas 101 Napoleon Bonaparte 331 Nikol’skij, Nikolaj 269, 271 Nollau, Günther 342 Non, Alois 220 Nouhuys, Heinz van 340ff., 344 Oates, Titus 176, 191 Obama, Barack 28 Odilo, Herzog von Baiern 58f. Okun, Rob 328 Olmedo, Bartolomé de 242 Olmsted, Kathryn 326 Ordžonikidze, Grigori 268 Owen, John 146 Papen, Franz von 289 Parthenay-l’Archevêque, Jean de 104 Paulding, John 198 Pavone, Claudio 300 Paz, Octavio 251 Peckert, Joachim 337 Perrissin, Jean 107 Persons, Robert 182 Peterlini, Hans Karl 234

Philipp, Landgraf von Hessen-Kassel 95f., 118 Philips, Sir Edward 186 Picasso, Pablo 321, 328 Pil’njak, Boris 257f. Pippin der Ältere 58–62 Pius V., Papst 180 Pius XII., Papst 321 Plutarch 46f. Poltrot, Jean 32, 94, 97, 103–109 Popitz, Johannes 287 Priezževa, A. 262f. Ptolemäus 68 Puellacher, Leopold 225, 230 Pufendorf, Esaias 161 Radek, Karl 258 Raffl, Franz 35, 39, 213–237 Rapp, Joseph 220 Rathenau, Walther 284 Reed, Joseph 206 Richard II., König von England 146 Rieck, Herbert 342 Rivera, Diego 253, 321 Röhm, Ernst 37, 281–284, 286–291, 293f. Rosegger, Peter 214, 223f., 232 Rosenberg, Ethel 38, 315f., 318–321, 326ff. Rosenberg, Julius 38, 315f., 318–322, 326ff. Rosenberg, Michael 328 Rosenberg, Robert 328 Rudolf II., römisch-deutscher Kaiser 167 Ruhfus, Jürgen 333 Rykov, Aleksej 268, 271f. Sacco, Ferdinando Nicola 327 Sahagún, Bernardino de 244 Saint-Just, Louis-Antoine-Léon de 148f. Šalamov, Varlam 274f. Salvemini, Gaetano 304 Sandbichler, Bernhard 237 Sanders, Nicholas 181, 183 Sartre, Jean-Paul 321 Savel’ev, Maksimilian 269, 271 Schacht, Hjalmar 287 Scheel, Walter 336f. Schleicher, Kurt von 289 Schlink, Bernhard 10, 124 Schmidt, Friedrich Christoph 233

Personenregister 

Schmitt, Carl 331 Schmitt, Kurt 287 Schmoll von Eisenwerth, Karl 87 Schmölzer, Hans 227 Schönherr, Karl 214, 226f., 232, 235 Schrecker, Ellen 322 Schröder, Hans-Christoph 140 Schuyler, Philip 202, 205 Schwerin-Krosigk, Johann Ludwig 287 Seneca 54 Seume, Franz 341 Sharpe, Kevin 144 Shippen, Edward 206 Shippen, Margaret 206 Simmel, Georg 267 Simon Iskariot 14 Sledd, Charles 183 Smirnov, Aleksandr 269ff., 273 Snegov, Aleksej 259 Snowden, Edward 7, 28 Sobell, Morton 320 Solženicyn, Aleksandr 265 Speckbacher, Josef 222 Springer, Axel 37f., 341, 343f. Stabreit, Immo 338f. Staden, Berndt von 333 Stadler, Christl 233 Staffler, Johann Jakob 219f., 235 Stalin, Josef 36, 257ff., 261–266, 268–275 Strauß, Franz Josef 132 Strohal, Ursula 214 Sueton 46f. Sverdlov, Jakow 268 Sweth, Kajetan 215, 217, 220 Tacitus 48 Talleyrand, Charles de 259, 331 Tarquinius Superbus 45 Tassilo III., Herzog von Baiern 30, 39, 57–65 Techet, Carl alias »Sepp Schluiferer« 214 Thatcher, Margaret 27 Theodebert 62 Theodo, Herzog von Baiern 58, 60, 62

Thurnwalder, Josef 216, 220, 222, 228 Tiberius, römischer Kaiser 48, 55 Tilly, Johann T’Serclaes von 122ff. Tomskij, Michail 270ff. Treitschke, Heinrich von 155 Treuheim, Andreas Freiherr di Pauli von 215, 217 Trockij/Trotzki, Leo 258, 270 Truman, Harry S. 318, 321 Trump, Donald 9 Tvardovskij, Aleksandr 265 Valerius Maximus 48, 52f., 55 Van Wart, Isaac 198 Vanzetti, Bartolomeo 327 Velleius Paterculus 48, 53, 55, Vergil 67f. Vielain, Heinz 333f., 341, 344 Viktor Emanuel III., König von Italien 38, 297, 302, 304 Viola, Lynne 263 Voragine, Jacobus von 14 Voronskij, Aleksandr 258 Vorošilov, Kliment 259, 271 Waifar, Herzog von Aquitanien 60 Wallace, Willard M. 199f. Wallenstein, Albrecht von 23, 167 Walsingham, Francis 181f. Ward, Samuel 188f. Washington, George 195–199, 204–207 Waterman, Hannah 200 Watts de Peyster, John 210 Wertz, Hans 340 Wicquefort, Abraham de 156, 166 Wienand, Karl 341 Wilhelm IV., Landgraf von Hessen-Kassel 119 Williams, David 198 Williams, Roger 200 Wischnewski, Hans-Jürgen 341 Zarnajew, Dschochar 28 Zinov’ev, Alexander 269, 271

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