Blasphemie. Geschichte eines »imaginären Verbrechens« [1. ed.] 9783868549119, 9783868543087

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Blasphemie. Geschichte eines »imaginären Verbrechens« [1. ed.]
 9783868549119, 9783868543087

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Jacques de Saint Victor

Blasphemie Blasphemie Geschichte eines »imaginären Verbrechens« Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-911-9 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © der deutschen Ausgabe 2017 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-308-7 © der Originalausgabe 2016 by Éditions Gallimard, Paris Titel der Originalausgabe: »Blasphème. Brève histoire d’un ›crime imaginaire‹« Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Für Michaela

Inhalt Vorwort

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I

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»Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen«

II Ein »Majestätsverbrechen gegen Gott«

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III La Barre: der eine Prozess zu viel

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IV Eine scheinbare Abschaffung

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V Gott kann sich schon allein verteidigen!

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VI Wenn die »Islamophobie« ins Spiel kommt …

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Epilog

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Literatur

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Index

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Zum Autor

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Vorwort Die wahllosen Massaker vom 13. November 2015, wie zuvor schon die Attentate vom Januar, waren Kriegshandlungen – gegen Menschen, gegen Ideen, gegen Prinzipien, die seit mehr als zweihundert Jahren fester Bestandteil unserer politischen Kultur sind. Sie haben in ganz Frankreich einen Schock seltenen Ausmaßes hervorgerufen. Man spürt, dass diese Ereignisse einen Bruch markieren, auch wenn man sich derzeit noch schwertut, sie begrifflich genau zu erfassen. Nicht nur weil Männer und Frauen für das, was sie waren, kaltblütig abgeschlachtet wurden, sondern weil die Mörder über ihre Opfer hinaus auf einen fundamentalen Grundsatz der französischen Nation zielten, eine besondere Art, sich über die Angelegenheiten des Gemeinwesens zu verständigen, die dieser viel gepriesenen Heimat der Literatur eigen ist. Es war wohl diese Ahnung, was die Mörder außer ihren Opfern hatten treffen wollen, die Millionen Menschen dazu bewog, am 11. Januar auf die Straße zu gehen. Als wäre ihnen unwillkürlich klar, dass diese Gemetzel den blutigen Abschluss eines Prozesses bildeten, der bereits seit einigen Jahren im Gange ist: der Einschüchterung des Denkens, der Erschütterung des für Panurge, Figaro oder Gavroche so selbstverständlichen Rechts auf Dreistigkeit, dieses spielerischen Aufbegehrens gegen jedes 99

Verbot, ob von Gott, den Mächtigen oder den Schulmeistern. Denn wer hätte sich noch vor dreißig Jahren vorstellen können, dass die blasphemische Karikatur, die Rabelais’schen Flüche oder die grausamen Unverschämtheiten Voltaires, jenes »grässliche Lachen«, das Musset betrübte, aufs Neue so viel Widerstand und bisweilen so viel Gewalt hervorrufen würden. Wie viele von uns haben sie nicht verinnerlicht, ohne ihnen zwangsläufig zuzustimmen, jene Verbote im Namen des »Respekts vor den Religionen« oder der Vermeidung jeder Form – moralischer, geistiger, literarischer – »Verletzung«, die inzwischen als unzumutbar gilt, vor allem, wenn sie sich gegen die Religion des Anderen richtet? Der Elan des 11. Januar ist schnell verpufft. Zweifellos saß das Trauma zu tief, als dass man es auf Anhieb in seinem ganzen Ausmaß erkannt hätte. Über Monate zog Frankreich es vor, sich mit anderen Themen zu beschäftigen. Was jedoch tatkräftig beitrug zu dieser Art »nationaler Verdrängung«, die auf die nationale Empörung folgte, waren jene Stimmen, die sich bald erhoben, um den Demonstrationen zugunsten der Meinungsfreiheit mit der Forderung nach dem weitaus wichtigeren Verbot jeder Beleidigung der Religion entgegenzutreten. Nach und nach sahen sich die Attentatsopfer in den Hintergrund gedrängt durch jene, die sich in ihrem Glauben verletzt fühlten. Im Schatten dieser Tiraden über den »Respekt vor den innersten Überzeugungen« tauchte ein Wort wie eine Moorleiche aus den Sümpfen einer fernen, längst überwunden geglaubten Vergangenheit auf: Blasphemie. Man begann es zu beschwören, als gäbe es, um uns über unsere Situation klar zu werden, keine geeigneteren Methoden, als zu mittelalterlichen Kontroversen zurückzukehren. Ein antiquierter Begriff, der seit Jahrhunderten aus unseren Denkroutinen verschwunden war, machte somit erneut seine Aufwartung, um das Verdrängte einer krisen-

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geschüttelten Nation heimzusuchen. Diese Wiederkehr ist umso irritierender, als man die Frage eigentlich für erledigt hielt, seit die Konstituante 1791 den Straftatbestand der Blasphemie abgeschafft hatte, infolge des Voltaire’schen Kampfes gegen ein Vergehen, das seinen Zeitgenossen bereits als Ding aus einer anderen Zeit erschienen war. Wissen diejenigen überhaupt, die heute, übrigens in verschiedenen Lagern, die Frage der Blasphemie zum Symbol der Glaubensfreiheit erheben, woher sie stammt? Der Begriff ist zu heikel, seine Geschichte zu bewegt, als dass man ihn verständlich machen könnte, ohne sein langes Vorleben in der Vergangenheit unseres Landes zu rekapitulieren, vom Mittelalter, wo Blasphemie als Majestätsbeleidigung galt, bis zum Pressegesetz von 1881, das dazu beitrug, ihre letzten Überreste dauerhaft aus der öffentlichen Debatte zu verbannen.

Der Begriff Blasphemie stammt von einem griechischen Wort ab, das mit blasphemia ins Kirchenlatein übersetzt wurde. Bei den Autoren der Antike bezeichnete er eine Art »Verletzung«. Und tatsächlich ist er in unserer säkularisieren Welt drauf und dran, seine heidnische Bedeutung wiederzuerlangen, bei Gläubigen und Ungläubigen gleichermaßen: Erneut gilt er als unzumutbar. Auf diesem Wege holt uns eine Geschichte ein, von der wir uns befreit zu haben glaubten. Im Übrigen tolerierte die Kirche, sogar im Mittelalter, die »einfache Blasphemie«, wie die Theologen sagten, die nicht die Religion zu beleidigen trachtete, sondern einen flüchtigen Zorn ausdrückte, mehr Schmerz als Feindseligkeit. Seither wurde sie stets als der Preis betrachtet, der für den Vorzug der Freiheit zu zahlen ist.

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Wir wollen die aufeinanderfolgenden Transformationen der Blasphemie nachzeichnen und uns im Zuge dessen auf die Wesensmerkmale unserer politischen Kultur, ihre Konstanten und Veränderungen, zurückbesinnen, um zu verstehen, welchen Platz sie heute wieder im öffentlichen Raum einnimmt und vor welche Herausforderungen sie unsere Demokratien im Allgemeinen und unsere republikanische Tradition im Besonderen stellt. Das ist das Thema des vorliegenden Werkes. Wie ist die Blasphemie heute zu definieren? Es gibt eine Vielzahl hochspezialisierter wissenschaftlicher Werke, die zu größter Vorsicht raten, wenn es darum geht, die »garstigen Worte« zu studieren.1 Methodenfragen stellen sich, angefangen mit der Identifizierung des Gegenstandes. Manchen Juristen zufolge ist die Blasphemie eine Verletzung »religiöser Überzeugungen, Gottheiten oder religiöser Symbole«; sie äußert sich in »Worten, Schriften oder jeder Ausdrucksform, die durch einen Gesetzestext mit Strafen belegt wird«. Das zeigt, dass dieser Gegenstand womöglich schwer zu fassen ist, aufgrund eben der Quellen, über die man verfügt: Über die Fülle der Texte, die die Blasphemie verdammen – Predigten, Erlasse, Beichthandbücher usw. –, lässt sich die Reichweite des Phänomens nicht mit Gewissheit bestimmen, geschweige denn, dass sie es ermöglicht, die Seelen zu erforschen. Es war mir weder ein ethnologisches noch ein seelsorgerisches Anliegen, diese kurze Geschichte der Blasphemie zu

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Beispielhaft seien hier genannt: Cabantous, Histoire du blasphème en Occident; Leveleux-Teixeira, La Parole interdite; Delumeau (Hg.), Injures et blasphèmes; Dartevelle u.a., Blasphèmes et libertés; sowie für einen weiteren, bis 1789 reichenden Rahmen, Le Bras, La Police religieuse dans l’ancienne France.

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schreiben, jenes »imaginären Verbrechens« (crime imaginaire), wie man im 18. Jahrhundert zu sagen pflegte. Vielmehr wollte ich einen Rahmen zur politisch-rechtlichen Interpretation der Blasphemie erstellen.2 Der Leser wird darin das langsame, im Laufe unserer Bürgerkriege und ideologischen Konflikte vonstattengegangene Verschwinden einer »Zungensünde« erkennen, die heute so unerwartet zu neuer Prominenz gelangt.

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Ein erster Entwurf dieser Überlegungen findet sich in meinem Beitrag zum Dossier »L’effet Charlie« der Zeitschrift Le Débat (»Du blasphème dans la République«, Nr. 185, Mai-August 2015, S. 11–20). Ich danke Pierre Nora und Marcel Gauchet, dass sie mich zur Teilnahme eingeladen haben.

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I »Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen« Das Verbot des »garstigen Schwurs«, wie man im Mittelalter sagte, geht dem Islam offenkundig weit voraus. Diese spezielle Vorschrift spielte eine bedeutende Rolle bei der Entstehung des jüdisch-christlichen Europas. Sie geht auf das hebräische Gesetz zurück: »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht« (Dt 5, 11; Ex 20, 7). Im Alten Testament ist das Verbot der Gotteslästerung eine strenge und unerlässliche Regel. Man findet sie namentlich im Buch Levitikus, wo es heißt: »Jeder, der seinem Gott flucht, muss die Folgen seiner Sünde tragen. Wer den Namen des Herrn schmäht, wird mit dem Tod bestraft; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Der Fremde muss ebenso wie der Einheimische getötet werden, wenn er den Gottesnamen schmäht« (Lev 24, 15–16). Man mag sich kurz nach den Gründen dieses mächtigen Verbots fragen. Bei den Hebräern werden nicht nur diejenigen der Blasphemie bezichtigt, die »Gott geschmäht« haben (Dan 3, 29), vielmehr bezieht das Wort sich auf Taten, die die Gottheit verurteilt, wie die Weigerung, sich beschneiden zu lassen, Sabbatschändung, Verrat usw. Die Blasphemie nimmt in der monotheistischen Religion eine neue Dimension an, die sie in der heidnischen Welt nicht

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hatte. Dabei war den Griechen die Bedeutung, die ihr die Hebräer und später die Christen gaben, nicht gänzlich unbekannt. In Der Staat kommt Platon ihr vermeintlich nahe. Ganz im Sinne seiner Abscheu vor der Dichtkunst schreibt er: »Auch sollen sich die Mütter von diesen [den Dichtern] nicht überreden lassen und ihren Kindern Angst machen, indem sie die Märchen auf unpassende Weise erzählen, daß irgendwelche Götter bei Nacht herumgehen […], damit sie nicht gleichzeitig die Götter lästern und die Kinder furchtsamer machen.«3 Doch meinten griechische und christliche Blasphemie nur scheinbar das Gleiche. Denn die antiken Autoren verwendeten den Begriff blasphemia, um einen Akt der üblen Nachrede gegenüber einer Person zu bezeichnen. Diese profane Bedeutung blieb stellenweise bis in die Spätantike und ins Frühmittelalter erhalten. Die Hebräer verliehen dem Begriff seine sakrale Dimension, die ihrer eigenen Sicht entsprach. Dieser Tradition zufolge ist die Welt nicht, wie bei den Griechen und Römern, ein Kosmos, dem der Mensch sich einfügt. Die Welt ist eine Schöpfung Gottes, der den Gläubigen der Natur und der Vorherbestimmtheit des Todes »entreißt«. Gott ist ein Retter, der das Bundesvolk aus Ägypten, das heißt aus der Sklaverei, geführt hat. Sein Name ist folglich ebenso heilig wie das Gesetz; er wird sogar mit seinem Willen und jeder seiner Taten gleichgesetzt: »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat.« Man darf ihn nicht mit all den falschen Göttern verwechseln, von denen die Menschen bisher unterjocht wurden. Der Name des wahren Gottes ist das heiligste und kostbarste Gut, das der Herr den Menschen geschenkt hat.4 Auch demjenigen soll nicht ver-

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Platon, »Der Staat«, Buch II , S. 78–79 (Hervorhebung S.V.). Lauret, »Tu ne prononceras pas à tort le nom de Dieu«, S. 41.

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ziehen sein, der den Namen Gottes in einer selbstsüchtigen oder zweckwidrigen Weise gebraucht, um irgendwelchen Nutzen daraus zu ziehen. Das Christentum übernahm die biblischen Verbote und bestätigte seinerseits, dass man »den Namen Gottes nicht freventlich aussprechen« dürfe. Die Gotteslästerer erscheinen im Neuen Testament als Vorwegnahme des Antichrist. Die Blasphemie wird mit dem scharlachroten Tier mit den sieben Köpfen und zehn Hörnern in Verbindung gebracht, das mit »gotteslästerlichen Namen« beschrieben ist und die Hure Babylon auf seinem Rücken trägt. Vor der Anerkennung des Christentums als offizielle Religion des Römischen Reiches im vierten Jahrhundert verfolgten die Kirchenväter, wie Paulus oder Tertullian, ein doppeltes Ziel: zum einen die christlichen Gotteslästerer, die sich gegen Gott versündigten, sowie all jene anzuprangern, die, wie die Heiden, den Namen des Herrn insofern beleidigten, als sie dem wahren Gott die Anerkennung versagten; zum anderen die Juden zu bekämpfen, die, wie der heilige Hieronymus sagte, mit der Kreuzigung Christi die schlimmste aller Blasphemien begangen hätten: »Indem sie seinen Leib töteten, haben sie Gott gelästert und sich zu Dienern der Gottlosigkeit gemacht« (Brief C, 11).5 Kurzum, die Blasphemie wurde nicht nur sehr bald zu einer Kriegswaffe gegen die Heiden, sondern auch zum Werkzeug – und Streitobjekt – im Kampf, den die verschiedenen Monotheismen untereinander austrugen. Jedenfalls gingen die frühen Christen, auch wenn sie die Blasphemie als »größte begehbare Sünde« betrachteten, bei

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Vgl. Saint Jérôme, Lettres V, S. 82 [AdÜ].

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der Jagd auf Gotteslästerer notgedrungen weniger eifrig zu Werke als die Juden. Denn schließlich war Jesus selbst vom Hohen Rat wegen Gotteslästerung angeklagt worden, weil er sich als »Sohn Gottes« ausgab. Stellvertretend durch seinen Hohepriester Kaiphas wurde er dessen vom Hohen Rat für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Das Christentum machte somit von Beginn an die Erfahrung, dass sich die Blasphemie als zweischneidiges Schwert erweisen konnte. Bereits das Judentum entnahm dem biblischen Bericht die Erinnerung an die »Hiob’sche Blasphemie«, Hiob, der Gott zürnte, weil dieser ihn auf die Probe gestellt hatte. Das Buch Hiob gibt zu verstehen, dass die Blasphemie eine »reinigende« Funktion haben kann, wenn sie die Auswüchse einer Tradition anprangert, die es mit ihrer Strenge übertreibt. Bei den Christen nahm die Blasphemie eine besondere Form an: Manche Autoren schreckten nicht davor zurück, sie als Mittel zu verwenden, um ihre Glaubensstärke unter Beweis zu stellen. Wer Gott verflucht, kann ein enttäuschter Gläubiger sein – wie eben Hiob –, der eine besondere Beziehung zu Gott unterhält, indem er ihm seinen Zorn mitteilt. Die Blasphemie wäre demnach Ausdruck einer leidenden Religiosität, und keiner Religionsfeindschaft. Verflucht man Gott nicht vor allem in religiösen Ländern? Der berühmteste christliche Gotteslästerer war Léon Bloy, der sich in Der Verzweifelte (1887) mit aller Macht gegen Christus empörte, weil dieser, seiner Meinung nach, die Welt in Leid und Unrecht versinken ließ, obwohl er uns doch eigentlich hätte erlösen sollen. Konnte man diesem »Verzweifelten« eine gotteslästerliche Sprache zum Vorwurf machen? Sie verkörperte, was man als »Liebeslästerung« bezeichnete, und hatte offenkundig nicht die gleiche Bedeutung wie die »ketzerische Blasphemie«, außer für diejenigen, die Glaube mit Orthodoxie verwechseln.

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Obwohl in der jüdischen Tradition der Gotteslästerer stets zum Tode verurteilt (oder aus der Gemeinschaft verstoßen) wurde, begann man bei den frühen Christen, nach dem Beispiel des heiligen Augustinus, zu unterscheiden zwischen der »schweren oder ketzerischen Blasphemie«, die dazu bestimmt sei, »der Gnade Christi zu entbehren« (Sankt Ambrosius), und der »einfachen Blasphemie«, Folge eines flüchtigen Zorns, ein unfreiwilliges, wenn nicht, wie im Fall der lapsi, erzwungenes Vergehen. Die lapsi waren ehemalige Christen, die es, um den Verfolgungen durch die Römer zu entgehen, vorgezogen hatten, dem Christentum zu entsagen und den Weg der Apostasie zu wählen. Doch geschah dies häufig nur zum Schein, sodass die römischen Behörden, um die Aufrichtigkeit dieses Glaubensabfalls zu prüfen, von den Apostaten verlangten, ein Opfer für den Kaiser zu bringen und Christus öffentlich zu verleugnen. Wie sollte man mit diesen lapsi verfahren? Sie hatten den Gottessohn verleugnet. Waren sie nicht »Gotteslästerer« par excellence? Nein, denn ihr Handeln entsprang keiner ehrlichen Überzeugung. Deshalb waren die Kirchenväter der Meinung, die lapsi könnten mit einem einfachen »Backenstreich« davonkommen, wie es der heilige Johannes Chrysostomos in einer seiner Predigten an das Volk von Antiochia formulierte: Man verzieh ihnen ihre gotteslästerliche Worte, weil sie diese aus Angst und ohne böse Absicht geäußert hätten, genau wie der Apostel Petrus, als er Christus verleugnete. Dem Heiligen Hieronymus zufolge hätten sie »gegen den Menschensohn gesprochen, aber nicht den heiligen Geist gelästert«. Somit ist bei den Frühchristen die Bedeutung der Blasphemie nicht von vornherein festgelegt, sondern hängt viel von Kontext und Blickwinkel ab. Man kann den Fluch, die »unwillkürliche Blasphemie«, nicht mit der gleichen Strenge behandeln wie die »gewollte« Blasphemie, die gegen die göttliche

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Ordnung verstößt, eine Blasphemie, die laut dem Heiligen Hieronymus einem »todbringenden Wort« (Brief CXLVII ) zu vergleichen sei.6 Diese Deutungsvielfalt bereits zu Beginn der christlichen Ära erklärt, warum jede Untersuchung der Blasphemie ein »hoffnungsloses Unterfangen« wäre, wenn sie »von innen heraus« erfolgen würde.7 Ihr theoretischer Gehalt ist ziemlich unspezifisch. Es handelt sich um ein Vergehen mit unbestimmten, veränderlichen Konturen, manche bezeichnen es auch als »dehnbares Vergehen«. In manchen Fällen tritt die Blasphemie als erklärte Form der Ketzerei in Erscheinung, in anderen Fällen kann sie einen Widerstand gegen die etablierte Ordnung zum Ausdruck bringen, deren Legitimität aufgrund ihrer Exzesse infrage steht. Die Kritik an den Missständen der Kirche verbreitete sich im Mittelalter, auch in der religiösen Kunst, in dem Maße, wie die kirchliche Macht sich festigte. Manche Künstler schreckten nicht davor zurück, in den Bildwerken der Kathedralen und Abteien faule Mönche und liederliche Äbte darzustellen. Sie meißelten Kapitelle, die Priester in Schweine-, Esels- oder Fuchsgestalt zeigten. Dieser satirische Geist bildete im Mittelalter ein nützliches Korrektiv. Bisweilen nahm die Blasphemie auch die Dimension einer Umkehrung sozialer Normen an, über andere Ausdrucksformen der Volkskultur wie Karneval und Fabliau. Die Definition der Blasphemie blieb vage, zumindest bis zum 13. Jahrhundert. Die mittelalterlichen Theologen hatten

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Vgl. Saint Jérôme, Lettres VIII , S. 121. Siehe auch Eusebius Hieronymus, Ausgewählte Briefe, S. 369 (dort »verpestete Worte« für »verba mortifera«) [AdÜ]. Ich beziehe mich bei dieser Analyse auf die sehr erhellenden Arbeiten von Leveleux-Teixeira, besonders La Parole interdite, S. 485.

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größte Mühe, sie präzise einzugrenzen.8 Man musste bis zu Thomas von Aquin warten, der der Blasphemie die Quaestio 13 der Summa Theologica widmete.9 Er ordnet diese »Sünde« den glaubenswidrigen Lastern zu, wie Unglaube, Häresie, Apostasie, Geistesblindheit und Stumpfheit der Sinne. Allerdings ist die Blasphemie nicht von der gleichen Schwere wie die Häresie oder die Apostasie. Thomas entwickelt eine äußerst komplexe Kasuistik, bei der auch die psychologischen Motive des Sünders in Betracht gezogen werden: Er unterscheidet die »innerliche Lästerung«, die das Göttliche nicht beleidigen will, von der »Lästerung mit dem Munde« oder »Lästerung im Vollsinne«, die böse Absichten hegt und bestrebt ist, Gott, die Jungfrau, die Heiligen oder die Kirche zu schmähen. Darüber hinaus unterscheidet Thomas unter den sogenannten »sprachlichen Sünden« zwischen der Schmähung (contumelia), der Ehrabschneidung (detractio), der Ohrenbläserei (susurratio), der Verspottung (derisio), der Verfluchung (maledictio) usw.,10 alles Begriffe, die in späterer Zeit im Rahmen der Pressegesetzgebung wieder zum Einsatz kamen. Die Analysen des Heiligen Thomas sollten die christlichen Autoren bis zum Ende des Feudalzeitalters inspirieren.11

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Nach Alexander von Hales schlug Hugo von Sankt Viktor im 12. Jahrhundert folgende Definition der Blasphemie vor: »Eine Blasphemie liegt vor, wenn […] der Name Gottes oder des Menschen durch Flüche oder Tadel herabgewürdigt wird« (De fructibus carnis et spiritus). Gemeint ist die 13. Frage oder Untersuchung nach der Zählung der zweiten Hälfte des zweiten Hauptteils. Vgl. Thomas von Aquin, Glaube als Tugend, S. 255–265 [AdÜ]. Vgl. Thomas von Aquin, Recht und Gerechtigkeit, S. 289–342 [AdÜ]. Vgl. Casagrande/Vecchio, Les Péchés de la langue.

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Die mittelalterliche Kirche ignorierte, genau wie die Frühchristen, die strengen Vorschriften des Levitikus (24, 16) oder des römischen Rechts (Novelle 77 des Corpus Juris Civilis von Justinian), die den Gotteslästerer zum Tode verurteilten und die »höchsten Strafen« anordneten. Zwar geißelte die Patristik die »frevelhaften Münder« (Hieronymus) oder die »unzüchtigen Lippen« (Origines), meinte aber, dass die Blasphemie, da man sie mit der Häresie in Verbindung brachte, es verdiene, durch eine Strafe mit sühnender, heilender, »läuternder« Wirkung (Jean-Marie Carbasse) bekämpft zu werden. Die Frühchristen weigerten sich, den Gotteslästerer zum Tode zu verurteilen. Anfangs diente die Bestrafung der Blasphemie hauptsächlich dem Zweck, zu verhindern, dass die einfachsten und/oder selbstsüchtigsten Gemüter sich den heiligen Namen Gottes zu eigen machen, um ihrer niedrigen Gesinnung zu frönen und/oder die Einfalt der Gläubigen auszunutzen. Es waren fürstliche bzw. königliche Organe, nicht die Kirche, die unter Berufung auf die Härte des römischen Rechts die ersten drakonischen Maßnahmen gegen die Blasphemie ergriffen. Allerdings erfolgte diese Übernahme der Strafverfolgung durch die weltliche Macht erst relativ spät. Im Frankenreich ist die »Blasphemie« in den königlichen Texten praktisch nicht zu finden. Die Monarchie überlegte lange, ob die Verfolgung der Blasphemie in ihre Zuständigkeit fiele. So blieb die »Zungensünde« zunächst eine rein kirchliche Angelegenheit. Die Lage begann sich erst zu ändern, als die ersten Kapetinger den Thron bestiegen. Man führte übrigens die Anfänge des königlichen Kampfes gegen gotteslästerliche Praktiken auf eine Anekdote aus der Regierungszeit von Robert dem Frommen (996–1031) zurück. Als König Robert eines Tages in seiner guten Stadt Orleans betete, erklang aus einem Kruzifix die Stimme Christi und verkündete ihm, dass »er keinen Frieden mehr finden werde, so-

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lange er nicht die Blasphemien in seinem Königreich ausgerottet hätte«12. Da die Friedensideologie einen der Grundpfeiler bei der Rückeroberung der königlichen Macht bildete, ist diese Anekdote sehr aufschlussreich: Sie unterstellte, dass der Fürst sich erst dann voll und ganz als Souverän betrachten könne, nachdem er die Blasphemie in seinem Reich ausgerottet hätte. Im 13. Jahrhundert begann sich dann, wie die Rechtshistoriker richtig bemerkt haben, eine Verbindung herzustellen zwischen der Verfolgung der »Blasphemie« und der allmählichen Festigung der königlichen Souveränität. Die ersten königlichen Texte tauchten bereits während der Regentschaft Philipp Augusts auf und haben sich seither unaufhörlich vermehrt. Die Ordonnanz Philipp Augusts von 1182 über die Blasphemie ist verloren gegangen. Unter der Herrschaft von Ludwig dem Heiligen (1226–1270) wurde die Monarchie vier Mal in dieser Sache gesetzgeberisch tätig (1254, 1256, 1268 und 1269). Die große Ordonnanz zur »Reform der Verwaltung und Gerichtsbarkeit des Königreichs« (1254) äußerte sich ausführlich zur Blasphemie und betrachtete sie, ähnlich wie Thomas von Aquin, als häresienahes Vergehen. Grund dafür war, dass Ludwig IX ., der König des fünften Kreuzzugs, ein großes Interesse an dieser Frage hatte.13 Er beabsichtigte, die Todesstrafe gegen die Blasphemie zu verhängen, sollten entweder die Zahl der Fälle oder ihr Zielobjekt – etwa wenn die Schmähung der Heiligen Jungfrau galt – als erschwerende Umstände hinzukommen. Eine vergleichbare Strenge zeigte er gegenüber den Juden und dem Talmud. Arti-

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Zitiert nach Leveleux-Teixeira, La Parole interdite, S. 292. Manche Fürsten reagierten auf den Appell der Theologen, die ihnen, wie Isidor von Sevilla, den »Schutz« der Kirche antrugen (vgl. Carbasse, »Sécularisation et droit pénal«, S. 20–21).

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kel 32 der königlichen Ordonnanz sah vor, »dass sowohl der Talmud als auch andere gotteslästerliche Bücher verbrannt werden, dass die Juden, die sich nicht an diese Anordnungen halten wollen, des Landes verwiesen und diejenigen, die gegen sie verstoßen, bestraft werden«. Doch diese ganz und gar königliche Strenge war nicht nach dem Geschmack Roms. Papst Clemens IV. lobte den König zwar für seine Initiative und seinen Eifer, hielt ihn aber gleichwohl zu größerer Milde an. Zwar hätten, schrieb er dem heiligen Ludwig, Nebukadnezar und Justinian für den Tod von Gotteslästerern plädiert, aber, so fügte der Pontifex maximus hinzu, »es gebührt dir nicht, in der Härte der Strafen ihrem Beispiel zu folgen«. Clemens IV., gelernter Jurist, gebürtig aus Saint-Gilles, empfahl seinem königlichen Landsmann, »zeitliche Strafen von minderer Schwere als die Verstümmelung eines Gliedes oder den Tod« anzuordnen, die aber zugleich »stark genug sind, um die Frevler in Schrecken zu versetzen«.14 Der König hörte auf ihn, und seine später erlassenen Ordonnanzen beschränkten sich auf eine Kombination aus Strafgeld und von der Kirche auferlegter Buße. Ab dem 13. Jahrhundert wurde die Blasphemie also zu einer »dualen« Angelegenheit, die unter die kirchliche ebenso wie unter die weltliche Gerichtsbarkeit fiel. Sie galt als crimen und blieb doch gleichzeitig eine Sünde. Man sprach von »lästerlichen Flüchen«, »abscheulichen« oder »verbotenen Schwüren«, »schrecklichen Worten« und »hässlichen und Gott gegenüber unziemlichen Reden«. Die Blasphemie, Frucht der »Dreistigkeit der Gottlosen«, »erfüllt die Ohren der Rechtschaffenen mit einem schrecklichen Klang« (Ordonnanz vom 8. März 1294). Der Komplexität des Verbrechens entsprach die große

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Leveleux-Teixeira, La Parole interdite, S. 302.

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Bandbreite der Strafen.15 Neben Bußgeld und Pranger, von denen ausgiebig Gebrauch gemacht wurde, war es der weltlichen Gerichtsbarkeit möglich, im Wiederholungsfall zu sehr viel drastischeren Strafen zu greifen, wie Geißelung, Folter, Verstümmelung (Brandzeichen auf der Stirn, Verstümmelung der Unter- oder Oberlippe, Durchbohrung oder gänzliche Entfernung der Zunge), Verbannung, erzwungene Wallfahrt, Untertauchen in Wasser oder Verschickung auf die Galeere. Diese körperlichen Strafen, die je nach den von den verschiedenen Territorialfürsten erlassenen Texten variieren konnten, waren den religiösen Verordnungen, dem Gewohnheitsrecht und den städtischen Satzungen fremd, zumindest bis zum 15. Jahrhundert. Noch schien vor Ort eine gewisse Mäßigung im Kampf gegen die Gotteslästerer zu herrschen. In Frankreich hielten es die Allerchristlichsten Könige, ab der Regentschaft von Philipp dem Schönen, für ihre vornehmste Aufgabe, den »garstigen Schwur« und die bösen Worte zu ahnden, die drohten, auf ihr Königreich zurückzufallen, und ihm das göttliche Strafgericht zuzuziehen. Zudem war für die Kapetinger die strenge Verfolgung der Blasphemie fester Bestandteil ihrer Politik der Rückeroberung des Königreichs. Es galt also, jeden zu bestrafen, der dieses Bündnis zwischen einem göttlichen Beschützer und dem Allerchristlichsten König gefährden konnte. Deshalb sollte die Unterdrückung der Blasphemie eine beträchtliche Ausweitung erfahren, bis sie jedes abweichende Verhalten ins Visier nahm, das geeignet schien, die königliche Obrigkeit zu beleidigen. Sie beförderte die Entstehung und den Aufstieg eines modernen Staates, in einer Zeit, da die Lehre vom Gottesgnadentum erstarkte und die Religion zu einem »bevorzugten

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Ebd., S. 260.

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Werkzeug« des monarchischen Handelns wurde.16 Diese Beschleunigung war im Übrigen keine Besonderheit der französischen Krone, auch wenn sie im »Reich der Lilien« ein ungewöhnliches Ausmaß zu erreichen schien. Dem Theologen Jean Gerson zufolge war es in Frankreich erforderlich, die »hässlichen Worte« besonders unnachgiebig zu verfolgen, da sie dort weiter verbreitet seien als in anderen Monarchien.17 Muss man, sofern Gerson recht hatte, die Weitverbreitetheit der Blasphemie für den Ausdruck einer vorweggenommenen »Säkularisierung« halten, die im Lande Villons schneller voranschritt als anderswo? Oder war sie nicht, im Gegenteil, eher das Merkmal einer durch und durch christlichen Nation, die mehr als andere fürchtete, von Gott verlassen zu werden? Jedenfalls gab es ähnliche Reaktionen in vielen Teilen Europas, wo man in den Blasphemien den Grund für zahlreiche Katastrophen zu erkennen glaubte. In Portugal etwa behauptete König Johann I . im Jahr 1416, die Neigung seiner Untertanen, Gott zu lästern, sei für pestilencias und terramotos verantwortlich. Der gleiche Gedanke findet sich in Spanien, wo man wegen der Gotteslästerer »Pest und Hungernot« fürchtete. Die Pest wurde häufig als Strafe Gottes angesehen, da sie die fürchterlichste Seuche war, »ein Übel, das der Himmel schickt, / Wenn dieses Erdenland ist großer Strafe wert«, wie La Fontaine noch im 17. Jahrhundert dichtete.18 Karl der Fünfte nannte die Gotteslästerer als Ursache für den Vormarsch der Türken bis an die Grenzen seines Reiches usw. Kurzum, trotz ihres rein privaten Charakters nahm die Blasphe-

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Krynen, L’Empire du roi, S. 242. Zitiert nach Leveleux-Teixeira, La Parole interdite, S. 139. »Die pestkranken Tiere«, in: La Fontaine, Die Fabeln, S. 164.

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mie eine unbestreitbar politische Dimension an, und es war fortan nicht mehr unüblich, dass ein neuer König nach seiner Thronbesteigung als eine der ersten Maßnahmen seiner Amtszeit eine Ordonnanz gegen die »Zungensünde« erließ. Man kommt bis 1789 allein in Frankreich auf annähernd achtzig königliche Edikte gegen die Blasphemie. Sie begründeten ab dem 15. Jahrhundert, nach den Worten des Historikers Jean Delumeau, eine »Kultur der Blasphemie«.19

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Delumeau, La Peur en Occident, S. 400f.

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II Ein »Majestätsverbrechen gegen Gott« Norbert Elias hat uns daran erinnert, dass der Aufschwung des »Zivilisationsprozesses« seit der Renaissance über die Verfeinerung der Sitten, die Kontrolle der Affekte und die Durchsetzung einer »höfischen Gesellschaft« verlief, die geringste Verstöße im Bereich der Gebräuche und der Sprache sanktionierten.20 Die »Kultur der Blasphemie« ist teilweise in dieser Ausweitung der höfischen Kultur begründet. Man begann, Jagd zu machen auf einfache »Verwünschungen«, »Schmähungen«, »Flüche« und andere »unflätige Reden«, wie man damals sagte, die in der Regel nichts anderes als Floskeln waren, geäußert in einem Moment des Zorns und tunlichst zu unterscheiden von »ketzerischen Blasphemien«. Die Menschen des Spätmittelalters waren es gewohnt, bis hinauf in die höchsten Kreise der Gesellschaft, Flüche auszustoßen: »Par Dieu!«, »Mort Dieu!«, »Je renie Dieu!« usw. »Jour de Dieu!« war der Lieblingsfluch von Karl VIII ., und Ludwig XII . führte ein ständiges »Que le Diable m’emporte!« [Hol mich der Teufel] im Munde. Man sprach von »indirekter Blasphemie«, da diese Worte nicht beabsichtigten, Gott zu beleidigen, im Gegensatz zur »direkten Blasphemie«.

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Elias, Über den Prozeß der Zivilisation.

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Mit Einsetzen der Reformation gerieten diese Flüche ins Visier der Obrigkeit, und die Kirche ermunterte die Franzosen zu einem kultivierteren Vokabular. Es genüge schon, »Dieu« durch die Worte »di, dié, dienne, bleu!« zu ersetzen. Das war der Ursprung unserer heutigen »pardi, parbleu, morbleu, sangbleu!« Lange im Gedächtnis geblieben ist die Anekdote über Pater Cotton, den Beichtvater Heinrichs IV., der den König davon abbringen wollte, ständig »Jarnidié« (Je renie Dieu) zu fluchen, und ihm deshalb empfahl, statt den Namen Gottes lieber den seinen zu gebrauchen, was uns das »Jarnicoton« bescherte, das sich am Hofe des ersten Bourbonenkönigs großer Beliebtheit erfreute. Freilich waren solche neckischen Verballhornungen, die unser Vokabular über Jahrhunderte prägten, nicht geeignet, die Häresie auszurotten, die stattdessen in Frankreich aufzublühen begann. Denn das 17. Jahrhundert markierte, mit dem Aufkommen des Protestantismus und den Religionskriegen, einen Wendepunkt in der Geschichte der Blasphemie. Die mehr oder minder unabsichtlichen Beleidigungen des Göttlichen, die »hässlichen«, aber harmlosen Worte veränderten sich von Grund auf. Sie wurden nunmehr zum Ausdruck einer »verwerflichen religiösen Identität«21. Die Blasphemie verwandelte sich in ein politisch-religiöses »Erkennungszeichen«. Nunmehr schützten die weltlichen Behörden mit der Verfolgung der Gotteslästerung nicht mehr nur die allgemeine Moral und die gesellschaftlichen Konventionen, sondern auch die herrschende Religion. Die »üble Rede« (mal dire) wurde zum Synonym für den »falschen Glauben« (mal croire). Die Blasphemie, zumindest das, was das Pariser Parlement 1544 als die »höchst abscheu-

21

Leveleux-Teixeira, »Injure à Dieu, outrage au roi«, S. 50.

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lichen Gotteslästerungen, denen die Ketzerei innewohnt«, bezeichnete, bildete ein eng mit der konfessionellen Zwietracht zusammenhängendes Verbrechen.22 Die Blasphemie bedrohte die politische und religiöse Einheit des Reiches; sie wurde zum Ausgangspunkt eines »identitären Verbrechens«. Lange hatte es allerdings den Anschein, als würde Frankreich vom Streit der Konfessionen verschont bleiben. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts lobte Erasmus die Monarchie der Valois als »das reinste und blühendste Vaterland der Christenheit, unbefleckt vom Makel der Häresie« (1517).23 Die »Saat der Häresie« war dort noch kaum aufgegangen, auch wenn schon 1519 die ersten Luther-Texte im Königreich zu kursieren begannen, noch bevor der Papst den deutschen Mönch exkommunizierte (1521). Franz I . hoffte, die Ausbreitung der Reformation in Schach halten zu können. Er wollte sich zum Vermittler zwischen den beiden Religionen aufschwingen, insbesondere um mit seiner Politik des »Ausgleichs« die protestantischen deutschen Fürsten in seinem Kampf gegen Kaiser Karl V., den wichtigsten katholischen Herrscher, auf seine Seite zu ziehen. Doch ein Ereignis machte ihm bewusst, dass er vor dem Aufschwung des Protestantismus in seinem Reich nicht mehr länger die Augen verschließen konnte. In der Nacht des 17. Oktober 1534 wurde ein die römisch-katholische Religion beleidigender Text in mehreren Städten Frankreichs angeschlagen. Der Titel des Plakats stellte an sich schon eine Provokation dar: »Wahrhaftige Artikel über die schrecklichen, großen und unerträglichen Missbräuche der päpstlichen Messe«. Der Text machte sich über die Rituale der katholische Messe lustig und rief dazu auf, die »Götzendiener«,

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Belmas, »La montée des blasphèmes à l’âge moderne«, S. 18. Vgl. Erasmus, Die Klage des Friedens, S. 47f. [AdÜ].

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das heißt die Katholiken, zu vernichten. Eine solche in mehreren Städten gleichzeitig durchgeführte Operation benötigte eine Vielzahl von Helfern und eine gewisse Koordination. Diese »Plakataffäre« ließ die Katholiken das Ausmaß der Gefahr erkennen. Mit einem Mal erwiesen sich die Fortschritte der Reformation als wesentlich bedeutender, als die Gemäßigten lange vermutet hatten. Der König selbst war von der Verwegenheit der Reformierten betroffen, denen es gelungen war, ihr Pamphlet an der Tür des königlichen Schlafgemachs im Schloss Amboise anzubringen, was bedeutete, dass sie über ein weitverzweigtes Netz verfügten, dessen Ausläufer bis in die höchsten Hofämter reichte. Der Monarch betrachtete diesen Akt als Affront gegen die Religion, vor allem aber als Majestätsbeleidigung. Er, der sich bis dahin der vermeintlich reformierten Religion gegenüber tolerant gezeigt hatte, fühlte sich verraten. Er entschied sich für eine harsche Reaktion und ordnete die Höchststrafen für diejenigen an, die diese Plakate verfasst oder verbreitet hatten. Für Hinweise wurde eine hohe Belohnung ausgesetzt, was bald Früchte trug: Aufgrund von Denunziationen kamen umfangreiche Strafverfolgungen in Gang. Viele der angestrengten Verfahren hielten sich nicht an den vorgesehenen juristischen Rahmen: Man hatte ein wenig nach dem Zufallsprinzip Personen verhaftet, die im Verdacht standen, verbotene Bücher zu besitzen. Die Repressionsmaschine lief auf vollen Touren. Viele Protestanten wurden zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Man schrieb dem König damals das folgende unversöhnliche Wort zu: »Gott ist für seine Barmherzigkeit bekannt; das ist ganz und gar nicht mein Fall!« Die Protestanten, die dazu in der Lage waren, flohen aus Frankreich; auch Johannes Calvin zog es zu dieser Zeit vor, Poitiers zu verlassen und in die Freie Reichsstadt Straßburg ins Exil zu gehen. Was Franz I . nur noch mehr erzürnte, war die Tatsache,

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dass dieser »Plakataffäre« einige Monate später, am 13. Januar 1535, ein weiterer Skandal folgte, nämlich die heimliche Verteilung »abscheulicher Bücher, darinnen die fraglichen Gotteslästerungen und Ketzereien wiederholt werden«. Die Protestanten hatten es sich inzwischen zur Gewohnheit gemacht, die Katholiken durch Blasphemien gezielt herauszufordern, indem sie namentlich die Jungfrau, die Heiligen, die Sakramente, die Priester, das »Weihwasser« usw. attackierten. Freilich wetterten sie nicht gegen Gott, was eine unmittelbare Blasphemie dargestellt hätte, sondern nur gegen das katholische Dogma. Diese mittelbare Blasphemie, die unter die Rubrik der »ketzerischen Blasphemien« und nicht der einfachen »ungebührlichen Blasphemien« fiel, gefährdete die Einheit des Reiches und stellte mithin die Krone infrage. Franz I . reagierte darauf mit dem Verbot, überhaupt Bücher zu drucken, gleich welchen Inhalts. Es war der erste Zensureingriff in die noch junge Buchdruckerkunst. Am 23. Januar des gleichen Jahres erließ der König eine weitere Ordonnanz, mit der das Pariser Parlement beauftragt wurde, ein zwölfköpfiges Gremium zu ernennen, das entscheiden sollte, welche Bücher »für das Wohl des Gemeinwesens« erforderlich seien: Der Zensurapparat nahm Konturen an. Zwei Tage zuvor hatte der Monarch in Paris eine große Prozession zugunsten des Allerheiligsten ausgerichtet und bei dieser Gelegenheit das Wort ergriffen, um die Häresie anzuprangern und ihre Vertreibung aus seinem Königreich zu geloben. In seine Brandrede schloss er die Gotteslästerer ein, »Leute von bescheidenem Rang und geringem Wissen«. Dieses repressive Vorgehen zeugte nicht unbedingt von guter Politik, wenn man bedenkt, dass der König von Frankreich zur gleichen Zeit in seinem Kampf gegen den Kaiser den Beistand der protestantischen Fürsten suchte. Aber ein Herrscher, der sich als ältester Sohn der Kirche verstand, konnte keine religiöse Spaltung dulden, die obendrein noch seinen

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Thron bedrohte. Er hatte sich entschieden: »Das Frankreich, das er regierte, würde niemals protestantisch sein.«24 Wie zu Zeiten von Ludwig dem Heiligen missbilligte der Papst auch dieses Mal das brutale Vorgehen des französischen Souveräns. Schon anlässlich der Repressalien von 1534, und ungeachtet der Initiative des französischen Botschafters Guillaume du Bellay – der der Kurie gegenüber erklärte, die Verurteilten seien allesamt Rebellen (was nur teilweise stimmte) –, hatte Papst Paul III ., geboren als Alessandro Farnese, Franz I . geschrieben, um ihn zu größerer Mäßigung anzuhalten. Dem Tagebuch eines Bürgers von Paris zufolge beschied dieser Papst, der als aufgeklärter Geist auch die endgültige Ablehnung der Sklaverei durch den Heiligen Stuhl verfügte, dem Allerchristlichsten König, dass »es ein grausamer Tod ist, einen Menschen bei lebendigem Leibe zu verbrennen«, zumal er dann nicht mehr dem Glauben dienen könne.25 Als italienischer Renaissancemensch hielt es der oberste Kirchenherr für angebracht, den Nachfahren der gallo-fränkischen Barbaren daran zu erinnern, dass er nichts dabei zu gewinnen habe, wenn er den Irrweg der brutalen Unterdrückung einschlage. Doch Franz I . war nicht der heilige Ludwig. Die Dreistigkeit der reformierten Religionsfanatiker machte ihm Angst. Er war, wie Étienne de la Boétie bald darauf schreiben sollte, davon überzeugt, dass diese Religionskrise den Keim einer »zerstückelten Republik« in sich trug.26 Die Provokationen der Protestanten, die mit ihren Blasphemien die Katholiken bewusst herausforderten, und die blutigen Reaktionen der Letzteren bargen für hellsichtige Beobachter die Ansätze eines

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Le Fur, François Ier, S. 567. Anonym, Journal d’un bourgeois de Paris sous François Ier, S. 458. Vgl. La Boétie, »Mémoire touchant l’édit de janvier 1562«.

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Bürgerkriegs, das Verheerendste, was einem Königreich passieren konnte. Gleichwohl zwang die Intervention des Papstes den französischen Monarchen dazu, seinen Eifer kurzfristig zu zügeln. Das Edikt von Coucy, vom 16. Juli 1535, stoppte die laufenden Aktionen. Doch nach dem Tod von Franz I . (1547) und angesichts der Erfolge der Reformation in Frankreich gewann die Repressionslogik erneut die Oberhand und verschonte auch die Gotteslästerer nicht. Die Monarchie vervielfachte die Zahl der Ordonnanzen, um die ketzerische Blasphemie zu ahnden, die, der Ordonnanz von 1549 zufolge, den Willen verrate, »die Einheit der Kirche zu zerschlagen«. Mit anderen Worten, der Protestantismus wurde mit Blasphemie gleichgesetzt, ja als schlimmste aller Blasphemien betrachtet. Während man zwischen dem 14. und dem 15. Jahrhundert sechs königliche Edikte zur Blasphemie zählt, kommt man zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhundert auf mehr als zwanzig königliche Edikte, Ordonnanzen und Erklärungen, die immer härtere Strafen in Betracht zogen.27 Die königliche Gesetzgebung ging, auch wenn sie mitunter einen Zickzackkurs verfolgte, nach und nach von einfachen Geldbußen zu immer drakonischeren Leibesstrafen über. Die große königliche Ordonnanz von 1510 hatte den rechtlichen Rahmen der Repressionspolitik geschaffen. Allerdings war sie von besonderer Strenge noch weit entfernt. Sie sah bis zum vierten Mal eine (immer höhere) Geldstrafe für den Gotteslästerer vor. Beim fünften Verstoß wurde er an den Pranger gestellt und den Schmähungen der Menge ausgesetzt. Beim sechsten Mal spaltete man ihm die Oberlippe, beim siebten

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Belmas, »La montée des blasphèmes à l’âge moderne«, S. 23.

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die Unterlippe, beim achten Mal schnitt man ihm die Zunge »sämtlich« (das heißt vollständig) ab, um einen Rückfall zu verhindern. Während die »unflätigen Reden« weiterhin in die Zuständigkeit der Kirchengerichte fielen, entzog sich die ketzerische Blasphemie, die beging, wer »Gott, seine allerheiligste Mutter oder die Heiligen des Paradieses schmähte«, wie es der Rechtsgelehrte Papon 1557 formulierte, ganz allmählich der kirchlichen Gerichtsbarkeit und wurde zu einem vorrangig politischen Vergehen, das sich zunehmend einer Beleidigung des Fürsten annäherte. Diese Verfolgung der Blasphemie setzte in dem Augenblick ein, da die europäischen Monarchien allesamt darum rangen, ihre insbesondere von religiöser Dissidenz bedrohte innere Einheit zu festigen. Die strafrechtliche Ahndung der Blasphemie integrierte sich somit in den Entstehungsprozess des modernen Staates ab der Renaissance und speziell in Frankreich, wie einem Beobachter vom Schlage Machiavellis nicht entgangen war. Die Monarchie der Valois klassifizierte die »schweren Blasphemien« als Majestätsverbrechen gegen Gott, ein an der römischen majestas orientierter Ausdruck, der ab dem 14. Jahrhundert sprachliches Allgemeingut wurde. Die königlichen Juristen entdeckten das alte Justinian’sche crimen majestatis wieder und machten von ihm umso ausgiebigeren Gebrauch, als die Bezeichnung »Majestät« seit dem 15. Jahrhundert ausschließlich dem König vorbehalten blieb. Somit kam die »Majestätsbeleidigung« ab dem 16. Jahrhundert in der Rechtsprechung reichlich zum Einsatz.28 Dennoch sollte man unterscheiden: Der Ausdruck »Beleidigung der göttlichen und menschlichen Majestät«

28

Carbasse, Histoire du droit pénal, S. 339.

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war nicht in erster Linie dazu gedacht, ein religiös motiviertes Vergehen zu bezeichnen; er veranschaulicht vielmehr ein Ineinandergreifen von politischer und religiöser Sphäre zugunsten der ersteren. Alles hängt zusammen: Sobald der Allerchristlichste König in seinem Glauben attackiert wird, verwandelt sich die »ketzerische« Blasphemie in einen Affront gegen den Gesalbten des Herrn, selbst wenn sie die göttliche Ordnung verunglimpft. Fortan fühlte die Königsmacht sich direkt betroffen und kümmerte sich um die Strafverfolgung, nach Maßgabe eines juristischen Verfahrens, das über die Frage der Blasphemie weit hinausging. Die Vereinnahmung des Göttlichen durch die Macht der Krone unter Berufung auf das »Gottesgnadentum« ist ein zu weitläufiges Thema, um es in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Innerhalb dieses zugleich ideologischen und politischen Prozesses setzte die weltliche Macht sich entschlossen – aber diskret – über die religiöse Macht hinweg und eignete sich sozusagen das göttliche Recht ohne Umweg über die Kirche an. Man sollte von »säkularem Gottesrecht« sprechen. Eine schleichende, aber maßgebliche Entwicklung, die den sakralen Charakter der königlichen Autorität in Frankreich befestigte. Weder machte die Kirche davon viel Aufhebens, die sich um ein göttliches Recht gebracht sah, das sie eigentlich hätte bewahren wollen, ohne allerdings das Risiko eingehen zu können, die Monarchien an seiner Vereinnahmung zu hindern – ging es doch schließlich um einen besseren Schutz der Religion –, noch, begreiflicherweise, die Monarchien, die ihre Aneignung des göttlichen Rechts natürlich nicht als Eingriff in die Rechte der Kirche verstanden wissen wollten. So kam es, dass ab dem 16. und vor allem im 17. Jahrhundert manche Juristen, die Begründer der absolutistischen Ideologie, unverhohlen postulierten, das Gottesgnadentum entspreche dem »ausdrücklichen

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Wort Gottes«29. Ihrer Theorie zufolge bezog der König seine Autorität von Gott allein, »wie der Priester, dessen Status er übernimmt«. Durch diesen Anspruch, zur Gänze der göttlichen Gnade zu entspringen, mitsamt der daraus folgenden Verantwortung für das Heil ihrer Untertanen, machte die französische Krone aus dem Staat einen »weltlichen Doppelgänger der Kirche«, was ihm den gleichen Grad an Heiligkeit verlieh wie Letzterer. Diese Theorie des Staates von Gottes Gnaden sollte von den größten Theologen der Zeit, wie Suárez oder Kardinal Bellarmin, grundsätzlich bestritten werden. Der französische Klerus bekräftigte, auf den Generalständen von 1614, die Ablehnung der königlichen Gottesgnadenlehre durch die Kirche. Die Monarchie wagte nicht, sie zu einem Grundgesetz des Königreichs zu erheben, wie vom Dritten Stand seinerzeit gefordert, so heftig war der Widerstand des Klerus und des mit ihm verbündeten Adels: Dieses Gottesgnadentum verstieß gegen das Primat der Kirche und beeinträchtigte sie in ihrer zentralen Rolle als Vermittlerin jeglicher Form von Heiligkeit.30 Die Positionen waren jenen auf den Generalständen von 1789 genau entgegengesetzt, wo sich Adel und Klerus, oder Teile von ihnen, für die Monarchie von Gottes Gnaden einsetzten.31 Doch dieser dumpfe Gegensatz zwischen dem Monarchen und seiner Kirche hatte keine politische Relevanz. Denn auch die Geistlichkeit, ob hoch oder niedrig, gestand dem königlichen Staat einen Platz innerhalb der kirchlichen Mission zu, den Menschen bei der Erlangung ihres Seelenheils behilflich zu sein, zu-

29 30 31

Renoux-Zagamé, Du droit de Dieu au droit de l’homme, S. 247f. Vgl. zum Beispiel Gauchet, Le Désenchantement du monde. Und im Übrigen ziemlich halbherzig. Vgl. Saint Victor, La Première Contre-Révolution.

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mal dieser Staat, ganz pragmatisch betrachtet, als Einziger die Häresien ausrotten konnte. Wer anders als der »weltliche Arm« hatte die Mittel, Protestanten und Jansenisten zu verfolgen? Die kirchlichen Autoritäten zogen es folglich vor, den Mantel des Schweigens über die »königliche Usurpation« des göttlichen Rechts zu breiten, die sie stets ablehnten, aber nie verwarfen.32 Die Kirche überließ also dem Allerchristlichsten, von Gott berufenen König die Aufgabe, die Blasphemie zu verfolgen. Letztere wurde umso strenger geahndet, als es aus politischen und religiösen Gründen geschah. Heinrich II . setzte 1547 ein Inquisitionstribunal ein, die sogenannte »chambre ardente« (glühende Kammer), mit der ausdrücklichen Mission, die »Verlästerungen der göttlichen Würde […] auszutilgen«. Zwar wurde es am 19. November 1549 wieder abgeschafft, um ein weiteres Mal den Religionsfrieden im Königreich wiederherzustellen (ein Edikt vom Januar 1562 räumte der reformierten Kirche erstmals einen rechtlichen Status ein), doch konnte diese Aussetzung die von der Königsmacht in Gang gesetzte Repressionsspirale nur kurzfristig stoppen. Die gesetzgeberische Offensive kam nicht mehr zum Erliegen, was für die Politisierung des Vergehens spricht. Diese Strenge war – wir erinnern uns – eher ein Anliegen der weltlichen Gerichte, und wir können uns mit dem Gedanken trösten, dass im Westen »eher die Politik als die Religion die religiöse Intoleranz förderte«, wie Jules Simon schrieb.33 Für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts ist übrigens eine deutliche Zunahme der Blasphemiefälle zu registrieren, die vor königlichen Gerichten verhandelt wurden. Dabei bemerkten

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Ich verweise diesbezüglich auf die Ausführungen von Harouel, Le Vrai Génie du christianisme. Simon, La Liberté de conscience, S. 406.

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Rechtshistoriker eine spürbare Verschärfung der verhängten Strafen. Die alte Praxis, zu einer Geldbuße oder den üblichen Strafen zu verurteilen, wich einer gründlichen Untersuchung des Verbrechens und des Täters. Die Bandbreite der Sanktionen war groß, doch zeichneten sich, wie aktuelle Studien belegen, die verhängten Strafen durch zunehmende Härte aus. Bei einem Drittel der Fälle wurde ein Todesurteil ausgesprochen, das sind mehr als 20 Prozent aller Strafen.34 Vielerorts in Europa setzte gegen Ende des 16. Jahrhunderts eine Großoffensive gegen die Blasphemie ein. Auf der italienischen Halbinsel wurden die Behörden aktiv und schufen, wie 1597 in Venedig, spezielle Ämter zur Bekämpfung der Blasphemie. In den Ländern, die mit Rom gebrochen hatten, wie in England, der Schweiz oder verschiedenen deutschen Fürstentümern, verfolgte man die Verächter der offiziellen Religion mit umso größerer Härte, als sich die »protestantischen Sekten« schon untereinander ebenso unnachgiebig bekämpften. So unterdrückte die englische Krone im 17. Jahrhundert die Unitarier, weil sie die Dreifaltigkeitslehre verunglimpft hatten, und in Genf ließ Calvin Michel Servet wegen eines vergleichbaren Bekenntnisses zum Tode verurteilen.35 Die religiöse Intoleranz nahm also in protestantischen wie katholischen Ländern auffallend ähnliche Züge an. Die Protestanten setzten gegen die Katholiken in den von ihnen beherrschten Staaten die gleichen Waffen ein wie Letztere in den Ländern, in denen sie die Mehrheit stellten. Bei Überquerung des Ärmelkanals wurden innerhalb weniger Bootsstunden Verfolgte zu Verfolgern oder umgekehrt!

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Leveleux-Teixeira, La Parole interdite, S. 450. Spencer, »La situation juridique du blasphème en Angleterre«, S. 56.

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Am Ende geriet auch das Papsttum in Sorge über die Fortschritte der reformierten Religion. Das Sonderproblem der Blasphemie wurde im Rahmen der Gegenreformation behandelt, jenes groß angelegten katholischen Reformprojekts, das mit der Einberufung des Trienter Konzils von 1542 begann. Rom beschloss, die protestantische Häresie auf allen Ebenen zu bekämpfen, und der Krieg gegen die Blasphemie wurde zu einem Mittel im Kampf um die Glaubenseinheit. Bereits vor dem Trienter Konzil hatte das Fünfte Laterankonzil in Paragraf 33 der Bulle Supernae dispositionis arbitrio (1514) seine Entschlossenheit beteuert, »die abscheuliche Blasphemie zu vernichten«. Allerdings sah es nur pekuniäre Strafen vor, die im Wiederholungsfall bis zum Verlust der Adelstitel für Angehörige des zweiten Standes und zur lebenslänglichen Haft oder Verschickung auf die Galeeren für Normalsterbliche reichen konnten. Nach dem Trienter Konzil war die Kirche offenbar der Meinung, gegenüber diesem Verbrechen allzu große Nachsicht an den Tag gelegt zu haben. Papst Pius V. erließ am 1. April 1566 die Bulle Cum primum apostolatus, die jene, die »Gott, unseren Herrn Jesus Christus oder seine Mutter, die glorreiche Jungfrau Maria, schmähen«, im Wiederholungsfall mit der Durchbohrung der Zunge bedrohte. Die Strafe gelangte zur Anwendung, wenn der Schuldige ein armer, mittelloser Plebejer war. In allen anderen Fällen wurden Laien ins Exil geschickt und Kleriker verbannt … Ab dem 17. Jahrhundert wurde die Verfolgung der Blasphemie zu einer weniger dringlichen, aber noch genauso blutigen Angelegenheit. Der Drang, die Häresie zu bekämpfen, erlahmte zusehends, als in Frankreich mit dem Edikt von Nantes eine Zeit der Toleranz anbrach. Die Protestanten wurden dazu gebracht, ihren Bekehrungseifer und ihre Provokationen einzustellen. Die »blasphemische Konstellation« verlor ihre politisch-religiöse

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Dimension.36 Man hatte es fortan weniger eilig, mit neuen Ordonnanzen gegen die Blasphemie vorzugehen, und tatsächlich nahm die Zahl der königlichen Erklärungen ab. Gleichwohl verschwanden die Fälle »ketzerischer Blasphemie« nicht einfach von der Bildfläche, sie veränderten lediglich ihr Aussehen und verlagerten sich vom religiösen auf das literarische Feld. Die Theologen und Juristen des 17. Jahrhundert richteten ihr Hauptaugenmerk auf die »freigeistigen« Autoren. Während die königlichen Ordonnanzen weiterhin darauf verzichteten, die Todesstrafe für Blasphemie in Betracht zu ziehen, schreckten die Richter, vor allem die des Pariser Parlement, nicht mehr davor zurück, die Höchststrafe zu verhängen, zumal die Blasphemie meist in Tateinheit mit verwandten Delikten, wie Häresie und Gottlosigkeit, begangen wurde. So wurde 1619 der Freigeist Giulio Cesare Vanini aus dem Königreich Neapel (gebürtiger Apulier), ein genialer Kopf, den man des Atheismus beschuldigte, vom Toulouser Parlement wegen »Blasphemie, Gottlosigkeit, Atheismus, Hexerei und Verstoß gegen die guten Sitten« zum Abschneiden der Zunge sowie zum anschließenden Erwürgtund Verbranntwerden verurteilt. Nach zeitgenössischen Darstellungen verlief die Hinrichtung besonders brutal. Da Vanini sich weigerte, die Zunge zu zeigen, mussten die Henker sie ihm mit der Zange herausziehen und rissen dabei den ganzen Gaumen ab. Er stieß einen schrecklichen Schrei aus: »Man hätte meinen können, das Brüllen eines Ochsen, der geschlachtet wird, zu hören«, berichtete ein Zeuge. Die Nachricht vom grauenhaften Tod Vaninis verbreitete sich in ganz Europa. Auch der frivole Dichter Théophile de Viau wurde als »Beleidiger der göttlichen und menschlichen Majestät« verfolgt und zum Tod auf dem

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Christin, »Le statut ambigu du blasphème au XVI e siècle«, S. 342.

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Scheiterhaufen verurteilt, allerdings in Abwesenheit, denn es war ihm gelungen, das Land zu verlassen, was ihm das grausige Schicksal Vaninis ersparte. Diese barbarischen Strafen mögen schockierend erscheinen, aber die Öffentlichkeit, die noch ganz unter dem Eindruck der Religionskrise des 16. Jahrhunderts stand, billigte dieses strenge Vorgehen gegen Gotteslästerer. Nach Abschluss des Westfälischen Friedens (1648), der das Prinzip der Religionseinheit auf einem Gebiet (cuius regio, eius religio – wie der Fürst, so der Glaube) bestätigte, war die Gefahr halbwegs gebannt, dass die Frage der Blasphemie die europäischen Monarchien ins Wanken bringt. Das nahm der Repression jedoch nichts von ihrer Schärfe, da, wie erwähnt, die triumphierende Monarchie von Gottes Gnaden die Blasphemie gleichermaßen als Beleidigung Gottes wie des Königs auffasste. Der Königsthron sei »nicht der Thron eines Menschen, sondern der Thron Gottes selbst«, erklärte Bossuet, im Anschluss an den Juristen Loyseau, in seiner Politique tirée des propres paroles de l’Écriture sainte, weswegen jede Form der Blasphemie unweigerlich auf die Person des Fürsten zurückfiel, der für die Tugend seiner Untertanen bürgte. Und Ludwig XIV. intensivierte auch, kaum hatte er den Thron bestiegen, die Repression gegen die Blasphemie (zusammen mit der gegen Duelle und Häresie). Um die Bedeutung zu unterstreichen, die er dieser Frage beimaß, legte der spätere Sonnenkönig Wert darauf, eine neue Erklärung über die Blasphemie auf den Tag seiner Volljährigkeit (7. September 1651) zu datieren. Darüber hinaus war er fest entschlossen, den Katholizismus in seinen Landen in vollem Umfang und auf Dauer wiederherzustellen. Schon vor der Widerrufung des Edikts von Nantes (1685) hatte er mehrere Erklärungen gegen die »ketzerische Blasphemie« erlassen, die inzwischen als »gewaltige Blasphemie« bezeichnet wurde. Zwei Erklärungen bestätigten offiziell die Verhängung der Todesstrafe in diesem

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Fall (Erklärungen vom 7. September 1651 und vom 30. Juli 1666). Die Präambel einer dieser Ordonnanzen hält ausdrücklich fest: »Wir würden uns des Titels Allerchristlichster König, den wir tragen, als unwürdig erweisen, wenn wir nicht unser Möglichstes unternähmen, einem so abscheulichen Verbrechen Einhalt zu gebieten, das unmittelbar und in erster Linie die göttliche Majestät beleidigt und angreift.«37 Die von den Ordonnanzen Ludwigs XIV. vorgesehenen Strafen griffen teilweise auf die der Ordonnanz von 1510 zurück, aber in verschärfter Form. Jede Lästerung oder Blasphemie zog beim ersten bis vierten Mal eine Geldbuße (die zu zwei Dritteln an Hospitäler und zu einem Drittel an den Denunzianten ging) oder, bei Zahlungsunfähigkeit, eine Gefängnisstrafe nach sich. Beim fünften Mal musste der Wiederholungstäter das Halseisen tragen. Beim sechsten Mal wurde er zum Pranger verurteilt, und man schnitt ihm die Oberlippe ab. Beim siebten Mal verlor er die Unterlippe. Bei den »gewaltigen Blasphemien« wurde die Strafe ins Ermessen der Richter gestellt und konnte, wie gesehen, bis zum Todesurteil reichen. Allerdings sollte diese königliche Entschlossenheit in der Praxis mit einer gewissen Nachsicht einhergehen, besonders in Bezug auf das Presse- und Verlagswesen. Aufgrund der neuen Druckzensur von 1673 wurden Fälle schriftlicher Blasphemie viel seltener. Auch Schriftsteller wurden weniger belangt. Es waren die Frömmler, nicht die Regierung, die Molière für seinen Tartuffe Schwierigkeiten machten. Ein Pariser Pfarrer, Pierre Roullé, versuchte, die Beamten des Königs auf das Stück anzusetzen, mit der schlauen Begründung, »die Beleidigung Gottes [falle] auf das Antlitz der Könige zurück«. Vergebens: Der Tartuffe

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Hildesheimer, »La répression du blasphème au XVIII e siècle«, S. 67.

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wurde zwar teilweise verboten, Molière blieb aber unbehelligt, weil er die Protektion von Ludwig XIV. genoss. Hingegen ließen die königlichen Tribunale sowie die städtischen und lehnsherrlichen Gerichte nicht davon ab, gotteslästerliche Worte weiter sporadisch zu ahnden. Auch wenn sie vielfach ignoriert oder als »eintönige Roheit« abgetan wurden, dauerte die Strafverfolgung das ganze Jahrhundert an und setzte sich noch bis in die Anfänge der Regentschaft von Ludwig XV. fort.38 Bei vielen Prozessen, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts vor dem Pariser Parlement stattfanden, fällt auf, dass der Vorwurf der Blasphemie in der Regel erst erhoben wurde, wenn einer der Parteien die Argumente ausgingen. Die Blasphemie wurde somit zur Trumpfkarte, die einer der Prozessgegner im letzten Moment aus dem Ärmel zog, um die Richter doch noch zu überzeugen. So geschehen, 1724 zu Paris, im Falle der Nachbarn eines Viehzüchters namens Claude l’Herbé, der seine Frau schlug und Passanten beleidigte. Die Nachbarn hatten genug von dem Radau, den l’Herbé auf der Straße veranstaltete, wenn er betrunken war. Sie erstatteten Anzeige, doch das Verfahren zog sich in die Länge. Weil ihnen nichts Besseres einfiel, behaupteten sie schließlich, l’Herbé sei ein »abscheulicher Gotteslästerer«, der »ruchlose Reden über Gott und die Jungfrau« führe. Eine Nachbarin gab sogar an, gehört zu haben, wie er die Jungfrau eine »verfluchte Hurentreiberin« nannte. Sofort wurde die Justiz aktiv. Der Nachbarschaftsstreit geriet in den Hintergrund. Die Richter von Le Châtelet, dem erstinstanzlichen Gericht, nahmen sich des Skandals an. Eine Nachbarin konnte noch so viel versichern, dass l’Herbé nur fluche und schimpfe, wenn er »dem Wein zugetan« sei, es half alles nichts. Er selbst beging den Feh-

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Vgl. Huizinga, Herbst des Mittelalters, S. 225.

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ler zuzugeben, »dass er manchmal, im Weinrausch, flucht und Gott verleugnet, wenn die Dinge nicht nach seinem Willen gehen«. Ein Geständnis, das ihm zum Verhängnis wurde. Er wurde zum Tode verurteilt und der Schuldspruch in der Berufung bestätigt. Der arme Kerl verlor seine Zunge, bevor er auf der Place de Grève lebendig verbrannt wurde.39 Das war beileibe kein Einzelfall. Allerdings blieben Todesurteile eine Seltenheit. In der Regel wurde die Höchststrafe nur verhängt, wenn die Blasphemie mit weiteren Delikten (Inzest, Sodomie, Mord usw.) einherging. Und in den meisten Fällen, bis auf wenige Ausnahmen, hatten die Todesstrafen in der Berufung keinen Bestand – die Parlements ließen größere Milde walten als die unteren Instanzen. Zwar benutzten die Richter im 18. Jahrhundert weiter, und manchmal in redundanter Weise, den Begriff des Majestätsverbrechens gegen Gott, zusammen mit Vorwürfen der Blasphemie, der Häresie oder des Sakrilegs, die Bedeutung der Blasphemie hingegen erfuhr im Zeitalter der Aufklärung einen ganz wesentlichen Wandel.

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Dieser Fall wurde von Hildesheimer untersucht, »La répression du blasphème au XVIII e siècle«, S. 69.

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III La Barre: der eine Prozess zu viel Mit der Veröffentlichung und dem Erfolg des Geistes der Gesetze (1748) begann in Europa ein erfreuliches Intermezzo im Bereich der Strafrechtstheorie. Die wirkmächtigen Überlegungen Montesquieus initiierten, noch vor denen Voltaires, einen wichtigen Schritt in Richtung Trennung von Moral und Religion. Montesquieu führte seinem Jahrhundert die komplexen Beziehungen zwischen Strafgesetzen und Freiheit vor Augen. Die Blasphemie gehörte offenkundig zu dieser Thematik, da dem Herrn von La Brède zufolge die Bestrafung dieses Delikts nicht Sache der menschlichen Gerichtsbarkeit, sondern des göttlichen Urteils sei: »Man darf nicht durch göttliche Gesetze regeln, was durch menschliche Gesetze geregelt werden muß, und ebensowenig durch menschliche Gesetze ordnen, was durch göttliche Gesetze geordnet werden muß.«40 Anlässlich seiner Auseinandersetzung mit den »Verbrechen gegen die Religion«, vor allem in Buch 12, das den Titel trägt: »Von den Gesetzen, welche die politische Freiheit in ihrer Beziehung zum Bürger ausmachen«, wandte sich Montesquieu unmissverständlich gegen die Theo-

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Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Bd. 2, S. 206 (Buch XXVI , Kapitel 2).

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logen und Richter, die meinten, Gewissenserforschung betreiben zu können, bevor sie den Gotteslästerer verurteilten: »Das Strafübel ist aus dem Gedanken entstanden, daß es nötig sei, die Gottheit zu rächen. Allein man soll nur darauf hinwirken, daß die Gottheit geehrt werde, aber niemals sie rächen wollen. Wahrlich, wie sollten die Strafen ein Ende nehmen, wenn man nach diesem Gedanken verfahren wollte! Wenn die Gesetze der Menschen ein unendliches Wesen rächen müßten, so würden sie sich nach seiner Unendlichkeit und nicht nach den Unwissenheiten und Launen der menschlichen Natur zu richten haben.«41 Kurzum, der Philosoph warnte seine Leser davor, dass den Weg der Bestrafung der Blasphemie einzuschlagen für die Menschen das Risiko beinhalte, sich in einer endlosen Repressionslogik zu verlieren, da die »Launen der menschlichen Natur« selbst unermesslich seien. Wer könnte jemals denjenigen beschwichtigen, der meine, dieses oder jenes Wort würde eine Beleidigung der Gottheit darstellen, da Letztere naturgemäß nicht zur Verfügung stehe, um uns ihr Wesen zu definieren und ihre Grenzen festzulegen. Montesquieu und die Juristen der Aufklärung, die ihm folgten, wie Linguet, Dareau, Brissot de Warville und, natürlich, Beccaria, waren sich also, mit Voltaire, grundsätzlich einig in der Auffassung, dass man die Gottheit ehren müsse, sie aber niemals rächen dürfe. Diese Gelehrten verstanden sich beileibe nicht alle als kämpferische Atheisten. Es ist eine heute weit verbreitete Unart, die Vielfalt der Aufklärungslehren mit dem abstraktesten Rationalismus zu verwechseln. Viele Denker des 18. Jahrhunderts waren der Meinung, die Religion sei der Gesellschaft nützlich und verdiene es als solche, beschützt zu werden. Doch die Verteidi-

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Ebd., Bd. 1, S. 261 (Buch XII , Kapitel 4) (Hervorhebung S.V.).

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gung des Göttlichen fortan aus der Perspektive des Nutzens zu betrachten, bedeutete natürlich, die Rolle der Religion nachhaltig zu verändern. Letztere war nur noch ein Anhängsel im Dienste der Gesellschaft. Dieses nüchterne Nutzenkalkül stellte die Dinge auf den Kopf: Der »Utilitarismus« triumphierte längst, bevor Jeremy Bentham ihn theoretisch konzipiert hatte. 1781 formulierte Brissot in seinen Moyens d’adoucir la rigueur des lois pénales en France klar und deutlich: »Die Religion kann im Hinblick auf die bürgerliche Gesellschaft nur als eines der Mittel angesehen werden, die der Himmel ihr gegeben hat, um ihren inneren Frieden zu bewahren, sie hat nur das Recht, solche Vergehen zu bestrafen, die diesen Frieden stören können.« Deshalb gelangten die Strafrechtler der Aufklärung zu der Überzeugung, nur solche Verbrechen verfolgen zu dürfen, »die durch Verstöße gegen die öffentliche Ordnung die Gesellschaft betreffen«, wie wiederum Brissot schrieb. Ferner müsse man sich davor hüten, der allgemeinen Auffassung in strafrechtlichen Dingen blind zu folgen: »Es ist gefährlich, allzu bereitwillig dem Geschrei einer Menge Gehör zu schenken, die sich leicht entrüstet, da man auf diese Weise geneigt sein könnte, hart zu bestrafen, was eine gewisse Nachsicht verdienen würde.« Ein Gedanke, der auf die Blasphemie im besonderen Maße zutrifft. Den aufgeklärten Juristen kam es darauf an, den einfachen »Fluch« von der echten »Blasphemie« zu unterschieden, die, »wenn ihre Respektlosigkeit gegenüber der göttlichen Majestät ungestraft bleibt […], die Gottesverehrung schwächen und infolgedessen die Heiligkeit der Herzen trüben kann« (Dareau). Diese treffliche Unterscheidung bestätigt die veränderte Rolle und Stellung der Religion in der westlichen Zivilisation des ausgehenden 18. Jahrhunderts.42

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Cabantous, Histoire du blasphème en Occident, S. 140.

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Die schleichende Säkularisierung der Gesellschaft im Zeitalter der Vernunft – zumindest des wohlhabendsten, urbansten Teils der Gesellschaft (doch in manchen Regionen wie dem Pariser Becken oder der Champagne erfasste dieses Phänomen auch ländliche Bevölkerungsschichten) – ließ nicht mehr zu, den Gotteslästerer als »Ketzer«, als Gegner Gottes oder Feind des Thrones zu betrachten. Frankreich wurde unter Ludwig XV., nach Meinung mancher, zu einer der despektierlichsten Nationen Europas.43 In Bezug auf die Religion bürgerte sich ein ironischer Sprachgebrauch ein, und Diderots Nonne ist ein aufschlussreicher Beleg für diesen Sittenwandel: Kapuzinade wurde zum Synonym für Predigt und Pagode für Kirche, man fand Gefallen daran, über die »Pfaffen«, »Schwarzröcke«, »Klosterbrüder« usw. herzuziehen. In einem solchen Kontext machte man keine Jagd mehr auf Gotteslästerer, um ein vermeintliches Gottesgericht vom Königreich abzuwenden. Diese politische Funktion, die ihr im 16. und 17. Jahrhundert zugekommen war, hatte die Blasphemie verloren. Es ging nicht einmal mehr darum, die Seele des Gotteslästerers zu retten, zumal Letzterer nicht zwangsläufig ein Gläubiger war. Vielmehr wurde die Blasphemie nur noch geahndet, um die wahren Gläubigen zu schützen und den Rest der Gesellschaft vor dem »schlechten Beispiel« der Gottlosen und Freigeister zu bewahren. Der Jurist Joseph-Nicolas Guyot steht beispielhaft für diesen Wandel, indem er in seinem berühmten Répertoire de jurisprudence (1776) den Richtern empfahl, darauf zu verzichten, Gott rächen zu wollen: »Da die Bestrafung der Blasphemie nur noch um des Beispiels willen für die Gesell-

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Über den Entchristianisierungsgrad der französischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert streiten sich die Gelehrten. Vgl. insbesondere Plongeron, »La déchristianisation a-t-elle une histoire?«, S. 91–106.

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schaft erforderlich ist und nicht, um die Gottheit zu rächen, die über die eitlen Schmähungen des Menschen erhaben ist, sollte beachtet werden, die Staatsanwaltschaft nur auf den Plan zu rufen, wenn die Lästerung tatsächlich […] schwerwiegend und skandalös ist.«44 Die Bestrafung der Blasphemie hatte sich also gründlich »säkularisiert«, ganz wie ein Teil der Gesellschaft. Der Glaubensverlust veränderte die Beurteilung blasphemischer Praktiken. Interessant ist übrigens, dass selbst konservative Juristen wie Muyart de Vouglans oder Jousse der Meinung waren, dass zu unterscheiden sei zwischen der wirklichen, vor allem öffentlich geäußerten Blasphemie, die die Gesellschaft schwäche, indem sie, wie erwähnt, ihre religiösen Fundamente untergrabe, und dem einfachen Fluch eines Menschen, der unbesonnen gesprochen, aber anschließend »Zeichen aufrichtiger Reue« gezeigt habe. In diesem Fall liege es nicht im Interesse der Gesellschaft, eine Tat zu verfolgen, die nur Gott betreffe. Zumal es uns, wie Dareau treffend bemerkte, »nicht gestattet ist, in die heiligen Rechte einzugreifen, die Gott sich vorbehalten hat«. Wie viel Blutvergießen hätte vermieden werden können, so das einhellige Urteil der Aufklärungsjuristen, hätte man früher den Gedanken Montesquieus beherzigt, dass es Gott allein obliege, sich für etwas zu rächen, was er als Beleidigung empfinde … Offiziell blieb die Rechtsprechung Ludwigs XIV. das 18. Jahrhundert hindurch in Kraft. Ludwig XV. verschärfte sogar die Repression gegen die Presse und das Druck- und Verlagswesen. Eine Erklärung vom 16. April 1757 drohte Schriftstellern und Verlegern die Todesstrafe an, wenn sie für Werke verantwortlich

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Guyot, Répertoire universel et raisonné de jurisprudence, Bd. VI , S. 212.

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zeichneten, die »die Religion anzugreifen trachteten«. Doch im Allgemeinen wussten die Richter mit solchen Verfügungen in aufgeklärter Weise umzugehen. Sodass selbst Voltaire – vor der Affäre des Chevalier de La Barre – die königliche Gesetzgebung als eher »weise und menschlich« betrachtete. In Wirklichkeit waren diese Anordnungen keineswegs so »menschlich«, wie er dachte. Was der »Teufel von Ferney« übersah, war die Tatsache, dass das Delikt der Blasphemie sich in ein System einfügte, das Denunziationen rechtfertigte – und begünstigte. Ihrem ganzen Wesen nach ist die Blasphemie ein fiktives Vergehen, ein Verbrechen ohne Opfer, zumindest ohne direktes. Gott konnte schließlich nicht als Kläger auftreten. Um die Blasphemie als Delikt zu verfolgen, musste also die Anzeige eines Dritten vorliegen. Der Vorwurf der Blasphemie wurde somit zu einer bequemen Waffe in den Händen derer, die keine Skrupel kannten. Obendrein konnte ein Kontext politischer oder sozialer Spannungen schnell zu einem Gesinnungswandel der Verfolgungsbehörden führen und einen Gotteslästerer im Handumdrehen auf den Scheiterhaufen bringen. So geschehen 1765 in Abbeville, im Falle eines jungen Mannes, des Chevalier de La Barre, der wegen Blasphemie hingerichtet wurde, und das unter so fürchterlichen Begleitumständen, dass ganz Europa an seinem Leid Anteil nahm. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich bei dieser berühmten Affäre nicht bloß um einen Fall von Blasphemie. Am Anfang stand die Schändung eines Kruzifixes in der Nacht vom 8. auf den 9. August 1765: Der hölzerne Christus am Rande der Pont-Neuf in Abbeville war mit einem Messer oder Degen traktiert worden. Als man die Tat am nächsten Morgen entdeckte, war die Aufregung groß unter den Bewohnern dieser gottesfürchtigen Kleinstadt im Bistum Amiens, die der »Geist der Aufklärung« noch nicht erreicht hatte. Den Gerüchten zufolge war schnell eine Gruppe

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junger Aristokraten als Täter ausgemacht, Gaillard d’Étallonde, der Chevalier de La Barre, Moisnel und weitere Söhne aus gutem Hause, die bereits wegen anderer Despektierlichkeiten aufgefallen waren. Einige von ihnen hatten angeblich schlüpfrige Lieder gesungen und sich damit gebrüstet, der Fronleichnamsprozession den Gruß verweigert zu haben. Man verdächtigte sie ferner, einen Friedhof geschändet zu haben. Diese Gerüchte machten sie zu perfekten Schuldigen. Der oberste Kriminalrichter, ein Monsieur Duval de Soicourt, ordnete ihre Festnahme an. Er ließ am 1. Oktober 1765 den jungen, kaum fünfzehnjährigen Moisnel verhaften sowie den neunzehnjährigen Chevalier François-Jean Lefebvre de La Barre, der nach dem Tod seiner Eltern in der Obhut seiner Tante, der Äbtissin von Willencourt, lebte, einer Geistlichen, die aber vornehmlich als Dame von Welt auftrat. Der junge, leicht zu beeinflussende Moisnel legte ein Geständnis ab und beschuldigte Gaillard d’Étallonde, das Kruzifix beschädigt zu haben. Letzterem gelang die Flucht nach Holland, wo er der preußischen Armee beitrat. La Barre belastete ebenfalls d’Étallonde, leugnete aber jede Mitschuld. Er legte in den Verhören sogar eine gewisse Dreistigkeit an den Tag. Er wusste, dass er Protektion genoss, vor allem durch einen seiner Cousins, Louis François de Paule Lefebvre d’Ormesson, einen der Vorsitzenden des Pariser Parlement. Allerdings durchsuchte die Polizei das Zimmer des jungen Chevalier und entdeckte dabei ein Exemplar von Voltaires Dictionnaire philosophique portatif. Nach einem umstrittenen Ermittlungsverfahren wurde La Barre am 28. Februar 1766 wegen »Gottlosigkeit, schändlicher und abscheulicher Blasphemien und Sakrilegien« zum Tode verurteilt. Die Höhe der Strafe war weniger der Blasphemie als dem Sakrileg und der Friedhofsschändung geschuldet. Der Chevalier sollte öffentlich Abbitte leisten, bevor man ihm die Zunge abschnitt, ihn enthauptete und verbrannte.

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Die Härte der erstinstanzlichen Entscheidung war schon überraschend, erklärte sich jedoch aus örtlichen Rivalitäten. La Barre fiel den Machtkämpfen zwischen Richtern am Präsidialgericht zum Opfer, die über seine Person hinausgingen. Das Überraschendste war jedoch die Bestätigung des Todesurteils durch die Große Kammer des Pariser Parlement am 4. Juni 1766 (der junge Moisnel wurde aufgrund seines Alters lediglich zu einer Geldbuße verurteilt). In diesen aufgeklärten Zeiten erwiesen sich die obersten Gerichte in der Regel nachsichtiger als die unteren Instanzen.45 Und das galt umso mehr für einen jungen Adeligen, der auf einen gewissen Rückhalt zählen konnte. Gleichwohl blieb diese Verteilung der Gleichgewichte stets eine vorläufige, und eine bloße Verkettung von Umständen konnte schon genügen, um die rechtliche Ausgangslage radikal zu verändern – wie 1765. Der Kontext sprach nicht zugunsten des Chevalier de La Barre. Das Parlement befand sich im Zentrum eines Sturms. Viele Richter und Staatsanwälte sympathisierten mit den Jansenisten. Letztere hatten gerade erst 1764 einen großen Sieg über ihre erbittertsten Feinde errungen: Der König musste, mehr oder weniger widerwillig, die Entscheidung treffen, die Jesuiten aus seinem Reich zu verbannen. Dieser Sieg der Jansenisten und des Parlement über die Angehörigen der Gesellschaft Jesu zwang Erstere dazu, den Eindruck zu vermeiden, das Spiel der Gottlosen und »Philosophisten« zu betreiben. Die Strenge des Parlement entsprach auch der neuen politischen Lage. Am 3. März 1766 hatte Ludwig XV. den Herren des Parle-

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Auch wenn diesbezüglich die Historiker der geisteswissenschaftlichen und die der juristischen Fakultäten nicht immer zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangen (Belmas, »La montée des blasphèmes à l’âge moderne«, S. 16).

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ments einen scharfen Verweis erteilt, als er in Jagdmontur im Justizpalast erschien, um die Richter in herablassendem Ton daran zu erinnern, dass er als Einziger dazu befugt sei, im Namen der Nation zu sprechen, auch wenn Letztere das Gegenteil behaupteten, indem sie sich das Recht anmaßten, »außerhalb der Generalstände« in Volkes Namen zu sprechen. Diese als »die Geißelung« berühmt gewordene Sitzung veranlasste die Angehörigen des Pariser Parlement dazu, sich für einige Monate den Auffassungen des Königs gegenüber aufgeschlossener und respektvoller zu zeigen. Allerdings litt Ludwig XV. zu diesem Zeitpunkt sehr unter dem plötzlichen Tod seines Sohnes, des Thronfolgers, der am 20. Dezember 1765 im Alter von 36 Jahren verstorben war, und neigte deshalb zu größter Härte gegenüber allen, die die Religion verunglimpften. Dieser Herrscher, Lebemann und Frömmler in einer Person, fürchtete neuerliche Prüfungen Gottes. Das Parlement glaubte also, ganz im Sinne des Allerchristlichsten zu handeln, wenn es als Racheinstanz zu Werke ging. Obendrein bot der Prozess gegen den Chevalier de La Barre mehreren Richtern, wie Pasquier, Joly de Fleury oder Maupeou, die Gelegenheit, ihre Rechnungen mit Voltaire zu begleichen. Mit der Bestrafung des jungen Gotteslästerers schufen sie die juristischen Instrumente, um den Philosophen aus Ferney einzuschüchtern. Hinzu kam die erwähnte königliche Erklärung vom 16. April 1757, die Autoren und Verleger von Schriften, die »die »Religion anzugreifen trachteten« und geeignet waren, »die Gemüter zu erregen«, mit dem Tode bedrohte.46 Das bei La Barre entdeckte Philosophische Wörterbuch fiel definitiv in diese Rubrik. Voltaire war sich der Gefahr, die

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Holleaux, »Le procès du chevalier de La Barre«, S 172, Fn. 4.

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auf ihn lauerte, wohl bewusst und verteidigte sich umso energischer. Inzwischen wurde La Barre einem schrecklichen Martyrium unterworfen. Seine Hinrichtung rief quer durch das aufgeklärte Europa tiefe Bestürzung hervor. Und dafür gab es allen Grund. Man überstellte den jungen Chevalier nach Abbeville, wo man am Morgen des 1. Juli 1766 mit der Folter begann – das heißt, man zerschlug ihm, im Rahmen der »peinlichen Befragung«, mehr als eine Stunde lang die Knochen. Nachdem er den ganzen Tag über auf eine königliche Begnadigung gehofft hatte, wurde er am späten Nachmittag zum Hinrichtungsplatz gebracht, mit einem Schild auf dem Rücken, das die Inschrift trug: »Gotteslästerer und schändlicher Frevler«. Von den Glocken der Stadt ertönte das Totengeläut. War es sein Mut oder der barbarische Strafrituale ablehnende Zeitgeist, der seinen Henker, Sanson, darauf verzichten ließ, ihm die Zunge herauszureißen? Er begnügte sich damit, ihm mit einem raschen Hieb den Kopf abzutrennen. Aus seinem Körper sprudelte das Blut »wie aus mehreren Fontänen«, berichtete ein Augenzeuge. Sein Leichnam wurde anschließend auf den Scheiterhaufen gelegt, zusammen mit einem Exemplar des Voltaire’schen Wörterbuchs und anderen religionskritischen Büchern, mit Stroh und Reisig bedeckt und angezündet. Der Chevalier de La Barre war gerade zwanzig Jahre alt. Die Nachricht von dieser Hinrichtung kehrte sich rasch gegen die königliche Justiz. Die Philosophen empörten sich gegen das Skandalöse – und unsäglich Grausame – derart willkürlicher Prozeduren. In seiner Correspondance littéraire schrieb Grimm, La Barre sei »mit beispielloser Tapferkeit und Seelenruhe gestorben«. In dem bereits am 26. Juni veröffentlichten Mémoire à consulter versammelte der Rechtsanwalt Linguet die Stellungnahmen berühmter Juristen, die sich allesamt gegen die Todes-

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strafe aussprachen und die Exzesse der königlichen Justiz anprangerten.47 Dieser Text wandte sich gegen die örtliche Justiz, aber auch das Pariser Parlement sah sich kritischen Fragen ausgesetzt. Staatsanwalt Joly de Fleury ließ die Schrift heimlich beschlagnahmen. Doch der öffentliche Unmut war nicht mehr einzudämmen. Ob aus Verbitterung oder Überzeugung, jedenfalls brachte der hohe Klerus, der dem Parlement die Vertreibung der Jesuiten nicht verziehen hatte, das Gerücht in Umlauf, der Chevalier hätte keine so grausame Strafe erleiden dürfen. Der päpstliche Nuntius in Paris, Monsignore Colonna Pamphili, ließ in den Salons verlauten, die römische Inquisition hätte den jungen Chevalier für derlei Taten höchstens zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, es aber, aller Wahrscheinlichkeit nach, bei einer bloßen Ermahnung belassen. Diese Meinung war alles andere als abwegig. Noch wenige Jahre zuvor hätte der Chevalier selbst in Frankreich nur eine geringfügige Strafe für vergleichbare Taten erhalten. Das belegt ein ganz ähnlich gelagerter Fall, der sich 1744 in Issoudun zutrug. Dort hatten ein paar junge Leute aus der besseren Gesellschaft um die zwanzig Kruzifixe geschändet, zügellose Reden geschwungen und eine Marienstatue am Straßenrand verschandelt. Die Hauptschuldigen kamen mit einer Geldbuße von sechzig Pfund davon.48 Mit anderen Worten, der junge Chevalier war ein tragischer Pechvogel. Allerdings sind die Kritiken an der königlichen Justiz nichts im Vergleich zur Reaktion Voltaires, an der er sozusagen ganz Europa teilhaben ließ. Als Voltaire erfuhr, dass der Rat Pasquier in seiner Anklagerede gegen die »Partei der Enzyklopädie«

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Zur Bedeutung des mémoire von Linguet vgl. Claverie, »Sainte indignation contre indignation éclairée«, S. 279. Cabantous, Histoire du blasphème, S. 134–135.

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und besonders gegen ihn zu Felde gezogen war und die Justiz den Chevalier zusammen mit einem Exemplar seines Philosophischen Wörterbuchs verbrannt hatte, begriff Voltaire, dass der Kampf zwischen dem »Fanatismus« der jansenistischen Mitglieder des Parlement und der »Partei« der Philosophen ausgetragen wurde. Er bekam es mit der Angst zu tun, wie er Morellet eingestehen musste.49 Er ließ sich dennoch nicht einschüchtern und setzte alle Hebel in Bewegung, um das aufgeklärte Europa von der Barbarei der königlichen Justiz zu überzeugen. Von Ferney aus, seinem Zufluchtsort, forderte er seine Schüler auf, Frankreich zu verlassen. »Ich begreife nicht«, schrieb er an d’Alembert, »wie denkende Wesen in einem Land von Affen leben können, die sich so oft in Tiger verwandeln.« Und fügte hinzu: »Im Vergleich dazu ist die Inquisition ziemlich zahm.« Noch im gleichen Monat, dem Juli 1766, veröffentlichte er auch seine erste Streitschrift, Nachricht vom Tod des Chevalier de La Barre, die mit »M. Cassen, Anwalt im königlichen Rat« unterzeichnet und an den Marquis de Beccaria, den jungen und bereits berühmten Verfasser der Abhandlung Von den Verbrechen und von den Strafen (1764), adressiert war. Voltaire ließ nicht davon ab, die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den Chevalier zu fordern, ähnlich der Rehabilitierung von Calas durch den königlichen Rat, die er 1765 erreicht hatte. Doch dieses Mal vergebens. In der Hoffnung auf mehr Verständnis beim neuen Monarchen – Ludwig XV. war 1774 gestorben – verfasste er im Juni 1775 ein weiteres Traktat, Le Cri du sang innocent au Roi Très Chrétien en son conseil, das den gesamten Fall La Barre rekapitulierte und die Machenschaften der örtlichen Richter aufzeigte. Abermals verlorene Liebesmüh. Ludwig XVI . wollte nicht riskieren, das Ver-

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Claverie, »Sainte indignation contre indignation éclairée«, S. 283.

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halten seines Vorgängers infrage zu stellen. Doch in den Augen der Öffentlichkeit hatte die Monarchie verloren. Die königliche Justiz ging diskreditiert aus diesem unfairen Prozess hervor;50 mehr noch, die ganze Institution der Königtums galt fortan als Hort des Obskurantismus und der Willkür. Diese Justiztragödie hinterließ tiefe und bleibende Spuren. Dieser »eine Prozess zu viel« war die unmittelbare Ursache für die umstandslose Abschaffung des Blasphemiedelikts schon in den Anfängen der Revolution. Die Protagonisten von 1789 formulierten zunächst das Prinzip der Meinungsfreiheit in den Artikeln 10 und 11 der Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789. Dann wurde Frankreich die erste europäische Nation, die den Tatbestand der Blasphemie in ihrem ersten Strafgesetzbuch vom 25. September 1791 ausdrücklich abschaffte. In seinem Rapport sur le projet de code pénal zeigte sich Lepeletier de Saint Fargeau, Mitglied der Konstituante, sehr beeinflusst von den Schriften des »Zeitalters von Montesquieu und Beccaria«, wie Voltaire es nannte. Er beteuerte seine Absicht, »diese Masse an imaginären Verbrechen, von denen unsere alten Gesetzessammlungen voll sind«, verschwinden zu lassen. Und er stellte im Hinblick auf das neue Strafgesetzbuch klar: »Sie werden darin nicht jene Kapitalverbrechen der Ketzerei, der Beleidigung Gottes, der Hexerei, der Magie finden, […] um deretwillen, im Namen des Himmels, so viel irdisches Blut vergossen wurde …« Mit der Abschaffung der Blasphemie als Straftatbestand war Frankreich die erste Nation Europas, die so deutlich zwischen Recht und Religion unterschied. Diese Kühnheit war wesentlich

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Die Richter waren sich dessen zweifellos bewusst: Es gab, nach der Hinrichtung von La Barre, kein weiteres Todesurteil wegen Blasphemie vor 1791.

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eine Folge des La-Barre-Prozesses. Doch der rasche Wandel der Blasphemievorstellung seitens der Aufklärungsjuristen – dass man die Gesellschaft schützen müsse, ohne die Seele des Gotteslästerers retten zu wollen – hatte diese Abschaffung das ganze Jahrhundert über gewissermaßen logisch vorbereitet. Die Rehabilitierung des Chevalier de La Barre gehörte 1789 zu den Forderungen in den Beschwerdeheften des Pariser Adels: Doch vorgenommen wurde sie vom Konvent, und zwar inmitten der Schreckensherrschaft und im Namen des Kampfes gegen den »religiösen Fanatismus«. Artikel 2 des Dekrets vom 23. Brumaire des Jahres II (15. November 1793) lautete: »La Barre und d’Étallonde, genannt de Morival, Opfer von Aberglauben und Unwissenheit, sind rehabilitiert.« Eine »republikanische« Form der Blasphemie schien gleichwohl fortzubestehen. Um die »Hebertisten« und die »Enragés« zu bekämpfen, beschuldigten die Freunde Robespierres sie des Verbrechens des »Atheismus«. Und in seiner großen Abhandlung über Les Paysans du Nord pendant la Révolution française (1924) erwähnt der Historiker Georges Lefebvre sogar noch vereinzelte Fälle bis 1793, in denen Personen wegen Blasphemie gerichtlich belangt wurden! Im Übrigen war die Säkularisierung der Gesellschaft, wie die Restauration von 1814–1815 belegt, vielleicht nicht so tiefgreifend, wie man hätte vermuten können. Zwar tauchte das Verbrechen der Blasphemie als solches nach 1791 nie wieder auf. Doch legen die Umstände nahe, die These seines völligen Verschwindens zu relativieren. Aufgrund der strikten Presse- und Druckzensur während des Konsulats und des Kaiserreichs kam es in dieser Zeit eher selten zu einer Verfolgung von Vergehen gegen die Religion, zumindest solchen in schriftlicher Form. Napoléon verbot 1808 »den Zeitungen, über Priester, Predigten und Religion zu berichten«, gemäß der Auffassung: »Kann man die Erör-

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terung theologischer Fragen nicht den Predigern überlassen?« Paradoxerweise war es die Restauration, die in dem Bestreben, die Pressefreiheit wiederherzustellen, dem Vergehen gegen die Religion zu einer neuen Existenz verhalf.

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IV Eine scheinbare Abschaffung Nach 1815 war Frankreich tief gespalten zwischen Anhängern und Gegnern der Revolution. Erstere hatten weiterhin Einfluss auf einen Teil der öffentlichen Meinung, indem sie als Verteidiger der Freiheit auftraten, auch in Fragen der Religion. Beispielsweise errang 1816 ein junger liberaler Schriftsteller, Abel-François Villemain, den Preis der Académie Française für eine Éloge de Montesquieu, in dem er zustimmend als wesentliche Eigenschaft des 18. Jahrhunderts herausstellte, »Ideen an die Stelle des Glaubens gesetzt zu haben«. Doch standen diesen Erben der Aufklärung die vielen gegenüber, die die Mühen der Emigration erlebt hatten oder die ganz einfach der Exzesse – und Leidenschaften – der Revolution überdrüssig waren und deshalb die alten Gesetze zum Schutz von Thron und Altar wieder einführen wollten. Dem Glauben wurde in diesem Rahmen besondere Aufmerksamkeit zuteil. Der Klerus schien fest entschlossen, keines der Zugeständnisse zu akzeptieren, zu denen der König und ein Teil des Adels noch bereit waren, um mit dem Zeitgeist konform zu gehen. Der Eifer der Geistlichen wurde insbesondere durch die berühmte »Kongregration« der Jesuiten geschürt, die ab 1814 wieder in Frankreich tätig waren und deren untergründiges Wirken sogar bei einstigen Emigranten wie dem erzfeudalen Comte de Montlosier, ehemaliger Abgeordneter des »schwarzen

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Adels« von 1789, auf Ablehnung stieß. Montlosier beschuldigte diese »Priesterpartei«, hinter dem Gesetz vom 20. April 1825 zu stecken, das die Profanierung heiliger Gefäße und geweihter Hostien mit dem Tode bestrafte. Dieses lächerliche Gesetz, häufig zitiert als Beispiel für die reaktionären Umtriebe einer Rechten, die »nichts verstanden, nichts vergessen hatte«, wurde tatsächlich niemals angewandt, schon wegen des absurden Missverhältnisses zwischen Vergehen und Strafe, und bereits von der Revolution von 1830 wieder abgeschafft (Gesetz vom 11. Oktober 1830). Es kann also nicht als repräsentativ für das Klima moralischer Reaktion gelten, das einen Großteil des 19. Jahrhunderts über herrschte, weit über die kurze »ultra-royalistische« Episode hinaus. Im Übrigen richtete sich das Gesetz gegen Sakrilegien, nicht gegen Blasphemien. Demgegenüber verfügten die Hüter der moralischen Ordnung über eine diskretere Waffe, um das Delikt der Blasphemie auf Umwegen wieder einführen, ohne den Anschein zu erwecken, eine der großen Errungenschaften der liberalen Revolution rückgängig machen zu wollen. Dieses Delikt hatte einen Namen: »Verstoß gegen die öffentliche und religiöse Moral«.51 Es wurde über ein Gesetz vom 17. Mai 1819, das sogenannte Gesetz de Serre, eingeführt und diente, besonders ab dem Zweiten Kaiserreich, zur Stärkung der moralischen Ordnung.52 Dabei trug dieses Gesetz den Namen eines liberalen Ministers, des Comte de Serre, eines Günstlings von Ludwig XVIII ., zum damaligen Zeitpunkt Justizminister der Regierung Decazes und keineswegs ein monarchistischer Hardliner. Der vorgeschlagene Text hatte anfangs nichts mit Blasphemie zu tun. Er verfolgte viel-

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Hervorhebung S.V. Vgl. Gaultier, Un Délit d’opinion (juristische Dissertation).

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mehr den Zweck, im Rahmen eines Gesetzes zur Abschaffung der Zensur und zur Ahndung von Pressevergehen jeden »Verstoß gegen die öffentliche Moral« mit einer Haftstrafe zwischen einem Monat und einem Jahr und einer Geldbuße zwischen 16 und 500 Francs zu belegen. »Verstöße gegen die religiöse Moral« zu ahnden, war im ursprünglichen Entwurf der Regierung gar nicht vorgesehen. Dies ging vielmehr auf einen parlamentarischen Änderungsantrag zurück, der im Laufe der am 17. April 1819 begonnenen Generaldebatte eingebracht wurde und die Ausgangslage von Grund auf veränderte. Diese Debatte galt als einer der großen Momente der Restauration. Balzac erwähnt sie mehrfach, besonders in den Verlorenen Illusionen. Um die Religion vor den vermeintlichen Auswüchsen der Meinungsfreiheit zu schützen, schlug ein unbedeutender royalistischer Abgeordneter, ein Herr d’Hautefeuille, vor, den Ausdruck »öffentliche Moral« auf »öffentliche und religiöse Moral« auszudehnen. Die Liberalen, wie Benjamin Constant oder Royer-Collard, die dem Minister de Serre nahestanden, wandten sich gegen den Zusatz, der das Delikt der Blasphemie indirekt wieder einführte. Constant mahnte, dass man Gefahr laufe, die Gerichte in »Kampfplätze der Metaphysik« zu verwandeln. Royer-Collard führte aus, dass es nicht leicht sei, zwischen Verstößen gegen die öffentliche Moral und Verletzungen religiöser Gefühle zu unterscheiden. Er schlug deshalb vor, zum Schutz der Meinungsfreiheit auf eine Ahndung von Verstößen gegen die Moral gänzlich zu verzichten. Selbst Bonald, der strenge Theoretiker der Gegenrevolution, wandte sich gegen den Zusatz von d’Hautefeuille, mit dem Argument, dass die Unterscheidung zwischen »öffentlicher Moral« und »religiöser Moral« an sich schon »eine Art Pleonasmus« sei. Aber es war nichts zu machen. Der Zusatz gefiel den Abgeordneten. Nach langem Sträuben beugte sich Justizmi-

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nister de Serre schließlich dem Willen der Kammer, zumal es ihm vor allem darum ging, einen weiteren, noch radikaleren Antrag abzuwehren, der vorsah, jegliche »Beleidigung der Religion und der staatlich anerkannten Glaubenslehren« unter Strafe zu stellen. Nach zähen Verhandlungen hinter den Kulissen erklärte sich die liberale Regierung am Ende bereit, den Zusatz von d’Hautefeuille als kleineres Übel zu akzeptieren – er wurde dann nahezu einstimmig angenommen. Auch die Pairskammer stimmte zu, nach einer turbulenten Debatte, in deren Verlauf der Justizminister noch einmal vergeblich versuchte, seine liberale Sicht der Gesellschaft zu vermitteln: »In Zeiten, in denen die religiöse Macht nicht von der weltlichen zu trennen war, wurden die Freiheitsrechte unterdrückt.«53 Man hörte nicht auf ihn. Neben dem Artikel des Code Napoléon gegen die Verbreitung unzüchtiger Schriften verfügte die Regierung nunmehr anhand von Paragraf 8 des Gesetzes von 1819 über das spezifische Delikt des »Verstoßes gegen die öffentliche und religiöse Moral«, um jede schriftliche oder mündliche Äußerung zu ahnden, die ihr missfiel. Man war sich seinerzeit der Tragweite dieses Textes nicht bewusst. Im Grunde genommen lief er auf eine verdeckte Wiedereinführung des Blasphemiedelikts hinaus. Zwar sollte dem Gesetz zufolge eine Meinung nicht verurteilt werden, weil sie Gott verunglimpfte und dadurch seinen Zorn zu entfachen drohte, sondern weil die Beleidigung der Religion (und im

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Bereits in der Kammer hatte sich Minister de Serre gegen den Zusatz von d’Hautefeuille gewandt und sehr deutlich gegen eine Vermischung des göttlichen mit dem säkularen Recht ausgesprochen, »das in religiösen Dingen nicht richten kann, ohne selbst irreligiös zu werden«; vgl. zu diesen Debatten, Gaultier, Un Délit d’opinion, S. 52f.

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weiteren Sinne der öffentlichen Moral) die Grundwerte der Gesellschaft infrage stellte. Doch wie wir anhand des Répertoire du jurisprudence von Guyot gesehen haben, entsprach dies genau der Bedeutung, die der Ahndung der Blasphemie gegen Ende des Ancien Régime zugrunde lag. Diese Auffassung von Blasphemie erhielt also über das neue Delikt des Verstoßes gegen die öffentliche und religiöse Moral die Möglichkeit zu einem Comeback in einer »vorzeigbareren« oder zumindest für die Hüter der moralischen Ordnung akzeptableren Form. Letztere bedienten sich ihrer später, ab der Julimonarchie und dann vor allem während des Zweiten Kaiserreichs, als die staatliche Prüderie Triumphe feierte. Inzwischen war die Restaurationsregierung noch weiter gegangen und hatte das Gesetz vom 25. März 1822 erlassen, »bezüglich der strafrechtlichen Verfolgung und Ahndung von Vergehen, die mittels der Presse oder anderer Publikationsmittel begangen werden«: Es erhöhte die Geld- und Gefängnisstrafen wegen Beleidigung und Verhöhnung der Staatsreligion oder »jeder anderen Religion, deren Ausübung in Frankreich gesetzlich zugelassen ist« (Art. 1). Außerdem wurden die dieses »Meinungsdelikts« Beschuldigten fortan vor einer Strafkammer und nicht mehr vor einem vermeintlich verständnisvolleren Geschworenengericht angeklagt. Den Beweis dafür, dass es sich tatsächlich um eine verdeckte Wiedereinführung der »Blasphemie« als Straftatbestand handelte, erbrachte der parlamentarische Berichterstatter Portalis, Sohn eines der Verfasser des Code Civil und loyaler Diener der Restauration, indem er in einem Bericht an die Kammer offen zugab, dass das neue Delikt vorrangig dazu bestimmt sei, öffentliche Bekenntnisse zum Atheismus zu bestrafen. Der Text, der zudem darauf abzielte, die Pressefreiheit einzuschränken, wurde in der Pairskammer heftig kritisiert, was die ohnehin schon starken Spannungen zwischen Li-

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beralen und Reaktionären weiter anfachte. Talleyrand, Barante, Molé, Davoust und Daru beteiligten sich an der Diskussion. Der Duc de Broglie, Vater des zukünftigen Begründers des Ordre moral, fasste die Position seiner liberalen Freunde folgendermaßen zusammen: Dieser Text trage »im Keim alle religiösen Auseinandersetzungen in sich, die ein Land entzweien können«. Und der Comte Daru, ein Cousin Stendhals, fügte hinzu: »Man wird damit beginnen, ein unzüchtiges Buch zu verbieten, und am Ende wird man die Lettres provinciales verteidigen und Vom Geist der Gesetze zensieren.«54 Diese Ansicht war nicht gänzlich übertrieben, denn das Räderwerk der Repression begann sich allmählich zu drehen, um nach 1848 auf vollen Touren zu laufen. Der Regierungstext vervollständigte Paragraf 8 des Gesetzes von 1819, mit dem er bei gerichtlichen Entscheidungen manchmal verwechselt wurde.55 Es gab während der Restauration einige Schriften, etwa die von Paul-Louis Courier oder die des Chansonniers Béranger, die dieser Gesetzgebung zum Opfer fielen. Doch einstweilen erwies sich die Repression noch als recht gemäßigt. 1830, am Vorabend der Julirevolution, konnte Benjamin Constant nach wie vor behaupten, die Verfolgung von Meinungsdelikten erzeuge das Gegenteil der angestrebten Wirkung. Indem man die »religiöse Moral« unter den Schutz der Gesetze stelle, animiere man dazu, gegen sie zu verstoßen: »Daher dann in allen Jahrhunderten, in denen die Menschen ihre sittliche Unabhängigkeit zurückforderten, jener Widerstand gegen die Religion. […] Indem man die Gewalt dem Glauben zur Seite stellte, hatte man dem Zweifel

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Ebd., S. 90–91. Ebd., S. 148.

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den Muth zugesellt.«56 Und tatsächlich förderte diese Verteidigung der »religiösen Moral« die Publikation religionskritischer Schriften. Während der Julimonarchie erlebte der »Voltairianismus« einen Aufschwung, und der Klerus übte sich in größerer Zurückhaltung. Die doppelte Plünderung des erzbischöflichen Palais, ein erstes Mal im Juli 1830, als Auftakt zur Revolution der »Trois Glorieuses«, und ein weiteres Mal im Februar 1831, zeugte von der Feindseligkeit, die der religiösen Macht, aufgrund ihrer engen Beziehungen zur alten Dynastie, unweigerlich entgegenschlug. Der neue Gesetzgeber war vielleicht nicht unglücklich über diese Warnung an die Adresse eines der Exponenten des Bündnisses von Thron und Altar, des Erzbischofs von Paris, Monsignore de Quélen, großer Kämpfer für die Exil-Bourbonen, doch er rührte nicht an den Paragrafen 8 des Gesetzes von 1819. Allerdings machte die Justiz keinen übertriebenen Gebrauch von diesem Delikt des Verstoßes gegen die religiöse Moral. Die Revolution von 1848, die sich nicht gegen die Kirche wandte, ließ das Gesetz von 1819 ebenfalls unangetastet, und nach dem Staatsstreich von 1851 wurde das Delikt des Verstoßes gegen die »religiöse Moral« zu einem bequemen Werkzeug, um alle Schriften oder Meinungsäußerungen zu verfolgen, die sich gegen die Religion oder ganz allgemein gegen den moralischen Anstand richteten. Von da an kann man sagen, dass die Gerichte des Zweiten Kaiserreichs den Paragrafen in einer Weise gebrauchten, der das Delikt der Blasphemie de facto wieder einführte. Der Grund dafür ist durchaus nachvollziehbar. Es war die Zeit des Syllabus errorum, des antimodernistischen Manifests von Pius IX ., und die Industrie- und Handelsbourgeoisie, die

56

Constant, Die Religion, S. 15.

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sich Sorgen machte wegen der dünnen Wertebasis, auf der ihr immenser neuer wirtschaftlicher Wohlstand ebenso wie ihr Zynismus beruhte, legte nicht weniger als die Staatsbourgeoisie, die sich der Anfälligkeit eines aus einem Militärputsch hervorgegangenen Regimes bewusst war, besonderen Wert darauf, den Schein zu wahren, vor allem in religiösen Dingen. Im Grunde ging es den neuen Machthabern nicht so sehr um die Gottlosigkeit selbst als um deren Kennzeichen. Die Justiz begann, jede Form von öffentlichem Skandal zu verfolgen, und die Prozesse wegen Verletzung der »religiösen Moral« vervielfachten sich bis 1881.57 Davon blieben auch die besten Kunstwerke nicht verschont. Gegen Flaubert und Baudelaire wurden auf der Grundlage des Gesetzes von 1819 Strafverfahren eingeleitet. Im Februar 1857 belangte man den Autor von Madame Bovary wegen der Veröffentlichung dieses Romans, der nach Meinung der Staatsanwaltschaft, formuliert in einem berühmten Plädoyer des Anklagevertreters Ernest Pinard, mit der »öffentlichen und religiösen Moral« unvereinbar war, weil er eine Ehebruchgeschichte behandelte! Pinard erklärte: »Die Anklage stützt sich auf zwei Delikte […]. Der Verstoß gegen die öffentliche Moral besteht in den lasziven Schilderungen […]. Der Verstoß gegen die religiöse Moral in der Vermischung sinnlicher Bilder mit heiligen Dingen.« Wie 1819 zu befürchten gewesen war, unterschied die Anklagevertretung nunmehr zwischen den beiden Tatbeständen, während Minister de Serre seinerzeit den Zusatz von d’Hautefeuille akzeptiert hatte, weil in seinen Augen beide Begriffe austauschbar waren. Das ist gerade das Besondere an Meinungsdelikten, dass man sie beliebig erweitern kann – darin besteht ihre größte Gefahr. Diese Episode belegt die Flexi-

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Gaultier, Un Délit d’opinion, S. 143.

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bilität in der Auslegung – und Handhabung – eines solchen Delikts: Anfangs dazu gedacht, den »Anstand« zu wahren, mutierte es zu einem Instrument staatlicher Inquisition. Eine solchen Tatbeständen immanente Fehlentwicklung … Zum Glück wurde Flaubert am 8. Februar 1857 von der Strafkammer der Seine freigesprochen. Allerdings konnte der Richter sich die Bemerkung nicht verkneifen, aus der »realistischen« Absicht des Autors und den beanstandeten Passagen resultierten »Darstellungen, die der gute Geschmack missbilligt«. Und er fügte hinzu: »Es gibt Grenzen, die selbst die freizügigste Literatur nicht überschreiten darf«. Während sich Flaubert, der in den Salons der Prinzessin Mathilde Lætitia Bonaparte verkehrte, einer Verurteilung noch entziehen konnte, gelang das weder einer Schrift von Eugène Sue, Die Geheimnisse des Volkes, die im September/Oktober 1857 des Verstoßes gegen die öffentliche und religiöse Moral für schuldig befunden wurde, noch Baudelaires Blumen des Bösen. In ihrem Urteil vom 20. August sprach die Strafkammer der Seine den Dichter allerdings vom Vorwurf des »Verstoßes gegen die religiöse Moral« frei. Staatsanwalt Pinard bescheinigte Baudelaire, dem »unruhigen Geist«, dass es ihm »mehr um das Befremdliche als das Blasphemische zu tun« gewesen sei. Aber er erreichte gleichwohl die Verurteilung des Dichters wegen »Verstoßes gegen die öffentliche Moral«, da seine Verse, so wiederum Pinard, unweigerlich »zur Aufreizung der Sinne durch einen derben, das Schamgefühl verletzenden Realismus« führten. Baudelaire wurde auch verurteilt, weil er weder über die gleichen Unterstützer noch über die gleichen Beziehungen wie Flaubert verfügte. Der Dichter verkehrte in republikanischen Kreisen, namentlich mit Blanqui und Proudhon, was kaum nach dem Geschmack der Justizbehörden gewesen sein dürfte. Der als zu gefährlich geltende Proudhon wurde übrigens seinerseits wegen »Verstoßes gegen die

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religiöse Moral« belangt. Man verurteilte ihn am 2. Juni 1858 zu drei Jahren Gefängnis, weil er in einer Generalabrechnung mit dem Christentum, Die Gerechtigkeit in der Revolution und in der Kirche (1858), ein ätzendes Porträt der Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs gezeichnet hatte: »Eine Börsen-Aristokratie voll Haß gegen die sogenannten ›Vertheiler‹ über das öffentliche Vermögen herfallend; eine Mittelklasse in Dummheit und Feigheit dahinsiechend; ein Plebs, der im Elend und Rathlosigkeit zusammenbricht.«58 Die »Priesterschaft« habe, so behauptete er, »keinen Glauben mehr an sich selbst«, der Kirche warf er vor, »die Nation zu verdummen anstatt sie zu bilden«, und verglich sie mit einer »Ehebrecherin, die das Gefühl für ihr unsittliches Betragen verloren hat«. Das Gericht war der Meinung, seine Worte würden »den religiösen Glauben, den zu achten das Gesetz verlangt, auf das Gröblichste verletzen«.59 Halten wir fest, dass unsere aktuelle Forderung nach »Anstand« und »Respekt vor den Religionen« sich auf die fragwürdigsten Gerichtsurteile des Zweiten Kaiserreichs gründet, eben jene, die gegen Proudhon, Baudelaire und Flaubert gefällt wurden! Bereits zu dieser Zeit verbreitete sich in gewissen Kreisen die Ansicht, dass sich die Aufklärung erschöpft habe und man zu christlichen Moralvorstellungen zurückkehren müsse. Ein Louis Veuillot, brillanter Pamphletist und Verfechter eines kompromisslosen Katholizismus, konnte schreiben: »Alles ist erschöpft, erledigt, pfeift aus dem letzten Loch. Klassiker, Voltairianer, Romantiker haben Schiffbruch erlitten. Gottlosigkeit ist nur noch Geschwätz, und selbst das Laster ist schwachsinnig

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Proudhon, Die Gerechtigkeit in der Revolution und in der Kirche, S. 3 [AdÜ]. Gaultier, Un Délit d’opinion, S. 178f.

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geworden: Es gibt nur noch ein Mittel, um sich zu erholen und Neues zu vollbringen, nämlich christlich zu denken und zu schreiben.«60 Der Verstoß gegen die religiöse Moral sollte zu einem immer dehnbareren Begriff werden. Im März 1867 zog sich die antiklerikale Zeitschrift La Libre Pensée eine Verurteilung zu wegen eines hintersinnigen Lobs auf Louis Veuillot, wie erwähnt Vertreter eines unnachgiebigen Katholizismus und absoluter Gegner des liberalen Katholizismus eines Lacordaire oder Lamennais. La Libre Pensée machte sich diesen Umstand zunutze, um einen vermeintlichen Katholizismus mit menschlichem Antlitz zu kritisieren. Nicht ohne Witz rühmte der fragliche Artikel Veuillot als Verteidiger eines unerbittlichen und damit, seiner Meinung nach, einzig wahren Katholizismus: »Pah, Veuillot wird euch zum Teufel schicken mit eurem Gott des Friedens und der Barmherzigkeit, und er hat recht. Er weiß ganz genau, dass nur Dummheit und Ignoranz so völlig unverträgliche Begriffe in einem Atemzug nennen können.« Diese Worte trugen dem Herausgeber der Zeitschrift eine dreimonatige Gefängnisstrafe wegen »Verstoßes gegen die religiöse Moral« ein. Wir können hier nicht alle Fälle von Verstoß gegen die religiöse Moral im Zweiten Kaiserreich zitieren. Doch es sei darauf hingewiesen, dass das Gesetz von 1819 nicht nur dazu diente, Schriftwerke zu verfolgen. Auch ein unbedachtes Wort in der Öffentlichkeit konnte eine strafrechtliche Verfolgung wegen Verstoßes gegen die religiöse Moral nach sich ziehen. So erging es beispielsweise einem Herrn Brisson, der sich in einer öffentlichen Versammlung ereiferte: »Wir wollen den alten Virus beseitigen, der in der Welt ist, seit man den lieben Gott erfunden

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Veuillot, Les Odeurs de Paris.

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hat.« Für diese »blasphemische« Äußerung wurde er am 5. Februar 1869 zu zwei Monaten Haft und einer Geldstrafe verurteilt.61 Angesichts dieser puritanischen Atmosphäre ist die antiklerikale Offensive besser zu verstehen, die unter dem Zweiten Kaiserreich eine neue Dimension erreichte. Denn, so viel ist sicher, es gibt keinen Antiklerikalismus ohne Klerikalismus oder zumindest ohne die Existenz einer offiziellen Heuchelei, die manche dazu veranlasst, sich gegen eine scheinheilige Kirche zu erheben, die ein undurchsichtiges Spiel mit einem allgegenwärtigen Staat betreibt, oder einen Klerus, dessen orthodoxeste Vertreter entschlossen sind, sich in allen Sphären des menschlichen Lebens einzunisten. Republikanische Schriftsteller und Juristen waren nicht die Einzigen, die gegen dieses Überhandnehmen offizieller Verlogenheit mobil machten. In den 1860er Jahren beteiligten sich auch die Künstler am Kampf, mit bisweilen unfeinen Mitteln. Courbet etwa malte zwei Bilder, Das Festmahl der Priester und Die Rückkehr von der Konferenz. Auf Letzterem torkelt eine Gruppe von Geistlichen nach Hause, nach einer Fastenkonferenz, die offensichtlich nicht nur mit Weihwasser begossen wurde. Bilder dieser Art nahmen die antiklerikalen Karikaturen der Dritten Republik vorweg. Sie erregten einen Riesenskandal.62 Zu dieser Zeit waren sich die prominenten Redner der zukünftigen Republik praktisch einig in ihrer Ablehnung des Gesetzes vom 17. Mai 1819, besonders seines Paragrafen 8. Wobei anzumerken ist, dass sie häufig selbst Betroffene waren. Alfred Naquet, nachmaliger Berichterstatter des Ehescheidungsgeset-

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Gaultier, Un Délit d’opinion, S. 202. Siehe dazu besonders Doizy/Lalaux, À bas la calotte!

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zes von 1884, sah sich mit einer Anklage wegen Verstoßes gegen die religiöse Moral konfrontiert, weil er 1869 einen Essay, Religion, propriété, famille, veröffentlicht hatte, in dem er die Ehe als eine »wesentlich tyrannische, die menschliche Freiheit verletzende Institution« bezeichnet hatte. Diese Kühnheit trug ihm eine Verurteilung zu vier Monaten Haft sowie eine Geldstrafe ein. Zumindest konnte er sich damit trösten, dass diese Strafe ihn berühmt machte und ihm den Weg zu einer politischen Karriere ebnete. In La Liberté de conscience (1859) betonte Jules Simon, damals ein erbitterter Gegner Napoléons III ., wie sehr das Delikt des »Verstoßes gegen die Religion« im Widerspruch stehe zu der von der Menschenrechtserklärung von 1789 postulierten Meinungsfreiheit. Er bezeichnete das Gesetz als »dumm und freiheitsfeindlich«, blieb aber gleichwohl optimistisch. »Die Frage der Gewissensfreiheit« werde seiner Meinung nach »für alle Gesellschaften stets eine Existenzfrage sein, und ihre politische und moralische Bedeutung wird mit den Fortschritten der Zivilisation nur weiter zunehmen.«63 Und in seiner Eigenschaft als Mitglied der gesetzgebenden Körperschaft schloss er sich der Forderung seines Kollegen und ehemaligen Mitarbeiters von Lamartine, Eugène Pelletan, an, besagten Paragrafen 8 zu streichen. Ihre gesetzgeberische Initiative datierte vom 7. April 1870, nur wenige Monate vor dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs. Mit der Ausrufung der Republik am 4. September 1870 wendete sich das Blatt.

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Simon, La Liberté de conscience, S. 1.

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V Gott kann sich schon allein verteidigen! Nach 1870 brauchten die republikanischen Behörden einige Jahre, um die neue Freiheitsordnung endgültig durchzusetzen. Während dieser Zeit blieben die Konservativen an der Macht und führten die repressive Linie des Zweiten Kaiserreichs fort. Bekannt wurde der Ausspruch von Staatspräsident Thiers: »Die Republik wird konservativ sein oder sie wird überhaupt nicht sein.« Das Projekt einer »Moralischen Ordnung« (1873–1877), das der Duc de Broglie phasenweise umsetzte, sah selbstverständlich keine Abschaffung des Gesetzes von 1819 und des Verstoßes gegen die öffentliche und religiöse Moral vor, trotz entsprechender Anträge vonseiten republikanischer Abgeordneter. Anlässlich einer Debatte über die Pressefreiheit am 14. April 1871 erklärte Dufaure, der Justizminister, ein alter katholischer Republikaner, dass die Gesetze von 1819 und 1822 »große und unvergängliche Gesetze« seien. Aber, so fügte er mit einer gewissen Dosis gesunden Menschenverstandes hinzu, sie seien ebenso groß wie nutzlos, wie die Bilanz der kaiserlichen Repression zeige, die antiklerikale Äußerungen nicht habe unterbinden können: »Es war ein Unglück und eine Ungerechtigkeit. Sie werden über diesen Unglauben sagen können […], was sie wollen; das ändert nichts daran, dass es ihn gab.« War es demnach nicht an der Zeit, eine Gesetzgebung

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abzuschaffen, die den Vormarsch des Atheismus nicht hatte aufhalten können? Man musste bis 1879, bis zum Rücktritt Marschall Mac-Mahons vom Amt des Staatspräsidenten, warten, bevor die »opportunistische« Phase oder, nach dem Wort von Claude Nicolet, die »athenische Periode der Republik« (1879–1899) anbrach. In dieser Zeitspanne verabschiedete die Republik die Mehrzahl ihrer bahnbrechenden Freiheitsgesetze, darunter das über die Pressefreiheit. Es wurde am 29. Juli 1881 angenommen und setzte dem Delikt des Verstoßes gegen die öffentliche und religiöse Moral ein Ende. Dieser Text bildet noch heute einen der Eckpfeiler des neuen »republikanischen Geistes der Gesetze«. In der Generaldebatte über das Gesetz, die am 5. Juli 1881 in der Kammer begann, kam das Thema der Blasphemie nur andeutungsweise zur Sprache. Der Berichterstatter des Gesetzesentwurfs, Eugène Lisbonne, plädierte explizit für die Abschaffung aller »Meinungsdelikte« und insbesondere des mit dem Gesetz de Serre vom 17. Mai 1819 eingeführten Verstoßes gegen die öffentliche und religiöse Moral. Als geistiger Erbe der Aufklärung und der Revolution machte Lisbonne in seinem Bericht vom 5. Juli 1881 Front gegen »jene beiden angeblichen Vergehen, die es in unseren speziellen Gesetzen noch gibt. Meinungsdelikte durch und durch, unergründlich in Bezug auf ihre Absicht und unergiebig hinsichtlich ihrer möglichen Wirkung.« Diese Worte stießen auf äußerst geringen Widerspruch. Der politische Kontext war ein anderer geworden. Die sogenannten »opportunistischen« Republikaner und die Radikalen hatten die Pressefreiheit unermüdlich eingefordert. Sie erkannten in ihr sogar, nach den Worten von Eugène Pelletan, dem Berichterstatter des Gesetzes vor dem Senat, »ein Versprechen der Republik auf das allgemeine Wahlrecht«. Die äußerste Linke befürwortete dieses Gesetz umso mehr, als sie in ihm eine der

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Voraussetzungen sah, um die Auflösung der bürgerlichen Ordnung zu beschleunigen. Die Rechte war ebenfalls nicht dagegen, zumindest dem äußeren Anschein nach: Sie glaubte, in dieser Freiheit ein Ferment der Anarchie zu erkennen, das ihr ermöglichen würde, das Ruder über kurz oder lang wieder in den Griff zu bekommen. Allerdings war die Position der Rechten nicht ganz eindeutig. Einige Monate zuvor, im Februar 1881, anlässlich einer Diskussion über Verbrechen gegen das Gemeinwesen, hatten etliche Abgeordnete der Rechten Einspruch gegen Clemenceau erhoben, der im Namen der Radikalen die Abschaffung des Delikts »Verstoß gegen die religiöse Moral« verlangt und gefordert hatte, man müsse zulassen, dass »alles gesagt, alles kritisiert wird, egal wie heftig diese Kritik ausfällt«. Nach Meinung des radikalen Abgeordneten gebe es nichts Effektiveres, als das Wagnis der Freiheit einzugehen: »Sollen Katholiken und Antikatholiken sich nach eigenem Ermessen auf die menschliche Vernunft berufen und sich ungehindert widersprechen.« Dagegen erhob sich einer der prominentesten Redner der Rechten, Monsignore Freppel, Bischof und Abgeordneter von Angers, und protestierte. »Die Tat ist Ausdruck des Gedankens«, erklärte der geistliche Würdenträger in der Überzeugung, dass das gesprochene oder geschriebene Wort einer Handlung gleichkomme, »gemäß dem geflügelten Wort aus dem englischen Recht, dem freiheitlichsten von allen: scribere est agere (Schreiben ist Tun).« Es ist durchaus bemerkenswert, dass Monsignore Freppel einer der Ersten in Frankreich war, der sich für ein Verbot der »Hassrede« aussprach, der hate speech, wie man später im angelsächsischen Raum sagen sollte. Tatsächlich resultierte aus den Sprachanalysen zeitgenössischer Philosophen wie John Searle oder John Austin, dem Verfasser von How to Do Things with Words (1962), die Vorstellung einer

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»Performativität« der Rede.64 Wenn man spricht, beschränkt man sich nicht darauf, etwas zu sagen; Sprechen ist auch ein »performativer« Akt. Das Charakteristische der »Hassrede« ist, dass sie verletzt. Daher das Gefühl, dass es notwendig sei, alle Arten von Beleidigungen und Beschimpfungen zu bestrafen. Nur, dass sich nicht immer eindeutig bestimmen lässt, wo hate speech anfängt und wo sie aufhört. Deshalb bemühen sich manche Zeitgenossen, abweichende Äußerungen aller Art zu kriminalisieren, in der Meinung, es handele sich nicht um Ideen, sondern um Verbrechen. Die Forderung nach Strafbarkeit der »Hassrede« wurde 1881 von der ultrakatholischen Rechten gegen die Blasphemie erhoben. Heute greifen manche antirassistischen Organisationen sie wieder auf. Monsignore Freppel ist gewissermaßen der Vorläufer unserer neuen Zensoren, mit seinem Protest gegen die Weigerung, das in seinen Augen »Erhabenste und Heiligste auf der Welt«, nämlich Gott, zu schützen. Clemenceau entgegnete ihm trocken: »Gott kann sich schon selbst verteidigen. Dazu braucht er die Abgeordnetenkammer nicht!« Pelletan kam im Senat auf dieses Argument zurück: »Das geplante Gesetz räumt entschlossen auf mit all diesen imaginären Gefahren, all diesen willkürlichen Delikten, die nichts anderes sind als Relikte des Mittelalters, die sich in die moderne Gesetzgebung verirrt haben.«65

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Im Anschluss an Austin hat Ian Maclean darauf hingewiesen, dass Renaissancejuristen wie Charles Dumoulin zu den Ersten gehörten, die den »performativen« Charakter der Sprache hervorhoben, namentlich in Bezug auf die Beleidigung (vgl. Maclean, Interpretation and Meaning in the Renaissance). Nur ein Senator der Rechten, ein Herr de Gavarnie, widersetzte sich dem Projekt. Pelletan hielt ihm entgegen: »Die öffentliche ebenso wie die religiöse Moral ist über alle Verstöße erhaben; Sie schwächen

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Beide Kammern trafen letztlich eine klare Entscheidung: Das Pressegesetz von 1881 schaffte das Delikt des Verstoßes gegen die öffentliche und religiöse Moral ab. Auf diese Weise errichtete die Republik, laut dem Rechtshistoriker Romuald Szramkiewicz, »das weltweit offenste« System von Freiheitsrechten, selbst wenn es länger auf sich warten ließ als in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten. Das Gesetz von 1881 stellte drei große Prinzipien auf: die Freiheit des Buchdrucks und des Buchhandels; die Verpflichtung, für jedes Druckwerk einen Verantwortlichen, einen Herausgeber [gérant], zu benennen; und die Regelung der sogenannten »Pressedelikte«. Deren wichtigste waren – im Rückgriff auf die kanonischen Kategorien – die Schmähung (contumelia) und die Diffamierung (detractio). »Diffamierung« war definiert als jede Form der Tatsachenbehauptung, die die Würde einer Person oder Institution antastete, und »Schmähung« als jede Form der Verächtlichmachung oder Verunglimpfung, die keine Tatsachenbehauptung enthielt. Diese beiden Delikte wurden zu »Beleidigungen«, wenn sie den Staatspräsidenten sowie ausländische Staatsoberhäupter und Botschafter betrafen. Von diesen Einschränkungen abgesehen war die Presse und im weiteren Sinne jede schriftliche oder mündliche Äußerung in Frankreich frei. Das neue System fixierte für nahezu ein Jahrhundert die wesentlichen Grundsätze in Sachen Meinungsfreiheit, vor allem auf dem Gebiet der Religion. Das Gesetz unterschied zwischen Ideen (die Religion) und Personen (die Gläubigen). Die Ideen, denen sich religiöse Glaubensbekenntnisse zuordneten, sollten

sie, anstatt sie zu stärken, wenn Sie annehmen, dass die Achtung der Menschen vor ihnen durch Angriffe geschmälert werden könne« (Nationalversammlung, Sitzung vom 18. Juni 1881).

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dem freien Meinungsstreit überlassen bleiben, da es ansonsten nicht mehr möglich wäre, über Ideologien oder politische Programme zu debattieren. Gleichwohl unterlag die Meinungsfreiheit in Frankreich, juristisch gesehen, einem System kontrollierter Freiheit. Es gab, wie oben erwähnt, Einschränkungen – Schmähung, Diffamierung, Beleidigung –, die übrigens ganz in Einklang mit der liberalen Tradition standen. Schon Benjamin Constant hatte seinerzeit klargestellt, dass die Liberalen keineswegs für eine absolute Freiheit nach amerikanischem Vorbild eintraten. »Die Gesetze«, schrieb Constant, »müssen Strafbestimmungen gegen Verleumdung, Aufforderung zum Aufruhr, mit einem Wort, gegen alle Mißbräuche enthalten, die sich aus der Veröffentlichung bestimmter Ansichten ergeben können. Diese Gesetze schaden der Freiheit nicht, sie gewährleisten sie im Gegenteil. Ohne sie kann keine Freiheit bestehen.«66 Ganz anders verhielt es sich, und verhält es sich, wie kaum erwähnt werden muss, bis zum heutigen Tage mit dem amerikanischen Verständnis von Meinungsfreiheit. Der erste Verfassungszusatz von 1791 lautet: »Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das […] die Rede- oder Pressefreiheit […] einschränkt.« Und der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten ist seit jeh ein strenger Hüter dieser Lehre. Strafrechtlich verfolgt werden in den Vereinigten Staaten also nur offen diffamierende oder zur Gewalt aufrufende Äußerungen (fighting words). Ansonsten gibt es keine weiteren Einschränkungen, außer denen, die der Anstand gebietet. Dem liegt der Gedanke zugrunde, nach Möglichkeit dafür zu sorgen, dass, nach der schönen Unterscheidung von John Stuart Mill, die Rüge den Vorzug erhält vor dem Verbot: Alles, was durch die Regeln der Anstands

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Constant, »Über die Freiheit der Broschüren«, S. 247.

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unterbunden werden kann, ist wirksamer als das, was nach einem Eingreifen des Gesetzgebers verlangt. Daher ist es – anders als viele glauben – bis heute zulässig, die amerikanische Fahne zu verbrennen.67 Was allerdings die Wenigsten wagen, aus Angst, sich allgemeiner Ablehnung auszusetzen. Und während die amerikanischen Medien den Versuch der Journalistin Caroline Fourest missbilligten, einen »Mohammed« auf der Titelseite von Charlie Hebdo im amerikanischen Fernsehen zu zeigen, weil sie meinten, diese Geste könne einen Teil der Zuschauer schockieren, förderte der Staat Texas im Mai 2015 einen Mohammed-Karikaturen-Wettbewerb (anlässlich dessen die Polizei zwei vermeintliche IS -Attentäter erschoss, die das Feuer auf das Kulturzentrum von Garland eröffnet hatten, in dem die Bilder ausgestellt wurden). Die amerikanische Auffassung erscheint somit in der Theorie liberaler als die französische.68 Doch in der Praxis bewegten sich beide Nationen bis in die 1980er Jahre aufeinander zu: Der liberale Geist des französischen Pressegesetzes von 1881 wirkte seinerseits auf das Verhalten zurück.

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Texas v. Johnson, 1989. Allerdings kann, wie Caroline Fourest betont hat, die Logik der »Rüge« auch in regelrechte Selbstzensur umschlagen. So waren es die »französischen Karikaturen«, die von der angelsächsischen Presse als »widerlich« bezeichnet und schon am 7. Januar im Namen des Antirassismus verurteilt wurden. Zum Glück zeigte ein TimesRedakteur ironisch die Absurdität einer »moralistischen« Kampagne auf, die eher auf das genaue Gegenteil des Geschehenen zu passen schien. Als hätte »eine Gang von Karikaturisten ein Dutzend frecher Muslime mit der Kalaschnikow massakriert« (zitiert nach Fourest, Éloge du blasphème, S. 132).

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Dieser Freiheitsdrang mag inzwischen als reichlich übertrieben gelten. Im Übrigen beschwerte sich die Kirche seinerzeit über ein Klima der »Priesterphobie«!69 Dieses Klima war charakteristisch für eine Periode, die ungefähr von den 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg dauerte und in der die Religion, ob von den Anhängern der »Wissenschaft« oder den Reformern der »Entkonfessionalisierung«, allseits unter Beschuss stand. Auf geistiger Ebene war es neben dem literarischen »Realismus« (Flaubert, Zola) vor allem Renan, der mit seinem Leben Jesu einen »wissenschaftlichen« Blick auf das Neue Testament warf, zum Leidwesen der Katholiken. Die meisten Antiklerikalen stützten sich überdies auf die Arbeiten Darwins, um den christlichen Glauben ins Lächerliche zu ziehen. Auf politischer Ebene tobte der Kampf um den Laizismus. Er hatte übrigens bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes von 1881 begonnen. Am 28. März 1880 hatte Jules Ferry die Jesuiten gezwungen, binnen sechs Monaten ihre Schulen aufzulösen, und am 20. Juni ihre Ausweisung aus Paris, später aus den Provinzen, verfügt. Mit dem Gesetz vom 28. März 1882 setzte er konfessionsfreie Lehrpläne an Schulen durch, und mit dem GobletGesetz von 1886 erweiterte die Republik den Laizismus auf das Personal der öffentlichen Schulen, dann der Krankenhäuser usw. Das Klima eines selbstbewussten Laizismus hatte sich also längst vor dem Trennungsgesetz von 1905 ausgebreitet (in dem der Begriff nicht auftaucht). Wie Jean Rivero schrieb, »ist der Laizismus durch die Hintertür ins französische Recht eingetreten«, nämlich durch die Schulgesetze von Jules Ferry, die anschließend auf alle Behörden (vor allem Krankenhäuser) und auf das Zivilleben (Begräbnisse, Scheidungen usw.) übertragen wur-

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Doizy / Lalaux, A bas la calotte!, S. 16.

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den. Doch dieser Eintritt »durch die Hintertür« hinderte ihn nicht daran, die katholischen Überzeugungen rücksichtslos mit Füßen zu treten, wenn es darum ging, die Institutionen des Staates zu »säkularisieren«. Machelon erinnert zu Recht daran, dass Jules Ferry zwar, wie die heutigen Vertreter eines »offenen Laizismus« betonen, die »religiöse Neutralität«, das heißt die Achtung vor dem Bekenntnis, einführte, damit aber keineswegs meinte, diese Neutralität müsse auch eine philosophische oder politische Neutralität implizieren: »Die positivistische Republik hatte die Pflicht, Dogmen, die mit der modernen Gesellschaft unvereinbar waren, aus den Köpfen zu verbannen.«70 Und das Regime griff zu äußerst drastischen Säkularisierungsmaßnahmen, um Frankreich, nach dem Ausdruck von Hochwürden Lecanuet, zu »entkatholisieren«, indem es die Auflösung von Lehrkongregationen verfügte, brutale Vertreibungen, wie die der Jesuiten, vornahm, auf gewissenhafte Einhaltung des überlebten Konkordats pochte, religiöse Prozessionen verbot und dem Klerus mit Streichung seiner Bezüge drohte. Hinzu kamen zahlreiche lokalpolitische Scharmützel, Pfarrer und Bürgermeister, die sich über das Glockengeläute und anderes »Gebimmel« stritten, usw. Heutzutage legen manche Autoren eine bemerkenswerte Blindheit an den Tag, wenn sie behaupten, wir würden den Islam schlechter behandeln als unsere Vorfahren den Katholizismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts.71 Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Die Gläubigen der katholischen Kirche wurden rücksichtslos in ihren innersten Überzeugungen

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Zu all diesen Punkten vgl. Machelon, »Combats d’hier, laïcité d’aujourd’hui«, S. 83f. So Emmanuel Todd: »Was man heute von den Muslimen verlangt, wurde bei den Katholiken niemals erreicht« (Wer ist Charlie?, S. 179).

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attackiert, und der Klerus sah sich Zwängen ausgesetzt, die weit über ein einfaches Glaubensmobbing hinausgingen. Der Philosoph Bernard Sève hat eine treffende Definition erarbeitet, um zwischen legitimer Kränkung und erpresserischem Affront zu unterscheiden. Der »Affront« gegen Überzeugungen ist verwerflich, wenn er sich auf einen objektiven Zwang gründet. Die Schließung von Klöstern und die Verbannung von Mönchen ließen sich aber nicht mit ordnungspolitischen Argumenten rechtfertigen, sie stellten, wie die Schließung von Kirchen und Synagogen in der ehemaligen Sowjetunion, eindeutig repressive Akte dar. Zur Zeit der Verabschiedung des Gesetzes von 1905 erlaubte die Meinungsfreiheit den antiklerikalen Organisationen, die Kirche und die Katholiken mit aller Macht im Namen eines Laizismusverständnisses zu attackieren, das jede Toleranz vermissen ließ. Diese zwischen 1879 und 1884 gegründeten antikonfessionellen Vereinigungen waren bestrebt, eine entschieden kongregrationsfeindliche Politik zu befördern. Das galt zum Beispiel für die Fédération française de la Libre Pensée, die Société pour la propagation de la foi civile oder die Union démocratique de propagande anticléricale, anfangs unter Leitung zweier prominenter Persönlichkeiten der Republik, Victor Hugo und Léon Gambetta. 1902 kam die Association des libres penseurs de France (ADLPF ) hinzu, unter dem Vorsitz von Marcellin Berthelot, Anatole France und Ferdinand Buisson. Sie zählte 25000 Mitglieder im Jahr 1905.72 Der offen blasphemische antiklerikale Diskurs verbreitete sich mehr durch Bilder als durch schriftliche Werke. Dieser Ansatz erhielt sogar seine theoretischen Weihen durch einen

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Doizy/Lalaux, A bas la calotte!, S. 23.

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ehemaligen Priester, Pierre Des Pilliers, der in einem 1884 veröffentlichten Buch erklärte, warum man sich auf das Visuelle konzentrieren müsse, um der Kirche auf ihrem angestammten Gebiet entgegenzutreten, denn »es ist allseits bekannt, dass die Klerikalen ihre Dogmen, ihren Aberglauben und ihren Einfluss mittels Statuen, Figuren und Bildern verbreiten […], mit denen sie die Phantasie des Volkes anregen.«73 Man müsse also die Waffen der Kirche gegen sie selbst kehren, insistierte der Ex-Geistliche. Antiklerikale Blätter, die sich mitunter der derbsten Karikaturen bedienten, schossen in Frankreich allenthalben aus dem Boden und erlebten gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Blütezeit. So Les Corbeaux in Toulouse, La France anti-cléricale in Paris, La Calotte in Marseille (die auch in mehreren anderen Städten, darunter Paris, herausgegeben wurde, unter den Mottos »Weder Gott noch Herr« und »Der Klerikalismus, das ist der Feind«). Ab 1903 begannen auch thematisch breiter aufgestellte Zeitschriften wie La Lanterne oder Le Radical mit der Veröffentlichung großformatiger Karikaturen, die die Missetaten der Kirche und ihre Einmischung in die Angelegenheiten des Gemeinwesens anprangerten. Man schreckte weder vor Anzüglichkeiten noch vor Vulgaritäten zurück, wenngleich häufig aus Gründen reiner Geschäftstüchtigkeit. Die Karikaturen stellten Prälaten oder Priester in schrecklichen Grimassen dar, verglichen sie mit Ungeziefer oder würdigten sie zu Tieren (Schwein, Schlange, Spinne usw.) herab; man unterstellte ihnen pädophile Neigungen. In den 1880er Jahren gründete Léo Taxil die Société d’assistance anticléricale zur Unterstützung von »Opfern der Lüsternheit und Gewalttätigkeit des Klerus«. Zu Anfang des

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Ebd., S. 64.

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Jahrhunderts brachte ein Abgeordneter einen Gesetzesentwurf in die Kammer ein, der darauf abzielte, jeder Person, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, die Lehrerlaubnis zu entziehen. Die Kritik an den Ausschweifungen der »Schweinepriester« war eines der Lieblingsthemen dieser satirischen Presse, die es sich auch nicht nehmen ließ, die fragwürdigen oder umstrittenen Kapitel der Kirchengeschichte auszuschlachten, die mittelalterliche Inquisition, die bewaffneten Missionare, die Unterstützung der Chouannerie und der Gegenrevolution, die Beihilfe zur blutigen Niederschlagung der Pariser Kommune, den Hass auf den Sozialismus usw. Eine anarchistische Karikatur zeigte einen Priester, der den auf die Erde zurückgekehrten Gottessohn wutgeifernd ans Kreuz nagelt: »Pah! Das ist doch bloß ein dreckiger Sozialist!« Dieser ungestüme Antiklerikalismus war so massiv, dass die Meinungen der republikanischen Eliten, auch der Freidenker, was seine Zweckdienlichkeit betraf, auseinandergingen. Von Anatole France, einem der Protagonisten dieser Bewegung, Verfasser eines Werkes gegen die Geistlichkeit, Le Parti noir (1904), dem man folglich kaum Sympathien für die Kirche nachsagen konnte, stammt die bekannte Aussage über die antiklerikalen Aktivisten: »Sie denken wie wir […], aber man geht ihnen besser aus dem Weg.« Die Eskalation laizistischer Intoleranz hatte zu Anfang des Jahrhunderts ihren Höchststand erreicht. Allerdings stand die Kirche dem in nichts nach. Im katholischen Lager dominierte seit 1870 das ultramontane Hardlinertum von Pius IX . Die Republikaner bekämpften eine Kirche, die das Zweite Kaiserreich und die »Moralische Ordnung« unterstützt und sich seit dem Syllabus von 1864, dieser berüchtigten Kriegserklärung an die Moderne, so weit auf sich selbst zurückgezogen hatte, dass Gambetta »die Zunahme eines nicht bloß klerikalen, sondern vatikanesken, klösterlichen, kongregatio-

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nistischen und syllabischen Geistes« beklagte.74 Die Hüter des Katholizismus wagten sich manchmal weit vor. Sie bezeichneten beispielsweise die allgemeine Schulpflicht als eine »Vergewaltigung des Gewissens«. Hier zeichnete sich bereits der Einsatz der »Gewissensfreiheit« als Druckmittel ab.75 Die Kirche ließ auch nichts unversucht, um die Verbreitung antiklerikaler Karikaturen einzudämmen. Die Prozesse gegen respektlose Blätter häuften sich. 1899 wurde La Calotte aus Marseille wegen Veröffentlichung einer Socken strickenden Jungfrau Maria mit Schwangerschaftsbauch beschlagnahmt. Trotz des Gesetzes von 1881 wurden die Herausgeber der Zeitschrift für mehrere Monate ins Gefängnis geschickt. Dem Episkopat, das in großbürgerlichen katholischen Unternehmerkreisen noch über Einfluss verfügte, gelang es, die privaten Eisenbahngesellschaften davon zu überzeugen, den Transport antiklerikaler Zeitschriften zu verweigern. So war Les Corbeaux aus Toulouse ab 1907 in Paris nicht mehr erhältlich (außer für Abonnenten). La Calotte beschwerte sich darüber, nicht in den Schaufenstern der Buchhandlungen ausgelegt zu werden. Tatsache ist, dass die satirische oder humoristische Presse, wie die berühmte Assiette au beurre, die nicht durchweg antiklerikal war, zu dieser Zeit nie besser dastand, als wenn sie der antiklerikalen Karikatur breiten Raum gab. Diese mitunter unerhört bissigen Zeichnungen gefielen dem großen Publikum.

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Zitiert nach Grévy, Le Cléricalisme? Voilà l’ennemi!, S. 86. La Dépêche aus Toulouse antwortete ihnen am 2. Dezember 1880: »Das Gesetz verletze, heißt es, die Entscheidungsfreiheit der Väter […]. Hat ein Vater das Recht, sein Kind zu blenden? Und wenn er ihm nicht das Augenlicht nehmen darf, wer wagte dann, dafür einzutreten, dass er es in geistiger Finsternis halten darf ?«

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Selbst wenn – zu dieser Zeit – natürlich die katholische Religion die meisten Attacken auf sich zog, waren auch andere Religionen, vor allem das Judentum und der Islam, beliebte Ziele. So erschien 1908 auf einer Titelseite von La Calotte eine Zeichnung mit drei Gottesmännern, einem Katholiken, einem Protestanten und einem Juden, die zusammen eine »Aktiengesellschaft für menschliche Dummheit« gründen. Frantiˇsek Kupka attackierte in L’Assiette au beurre den »Türkengott«, Allah, der, umringt von verschleierten Schönheiten, auf einem Haufen menschlicher Schädel thront.76 Diese »zügellosen Freiheiten«, die sich beide Lager herausnahmen, erwiesen sich in der Sache als vorteilhaft. Sie bereicherten die öffentliche Debatte und trugen paradoxerweise zur Beschwichtigung bei. Denn in dem Maße, wie Freiheit und Laizität sich durchsetzten, verebbte die Welle antiklerikaler Karikaturen. Letztere erweckten mehr und mehr den Eindruck kindisch-deplatzierter Späße. Kurzum, die antiklerikale Vehemenz reichte kaum über die kurze Phase unmittelbar vor und nach der Verabschiedung des Trennungsgesetzes hinaus. Bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs galt die Blasphemie nur noch als Nachhutgefecht zurückgebliebener Anhänger einer mehr oder minder obsoleten »weltlichen Religion«. Das war der eigentliche Gewinn, wenn man auf Freiheit statt auf Zensur gesetzt hatte: Am Ende profitierte das Lager der Gemäßigten. Was laizistische Historiker übrigens auch bereitwillig anerkennen: Nach 1914 nahm die Menge satirischer Bilder, die die Diskussion um das Gesetz von 1905 begleiteten, von Jahr zu Jahr ab. »Der Antiklerikalismus scheint überholt.«77 Nach dem Sieg von 1918 be-

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Doizy/Lalaux, À bas la calotte!, S. 117. Ebd., S. 146.

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schränkte er sich auf ein sehr spezielles, unzeitgemäßes und derart marginalisiertes Milieu, dass es ihm nicht einmal gelang, die Wiederabschaffung des Blasphemiedelikts durchzusetzen, das nach der Annexion von 1871 in Elsass-Lothringen eingeführt worden war. Dieses eher friedvolle Gleichgewicht blieb bis Ende der 1970er Jahre erhalten. Frankreich erlebte, selbst unter dem Vichy-Regime, keine Verfolgung der Blasphemie (auch wenn 1941 das La-Barre-Standbild in Abbeville entfernt wurde), im Unterschied zu anderen autoritären Staaten – wie dem faschistischen Italien, wo, wie Jean-François Revel ironisch vermerkte, Komitees gegen Blasphemie (bestemmia) gegründet wurden wie solche gegen das Ausspucken in der Öffentlichkeit78: stets dieser groteske Reinheitswahn bis in die kleinsten Details … In Frankreich etablierte sich ein wohltuender Abstand zwischen dem Politischen und dem Religiösen, zwischen Toleranz und Respektlosigkeit. Bis der Gesetzgeber der Meinungsfreiheit eine neue Grenze setzte, die das hart erkämpfte Gleichgewicht zwischen den Gesetzen, den Gepflogenheiten und der Freiheit nach und nach ins Wanken brachte. Denn mit dem einstimmig angenommenen Pleven-Gesetz vom 1. Juli 1972 entstand das neue Delikt der »Aufforderung zur Diskriminierung, zum Hass oder zur Gewalt« gegenüber Einzelnen, »aufgrund ihrer Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Ethnie, einer Nation, einer Rasse oder einer bestimmten Religion«.79 Wozu dieses Gesetz? Es war die Konsequenz aus der Ratifizierung des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 21. Dezember

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Revel, Italien, S. 160. Hervorhebung S.V.

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1965 durch Frankreich am 10. November 1971. Nur dass der französische Gesetzgeber über das hinausging, was von den Verfassern der Konvention ursprünglich beabsichtigt worden war. Letztere hatten es lediglich auf die »Aufforderung zu Gewalttaten« abgesehen, während der französische Text die »Aufforderung zum Hass« unter Strafe stellte, was sehr viel subjektiver war.80 Frankreich machte sich die bereits erwähnten Überlegungen zur »Performativität« der Sprache zu eigen. Einige Rechtsphilosophen vertraten die Ansicht, die »Hassrede« müsse genauso geahndet werden wie physische Gewalt: »Manche Äußerungen sind Verbrechen, keine Meinungen.« Die europäische Gesetzgebung schloss sich dieser Analyse an, während sich in den Vereinigten Staaten die meisten Rechtsphilosophen hinter Ronald Dworkin stellten und sie als unvereinbar mit der amerikanischen Verfassung ablehnten. Die Meinungsfreiheit sei, so Dworkin, ein so grundlegendes Recht, dass man »um ihretwillen verächtliche oder feindselige Äußerungen in Kauf nehmen« müsse. Dieses kostbare Recht dürfe nicht der kleinsten Willkürentscheidung geopfert werden. Außerdem sei »Hass« nicht in jedem Fall verwerflich, er könne mitunter sogar als gesellschaftlich berechtigte Leidenschaft gelten (zum Beispiel Robespierres »Tyrannenhass«). Wenn ein Staat das Recht habe, jede »Hassrede« zu verfolgen, könne er die Gelegenheit nutzen, um die Grundrechte zu verletzen. Beispielsweise diente die Strafbarkeit der »Hassrede« im 19. Jahrhundert dazu, jede sozialistische Propaganda zu verbieten.81 Der Weg zur Hölle ist mit

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Le Pourhiet, »Le droit français est-il Charlie?«, S. 23–24. Besonders in Frankreich häuften sich die Gesetze zur Einschränkung der Pressefreiheit unter dem Vorwand der Bekämpfung von Artikeln, die im Verdacht standen, zum »sozialen Hass« aufzurufen.

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guten Vorsätzen gepflastert. Das hat die amerikanische Rechtsauffassung besser verstanden als die europäische: Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten stand bisher noch immer auf der Seite dieser liberalen Strömung, die sich hartnäckig weigert, die »Hassrede« zu ahnden, unter der Voraussetzung freilich, dass sie niemanden direkt beleidigt. In Frankreich billigte das Pleven-Gesetz außerdem gemeinnützigen Vereinen das Recht zu, gegen Äußerungen von Hass zu klagen. Was der Gesetzgeber damit bezweckte, war, einer möglichen Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden vorzubeugen. Damit ermunterte das Gesetz jede Gruppe, die sich als potenzielles Diskriminierungsopfer wähnte, einen Verein zu gründen, um ein effizienteres gerichtliches Vorgehen zu gewährleisten. Diese Vereine verspürten schnell, was in der Natur der Sache liegt, ein Bedürfnis nach Anerkennung und hörten, um ihre Stellung zu verbessern, mit dem Prozessieren nicht mehr auf, was zur Verschärfung der Opferkonkurrenz beitrug, die viele Kommentatoren heute bedauern. Das Pleven-Gesetz steht somit für den juristischen Auftakt der Selbstghettoisierung in Frankreich, indem es, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein, die identitäre Logik institutionalisierte.82 Fundamentalistische Gruppierungen, die eine Rückkehr zur Kriminalisierung der Blasphemie befürworteten, nahmen diese Chance dann auch unverzüglich wahr.

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So bestrafte das Gesetz vom 9. September 1835 »die Aufforderung zum Hass zwischen den verschiedenen Klassen«, und das Gesetz vom 18. August 1848 ahndete jede Äußerung, »die bestrebt ist, den öffentlichen Frieden zu stören, indem sie zur Verachtung und zum Hass der Bürger untereinander aufreizt«. Vgl. diesbezüglich Droin, Les Limitations à la liberté d’expression dans la loi sur la presse du 29 juillet 1881, S. 144f.

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Einer der ersten Fälle, in dem das Pleven-Gesetz zur Anwendung kam, betraf 1984 das Plakat zu dem Film Ave Maria, das eine junge an ein Kreuz gebundene Frau darstellte. Gruppen fundamentalistischer Katholiken, die infolge des Gesetzes von 1970 entstanden waren, wie die Priesterbruderschaft St. Pius X . und andere katholische Vereine, verklagten die Schöpfer des Plakats. Letzteres wurde aufgrund seines »öffentlichen Charakters« verboten (weil es für alle sichtbar und somit geeignet war, Gläubige zu schockieren). Diese erfolgreiche Premiere ermunterte die fundamentalistischen Katholiken zu einer Offensive gegen jeden Film, den sie als »blasphemisch« einstuften, etwa Maria und Joseph von Jean-Luc Godard (1985), Die letzte Versuchung Christi von Martin Scorsese (1988), Larry Flint von Milos Forman (1996) oder, in jüngerer Zeit, gegen Werbeplakate wie Das letzte Abendmahl oder die Aids-Schutzheilige »Sainte Capote« usw.83 Nach einer gewissen Bedenkzeit klärte die französische Justiz ihre Spruchpraxis und erhob die Freiheit, Religionen zu kritisieren, zum unantastbaren Prinzip. Sie verwarf insbesondere den Versuch, Paragraf 1382 des bürgerlichen Gesetzbuches über zivilrechtliches Verschulden und seine Wiedergutmachung dazu zu verwenden, eine Verletzung religiöser Gefühle zu ahnden. Seit den Entscheidungen des Kassationshofes vom 12. Juli 2000 weist die Justiz diesem Paragrafen 1382 eine ergänzende Rolle in Pressefragen zu, das heißt, er kann nur angewendet werden, wenn die beanstandeten Sachverhalte ein Pressevergehen darstellen und daher unter das Pressegesetz von 1881 fallen. Was nun solche Kritiken angeht, die als »Aufreizung

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Eine ausgezeichnete Übersicht über diese und die im Folgenden noch genannten Affären findet sich bei Boulègue, Le Blasphème en procès.

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zum Hass«, als »Schmähung« oder »Diffamierung der Religion« verstanden werden können (ein von jeder rassistischen Komponente unabhängiges Delikt), so folgt die höchstrichterliche Rechtsprechung, in dem Bestreben, einen Ausgleich zwischen Meinungs- und Glaubensfreiheit zu finden, einem präzisen Verständnis von Schmähung bzw. Diffamierung. Das Problem ist stets das gleiche: Wie soll man eine Grenze ziehen zwischen dem, was zum reinen Meinungsstreit gehört, und dem, was eine Beleidigung von Gläubigen darstellt?84 Der Richter muss mehrere wesentliche Punkte berücksichtigen. Ohne uns auf die im Übrigen ziemlich kniffligen Detailfragen der Rechtsprechung einzulassen, soll hier, zum einen, die Bedeutung des »Kontextes« hervorgehoben werden: Sind die Beleidigungen völlig willkürlich (grundlose Beleidigungsabsicht), oder haben sie einen Zweck (zum Beispiel die Bekämpfung von Aids oder die Kritik an den gewalttätigen Auswüchsen einer gewissen Sorte von Fundamentalismus)? In diesen Fällen zeigt sich die Justiz verständnisvoller. Zum anderen der »öffentliche Charakter«: Je weniger sichtbar eine Botschaft im öffentlichen Raum ist, umso toleranter der Richter, wie bei Büchern und Zeitschriften, die ja niemand lesen muss. Schließlich muss die Beleidigung »persönlich und direkt« sein (das Gesetz ahndet keine Schmähungen der Religion, von denen die Gläubigen nur indirekt betroffen sind). Diese Arrangements machten es möglich, die neuen Anforderungen an den »Respekt vor religiösen Anschauungen« mit dem Erhalt der Meinungsfreiheit in Einklang zu bringen.

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Zu diesen Punkten, Cour de cassation (Chambre criminelle), 14. Februar 2006; Cour de cassation (1ère Chambre civile), 14. November 2006; Cour de cassation (assemblée plénière), 16. Februar 2007, usw.

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Stellen wir klar, worin die Bedeutung dieser Freiheit besteht: Sie ist nicht nur ein individuelles Grundrecht (wie die Religionsfreiheit), sondern darüber hinaus – im Unterschied zur Glaubensfreiheit – ein Wesenselement der Demokratie und unabdingbar, um ein ordnungsgemäßes Funktionieren der Institutionen und die Teilhabe der Bürger am öffentlichen Leben zu gewährleisten.85 Sie muss folglich mit besonderer Sorgfalt geschützt werden. Eine Zeitlang wurde der erreichte »Kompromiss« von allen akzeptiert. Eine Ausnahme bildete der Film Die letzte Versuchung Christi, der 1988 Anlass zu zwei Attentaten gab, eines davon in einem Pariser Kino. Sie gingen auf das Konto fundamentalistischer Splittergruppen – die den »Respekt vor dem Glauben« verletzt sahen – und wurden selbst von den Bischöfen umgehend verurteilt. Ansonsten beschränkte sich der von mehr oder weniger fundamentalistisch orientierten Katholikenverbänden wie AGRIF geführte Kampf gegen die Blasphemie eher auf Rückzugsgefechte unter Ausschluss der Öffentlichkeit, zumindest bis zum Beginn der 2000er Jahre. Auf europäischer Ebene war jedoch nicht dieselbe Standfestigkeit anzutreffen wie bei den französischen Richtern. Vielmehr verlief die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung. In seinem Handyside-Urteil von 1976, das der französische Kassationshof übernahm, hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, die Meinungsfreiheit gelte auch dann, wenn entsprechende Äußerungen »irgendeinen Teil der Bevölkerung schockieren, verletzen oder beunruhigen«.86 Allerdings nahm dasselbe Gericht in seinen

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Droin, Les Limitations à la liberté d’expression, S. 461. EGMR , Handyside gegen Vereinigtes Königreich, Serie A, Nr. 24, 7. Dezember 1976.

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Urteilen Otto-Preminger-Institut (1994) und Wingrove (1996) einen gewissen Kurswechsel vor, bedingt durch die unterschiedlichen europäischen Auffassungen, der selbst die Rückkehr zum »Delikt des Verstoßes gegen die religiöse Moral« möglich erscheinen ließ.87 Man kann sogar behaupten, dass Frankreich in Europa ziemlich alleine dastand. Mit Ausnahme Belgiens und, in geringerem Maße, Portugals wurde die Blasphemie in allen anderen europäischen Staaten nach wie vor als Delikt geahndet.88 Die europäische Justiz gibt dem Respekt vor religiösen Anschauungen also tendenziell den Vorrang gegenüber der Meinungsfreiheit, zumindest gewährt sie den Staaten einen breiten Beurteilungsspielraum hinsichtlich des Schutzes religiöser Überzeugungen, auch wenn sie, seit dem Urteil Giniewski gegen Frankreich vom 31. Januar 2006, mehr Wert auf die Meinungsfreiheit zu legen scheint.89

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Speziell das EGMR-Urteil Otto-Preminger-Institut gegen Österreich, Nr. 12875/87, 23. Juni 1993, das den nationalen Behörden einen »gewissen Beurteilungsspielraum« gewährte, um über die Verletzung der Religionsfreiheit zu befinden. Zurückgehend auf eine deutsche Rechtsverordnung von 1861 hat sich dieses Delikt in Elsass-Lothringen bis heute gehalten (Paragraf 166 Regionalgesetz). Am 6. Januar 2015 jedoch, einen Tag vor dem Anschlag auf Charlie Hebdo, forderten Vertreter der katholischen und der protestantischen Kirche, des Judentums und des Islam bei einer gemeinsamen Anhörung vor dem Observatoire de la laïcité (Beobachtungsstelle für Laizismus) die Abschaffung des Blasphemiedelikts. Allerdings hinterlassen manche Entscheidungen, vor allem, wenn sie die Türkei betreffen (Mitglied im EGMR), ein gewisses Gefühl des »Unbehagens« (vgl. I.A. gegen Türkei, 13. September 2005). Zu all diesen Punkten vgl. Droin, Les Limitations à la liberté d’expression, S. 445f.

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In der Praxis wurde man Zeuge eines seltsamen Paradoxes. Während die europäischen Staaten, in denen Anti-BlasphemieGesetze existieren, diese immer weniger anwendeten (der Europarat plädierte sogar für die Abschaffung des Delikts), formierte sich in Frankreich eine immer stärkere Bewegung zugunsten der Wiedereinführung des Verbots in zeitgemäßer Verpackung. Man könnte dies als »französischen Sonderweg« bezeichnen: Seit Beginn der 2000er Jahre sieht sich die weltlichste Nation Europas intern mit Forderungen in Sachen Blasphemie konfrontiert, die zu den fundamentalistischsten des Kontinents gehören.

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VI Wenn die »Islamophobie« ins Spiel kommt … Nach den Attentaten vom 11. September 2001 wurde auch in Frankreich alles anders. Die islamistischen Bewegungen entwickelten sich zu eifrigen Nachfolgern der fundamentalistischen Katholikenverbände im Kampf gegen die Blasphemie. Und die Äußerungen von Michel Houellebecq kurz nach der Zerstörung der Zwillingstürme gaben ihnen auch bald Gelegenheit dazu. Der Schriftsteller hatte den Islam als »die dümmste Religion« bezeichnet und hinzugefügt: »Das Unterwerfen ist seine Natur.«90 Von den Islamverbänden, einschließlich der gemäßigten, wie der Großen Pariser Moschee, und der Liga für Menschenrechte wurde Klage eingereicht – auf Grundlage zweier Gesetzesparagrafen: Aufforderung zur Diskriminierung und Beleidigung einer Personengruppe aufgrund ihrer Religion. Allerdings hatte Houellebecq nicht einzelne Personen angegriffen, sondern eine Religion. Folglich ging es bei diesem Prozess im Wesentlichen um die Reichweite von Meinungsfreiheit und Blasphemie. Houellebecq erhielt Rückendeckung von Salman Rushdie, der seit 1989 unter der Drohung eines von Ayatollah Khomeini verhängten Todesurteils lebt, weil er in seinen Satanischen Versen

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Lire, September 2001.

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den Islam verunglimpft haben soll. Besser als andere verstand der nach London geflüchtete Autor, dass der Prozess gegen den Verfasser der Elementarteilchen an die »Fundamente einer offenen Gesellschaft« rührt.91 Die Justiz sprach den Schriftsteller mit der Begründung frei, dass der Ausdruck des Hasses auf eine Religion keinen »Aufruf zum Hass auf die Personengruppe, die diese Religion praktiziert oder sich zu ihr bekennt«92, darstelle. Mit dieser Mahnung wurde die Freiheit geschützt, Religionen zu kritisieren, also blasphemisch zu sein, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, die Gläubigen beleidigen zu wollen. Diese Affäre hätte eigentlich einen Schlusspunkt hinter die Blasphemiedebatte setzen sollen. Man hatte jedoch nicht mit der Beharrlichkeit mancher Islamverbände und vor allem mit dem Wandel unserer Anschauungen gerechnet. Tatsächlich nahm die Frage ab 2004, das man als Schlüsseljahr betrachten kann, eine dramatische Wendung an. In dieser Zeit begannen manche Politiker, wie der Innenminister Nicolas Sarkozy, laut darüber nachzudenken, ob man nicht das Gesetz von 1905 in einem religionsfreundlicheren Sinne abändern müsse.93 Natürlich war es dem zukünftigen Staatspräsidenten um eine höhere Wertschätzung der christlichen Religion zu tun, doch zeugte seine Aussage auch von einer bemerkenswerten Verständnislosigkeit für die zunehmende Gefahr, die von den Religionen ausging. Denn wie sollte man, wenn man den Glaubensstreit vermeiden wollte, den neuen islamischen Radikalismus bekämpfen, ohne die laizistische Botschaft zu intensivieren? Diese Herausforderung stellte

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Libération, 3. Oktober 2002. Tribunal de grande instance de Paris, 22. Oktober 2002. Sarkozy, La République, les religions, l’espérance.

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sich genau in dem Augenblick, als Nicolas Sarkozy meinte, dem Priester den Vorzug vor dem Lehrer geben zu müssen. In den Vorstädten brach damals, mit der »salafistischen Wende« mancher Minderheiten, das von Gilles Kepel so bezeichnete »dritte Zeitalter des Islam in Frankreich« an.94 Im gleichen Jahr wurde der holländische Regisseur Theo van Gogh ermordet, weil einige Radikalislamisten seinen Film Submission für blasphemisch hielten. Das war der Ausgangspunkt einer fatalen Kettenreaktion. Aus Solidarität veröffentlichten einige Zeichner am 30. September 2005 in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten ein Dutzend Mohammed-Zeichnungen und nahmen damit offen das Recht für sich in Anspruch, den Propheten darzustellen. Diese Initiative sorgte für einen derartigen Aufschrei der Empörung in der islamischen Welt, dass sich die dänische Regierung genötigt sah, diese Veröffentlichung zu bedauern. Schließlich entschuldigte sich auch die Zeitung selbst. Dieses demütigende Reuebekenntnis veranlasste wiederum eine Reihe europäischer, vor allem französischer Presseorgane dazu, aus einem Gefühl der Solidarität heraus die »Mohammed-Karikaturen« ihrerseits zu veröffentlichen. Nachdem der Chefredakteur von France Soir wegen des Erscheinens der Mohammed-Karikaturen entlassen worden war, setzte sich Charlie Hebdo an die Spitze des Kampfes für die Meinungsfreiheit und veröffentlichte im Februar 2006 eine Sondernummer, die neben den dänischen auch eine Reihe neuer Karikaturen enthielt.95 Was einen Sturm der Entrüstung,

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Kepel, Passion française, S. 264f. Darunter jene berühmte von Cabu, die den Propheten zeigt, »von Fundamentalisten überwältigt«, mit dem Kommentar: »Es ist hart, von Idioten geliebt zu werden!«

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auf juristischer wie auf politischer Ebene, hervorrief. Auf rechtlicher Ebene bekräftigte die Justiz, dass in einer »säkularen und pluralistischen« Gesellschaft wie der französischen »die Blasphemie, die Gott oder die Religion verunglimpft, im Gegensatz zur Beleidigung nicht geahndet wird«.96 Das Gericht fügte hinzu, dass der »Kontext« eindeutig erkennen lasse, dass Charlie Hebdo mit seiner Vorgehensweise nicht die Absicht gehabt habe, Muslime zu beleidigen. Es stellte ferner klar, die MohammedKarikaturen seien Teil »eines Reflexionsprozesses über die Verirrungen mancher Anhänger eines fundamentalistischen Islam, die zu Gewaltexzessen geführt haben«. Das Pariser Berufungsgericht bestätigte das Urteil am 12. März 2008. Die Anti-Blasphemie-Offensive war somit auf juristischem Terrain offenkundig gescheitert.97 Stattdessen nahm sie auf politischem und philosophischem Gebiet einen neuen Anlauf. Man darf nicht übersehen, dass die Bruchlinien sich seit den 1980er Jahren von Grund auf verändert haben. Der Meinungswandel eines Teils der Öffentlichkeit in Fragen der Moral, der Toleranz und der Diskriminierung ist nicht zu verstehen, ohne den internationalen Kontext kurz in Erinnerung zu rufen. Die Attentate vom 11. September 2001 hatten die gegenseitigen (bereits wegen des Nahostkonflikts unterschwellig vorhandenen) Vorbehalte zwischen Ost und West verstärkt. Während der Westen begann, ein tiefes

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Tribunal de grande instance de Paris, 22. März 2007. Manche Islamverbände, wie die Ligue de défense judiciaire des musulmans, setzten allerdings ihre juristische Kampagne fort, indem sie, unter Berufung auf elsässisches Recht, Prozesse vor dem Straßburger Landgericht anstrengten (Le Monde, 17. Februar 2014).

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Misstrauen gegen die Länder zu entwickeln, die im Verdacht standen, den islamistischen Terrorismus zu finanzieren, fühlten sich die Muslime ihrerseits als Opfer von Ungerechtigkeit und Diskriminierung, ein Gefühl, das teilweise berechtigt war angesichts der fragwürdigen Maßnahmen zur Terrorbekämpfung, die von den Vereinigten Staaten nach den Attentaten von 2001 ergriffen worden waren (Patriot Act, Guantánamo usw.). In diesem Kontext wirkte die »zügellose Meinungsfreiheit« auf manche islamische Staaten wie eine heimtückische Waffe des Westens, um zum »Rassen- und Religionshass« aufzuhetzen. Rekapitulieren wir in aller Kürze die angespannten Debatten, die seit 2001 im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen stattfanden.98 Auch wenn ihre rechtliche Tragweite bescheiden ist, zeugen sie dennoch, wenn nicht von einem »Kampf der Kulturen«, so zumindest von einem intensiven Kampf der Animositäten. Auf Betreiben der islamischen Staaten brachte der Rat immer wieder seine Besorgnis über die Zunahme »religiös motivierter Diffamierungen« von Muslimen zum Ausdruck, wie in seiner Resolution vom 27. März 2008. Als Reaktion auf die »Mohammed-Karikaturen« gelang es einer Gruppe von Ländern unter Federführung Pakistans sogar, eine Resolution durchzusetzen, die die Notwendigkeit einer strafrechtlichen Ahndung jeder Form der »Diffamierung von Religionen« betonte (Resolution vom 26. März 2009). Aus den westlichen Staaten kam umgehend Kritik an diesem Konzept, das nicht zwischen Menschen und Religionen unterschied und deshalb

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Vgl. den Überblick in Messner u. a., Traité de droit français des religions, Nr. 1304f.

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darauf hinauslief, die Kriminalisierung der Blasphemie wieder salonfähig zu machen.99 In Frankreich fand diese internationale Offensive der islamischen Länder ihre Nacheiferer und führte zum Aufkommen eines neuen Begriffs, nämlich »Islamophobie«. Im Jahr 2004, wie gesagt ein Schlüsseljahr, gründete sich ein Collectif contre l’islamophobie en France (CCIF ) und stieß sofort über islamistische Kreise hinaus auf ein gewisses Interesse bei Intellektuellen und antirassistischen Aktivisten, die nach dem Ende der »großen Erzählungen« auf der Suche nach einem »Ersatzproletariat« waren, für das sie sich engagieren konnten. Gläubige Muslime, die häufig aus sozial benachteiligten Gruppen oder dem Einwanderermilieu stammen sollten diese neue »messianische Klasse« verkörpern, die sich umso größeren Mitgefühls erfreuen durfte, als sie vermeintlich mehr als andere Gruppen Opfer von Diskriminierungen wurde (die »Hassrede« zielt nämlich, dieser Logik zufolge, öfter auf Minderheiten ab, die sich in subalterner Position befinden). In diesem Rahmen wurden die »Mohammed-Karikaturen«, wie alle antiislamischen Blasphemien, für verwerflich erklärt: ihre Veröffentlichung würde den Hass auf sozial Schwache schüren, womit man Gefahr liefe, sie in »radikale Verlierer«100 zu verwandeln. Möglicherweise sei die Blas-

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Selbst der UN -Vertreter des Vatikans kritisierte den Begriff »Diffamierung der Religion« als zweischneidiges Schwert. Er gebe manchen Ländern wie Pakistan, in denen die christlichen Minderheiten verfolgt würden, die Möglichkeit, nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern die Religionsfreiheit als solche zu verletzen (denn in den Augen jedes Fundamentalisten »diffamiert« die Religion des anderen die seine). Enzensberger, Schreckens Männer – Versuch über den radikalen Verlierer.

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phemie berechtigt gewesen, als sie sich gegen die herrschenden Religionen richtete (wie den Katholizismus zu Zeiten Voltaires), aber gegen den Islam gewendet würde sie zu einem »neokolonialen«, wenn nicht rassistischen Projekt. Als typisches Beispiel dieser Art von Argumentation kann die Erklärung der Mouvement pour les indigènes de la République vom 17. Februar 2006 gelten, in der es in Bezug auf die Mohammed-Karikaturen heißt, dass »die Meinungsfreiheit als Vorwand dient, um […] die Hassrede durch offen rassistische Zeichnungen zu befördern«. Der Vorwurf des »Rassismus« verbreitete sich über die Medien und entpuppte sich als geschickt aufgestellte Falle, denn die Muslime durften sich fortan darüber wundern, dass der Antisemitismus im Namen des antirassistischen Kampfes verurteilt wird, während die Islamophobie im Namen der Blasphemiefreiheit ungestraft bleibt. So gewann die missliche Vorstellung allmählich an Boden, hier werde mit »zweierlei Maß gemessen«. Dabei blieb man den Nachweis schuldig, dass eine Religion mit einer »Rasse« oder einem »Volk« gleichzusetzen sei. Denn solange man die Religionsfrage nicht ethnisiert, ist das Gegenstück zur Islamophobie nicht der Antisemitismus, sondern die Judeophobie, gegen die es kein besonderes Gesetz gibt. Es ist vollkommen legitim, die jüdische Religion zu kritisieren; man darf über Moses genauso lästern wie über Jesus. Soll man für Mohammed eine Ausnahme machen? Das wäre die absurde Schlussfolgerung, zu der diese abschreckend »rassialistische« Auffassung führt, die die Meinungsfreiheit in ein »islamophobes« Unterdrückungsinstrument verkehrt. Doch diese Operation war von Erfolg gekrönt. Nach den blutigen Ereignissen des 7.–9. Januar 2015 erreichte die geistige Verunsicherung ihren Höhepunkt. Die professionellen Vereinnahmer der verzweifelten Stimmung unter den Vorstadtjugendlichen intonierten eine nervtötende Litanei auf das Thema »Sie

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haben es so gewollt«, bezogen auf die Toten von Charlie. Talentierte Rapper wie Booba oder Abd al Malik, die über sehr viel Einfluss unter den Jugendlichen verfügen, hatten keine Bedenken, ihre Fans glücklich zu machen. Was soll man von »Berufsrebellen« auch anderes erwarten? Sie haben ein Publikum, das bedient werden will. Bedenklicher schon, dass manche Gutmenschen eine bisweilen sträfliche Verantwortungslosigkeit an den Tag legten. Tariq Ramadan bezeichnete den Humor von Charlie als das »Lachen von Feiglingen«, die sich aus Habgier über eine Religion von Ausgeschlossenen hermachten. Auch viele Adepten eines islamisch gewendeten Linksradikalismus unterstellten Charlie ein kommerzielles Interesse, um den Kampf für die Meinungsfreiheit besser diskreditieren zu können. Dass gerade ein Dutzend Mitarbeiter der Zeitschrift im Kugelhagel einer Kalaschnikow gestorben waren, schien den Engagiertesten von ihnen keine Gewissensnöte zu bereiten. Eine Erfolgsautorin meinte, die Morde damit erklären zu können, dass die Mörder keine Chance gehabt hätten, sich in die Gesellschaft zu integrieren. »Ich war Charlie«, schrieb Virginie Despentes, »und ich war auch die Kerle, die mit ihren Waffen hereinstürmten. Diejenigen, die sich eine Kalaschnikow auf dem Schwarzmarkt besorgten und beschlossen, auf ihre Weise, der einzigen, die ihnen möglich war, lieber aufrecht zu sterben, als auf Knien zu leben.«101 Das ist der gleiche Humbug, wie der, den die Anwerber der Camorra in Neapel von sich geben: Meglio una vita breve e intensa che una vita trista e lunga. Schlimmer noch: Ein aktueller französischer Literaturnobelpreisträger teilte uns über einen Brief an seine Tochter mit, dass die Mörder von Charlie Hebdo »keine Barbaren sind«. Vielmehr handele sich um Leute, »denen

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Les Inrockuptibles, 17. Januar 2015.

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man jeden Tag, jeden Augenblick begegnet, in der Schule, in der Metro, im Alltag«.102 Man wird sich wohl daran gewöhnen müssen, dass »jeden Augenblick« ein Mörder mit Kalaschnikow um die Straßenecke biegt. Die »Erneuerer« des Blasphemiedelikts haben, unter dem Deckmantel des Antirassismus, die Partie gewonnen. Im Gegensatz zu ihren französischen Kollegen, die eher standfest geblieben sind, haben die dänischen Journalisten bedauerlicherweise vor dem Geist der Intoleranz kapituliert: Sie würden es in Zukunft nicht mehr riskieren, sagten sie, Mohammed-Karikaturen zu veröffentlichen. Die Erfahrung sei zu belastend gewesen. Gibt es einen besseren Beweis für das Scheitern der Freiheit? Man würde sich wünschen, dass diejenigen, die resignieren – und man kann nicht den Stab über sie brechen, da niemand das Recht hat, von anderen zu verlangen, den Helden zu spielen –, sich dazu bekennen. Und so gelingt es der radikalsten Fraktion einer bestimmten Religion, durch Einschüchterung und Mord ihre Pseudo-Dogmen durchzusetzen. Welch eine Lektion für die anderen! Und der Teufelskreis geistiger Verwirrung ist noch längst nicht durchbrochen. Die französische Regierung gab zu erkennen, dass sie mächtig hadert mit der Laizität. Erst verkündete Präsident François Hollande, dass »Frankreich alle Religionen anerkennt«, während die Republik gerade keine anerkennt, denn das ist der Leitgedanke des Gesetzes von 1905 (Art. 2), dann verpflichtete er sich, den religionsgeschichtlichen Unterricht zu fördern – die Beobachtungsstelle für Laizismus unter dem Vorsitz von Jean-Louis Bianco empfahl eine Ausweitung des »muslimischen Religionsunterrichts« – und mit rechtlichen Mitteln

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Jean-Marie Gustave Le Clézio, Le Monde, 14. Januar 2015 [AdÜ].

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gegen die »Islamophobie« vorzugehen. Tatsächlich kam es nach den Massakern vom 7. Januar vermehrt zu gewalttätigen Übergriffen gegen einzelne Muslime. Es war notwendig, dass die Regierung dem ein Ende setzt und alle ihre Bürger schützt. Doch mit der Rede von der Islamophobie suggerierte Hollande auch – unbewusst? –, dass die latente Provokation des Islam die Ursache für die Attentate gewesen sein könnte, was offen zu behaupten manche militante Antirassisten sich nicht scheuten.103 Aber kann man Bilder, die beleidigen, und Menschen, die töten, auf eine Stufe stellen? Wie zwei Historiker, Spezialisten auf dem Gebiet der Religionskriege, bemerkten: In diesem Kontext Gesetze gegen Islamophobie zu erlassen, würde darauf hinauslaufen, »die Täter als Opfer auszugeben«.104 Am Ende ist die Blasphemie wieder zu einem »identitären Marker« geworden, wie im 16. Jahrhundert. Sie hält fortan für die Republik wenigstens drei Fallen bereit, die alle, auf entgegengesetzten Wegen, dazu führen, die Meinungsfreiheit zu revidieren. Die erste wäre, sich an einen starren »Laizismus« zu klammern und nicht mehr die Freiheit, blasphemisch zu sein, sondern ein »Recht auf Blasphemie« einzufordern. Man würde gegen den Geist der Meinungsfreiheit verstoßen, wenn man sie in ein säkulares Dogma verwandeln würde. Denn es geht ja nicht darum, die Blasphemie als solche zu zelebrieren, sondern die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Im Gegensatz zu dem, was ihre Gegner aus allen Lagern behaupten (zu denen mitunter auch ihre wichtigsten »Parteigänger« zählen), ist Laizität nicht

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Vgl. das Dossier von Marianne, 22.–28. Mai 2015, S. 42f. Crouzet/Le Gall, Au Péril des guerres de Religion, S. 72.

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gleichbedeutend mit »Laizismus«: Sie trägt nicht den Stempel der Religiosität. Es geht auch nicht darum, religiöse Anschauungen herabzuwürdigen, indem man einen anderen Glauben, den Atheismus oder sonst etwas, für verbindlich erklärt, sondern darum, den Rahmen zu schaffen, damit alle sich ausdrücken können, der Gläubige ebenso wie der Nichtgläubige, der allerdings allzu oft vergessen wird.105 Die zweite Falle wäre, umgekehrt, auf die »offene Gesellschaft« zu verzichten und eine Rückkehr zu den Grundwerten der christlichen Gesellschaft als unabdingbar auszugeben. Man würde untermauern, was manche als die These von der »fruchtbaren Regression« oder, nach dem Wort von Olivier Roy, der »Heiligen Ignoranz« bezeichnen. Sie beruht auf der Prophezeiung gewisser Radikaler, wie Sayyid Qutb, Vordenker der Muslimbrüder, dass »der Islam nur gewinnen kann, weil die Moderne zutiefst unfähig ist, das menschliche Bedürfnis nach Spiritualität zu stillen«.106 Kurzum, weil einige Islamisten das humanistische Projekt zu einem »fragwürdig, bedrohlich, verderblich« gewordenen Auslaufmodell erklären, sehen manche militante Christen ihre Chance gekommen, die Rückkehr zu den Grundwerten des Christentums, und damit zum Verbot der Blasphemie, als einzige Lösung anzumahnen. Diese Absicht wird allerdings selten so offen formuliert. Der Trick besteht vielmehr darin, zwecks besserer Einschränkung der Meinungsfreiheit, zunächst eine Rückkehr zum Anstand zu fordern. Darauf will beispielsweise die christliche Philosophin Chantal Delsol in ihrem »Plaidoyer pour la décence« hinaus.107 Es fehlt

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Vgl. Bouveresse, Peut-on ne pas croire? Zitiert von Shulsky, »La situation des démocraties libérales«, S. 729. La Croix, 14. Februar 2015.

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nicht mehr viel, und wir wären wieder im Zweiten Kaiserreich angelangt, als die Behörden sich über »Verstöße gegen die religiöse Moral« den Kopf zerbrachen und der Kampf für den Anstand zur strafrechtlichen Verfolgung von Madame Bovary führte. Wenn die moralische Ordnung wieder auf der Bildfläche erscheint, dann stets in präsentabler Form und manchmal sogar mit den besten Absichten. Bis sie außer Rand und Band gerät: Man müsse sich fragen, heißt es dann, ob die Meinungsfreiheit in unserer zeitgenössischen »Leere« wirklich noch von Nutzen sei. Worin läge ihre Bedeutung für die vielen Leute, die nichts zu sagen hätten, außer in dem verzerrten und »unanständigen« Gelächter über die Charlie-Karikaturen? Nach der Demonstration vom 11. Januar stellte ein katholischer Essayist einen Monat lang, Tag für Tag, die Frage: »Meinungsfreiheit? Meinetwegen! Aber was haben wir denn so Wichtiges zu sagen?«108 Selbst ein Rabelais hätte vor den Augen solcher Geistesgrößen keine Gnade gefunden. Diese »fruchtbare Regression« in ihrer christlichen Variante ist nichts anderes als eine Neuauflage dessen, was Frankreich, wie gezeigt, schon in der Ära des Syllabus, unter dem Zweiten Kaiserreich, erlebt hat, als Moralismus und Geschäftemacherei bestens harmonierten und ein Louis Veuillot meinte, von der Sackgasse der Aufklärung sprechen und behaupten zu dürfen: »Es gibt nur noch ein Mittel, um sich zu erholen und Neues zu vollbringen, nämlich christlich zu denken und zu schreiben.«

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Le Figaro, 11. Februar 2015, Kolumne von Fabrice Hadjadj. In einem ganz anderen Sinne betonte Pierre Manent, ungeachtet seines Plädoyers für eine Rückkehr zum Religiösen, dass man keine Abstriche von einer »umfassenden Gedanken- und Meinungsfreiheit« machen dürfe (Situation de la France, S. 76).

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Das dringende Bedürfnis, über Identitätsfragen nachzudenken, mag verständlich erscheinen, doch abgesehen davon, dass diese »fruchtbare Regression« heute eher herbeigeredet wird, hätte sie auch schwerwiegende Konsequenzen: Sie würde den »Kampf der Kulturen« in Gesellschaften hineintragen, die de facto pluralistisch aufgebaut sind. Aus mangelnder Bereitschaft zur Mäßigung, die manche mit Schwäche verwechseln (weil vermeintlich »gemäßigte« Führer sich oft als schwach erwiesen haben), neigen immer mehr Menschen dazu, Risiken einzugehen, und kommen sich dabei höchst verwegen vor. Doch lautet gerade eine der wichtigsten Lektionen von Montesquieu, dass es nichts Einfacheres gibt als eine radikale Lösung: »Da zu ihrer Begründung nur Leidenschaften vonnöten sind, so ist jedermann dazu imstande.«109 Im Gegensatz dazu stellt die Suche nach einer gemäßigten Lösung heutzutage die eigentliche Herausforderung dar: »Denn um eine gemäßigte Regierung zu bilden«, ist, wie Montesquieu in Erinnerung ruft, »ein Meisterwerk der Gesetzgebungskunst […] vonnöten, das der Zufall selten hervorbringt und das man ebenso selten der Klugheit überläßt.« Und doch spielt diese Kardinaltugend inzwischen eine zentrale Rolle: Denn haben wir derzeit keine bessere Wahl, als den heimlichen Aposteln Louis Veuillots und der Reconquista zu folgen?110 Die dritte, noch gefährlichere, weil gut gemeinte Falle wäre – gerade um diese Kreuzzugsmentalität zu vermeiden –, Abstriche am Ausmaß der »republikanischen Forderungen« zu

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Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Bd. 1, S. 92 (Buch V, Kapitel 14). Schon Raymond Aron hatte prophezeit, dass sie »das Auseinanderbrechen der Gesellschaft nur verschlimmern« würden (L’Histoire et ses interpréations, S. 157).

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machen. Dieser Logik zufolge würde die Republik durch zu große Unnachgiebigkeit in Sachen Meinungsfreiheit Gefahr laufen, die gemäßigten Muslime in die Arme der Fundamentalisten zu treiben, nach dem Motto: »Seht nur, wie sie unsere Religion behandeln.« Man müsse sich also, im Namen der »ausgestreckten Hand«, irgendwie zum Nachgeben entschließen und – warum auch nicht? – einer Rückkehr zur Kriminalisierung der Blasphemie zustimmen. Mit anderen Worten, zwei Jahrhunderte Abschaffung rückgängig machen. Unvorstellbar in Frankreich? Der Gedanke ist von einigen UMP-Abgeordneten schon gegen Ende der Amtszeit von Jacques Chirac erwogen worden. Als Reaktion auf eine landesweite Petition der im Conseil français du culte musulman (CFCM ) vertretenen Organisationen, die am 25. Februar 2006 an den Staatspräsidenten übergeben wurde und die Forderung enthielt, »die Beleidigung und Diffamierung Gottes und seiner Propheten« zu unterbinden, was auf ein Verbot der Blasphemie hinauslief, hatten Abgeordnete der UMP beantragt, wahlweise »beleidigende Äußerungen und Handlungen gegenüber allen Religionen zu verbieten« oder »die gewohnheitsmäßige Beleidigung von Religionen durch Karikaturen zu verbieten«.111 Die Bekämpfung der Blasphemie rechtfertigten die Verfasser einer der beiden Gesetzesvorlagen mit der Absicht, eine »möglichst friedliche und reibungslose Integration muslimischer Migranten« zu ermöglichen: »Einer der Wege, eine gelungene Integration dieser Bevölkerungsschichten zu gewährleisten, ist der Respekt vor der Ausübung ihrer Religion.« Diese scheinbar entgegenkommende Logik läuft tatsäch-

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Vorlage Nr. 2895, auf Antrag von Jean-Marc Roubaud, 28. Februar 2006, und Vorlage Nr. 2993, auf Antrag von Éric Raoult, 29. März 2006.

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lich darauf hinaus, bestimmte Bevölkerungsgruppen auf ihre Herkunftsidentität festzulegen, in der paradoxen Hoffnung, dass dieser Verstoß gegen die konfessionelle Neutralität des Staates (der keine Rücksicht auf die Zugehörigkeit seiner Bürger zu bestehenden Gemeinschaften nehmen kann) ihnen helfen wird, sich besser in die säkulare Republik zu integrieren. Eine Reductio ad absurdum gewissermaßen … Solche Absichtserklärungen gehen nicht selten mit versteckten Drohungen einher. Und es gibt derer viele. Mitte September 2014, noch vor den Ereignissen von Charlie Hebdo, hatten mehr als 120 islamische »Gelehrte« einen Offenen Brief an den Anführer des Islamischen Staates geschickt, um ihm die »24 Verfehlungen« darzulegen, die der Islamische Staat ihrer Meinung nach aus Sicht des Islam begangen habe. Einige Forscher gaben den westlichen Behörden umgehend zu verstehen, sie sollten nicht den Fehler machen, sich allzu sehr auf diesen Text zu verlassen. Einem Soziologen zufolge ist es nicht die Rolle des Staates, sich in die Reform des Islam einzumischen. Er hat vollkommen recht. Nur dass er folgende Warnung an die Adresse der Staatsmacht nachschiebt: »Wenn sie den Muslimen nicht ihren rechtmäßigen Platz gibt, besteht die Gefahr, dass diese auf die dunkle Seite wechseln.«112 Kurzum, es ist stets die gleiche mit Drohungen unterfütterte Erpressung. Doch solche Aussagen lassen ständig ein Damoklesschwert über unseren liberalen Demokratien schweben. Denn wer will beurteilen, ob der Staat auch allen Muslimen »ihren rechtmäßigen Platz« gibt? Viele »benachteiligte« Bürger, die keine Muslime sind, könnten geltend machen, dass auch sie »ihren Platz« in der Gesellschaft noch nicht erhalten hätten. Müssen auch sie erst drohen, »auf

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La Croix, 24. Februar 2015.

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die dunkle Seite zu wechseln«, um sich mehr Gehör zu verschaffen? Die »Muslime« als eigenständige, vom Rest der Nation getrennte Gemeinschaft zu behandeln, könnte sich vor allem als riskantes Manöver erweisen. Wenn man sich auf dieses Denken einlässt, werden die identitären (oder vermeintlich religiös motivierten) Forderungen kein Ende mehr nehmen. Man wird zunächst Voltaires Mahomet verbieten müssen, was praktisch bereits der Fall ist, anschließend Dantes Inferno, weil es sich über den Propheten lustig macht (es gibt bestimmt schon Forderungen, diesen »islamophoben« Text zu säubern), und wer weiß, was diese Flucht nach vorn sonst noch für Überraschungen bereithält … Nicht nötig, sich zu fragen, was auf Dauer mit unserem alten Freiheitserbe geschehen würde.

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Epilog Kurz nach den Attentaten vom Januar 2015 hielt es die Zeitschrift Études für eine gute Idee, vier Papstkarikaturen aus Charlie Hebdo auf ihre Website zu stellen. Diese konsensorientierte, ja geradezu ökumenisch gemeinte Initiative sollte die Muslime beruhigen und davon überzeugen, dass es mit dem Eintreten für »Charlie« nicht darum ginge, die mohammedanische Religion zu attackieren, sondern das Prinzip der Meinungsfreiheit als solches zu verteidigen. Eine Erklärung der französischen Bischofskonferenz vom gleichen Tag, dem 7. Januar 2015, erinnerte übrigens daran, dass diese Freiheit »ein grundlegender Bestandteil unserer Gesellschaft« sei, sodass die Redakteure der Jesuitenzeitschrift guten Gewissens verkündeten: »Es ist ein Zeichen von Stärke, dass wir über gewisse Züge der Institution, der wir angehören, noch lachen können.« Leider hatten die Redakteure von Études den Mund zu voll genommen. Schon nach wenigen Tagen mussten sie die Papstkarikaturen schleunigst wieder entfernen, so groß war der Protest seitens vieler Leser und der kirchlichen Autoritäten, die sich allesamt darüber empörten, wie man sich mit einer Satirezeitung gemein machen und Beleidigungen des Pontifex maximus veröffentlichen könne. Die Kritiker zitierten die Worte, die Papst Franziskus kurz zuvor geäußert hatte: »Wir haben die

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Pflicht, offen zu sprechen«, doch alles hat Grenzen. »Man darf nicht provozieren, darf den Glauben der anderen nicht verunglimpfen und lächerlich machen.« Um jene Worte hinzuzufügen, die mehr als einen Leser der Bergpredigt in tiefste Ratlosigkeit stürzen dürften: »Wenn jemand, selbst ein guter Freund, schlecht über meine Mutter spricht, muss er darauf gefasst sein, eine Tracht Prügel zu erhalten.« Die Zeitschrift Études ließ die »blasphemischen« Zeichnungen in aller Eile verschwinden. »Da wir die Polemiken beenden wollen, haben wir beschlossen, den Zugang zu der Seite, die deren Auslöser war, zu sperren.« Die Redaktion stellte klar, dass dieser Rückzug mitten im Gefecht sie ermutigen würde, ihren »Reflexionsprozess« frei und nach eigenem Ermessen fortzusetzen. Von Freiheit zu sprechen, nachdem man sich gerade der Zensur hatte beugen müssen, entbehrt allerdings nicht einer gewissen Bitterkeit und Paradoxie. Es besteht jedoch keinerlei Anlass, über die Widersprüche von Études zu spotten. Sie sind nur der Spiegel der traurigen Schizophrenie, in der wir uns alle heute befinden. Unsere führenden Politiker bekennen sich demonstrativ zur Verteidigung der »Meinungsfreiheit« – sie tragen den berühmten »Geist des 11. Januar« wie einen Talisman vor sich her –, während wir vor dem neuen alles beherrschenden Dogma, nämlich dem »Respekt vor den innersten« – vorzugsweise religiösen – »Überzeugungen«, in die Knie gehen.113 Diese Pflicht zur Toleranz als unumgänglichem Prinzip hat in der Praxis den Sieg davongetragen über die Meinungsfreiheit und das Recht auf Humor,

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Schon 1990 hatte der Philosoph Bernard Sève diese Entwicklung genau erfasst (»Les convictions intimes sont-elles un argument?«, S. 50–56).

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einschließlich des Rechts auf schlechten Geschmack. Es sind diese innersten Überzeugungen, die wir mehr als alles andere schützen und die das Aufkommen eines neuen Verbots rechtfertigen sollen. Davon zeugen die Reaktionen all derer, die sich nach dem Massaker vom 7. Januar nicht als »Charlie« fühlten. Es stand ihnen vollkommen frei, dem Aufruf, ihre Solidarität mit dieser Zeitschrift zu bekunden, nicht zu folgen, doch es ist ebenso legitim, an dessen eigentliche Bedeutung zu erinnern. Am 11. Januar 2015 »Ich bin Charlie« zu sagen, war nicht als Liebeserklärung an eine bestimmte Satirezeitung gemeint, die viele gar nicht lasen; es war vielmehr Ausdruck eines Bekenntnisses zur Meinungsfreiheit, die durch eine barbarische Geste, eine MG Salve auf eine Gruppe von Zeichnern, verächtlich gemacht worden war. Es bedurfte also eines besonderen Mutes, um sich davon offen zu distanzieren. Sicherlich wäre es vielleicht besser gewesen, wenn es den Werbespruch »Ich bin Charlie« nicht gegeben hätte oder wenn er mit dem Zusatz »für die Meinungsfreiheit« versehen gewesen wäre, was zur Klärung der Debatte beigetragen hätte. Tatsache ist jedenfalls, dass diejenigen, die ein cooles »Ich bin nicht Charlie« äußerten, dies ohne das geringste Zögern tun konnten, da für sie ein höheres Prinzip existierte, nämlich, den Propheten nicht zu karikieren. Es rechtfertigte zwar nicht diese schreckliche Tat – was viele von ihnen mit Fug und Recht betonten –, doch war die Verurteilung der Massaker für sie auch kein Grund, sich mit den Opfern dieser Tragödie zu solidarisieren. Andere, radikaler Gesinnte, hatten keine Bedenken, sich zu einem »Sie haben es ja so gewollt!« zu versteigen. Das für den Ideengeschichtler Merkwürdigste daran ist die Feststellung, dass dieses Eingeständnis von Ignoranz und Obskurantismus sich nicht auf ungebildete Wirrköpfe beschränkte, sondern von einem Teil der Intellektuellen und der

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Medien unterstützt wurde. Über Wochen hinweg wurde im Lande Voltaires mehr als je zuvor über »Respekt vor den Religionen«, »Diffamierung von Religionen«, Beleidigung der Religionen gesprochen. Vielleicht wird man sich mit dem Gedanken Milan Kunderas anfreunden müssen, dass die Zeit der Satire und des Humors definitiv vorbei ist und dass Charlie das als Erster zu spüren bekommen hat. Der Humor, schrieb der Verfasser der Verratenen Vermächtnisse, »war weder seit jeher da, noch wird er es für immer bleiben. Bangen Herzens denke ich an den Tag, an dem Panurge die Welt nicht mehr zum Lachen bringen wird.«114 Sind wir mittlerweile in dieser vor Kurzem noch unvorstellbaren Welt angelangt, in der Panurge uns nicht mehr zum Lachen bringt? Vielleicht. Sobald jedenfalls von Religion die Rede ist, wird die Diskussion gereizter denn je. Dabei haben wir eigentlich aus dem 19. Jahrhundert den Marx’schen Leitgedanken übernommen, dass »die Kritik der Religion […] die Voraussetzung aller Kritik« ist.115 Doch nach den Attentaten vom 7. und 9. Januar ist der Franzose in einer ganz anderen Welt erwacht, in der sich Bierernst und Fanatismus zur Jagd auf alles »Abweichende« verbündet haben. Die Karikaturen von Charlie? Sie wurden seit geraumer Zeit von manchen als »rassistische« oder zumindest »islamophobe« Entgleisungen betrachtet. Doch bedurfte es erst der Attentate mit ihren Toten, um diesen Gedanken wirklich zu verinnerlichen. Dabei hat es an Vorzeichen nicht gefehlt. Wie jene Petition von 2011 mit dem bizarren Titel

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Kundera, Die verratenen Vermächtnisse, S. 37. Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, S. 378.

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»Für die Meinungsfreiheit und gegen116 Charlie Hebdo«, unterzeichnet von einigen Antirassismus-Aktivisten, in der es hieß, die hämische Geisteshaltung von Charlie sei das »neue Markenzeichen« eines »oberflächlichen Antiklerikalismus gepaart mit einer zwanghaften Feindseligkeit gegenüber dem Islam«. Dieser Appell »gegen Charlie« berief sich auf die vornehmsten Gefühle der Zeit, allen voran den »Respekt vor den Religionen«. Diese Kritik hat Nachahmer gefunden. So konnte ein Demograf, Emmanuel Todd, behaupten, als handelte es sich um eine unbestreitbare Tatsache, dass »den Islam zu lästern heißt, die Schwachen in der Gesellschaft, und das sind diese Migranten, zu demütigen«. Er bekräftigte diese Ansicht in einem erstaunlichen Essay.117 Für manche Denker der extremen Linken ist der islamische Radikalismus schon deshalb nicht besorgniserregend, weil er nicht ausdrücklich dem religiösen Fanatismus entspringe. Vielmehr beschränke er sich darauf, die »Wut der Opfer kapitalistischer Globalisierung« zum Ausdruck zu bringen. Erneut kann man die Vertreter der Postmoderne auf geistigen Abwegen beobachten, wie früher schon, als sie, mit Michel Foucault, in der iranischen Revolution von 1979 etwas ganz anderes hatten sehen wollen als den Triumph des religiösen Fundamentalismus und die Machtergreifung der Mullahs in Teheran begrüßten – was sie später bedauerten! Solche Koryphäen waren und sind, gestern wie heute, mehr darauf bedacht, »den Vorwurf der Islamophobie zu vermeiden, als den islamischen Fanatismus zu verurteilen«, wie der amerikanische Philosoph Michael Walzer so richtig bemerkte.118 Sie sind naiv genug zu

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Hervorhebung S.V. Marianne, 20. Februar 2015, und Todd, Wer ist Charlie? Le Monde, 10.–11. Mai 2015.

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glauben, die islamische Wut richte sich gegen dasselbe wie ihre eigene Empörung über ein kapitalistisches System, das sie, mitunter zutreffend, als ungerecht empfinden. Bei manchen allerdings »tarnt sich die Angst als Respekt«, wie Salman Rushdie vermutet.119 Ihrer Meinung nach zeugt das Vorgehen der Satirezeitung von schrecklichem »Leichtsinn«. Diesen Ausdruck gebrauchte kurz nach dem Massaker vom 7. Januar der Philosoph Étienne Balibar, der sich seit seinem Bruch mit der kommunistischen Partei für alle Verdammten der Erde stark macht. Die Karikaturisten von Charlie Hebdo hätten sich gleichgültig gezeigt »gegenüber den möglicherweise verheerenden Folgen einer heilsamen Provokation: in diesem Fall dem Gefühl der Demütigung von Millionen bereits stigmatisierter Menschen, was sie zur leichten Beute für die Manipulationen organisierter Fanatiker macht«.120 Wohlgemerkt: Gerade weil es »organisierte Fanatiker« gebe, die jede Form von Meinungsfreiheit ablehnten, müsse man von der »Blasphemie« Abstand nehmen, um die »Stigmatisierung« mancher Muslime nicht weiter zu verschlimmern, die geneigt sein könnten, sich von den Wahnvorstellungen eben dieser Fanatiker manipulieren zu lassen! Man steht ein wenig hilflos vor einem so verqueren Denken, das überdies ein so geringes Vertrauen in die Massen verrät, für die man sich angeblich engagiert. Denjenigen helfen, denen man nicht zutraut, zwischen Ironie und Intoleranz zu unterscheiden: Wenn das keine neue Form eines sich selbst verkennenden Paternalismus ist … Der nichts Gutes für den Kampf gegen den Fanatismus verheißt.

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L’Express, 22. Juli 2015, S. 28. Libération, 9. Januar 2015.

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Der Soziologe Edgar Morin geht noch weiter und fragt sich, ob man Blasphemie überhaupt noch dulden dürfe: »Soll man zulassen, dass die Freiheit den Glauben der Muslime beleidigt, indem sie das Bild ihres Propheten beschmutzt?«121 Von der Annahme ausgehend, dass man den Islam nicht verunglimpfen dürfe, um die derart »stigmatisierten« Muslime nicht zu »verletzen«, landet man bei der Formulierung einer quasi allgemeingültigen Regel. Denn wer wäre so vermessen zu glauben, dieses Verbot gelte einzig für diese Religion? Diese Gutmenschen machen sich, ob sie wollen oder nicht, zu Handlangern einer generellen Rückkehr zum Blasphemieverbot. Die anderen Religionen warten schon begierig, dass auch sie der Segnungen dieser neuen Moral teilhaftig werden. Ein Teil ihrer Gläubigen steht jedenfalls bereit und versäumt auch nicht, dies unverhohlen kundzutun. Eine Kommentatorin, die sich auf der Website von Études zu Wort meldet, sich als jemand »aus dem Volk« vorstellt und die Dinge angeblich »so sieht, wie sie sind«, kritisiert in diesem Sinne das Vorgehen derer, die »unter dem Deckmantel des Humors oder der sogenannten Meinungsfreiheit anderen Leid zufügen«, um zu dem Schluss zu gelangen: »Ich habe gelitten!« Und dieses moralische Leid scheint Grund genug, für sie wie für andere, jede Form von Zensur zu rechtfertigen. In der Beschwörung des »Respekts vor religiösen Anschauungen« sind sich alle Religionen einig. Einstmals, zu Zeiten der Vertreibung der Jesuiten, im Jahr 1880, waren es die ultrareaktionären Kreise, die – manchmal unter Missachtung der vatikanischen Mahnungen zur Vorsicht – auf die bedingungslose Ein-

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Le Monde, 8. Januar 2015.

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haltung der »Gewissens- und Religionsfreiheit« pochten und nicht davor zurückschreckten, die Erziehungsreformen von Jules Ferry (unentgeltlicher, obligatorischer, konfessionsneutraler Unterricht) lauthals als Versuche anzuprangern, Frankreich zu »entkatholisieren«.122 Inzwischen zeichnet sich ab, dass die progressive, antirassistische Bewegung sich diese alte Leier zur Abschaffung der Meinungsfreiheit zu eigen macht. Es ist das erste Mal seit Beginn der Aufklärung, dass Intellektuelle dieses Lagers sich indirekt gegen die Meinungsfreiheit aussprechen. Der Respekt vor den »innersten Überzeugungen« ist heute, wie erwähnt, zu einem Dogma geworden, genau wie in den 1880er Jahren bei den Verteidigern der Jesuiten. Im Übrigen haben die neuen Autoritäten in Sachen Moral keine Hemmungen, zu verkünden, dass die Meinungsfreiheit, wie der Leiter der Pariser Moschee schon 2002 verfügte, dort enden müsse, »wo sie weh tut« …123 Das objektive Bündnis zwischen den Religionen und etlichen progressiven Denkern sagt viel aus über die Umstrukturierung der geistigen Landschaft. Man kann zusehen, wie Adepten eines orthodoxen Katholizismus und Vertreter eines Islam der Unterprivilegierten sich näherkommen. Und alle diese »Bedenkenträger« verkünden, dass die Laizität »achtenswert« sei, solange sie selbst »alle religiösen Anschauungen« respektiere: »Es gibt keine Laizität ohne Achtung der Religionen«,124 erklärt ein Essayist, Odon Vallet, im Radio … Eine erstaunliche Aussage. Die Laizität hat stets die Gläubigen, aber nie eine einzige Religion beschützt. Hier werden bewusst die Gläubigen, deren Be-

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Grévy, Le Cléricalisme? Voilà l’ennemi!, S. 88. Le Figaro, 18. September 2002. France Info, 16. Januar 2015.

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kenntnis größte Achtung verdient, mit den religiösen Lehren – und Institutionen – verwechselt, deren rückhaltlose Kritik möglich sein muss, wenn man sich nicht von jeder Meinungsfreiheit verabschieden will. Zudem sind religiöse Anschauungen keine »Meinungen« wie alle anderen. Sie sind, philosophisch gesprochen, »Glaubensbekenntnisse«, und über den Glauben als solchen lässt sich nicht diskutieren: Entweder ich glaube, oder ich glaube nicht. Aber Äußerungen im Namen des Glaubens, wie das Verbot, den Propheten darzustellen, fallen, wie jedes Lehrgebäude, in die Rubrik des Meinungsstreits und müssen sich insofern alle Kritiken und Debatten gefallen lassen … Zumindest in einer liberalen Gesellschaft, die diesen Namen verdient. Aufgrund dieser Verwechslung zwischen persönlichem Glauben und religiöser Doktrin, einer geistigen Konfusion, die häufig von Kräften verschiedenen Formats mutwillig aufrechterhalten wird, hat die Kriminalisierung der Blasphemie seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr so viele Befürworter in Frankreich gehabt wie heute. Das Denken von Montesquieu, Beccaria oder Voltaire gilt den einen als »sektiererisch« und »atheistisch«, den anderen als »islamophob« und »rassistisch«. Die gemeinsame Ablehnung führt zu besorgniserregenden Annäherungen jeglicher Art von Nostalgikern eines neuen »politischen Augustinismus« für ignorante Zeiten. Ist die Blasphemie gar zum neuen Gradmesser der Kluft geworden, die sich im Zuge des Säkularisierungsprozesses (oder sollte man besser, mit Marcel Gauchet, vom »Ausstieg aus den Religionen« sprechen125) aufgetan hat? Unter politischen und theologischen Aspekten offenbart sie ein weites Feld des poli-

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Zu dieser entscheidenden Frage vgl. Gauchet, »Sécularisation ou sortie de la religion?«, S. 3–10.

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tisch Unausgesprochenen, das jeden zwingt, sich über seine eigenen Werte Gedanken zu machen. Sobald von Blasphemie die Rede ist, verfallen die brillantesten Köpfe in Hektik oder Ratlosigkeit. Die Orientierungsmarken geraten durcheinander, und man wird Zeuge bizarrer Annäherungen oder gar Allianzen, nicht nur zwischen radikalen Islamisten und fundamentalistischen Katholiken, sondern auch zwischen Antirassisten und gemäßigten Gläubigen jeder Tendenz und politischen Couleur.

Deshalb bleibt die säkulare liberale Gesellschaft, ungeachtet ihrer vermeintlichen Schwäche – die ihren Grund nur in der Kapitulation mancher führender Politiker hat –, letzten Endes die einzige Antwort auf diese Kampfansage an die Blasphemie. Sie ist als einzige in der Lage, die Menschen dabei zu begleiten, sich selbst, wenn sie wollen, oder können, aus ihren geschlossenen Identitäten zu befreien. Das ist den europäischen Gesellschaften nach der großen Religionskrise des 16. Jahrhunderts gelungen, ein Prozess, der in der Aufklärung seinen krönenden Abschluss fand. In einer globalisierten, aber kränkelnden Welt können die Herkunftskulturen eine Bereicherung sein, dürfen aber nicht zu einem Gefängnis werden. Das erfordert heute ein verstärktes Bekenntnis zu den Grundsätzen der Freiheit, wenn die religiösen Forderungen ein »vernünftiges Maß« überschreiten, wie die Venedig-Kommission (ein beratendes Organ des Europarats) bereits 2007 klarstellte.126 Der Westen

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Zum Bericht der Venedig-Kommission vgl. Messner u. a., Traité de droit français des religions, Nr. 1302f.

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hat nichts dabei zu gewinnen, wenn er sich zur »Geisel« religiöser Empfindlichkeiten macht, die obendrein die Diskussion, das Lebenselixier der Demokratie, verweigern. Wir sind hier mit dem klassischen, von John Rawls thematisierten Dilemma der »Toleranz gegenüber Intoleranten« konfrontiert. Es ist kein Verstoß gegen Glaubensbekenntnisse, wenn man das Niveau religiöser Forderungen zurückschraubt, sondern ein notwendiger Dienst an allen, insbesondere den Gläubigen selbst. Denn der »Paternalismus« ist nicht immer dort, wo man ihn vermutet: Es ist beispielsweise anmaßend zu unterstellen, dass in Frankreich gläubige Muslime, die auch französische Staatsbürger sind, weniger als andere Franzosen bereit wären, die Ideen von Freiheit und Laizität zu akzeptieren, wozu sich, nebenbei bemerkt, manche auch offen und mutig bekennen.127 Glaubt man wirklich, dass die kleinen Leute in der Bretagne oder der Provence 1905 besser auf die Prinzipien der Laizität vorbereitet waren? Sie haben sich daran gewöhnt. Und man würde die Anhänger des Islam letztlich zu Gefangenen einer essenzialistischen Sicht ihrer Religion machen, wenn man ihnen heute übertriebenen Schutz zukommen ließe. Man würde sie überdies in der Auffassung bestärken, dass ein »authentischer« Islam nur auf dem Weg eines politischen, gegen die säkularen Gesellschaften gerichteten Islam zu erreichen wäre und jeder Fortschritt notgedrungen einem Islam light gleichkäme (oder einem »Islam à la carte«, wie manche Vorstadtjugendliche sagen).

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Vgl. zum Beispiel den Aufruf von Vertretern der islamischen Kultur, »Face à l’islamisme, la République ne doit pas trembler!« (Marianne, 17.–23. Juli 2015); oder das Pamphlet des jungen Palästinensers Waleed Al-Husseini, Blasphémateur! Les prisons d’Allah.

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Die Blasphemiefreiheit infrage zu stellen, hieße, die fraglichen Personen auf eine, wie die gängige Formel besagt, unveränderliche Identität, eine ewige Anpassungsresistenz festzulegen.128 Und es wäre paradox, wenn eine säkulare Republik, die sich dazu verpflichtet, die Freiheit der Religionen zu garantieren, aber nicht ihr Dogma zu schützen – die Religionen zu kennen, ohne sie anzuerkennen (Art. 2, Gesetz von 1905) –, versuchen würde, die Gläubigen in dem fundamentalistischen Verständnis zu bestärken, das manche dem Islam geben wollen. Der Staat darf sich nicht in die verworrene Debatte um das Bild Mohammeds einmischen, zumal sich die Theologen selbst – was den Laien nichts angeht – über das vermeintliche Darstellungsverbot des Propheten im Islam nicht einig sind.129 Außer zum Schutz der Gläubigen darf der Staat nichts unternehmen, was die Einzelnen in ihrer persönlichen Entwicklung blockieren könnte (und dafür notfalls Veränderungen bei einer Religion einfordern). Vor allem gilt es, den Eindruck zu vermeiden, als würde man die Feinde der Freiheit, ob Muslime oder Christen, unterstützen, nach dem Vorbild jener, die sich 1791 über Clermont-Tonnerre empörten, als dieser, nach seiner berühmt gewordenen Formulierung, »den Juden als Nation alles verweigern«, aber »ihnen als Menschen alles gewähren« wollte. Im Gegensatz zu dem, was manche Wohlgesinnte uns weismachen wollen, ist diese Aussage nach wie vor von brennender Aktualität, gerade im Hinblick auf jene, die sich heute – manchmal mit den besten Absichten – darum bemühen, der »Demokratie der Identitäten« zum Durchbruch zu ver-

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Ich verweise auf die ausgezeichneten Bemerkungen von Desmons, »Du blasphème considéré comme une infraction politique«, S. 57f. Naef, Bilder und Bilderverbot im Islam.

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helfen. Stattdessen kommt es darauf an, alles zu tun, um die Erstarrung der Gemeinschaften zu verhindern. Der Kampf um die Blasphemiefreiheit ist, wie leicht ersichtlich, Teil dieses emanzipatorischen Vorhabens.

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Personenregister Abd al Malik, Régis FayetteMikano, genannt 106 Ambrosius, Sankt 19 Augustinus von Hippo 19 Austin, John Langshaw 79 B Balibar, Étienne 120 Balzac, Honoré de 65 Barante, Claude-Ignace Brugière de 68 Baudelaire, Charles 70–72 Beccaria, Cesare 48, 58–59, 123 Bellarmin, Robert, Kardinal 38 Bellay, Guillaume du 34 Belmas, Élisabeth 31, 35, 54 Bentham, Jeremy 49 Béranger, Pierre-Jean de 68 Berthelot, Marcellin Pierre Eugène 86 Bianco, Jean-Louis 107 Blanqui, Louis-Auguste 71 Bloy, Léon Marie 18 Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de 65

Bonaparte, Mathilde Lætitia Wilhelmine 71 Bonaparte, Napoléon 60 Booba, Élie Yaffa, genannt 106 Bossuet, Jacques-Bénigne 43 Boulègue, Jean 94 Bouveresse, Jacques 109 Brisson 73 Brissot de Warville, Jacques Pierre 48–49 Broglie, Achille Léonce Victor Charles de 77 Broglie, Jacques Victor Albert de 68 Buisson, Ferdinand Édouard 86 C Cabantous, Alain 12, 49, 57 Cabu, Jean Cabut, genannt 101 Calas, Jean 58 Calvin, Johannes 32, 40 Carbasse, Jean-Marie 22 Casagrande, Carla 21 Charles VIII., König von Frankreich 29 Chirac, Jacques 112

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Christin, Olivier 42 Claverie, Élisabeth 57–58 Clemenceau, Georges 79–80 Clemens IV., Papst 24 Clermont-Tonnerre, Stanislas de 126 Colonna Pamphili, Pietro 57 Constant, Benjamin 65, 68, 82 Cotton, Pierre 30 Courbet, Jean Désiré Gustave 74 Courier, Paul-Louis 68 Crouzet, Denis 108 D D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond, genannt 58 Dante Alighieri 114 Dareau, François 48–49, 51 Dartevelle, Patrice 12 Daru, Pierre Antoine Noël Bruno 68 Darwin, Charles 84 Davoust, Louis-Nicolas 68 Decazes, Élie 64 Delsol, Chantal 109 Delumeau, Jean 27 Des Pilliers, Pierre 87 Desmons, Éric 126 Despentes, Virginie 106 Diderot, Denis 50 Doizy, Guillaume 74, 84, 86, 90 Droin, Nathalie 93, 96–97 Dufaure, Jules Armand Stanislas 77 Duval de Soicourt, Pierre-Nicolas 53 Dworkin, Ronald 92

Elias, Norbert 29 Enzensberger, Hans Magnus 104 Erasmus von Rotterdam 31 F Ferry, Jules François 84–85, 122 Flaubert, Gustave 70–72, 84 Forman, Miloˇs 94 Foucault, Michel 119 Fourest, Caroline 83 France, Anatole 86, 88 Franz I., König von Frankreich 31–35 Franziskus, Papst 115 Freppel, Charles-Émile 79–80 G Gaillard d’Étallonde, Bertrand 53 Gambetta, Léon 86, 88 Gauchet, Marcel 38, 123 Gaultier, Jean 64, 66, 70, 72, 74 Gerson, Jean le Charlier de 26 Godard, Jean-Luc 94 Grévy, Jérôme 89, 122 Grimm, Friedrich Melchior 56 Guyot, Joseph-Nicolas 50, 67 H Hautefeuille, Charles Texier d’ 65–66, 70 Heinrich II., König von Frankreich 39 Heinrich IV., König von Frankreich 30 Hieronymus, Eusebius 17, 19–20, 22 Hildesheimer, Françoise 44, 46 Hollande, François 107–108 Houellebecq, Michel 99

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Hugo, Victor 86 Huizinga, Johan 45 I Isidor von Sevilla 23 J Johann I., König von Portugal 26 Johannes Chrysostomos 19 Joly de Fleury, Guillaume-François 55, 57 Jousse, Daniel 51 Justinian 22, 24, 36 K Kaiphas 18 Karl V. 26, 31 Kepel, Gilles 101 Khomeini, Ruhollah Musawi 99 Kundera, Milan 118 Kupka, Frantiˇsek 90 L La Barre, François-Jean Lefebvre de 47, 52–56, 58, 60, 91 La Boétie, Étienne de 34 La Fontaine, Jean de 26 Lacordaire, Jean Baptiste Henri 73 Lalaux, Jean-Bernard 74, 84, 86, 90 Lamartine, Alphonse de 75 Lamennais, Hugues Félicité Robert de 73 Lauret, Bernard 16 Le Bras, Gabriel 12 Le Clézio, Jean-Marie Gustave 107 Le Fur, Didier 34 Le Gall, Jean-Marie 108 Le Pourhiet, Anne-Marie 92 Lecanuet, Édouard 85

Lefebvre d’Ormesson, Louis François de Paule 53 Lefebvre, Georges 60 Lepeletier de Saint Fargeau, LouisMichel 59 Leveleux-Teixeira, Corinne 12, 20, 23–24, 26, 30, 40 Linguet, Simon Nicolas Henri 48, 56 Lisbonne, Eugène 78 Loyseau, Charles 43 Ludwig IX., König von Frankreich, genannt der Heilige 23–24, 34 Ludwig XII., König von Frankreich 29 Ludwig XIV., König von Frankreich 43–45, 51 Ludwig XV., König von Frankreich 45, 50–51, 54–55, 58 Ludwig XVI., König von Frankreich 58 Ludwig XVIII., König von Frankreich 64 Luther, Martin 31 M Machelon, Jean-Pierre 85 Machiavelli, Nicolas 36 Maclean, Ian 80 Mac-Mahon, Marie Edme Patrice Maurice de 78 Manent, Pierre 110 Marx, Karl 118 Maupeou, René Nicolas Charles Augustin de 55 Messner, Francis 103, 124 Mill, John Stuart 82

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Mohammed, Prophet 83, 101–105, 107, 126 Moisnel, Charles 53–54 Molé, Louis-Mathieu 68 Molière, Jean-Baptiste Poquelin, genannt 44–45 Montesquieu, Charles Louis de Secondat de 47–48, 51, 59, 63, 111, 123 Montlosier, François Dominique de 63–64 Morellet, André 58 Morin, Edgar 121 Musset, Alfred de 10 Muyart de Vouglans, PierreFrançois 51 N Naef, Silvia 126 Napoléon III. 75 Naquet, Joseph Alfred 74 Nebukadnezar 24 Nicolet, Claude 78 Nora, Pierre 13 O Origines 22 P Papon, Jean 36 Pasquier, Étienne 55, 57 Paul III., Papst 34 Paulus von Tarsus 17 Pelletan, Pierre Clément Eugène 75, 78, 80 Petrus, Apostel 19 Philipp August 23 Philipp IV., genannt der Schöne 25 Pinard, Pierre Ernest 70–71

Pius IX., Papst 69, 88 Pius V., Papst 41 Platon 16 Plongeron, Bernard 50 Portalis, Joseph-Marie 67 Proudhon, Pierre-Joseph 71–72 Q Quélen, Hyacinthe-Louis de 69 Qutb, Sayyid 109 R Rabelais, François 10, 110 Ramadan, Tariq 106 Raoult, Éric 112 Rawls, John 125 Renan, Ernest 84 Renoux-Zagamé, Marie-France 38 Revel, Jean-François 91 Rivero, Jean 84 Robert II., genannt der Fromme 22 Robespierre, Maximilien Marie Isidore de 60, 92 Roubaud, Jean-Marc 112 Roullé, Pierre 44 Roy, Olivier 109 Royer-Collard, Pierre-Paul 65 Rushdie, Salman 99, 120 S Sankt Viktor, Hugo von 21 Sarkozy, Nicolas 100–101 Scorsese, Martin 94 Searle, John 79 Serre, Hercule de 64–66, 70, 78 Servet, Michel 40 Sève, Bernard 86 Shulsky, Abram 109 Simon, Jules François 39, 75

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Spencer, J. R. 40 Stendhal, Henri Beyle, genannt 68 Suárez, Francisco 38 Sue, Eugène 71 Szramkiewicz, Romuald 81 T Talleyrand, Charles-Maurice de 68 Taxil, Léo, Marie Joseph Gabriel Antoine Jogand-Pagès, genannt 87 Tertullian, Quintus Septimius Florens Tertullianus, genannt 17 Thiers, Louis Adolphe 77 Thomas von Aquin 21, 23 Todd, Emmanuel 119 V

Vallet, Odon Pierre Maurice Marie 122 Van Gogh, Theo 101 Vanini, Giulio Cesare 42–43 Veuillot, Louis 72–73, 110–111 Viau, Théophile de 42 Villemain, Abel-François 63 Villon, François 26 Voltaire, François-Marie Arouet, genannt 10–11, 47–48, 52–53, 55–59, 105, 114, 118, 123 W Walzer, Michael Laban 119 Z Zola, Émile 84

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Zum Autor Jacques de Saint Victor ist Professor für Rechtsgeschichte und Politik an der Universität Paris VIII Vincennes-Saint-Denis sowie Gastprofessor an der Università degli Studi Roma Tre. Er ist Kolumnist beim Figaro littéraire und Autor zahlreicher Bücher zur politischen Ideengeschichte, zum Rechtssystem und zur organisierten Kriminalität. 2013 erhielt Jacques de Saint Victor den Prix de l’Essai de l’Académie Française; für »Blasphemie« wurde er 2016 mit dem Prix du Sénat du Livre d’Histoire ausgezeichnet.

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