Weniger Predigt!: Mehr Tat und mehr andere Formen der Verkündigung [Reprint 2019 ed.] 9783111388502, 9783111026855

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Weniger Predigt!: Mehr Tat und mehr andere Formen der Verkündigung [Reprint 2019 ed.]
 9783111388502, 9783111026855

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1. „Das Wort muɮ es tun
2. Die Konkurrenz anderer geistiger Darbietungen
3. Die Zunahme -er Amtsgeschäfte des Pfarrers und die Forderung, Religion, nicht Theologie zu predigen
4. Die Mannigfaltigkeit der religiösen Denkweise im Protestantismus
5. Die Verbindung von Predigt und Liturgie
6. Die Wirkung von dem allen: Übersättigung an predigten
7. Weniger predigt und mehr praktisches Christentum
8. weniger predigt und mehr andere Formen kultischer und außerkultischer Darbietung des Thristentums

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H u $ der Welt der Religion Forschungen und Berichte, unter Mitwirkung von

Heinrich Frick und Rudolf (Dtto herausgegeben van Erich Fascher und Gustav Mensching

Religionrwlssenschaftliche Reihe von Professor Lic. Gustav Mensching, Riga herausgegeben.

1. G. Mensching, Vie Bedeutung der Leidens im Buddhismus und Christentum, 2. verbesserte Rufl. 1930. M. 1,20 2. Fr. Riebergall, Moderne Evangelisation. 1924. M. 0,70 3. R. (Dtto u. G. Mensching, Chorgebete für Kirche, Schule und Hausandacht, 2. Rufl. (3. und 4. Tausend). 1928. Kart. M. 1,50 4. R. (Dtto, Zur Erneuerung und Rurgestaltung des Gottesdienstes. 1925. M. 2 — 5. L. Heitmann, vom werden der neuen Gemeinde. 1925. M. 0,80 6. Th. Odenwald, Nietzsche und das Christentum. 1926. M. 0,70 7. w. Bruhn, vom Gott im Menschen. Ein weg in metaphysisches Neuland. 1926. M. 1,80 8. w. Knevels, Vas Religiöse in der neuesten lyrischen Dichtung. 1927. M. 2,70; geb. M. 4,— 9. (D. Pfister, Religionswissenschaft und psychanalyse. 1927. M. 1,— 10. L. Schubert-Christaller, Der Gottesdienst der Synagoge. Sein Rufbau und sein Sinn. 1927. M. 2,70; geb. M. 4,— 11. h. Frick, Mission oder Propaganda? 1927. M. 1,— 12. G. Mensching, Var Christentum im Kreise der weltreligionen. 1928. M. 0,75 13. 3. Witte, Vie evangelische Weltmission. Ihre Ziele, Wege und Erfolge. 1928. M. 1,50 14. w. Maurer, Vas Verhältnis des Staates zur Kirche nach humani­ stischer Rnschauung, vornehmlich bei Erasmus. 1930. M. 1,50 15. Th. Siegfried, Luther und Kant. Ein geistesgeschichtlicher ver­ gleich im Rnschluß an den Gewissensbegriff. 1930. M. 4,80 16. h. Bar, weniger predigt! Mehr Tat und mehr andere Formen der Verkündigung. 1930. Etwa M. 2,— 17. w. Köhler, Wesen und Recht der Sekte im religiösen Leben Deutschlands. 1930. Etwa M. 2,— Fortsetzung der Anzeigen auf der S. Umschlagsette

weniger Predigt! Mehr Tat

und mehr andere Formen der Verkündigung! von

h. Var

1930 Verlag von Alfred Töpelmann in Gießen

Aus der Welt der Religion Forschungen und Berichte, unter Mitwirkung von Heinrich Lrick und Rudolf (Dtto

herausgegeben von Erich Lascher und Gustav Mensching

Religionswissenschaftliche Reihe, heft U

printed in Germany

von Münchow'sche Universitätsdruckerei (Dtto Ktnöt in Gießen

Nach einem alten Wort eines lateinischen Dichters soll man, was man geschrieben hat, neun Jahre liegen lassen und erst danach unter die Leute bringen - wenn es einem nämlich dann noch wert erscheint, den Andern mitgeteilt zu werden. Ich habe, was im Folgenden geschrieben ist, zum guten Teil noch viel länger liegen lassen. Einiges davon ist vor einem Vierteljahrhundert zu Papier gebracht. Ich war damals jung, bereitete mich auf den Berus des Pfarrers vor. Ich bin in diesem Berufe gewesen. Jetzt stehe ich seit langer Zeit in andrem Dienst. Aber was ich als Theolog in ver­ schiedenen Ämtern und verschiedenen Teilen Deutschlands inzwischen erlebt habe, das hat mich des hier Dargelegten nur gewisser gemacht. Theoretischen Widerlegungen werde ich deshalb nicht mit sonderlichem vertrauen gegenübertreten, helfen meine Worte dazu, daß meine Befürchtungen praktisch zu Schanden gemacht werden, so werde ich mich nur freuen. Soweit man mir aber Recht gibt, bitte ich, auch dem bescheidenen Menschenwort dieser Schrift gegenüber das zu be­ denken, was in der Bibel von Gottes Wort gesagt ist: wer Worte liest oder hört und sie als richtig erkennt, jedoch nicht danach tut, der betrügt sich selbst.

Ich glaube Glück und Not des Pfarrers unbefangen, objektiv würdigen zu können; nähme ich aber nicht auch heute noch mit dem Herzen Anteil daran, so wäre dieses heft ungeschrieben geblieben. Es wendet sich zunächst an die Evangelischen in Deutschland. In wie weit, was es sagt, auch für andre Länder gilt, davon weiß ich wenig. Für Ratholiken wird die Mahnung: „weniger predigt!" von vorn herein nur in sehr bescheidenem Maße gelten können, weil im Ratholizismus die predigt eine viel geringere Rolle spielt als im Protestantismus. Vie Schrift von Wilfried Lempp, Zur Rettung des evangelischen Predigtgottesdienstes (München, Raiser, 1926, 68 S.) lernte ich erst kennen, als meine bereits geschrieben war. Lempp spricht so ein­ dringlich, daß ich seine Arbeit in die Hände vieler evangelischer Theo­ logen wünsche, von der hohen Aufgabe unserer Predigt wie von den Schwierigkeiten, unter denen sie heute leidet. Mit seiner Forderung aber, wir sollten schweigen, um Gott reden zu lassen, meint er praktisch, wir sollten Gott darum bitten, daß sein heiliger Geist durch

4 uns rede. So haben indessen gewissenhafte evangelische Prediger schon immer gebetet (mag es auch noch ernster als bisher geschehen Können), und es bleibt daneben durchaus zu fragen, ob nicht wir die Formen unserer Verkündigung anders gestalten müssen, weil sie an Wirksamkeit sehr eingebüßt haben. Vas Wort: „Der Glaube kommt aus der predigt", auf das Lempp sich beruft, wenn er diese Formen im wesentlichen unverändert lassen will, besagt doch nur, daß der Glaube aus der Verkündigung des Evangeliums kommt, rechtfertigt aber nicht die bei uns übliche feste Form der Ver­ kündigung innerhalb der sonntäglichen Feier.

Juli 1930.

Der Verfasser.

Inhalt. Seite

1. „Das Wort mutz es tun"................................................................... 5 2. Vie Konkurrenz anderer geistiger Darbietungen............................ 8 3. Vie Zunahme der Rmtsgeschäfte des Pfarrers und die Forderung, Religion, nicht Theologie zu predigen....................................... 12 4. Die Mannigfaltigkeit der religiösen Denkweise im Protestantismus 19 5. Vie Verbindung von predigt und Liturgie....................................... 22 6. Die Wirkung von dem allen: Übersättigung an predigten .... 24 7. weniger predigt und mehr praktisches Christentum!......................... 29 8. weniger predigt und mehr andere Formen kultischer und autzerkultischer Darbietung des Thristentums!................................... 41

1. „Das Wort mutz es tun." Jesus hat nach allem, was wir wissen, nicht gewollt, nicht das zum Zweck seines Lebens gehabt, daß täglich Priester eine feierliche Handlung vollziehen, bei der sie, wie sie glauben, seinen Leib Gott als (Dpfcr darbringen; das hat der kritische Geschichtsforscher und der Protestant gegen die Messe, gegen die römisch-katholische Kirche einzuwenden. Jesus hat aber ebensowenig gewollt, ebensowenig zum Hauptzweck seines Lebens gehabt, daß sonntäglich (und noch öfter) von ihm und seiner Lehre gepredigt werde; das hat der kritische Geschichtsforscher und der sittlich ernste Mensch, das haben auch viele überzeugte evangelische Christen gegen die evangelischen Kirchen ein­ zuwenden. Jesus wollte, daß Gottes Wille geschehe, Gottes Herrschaft sich verwirkliche, die Welt anders werde, wir Menschen anders werden. Nun ist zwar gewiß dies der Zweck unserer predigt, die Leute dazu zu bringen, daß sie Gottes Willen tun, daß sie anders werden; aber wird nicht schon seit sehr langer Zeit gepredigt, ohne daß dieser Erfolg im erwünschten Maße eintritt? Der Erfolg der kirchlichen predigt steht in keinem Verhältnis zu der Menge der predigten und der auf sie verwendeten Mühe. Besteht hier nicht ein schreiendes Mißverhältnis zwischen Mittel und Zweck? Wird nicht entweder immer noch zu wenig, oder aber längst viel zu viel gepredigt? Wenn die Reformatoren Gottes Wort rein verkündigen wollten, so heißt das: sie wollten unzählige Irrtümer und Mißbräuche ab­ stellen, die sich in der Christenheit verbreitet hatten; sie wollten den Schutt, der sich in mehr als tausend Jahren aufgehäuft hatte, ab­ tragen, um das lautere Evangelium, die echte Botschaft von Gottes verzeihender Vatergüte wieder wirksam werden zu lassen. So war für sie allerdings die rechte predigt des Evangeliums die Hauptsache. Aber es muß vor einem Mißverständnis gewarnt werden. Sagt Luther: „Vas Wort muß es tun", so meint er erstens: das Wort, nicht der Zwang; der Geist, die Gesinnung, nicht die Gewalt. „Sagen will ichs, schreiben will ichs, predigen will ichs, aber zwingen und dringen will ich niemand." Gott will keinen Knechtsdienst, sondern Kindesliebe, vertrauen, und immer wieder

6 wird das Evangelium — davon war Luther überzeugt —, wenn es rein verkündet wird, Macht über die Seelen ernster Menschen ge­ winnen. Glaubenszwang ist des Evangeliums unwürdig, ist unchristlich; Ketzerverbrennung und Inquisition sind Teufelswerk. Luther hat diese großzügige freiheitliche Denkweise nicht immer festgehalten, aber zeitweise hat er sie gehabt. Mit dem Satze: „Vas Wort muß es tun" meint er zweitens: Wirkungen des Wortes im Herzen der Menschen, die dieses Wort verstehen, geistige Wirkungen sind es, auf die es im Thristentum ankommt, nicht aber dingliche Wirkungen, d. h. geheimnisvolle Wirkungen feierlicher Handlungen, wie sie der Katholizismus lehrt. Dort ist die Meinung, durch die Sakramente flößen auf wunderbare Weise dem Menschen himmlische Gnadenkräfte zu. 3m Gegensatz hierzu betont der Protestantismus: Gott ist Geist; das Christentum kann dem Menschen nicht dadurch nahe gebracht werden, daß Sakramente wesentlich unabhängig von der Gesinnung der Betei­ ligten wirken, sondern nur durch das verständliche Wort. Daß Luther auch diese Gedanken nicht voll durchgeführt, sondern in seiner Sakramentslehre Stücke behalten hat, die der katholischen verwandt sind, mag wiederum vorbehalten bleiben. Er hat, wenn er sagt, das Wort müsse es tun, drittens eine Denkweise abgelehnt, die anscheinend der katholischen noch schärfer entgegengesetzt ist, als seine eigene, aber nur anscheinend, nämlich die Ansicht, es liege nicht die einzige und auch nicht die höchste Dffenbarung Gottes an uns in Worten vor, die uns aus der Ver­ gangenheit überliefert sind. Diese von Luther abgelehnte Denkweise kann sich noch verschieden gestalten. (Es kann da gemeint sein, Gott gebe den Frommen immer wieder, also auch noch heute, neue Dffenbarungen. Wenn Christen sich darauf beriefen und berufen, Gott habe ihnen (über das Bibelwort hinaus) unmittelbare Erleuchtungen zuteil werden laßen, so pflegt der Inhalt dieser Privatoffenbarung entweder doch nur eine Anwendung biblischer, längst im Christen­ tum vorhandener Gedanken auf die Verhältnisse der jeweiligen Gegen­ wart, vielleicht auch auf individuelle Lebenslagen zu fein; insofern ist er nichts wirklich Neues. (Ober aber es handelt sich um Be­ hauptungen über Jenseitiges und Zukünftiges, z. B. über einen nahen Zeitpunkt des Endes dieser Welt. Dann hat die Erfahrung immer wieder solche Phantasiegebilde als Phantastik entlarvt, zum mindesten als Gedanken, die nicht zu dauerndem sittlichen Fortschritt der Menschheit, zu dauernder Heiligung des Lebens beitragen. Bisweilen aber geht man noch weiter. Man findet Gottes höchste Offenbarung nicht nur nicht in Worten und Schriften aus der Vergangenheit, sondern überhaupt in keinen Worten und Schriften.

Man meint, Gott offenbare sich dem Menschen am herrlichsten rein geistig ohne Worte. Immer wieder hat schwärmende Andacht über all das hinaus zu Kommen gesucht, was sich in Worten aussprechen läßt, immer wieder haben verzückte Mystiker eine selige Gemein­ schaft mit Gott angestrebt, die der Worte nicht mehr bedarf. Man kann verstehen, was sie wollen. Als wie unvollkommen empfinden wir gerade in unsern besten Stunden all unsre Worte zum Ausdruck des höchsten, was uns vorschwebt! Man mag also jenes Streben auch achten. Aber oft genug ist die wortlosigkeit zur Geistlosigkeit ge­ worden, der Tiefsinn zum Unsinn. Bei stärksten Gefühlserregungen kann völlige Gedankenleere eintreten. Das Christentum ist jedoch sittliche Religion; wer Jesus nachfolgen will, dient Gott in den Brüdern, bedarf dazu ruhiger Überlegung. Seliger Gefühlsüberschwang, den man immer wieder sucht und über dem man die Pflichten gegen den Nächsten vergißt, wäre ebenso wenig im Sinne Jesu wie ein Opfern im Tempel, über dem man die Pflichten gegen seine Eltern vernachlässigt (Matth. 15, 5). So steht Luthers Satz: „Das Wort muß es tun" in dreifacher Front: gegen Glaubenszwang, gegen Sakramentsmagie, gegen un­ geschichtliche Phantastik und gedankenleeren Gefühlsüberschwang. Luther hält sich immer wieder an das jetzt in der christlichen Gemeinde gepredigte Wort und an das Bibelwort, auf das alle rechte christliche predigt zurückgeht. Aber eines hat er sicher nicht gewollt: das Wort so betonen, daß die Tat darunter leidet. (Dft genug ist das jedoch geschehen, und das ist ein verhängnisvolles Mißverständnis oder eine verderbliche Nebenwirkung des Programms der Reformation; vor diesem Mißverständnis, vor dieser Nebenwirkung muß im Blick auf die Geschichte der evangelischen Kirchen gewarnt werden. Luthers Glaube war geschäftig und tätig, wie Gott auf uns wirkt, so sollen wir Thristen arbeiten und schaffen, solange es Tag ist. Aber wie im Katholizismus oft über der Fülle kirchlicher Zeremonien und heiliger Sachen die Bewährung des Thristentums im Leben zu kurz gekommen ist, so im Protestantismus über der Fülle heiliger Worte, über dem predigen und Predigthören, dem Religionsunterricht und dem Singen geistlicher Lieder, dem Lesen der Bibel und vieler Erbauungsbücher. Schon Luther selbst hat die Erfahrung machen müffen, daß über dem stolzen Bewußtsein, die reine Lehre, die rechte predigt -es Evan­ geliums zu haben, viele die Betätigung des Christentums vergaßen oder doch nicht ernst genug nahmen, und der ganzen Zeit der Herrschaft der altprotestantischen Orthodoxie hat es nicht an Männern gefehlt, die diesen Schaden sahen und zu bekämpfen suchten. Der Pietismus, der dann die Herrschaft der Orthodoxie erschütterte, ist wesentlich zu verstehen als Besinnung der evangelischen Christenheit

8 darauf, daß Korrektheit der Dogmatik, Häufigkeit der predigt und Festigkeit der kirchlichen Sitte geradezu zur Gefahr, zum Fluch werden können, wenn nämlich darüber der Geist der Liebe, der Wille zu praktischem Christentum einschläft. Die Pietisten wollten, daß das Uirchenvolk endlich einmal wirklich christlicher würde. Und damals gehörte wirklich das ganze Volk der Uirche an. Vieser Pietismus hat tatsächlich seine starken Wirkungen, hat unstreitig seine Verdienste gehabt. Uber wie der einzelne Christ immer wieder gegen seine träge und selbstsüchtige Natur Kämpfen, seinen alten Adam ersäufen muß, so muß die Christenheit sich immer wieder aufraffen, um ihre neuen Aufgaben zu bewältigen. Und heute hilft Kein Pietismus mehr. Denn inzwischen ist die Welt unchristlich geworden. Gder sagen wir vorsichtiger: hat schon immer wahrhaft christliche Gesinnung nur bei wenigen geherrscht, so sind in der Neuzeit namentlich die wirtschaftlichen Nöte und Unge­ rechtigkeiten riesengroß geworden, und innerhalb der durch soziale Gegensätze zerriffenen Welt hat der Einfluß der Uirche stark abge­ nommen. Millionen gehören in den sogenannten christlichen Ländern auch äußerlich den Kirchen nicht mehr an; vor allem sind von denen, die äußerlich das Band mit der Uirche nicht zerschnitten haben, noch viel größere Scharen innerlich ihr, ja dem Christentum entfremdet. Die Kirchen aber predigen, oder, da hier nur von unserer eigenen Uirche die Rede sein soll, so sage -ich: die evangelische Uirche predigt weiter — nun, gerechterweise darf man zwar nicht geradezu be­ haupten: „sie predigt weiter als wäre nichts geschehen". Venn sie beschränkt sich nicht auf die Predigt, sie schafft Werke der Liebe, sie sucht soziale Gesinnung zu verbreiten, ihre predigt hat heute einen mannigfach anderen Inhalt als vor dem Aufkommen dieser Nöte. Aber es bleibt die schwere Frage: ist die Umstellung genügend? hätte nicht, da die Welt so sehr anders geworden ist, die Christen­ heit bei ihrem wirken auf die Welt in ganz anderem Maße als es geschehen ist, neue Wege einschlagen müssen? von den Berufs­ arbeitern des evangelischen Christentums stehen noch heute die aller­ meisten im Pfarramt, und die Hauptaufgabe oder doch jedenfalls die charakteristischste Aufgabe des Pfarrers ist heute noch die predigt, überhaupt die religiöse Rede. Kann, darf das so bleiben?

2. Vie Konkurrenz anderer geistiger Darbietungen. Daß es so bleiben könnte, wäre höchst verwunderlich schon im Blick auf die Veränderung der Lage der Hörer unserer predigten, vor vierhundert Jahren bestand das deutsche Volk zum größten Teil

aus Bauern; für den größten Teil unseres Volkes war die predigt überhaupt die einzige regelmäßige geistige Nahrung. Soweit es schon Bücher gab, konnte das Landvolk zum größten Teil sie doch nicht lesen. Zeitungen gab es noch kaum, und bis ins 19. Jahrhundert hinein hat der größte Teil unseres Volkes nicht regelmäßig Zeitungen gelesen. Vorträge, Theater, Konzerte mag es noch heute in den Städten ungleich mehr geben als auf dem Lande. Immerhin ist das Kino auch auf den Dörfern stark verbreitet und der Rundfunk dringt bis in die weit ab von allen Ortschaften vereinzelt liegenden Häuser. (Es wird einer späteren Zeit vollkommen unbegreiflich sein, daß die evangelische Kirche dabei bis ins erste Drittel des zwanzigsten Jahr­ hunderts hinein jahraus jahrein allsonntäglich ihre predigten, über­ haupt ihre Gottesdienste ungefähr in derselben Weise halten ließ wie im 16. Jahrhundert, wo das Volk neben der Predigt keine regelmäßige andre geistige Nahrung hatte. Die Welt ist anders geworden; die Kirche aber redet in wesentlich der gleichen Weise fort. Natürlich kann man einwenden, der Mensch bleibe im Grunde doch immer derselbe. 3n der Tat, der Rbstand von Wollen und Können, die Gegensätze von Leben und Tod, Pflicht und Schuld, Sünde und Gnade, können von Menschen unserer Tage ebenso empfunden werden und werden von ernsten Menschen heute ebenso empfunden, wie von denen früherer Jahrhunderte. Und sofern die christliche predigt sich auf diese großen Gegensätze bezieht, kann, ja muß sie in ähnlicher Weise durch die Jahrhunderte hindurch dieselbe bleiben, wie die edelsten sittlichen Gedanken von Plato, Aristoteles, Epiktet durchaus auch dem gewissenhaften Menschen unserer Tage verständlich sind und zu herzen gehen. Wer ernst und schlicht vom Ewigen spricht, wird immer zeitgemäß reden. Aber es handelt sich für uns hier nicht in erster Linie um den Inhalt der christlichen predigt, sondern um die Art ihrer Darbietung, um die Anlage der regelmäßigen Zusammenkünfte unserer Gemeinden. Nun ist die predigt zwar sehr viel kürzer geworden, als sie vor Zeiten zu sein pflegte, und es ist gut so. Aber das fällt nicht ins Gewicht gegenüber der Tatsache, daß viele, sehr viele meinen, sie hätten zum Kirchengehen überhaupt keine Zeit mehr. Die Sache liegt noch etwas anders für die Katholiken, für die der Besuch der Messe religiöse Pflicht ist. Ihnen gilt das Mitmachen vieler kirch­ licher Bräuche als verdienstlich; der Erwerb von Ablaß schafft ihnen Aussicht, eher aus der Pein des Fegfeuers herauszukommen, früher die Seligkeit zu gewinnen. 3m Protestantismus konnte Kirchlichkeit von vorn herein nicht so unmittelbar als Verstärkung der Anwart­ schaft auf das ewige heil gelten. So haben jene Veränderungen der

10 ganzen geistigen Lage aufs Stärkste dazu beigetragen, daß viele Protestanten unkirchlich wurden. Gewiß, manche, die erklären: „ich habe keine Seit zur Rirche zu gehen", reden nur so; sie finden tatsächlich Seit zu Dingen, die sehr viel weniger wert haben, zu gehaltlosem Stammtisch- oder Raffeeklatsch, zum Lesen seichtester Romane, zum Besuch übelster Rinostücke. Aber das Leben vieler Männer auf verantwortlichem Posten und vieler Mütter, die ohne ausreichende Hilfe im haushalt sind, ist heute wirklich so eilig, daß sie auch die zwei Stunden am Sonntag, die ein Rirchgang sie kostet, oft nicht übrig haben, wenn sie ihre Berufspflichten oder ihre Pflichten gegen ihre nächsten An­ gehörigen gewissenhaft erfüllen, ihr Hauswesen treu besorgen wollen. Vas war vor Jahrhunderten noch nicht so. Uhren, die auch die Viertelstunden durch ihren Schlag anzeigen, brauchte man im Mittel­ alter noch nicht, heute wird die Sahl der Erwachsenen, die eine Taschenuhr haben und mit Minuten rechnen müssen für ihren Gang oder ihre Fahrt zur Arbeitsstätte und bei vielen anderen Gelegen­ heiten, in Deutschland größer sein als die Sahl derer, die noch ohne Taschenuhr leben könnten. Vie meisten Leute haben sehr genaue Seiteinteilung oder, was fast dasselbe sagen will, sie haben keine Seit, nämlich keine Seit für fast alles, was nicht unmittelbar zu ihrem Berufe gehört. Man wird einwenden, für unzählige Arbeiter, Angestellte, Beamte sei durch den Achtstundentag die Lage doch wieder anders geworden; namentlich manche jungen Leute hätten zu viel freie Seit, wüßten nicht, was sie damit anfangen sollten. 3n der Tat, vielen fehlt nicht die freie Seit, sondern die rechte Art, ihre freie Seit auszunutzen. Aber die körperliche Arbeit in vielen Betrieben ist so schwer, die Fabrikarbeit neuerdings oft so intensiv, daß, wer nicht selbst in solcher Arbeit steht, die Ermüdung, die ihr folgt, doch nicht richtig einschätzt, und für unzählige Geschäfts­ leute ist die Ronkurrenz so scharf, der Rampf ums Dasein so hart, daß sie wirklich keine Seit haben. Nun leidet unter diesem Seitmangel vielbeschäftigter Leute keineswegs nur die Rirche. Auch zum Besuch einer ernsthaften poli­ tischen Versammlung und mancher anderen um des Gemeinwohls willen wichtigen Veranstaltung sind diese Leute kaum zu bekemmen. Aber das ist für die Rirche ein geringer Trost. Ich glaube nicht, daß gegen diese hast, gegen diesen Seitmangel unzähliger Menschen unserer Tage in absehbarer Seit viel zu machen sein wird. Daß unser Leben mannigfaltigeren Inhalt hat, als das der Vorväter, das ist an sich geradezu ein Gewinn, wenn man von der Serfplitterung absieht, zu der dieser reichere Lebensinhalt viele geführt hat, aber nicht zu führen braucht. Wenn aber viele Leute

unnötig hasten, so ist, insoweit es sich da um Nervosität handelt, diese beim Einzelnen wie in ganzen Bevölkerungsschichten höchstens im Laufe längerer Seit zu überwinden. Und wenn künftig immer mehr Leute nicht mehr im Innern der Großstädte wohnen, sondern draußen im Freien, im Grünen, so mögen sie es dort zwar ruhiger haben,- aber die Fahrt zur Arbeitsstätte kostet sie dann mehr Zeit. Ist die hast der Menschen von heute zum großen Teil durch den wirtschaftlichen Wettbewerb veranlaßt, so ist an diesem Punkte aller­ dings eine Änderung denkbar, wenn nämlich die jetzige privat­ kapitalistische Wirtschaftsform, die zu wildesten Konkurrenzkämpfen führen muß und den Kampf ums Dasein sehr verschärft, durch Wirtschaftsformen ersetzt werden sollte, in denen planmäßige Regelung des Güterumlaufs und stärkere Fürsorge für das Gemeinwohl herrschen. Aber auch wenn der Sozialismus große Erfolge dieser Art erzielen sollte, wird es nicht rasch damit gehen; wir müssen noch aus lange Zeit hinaus damit rechnen, daß die Menschen hasten, keine Zeit haben, und daß diese Unruhe von Großstädten und Industrie­ gebieten her mehr und mehr auch in die bisher davon wenig be­ rührten Gegenden einbringt. Die Kirche aber kann, so gewiß es ist, daß Unzählige nicht viel Zeit haben, doch ihre Feiern nicht nennenswert abkürzen. Rund­ funkgottesdienste mögen kürzer fein als bisher bei uns die Gottes­ dienste zu sein pflegten; das Programm des Rundfunks ist auf kurzfristige Abwechslung eingestellt, und die Zahl derer, die Rund­ funk-Predigten Horen, statt zur Kirche zu gehen, wird in nächster Zeit voraussichtlich noch zunehmen. Namentlich in Großstädten mag man auch versuchen, in wie weit ganz kurze Andachten früh zeitig oder abends (auch an Wochentagen), mit einer Ansprache von zehn Minuten und einer Gesamtdauer von zwanzig Minuten, sich bewähren, Anziehungskraft haben. Aber selbst wenn die Kirche sich entschließen sollte, ihren sonntäglichen kjauptgottesdienst noch erheblich abzukürzen, so würde das doch den Besuch nicht heben; denn wer einmal zur Kirche geht, sich dafür kleidet, der rechnet auch damit, daß er eine bis zwei Stunden dazu braucht. Also kann die Kirche darauf, daß die Leute weniger Zeit haben als früher, in der äußeren Gestaltung der Gottesdienste nicht sonderlich viel Rücksicht nehmen. Aber daß trotz jener großen Veränderung der geistigen Lage — früher war die predigt die einzige geistige Nahrung der Leute, heute lesen sie Zeitungen und Bücher, sehen Theater und Kino, Horen Vorträge, Konzerte, Radio - die Kirche ihre Predigt, ihre Gottesdienste überhaupt zum guten Teil noch ebenso hält wie in jenen alten Zeiten, wo die Welt so ganz anders war, das bleibt erstaunlich.

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3. Vie Zunahme -er AmtsgeschSfte des Pfarrers und die Forderung, Religion, nicht Theologie zu predigen. Der Prediger hat es jedoch heute nicht nur deshalb schwerer als früher, weil die predigt einst konkurrenzlos dastand, heute aber unter ungemein scharfer Konkurrenz aller möglichen anderen geistigen Darbietungen steht. Sondern er hat es auch deshalb schwerer, weil er neben seiner Predigt sehr viel mehr zu tun hat und weil die predigt heute eine andre Aufgabe hat, als früher, eine Auf­ gabe, die nur mit sehr viel stärkerem Einsatz seelischer Kraft zu lösen ist. Er hat neben der predigt sehr viel mehr zu tun als die Pastoren alter Seit. Gewiß gibt es heute noch Dorfgemeinden von weniger als 500, ja von weniger als 200 Mitgliedern; da hat der Pfarrer zu wenig zu tun, wenn er nicht nebenher wissenschaftlich arbeitet oder in der Wohlfahrtspflege tätig ist, z. B. als Berater von Kaiffeisenkassen oder sonst in einer gemeinnützigen Tätigkeit steht. Aber die Pfarrer in Großstädten und Sndustriebezirken sind mit Amtshandlungen, mit Begräbnissen, Trauungen, Taufen, daneben mit Konfirmanden- oder sonstigem Religionsunterricht, besonders mit kirchlicher Vereinsarbeit so überlastet, daß sie keine Seit haben, in erwünschtem Umfange mit den Gemeindegliedern persönliche Fühlung zu suchen (außer bei den Anlässen, die durch solche Amtshandlung gegeben sind). Und mancher, der es sehr ernst damit nahm, Hausbesuche zu machen, Seelsorge zu treiben, ist rasch über die Grenzen seiner Kraft gegangen, und mancher, der in einer Großstadt eine (man möchte fast sagen: eine sogenannte) Gemeinde von mehr als zehntausend Seelen hat, steht immer unter dem Druck, daß die Last der Amtspflichten zu schwer ist für seine Schultern, daß er überhaupt nicht recht zu dem kommt, was seine eigentlichste Aufgabe wäre, zur Seelsorge, von dem sich mehrenden Schreibwerk, das die Behörden fordern, ist dabei noch ganz abgesehen. Das Gerede, daß der Pfarrer die ganze Woche hindurch nichts zu tun habe als seine Predigt für den Sonntag zu machen, wird an den meisten Grten allmählich von allen Einsichtigen als so töricht erkannt, daß es verstummt. Dies alles bedeutet aber: mehr und mehr Pfarrer haben heute keine ausreichende Seit, ihre Predigten auszuarbeiten. Andrerseits wird jedoch die Aufgabe der Predigt meist so gefaßt, daß das predigen sehr viel schwerer wird, vor einem Menschenalter hat, als einige Pfarrer angegriffen wurden, weil sie kritisch-theologische An­ sichten auf die Kanzel gebracht hatten, namentlich Sülze eindringlich gefordert, man solle Religion, nicht Theologie predigen. Ist man in kirchlich-konservativen Kreisen besonders empfindlich dagegen, daß

Pfarrer kritische Theologie auf die Kanzel bringen, so soll allerdings billiger Weise nicht verkannt werden, wie viele Vertreter kritischer Theologie sich redlich bemüht haben, positiv religiös, nur religiös zu predigen. Ein Buch wie Wilhelm Herrmanns „Verkehr des Christen mit Gott" (7. Ausl. 1921), als Anleitung zum rechten predigen gemeint oder doch als solche wirksam, ist nicht umsonst geschrieben worden. Buch braucht kaum vor dem Mißverständnis gewarnt zu werden, mit der Forderung, Religion zu predigen, nicht Theologie, sei gemeint, daß man auf der Kanzel sich lediglich in Gefühlen be­ wegen solle. Der evangelische Prediger ist Kein Derwisch. Gewitz ist es schön, wenn einer das Bedürfnis hat sich vor der Gemeinde be­ geistert auszusprechen, aber der erste Zweck der predigt ist doch nicht, datz der Pfarrer seinen christlichen Gefühlen Ausdruck gebe, sondern datz die Gemeinde sich eine Lehre für herz und Sinn daraus mit fort nehme.

Trotzdem sind die Schwierigkeiten, die in der Forderung: „predigt Religion, nicht Theologie!" liegen, grotz. Dem Philosophen Kant wurde, als er schon lange Jahre autzerordentlicher Professor gewesen war, eine ordentliche Professur angetragen, nämlich die der Poetik. Richt das wird ihm sonderlich unangenehm gewesen sein, Vorlesungen über Dichtkunst halten zu sollen. (Er besatz verstand und ästhetischen Geschmack genug und würde dies besser gemacht haben als mancher Andere. Aber mit der Professur war die Verpflichtung verbunden, zu Königs Geburts­ tag, bei freudigen Ereignissen in der königlichen Familie usw. ein Gedicht zu verfertigen. Das war zuviel für Kant. Er schlug die Profesiur aus. Jedermann wird seinen Entschluß ehren. Die allermeisten Sterblichen Können sich eben nicht auf Kommando begeistern. (Es ist überhaupt unschön und stets eine große Versuchung, wenn von einem Menschen von Amtswegen verlangt wird, er solle zu bestimmten Zeiten bestimmten Gefühlsregungen Ausdruck geben,- vom religiösen Redner wird ver­ langt, er solle jeden Sonntag mindestens einmal, dazu noch mehrfach in der Woche, alljährlich mindestens hundert mal Religion predigen. Man wird selbstverständlich einwenden, es liege hier doch ein ungeheurer Unterschied vor; bei der predigt komme es durchaus nicht auf künstlerische, künstliche Form an. Aber um Begeisterung handelt es sich beim Dichter wie beim religiösen Redner, und der Geist weht, wann er will, und nicht wenn es die Ordnung des Kirchenjahres und des gottesdienstlichen Lebens der Landeskirche will. Run sagt man: der wirklich fromme Mensch denkt täglich an das, was er mit seinem Gott erlebt hat, und zu der Lebendigkeit und Geschäftigkeit des Glaubens gehört auch, datz er sich Andern mitzu­ teilen strebt. Gewitz, aber es ist etwas ganz Anderes, wenn man

14 seines Gottes froh ist, wenn einem das herz von solcher Freude voll ist, davon zu Freunden und Schülern zu reden, und - regelmäßig an bestimmten Tagen und Stunden zu Leuten, unter denen vielleicht viele Fremde sind, religiös zu reden. Man bedenke nur, was im Begriff des Redens aus religiösem Drang heraus liegt: kein Wort darf gesprochen werden, das man nicht ebenso Anderen zu sagen sich gedrungen fühlen würde, wenn nicht der Sonntag herangekommen wäre und man wieder einmal eine Predigt machen müßte. Ts gibt Prediger von Gottes Gnaden, die, ohne sich allzusehr auszugeben, ohne innerlich ärmer zu werden, jahraus jahrein fast allsonntäglich in unerschöpflicher Lebendigkeit neu und anregend zu ihrer Gemeinde vom Christentum sprechen. Mancher junge Pfarrer indessen empfindet es als besonders schwer, allwöchentlich zu predigen; aber liegt, wenn es ihm mit den Jahren leichter wird, dies immer daran, daß sein Glaube stärker geworden ist, und nicht bisweilen vielmehr daran, daß der Mann stumpfer geworden ist? Manchem wird das häufige predigen mit den Jahren geradezu immer schwerer. Wes das herz voll ist, des geht der Mund über; aber kann es immer voll sein? Und wenn der Mund zu oft übergeht, wenn wir zu oft feierlich reden muffen, kann das herz leer werden. Erfahrungen dieser Rrt sind auch gewaltigen Predigern vergangener Zeit, großen Gottesmännern nicht ganz fremd geblieben. Ja, man darf vielleicht die Frage stellen: wie würde es geworden sein, wenn Jesus nicht nur ein Jahr (oder drei Jahre), sondern Jahrzehnte lang hätte öffent­ lich wirken und reden können? wahrscheinlich hätte ihn das Reden immer weniger befriedigt, allerdings nicht aus Mangel an innerer Rraft, sondern weil in seiner Seele ein Feuer loderte, ein ungestümer Wille zur Tat lebte, der Wille, daß die Welt anders werde, vielen von uns macht es vielmehr der Mangel an innerer Kraft schwer, immer wieder zu predigen; aber soll man nicht solchen Mangel ehrlich eingestehen? Ich führe wenigstens ein solches Eingeständnis an, das ich vor Kurzem las; es stammt von einem, der sicher kein schlechter Pfarrer, kein unwirksamer Prediger ist. Im „Tagebuch eines Großstadtpfarrers" (Berlin, Furche-Verlag, 4. Rufi. 1929, S. 21) heißt es: „Gestern nachmittag lag ich am Wattenmeer. Meilenweit tritt das waffer zurück. Sand, wüste, tot — und war doch vor sechs Stunden Leben, Bewegung, Wucht, Kraft, Schwung. Vie Natur ruht aus, wie die Blumen in der Nacht ruhen. Nur der Pfarrer soll Sonntag für Sonntag, immer Flut sein, immer Bewegung, immer Kraft, immer Schwung, welch eine Unnatur! Der Prophet spricht, wenn Gottes Wille ihn treibt, der Pfarrer, wenn der gregorianische Kalender auf Sonntag und die Uhr auf zehn steht. Kann das noch Reden-Müffen sein? Aber

ich weiß keinen Ausweg aus unserem Religions-Betrieb. Ulan kann sich eigentlich nur wundern, daß noch so viel Menschen bei den sonn­ täglichen Ranzelreden getroffen werden." Nun, ob es Keinen Ausweg gibt, davon wird nachher die Rede sein. Zunächst einmal soll man solche Geständnisse jedenfalls sehr ernst nehmen. Ich möchte allerdings der überlieferten Predigtpraxis alle Gerechtigkeit widerfahren lassen, will also einräumen: es gibt Prediger von Gottes Gnaden, die Jahre, Jahrzehnte hindurch allsonntäglich dieselben religiösen Grundgedanken vortragen, und weder sie noch ihre Hörer werden es müde. Ulan wünscht, sie sprächen noch öfter. (Es mag Erweckungsprediger von dieser Art geben. (Es gibt solche Prediger heute auch unter derjenigen Theologengruppe, deren Wort­ führer KatI Barth ist. Herrmann hat einmal gesagt, er könne nicht predigen wie Heinrich Hoffmann oder Robertson, und arbeite deshalb in dem bescheidneren Beruf des Professors, würde er regelmäßig gepredigt haben, so hätte auch er - das werden viele meinen — gewiß auf der Ranzel dieselben Grundgedanken immer wieder vor­ getragen, die man aus seinen Büchern kennt; er hätte einseitig gepredigt, aber ohne eintönig zu werden. Andere Prediger, die sich bemühen, lebendig, eindringlich, praktisch, nicht lehrhaft zu predigen, können jedoch dabei nicht in der Weise der eben genannten Männer immer nur von bestimmten Grundwahr­ heiten zeugen. Sie suchen vielmehr die Gedanken des Christentums auf die verschiedenen konkreten Zustände und Fragen des Lebens an­ zuwenden. Aber wie leicht wird dann (zwar nicht Dogmatik, nicht Theologie in diesem Sinne, jedoch) Moral gepredigt! Wir nehmen das an unzähligen predigten von Rationalisten vor hundert Jahren wahr. Diese Predigten waren zum Teil in ihrer Art gar nicht schlecht, und es gibt in unseren Tagen predigten wesentlich moralischen Inhalts von so wuchtigem Ernst, so feiner Einsicht in die Psychologie des Bösen, so viel Geschick in Aufsuchung und Anwendung der Motive zum Guten, daß sie hoch über dürren dogmatischen predigten stehen. Und doch hat man das Gefühl: wird immer oder auch nur meist so gepredigt, dann entspricht das nicht der eigentlichen Aufgabe der Verkündigung des Christentums. Wir sollen Religion predigen, wir sollen das Innerste des Christentums predigen, prägen wir sittliche Mahnungen ein, so besteht für solche predigt die große Schwierig­ keit, daß das Moralische sich im Grunde von selbst versteht; moralische predigt wird leicht langweilig wie moralische Dichtung, und jede gute Predigt soll etwas von Dichtung an sich haben. Wollen wir aber diese Klippe vermeiden, eigentlich religiös predigen, so ist die Not für die allermeisten Prediger die, daß sie keine Propheten sind. Gott hat vor Zeiten zu den Vätern geredet durch die Propheten

16 und tut es noch heute durch Propheten unserer Tage: aber solches Gotteswort ist dem Menschen etwas Außerordentliches, das Außer­ ordentlichste. Unsere predigt dagegen ist etwas Regelmäßiges, etwas sehr Gewöhnliches geworden. So kann sie nicht als Gottes Wort in jenem erhabenen Sinne empfunden werden. Warum ist unsere Zeit so gottverlassen?

Ls ist früher auch nicht anders gewesen. Man weiß, wie zwar in der Urchristenheit mit religiöser Rede Jeder auftrat, der den Drang dazu in sich fühlte, wie dann aber allmählich die Gabe der Rede nur bei dem vorausgesetzt und das Recht der Rede nur denen gewährt wurde, die — teilweise eben, weil sie sich als Sprecher bewährt hatten — bestimmte kirchliche Ämter bekleideten.

Aber eben damit war die Rirche vor eine schwere Entscheidung gestellt. Inhaber bestimmter Ämter braucht man immer und überall; Leute, die von Gott die Gabe religiöser Rede bekommen haben, hat man nicht immer und überall. 3m Ratholizismus sind Unzählige im Vollzug priesterlicher Tätigkeiten geschult worden, in diesem Sinne zum Priestertum vorgebildet worden, die keineswegs die Gabe religiöser Rede hatten. Das ist deshalb nicht schlimm, weil die Hauptaufgabe des Priesters nicht die predigt, sondern das Messelesen ist. 3m Protestantismus trat indessen das Zeremoniell zurück. Lr wollte von vorn herein Glaubens- und Gesinnungsreligion fein, hier Kommt es auf geistige Wirkungen an-, das Wort Gottes soll unser herz und Leben regieren. Das hören religiöser Rede und das Lesen in der Bibel, im Katechismus, im Gesangbuch gewinnen entscheidende Bedeutung. Das religiöse Leben darf nicht etwa den Tharakter wild wachsender Begeisterung tragen, subjektiver Einfälle, sondern man verläßt sich darauf, daß uns Gottes Wort in der Bibel gegeben ist. Vie ältere protestantische predigt hat von Anfang an Schriftaus­ legung sein wollen. 3ur Schriftauslegung aber gehört die Zähigkeit, das Wort recht auszulegen, gehören Sach- und Sprachkenntnisse, Verständnis des Urtextes der Bibel. 3m Gegensatz zum katholischen Priestertum der von den Bischöfen Geweihten lehrt Luther zwar allgemeines Priestertum; jede christliche Gemeinde Könnte einen aus ihrer Mitte, der würdig und geeignet ist, zum Pfarrer wählen und weihen. Ls ist aber eben nicht jeder geeignet, und ist der Pfarrer minister verbi divini, Diener des göttlichen Wortes, Bibelausleger, so ist die gegebene Vorbereitung zum Pfarramt das Bibelstudium aus dem Urtext. Solches Studium wollte die ältere protestantische Theologie im Wesentlichen sein; alles andre, was sie noch umfaßte, war, grundsätzlich angesehen, nur Hilfsmittel zu diesem Zweck.

Indessen, schon der Pietismus hat es empfunden: es hat keines­ wegs jeder, der auf Hochschulen Theologie studiert hat, deshalb die rechte Befähigung zu christlicher predigt. Vie Theologie der alt­ protestantischen Orthodoxie war tatsächlich doch nicht so sehr Schrift­ forschung als Dogmatik, Polemik usw. Der Pietismus trieb wieder mit allem Ernst Bibelforschung, betonte, daß keineswegs jeder, der auf der Universität rechtgläubige Theologie studiert, die reine Lehre gelernt hatte, deshalb schon ein rechter Prediger sei. Ulan könne Theologie studieren, ohne im herzen ein Thrift zu werden, ohne wiedergeboren zu sein, und von solcher theologia irregenitorum, der theologischen Wissenschaft der Unwiedergeborenen, hielten die Pietisten nichts. Uber wenn sie erbauliches Bibelstudium trieben, so liegt in solchem eine Spannung. Vie beiden Stücke, das wissenschaftliche Studium und die erbauliche Anwendung, sind ihrer Natur nach ver­ schieden, und beim Studium der Theologie auf Hochschulen wird immer die wissenschaftliche Arbeit stärker sein. Venn erbauliche Bibelauslegung gibt es auch außerhalb der Universität; um sie zu treiben, braucht man den Urtext überhaupt nicht zu kennen. Was aber auf der Universität sonst getrieben wird, ist wissenschaftliche Forschung. So wirkt der Geist der andren Fakultäten auf die Theo­ logie hinüber. 3n Wechselwirkung mit Historikern und Philologen treibt der Theolog auf der Universität kritische Bibelforschung, und der Geist seiner Bibelforschung steht natürlich in Wechselwirkung mit ebensolchem kritischen Sinn in Religionsphilosophie, Dogmatik, Ethik, praktischer Theologie. Vas ist die Wissenschaft, die in unsrem landes­ kirchlichen Protestantismus der künftige Pfarrer studiert, und wenn die Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts bei weitem nicht so kritisch war wie die des 19. und 20., so lag sie doch infolge der damals sehr gründlichen formal-logischen Schulung, z. T. auch infolge der Anhäufung systematisch-polemischen wissens, ungefähr ebenso weit ab von der Aufgabe des Pfarrers, unmittelbar religiös zu reden, wie die heutige kritische theologische Wissenschaft. Vie predigt jener Zeit hat denn auch gar nicht in dem Sinne die Aufgabe und die Absicht gehabt, Religion zu predigen, in dem das heute oft gefordert wird. Sie war vielmehr in erster Linie Belehrung, wie denn die Religion selbst damals lehrhafter verstanden wurde, als uns das heute richtig scheint. Vie altprotestantische Ortho­ doxie hat tatsächlich (die Formeln, die sie brauchte, sind hier weniger wichtig) Religion und Theologie nicht so sehr unterschieden, wie das dann der Pietismus und in ihrer Weise auch die Aufklärung taten und wie wir es seit Schleiermacher zu tun gewohnt sind, welche Rolle hat der Elenchus, die Widerlegung abweichender Ansichten, in der

18 altprotestantischen Predigt gespielt! Das bekannte Wort, daß jede predigt zwei Teile habe,

„den einen niemand verstehen kann, den andern aber verstehet man", geht auf diese in vielen predigten mit großer Gelehrsamkeit, mit einer Menge lateinischer und griechischer Wörter zunächst vorgenommene Abwehr falscher Lehre. (Eine Fülle von Wissen um religiöse oder mit der Religion zusammenhängende Dinge ist in der predigt jener Zeit dargeboten worden, entsprechend der Tatsache, daß die predigt die einzige regelmäßige Belehrung der weitesten Volkskreise war, ins­ besondere auch der Religionsunterricht bei weitem noch nicht so sicher alle Heranwachsenden erreichte, wie im 19. Jahrhundert.

Und da für viele Gemeinden namentlich auf dem Lande der Gottesdienst die einzige regelmäßige Zusammenkunft war, Selbst­ verwaltung für die Landgemeinden kaum bestand und die Religions­ pflege, die kirchliche predigt obrigkeitlich angeordnet war, so war es nur natürlich, daß nicht nur die predigt zur sittlichen Volks­ erziehung benutzt wurde - dahin gehört es, daß regelmäßig die Heiligkeit des Schwurs durch Eidespredigten den Leuten eingeprägt werden sollte —, sondern im Gottesdienst auch eine Menge obrig­ keitlicher Bekanntmachungen und Verordnungen den Hörern mit­ zuteilen waren. Ernste Prediger haben es zwar als unerbaulich und störend empfunden, wenn sie jährlich bei bestimmten Gelegenheiten die landesväterlichen Edikte über die Wollausfuhr, über das Anhalten der Postillone auf Nebenwegen usw. vorzulesen hatten; aber das war Vorschrift. (Es ist keine Rede davon, daß jene Zeit den Gottes­ dienst rein als eine Stunde feierlicher Erhebung des Gemüts an­ gesehen und als Aufgabe der predigt es hingestellt hätte, daß man Religion, nicht Theologie predige. Man hatte im allgemeinen nicht unser Empfinden, daß sowohl eine dogmatische oder religionsphilo­ sophische Erörterung, als auch andrerseits eine moralische Mahnrede nicht der eigentlichen, der innersten, der Hauptaufgabe der predigt entspreche. Nein, noch im 18. Jahrhundert war die Religion Lehre, war die „natürliche Theologie" eine Wifienschast, der Gottes- und Unsterblichkeitsglaube der rational demonstrierte Abschluß der Welt­ erkenntnis; daneben aber war dieser wifienschaftlich erwiesene Glaube auch noch (so seltsam uns die Verbindung dieser Dinge erscheinen mag) polizeilich geschützt, obrigkeitlich vorgeschrieben, d. h. es wurde nicht nur der Atheismus, sondern auch die Retzerei, die Abweichung von der „reinen Lehre" in altprotestantischer Zeit vom Landesherrn nicht geduldet. War die Religion so mit der Wifienschast verwachsen und zugleich ein Stück der öffentlichen Rechtsordnung, so konnte es

gar nicht als Aufgabe der Predigt gelten, Frömmigkeit zu pflegen und nicht Theologie, das eigentlich religiöse Leben zu fördern noch abgesehen von seinen sittlichen Wirkungen. viele sind freilich schon damals von der Predigt in dem Maße nicht befriedigt worden, als sie Dogmatik und Moral darbot statt lebendigen religiösen Seugniffes. 3m 19. Jahrhundert haben viele solche schlichte Christen, von der landeskirchlichen predigt nicht er­ wärmt, sich Freikirchen angeschlossen. Die Abneigung gegen gelehrte predigt der Theologen ist eins der Hauptmotive zur Sektenbildung und zum Anschluß an Sekten. Und in neuerer Zeit wird auch in landeskirchlichen Kreisen das Problem, um das es sich hier handelt, schärfer empfunden. Entspricht es der eigentlichen Aufgabe des Predigers, daß seine Berufsvorbereitung in theologischem Studium liegt? Das Sprichwort: „wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch verstand", gebrauchen wir in der Mehrzahl der Fälle ironisch; da nun aber religiöse Kraft und Begeisterung nach unseren Begriffen etwas noch höheres und Selteneres als verstand ist, er­ scheint es uns noch fragwürdiger, ob Gott dem, der ein kirchliches Amt bekommt, auch immer religiöse Kraft geben wird. Mit dem Amte ist wahrlich nicht immer auch der Geist gegeben. Und wenn die religiöse Rede, die in der Urchristenheit das Charisma gotterfüllter Leute war, bei uns zum Amt, zur regelmäßigen Tätigkeit in einem Berufe geworden ist, für dessen Ausübung die Kirche die Vorbereitung im hören theologischer Vorlesungen und der Ablegung bestimmter Prüfungen sieht, so haben wir alle das Empfinden: wer von der Examenskommission die licentia concionandi, die Befugnis zum predigen zugesprochen erhält, die theologische Kandidatenprüfung besteht, der hat, wenn er ein ernster Mensch ist, vor seinem eigenen Gewissen. noch lange nicht die Befugnis und die rechte Fähigkeit, Christen Gottes Wort zu verkünden; er hat, religiös gesprochen, noch länge nicht von Gott die vollmackt zum Beruf des Predigers.

4. Vie Mannigfaltigkeit der religiösen Denkweise im Protestantismus. weil neben die Predigt eine Fülle weiterer geistiger Nahrung für weiteste Volkskreise getreten ist, kann der Hörer den predigten heute nicht leicht dasselbe Interesse entgegenbringen, wie das vor Zeiten möglich war. weil die Amtspflichten sich vermehrt haben und die Aufgabe der predigt heute anders gefaßt wird als früher, weil man von ihr erwartet, daß sie Religion, nicht Theologie barbiete,

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hat der Prediger es schwerer. Für beide, Prediger wie Hörer, bringt weitere Schwierigkeiten die innere Entwicklung mit sich, die der Protestantismus seit dem 18. Jhd. durchgemacht hat. Die religiöse Denkweise und die theologischen Anschauungen sind im Protestantismus immer mannigfaltiger geworden. Nicht als ob die Hörer in alter Seit, im 16. und 17. Jhd. ihren Predigern Alles geglaubt hätten. Unglaube, praktischen Materialismus hat es auch in jener Seit gegeben, natürlich hier und da auch Sweifel an einigen als besonders merkwürdig empfundenen biblischen Wundergeschichten oder als besonders widerspruchsvoll empfundenen kirchlichen Dogmen (z. B. der vreieinigkeitslehre). Aber aufs Ganze gesehen hatte der Pfarrer den Leuten gegenüber die Autorität seines heiligen Amts und die Autorität des Fachgelehrten in reliösen Dingen. Er konnte sie haben, weil alle Pfarrer des Landes einerlei Lehre zu vertreten pflegten, wie im Katholizismus das Dogma auf die Autorität der Kirche hin angenommen wird, so gab es im älteren Protestantismus noch so gut wie keine individuellen theologischen Ansichten. Man folgte den Führern und Meistern, Luther, Melanchthon, Swingli, Calvin und denen, die ihr Werk fortsetzten. Seit der Seit der Aufklärung ist das anders geworden. Die Bibel gilt nicht mehr als buchstäblich unfehlbar, als wörtlich vom heiligen Geist eingegeben, als in sich ganz einheitlich. Und wenn auch jeder evangelische Theolog in entscheidenden religiösen Gedanken mit der Bibel übereinstimmt (sonst hätte er alle Fühlung mit dem geschichtlichen Thristentum verloren), so ist doch das Matz sehr ver­ schieden, in dem die evangelischen Theologen unserer Tage, namentlich auch die deutschen, mit der biblischen Gedankenwelt und mit der alt­ protestantischen Kirchenlehre übereinstimmen, hatte in den Tagen der Aufklärung eine allgemeine duldsame Stimmung, eine vorwiegend moralistische Denkweise es den meisten noch nicht zum Bewußtsein kommen lassen, wie weit sie sich von der Lehre der Väter entfernt hatten und wie sehr die Theologen unter sich uneins geworden waren, so ist das im 19. Jahrhundert anders geworden. Starker Wille, zum Glauben und zur Lehre der Väter zurückzulenken, hat sich, in den deutschen evangelischen Landeskirchen wie auch anderwärts, zwar teilweise, aber keineswegs ganz durchsetzen können, und so ist das Bewußtsein davon, daß scharfe theologische und religiöse Gegen­ sätze den heutigen Protestantismus durchziehen, in weite Kreise der Gemeinden gedrungen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts sind die (Ergebnisse kritischer theologischer Forschung mehr als früher durch eine Fülle von gemeinverständlichen Schriften und Vorträgen ver­ breitet worden, mit Interesse namentlich von der Lehrerschaft aus­ genommen. Swar gibt es noch Gemeinden, in denen man kaum

etwas von theologischen Meinungsverschiedenheiten und kirchen­ politischen Gegensätzen weiß. Aber diese Gemeinden umfassen nur noch einen immer kleineren Teil unseres Volkes. Weil entweder die Gemeinschaftsbewegung von ihrer Art des Lhristentums her einen scharfen Gegensatz gegen die nicht zu ihr gehörigen Pfarrer empfindet und bekundet, oder aber Pfarrer, Lehrer (oder wer es sonst sei) ihre kritischen Anschauungen offen den überlieferten gegenüberstellen, wird der Prediger (stehe er wie er wolle), soweit er in seinen predigten überhaupt auf umstrittene Dinge eingeht, immer nur bei einem Teil der Hörer Zustimmung finden, von rechts her wird gesagt: „Vie Gemeinden würden oft im schlichten Glauben der Väter glücklich weiterleben, wenn nicht manche Pfarrer ihnen ihre kritisch-theolo­ gischen vermeintlichen Erkenntnisse aufdrängen wollten." von links her wird erwidert: „Wo die Pfarrer orthodox predigen, bleiben weiteste Kreise der Gemeinden aus den Gottesdiensten weg, weil sie nicht mehr glauben können, was da gepredigt wird." Stehe es nun im einzelnen Falle wie es mag, die Schwierigkeit, daß in unseren Gemeinden keine Glaubenseinheit (im Sinne der Übereinstimmung der religiösen Anschauungen) mehr besteht, wird von vielen gewissen­ haften Predigern bitter empfunden. Daß man diese Not ganz umgehe, indem man in der predigt nur rein religiöse Gedanken darbietet, gar nicht aus theologische Streitfragen eingeht, das ist kaum möglich. Selbst bei solchen Fragen, die wahrlich von stärkstem praktisch-religiösem Interesse sind, wie dem Problem, ob sich das Leid in der Welt mit dem Glauben an Gottes allmächtige Güte verträgt, oder bei dem Problem der Gebetserhörung, kann man von der Verschiedenheit der Ansichten doch nicht ganz schweigen. Unzählige Christen sind überzeugt, Gott ändere um unserer Gebete willen den Weltlauf; viele andre Christen aber meinen, diese Vorstellung sei nicht nur ungereimt, sondern auch unfromm; bekanntlich hat nicht nur Schleiermacher sich gegen jene landläufige Denkweise gewendet, sondern auch ein so gewaltiger christlicher Prediger wie Robertson. Über diesen Gegensatz läßt sich der nach­ denkende Hörer, wenn er ihn einmal erkannt hat, nicht mit warm­ herzigen Mahnungen zum Gebet hinwegtragen. Mag der Hörer die letzte Entscheidung selbst treffen wollen, nach bestem wissen und Gewiffen selbst treffen müssen, er will doch erfahren, wie der Prediger zu der Frage steht. Nun gibt es zwar nicht wenige evangelische Christen, die, weil sie sich an vielen Punkten erst eine Überzeugung bilden wollen, zu dem nächsten Prediger gehen, gleichviel welche Theologie er vertreten mag. (Es gibt auch solche, die, selbst eine feste Überzeugung besitzend, doch Verständnis und Achtung für ab­ weichende Denkweise anderer Christen haben und deshalb gern einen

22 andersdenkenden Prediger hören, also zu dem Pfarrer ihres Bezirks auch dann gehen, wenn ihnen seine theologischen Ansichten nicht richtig scheinen. (Es gibt endlich viele evangelische Christen — sie mögen noch heute die größte Zahl der Kirchgänger bei uns ausmachen — die ein Gefühl der Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinde, ein Bewußtsein der Verpflichtung gegen ihre Gemeinde haben und deshalb, auch wenn sie (wie es in größeren Städten gewöhnlich der Fall sein wird), ohne Mühe in eine andre Kirche zu andern Pfarrern gehen Könnten, doch zu den Pfarrern ihrer Gemeinde, zu dem Prediger ihres Be­ zirks in die Kirche gehen; soweit dieser Prediger ihnen seiner Persönlichkeit oder seiner Predigtweise oder Theologie nach nicht ganz zusagt, vermögen sie darüber hinwegzusehen. Aber daneben ist die Zahl derer doch recht groß (und sie wird voraussichtlich noch zunehmen), die den Prediger ihrer Gemeinde, ihres Bezirks deshalb nicht hören mögen oder nur selten hören, weil sie an wichtigen Punkten anders denken als er.

5. Vie Verbindung von Predigt und Liturgie. Zuletzt sei noch eine Schwierigkeit erwähnt, die in theologischen Büchern und Zeitschriften schon öfter behandelt worden ist: die regelmäßige Verbindung der predigt mit anderen kultischen Stücken, mit Liturgie, Gemeindegesang, Kirchenmusik. 3n den meisten refor­ mierten Gebieten gibt es nun zwar überhaupt nur wenig Liturgie; auch in einigen lutherischen wie in Württemberg ist sie wenig aus­ gebildet. Und in denjenigen lutherischen Ländern, wo der Vormittags­ gottesdienst eine reichere Liturgie hat, sind manche Abendfeiern schlichter. Trotz alledem herrscht die Verbindung der predigt mit Liturgie, Gemeindegesang usw. vor, und eben diese Ver­ bindung hat Nachteile. (Es kommt zwar auch sonst vor, bei Dichter-Gedächtnis-Abenden, vaterländischen Feiern und bergt, daß ein Vortrag von Gesang, Deklamationen oder Instrumentalmusik umrahmt ist. Ungleich häufiger sind aber die Veranstaltungen, bei denen nur Musik oder nur eine Rede dargeboten wird, Konzerte einesteils, belehrende Vorträge andrerseits, viele empfinden deshalb, vielleicht halb unbewußt, die Verbindung von predigt und Musik als etwas Sonderbares. Natürlich kann man sagen: „sie ist nichts Sonderbares, sondern nur etwas Besonderes d. h. etwas der Sonderstellung, der (Eigenart der Religion gerade Entsprechendes". Bei religiösen Darbietungen werden normaler­ weise ein belehrendes und ein ästhetisches Element verbunden sein, und mag der katholische Kult dem Protestanten oft allzusehr auf wesent-

lich ästhetische Wirkungen eingestellt scheinen, die Messe nach Voltaires Wort die