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Leben ist mehr
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Leben ist mehr Das Lebenswissen der Religionen und die Frage nach dem Sinn des Lebens

Einführungen von Anand Nayak, Detlef Kantowsky, Albert H. Friedlander, Dietmar Mieth, Ursula Spuler-Stegemann Vorwort von Carl Friedrich von Weizsäcker Herausgegeben von Rudolf Walter

HERDER

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H E R D E R Spektrum Band 5924 Das Buch „Die Frage nach dem Lebenswissen der großen Religionen wird eine Kernfrage des kommenden Jahrhunderts sein, wenn die Menschheit überleben will" (Carl Friedrich von Weizsäcker). Es genügt nicht mehr, nur Teilbereiche des Lebens wahrzunehmen. Wir müssen versuchen, das Ganze in den Blick zu nehmen. Die wirklichen Bedürfnisse des Menschen gehen unter, wenn eine Gesellschaft nur noch auf Leistung und Konkurrenz, auf technische Effizienz und ökonomische Kalkulation gründet. Viele machen heute die Erfahrung, dass sie ständig rotieren - und dass doch die Mitte fehlt. Dass Karriere und Konto stimmen und dass doch etwas Entscheidendes nicht da ist. Was macht das Leben einzigartig und lebenswert? Wer bin ich eigentlich? Was muss ich tun, um nicht zu verschwinden im Sog der Ansprüche anderer? Was ist mit meinen tiefsitzenden Ängsten, mit meinen großen Hoffnungen? Wie gibt es Frieden, Glück, nicht nur für mich, sondern auch für andere? Fragen, die alle angehen und für die es keine vorgefertigten selbstverständlichen Lösungen mehr gibt. Die großen Religionen bieten eine überraschende Alternative - immer wieder, immer noch. Ihre praktische Weisheit, ihre tieferen Einsichten, ihr ganz konkretes Lebenswissen wurden zu rasch verdrängt und zu schnell vergessen. Im Vertrauten neue Aspekte zu finden und im vergessen Geglaubten Neues zu entdecken, das uns alle angeht - dazu lädt dieser Band ein, in dem überzeugende Menschen von ihrer Lebensleidenschaft erzählen, von ihren Erfahrungen, von Fenstern zum Himmel und von Türen zur Welt. Ein Buch, das zeigt: Wer die Mitte seines Lebens sucht, kann heute anfangen, sie zu finden. Der Herausgeber Rudolf Walter, Dr. phil, Dipl. theo!., lebt in Freiburg.

Jubiläumsausgabe 2007 Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany © für diese Ausgabe Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2007 www.herder.de Satz: Dtp-Satzservice R?ter Huber, Freiburg Herstellung: fgb • freiburger graphische betriebe 2007 www.fgb.de Umschlaggestaltung und Konzeption: R-M-E München /Roland Eschlbeck, LianaTuchel Umschlagmotiv: © Corbis ISBN 978-3-451-05924-7

Inhalt

Vorwort von Carl Friedrich von Weizsäcker

11

Hinduismus Einführung Von Anand Nayak

20

Wahrlich, die ganze Welt ist Brahman Weltseele (Brahman) und erkennende Einzelseele (Atman) Aus den Upanishaden

27

Die Erscheinung des göttlichen Krishna Aus der Bhagavadgita

30

Wo Freude ihre Feste feiert Gedichte und Lieder von Rabindranath Tagore

35

Ichsucht ist wie eine Wolke der Geist wie ein tollgewordener Elefant Gespräche des Sri Ramakrishna mit seinen Schülern

...

40

Das Leben eines indischen Heiligen Swami Vivekananda (1863-1902) von Martin Kämpchen

49

Nicht-Gewalt, Mitleid und Spiritualität von Mahatma Gandhi

58

Buddhismus Einführung von Detlef Kantowsky

68

Der Weg des Buddha Buddhistische Texte der Frühzeit gesammelt von Mircea Eliade

74

Existenz im Daseinskreislauf Abhängige Existenz und Schulung des Geistes von Geshe Rabten

85

Befreiung aus dem Gefängnis des Geistes Einbruch des Spirituellen in die Welt des Verstandes von Daisetz T. Suzuki

93

Entwicklung von geistiger Ruhe Meditation als Weg zur Läuterung des Verhaltens von S. H. Dalai Lama

101

Lachen im Zen Befreiung vom inneren Druck des Ego von Katsuki Sekida

114

„Der Weg - was ist das?" Zengeschichten

120

Koans Begegnung mit dem unverhüllten Dasein von Katsuki Sekida

123

Der schützende Baum der gegenseitigen Abhängigkeit Mitgefühl und Verantwortung für die Umwelt von S. H. Dalai Lama

129

Die Schildkröte und der Fisch Gespräch zwischen Detlef Kantowsky und Nyanaponika Mahathera

136

Judentum Einführung von Albert H. Friedlander

142

Die Stimme vom Sinai - Das Ethos der Gebote Rabbinische Deutungen von Jakob J. Petuchowski

149

Wer kommt in das Himmelreich? Rabbinische Geschichten von Jakob J. Petuchowski

159

Sabbat von Elizabeth Petuchowski

167

Messianisches Mahl von Jakob J. Petuchowski

170

Gott in Bergen-Belsen von Werner Weinberg

174

Der Sabbat ist es, der mir fehlt Was mein Leben verändert hat von Elie Wiesel

181

Christentum Einführung von Dietmar Mieth

189

Am Anfang steht eine Person Die Antwort des Jesus von Nazaret von Heinz Zahrnt

196

Was bringt die Auferstehung Neues? Meine Erfahrung - meine Hoffnung von Jörg Zink

206

Wie soll ich meine Seele retten? Aufrichtige Erzählung eines russischen Pilgers Anonym

210

„Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt..." Einheit von Nächsten- und Gottesliebe von Karl Rahner

218

Ich sehe das Leiden - ich glaube die Liebe Über Mystik und Engagement von Dorothee Solle

224

Die rettende Musik der Ewigkeit Predigt über christlichen Nonkonformismus von Martin Luther King

231

Leben in Fülle Die Hochzeit zu Kana - Meditation über ein Wunder Jesu von Eugen Drewermann 238 Ein von niemand mehr gehörtes Signal Meditation über das Verschwinden des Wortes „Gott" von Karl Rahner

243

Islam Einführung von Ursula Spuler-Stegemann

248

„Es gibt keinen Gott außer ihm" Texte des Korans

255

Muhammad - Weg, der zu Gott führt Der Prophet als Vorbild muslimischer Lebensform von Annemarie Schimmel

258

Das Geheimnis der Derwische Über Sufis und ihre Geschichten von Idries Shah

265

Gemeinschaft als Ort der Mystik Bei einer modernen türkischen Derwischbruderschaft von Ursula Spuler-Stegemann

275

Vergangenheitsbeschwörung Der Muslim und die Zeit von Fatima Mernissi

287

Glaubensbekenntnis der Muslim-Brüder

294

Ökumene Gemeinsam können wir Berge versetzen Aus der Erklärung für ein Weltethos

298

Nachwort von Rudolf Walter

306

Quellen

311

Autorenhinweise

9

316

Vorwort von Carl Friedrich von Weizsäcker

Die Frage nach dem Lebenswissen der großen Religionen ist nicht nur Gegenstand des jetzigen Buches. Sie wird, davon bin ich überzeugt, eine Kernfrage des kommenden Jahrhunderts sein, wenn die Menschheit überleben will. Was können wir heute dazu sagen?* Religion geht den ganzen Menschen an, und sie ist nicht ohne Erfahrung zu denken. Wenn ich Gedanken zu Fragen der Religion in unserer Welt äußere, so greife ich zunächst auf meine persönlichen Erfahrungen zurück, Erfahrungen, die mich geprägt haben. Möge der Leser seine eigenen Erfahrungen überprüfen. Zu meinem 12. Geburtstag, im Juni 1924, wünschte ich mir eine drehbare, also auf Tag und Stunde einstellbare Sternkarte. Bald danach gingen wir von Basel, wo mein Vater deutscher Konsul war, für die Sommerferien in die einsame Pension Mont Crosin im Berner Jura. Am Abend des 1. August wurde dort der Schweizer Nationalfeiertag wie üblich mit Höhenfeuern und Raketen begangen. Ein Tanzvergnügen der Pensionsgäste begann mit einer langen Polonäse im Freien. Bei einer der Trennungen der Schlange gelang es mir, meine etwa gleichaltrige Dame zu verlieren. Mit meiner Karte entwich ich von den Menschen in die warme, wunderbare Sternennacht, ganz allein. Das Erlebnis einer solchen Nacht kann man in Worten nicht wiedergeben, wohl aber den Gedanken, der mir aufstieg, als das Erlebnis abklang. In der unaussprechbaren Herrlichkeit des Sternhimmels war irgendwie Gott gegenwärtig. Zugleich aber wusste ich, dass die Sterne Gaskugeln sind, aus Atomen bestehend, die den Gesetzen der Physik genügen.

I >ir Spannung /wischen diesen beiden Wahrheiten kann nicht nn.tuflöslich sein. Wie aber kann man sie lösen? Wäre es möglich, .im Ii in den Gesetzen der Physik einen Abglanz Gottes zu finden? Vielleicht ein Jahr vorher hatte ich begonnen, im Neuen Testament zu lesen. Die Wahrheit der Bergpredigt traf mich und beunruhigte mich tief. Wenn dies wahr war, war mein Leben falsch und vielleicht unser aller Leben. In einem langen Gespräch mit meiner Mutter verteidigte ich bis zu Tränen die Pflicht, den Kriegsdienst zu verweigern, denn es ist geboten: Du sollst nicht töten. In einer nächtlichen Stunde tiefer religiöser Bewegung hatte ich versprochen, dem Dienst Gottes mein Leben zu weihen - vorsichtig fügte ich hinzu: wenn er mich rufen würde. Unter diesem Dienst konnte ich mir nur vorstellen, Pfarrer zu werden, aber ich wünschte mir doch, Astronom zu sein. Mein Zustand hätte vielleicht durch die Formel beschrieben werden können: das moralische Gesetz über mir, der bestirnte Himmel in mir. Ich musste noch lernen, dass, wenn wir zu hören begonnen haben, Gott immer ruft und später, dass Gott nicht über mir ist, auch nicht in mir, sondern ich in Gott. Als 16-Jähriger war ich innerlich nicht mehr an die christliche Kirche gebunden, aber ich kam früh zu der Meinung, es diene zu nichts, den Ort zu verlassen, an den gestellt man sich vorgefunden hat; ich bin stets, und nicht unwillig, Mitglied der lutherischen Kirche geblieben. Aber soviel mich das Neue Testament anging, so wenig ging mich, so schien mir zu meiner Enttäuschung immer wieder, die Kirche an. An den Stellen, an denen ich suchte, in der Ethik und in der Mystik, forderte sie mich nicht; sie mutete mir weder die Bergpredigt noch das Johannes-Evangelium zu. An der Universität hörte ich bei Joachim Wach eine Vorlesung über asiatische Religionen. Ich las die chinesischen Klassiker in Wilhelms Übersetzung, zumal die juwelengleichen kurzen Texte Dschuang Dschis, und die Reden Buddhas in K. E. Neumanns Überset-

zung, die man so langsam lesen muss, dass der Atem dieser Lehre folgt, „deren Anfang begütigt, deren Mitte begütigt, deren Ende begütigt". Ich habe mich seitdem, bei wacher Bewusstheit der tiefen kulturellen Differenzen, im spirituellen Asien selbstverständlicher zu Hause gefühlt als in Europa. Ich wusste: Dort gibt es Menschen, die sehen und sind. Der Königin Friederike von Griechenland verdanke ich die Begegnung mit Prof. Mahadevan aus Madras, der mir die Advaita-Lehre des Vedanta erklärte. Mahadevans Meister war Sri Ramana Maharshi gewesen. Dieser hatte als 16-Jähriger, Brahmanensohn und Schüler einer amerikanischen Missionsschule, ein Todeserlebnis gehabt. Ihm wurde klar: „Was da stirbt, bin nicht ich." Wenige Monate danach entwich er in die Tempelstadt Tiruvannamalai, entledigte sich allen Besitzes und verharrte, nur von erst mitleidigen, dann verehrenden Rassanten genährt, jahrelang in völligem Schweigen, allein mit dem einen Selbst, dessen Gegenwart er war. Später kehrte er zur äußeren Ordnung zum Essen, zum Reden zurück, und um ihn entstand am Fuß eines heiligen Berges ein Ashram. Die in ihm gegenwärtige Seligkeit vermittelte er schweigend, lächelnd, fragend. Diejenigen, die ihn fragten, weil sie in ihm die Gegenwart Gottes sahen, lehrte er fragen: „Wer ist es denn, der fragt: wer bin ich?", um sie dahin zu führen, dass sie sich als dieselbe Gegenwart erkennten. 1950, zwanzig Jahre vor meinem Besuch, war er gestorben. All dies wusste ich, als ich mit Mahadevan nach Tiruvannamalai fuhr. Der Leser möge entschuldigen, dass ich das, was nicht zu schildern ist, nicht eigentlich schildere, und doch davon spreche; denn andernfalls hätte ich diesen Lebensbericht nicht beginnen dürfen. Als ich die Schuhe ausgezogen hatte und im Ashram vor das Grab des Maharshi trat, wusste ich im Blitz: „Ja, das ist es." Eigentlich waren schon alle Fragen beantwortet. Wir erhielten im freundlichen Kreis auf grünen großen Blättern ein wohlschmeckendes Mittagessen. Danach saß ich

neben dem Grab auf dem Steinboden. Das Wissen war da, und in einer halben Stunde war alles geschehen. Ich nahm die Umwelt noch wahr, den harten Sitz, die surrenden Moskitos, das I .icht auf den Steinen. Aber im Flug waren die Schichten, die /.wiebelschalen durchstoßen, die durch Worte nur anzudeuten sind: „Du" - „Ich" - „Ja". Tränen der Seligkeit. Seligkeit ohne Tränen. Ganz behutsam ließ die Erfahrung mich zur Erde zurück. Ich wusste nun, welche Liebe der Sinn der irdischen Liebe ist. Ich wusste alle Gefahren, alle Schrecken, aber in dieser Erfahrung waren sie keine Schrecken. Sollte ich nun immer hier bleiben? Ich sah mich wie eine Metallkugel, die auf eine blanke Metallfläche fällt und, nach der Berührung eines Augenblicks, zurückspringt, woher sie kam. - Ich war jetzt ein völlig anderer geworden: der, der ich immer gewesen war. Wie aber ist mir die Religion begegnet in meiner Existenz als Wissenschaftler, der gelernt hat, historisch zu denken? Was ist Religion, so wie unser modernes Bewusstsein sie noch wahrnehmen kann? Als ich einmal konkreten Anlass hatte, diese Frage ausdrücklich zu stellen, drängten sich mir ohne systematischen Anspruch vier Aspekte der Religion auf: 1. Religion als Träger einer Kultur, 2. Religion als Grund einer radikalen Ethik, 3. Religion als innere Erfahrung, 4. Religion als Theologie. Dies war zunächst beschreibend gemeint. Ich erlaube mir, hier die beschreibende Erläuterung der vier Aspekte aus dem damaligen Vortrag wörtlich zu zitieren: „Religion als Element einer Kultur, ja als Träger einer Kultur war das Christentum in den vergangenen zweitausend Jahren. Religion als Träger einer Kultur formt das soziale Leben, gliedert die Zeiten, bestimmt oder rechtfertigt die Moral, interpretiert die Ängste, gestaltet die Freuden, tröstet die Hilf-

losen, deutet die Welt. Die überlieferte Form dieser Religion ist es, die dem modernen Bewusstsein entgleitet. Religion als Grund einer radikalen Ethik steht kritisch und darum oft verfolgt in ihrer Kultur. Überall, wo man die Bergpredigt oder wenigstens die Zehn Gebote beim Wort genommen hat, war die Religion Grund einer radikalen Ethik. Religion als innere Erfahrung ist in gewisser Weise jedes subjektive Erleben der beiden vorgenannten Momente. Sie ist das bewusste Leben im Glauben. Sie ist aber insbesondere das Gebet, die Meditation, die Mystik. Religion als Theologie ist der Versuch, die Erfahrung der drei anderen Momente gedanklich zu verstehen." Die Menschheitsgeschichte ist ein unvollendetes Weiterschreiten in der sehr kurzen Zeit weniger Jahrtausende. Es ist ungewiss, wohin es führt. Die Totalkatastrophe ist möglich. Eine Vollendung wurde immer wieder erträumt. Die Religion ist unvollendet. Die Aufklärung ist unvollendet. Jede von beiden kann den nächsten Schritt ihrer Verwirklichung nur tun, wenn sie die Wahrheit der anderen voll ernst nimmt. Religion als Träger einer Kultur ist bewahrend, konservativ. Ethik, Erfahrung, Theologie sind durch den Fortschritt bedingt, als sein Motiv oder als die Reaktion auf den Glaubwürdigkeitsverlust der kulturtragenden Religion. Heute ist ein bereits geschehender Schritt der unausweichliche Kontakt der Weltkulturen. Damit begegnen sich auch Religionen unausweichlich. Im Kontakt der Weltkulturen wird Weltfriede zur Lebensbedingung. Friede ist möglich, das zeigt der historische Fortschritt im Inneren der Nationen, streckenweise auch zwischen den Nationen. Aber er ist nicht stabil ohne ein tragendes Ethos. Die großen Religionen haben diese Aufgabe von jeher gesehen. Die „politischen" westlichen Religionen, vordringlich Judentum, recht verstandenes Christentum, Islam, sind diesseitig. Ebenso „weisheitlich" die chinesische Religion. Die in-

dische, „mystische" Religion hat ihren festen Ort in einer von ihr bewahrten, getragenen uralten Sozialordnung. Der Buddhismus hat sich von dieser festen Ordnung gelöst, aber Ordnungen stets anerkannt, ja ermöglicht. Die so verschiedenen Religionen erweisen sich dem genau zusehenden Blick in zwei Bereichen als vereinbar, nicht einfach durch Toleranz, sondern durch Identität des tiefsten Inhalts: in der Ethik und der mystischen Erfahrung. Die Verschiedenheit der interpretierenden Sprachen, wurzelnd in der Verschiedenheit ihres Kulturträgertums, verdeckt noch diese Erkenntnis. Gewisse Prinzipien der Ethik, so die Goldene Regel, sind den großen Religionen gemeinsam. Auf dieser Gemeinsamkeit muss und kann die Arbeit am Weltethos aufbauen. Aber was ist die Wurzel dieser Gemeinsamkeit? In der Bergpredigt kann man drei Schichten unterscheiden: das äußere Gebot des Handelns, überliefert und verschärft aus der Thora; das innere Gebot der Gesinnung, auch das schon bei den Propheten; der Indikativ der Seligpreisungen. Der Indikativ spricht innere Erfahrung aus. In der tiefsten Wurzel ist nicht nur das Ethos, sondern auch die innere Erfahrung der Religionen gemeinsam. Aber diese Gemeinsamkeit sprechen sie meist nicht mehr aus. Für die Lösung der praktischen Probleme der heutigen Menschheit wird man die Übereinstimmung in den tiefen ethischen Prinzipien suchen und aussprechen müssen. In zweifacher Hinsicht, nach unten und nach oben, ist jedoch die Bedingung zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Nach unten: Sehr viel Detailarbeit im Speziellen tut not. Sie ist aber freilich nicht aussichtsreich, wenn nicht wenigstens das Gespür für die Übereinstimmung im Prinzip da ist. Der Versuch, diese Übereinstimmung widerspruchsfrei zu formulieren, ist schwer, ist vielleicht für den Anfang der Arbeit nicht notwendig; aber die Suche danach drängt sich unausweichlich auf.

Nach oben: Sucht man die Prinzipien auszusprechen, so entgeht man dem Rückblick auf die innere Erfahrung nicht. Suchen nach dem Weltethos wird wahrheitssuchende Menschen notwendig auf die innere Erfahrung verweisen. Das ist nicht nur die ethische Erfahrung, die in den Seligpreisungen ausgesprochen ist. Es ist in der Ebene der Konkretheit zugleich das Gebet, auch die Liturgie als Gemeinsamkeit des Gebets, und die Meditation. Liturgien und darum auch formulierbare innere Gebete sind verschieden. Der Weg zur Meditation wird in Worten beschrieben, welche die jeweilige Theologie voraussetzen. Diese Theologien sind tief verschieden. Der Dalai Lama sagte dem evangelischen Hamburger Bischof Krusche, der das selbst in einer dem Dalai Lama gewidmeten Schrift (dharma edition 1993) erzählt: „Wir sollen die Unterschiede nicht verschweigen: Wir Buddhisten glauben z.B. nicht an einen Schöpfergott wie Sie als Christen." Die Begegnung der leitenden Erfahrungen der Weltkulturen ist aber unausweichlich. Die abendländische Aufklärung hat Asien erobert; sie beherrscht technokratisch Japan, kommunistisch China, als repräsentative Demokratie und wachsende Wirtschaft Indien - all das mit allen ihren Problemen. Die denkenden Menschen des Westens aber sehnen sich vielfach nach der meditativen Erfahrung des Ostens. Esoterische Sekten sind oft willensstärker als die Kirchen, deren Anhängerschaft ständig abnimmt. Habe ich mich, noch Kind, getäuscht, wenn mich die Wahrheit der Bergpredigt erschütterte, mich aus der Selbstzufriedenheit und dem Ehrgeiz verjagte? Lese ich sie heute, als Wissenschaftler, in historischer Bildung erzogen, so ist meine Reaktion: Was da steht, ist die schlichte Vernunft. Einige Wendungen in ihr sind zeitbedingt. Aber jeder sieht: Würden wir ihre Forderungen erfüllen, so wäre unser aller Leben besser, niemand würde verlieren. Und die Seligpreisungen können wir am heutigen Tag in uns selbst erfahren, wenn wir uns ihrem Inhalt öffnen.

Haben wir konkrete Inhalte der Hoffnung? Es ist unmöglich, vorherzusagen, was kommen wird. Aber wir sehen offene Wege. Der Weg der Wissenschaft ist offen. Was wird uns holistisches Denken über die Natur des Menschen lehren? An welcher unerwarteten Stelle wird die Fulguration einer neuen Einsicht entstehen? Der Weg der Ethik ist offen. Denn er ist der Weg, die Wahrnehmung des Mitmenschen zu lernen. Der politische Bewusstseinswandel ist unterwegs. Es ist nicht unmöglich, dass wir erst durch die größten selbstverschuldeten Katastrophen lernen werden. Ich habe ein Leben lang auf diese Katastrophen hinweisen müssen und bin der Erfahrung des inneren Verzweifeins nicht entgangen. Aber ich habe nie an das absolute Ende geglaubt. Stets habe ich so geredet, dass Mut zum Handeln und nicht Verzagtheit die Folge sein sollte. Der Weg meditativer Erfahrung ist offen. Er ist nicht die Flucht in ein inneres Jenseits; er führt in die Gegenwart, in die Vernunft zurück. Ich habe versucht, von dem zu reden, was ich erfahren habe. Andere werden anderes, werden mehr erfahren. Sie werden handeln.

* Der Herausgeber hatte mich um eine Einleitung für diesen Band gebeten. Da ich einen hinreichend umfangreichen Text für diesen Zweck nicht hätte schreiben können, schlug er vor, ihn aus früheren, z.T. noch nicht veröffentlichten Texten zusammenzustellen. So besteht nun diese Einführung aus Texten verschiedener Herkunft (vgl. dazu das Quellenverzeichnis am Ende dieses Bandes).

HINDUISMUS

Der Sannyasi (wandelnder Mönch) hatte den Dorfrand erreicht und ließ sich unter einem Baum nieder, um dort die Nacht zu verbringen, als ein Dorfbewohner angerannt kam und sagte: „Der Stein! Gib mir den kostbaren Stein!" „Welchen Stein?" fragte der Sannyasi. „Letzte Nacht erschien mir Gott Shiwa im Traum" sagte der Dörfler, „und sagte mir, ich würde bei Einbruch der Dunkelheit am Dorfrand einen Sannyasi finden, der mir einen kostbaren Stein geben würde, so dass ich für immer reich wäre." Der Sannyasi durchwühlte seinen Sack und zog einen Stein heraus. „Wahrscheinlich meinte er diesen hier" sagte er, als er dem Dörfler den Stein gab. „Ich fand ihn vor einigen Tagen auf einem Waldweg. Du kannst ihn natürlich haben." Staunend betrachtete der Mann den Stein. Es war ein Diamant. Wahrscheinlich der größte Diamant der Welt, denn er war so groß wie ein menschlicher Kopf. Er nahm den Diamanten und ging weg. Die ganze Nacht wälzte er sich im Bett und konnte nicht schlafen. Am nächsten Tag weckte er den Sannyasi bei Anbruch der Dämmerung und sagte: „Gib mir den Reichtum, der es dir ermöglicht, diesen Diamanten so leichten Herzens wegzugeben." (Anthony de Mello, Warum der Vogel singt, S. 103)

Einführung von Anand Nayak

Der Hinduismus fasziniert viele, viele sind von ihm verwirrt. Als Ideologie eher dehnbar und anpassungsfähig, vereint diese Religiosität in sich die unterschiedlichsten und unvereinbarsten Vorstellungen und Anschauungen, die nicht in ein rational-ökologisches System passen. Was für viele unlogisch scheint, ist für den Hinduismus kein Widerspruch. Der Hinduismus sieht die Dinge aus einer andern Sicht, hat eine andere Art der Betrachtung: die Sicht des Selbst (ätman), die über die Grenzen der Logik und der Vernunft hinausreicht. Mit anderen Worten: Der Hinduismus beschäftigt sich viel eher mit dem „kostbaren Stein", mit dessen Schönheit und dessen Wert, mit den „kostbaren Steinen, die so groß sind wie ein menschlicher Kopf". Aber dabei geht es ihm letztlich um einen anderen Wert, der den Menschen frei macht und unabhängig von allen Dingen, von allen „kostbaren Steinen" so dass er fähig ist, sich notfalls auch von diesen zu trennen, und zwar nicht mit Trauer und Schmerz, wie dies vernünftig wäre, sondern mit scheinbar unvernünftiger Freude. Der Hinduismus ist eine Religion, die sich nicht an ihre Ursprünge erinnert. Die Hindus sind sehr stolz darauf, eine Religion „ohne Anfang, ohne Ende" (sanätana) zu besitzen. Eine Religion, die keinen Gründer kennt - Seher (rishis) sollen sie zu Beginn der Schöpfung gegründet haben. Eine Religion, die man nur schwer als Religion bezeichnen kann, da sie so vielfältig und komplex und radikal pluralistisch ist, die sich aber trotzdem einer Identität bewusst ist, wenn diese auch schwer fassbar sein mag. Eine Religion übrigens, die sich niemals

einen Lehrkörper gegeben hat und kein geistiges Oberhaupt kennt, das die authentischen Lehren auslegen darf. Der Hinduismus anerkennt als einzige Autorität die heiligen Schriften der Veden. Wer aber Veden sagt, sagt das Ganze: In den Veden findet sich einfach alles. In diesen alten Texten, deren effektive Zahl auch heute noch nicht ganz geklärt ist, ist alles möglich. Das heißt, dass jedermann frei ist zu lehren, was er möchte und wie er möchte, vorausgesetzt, dass seine Lehren den Veden zugeschrieben sind. Der Hinduismus hat kein Interesse daran, gegen Häresien und Häretiker zu kämpfen. Genauso wenig will er dem menschlichen Bewusstsein eine Moral oder ein Dogma aufzwingen. Im Hinduismus finden sich jedoch einige unveränderliche Dogmen und Lehren wie z.B. das Gesetz des karman: Alles Leben ist das Ergebnis der Handlung, die selbst wiederum das Ergebnis einer früheren Handlung ist. Jedes Lebewesen ist das Ergebnis eines früheren Lebens und bringt seinerseits eine Folge von Leben hervor. Nach diesem Gesetz sind aber die Lehren nicht etwa von anderen Menschen festgelegt worden, sondern stellen vielmehr das Grundprinzip allen Lebens dar. Diese zu leugnen ist unsinnig, da es unmöglich ist, das Leben in seiner Grundstruktur zu leugnen. Das Leben, das jeder bei seiner Geburt erhalten hat, ganz einfach zu leben, es voll und ganz und seiner Bestimmung entsprechend zu leben, das ist Religion für den Hindu. Das Gesetz des Lebens und des Daseins ist aber gerade das Gesetz der guten Ordnung (dharma) des Kosmos. Der Hinduismus besagt, dass unsere Welt, unser Leben auf dieser Erde, unser Geist nur vorübergehende und begrenzte Wirklichkeiten sind. Das will nun aber nicht heißen, dass sie ohne Sinn und Wert sind. Man schreibt ihnen einen großen Wert zu, denn dank dieser Realität, dank dem Wert der Zeichen kann der Mensch seine wahre, absolute Identität erreichen. Die manifeste Welt, der Kosmos mit all seinen Lebens-

formen bilden ein einziges, harmonisches Ganzes: Der Tag folgt auf die Nacht, die Jahreszeiten wechseln, die Bäume blühen und bringen Früchte hervor, die Lebewesen werden geboren, wachsen, vermehren sich, sterben und werden wiedergeboren. Dieses Gesetz der guten Ordnung wirkt auch im Menschen als sein personliches Dharma: Der Kosmos als Ganzes hat mich ins Leben geworfen, hat mir eine Lebensform gegeben, einen an meine Aktivitäten angepassten Körper. Mein Leben in vollen Zügen zu leben ist mein Recht. Für den Hindu heißt Religion nicht, dass man an ein Dogma oder an eine Lehre glauben muss. Religion ist das Leben, so wie es sich in der Welt manifestiert. Noch konkreter verwirklicht der Hinduismus dieses Dharma mit Hilfe von Programmen, die das tägliche Leben gestalten. Das erste ist das Gesetz, das die Farbe der Menschen und deren Lebensstadium betrifft (varna ösramö-dharma): Das die Farbe betreffende Gesetz ist das Kastensystem. Der Hinduismus betrachtet die Menschen als nicht ebenbürtig. Wie in anderen Lebensordnungen herrschen Unterschiede zwischen den Individuen. So gibt es z.B. unterschiedliche Typen von Pferden und Hunden, unterschiedliche Sorten von Äpfeln und eben auch Menschen, die nicht von derselben Art sind. Dieser Unterschied entstammt dem Dharma selbst; die gute universelle Ordnung schafft die Lebewesen und teilt ihnen unterschiedliche Aufgaben zu, je nach Geburt und Natur. So hat der Brahmane, welcher aus einer reinen Substanz geboren sei, die Aufgabe des Priesters, so regiert der Adlige die Gesellschaft und organisiert die Armee, so ist der gemeine Mann Bauer, Handwerker und Händler. Und die Übrigen werden in der Gesellschaft als Diener toleriert. Daneben gibt es auch jene Individuen, die in den Wäldern wie Tiere in der Natur leben: die Kastenlosen. Sämtliche Gesellschaftsformen der Welt kennen ein System der Hierarchie, das die Menschen in Kasten unterteilt. Das hin-

duistische System ist in dem Sinne anders, dass die Kaste einer Person nicht durch ihren Reichtum oder ihr Missgeschick im Leben und in der Gesellschaft festgelegt ist, sondern durch deren Geburt. Wer als Diener geboren wurde, bleibt dies für sein ganzes Leben; sein Dharma wäre es dann, darin Glück und Zufriedenheit zu finden. Auf diese Weise kommt er zu einer edleren Wiedergeburt und kann so seine Lebenssituation verbessern. Jedoch gegen das zu revoltieren, was ihm das Leben durch die Geburt gegeben hat, wird als ungebührlich betrachtet und führt unweigerlich zu einer niedrigeren Wiedergeburt. Die Ursprünge dieses Systems sind in den ersten heiligen Texten des Hinduismus zu suchen, den Veden. Dabei handelt es sich um ein sehr radikales System. Jener Arier, der um 1800 v. Chr. in Indien eingedrungen war, hatte militärische Macht. Von eher heller Hautfarbe, beherrschte er die dunkelhäutigen, weniger gut organisierten Ureinwohner. Er zerstörte sie zwar nicht, nutzte sie aber aus, indem er ihnen den Status der Dienerschaft gab. Von daher stammt auch der Name des Systems: Varna heißt Farbe, also ein System, das auf der Farbe (der Haut) beruht. In diesem Sinne herrscht in Indien noch heute ein weit rassistischeres Hierarchiesystem als alle im Westen bekannten Formen von Rassenhierarchie. Natürlich werden in der modernen indischen Gesellschaft nicht alle vier Einteilungen in ihren alten Formen aufrechterhalten. Vielmehr sind starke Einflüsse von anderen Modellen außerhalb spürbar - die indische Staatsform, die auf dem Prinzip der westlichen Gesellschaftsformen basiert, das von den Engländern übernommene Erziehungssystem und die ganze Industrialisierung erlauben es den Indern heute glücklicherweise nicht mehr, sich mit den Formen dieses rassistischen Systems im Detail zu befassen. In den Schulen und Universitäten verkehren die Menschen frei und vorurteilslos miteinander, in der Industrie kommen die Arbeiter aus allen Klassen.

Zweiter Teil dieses Systems ist die äsrama, die Organisation der vier Stadien des Lebens. Die Hindutradition will, dass ein im Dharma geborener Mensch eine Ausbildung genießt, sich dann verheiratet und die Familie durch Fortpflanzung weiterführt; sind die Kinder einmal im Leben eingerichtet, müssen sich die Eltern vom aktiven Leben in der Gesellschaft zurückziehen, sich in die Wälder begeben, sich um die Erziehung der neuen Schüler kümmern und den tiefen Sinn ihrer eigenen Existenz suchen. Ist dieser Sinn gefunden, ziehen sie sich vom Dharma selbst zurück und beschäftigen sich mit der letzten Wirklichkeit der Befreiung. Konkret aktualisiert ein solches Programm den Doppelaspekt der Wirklichkeit: Die materielle Wirklichkeit muss ernst genommen werden, indem die durch Tradition erworbenen Erkenntnisse kultiviert und das Leben durch das Prinzip der Familie weitergeführt wird. Die Hinduweisheit will aber auch, dass man sich von seinen materiellen Beschäftigungen trennt und sich voll und ganz dem Ruf zur höheren Ordnung der Transzendenz hingibt. Dieselbe Weisheit wird ausgedrückt durch andere Schematisierungen, die vier Purusäramartha oder Lebensziele. Im Hinduismus haben die Menschen, die zur Welt kommen, das Recht auf freie Verwirklichung der vier Lebensziele: das Recht auf Dharma, das Recht auf Artha, d.h. auf Materielles und Besitztümer, die man zum Leben braucht, das Recht auf Käma, zur Verwirklichung der emotionellen und affektiven Bedürfnisse, die Sexualität und die Liebe, und schließlich das Recht auf Moksa, die letzte Befreiung. Das Recht auf Dharma bedeutet Recht auf Geburt und Wiedergeburt: Niemand kann ein Lebewesen daran hindern, geboren zu werden und zu leben, zu sterben und wieder geboren zu werden. Die Gesellschaft hat die Pflicht, die dafür notwendigen Mittel zu liefern. Das letzte Stadium ist das der Befreiung. Der Hinduismus betont die Notwendigkeit, auf normalem Wege dorthin zu ge-

langen, d.h. durch die Erfahrung des Lebens, durch sinnvolle Benutzung der menschlichen und materiellen Welt, durch die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse. Auf diese Weise wird er bereit für die Befreiung, wie eine reife Frucht, die sich frei und ohne Gewalt vom Baume löst. „Befrei mich, wie die reife Frucht vom Baum sich befreit" heißt es in einem Hindu-Gebet. Da die Religion nichts anderes ist als die Kunst, das Leben zu leben, also eine vergängliche Erfahrung, soll man sie zu benützen wissen, sich aber auch von ihr befreien. Denn die letzte Wahrheit, die absolute Wirklichkeit ist jenseits dieser vorübergehenden Erfahrung. Die Lebensweisheit besteht nun aber nicht etwa darin, die beiden Aspekte der Wirklichkeit (iha und para) als Spaltung aufzufassen, sondern den einen im Licht des andern zu leben. Es ist zwar wichtig, die „kostbaren Steine" zu horten, aber noch wichtiger ist die Fähigkeit, sich ihrer entledigen zu können. Die Frucht braucht den Baum, ist sie aber einmal ausgereift, muss sie sich von ihm trennen. Der Vogel muss den gefährlichen Sprung aus dem Nest wagen, will er die Welt entdecken! Die Welt des Jenseits jedoch, der Befreiung (moksa), ist nicht abgetrennt von der Welt des Alltags, welche von dieser getragen wird. Das Selbst ist das Grundprinzip des Vergänglichen. Demzufolge erscheint das Selbst im Vergänglichen, dringt durch die während des Lebens gemachten Erfahrungen. Es sind nicht die irdischen Dinge oder die Handlungen des Menschen, die dem Jenseits Sinn verleihen, sondern im Gegenteil, es sind die Dinge, die im Lichte des Jenseits wahrgenommen werden, die Handlungen, die in der Kraft des Jenseits ausgeführt werden, die wahrhaft im Leben Sinn schaffen. Natürlich ist die Freude dessen, der einen Edelstein auf seinem Weg findet, groß. Das Glück des Selbst jedoch, das sich von dem Stein trennt (und wäre es nur, um einem Dieb zur Beute zu verhelfen), ist weitaus größer. Wie es in einer ande-

ren Geschichte heißt, die zwar einer anderen Quelle, aber derselben Gesinnung entstammt: Der Zen-Meister Royokan lebte bescheiden in einer Hütte am Fuß der Berge. Eines Nachts, als der Meister fort war, brach ein Dieb in die Hütte ein, nur um festzustellen, dass nichts zu stehlen war. Royokan kam zurück und erwischte ihn. „Du hast dir viel Mühe gemacht, mich zu besuchen", sagte er zu dem Einbrecher. „Du sollt nicht mit leeren Händen davongehen. Bitte nimm meine Kleider und die Decke als Geschenk." Der Dieb nahm höchst verwirrt die Kleider und trollte sich. Royokan setzte sich hin, nackt wie er war und beobachtete den Mond. „Armer Kerl" dachte er bei sich, „ich wünschte, ich könnte ihm den wunderbaren Mondschein geben.

(Anthony de Mello, Warum der Vogel singt, S. 102)

Wahrlich, die ganze Welt ist Brahman Weltseele (Brahman) und erkennende Einzelseele (Atman)

Aus den Upanishaden

Wahrlich, die ganze Welt ist Brahman. In der Stille soll man es verehren. Wahrlich, aus Einsicht besteht der Mensch. Wie des Menschen Einsicht in dieser Welt ist, danach wird der Mensch nach seinem Scheiden aus dieser Welt. Darum soll er nach Einsicht trachten. Geist ist sein Stoff, Leben ist sein Leib, Licht ist seine Gestalt, Wahrheit ist sein Ratschluss, sein Selbst ist Unendlichkeit. Er ist allwirkend, allwünschend, allriechend, allumfassend, schweigend und ohne Kummer. Dieser ist mein Atman im Inneren des Herzens, kleiner als ein Körnchen Reis, Gerste oder Senf oder Hirse. Dieser ist mein Atman im Innern des Herzens, größer als der Himmel, größer als die Welten. Allwirkend, allwünschend, allriechend, allschmeckend, allumfassend, schweigend und ohne Kummer: dieser mein Atman im Innern des Herzens - das ist das Brahman. Zu ihm werde ich, hier verscheidend, eingehen. Wahrlich, wer dies glaubt, hat keine Zweifel mehr. (Chandogya-Upanishad III, 14,1-4) Der Atman ist nicht dies, nicht dies. Er ist ungreifbar, denn er wird niemals gegriffen; er ist unzerstörbar, denn er wird nicht zerstört; er ist unhaftbar, denn an ihm haftet nichts. (Brihadaranyaka-Upanishad IV, 2,4) Höher als das höchste Brahman, das erhabene, den großen, in allen Wesen Verborgenen, der das All umwallt, die diesen als Herrn erkannten, die werden unsterblich.

Ich kenne diesen höchsten Geist, den sonnenfarbigen, jenseits des Dunkels. Nur wer ihn erkannt, überschreitet den Tod. Es gibt keinen anderen Pfad, um dorthin zu gelangen. Es gibt nichts Höheres als ihn, nichts Kleineres, nichts Größeres. Der Eine steht fest wie ein Baum im Himmel. Von seinem Wesen ist das ganze All erfüllt. Der jenseits dieser Welt ist, ist ohne Gestalt und ohne Leiden. Die dieses wissen, werden unsterblich, andere gehen ein in lauter Leiden. Er, der im Antlitz, Haupt und Hals aller ist, wohnt im Innersten aller Wesen, er durchdringt alles. Er ist der allgegenwärtige Herr. Er ist die ganze Welt, das, was gewesen, und das, was sein wird. Er ist der Herr der Unsterblichkeit alles dessen, was durch Nahrung aufwächst. Ohne Hände, ohne Füße läuft und greift er. Er sieht ohne Augen, er hört ohne Ohren. Er weiß alles Erkennbare; aber keiner ist da, der ihn erkennt. Sie nennen ihn den uranfänglichen, den höchsten Geist. Feiner als das Feine, größer als das Große ist das Selbst im Innern der Wesen. Man schaut ihn als wunschlos, wenn man durch die Gnade des Schöpfers den Herrn in seiner Majestät erkennt. Ich kenne dieses unvergängliche, uranfällige Selbst von allen, gegenwärtig in allen auf Grund seiner Unendlichkeit. Sie schreiben ihm Geburt und Untergang zu. Doch die Brahmankenner verkünden ihn als den Ewigen. Diese lebende Seele ist nur ein Bruchteil eines hundertmal gespaltenen hundertsten Teils einer Haarspitze, und doch ist sie der Unendlichkeit fähig. Weder Mann noch Weib ist sie, noch ein Zwitter. Welchen Körper sie annimmt, von dem wird sie bewahrt. Wer ihn, der ohne Anfang und ohne Ende ist, den Schöpfer von allem in vielfacher Gestalt, der allein das Universum umschlossen hält, als Gott erkennt, ist frei von allen Fesseln.

Einige Weise erklären die Natur, andere die Zeit (als erste Ursache). Beide gehen in die Irre. Die Übermacht Gottes in der Welt ist es, die dieses Brahman-Kad zum Drehen bringt. Er ist der Wissende, der Schöpfer der Zeit, der Besitzer aller Eigenschaften und Kenntnisse, von dem die ganze Welt umhüllt ist. Von ihm gelenkt, entfaltet sich dieses Werk (die Schöpfung) als Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther. Höher und andersartig als die Formen des Weltenbaumes und der Zeit ist er, von dem aus diese eine Welt sich dreht. Er bringt das Gute und wehrt dem Bösen, der Herr des Gedeihens, den man als unsterbliches eigenes Selbst erkannt hat. Den höchsten Herrn aller Herren, den höchsten Gott aller Gottheiten, den höchsten Gebieter aller Gebieter, den alle Welten Überschreitenden, lasst ihn uns als Gott erkennen, als Herrn der Welt, als den Verehrungswürdigen. Nicht gibt es an ihm Wirkung der Organe, nicht ist ihm einer gleich befunden oder überlegen gar. Seine große Macht offenbart sich mannigfach. Ihm innewohnend sind Kräfte seines Geistes und seines Wirkens. Der eine Gott, verborgen in allen Wesen, alldurchdringend, das innere Selbst aller Geschöpfe, der Lenker aller Taten, der in allen Wesen wohnt, der Zeuge, der Kenner, der Einzige, frei von menschlichen Eigenschaften. Der eine Mächtige, der das eine Saatkorn vielfältig macht die Weisen, die ihn in ihrem Selbst wohnen sehen, erreichen ewiges Glück, nicht die anderen. Er ist allwirkend und allweise, aus sich selbst entstanden, er ist das Wissende, der Schöpfer der Zeit, aller Qualitäten und aller Dinge kundig, der Gebieter der Natur und des Geistes, der Grund von Bindung, Bleiben und Erlösung. Er, der ewig über die Welt herrscht, ist unsterblich, als Herr erscheinend, als Wissender, als Allgegenwärtiger, der Hüter dieser Welt. Eine andere Ursache (als ihn) gibt es nicht. (Shvetashavatara-Upanishad III, 7-11,15,19-21; V, 9,10,13; VI, 1-2,6-8,11-12,16-17)

Die Erscheinung des göttlichen Krishna Aus der Bhagavadgita

Der 11. Gesang der Bhagavadgita („Gesang der Erhabenen") schildert die Epiphanie Krishnas, die der Text mit „Anschauung der kosmischen Gestalt" bezeichnet. Einleitend begehrt der Fürst Arjuna, den Gott in seiner allumfassenden Gestalt zu sehen: Was du von dir ausgesagt hast, o höchster Herr, ist wirklich so. Ich begehre nun, deine Gestalt in ihrer Göttlichkeit zu schauen, o höchster Geist! Wenn du glaubst, o Herr, dass es von mir gesehen werden kann, o Fürst der Andacht, enthülle mir dein unsterbliches Selbst! (Krishna:) So schaue denn, o Pritha-Sohn, meine Gestalten hundert- und tausendfach, verschieden in ihrer Art, wunderbar, in Farben und Formen vielfältig. Doch kannst du mich mit diesen deinen eigenen Augen nicht sehen. Ich gebe dir ein übernatürliches Auge: Nun schaue meine wunderbare Macht als Gott. So sprach er, und dann, o König, zeige Hari dem PrithaSohn seine überweltliche Gestalt als Gott. Würde am Himmel das Licht von tausend Sonnen plötzlich hervorbrechen - dieses Licht könnte dem Glanz des Erhabenen gleichen. Dann, ganz erfüllt von verwundertem Erstaunen, mit sich sträubenden Haaren, neigte Arjuna sein Haupt vor dem Gott und sprach mit gefalteten Händen: Ich sehe alle Götter in deinem Körper, o Gott, sie alle, und Scharen anderer Wesen auch, Brahman, den Herrn, auf seinem Lotosthron, die Weisen alle und die Himmelsschlangen.

Mit vielen Armen, Bäuchen, Mündern und Augen seh' ich dich, unendliche Gestalt, aber weder Ende noch Mitte noch deinen Anfang sehe ich, o Gott, du allumfassender. Mit Diadem, Keule und Diskus, ein Übermaß an Glanz, nach allen Seiten leuchtend, so seh' ich dich, schwer zu erschauen im Glanz des flammenden Feuers und der Sonne, unmessbar. Du bist der Unvergängliche, des Wissens höchstes Ziel, du bist der letzte Ruhepunkt des Alls; du bist der unsterbliche Hüter des ewigen Gesetzes, du bist, so meine ich, der ewige Geist. Ohne Anfang, Mitte oder Ende, unbegrenzt an Macht, mit zahllosen Armen, den Augen als Mond und Sonne, so seh' ich dich, dessen Antlitz flammendes Feuer ist, dessen Schein dieses ganze All verbrennt. Denn dieser Raum zwischen Himmel und Erde wird allein von dir erfüllt, und jede Himmelsgegend. Wenn sie deine wundersam-schreckliche Gestalt erblicken, erzittern die drei Welten, o Erhabener. Denn in dich treten Götterscharen ein, einige, voll Furcht, preisen dich mit gefaltenen Händen; es rufen „Heil" die Scharen der Seher und Seligen, sie preisen dich im Überschwang mit Lobgesängen. An den Himmel rührend, in mannigfachen Farben erstrahlend, mit weit geöffneten Mündern und riesigen Flammenaugen, so seh' ich dich wahrhaftig; meine innerste Seele erzittert, ich finde weder Stetigkeit noch Ruhe, o Vishnu. Wenn ich deine Münder, furchtbar mit großen Fangzähnen, erblicke, dann verliere ich den Ortssinn und finde keine Zuflucht. Sei gnädig, Herr der Götter, du, in dem die Welt umschlossen liegt. Sage mir, wer bist du in furchterregender Gestalt? Verehrung dir, du höchster Gott, sei gnädig. Ich sehne mich, dich zu verstehen, Uranfänglicher, denn nicht begreife ich dein Wirken.

Der Erhabene sprach: Ich bin die Zeit, die alle Welten vernichtet, damit befasst, auch diese fortzuraffen. Auch ohne dich sind sie dem Tod verfallen, die Kämpfer, die dort in gegnerischen Reihen stehen. Darum erhebe dich, gewinne Ruhm, besieg die Feinde und erfreue dich des herrscherlichen Glücks. Durch mich sind diese alle früher schon getötet, sei du, linkshändiger Kämpfer, nur noch das Instrument. Arjuna sprach: Recht ist es, o Krishna, dass bei deinem Ruhmespreis die Welt frohlockt und sich erfreut. Die Dämonen fliehn erschreckt nach allen Seiten, und die Scharen der Vollkommenen verneigen sich vor dir. Und warum sollten sie nicht dir, Erhabener, huldigen? Du bist größer selbst als Brahman, du bist der erste Schöpfer. Unendlicher Götterherr, von dem die Welt umschlossen ist, du bist der Unvergängliche, jenseits von Sein und Nicht-Sein. Du bist der erste Gott, der Urgeist, die höchste Ruhestätte dieses Alls; du bist der Kenner und das höchste Ziel des Wissens. Von dir ist dieses All durchdrungen, deine Gestalt ist endlos. Und wenn im Scherz ich dich nicht richtig ehrte, beim Spiel, beim Ruhen, Sitzen oder Essen, allein oder in Gegenwart anderer, o Unerschütterlicher, ich bitte dich um Vergebung, Unermesslicher. Du bist der Vater der beweglichen und der unbeweglichen Welt, verehrungswürdig, höchst ehrwürdiger Lehrer. Keiner ist dir gleich, erst recht nicht größer, in den drei Welten, du maßlos Großer.

Bhagavadgita XI (Auswahl)

Der Gott Krishna offenbart dem Arjuna die Unzerstörbarkeit des ewigen Selbst und fordert ihn, unter Bezugnahme auf die Seelenwanderung, zum Handeln, auch zum kriegerischen, auf.

Das Nichtseiende kann nicht sein, das Seiende kann nicht aufhören zu sein. Die Wahrheitsseher haben den Schluss aus diesen beiden entdeckt. Wisse, dass unzerstörbar ist, von dem das alles durchdrungen wird. Niemand kann die Zerstörung dieses Unwandelbaren bewirken. Ein Ende haben die Körper, unzerstörbar und unfassbar aber ist das Ewige, welches in diese Körper eingegangen ist. Darum kämpfe, o Bharata (Arjuna)! Wer aber denkt, er tötet, wer glaubt, er werde getötet, sind beide im Irrtum. Nicht tötet dieser eine, noch wird er getötet. Nicht wird er geboren, noch stirbt er jemals. Ins Sein gelangt, wird er nicht wieder aufhören zu sein. Er ist ungeboren, ewig, dauerhaft und uralt. Er wird nicht getötet, wenn der Körper getötet wird. Wer ihn als unzerstörbar und ewig, ungeboren und unvergänglich kennt, wie könnte ein solcher Mensch, o Förtha (Arjuna), irgendeinen töten, irgendeinen töten lassen? Wie ein Mann abgetragene Kleider ablegt und andere, neue, anzieht, so legt auch die Seele die abgetragenen Körper ab und geht in andere, neue, ein. Nicht spalten ihn die Schwerter, nicht brennt ihn das Feuer, nicht benetzen ihn die Wasser, nicht trocknet ihn der Wind. Er kann nicht gespalten, nicht verbrannt, nicht benetzt und nicht ausgetrocknet werden. Er ist ewig, allgegenwärtig, unwandelbar, unbeweglich, immerwährend. Er wird unoffenbar, undenkbar, unveränderlich genannt. Darum sollst du nicht klagen, nachdem du ihn als solchen erkannt hast. Deine Aufgabe liegt allein im Handeln, nicht in dessen Früchten. Lasse nicht die Früchte deines Tuns deinen Beweggrund sein; ergib dich nicht der Untätigkeit. (Bhagavadgita II, 16-25,47)

Vollbringe die notwendige Tat; denn Handeln ist besser als Nichthandeln. Auch den Körper kannst du dir nicht ohne Handeln aufrecht halten. Abgesehen von dem Opfer, ist die Welt an die Werke gebunden. Darum vollziehe dein Werk als Opfer, Sohn der Kunti (Arjuna), ohne am Werk zu hängen. Vollbringe ohne Hang zur Welt das Werk, das getan werden muss. Denn durch Handeln ohne Hang zur Welt erreicht der Mensch das höchste Ziel. Denn nur durch Handeln erreichten Janaka und andere Vollkommenheit. Auch für die Erhaltung der Weltordnung solltest du handeln. Was immer der Edelste vollbringt, das tun die anderen Menschen auch. Was er zur Richtschnur erhebt, dem folgt die Welt nach. Für mich, o Partha (Arjuna), ist in den drei Welten nichts auszuführen noch zu erlangen, was mir fehlte. Und doch fahre ich fort zu handeln. Denn wenn ich nicht unermüdlich fortführe zu handeln, meinen Wegen würden doch die Menschen allseits folgen, Partha. Diese Welten würden in Trümmer fallen, hörte ich auf zu handeln; ich würde der Urheber der Verwirrung sein und diese Wesen hier zugrunde richten. Die meiner Lehre beständig nachfolgen, gläubig und ohne Murren, sie werden von (der Bindung an) ihre Taten befreit. Es ist besser, die eigene Pflicht unvollkommen zu erfüllen als fremde Pflicht vollkommen. Es ist besser, in eigener Pflichterfüllung zu sterben. Fremde Pflicht bringt nur Gefahr. (Bhagavadgita III, 8-9,19-24,31,35)

Wo Freude ihre Feste feiert Gedichte und Lieder

von Rabindranath Tagore

W o F R E U D E IHRE

F E S T E FEIERT,

sitz ich zu Tisch. Voll Wonne, voll Wonne ist das Leben. Die Stadt der Schönheit durchwandern meine Augen, satt sich schauend, versunken meine Ohren lauschen der tiefen Melodie. Zu feiern hast du gebeten, die Flöte spiel ich drum, Lied reih ich an Lied mit Lebensleid und -freude. Naht nun die Zeit? Dich zu sehen in der seligen Gemeinde und deinen Lobpreis anzustimmen, ist meine Demutsbitte.

VEREHRUNG

DEN

BÄUMEN

Als dein Leben keimhaft erwachte, hast du im dunklen Leib der Erde der Sonne Anruf vernommen - Baum, du Erst-Entsprossener. Das Haupt erhoben über den stumpfen Fels, hast du den ersten Preis des Lichts gesungen, hast du der leblos-rauen Wüste Empfindung gebracht.

Du hast damals mit magischen Sprüchen aus Blau und Grün dem Firmament - ihren Göttern und Sternen die Herrlichkeit dieser Erde verkündet. Dieses Leben - das immer wieder die Schwelle des Todes überschreitet und von Epoche zu Epoche auf endlos langem Pilgerweg in vielfältigen Verkörperungen vorüberzieht: Du entfaltest die Siegesflagge dieses Lebens stolz und furchtlos angesichts des unbekannten. Der Erde Traum zersprang bei deinem stillen Anruf, und sie entsann sich freudig erregt der eigenen Entstammung - als sie, eine kühne Tochter der Götter, einst ihren leuchtenden Himmel zurückließ - im ockern Kleid der Bettlerin, aschebestrichen -, um die selige Freude in ihrer Zerstückung in Zeit und Raum zu verkosten; Um ihr Tiefstes auszupressen, wenn von den Stichen des Schmerzes die Freude zerreißt. Du mutiges Kind des Ackerbodens, du hast Krieg erklärt, um die Erde von der Unbezwingbarkeit der Wüste zu befreien. Der Krieg geht immer weiter. Du hast die bewegten Meere überquert und, fest vertrauend, auf nackten Ufern unerreichbarer Inseln grünbelaubte Königssitze errichtet. Du hast entfernte Berge bestiegen und auf ihren Fels immer frische Triumphe eingeschrieben in einer Sprache aus Laub; den Staub hast du in Bann geschlagen, weit über wegloses Ödland hinweg hast du deine Zeichen hinterlassen.

Einst waren Wasser, Erde und Luftraum stumm, die Jahrszeiten blieben ohne Feier. In deinen Zweigen schufst du der Musik den ersten Zufluchtsort: In diesem Lied erkannte der unruhige Wind sich selbst; er tauchte seinen unsichtbaren Leib in die farbige Vielfalt der Melodien und malte der Lieder Regenbogen auf seinen himmelweiten Umhang. Du als erster hast ein Bild lebendiger Schönheit auf diesen weitgefassten, erdigen Boden gemalt, indem du der Sonne formschaffende Kraft in dich gesogen hast. Den geheimen Schatz des Lichts hast du in tausend Farben ausgestreut. Die himmlischen Wesen schlugen mit Armreifen gegen die Wolken und brachen sie offen tanzend gössen sie das Elixier der Jugend herab: Deine Blüten- und Blätterbecher hast du damit gefüllt, mit ewiger Jugend die Welt geschmückt. Du schweigsam-feierlicher Baum, Heldenmut zügelst du mit Geduld und offenbarst das friedvolle Antlitz des Lebenstriebs. Darum suchen wir bei dir Zuflucht, um in den Frieden eingeweiht zu werden, um dem großen Schweige-Wort zu lauschen; um die niederdrückenden Sorgen in deinem sanft-grünen Schatten abzuwerfen. Wir kommen zu dir - um den Freiheitssinn des Lebens, um deine sich ständig erneuernde Jugendkraft, um dein weltbesiegendes Heldentum und deine beredte Botschaft in unser Wesen aufzunehmen.

Mit der Kraft meines Denkens bin ich in dich eingedrungen und habe erkannt: Das Feuer der Sonne, das als Opferfeuer der Schöpfung brennt, schafft in dir - verborgen - grüne, frische Formen. Du Sonnenschein-Trinker! Hunderte von Jahrhunderten von Tagen der Sonnenkraft hast du in dich gesogen, dein Mark sättigend: Dies hast du dem Menschen geschenkt und ihn zum Welteroberer, zum Hochverehrten, zum Götter-Rivalen erhoben: Das Universum staunt über seine leuchtende Kraft, die gefahrvolle Hindernisse durchbricht. Den dein Atem durchatmet, dein Schatten kühlt, den dein Feuer durchglüht und dein Blütenkranz schmückt - im Namen dieses Menschen, Baum! du Freund der Menschen, biete ich, ein Dichter - betört von deinem grünen Flötenspiel - dir heute mit dieser Hymne meine Huldigung an.

SONN

UND S T E R N E FÜLLEN

DEN H I M M E L A U S ,

die Welt ist voll von Leben. Mittendrin hab'ich gefunden mein Zuhaus. Drum singe, singe ich staunend mein Lied. Die Erde schwingt von Ebbe zu Flut im Rhythmus endloser Zeit. Er zog mich an in meinen Adern, meinem Blut. Drum singe, singe ich staunend mein Lied. Meine Schritte folgten grasbedeckten Wegen, der Duft der Blumen riss mich hin. Verstreut liegt überall des Glückes Segen. Drum singe, singe ich staunend mein Leid.

Ich durfte lauschen, schauen, schmecken, Mein Leben über die Erde gießen. Im Wohlbekannten wollte ich die fremde Welt entdecken. Drum singe, singe ich staunend mein Lied.

Ichsucht ist wie eine Wolke der Geist wie ein tollgewordener Elefant Gespräche des Sri Ramakrishna mit seinen Schülern

BIJAY: Warum sind wir so gebunden? Warum können wir nicht Gott sehen? SRI R A M A K R I S H N A : Die Ichsucht der Lebewesen ist Maya. Diese Ichsucht hält alles verschleiert. „Stirbt das ,Ich', hört aller Kummer auf." Wenn durch Gottes Gnade jemand davon überzeugt ist, dass er nichts aus sich selbst tut, dann ist er ein Jibammukta geworden. Der hat nichts mehr zu fürchten. Diese Maya oder Ichsucht ist wie eine Wolke. Einer kleinen Wolke wegen ist die Sonne nicht sichtbar. Wenn die Wolke weiterzieht, ist die Sonne sichtbar. Wenn durch die Gnade des Guru uns einmal die Ichsucht verlässt, dann schauen wir Gott. Lakshmana und Ramachandra, der Gott selbst ist, standen zweieinhalb Ellen voneinander entfernt, dazwischen war Sita, die - wie Maya - Lakshmana den Blick verstellte, so dass er wie die Seele - Gott nicht sehen konnte. Sieh her, ich halte dieses Handtuch vor mein Gesicht, jetzt kannst du mich nicht mehr sehen, obwohl ich ganz nah bin. Ebenso ist Gott uns von allen der nächste, trotzdem kannst du ihn nicht sehen, weil ihn Maya verdeckt... Geld verfälscht das wahre Sein ungewöhnlich stark. Wer Geld bekommt, der verändert sich, der bleibt nicht, wie er war. Hier kam häufig ein Brahmane zu Besuch. Äußerlich wirkte er recht bescheiden. Ein paar Tage später sind wir nach Konnagar gefahren. Hriday kam auch mit. Als ich aus dem Boot stieg, sah ich jenen Brahmanen am Gangesufer sitzen. Er wollte wohl frische Luft schöpfen. Als er uns sah, rief er: „Na, Priester! Wie geht's?" Als ich den Ton seiner Stimme hörte,

sagte ich zu Hriday: „O-ree, Hriday! Der ist reich geworden, deshalb redet er so." Hriday lachte. Ein Frosch hatte einmal eine Rupie; die verwahrte er in seinem Loch. Ein Elefant schritt über dieses Loch, worauf der Frosch hinausrannte und seinen Fuß zornig gegen den Elefanten hob. Und er rief: „Was unterstehst du dich, über mein Loch zu gehen!" Geld weckt solche Ichsucht. Erst nachdem du Jnana erreicht hast, kann die Ichsucht verschwinden. Wer Jnana erreicht hat, der fällt in Samadhi. Dann verschwindet das Ich. Jnana ist sehr schwer zu erreichen. BIJAY: Wer Gott erreichen will, ihn schauen will, braucht der nur Bhakti, sonst nichts? SRI R A M A K R I S H N A : Gewiss, wir können einzig durch Bhakti seine Schau bekommen. Doch ist die reifste Liebe prema-bhakti oder raga-bhakti - notwendig. Wer diese Bhakti besitzt, der ist ganz in der Liebe. Er liebt wie ein Kind die Mutter, wie eine Mutter ihr Kind, wie eine Frau ihren Ehemann. Wer diese Liebe, die raga-bhakti erreicht hat, der fühlt sich nicht mehr zu Frau und Kind, zu den Verwandten hingezogen, der hat Maya überwunden. Barmherzigkeit (daya) bleibt. Die Welt ist für ihn ein fremdes Land, nur der Ort, um sein Karma zu erfüllen. Wie jemand, der seine Heimat in einem Dorf hat, aber in Kalkutta wohnt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wer Gott liebt, den verlassen der Drang /.um Familienleben und die weltliche Klugheit ganz und gar. Bleibt auch nur ein Jota weltlicher Klugheit zurück, kann man Gott nicht schauen. Wenn Streichhölzer feucht sind, wirst du sie nie und nimmer entzünden können; du vergeudest nur ein Bündel Streichhölzer. Wer sich zum weltlichen Leben gedrängt fühlt, ist wie ein feuchtes Streichholz. BIJAY: Wie kann man die Schau Gottes bekommen? SRI R A M A K R I S H N A : Ohne Reinheit von Denken und Fühlen ist es unmöglich. Sie sind befleckt von Sinnenfreude und Besitzgier, sie sind schmutzig geworden. Wenn eine Na-

del mit Lehm bedeckt ist, zieht der Magnet sie nicht mehr an. Reibe den Lehm von der Nadel, und der Magnet zieht wieder an. Ebenso kann der Schmutz der Gedanken mit Tränen weggewaschen werden. „He, mein Gott, das mache ich nie wieder!" Wenn du so sprichst und voll Reue weinst, kann der Schmutz weggewaschen werden. Dann zieht der Magnet Gott die Nadel - unser Denken - an. Dann erreichst du Samadhi und hast Gottes Schau. Aber versuche tausendmal, wer seine Gnade nicht bekommt, kann nichts tun. Wer seine Gnade nicht bekommt, bekommt die Schau Gottes nicht. Kann man Gnade so leicht haben? Du musst ganz und gar auf die Ichsucht verzichten. „Ich selbst tue alles" - wer so denkt, der schaut Gott nicht. Jemand ist für die Vorratskammer verantwortlich, wenn dann einer dem Hausherrn sagt: „Kommt selbst und holt für mich etwas heraus" dann sagt der Hausherr: „Es gibt schon jemanden im Vorratsraum. Warum soll ich selbst hingehen?" Wer sein eigener Hausherr ist, in dessen Herz kommt Gott nicht so leicht. Durch Gnade bekommt man seine Schau. Er ist die Jnana-Sonne. Mit einem einzigen Sonnenstrahl hat er das Licht seines Jnana in die Welt gesandt, darum können wir uns einander erkennen und in der Welt vielfältige Kenntnisse erwerben. Wenn Gott sein Licht nur einmal auf sein Antlitz fallen lässt, dann erhalten wir seine Schau. Der Wachtmeister geht nachts im Dunkeln mit der Laterne in der Hand auf seine Runde; sein Gesicht kann niemand erkennen. Aber er selbst kann mit diesem Licht die Gesichter aller Menschen sehen, und alle können einander erkennen. Wenn jemand den Wachtmeister sehen will, muss er ihn darum bitten. Er muss sagen: „Herr, seid so gnädig und lasst das Licht einmal auf Euer eigenes Gesicht fallen, ich möchte Euch einmal sehen." Man muss Gott bitten: „Gott, sei so gnädig und lass das Licht deines Wissens einmal auf dich selbst fallen, ich möchte dich schauen!"

Wenn in einem Haus kein Licht brennt, so ist das ein Zeichen von Armut. Also soll in eurem Herzen das Licht von Jnana brennen. SRI R A M A K R I S H N A : Es heißt in derSrimad Bhagavata, dass Advadhuta unter seinen vierundzwanzig Gurus auch einen Falken hatte. An einem Ort warfen die Fischer die Netze aus. Ein Falke stürzte herab und schnappte einen Fisch weg. Doch als sie den Fisch sahen, flogen Hunderte von Krähen hinter dem Falken her, um ihm die Beute abzujagen. Im Nu gab's ein mächtiges Krah-Krah und Durcheinander. Die Krähen verfolgten den Falken überallhin. Wenn der Falke südwärts flog, flogen die Krähen ihm nach; wenn er nordwärts flog, folgten sie ihm auch dorthin. Der Falke flog auch ostund westwärts. Schließlich flatterte er so verwirrt umher, dass ihm der Fisch aus dem Schnabel fiel. Dann ließen die Krähen den Falken in Ruhe und stürzten sich auf den Fisch. Da atmete der Falke auf, setzte sich auf den Ast eines Baumes und dachte: „Was für ein Durcheinander dieser Fisch gestiftet hat. Jetzt habe ich den Fisch nicht mehr, und bin alle Sorgen los." Advadhuta lernte von dem Falken: Solange der Fisch, das heißt solange unsere Begierden bei uns sind, gibt es Unruhe (karma) in unserem Leben und deshalb auch Sorgen, Kummer, Unfrieden. Wer den Begierden entsagt, dessen Unruhe hört auf, der hat Friede. Aber selbstlose Arbeit (niskama karma) ist gut. Ihretwegen entsteht kein Unfrieden. Doch ist es sehr schwer, selbstlos zu arbeiten. Ich bin der Meinung, dass ich selbstlos arbeite, doch plötzlich, niemand weiß woher, tauchen Begierden auf. Einige, die schon sehr viel Sadhana geübt haben, können aus der Kraft dieser Sadhana selbstlos arbeiten. Nach der Schau Gottes kann man leicht selbstlose Arbeit verrichten. Nach der Schau Gottes gibt man jedoch fast alle Arbeit auf. Nur ein paar Menschen, wie Narada und andere, arbeiten weiter, um die Menschen zu belehren. Avadhuta hatte noch einen Guru, eine Biene. Bienen sammeln mit viel Fließ viele Tage lang den Honig. Doch können

sie sich an diesem Honig selbst nicht erfreuen. Ein anderer kommt, bricht die Wabe entzwei und nimmt sie mit. Avadhuta hat von den Bienen gelernt, dass man nichts anhäufen soll. Sadhus sollen sich ganz und gar auf Gott verlassen. Sie dürfen nichts anhäufen. SRI R A M A K R I S H N A : Solange wir Gott nicht geschaut haben, verlässt uns die Ichsucht nicht. Wenn jemand seine Ichsucht verloren hat, hat er mit Sicherheit Gott geschaut. Ein BH AKTA: Wie kann man erkennen, dass jemand Gott geschaut hat? SRI R A M A K R I S H N A : Für die Gottesschau gibt es einige Merkmale. In dem Srimad Bhagavata heißt es, wer Gott geschaut hat, besitzt vier Merkmale. Erstens, er hat die Gefühle eines kleinen Jungen; zweitens, er benimmt sich wie ein Unhold; drittens, er ist bewegungslos wie ein Ding; viertens, er verhält sich wie ein Narr. Wer Gott geschaut hat, fühlt sich wie ein kleiner junge. Er ist jenseits aller festen Verhaltensweisen (gutta), er fühlt sich an keine gebunden. Dann macht er keinen Unterschied zwischen Heiligem und Unheiligem - wie ein Unhold. Dann lacht er einmal und weint dann wieder, wie ein Narr; manchmal ist er wie ein Herr gekleidet, kurz darauf läuft er, seine Kleider unterm Arm, nackt umher, wie ein Verrückter. Manchmal sitzt er auch nur stumm da, wie ein Ding. Ein BHAKTA: Verlieren wir nach der Gottesschau unser Ich-Bewusstsein ganz und gar? SRI R A M A K R I S H N A : Von Zeit zu Zeit ist das Ich-Bewusstsein vollkommen weggewischt - etwa während Samadhi. Oft behält der gottschauende aber ein wenig Ich-Bewusstsein übrig. Doch dieses Ich-Bewusstsein ist nicht schädlich. Wie das Ich-Bewusstsein eines kleinen Jungen. Ein fünfjähriger Junge sagt immerzu „ich" „ich", doch vermag er niemand etwas zuleide zu tun. Wenn Eisen den Stein des Weisen berührt, wird es zu Gold. Ein Eisenschwert wird zu einem Goldschwert. Die Form des

Schwertes bleibt, doch tut es niemandem etwas zuleide. Mit einem Goldschwert kann man nicht schlagen und stechen. Ein BHAKTA: Was können jene tun, die Gott nicht erreicht haben? Sollen die ihre weltlichen Pflichten alle aufgeben? SRI R A M A K R I S H N A : Es ist unmöglich, seine Arbeit aufzugeben. Ich denke an Gott, ich meditiere, auch das ist Arbeit (karma). Wenn Bhakti zu Gott reif wird, werden die weltlichen Pflichten von selbst weniger. Man mag sie nicht mehr. Wer will schon ein Gemisch aus Ralmsaft trinken, wenn er einmal Zuckerwasser mit Joghurt genossen hat. Ein BHAKTA: Die Engländer sagen immerzu: „Arbeite, sei aktiv!" Arbeiten ist doch nicht der Zweck des Lebens? SRI R A M A K R I S H N A : Der Zweck des Lebens ist, Gott zu erreichen. Arbeit ist eine Vorstufe, sie kann nicht der Zweck des Lebens sein. Sogar selbstlose Tätigkeit (niskama karma) ist nur ein Hilfsmittel, nicht der Zweck. Sambhu hat gesagt: „Segnen Sie mich heute nur, dass ich mein Geld ehrlich und nützlich ausgebe - um Krankenhäuser, Apotheken, Straßen und Brunnen, das alles zu bauen." Ich habe gesagt: „Wenn du diese ganze Arbeit begierdelos tun könntest, wäre das gut, doch ist das sehr schwierig. Wie dem auch sei, vergiss nicht, der Zweck des Menschenlebens ist, Gott zu erreichen. Nicht Krankenhäuser und Apotheken zu bauen! Stell dir vor, Gott tritt vor dich hin, und er sagt: ,lch gewähr dir einen Wunsch.' Wirst du dann sagen: ,Baue mir so-und-so-viele Krankenhäuser und Apotheken'? Oder wirst du sagen: Gott, gib mir nur reine Bhakti zu deinen Lotosfüßen, und dass ich dich immerzu sehen kann.'? Krankenhäuser und Apotheken, das alles sind zeitliche Dinge." Allein auf Gott kommt es an, alles andere ist unwichtig. Wer ihn erreicht hat, der weiß: Er tut alles, wir tun nichts. Lohnt es sich also, ihn zu verlassen und sich in vielfältiger Arbeit zu verlieren? Wer ihn erreicht hat, kann, wenn es Gottes Wille ist, viele Krankenhäuser und Apotheken aufbauen. Darum sage ich:

Arbeit (karma) ist eine vorläufige Sache. Arbeit ist nicht der Zweck des Lebens. Übe Sadhana und schreite vorwärts. Wenn du immer weiter übst und weiter fortschreitest, wirst du schließlich einsehen, dass alles auf Gott ankommt, alles andere ist unwichtig; der Zweck des Lebens ist, Gott zu erreichen. SRI R A M A K R I S H N A : Ein Holzfäller ging in den Wald, um Bäume zu fällen. Plötzlich begegnete er einem Mönch (brahmacari). Der Mönch sagte: „O-he, geh vorwärts!" Als der Holzfäller nach Hause zurückgekehrt war, dachte er: Warum hat der Mönch gesagt, ich solle vorwärts gehen? So vergingen ein paar Tage. Als er sich einmal ausruhte, fiel ihm das Wort des Mönchs wieder ein. Da entschloss er sich, heute von jener Stelle weiter vorwärts zu gehen. Als er weiter durch den Wald ging, sah er unzählige Sandelbäume. Freudig brachte er eine Wagenfuhre nach der anderen nach Hause, verkaufte das Holz auf dem Basar und wurde ein reicher Mann. So vergingen ein paar Tage. Dann fiel ihm wieder ein, dass der Mönch gesagt hatte: „Geh vorwärts!" Dann ging er noch tiefer in den Wald hinein und entdeckte an einem Flussufer eine Silbermtne. Das hatte er nicht einmal im Traum für möglich gehalten. Jetzt beutete er nur noch die Mine aus und verkaufte das Silber. Er war so reich, dass sich das Geld nur so hochhäufte. Wieder vergingen ein paar Tage. Dann dachte er einmal zu Hause: Der Mönch hat mir doch nicht befohlen, nur bis zur Silbermine zu gehen. „Geh vorwärts!" hatte er gesagt. Jetzt entdeckte er auf der anderen Seite des Flusses eine Goldmine. Da dachte er: O-ho! Deshalb hat der Mönch gesagt: „Geh vorwärts!" Nach einigen Tagen ging er noch weiter vorwärts und entdeckte einen Haufen von Edelsteinen. Da wurde er so reich wie Kubera.

Darum sage ich: Was du auch tun magst, geh vorwärts, und du wirst immer bessere Dinge bekommen. Wenn du dich nach ein wenig Japa geistig angeregt fühlst, so glaube nicht, du hättest schon alles erreicht, was zu erreichen ist. Arbeit ist jedoch nicht der Zweck des Lebens. Geh vorwärts, und du wirst deine Arbeit selbstlos ausüben. Wer immer weiter vorwärts geht, wird Gott erreichen. Ein B R A H M O - B H A K T A : Wenn jemand vorher oft an Gott gedacht hat, doch nicht in seiner Todesstunde, heißt das, dass er in diese Welt voll Freude und Leid zurückkehren muss? Warum? Vorher hat er doch an Gott gedacht. SRI R A M A K R I S H N A : Zwar denken die Menschen an Gott, doch haben sie keinen Glauben an ihn, sie vergessen ihn wieder; sie haben noch Verlangen nach den Weltdingen. Wie wenn man einen Elefanten badet: Sofort beschmiert er sich wieder mit Staub und Schlamm. Der Geist ist ein tollgewordener Elefant! Doch wenn du den Elefanten sofort nach dem Bad in den Stall führst, kann er sich nicht mit Staub und Schlamm beschmieren. Wenn der Mensch in der Todesstunde an Gott denkt, dann ist sein Geist (mann) rein, und er fühlt sich zu Sinnenfreude und Besitz nicht mehr hingezogen. Wer keinen Glauben an Gott hat, muss viel Leid ertragen. Man sagt, bei einem Bad im Ganges verlassen dich alle deine Sünden und bleiben in den Bäumen am Ufer hängen. Sobald du aber nach deinem Gangesbad das Ufer hinaufsteigst, springen die Sünden wieder auf deine Schultern. (Alle lachen.) Wer beim Verlassen des Körpers an Gott denken will, muss früh dafür ein Mittel bereithalten. Das Mittel heißt: Einübung. Wer eine Gewohnheit daraus macht, an Gott zu denken, der wird auch am letzten Tag an ihn denken. B R A H M O - B H A K T A : Gut gesagt. Was für schöne Worte! SRI R A M A K R I S H N A : Ach was, wir halten nur einen Schwatz! Doch weißt du, wie mir zumute ist? Ich bin ein Instrument, Gott ist der Instrumentenmeister; ich bin das Haus, Gott ist die Hausfrau; ich bin ein Auto, er ist der Ingenieur; ich

bin eine Kutsche, er ist der Kutscher; wie er mich lenkt, fahre ich, was er mir befiehlt, tue ich. S R I R A M A K R I S H N A : Du hast diese Geburt als Mensch empfangen, um dich um Gott zu bemühen. Versuche, so viel Liebe wie möglich zu Gottes Lotosfüßen zu bekommen. Was kümmerst du dich um hunderterlei Dinge? Was nutzen dir die Unterscheidungen der Philosophie? Ein halbes po Schnaps genügt, um dich zu betrinken. Wie viele man Schnaps in der Kneipe vorrätig sind, was kümmert dich das? D O K T O R : Gottes Schnaps ist unendlich. Dieser Schnaps geht nie aus.

Das Leben eines indischen Heiligen Swami Vivekananda (1863-1902)

von Martin Kämpchen

Swami Vivekananda war ein Schüler - der „Meisterschüler" des großen bengalischen Heiligen Sri Ramakrishna. Jener war in einem entlegenen Dorf aufgewachsen, war ohne formale Erziehung geblieben, von Kindheit eingebettet in die Götterund Mythenwelt seines Glaubens, den er niemals angezweifelt oder gar verworfen hat, den er persönlich vertiefte und in seinen Vorstellungen ausweitete, frei machte. Ganz anders Swami Vivekananda: Als Kind der Großstadt Calcutta, damals die Hauptstadt des englischen Kolonialreiches Indien, lernte er an englischen Schulen, folgte also dem Bildungsweg des britischen Erziehungssystems; als College-Student wusste er also besser über den britischen Positivismus als über die indischen Upanishaden Bescheid. Er machte frühe Glaubenskrisen durch und gewann, nach leidvoller Bemühung, einen Glauben, der keineswegs dem seines Guru Ramakrishna entsprach, sondern der die Tradition des Hinduismus mit den Ansprüchen der modernen Welt und mit den Ideen des Westens zu verbinden suchte... Erst als er Ramakrishna begegnete, fand er seine Herausforderung, fand er die Form, die groß genug war, dass er sich in sie hineingießen und in ihr Erfüllung finden konnte. Und doch hat Narendranath - das war Vivekanandas vormonastischer Name - jahrelang mit sich und mit Ramakrishna gerungen, bevor er sich ihm als seinem Guru unterwerfen konnte. Von der ersten Begegnung im November 1881 an - Naren war damals achtzehn Jahre alt - zeigte Ramakrishna ein lebhaftes Interesse an dem jungen Mann. „Er kümmerte sich nicht darum, wie er aussah", erzählte der Meister über diese erste

Begegnung, „sein Haar und seine Kleider waren gar nicht ordentlich. Er schien innerlich ganz losgelöst, als könne nichts Äußeres auf ihn einen Eindruck machen. Seine Augen zeigten, dass sein Denken und Fühlen zum großen Teil ständig nach innen gerichtet waren." Ramakrishna bat den jungen, ein Lied zu singen, und was danach geschah, hat Naren später, als Swami Vivekananda, so beschrieben: „Sobald ich das Lied beendet hatte, stand der Meister auf, nahm mich bei der Hand und führte mich auf die nördliche Veranda. Es war Winter, deshalb waren zwischen die Säulen Matten aufgehängt worden, die den Nordwind abhalten sollten; und das hieß, wenn die Zimmertür geschlossen war, konnten wir auf der Veranda weder von außen noch vom Zimmer gesehen werden. Sobald wir auf der Veranda standen, schloss der Meister die Tür. Ich glaubte, er wolle mir privat einige Unterweisungen geben. Doch was er nun tat, hätte ich niemals für möglich gehalten. Plötzlich griff er nach meiner Hand und begann, Freudentränen zu vergießen. Er sagte zu mir mit einer Zuneigung, als sei ich sein enger Freund: ,Du bist so spät gekommen! War das recht von dir? Hättest du dir nicht denken können, wie sehnsüchtig ich auf dich gewartet habe? Meine Ohren sind fast abgebrannt vom Gerede dieser weltlichen Menschen. Ich dachte, ich müsse zerspringen, weil ich niemanden hatte, dem ich sagen konnte, wie mir wirklich zumute ist!' In dieser Weise fuhr er fort - schwärmend und weinend. Und dann faltete er plötzlich seine Hände und begann, mich wie ein göttliches Wesen anzusprechen: ,Ich weiß, wer du bist, mein Herr. Du bist Nara, der alte Weise, die Inkarnation von Narayana. Du bist zur Erde zurückgekommen, um die Leiden und den Kummer der Menschheit wegzunehmen.' Ich war sprachlos. Ich dachte: ,Was ist das für ein Mensch? Er muss total verrückt sein..."' Einen Monat lang blieb Naren Ramakrishna fern, obwohl er ihm einen Besuch versprochen hatte. Naren befürchtete, seine innere Unabhängigkeit einzubüßen, auf die er verbissen

stolz war. Von niemandem wollte er sich „beherrschen" lassen. Und doch, im Unterschied zu Devendranath hatte dieser unscheinbare, kindliche Mann mit leuchtendem Gesicht gesagt: „Man kann Gott sehen. Ich sehe Gott, wie ich dich jetzt vor mir sehe. Man muss Gott nur aus ganzem Herzen ersehen..." Und es hatte wahr geklungen. Was aber hatte er, Naren, mit Ramakrishnas Kali-Verehrung, mit dem ganzen traditionellen Hinduismus, dem das Herz Ramakrishnas gehörte, zu tun?! Und was für eine „Szene" er ihm gemacht hatte! Naren war verstört, er kämpfte innerlich. Swami Vivekananda hat auch den zweiten Besuch bei Ramakrishna in Dakshineswar (bei Calcutta) ausführlich dargestellt: „Schließlich kam ich in Dakshineswar an und ging sogleich zum Zimmer des Meisters. Ich sah ihn auf dem kleinen Bett sitzen, das neben dem größeren steht, tief in seine Betrachtungen versunken. Niemand war bei ihm. Sobald er mich erblickte, rief er mich freudig herbei und wies mir einen Platz an einem Ende des Bettes an. Er war in einer eigentümlichen Stimmung. Er murmelte etwas vor sich hin, was ich nicht verstehen konnte, blickte mich scharf an, stand dann auf und trat auf mich zu. Ich dachte, es würde wieder eine verrückte Szene geben. Kaum war mir dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, da setzte er seinen rechten Fuß auf meinen Körper. Sogleich hatte ich ein wunderbares Erlebnis. Meine Augen waren weit offen, und ich sah, dass sich alles im Zimmer, sogar die Wände, rasch im Kreise drehte und zurückwich, und gleichzeitig war mir, als ob mein Ich-Bewusstsein, mitsamt dem ganzen Universum, in eine unendliche, alles-verschlingende Leere verschwinde. Die Zerstörung meines Ich-Bewusstsein schien mir wie der Tod zu sein. Ich glaubte, dass ich sehr bald sterben müsse. Ich war nicht mehr fähig, mich in der Gewalt zu halten, und schrie laut auf: ,Ah, was machen Sie mit mir? Wissen Sie nicht, dass ich meine Eltern zu Hause habe?' Als der Meister das hörte, lachte er laut auf. Dann berührte er meine Brust mit der Hand und sagte: ,Nun gut, Schluss für

heute. Es muss nicht alles auf einmal geschehen. Alles zu seiner Zeit!' Zu meinem Erstaunen verschwand diese außergewöhnliche Schau so plötzlich wie sie gekommen war." Der christliche Leser wird über diese Beschreibung erstaunen. Hat Ramakrishna den jungen Naren hypnotisiert? Das hatte jener auch zunächst vermutet. Doch im nächsten Augenblick wusste Naren, dass ihn, den Willensstarken, niemand hypnotisieren konnte. Eine höhere Kraft hatte ihn in ihren Bann gezogen. Es war die sakti des Heiligen, Ramakrishnas spirituelle Kraft, die er durch Meditation und Askese gesammelt und nun auf Naren gerichtet hatte. Die größten Heiligen haben ihre Sakti vollkommen kontrolliert anwenden können, wie ein Instrument, und zwar nicht nur zu eigenem Nutzen, sondern, wie hier, auch, um anderen Menschen spirituelle Erfahrungen „einzugießen". Was im Christentum einzig Gott selbst - der heilige Geist - im Menschen wirkt, das tut der indische Heilige, so sagt er, aus eigener spiritueller Kraft... Ramakrishna hat Naren durch Berührungen immer neue spirituelle Erfahrungen geschenkt, damit sich Narens Geist wandelte und allmählich an das Göttliche gewöhnte. Zusammen mit College-Freunden hatte Naren Witze über die Philosophie des Advaita Vedanta gerissen; sie lehrt, alles sei Gott und nichts bestehe außer ihm. Sind etwa der Stuhl und der Tisch, der Baum und der Grashalm - Gott? Er lachte amüsiert. Einen Tag berührte ihn Ramakrishna, „und dann" erzählte Swami Vivekananda später, „machte mein Denken eine vollständige Verwandlung durch. Ich stellte entsetzt fest, dass es tatsächlich nichts gab im ganzen Universum als Gott. Ich blieb stumm und fragte mich, wie lange dieser Geisteszustand andauern werde. Er verschwand den ganzen Tag nicht. Ich kehrte nach Hause zurück, und dort war mir genauso zumute; alles, was ich sah, war Gott. Ich setzte mich hin, um zu essen, und ich sah, dass alles - der Teller, das Essen, meine Mutter, die es reichte, und ich selbst - alles Gott und nichts als Gott war. Ich schluckte einige Mundvoll herunter und saß dann

bewegungslos und stumm da ... Diese Erfahrung blieb, gleichgültig, was ich tat - ob ich aß, trank, saß, lag, zum College ging oder einen Spaziergang auf der Straße machte ... Als ich schließlich zum normalen Bewusstsein zurückkehrte, war ich davon überzeugt, dass dieser Geisteszustand eine Offenbarung der nicht-dualen (a-dvaita) Erfahrung war." Später sollte Vivekananda ein feuriger Verkünder der Advaita-Vedanta-Lehre von der göttlichen All-Einheit werden; ihm gehört das Verdienst, diese Lehre in eine mitreißende, moderne Sprache - frei von philosophischem Fachdenken gekleidet und neue, für unser modernes Lebensnotwendige Folgerungen aus der All-Einheitslehre gezogen zu haben. Seine für Indien wichtigste Folgerung war: Da wir (alles, was ist) eins sind, wir also auch mit allen Menschen eins sind, tragen wir für alle Menschen dieselbe Verantwortung wie für unser eigenes Leben; und das heißt, wir müssen dem Nächsten dienen, für ihn sorgen, wie wir für uns selbst sorgen. Damit wandte er die Lehre der christlichen Barmherzigkeit - „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" -, die er auf seinen Reisen im Westen kennen lernte, geschickt und mutig auf die altindische Vedanta-Lehre an. Seitdem Vivekananda in ganz Indien das Ideal der seva, „Diente am Nächsten", gepredigt hat, wird es nicht nur in der verdienstvollen karitativen Arbeit der Ramakrishna Mission in die Praxis umgesetzt, sondern es ist aus dem indischen Selbstbewusstsein nicht mehr wegzudenken. Der größte Praktiker dieser Lehre ist Mahatma Gandhi, der Vivekananda gewissermaßen „vollendet" hat, weil jenem in seinem kurzen Leben für mehr als Predigt und Grundlegung der praktischen Arbeit keine Zeit blieb. Im Jahre 1884 starb Narendranaths Vater. Es zeigte sich, dass der freigebige Mann nichts als Schulden hinterließ. Von einem Tag auf den anderen sank die Familie von scheinbar gesichertem Wohlstand in Armut. Naren, als der älteste Sohn, war nun für die Familie verantwortlich. Zum ersten Mal erfuhr er materielle Not.

Naren drängte einer Lösung zu; die innere Spannung durch erfolglose Arbeitssuche, Hunger, Not der Familie und seelische Qualen wurde zu stark. Nicht die Selbstvergessenheit eines weltlichen Lebens wählte er, sondern die Weltvergessenheit des asketischen Lebens: Haus und Familie verlassen und als Wandermönch bettelnd Gott suchen! Das ist die Lösung - glaubte er. Ramakrishna bat Naren, nicht Mönch zu werden, so lange er lebte. Und Naren versprach es. Doch was konnte seine unerträgliche Lage wandeln? Naren bat seinen Guru, zu beten, dass die Geldprobleme der Familie gelöst würden. Ramakrishna, der nie Geld anrührte, entgegnete: Bete du selbst. Als Mitglied des Brahmo Samaj war Naren jedoch dagegen, einen persönlichen Gott anzubeten oder ein Gottesbild zu verehren. Ramakrishna sagte: „Heute ist Dienstag, ein Tag, der der Mutter besonders heilig ist. Geh diese Nacht zum Tempel und bete. Mutter wird dir alles gewähren, worum du bittest. Das verspreche ich dir." Naren ließ es auf einen Versuch ankommen. Als er den Kali-Tempel betrat, bemächtigte sich seiner eine Art Berauschung. Die schwarze Statue der Kali wurde vor seinen Augen lebendig! Überwältigt warf er sich vor ihr zu Boden und betete voll erregter Sehnsucht: „O Mutter, gib mir Unterscheidungsgabe, gib mir Entsagung, gib mir geistiges Wissen, gib mir Liebe zu dir!" Ein Meer von Frieden überschwemmte ihn. Als Naren zurückkehrte, fragte Ramakrishna: „Na? Hast du für deine Familie gebetet?" Betroffen gestand Naren, dass er eben dieses Gebet vergessen hatte. „Schnell, kehr zurück zum Tempel und bitte Kali darum!" Naren gehorchte, doch wieder kam die Berauschung über ihn, wieder überschwemmte ihn, beim Anblick der lebenden Gottesfigur, eine unsagbare Seligkeit; und er bat um Unterscheidungsgabe, geistiges Wissen, Liebe... „Du Narr!" schalt ihn Ramakrishna, „geh sofort zurück und bezwinge dich!" Und ein drittes Mal besuchte Naren den

Tempel. Diesmal vergaß Naren das Gebet nicht, doch empfand er tiefe Beschämung, weil er eine so unbedeutende Bitte vortragen wollte - und er brachte sie nicht über die Lippen! Wiederum bat er um Unterscheidungsgabe, geistiges Wissen, Liebe. „Siehst du, mein Kind" sagte Ramakrishna lächelnd, „auch du kannst nicht um weltlichen Vorteil bitten!" Aber Naren wusste, dass der Meister mit nur einem Wort die Not seiner Familie auslöschen konnte. Warum brachte er es nicht über sich, dieses eine Wort zur Mutter zu sprechen? Zuletzt gab Ramakrishna nach und sagte schlicht: „Gut, deiner Familie wird es niemals an einfacher Nahrung und Kleidung fehlen." Und dieses Versprechen erfüllte sich ... Nur wenige Tage vor seinem Tod rief Sri Ramakrishna seinen Meisterschüler Narendranath zu sich, blickte ihm fest in die Augen und geriet in Ekstase (samadhi). Es war Naren, als nehme eine Kraft von ihm Besitz, allmählich, bis er das Bewusstsein verlor. Als er zu sich kam, sah er, wie Ramakrishna weinte. „Ich habe dir alles gegeben, was ich besitze" flüsterte er. „Jetzt bin ich arm wie ein Bettler!" Er hatte dem Auserwählten seine spirituelle Kraft (sakti) übertragen-ein Pfingsten für Swami Vivekananda! -, damit er in der Welt große Dinge vollbringen könnte. Swami Vivekananda ist tatsächlich der heilige Paulus seines Meisters Ramakrishna geworden. Nach dessen Tod sah er sich sogleich an der Spitze der Schar monastischer Jünger. Er sorgte dafür, dass sie in einem Haus im Stadtteil Baranagar zusammenblieben, dass sie meditierten, über heilige Dinge sprachen, auf dem „Weg" blieben ... Swami Vivekananda hat bis Mitte 1893 die Länge und Breite Indiens durchpilgert. Nach den Lehrjahren zu den Füßen Ramakrishnas lernte er während seiner Wanderjahre die gesamte Skala der indischen Wirklichkeit kennen: tiefe Gottesliebe, Aberglauben, märchenhafter Reichtum, Hunger ... Dem Ethos des Samyasi entsprechend, machte er keine Unterschie-

de der Kaste und der gesellschaftlichen Klasse. Er aß an den Tischen der Maharajas und wurde ihr Vertrauter, am nächsten Tag saß er vielleicht in der Dorfhütte eines armen Bauern. Er wechselte häufig seinen Namen, um unerkannt zu bleiben. Hatte Ramakrishna ihm eine spirituelle und asketische Schulung gegeben, so war seine Wanderschaft die Schule des gesellschaftlichen Lebens. Als er später seine sozial-religiösen Reformpläne für Indien verkündete und sie mit den Mönchen des Ramakrishna-Ordens in die Tat umzusetzen versuchte, hat er von dieser Erfahrung gezehrt: Er wusste, wovon er sprach. Seine Wanderschaft war auch die Schule eines tiefen Mitleids, das besonders für arme Menschen angesichts ihrer Ausbeutung und Erniedrigung in ihm wuchs. Mehrmals versuchte er, sich in eine Höhle im Himalaya zurückzuziehen, um ein ausschließlich kontemplatives Leben zu führen, und jedes Mal schleuderte ihn „eine unwiderstehbare Kraft" wieder hinaus unter Menschen. Im Sommer 1893 ist Swami Vivekananda nach Amerika aufgebrochen, um in Chikago an dem „Parlament of Religion" teilzunehmen. Der Erfolg seiner universalistischen religiösen Botschaft war so durchschlagend, dass er bis Ende 1896 in Nordamerika und in Europa Vorträge geben und Missionszentren aufbauen konnte, sowie einflussreiche Freunde gewann, mit deren Hilfe er, nach Indien zurückgekehrt, den modernen Hindu-Orden, die Ramakrishna Mission, errichtete. Ein zweites Mal fuhr Swami Vivekananda 1900 in die Vereinigten Staaten und nach Europa. Danach verließ ihn sein unbändiger Aktivismus; Swami Vivekananda war müde geworden und verbrachte die letzten beiden Lebensjahre in Meditation und Gebet. Am 4. Juli 1902 ist Swami Vivekananda, noch nicht vierzigjährig gestorben. Ramakrishna hatte vorausgesagt, dass er einen durch Yoga willentlich herbeigeführten Tod sterben werde. Eine Woche vor dem Ende studierte er den Kalender, um, wie man später erkannte, einen geheiligten Tag für den

Tod zu bestimmen, drei Tage vorher bat er einen Mitbruder, dass man seinen Körper an einem Ort in Belur Math verbrenne, den er ihm zeigte. An seinem Todestag erschien er kräftiger als sonst und nahm darum seine Mittagsmahlzeit mit den anderen Mönchen ein; er unterrichtete die Novizen, machte nachmittags einen ausgedehnten Spaziergang. Dann zog er sich in sein Zimmer zurück, meditierte, rief später einen jungen Mönch, der ihm Luft zufächelte. Der Swami lag bewegungslos auf dem Bett. Schlief er, meditierte er? Zweimal hintereinander atmete er sehr tief. Der Ausdruck seines Gesichtes wandelte sich; ein göttlicher Glanz lag darauf. Er war in maha-samadhi, die „Große Ekstase" eingekehrt.

Nicht-Gewalt, Mitleid und Spiritualität von Mahatma Gandhi

Ahimsa (Nicht-Gewalt) ist ein umfassendes Prinzip. Wir sind hilflose Sterbliche, von der Feuersbrunst von Himsa (Gewalt) eingefangen. In der Redewendung, dass Leben von Leben lebt, steckt ein tiefer Sinn. Der Mensch kann keinen Augenblick leben, ohne äußerlich, bewusst oder unbewusst, Himsa zu begehen. Die bloße Tatsache seines Lebens - Essen, Trinken und äußere Bewegung - schließt notwendig etwas Hitnsa, Zerstörung von Leben, und sei sie noch so winzig ein. Ein AhimsaBekenner bleibt daher seinem Glauben treu, wenn der Ursprung all seines Tuns Mitleid ist, wenn er, so gut er es vermag, die Zerstörung des kleinsten Lebewesens vermeidet, es zu retten sucht und sich so unablässig bemüht, von der tödlichen Verstrickung in Himsa frei zu werden. Er wird daher ständig an Selbstzucht und Mitleid zunehmen, doch völlig von äußerer Himsa frei werden kann er nie. Ich glaube, dass der Mensch, da ihm nicht gegeben ist, etwas zu erschaffen, nicht das Recht hat, auch nur die kleinste Kreatur, die da lebt, zu zerstören. Das Vorrecht der Vernichtung gehört einzig und allein dem Schöpfer alles Lebendigen. Ich nehme gern die Auslegung von Ahimsa (Nicht-Gewalt) an, derzufolge Ahimsa nicht bloß einen negativen Zustand bedeutet, nämlich Unfähigkeit, Böses zu tun, sondern einen positiven Zustand, das heißt Liebe zu erweisen und Gutes zu tun, sogar dem Missetäter. Doch bedeutet es nicht, dem Übeltäter in seinem ungerechten Werke beizustehen oder es in schweigsamer Duldung hinzunehmen. Im Gegenteil, die Liebe als aktive Qualität von Ahimsa verlangt, dem Übeltäter zu wider-

stehen, mag es ihn auch beleidigen oder seelisch oder körperlich treffen. Der Geist der Nicht-Gewalt führt notwendig zur Demut. Nicht-Gewalt heißt Gott vertrauen, dem ewig Unerschütterlichen. Wenn wir aber seine Hilfe suchen wollen, müssen wir ihm demütigen und reuigen Herzens nahen. Wir müssen es dem Mangobaum gleichtun, der sich niederbeugt, wenn er Früchte trägt. Seine Größe liegt in seiner majestätischen Demut. Mögen wir uns auch des bisher erzielten Fortschrittes freuen, so haben wir doch noch keinen Grund, stolz zu sein. Wir müssten noch viel mehr opfern, als wir schon geopfert haben, um zum Stolz berechtigt zu sein, geschweige denn zur Überheblichkeit. Meine stets gleichbleibende Erfahrung hat mich überzeugt, dass es keinen anderen Gott als die Wahrheit gibt. Und wenn nicht jede Seite dem Leser verkündet, Ahimsa (Nicht-Gewalt) sei das einzige Mittel zur Verwirklichung der Wahrheit, so halte ich all meine Mühe beim Schreiben für vergeudet. Und selbst wenn meine Anstrengungen in diese Richtung sich als fruchtlos erweisen sollten, müssen die Leser wissen, dass das Mittel, nicht das Grundprinzip, falsch ist. Denn wie aufrichtig auch mein Streben nach Ahimsa gewesen sein mag, es ist doch noch unvollkommen und inadäquat gewesen. Daher können die wenigen flüchtigen Schimmer, die ich von der Wahrheit erhaschen konnte, schwerlich eine Vorstellung von dem unbeschreiblichen Glanz der Wahrheit geben, die eine Million mal stärker ist als jener Glanz der Sonne, die wir täglich mit unseren Augen sehen. Tatsächlich ist, was ich auffangen konnte, nur ein ganz blasser Abglanz dieses mächtigen Leuchtens. Doch so viel wenigstens kann ich mit Sicherheit als Ergebnis all meiner Experimente sagen, dass eine vollkommene Schau der Wahrheit nur die Folge völliger Verwirklichung von Ahimsa sein kann.

Um den allgemeinen und alles durchdringenden Geist der Wahrheit von Angesicht zu Angesicht zu schauen, muss man fähig sein, das geringste Geschöpf zu lieben wie sich selbst. Und jemand, der danach strebt, kann es sich nicht leisten, sich aus allen Bereichen weltlichen Lebens herauszuhalten. Deshalb hat meine Hingabe an die Wahrheit mich ins Feld der Politik getrieben. Ich kann ohne das mindeste Zögern sagen, dass, wer behauptet, Religion habe nichts mit Politik zu tun, nicht weiß, was Religion bedeutet. Identifizierung mit allem, was lebt, ist unmöglich ohne Selbstläuterung; ohne Selbstläuterung muss die Einhaltung des Akimsa-Gebotes ein leerer Traum bleiben. Gott kann nie von jemandem realisiert werden, der nicht reinen Herzens ist. Selbstläuterung muss daher Läuterung bei allen Lebensschritten bedeuten. Und da Läuterung höchst ansteckend ist, führt die Läuterung von einem selbst zur Läuterung seiner Umgebung. Doch der Weg der Selbstläuterung ist hart und steil. Um vollkommene Reinheit zu erlangen, muss man völlig leidenschaftslos werden im Denken, Reden und Tun, muss man sich erheben über die gegenlaufenden Strömungen von Liebe und Hass, Zuneigung und Abstoßung. Ich weiß, dass ich in mir noch nicht diese dreifache Reinheit besitze, obwohl ich mich ständig um sie bemühe. Deshalb macht das Lob der Welt keinen Eindruck auf mich, verletzt mich vielmehr sehr oft. Herr über die feinen Leidenschaften zu werden, scheint mir weit schwerer als die physische Eroberung der Welt durch Waffengewalt. Selbst nach meiner Rückkehr nach Indien habe ich Erfahrungen mit den schlummernden Leidenschaften machen müssen, die verborgen in mir liegen. Das Wissen um sie hat mir ein Gefühl von Demütigung gegeben, nicht aber von Niedergeschlagenheit. Die Erfahrung und Experimente haben mich aufrechterhalten und mich mit großer Freude erfüllt. Doch ich weiß, dass ich noch einen schwierigen Weg vor mir habe. Ich muss mein Ich auf Null herabsetzen. Solange ein

Mensch sich nicht freiwillig als letztes seiner Mitgeschöpfe ansieht, gibt es kein Heil für ihn. Ahimsa ist die weiteste Grenze der Demut. Ich glaube, es ist für einen Menschen erniedrigend, müßig zu bleiben und von Almosen zu leben. Als ich einmal einen Streik leitete, konnte ich nicht dulden, dass die Streikenden auch nur einen Tag lang müßig blieben, und ließ sie Steine klopfen und Sand fahren und an öffentlichen Wegen arbeiten, wobei ich meine Mitarbeiter aufforderte, sich dieser Tätigkeit anzuschließen. Stellen Sie sich also vor, was es für eine Kalamität sein muss, dreihundert Millionen Arbeitslose zu haben, die jeden Tag erniedrigt werden aus Mangel an Beschäftigung, ohne Selbstachtung, ohne Glauben an Gott. Ich wage es nicht, ihnen die Botschaft Gottes zu verkündigen. Ich könnte ebenso gut diesem Hunde hier die Botschaft Gottes verkünden als diesen verhungerten Millionen, die keinen Glanz in den Augen haben und deren einzige Gottheit Brot heißt. Ich kann ihnen nur Gottes Botschaft bringen, wenn ich ihnen die heilige Botschaft der Arbeit bringe. Es ist leicht genug, von Gott zu reden, während wir hier sitzen und ein gutes Frühstück hinter uns, ein noch besseres Mittagessen vor uns haben; aber wie soll ich über Gott zu Millionen reden, die ohne zwei Mahlzeiten am Tag auskommen müssen? Ihnen kann Gott nur in Form von Brot und Butter erscheinen. Begriffe wie „Aparigraha" (Nicht-Besitz) und „Samabhava" (Gleichmut) ergriffen mich. Die Frage war, wie dieser Gleichmut zu erlangen und zu bewahren sei. Wie konnte man beleidigende, unverschämte und korrupte Beamte, Mitarbeiter von einst, die sinnlosen Widerstand leisteten, und Menschen, die stets gut zu einem gewesen waren, auf gleiche Weise behandeln? Wie konnte man sich von allem Besitz frei machen? War nicht schon der Körper selbst Besitz? Waren nicht Frau und Kinder Besitztümer? Sollte ich alle Bücherschränke zerstören,

die ich besaß? Sollte ich alles aufgeben, was ich hatte und Gott nachfolgen? Unmittelbar kam die Antwort: Ich konnte Gott nicht folgen, sofern ich nicht alles aufgab, was ich hatte. Mein Studium des englischen Rechts kam mir zu Hilfe. Snells Erörterung der Grundsätze der Gerechtigkeit kam mir ins Gedächtnis. Ich verstand im Lichte der Gita-Lehre klarer den Begriff des Wortes „Treuhänder". Meine Achtung vor der Rechtswissenschaft wuchs, ich entdeckte Religion in ihr. Ich verstand die Lehre der Gita vom Nichtbesitz in der Bedeutung, dass, wer Erlösung wünscht, sich wie ein Treuhänder verhalten sollte, der obwohl er die Kontrolle über große Besitztümer hat, nicht einen Deut davon als Eigentum ansieht. Es wurde mir klar, wie der Tag, dass Nichtbesitz und Gleichmut eine Wandlung des Herzens, eine Wandlung der Haltung voraussetzen. Das Beten ist die Rettung meines Lebens gewesen. Ohne es wäre ich schon verrückt geworden ... Jetzt kann ich Ihnen sagen, dass Beten nicht in dem Sinne Teil meines Lebens gewesen ist, wie es die Wahrheit gewesen ist. Es entsprang reiner Notwendigkeit, denn ich befand mich in einer Verlegenheit: Es war mir unmöglich, ohne es glücklich zu sein. Mit der Zeit wuchs mein Glaube an Gott, und umso unwiderstehlicher wurde mein Verlangen nach Beten. Ohne es schien mein Leben närrisch und leer. Ich war in Südafrika mit dem christlichen Kult in Berührung gekommen, doch es gelang ihm nicht, mich zu fesseln. Ich konnte mich nicht mit den Christen im Gebet zusammenfinden. Sie bettelten Gott an, doch ich konnte das nicht tun, es missriet mir völlig. Ich versuchte es mit Unglauben an Gott und Gebet und fühlte nichts als eine Leere im Leben. Doch in diesem Stadium spürte ich, dass Beten so unentbehrlich für die Seele war wie Nahrung für den Körper. Tatsächlich ist Nahrung für den Leib nicht einmal so nötig wie Beten für die Seele. Denn Fasten ist oft nötig, um den Körper gesund zu erhalten, doch es gibt nicht so etwas wie Gebetsfasten. Sie können sich unmöglich am Beten überessen.

Drei der größten Lehrer der Welt - Buddha, Jesus und Mohammed - haben einwandfrei bezeugt, dass sie durch Beten Erleuchtung empfingen und ohne es nicht leben konnten. Aber um ein näherliegendes Beispiel zu geben: Millionen von Hindus, Moslems und Christen finden den einzigen Trost ihres Lebens im Gebet. In beiden Fällen können Sie das Zeugnis entkräften durch die Behauptung, es handle sich um Lügner oder Leute, die sich selbst betrögen. Nun gut, dann muss ich sagen, dass diese Lüge einen Zauber hat für mich, einen Wahrheitssucher - sofern diese Stütze oder Stab des Lebens, ohne den ich das Leben keinen Augenblick ertragen könnte, eine Lüge genannt werden kann. Mag mir auch die Verzweiflung über die politische Lage ins Antlitz starren, so habe ich doch nie meinen Frieden verloren. Tatsächlich habe ich Leute gefunden, die mich um meinen Frieden beneiden. Nun, dieser Friede, kann ich ihnen sagen, kommt vom Beten. Ich bin dabei gleichgültig gegen dessen Form. Jedermann ist in dieser Beziehung sein eigenes Gesetz. Doch es gibt ein paar gut markierte Wege, und es ist sicher, sich längs der gebahnten Pfade, die von den alten Lehrern begangen wurden, zu bewegen. Es gibt gewisse Dinge, die selbst-evident sind, und andere, die überhaupt nicht bewiesen werden. Gottes Dasein ist wie ein geometrisches Axiom. Er mag sogar jenseits der Fassungskraft Ihres Herzens sein. Ich will gar nicht von intellektueller Fassungskraft reden. Intellektuelle Anstrengungen sind mehr oder weniger Versager, denn eine rationale Erklärung kann Ihnen nicht den Glauben an einen lebenden Gott geben. Er ist nämlich etwas jenseits der rationalen Erfassung, etwas Transzendentes. Wohl gibt es mancherlei Erscheinungen, aus denen Sie das Dasein Gottes rational erschließen können; doch ich will Ihre Intelligenz nicht beleidigen, indem ich Ihnen eine rationale Erklärung dieser Art zumute. Ich wünschte, Sie fegten alle rationalen Erklärungen weg und begönnen mit einem kindlich einfachen Glauben an Gott. Wenn ich existiere, existiert Gott. Für mich ist das eine Not-

wendigkeit meines Wesens, wie es für Millionen eine ist. Sie mögen außerstande sein, darüber zu reden, doch an ihrem Leben können Sie merken, dass es ein Teil ihres Lebens ist. Ich bitte Sie nur, den Glauben, der untergraben war, wieder herzustellen. Um das zu tun, müssen Sie eine Menge verlernen von dem, was Ihren Verstand blendet und Sie umwirft. Beginnen Sie mit dem Glauben, der zugleich ein Zeichen der Verdemütigung ist und ein Eingeständnis, dass wir nichts wissen, dass wir weniger sind als Atome in diesem Universum. Wir sind weniger als Atome, sage ich, denn das Atom gehorcht dem Gesetz seines Seins, während wir in dem Ubermut unserer Unwissenheit das Gesetz der Natur verleugnen. Doch ich habe denen, die keinen Glauben haben, kein intellektuelles Argument zu bieten. Wenn Sie einmal Gottes Dasein annehmen, so ist die Notwendigkeit des Betens unausweichlich. Lassen Sie uns nicht den überheblichen Anspruch erheben, unser ganzes Leben sei ein Gebet, und deshalb brauchten wir uns nicht zu bestimmten Stunden zum Beten hinzusetzen. Selbst Menschen, die jederzeit in Übereinstimmung mit dem Unendlichen waren, erhoben keinen solchen Anspruch. Ihr Leben war ein beständiges Beten, und trotzdem beteten sie - für uns, können wir annehmen - zu bestimmten Stunden und erneuerten täglich ihr Treuegelöbnis zu Gott. Gott besteht natürlich niemals auf dem Gelöbnis, doch wir müssen unser Gelübde täglich erneuern, und ich versichere Ihnen, dass wir dann von allem erdenklichen Übel im Leben frei sein werden. Leid ist das Gesetz der menschlichen Wesen; Krieg ist das Gesetz des Dschungels. Aber Leid ist unendlich mächtiger als das Gesetz des Dschungels, denn es bekehrt den Gegner und öffnet seine sonst verschlossenen Ohren der Stimme der Vernunft. Vielleicht hat niemand mehr Bittschriften aufgesetzt und mehr verlorene Prozesse übernommen als ich, und ich bin dabei zu dem fundamentalen Schluss gekommen: Wenn

man etwas wirklich Wichtiges bewirken will, muss man nicht nur die Vernunft befriedigen, sondern zugleich das Herz rühren. Der Appell an die Vernunft ist mehr als eine Kopfangelegenheit, doch die Rührung des Herzens geschieht durch Leiden. Das erschließt das innere Verständnis im Menschen. Leiden ist das Kennzeichen des Menschengeschlechtes, nicht das Schwert. Hohes Denken ist unverträglich mit einem komplizierten, auf großen Aufwand gegründeten materiellen Leben, das uns durch den Mammonskult aufgezwungen wird. Aller Charme des Lebens ist nur möglich, wenn wir die Kunst lernen, in edler Einfachheit zu leben. Es mag sensationell sein, gefährlich zu leben. Wir müssen einen Unterschied machen zwischen dem Leben angesichts der Gefahr und dem Gefährlich-Leben. Ein Mann, der es wagt, allein in einem Walde zu leben, der von wilden Tieren und wilderen Menschen bewohnt ist, und zwar ohne Gewehr mit Gott als seiner einzigen Hilfe, lebt angesichts der Gefahr. Ein Mann, der stets auf dem Seil lebt und Kopfsprünge zur Erde hinab macht zum Staunen der gaffenden Welt, lebt gefährlich. Das eine Leben ist sinnvoll, das andere sinnlos... Meditation und Anbetung sind nicht so exklusiv, dass man sie wie Juwelen in einer sicher verschlossenen Schatulle aufbewahren miisste. Sie sollen vielmehr in jeder unserer Handlungen sichtbar werden. Es gibt keinen reineren und Gott wohlgefälligeren Gottesdienst als den selbstlosen Dienst an den Armen. Die Reichen in ihrer Arroganz und in ihrem intellektuellen Stolz vergessen Gott oft und stellen sogar seine Existenz in Frage. Doch Gott wohnt unter den Armen, denn sie klammern sich an ihn, der ihre einzige Zuflucht und ihr Schutz ist. Den Armen dienen heißt also, ihm selbst zu dienen.

Wenn wir in uns die Fähigkeit entwickeln wollen, alle Menschen als gleich anzusehen, dann sollte es auch unser Ziel sein, nur das zu bekommen, was auch der Rest der Welt bekommt. Wenn also die ganze Welt Milch bekommt, dann sollen auch wir welche haben. Wir müssten also zu Gott beten und sagen: „O Gott, wenn du es wünschst, dass ich Milch bekomme, dann gib sie erst dem Rest der Welt." Doch wer kann in dieser Weise beten? Nur der, der so sehr mit den anderen mitempfindet und sich für ihr Wohl einsetzt. Auch wenn wir dieses Prinzip nicht verwirklichen können, müssen wir es doch wenigstens verstehen und gutheißen. Darum sollte zur Zeit unser einziges Gebet zu Gott darin bestehen, dass er von uns, die wir so tief gefallen sind, auch die kleinen Dinge annimmt, die wir tun können. Auch wenn wir in dieser Richtung keine sehr großen Fortschritte machen, möge er uns dennoch die Kraft geben, unseren Besitz einzuschränken.

BUDDHISMUS

Ein Mönch sagte einmal zu Fuketsu: „Ich hörte Euch einst Erstaunliches sagen, und zwar, dass Wahrheit mitgeteilt werden könne, ohne darüber zu reden, aber auch ohne zu schweigen. Könnt Ihr mir das bitte erklären?" Fuketsu antwortete: „Als ich ein kleiner Junge in Südchina war, wie sangen da im Frühling die Vögel in den blühenden Bäumen!" (Anthony de Mello, Zeiten des Glücks, S. 181)

Einführung von Detlef Kantowsky

In einem „buddhistischen Land" wie zum Beispiel Sri Lanka sehen wir an Vollmond-Feiertagen viele in festliches Weiß gekleidete Gläubige auf dem Weg zum Tempel; die Frauen und meist auch Kinder tragen kleine Blumengebinde, die sie vor der Buddha-Statue ablegen; dazu wird leise der folgende Vers gesprochen: Mit frischen Blüten verehre ich den Buddha, dieses achtsame Tun bewirke Befreiung. So wie diese Blumen welken, geht auch mein Körper den Weg des Verfalls. Möge mein Geist geheilt werden von täuschenden Illusionen. Wie das? Wie können einige Blumen zur Verehrung eines gewissen Buddha „Befreiung" bewirken? Von welchen täuschenden Illusionen soll durch achtsames Tun der „Geist geheilt werden"? Buddha lehrte keinen „Buddhismus" und auch keine buddhistische Philosophie: „Dhamma" ist keine „Theorie mittlerer Reichweite" sondern das von ihm erkannte Gesetz, das universelle Wahrheiten ausdrückt. So wie in eine Elefantenspur die Spuren aller anderen Tiere passen, so ist dem eigenen Verständnis nach die Lehre des Dhamma umfassend und schließt alle übrigen Erklärungssysteme mit ein. Dennoch wurde keine „Weltdeutung" entwickelt, sondern nur das mitgeteilt, was zur Heilung vom Ich-Wahn tauglich schien. Buddha machte das seinen Schülern klar, indem er sie in einem Wald

einmal fragte, wo denn jetzt mehr Blätter seien, in seiner Hand oder auf den Bäumen über ihnen? Ebenso habe er aus der Fülle des Durchschauten nur wenige Dinge offenbart, und warum die anderen nicht? „Weil sie nichts nutzen, nicht heilen, nicht zur Abkehr, zur Leidenschaftslosigkeit, zur Beruhigung, zum rechten Verständnis, zur Weisheit führen." An anderer Stelle verteidigte er sich gegen die argumentative Spitzfindigkeit von gelehrten Brahmanen mit den Worten: „Früher und heute lehre ich nur eines: das Leiden und des Leidens Aufhebung." Je nach Situation und „Hörfähigkeit" wurden die Zeitgenossen aufgenommen und belehrt. Einer verzweifelten Mutter zum Beispiel, die mit ihrem toten Kind im Arm zu dem berühmten „Meister" eilte, hätte eine Belehrung über die „fünf Aneignungsgruppen" gewiss wenig geholfen. Der Buddha forderte sie nur auf, ihm schnell eine Handvoll Senfsamen aus einem Haus zu bringen, in dem in den letzten Jahren niemand gestorben sei. Das brachte sie auf den Weg und verhalf ihr zur eigenen Einsicht in die Vergänglichkeit. Als „geheilt" kehrte sie aus dem Dorf zum Rastplatz der Mönche zurück, jetzt aufgeschlossen für eine tiefergehende Belehrung über Möglichkeiten der Befreiung vom Leiden-schaffend-lichen „Ich" das so lange „Dukkha" („Getrenntsein vom Lieben") erfahren wird, wie es in egozentrischen Kategorien von „mein" und „dein" die Welt ergreift und festzuhalten sucht. Gewiss, die Geräusche des Entstehens und Vergehens sind als Teil der dhammischen Prozesse immer vorhanden, doch zum schmerzenden Lärm („Vom Lieben getrennt" „mit Unlieben vereint") werden sie erst durch Aneignungstendenzen falsch programmierter Hörer, die so lange in die Irre gehen und immer wieder unbefriedigende Karmaformationen „Dukkha" also, erleiden müssen, wie sie Wahn-sinnig bleiben. Diese blinde Unwissenheit setzte Buddha mit einem fehlenden Verständnis der vier Grundwahrheiten gleich: „Das

Leiden nicht verstehen, seine Entstehung nicht verstehen, seine Erlöschung nicht verstehen und den zur Erlöschung führenden Pfad nicht verstehen: Das, ihr Brüder, nennt man die Unwissenheit." Ausgangspunkt für ein neues, das befreiende Wissen ist die Einsicht in die drei Grundmerkmale jeglicher Existenz: 1. Alle Gestaltungen („Sankhara") sind vergänglich („anicca"). 2. Alle Gestaltungen („Sankhara") unterliegen dem Leiden („dukkha"). 3. Alle Elemente der Wirklichkeit („dhamma") haben keinen festen und unveränderlichen Kern („anatta"). Die zeitgenössischen Heilslehren mit ihrer Grundannahme eines ewigen „Atman" als Grundlage der Person wurden also vom Buddha überwunden durch die befreiende Erkenntnis der Offenheit allen Da-Seins, das so lange nur als unbefriedigend („dukkha") erlitten wird, wie sich ein fiktives „Ich" den Fließgesetzen der Vergänglichkeit („anicca") entgegenstellt und festzuhalten sucht, was im Grunde leer („anatta") ist. Anstelle des nicht nachweisbaren „Atman" werden vom Buddha „fünf Aneignungsgruppen" („Khanda": 1. Körper, 2. Gefühl, 3. Wahrnehmung, 4. Denken, 5. Bewusstsein) als neues Denkmodell eingeführt, über deren ein „Da-Sein" signalisierende Wirkungen sich die Illusion eines festen, unveränderlichen „Ich" herstellt: Die sogenannte Person ist „in Wirklichkeit" (d. h. in Gedanken, Worten und Taten bewirkend und erlebend) nach buddhistischer Erkenntnislehre ein andauernder Prozess körperlich-geistigen Wertewandels, in dem sich weder bei punktueller noch ganzheitlicher Betrachtung eine unabhängige IchHeit, etwas Un-Teilbares, ein In-Dividuum feststellen lässt: Über die Sinnesorgane entstehen im Körper Gefühle, diese werden zu Wahrnehmungen verarbeitet und spiegeln die Objekte der Außenwelt im Geist des Wahrnehmenden wider,

veranlassen ihn zu denkerischen Gestaltungen und prägen sein Bewusstsein. Diesen unbewusst und mit unglaublicher Schnelligkeit immer wieder ablaufenden Prozess der Selbst-Bestätigung am Gegenstand gilt es zu durchschauen, um nicht immer wieder in dualistischen Kategorien von „Sein" oder „Nichtsein" festzulegen, was nur als andauernder Prozess des wechselseitigen „Inter-esse" richtig zu begreifen ist. Wie könnte ich Leben einatmen ohne den Baum, wie könnte der Baum ohne „meine" Ausatmung leben? Wenn wir die wechselseitige Bedingtheit des Lebensprozesses richtig verstehen, dann haben Mensch und Baum ein gemeinsames Interesse als Lebensgrundlage und sind als getrennte Lebensformen nur für unwissend IchSüchtige denkbar. Um die so verstandene Offenheit unserer Existenz und das geheime Inter-Esse aller Wesen richtig praktizieren zu können, ist die einengende Ich-Illusion zu überwinden. Entsprechend nachdrücklich schärfte der Lehrer seinen Schülern und Schülerinnen immer wieder ein: „Der Körper ist Nicht-Ich. Denn wäre dieser Körper das Ich, nicht würde er dann der Krankheit anheimfallen. Gebieten könnte man dann dem Körper: So möge er sein, so möge er nicht sein." Mit gleichen Worten wurde die Nicht-Ichheit auch der Gefühle, der Wahrnehmungsprozesse, des Denkens und des Bewusstseins beschrieben und deutlich gemacht, dass ihre jeweiligen Zuständlichkeiten eigenen Regeln unterliegen und vergänglich sind. Wie mit dieser Einsicht aber heilsam umgehen? „Kurz gesagt, die ,fünf Aneignungsgruppen' sind leidhaft",

das ist die Grundthese der ersten Wahrheit.

Dieses Leid, so erklärte Buddha den Zeitgenossen mit seiner zweiten Grundthese dann weiter, wird durch den Durst („tanha") nach Wohl ständig neu geschaffen. Weil derart selbst-geschaffen, ist „Selbst"befreiung vom Leiden durch Überwindung des Durstes möglich, besagt die

dritte Wahrheit.

Acht Übungsbereiche („achtgliedriger Pfad") bieten das Notwendende Wissen, die zugehörigen Praktiken und vertiefenden Methoden an, um den bedingt entstandenen Durst derart zu löschen, dass nicht immer wieder neues „Dukkha" gewirkt wird, sondern befreiende Aussicht auf neue Zufriedenheit („Sukha") sich aufzutun beginnt. Das ist die vierte Wahrheit: - Rechte Erkenntnis besteht in der Erkenntnis des Leidens, seiner Bedingungen und der Möglichkeit zur Befreiung davon. - Rechte Gesinnung hilft die Schleier täuschender Unwissenheit zu lüften und sich des „Wahn"sinns immer neuer selbstsüchtiger Gestaltungsprozesse bewusst zu werden. - Rechte Rede ist eine praktische Äußerung derart einsetzender Transformationen und hilft, neue Bewusstseinsinhalte zu pflegen. - Rechtes Handeln setzt eine neue Kultivierung des psychophysischen Zusammenspiels von Geist und Körper voraus; es kennt die besondere Bedeutung der Sinnestore als Mittler zwischen Innen- und Außenwelten und bewacht sie entsprechend. - Rechter Lebenserwerb bedeutet die achtsame Pflege aller Berührungen zwischen „Ich" und „Welt" im Sinne zunehmender „Selbstüberwindung. - Rechte Anstrengung ist bemüht, derart heilsame Empfindungen des mitweltlichen Gewahrseins zu mehren und die unheilsamen „Gegen"regungen (der „Ich"bestätigung am Gegen-Stand) immer wirksamer zu überwinden. - Rechte Achtsamkeit bewacht den „Ich"trunkenen Durst und seine wohlsüchtigen Tendenzen des Anhaftens. - Rechte Sammlung bewirkt die Transformation neuer Werdeund Verwirklichungsprozesse, so dass einem zunehmend heilsamere Handlungssituationen begegnen (Karma = Schaffsal), die durch immer weniger Unwissenheit konditioniert werden.

Interesse ist dann nicht mehr in eine aus dem Lateinischen abgeleitete Chiffre zur Begründung von Eigennutz, sondern wird wörtlich wahrgenommen als mitweltliches „Dazwischen-Sein", eine Lebensform der Anteilnahme und Mitfreude, „selbst"befreit von den Extremen des Alles oder Nichts. So mit neuer Achtsamkeit gesehen, kann eine frische Blüte im Westen nicht weniger als im Osten helfen, unseren Geist zu heilen von täuschenden Illusionen.

Der Weg des Buddha Buddhistische Texte der Frühzeit

gesammelt von Mircea Eliade

Gautama Buddha spricht zu Sariputta, einem seiner Lieblingsjünger, und berichtet über seine asketischen Übungen Ich habe, o Sariputta, vierfache Askese geübt: ich habe mich aufs Äußerste kasteit, ich lebte sehr elend, sehr rücksichtsvoll und in äußerster Einsamkeit. Zu einem solchen Grad der Askese bin ich gelangt, dass ich nackt war und schicklichen Anstand missachtete, ich leckte mir nach dem Essen die Hände ab; ich ließ mich nicht zum Verweilen auffordern; ich nahm keine Nahrung, die man mir brachte, die besonders für mich zubereitet war; ich nahm niemals eine Einladung an; ich nahm keine Nahrung direkt aus dem Topf oder der Pfanne oder von der Türschwelle oder zwischen Stöcken und Dreschflegeln, nichts von zweien, die zusammen aßen, nichts von einer schwangeren Frau, nichts von einer stillenden Mutter, nichts von einer Frau, die Geschlechtsverkehr hatte, nichts von der Nachlese in Hungerzeiten, nichts, wo ein Hund in der Nähe war oder Fliegen flogen; niemals berührte ich Fleisch, noch trank ich starke, berauschende Getränke. Ich besuchte nur ein Haus am Tag und nahm dort nur einen Bissen, oder ich besuchte nur zwei Häuser und nicht mehr als sieben Häuser und nahm in jedem nur zwei und nicht mehr als sieben Bissen. Ich lebte nur von einer einzigen Schale Nahrung am Tag oder von zwei oder bis zu sieben Schalen. Ich nahm nur eine Mahlzeit am Tag oder nur jeden zweiten Tag oder nur alle sieben Tage oder nur alle vierzehn Tage; es war ein strenger Maßstab. Meine einzige Nahrung

waren grüne Kräuter oder wilde Hirse oder roher Reis oder Wasserpflanzen oder Gras oder Kuhmist. Ich habe von wilden Wurzeln und Früchten gelebt oder von Fallobst. Meine Kleidung war aus Hanf oder Halbhanf, oder es war ein Leichengewand oder Lumpen vom Müllhaufen oder Bast oder Antilopenfell oder Rosshaar oder aus Eulenfedern. In Erfüllung meiner Gelübde habe ich mir Kopf- und Barthaar abgerissen, habe stets aufrecht gestanden und mich niemals gesetzt, ich habe auf einem Lager von Dornen geschlafen. Ich pflegte dreimal vor Einbruch der Nacht zu baden. So habe ich in mannigfacher Weise meinen Körper gequält und kasteit. Und so weit bin ich im Ekel gegangen, dass sich an meinem Körper der Staub und Dreck von Jahren angesammelt hatte, bis er von selbst abfiel. Aber niemals kam mir der Gedanke, mich mit meinen eigenen Händen oder von anderen reinigen zu lassen. Und in so großer Rücksichtnahme lebte ich, dass ich mit meinen Fußstapfen aufmerksam und voll Mitleid darauf achtete, nicht kleinste Lebewesen in einem Wassertropfen zu zertreten. Und in so großer Einsamkeit lebte ich, dass, wenn ich mich im tiefsten Wald aufhielt und einen Kuhhirten oder einen Kräutersammler oder einen Waldarbeiter nur von ferne erblickte, ich in einen anderen Wald ging, von Dickicht zu Dickicht, von einem Tal ins andere, von einem Hügel zum anderen, damit weder jene mich noch ich sie sähe. Wie das Wild beim Anblick des Menschen davonstürzt, so eilte ich hinweg bei nur einem Schimmer von einem Kuhhirten, Rinderhirten, oder wem auch immer, damit weder sie mich noch ich sie sähe - derartig groß war meine Einsamkeit. Wenn die Hirten ihre Herden aus den Ställen getrieben hatten, dann schlich ich mich auf allen vieren heran, und ich nährte mich vom Mist der jungen, milchsaugenden Kälbchen. Und auch mit meinem eigenen Kot und Urin habe ich mich ernährt. Ein derartig ekelhafter Unratfresser war ich ...

Durch diese Lebensweise, durch diese entsetzlichen Entbehrungen erreichte ich nicht die edle Gabe des höchsten Wissens und der Erleuchtung. Und warum nicht? Weil nichts davon zu jener edlen Einsicht führt, die, wenn man sie erlangt hat, zur Erlösung und zum gänzlichen Erlöschen des Leidens führt. Da kam mir der Gedanke: Lasst mich mit zusammengebissenen Zähnen und an den Gaumen gepresster Zunge durch bloßen Willen das Gemüt niederdrücken, bezwingen und so mein Herz beherrschen. Und dies tat ich, bis der Schweiß aus meinen Achselhöhlen strömte. Gleichwie wenn ein starker Mann einen schwächeren Mann beim Kopf oder den Schultern ergreift, ihn niederdrückt, bezwingt und beherrscht,ebenso beherrschte ich mit zusammengebissenen Zähnen, an den Gaumen gepresster Zunge durch bloßen Willen das Gemüt, drückte es nieder und bezwang es, bis der Schweiß aus meinen Achselhöhlen strömte. Entschieden wuchs da meine Ausdauer und verzagte nicht, meine Aufmerksamkeit kannte keine Zerstreuung - obwohl mein Körper arg gequält und gepeinigt wurde durch diese schmerzliche Askese, die mich antrieb. Und das solcherart in mir entstandene Wohlgefühl konnte von meinem Geist nicht Besitz ergreifen. Da kam mir der Gedanke: Lasst mich nach der Ekstase streben, die vom Aufhören des Atmens kommt. So hielt ich die Ein- und Ausatmung durch Mund und Nase an. Da wurde das Geräusch der Luft, die durch meine Ohren strich, sehr laut, so wie das Gebläse des Blasebalges eines Schmiedes. Entschieden wuchs da meine Ausdauer..., konnte aber von meinem Geist nicht Besitz ergreifen. Da kam mir der Gedanke: Lasst mich noch weiter nach der Ekstase streben, die vom Aufhören des Atmens kommt. So hielt ich die Ein- und Ausatmung durch Mund, Nase und Ohren an. Da schlugen Stürme auf meinen Kopf ein, so wie wenn ein starker Mann mit der Spitze eines Schwertes in meinen

Schädel stieße. Entschieden wuchs da meine Ausdauer ..., konnte aber von meinem Geist nicht Besitz ergreifen. Da kam mir der Gedanke: Lasst mich noch weiter nach der Ekstase streben, die vom Aufhören des Atmens kommt. So hielt ich die Ein- und Ausatmung durch Mund und Nase und Ohren an. Da ergriffen furchtbare Schmerzen meinen Kopf, so wie wenn ein starker Mann einen Lederriemen fest um meinen Kopf gewunden hätte. Entschieden wuchs da meine Ausdauer ..., konnte aber von meinem Geist nicht Besitz ergreifen ... Da kam mir der Gedanke: Lasst mich alle Nahrungsaufnahme gänzlich beenden! Daraufhin kamen Götter zu mir und baten mich, dies nicht zu tun. Andernfalls würden sie mich durch meine Poren mit himmlischen Essenzen ernähren, um mich am Leben zu erhalten. Da dachte ich mir: Wenn ich nun auch gänzliches Fasten einhielte, diese Götter mich aber durch meine Poren mit himmlischen Essenzen ernähren und mich so am Leben erhalten würden, so wäre dies meinerseits Betrug. Deshalb wies ich ihre Angebote entschieden ab. Da kam mir der Gedanke: Lasst mich beschränken auf nur ganz wenig Nahrung, nämlich auf das Wasser, in dem Bohnen oder Wicken, Erbsen oder Linsen gekocht worden sind. Ich beschränkte mich auf diese Weise, und mein Körper wurde ganz außerordentlich mager. Wie dürres, welkes Rohr wurden da meine Glieder, und wie ein Kamelhuf wurde da mein Gesäß und alles, weil ich so wenig aß. Da kam mir der Gedanke: „Mit allen diesen strengsten Mäßigungen misslingt es mir, die üblichen menschlichen Grenzen zu überschreiten und mich in die Höhe edelster Erkenntnis und Einsicht zu erheben. Sollte es da nicht einen anderen Weg zur Erleuchtung geben? Ich erinnerte mich, wie ich einst, im kühlen Schatten eines Rosenapfelbaumes auf den Ländern meines Vaters, des Shakya, sitzend, entäußert von Sinneslust, dem Unheil entronnen, in die erste Stufe der Versenkung eintrat und darin

verweilte, mit aller Lust auf Befriedigung, in einem Zustand innerer Abgeschlossenheit, jedoch nicht losgelöst von Wahrnehmung und Überlegung. Könnte dies der Weg zur Erleuchtung sein? Und sofort erkannte ich, dass hier der wahre Weg zur Erleuchtung liege. Da kam mir der Gedanke: Sollte ich etwa jenes Glück jenseits der Wünsche und jenseits des Schlechten fürchten? Und ich sagte mir: Ich fürchte jenes Glück nicht. Da kam mir der Gedanke: Es ist nicht leicht, jenes Glück mit einem derart ausgemergelten Körper zu erreichen. Auf denn, lasst mich feste Nahrung zu mir nehmen, Reis und Quark; und dies aß ich denn auch. Zu jener Zeit waren bei mir fünf Bettelmönche, die sahen auf mich und erwarteten, dass ich ihnen verkünde, welche Wahrheit ich erlangt hätte. Aber als ich Reis und Quark zu mir nahm, wandten sie sich mit Widerwillen von mir ab und sagten, Schwelgerei hätte mich in Besitz genommen, ich hätte den Kampf aufgegeben und sei zum Luxus zurückgekehrt. Nachdem ich so feste Nahrung gegessen und wieder Kräfte gewonnen hatte, trat ich in die erste Stufe der Versenkung ein und verweilte in ihr. Nacheinander trat ich in die zweite, dritte und vierte Stufe der Versenkung ein und verweilte in ihnen. Als mein Gemüt so unerschütterlich, so gereinigt und geläutert, lauter und von Unreinem gesäubert, sanft und fügsam, fest und unerschütterlich war, da wandte ich meinen Geist zur Erkenntnis meiner früheren Existenzen. Ich rief mir meine verschiedenen Daseinsformen in der Vergangenheit ins Gedächtnis - eine Wiedergeburt, dann zwei... (usw.)... Hunderttausende von Wiedergeburten bis in frühere Weltperioden zurück. In dieser oder jener früheren Existenz, so erinnerte ich mich, war dies oder jenes mein Name, meine Kaste, meine Speise, meine Freuden und Sorgen, meine Lebensdauer... So rief ich mir meine verschiedenen Existenzen in der Vergangenheit in

allen Einzelheiten und Besonderheiten ins Gedächtnis. Dieses, Brahmane, war das erste Wissen, das ich in der ersten Nachtwache erlangte - es verschwand die Unwissenheit, Erkenntnis kam auf, es verschwand die Dunkelheit, Licht kam auf dank meines unermüdlichen und fest entschlossenen Lebens. Mit gleichem unerschütterlichen Geist wandte ich mich der Erkenntnis des Vergehens und Wiederentstehens anderer Wesen zu. Mit himmlischem, reinem und übermenschlichem Blick sah ich, wie die Wesen vergehen und anderswo wiederentstehen - die hohen und niedrigen, die schönen und hässlichen, die glücklichen und die geplagten; ich sah sie alle, wie es ihnen gemäß ihrer früheren Taten erging. Da waren Wesen, die in Taten, Worten und Gedanken schlecht gelebt, das Edle herabgesetzt und nach falschen Ansichten gehandelt hatten diese erschienen nach der Auflösung ihres Körpers nach dem Tode in Daseinsformen des Leides, des Elends, der Drangsal in höllischen Qualen. Da waren andere Wesen, die in Taten, Worten und Gedanken gut gelebt, das Edle nicht herabgesetzt und nach richtigen Ansichten gehandelt hatten - diese erschienen nach der Auflösung ihres Körpers nach dem Tode in Daseinsformen himmlischen Glücks. Und dies alles sah ich mit himmlischem Blick, und dieses, Brahmane, war das zweite Wissen, das ich in der zweiten Nachtwache erlangte es verschwand die Unwissenheit, Erkenntnis kam auf, es verschwand die Dunkelheit, Licht kam auf dank meines unermüdlichen und fest entschlossenen Lebens. Mit gleichem unerschütterlichen Geist wandte ich mich der Erkenntnis der Vernichtung der Übel zu. Und ich erkannte voll und ganz das Leiden, den Ursprung des Leidens, das Aufheben des Leidens und den Weg, der zum Aufheben des Leidens führt. Als ich dies sah und erkannte, wurde mein Geist befreit von dem Übel des sinnlichen Begehrens, vom Übel fortdauernder Daseinsformen, vom Übel der Unwissenheit; und also befreit, kam in dem Befreiten die Erkenntnis auf - für mich ist der Lauf der Wiedergeburten beendet, ich habe das

höchste Ziel erreicht, meine Aufgabe ist getan, nicht werde ich wieder zur Welt zurückkehren. Dieses, Brahmane, war das dritte Wissen, das ich in der dritten Nachtwache erlangte es verschwand die Unwissenheit, Erkenntnis kam auf, es verschwand die Dunkelheit, Licht kam auf dank meines unermüdlichen und fest entschlossenen Lebens. (Majjhima-Nikaya XII; XXXVI; IV)

Lehrrede über das Nirvana Also habe ich gehört. Einst weilte der Herr zu Savatthi im Jetahaine im Garten des Anathapindika. Zu der Zeit aber geschah es, dass der Herr die Mönche mit einer auf das Nirvana bezüglichen Rede über die Lehre belehrte, anregte, anfeuerte und erfreute; und die Mönche lauschten der (Rede über die) Lehre mit gespannter Aufmerksamkeit, achtgebend, sie ihrem Geiste einprägend und alle ihre Gedanken auf sie richtend. Als nun der Herr diese Sachlage erkannte, tat er zur selben Stunde folgenden bedeutsamen Ausspruch: „Es gibt, ihr Mönche, eine Stätte, wo es weder Erde noch Wasser noch Feuer noch Luft gibt. Es ist nicht die Stätte der Raumunendlichkeit noch die der Bewusstseinsunendlichkeit noch die des Nichtseins noch auch die Stätte, wo es weder ein Vorstellen noch ein Nichtvorstellen gibt. Es ist nicht diese Welt noch jene Welt, sei es der Mond oder die Sonne. Ich nenne es, ihr Mönche, weder ein Kommen noch ein Gehen noch ein Stehen, weder ein Vergehen noch ein Entstehen. Es ist ohne Stütze, ohne Anfang, ohne Grundlage - das eben ist das Ende des Leidens..." „Schwer einzusehen ist die Lehre vom Nicht-Ich, denn die Wahrheit ist nicht leicht zu begreifen. Besiegt ist die Gier in dem Wissenden. Für den Schauenden aber gibt es nichts..." „Es gibt, ihr Mönche, ein Nichtgeborenes, ein Nichtgewordenes, ein Nichtgemachtes, ein Nichtverursachtes. Wenn es,

ihr Mönche, dieses Nichtgeborene, Nichtgewordene, Nichtgemachte, Nichtverursachte nicht gäbe, so ließe sich für das Geborene, das Gewordene, das Gemachte, das Verursachte kein Ausweg finden. Weil es aber, ihr Mönche, ein Nichtgeborenes, ein Nichtgewordenes, ein Nichtgemachtes, ein Nichtverursachtes gibt, darum findet sich auch ein Ausweg für das Geborene, das Gewordene, das Gemachte, das Verursachte ..." „Bei dem, was von anderem abhängig ist, gibt es Bewegung bei dem, was von nichts anderem abhängig ist, gibt es keine Bewegung, wo keine Bewegung ist, da ist Ruhe, wo Ruhe ist, da ist kein Verlangen, wo kein Verlangen ist, da gibt es kein Kommen und Gehen, wo es kein Kommen und Gehen gibt, da gibt es kein Sterben und Wiederentstehen, wo es kein Sterben und Wiederentstehen gibt, da gibt es weder ein Diesseits noch ein Jenseits noch ein Da/wischen - das eben ist das Ende des Leidens." ( u d a n a Vm, i_4)

Buddhas Gleichnis von der Öllampe Der Buddha weilte in Savatthi. (Dort sprach er:) „Wer, ihr Mönche, mit Freuden an den Dingen dieser Welt, die zu Fesseln werden, festhält, in dem wächst die Gier. Gier ist die Ursache des Ergreifens. Ergreifen ist die Ursache des Werdens. Der Wunsch des Werdens ist die Ursache der Wiedergeburt. Die Wiedergeburt ist die Ursache von Alter und Tod, Schmerz, Klage und Leid, Trübsinn und Verzweiflung. Und so kommt es zu dieser ganzen Masse von Leiden. Gerade so, ihr Mönche, wie mittels des Öls und mittels eines Dochtes eine Öllampe brennte und ein Mensch von Zeit zu Zeit Öl nachfüllte und den Docht putzte und, ihr Mönche, eine Öllampe, so gespeist und mit Brennstoff versehen, lange Zeit brennen würde - gerade so, ihr Mönche, wächst die Gier in dem, der mit Freuden an den Dingen dieser Welt, die zu

Fesseln werden, festhält... Und so kommt es zur Entstehung dieser ganzen Masse von Leiden. Wer jedoch, ihr Mönche, die Erbärmlichkeit der Dinge dieser Welt, die zu Fesseln werden, einsieht, unterdrückt die Gier. Mit der Unterdrückung der Gier wird das Ergreifen unterdrückt ... Und so kommt es zur Unterdrückung dieser ganzen Masse von Leiden. Gerade so, ihr Mönche, wie mittels des Öls und mittels eines Dochtes eine Öllampe brennte und ein Mensch nicht von Zeit zu Zeit Öl nachfüllte und den Docht nicht putzte und diese Öllampe nach dem Verbrauch des früheren Brennstoffes ohne Nachfüllung aus Mangel an Nahrung erlöschen würde gerade so, ihr Mönche, unterdrückt der, der die Erbärmlichkeit der Dinge dieser Welt, die zu Fesseln werden, einsieht, die Gier. Mit der Unterdrückung der Gier wird das Ergreifen unterdrückt. Mit der Unterdrückung des Ergreifens wird der Wunsch des Werdens unterdrückt. Mit der Unterdrückung des Wunsches nach Werden wird die Wiedergeburt unterdrückt. Mit der Unterdrückung der Wiedergeburt werden Alter, Tod, Schmerz, Klage, Leid,Trübsinn und Verzweiflung unterdrückt. Und so kommt es zur Unterdrückung dieser ganzen Masse von Leiden." (Samyutta-Nikaya XII, 53)

Erläuterung des

„achtteiligen

Pfades"

„Ihr Mönche, ich (Buddha) will euch den edlen achtteiligen Pfad erläutern und im Einzelnen darlegen. Vernehmt es, denkt gut darüber nach." - „So sei es, o Herr", antworteten die Mönche dem Herrn. Der Herr sprach: „Was, ihr Mönche, ist der edle achtteilige Pfad? Er ist rechte Anschauung, rechtes Streben, rechtes Reden, rechtes Tun, rechtes Leben, rechtes Mühen, rechtes Gedenken, rechtes Sich versenken. Und was, ihr Mönche, ist die rechte Anschauung? Das

Wissen vom Leiden, das Wissen vom Ursprung des Leidens, das Wissen vom Aufhören des Leidens und das Wissen von dem zum Aufhören des Leidens führenden Pfad. Das, ihr Mönche, wird die rechte Anschauung genannt. Und was, ihr Mönche, ist rechtes Streben! Das Bestreben, der Welt zu entsagen, das Betreben, nicht zu verletzen, das Bestreben, nicht zu beleidigen. Das, ihr Mönche, wird rechtes Streben genannt. Und was, ihr Mönche, ist rechtes Reden? Es ist das Unterlassen der Lüge, der üblen Nachrede, roher Worte und leichtfertiger Rede. Das, ihr Mönche, wird rechtes Reden genannt. Und was ist rechtes Tun? Das Unterlassen, Leben zu zerstören, etwas zu nehmen, was einem nicht gegeben wurde, Abstandnahme vom Geschlechtsverkehr. Das, ihr Mönche, wird rechtes Tun genannt. Und was ist rechtes Leben? Wenn ein edler Schüler eine falsche Lebensweise aufgibt und sich der rechten Lebensweise zuwendet. Das, ihr Mönche, wird rechtes Leben genannt. Und was ist rechtes Mühen? Wenn ein Mönch mit aller Kraft ringt, seinen Geist und Willen antreibt, schlechte und böse Gedanken zu zerstreuen, gute Gedanken zu erwecken, sich von Verwirrung zu befreien, gute Gedanken zu pflegen und wachsen zu lassen. Das, ihr Mönche, wird rechtes Mühen genannt. Und was, ihr Mönche, ist rechtes Gedenken? Das eifrige Nachsinnen über alle Teile der Lehre, mit klarem Bewusstsein, besonnen, mit Überwindung weltlicher Begierden. Das, ihr Mönche, wird rechtes Gedenken genannt. Und was, ihr Mönche, ist rechtes Sichversenken? Hierbei tritt ein Mönch, frei von Leidenschaften und üblen Gedanken, in die erste, von Freude und Glück erfüllte Stufe der Versenkung ein, die von Überlegung und Nachsinnen begleitet ist und durch Abgeschiedenheit vom weltlichen Leben gewonnen wird. Nach Beendigung von Überlegung und Nachsinnen tritt

er in die zweite, von Freude und Glück erfüllte Stufe der Versenkung ein, die aus geistiger Konzentration gewonnen wird und die frei ist von Überlegung und Nachsinnen. Mit Gleichgültigkeit gegenüber der Freude verharrt er besonnen und empfindet Glück mit seinem Körper, und er erreicht die dritte Stufe der Versenkung, in der er verweilt. Wenn er von Glück und Leid frei wird, und noch vor dem Verschwinden von Stimmungen der Lust oder Niedergeschlagenheit erreicht er die vierte Stufe der Versenkung, in der er verweüt, und die ohne Lust und Leid ist und in der Reinheit von Gleichmut und Besonnenheit besteht. Das, ihr Mönche, wird rechtes Sichversenken genannt. ö

(Samyutta-Nikaya V, 8)

Existenz im Daseinskreislauf Abhängige Existenz und Schulung des Geistes

von Geshe Rabten

Wir befinden uns alle im Daseinskreislauf oder Samsara. Unter Samsara versteht man nicht ein anderes Land, sondern eine Existenz, die ihrer Natur nach lebhaft ist. Dies zeigt sich am unfreiwilligen Geborenwerden, am Altern, Krankwerden und Sterben in ständiger Wiederholung. Eine weitere Eigenschaft der Existenz im Daseinskreislauf ist, dass sie voller Unsicherheiten und nicht stabil ist. Manche dieser Zusammenhänge können wir leicht einsehen, andere sind uns weniger greifbar. Die Existenz im Daseinskreislauf bedeutet auch, dass der Geist nicht endlos mit dem Körper in Verbindung bleiben wird. Er wird den Körper wieder verlassen, um auf einer anderen physischen Basis zu existieren. Wir haben in unserem Leben schon viele Schuhe besessen. Unsere Füße sind mehr oder weniger gleichgeblieben, während die Schuhe immer wieder wechselten. So ähnlich geht das Leben von einer Existenz zur anderen. Manchmal besitzen wir sehr gute Schuhe, manchmal weniger gute. Mal sind die Schuhe weich und angenehm zu tragen, und manchmal drücken sie unsere Füße. Solche Erfahrungen mit seinen Schuhen hat jeder schon gemacht. Ahnlich wie in diesem Beispiel gezeigt, wechselt das Wesen seine physische Basis von einer Existenz zur anderen. Ich habe in diesem Beispiel die Füße mit dem Geist verglichen und die Schuhe mit der physischen Basis des Körpers. Das Wesen ist kein beständiges Phänomen, es unterliegt einem ständigen Wechsel. Dagegen ist die Kontinuität des Wesens unbegrenzt. Sie erstreckt sich unendlich in die Zukunft.

Ein Wesen setzt sich aus Körper und Geist zusammen. In Abhängigkeit von Körper und Geist wird auch die Person, die Identität des Wesens erfasst und benannt. Der Körper bildet die Basis für den Geist, er ist die Grundlage, und der Geist hängt somit vom Körper ab. Das Wesen oder die Identität einer Person wird auf der Basis von Körper und Geist erfasst. Im Allgemeinen ist es so, dass ein kräftiger und gesunder Körper auch einen kräftigen und klaren Geist hat. Da der Geist vom Körper abhängig ist, wird eine Schwächung des Körpers auch zu einer Schwächung des Geistes führen. In unserer Jugend ist der Körper gesund und kräftig und der Geist scharf und klar. Im Alter, wenn der Körper an Kraft verliert, verliert auch der Geist an Klarheit, und die Fähigkeit, sich zu erinnern, lässt nach. Das ist ein allgemeiner Prozess, wie wir ihn jederzeit beobachten können. Viele alte Menschen klagen über ihr nachlassendes Gedächtnis und ihren unklaren Geist. Der Grund dafür ist der Abbau der Kraft und der Fähigkeiten des Körpers, der die Basis für den Geist bildet. Gelingt es, den Geist durch Schulung und Anwendung von Dharma (d.h. die religiöse Lehre des Buddha) zu entwickeln, kann die Fähigkeit erlangt werden, einen starken und klaren Geist beizubehalten, ganz gleich, welche Verwandlung der Körper auch durchmacht. Ohne dieses Training wird der Geist den Veränderungen des Körpers folgen. Wann sollte man mit der Schulung des Geistes beginnen? Die Antwort lautet: sofort. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stehen die Fähigkeiten von Körper und Geist voll zur Verfügung. Lässt man diesen Zeitraum nutzlos verstreichen, dann wird eines Tages der Zeitpunkt kommen, wo die Fähigkeiten des Körpers und Geistes nachlassen, und wo wir nicht einmal mehr weltliche Arbeiten werden ausführen können. Dann wird uns die Anwendung von Dharma noch schwerer fallen. Viele sind der Meinung, die junge, kräftige und gesunde Zeit der Jugend auszuleben und für Vergnügungen zu benutzen.

Wenn man dann im Alter diesen Vergnügungen nicht mehr nachgehen kann, kann man sich immer noch mit Religion beschäftigen. Doch das ist ein großer Irrtum. Der richtige Zeitpunkt, sich mit Religion oder Dharma zu beschäftigen, ist der, der uns alle Möglichkeiten dazu zur Verfügung stellt. Wenn wir nicht im Dharma geübt sind, dann wird es uns später sehr schwer fallen, es anzuwenden. Die Schulung des Geistes in frühen Jahren führt dazu, dass die Anwendung des Gelernten ganz einfach sein wird. Viele Menschen bezeichnen sich als Christen und folgen ihrem christlichen Glauben. Sie üben ihre christliche Religion aktiv aus. Das ist sehr gut, weil es hilfreich und nützlich ist. Andere Menschen bezeichnen sich als Buddhisten und üben sich entsprechend ihrer Religion. Auch das ist gut. Die Ausübung der eigenen Religion ist richtig und gut, wenn einem selbst und anderen kein Schaden zugefügt wird. Fügt man sich und anderen Schaden zu, ist es besser, sich davon abzuwenden, auch wenn die Lehre den Namen einer Religion trägt. Es gibt Menschen, die sich nicht in eine religiöse Ordnung einfügen lassen. Sie möchten weder Christ noch Buddhist sein. Das aber ist nicht wesentlich. Um Religion oder Dharma auszuüben, ist es nicht unbedingt notwendig, einer religiösen Organisation anzugehören. Sammelt jemand heilsame Ursachen an, die die Fähigkeiten haben, in der Zukunft Wohlbehagen und Glück zu erbringen, so übt sich ein solcher Mensch in Religion oder Dharma. Er vermeidet bewusst alle Ursachen, die in Zukunft Leiden für sich und andere erzeugen. Wie und womit kann Dharma ausgeübt werden? Das ist einfach. Es stehen verschiedene Mittel zur Verfügung. Wir besitzen einen Körper, den wir uns nicht erst für viel Geld haben kaufen müssen. Wir besitzen einen Geist, auch den brauchen wir nicht erst kostspielig zu erstehen. Dann haben wir noch die Fähigkeit der Sprache. Benutzen wir unseren Körper, unsere Sprache und unseren Geist für heilsame Handlungen, dann wird dieser Gebrauch korrekt und fehlerlos und bildet

die Ursache für Wohlbehagen und Glück in der Zukunft. Verwenden wir unseren Körper, unsere Rede und unseren Geist für unheilsame Dinge, dann werden Ursachen geschaffen, die in der Zukunft nur Leiden hervorrufen können. Eine Handlung durch Körper, Rede und Geist hat im Dharma einen ganz bestimmten Namen: auf Sanskrit heißt er ,Karma'. Karma bedeutet nichts anderes als Handlung von Körper, Rede und Geist. Heilsame Handlungen sind die Ursache für Wohlbehagen und Glück in der Zukunft. Unheilsame Handlungen sind die Ursachen von Leid und Unbehagen. Es wird oft von heilsamem und unheilsamem Karma, von Ansammeln oder Produzieren von Karma gesprochen. Gemeint ist, heilsame und unheilsame Handlungen durchzuführen. Ein korrektes Bemühen im Dharma ist zum Beispiel eine Einstellung, die anderen unter keinen Umständen ein Leid zufügen möchte, die selbst den Wunsch danach aufgibt. Wenn wir das Ziel von Angriffen werden, fühlen wir uns nicht wohl, wir sind bedrückt und traurig. So geht es auch den anderen. Eben deshalb sollten wir anderen nichts zuleide tun und selbst den Wunsch danach vermeiden. Ein solcher Gedanke ist eine geistige Handlung. Der Geist nimmt einen bestimmten Inhalt auf. Diese Einstellung kann dahin erweitert werden, dem anderen nicht nur kein Leid zuzufügen, sondern ihm sogar zu helfen und von Nutzen zu sein. Solche Gedanken sind geistige Handlungen. Sie werden geistiges Karma genannt. Die Einstellung, anderen keinen Schaden zuzufügen, ist auf alle Wesen, Menschen und Tiere, auszudehnen. Würde man sich nur den Menschen gegenüber so verhalten, den Tieren aber weiterhin Leid zufügen, dann wäre diese Einstellung ganz falsch. Würden wir lediglich nur denen helfen, die uns nahe stehen und die wir mögen, den anderen aber Leid zufügen, wäre unsere Einstellung sehr weltlich und hätte auch nichts mit einer heilsamen Handlung zu tun, wie sie im Dharma beschrieben wird. Dabei ist es wichtig, den Wunsch zur Hilfe zu wecken, auch wenn wir nicht dazu kommen, die-

sen Wunsch in die Tat umzusetzen. Eine solche Einstellung zu entwickeln, ist eine der besten geistigen Aktivitäten und Handlungen, die man durchführen kann, da sie die Ursachen in sich tragen, der Person selbst in Zukunft Wohlbehagen und Glück zu geben. Auch aus weltlicher Sicht wird eine solche Haltung als edel betrachtet. Die körperliche Handlung selbst hinterlässt nach ihrer Beendigung einen Eindruck im Geist, der die Fähigkeit hat, der handelnden Person in der Zukunft entsprechende Resultate zu verschaffen. Genauso verhält es sich auch mit der Sprache. Wir können die Fähigkeit des Redens zum Wohle der anderen in verschiedener Art und Weise benutzen. So können wir anderen mit Erklärungen über Dharma, aber auch durch einfache Dinge nützlich sein: zum Beispiel indem wir auf Fragen gute Auskünfte geben. Mit der Beendigung des Sprechens ist auch die Handlung des Sprechens beendet. Auch diese Handlung hinterlässt einen Eindruck im Geist, der das Potenzial hat, in der Zukunft entsprechende Resultate hervorzubringen ... Je intensiver und öfter wir heilsame Handlungen und Gedanken von Geist, Rede und Körper durchführen, desto stärkere Eindrücke werden hinterlassen und umso wirksamer wird das positive Resultat sein, das sie hervorbringen können. Alle Bemühungen, anderen von Nutzen zu sein, sind heilsam. Verstärkt werden solche Handlungen durch die Motivation wie Erbarmen, Mitgefühl und Zuneigung. Wird dagegen der Geist durch Einstellungen wie Begierde, Hass und Wut motiviert, führt das zu negativen geistigen Handlungen. Unter dem Einfluss von Wut, Hass und Begierde wird man anderen Leid zufügen, ihnen etwas wegnehmen oder zerstören wollen. Aus einer solchen Einstellung entstehen negative verbale und physische Handlungen. Die negativen Gedanken und die damit verbundenen geistigen Aktivitäten hinterlassen entsprechende Potenziale oder Eindrücke im Geist, die die Fähigkeit haben, in der Zukunft unangenehme Resultate hervorzubringen.

Beobachten wir einmal unsere eigenen Gedanken, so werden wir sehr leicht feststellen können, zu welcher Art von Gedanken und Handlungen die auftretenden Einstellungen gehören. Werden unsere Gedanken von Begierde und Verlangen nach Besitz, Körper oder Land geleitet, dann sind die Einstellungen unheilsam und die daraus folgenden physischen und verbalen Aktivitäten negativ. Unehrlichen Einstellungen folgen Handlungen, die den anderen und einem selbst Leid zufügen werden. Sie sind die Ursache dafür, dass für den Handelnden in der Zukunft unangenehme und leidvolle Situationen folgen werden. Das Gesagte trifft auf körperliche und verbale Handlungen zu. Fügen wir durch körperliche Handlungen anderen Leid zu, dann werden negative Eindrücke in unserem Geist hinterlassen. Genau das gleiche gilt, wenn wir mit der Fähigkeit unserer Sprache anderen Schaden zufügen. Der eigene Körper, die eigene Rede und der eigene Geist gehören einem selbst. Wenn wir sie auf eine negative Art und Weise verwenden, werden die Eindrücke oder die negativen Samen, die sie hinterlassen, im eigenen Geistkontinuum gespeichert bleiben und die Ursache für Leiden sein. Wir werden uns dann nicht damit herausreden können, diese oder jene negativen Handlungen nur zum Wohl anderer getan zu haben. Wenn wir diese Handlungen selbst getan haben, dann werden nicht nur die anderen, sondern wir selbst die Konsequenzen dieser Handlungen erfahren. Es gibt Gedanken und damit verbundene verbale und physische Handlungen, die weder heilsam noch unheilsam sind. Sie werden als neutrale Handlungen bezeichnet. Diese führen auch zum neutralen Karma. Das sind Gedanken wie: Ich gehe zur Arbeit, ich gehe spazieren, oder ich möchte dieses und jenes tun... Eine Anschauung, die von positiven und negativen Ursachen gleiche Wirkungen erwartet, entbehrt jeder Logik. Durch sehr starke negative Eindrücke wird eine Existenz im elenden Dasein hervorgerufen, was man vielleicht als Hölle bezeichnen kann. Mittlere negative Eindrücke haben eine Existenz als

,Preta' oder ,Hungriger Geist' zur Folge. Schwache negative Eindrücke bringen eine Existenz als Tiere hervor. Die verschieden starken positiven Eindrücke führen zu Existenzen als göttliche Wesen, sogenannte Asuras oder Halbgötter. Werden keine Ursachen erzeugt, dann werden auch keine Wirkungen erfahren, sosehr wir uns es auch wünschen ... Unser Leben ist nicht unbegrenzt. Eines Tages kommt unweigerlich der Zeitpunkt, wo wir unseren ganzen Besitz, alle unsere Freunde, selbst unseren eigenen Körper hinter uns lassen müssen. Zum Zeitpunkt des Todes nützt uns unser ganzer Wohlstand nichts. Wir werden ihn nicht einmal mehr betrachten und schon gar nicht mitnehmen können. Besäße jemand so viel Nahrungsmittel, dass er ein ganzes Land davon ernähren könnte, zum Zeitpunkt des Todes wird ihm nicht einmal ein Krümel davon von Nutzen sein. Auch für Freunde und Bekannte, seien es noch so viele, gilt: Am Ende des Lebens werden wir uns nicht mehr auf sie stützen können. Nicht einmal ein Bild der nächsten Verwandten können wir mitnehmen. Auch unseren Körper, der mit dem Geist verbunden ist und der uns das ganze Leben begleitet hat, können wir nicht mit uns nehmen. Wir werden ihn zurücklassen müssen. Das ist uns alles bekannt. Betrachten wir unseren Besitz, dann können wir zu den verschiedenen Dingen sagen, dass wir das eine vom Vater, das andere von der Mutter oder von der Großmutter geerbt haben. Damit wird uns bewusst, dass der Vater, die Mutter und die Großmutter gegangen sind, ohne diese Dinge mitgenommen zu haben. Den Ort, wo sich die Asche oder der Leichnam einer Person befindet, nennen wir das Grab dieser Person. Daran sieht man deutlich, dass diese Person ihren Körper nicht mitgenommen hat, sondern zurücklassen musste. Das ist die Wirklichkeit, so wie wir sie kennen. Aber die Einstellung der Menschen stimmt nicht mit dieser Wirklichkeit überein. Immer verlangt der Mensch nach mehr, auch wenn er schon einmal großen Besitz hat. Trotzdem kann er nur einen ganz kleinen Bruchteil dessen, was er hat, tatsächlich be-

nutzen. Mit seinem Tod wird er alles zurücklassen müssen. In dieser Situation gleichen wir einem Hund, der eifersüchtig einen Gegenstand bewacht, den nur ein Mensch benutzen kann. Über Dharma zu sprechen heißt, die Wirklichkeit zu beschreiben. Das ist nicht immer angenehm zu hören. An den gezeigten Beispielen wird deutlich geworden sein, dass es der Wirklichkeit entspricht, wenn gesagt wird, dass der Besitz, die Freunde und der eigene Körper nicht über das Lebensende hinaus mitgenommen werden können. Wenn dem so ist, was ist uns dann über dieses Leben hinaus von Nutzen oder Schaden? Darauf gibt es eine eindeutige und klare Antwort. Am Ende dieses Lebens nutzen uns nur die positiven Eindrücke, die durch positive Handlungen während des Lebens auf das Geistkontinuum gewirkt haben. Von Schaden sind die negativen Eindrücke, die durch unheilsame Handlungen dem Geistkontinuum auferlegt wurden. Wie sollte man nun sein Leben der Wirklichkeit am besten anpassen? Da gibt es verschiedene Möglichkeiten: Aus meiner Sicht ist die erste Möglichkeit dazu eine religiöse. Man bringt innerhalb der eigenen Religion Opfergaben dar und bittet um Unterstützung. Eine weitere Möglichkeit ist, anderen Wesen in schwierigen Situationen nützlich zu sein. Man sollte jetzt schon damit beginnen, sich bis an sein Lebensende nicht an weltliche Dinge zu hängen, die einem nach dem Tode ohnehin nichts nützen. Am Ende des Lebens sollte man von solchem Besitz frei sein. Denn wenn wir dann bemerken, dass uns der Tod bevorsteht, werden wir uns nicht entspannen können. Unsere Gedanken werden um all die Dinge kreisen, die uns teuer und wert sind und die wir nicht mit uns mitnehmen können. Das Verlangen, diese Dinge behalten zu wollen, verstärkt dann die negativen Eindrücke, die wir während unseres Lebens oder noch davor angesammelt haben, und verstärkt die negativen Potenziale.

Befreiung aus dem Gefängnis des Geistes Einbruch des Spirituellen in die Welt des Verstandes

von Daisetz T. Suzuki

Das menschliche Leiden stammt aus unserer Gebundenheit an das Karma. Denn wir alle tragen seit der Geburt eine schwere Last am Karma, das sich aus früheren Leben angesammelt hat und so ein Faktor unserer Existenz geworden ist. In Japan wird der Begriff Karma mit schlechten Taten verbunden, und man sagt, böse Menschen hätten das Karma ihrer Vergangenheit zu tragen. Aber die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ist „Tat", und die menschlichen Taten werden in gute, schlechte oder indifferente eingeteilt. In diesem Sinne sind die Menschen die einzigen Wesen, die ihr Karma haben. Alle anderen handeln gemäß den Gesetzen ihres Seins. Nur die Menschen können planen und überlegen, und sie allein sind sich ihrer selbst und ihrer Taten bewusst. Wir Menschen sind die einzigen ichbewussten Tiere oder, wie fiscal sagt, „denkende Schilfrohre". Aus dem Denken, dem bewussten Denken, entwickeln wir die Fähigkeit zu verstehen, zu planen und vorauszubestimmen, was beweist, dass wir frei und nicht immer durch die „unentrinnbaren Gesetze" der Natur gebunden sind. Das Karma, die ethische Bewertung unserer Taten, ist daher nur bei den Menschen zu finden. Unser Karma ist seit unserm Eintritt in die Welt mit uns verbunden. Wir sind nicht nur in unser Kamra verstrickt, sondern wir wissen auch, dass wir es sind. Wir können richtigerweise sagen, dass wir das Karma sind; das Karma sind wir selbst; mehr noch, wir sind uns alle dieser Tatsache bewusst. Und dieses Wissen, dass wir an das Karma gebunden sind, ist ein geistiges Vorrecht der Menschheit. Denn dieses Vorrecht, das zugleich Freiheit bedeutet, sagt uns auch, dass wir fähig sind,

über das Karma hinauszugelangen. Allerdings müssen wir uns daran erinnern,dass mit Freiheit undTranszendieren auch Verantwortung und ein entsprechendes Sichmühen verbunden sind; und dieses Sichmühen als Folge der Freiheit bedeutet Leiden. In der Tat liegt der Wert des menschlichen Lebens in dieser Fähigkeit zu leiden; wo es dieses aus dem Wissen um unsere karmische Gebundenheit stammende Leiden nicht gibt, gibt es auch keine Kraft, die uns zur spirituellen Erfahrung befähigen würde, durch die wir den Bereich der Nicht-Unterscheidung erreichen könnten. Wenn wir nicht bereit sind zu leiden, bringen wir uns damit um das dem Menschen gewährte besondere geistige Vorrecht. Wir sollten vielmehr den höchstmöglichen Nutzen daraus ziehen, die karmische Bindung voll akzeptieren, allen Formen des Leidens entschlossen gegenübertreten und dadurch fähig werden, sie zu transzendieren. Mit dem Problem des Karma stoßen wir auf einen anderen Widerspruch, der umso ernster ist, als er das Leben selbst betrifft: den Widerspruch von Leben und Tod. Solange wir im Bereich des Verstandes bleiben, können wir ihn bis zu einem gewissen Grad beiseite lassen als etwas, das uns nicht sehr vital angeht. Sobald aber nach dem Sinn des Lebens gefragt wird, können wir nicht so leichthin verfahren. Wenn das Karma das Leben selbst ist und es keine Möglichkeit gibt, es loszuwerden, als das Leben aufzugeben, also sich selbst auszulöschen, wie kann es da irgendeine Befreiung geben? Und ohne Befreiung gibt es kein spirituelles Leben. Wir können nicht ewig leiden, auch wenn dies scheinbar das Schicksal der Menschheit ist. Des Karmas bewusst zu sein, würde nichts anderes bedeuten, als sich selbst ins Feuer der Hölle zu stürzen. Wie groß auch unsere Verderbtheit sein möge, Gott würde uns nicht auf solche Art strafen. Gibt es also kein Mittel, uns vom Karma zu lösen? Das würde aber offenbar ein Selbstwiderspruch sein und es wäre, wie wenn wir kopfüber in den ewig kreisenden Strudel des menschlichen Schicksals gestürzt würden ...

Solange wir Menschen sind, können wir dem Karma nicht entrinnen, denn wir sind das Karma, und dieses begleitet uns wie unser eigener Schatten, wo immer wir hingehen. Aber wir können es transzendieren. Gewöhnlich stehen wir unter dem bedrückenden Bewusstsein der Karma-Gebundenheit,und dieses Bewusstsein weckt in uns das tiefe Bedürfnis, über uns hinauszugelangen und Gott dadurch näher zu kommen, dass wir uns vervollkommnen oder reinigen, sofern dies möglich ist. Für den Verstand mag das Bewusstsein der Karma-Bindung nicht mehr als ein Denkvorgang sein. Aber in unserem Herzen fühlen wir, dass es sehr viel tiefer sitzt und aus unserem Innersten aufsteigt, das irgendwie in Verbindung sein muss mit etwas, das weit darüber hinausgeht. Wir fühlen, dass unser Kampf mit dem Karma auf dieses Undenkbare zurückzuführen ist, denn der Denkvorgang selbst ist nur dessen Widerschein. Wenn dem nicht so wäre, gäbe es weder jenes spirituelle Verlangen noch irgendwelche Leiden. Das Karmabewusstsein ist somit immer mit jenem inneren Impuls verbunden; ohne diesen vorwärtsdrängenden Anstoß im menschlichen Herzen gäbe es kein Karmabewusstsein in uns, und wir wissen daher, dass das Karma mit dem NichtKarma verbunden ist. Das Nicht-Karma dringt beharrlich in den Bereich des Karma ein und schafft jene nach Überwindung verlangende Unruhe. Darum kann man sagen, dass das Bewusstsein der Karma-Bindung uns auf den Weg zu deren Transzendierung drängt. Gerade, dass wir so intensiv zu leiden vermögen, ist zugleich die Verheißung, dass wir uns schließlich darüber erheben werden. Nach der buddhistischen Erfahrung bedeutet Leiden Transzendieren und Karma NichtKarma. Das Bewusstsein der Karma-Bindung und das Bemühen, deren Fesseln abzuschütteln, manifestieren sich als Gebet. Das Gebet ist, vom Verstand gesehen, eine weitere Form des Widerspruchs, denn es weigert sich, dem natürlichen Lauf der Dinge Gehorsam zu leisten: Darin ist es ganz und gar mensch-

lieh. Tiere beten nicht, ebenso wenig die Engel und die Götter. Nur der Mensch betet, weil er sich seines Unvermögens bewusst ist, sich über sich selbst zu erheben, und doch so sehnsüchtig danach verlangt. Die Natur geht ihre eigenen Wege, ohne auf menschliche Wünsche, Sehnsüchte und Ambitionen Rücksicht zu nehmen. Sie tötet uns, wenn unser Körper die Bahn seines Hierseins durchlaufen hat, und sie straft uns mit allen möglichen Krankheiten, wenn wir uns von dem Weg, den sie uns vorgeschrieben hat, entfernt haben. In dieser Hinsicht ist sie unbarmherzig. Aber es ist zutiefst menschlich, mit der ganzen Kraft des Herzens um Heilung eines Kranken zu beten, auch wenn unsere medizinischen und wissenschaftlichen Kenntnisse uns sagen, dass das absolut unmöglich ist. Und es ist sicherlich menschlich, wenn wir, als macht- und hilflose Zeugen, wie Mitmenschen die entsetzlichsten Qualen und Leiden erdulden müssen, uns dabei elend und verzweifelt fühlen. Das Einzige, was wir unter solchen Umständen tun können, ist: beten. Zu wem beten? Wir wissen es nicht, doch wir beten, das heißt, wir wünschen den natürlichen Lauf der Dinge umzukehren - und das beruht nicht unbedingt auf einem egoistischen Antrieb. Es ist entschieden irrational, und darum sage ich, dass das Gebet den Weg zum spirituellen Leben öffnet und uns schließlich in den Bereich bringt, wo Karma Nicht-Karma und Nicht-Karma Karma ist... Das Gebet scheint nicht viel zur Menschlichkeit beizutragen, aber wie wenig das auch sein mag, es bringt den für das Leben entscheidendsten Faktor der menschlichen Natur ins Spiel. Denn das Gebet vermag das menschliche Herz aus seinem Schlaf wieder wachzurütteln und es vom Karmabewusstsein zu erlösen. Dieses aus dem Karmadruck erwachte Herz ist das Nicht-Karma selbst. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass das Herz, das sich mit dem Nicht-Karma identifiziert, niemals in diesem Zustand bleiben kann, weil das NichtKarma-Herz kein menschliches Herz mehr ist. Sobald das Herz den Zustand des Nicht-Karma erlangt hat, kehrt es zu

sich selbst zurück und fühlt von neuem alle die Leiden, die zur menschlichen Natur gehören. Dieses Herz ist gleichzeitig Karma und Nicht-Karma in einem vollkommenen Seinsstand der Identität. Der bekannte buddhistische Satz, dass Leben Leiden (dukkha) ist, darf nicht als Ausdruck einer pessimistischen Grundhaltung verstanden werden. Dass es kein Leben ohne Leiden gibt, ist eine einfache Tatsachenfeststellung. Unsere spirituelle Erfahrung, ob buddhistisch oder christlich, entspringt dieser Tatsache. Das sogenannte spirituelle Erleben ist nichts anderes als das Erfahren von Schmerz in einer Form, die über eine bloße Empfindung hinausgeht. Wer niemals Schmerz empfunden hat, kann nicht über sich selbst hinauswachsen. Alle religiös eingestellten Menschen haben das Leid des Lebens zutiefst empfunden. Der Buddha ist krank, sagt Vimalakirti, weil alle Lebewesen krank sind. Wenn wir von Krankheit umgeben sind, wie können wir, wenn wir spirituell veranlagt sind, von Krankheit frei sein? Das Herz des Mitfühlenden schlägt stets mit dem seiner Mitwesen. Wir vermögen jetzt zu erkennen, dass die Befreiung vom Karma darin besteht, dessen Fesseln als Lebenserfahrung zu akzeptieren, aber mit dem Wissen, dass sie nicht wirklich unser innerstes Sein berühren, das über jede Art von Dualismus steht. Dies wird in der buddhistischen Logik der Identität mit den Worten ausgedrückt, dass Karma Nicht-Karma und NichtKarma Karma ist. Diese Logik findet keine Anwendung, wo der Dualismus gilt. Aber in Wirklichkeit ist der Dualismus nur dann möglich, wenn die Logik der Identität der Wahrheit entspricht. Deshalb hält der Buddhismus die Logik der Identität für absolut notwendig zum Verständnis seiner Lehre, die in der Verwirklichung der Buddhaschaft gipfelt. Die Arbeit des Verstandes liegt im Teilen, und wo das verstandeshafte Denken vorherrscht, gibt es immer Dualismus. Da aber eben dieser Dualismus das Karmanetz knüpft und

uns in Unwissenheit verstrickt, besteht der Buddhismus auf dem Beseitigen der Verstandeshaftigkeit. Es ist aber von größter Wichtigkeit, sich zu erinnern, dass der Buddhismus das verstandeshafte Denken nicht bedingungslos verwirft, sondern mit dem Vorbehalt, dass es erst richtig zu funktionieren vermag, nachdem es von seinen Illusionen gründlich gereinigt, das heißt: sich selbst gestorben ist. Als Hyakjo Yekai (Paichan Huaihai, 720-814), einer der berühmtesten Zen-Meister der T'ang-Dynastie, eines Tages seine Predigt beendet hatte, trat ein alter Mann, der die Predigten regelmäßig besuchte, zu ihm und sagte: „In den Tagen des Kashyapa-Buddha, vor unzähligen Kaipas, lebte ich hier auf diesem Berg. Eines Tages fragte mich ein Schüler: „Ist ein erleuchteter Mensch dem Gesetz von Ursache und Wirkung (d.h. der moralischen Kausalität) unterworfen oder nicht?" Ich antwortete: „Nein" und aufgrund dieser Antwort wurde ich dazu verurteilt, seither in der Gestalt eines wilden Fuchses zu leben. Wollt Ihr mir die richtige Antwort geben, damit ich endlich von dieser Fuchsgestalt befreit werde?" Darauf stellte der alte Mann nochmals die Frage: „Ist ein erleuchteter Mensch dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen oder nicht?" Der Meister antwortete: „Er ,verdunkelt' das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht." Der Fuchs-Mann wurde erleuchtet und war befreit. Am nächsten Tag zelebrierte der Meister eine Bestattungsfeier für die von dem alten Mann zurückgelassene Fuchsgestalt. Was ist der Sinn dieser Geschichte? Der erleuchtete Mensch gestattet dem Verursachungsgesetz, sei es moralisch oder physisch, seinen Lauf zu nehmen, d.h., er unterwirft sich dem Gesetz, er löst sich nicht von ihm, er macht keinen Unterschied zwischen ihm und sich selbst, sondern er ivird es, er ist das Gesetz. Das war es, was Hyakjo meinte, als er sagte, dass ein erleuchteter Mensch das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht „verdunkelt". Im Gegensatz dazu glaubte der alte Mann,

dass es eine von außen handelnde Kraft gäbe, Ursache und Wirkung oder Kausalität genannt, und dass diese ihn je nachdem belohnen oder bestrafen würde. Er erkannte nicht, dass er selbst die handelnde Kraft und gleichzeitig das Gesetz war, dass das Gesetz der Tat innewohnt und dass er selbst der Gesetzgeber war. Daher dachte er, Erleuchtung bedeute, sich von dem Gesetz zu lösen, es von sich zu weisen, also „dem Gesetz von Ursache und Wirkung" nicht unterworfen zu sein. Hyakjo war der Vertreter der Identität, während der alte Mann ein Dualist war... Wenn ein furchtbarer Sturm durch die Wälder fegt, Bäume geknickt werden und alles verwüstet zurückbleibt, beklagen sich die umgestürzten Bäume nicht, und die zerstörenden Kräfte fühlen sich nicht als triumphierende Sieger. Die einen wie die anderen folgten einfach den Befehlen der Natur. Ähnliches gilt für unser spirituelles Leben... Der spirituell erleuchtete Mensch verhält sich passiv gegenüber dem Willen Gottes, das heißt buddhistisch ausgedrückt, gegenüber dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Er wird dieses Gesetz weder „verdunkeln" noch ignorieren. Er ist ihm nicht mehr unterworfen, jedoch nicht in dem vom oben erwähnten Fuchs-Mann gemeinten Sinn. Aber er geht einfach heiter und gelassen seinen Weg, überzeugt von der Wahrheit, die er zwar in sich gefunden, doch nicht selbst ins Leben gerufen hat. Ich wurde geboren, ich kann krank werden, ich werde altern und sterben. Dem Rad von Ursache und Wirkung kann ich mich nicht entziehen, aber da ich mir dessen bewusst bin und zugleich weiß, dass es etwas gibt, das niemals von dem Ursache-Wirkung-Gesetz berührt wird, ist es mir dadurch möglich, „ihm zu entrinnen". Somit können wir niemals der Kausalität unterworfen sein, weil wir sie bereits sind. Ihr unterworfen oder von ihr befreit zu sein, setzt voraus, dass es einen Zustand gegeben hat, in dem es weder Unterworfensein noch Befreiung gab. Wenn wir das Rad selbst sind und uns mit

ihm drehen, gibt es weder ein Unterworfensein noch ein Befreit-Sein, denn das Rad und wir sind eins. Aber vergessen wir nicht, dass es einer spirituellen Intuition oder Wahrnehmung bedarf, um die Identität des Rades mit demjenigen, der es die ganze Zeit in Gang hält, zu sehen. Mit dieser unmittelbaren Erkenntnis erlangt man Unsterblichkeit, wie die Christen es nennen würden. Menschen, die auf der moralisch-verstandeshaften Ebene herumtorkeln und sich niemals mit dem Rad identifizieren können, werden nie den Weg zu einem ewigen Leben finden.

Entwicklung von geistiger Ruhe Meditation als Weg zur Läuterung des Verhaltens

von S. H. Dalai Lama

Nachdem man eine korrekte Meditationshaltung eingenommen hat, sollte man zuerst mit dem Geist die ein- und ausgehende Atmung beobachten. Dabei sollte man in einer natürlichen Weise sanft ein- und ausatmen, ohne das Atmen weder zu stark zu forcieren noch übermäßig abzuschwächen. Das Erreichen der meditativen Konzentration geschieht dadurch, dass man mit Hilfe von acht Gegenmitteln fünf Fehler überwindet. Welches sind die fünf Fehler? Sie sind: 1. Trägheit; 2. Vergessen der Anweisungen, was das Vergessen des Meditations-Objekts bedeutet; 3. Sinken und Erregung (wenn diese einzeln gerechnet werden, zählt man sechs Fehler); 4. Mangelnde Anwendung der Gegenmittel, wenn Sinken oder Erregung auftreten; 5. Anwendung der Gegenmittel, obwohl Sinken und Erregung nicht mehr länger vorhanden sind. Es werden acht Gegenmittel beschrieben, die dazu dienen, diese fünf Fehler zu beseitigen. Vier davon sind Mittel gegen Trägheit: Vertrauen, Anstreben, Tatkraft und Beweglichkeit. Beweglichkeit ist im Anfangsstadium nicht möglich; denn sie tritt erst dann auf, wenn man sich von den Tendenzen zu negativen körperlichen und geistigen Zuständen befreit hat und der Geist auf der heilsamen Seite sehr gefügig geworden ist. Somit ist sie erst ein Ergebnis intensiver Meditation. Allerdings ist es zu Beginn sehr hilfreich, wenn man sich ihren Wert bewusst macht. Das erste Gegenmittel ist daher Vertrauen, das darin besteht, dass man die Vorzüge der meditativen Konzentration sieht. Daraus entwickelt sich das Anstreben der Konzentration. In Abhängigkeit davon entsteht die Tat-

kraft bei der eigentlichen Übung zur Verwirklichung von meditativer Konzentration. Daraus entwickelt sich dann die

Beweglichkeit.

Als Mittel gegen das Verlieren des Meditationsobjekts muss man Vergegenwärtigung benutzen. Welche Meditationsobjekte kann man nun benutzen, um meditative Konzentradon zu entwickeln? In den Sutras spricht der Buddha von vier Arten: umfassende Objekte, Objekte zur Läuterung des Verhaltens, Objekte des Wissens und Objekte zur Läuterung von Leidenschaften. Umfassende Objekte - diese Objekte werden so genannt, weil sie alle Meditationsobjekte bei der Übung der Geistigen Ruhe umfassen, und zwar sowohl von den beobachteten Objekten wie von der Beobachtungsweise her gesehen. Sie werden in insgesamt vier Arten unterteilt. Bei den beiden ersten handelt es sich um eine Unterteilung vom Gesichtspunkt des meditierenden Bewusstseins: 1. Objekte der nicht-analytischen, konzentrativen Meditation. Das sind Objekte, auf die man sich im Rahmen der stabilisierenden, von Untersuchungen freien Meditation konzentriert; 2. Objekte der Analyse. Das sind die Meditationsobjekte, die man sich im Rahmen von Untersuchungen vergegenwärtigt. Ebenso teilt man die Meditationsobjekte nach der Art des Objekts in zwei Arten: 1. Die Grenzen der Wirklichkeit. Diese sind die konventionelle Vielfalt der Phänomene sowie ihre endgültige Seinsweise; 2. Die vollständigen Verwirklichungen der Ziele. Dabei handelt es sich nicht um die Objekte, über die meditiert wird, sondern um die Ziele, um derentwillen man die Geistige

Ruhe übt - von der Befreiung bis hin zur Allwissenheit in der Buddhaschaft. Objekte zur Läuterung des Verhaltens - Je nachdem, welche Leidenschaft bei einem selbst vorherrschend ist, meditiert man über ein bestimmtes Beobachtungsobjekt, was dazu führt, dass die Meditation dieser Leidenschaft direkt entgegenwirkt. Diese vorherrschenden Leidenschaften werden in fünf zusammengefasst: Begierde, Hass, Verblendung, Stolz und sprunghafte Gedanken. Jemand, bei dem Begierde vorherrscht, meditiert über die Unattraktivität des Begierdeobjekts. Als Mittel gegen Hass übt man sich meditativ in liebevollen Gedanken. Als Mittel gegen Verblendung meditiert man über das Abhängige Entstehen. Als Mittel gegen störende sprunghafte Gedanken meditiert man über das Ein- und Ausgehen des Atems. Die burmesische Tradition betont diese Konzentration auf die Ein- und Ausatmung. Beobachtungsobjekte des Wissens - Diese Objekte, die dazu dienen, sich umfassende Kenntnisse anzueignen, sind fünffach: die körperlichen und geistigen Fünf Aggregate, die Achtzehn Elemente, die äußeren und inneren Zwölf Sinnesquellen, die Zwölf Glieder des Abhängigen Entstehens sowie das Angemessene und Unangemessene.

Beobachtungsobjekte zur Läuterung von Leidenschaften - Die Meditationsobjekte, die zur Reinigung von Leidenschaften dienen, sind zweifach: Zum Einen gibt es Meditationen, in denen man sich abwechselnd die Grobheit der gegenwärtigen Ebene der Existenz und die Ruhe und Ausgeglichenheit der höheren Ebene bewusst macht (und dadurch tiefere Geisteszustände erreicht, in denen die groben Leidenschaften vorübergehend unterdrückt sind); zum Anderen meditiert man über die Vier Edlen Wahrheiten (um die Leidenschaften endgültig aufzugeben). Die Selbstlosigkeit als Meditationsobjekt gehört zur zweiten Art. Das sind, kurz und allgemein ausgedrückt, die Medita-

tionsobjekte bei der Entwicklung von Geistiger Ruhe. Welches besondere Objekt sollte man nun selbst auswählen? Dies muss man je nach der eigenen Veranlagung entscheiden. Wie gerade erwähnt, sollte jemand, bei dem die Leidenschaft der Begierde vorherrscht, über Unattraktivität meditieren. Jemand, bei dem Hass als Leidenschaft überwiegt, sollte Meditationen zur Entwicklung von liebevoller Zuneigung üben. Jemand, dessen Problem hauptsächlich zuviel begriffliches Denken ist, täte wahrlich gut daran, über den ein- und ausgehenden Atem zu meditieren. In manchen Fällen ist es allerdings auch hilfreich, überhaupt nicht über solche Objekte zu meditieren, sondern sich auf den Geist selbst zu konzentrieren; auch wenn es etwas schwieriger ist, durch Meditation über den Geist selbst Geistige Ruhe zu erreichen. Bei dieser Methode besteht auch eine gewisse Gefahr, dass sich nervliche Überreizung, Angstzustände und andere psychische Probleme ergeben, die mit den inneren Energien - dem sogenannten „lebenserhaltenden Wind" - zusammenhängen. Ich habe einige Menschen kennen gelernt, die daran gearbeitet haben, Geistige Ruhe anhand der Konzentration auf den Geist selbst zu erreichen, und im Laufe der Zeit nervlich etwas überreizt wurden. Wer bereits ein Verständnis der Leerheit entwickelt hat, kann auch die Leerheit als Meditationsobjekt wählen und den Geist ohne Analyse punktförmig darauf richten, um so Geistige Ruhe zu erreichen. Eine andere Methode wird im MantraSystem gelehrt, bei der man sich selbst in göttlicher Gestalt visualisiert und dann den Geist konzentriert darauf verweilen lässt. Ohne solche Methoden des Mantra einzubeziehen, kann man sich in der Meditation den Körper eines Buddha vor sich im Räume vorstellen und den Geist darauf ruhen lassen. Genauso könnte ein Christ sich auf Jesus Christus konzentrieren. Eine andere Möglichkeit ist, dass man sich einen Lichttropfen, einen Buchstaben oder eine Silbe als Meditationsobjekt vorstellt. Es gibt viele solcher Objekte, die geeignet sind, meditative Konzentration zu üben, um Geistige Ruhe zu erlangen.

Diese Übung ist in buddhistischen und nicht-buddhistischen Systemen gleichermaßen vorhanden... Um meditative Konzentration zu üben, muss man bei dem Objekt bleiben, zu dem man sich einmal entschieden hat, und darf nicht auf ein anderes überwechseln. Die Meditation kann nicht gelingen, wenn man jeden Tag das Objekt wechselt. Vielmehr müssen Größe, Farbe und Gestalt des Objekts, das man sich in der Meditation vorstellt, fest beibehalten werden. Dies gilt zumindest so lange, wie man noch nicht die vollständigen Fähigkeiten in der Meditation entwickelt hat. Was ist zu tun, wenn man den Geist auf das Objekt gerichtet hat? Man strebt eine meditative Konzentration an, die sich durch zwei Eigenschaften auszeichnet: Stabilität und Klarheit. Stabilität allein ist als Eigenschaft der Konzentration noch nicht besonders beeindruckend; wichtig ist vielmehr die Klarheit und Aufgewecktheit des Geistes. Wenn hier von Klarheit gesprochen wird, so bezieht sich das nicht allein auf das Objekt, sondern vor allem auf den Geist, der sich das Objekt vorstellt. Der Geist selbst sollte sehr wach und lebendig sein. Damit nicht genug; die Klarheit muss so weit entwickelt werden, dass sie eine besondere Intensität besitzt. Vollkommene Geistesgegenwart ist das Ziel. Das, was die Stabilität verhindert, ist die Erregung - eine begierdehafte Aufgeregtheit, die bei uns die hauptsächliche Form der Zerstreutheit des Geistes ist. Weil diese Erregung der Zerstreutheit aufgrund eines Begierde-Objekts ist, gehört sie zur Kategorie der Begierde. Demgegenüber ist das, was die lebendige Klarheit des Geistes verhindert, das Sinken. Deshalb muss man zuerst den Geist an seiner Zerstreutheit hindern und ihn dazu bringen, möglichst punktförmig und klar bei dem Objekt zu bleiben. Wenn der Geist bei dem Versuch, ihn auf dem Objekt ruhen zu lassen, dumpf und trübe wird, etwa so, wie wenn man in einem Sessel döst, handelt es sich um Dumpfheit - eine Schwere und Umwölktheit des Geistes. Diese Dumpfheit ist

die Ursache für das Sinken, sie ist nicht das Sinken selbst. Das Objekt ist nicht klar. In einem anderen Stadium ist das Objekt zwar klar, und auch der Geist, der das Objekt beobachtet, hat eine gewisse Klarheit, aber es fehlen Intensität und Aufgewecktheit bei dieser Klarheit. Wenn sowohl die geistige Klarheit wie die Intensität der Klarheit fehlen, handelt es sich um die gröbste Form des Sinkens. Wenn die Klarheit des Geistes vorhanden ist, aber noch die Intensität dabei fehlt, ist die mittlere Art des Sinkens vorhanden. Die subtilste Form des Sinkens tritt dann auf, wenn der Faktor der Klarheit schon mit Intensität verbunden ist, aber noch ein feiner Mangel an Intensität bestehen bleibt. Diese sehr feine Form des Sinkens wird als eines der schwerwiegendsten Probleme angesehen, weil sie nicht nur schwer festzustellen ist, sondern auch noch leicht mit einem echten, fehlerfreien Zustand von meditativer Konzentration verwechselt werden kann. Man mag sich fragen, worin der Fehler bestehen sollte, wenn man unter dem Einfluss dieses subtilen Sinkens steht; denn das Objekt erscheint klar und deutlich, der Geist ist klar, und diese Klarheit zeichnet sich sogar durch eine beträchtliche Intensität aus. Wenn man über lange Zeit in einem Zustand von subtilem Sinken bleibt, sammelt sich der Geist mehr und mehr; selbst der durch die Nase strömende Atem wird immer feiner. Doch die Gefahr liegt darin, dass durch die Anhäufung des subtilen Sinkens auf die Dauer die Intelligenz immer mehr getrübt wird und man im Geist Anlagen für Dummheit sammelt. Aus diesem Grunde ist es sehr wichtig, darauf zu achten, dass man nicht unter den Einfluss des subtilen Sinkens gerät. Welche Methoden kann man anwenden, um zu verhindern, dass Erregung und Sinken aufkommen? Zuerst muss man das Objekt mit Hilfe der Vergegenwärtigung im Geist halten. Eine intensive Vergegenwärtigung, die in ihrer Kraft nicht nachlässt, zieht ganz natürlich wachsame Selbstprüfung nach sich. Somit ist Vergegenwärtigung eine der Ursachen der Selbstprüfung. Selbstprüfung ist ein Faktor, der den Geist im

Hinblick darauf beobachtet und beurteilt, ob ein Fehler auftritt oder nicht. Es gibt zwei Arten der Selbstprüfung: Eine gröbere wird erst dann aktiv, wenn Erregung oder Sinken bereits entstanden sind, eine feinere wirkt schon, bevor diese Fehler aufgetreten sind. Die spezifische Ursache für die Entwicklung von starker Selbstprüfung ist die wiederholte Beobachtung und Prüfung des Geistes mit einer „Ecke" des meditierenden Geistes selbst. Dabei wird die Hauptkraft des Geistes weiter kontinuierlich auf das vorgestellte Meditationsobjekt gelenkt, aber gleichzeitig achtet man mit einer Ecke des Geistes wachsam darauf, ob Sinken oder Erregung aufkommen. Wenn der Geist sehr entspannt wird, ist die Gefahr für begierdehafte Erregung geringer. Das heißt, in dem Maße, wie der Geist in seiner Wahrnehmungsweise abgesenkt wird, nimmt auch die Kraft der Ablenkung ab. Gleichzeitig wird aber die Gefahr des Sinkens größer. Wenn der Geist dagegen in seiner Wahrnehmungsweise zu sehr erhöht ist, geht zwar das Sinken zu Ende, aber gleichzeitig wächst die Gefahr, dass Erregung entsteht. Deshalb muss der Meditierende in der eigenen Erfahrung zu beurteilen lernen, wann der Punkt eintritt, dass der Geist zu erhöht ist und dadurch die Gefahr der Erregung besteht, so dass er als Reaktion darauf die Art, in der der Geist das Objekt erfasst, wieder auf ein niedrigeres Niveau senken kann. Ebenso muss er die Grenze erkennen lernen, wann der Geist zu versunken ist, so dass die Gefahr des Sinkens besteht. Er muss sofort erkennen, dass der Geist nun in seiner Wahrnehmungsweise auf ein höheres Niveau gebracht werden muss. Was sind die Methoden, um den Geist zu erhöhen oder abzusenken? Um ihn zu erhöhen, denkt man an etwas, was ihn belebt; allerdings darf es kein Objekt sein, durch das Begierde entsteht. Es ist zum Beispiel gut, über die Vorteile der Entwicklung von meditativer Konzentration nachzudenken oder über die Vorzüge des menschlichen Lebens und der mensch-

liehen Intelligenz, die man erlangt hat. Indem man darüber nachdenkt, kommt neuer Mut im Geist auf, und dadurch wird der Geist in der Weise, wie er das Objekt erfasst, auf ein höheres Niveau gebracht. Wenn man trotz solcher Überlegungen das Sinken nicht beseitigen kann, ist es besser, die gegenwärtige Meditationssitzung zu beenden und an einen hellen oder hohen, offenen Platz zu gehen, von dem aus man weit in die Ferne schauen kann. Ebenso kann man sich auch an die frische Luft begeben oder sich damit erfrischen, dass man das Gesicht mit kaltem Wasser benetzt. Dann kehrt man zur Meditationssitzung zurück. Ebenso gibt es Methoden, die dazu dienen, den Geist in seiner Wahrnehmungsweise auf ein niedrigeres Niveau zu bringen, wenn er zu spät erhöht ist und dadurch die Zerstreutheit zunimmt. Als Mittel, um den Geist von anderen Interessensobjekten abzuziehen und mehr nach innen zu sammeln, sollte man über etwas nachdenken, was ihn ernüchtert, wie etwa die Leiden des Daseinskreislaufs. Oder man denkt sich: „In der Vergangenheit habe ich durch Ablenkungen großen Schaden erlitten, und nun richten mich schon wieder Ablenkungen zugrunde. Es wäre ein großer Fehler, wenn ich jetzt nicht Acht gäbe." Dadurch wird der Geist in seiner Wahrnehmungsweise gesenkt. Wer Geistige Ruhe entwickeln will, muss also in der Lage sein, mit den geeigneten Überlegungen den Geist unmittelbar in einen anderen Zustand zu versetzen. Deshalb muss man noch vor dem Beginn der eigentlichen Übung, mit der man Geistige Ruhe erreichen will, durch ein beträchtliches Maß an Untersuchungen Verständnis und Überzeugung von vielen anderen Themen gewonnen haben ... Wenn der Geist unklar ist, kann er manchmal auch dadurch wieder erfrischt werden, dass man sich denkt, man würde ihn in den offenen, weiten Raum hinaussenden. Man muss in der Lage sein zu erkennen, wann Sinken oder Erregung auftreten, und die Mittel kennen, dieses Hindernis

zu überwinden. Dann muss man das geeignete Mittel gegen den gerade auftretenden Fehler einsetzen. Wenn aber weder Sinken noch Erregung auftreten und man zuviel Selbstprüfung entwickelt, besteht die Gefahr, dass man das Meditationsobjekt verliert. Deshalb muss man in solchen Phasen Mittel anwenden, die dazu führen, dass der Geist einfach stetig und lebendig auf seinem Objekt ruhen bleibt. Meditiert man in dieser Weise, so durchläuft man neun Stufen, genannt die „Neun Geistigen Verweilungszustände". Auf der ersten Stufe, genannt „Richter des Geistes", wird der Geist auf das Meditationsobjekt gelenkt. Dies geschieht durch die Kraft, die sich daraus entwickelt, dass man etwas über den Wert der meditativen Konzentration hört. Im nächsten Stadium ist man in der Lage, den Geist schon etwas stetiger auf dem Meditationsobjekt ruhen zu lassen. Diese Stufe nennt man „Stetiges Richten". Die nächste Stufe ist dadurch gekennzeichnet, dass die Phasen überwiegen, in denen der Geist auf das Objekt gerichtet ist, und die Phasen, in denen er abgelenkt ist, immer kürzer werden; selbst wenn kurze Phasen der Ablenkung auftreten, kann man den Geist gleich wieder zurück zu dem Objekt bringen. Diese dritte Stufe wird „Wieder-zurück-Richten" genannt. Wenn man als Meditierender anfänglich - auf der ersten Stufe - den Geist auf das innere Meditationsobjekt richtet, hat man das Gefühl, als hätten die ablenkenden Gedanken noch zugenommen. Es mag sein, dass man über die Vielzahl der Gedanken überrascht ist. Tatsächlich haben die Gedanken aber nicht zugenommen. Weil man den Geist nach innen lenkt, wird einem nun lediglich deutlicher bewusst, wie viele Gedanken überhaupt im eigenen Geist vorhanden sind. Beim Zazen zum Beispiel hat man manchmal das Gefühl, man hätte mehr Speichel und mehr Juckreize als gewöhnlich. In Wirklichkeit ist es aber nicht mehr als sonst, gewöhnlich achtet man nur nicht darauf. Auf der zweiten Stufe hat man das Gefühl, die ablenkenden Gedanken würden sich ab und zu etwas ausruhen, obwohl sie noch immer entste-

hen. Das liegt daran, dass man auf dieser Stufe in der Lage ist, den Geist schon über kurze Zeiträume ohne Unterbrechung auf dem Objekt ruhen zu lassen. Auf der dritten Stufe hat man das Gefühl, als seien die Gedanken ermattet. Das liegt daran, dass die störenden Gedanken nicht mehr sehr aktiv sind und auch langsamer geworden sind. Von der vierten Stufe an, genannt „Zunehmendes Richten" verliert man das Meditationsobjekt überhaupt nicht mehr. Man hat sich von der Gefahr befreit, das Objekt zu verlieren, und der Geist bleibt die ganze Zeit über auf dem Objekt ruhen. Doch in dieser Phase beginnen subtiles Sinken und subtile Erregung aufzutreten. Dieser Zustand kann mit einem Kind im Klassenzimmer verglichen werden, das zwar körperlich auf dem Stuhl sitzt, aber dessen Geist an etwas anderes denkt. Der Hauptteil des Geistes ist auf das Objekt gerichtet, aber der Geist steht hinter dem Einfluss von subtilem Sinken und subtiler Erregung. In diesem Stadium hat man die Kraft der Vergegenwärtigung entwickelt. Die fünfte Stufe wird „Zähmung" genannt. Zu diesem Zeitpunkt hat man die Gefahr von grobem Sinken und grober Erregung hinter sich gelassen, aber die Gefahr von subtilem Sinken ist größer geworden. Deshalb muss man die Kraft der wachsamen Selbstprüfung erzeugen. Auf der sechsten Stufe, die „Beruhigung" genannt wird, ist die Gefahr der subtilen Erregung größer, und zwar deshalb, weil man auf der vorherigen Stufe den Großteil der Vorsicht auf das Sinken gelenkt hat. Das Gegenmittel ist wieder die Kraft der Selbstprüfung, die auf dieser sechsten Stufe vollständig entwickelt wird, so dass sie alle Merkmale besitzt, die echte Selbstprüfung auszeichnen. Die siebte Stufe heißt „Vollständige Beruhigung". In dieser Phase ist es kaum mehr möglich, dass Sinken oder Erregung in irgendeiner Form ein Hindernis bilden können. Sinken und Erregung treten aber nur deswegen nicht mehr merklich in Erscheinung, weil man weiterhin in der Tiefe des Geistes

angespannt darauf achtet, dass sie nicht auftreten. Auf der achten Stufe, die „Ausbildung der Punktförmigkeit" genannt wird, ist das anders: Nur zu Beginn der Meditationssitzung muss man einmal den Vorsatz fassen, darauf Acht zu geben, dass Sinken und Erregung nicht entstehen; und dieser einmalige Entschluss reicht schon aus, das Aufkommen von Sinken oder Erregung zu verhindern. Die neunte Ebene, genannt „Versetzen in Gleichgewicht", wird mit der täglichen Rezitation eines Gebetes verglichen, mit der man so vertraut ist, dass die Worte ganz spontan und ohne Anstrengung aus dem Mund fließen: Man muss sie nur anfangen, dann läuft sie wie von selbst weiter. Einem Praktizierenden des Höchsten Yoga-Tantra ist es von dieser Konzentrationsebene an möglich, die Vollendungsstufe zu üben. Während der vorhergehenden Erzeugungsstufe im Höchsten Yoga-Tantra erreicht man den Faktor der Stabilität, wie er mit den neun Stufen verbunden ist, aber es ist an dieser Stelle nicht nötig, die vollständige Geistige Ruhe mit allen ihren Merkmalen zu erreichen, die zu der Vorbereitungsstufe der Ersten Sammlung gehört, falls man in der Lage ist, die Übungen der Vollendungsstufe durchzuführen. In Hinblick darauf, wie lange die täglichen Meditationssitzungen dauern sollten, wird gesagt, dass es zu Anfang am besten ist, wenn die Sitzungen kurz und häufig sind. Versucht ein Anfänger, lange zu meditieren, so wird eine wirklich gute Meditation nicht zustande kommen. Stattdessen wird er müde werden, mit der daraus resultierenden Gefahr, dass die meditative Konzentration fehlerhaft wird. Daher ist es besser, nur für zehn oder fünfzehn Minuten zu meditieren, aber dies viele Male am Tag. Die beste Zeit für die Meditation ist der Morgen, aber genauso, wie man ein Feuer unterhält, um es zu den verschiedenen Zeiten benutzen zu können, so muss man auch die Kontinuität der Meditation aufrechterhalten, damit nicht alles, was man in vorhergegangenen Sitzungen erreicht hat, bis zum

Beginn der nächsten Sitzung wieder verloren geht. Eine voll qualifizierte Person benötigt nicht viel Zeit, um Geistige Ruhe zu erreichen; sie kann in einem Jahr oder sogar in einigen Monaten erlangt werden. Es hängt allerdings davon ab, ob man sämtliche dafür nötigen Voraussetzungen besitzt. Setzt man die meditative Konzentration in der Weise kontinuierlich fort, wie ich es zuvor beschrieben habe, so erfährt man spontan die meditative Konzentration der neunten Stufe, das Versetzen in Gleichgewicht, ein von allen Fehlern des Sinkens und der Erregung freier Zustand. Durch ihn werden die Tendenzen zu negativen Zuständen des Körpers und Geistes schrittweise vermindert - wie beispielsweise die bei uns normalerweise nicht sehr große Fähigkeit zu heilsamen Verhaltensweisen. Zur Zeit können wir unseren Geist nicht unseren Wünschen entsprechend gebrauchen, doch durch Gewöhnung an das neunte Stadium der meditativen Konzentration nimmt der Einfluss dieser mangelnden Gefügigkeit stetig ab. Zum Schluss hat man das Gegenmittel gegen diese mangelnde Gefügigkeit hervorgebracht, die „Beweglichkeit des Geistes". Als Anzeichen dafür, dass diese Beweglichkeit des Geistes entsteht, nimmt man ein prickelndes Gefühl im Bereich des Gehirns wahr. Diese Empfindung ist nicht unangenehm, sondern angenehm. Der Grund dafür liegt darin, dass ein besonderer „Wind" eine innere Energie, den Körper durchdringt. Das Gefühl wird damit verglichen, dass jemand einem die warme Hand auf den Kopf legt, wenn dieser gerade rasiert worden ist. Es wird gesagt, dass dieses Anzeichen direkt vor dem Erreichen der Beweglichkeit des Geistes auftritt. Tatsächlich haben einige Personen, die die meditative Konzentradon erlangt haben, diese Erfahrung bestätigt. Aufgrund der Kraft, die durch die Gefügigkeit des Geistes, die geistige Beweglichkeit, entsteht, beginnt eine positive Energie im Körper zu zirkulieren; sie ist die Ursache für das Entstehen der körperlichen Beweglichkeit. Diese Energie

durchdringt den ganzen Körper. Sie beseitigt die mangelnde Gefügigkeit des Körpers, die uns daran hindert, ihn ganz nach Wunsch zu heilsamen Handlungen einzusetzen. Damit ist die körperliche Beweglichkeit erreicht. Auch die Entwicklung der körperlichen Beweglichkeit lässt eine Empfindung von Glückseligkeit entstehen, ein angenehmes Gefühl, das den ganzen Körper durchdringt. Obwohl es sich in der Tat um ein Gefühl der Glückseligkeit handelt, steht es nicht in Verbindung mit der Glückseligkeit, die im Mantra-Fahrzeug beschrieben wird; denn es entsteht nicht durch die Konzentration auf wichtige Energiezentren im Körper, sondern entsteht allein dadurch, dass man den Geist nach innen richtet und gesammelt auf seinem Beobachtungsobjekt ruhen lässt. Die Ursache dieses Glücksgefühls beruht allein auf der Kraft der meditativen Konzentradon.

Lachen im Zen Befreiung vom inneren Druck des Ego

von Katsuki Sekida

Als einmal Hyakujo und sein Lehrer Baso miteinander spazieren gingen, flog eine Wildente vorüber. Baso fragte: „Was ist das?" Hyakujo antwortete: „Eine Wildente." - „Wohin ist sie geflogen?" fragte Baso weiter. Hyakujo gab darauf zur Antwort: „Sie ist fortgeflogen." In diesem Augenblick zwickte Baso dem Hyakujo heftig in die Nase. Hyakujo schrie vor Schmerz laut auf. „Da" sagte Baso, „wohin soll sie fliegen?" Die Wirkung dieser Schockbehandlung war, dass Hyakujo plötzlich erleuchtet wurde. Am nächstem Tag ging er hin, um sich bei Baso zu bedanken, und als er in seine Zelle zurückkehrte, fing er laut zu schreien an. Ein Mönch fragte ihn, was los sei, und Hyakujo sagte zu ihm, er solle Baso fragen. Das tat der Mönch, aber er erhielt von Baso die Antwort: „Frage Hyakujo." Der Mönch war verwirrt und kam wieder zurück, um Hyakujo zu fragen, was eigentlich los sei. Diesmal brach Hyakujo in schallendes Gelächter aus. Der Mönch konnte sich auf die ganze Sache überhaupt keinen Reim machen und beschwerte sich, dass Hyakujo sagte: „Vorhin habe ich geschrien, und jetzt lache ich." Und Hyakujo lachte nur immer lauter. Die lange angestaute Flut des inneren Drucks war endlich losgebrochen. Wenn man das kensho erreicht, kann dieses Ablassen des inneren Drucks bis zu drei Tage lang anhalten. Es ist wie ein außer Kontrolle geratener Waldbrand. Hyakujo studierte mit seinem Lehrer weitere zwanzig Jahre lang Zen. Als er Reife erlangt hatte und hinausziehen wollte, um sich als Zen-erfahrener Mensch mit der Welt zu vermischen, ging er zu Baso, um seinem Lehrer zum Abschied noch einmal Dank zu sagen. Als Baso ihn kommen sah, hob er

seinen hossu (eine Art Stab, dessen Spitze mit langen weißen Haaren verziert ist) in die Höhe. Hyakujo sagte: „Benützt du ihn, oder legst du ihn beiseite?" Baso hing den hossu an eine Ecke seines Stuhls. Nach einer Weile fragte er Hyakujo: „Wie willst du künftig diese beiden Blätter deines Mundes öffnen, um für andere zu arbeiten?" Da griff Hyakujo nach dem hossu und hob ihn steil in die Höhe. Baso sagte: „Benützt du ihn, oder legst du ihn beiseite?" Hyakujo hing den hossu an die Stuhlecke. Genau in diesem Augenblick strömte ein großes Gebrüll wie hundert Donnerschläge über Hyakujos Haupt. Im Text steht, dass Baso den Schrei mit ungeheurerer Majestät ausstieß und dass Hyakujo drei Tage lang taub war. Nicht nur drei Tage, sondern sein Leben lang müssen die Lehren des Baso in Hyakujos Ohren geklungen und alle anderen Klänge ferngehalten haben. Ein Zen-Spruch sagt: „Wenn dein Verständnis so groß ist wie dasjenige deines Lehrers, dann nimmst du deinem Lehrer die Hälfte seines Wertes; wenn dein Verständnis dasjenige deines Lehrers übertrifft, bist du würdig, sein Nachfolger zu werden." Würde man nur dasselbe tun, was der eigene Lehrer tut, so würde das nur zum Verfall des Lehrens führen. Innerer Druck und Lachen. Die innere Beziehung zwischen Lachen und Zen rührt daher, dass sich Zen in großem Maße um die Frage dreht, wie man mit seinem inneren Druck sinnvoll umgeht. Auch das Lachen ist ein Mittel, sich von seinem inneren Druck zu befreien. Der innere Druck kommt von den nen. Nen (oder nen-Gedanke) ist ein vieldeutiger Begriff. Damit kann ein bruchstückhafter Gedanke oder ein Gedankenblitz gemeint sein. Wir hören hinter uns ein Krachen und reagieren, indem wir zurückschauen. Das ist eine unwillkürliche Bewegung, bei der man, wie man gemeinhin glaubt, nichts denkt. Aber in Wirklichkeit hat unser Geist in uns im Augenblick des Zurückschauens ein Stück aktiven Handelns vollbracht. Etwas, das fragt: „Was ist los?" lässt uns hinsehen. In

unserem Geist entsteht ein innerer Druck, und dieser Druck ist es, der uns zurückschauen lässt. Oder nehmen Sie ein anderes Beispielt: Blitzartig mag Sie die Eifersucht auf den Erfolg eines anderen durchzucken, oder eine heimliche Schadenfreude über seinen Misserfolg, und das trotz des inneren Tadels, der darauf unmittelbar folgt und vielleicht ein schlechtes Gewissen weckt. Ein solcher bruchstückhafter Gedanke, der für einen kurzen Augenblick in unserem Geist auftaucht, wird nen genannt. Nen hat aber auch noch eine andere Bedeutung. Stellen Sie sich vor, eine Mutter kämpft gegen einen Tiger, um ihr Kind zu schützen. Sie hat nur einen Gedanken im Kopf - den Schutz ihres Kindes. Das ist eine Art mächtigen Wissens und wird ebenfalls nen genannt, oder in diesem Fall ichi-nen. Ichi heißt „ein" und bedeutet hier also eine allumfassende, auf eine einzige Sache konzentrierte Aktion des Geistes. Ein Mörder wird vielleicht nur noch von dem einen Gedanken umgetrieben, dass er den und den Menschen umbringen muss. Diese konzentrierte, anhaltende Zielrichtung des Geistes wird ebenfalls nen genannt. Nen wird aber auch verwendet, um das ganz gewöhnliche Denken zu bezeichnen. Im nen steckt die Vorstellung des zielgerichteten Antriebs, aber es ist noch mehr damit gemeint, denn er bezieht sich auf alle Tätigkeiten des menschlichen Geistes. Nen geht notwendigerweise immer mit innerem Druck einher, denn alle Tätigkeiten des Geistes sind so angelegt. Bei jedem nen-Gedanken - zum Beispiel, wenn man etwas will, wenn man einem Tölpel sein prächtiges Haus und seine hübsche Frau neidet, wenn man einen Nachbarn hasst, wenn man irgend etwas order irgend jemanden liebt und genießt - entwickelt sich in unserem Geist ein gewisses Maß an Druck. Das ist sogar der Fall, wenn wir denken: „Heute ist schönes Wetter." Wir sind versucht, jemanden anzusprechen und zu ihm zu sagen: „Heute ist aber schönes Wetter!" um uns dieses inneren Drucks zu entledigen. So gehen auch der leiseste nen-Gedanke und die flüchtigste Idee, die in unse-

rem Geist auftauchen, mit innerem Druck einher, der sich sowohl physiologisch als auch psychologisch äußert. Wir sagen gewohnheitsmäßig: „Guten Morgen"-„Wie geht es Ihnen?"- „Ist Dorothee in die Schule gegangen?"- „Ich mag heute Morgen kein Rührei, sondern Spiegeleier." Es mag albern erscheinen, diese Art von Unterhaltung genauer zu untersuchen. Aber Zen greift selbst noch die geringfügigste Geistestädgkeit auf und macht etwas Wichtiges daraus. „Guten Morgen" wird zu einem Zen-koan. Wesentlich für die ganze Frage des Zen-Übens ist, wie man mit seinem augenblicklichen inneren Druck umgeht. Nun ist das Lachen eines der großen Meisterstücke der Menschheit. Wir haben es erfunden, um inneren Druck abzuleiten. Objektivierung und Lachen. Plötzlich haut mir jemand auf den Kopf. Ich dreh mich mit geballten Fäusten blitzschnell um und sehe hinter mir ruhig und heiter einen Telefonmasten dastehen. Dagegen also bin ich selbst gestoßen. Wenn mir so etwas passiert und wenn ich mir dann die Begebenheit so vor Augen halten kann, als sähe ich sie in einer Karikatur, mich also objektivieren kann - das heißt, wenn ich klar und deutlich das Bild betrachten kann, das ich da gerade abgebe durchschaue ich meine falsche Vermutung und meine unnötige Aufregung, in meinem Geist bricht die Spannung plötzlich zusammen, und unwillkürlich folgt daraus, dass ich lache. Das Lachen hebt auf der Stelle die physische und geistige Erregung auf, also den inneren Druck. Vielleicht macht man mich zum Gegenstand einer witzigen Bemerkung, und ich ärgere mich darüber; aber wenn ich den Witz an der Sache überschaue und mit den anderen mitlache, ist mein Arger schon aufgelöst, ehe ich ihn recht wahrnehme, so als wäre er heimlich still und leise weggeräumt worden. Wahrnehmen heißt objektivieren. Je höher der Grad an Objektivierung ist, desto vollständiger wird der innere Druck aufgelöst. Innerer Druck ist Ego, und Lachen ist die Aufhebung des Ego. Genau be-

sehen, gibt es keine anderen Wirklichkeiten als das, was wir Ego, Bewusstsein und so weiter nennen: Alles ist ein Produkt der Abfolge verschiedener Äußerungen inneren Drucks. Wenn man sich ärgert, stellt das den Versuch dar, inneren Druck auf äußere Objekte abzuleiten. Sind alle anderen Wege, den inneren Druck herauszulassen, verstopft und steht nur noch die Möglichkeit offen, ihn auf andere abzulassen, entsteht Ärger. Wenn der innere Druck überhaupt keinen Ausweg findet und nach innen gepresst wird, empfinden wir Kummer und Verdruss. Schreien, Angiften („Du Idiot!") und Lachen - das sind alles Weisen, sich seines inneren Drucks über den Kanal, den die Atemorgane bieten, zu entledigen. Beim Lachen spielen genau wie beim Ausdruck von Ärger und Verdruss physische Vollzüge eine sehr wichtige Rolle. Wenn Sie zum Beispiel wütend sind, aber jemand bringt Sie mittendrin zum Lachen, vergessen Sie für einen Augenblick Ihre Wut; und wenn dann die Wut wiederkommt, ist sie schon viel gemäßigter. Ein TeU des inneren Drucks ist also physisch abgeführt worden. Wenn jemand weint, fühlen wir uns von Mitleid gerührt, aber vom physischen Standpunkt aus bedeutet das Weinen, dass das Ego sich Luft verschafft und sich auflöst. Weigert sich das Ego jedoch, mitzumachen, und behauptet hartnäckig seine Stellung, führt das zu Ärger und Zorn. Der Bauer, der fluchend gen Himmel droht, wenn ein Hagelsturm seine Ernte vernichtet, begehrt gegen das Makrokosmische Dasein auf. Das Lachen bringt uns in vertrautere Nähe zueinander, weil dabei unsere Egos aufgelöst werden. Die unmittelbare Erfahrung des Daseins. Die Zen-Schüler üben sich in erster Linie ganz ernsthaft darin, die Erfahrung des Daseins zu machen. Aber wenn sie das erreicht haben - wenn ihnen das Dasein aufgegangen ist -, fängt die eigentliche Aufgabe erst an. Sie haben nur den ersten Schritt getan. Vor ihnen liegt ein unendlich langer weiterer Pfad. Daher heißt es:

„Möchtest du den goldgesichtigen Buddha schauen? Durch zahllose Äonen ist er immer unterwegs." (Hekigan Roku, Fall 94) Kein Herzensfriede lässt sich erreichen, ohne dass wir ihn mittels unseres eigenen Körpers und Geistes erringen, und zugleich für diesen unseren eigenen Körper und Geist. Wenn endlich unser Körper und unser Geist im absoluten Samadhi von uns abgefallen sind, sind wir schlicht und einfach dem verhängnisvollen Problem von Leben und Tod enthoben.

Der Weg - was ist das?" Zengeschichten

jeder Tag ein guter Tag Shoju Rojin sagte: Es ist leicht, unerträgliches Leiden auszuhalten, wenn du denkst, dass es nur einen Tag dauert. Genau dasselbe bei Vergnügen: Wenn du bedenkst, dass es nur einen Tag dauert, wirst du davon nicht abhängig.

Tiefe Erkenntnis Ein Mönch fragte: „Meister, tust du etwas für die Menschen?" Joshu sagte: „Ja." Der Mönch fragte: „Wie tust du etwas für die Menschen?" Joshu sagte: „Wenn du nicht tiefe Erkenntnis erreicht hast, wirst du dich vergeblich anstrengen, verblendete Gedanken zu beruhigen." Der Mönch fragte: „Nun, was ist das für eine Erkenntnis, die du rief nennst?" Joshu sagte: „Ich will nichts Wesentliches sagen." Der Mönch sagte: „Das ist Tiefe. Aber was ist Erkenntnis?" Joshu sagte: „Dir antworten ist Erkenntnis."

Liebe tötet nichts Einmal, vor langer Zeit, war in China ein Mönch nach dem Bettelgang auf dem Rückweg zum Tempel. Unterwegs überfielen ihn einige Räuber und nahmen ihm all sein Geld, das Essen und seine Kleider. Dann legten sie ihn auf den Rücken, flochten Stricke aus dem langen Gras, das auf den Feldern

wuchs, und banden ihn auf diese Weise mit Händen und Füßen am Boden fest. So blieb er dort stundenlang nackt liegen. Schließlich kam der König mit seinen Dienern auf dem Weg zum Tempel vorbei. Empört, einen nackten Mann nahe der Straße liegen zu sehen, stieg er zu ihm hinauf, um zu fragen, was geschehen sei. Der Mönch erklärte es. Der Kaiser fragte: „Warum bist du nicht aufgestanden?" Der Mönch sagte: „Bitte, knüpfe das Gras auf!" Der Kaiser begann, es mit den Wurzeln herauszuziehen. „Halt" sagte der Mönch. „Du darfst es nicht herausziehen. Bitte, knüpfe es auf." Da ging dem Kaiser auf, dass der nackte Mann ein großer Mönch war, der sogar das Gras auf dem Felde liebte. Und er begleitete ihn zum Tempel und machte ihn zu seinem Lehrer.

Festmahl für den Amtsornat Als Ikkyu einmal an der Türe eines Reichen in zerlumptem Kleide bettelte, wurde ihm ein halber Pfennig gereicht. Danach besuchte er das Haus des Reichen im violetten Amtsornat. Man führte ihn ins innere Gemach und bot ihm ein vornehmes Mahl an. Da erhob er sich von der Tafel, legte sein Prachtgewand ab und stellte das Tischlein mit den ihm bereiteten Speisen vor das leere Kleid. „Das heutige Festessen" erklärte er, „gilt nicht mir, sondern diesem Kleid."

joshu in der Hölle Jemand fragte: „Du bist ein so heiliger Mensch. Wo wirst du dich befinden, wenn du tot bist?" Der Zen-Meister Joshu antwortete: „Ich gehe vor euch allen zur Hölle!" Der Frager war wie vom Donner gerührt und sagte: „Wie wäre das möglich?"

Der Meister: „Wenn ich nicht als erster zur Hölle ginge, wer würde dort warten, um Menschen wie dich zu retten?" N

Was ist der Weg? Joshu fragte seinen Meister Nansen: „Der Weg - was ist das?" Nansen sagte: „Alltagsgeist." Joshu sagte: „Dann sollte man danach streben, oder?" Nansen sagte: „In dem Moment, in dem du nach irgend etwas strebst, hast du es schon verfehlt." Joshu sagte: „Wenn ich nicht danach strebe, wie kann ich dann den Weg wissen?" Nansen sagte: „Der Weg hat mit,Wissen' oder ,Nicht-Wissen' nichts zu tun. Wissen ist nur blindes Wahrnehmen. NichtWissen ist nur Öde. Wenn du schließlich, ohne danach zu streben, den Weg erreicht hast, ist es wie der Raum: absolut klare Leere. Du kannst das weder auf die eine noch auf die andere Art erzwingen." In diesem Augenblick wurde Joshu zu tiefer Erkenntnis erweckt. Sein Geist war wie der klare Vollmond.

Was ist Zen? Eines Tages empfing Soen-Shaku einen bekannten Journalisten als Gast. Während sie Tee tranken, sprach Soen-Shaku über Politik und weltliche Angelegenheiten, bis schließlich der Besucher sagte: „Über all das weiß ich selber Bescheid. Ich bin hergekommen, um Zen zu erlernen. Bitte, sprechen Sie darüber." In aller Ruhe erwiderte Soen-Shaku: „Eben dies tat ich." Da erst verstand der Journalist seinen Beruf. Er empfing morgens und abends Sanzen und entwickelte jene Eigenschaft des Geistes, die über allem Weltlichen steht.

Koans Begegnung mit dem unverhüllten Dasein

von Katsuki Sekida

Es gibt zwei Weisen, Begriffe zu handhaben: indem man sie in einer rein verstandesmäßigen Übung miteinander verknüpft und also Begriff an Begriff reiht, oder indem man jeden Begriff zu seiner eigenen konkreten Erfahrung in Beziehung setzt. Bei der ersteren Methode zieht man Stockwerk um Stockwerk ein Gedankengebäude wie den Turm zu Babel hoch und endet in völliger Verwirrung; die zweite lässt sich mit dem Anlegen eines Obstgartens oder eines Reisfeldes vergleichen, bei dem man jede Pflanze fest im Boden verankert. Diese Methode wenden wir beim Zen an. Mit welcher Art von koan wir auch immer arbeiten mögen, niemals ist er für uns lediglich der Gegenstand abstrakten intellektuellen Studiums. Er muss ein Stück unser selbst werden. Wie können wir das zustande bringen? Nehmen wir als erstes Beispiel folgendes: „Denke jetzt nicht an Gutes noch an Böses: Kennst du deine ursprüngliche Natur?" Es ist völlig fruchtlos, dieses Thema mit Hilfe von Gedanken oder Begriffen anzugehen, die Sie aus Büchern und im Philosophiestudium gelernt haben. Was Sie gelernt haben, haben Sie von anderen übernommen, und es stammt nicht aus Ihrer eigenen Erfahrung. Ihr wirkliches Verstehen muss aus Ihrer eigenen Erfahrung entspringen. Wie können wir also mit diesem koan arbeiten? Sagen Sie es vor sich hin, richten Sie Ihre gesamte geistige Kraft darauf, in einem Ausatmen; wenden Sie die Bambus-Methode des Atmens an. „Den-ke jetzt nicht an Gu-tes noch an Bö-ses: Kennst du dei-ne ur-sprüngli-che Na-tur?" Sprechen Sie es Silbe um Silbe, Wort um Wort,

sagen Sie es mit Ihrer ganzen Aufmerksamkeit, verweilen Sie still bei jedem Wort. Begleiten Sie den Übergang zu jeder neuen Silbe mit einem kurzen Impuls Ihrer Atemmuskeln im Unterleib. Wenn man ein Wort oder einen Satz eine gewisse Zeit lang im Sinn behält, ohne ihn mit anderen Inhalten zu vermischen, scheint er in jeden Teil des Gehirns einzufließen. So schnell die Übertragung nervöser Impulse im Gehirn auch sein mag, sie brauchen dennoch eine gewisse Zeit, um überall einzudringen und immer wieder Rückmeldungen einzuholen. Im Zen ist der Begriff „nen", den man mit „Gedankenimpuls" übersetzen könnte, von großer Bedeutung. Wenn ein nenGedanke das gesamte Gehirn durchsetzt, hat das eine wunderbare Wirkung. Bei unserer üblichen Lesegeschwindigkeit bleibt diese Wirkung weithin aus. Aber zuweilen kann sie sich doch einstellen, so zum Beispiel, wenn man den Text eines Dichters liest, zu dem man eine besondere innere Beziehung hat, oder wenn man die Bibel liest, dabei bei jedem Wort verweilt und sich ausreichend Zeit dafür lässt. Da liest man dann wahrscheinlich Wort für Wort ganz sorgfältig, trinkt es voll Ehrfurcht in sich hinein, und mit einemmal scheint der Textabschnitt voll unendlicher Bedeutung; es scheint fast, als erschließe er sich einem wie eine himmlische Offenbarung. Jeder der jemals die Bibel mit andächtiger Hingabe gelesen hat, wird schon eine solche Erfahrung gemacht haben. Diese Weise des Lesens nennen wir „Sprach-samadhi", und um das müssen wir uns bemühen, wenn wir ein Zen -koan rezitieren. Der /»'«-Gedanke hat seine Arbeit nicht getan, wenn er das gesamte Gehirn durchströmt hat. Er mag zwar für eine gewisse Zeit aus dem Zentrum des Bewusstseins treten, aber im Untergrund wirkt er weiter und lässt eine bestimmte Frucht reifen. Ist der Zeitpunkt gekommen, bricht diese Frucht an die Oberfläche des Bewusstseins hervor und beansprucht das Zentrum der Aufmerksamkeit. Ein Beispiel für das, was dann

geschieht, ist die sogenannte „Inspiration". Sie kommt uns, genau besehen, nicht von außen zu, sondern sie ist die Frucht des angereicherten nen-Gedankens. Wenn Sie also, wie oben beschrieben, rezideren: „Kennst du dei-ne ur-sprüng-li-che Na-tur?" wird irgendwann plötzlich Ihr ursprüngliches Selbst aufspringen, vor Ihnen stehen und sich in seiner ganzen Großartigkeit entfalten. Die ursprüngliche Natur ist reines Dasein, das bereits in Ihnen verwirklicht wurde, als sich Ihr samadhi vertiefte, und jetzt ist es ins Zentrum Ihres Bewusstseins gesprungen. Seine Ausdrucksweise, die es annimmt, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, und wir können jetzt einige weitere Beispiele betrachten. Das Geräusch des einstürzenden Brennholzhaufens. Ein Mönch wurde seines ursprünglichen Selbst in dem Augenblick jäh gewahr, als er das Geräusch eines umstürzenden Stoßes aus Brennholz vernahm. Mit diesem Geräusch hörte er alles zusammenbrechen - irreführende Gedanken, die übliche Weise des Bewusstseins -, und das reine Dasein lag nackt vor ihm. Aber in Wirklichkeit hatte der Zusammenbruch schon lange vorher in seinem absoluten samadhi stattgefunden. Aber jetzt wurde er dieser Wirklichkeit zum ersten Mal gewahr, und es schien ihm nur so, als finde der Zusammenbruch genau in dem Moment statt, in dem er das Geräusch des stürzenden Holzstoßes hörte. Das reine Dasein, das in Verbindung mit dem Zusammenbruch aufschien, umfasste die gesamte Wirklichkeit, zugleich war es ein Ergebnis im Inneren des Mönchs. Wem etwas Derartiges widerfährt, der vernimmt im Geräusch des einstürzenden Holzhaufens das Geräusch des Zusammenbruchs des gesamten Universums. Der Mönch hörte die Berge, die Täler, die Wälder und alles andere mit einem gewaltigen Krachen in den Abgrund stürzen. Viele solche Erfahrungen sind von Zen-Schülern berichtet worden, und auch in der Zen-Literatur findet man viele Beispiele dafür. Das sind Erzählungen über das kensho. Kensho ist ein Ereignis im positi-

ven samadhi, in dem das Bewusstsein mit der äußeren Welt in Kontakt ist. Kensho durch den Anblick von Pfirsichblüten. Ein Mönch wurde seiner ursprünglichen Natur gewahr, als er Pfirsichblüten sah, die gerade voll erblüht waren. Nun sind zweifellos viele Menschen vom Anblick voll erblühter Pfirsichblüten hingerissen. Aber im Allgemeinen spielt sich das innerhalb der normalen Bewusstseinstätigkeit ab, die unter dem Einfluss ihrer eingefleischten Gewohnheit steht, alle Dinge als nützliche Gegenstände anzusehen und die Augen vor der Reinheit des Gegenstandes in sich selbst zu verschließen. Im Gegensatz dazu fällt im absoluten samadhi diese Gewohnheit des Bewusstseins ab, und man erblickt die Dinge unvoreingenommen. Dann nimmt man wahr, dass alles ein strahlendes Licht aussendet. Diese Erfahrung wurde dem besagten Mönch nicht rein zufällig zuteil. Er hatte eine lange Erfahrung mit dem absoluten samadhi und hatte es sich zur festen Gewohnheit gemacht, die alte Denkungsart seines Bewusstseins abzulegen und sich folglich dem reinen Dasein auszusetzen. Aber man wird sich selten selbst subjektiv dieses Zustands bewusst. Weil jedoch diese Erfahrungsweise zu einer allumfassenden neuen Qualität des Erfahrenden wird, die er als solche an sich nicht wahrnehmen kann, geht sie ihm erst auf, wenn sie an Objekten der äußeren Welt aktiviert wird, und deshalb musste der Mönch ihrer irgendwann innewerden. Der Auslöser dafür, dass er das reine Dasein sah, waren in seinem Fall die Pfirsichblüten.

Der Klang eines Steinchens, das auf den Bambus fällt. Ein Mönch, der das Gelände eines Patriarchengrabes kehrte, wurde seiner eigenen Natur inne, als er den Klang eines Steinchens vernahm, das von seinem Besen gegen einen Bambusstamm geschleudert wurde. Die Erfahrung von kensho knüpft sich sehr häufig an das Sehen, Hören, Berühren und andere sinnhafte Tätigkeiten. In

ihrer reinen Verfassung nehmen die Sinne das eigene Dasein und das des anderen wahr; das ist reine Empfindung. Aber in unserem Alltagsleben ist ihre reine Verfassung im Allgemeinen beeinträchtigt und von ichsüchtigen Wünschen und Ansichten befleckt, weshalb es nicht zu reiner Empfindung kommt. Der springende Punkt ist ganz einfach: Sobald die gewöhnliche Einstellung des Bewusstseins wegfällt, wird alles richtig. Dieser Mönch war ein Mensch von brillanter Geisteskraft. Er beherrschte das gesamte Wissen seiner Zeit, von buddhistischen Lehren bis zu nichtbuddhistischen Philosophen. Aber sein Zen-Meister trieb ihn in die Enge, indem er von ihm verlangte, er solle etwas Originelles über seine eigene wahre Natur sagen. Er musste eingestehen, dass nichts von dem, was er wusste, seinen Geist wirklich befriedigte, was die Fragen um Leben und Tod anging. Er war in schweren Nöten. Er rang intensiv mit seinem Lehrer, konnte das Problem jedoch nicht lösen. Er war ganz verzweifelt und kam sich völlig unwert vor. So beschloss er, seine Tage als Grabwächter des Patriarchen zu verbringen; denn für irgend etwas musste man ja leben. Seiner Meinung nach konnte er nur noch leben, indem er diese schlichte Arbeit versah. In dieser Geistesverfassung war jeder Gedanke, andere für die Befriedigung seiner eigenen Wünsche zu gebrauchen, in ihm erloschen. Und jetzt erwies sich selbst ein so unbedeutender Gegenstand wie ein Kehrbesen als sein intimer Freund. Es schien ihm, als seien ihm die welken Blätter auf dem Boden, die er täglich aufkehrte, freundschaftlich zugewandt. Alles wurde ihm zum Anlass ehrfürchtigen Staunens: ein Grashalm, die kleine, unscheinbare Blüte eines Krautes - Dinge, die er bislang als unbedeutend übergangen hatte. Im Kloster werden bis heut die Besen und ähnliche Werkzeuge von den Mönchen selbst angefertigt. Die Werkzeuge sind somit ein Teil dessen, der sie herstellt, und wenn man sie benützt, sind sie die eigenen Arme und Hände.

Ganz daheim in meinem Alltagsleben, Wird selbst das Kehren mir zur Wonne! Dieser Mönch hielt sich selber für einen Nichtsnutz, aber er hatte, ehe er dessen gewahr wurde, ein großes, allumfassendes Ich entwickelt. Mehr noch: er übte täglich zazen und kannte sehr genau den Zustand des absoluten samadhi. Während er so seine Tage verbrachte, widmete er sich eines Tages gerade wieder dem Kehren, als plötzlich ein Steinchen auf einen Bambusstamm prallte und einen klaren, volltönenden Klang hervorrief. Das Steinchen war voller Leben, der Bambusstamm war voller Leben. Und der Klang war ebenfalls voller Leben. Umrisse, Farben - alles zur Rechten und zur Linken, überall, war voller Leben. Da vernahm er die Stimme des Daseins selbst. Die äußere Welt ist tatsächlich um uns herum da. Dieses ihr Dasein ist uns normalerweise verhüllt, und das liegt nicht am Dasein, sondern an unseren Augen. Die übliche Bewusstseinsweise lässt uns mechanisch auf die Dinge blicken und gibt uns die Meinung, sie seien tot. Lässt man diese mechanische Sichtweise hinter sich, so liegt einem das Dasein unverhüllt vor Augen. Dieser Mönch kam mit ihm in unmittelbaren Kontakt. Der Klang, den der Bambusstamm aussandte, war die Stimme im Inneren des Mönches selbst, und zugleich war das die Stimme, die die gesamte Welt durchtönt.

Der schützende Baum der gegenseitigen Abhängigkeit Mitgefühl und Verantwortung für die Umwelt

von S. H. Dalai Lama Im Laufe meiner ausgedehnten Reisen in die Länder der ganzen Welt - reiche und arme, östliche und westliche - habe ich Menschen gesehen, die im Vergnügen schwelgen, und Menschen, die leiden. Der Fortschritt in Wissenschaft und Technik scheint wenig außer einer linearen, quantitativen Verbesserung erbracht zu haben. Entwicklung bedeutet oft nichts weiter als mehr Häuser in mehr Städten. Als Ergebnis ist das ökologische Gleichgewicht - unsere Lebensgrundlage auf der Erde massiv gestört. Auf der anderen Seite hat das tibetische Volk in den alten Zeiten ein glückliches Leben im Einklang mit der Natur geführt, unbeeinträchtigt von Umweltverschmutzung. Heute hat uns der ökologische Verfall überall in der Welt, einschließlich Tibets, beinahe überholt. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir ohne gemeinsame Anstrengungen, mit einem universalen Verantwortungsgefühl den schrittweisen Zusammenbruch jenes empfindlichen Ökosystems erleben werden, das uns erhält - und damit eine nicht unumkehrbare, unwiderrufliche Entwürdigung unseres Planeten Erde. Die folgenden Verse sind verfasst worden, um meine große Besorgnis zu unterstreichen und alle ebenso besorgten Menschen aufzurufen, sich kontinuierlich darum zu bemühen, die Zerstörung unserer Umwelt rückgängig zu machen und zu korrigieren.

O Erhabener Tathagata, Vom Baume Iksvakus Geborener Einzigartiger Der du um die allumfassende Natur der Gegenseitigen Abhängigkeit Zwischen der Umwelt und den fühlenden Wesen Samsara und Nirwana Beweglichem und Unbeweglichem weißt Der du die Welt aus Mitgefühl lehrst Lass uns deine Güte zuteil werden O Befreier Dessen Name Avalokitesvara ist Der die Essenz des Mitgefühls Aller Buddhas verkörpert Wir bitten dich flehentlich: Lass unseren Geist reifen Und Früchte tragen, damit wir die Wirklichkeit erkennen Bar aller Illusionen Unsere verstockte Selbstsucht Tief in unser Bewusstsein eingegraben Verseucht, schändet und verschmutzt Seit anfangsloser Zeit Die Umwelt Die geschaffen ist vom gemeinsamen Karma Aller fühlenden Wesen Seen und Teiche haben Ihre Klarheit, ihre Kühle verloren Die Atmosphäre ist vergiftet Der Natur himmlisches Gewölbe am feurigen Firmament Ist zersprungen Und die fühlenden Wesen leiden an Krankheiten Die sie früher nicht gekannt

Berge ewigen Schnees, in strahlender Schönheit Beugen sich und schmelzen zu Wasser Die majestätischen Weltmeere verlieren ihr natürliches Gleichgewicht Und überfluten die Inseln Die Gefahren durch Feuer, Wasser und Wind sind grenzenlos Drückende Hitze trocknet unsere üppig grünen Wälder aus Unsere Welt wird von außergewöhnlichen Stürmen gepeitscht Und die Meere verlieren ihre selbstreinigende Kräfte Zwar fehlt es den Menschen nicht an Wohlstand Es ist ihnen jedoch versagt, klare Luft zu atmen Regen und Flüsse reinigen nicht mehr Sind nur noch trübe, energielose Flüssigkeiten Die Menschen Und die zahllosen Kreaturen Die Wasser und Land bevölkern Taumeln unter dem Joch physischer Schmerzen Hervorgerufen durch bösartige Krankheiten Ihr Bewusstsein ist getrübt Von Trägheit, Stumpfsinn und Unwissenheit Die Freuden von Körper und Geist Sind weit weit weg Die Erde ist die Heimat der Lebewesen Gleichmütig und unparteiisch gegenüber dem Beweglichen und Unbeweglichen So sprach der Buddha wahrheitsgemäß Und Zeugnis legte ihm ab die große Erde

Wie ein edler Mensch die Freundlichkeit Der liebenden Mutter erkennt Und sie zu erwidern sucht Sollten wir die Erde, die universale Mutter Die alles in gleichem Maße nährt Mit Zuneigung und Sorgfalt betrachten Gib jegliche Verschwendung auf Verschmutze nicht die reine, klare Natur Die vier Elemente, Um nicht das Wohlergehen der Menschen zu vernichten Gehe vielmehr ganz in Taten auf Die allen zum Nutzen gereichen Unter einem Baum ward der große Weise, Buddha, geboren Unter einem Baum überwand er die Leidenschaften Und erlangte Erleuchtung Unter zwei Bäumen ging er ins Nirwana ein Wahrlich der Buddha schätzte den Baum hoch Gut gedeihende Bäume klären den Wind Helfen uns die lebenserhaltende Luft zu atmen Sie erfreuen das Auge und besänftigen den Geist Ihre Schatten bieten einen willkommenen Ruheplatz Der Buddha verbot den Mönchen Lebende Pflanzen zu schneiden und andere dazu zu veranlassen Samen zu vernichten oder frisches grünes Gras zu schneiden Sollte uns dies nicht inspirieren Unsere Umwelt zu lieben und zu schützen?

Heißt es doch, dass in den himmlischen Gefilden Die Bäume Buddhas Segen ausstrahlen Und wiederhallen den Klang Der essentiellen buddhistischen Lehren Wie die der Unbeständigkeit Der Baum ist es, der den Regen bringt Es sind die Bäume, die die Böden zusammenhalten Kalpa-Taru der wunscherfüllende Baum Bewohnt wirklich unsere Erde Um allen Zwecken zu dienen In alten Zeiten Genossen unsere Vorfahren die Früchte der Bäume Kleideten sich mit den Blättern Entdeckten das Feuer durch das Reiben des Holzes Suchten Schutz unter dem Blätterdach Wenn Gefahr im Verzug war Sogar im Zeitalter der Wissenschaften Der Technologie Bieten Bäume uns Zuflucht Aus ihnen sind die Stühle, auf denen wir sitzen Und die Betten, in denen wir schlafen Wenn das Herz lodert Durch das Feuer des Zornes Angefacht durch Streit Sorgen Bäume für willkommene, erfrischende Kühle

Bäume und Pflanzen sind die Grundlage Alles Lebens der Erde Wenn sie vernichtet werden Wird dieser Kontinent (Dschambudvipa), der den Namen vom Laut des Jambu-Baumes hat Nichts mehr sein Als eine trostlose, furchteinflößende Wüste Nichts ist den lebenden Kreaturen wichtiger als das Leben Dies beachtend sprach in den Regeln der Disziplin Der Buddha Verbote aus Wie den Gebrauch von Wasser, in dem sich lebende Wesen befinden Im entlegenen Himalaya in alten Zeiten Gab es in Tibet das Verbot zu jagen und zu fischen Und in festgelegten Zeiten auch zu bauen Diese Tradidonen sind vortrefflich Denn sie bewahren und schätzen Das Leben einfacher, hilfloser und wehrloser Geschöpfe Mit dem Leben anderer Wesen zu spielen Ohne Feingefühl und Skrupel Wie durch das Jagen und Fischen als Sport Ist ein Akt achtloser, unnützer Gewalt Und eine Verletzung der unantastbaren Rechte Aller Lebewesen Achtsamkeit übend gegenüber der Natur Der gegenseitigen Abhängigkeit aller Dinge Belebter und unbelebter Sollten wir niemals in dem Bemühen nachlassen Die Kräfte der Natur zu bewahren und zu schonen

An einem bestimmten Tag, Monat, Jahr Sollte man an dem feierlichen Brauch teilnehmen Einen Baum zu pflanzen So nimmt man seine Verantwortung wahr Und dient seinen Mitgeschöpfen Das bringt nicht nur uns selbst Glück Sondern Nutzen für alle Möge die Kraft zu befolgen, was recht ist Und zu unterlassen, was falsche Praxis und schlechte Taten sind Den Wohlstand in der Welt nähren Möge sie die Lebewesen stärken und erblühen lassen Mögen wahre Freude und echtes Glück Stetig wachsen, stetig sich verbreiten und alles Seiende umfassen.

Die Schildkröte und der Fisch Gespräch zwischen Detlef Kantoivsky und Nyanaponika Mahathera

Detlef Kantowsky: Ehrwürdiger, es gibt eine buddhistische Geschichte, die häufig benutzt wird, um die Schwierigkeiten des Gesprächs zwischen Menschen verschiedener Einstellung und verschiedener Herkunft deutlich zu machen. Und zwar wird berichtet von der Schildkröte, die einen Landausflug gemacht hat und ihrem Freund, dem Fisch, nicht richdg vermitteln kann, wie es auf dem Land zugeht, weil der Fisch selbst die Erfahrung der Bodenständigkeit nicht gemacht hat. Wenn wir daran anknüpfen können: Wie sehen Sie die Bedingungen und Möglichkeiten des Dialogs, nachdem Sie seit mehr als fünfzig Jahren im Sangha leben? Nyanaponika: Ich glaube nicht, dass die Möglichkeiten der Verständigung so schwierig sind wie zwischen der Schildkröte und dem Fisch, die in verschiedenen Elementen leben obzwar die Schildkröte ja auch ins Wasser springen kann. Es sind nur Teilgebiete des menschlichen Lebens und Denkens, wo sich Unterschiede zeigen; aber das rein Menschliche ist den Vertretern aller Religionen oder auch den Nichtgläubigen gemein. Das Grundverhalten den Mitmenschen gegenüber, das Streben nach der eigenen Läuterung, all dies ist eine genügende Grundlage zu einem gegenseitigen Verständnis und auch einer Verständigung. Frage: Das sind also die Möglichkeiten des Dialogs. Aber gibt es nicht dennoch auch Grenzen, von diesen allgemein menschlichen Ausgangssituationen einmal abgesehen? Antioort: Ja, die Grenzen bestehen in dem, was der Buddha die „Meinungen" genannt hat, „ditthi". Er hat auch vor solchen

festgefahrenen Meinungen gewarnt; und die gibt es auf verschiedenen Gebieten. Nun zu unserem Thema: Bei der Religion sind es bestimmte theologische Lehren, die die Unterschiede hervorrufen. Wir leben in einem Universum, das ein sehr weit verzweigtes Netz von Bedingungen und Abhängigkeiten ist. Nur Ausschnitte dieses Bedingtheits-Netzes sind uns zugänglich - kleinere und größere. Die Lücken im Verständnis der Zusammenhänge versucht nun der Mensch auf unterschiedliche Weise auszufüllen, sei es durch Deutung oder Missdeutung der Natur oder innerer Erfahrungen und Hoffnungen. Und da ergeben sich selbstverständlich starke Gegensätze zum Beispiel bei der Theologie. Da diese Theologien vielfach sehr stark emotionell geladen sind, da sie den Vertretern seelisch sehr viel bedeuten, wird die Verständigung tatsächlich schwierig; die Grundpositionen werden sich nicht leicht ändern. Das betrifft auch allgemeine Fragen, wie zum Beispiel die Natur der menschlichen Persönlichkeit (Körper und Seele); Fragen über die Natur und Entstehung der Welt: Ob sie die Schöpfung eines allmächtigen Gottes ist oder rein autonomer dynamischer Prozess des Entstehens und Vergehens - das sind verschiedene Deutungen dieser Welt. Aber das braucht Vertreter verschiedener religiöser Richtungen nicht menschlich zu trennen, wenn die Grundlagen ethischen Verhaltens tatsächlich gemeinsam oder eng verwandt sind. Doch dieses Gemeinsam-Ethische und Allgemein-Menschliche in nicht-theistischen oder nicht-christlichen Religionen wird leider von einigen Theologien entweder ignoriert oder geleugnet. In manchen Theologien hat die Identifizierung mit den Glaubensinhalten so stark emotionellen Charakter, dass deren Nichtannahme als eine Herausforderung betrachtet wird. Dies führt zu einer Abwehrhaltung oder zu Bemühungen, störende Elemente durch Bekehrungen zu beseitigen. Aber jetzt ist erfreulicherweise auch in kirchlichen Kreisen die Uberzeugung da, dass wir in einem religiösen Pluralismus

leben, der anerkannt werden muss; das gibt auch die Möglichkeit, das Gemeinsame zu betonen. Wenn der religiöse Pluralismus anerkannt wird, so heißt das, dass man die Überzeugungen des anderen wirklich respekdert. Nach buddhistischer Einstellung wäre es unrecht, den Glauben anderer stören zu wollen, die in ihrer Gläubigkeit Befriedigung finden. Wenn sie den Sittengesetzen ihrer Religion folgen, dann werden sie auch nach buddhistischer Überzeugung eine gute Zukunft haben, etwa in einer Himmelswelt, die ihren eigenen Vorstellungen entsprechen mag. Frage: Was sind es vor allen Dingen für Fragen, die von außen an den Buddhisten, den Mahathera, gestellt werden? Anhvort: Vor allem über die Grundlehren des Buddha, nicht so sehr persönliche; auch über Wiedergeburt und die Stellungnahme des Buddhismus zum Alltagsleben, über die Stellung des Laienbuddhisten. Fragen also über das, was der Buddhismus auch dem Laien, dem Nicht-Mönch, geben kann. Da bemühe ich mich dann, die Vorstellungen zu zerstreuen, als sei der Buddhismus nur eine Mönchsreligion. Der Buddha hat sich ja fast von Beginn an auch an Weltmenschen gewandt und eine Laienethik gelehrt. Auch darin war er tolerant - er hat ihnen gesagt, sie könnten ruhig den Kultus der Hausgötter fortsetzen, wenn sie es wünschen. Er hat sicher nicht viel davon gehalten, aber er wollte den Menschen nichts nehmen, was für sie von Wert und Hilfe ist. Frage: Gibt es Beispiele, wo der Buddha selbst einen Dialog mit Andersmeinenden geführt hat, und wie sind diese Dialoge verlaufen? Aritivort: Da gibt es eine sehr große Anzahl von Lehrreden, in denen sich der Buddha mit Jainas, den Wanderasketen oder auch orthodoxen Brahmanen unterhält. Nicht alle wurden überzeugt, viele hielten an ihren festgewurzelten Ansichten fest. Der Buddha hat gesprochen, wenn wirkliche Fragen vor-

lagen; und er hat auch eine kritische, eine sehr kritische Antwort nicht gescheut. Aber er zeigte auch Verständnis für den Charakter und das Temperament des Gesprächspartners. Da gibt es eine bekannte Lehrrede, wo er zwei Brahmanen nur den Weg zu Brahma (dem Schöpfergott) wies und nicht weiter. Er sah, dass sie die buddhistischen Grundlehren nicht akzeptieren konnten, und wies ihnen den Weg zu Brahma und zur Entwicklung der Eigenschaften, die eine Gemeinschaft mit Brahma ermöglichen, nämlich die „Brahma-gleichen Zustände" (Brahma-Vihara): Güte, Mitleid, Mitfreude, Gleichmut. Ferner sollten sie, wie Brahma, frei sein vom Hängen an Besitz und Häuslichkeit, frei von Ärger, lauteren Geistes und selbstbeherrscht. Auf diese Weise hat er zu den beiden Brahmanen gesprochen. Typisch für die Lehrweise des Buddha ist die stufenweise Lehrdarlegung, die mit leichter zugänglichen Lehren anfängt. Erst dann, wenn der Buddha merkte, dass das Gemüt des Gesprächspartners zu Höherem fähig war, sprach er über die Lehren, die einem Buddha eigentümlich sind: von den Vier Wahrheiten. Frage: Gehen Sie nicht in Ihrem Buch „Geistestraining durch Achtsamkeit" auch so vor, dass Sie diese Achtsamkeitsübung zunächst als eine Methode vermitteln, die zu einer besseren Bewältigung des Alltags beiträgt, ohne dass Sie anfänglich auf den buddhistischen Hintergrund und die buddhistische Lehre, innerhalb deren das einen umfassenden Sinn ergibt, eingehen? Erst zum Schluss und Stück für Stück setzen Sie ein zunehmend „buddhistischeres Verständnis" beim Leser voraus. Antwort: Ja gewiss. Achtsamkeit, Besonnenheit, Bewusstseinsklarheit sind für jeden Menschen und jede Situation wichtig. Der Buddha selber sagte, sie sei überall von Nutzen. Dies wird verständlich, wenn man bedenkt, dass jede Sinneswahrnehmung ein mehr oder minder großes Maß an Auf-

merksamkeit erfordert. Achtsamkeit ist eine Grundfunktion des Bewusstseins. Aber auch im Verhalten den Mitmenschen gegenüber wird Achtsamkeit ein Helfer sein. Man wird besonnen sein in Rede und Tat und dadurch viele Konflikte vermeiden. Auch in eigenen Angelegenheiten wird man durch achtsame Besonnenheit Fehlentscheidungen vermeiden. In dieser und anderer Weise kann die buddhistische Schulung in Achtsamkeit auch für Nicht-Buddhisten hilfreich sein, ohne Beeinträchtigung ihres Glaubens. Aber wer sie meditativ entfaltet, der wird auch die eigenen geistigen und körperlichen Prozesse näher kennen lernen. Und da eröffnet sich ein Zugang zu einer Grundlehre des Buddha: Die durchgängige Vergänglichkeit alles Körperlichen und Geistigen. Die radikale Anwendung der Vergänglichkeitserfahrung ist freilich die Schwelle, an der theistische Meditierende Halt machen, weil sie dadurch ihren Gott- und Seelenglauben gefährdet sehen. Die aber den Mut haben weiterzugehen, können durch die Übung in Rechter-Achtsamkeit zu jener befreienden Wirklichkeitserkennung gelangen, welche in das höchste Ziel der Buddha-Lehre mündet.

JUDENTUM

„Um Gott zu loben, muss man leben", sagte Rabbi David Leikes, „und um zu leben, muss man das Leben lieben, trotz allem." Und Rabbi Aharon von Karlin lehrte seine Schüler, den guten Dingen des Lebens nicht zu entsagen: „Die Traurigkeit ist eine Sünde" sagte er, „denn sie macht schwerfällig; dann verwandelt sie sich in Hass, in Selbsthass, wer jedoch sich selbst hasst, hasst schließlich auch seinen Nächsten." (Elie Wiesel, Chassidische Feier, S. 49.86)

Einführung von Albert H. Friedlander

Der Sinn des Lebens ist kein Geheimnis, das dem großen Gelehrten, dem Gläubigen oder dem Mystiker geoffenbart, anderen aber vorenthalten ist. Im Judentum gibt es viele Wege, in denen der Sinn des Lebens nicht allein Endziel, sondern feste Grundlage der täglichen Existenz ist. Der Alltag mit seinen Pflichten und Möglichkeiten ist das sich immer wiederholende Abenteuer; Freude am Leben gehört dazu, aber auch Trauer und Leiden. Der große chassidische Lehrer, Rabbi Jaakov Jizchak - der „Seher" von Lublin -, verstand, dass die, die ihren Schmerzensweg einsam und allein gingen, auch außerhalb der Gemeinde zu Gott finden können. „Gott ist auch einsam. Er sehnt sich nach dir" konnte er zu einem solchen Menschen sagen. Jeder Weg zum Judentum sei offen zu halten: „Ich ziehe es vor, Sünder zu haben, die wissen, dass sie Sünder sind, als Zaddikim (Gerechte), die wissen, dass sie Zaddikim sind!" Und so kamen die Weisen und die Einfachen zu seinem Lehrhaus, und beide wurden mit Liebe und Verständnis aufgenommen. Einst fragte ihn ein anderer großer Lehrer, ob es einen allgemeinen Weg zum Dienste Gottes gebe. Jaakov Jizchak antwortete ihm: „Es geht nicht an, den Menschen zu sagen, welchen Weg sie gehen sollen. Denn da ist ein Weg, Gott durch die Lehre zu dienen und da durchs Gebet; da durchs Fasten und da durchs Essen. Jedermann sollte wohl darauf achten, zu welchem Weg ihn sein Herz zieht, und dann sollte er sich diesen mit ganzer Kraft erwählen." Ein anderes Mal kam jemand zu ihm und beklagte sich: „Ich bete unablässig, und trotzdem leide ich so sehr!" Der

Rabbi antwortete ihm: „Vielleicht zieht Gott dein Leiden vor, und du dienst Ihm auf diese Weise." Dahinter steht eine generelle Einsicht: Den Juden ist das Leiden in den vergangenen 4000 Jahren zu oft begegnet; aber es konnte uns nie bezwingen. Freude am Leben „trotz allem" Hoffnung für jeden Menschen, für jede Zeit, und für die ganze Welt, die uns umgibt das ist eine grundlegende „Lebensweisheit" des Judentums, seine Botschaft für jeden Menschen. Nach jüdischer Uberzeugung ist der Mensch frei, keine Erbsünde lastet auf ihm, obgleich er die Fehler in sich selbst anerkennen muss. Adam und Eva mussten das Paradies verlassen, um mündig zu werden; das Judentum sieht dies nicht als eine Strafe, sondern als eine Station auf dem Weg der Selbstentwicklung. „Wo bist du?" fragt Gott den Menschen im Paradies, der sich vor ihm verstecken will. Gemeint ist damit: „Wie weit bist du auf deinem Weg?" Diese Frage des Allwissenden, so ein Rabbiner, ist an jeden von uns gerichtet. In jedem Menschen lebt der „gute Trieb" und der „böse Trieb". „Chet" die Sünde, das lehrt die hebräische Sprachwurzel, ist ein Straucheln vom rechten Weg. „Teschuwa" die Reue, ist dasselbe Wort wie „zurückkommen zum richtigen Weg". Die hebräische Bibel ist gleichzeitig Offenbarung und Lebensgeschichte. Sie gehört zum Volk des Bundes, dessen Weg durch zweitausend Jahre führt und das diese Lehren auch der Tochter-Religion nicht verweigert. „Die Torah wurde in der Wüste gegeben, weil die Wüste frei ist und deshalb keinem und jedem gehört" lehren die Rabbiner. Religiöses Judentum ist nicht selbstbezogen, sondern hat auch eine universale Sinn-Perspektive. Deshalb lehrte Martin Buber: „Es kann nur darum gehen, dass die Religionen der Welt gemeinsam die Rettung des Menschen vor dem Untergang entwerfen und in Angriff nehmen. Denn dies ist ihnen anvertraut." Die Offenbarung lebt in allen Weltreligionen. Jede Religion hat ihren eigenen Weg, sich dieser Offenbarung zu nähern und die authentische Existenz des religiösen Menschen sich

selbst und anderen zu beweisen. Im Judentum heißt dieser Weg „Halacha" dem hebräischen Wort „h-l-ch" „laufen, gehen" entnommen. Es ist ein dynamischer Begriff, der sich immer weiterentwickelt, der durch die Zeiten wandert und in sein Bedeutungsfeld auch das „Straucheln" und das „Zurückkehren zum gerechten Weg" einschließt. Halacha heißt „Gesetz" und bezieht sich gleichzeitig auf „minhag", die Gebräuche des Alltags, die sich durch die Jahrhunderte ändern und ihren eigenen Einfluss auf dieses elastische Gesetz haben. Das Zusammenspiel von Glauben und Handeln entwickelt sich daher immer weiter, und die Probleme der neuen Zeit werden auch von den alten Texten angesprochen. „Warum leidet der gerechte Mensch?" Diese Frage wurde immer gestellt, ganz leidenschaftlich aber im 20. Jahrhundert. Das biblische Buch Ijob zeigt, wie der Mensch darüber zum existentiellen Ringen mit Gott kommen kann und kommen muss. Doch schon Abraham, der vor Sodom stand und Gott fragte: „Muss der Richter der Welt nicht gerecht handeln?" rang so mit Gott. Schon hier ist anerkannt, dass für Juden Zweifel und Glauben zusammengehören. Die Strenggläubigen im Judentum „wohnten" innerhalb der Halacha, die sie wie ein Zaun umgab und ihren Glauben und ihre Identität sichern konnte: Dass es die Halacha auch im KZ gab, ist ein erschütterndes Bild dafür, wie dieser Glaube die Würde der Sterbenden schützen konnte und sie vor der Verzweiflung bewahrte. Aber es gibt, wie Jaakov Jizchak lehrte, auch andere Wege, auf denen das innere Selbst und die Menschenwürde bewahrt wird. Lebenssinn hat im Judentum mit Gemeinschaft, mit Vertrauen und mit dem Wert des Einzelnen zu tun: Und Angst existiert auch im gesicherten Leben. Man muss lernen, sagt deshalb das Judentum, Vertrauen zum Mitmenschen zu finden; dann kommt das Selbstvertrauen und das Vertrauen an Gott. Alles findet sich zusammen im Bund zwischen Gott und dem jüdischen Volk: einem Bund, welcher nie den Bund zwischen Gott und der Menschheit, zwischen jedem Menschen

und Gott ausschließt. Fundament des Judentums ist und bleibt die Bibel, die sogenannte „schriftliche Lehre", die wir zum Teil als „Halacha" bezeichneten. Daneben stehen aber auch mythische Texte, philosophische Schriften, Prosa und Gedichte, die in jeder Zeit aus dem jüdischen Leben sprachen. In jeder Zeit gab es Verfolgungen, und in jeder Zeit sprachen der Mut und der Glaube dieser Religion zu den Unterdrückten und beruhigten die Lebensangst und die Verzweiflung. Man konnte einander trauen; auch gab es immer Menschen in der Umgebung, die es möglich machten, an den Mitmenschen zu glauben. In der Aufklärung war dieser Glaube an den Mitmenschen ungebrochen. Die Vernunft schien eine Sonne, die ganz Europa überstrahlte. Mendelssohn konnte an Lessing glauben; und Lessing feierte Nathan den Weisen und die Toleranz. Dieser Optimismus ist gescheitert. Das neue nationale Denken bereitete den Boden für die Schrecken des 20. Jahrhunderts. Wie steht es heute, nach Auschwitz, mit diesem Glauben an den Mitmenschen? Nur langsam, sehr langsam kommen wir nach den schrecklichen Erfahrungen der Inhumanität wieder zusammen als Mitmenschen, die durch ihre Lebensaufgabe einen parallel verlaufenden Weg gehen und sich dabei finden können. Erst in unserer Zeit kam es zu einem echten Dialog zwischen denen, die das Leiden der Menschheit und auch das Leiden Gottes in dieser Welt zu verstehen suchen. Dieser Dialog führt die Religionen und die Gläubigen wie die Nichtglaubenden zusammen. Aber wer ist „gläubig", wer „nichtgläubig"? ftiul Celan und Primo Levi sind ein Beweis dafür, dass nicht einmal der Holocaust die jüdische Hoffnung zerbrechen konnte, sie sind gleichzeitig die Stimme aller Zweifelnden in unserer Zeit. Es ist ferner die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft, die uns einander näher bringt - in der Zuversicht, dass wir unserer eigenen Tradition treu bleiben können und andere

nicht „bekehren" müssen. Drängende Aufgaben gehen uns alle an; man kann bei ihrer Bewältigung von anderen Religionen lernen, ohne die eigene aufzugeben. Nur ein Beispiel: In einer Zeit der Vergiftung der Umwelt sprechen die biblischen Schriften zur ganzen Menschheit. Im Buch Deuteronomium macht der Text klar: Man darf keine Fruchtbäume im Krieg gegen den Feind vernichten, die Umwelt muss man immer schützen. Im ersten Kapitel Genesis überreicht Gott den Menschen die Erde, um sie zu behüten und nicht um sie auszubeuten: Menschenherrschaft ist eine Pflicht des Hütens und des Bauens. Und schließlich die Lehre von der sozialen Gerechtigkeit und der ethischen Verpflichtung gegenüber dem anderen, die das ganze Judentum prägt: Man darf den Mitmenschen nie berauben. Man muss den Segen der Welt mit anderen teilen. Biblische Weisung ist, dass der Tageslohn sofort bezahlt werden muss, dass die Armen ein Recht auf die Ernte des Reichen haben, und der Prophet Arnos lehrt im 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, dass eine ungerechte Sozialstruktur das Land verdirbt. Und er sagt in seiner Strafpredigt an Israel: Denkt nicht, dass ihr besser seid, weil die Wahl auf euch fiel. Der Tag des Gottesgerichtes wird euch schwerer treffen, denn euch wurde mehr Verständnis gegeben! Das Leben selbst wird durch diese Perspektive der Verantwortung wertvoller. Die Existenz hat so Sinn, sie erhält Tiefe und Gewicht. Obwohl das Judentum das Leben hier in dieser Welt höher schätzt und weniger an den sogenannten Himmel denkt (wir sind „oilam hazeniks"- Menschen dieser Welt und nicht der nächsten Welt, sagen viele Juden), weiß man, dass man gerade deshalb unter dem Gericht steht. Das Judentum erlaubt sich aber nicht, Gottes Gerichtssprüche zu wissen. Wir glauben zwar an die Unsterblichkeit der Seele. Aber das ist die nächste Welt, und wir leben nur in dieser Welt. Gute Taten wenden nicht mit dem Himmel belohnt - dann wären sie nicht mehr gut! Ob Lohn und Strafe kommen werden, das überlassen wir Gott. Und wir glauben an einen Gott, der gött-

liehe Gerechtigkeit vollzieht, ohne die Rolle des Richters zu spielen. „Der Tod sühnt alles", ist ein alter Spruch des Judentums. Und die Sünden der Eltern werden nicht auf die Kinder übertragen. Die gute Tat ist schon ihr eigener Lohn; die Sünde straft sich selbst. Vielleicht vermag ein solches Denken dem Menschen von Heute eine Verantwortung und eine Würde zu vermitteln, welche die täglich übernommene Verantwortung zum Sinn des Lebens macht. Viele von den Torah-treuen, gläubigen Juden, die im KZ ermordet wurden, starben mit der Hoffnung des ewigen Lebens. Und die Überlebenden, die ihr Lebenswissen nach der dunklen Zeit der neuen Generation und den Mitmenschen brachten, gaben der Welt neuen Mut, ein neues Verständnis: Viktor E. Frankl, Eugen Heimler, Bruno Bettelheim, Leo Baeck und Emil Fackenheim sind nur einige von ihnen. Und das Volk Israel selbst ist, auch innerhalb des kühnen Versuches, ein neues und besseres Leben im neugeborenen Staat Israel zu leben, ein Beweis für die positive Zuwendung zum Leben. Fehler und Unvollkommenheiten in diesem Versuch beweisen die Schwäche des Menschen. Sie verdecken nicht die großen Hoffnungen, die Lebensfreude, und auch die Anständigkeit, die im Judentum und im jüdischen Volk bestehende Tatsache bleiben. Wie können die Religionen der Welt miteinander leben, zusammenarbeiten und vielleicht sogar voneinander lernen? Es gibt viele Wege zu Gott. Das Judentum behauptet nicht, ein Monopol zu besitzen. Was könnte im Dialog der Religionen das auch für andere besondere Lebenswissen sein, Geheimnis des Judentums und Brücke zueinander gleichermaßen? Vielleicht das, was Ernst Simon einmal als „heilige Nüchternheit" bezeichnete: „Das jüdische Gesetz formt einen Lebensweg partieller Askese. Kein Gebiet des Daseins, kein Stück Welt ist ausgeschlossen, keines unumschränkt freigegeben. Das Glück der Liebe, die Freude an Speise und Tank sind nicht nur grämlich zugestanden; sie gehören zu Gottes Schöpfung für den

Menschen. Als solche sind sie seinem Gesetz unterworfen; ihr rechtmäßiger Genuss ist religiöse Pflicht, aber der unrechtmäßige wird zur Übertretung" (Brücken, Heidelberg 1965, S. 468). Und noch etwas anderes. Man könnte es mit Leo Baeck die Polarität des Judentums nennen. Auch die Gläubigen im KZ hatten Zweifel; aber jüdische Zeugen wie Leo Baeck oder Elie Wiesel sind die authentische Stimme derer, die das Lied vom verzweifelten Glauben zusammen mit nichtreligiösen und gläubigen Leidenden singen. Leo Baeck sprach vom nahen und fernen Gott, vom Wesen und von der Existenz der Juden und des Judentums. Wir finden uns in der Mitte: zwischen Glaube und Zweifel. Auch dies könnte uns zusammenführen.

Die Stimme vom Sinai - Das Ethos der Gebote Rabbinische Deutungen

von Jakob /. Petuchowski

Wichtig ist, dass im Dekalog der Einzelne gefordert wird, dass er hinter dem Ethos seines Volkes keine Zuflucht finden kann. Das geht schon daraus hervor, dass, grammatisch gesehen, alle Zehn Gebote im Singular gehalten sind, sich also an den Einzelnen, nicht an das Volk wenden. Zwei rabbinische Erklärungen dieses Singulars sollen hier folgen: Warum sind die Zehn Gebote im Singular gehalten? So dass jeder Einzelne sich sagen muss: „Mir sind sie befohlen worden. Meinetwegen ist die Torah gegeben worden, damit ich sie erfülle." Er sage nicht: „Es genügt, wenn die Welt ohne mich - die Zehn Gebote hält." Warum sind die Zehn Gebote an den Einzelnen, und nicht an das ganze Volk gerichtet? Weil es der einzelne Mensch ist, der sie übertritt. Micha hat das Erste Gebot übertreten (Richter, Kap. 17). Jerobeam hat das Zweite Gebot übertreten (I Könige 12,28-33). Der Gotteslästerer hat das Dritte Gebot übertreten (Leviticus 24,10-14). Der Holzsammler hat das Vierte Gebot übertreten (Numeri 15,32-36). Absalom hat das Fünfte Gebot übertreten (II Samuel, Kap. 15). Joab hat das Sechste Gebot übertreten (I Könige 2,5). Simri hat das Siebente Gebot übertreten (Numeri 25,6-15). Achan hat das Achte Gebot übertreten (Josua, Kap. 7). Ziba hat das Neunte Gebot übertreten (II Samuel, Kap. 16). Naboth hat das Zehnte Gebot übertreten (I Könige, Kap.

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Ist es der einzelne Mensch, der die Verantwortung dafür trägt, wenn er die Zehn Gebote bricht, so ist es auf der anderen Seite

auch der einzelne Mensch, dessen Gebotstreue gerühmt werden kann. Als solcher galt den Rabbinen der biblische Joseph, der unter ihnen als „der Gerechte" par excellence bekannt war. Über ihn wurde folgende Geschichte erzählt: All die Jahre hindurch, in denen die Israeliten durch die Wüste wanderten, wurden von ihnen zwei Kästen nebeneinander getragen. In dem einen lagen die Gebeine Josephs (vgl. Exodus 13,19), und in dem anderen lagen die Steintafeln mit den Zehn Geboten. Wenn Menschen, die die Wüste durchquerten, die Israeliten fragten: „Welche Bewandtnis hat es mit diesen beiden Kästen?", erhielten sie die Antwort: „Einer ist der eines Toten, der andere ist Gottes." Als dann erstaunt weiter gefragt wurde: „Aber ist es denn passend für einen Toten, zusammen mit der göttlichen Anwesenheit zu wandern?", antworteten die Israeliten: „Dieser hat erfüllt, was auf jenen geschrieben steht." Der innere Zusammenhang zwischen den Geboten wird zugespitzt in der Aussage ausgedrückt, dass Gott selbst alle Zehn Gebote in einem einzigen göttlichen Ausspruch offenbarte - was für ein Geschöpf von Heisch und Blut unmöglich wäre. Erst nachdem Gott die Zehn Gebote alle in einem Ausspruch geoffenbart hatte, wiederholte Er sie nachher noch einmal einzeln hintereinander. (Mekhilta, Bahodesch, Kap. 4, ed. Horovitz-Rabin, S. 218.) Die Rabbinen waren sich überhaupt immer der Kluft zwischen Gott und Mensch bewusst und schätzten das menschliche Verständnis des göttlichen Wortes dementsprechend ein. Der biblische Text ist mehr der Aufnahmemöglichkeit der Menschen angepasst als dem Wissen des göttlichen Wortes „an sich". Und was von dem biblischen Text gelten soll, gilt erst recht von den Erklärungen und den Deutungen der Rabbinen.

VIII „]a,ja!" „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Lande Ägyptens geführt hat, aus dem Sklavenhause" Warum wurden die Zehn Gebote nicht bereits am Anfang derTorah gesprochen? Die Antwort lässt sich durch ein Gleichnis geben: Es kam einmal ein Mann in eine Provinz und sagte zu den Einwohnern: „Ich will euer König sein." Da antworteten die Einwohner: „Hast du uns denn etwas Gutes getan, das dich berechtigen würde, unser König zu sein?" Was tat er? Er baute ihnen eine Mauer. Er errichtete ihnen eine Wasserleitung. Auch führte er Kriege für sie. Dann sprach er wieder: „Ich will euer König sein." Jetzt antworteten die Einwohner: „Ja, ja!" So tat es auch der Allgegenwärtige. Er führte Israel aus Ägypten, spaltete für sie das Schilfmeer, ließ ihnen das Manna vom Himmel fallen, ließ den Brunnen in der Wüste aufsprudeln, führte ihnen die Wachteln zu, und Er stritt für sie wider Amalek. Erst danach sprach Er zu ihnen: „Ich will euer König sein." Und darauf antworteten sie: „Ja, ja!"

Der befreite Gott „... der dich aus dem Lande Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhause" Chananja, der Neffe Rabbi Josuas, sagte: Das hebräische Wort hozethikha („der dich herausgeführt hat") ist so geschrieben, dass es auch huzethikha („Ich bin mit dir herausgeführt worden") gelesen werden kann. Wenn man nur so sagen könnte, Gott sprach: „Ich und ihr sind zusammen aus Ägypten in die Freiheit gezogen."

VIII Soll Er Seine ganze Welt zerstören? Ein Philosoph fragte den Rabban Gamaliel: Es steht in eurer Torah geschrieben: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifervoller Gott." Ist denn der Götze eine wirkliche Macht, so dass man auf ihn eifersüchtig sein kann? Ein Held ist eifersüchtig auf einen anderen Helden. Ein Weiser ist eifersüchtig auf einen anderen Weisen. Ein wohlhabender Mann ist eifersüchtig auf einen anderen wohlhabenden Mann. Wo aber liegt die Macht des Götzen, dass Gott auf ihn eifersüchtig sein soll? Rabban Gamaliel antwortete: Wenn ein Mann seinem Hund den Namen seines Vaters gibt und dann, wenn er ein Gelübde tut, beim Leben seines Hundes schwört, gegen wen wird der Vater wohl eifern? Gegen den Sohn oder gegen den Hund? Aber der Philosoph fuhr fort: Immerhin sind doch die Götzen teilweise nützlich. Rabban Gamaliel: Was veranlasst dich zu dieser Bemerkung? Der Philosoph: In einer gewissen Provinz brach einmal ein Brand aus, aber der Götzentempel blieb unversehrt. Geschah das nicht deshalb, weil der Götze sich zu schützen wusste? Rabban Gamaliel: Ich werde dir ein Gleichnis erzählen. Ein irdischer König zieht in den Krieg. Gegen wen kämpft er? Gegen die Lebenden oder gegen die Toten? Der Philosoph: Natürlich gegen die Lebenden. Aber, um auf meine vorangegangene Frage zurückzukommen, wenn die Götzen nicht nützlich sind, warum zerstört Er sie nicht?

Rabban Gamaliel: Dient ihr denn nur einem Gegenstand? Ihr dient doch der Sonne, dem Mond, den Sternen und Planeten, den Bergen und Hügeln, den Wasserströmen und den Tälern. Ja, ihr vergöttert doch selbst den Menschen. Soll Er etwa Seine ganze Welt zerstören, nur weil es Narren gibt?

III

Der göttliche Richter „Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht missbrauchen:' Warum wurde das gesagt? Weil es in Leviticus 19, 12 heißt: „Ihr sollt bei Meinem Namen nicht falsch schwören" hätte ich meinen können, dass man in der Tat nicht schwören soll. Woher sollte ich aber wissen, dass man noch nicht einmal das Schwören auf sich nehmen darf? Deshalb sagt die Heilige Schrift: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen." Ehe du noch das Schwören auf dich genommen hast, bin ich dein Gott. Aber nachdem du das Schwören auf dich genommen hast, bin ich dein Richter. Daher heißt es auch: „Denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der Seinen Namen missbraucht." Es ist an sich unmöglich, zu sagen: „Er lässt nicht ungestraft" denn es heißt ja (in Exodus 34, 7, wenn man die hebräischen Worte dort aus ihrem Zusammenhang reißt): „Er lässt ungestraft." Aber es ist genauso unmöglich zu sagen: „Er lässt ungestraft" denn es heißt ja in Exodus 3 4 , 7 auch (wenn man die Worte nicht aus ihrem Zusammenhang reißt): „Er lässt nicht ungestraft." Es bedeutet also, dass Er diejenigen, die Umkehr tun, ungestraft lässt, aber diejenigen, die nicht Umkehr tun, nicht ungestraft lässt.

Der unnötige Schxvur Chiskijah lehrte: Wer schwört, dass zwei zwei sind, erhält die Prügelstrafe wegen eines unnötigen Schwurs.

IV

Ein gewisses Gewürz Der römische Kaiser fragte einmal den Rabbi Josua ben Chananja: „Wie kommt es, dass eure Sabbathspeise so einen köstlichen Geruch hat?" „Wir benutzen", antwortete er, „ein gewisses Gewürz, das Sabbath heißt, und tun es in die Speise. Daher kommt der köstliche Geruch." „Dann gib uns doch etwas von diesem Gewürz" bat der Kaiser. „Das würde dir nichts nützen" antwortete der Rabbi. „Es nützt nur dem, der den Sabbath hält. Für den, der den Sabbath nicht hält, ist es nutzlos."

„Als ob dein Werk bereits getan ist" „Sechs Tage sollst du arbeiten und all dein Werk verrichten'.' Aber kann denn der Mensch all sein Werk in nur sechs Tagen schaffen? Gewiss nicht! Es bedeutet hier nur: „Ruhe, als ob dein Werk bereits getan ist!" Eine andere Erklärung: Ruhe von Gedanken an die Arbeit. Deshalb heißt es auch in Jesaja 58,13-14: „Wenn du zurückhältst deinen Fuß um des Sabbaths willen, dein Geschäft zu verrichten an Meinem heiligen Tage, und nennst den Sabbath eine Lust,... dann wirst du dich ergötzen an dem Herrn usw."

Sie sind beide gleichwertig „Ehre deinen Vater und deine Mutter" (Exodus 20,12) „Ein jeder von euch soll vor seiner Mutter und seinem Vater Ehrfurcht haben." (Leviticus 19,3) Rabbi (Judah der Patriarch) lehrte: Offenbar und bekannt ist es Ihm, der da sprach und die Welt entstand, dass der Mensch seine Mutter nicht mehr als seinen Vater ehrt. Denn die Mutter beschwichtigt ihn mit sanften Worten. Auch ist es Ihm, der da sprach und die Welt entstand, offenbar und bekannt, dass der Mensch seinen Vater mehr als seine Mutter respektiert. Denn der Vater lehrt ihn die Torah. Daher in dem Gebot, das von dem Respekt handelt, nennt Er die Mutter vor dem Vater. Es herrscht nämlich das Prinzip, dass da, wo die Torah an einer Stelle etwas unvollständig ausdrückt, sie es an einer anderen Stelle vervollständigt. Oder meinst du etwa, dass, weil der eine oder der andere in einem Text zuerst erwähnt wird, er auch in der Tat dem anderen vorzuziehen ist? Nein, deshalb heißt es ja gerade in der Heiligen Schrift: „Ein jeder von euch soll vor seiner Mutter und seinem Vater Ehrfurcht haben." Das bedeutet, dass sie beide gleichwertig sind und dementsprechend behandelt werden müssen. VI

Der Schädel auf dem Wasser Hillel sah einmal einen Schädel auf dem Wasser schwimmen. Er redete ihn an: „Weil du andere ertränkt hast, hat man dich

ertränkt. Aber das Ende derer, die dich ertränkt haben, wird sein, dass auch sie ertrinken werden."

Die Blutvergießer Rabbi Isaak lehrte: Verleumder sind wie diejenigen, die Blut vergießen... Rabbi Elieser lehrte: Wer seinen Nächsten hasst, gehört zu den Blutvergießern... Ben Asaj lehrte: Wer seine Frau hasst, gehört zu den Blutvergießern ... VII

Das Geldzählen Es lehrten unsere Meister: Wer Geld von seiner Hand in die Hand einer Frau zählt, nur um sie sich anzusehen, wird von der Höllenstrafe nicht verschont bleiben, selbst wenn er Torahgelehrsamkeit und gute Taten aufzuweisen hat.

Ehebruch schon vor der Tat Rabbi Simeon ben Lakisch lehrte: Denke nicht, dass nur derjenige ein Ehebrecher genannt wird, der mit seinem Körper die Ehe bricht. Wir finden, dass auch derjenige, der mit seinen Augen Ehebruch begeht, ein Ehebrecher genannt wird. Was ist der Beweis dafür? In Hiob 24, 15 heißt es: „Das Aug des Ehebrechers wartet auf den Abend usw." Er wird also schon vor der Tat „Ehebrecher" genannt."

VIII Rücksicht auf den Verkäufer Man darf nicht zu einem Verkäufer sagen: „Wie viel kostet dieser Gegenstand?" wenn man gar nicht beabsichtigt, ihn zu kaufen.

Als ob er Gott täuschen würde Sieben Arten von Dieben gibt es. An erster Stelle steht der Dieb, der die Menschen täuscht (wörtlich: der die Kenntnis der Menschen stiehlt), so wie einer, der seinen Nächsten drängt, bei ihm zu Gast zu sein, aber in Wirklichkeit nicht daran denkt, ihn einzuladen; oder einer, der seinem Nächstem Geschenke aufdrängt, während er weiß, dass der andere sie nicht annehmen wird; oder jemand, der so tut, als ob er für seine Gäste Weinfässer öffnen würde, die aber schon dem Weinhändler verkauft worden sind; oder jemand, der beim Messen betrügt und beim Wiegen schwindelt; oder jemand, der Johannisbrotsamen dem Fönnkraut, Sand den Bohnen, und Essig dem Öl beimischt... ein solcher Dieb täuscht nicht nur die Menschen, sondern es wird ihm angerechnet, als ob, wenn er es nur könnte, er auch Gott täuschen würde (wörtlich: er die Höchste Kenntnis stehlen würde).

IX

Die Pflicht, Zeugnis abzulegen Aus welcher Stelle in der Heiligen Schrift lernen wir, dass, wenn dir entlastendes Zeugnis für deinen Nächsten bekannt ist, du nicht schweigen darfst? Aus Leviticus 19,16: „Stehe nicht still bei dem Blute deines Nächsten."

„Fürchtet euch vor niemandem!" Rabbi Josua ben Karecha lehrte: Woher wissen wir, dass ein Jünger, der vor seinem Meister sitzt, wenn der Meister als Richter fungiert, und der Jünger etwas zur Verteidigung eines Armen oder zur Beschuldigung eines Reichen weiß, der Jünger nicht schweigen darf? Wir wissen es aus Deuteronomium 1,17: „Fürchtet euch vor niemandem!" Rabbi Chanin erklärte diese Worte folgendermaßen: „Du darfst aus Respekt vor niemandem deine Worte zurückhalten!" Auch müssen die Zeugen wissen, gegen wen sie Zeugnis ablegen und vor wem sie Zeugnis ablegen, und wer sie einst, wenn sie falsches Zeugnis ablegen, bestrafen wird.

X

Neid und Begierde Rabbi Eleasar Hakkappar lehrte: Der Neid, die Begierde und die Ehrsucht bringen den Menschen aus der Welt.

„Als ob er alle übertreten hat" Rabbi Jakum lehrte: Wer das Gebot „Du sollst nicht begehren" übertritt, ist, als ob er alle Zehn Gebote übertreten hat.

,Wer kommt in das Himmelreich?" Rabbinische Geschichten

von )akob ]. Petuchowski

Kein Platz ohne Gott Ein Heide fragte einmal Rabbi Josua ben Karechah: „Warum wählte Gott einen Dornbusch, um mit Moses aus ihm zu reden?" Der Rabbi antwortete: „Hätte Er einen Johannisbrotbaum oder einen Maulbeerbaum gewählt, so würdest du ja die gleiche Frage gestellt haben. Doch es ist unmöglich, dich ohne eine Antwort fortgehen zu lassen. Daher sage ich dir, dass Gott den ärmlichen und kleinen Dornbusch gewählt hat, um dich zu belehren, dass es auf Erden keinen Platz gibt, an dem Gott nicht anwesend ist. Noch nicht einmal einen Dornbusch."

Der leidende Gott

„Gott rief zu ihm aus dem Dornbusch" '

Exodus 3,4

Der Heilige, gelobt sei Er, sprach zu Moses: „Fühlst du denn nicht, dass Ich mich in Schmerzen befinde, genau wie Israel sich in Schmerzen befindet? Merke es an dem Ort, aus dem Ich mit dir rede - aus den Dornen! Wenn man so sagen könnte, teile Ich Israels Leid." Daher heißt es auch (Jesaja 63,9): „Bei all ihrer Bedrängnis war Ihm leid."

Ein einziger Mensch Bei der Schöpfung wurde nur ein einziger Mensch erschaffen, um dich zu lehren, dass, wenn jemand nur eine einzige Person vernichtet, die Heilige Schrift es ihm anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet, und wenn jemand eine einzige Person am Leben erhält, die Heilige Schrift es ihm anrechnet, als hätte er eine ganze Welt am Leben erhalten. Auch geschah es um des Friedens unter den Menschen willen. Ein Mensch soll nicht zum anderen sagen: „Mein Vater war größer als dein Vater." Auch damit die Ketzer nicht sagen, dass es mehrere Gottheiten im Himmel gebe. Und endlich, um die Größe des Heiligen, gelobt sei Er, zu verkünden. Ein Mensch, der Münzen prägt, prägt viele Münzen mit einem Stempel, und die Münzen sind alle einander gleich. Aber der König aller Könige, der Heilige, gelobt sei Er, hat jeden Menschen mit dem Stempel des ersten Menschen ausgeprägt, und dennoch gleicht nicht ein Mensch dem anderen. Daher muss auch jeder einzelne Mensch sagen: „Meinetwegen ist die Welt erschaffen worden."

Die religiöse Pflicht

„Der barmherzige Mann tut sich selber Gutes" Sprüchc Salomos 11,17 Das bezieht sich auf Hillel den Älteren. Einmal, als er das Studium mit seinen Schülern beendet hatte, ging er mit ihnen zusammen aus dem Lehrhaus. Die Schüler fragten ihn: „Wo gehst du hin, Meister?" Er antwortete: „Eine religiöse Pflicht zu erfüllen." „Was", fragten sie, „ist diese religiöse Pflicht?"

Er antwortete: „Ich gehe ins Badehaus, um zu baden." Da wunderten sich die Schüler und fragten: „Ist denn das eine religiöse Pflicht?" Er antwortete ihnen: „Ja! Wenn schon die Statuen der Könige, die man in den Theatern und in den Zirkussen aufstellt, täglich geputzt und gewaschen werden und wenn der Mann, der den Beruf hat, diese Statuen zu putzen und zu waschen, nicht nur seinen Lebensunterhalt dadurch verdient, sondern auch eine gehobene Stellung unter den Großen des Reiches einnimmt, um wie viel mehr passt das auf mich, der ich im Ebenbilde Gottes und nach seiner Ähnlichkeit erschaffen worden bin?! Es heißt doch (Genesis 9, 6): ,Denn im Ebenbilde Gottes hat Er den Menschen gemacht.'"

Hillel sagte: „Wenn ich nicht für mich hin, wer ist für mich? Bin ich aber nur für mich, was bin ich schon? Und wenn nicht jetzt, wann dann?" Der böse Trieb Der böse Trieb im Menschen lüstet nur noch Verbotenem. An einem Versöhnungstag, an dem Essen und Trinken streng verboten sind, stattete Rabbi Mana dem Rabbi Chaggai, der krank war, einen Besuch ab. Da sagte Rabbi Chaggai: „Ich habe großen Durst." Rabbi Mana sprach: „Du darfst trinken." Nach einer Stunde kam Rabbi Mana wieder und fragte Rabbi Chaggai: „Wie steht es um deinen Durst?" Da antwortete Rabbi Chagai: „Sowie du mir das Trinken erlaubt hast, verschwand der Durst."

Weltlich Einst rügte Raw Huna seinen Sohn Rabbah: „Warum befindest du dich eigentlich nicht bei den Lehrvorträgen des Raw Chisda? Es wird doch von ihm gesagt, dass seine Lehre sehr scharfsinnig sei." Da antwortete der Sohn: „Warum soll ich zu ihm gehen? Wenn ich dort bin, spricht Raw Chisda immer nur von weltlichen Dingen. Er redet von den Funktionen der Verdauungsorgane und von anderen rein physischen Angelegenheiten." Der Vater aber sprach zu ihm: „Raw Chisda redet von den Geschöpfen Gottes, und du nennst das ,weltlich'! Geh zu ihm hin!" Das ist die ganze Torah Es kam einmal ein Heide zu Schammai und sagte zu ihm: „Bekehre mich zum Judentum unter der Bedingung, dass du mich die ganze Torah lehrst, während ich auf einem Fuß stehe." Mit einem Zollstock in der Hand warf Schammai ihn sofort heraus. Der Heide ging dann zu Hillel und wiederholte seinen Wunsch: „Bekehre mich zum Judentum unter der Bedingung, dass du mich die ganze Torah lehrst, während ich auf einem Fuß stehe." Hillel nahm ihn ins Judentum auf und belehrte ihn wie folgt: „Was dir verhasst ist, tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Torah. Alles weitere ist Kommentar dazu. Geh hin und lern ihn!"

Noch ein Größeres

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst"

Leviticus 19,18

Rabbi Akiba sagte: „Dieses ist das große Prinzip der Torah." Aber Ben Asaj sagte: „Es gibt noch ein größeres Prinzip. Es ist der Vers (Genesis 5,1): ,Dies ist das Buch von des Menschen Geschlecht. Als Gott den Menschen schuf, machte Er ihn im Ebenbilde Gottes.' Hier geht es nämlich nicht nur um den Nächsten, sondern um alle Menschen."

Der kurze Text Bar Kappara erklärte: Welches ist der kurze Text, von dem alle Hauptbestandteile der Torah abhängen? Es ist Sprüche Salomos 3,6: „Auf all deinen Wege erkenne Ihn an, und Er wird deine Pfade ebnen."

Sterben, um zu leben Rabbi Eleasar Hakappar sagte: Wir werden geboren, um zu sterben. Wir sterben, um zu leben und gerichtet zu werden - auf dass jeder lerne, lehre und bekenne, dass Er Gott ist, Er der Bildner und Schöpfer. Er der allweise Prüfer, Er der Richter, der Zeuge und der Kläger. Er wird einst das Urteil sprechen - gelobt sie Er. Bei Ihm gibt es kein Unrecht, kein Vergessen, kein Ansehen der Person und keine Bestechung, denn alles gehört Ihm. So bedenke denn, dass all deine Taten in Rechnung kommen. Lass dich nicht von deinem bösen Trieb betören, dass das

Grab dir eine Zufluchtsstätte sein werde. Denn ohne deinen Willen wurdest du geboren, ohne deinen Willen lebst du, wider deinen Willen musst du sterben, und wider deinen Willen wirst du einst Rechenschaft ablegen vor dem König der Könige, dem Heiligen, gelobt sei Er.

Wer kommt in das Himmelreich? Rabbi Baruka aus Chusa ging oft auf den Marktplatz von Lapet. Eines Tages erschien ihm dort der Prophet Elia, und Rabbi Baruka fragte ihn: „Gibt es unter all diesen Menschenmassen einen einzigen Menschen, der Anteil an der kommenden Welt haben wird?" Elia antwortete: „Es gibt keinen." Später jedoch kamen zwei Menschen auf den Marktplatz, und Elia sagte zu Rabbi Baruka: „Diese beiden werden Anteil an der kommenden Welt haben." Rabbi Baruka fragte die beiden Neuhinzugekommenen: „Was ist euer Beruf?" Sie antworteten ihm: „Wir sind Clowns. Wenn wir jemanden sehen, der traurig ist, dann erheitern wir ihn. Wenn wir zwei Menschen sehen, die sich zanken, versuchen wir, sie wieder zu versöhnen."

Warum Rabbi Judah litt... und geheilt wurde Ein Kalb wurde einmal zum Schlachten geführt. Da lief es davon, versteckte seinen Kopf unter dem Gewand Rabbi Judahs des Patriarchen und brüllte. Rabbi Judah aber sdeß es von sich, indem er sprach: „Geh fort! Dazu bist du doch erschaffen worden."

Da sagte man im Himmel: „Weil er kein Mitleid hat, wollen wir Leiden auf ihn bringen." Er litt dann auch dreizehn Jahre lang an verschiedenen Krankheiten. Eines Tages kehrte Rabbi Judahs Magd das Haus mit ihrem Besen und fand ein paar junge Wiesel herumliegen. Sie machte sich daran, die Tiere aus dem Hause zu fegen. Doch Rabbi Judah rief ihr zu: „Lass sie sein! Es heißt doch (Psalm 145,9): ,Sein Erbarmen ist über all Seinen Werken.'" Da sagte man im Himmel: „Weil er barmherzig ist, wollen auch wir ihm gegenüber barmherzig sein." So wurde Rabbi Judah von seinen Krankheiten geheilt.

„Wohltätigkeit errettet vom Tod" Rabbi Judah pflegte zu sagen: Zehn harte Dinge wurden in der Welt erschaffen. Der Berg ist hart. Aber Eisen kann ihn spalten. Eisen ist hart. Aber Feuer kann es erweichen. Feuer ist hart. Aber Wasser kann es löschen. Wasser ist hart. Aber die Wolken tragen es. Die Wolken sind hart. Aber der Wind kann sie vertreiben. Der Wind ist hart. Aber der menschliche Körper kann ihm widerstehen. Der menschliche Körper ist hart. Aber die Angst kann ihn zerbrechen. Die Angst ist hart. Aber der Wein kann sie verbannen. Der Wein ist hart. Aber der Schlaf macht ihn wirkungslos. Der Tod aber ist härter als alle. Jedoch „Wohltätigkeit errettet vom Tod" (Sprüche Salomos 10,2).

Himmlisches Verhör Rawa lehrte: Wenn der Mensch nach seinem Tode vor Gottes Richterstuhl geführt wird, werden folgende Fragen an ihn gerichtet: Hast du dein Geschäftsleben in Redlichkeit geführt? Hast du dir bestimmte Zeiten zum Studium der Torah festgesetzt? Hast Hast Hast Hast folgt?

du du du du

das Gebot der Fortpflanzung erfüllt? das Heil erhofft? dich dialektisch mit der Weisheit befasst? verstehen gelernt, wie eine Sache aus der anderen

Rabbi Chiskija und Rabbi Kohen lehrten beide im Namen Raws: In der eschatologischen Zukunft muss der Mensch Rechenschaft ablegen über alles, woran sein Auge Gefallen fand und was er dennoch nicht genoss.

Sabbat von Elizabeth Petuchowski

Wenn vollkommen vernünftige Leute aus voller Kehle und frischer Brust ein Lied anstimmen zur Begrüßung von Engeln, so ist das ein Zeichen dafür, dass der Sabbat eingezogen ist in jüdische Häuser. Gewiss ist der Sabbat auf den ersten Blick der Tag, an dem man nicht arbeitet, einem Urlaubstag ähnlich. Er ist dennoch anders, und der Unterschied beruht auf der Stimmung, die es dem rational eingestellten Menschen ermöglicht, in einer der zahlreichen Vertonungen ein etwa 300 Jahre altes Gedicht zu singen, dessen vier Strophen jeweils beginnen: Friede mit euch, Engel des Dienstes,... Eure Einkehr sei zum Frieden, Engel des Friedens,... Segnet mich zum Frieden, Engel des Friedens,... Euer Ausgang sei zum Frieden, Engel des Friedens,... Den Rest jeder Strophe bildet ein Refrain: Ein beinahe kindliches Gefüge also, das hauptsächlich aus gleichsam einwiegenden Wiederholungen besteht. Als Wunsch und als Gruß werden das Kommen der Engel, ihr segenspendendes Verweilen und ihr Gehen besungen. So gleichen sie dem Sabbat, dessen Willkommen und Abschied man sich mit Freude fügt. Ob der Ursprung des Sabbats etwas mit den vier Mondphasen zu tun hatte oder auf die Babylonier zurückgeht, ist im Erlebnis des Sabbats einerlei. Diese Ungewissheit bestätigt höchstens eine Herkunft aus dunkler Vergangenheit. Aber im Heranrollen bis in unsere Zeit hat sich der Sabbat zu einem Intervall entwickelt,das die Werktagsordnung unterbricht und

durch seine regelmäßige Wiederkehr das Zeitliche bedeutsam markiert. Zeitbedingt irdisch wird abgezählt: Der siebte Tag ist der Sabbattag, und dennoch ist er mehr. „Ein Zeichen zwischen mir und den Israeliten" so wird Gott zitiert, denn er selbst „ruhte am siebten Tag und atmete auf" (Ex. 31,17). Man atmet auf, wenn Unangenehmes überstanden ist. Eine besondere, eine Extraseele hat der Mensch am Sabbat - die Neschamah jeterrah - die außerweltliche Freude und irdische zugleich genießt, die von den Sabbatengeln angeboten wird und zu Sabbatausgang entschwindet. Die schöne Gestaltung gehört zum irdischen Aspekt. Die Sabbatkerzen, die am Freitagabend angezündet werden, stecken meistens in kunstvoll gefertigten Leuchtern aus edlem Material. Ein mit Stickerei verziertes Tuch bedeckt die Brote, während der göttliche Ernährer gepriesen wird. Den Wein, über den ein Segensspruch gesagt wird, serviert man in einem schönen Becher. Bei der festlichen Mahlzeit herrscht eine besondere Freude, denn aller Unmut soll am Sabbat beiseite gelassen werden, wie auch die Arbeit. „So segnete Gott", heißt es in der biblischen Schöpfungsgeschichte, „den siebten Tag und heiligte ihn, denn an ihm feierte er von all seiner Arbeit, Gottes schaffender Tat" (Gen 2, 3). Ahnlich soll der Mensch von seiner eigenen Schöpfungstätigkeit absehen. Es gibt Unterschiede in der Auffassung dessen, was als „Arbeit" betrachtet wird. Manche Juden stecken sich den Hausschlüssel als Brosche an den Mantel, weil sie das von den Rabbinern untersagte Tragen vermeiden wollen. Andere Juden scheuen sich nicht, mit dem Zündschlüssel ihr Auto zu starten, um in die Synagoge zu fahren oder, weil gerade der Sabbat ihnen die Freizeit gewährt, in den Wald oder an die See. Wie man diese Dinge auch auffassen mag: Der Sabbat erfreut den Körper und dadurch die Seele. Der Sabbat begeht das Zeitliche sowie das mit der Zeit zu Erhoffende. Erst wird dem Nahen des Sabbats mit Vorberei-

tungen entgegengesehen. In manch einem jüdischen Metzgerladen kann man schon am Mittwoch hören, wie sich Inhaber und Kunden einen guten Sabbat wünschen. In Autobussen in Jerusalem flattert es von lebendigem Geflügel am Mittwoch. Recht typisch in diesem Sinne ist ein Gemälde von Moritz Oppenheim, das, im Biedermeierstil, den Sabbatanfang in einer jüdischen Familie darstellt. Während die Frau die Lichter anzündet, schaut der Familienvater auf seine Uhr. Am Vormittag wird in den Synagogen ein Abschnitt aus dem Pentateuch verlesen, aber am Nachmittag sieht man dem nächsten Sabbat bereits entgegen, indem man den Anfang des Abschnitts für die kommende Woche übt. Überhaupt bringt der Sabbatnachmittag bei seiner Mündung in den Sabbatausgang eine zeitenthobene Atmosphäre mit sich, die über die Vergangenheit in die Zukunft deutet auf die Erlösung hin. Das Sabbatnachmittagsgebet vertieft sich in die Geschichte. Es gedenkt der Erzväter, die bereits den Sabbat feierten: „Abraham jubelt, Isaak frohlockt, Jakob und seine Kinder ruhen an ihm." Der scheidende Sabbat tritt an die nahende Woche heran bei der Hawäolah-Zeremonic, die „unterscheiden" will zwischen heilig und profan. Sie trennt den Sabbatfrieden vom Werktagsgewühl. Aber das Elias-Lied, Elijahu hannawi, summt den besinnlichen Wunsch, Elijahu, der Prophet aus Gilead, möge rasch zu uns kommen als Vorläufer des Messias. Denn im Vergleich mit der messianischen Welt ist der Sabbat nur wie ein Vorgeschmack.

Messianisches Mahl von Jakob J. Petuchowski

Ludwig Feuerbach mag sich einer starken Übertreibung schuldig gemacht haben, als er im Essen das Wesen der jüdischen Religion sah. Aber ganz falsch hat er auch nicht gesehen. Der jüdische Sabbat und die jüdischen Feiertage (bis auf den Versöhnungstag, an dem gefastet wird) werden mit wohlschmeckenden Mahlzeiten begangen. Derselbe Gott, der den Menschen Sein Wort zuteil werden ließ, bringt auch das Brot aus der Erde hervor und den Wein, um der Menschen Herzen zu erfreuen (Psalm 104,14-15). Das bezieht sich selbstverständlich auf das irdische Leben. Wie steht es aber mit dem Ende der Zeiten, mit der rein geistigen Verklärung unserer Existenz? Hier ist die Sachlage gar nicht so klar. Der moderne Theologe und Judaist mag zwischen verschiedenen Vorstellungen der frührabbinischen Zeit schön sauber unterscheiden können - z. B. so, dass „diese Welt" von der „messianischen Zeit" abgelöst wird, einer Zeit, die zwar viel besser als die unsere ist, aber dennoch dem Körperlichen volle Rechnung trägt. Erst nach dem Ende der „messianischen Zeit" (und sie hat ein Ende!) kommt die rein geistige, unkörperliche „kommende Welt". Von dieser heißt es dann auch ganz folgerichtig, dass es in ihr kein Essen und Trinken, kein Heiraten usw. gibt (b. Berakhoth 17a). Aber die alten Rabbinen selbst haben sich nicht immer mit völlig logischer Konsequenz in theologischen Fragen ausgedrückt, und selbst dem modernen Theologen und Judaisten ist es nicht immer völlig klar, ob diese oder jene Perikope in der rabbinischen Literatur von der „messianischen Zeit" oder von der „kommenden Welt" spricht.

Dazu gesellt sich ein weiteres Problem. Das hellenistische Denken war nicht ohne jeglichen Einfluss auf das rabbinische Denken. Judäa war immerhin ein Teil der römisch-hellenistischen Welt. Aber es fiel den alten Rabbinen doch recht schwer, hebräische Termini für körperlose Seelen und deren Schicksal zu schaffen. Für den Hebräer bestand die menschliche Person aus Geist und Körper. Daher auch die körperlichen Metaphern in den Beschreibungen des rein Geistigen, wie in der angeführten Stelle, wo es heißt, dass es in der „kommenden Welt" kein Essen, kein Trinken, kein Heiraten usw. gibt - und die dann aber fortfährt, von den Gerechten zu reden, die mit Kronen auf ihren Häuptern (!) sitzen (!) und Torah lernen. Wo bleibt Metapher Metapher, und wo wird die Metapher rein wörtlich verstanden? Viele der rabbinischen Beschreibungen sowohl der „messianischen Zeit" als auch der „kommenden Welt" hören sich recht handfest und konkret an, wenn auch anfangs - im Talmud wie im NT (vgl. b. Schabbath 153a; Matthäus 22,1-4) - das Festmahl als Gleichnis für die „messianische Zeit" und/oder die „kommende Welt" diente. Im Laufe der Zeit wurde in der Volksfrömmigkeit das Gleichnis zum „Tatsachenbericht". So musste natürlich auch die Frage aufkommen, was denn bei dem erwarteten messianischen Festmahl serviert wird. Auf diese Frage antwortete die Folklore (eher als die Theologie) mit folgender Speisekarte: Zunächst einmal gibt es einen ganz besonders guten und alten Wein, den der liebe Gott schon seit den Zeiten des Paradieses gerade zu diesem Zweck gelagert hat. Als nämlich der Herr sich die Trauben im Riradies ansah, aber, als allwissender Gott, auch die Sündhaftigkeit der Menschheit voraussah, da wollte Er eben den Sündern diesen Qualitätswein nicht zukommen lassen. Er ließ daher diese Trauben mit dem in ihnen enthaltenen Wein in Seinen himmlischen Gemächern aufbewahren, und Er schenkt ihn erst beim messianischen Festmahl aus (b. Berakhoth 34b; b. Sanhedrin 99a). (Wenn eine etwas ketzerische Bemerkung dazu erlaubt

sei, würde ich doch meinen, dass so einige jener Trauben auf dem Wege vom fciradies zum Himmel im Badischen liegengeblieben sind.) Was die Speisen beim messianischen Festmahl betrifft, so erwähnt die Speisekarte zwei mythologische Geschöpfe, die, trotz der biblischen Abneigung gegen den Mythos, von der Bibel verewigt worden sind: den Behemoth (Ijob 40,15ff.), von den Rabbinern als „Wildochse" verstanden, und den Leviathan (Psalm 104,26). Sie sind natürlich beide vom lieben Gott koscher geschlachtet worden. Er hat sie dann auch eingesalzen, um sie bis zum messianischen Festmahl unverdorben aufzubewahren (b. Baba Bathra 7 4 b - 7 5 a ; Leviticus Rabbah 13,3; 22,10). (Mit einer Spitze gegen diejenigen Frankfurter Juden, die noch orthodoxer als orthodox sein wollten, wurde einmal die Frage aufgeworfen, warum denn der liebe Gott Fleisch IWildochse] und Fisch [Leviathan] auf den messianischen Tisch bringen wird. Die Antwort lautete: Der Leviathan sei für die Frankfurter Juden, denen das von Gott servierte Fleisch vielleicht nicht koscher genug ist.) Anstatt die einschlägigen Quellen, in denen von dem messianischen Festmahl die Rede ist, mit Akribie zu zitieren, sei hier nur kurz auf die Worte hingewiesen, die Heinrich Heine in seinem bissigen Gedicht „Die Disputation" dem Rabbi, der dem Mönch die Überlegenheit des Judentums zu beweisen versucht, in den Mund legt: „Leviathan heißt der Fisch, Welcher haust im Meeresgrunde; Mit ihm spielet Gott der Herr Alle Tage eine Stunde Doch sein Fleisch ist delikat, Delikater als Schildkröten, Und am Tag der Auferstehung Wird der Herr zu Tische beten.

Alle frommen Auserwählten, Die Gerechten und die Weisen Unseres Herrgotts Lieblingsfisch Werden sie alsdann verspeisen. Teils mit weißer Knoblauchbrühe, Teils auch braun in Wein gesotten, Mit Gewürzen und Rosinen, Ungefähr wie Matelotten." Gewiss gibt es Juden, die Heines Zynismus nicht teilen und die ganze Sache viel ernster nehmen. Es gibt aber auch viele Juden, die das Ganze als kindliche Vorstellungen überwundener Phasen der Religionsgeschichte von sich weisen - und Juden, die stolz auf ihre Fähigkeit sind, Metapher und Tatsache unterscheiden zu können. Der Schreiber dieser Zeilen mag dieser letzten Gruppe zugerechnet werden - wahrscheinlich schon deshalb, weil seine weniger als vollkommene Frömmigkeit ihn daran zweifeln lässt, dass er - sollte es einmal dazu kommen - zu den geladenen Gästen gehören würde. Aber wer weiß? Gott erbarmt sich doch auch der Sünder; und wenn die Gerechten nicht zu viel essen und trinken (und das werden sie ja als Gerechte wohl nicht tun), bleibt vielleicht auch etwas für unsereinen übrig. So einen Schluck Paradiesauslese kann man sich schon gefallen lassen; und ein Petit Filet Leviathan und ein Stück saftiger Wildochsenbraten sind der messianischen Verheißung nicht unwürdig - und wenn sie auch nur Metaphern sind.

Gott in Bergen-Belsen von Werner Weinberg

Viele gelehrte Abhandlungen sind über die Auswirkungen des Holocaust auf Glaube und religiöse Haltung der früheren Lagerinsassen geschrieben worden. Für einige änderte das Konzentrationslager gar nichts, oder nur sehr wenig an ihrer Religion; bei anderen vertiefte sich der Glaube, oder er wurde erst geweckt, und wieder andere verloren ihren Glauben ganz oder teilweise. Ich kenne viele der theologischen Versuche, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen, und ich habe sie darauf geprüft, inwieweit sie für mich selber gelten. Sind wir für unsere Sünden bestraft worden (vielleicht auch noch für die Sünden unserer Vorfahren)? Hörte Gottes Allmacht bei dem Tor auf, über dem geschrieben stand: „Arbeit macht frei"? Litt Gott darunter, dass er uns leiden ließ, und konnte doch nicht anders handeln? Sollte ich mir lieber einen Gott vorstellen, dessen Macht begrenzt ist (freiwillig oder unfreiwillig), als einen, den menschliches Leid nicht rührt? Sollte ich den Vers: „Der Himmel ist der Himmel des Herrn, die Erde aber gab er den Menschen" (Ps 115,16) als klare Trennung zwischen dem Reich Gottes und dem der Menschen verstehen? Kann es im Monotheismus eine Vorstellung vom Satan, die nicht nur allegorisch ist, geben, von einem Teufel, der selbstherrlich in einem Reich, das ihm Gott überlassen hat, herrscht? Oder muss ich mich einfach damit abfinden, dass es überhaupt keinen Gott gibt?

Von all diesen Möglichkeiten weiß ich nur eines bestimmt: Die atheistische lehne ich ab. Selbst nach dem Holocaust besitze ich noch eine Grundlage religiösen Gefühls. Aber es ist mir nicht gelungen, einen festen Glauben darauf aufzubauen. Meine Einstellung zu den Mitzwot, dem Halten der Gebote, hat sich durch den Holocaust geändert, genauso wie mein Glaube auch. „Dienet dem Herrn mit Freude" (Ps 100, 2) ist mir ein fremder Begriff geworden so, wie die Vorschrift, Gottes Geboten aus Liebe zu gehorchen (Deut 6, 5.11). Ich weiß, dass ich die Freude und die Liebe im Konzentrationslager verloren habe. Da aber nicht alle, die im Lager waren, gleichfalls diese Freude und diese Liebe verloren haben, glaube ich, dass ich das Lager vielleicht nur als Ausrede gebrauche, weil ich mich nicht festlegen will - dann fühle ich mich schuldig. Wie weit konnte das religiöse Leben im Konzentrationslager praktisch aufrechterhalten werden? In dem Augenblick, in dem orthodoxe Juden ihren Fuß ins Lager setzten, mussten sie sofort die meisten religiösen Gesetze und Gebote aufgeben. Sie wurden gezwungen, am Sabbat und an den Feiertagen zu arbeiten, sie konnten die Speisegesetze nicht einhalten, waren nicht in der Lage, die Gebete zur vorgeschriebenen Zeit zu verrichten, und es war ihnen unmöglich, die meisten Mitzwot, deren Ausübung ihnen wichtig wie das Leben selbst war, zu erfüllen. Hier erhebt sich eine quantitative Frage. Wenn es die Umstände einem frommen Juden unmöglich machen, 90 Prozent einer Mitzwah einzuhalten, hatte es da noch einen Sinn, die restlichen 10 Prozent zu befolgen? Zum Beispiel sollte man die vielen ins Einzelne gehenden Vorschriften für den Sabbat nach den Stunden der Zwangsarbeit noch halten, und lag Verdienst darin, wenn man die allerunkoschersten Bestandteile aus der täglichen Suppenration entfernte? Sollte man vielleicht am Versöhnungstag fasten und am Pesach kein Brot essen? Ich kannte Leute, die bei der allgemeinen Hungerlage hier bis zum Äußersten gingen, obwohl das jüdische Gesetz

Erleichterungen vorsieht, wenn die Erfüllung eines Gebotes das Leben gefährdet. Ich erinnere mich, dass die Rabbiner im Holländerlager uns sogar befahlen, die Suppe zu essen. Aber einige hielten sich nicht an diese Verordnung, darunter die Rabbiner selbst. Waren diese Menschen denn Fanatiker oder Märtyrer? Nicht eigentlich; aber sie konnten einfach das Pferdefleisch in der Suppe nicht essen, und am Versöhnungstag konnten sie keinen Bissen über die Lippen bringen. Aber muss denn der Glaube darunter leiden, wenn ein frommer Jude nicht in der Lage ist, die umfangreichen rituellen Vorschriften zu beachten? Eigentlich nicht; es bestand kein Zwang, dass die orthodoxen Juden ihren Glauben ablegten, und ich bin überzeugt, dass es die Mehrzahl auch nicht tat. Sie litten darunter, dass sie ihrem Schöpfer nicht in der vorgeschriebenen Weise dienen konnten, aber sie vertrauten darauf, dass er ihnen das nicht anrechnen würde, und sie warteten auf den Tag, an dem sie wieder ganz in ihrem Glauben leben konnten. Es gab aber auch Mitzwot, die der fromme Jude sogar im Lager erfüllen konnte. Er konnte seinen Kopf bedeckt lassen, es sei denn, er musste die Kappe vor einem SS-Mann ziehen; jeder konnte bei den gebotenen Gelegenheiten die entsprechenden Segenswünsche murmeln, und das Lagerleben an sich sorgte schon dafür, dass Männer und Frauen die sexuellen Einschränkungen nicht übertraten. Das tägliche Morgengebet enthält eine ganze Liste von Mitzwot, die jedem gläubigen Juden vertraut sind. Hätte z.B. ein Lagerinsasse nicht „Liebesdienste erweisen" können, „Kranke besuchen", „andächtig beten" und „Frieden zwischen Streitenden stiften" können? Ethische Mitzwot dieser Art konnte ein Lagerinsasse erfüllen, wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Sogar die Mitzwah „eine Beerdigungsprozession zu halten" konnte und wurde am Anfang auch beachtet. In unserem Lagerabschnitt in Bergen-Belsen wurden die Leichen, als die Zahl der Toten

pro Tag noch gering war, auf einem Karren zum Krematorium gebracht. Es bildete sich bald die Gewohnheit heraus, dass die Gefangenen, die das sahen und die gerade nicht arbeiten mussten, den Toten ein paar Schritte das Geleit gaben. Einige gingen sogar bis zum Lagertor im Stacheldraht hinter dem Karren her. Der Hauptpunkt bei der Aufzählung der Pflichten im Morgengebet heißt „Thoralernen". Dieses Gebot konnte in Bergen-Belsen beobachtet werden, und es wurde auch beobachtet. „Thoralernen" ist von jeher sowohl in einem engen als auch weiten Rahmen ausgelegt worden: Es bedeutet nicht nur Lernen der Heiligen Schrift, sondern umfasst auch nachbiblische Schriften und eigentlich jederlei fromme Schrift vom Mittelalter bis zur Moderne. Nüchtern gesehen, konnte dieses Lernen - einschließlich der kulturellen Betätigung, und dem bisschen Entspannen nur spät abends stattfinden, am Ende eines zermürbenden Tagewerks, oder an dem freien Sonntag-Nachmittag. Und es fand wirklich statt. Einige diskutierten über einen hebräischen Text oder rezitierten Psalmen; die Zionisten studierten Hebräisch, die Geschichte oder Geographie von Palästina; es wurden Vorträge gehalten, man hörte sogar jüdische Lieder. Es stehen noch eine Reihe von Bildern, die die Verbundenheit von Juden und Thora zeigen, lebendig vor meinem geistigen Auge: wie fünf oder sechs Chaluzim in dem engen Zwischenraum zwischen oberster Pritsche und Barackendecke, zusammengekauert, todmüde, hebräische Konversation übten; wie nächtliche Andachten in den Baracken abgehalten wurden, wobei die Leute in den hohen, schmalen Gängen zwischen den Stockbetten standen und leise die Sabbat- oder Feiertagsliturgie sangen; ein hastig versammelter Minjan bei einer der Pritschen zum Kaddischgebet, bevor eine Leiche aus der Baracke gebracht wurde; wie eine kleine Gruppe libyscher Juden, an ihrer Spitze ein alter Mann mit einer Thora im Arm, in unsere Lagerabteilung getrieben wurde; eine Gruppe von

Knaben, die auf dem Boden im Kreis um einen Lehrer herumsaß, der ihnen die Konjugation der hebräischen Verben einpaukte. Diese Bilder greifen ans Herz, und man muss gleichzeitig ungläubig den Kopf schütteln. Ein geradezu groteskes Bild, an das ich mich erinnere, ist ein Rund tanz, eine Horra, die eines Sonntagnachmittags von einer Mädchengruppe auf dem Appellplatz unseres Lagerabschnitts aufgeführt wurde. Nicht nur das Tanzen erschien so deplaziert, sondern auch das Lied, das dazu gesungen wurde. Es war eine Melodie, die zu Beginn der Hitlerzeit in zionistischen Kreisen populär war. Der Text stammt aus dem täglichen Morgengebet: „Aschrejnu, ma tow chelkejnu ..." Heil uns! Wie gut ist unser Anteil Wie angenehm unser Los, Und wie schön unser Erbe! Das Ganze war natürlich nicht als Demonstration eines unerschütterlichen Glaubens beabsichtigt. Die kleinen Mädchen wollten an diesem sonnigen Nachmittag nur tanzen. Sie kannten den hebräischen Text, wussten aber nicht, was er bedeutete. Schließlich machte irgendein Erwachsener dem widersinnigen Treiben ein Ende. Als die Lage in Bergen-Belsen unter das noch erträgliche Maß sank, wandte sich mein Inneres vom Religiösen weg zum Weltlichen. Gefühle und Handlungen, die ich früher als religiös oder religiös motiviert angesehen hatte, stufte ich jetzt als „jüdisch kulturell", „jüdisch national" oder „ethisch" ein. Mein einziges religiöses Bekenntnis war ein gelegentliches verzweifeltes Stoßgebet in einem Augenblick tiefster Not. An die Stelle von Gottesfurcht war Angst vor Menschen getreten. Der Psalmvers: „Der Herr ist bei mir, ich fürchte mich nicht. Was können Menschen mir antun" (Ps 118, 6) hatte allen Sinn ver-

loren. Menschen konnten mir alles antun, alles Denkbare und Undenkbare, und sie taten es. Nach der Befreiung schrieb ich meinem früheren Rabbiner einen schwierigen Brief, in welchem ich über den Wandel, der sich in meinem Inneren vollzogen hatte, berichtete. Ich erinnere mich noch an ein gewisses Argument in seinem Antwortbrief. Ich hätte doch schon immer gewusst, dass das jüdische Volk während seiner ganzen Geschichte Leiden erdulden musste. Ob es da einen Unterschied gäbe zwischen Rabbi Akiva, der vor 1800 Jahren mit eisernen Kämmen zu Tode gefoltert worden war, und mir, der ich jetzt selber Zeuge von unmenschlichen Leiden und Grausamkeiten geworden wäre. Ich hätte doch von der Zerstörung der beiden Tempel, von der Ausrottung ganzer jüdischer Gemeinden durch die Kreuzfahrer, von den Torturen während der Inquisition, von den bestialischen Pogromen in Polen und Russland gewusst - das alles wäre mir bekannt gewesen, und ich wäre doch ein gottesfürchtiger, frommer Jude geblieben. Und jetzt, wo dieses grausame jüdische Schicksal meine Person berührt hatte, erschiene es mir grundsätzlich anders. Warum? Sollte die persönliche Einbeziehung überhaupt irgendeine Rolle bei unserer Beurteilung historischer Ereignisse spielen? Das Argument des Rabbiners war unwiderlegbar. Wenn ich sagen würde: „Im Prinzip haben Sie Recht; aber es ist tatsächlich etwas ganz anderes, wenn man selbst in dieses historische Ereignis verwickelt ist" so erschien mir das banal und unwürdig. Aber genau das empfand ich. Der Wechsel in meiner religiösen Einstellung war nicht auf irgendein besonderes Erlebnis oder eine deutliche Erkenntnis zurückzuführen. Der Anfang war unmerklich, der Verlauf allmählich. Bei unserer steten Kreuzigung rief ich niemals aus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen" (Ps 22,2; Mt 27,46)! Stattdessen gab es viele Anlässe, bei denen ich dachte: Mein Gott, sie können das doch nicht tun! Du kannst

doch nicht zulassen, dass sie das tun! Du kannst das doch nicht tun! Bei solchen Gedanken fühlte ich mich schuldig. Mein Dilemma lag darin, dass ich den Gott des Konzentrationslagers nicht in Einklang bringen konnte mit dem bequemen Gott der Gerechtigkeit, Liebe und Gnade, so wie ich ihn in meiner Jugend in der Schule, in Erzählungen, Gebeten, im täglichen Leben gekannt hatte. In jenen Tagen war Gott immer „der liebe Gott". Aber im Konzentrationslager schienen der „liebe Gott" und der Gott des Unheils nebeneinander zu bestehen. Das beunruhigte mich unaufhörlich, und wieder hatte ich bei diesem Gedanken ein Schuldgefühl. Es scheint mir, dass ich ein kümmerlicher Rebell war. Öfter als einmal fiel mir Goethes Vers ein: Ihr lasst den Armen schuldig werden, Dann überlasst ihr ihn der Pein. Aber dies verbitterte mich mehr, als es mich tröstete. Ich erinnere mich an eine Unterhaltung in Bergen-Belsen über das Buch Ijob. Es ging darum, dass im letzten Kapitel Gott dem Ijob alles wieder gut machte; nicht nur seine irdischen Güter wurden ihm ersetzt, er erhielt auch wieder sieben Söhne und drei Töchter als Ausgleich für die gleiche Anzahl von Kindern, die ihm im ersten Kapitel genommen worden waren. Dagegen protestierte ich: Was für eine Art Wiedergutmachung war das denn? Die ersten zehn Kinder waren die unschuldigen Opfer einer beiläufigen Wette, und sie blieben tot. Nichts weniger als ihre Auferstehung hätte mein Gerechtigkeitsempfinden zufrieden stellen können. Hier kommen wir zurück auf den Begriff eines allmächtigen Gottes, der durch sein eigenes Gesetz begrenzt ist; eine Idee, die mir ebenso unverständlich wie sträflich erscheint. Mein eigentliches Problem ist, dass mir offensichtlich die Fähigkeit fürTeschuwa abgeht, ein Wort, das meist mit „Buße" übersetzt wird, aber eigentlich „Umkehr" bedeutet, eine Umkehr zu Gott und dem Göttlichen im Menschen.

Der Sabbat ist es, der mir fehlt Was mein Leben verändert hat

von Elie Wiesel

Alle Welt ändert sich. Leben heißt, eine bestimmte Zeit, einen bestimmten Raum durchmessen; und mit etwas Glück hinterlässt man dabei einige Spuren. Meine Tradition lehrt mich nun, dass der Weg irgendwohin führt, und wiewohl der Zeitpunkt nicht wechselt, ändern sich die Etappen und erneuern sich. Der alte Mensch wird seine Kindheit, die ihm verlockend erscheint, auf tausendfache Weise suchen. So suche auch ich meine Kindheit und werde sie immer suchen. Ich spüre ein Bedürfnis danach. Sie ist mir Anhaltspunkt wie Zufluchtsort. Sie verkörpert für mich eine Welt, die nicht mehr besteht, ein sonnendurchflutetes und geheimnisvolles Königreich, wo die Bettler verkleidete Prinzen und die Narren die von allen Zwängen befreiten Weisen waren. In jener Zeit, in jener Welt erschien alles einfach. Die Menschen wurden geboren und starben, hofften oder verzweifelten, schützten die Liebe oder die Angst als Berufung oder als Schranke vor: Ich begriff manches, aber nicht alles, ich fand mich mit der Idee ab, dass für die wesentlichen Erfahrungen das Suchen bereits ein Sieg ist. Sogar wenn es keineswegs zum Ziele führt, bedeutet es einen Triumph. Es genügte mir zu wissen, dass irgend jemand die Antwort wusste; was ich dagegen suchte, war die Frage. Unter diesem Aspekt sah ich den Menschen und seinen Platz in der Schöpfung. Es gehörte zu ihm, seine Umgebung zu befragen und so über sich hinauszuwachsen. Kein Zufall war es, sagte ich mir, dass die erste Frage in der Bibel die Frage Gottes an Adam war: „Wo bist du?" - Was? rief einmal ein großer chassidischer Meister, der Rabbi Schneur Salman aus

Ljady, aus. Gott wusste nicht, wo sich Adam befand? Nein, so darf man diese Frage nicht stellen. Gott wusste es, Adam aber nicht. Deshalb muss der Mensch immer danach trachten, dachte ich, seine Rolle in der Gesellschaft zu kennen, seinen Platz in der Geschichte. Seine Aufgabe ist es, sich jeden Tag die Frage zu stellen: wo stehe ich im Hinblick auf Gott und den Nächsten? Und merkwürdigerweise wusste das Kind, was der Erwachsene nicht mehr wissen sollte. Ich wusste, warum ich existierte. Ich existierte, um Gott zu verherrlichen und sein Wort zu heiligen. Ich existierte, um mein Schicksal mit dem meines Volkes zu verbinden und das meines Volkes mit dem der Menschheit. Ich existiere, um das Gute zu tun und gegen das Böse zu kämpfen, um den Willen des Himmels zu erfüllen, mit einem Wort, um jede meiner Handlungen, jeden meiner Träume, jedes meiner Gebete in den Plan Gottes einzufügen. Ich wusste, dass Gott nahe und fern war, großmütig und streng und unerbittlich und milde zugleich. Ich wusste, dass ich zu seinem auserwählten Volke gehörte - auserwählt, um ihm durch das Leiden und gleichzeitig durch die Hoffnung zu dienen. Ich wusste, ebenso, dass das Exil nicht von Dauer sein, dass es sich in der Erlösung vollenden würde. Ich wusste soviel von so vielen Dingen. Ich wusste vor allem, wann ich mich freuen, wann ich wehklagen musste: Ich zog nur den Kalender zu Rate, darin stand alles. Jetzt jedoch weiß ich nichts mehr. Wie in einem blinden Spiegel betrachte ich meine Kindheit und frage mich, ob es wirklich meine Kindheit ist. Ich erkenne mich nicht wieder in dem Kind, das dort mit brennendem Eifer studiert, das dort seine Gebete spricht. Das kommt daher, weil es von anderen Kindern umgeben ist. Es geht wie sie und geht mit ihnen, die Stirne gesenkt, die Lippen zusammengepresst und dringt tief in die Nacht ein, als würde es von ihren Dunkelheiten magisch angezogen. Ich betrachte sie, während sie in einen flam-

menden Abgrund stürzen, ich sehe sie zu Asche verwandelt, ich höre ihre stumm gewordenen Schreie und weiß nichts mehr, begreife nichts mehr, sie haben meine Sicherheiten mit sich fortgetragen, und niemand wird sie mir zurückgeben. Es handelt sich nicht allein um Fragen, die aus dem religiösen Glauben kommen. Um sie handelt es sich auch und um alle anderen. Es geht darum, meine Beziehungen zum Nächsten und zu mir selber von neuem zu definieren oder wenigstens von neuem zu bedenken. 1 laben sie sich geändert? Ich glaube, ohne das geringste Zögern darauf mit Ja antworten zu können. Rückblickend ist mir klar, dass sie nicht mehr dieselben sind. Ich will versuchen, etwas genauer zu sein. So ist z.B. meine Haltung den Christen gegenüber, die vor dem Krieg misstrauisch, ja geradezu feindlich war, nachher offen und freundlich geworden. Vor dem Kriege machte ich einen Bogen um alles, was von der anderen Seite, d. h. vom Christentum kam. Die Pfarrer flößten mir Angst ein, ich mied sie und, um ihren Weg nicht zu kreuzen, wechselte ich die Straßenseite. Ich fürchtete mich vor jedem Kontakt mit ihnen. Ich hatte Angst, von ihnen entführt und zur Taufe gezwungen zu werden. Ich hatte so viele Gerüchte, so viele Geschichten dieser Art gehört, dass ich das Gefühl hatte, ich befände mich ständig in Gefahr. In der Schule saß ich neben den Christen jungen meines Alters, aber wir sprachen nicht miteinander. Wenn wir in der Pause spielten, waren wir durch eine unsichtbare Mauer getrennt. Ich habe nie einen christlichen Kameraden bei ihm zu Hause besucht. Wir hatten nichts miteinander gemein. Später, als ich das Jünglingsalter erreicht hatte, floh ich vor ihnen, ich hielt sie zu allem fähig, dass sie mich schlugen, mich dadurch demütigten, dass sie mir die Löckchen abrissen oder mir meine Kopfbedeckung wegnahmen, ohne die ich mich nackt fühlte. Was mein Traum damals war? In einer jüdischen, ganz und gar jüdischen Welt zu leben, in einer Welt, zu der Christen keinen Zutritt hatten, eine abgeschirmte Welt, die nach den Ge-

setzen des Sinai geordnet war. Es ist merkwürdig, aber als ich eines Tages im Ghetto aufwachte, entdeckte ich in mir ein überschwängliches Gefühl, dass wir jetzt endlich unter uns leben würden. Ich wusste nicht, dass das nur eine Etappe war, die erste Etappe zu einem kleinen Bahnhof irgendwo in Polen. Und der Bahnhof hieß Auschwitz. Im Gegensatz zu dem, was ich denken konnte, fand meine wirkliche Veränderung nicht in den Lagern statt, sondern erst nachdem sie sich geöffnet hatten. Während der Prüfung lebte ich in ständiger Erwartung, entweder eines Wunders oder des Todes. Bei meiner körperlichen Schwäche wurde ich immer mehr passiv, nahm die Ereignisse an, ohne sie in Frage zu stellen. Natürlich geschah es, dass mich Auflehnung und Wut gegen die Mörder und ihre Helfershelfer packten und auch gegen den Schöpfer, der sie gewähren ließ. Ich war so weit, dass ich dachte, die Menschheit sei auf immer verloren und sogar Gott nicht imstande, ihr Rettung zu gewähren. Es kam so weit, dass ich mir Fragen stellte, die mir früher einen Schauder über den Rücken gejagt hätten: über das Böse im Menschen, über das Schweigen Gottes. Aber ich tat weiter so, als glaubte ich noch daran. Die Kameradschaft im Lager war mir wichtig. Ich erstrebte sie trotz aller Anstrengungen, die die Mörder machten, um sie abzuwerten und zu negieren. Ich klammerte mich an die Familien, den Mördern zum Trotz, die diese Bande zu gefährlichen und tödlichen Fallstricken machten. Was Gott betraf, so sprach ich weiterhin meine Gebete. Am Morgen stand ich vor den anderen auf, um mich in der Schlange anzustellen und die Gebetsriemen anzulegen. Erst später, als ich aus dem Albtraum erwachte, machte ich eine Krise durch, die schmerzlich und beängstigend war und meine früheren Sicherheiten in Fragen stellte. Ich begann am Menschen und an Gott zu verzweifeln, betrachtete sie als einander feindlich gesonnen und beide zusammen als Feind des jüdischen Volkes. Ich sprach nicht laut darüber und tat es sogar in meinen Notizen nicht. Ich studier-

te Geschichte, Philosophie, Psychologie, ich wollte begreifen, aber je mehr ich mir aneignete, umso weniger begriff ich. Ich zürnte den Deutschen: Wie konnten sie Goethe und Bach für sich beanspruchen und gleichzeitig unzählige jüdische Kinder umbringen. Ich zürnte ihren ungarischen, polnischen, ukrainischen, französischen, holländischen Komplizen: Wie konnten sie im Namen einer perversen Ideologie sich gegen ihre jüdischen Nachbarn wenden und sogar so weit gehen, dass sie ihre Wohnungen plünderten und sie verrieten. Ich zürnte I^pst Pius XII.: Wie konnte er sich in Schweigen hüllen? Ich zürnte den Regierungschefs der Alliierten: Wie konnten sie bei Hitler den Eindruck entstehen lassen, er könne mit den Juden ganz nach Willkür verfahren? Warum hatten sie keine Maßnahmen zu ihrer Rettung getroffen? Warum hatte man ihnen alle Türen verschlossen? Warum hatte man nicht ein paar Bomben auf die Eisenbahnlinien geworfen, die nach Birkenau führten? Und wäre es nur gewesen, um Himmler zu zeigen, dass die Alliierten nicht gleichgültig zuschauten. Und warum soll ich nicht zugeben, dass ich auch Gott zürnte, dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs? Wie konnte er sein Volk in dem Augenblick im Stich lassen, als es ihn brauchte? Wie konnte er es den Mördern überlassen? Welche Erklärung gab es für den Tod von einer Million jüdischer Kinder, wie war d ieser Tod zu rechtfertigen? Während langer Monate, ja jahrelang lebte ich allein. Ich misstraute meinem Nächsten, verdächtigte meinen Mitmenschen. Ich glaubte nicht mehr an das Wort als das Transportmittel der Gedanken und des Lebens. Ich floh vor der Liebe, denn ich sehnte mich nur nach dem Schweigen und nach der Sinnlosigkeit. Da ich vom Westen angewidert war, wandte ich mich dem Osten zu. Ich erlebte die Anziehungskraft der indischen Mystik. Ich interessierte mich für den Sufismus. Es ging mir darum, die andere Seite der Realität, die die Grundlage der Zivilisation darstellte, zu erkunden. Die Meditation zählte mehr für mich als die Aktion. Ich versenkte mich in die Kontemplation.

Das Äußere der Dinge und mehr noch der menschlichen Wesen waren mir zuwider. - Wäre es mir möglich gewesen, dann hätte ich mich irgendwo in Indien in einen Ashram zurückgezogen. Aber ich konnte es nicht. Ich hatte unter dem glühenden Himmel Indiens so unermessliches und schreckliches Elend gesehen, das ich einfach nicht tolerieren konnte. Angesichts dieses Elends bedrängte mich das Problem des Bösen mit zerstörerischer Kraft. Ich hatte die Wahl, mich davor zu verschließen oder die Flucht zu ergreifen. Doch ich wollte kein Komplize sein. Indische Freunde überquerten die Straße und sdegen über die Massen von Krüppeln und Kranken hinweg, ohne sie überhaupt zu beachten. Ich sah sie und fühlte mich schuldig. Schließlich begriff ich: Ich habe die Freiheit, mein eigenes Leid zu wählen, aber nicht das meines Mitmenschen. Wenn ich also die Hungernden vor mir nicht beachtete, so bedeutete das, ihr Schicksal - an ihrer Statt - zu akzeptieren, in ihrem Namen für sie oder gar gegen sie oder wenigstens wie sie. Ihre Not nicht zu bemerken hieß: sie als logisch, ja als gerecht zu bejahen. Nicht gegen ihr Schicksal anzuschreien bedeutete, es noch schwerer zu machen. Da ich mich zu schwach fühlte, um zu schreien, um den zahllosen ausgemergelten Kindern die Hand entgegenzustrecken, da ich es ablehnte, einzusehen, dass bestimmte Verhältnisse nicht geändert werden konnten, ging ich lieber fort und kehrte in den Westen zurück zu seiner notwendigen Vieldeutigkeit, die seinem Denken Glanz, ja Stärke verleiht... Ich fühlte mich vor allem als Fremder. Ich hatte meinen Glauben und damit mein Zugehörigkeitsgefühl und meinen Orientierungssinn verloren. Mein Glaube an das Leben war mit Asche bedeckt. Mein Glaube an den Menschen war voller Hohn, war kindisch und steril. Mein Glaube an Gott erschüttert. Dinge und Wörter hatten ihre Bedeutung, hatten ihre Achse verloren. Ein Bild aus der Kabbala beschrieb mir meinen damaligen Seelenzustand: Die ganze Schöpfung hatte sich von ihrem Mittelpunkt verrückt, um in die Verbannung

zu gehen. Auf wen sollte ich mich stützen, woran mich klammern? ... Das Wesentliche wird weder jemals gesagt noch begriffen werden. Vielleicht müsste ich meinen Gedankengang präzisieren. Nicht weil ich nicht spreche, werdet ihr mich nicht verstehen, weil man mich nicht verstehen wird, spreche ich nicht. So ist es nun einmal, und wir können nichts dafür. Was manche Menschen erlebt haben, werdet ihr nie erleben - zum Glück für euch. Ihre Erfahrung hat aus ihnen besondere Wesen gemacht, die weder besser noch schlechter, aber anders sind, verwundbarer und zugleich härter als ihr. Die kleinste Spitze tut ihnen weh, aber der Tod flößt ihnen keine Furcht ein. Wenn ihr sie schief anseht, leiden sie darunter, und trotzdem können sie die härtesten Schläge, die bittersten Enttäuschungen einstecken. Das gilt zugleich für ihre Beziehungen zu den Mitmenschen und für ihr Verhältnis zu Gott. Von Gott erwarten sie alles und sind sich doch bewusst, dass das längst nicht genügt: Gott selbst ist nicht fähig, das Vergangene zu ändern, sogar er kann nicht ungeschehen machen, dass der Mörder sechsmillionenmal getötet hat. Wie könnte er wiedergutmachen? Ich weiß es nicht. Ich nehme an, er wird es nicht können. Diejenigen, die behaupten, dass dieses oder jenes eine Antwort auf den Holocaust bildet, geben sich mit bitter wenig zufrieden. Ich habe das nach dem Kriege gedacht und denke es immer noch. Und dennoch überrasche ich mich dabei, wie ich ein vergessenes Bedürfnis verspüre, bestimmte Gebete zu sprechen, bestimmte Lieder zu singen, mich in eine ganz bestimmte Stimmung zu versetzen, die meine Jugend durchdrungen hatte. Wie jedermann würde ich alles, was ich besitze, dafür hingeben, wenn ich eines Morgens erwachen und erleben könnte, dass wir im Jahre 1938/39 sind, als ich nur von der Zukunft träumte. Ich gäbe viel darum, noch einmal einen Sabbat in meiner kleinen Stadt zu erleben, irgendwo in den Karpaten. Die blütenweißen Tischtücher, die flackernden Flammen der Kerzen,

die leuchtenden Gesichter rings um mich, die kraftvoll schöne Stimme meines Großvaters, des Chassid von Wischnitz, der die Engel des Sabbats einlud, ihn bis in unser Haus zu begleiten: Schon der Gedanke daran schmerzt mich. Das also ist es, was mir am meisten fehlt, ein bestimmter Friede, eine gewisse Schwermut, die den Sabbat in Sighet seinen Kindern schenkte, den Großen und Kleinen, den Jungen und Alten, den Armen und Reichen. Der Sabbat ist es, der mir fehlt. Sein Fehlen erinnert mich an alles andere, was verschwunden ist; erinnert mich daran, dass die Dinge sich geändert haben in der Welt, dass die Welt selbst sich geändert hat. Und ich mich auch.

CHRISTENTUM

Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden. Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Selig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen. Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und euch alles Böse lügnerisch nachsagen um meinetwillen.

(Matthäus 5,3-11)

Einführung von Dietmar Mieth

Im Laufe der letzten Jahrhunderte ist immer wieder versucht worden, das sogenannte Wesen des Christentums zu beschreiben. Man wollte den Kern der „Offenbarung" erfassen und daraus das richtige Christentum rekonstruieren. Denn die Geschichte des Christentums erschien nicht nur als eine Entfaltung der Botschaft des Evangeliums, sondern auch als ein Komplex von Wucherungen und Irrungen. Das Christliche am Christentum lässt sich zunächst leicht erfassen. Gerade im Vergleich zu anderen Religionen ist die gottmenschliche Nähe, die in der Verehrung von Jesus als dem Christus und Gottessohn zum Ausdruck kommt, ein besonderer religiöser Gehalt. Dieser Jesus ist zugleich die vorbildliche Gestalt für eine grundlegende Lebensform. Das urchristliche Bekenntnis: Jesus ist der Christus, also eine erhöhte Erlöserfigur, rückte schon bald in die Nähe zu dem Bekenntnis: Gott ist Mensch geworden, damit die Menschen „Götter" werden. Diese Idee vom „heiligen Tausch" zeigt an, dass Gott das menschliche Schicksal übernimmt, um den Menschen ein göttliches Schicksal zu bereiten. Durch die Vermittlung eines wahren Menschen, des Bruders aller Menschen, in dem zugleich die von Gott ausgehende und zu ihm zurückkehrende Macht entfaltet ist, ist der Bereich des menschlichen zugleich der Bereich des göttlichen Lebens. Was begrifflich mit Jesus Christus als einer Person in zwei Naturen ausgedrückt wird, ist existentiell eben die gottmenschliche Lebensform. In dieser Lebensform steht, wie der Mystiker Meister Eckhart es ausgedrückt hat, der Mensch zugleich außerhalb und innerhalb des Göttlichen. Das Christen-

tum ist nicht zureichend verstanden, wenn man nur an Jesus als den Bruder denkt, der mit uns das menschliche Schicksal bis zum Tode teilte, oder wenn man nur den erhöhten Christus im Auge hat; vielmehr ist stets an den schon von Paulus hervorgehobenen Christus in uns zu denken. Diese Vorstellung geht so weit, dass Christus als die allgemeine Menschennatur in jedem Menschen aufgefasst werden kann. Das Christentum bestand ursprünglich aus Konfessionen. Es gibt sehr unterschiedliche Ausdrucksformen, die einander freilich wechselseitig entsprechen können. Der zugleich erhöhte und verinnerlichte Christus des Johannes formt alle irdischen Ereignisse, an denen er historisch festhält, in große Symbole eines neuen Menschseins, eines gesteigerten Lebens um. Diese kosmisch-spirituelle Fortschreibung des Jesus Christus kann durch den Geist, den Tröster über sein Fernblieben, immer wieder neu bewerkstelligt werden. Für Paulus wäre unser Glaube eitel, wenn Jesus Christus nicht auferstanden wäre. Das Zeugnis von der Auferweckung von den Toten ist gleichsam die Magna Charta einer neuen Gemeinschaft. Kreuz und Auferstehung sind stellvertretende Schicksale, in die der Mensch durch die Taufe symbolisch hineingenommen wird. Die Lebensform der Nachfolge teilt Paulus mit den Synoptikern, für welche die Geschichte des Evangeliums eine einzige Hauptgeschichte, die Rassionsgeschichte, umranken, um dieser Hauptgeschichte von vorneherein die Deutung durch Jesus, den lebenden, den prophetischen Schöpfer neuer Lebensformen, zu geben. Die Gruppe der Nachfolgenden um Jesus von Nazaret erscheint in vielerlei Gestalt, als Zwölfer- und Jüngerkreis, als Freundes- und Frauenkreis, als Kreis der Ermächtigten und Gesandten. Das Pfingstereignis begründet den universalen Geist für alle auf verschiedene Weise an Jesus Christus Glaubenden und aus ihm heraus Lebenden. Und in dieser Geschichte scheint es möglich, in verschiedenen Sprachen das eine zu sagen und zu verstehen.

Dass im Christentum das Göttliche überall nur durch das Menschliche auf uns eindringt, bedeutet gewiss nicht, dass sich Gott um den Menschen dreht. Es ist eben ein Unterschied, ob sich der Mensch selbst in den Mittelpunkt setzt, oder ob er von Gott in den Mittelpunkt göttlichen Handelns gestellt wird. Christen blicken auf den Menschgewordenen als Sinnbild des freien Handelns Gottes. Hier ist weder Zwang noch Selbstermächtigung zu spüren. Der in den Menschen entäußerte Gott bleibt zugleich bei sich selbst. Wenn auch Begriff und Vorstellung von der Art der Nähe Gottes unterschiedlich sind, so besteht doch zwischen den verschiedenen „abrahamitischen Religionen", dem Christentum, dem Judentum und dem Islam, die Gemeinsamkeit, dass

es um die Nähe Gottes zum Menschen geht. „Vater-Religionen" sind die abrahamitischen Gestalten eines Offenbarungsglaubens insofern, als sie diese Nähe Gottes in der elterlichen Liebe zum Ausdruck bringen. Solche elterliche Liebe umschließt hier zugleich das Geheimnis, dass jeder Mensch besonders und doch alle zugleich in diese Liebe eingeschlossen sind.

Das Christentum erzählt von seinen Propheten im Sinne einer geschichtlichen Lebensform, in welcher Gottesgeschichte und Menschengeschichte zu einem verschmelzen. Dieses Geschehen ist umso provokativer, als es sich in Bildern verdichtet, die um das geschichtliche Ereignis des Kreuzestodes ranken und die mindestens ebensoviel Schock wie Trost in sich enthalten. Das Kreuz ist eine der schlimmsten Erfindungen menschlicher Grausamkeit. In Zeiten, in denen der Tod so sichtbar und täglich zum Leben gehört, dass seine Zufügung allein keinen Schrecken verbreiten kann, wird der Mensch in den Marterwerkzeugen zur Behauptung der Macht besonders erfinderisch. Das Kreuz ist ein Sinnbild um der Erhöhung und der Entwürdigung willen. Es ist ein Exzess des Bösen als Ausdruck menschlicher Selbstermächtigung. Es bleibt eine Provokation, dass Gott dort als Opfer zu Hause sein soll, wo der

Mensch der Schlächter des Menschen ist. Das Kreuz kann christlich aber erst zum Symbol gemacht werden, wenn man es als Ausdruck einer Konsequenz einer Lebensgeschichte betrachtet. Wenn man es aus der Biographie des Jesus von Nazaret herauslöst, kann es zum Widersinn umgekehrt werden, wie an den Kreuzzügen der Christen erkennbar wird, die man nur als großen Missgriff der Erinnerung im Namen der Macht interpretieren kann. Der gekreuzigte Jesus ist ein Mensch, der das Scheitern des Menschen in seiner Selbstermächtigung nicht mit den gleichen Machtmitteln bekämpft, dessen göttliche Vollmacht vielmehr in die menschliche Ohnmacht hineinführt. Aber eben gerade dadurch wird die Kontinuität des Bösen unterbrochen. Jeder andere Kampf wird sonst von dem Negativen geprägt, das er bekämpft. Die im Schicksal des Kreuzes angenommene Ohnmacht des Gottmenschen ist eine Unterbrechung der Geschichte der Sünde. Sie wird erlebt als eine Geburtsstätte neuer, ohnmächtiger, aber befreiender Lebensformen. Ebenso bleibt das in verschiedener Weise von den Evangelien erzählte Leben Jesu ein Maßstab für das Geschehen der Auferweckung, dessen Zeugenschaft die apostolische Kirche begründet. Denn das Leben Jesu und sein eigenes Zeugnis des Lebens ist so stark, dass die Jünger nicht an sein gekreuzigtes Ende zu glauben vermögen. Die Auferweckung ist zunächst einmal die Auferweckung ihres eigenen Glaubens, nachdem er die Nagelprobe der Kreuzigung zu überstehen hatte. Alle abstrakt begrifflichen Aussagen über das, was christlich sei, müssen wieder an die erzählte Gestalt des Lebens Jesu von Nazaret zurückgebunden werden: Hier liegt der Maßstab für die richtige Interpretation des Kreuzes, für das Verstehen der Auferweckung und schließlich auch für den „Geist" der die Verlebendigung eines gescheiterten Glaubens bewirkt. Die christliche Tradition begreift diese Geschichte als Erkenntnisgeschichte und als Liebesgeschichte. Was mit Erkenntnisgeschichte gemeint ist, lässt sich im Wort „Offenbarung" zusam-

menschließen. Die Liebesgeschichte ist gebunden an den sichtbaren Ausdruck in Lebensformen. Der Geist als die immerwährende Gegenwärtigkeit des Göttlichen in der Liebe gibt den Lebensformen, die sich als Zeugnis der christlichen Offenbarung verstehen, ihre gültige Prägung. Von diesen Lebensformen muss die Rede sein, wenn das Christliche am Christentum verdeutlicht werden soll. Die christlichen Lebensformen, gemessen am erzählten Leben Jesu, greifen nicht auf das Konzept des Familienclans zurück. Auch der Einzelne erscheint nicht als Repräsentation einer Gruppe. Die Berufung durch Jesus von Nazaret erscheint eher als eine Geburtsstätte des Individuums. Der Einzelne löst sich aus seinen sozialen Bezügen und tritt in eine „vermittelte Unmittelbarkeit" zu Gott. Obwohl aus dem Individuellen auch neue Gemeinschaftsformen entstehen, darf man doch niemals das Vorrecht der individuellen Berufung im Zusammenhang mit den christlichen Lebensformen aus dem Auge verlieren. Gerade dadurch wird eine breite Vielfalt in der Geschichte ermöglicht. Geschichtliche Wiederentdeckungen und Neuentdeckungen sind möglich. Sie pflegen aber meistens mit dem Ausdruck eines Individuums zu beginnen. Die leuchtendste Gestalt ist in dieser Hinsicht der heilige Franziskus von Assisi geworden. Aber das morgenländische Mönchtum ist noch reichhaltiger an solchen Ausbruchsgestalten. Die Gemeinschaft wird dadurch nicht überflüssig. Aber sie ist nicht die entscheidende Messgröße. Die christliche Lebensform muss sich nicht organisch ins Ganze einpassen. Zwar wird dies immer wieder kirchlich verlangt und durchgesetzt, aber die spannende und abenteuerliche Vorwärtsbewegung des Christentums geht nicht von der Geschlossenheit, sondern von der Vielfalt aus. In diesem Sinne ist die große Ökumene eine Bereicherung, sind die Konfessionen nicht einfach eine Wunde am Leibe Christi, sondern ein Ausdruck der Fülle von Glaubens- und Lebensformen. In diesen Lebensformen wird die Kunst des Christseins geübt: die Kunst des Neugeboren-

wcrdens aus der Gnade; die Kunst des Sterbens vor dem Tod; die Kunst der Verlebendigung eines Lebens, das ständig von der Erstarrung und von der Verwandlung in Unlebendiges und Totes bedroht ist. Askese, Spiritualität, Mystik und Formen neuen gemeinsamen Lebens sind die reichhaltigen Quellen, in denen das Christliche als Lebensform weitergetragen wird. Sie begrenzen, erschüttern und erneuern zugleich diejenigen, die sich oft als alleinige Sachwalter des Christlichen am Christentum in der Geschichte zu behaupten versuchen: die Kirchen. Zwar gehört es zum christlichen Glauben, dass Kirche unabweisbar und unabänderlich mit Christentum gegeben ist. Aber sie ist eine befragbare Größe, vor allem eine durch die Geschichte von Jesus dem Lebenden befragbare Größe. Kirche in der Nachfolge Jesu von Nazaret kann kein Organismus werden, der den Einzelnen auf dem Altar der Gemeinschaft opfert. Kirche in der Nachfolge Jesu von Nazaret ist vielmehr ein Organ der Solidarität, der lebendigen Glaubenskommunikation und der Ermöglichung einer umfassenden Vielfalt von Lebensformen in der individuellen Nachfolge Jesu Christi. Die Fragen, die sich heute an die christlichen Kirchen stellen: nach der Macht, nach der Modernität, nach der Solidarität mit den Armen, nach der Bewahrung der Schöpfung, nach der Gleichheit der Menschen, nach der Sichtbarkeit der Frauen - alle diese Fragen können auch immer wieder im Namen des Lebens Jesu gestellt werden. Das Christliche am Christentum, so hat es der Neutestamentier Josef Blank einmal geschrieben, ist eine ständige „Krisis" des Bestehenden. Das Bild von Dostojewskis Großinquisitor, der diese Krisis nicht zugestehen will und mit Macht verhindert, selbst auf Kosten der Neuerrichtung eines Kreuzes für Jesus von Nazaret selbst, erneuert die Provokation für unsere Zeit: Das Christentum ist an der Erfahrungsgestalt Jesu zu messen.

Am Anfang steht eine Person Die Antwort des Jesus von Nazaret

von Heinz Zähmt

Er wird in einer Notunterkunft geboren, in der Ecke, auf einer Strohschütte, und die ersten, die davon Kenntnis nehmen, sind Landarbeiter, die Proletarier der Zeit. Gleich nach seiner Geburt muss er mit seiner Familie in die Emigration. Seine Kindheit ist ohne Glanz. Bevor er mit seiner öffentlichen Wirksamkeit beginnt, verzichtet er ausdrücklich auf alle jene Mittel und Attribute, die einem politischen Führer und sozialen Revolutionär Erfolg versprechen: auf Macht, Brot und Spiele. Als sie ihn dann doch einmal zu ihrem Führer machen wollen, entzieht er sich ihnen und enttäuscht sie. Ohne einen Titel oder ein Amt für sich in Anspruch zu nehmen, will er nur die Sache Gottes in der Welt durchsetzen - dafür erscheint es ihm jetzt höchste Zeit, die letzte Gelegenheit. Aber mit dem Anfang ist im Grunde schon entschieden, dass seine Sache schief gehen muss. Gleich sein erstes Auftreten in seiner Heimatstadt endet mit einem Fiasko. Man treibt ihn aus der Stadt hinaus und will ihn lynchen. Er entkommt und zieht als Wanderprediger durch das Land, ohne Riss und festen Wohnsitz. Er predigt denen, die es mit Gott und der Welt schwer und von Theologie keine Ahnung haben. Er ist frei von allen Vorurteilen. Er hält sich zu denen, die die Gesellschaft ausgeschlossen hat, zu den moralisch Verdächtigen und den politisch Unzuverlässigen, und setzt sich mit ihnen an einen Tisch. Aber er geht genauso in die Häuser der guten Bürger, der Theologen und der Frommen. Ihm ist allein an den Menschen gelegen. Darum sind ihm die geltenden kirchlichen Vorschriften im Grunde gleichgültig - manchmal erfüllt er sie, manchmal setzt er sich über sie hinweg. Er hält sich an die Kinder,

nicht an die Juristen. Seine eigene, sehr fromme Familie hält ihn für verrückt und will ihn nach Hause holen. Mit den kirchlichen und politischen Behörden gerät er in Konflikt; sie suchen ihn in bewährter Zusammenarbeit zu liquidieren. Für eine Zeit lang setzt er sich noch einmal ins Ausland ab. Dann aber sucht er bewusst die Entscheidung in der Landeshauptstadt. Im ersten Augenblick scheint es sogar zu gelingen, die Menge jubelt ihm zu - aber dann erfüllt sich an ihm doch das Todesverhängnis, das von Anfang an über ihm geschwebt hat. Einer aus seinem engsten Umkreis denunziert ihn bei der Sicherheitspolizei, die Stimmung der Masse schlägt gegen ihn um, und auch seine letzten Anhänger setzen sich von ihm ab. Von allen im Stich gelassen, hat er Angst vor dem Sterben. Mit den üblichen Methoden geistlich-politischer Justiz wird mit ihm kurzer Prozess gemacht. Die Anklage lautet auf Gotteslästerung und Hochverrat, das Urteil auf Tod. Völlig verlassen geht er den Weg an den Galgen. Er wird gehenkt zusammen mit zwei Verbrechern und stirbt mit den Worten: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Nach seinem Tod aber erkennen seine Anhänger, wer hinter seinem Leben gestanden hat. Seitdem wächst über sein Grab kein Gras mehr.

Während auf Michelangelos bekanntem Bild von der Erschaffung des Menschen zwischen dem Finger Gottes und dem des Menschen ein Abstand bleibt, hat Gottes Finger den Finger Jesu berührt. Dies ist der geschichtliche Grund aller späteren „Christologie". Wann und wie immer dies geschehen sein mag, in jedem Fall ist Jesu ganze Existenz von Gottes Geistesgegenwart bestimmt, gibt er in seinem Selbstbewusstsein Gottes Bewusstsein immer mehr Raum, denkt er von Gott, was Gott selbst von sich denkt. Nicht zufällig wird in den Evangelien immer wieder erzählt, dass Jesus gebetet habe. Die Zwie-

spräche mit Gott ist der Ort der Offenbarung Gottes in Jesu Leben. Von allen Offenbarern, die die Religionsgeschichte kennt, hat Jesus aus Nazaret am kürzesten gewirkt, und auch kein anderer ist so jung gestorben wie er. Ob seine öffentliche Wirksamkeit nach dem Aufriss der Evangelien nur einige Monate oder drei Jahre gedauert hat - in jedem Fall macht er den Eindruck eines Menschen, der nur wenig Zeit hat, der in sehr kurzer Frist etwas ganz Wichtiges, höchst Dringliches auszurichten hat. Der kurzen Dauer seines Wirkens entspricht die Art seines Auftretens. Es liegt etwas Spontanes, Zeichenhaftes in Jesu Erscheinung. Er verkündet kein geschlossenes System, sondern redet in Gleichnissen; er bietet keine festen Formeln an, sondern weist auf Zeichen hin; er vertritt keine ewigen Werte, sondern entscheidet von Fall zu Fall; er vermittelt kein religiöses Wissen, sondern spricht den Einzelnen in seinem Gewissen an; er besitzt kein fertiges Sendungsbewusstsein, sondern hört immer neu auf die Stimme Gottes; er heilt die Welt nicht in Bausch und Bogen, sondern macht einige Kranke gesund; er stiftet keinen neuen Kult, sondern hält Tischgemeinschaft auch mit solchen, die als kultisch unrein gelten; er gründet keine religiöse Organisation, sondern beruft einzelne Menschen in seine Nachfolge. Alles in allem haben Jesu Verkündigen und Verhalten etwas Draufgängerisches an sich. Er geht zu den Menschen hin und redet zu ihnen nicht über Gott, sondern spricht ihnen Gott zu. Er sagt nicht, wie Gott an sich ist, sondern wie er an den Menschen handelt. Die Wahrheit ist für ihn stets konkret. Jesus hat unter den Bedingungen der Existenz des Menschen in der Welt die Liebe Gottes geglaubt und bis ans Ende ausgelebt. Man kann von ihm anhand der neutestamentlichen Überlieferung ohne Mühe zwei verschiedene Bilder entwerfen:

Auf der einen Seite ein Jesus, der ganz und gar auf Gott bezogen lebt, der von sich sagt, dass es seine Speise sei, den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat, der das Recht, Gott „Vater" zu nennen, für sich in exklusiver Weise in Anspruch nimmt, der in jeder Stunde seines Lebens auf Gottes Stimme lauscht, der jedes Wort, das er sagt, und jedes Werk, das er tut, aus Gottes Mund und Hand empfängt, der sich den Menschen immer wieder entzieht und dann die Nacht einsam im Gebet verbringt, kurzum, der sich allein Gott verpflichtet weiß und nichts anderes im Sinn hat, als die Menschen gleichfalls zum Glauben an Gott zu ermutigen. Dem steht ein Jesus gegenüber, der ganz und gar den Menschen zugewandt ist, der sich in Kreise wagt, in die kein Frommer geht, der aus Liebe zu den Menschen sogar Gottes Gebot übertritt, der für die Armen und Entrechteten Partei ergreift, der sich mit solchen, die die Gesellschaft verachtet und ausgestoßen hat, an einen Tisch setzt, der für Frauen und Kinder eintritt und sich schützend selbst vor Prostituierte und Ehebrecherinnen stellt, der Kranke heilt, Hungrige speist und sogar die Feinde lieben heißt, kurzum, der sich auch noch des geringsten Menschenkindes annimmt und alle Menschen auffordert, es ihm in alldem gleichzutun. Was diese beiden scheinbar widersprüchlichen Erscheinungsweisen zusammenhält und zum einheitlichen Bild verbindet, ist Jesu Gottesverkündigung. Jesu verkündet die Menschlichkeit Gottes als den Kern seiner Göttlichkeit: dass er ein menschenfreundlicher Gott ist - ein Deus humanus, der Deus humanissimus der Religionsgeschich te. Jesus offenbart nicht einen neuen Gott, sondern den Gott seiner Väter, wie er ihm in seiner Bibel begegnet ist, aber er verkündigt ihn anders und neu und führt so die alttestamentliche Gottesbotschaft ans Ziel. Während Johannes der Täufer die Menschen zu sich in die Jordansteppe hinauskommen lässt, um sie zur Rettung vor dem drohenden Strafgericht Gottes zu taufen, wandert Jesus

durch die Städte und Dörfer des jüdischen Landes, von Ort zu Ort, und sucht die Menschen auf. In diesen Wanderungen kreuz und quer durch das Land spiegelt sich seine Gottesverkündigung topographisch wider. Der von ihm gepredigte Gott geht den Menschen nach und trachtet sie vor seinem eigenen Gericht zu bewahren. So ist Jesus in eins Gleichnis Gottes und des Menschen. Seine Sensibilität für Gott treibt ihn in die Solidarität mit den Menschen. Nur wer diesen doppelten Überstieg, diese zweifache Transzendenz in seinem Leben und Wirken festhält, hat seine Person und Botschaft wahrhaft erfasst. Jesus empfängt sich selbst ganz und gar von Gott - darum bekennt die Kirche ihn als den „Sohn"; und er gibt sich ganz und gar an die Menschen hin - darin erweist er sich als unser „Bruder". Der Mensch für Gott ist zugleich der Mensch für andere - darin hat er nicht seinesgleichen. Und darum ist er nicht bloßer Mensch, sondern der wahre Mensch - der „Erstgeborene unter vielen Geschwistern", wie der Apostel Paulus ihn genannt hat. Ursprung und Kern seiner Botschaft von Gott bildet Jesu eigene Gotteserfahrung. In seinem Verkündigen und Verhalten hat er nichts anderes getan als sein persönliches Gottesverhältnis ausgelebt. Seine Worte und Taten sind wie die Bruchstücke einer großen Konfession. Was er für sich selbst von Gott erkannt hat, das teilt er mit, damit auch andere daran teilhaben. Sein von ihm erworbenes Wissen von Gott soll allen Menschen zugute kommen, damit sie gleichfalls zur Gottesgewissheit gelangen und endgültig Bescheid wissen, wer und wie Gott in Wahrheit ist. Gott zur Sprache zu bringen, dazu weiß Jesus sich gesandt. Es ist, als reiße Jesus den Horizont der Religionsgeschichte auf. Der Eintritt ins Heiligtum war stets und ist heute noch an die Erfüllung bestimmter Einlassbedingungen geknüpft. Immer stand und steht noch heute am Tempeltor, sichtbar oder unsichtbar, ein Priester und fragt nach dem Sichtvermerk im

Religionspass: Gott darf sich nur nahen, wer Gottes und der Kirche würdig ist! Jesus dagegen ladet jedermann und jedefrau bedingungslos zu Gott ein: „Kommt zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid." Gott will da sein für alle, für jeden so, wie er ihn nötig hat und braucht, insonderheit für die, die bislang ausgeschlossen schienen von seinem Heil und Reich: für die Entrechteten und Zukurzgekommenen, die kein Glück im Leben gehabt haben und sich deshalb von Gott und den Menschen verraten fühlen - für die Armen, die aus lauter Daseinsvorsorge keine Zeit und Kraft mehr für Religion haben - für die Frauen, die von ihren Männern zum Ding erniedrigt und als Lustobjekt missbraucht werden - für die Zöllner, die als Verzichtspolitiker und vaterlandslose Gesellen gelten. Ihnen allen verbürgt Jesus Gottes Nähe - so, wie er sie selbst erfahren hat. Seinen sichtbaren, geradezu zeichenhaften Ausdruck hat Jesu offener, vorurteilsloser Umgang mit allen Menschen, selbst den religiös Verachteten und gesellschaftlich Ausgestoßenen, in den gemeinsamen Mahlzeiten gefunden, die in seinem Leben einen so auffälligen Platz einnehmen und von seinen Gegnern als ein Affront empfunden werden. Im gemeinsamen Mahl verdichtet sich der Kern des Evangeliums Jesu zum Sinnbild: Dass Menschen, die sonst durch vielerlei Schranken - religiöse, moralische, soziale und politische voneinander getrennt sind, an einem Tisch zusammensitzen und miteinander essen, trinken, beten und erzählen, weist auf den Einen hin, der sie zusammengeführt hat und in ihrer Mitte sitzt. In der Mitmenschlichkeit dieses Einen aber spiegelt sich die Menschenfreundlichkeit Gottes wider. Seine Erfahrung der unmittelbaren Nähe Gottes drückt Jesus in zwei religiösen Symbolen aus, die in seinen Reden ranggleich nebeneinander stehen. Er nennt Gott „Vater" und spricht in der Hoffnungssprache seiner Zeit vom „Reich Gottes". Beide Symbole wollen den Menschen Mut zum Glauben machen und ihnen neue Hoffnung geben. Und schon die leiseste Be-

wegung in Richtung auf Gott, allein schon die Geste der Hilflosigkeit und das Innewerden des Angewiesenseins bezeichnet Jesus als Glauben. Wo immer Menschen sich durch ihn zum Glauben ermutigen lassen, dort ist seine Verkündigung ans Ziel gelangt. Denn der Glaube an Gott ist ihr ganzer Inhalt. Seine Gemeinde hat ihn deshalb später den „Anfänger und Vollender des Glaubens" genannt - zutreffender hätte sie den Sinn seiner Sendung kaum ausdrücken können. Für die Zuwendung Gottes zu den Menschen, wie Jesus sie in seiner Predigt verkündigt und in seiner Lebenspraxis der Mitmenschlichkeit bewahrheitet, steht im Neuen Testament das Wort „Liebe". Liebe - das bedeutet: Gott selbst im Auftritt gegen die Entmenschlichung des Menschen, abzulesen an Jesu Eintreten für alle Menschen. Immer geschieht auf seinen Wanderungen deshalb beides: Er predigt den Menschen das Evangelium vom Reich Gottes und heilt ihre Gebrechen. Diese Einheit zwischen Gottes- und Nächstenliebe findet ihren Ausdruck in zwei Sätzen aus zwei verschiedenen Gleichnissen Jesu, deren Zusammenklang das „Christliche im Christentum" ausmacht, Mitleid und Erbarmen: Im Gleichnis vom Verlorenen Sohn heißt es vom Vater: „Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und wurde von Erbarmen bewegt, lief herbei, fiel ihm um den Hals und küsste ihn." Dieser Satz kehrt im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter fast wörtlich wieder: „Ein Samariter aber, der des Weges zog, kam in seine Nähe, sah ihn und wurde von Mitleid bewegt." Beide Male ist von einem Weg die Rede, von einem Sehen und Sich-Erbarmen und Sich-auf-den-Weg-Machen. Die Bewegung, die der Vater auf den heimkehrenden Sohn hin macht, wird aufgenommen und gleichsam spiegelbildlich fortgesetzt in der Bewegung des barmherzigen Samariters auf den am Wege Liegenden hin. Wie sich der Vater über den heimkehrenden Sohn hinabbeugt und ihn an sich zieht, so geht auch der

Samariter zu dem unter die Räuber Gefallenen, beugt sich über ihn und hebt ihn auf. Was seine eigene Person betrifft, so hat Jesus Zurückhaltung geübt. Er hat nicht sich selber gepredigt. Seine Gottesbeziehung aktiviert sich allein in seiner Gottesverkündigung. Er ist an Gottes Wirklich- und Wirksamwerden interessiert, nicht an seiner Selbstverwirklichung. Durch alles, was er redet und tut, konfrontiert er die Menschen unmittelbar - ohne Zwischeninstanz - nur durch sich selbst mit Gott. Indem er Menschen in seiner Nachfolge zum Glauben ruft, versetzt er sie in Gottes Gegenwart... Es konnte mit Jesus aus Nazaret kein gutes Ende nehmen. Von Anbeginn hat das Todesgeschick über seinem Leben gehangen. Es war nicht von Ewigkeit her vorgesehen, aber es war von Anfang an abzusehen. Nicht Gott hat Jesus ans Kreuz gebracht, das haben die Menschen getan. Jesu Tod war die logische Konsequenz seines Lebens. Er hat ihn durch sein Verkündigen und Verhalten provoziert: „Wie er die Seinen geliebt hat, so liebte er sie bis ans Ende." Aber niemand würde dem Kreuz Jesu jemals göttliche Bedeutung beigemessen haben, ja kein Mensch würde heute von Jesus überhaupt noch reden, wenn sich hinterher nicht jene Erfahrungsereignisse zugetragen hätten, die der Glaube als „Auferweckung Jesu" gedeutet hat. Mit ihnen hat sich Jesu Jüngern und Jüngerinnen bestätigt, dass sein Glauben und Verkündigen nicht seinem eigenen bewegten Herzen entsprang, sondern einer Bewegung Gottes selber entsprach. Künftig gehören Gott, Glaube und Jesus unzertrennlich zusammen. Darum ist die Geschichte Jesu aus Nazaret - trotz der Kreuzigung - nicht zu Ende, sondern geht weiter: Die Botschaft gilt! Die von Gott selbst entfachte Glaubensbewegung setzt sich fort bis zu ihrer Vollendung. Jesus bleibt.

Jesus aus Nazaret ist der Gründer der von ihm entfachten endzeitlichen Glaubens- und Sammlungsbewegung und seine Botschaft damit der Grund der Kirche, aber er ist nicht der Gründer der Kirche. Die Kirche als Institution war von ihm nicht vorgesehen, ihre Entstehung aber war abzusehen. Sie ist gleichzeitig aus Not und Notwendigkeit geboren: aus Not, weil die durch Jesus entfachte Glaubensbewegung sich sonst wieder verlaufen hätte; aus Notwendigkeit, weil der geschichtliche Impuls des Anfangs, seine „Vorläufigkeit", um in Gang zu bleiben, institutionell stabilisiert werden musste. Und so ist fast von selbst die Kirche „gekommen", ein geschichtliches Gebilde, das, wie alle Gebilde in der Geschichte, seinen Bestand in der Welt mit den Mitteln der Welt behauptete. Damit vollzog sich jener Übergang, den Max Weber „Veralltäglichung des Christentums" genannt hat. Aus der Offenbarung wurde gleichzeitig eine Überlieferung, aus dem Wort Gottes eine menschliche Urkunde, aus dem Heiligen Geist eine Amtsvollmacht, aus der Liebe Recht und Moral, aus dem Leib Christi eine Körperschaft, aus der Nachfolge Jesu eine kirchliche Laufbahn. Trotzdem bleibt die Kirche in einem ständigen Auf und Ab, immer wieder nur durch den Bruch hindurch das „Aufgebot des Glaubens" in der Welt. Wo immer Jesus als der Christus Gottes in der Welt verkündigt wird, dort bricht er selbst, der Anfänger und Vollender des Glaubens, in eine Zeit ein, um den Glauben in den Menschen zu vollenden. Jesus aus Nazaret gibt Antwort und damit Mut zum Leben in Bezug auf drei Fragen, die untrennbar voneinander sind: 1. Er gibt Antwort auf die Frage nach der Gegenwart Gottes in der Welt und ermutigt uns, an Gott zu glauben - trotz der scheinbaren Abwesenheit Gottes in der Welt. 2. Er gibt Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens in der Welt und ermutigt uns, Sinn zu suchen und zu bekennen angesichts von Schuld, Leid und Tod in der Welt.

3. Er gibt Antwort auf die Frage nach der Zukunft des Menschen in der Welt und ermutigt uns, die Welt menschlicher gestalten zu helfen - angesichts der Unmenschlichkeiten in der Welt. „Er geht auf die Namenssuche. Der halbe Satz, die erste Hälfte des Satzes - das ist Jesus; die andere Hälfte ist der Gläubige. Erst beide zusammen bezeugen Jesus Christus. Denn nun ist er wahrhaftig auferstanden, weil du seinen Satz zu Ende sprichst" (Eugen Rosenstock-Huessy).

Was bringt die Auferstehung Neues? Meine Erfahrung - meine Hoffnung

von Jörg Zink

Was bringt die Auferstehung des Christus Neues? Hat er die Auferstehung neu in die Geschichte der Menschheit hineingebracht? Sind die Menschen vor Christus nicht auferstanden? Beginnt also mit Christus überhaupt erst dieser Überstieg von Raum und Zeit und jenes Dasein in der ganz anderen Dimension? Ich kann mir das nicht vorstellen. Seit der Steinzeit haben Religionen in allen Erdteilen gewusst, dass ein sterbender Mensch ein andersartiges Leben vor sich hat, das diesem Leben folgt. Ich glaube, dass die Auferstehung eine Tatsache ist, die in der Schöpfung mit gesetzt war und ist und die die Menschen immer wieder ausgedrückt haben, indem sie taten, was auch die taten, die die Ostergeschichte überlieferten: eine überwältigende Erfahrung in hilflose Bilder zu kleiden. Was bringt uns dann die Auferstehung des Christus Neues? Bemerkenswert bleibt, dass alle Osterberichte davon sprechen, die Menschen hätten Worte gehört, die Christus ihnen zusprach. Das bedeutet, dass die entscheidende Ebene, auf der solche Erfahrungen gemacht werden, nicht die des Sehens ist, sondern die des Hörens. Wir wollen immer wieder sehen, wie Thomas, und hören immer wieder: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben." Das heißt: Selig sind, die ein waches Ohr haben. Was hörten sie damals, und was hören wir heute? „Friede sei mit euch" hören sie. Stoßt eure Köpfe nicht wund an eurer Angst vor dem Tode. Schaut ihn an, er ist nicht das Ende. Er ist eine Tür, die anderswohin führt. Er ist nicht euer Feind. Geht ihm entgegen wie einem Gast, der euch be-

sucht, mit dem Gruß des Friedens. „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" hören sie. In mir ist Gott nahe. Ihr seid nicht verlassen, was immer geschehen kann. Ihr braucht nur den Mund aufzutun, so hört Gott. „Nehmt hin den heiligen Geist" sagt er, den Geist der Lebendigkeit, der Kraft, den Geist des Mutes und der Hoffnung, den Geist der Liebe und des Verstehens. Ihr seid niemandem gegenüber isoliert. Wer immer vom Geist Gottes erfüllt ist, lebt, wirkt im Großen oder im Kleinen, hilft, tröstet, rät oder deutet, was geschieht. Er verändert die Welt. Er öffnet sie und gibt den Menschen den Blick hinüber in ihre Zukunft. „Macht zu Jüngern alle Völker", sagt er. Und gibt uns den Auftrag, unbekümmert, ob unser Wort passt oder nicht, zu sagen, was wir glauben und was uns mitgegeben ist. Was Christus auf dieser Erde gesagt hat, das gilt nun. Das ist nicht eine Zeiterscheinung gewesen unter anderen. Das gilt. Der Auftrag, den er während seines irdischen Lebens gegeben hat, war von Gott, und er will seine Fortsetzung: Was ich auf dieser Erde gesagt habe, behält seine Wahrheit. Ihr selbst, die mich hören, werdet, wenn ihr sterbt, in ein neues Leben eintreten, nicht einfach in eine ewige Langeweile, sondern in ein von Gottes Geist bewegtes, das neue Ziele und Aufträge gibt, in Richtung auf das Gottesreich, bis endlich Gott alles in allem sein wird. Ihr werdet hinübergehen mit allem Unfertigen an euch, mit allen Wunden, die euch das Leben geschlagen hat. Ihr werdet erwachen als schauende, wissende, erkennende Söhne und Töchter Gottes. Ihr werdet dem Licht und der Liebe Gottes begegnen. Nicht so, dass ihr nach Jahren oder Jahrhunderten wieder auf diese Erde zurückkommen, euch reinkarnieren und ein neues Erdenleben beginnen werdet. Davon habe ich nie etwas gesagt. Sondern so, dass eine Wandlung in euch geschieht in immer größerer Freiheit und Weite, in ein immer näheres und stärkeres Leben in Gott. Darum: „Friede sei mit euch." - Das Entscheidende an Ostern war und ist, was Christus in jenen Tagen danach gesagt hat.

Ein Nebengedanke: Die Kirche hat in ihrer Geschichte immer wieder Wert auf die „Auferstehung des Leibes" gelegt. Sei wollte damit etwas Einfaches sagen. Der Leib war für den antiken und den mittelalterlichen Menschen das Merkmal der Person, das Merkmal seiner Einheit, seiner Unverwechselbarkeit, seiner Eigenheit. Die Christen früherer Jahrhunderte wandten sich, wenn sie von der Auferstehung des Leibes sprachen, gegen die Vorstellung mancher Mystiker, der Mensch werde sich nach seinem Tode in Gott auflösen, wie ein Wassertropfen sich im Meer auflöst. Sie wollten sagen: Nein, der Mensch behält sein Wesen und seine Eigenheit, sozusagen seinen Umriss als Person. So redeten sie von einem „geistigen Leib" ähnlich wie die ersten Christen in ihren Osterberichten von der Befreiung des Christus sprachen, indem sie von einem Stein erzählten, der weggewälzt worden sei. Der „Leib", der auferstehen wird, ist ein Bild, das an unserem hiesigen Dasein abgenommen wird. Für uns heute gehört der Gedanke von der Auferstehung des Leibes zu den entbehrlichen Stücken des christlichen Glaubens. Ich möchte sagen, was ich glaube. Jeder, der dies liest, hat die Freiheit, es sich anders vorzustellen. Daran liegt nicht viel. Die Welt, in die wir eintreten werden, wird eine Welt sein ohne die primitiven Maße von Raum und Zeit. Ich stelle mir eine andere Art von Beweglichkeit vor, als sie uns vertraut ist, von einem Ort des Raumes zum anderen, und eine andere Art von Ewigkeit als die, die wir uns hier ausmalen. Ewigkeit ist für uns hier die Vorstellung einer unendlich langen Zeit. Sie wird mit Zeit aber nichts mehr zu tun haben. „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen", sagt Jesus. Viele menschliche Gedanken und Vorstellungen werden dort Raum finden, und sie werden alle überwunden sein. Darum streitet nicht darüber. „Friede sei mit euch" sagt uns der Auferstandene. Am dritten Tag, nachdem sie den Stein versiegelt hatten, geschah der Aufbruch. Es begann ein neuer Weg. Und wir hören Jesus sagen: Wenn du deinen Weg finden willst, dann geh

zu den Menschen und sage ihnen, was du von der Auferstehung der Toten weißt. Gib die Wahrheit weiter, die du an mir erkannt hast. Schaffe nicht dem Tod Raum, sondern dem Leben. Lass die Angst hinter dir und die Müdigkeit und komme mir entgegen auf deinem Weg, dem Weg, der dir von Gott bestimmt und eröffnet ist.

Wie soll ich meine Seele retten? Aufrichtige Erzählung eines russischen Pilgers

Anonym

Ich, nach der Gnade Gottes ein Christenmensch, meinen Werken nach ein großer Sünder, meiner Berufung nach ein heimatloser Pilger, niedersten Standes, pilgere von Ort zu Ort. Folgendes ist meine Habe: auf dem Rücken trage ich einen Beutel mit trockenem Brot und auf der Brust die Heilige Bibel; das ist alles. In der vierundzwanzigsten Woche nach Pfingsten kam ich in eine Kirche zur Liturgie, um dort zu beten; gelesen wurde aus der Epistel an die Thessalonicher im fünften Kapitel der siebzehnte Vers; der lautet: Betet ohne Unterlass. Dieses Wort prägte sich mir besonders ein, und ich begann darüber nachzudenken, wie man wohl ohne Unterlass beten könne, wenn doch ein jeder Mensch auch andere Dinge verrichten muss, um sein Leben zu erhalten. Ich schlug in der Bibel nach und sah dort mit eigenen Augen dasselbe, was ich gehört hatte, und zwar, dass man ohne Unterlass beten, bei allem Gebet und Flehen allezeit im Geiste beten und darin wachen muss in Ausdauer und allerorts mit zum Gebet erhobenen Händen. Ich dachte viel darüber nach, wusste aber nicht, wie das zu deuten sei. ,Was tu ich nun?' dachte ich bei mir. ,Wo finde ich einen, der es mit deutet? Ich will in Kirchen gehen, die im Rufe stehen, gute Prediger zu haben; gewiss werde ich dort eine Unterweisung finden.' Und so tat ich. Ich hörte da sehr viele gute Predigten über das Gebet. Doch waren es Belehrungen über das Gebet im Allgemeinen: was das Gebet ist, wie man beten soll, welche Frucht das Gebet bringt; darüber aber, wie man im Gebet fortschreiten könne, redete niemand. Wohl war da einmal eine Predigt über das Gebet im Geist und über das un-

ablässige Gebet; doch wurde nicht gesagt, wie man zu diesem Gebet gelangen könne. So brachte mich denn das Hören der Predigten nicht zu dem Gewünschten. Als ich mich daher an ihnen satt gehört und keine Vorstellung bekommen hatte, wie man ohne Unterlass beten soll, hörte ich auf, die öffentlichen Predigten zu besuchen, beschloss aber, mit Gottes Hilfe nach einem erfahrenen und wissenden Mann zu suchen, der mir das Beten ohne Unterlass erklären könnte, da ich mich ja eben zu diesem Wissen so unverwandt hingezogen fühlte. So pilgerte ich lange von Ort zu Ort; las immer die Bibel und forschte, ob es nicht irgendwo einen geistigen Lehrer oder einen frommen, erfahrenen Führer gäbe. Nach einiger Zeit sagte man mir, dass in einem Dorf seit langer Zeit schon ein Herr lebe und dort ein frommes Leben führe, um seine Seele zu retten: Er habe in seinem Haus eine Kirche, ginge niemals aus und bete immer zu Gott und lese ohne Unterlass in Büchern, die das Seelenheil fördern. Da ich dies hörte, ging ich nicht, nein, ich lief in das mir genannte Dorf; ich kam hin und fand dort auch den Gutsbesitzer. „Was ist es, was dich zu mir führt?" fragte er mich. „Ich habe gehört, dass Sie ein frommer und kluger Mann sind; darum bitte ich Sie auch, um Gottes willen, mir zu erklären, was es heißt, wenn der Apostel sagt: Betet ohne Unterlass, und auf welche Weise man auch ohne Unterlass beten kann. Ich wünsche sehr, dies zu erfahren, kann ich es doch ganz und gar nicht verstehen." Der Herr schwieg, blickte mich aufmerksam prüfend an und sagte: „Das unablässige, innere Gebet ist das ununterbrochene Streben des menschlichen Geistes zu Gott. Um in dieser süßen Übung fortzuschreiten, ist es erforderlich, möglichst oft Gott zu bitten, er möge einen lehren, ohne Unterlass zu beten. Bete mehr und mit größerer Inbrunst; das Gebet selber wird dir offenbaren, auf welche Weise es ohne Unterlass gebetet werden kann; alles kommt zu seiner Zeit."

Nachdem er dies gesagt, ließ er mir Essen bringen, gab mir eine Wegzehrung und entließ mich. So hatte er es mir denn nicht gedeutet. Da ging ich denn wieder meines Weges; ich dachte und dachte, las und las, grübelte und überlegte, was mir der Herr gesagt hatte, und konnte es doch nicht verstehen; ich wollte es aber sehr verstehen, so sehr, dass ich in den Nächten keinen Schlaf fand. An zweihundert Werst mochte ich so gepilgert sein und kam dann in eine große Gouvernementsstadt. Ich sah dort ein Kloster. Ich machte in einer Herberge Halt und erfuhr, dass der Abt dieses Klosters sehr gütig, fromm, gastfreundlich sei und Pilger bei sich aufnähme. Ich ging zu ihm; er nahm mich freundlich auf, hieß mich Platz nehmen und wollte mich speisen. „Heiliger Vater", sagte ich, „Eure Bewirtung ist mir nicht vonnöten. Ich wünschte aber, dass Ihr mir eine geistliche Unterweisung erteilt, wie ich meine Seele retten soll." „Wie du deine Seele retten sollst? Handle nach den Geboten und bete zu Gott, dann wirst du auch gerettet werden." „Ich höre, dass man ohne Unterlass beten soll, weiß aber nicht, wie man ohne Unterlass betet, und kann es gar nicht mal fassen, was es bedeutet, ohne Unterlass zu beten. Ich bitte Euch, mein Vater, erklärt mir das." „Ich weiß nicht, lieber Freund, wie ich es dir noch erklären sollte. Doch halt, ich habe hier ein Buch, da ist es erklärt." Und er brachte mir des heiligen Dimitrij „Geistliche Unterweisung des inneren Menschen". „Lies mal hier auf dieser Seite." Ich las Folgendes: „Die Apostelworte ,Betet ohne Unterlass' sind zu verstehen als ein Gebet, das im Geist verrichtet wird; denn der Geist kann immer in Gott eindringen und kann ohne Unterlass zu ihm beten." „Erklärt mir das, auf welche Weise der Geist immer in Gott eindringen kann, nicht abgelenkt wird und unablässig betet."

„Dies ist überaus schwierig, es sei denn, dass es einem Gott selber gibt", sagte der Abt. Und so erklärte er es mir nicht. Nachdem ich bei ihm übernachtet und ihm am Morgen für die freundliche Aufnahme gedankt, machte ich mich wiederum auf den Weg und wusste selber nicht, wohin. Mein Nichtverstehen bekümmerte mich. Und um das Herz zu erfreuen, las ich die Heilige Bibel. So ging ich fünf Tage lang auf einer Landstraße; endlich holte mich gegen Abend ein altes Männchen ein, allem Anschein nach geistlichen Standes. Auf meine Frage sagte mir der Alte, er sei Eremit und lebte in einer Einsiedelei, die zehn Wert entfernt läge, abseits von der Landstraße, und er forderte mich auf, mit ihm in seine Einsiedelei zu kommen. „Bei uns", sagte er, „werden Pilger aufgenommen, werden beruhigt und zusamt anderen Frommen in einem Gasthof gespeist." Ich wollte aus irgendeinem Grunde nicht dorthin und antwortete also auf seine Einladung: „Meine Ruhe hängt nicht von der Herberge ab, sondern von einer geistlichen Belehrung; auch auf Nahrung bin ich nicht bedacht, denn ich habe in meinem Beutel noch viel Hartbrot." „Und was ist es denn für eine Belehrung, die du suchst? Was ist es, was du nicht verstehen kannst? Komm nur, komm, lieber Bruder, zu uns; wir haben erfahrene Starzen, die können dich wohl geistig speisen und dir den rechten Weg zeigen im Lichte des Wortes Gottes und der Unterweisung der heiligen Väter." „Ja, seht, Vater, es mag ein Jahr her sein, dass ich in der Messe bei der Epistelverlesung das Gebot hörte: Betet ohne Unterlass. Da ich dies nicht verstehen konnte, begann ich in der Bibel zu lesen. Und auch dort fand ich an vielen Stellen das Gebot Gottes, man soll ohne Unterlass beten, immer zu jeder Zeit, an jedem Ort, nicht nur bei jeglicher Beschäftigung, nicht nur im Wachen, sondern sogar im Schlaf. ,Ich schlafe, aber mein Herz wacht' (Hld 5, 2). Dies setzte mich sehr in Erstaunen, und ich konnte nicht verstehen, wie man dieses

erfüllen kann und welche Wege dahin führen; ein lebhaftes Wünschen und Neugierde wurden in mir wach; Tag und Nacht kam mir dies nicht aus dem Sinn. Darum bin ich hier in verschiedene Kirchen gegangen und habe Predigten über das Gebet gehört; aber so viele Predigten ich auch gehört habe, fand ich doch in keiner eine Belehrung, wie man ohne Unterlass beten müsse; immer war nur die Rede von der Vorbereitung zum Gebet oder von den Früchten des Gebets und dergleichen, es war da aber keine Unterweisung, wie man ohne Unterlass beten soll und was ein solches Gebet zu bedeuten habe. Ich habe oft in der Bibel gelesen und an ihr das Gehörte nachgeprüft; ich habe aber dabei nicht die gewünschte Erkenntnis gefunden. So bin ich denn bis hiero in Unwissenheit und Unruhe verblieben." Der Starez bekreuzigte sich und begann also: „Danke Gott, geliebter Bruder, dass er dir dieses unüberwindliche Verlangen nach der Erkenntnis des unablässigen inneren Gebetes offenbarte. Erkenne hierin die Berufung Gottes und sei stille, nachdem du dich davon überzeugt hast, dass bis zu dieser Stunde eine Prüfung dir auferlegt ward, ob dein Wille auch der Stimme Gottes gehorcht, und da dir gegeben ward zu verstehen, dass man nicht durch die Weisheit dieser Welt und nicht durch äußeren Wissensdurst das himmlische Licht, das unablässige innere Gebet erlangen kann, sondern im Gegenteil: durch die Armut des Geistes und durch tätige Erfahrung wird es einfältigen Herzens erworben. Darum ist es auch gar nicht erstaunlich, dass du von dieser wichtigen Sache des Gebets nichts vernehmen und die Wissenschaft nicht erfahren konntest, wie man dazu gelange, ohne Unterlass in dem Tun desselbigen zu beharren. Und dann, um die Wahrheit zu sagen, obwohl nicht wenig über das Gebet gepredigt wird und es auch viele Lehrmeinungen verschiedener Schriftsteller darüber gibt, so unterweisen diese doch, sofern ihre Erörterungen zumeist auf Verstandeserkenntnis, auf Erwägungen der natürlichen Anschauung, nicht aber der tätigen Erfahrung

beruhen, eher über alles, was zum Gebete gehört, als über das Wesen des Gegenstandes selber. So mancher weiß wundervoll über die Notwendigkeit des Gebets zu sprechen; ein anderer wieder über seine Kraft und seine Segnungen; ein dritter über die Mittel, die zu vollkommenem Gebet führen, das heißt darüber, dass es fürs Gebet des Eifers, der Aufmerksamkeit, der Herzenswärme, keuschen Denkens, der Versöhnung mit den Feinden, der Demut, der Zerknirschung und dergleichen bedarf. Aber was ist das Gebet? Und wie lernt man beten? Für diese obwohl allerwichtigsten Fragen wird man bei den Predigern unserer Zeit sehr selten ausführliche Erklärungen finden können, und zwar deshalb, weil solche Erklärungen schwieriger zu erfassen sind als alle oben hergezählten Erörterungen, auch bedürfen sie eines geheimen geheiligten Wissens, nicht nur einer schulmäßigen Gelehrtheit. Am beklagenswertesten ist aber, dass die eitle, natürliche Klugheit einen nötigt, Gott mit menschlichem Maß zu messen. Viele urteilen über das Gebet ganz verkehrt, wenn sie glauben, dass die vorbereitenden Mittel und die frommen Werke das Gebet erzeugen, nicht aber das Gebet diese frommen Werke und alle Tugenden gebiert. In diesem Falle verstehen sie die Früchte oder die Folgen des Gebets nicht richdg als Mittel und Wege zu ihm hin und erniedrigen eben hierdurch des Gebetes Kraft. Und dieses läuft der Heiligen Schrift ganz zuwider; denn der Apostel Paulus unterweist im Gebet mit folgenden Worten:,Darum ermahne ich vor allem, dass Gebete geschehen' (1 Tim 2,1). Hier, nach diesem Wort des Apostels, besteht die erste Unterweisung im Gebet darin, dass er das Gebet an allererste Stelle rückt: Darum ermahne ich vor allem, dass Gebete geschehen. Es gibt viele fromme Werke, die vom Christen verlangt werden, aber das Werk des Gebets muss vor allen anderen Werken stehen, denn ohne das Gebet kann kein anderes gutes Werk verrichtet werden. Unmöglich ist es, ohne Gebet den Weg zu Gott zu finden, die Wahrheit zu erkennen, das Fleisch mit seinen Leidenschaften und Lüsten zu kreuzigen, sein Herz mit dem Lichte

Christi zu durchleuchten und die selige Verbindung mit Gott zu finden. Dies alles kann nicht geschehen ohne vorausgehendes häufiges Gebet. Ich sage häufiges Gebet, denn die Vollkommenheit und Richtigkeit des Gebets geht über unsere Möglichkeiten hinaus, wie der Apostel Paulus sagt: ,Denn wir wissen nicht, um was wir beten sollen, wie es sich ziemt' (Rom 8,26). Folglich ist nur die Häufigkeit, die Unablässigkeit als Mittel unserem Vermögen zugefallen, um zur Reinheit des Gebetes zu gelangen, welche die Mutter eines jeden geistigen Gutes ist. Wirb um die Mutter, und sie wird dir Kinder gebären, sagt der heilige Isaak der Syrer; lerne das erste Gebet dir zu eigen zu machen, und leicht wirst du dann alle Tugenden erlangen. Hierüber aber bestehen nur unklare Vorstellungen, und wer mit der Übung und mit den tiefen inneren Lehren der Väter nicht vertraut ist, wird wenig darüber sagen können." So redend, waren wir unvermerkt fast bis zur Einsiedelei gekommen. Um diesen weisen Starez nicht aus den Augen zu verlieren, sondern möglichst schnell eine Erfüllung meines Wunsches zu finden, beeilte ich mich, ihm zu sagen: „Erweist mir die Güte, ehrwürdiger Vater, erklärt mir, was bedeutet das - unablässiges innerliches Gebet, und wie kann man es erlernen; ich sehe, dass Ihr es genau und aus Erfahrung kennt." Der Starez nahm diese meine Bitte voller Liebe entgegen und forderte mich auf, zu ihm zu kommen: „Komm jetzt zu mir, ich will dir ein Buch der heiligen Väter geben, und auf Grund dieses Buches wirst du mit Gottes Hilfe klar und genau verstehen und beten lernen." Wir betraten die Klause und der Starez sagte Folgendes: „Das unablässige innerliche Jesusgebet ist das ununterbrochene, unaufhörliche Anrufen des göttlichen Namens Jesu Christi mit den Lippen, mit dem Geist und mit dem Herzen, wobei man sich seine ständige Anwesenheit vorstellt und ihn um sein Erbarmen bittet bei jeglichem Tun, allerorts, zu jeder Zeit, sogar im Schlaf. Es findet seinen Ausdruck in folgenden Wor-

ten: Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner! Wenn sich nun einer an diese Anrufung gewöhnt, so wird er einen großen Trost erfahren und das Bedürfnis haben, immer dieses Gebet zu verrichten, derart, dass er ohne dieses Gebet gar nicht mehr leben kann, und es wird sich ganz von selbst aus ihm lösen. Verstehst du nun, was das unablässige Gebet ist?"

„Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt..." Einheit von Nächsten- und Gottesliebe

von Karl Rahner Wir begegnen vielen Menschen, die nicht ausdrücklich Christen sind und es nicht einmal sein wollen. Nehmen wir an, ein solcher Mensch würde wirklich in einer letzten radikalen Selbstlosigkeit lieben, den Nächsten, seinen Bruder, jemanden, den er sieht, lieben, was ist dann eigentlich geschehen? Ist das nur eine sehr gute, anerkennenswerte Sache, woran im Letzten aber doch noch das meiste fehlt, oder ist da ein letztes Verhältnis zu Gott schon gefunden, das sich zwar entfalten, das gewissermaßen seinen Namen bekommen sollte, das in seinen letzten unausdrücklichen, aber gegebenen Dimensionen auf Gott hin erst noch ausgemessen und benannt werden sollte, aber das doch wirklich schon da ist? Und eben dies meine ich, wenn ich sage, dass bei letzter, echter, radikaler Liebe zum Nächsten, in der der Mensch sich wirklich mit der letzten Kraft seines Wesens einsetzt und weggibt an ihn, dass da immer und überall, wo dies geschieht, Gottesliebe, Caritas gegeben ist. Natürlich nicht deswegen, weil die natürliche Struktur eines solchen Aktes das notwendigerweise erzwingen würde, aber wir leben unter dem allgemeinen Heilswillen Gottes, d.h., wir leben in einer Welt, die immer und überall durch die geheime Gnade Gottes ausgerichtet ist auf das ewige Leben Gottes, immer und überall, wo sich der Mensch nicht ausdrücklich durch wirklich schuldhaften Unglauben gegen eine solche innerste übernatürliche, gnadenhafte Dynamik der Welt versperrt. Nun ist aber der Akt der Liebe zum Nächsten nicht nur irgendeiner der sittlichen Akte, sondern im Grund genommen der Grundakt des sittlichen Daseins, des Menschen selbst. Er-

kenntnis ist bei sich selber sein, und Freiheit ist im Letzten die aufs Endgültige hin gewollte Selbstverfügung der freien Person über sich selbst. Beides kann aber gewissermaßen nur geschehen in der liebenden Kommunikation mit dem fremden Du. Die Welt ist primär für den Menschen als geistig personales Subjekt eine Mitwelt. Wir leben nicht bloß in einer Umwelt, in der es alle möglichen verschiedenen Dinge gibt, sondern diese Welt hat vom Subjekt und von der Wirklichkeit, der der Mensch begegnet, her eine innere Struktur, ist letztlich Kommunikation der Liebe mit dem Du. Die ganze Sachwelt, mit der wir es zu tun haben, selbst in Wirtschaft, Gesellschaft usw., ist im Grunde genommen nur das Material, die Voraussetzung, die Auswirkung der liebenden Kommunikation mit dem anderen Du. Der Mensch verfügt in dem einen totalen Akt seines Lebens in radikaler, ewigkeitsschaffender Freiheit über sich, und diese Selbstverfügung über sich selbst ist einfach im Letzten entweder das liebende Sich-Offnen gegenüber dem menschlichen Du oder die letzte Selbstversperrung in Egoismus, die den Menschen in die verdammende, tödliche Einsamkeit des Verlorenen stürzt. Dieser Grundakt ist natürlich immer nur möglich, indem der Mensch vorgreift auf die Absolutheit der Wirklichkeit, indem er also schon unthematisch, unreflex zu tun hat mit Gott. Denn wir fangen nicht erst dort an, mit Gott etwas zu tun zu haben, wo wir ihn ausdrücklich rufen, wo wir dieses Geheimnis, auf das wir immer zugehen, das überhaupt erst die Möglichkeit geistiger Freiheit und Liebe gibt, ausdrücklich nennen und bekennen. Immer und überall in der Tat der Erkenntnis und erst recht der Freiheit haben wir es unausdrücklich mit Gott zu tun. Und wenn nun ein Mensch in der Grundtat seines Daseinsvollzugs sich liebend zu den Mitmenschen verhält, ist diese Grundtat seines Lebens aus dem allgemeinen vergöttlichenden Heilswillen Gottes, der auch außerhalb der Kirche überall am Werk ist, getragen von Gottes Heiligem Geist, von seiner Gnade und ist wenigstens

unthematisch und unausdrücklich, aber wirklich auch ein Akt der Caritas, der Liebe Gottes. Man müsste natürlich in einer genaueren Beschreibung dessen, was Nächstenliebe bedeutet, zeigen, wie sie eigentlich immer, selbst wenn sie das gar nicht ausdrücklich will und beabsichtigt, an das Geheimnis Gottes grenzt. Wenn wir schweigen, wenn wir vergeben, wenn wir unbelohnt uns ganz einsetzen und uns gleichsam von uns selber absetzen, dann greifen wir immer in eine Unendlichkeit hinein, die nicht mehr umfangen werden kann, die namenlos ist, greifen wir vor auf das heilige Geheimnis, das unser Leben durchwaltet und trägt, haben wir es mit Gott zu tun. So etwas geschieht nun notwendig und immer in der Tat der liebenden Freiheit des wirklichen, radikalen Sich-Öffnens gegenüber dem Nächsten, und diese ist deswegen in der gegenwärtigen Ordnung des Heilswillens Gottes dann immer auch schon getragen von der Gnade Gottes, ist Caritas. Überall dort, wo der Mensch in wirklicher personaler Freiheit sich dem Nächsten öffnet, hat er immer schon, weil das alles schon umfangen ist von der Gnade Gottes, mehr getan als bloß gerade diesen Nächsten geliebt. Er hat den Nächsten geliebt, und er hat im Nächsten schon Gott geliebt. Weil er dem Nächsten gar nicht liebend begegnen kann außer dadurch, dass die Dynamik seiner geistigen Freiheit, getragen von der Gnade Gottes, schon immer Dynamik auf das unsagbare heilige Geheimnis ist, das wir Gott nennen ... Jesus sagt uns: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." Wie oft haben wir diesen Satz schon gehört und in unseren frommen, erbaulichen Reden benutzt. Aber fragen wir uns einmal: Kann denn das Jesus wirklich sagen? Ist das nicht nur ein juristisches „Als-ob": ich rechne es dir so an, als ob du es mir selber getan hättest, was du dem geringsten dieser anderen Menschen getan hast? Nein, es handelt sich bei diesem

Worte Jesu nicht nur um eine juristische Fiktion, um ein moralisches „ Als-ob" um ein gewisses Kompensationsverfahren, es ist wirklich so, dass wir im anderen Menschen dem fleischgewordenen Worte Gottes begegnen, weil in diesem anderen wirklich Gott selbst ist. Und wenn wir ihn lieben, und wenn wir gleichsam die Dynamik dieser Liebe nicht schuldhaft abbremsen und im Grunde genommen zurückbiegen auf uns, dann geschieht eben nun dieser göttliche Abstieg in das Fleisch des Menschen, so dass Gott da ist, wo wir sind, und uns anblickt in einem Menschen. Dieser göttliche Abstieg geht weiter durch uns hindurch, und es geschieht dann, dass wir, weil Gott uns liebt, den Nächsten lieben und Gott schon geliebt haben, indem wir den Nächsten lieben, weil wir ja diese Liebe gar nicht anders tun können als getragen von dieser göttlichen Liebe zu uns, die eben sich selber zu unserem Bruder gemacht hat. Die christologische Seite, wenn ich so sagen darf, unserer Nächstenliebe müsste wirklich ernst genommen werden und wirklich gelebt werden: dass dort, wo der andere Mensch mir gegenübertritt, wirklich Christus da ist und mich fragt, willst du mich, das fleischgewordene Wort Gottes, lieben, und wenn ich sage „ja" dann sagt er: Da bin ich, im geringsten meiner Brüder. Ein theologischer Aspekt sei zur Verdeutlichung hinzugefügt. In der Ewigkeit wird es, wenn wir das Christentum der Inkarnation ernst nehmen, so bleiben, dass das fleischgewordene Wort Gottes in seiner Menschheit ewig die Vermittlung, das Tor, die Brücke, die Konkretheit Gottes für uns sein wird, insofern wir ihn von Angesicht zu Angesicht schauen werden. Die Menschheit Jesu ist weder eine Barriere zwischen uns und dem Gott der Unmittelbarkeit der Gnade, noch ist sie etwas, was nur einmal in der Zeit vermittelte, um dann gleichsam abgeschafft zu werden. Immer werden wir es mit dem Gott zu tun haben, der selber Mensch geworden ist. Es gibt in Ewigkeit keine Theologie, die nicht Anthropologie wäre. Ist es nicht so, dass wir Christen vielleicht unseren christ-

liehen Glauben doch noch immer nicht genug verstanden haben, dass die einzelnen dogmarischen Aussagen unseres Glaubens, sosehr wir sie bekennen und annehmen, doch viel zu weit auseinander liegen, dass wir gleichsam den Eindruck haben, in einer unendlich komplizierten Welt von Aussagen, Dogmen und Vorschriften zu leben? In Wirklichkeit aber ist es so: Gott ist Mensch - und darum ist die Gottesliebe Menschenliebe und umgekehrt... Wir wissen im Letzten von Gott nichts, wenn wir nichts vom Menschen wissen, von dem, den Gott selbst als seine eigene Wirklichkeit angenommen hat und in dem auch das letzte Geheimnis, die letzte Tiefe alles Menschseins beschlossen ist. Wir können ja letztlich von uns das Tiefste nur aussagen, wenn wir sagen: Wir sind die Wirklichkeit, die Gott zu seiner eigensten machen konnte und gemacht hat. Nur dann, wenn wir das sagen, wenn wir gleichsam aus der Anthropologie hinüberspringen in die Theologie, haben wir verstanden, was wir selber sind. Und darum haben wir uns in der Tat unseres Lebens, in der letztlich allein wir uns verstehen, erst verstanden, wenn wir Liebende sind, Menschen, die den anderen Menschen selbstlos liebend gefunden haben und natürlich nicht da und dort nur in einer Feierstunde, sondern in der brutalen, gewöhnlichen, grauen Alltäglichkeit unseres Lebens. Dort finden wir Gott, und wir dürfen durchaus sagen, alles Gebet, aller Kult, alles Recht der Kirche, alle Institution der Kirche seien nur dienende Mittel, damit wir das eine tun: Gott und den Nächsten zu lieben, und wir können Gott nicht lieben, als dass wir ihn in unserem Nächsten lieben. Dort, wo wir das tun, haben wir dann wirklich das Gesetz erfüllt, haben wir das Band der Vollkommenheit um unser ganzes Leben geschlungen, haben wir den vollkommenen Weg durchmessen, den uns Paulus aufgezeigt hat. Nur wenn wir begreifen, dass es eine wirklich letzte Einheit zwischen Gottes- und Nächstenliebe gibt, verstehen wir eigentlich, was das Christentum ist, und welch göttlich einfache Sache es doch ist. Das göttliche

Einfache muss natürlich ausgelegt werden, und unser ganzer Katechismus mit all dem, was drinsteht, ist die wahre und echte Auslegung, aber es ist die Auslegung, die Artikulierung, die Wortausprägung dessen, was wir im Grund schon ergriffen haben, wenn wir den Nächsten lieben.

Ich sehe das Leiden - ich glaube die Liebe Über Mystik und Engagement

von Dorothee Solle

Wie Farbenblinde stehen die Menschen dem Leiden gegenüber - wahrnehmungsunfähig und ohne alle Sensibilität. Die Folge dieses leidenslosen Wohlbefindens ist eine Erstarrung des Lebens. Nichts ist mehr bedroht, nichts wächst mehr mit den eigentümlichen Schmerzen, die jedes Wachstum bedeutet, nichts verändert sich. Die schmerzfreie Erfüllung vieler Bedürfnisse garantiert den ruhigen, erreichten Stillstand. Langeweile breitet sich aus, wenn erfüllte Hoffnung nicht mehr zu neuer, größerer Hoffnung treibt. Der schwedische Sozialismus, ein Gesellschaftssystem pragmatischer Art, ohne größere vorwärtstreibende Utopie, stellt einen Zustand der eingeplanten Leidenslosigkeit dar, der jedoch die höchsten Selbstmordquoten der Welt produziert. Im Gleichmaß des leidlosen Zustands flacht sich die Lebenskurve vollständig ab, so dass auch Freude und Glück nicht mehr intensiv gelebt werden können. Aber wichtiger als diese Folge der Apathie ist die Desensibilisierung, die ein leidensloser Zustand bedeutet, die Unfähigkeit, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Ein leidensloser Zustand - das ist nichts anderes als die Blindheit, die das Leiden nicht wahrnimmt, das ist die nicht mehr bemerkte Abstumpfung gegen das Leiden, da werden der Mensch und seine Umstände aufs Neue zur Natur gemacht, die auch auf der technisierten Stufe nichts anderes bedeutet als die blinde Anbetung dessen, was ist, ohne Eingriffe, ohne Maßnahme, ohne Arbeit. Da werden zwischen dem erfahrenen Subjekt und der Wirklichkeit Mauern aufgerichtet, man erfährt vom Leiden anderer nur indirekt, man sieht verhungernde Kinder auf

dem Bildschirm, und diese Art der Beziehung zum Leiden anderer ist charakteristisch für unsere ganze Wahrnehmung. Auch das Leiden und Sterben der Freunde und Verwandten wird selten sinnlich und unmittelbar erfahren, wir hören das Röcheln und Stöhnen nicht mehr, Wärme und Kälte des kranken Körpers berühren wir nicht mehr. Der Mensch, der solche Art von Leidfreiheit sucht, begibt sich in Quarantäne, an einen keimfreien Ort, wo Schmutz und Bakterien ihn nicht berühren, wo er mit sich allein ist, selbst dann, wenn dieses „mit sich" die kleine Familie einschließt. Leidfrei bleiben wollen, der Rückfall in Apathie kann eine Art Berührungsangst sein, man will nicht angerührt, angesteckt, befleckt, hineingezogen werden, man hält sich soweit wie eben möglich heraus, kümmert sich um seine Angelegenheiten, privatisiert sich bis zum Stumpfsinn ... Es ist unmöglich, Jesu Leiden von dem anderer Menschen zu unterschieden, als habe nur Jesus auf die Hilfe Gottes gewartet. Der Schrei des Leidens enthält die ganze Verzweiflung, deren ein Mensch fähig ist, und in diesem Sinne ist jeder Schrei Gott zugeschrieen. Jedes äußere Leiden erfährt die Verlassenheit von Gott. In der Tiefe des Leidens verstehen sich Menschen als aufgegeben und von allen verlassen. Was dem Leben Sinn gab, ist leer und nichdg geworden: es hat sich als ein Irrtum herausgestellt, als eine Illusion, die enttäuscht worden ist, als eine Schuld, die nie wiedergutzumachen ist, als nichtig. Die Wege, die zu dieser Erfahrung des Nichts führen, sind verschieden, aber die Erfahrung der Vernichtung, die im andauernden Leiden geschieht, ist dieselbe. Jedes Leiden, das als Bedrohung des eigenen Lebens erfahren wird, berührt die Gottesbeziehung, wenn wir diesen Ausdruck im strengen theologischen Sinn nehmen, das heißt nicht als eine Eigenschaft, wie Musikalität, die manchen Menschen zukommt, sondern als etwas, das jedem zu eigen ist als das, „worauf er sich verlässt" (Luther). Dieses (nichtexplizite) Got-

tesverhältnis wird im extremen Leiden angetastet. Der Grund, auf den das Leben gebaut war, das Urvertrauen in die je und je anders vermittelte Verlässlichkeit der Welt wird zerstört. Die Erfahrung, die Jesus in Getsemani gemacht hat, geht über diese Zerstörung hinaus. Es ist die der Einwilligung. Der Becher des Leidens wird zum Becher der Stärkung. Wer ihn geleert hat, der hat alle Angst überwunden. Der, der schließlich vom Gebet zu den Schlafenden zurückkommt, ist ein anderer als der, der fortging. Er ist klar und wach, er zittert nicht mehr. „Es ist genug. Die Stunde ist gekommen. Steht auf. Lasst uns gehen." Ein Engel stieg zu Jesus sowenig herab wie zu anderen Menschen - oder soviel. Beides ist wahr, es sind nur verschiedene Ausdrucksweisen, die Markus und Lukas gebrauchen. Man kann sagen, dass in jedem Gebet ein Engel auf uns wartet, weil jedes Gebet den Betenden verändert, ihn stärkt, indem es ihn sammelt und zu der äußersten Aufmerksamkeit bringt, die im Leiden uns abgezwungen wird und die wir im Lieben selber geben ... Jede Annahme des Leidens ist Annahme dessen, was ist. Die Verweigerung jeder Form des Leidens kann eine Derealisierung zur Folge haben, in der der Kontakt mit der Realität immer dünner, immer bruchstückhafter wird. Es ist unmöglich, sich dem Leiden vollständig zu verweigern, es sei denn, man verweigere sich dem Leben überhaupt, man ginge keine Verhältnisse mehr ein, man machte aus sich einen Unverwundbaren. Schmerzen, Verluste, Amputation sind auch im glattesten Lebenslauf, den man sich denken, nicht wünschen mag, gegeben - die Ablösung von den Eltern, das Verwelken der Jugendfreundschaften, das Absterben bestimmter Gestalten des Lebens, mit denen wir uns identifiziert haben, das Altern, das Wegsterben der Angehörigen und Freunde, schließlich der Tod. Je stärker wir die Realität bejahen, je mehr wir in sie eingetaucht sind, desto tiefer werden wir von diesen uns umgebenden und in uns eindringenden Prozessen des Sterbens berührt...

Eine wirkliche Annahme der Realität kann nicht mit dem Hinweis auf den oft vergessenen Gott, der sich nun in Leid und Tod wieder meldete, erschlichen werden. Die Voraussetzung der Annahme ist eine tiefere Liebe zur Wirklichkeit, eine Liebe, die darauf verzichtet, der Wirklichkeit Bedingungen zu stellen. Erst wenn wir aufhören, einem Menschen Bedingungen zu stellen für den Fall, dass wir uns auf ihn einlassen, erst dann lieben wir ihn. Die christliche Tradition hat - mit Recht, wie mir scheint - die Liebe der Eltern zu ihren Kindern als ein Beispiel der bedingungslosen Liebe angegeben: Die Kinder kann man sich nicht aussuchen oder vorprogrammieren oder bei Nichtgefallen umtauschen. Dasselbe gilt im Verhältnis zur Realität, und das bedeutet: von der Liebe zu Gott. Sie kann nicht von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängig gemacht werden. Das „do ut des "-Prinzip („ich gebe, damit du gibst") hat hier nichts zu suchen, der „Geist der Kaufmannschaft" wie Meister Eckhart es nennt, ist hier ausgeschlossen; für die Liebe zu Gott - und nichts anderes ist die totale Bejahung der Wirklichkeit - gilt vielleicht eher der Satz des Leichten Mädchens Philine aus Goethes Wilhelm Meister: „Dass ich dich liebe, was geht's dich an!" Die Bejahung des Leidens hat, wo sie nicht erpresst ist, einen mystischen Kern, der sich in Philines Satz ironisch und tiefsinnig zugleich formuliert. Es ist kein Zufall, dass in allem christlichen Nachdenken über das Leiden mystische Elemente auftauchen ... Das Empörende an der banalen Theologie der Traktate ist gerade ihre Ignoranz dieses mystischen Kerns. Sie ersetzen Mystik durch Masochismus. Sie verlangen nicht zuviel, sondern zuwenig von den Menschen - nur die Anerkennung eines höchsten Machthabers - und nicht die Liebe, die diesen Machthaber und seine Allüren längst überstiegen hat, die „sogar den Himmelsbewohnern zum Trotz" das Ja des Glaubens auch gegen alle Erfahrung sagt... Nicht der stoische Held, der mit verschränkten Armen, sich klein machend, abwartend und in Unerschütterlichkeit

Distanz bewahrt, sondern der mystisch Leidende, der seine Hände für alles Begegnende öffnet, zeigt die Möglichkeit der Humanisierung des Leidens. Er hat den Glauben an und die Hoffnung auf einen überweltlich eingreifenden Gott aufgegeben, aber nicht die Hoffnung auf Veränderung des Leidens und auf Lernen im Leiden ... Die einzige Rettung für den Menschen in dieser Verzweiflung besteht im Weiterleben, „ins Leere hinein", in einer Liebe zu Gott, die nicht mehr reaktiv ist, Antwort auf erfahrenes Glück, kindliche Dankbarkeit, sondern ein Akt, der über alle Erfahrung hinausgeht. „Die Seele muss fortfahren, ins Leere hinein zu lieben, oder zumindest lieben zu wollen, sei es auch nur mit dem winzigsten Teil ihrer selbst. Dann eines Tages naht sich Gott selbst und zeigt sich ihr... Gibt sie es nicht auf zu lieben, gelangt sie eines Tages dahin, nicht eine Antwort auf ihre hinausgeschriene Frage, denn die gibt es nicht, aber das Schweigen selbst als ein unendlich Bedeutungsvolleres als eine Antwort, als das Wort Gottes selbst zu hören. Sie weiß dann, dass Gottes Abwesenheit hier unten dasselbe ist wie die geheime Gegenwart Gottes hier unten, Gottes, der im Himmel ist." Man muss sich von den hier gebrauchten Wörtern wie Gott, die Seele, ihre Beziehung zueinander nicht irritieren lassen, als sei die beschriebene Erfahrung nur denen zugänglich, die ein manifestes Verständnis dieser Begriffe hätten. Vorausgesetzt ist hier nichts dergleichen: was die Seele ist und inwiefern sie, um zu leben, Gott braucht, das ist nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis des Prozesses. Dieser Prozess selber enthält zwei Elemente, die für einen nicht ererbten oder bloß „erdichteten" Glauben konstitutiv sind. Das eine ist die dunkle Nacht der Verzweiflung, das Kreuz, an das wir ungefragt geschlagen werden. Ein Christ ist ein Mensch, der seinen Tod hinter sich hat. „Ihr wart tot" ist eine wiederkehrende Aussage der Bibel. Es ist der Tod der totalen Beziehungslosigkeit, das „Ich kann nicht mehr" der Schrei. Das Leiden macht sterben, und um diesen Tod kommt nie-

mand herum. Es stirbt das Kind, das wir einmal waren, es stirbt auch der junge Mensch mit seiner ihm nicht ausschöpfbaren Vitalität, es sterben unsere Träume und Illusionen. Wir haben nicht die Wahl, das Leiden zu vermeiden und alle diese Tode zu umgehen. Die einzige Wahl, die wir haben, ist die zwischen dem absurden Kreuz der Sinnlosigkeit und dem Kreuz Christi, dem Tod, den wir apathisch als natürlichen Ablauf hinnehmen, und dem Tod, den wir als Rission erleiden. Das andere Element ist die Auferstehung. Hört die Seele in der Nacht der Verzweiflung nicht auf zu lieben, „ins Leere hinein", so kann der Gegenstand ihrer Liebe nun zu Recht „Gott" genannt werden. Wir können auch von einer unendlichen Bejahung des Lebens sprechen, die in der dunklen Nacht des Kreuzes sich einstellt. In dieser Formulierung ist der Schein vermieden, als sei eine persönliche Beziehung zu einem als Person gedachten Gott notwendig. Die mystische Erfahrung der Nacht des Kreuzes und des Lichts in ihr ist nicht angewiesen auf eine solche personal gedeutete Gottesbeziehung; analog sieht auch Simone Weil die Vorstellung von der persönlichen Unsterblichkeit eher als ein Hindernis für den Glauben an. Entscheidend für die Auferstehung ist die Frage, ob der Mensch im Sterben des natürlichen Menschen, in der Zerstörung der Unmittelbarkeit des Lebens, weiter lieben kann. Die Fähigkeit, nicht aufzuhören zu lieben, hängt ab von dem Glauben an Gott, wenn wir darunter verstehen, dass die Totalität der Welt nicht sinnlos, leer, zufällig und dem Menschen gegenüber gleichgültig ist, sondern für ihn. Aber wie kann diese Barmherzigkeit Gottes geglaubt werden von einem Menschen, dessen sämtliche Angehörigen unter der Folter umgekommen wären, der selbst lange Zeit in einem Konzentrationslager gefoltert worden wäre? „Wenn solche Menschen an die Barmherzigkeit Gottes geglaubt haben, so glauben sie nun entweder nicht daran, oder ihre Vorstellung davon hat sich von Grund auf verwandelt." Der Glaube an die Barmherzig-

keit kann nicht in der Natur unmittelbar abgelesen oder begründet werden. Jeder Versuch dieser Art setzt voraus, dass wir unsere Augen blenden, unsere Ohren verstopfen und jedes Mitleiden ausreißen. Diese Art „Glauben" an den im Lauf der Geschichte nachweisbaren Sinn, an die aufweisbare Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, führt die Gläubigen nur zur Mitleidlosigkeit. Als Denkform des christlichen Glaubens bleibt das Paradox notwendig, nicht die aus Natur und Geschichte ablesbare Erkenntnis. Credo, non Video: ich sehe die Ungerechtigkeit, die Zerstörung, das sinnlose Leiden - ich glaube die Gerechtigkeit, die kommende Befreiung, die Liebe, die in der Nacht des Kreuzes geschieht. Aber eben dieser grundlose Glaube an die Barmherzigkeit ist Religion der Sklaven... Dass Menschen leiden und untröstlich sein können, ist hier angenommen. Wir sollten uns den Traum von einem Menschen, der keinen Trost braucht, verbieten. Wir sollten auch aufhören, das Leiden in die bloße Vorgeschichte der Menschen einzuordnen, weil diese Einordnung einen Akt der Selbstverachtung darstellt. Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit, Trost brauchen und trösten ist menschlich, so menschlich, wie Christus war. Wir können die sozialen Bedingungen, unter denen Menschen vom Leiden getroffen werden, verändern. Wir können uns selber ändern und im Leiden lernen, statt böser zu werden. Wir können das Leiden, das heute noch für den Profit weniger gemacht wird, schrittweise zurückdrängen und aufheben. Aber auf all diesen Wegen stoßen wir an Grenzen, die sich nicht überschreiten lassen. Nicht nur der Tod ist eine solche Grenze, es gibt auch Verdummung und Desensibilisierung, Verstümmelung und Verwundung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Die einzige Form des Überschreitens dieser Grenzen besteht darin, den Schmerz der Leidenden mit ihnen zu teilen, sie nicht allein zu lassen und ihren Schrei lauter zu machen.

Die rettende Musik der Ewigkeit Predigt über christlichen Nonkonformismus

von Martin Luther King

Stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes. (Rom 12,2) „Stellet euch nicht dieser Welt gleich" ist eine schwierige Forderung in einer Zeit, da der Druck der Masse uns unmerklich daran gewöhnt hat, nach dem rhythmischen Trommelschlag der Tradition zu marschieren. Viele Stimmen und Kräfte drängen uns, den Weg des geringsten Widerstands zu wählen, niemals für eine unpopuläre Sache zu kämpfen und sich nie zu zweit oder zu dritt in einer kläglichen Minderheit zu befinden. Selbst einige Wissenschaften versuchen, uns von der Notwendigkeit des Konformismus zu überzeugen. Soziologen behaupten, Moral sei nur Gruppenübereinkunft, und die Wege der Masse seien die rechten Wege. Psychologen lehren, geistige und seelische Ausgeglichenheit sei der Lohn dafür, dass wir wie alle anderen Menschen denken und handeln. Erfolg, Anerkennung und Konformismus sind die Beiwörter der modernen Welt, in der anscheinend jeder nach der einschläfernden Sicherheit strebt, mit der Mehrheit identifiziert zu werden.

Trotz dieser vorherrschenden Tendenz zum Konformismus haben wir als Christen die Aufgabe, Nonkonformisten zu sein. Der Apostel Paulus, der die inneren Wahrheiten des christ-

liehen Glaubens kannte, riet: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch die Erneuerung eures Sinnes." Wir sollen überzeugte Menschen sein, nicht Mitläufer: Menschen des moralischen Adels, nicht der sozialen Ehrbarkeit. Uns ist aufgetragen, anders und nach höheren Maßstäben zu leben. Jeder wahre Christ ist ein Bürger zweier Welten, der zeitlichen und der ewigen. Paradoxerweise sind wir in der Welt und nicht von der Welt, Paulus schrieb an die Philipper: „Unser Bürgertum ist im Himmel." Sie verstanden, was er meinte, denn Philippi war eine Kolonie. Wenn die Römer eine Provinz romanisieren wollten, so sandten sie eine kleine Kolonie von Menschen aus, die nach römischen Gesetzen und Sitten lebten und auch im fremden Land an ihrer Treue zu Rom festhielten. Diese starke, schöpferische Minderheit verbreitete die römische Kultur. Wenn der Vergleich auch unvollkommen ist (die römischen Siedler lebten unter ungerechten, ausbeuterischen Verhältnissen, nämlich im Kolonialismus), so weist der Apostel damit doch auf die Verantwortung des Christen hin, eine unchristliche Welt mit den Idealen einer höheren und edleren Ordnung zu durchdringen. Wir leben in der Kolonie des Zeitlichen und sind dem Reich des Ewigen verpflichtet. Als Christen dürfen wir unsere höchste Treue niemals aufgeben für eine zeitgebundene Sitte oder eine erdgebundene Idee; im Herzen des Weltalls ist eine höhere Wirklichkeit: Gott und sein Reich der Liebe, mit dem wir eins werden müssen. Der Befehl, uns nicht der Welt anzupassen, stammt nicht nur von Paulus, sondern auch von Jesus Christus, dem entschiedensten Nonkonformisten der Welt, dessen ethischer Nonkonformismus noch immer das Gewissen der Menschheit herausfordert. Wenn eine wohlhabende Gesellschaft uns einreden will, das Glück bestehe in der Größe unserer Autos, in eindrucksvollen Häusern und kostspieligen Kleidern, so erinnert uns Jesus: „Niemand lebt davon, dass er viele Güter hat."

Wenn wir den Versuchungen einer Welt erliegen wollen, die voll ist von sexuellen Ausschweifungen und vernarrt in ihre Philosophien der Eitelkeit, so sagt uns Jesus: „Wer eine Frau ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen." Wenn wir uns weigern, für die Gerechtigkeit zu leiden, und lieber dem Pfad der Bequemlichkeit als dem der Überzeugung folgen, so hören wir Jesus: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihrer." Wenn wir in unserer geistlichen Überheblichkeit prahlen, den Gipfel moralischer Vollkommenheit erreicht zu haben, so warnt Jesus: „Die Zöllner und Huren mögen wohl eher ins Reich Gottes kommen als ihr!" Wenn wir durch kaltherzige Mitleidslosigkeit und anmaßenden Individualismus versäumen, die Not der Bedürftigen zu lindern, so sagt der Herr: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." Wenn wir dem Funken der Rachsucht in uns erlauben, zum Hass gegen unsere Feinde aufzuflammen, lehrt Jesus: „Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen." Immer und überall ist die Liebe Jesu ein strahlendes Licht, das die Hässlichkeit unseres Konformismus enthüllt. Trotz des klaren Auftrags, anders zu leben, haben wir eine Art Herdengefühl entwickelt und sind vom Extrem des primitiven Individualismus in das Extrem des primitiven Kollektivismus verfallen. Wir machen nicht mehr Geschichte; wir werden von der Geschichte geformt. Longfellow sagte: „In dieser Welt muss der Mensch entweder Amboss oder Hammer sein" und er meinte damit, dass er entweder die Gesellschaft formt oder sich von der Gesellschaft formen lässt. Wer kann bezweifeln, dass heute die meisten Menschen Amboss sind und nach dem Muster der Mehrheit geformt werden? Oder, um ein an-

deres Bild zu gebrauchen, die meisten Menschen, und ganz besonders Christen, sind Thermometer. Sie zeigen die Temperatur der Mehrheitsmeinung an. Aber sie sind keine Thermostaten. Sei ändern und regeln die Temperatur der Gesellschaft nicht. Die meisten Menschen fürchten nichts so sehr, als eine Stellung zu beziehen, die sich klar von der vorherrschenden Meinung unterscheidet. Sie haben das Bestreben, sich eine Ansicht zu bilden, die so umfassend ist, dass sie alles umschließt, und so populär, dass jedermann sie teilt. Zugleich ist eine Art Andeutung des Großen entstanden. Diese Vergötterung des Großen hat dazu geführt, dass viele fürchten, mit den Ideen einer Minderheit identifiziert zu werden. Nirgends ist die tragische Tendenz zum Konformismus deutlicher als in der Kirche, einer Institution, die oft genug dazu gedient hat, eine Mehrheitsmeinung zu bilden, zu erhalten und sogar zu segnen. Die ehemalige Zustimmung der Kirche zur Sklaverei, zur Rassentrennung, zum Krieg und zur wirtschaftlichen Ausbeutung bezeugt, dass die Kirche sich mehr nach weltlichem als nach göttlichem Gebot gerichtet hat. Anstatt die moralische Wächterin der Gesellschaft zu sein, hat die Kirche zuzeiten das unterstützt, was unmoralisch und unanständig ist. Anstatt soziale Missstände zu bekämpfen, hat sie sich hinter ihren bunten Fenstern still verhalten. Anstatt den Menschen auf die Höhe der Brüderlichkeit zu führen und ihn zu lehren, sich über die engen Grenzen der Rassen und Klassen aufzuschwingen, hat sie rassische Trennung gelehrt und ausgeübt. Auch uns Prediger hat der ansteckende Kult des Konformismus in Versuchung geführt. Von den Erfolgsmaßstäben der Welt verblendet, messen wir unsere Leistung an der Größe unserer Pfarreien. Wir sind Schausteller geworden, die den Wünschen und Launen der Menschen gerecht werden wollen. Wir halten erquickliche Predigten und vermeiden es, irgend etwas von der Kanzel herab zu sagen, was die ehrbaren Ansichten

unserer ehrbaren Gemeindemitglieder erschüttern könnte. Haben wir Diener Christi die Wahrheit auf dem Altar des Eigennutzes geopfert und, wie Pilatus, unsere Überzeugungen den Wünschen der Menge untergeordnet? Wir müssen die Glut des Evangeliums der ersten Christen wiederfinden, die im wahrsten Sinne des Wortes Nonkonformisten waren und sich weigerten, ihr Zeugnis den Gewohnheiten ihrer Umwelt anzupassen. Willig opferten sie Ruf, Reichtum und Leben für eine Sache, die sie als richtig erkannt hatten. An Zahl gering, waren sie Riesen an Wirkung. Ihr mächtiges Evangelium setzte so barbarischen Sitten wie Kindermorden und blutigen Gladiatorenkämpfen ein Ende. Zum Schluss gewannen sie das Römische Reich für Christus. Allmählich aber hüllte die Kirche sich so sehr in Reichtum und Pomp, dass sie sich den strengen Forderungen des Evangeliums entzog und der weltlichen Lebensweise anpasste. Seither war die Kirche nur noch eine schwache, unwirksame Posaune, die unsichere Laute von sich gab. Wenn die Kirche Jesu Christi ihre Kraft, ihre Botschaft und ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen will, so muss sie sich ausschließlich nach den Forderungen des Evangeliums richten. Die Hoffnung auf eine sichere und lebenswerte Welt ruht auf disziplinierten Nonkonformisten, die für Gerechtigkeit, Frieden und Brüderlichkeit eintreten. Die Wegbahner der menschlichen, akademischen, wissenschaftlichen und religiösen Freiheit sind immer Nonkonformisten gewesen. Wo es um den Fortschritt der Menschheit geht, muss man den Nonkonformisten vertrauen!... Rjulus gibt uns im zweiten Teil unseres Textes eine Formel für schöpferischen Nonkonformismus: „Verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes." Nonkonformismus ist erst dann schöpferisch, wenn er von einem veränderten Leben kontrolliert und geleitet wird; er ist schöpferisch, wenn er sich mit einer neuen Art verbindet, die Welt zu betrachten. Wenn wir unser Leben für Gott öffnen, werden wir neue Geschöpfe. Die-

se Erfahrung, von der Jesus als von einer neuen Geburt sprach, ist wichtig, wenn wir verwandelte Nonkonformisten sein wollen, die frei sind von kalter Hartherzigkeit und Selbstgerechtigkeit, die so oft mit dem Nonkonformismus einhergehen. Jemand hat gesagt: „Ich liebe Reformen, aber ich hasse Reformer." Ein Reformer kann ein unverwandelter Nonkonformist sein, dessen Rebellion gegen die Missstände der Gesellschaft ihn hat streng und ungeduldig werden lassen. Nur durch eine geistliche Wandlung gewinnen wir die Kraft, die Übel der Welt demütig und liebend rücksichtslos zu bekämpfen. Der verwandelte Nonkonformist erliegt niemals der passiven Geduld, die ein Vorwand ist, nichts zu tun. Seine eigene Wandlung bewahrt ihn davor, verantwortungslos trennende anstatt verneinende Worte zu sprechen, und voreilige Urteile zu fällen, die blind sind für die Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Fortschritts. Er weiß, dass soziale Veränderungen nicht über Nacht kommen können, und trotzdem arbeitet er so, als sei es möglich ... Ich muss zugeben, dass ein solcher verwandelter Nonkonformismus, der immer Opfer verlangt und nie bequem ist, uns in die dunklen Täler des Leidens führen kann. Durch ihn können wir unsere Arbeitsplätze verlieren. Vielleicht fragt uns unsere sechsjährige Tochter: „Vati, warum musst du so oft ins Gefängnis?" Aber wir irren uns, wenn wir meinen, das Christentum bewahre uns vor den Schmerzen und der Not unserer irdischen Existenz. Das Christentum hat immer gelehrt, dass wir das Kreuz tragen müssen, ehe wir die Krone erringen. Wenn wir Christen sein wollen, so müssen wir unser Kreuz auf uns nehmen und es tragen, bis es uns wieder auf den besseren Weg hilft, der nur durch Leiden zu erreichen ist. In unserer Zeit weltweiter Verwirrung werden dringend Menschen gebraucht, die mutig für die Wahrheit kämpfen. Wir brauchen Christen, die jene Worte wiederholen, die John Bunyan nach zwölfjähriger Gefangenschaft seinen Peinigern sagte, als sie ihm die Freilassung versprachen, wenn er hinfort

nicht mehr predigen wolle: „Wenn ich mein Gewissen zu einem Schlachthaus machen soll, wenn ich mir die eigenen Augen ausreißen soll, damit mich die Blinden führen müssen, wie es anscheinend von manchen gewünscht wird, so will ich mit Gottes Hilfe lieber leiden, bis Moos auf meinen Augenbrauen wächst, als meinen Glauben und meine Grundsätze verraten." Wir müssen uns entscheiden. Wollen wir nach dem Trommelschlag des Konformismus weitermarschieren, oder wollen wir auf den Schlag einer anderen, ferneren Trommel lauschen und nach ihrem Takt ausschreiten? Wollen wir unseren Schritt der Musik der Welt anpassen, oder wollen wir trotz Hohn und Spott der die Seele rettenden Musik der Ewigkeit folgen? Mehr als je zuvor werden wir heute von den Worten herausgefordert, die aus dem Gestern zu uns herüberklingen: „Stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch die Erneuerung eures Sinnes!"

Leben in Fülle Die Hochzeit zu Kana - Meditation über ein Wunder Jesu

von Eugen Dreioermann

Wie kann es geschehen, dass Göttliches aufscheint im menschlichen Leben? Das Johannesevangelium hat sich nicht gescheut, eine Erzählung von dem griechischen Weingott Dionysos zu übernehmen und zum Anfang, zum Wesensausdruck all dessen zu erklären, was über Jesus von Nazaret zu sagen ist. Ursprünglich war die Erzählung von der f Jochzeit eine launige Weintrinkergeschichte. Dass Leute heiraten, galt als der Inbegriff der Seligkeit, und dass sie sich an Wein bis zur Ekstase und zum Rausch vergnügen können, als ein fast mystisches Erlebnis. Und selbst der frivole Witz wird nicht vermieden, wie der Küfer und Oberschenk dem Bräutigam die Getränkefolge verspätet beizubringen sucht. Dieses Wasser, das zu Wein wurde, ist besser als alles, was man vorher präsentiert hat. Was macht das Christentum aus solchen Erzählungen, und, tiefer noch, was vermag es aus solchen Erfahrungen zu machen? Unterscheidet man die Begriffe sorgfältig, so ist im Gegensatz zur Veränderung das Wesen aller Religion in der Erfahrung der Verwandlung gelegen. Je äußerlicher Menschen denken und fühlen oder, was dasselbe ist, je weniger religiös sie denken und fühlen, desto mehr wird ihr Verlangen wachsen, dass sich die Dinge ringsum ändern müssten. Sie sind geneigt, all ihr Unglück, all ihr Leid, all ihre Not den Umständen und den äußeren Verhältnissen zur Last zu legen; gegen sie möchten sie selber vorgehen, oder da sie meistens dazu ohnmächtig sind, möchten sie, dass „man" dagegen vorgeht. Es braucht ein gerüttelt Maß an Weisheit, um zu verstehen, wie

eng bemessen der Umkreis dessen ist, was man wirklich an Wesentlichem ändern kann. Alle wirkliche Not und Last des menschlichen Lebens lässt sich irgendwann gar nicht abschütteln noch verändern, sondern nur von innen her verwandeln. Dieses Wunder ist der Kern aller Religion, der Inbegriff dessen, was Jesus ist und bedeutet, Mittelpunkt von allem, wovon wir leben. Solange es Menschen gibt, werden sie unter der Last von Krankheit, Alter und Tod gelitten haben, und solange es eine menschliche Geschichte gibt, haben Menschen versucht, daran, so gut sie konnten, etwas zu ändern. Keine Generation vor uns hat es in dieser Richtung weiter gebracht als wir heute: Wir leben doppelt so lange wie noch die Menschen vor etwa 120 Jahren. Wir leben hygienischer, steriler, gesünder, wenn man so will, als jede Generation vor uns, und dennoch könnten gerade wir Heutigen besser wissen als alle Menschheit vor uns, dass es gilt, Krankheit, Alter und Tod nicht zu fürchten, sondern das Leben mit so viel Sinn und Glück und Reichtum zu erfüllen, dass diese irdische Existenz zur Vorbereitung und zum Weg des Himmels wird, eines ewigen Glücks und ewigen Lebens. Der Tod muss nicht schlimm sein, wenn das Leben selber gefüllt ist mit Inhalt, Bedeutung und Wert. Dies soll es wohl im Evangelium von der Hochzeit zu Kana besagen, wenn Jesus sogar seiner Mutter gegenüber erklärt, er werde niemals etwas tun, was ihm von außen gesagt werde. Er könne nur das verrichten und wirken, wozu die Stunde reif sei. Und zwischen den Zeilen muss man ergänzen: Die rechte Stunde lässt sich nur erfühlen und erfahren im Umgang mit Gott, denn sie wird gegeben und verfügt einzig aus den Händen Gottes. Ihm allein gebührt der Menschen Gehorsam in der Tiefe ihres Wesens. Für das Johannesevangelium ist die entscheidende Stunde im Leben Jesu gekommen im Augenblick von Getsemani und Golgota, und es geht da um die Hochzeit des menschlichen Lebens in Gott, um die Verschmelzung der Finsternis mit dem Licht, des Todes mit

der Auferstehung, des Leids mit der Verklärung, um die Verwandlung von Wasser in Wein. Man braucht eine ungeheure Intensität des Lebens, um anfanghaft zu begreifen, wie von innen her sich alles wandeln kann. Kinder noch mögen diese Gabe besitzen. Sie verfügen über die Fähigkeit, sich Langeweile zu vertreiben, nicht indem man ihre Räume vollstellt mit Krimskrams, sondern indem sie ein scheinbar wertloses Stück Holz von innen her verdichten und beleben. Ein ungeformter Gegenstand wird für sie zu einem Hund, einer Eisenbahn, zu Mutter oder Vater, und sie gehen mit dem toten Stück Holz so um, dass von da aus Anweisungen ergehen, wie zu verfahren, wie zu spielen ist. Die Zeit steht still, der Raum wird anders, scheinbar Wertloses gewinnt an ungeheurer Bedeutung. Wer einem spielenden Kind ein Stück Holz aus der Hand nimmt, nimmt ihm kein Stück Holz, sondern in dem Augenblick womöglich das Zentrum seines Lebens. Man muss sein Spiel kennen, um zu wissen, was Dinge ihm bedeuten. So ist es in unserem Leben überhaupt: Was die Dinge wert sind, sagen uns niemals die Dinge selber, ihre Bedeutung verleihen wir ihnen mit unserem Leben. Und unser ganzes Leben bedeutet so viel, wie wir Gott zutrauen, dass er mit uns vorhat. Immer können wir uns nicht in dem Modell des wertlosen Wassers betrachten, und schon sind wir Herumstehende oder Ausgegossene. Betrachten wir uns rein äußerlich, wird die Bilanz nie anders lauten als: nichtig, ohnmächtig, ausgeliefert. Es werden alle Argumente jeder Form von Materialismus diese Formel festschreiben: Aus Wasser und Lehm zusammengerührt sind wir Menschen, Teil der Biologie, der Soziologie, der Psychologie, Produkt von Gesetzen. Auf vielen Ebenen der Forschung und des Wissens werden wir angeleitet, uns selber so zu sehen. Es gibt in diesem Weltbild keine Freiheit, keine Person, nichts, worauf sich eine ewige Würde gründen ließe; wertlos wie Wasser, nichtig wie Tropfen im Eimer ist unser Leben.

Es bedarf eines anderen Anrufes, es bedarf der Vernähme einer Beauftragung in unserem Leben, und alles sieht anders aus, schmeckt anders, ist anders. Dies ist das Wunder der Verwandlung, dass unser scheinbar so sinn- und wertloses Leben vor Gott und dann vor den Menschen, wenn wir uns dessen getrauen, etwas unendlich Kostbares, Freudebringendes, alles Leben ringsum Bereicherndes darstellt. Nur, wir müssen uns wagen. Man kann es durchbuchstabieren in hunderterlei Einzelfällen. Jemand kann darüber klagen, wie er von Jugend auf in eine bestimmte Laufbahn gedrängt wurde, die er heute seinen Beruf nennt, ohne dazu je berufen worden zu sein. Mehr als die Hälfte seines bewussten Lebens am Tage scheint ihm wie Sklavendienst und Aufeinanderschichten von Sinnlosem, und er ist in der Tretmühle gefangen, ohne Aussicht zu entkommen. Er wird womöglich viele Argumente haben, sich und den anderen klarzumachen, wie er doch das Opfer der Umstände ist. Und schon ist sein ganzes Leben ausgegossen wie Wasser im Krug. Wie aber, wenn er dieses selbe Leben in die eigene Entscheidung übernimmt und beschließt, dafür gerade zu stehen - nicht für das, was man aus ihm gemacht hat, sondern wenn er erklärt, aufrechten Ganges und erhobenen Haupts, das, was er ist, sei kein Zufall, seine Person sei er selber, verantwortbar, vertretbar, zu betachten mit einem eigenen Wert, geschaffen aus den Händen Gottes und gerufen in eine unendliche Freiheit? Dann mit einemmal gibt es die Ausreden und die Auswege, aber auch die ausweglosen Engpässe des Äußeren nicht mehr. Es kann derselbe Mann in demselben Beruf in denselben Schichtdienst gehen, er lebt anders von früh bis spät, je nachdem, ob sich's ihm erfüllt mit Sinn oder ob er nur weiter malocht, um sein Leben abzuschuften. Daran, wie ein Mensch sich betrachtet, verwandelt sich die Welt, und die ganze Kraft des Glaubens bewährt sich daran, alles noch einmal ganz anders zu sehen, bis hin zur Endbilanz des Todes.

Solange es Menschen gibt, haben sie begriffen, dass man nur begrenzt verändern kann, aber, um als Mensch zu leben, die ganze Welt ringsum in der Kraft einer Verwandlung betrachten muss. Und so hat denn die Religion alle möglichen Dinge der Welt als Symbole der Wandlung aufgerufen: Das Kommen und Gehen von Sonne und Mond bei Tag und bei Nacht, das Geheimnis des Feuers, dessen Funken aus dem Stein entspringt und das hervorgeht aus dem trockenen Zunder, das Kommen und Gehen des Windes über dem Meer gleich dem Atem Gottes, das Aufblühen, Welken und Wiedererstehen von Blumen, Laub und Frucht, und in allen Teilen der Welt bemühte die Religion sich, dem Menschen seinen Wert und seine Unsterblichkeit zu versichern. Und gegen alle Macht des Äußeren beschwor die Religion die Macht der Liebe, das ewige Thema des menschlichen Lebens, gesetzt im Zeichen der Verwandlung. Denn diese verdichtende Kraft hat am stärksten die Liebe. In der Kraft der Liebe verwandelt sich alles, was Äußeres ist, in die Schau des Wesens eines Menschen und der Dinge. Nichts ist mehr unbedeutend für einen Menschen, der liebt, nichts mehr ihm nebensächlich, nichts mehr wertlos. Jedes Wort, jedes Zeichen, jedes Ding verwandelt sich zu Symbol und Austausch und Sprache einer ewigen Beziehung unter den Menschen und der Menschen zu Gott. Dies ist das Wunder zu Kana: Gott zu gehören und den Menschen hilfreich, dienstbar, kostbar zu sein, betrachtet mit den ewigen Augen Gottes. Zum Glück, zur Freude, zur Bereicherung bis zum Rausch sind wir geboren. Die alte Religion des Dionysos hatte so unrecht nicht: Es gibt eine Auferstehung des zerstörten Lebens, es gibt eine Lust, die das Leid besiegt, es gibt Chiffren dessen, was im Wesen unzerstörbar ist und bleibt.

Ein von niemand mehr gehörtes Signal Meditation über das Verschwinden des Wortes „Gott"

von Karl Rahner

Bedenken wir einmal diese Möglichkeit. Das Wort „Gott" soll verschwunden sein, spurlos und ohne Rest, ohne dass noch eine übriggelassene Lücke sichtbar ist, ohne dass es durch ein anderes Wort, das uns in derselben Weise anruft, ersetzt wird, ohne dass durch dieses Wort auch nur wenigstens eine oder besser die Frage schlechthin gestellt würde, wenn man schon nicht dieses Wort als Antwort geben oder hören will. Was ist dann, wenn man diese Zukunftshypothese ernst nimmt? Dann ist der Mensch nicht mehr vor das eine Ganze der Wirklichkeit als solcher und nicht mehr vor das eine Ganze seines Daseins als solchen gebracht. Denn ebendies tut das Wort „Gott" und nur es - wie immer es phonetisch oder in seiner Herkunft bestimmt sein mag. Gäbe es das Wort „Gott" wirklich nicht, dann wäre auch dieses doppelt eine Ganze der Wirklichkeit überhaupt und des Daseins in der Verschränktheit dieser beiden Aspekte nicht mehr für den Menschen da. Er würde sich restlos über dem je Einzelnen an seiner Welt und in seinem Dasein vergessen. Er würde ex supposito nicht einmal ratlos, schweigend und bekümmert vor das Ganze der Welt und seiner selbst geraten. Er würde nicht mehr merken, dass er nur ein einzelnes Seiendes, aber nicht das Sein überhaupt ist. Er würde nicht merken, dass er nur noch Fragen, aber nicht die Frage nach dem Fragen überhaupt bedenkt; er würde nicht mehr merken, dass er immer nur einzelne Momente seines Daseins neu manipuliert, sich aber nicht mehr seinem Dasein als Einem und Ganzen stellt. Er würde in der Welt und in sich stecken bleiben, aber nicht mehr jenen geheimnisvollen Vorgang vollziehen, der er ist und in dem gleichsam das Ganze

des „Systems", das er mit seiner Welt ist, streng sich selbst als Eines und Ganzes denkt, frei übernimmt, so sich selbst überbietet und übergreift in jene schweigende, wie ein Nichts erscheinende Unheimlichkeit hinein, von der her er jetzt zu sich und seiner Welt kommt, beides absetzend und übernehmend. Der Mensch hätte das Ganze und seinen Grund vergessen, und zugleich vergessen - wenn man das noch so sagen könnte -, dass er vergessen hat. Was wäre dann? Wir können nur sagen: Er würde aufhören, ein Mensch zu sein. Er hätte sich zurückgekreuzt zum findigen Tier. Wir können heute nicht mehr so leicht sagen, dass dort schon Mensch ist, wo ein Lebewesen dieser Erde aufrecht geht, Feuer macht und seinen Stein zum Faustkeil bearbeitet. Wir können nur sagen, dass dann ein Mensch ist, wenn dieses Lebewesen denkend, worthaft und in Freiheit das Ganze von Welt und Dasein vor sich und in die Frage bringt, mag er auch dabei vor dieser einen und totalen Frage ratlos verstummen. So wäre es ja vielleicht wer vermag das genau zu wissen - auch denkbar, dass die Menschheit in einem kollektiven Tod bei biologischem und technisch-rationalem Fortbestand stirbt und sich zurückverwandelt in einen Termitenstaat unerhört findiger Tiere. Mag dies eine echte Möglichkeit sein oder nicht, den Glaubenden, den das Wort „Gott" Sprechenden brauchte diese Utopie nicht als eine Desavouierung seines Glaubens zu erschrecken. Denn er kennt ja ein bloß biologisches Bewusstsein und - wenn man es so nennen will - eine tierische Intelligenz, in die die Frage nach dem Ganzen als solchem nicht eingebrochen, der das Wort „Gott" nicht Schicksal geworden ist; und er wird sich nicht so leicht getrauen zu sagen, was solche biologische Intelligenz zu leisten vermag, ohne in das Schicksal zu geraten, das mit dem Wort „Gott" signalisiert ist. Aber eigentlich existiert der Mensch nur als Mensch, wo er wenigstens als Frage, wenigstens als verneinendende und verneinte Frage „Gott" sagt. Der absolute, selbst seine Vergangenheit tilgende Tod des Wortes „Gott" wäre das von niemandem mehr ge-

hörte Signal, dass der Mensch selbst gestorben ist. Es wäre ja vielleicht - wie schon gesagt - ein solcher kollektiver Tod denkbar. Das brauchte nicht außergewöhnlicher zu sein als der individuelle Tod des Menschen und des Sünders. Wo keine Frage mehr wäre, wo die Frage schlechthin gestorben und verschwunden wäre, brauchte man natürlich auch keine Antwort mehr zu geben, dürfte aber auch keine verneinende geben; und man könnte diese Leerstelle, die man als Möglichkeit denkt, auch nicht zum Argument dafür machen, dass das, was mit „Gott" gemeint ist, nicht gegeben sei, weil man sonst ja wieder eine Antwort - wenn auch eben eine verneinende auf diese Frage gegeben hätte. Dass man also die Frage nach dem Tod des Wortes „Gott" stellen kann, zeigt nochmals, dass das Wort „Gott" - auch durch den Protest gegen es - sich noch behauptet.

ISLAM

Ein vom Äußeren her streng und unnachsichtig wirkender Sufi erschien vor den Toren des Raiastes. Niemand wagte ihn aufzuhalten, als er geradewegs auf den Thron zuschritt, den der heiligmäßige Ibrahim ben Adam innehatte. „Was wünschst d u ? " fragte der König. „Einen Platz, um in dieser Karawanserei zu schlafen." „Das ist keine Karawanserei. Das ist mein Palast." „Darf ich fragen, wem dieser Ort vor Euch gehörte?" „Meinem Vater. Er ist tot." „Und wem gehörte er vor diesem?" „Meinem Großvater. Er ist auch tot." „Und dieser Ort, den Menschen eine kurze Weile bewohnen und dann weiterziehen - sagtet Ihr wirklich, er sie keine Karawanserei?" (Anthony de Mello, Zeiten des Glücks, S. 129)

Einführung von Ursula Spuler-Stegemann

Der Islam ist nach dem Christentum die zweitgrößte, gegenwärtig am stärksten expandierende Weltreligion. Seine nachweisbare Attraktivität steht deutlich im Widerspruch zu dem Schreckensbild, das die Medien uns ständig vor Augen führen und das ebenso einseitig wie nachhaltig unsere Vorstellung von einer Religion prägt, die noch im tiefsten Mittelalter steckt oder wieder dorthin zurückführt. Viele verwundert deshalb die fast explosiv wirkende Kraft des Islam oder die Faszination, die er gerade auch auf junge Menschen ausübt. Tatsächlich gibt es aber gute Gründe, die gläubige Muslime - und nicht nur sie - sicher machen, dass der Islam so stark wie keine andere Macht dieser Welt das 21. Jahrhundert prägen werde. Mitten in einer Zeit verbreiteter Orientierungslosigkeit und negativer Zukunftsperspektiven - wie die Bedrohung der Menschen durch Umweltschäden oder die unkalkulierbaren Risiken der Atomenergie - bietet uns der Islam eine heile Welt. Gottes Schöpfung ist von Grund auf gut. Auch wenn die Menschen unübersehbare Fehler machen, so sind sie doch letztlich mit Gottes Hilfe auch dazu in der Lage, die Dinge wieder zum Guten zu wenden. Nach muslimischer Vorstellung hat jedoch nur der Islam die dafür erforderliche Kraft, nachdem der Kommunismus zusammengebrochen ist, der Kapitalismus die Kluft zwischen armen und reichen Ländern vergrößert hat und das Christentum innerlich ausgehöhlt und damit überholt ist - erkennbar beispielsweise am fatalen Einsatz für Homosexuelle, der im Widerspruch zu einer natürlichen Familienordnung steht. Der Islam vermittelt eine umfassende positive Lebens-

Orientierung und präsentiert sich als der heilsame Weg der Zukunft. Er verspricht, Gerechtigkeit auf Erden zu schaffen und die sozialen Verhältnisse zufriedenstellend zu ordnen. Er wagt es, moralische Forderungen zu erheben und seine ethischen Werte standhaft zu verteidigen. Der Islam ist nicht nur eine Religion, sondern zugleich ein in sich stimmiges Gesellschaftssystem, grundlegend und lebensbejahend zugleich. Die islamische Gemeinschaft, die umma, gründet sich auf die absolute Autorität Gottes. Der Koran, das heilige Buch der Muslime, gilt als das unverfälschte Wort Gottes, das man zwar immer wieder neu interpretieren muss, das aber seinem Wesen nach und bis hin zum kleinsten Buchstaben unveränderbar ist und nicht kritisch hinterfragt werden kann. Eine weitere unzweifelhafte Autorität ist im Islam die als Sünna schriftlich fixierte Tradition, die Episoden der Lebensführung und Aussprüche des Propheten Muhammad umfasst und ebenfalls ständig erneuter Interpretation bedarf. Deshalb genießen die Experten in Sachen Religion, also die Theologen, besonders die Muftis, ebenso die Juristen, selbst die Imame in den Moscheen und die Hodschas, großes Ansehen und haben sehr weitreichenden Einfluss. Im heutigen weltweiten Aufeinanderprallen ganz unterschiedlicher Kulturen und Religionen - wie wir es gegenwärtig beispielsweise in Deutschland erleben - kommen bei vielen Beteiligten Glaubensunsicherheiten und Identitätsprobleme auf. Die eigenen Werte erscheinen in einem neuen Licht. Neuartige Lebenssituationen müssen bewältigt werden, für die man oftmals nicht hinreichend gerüstet ist. Der Islam bietet überzeugende Antworten auf alle diese Probleme, für deren Lösung man im Zweifelsfall sogar bei autorisierten religiösen Institutionen kostenlos Rechtsgutachten einholen kann. Das islamische Religionssystem bewältigt alle Ängste und Nöte und lässt keinen Raum für Zweifel, allerdings auch nicht für Kritik. „Islam" bedeutet Ergebenheit in den Willen und in die Barmherzigkeit des Einen Gottes. Diese Grundhaltung ist aber

alles andere als resignativer Fatalismus. Ganz im Gegenteil: Ein Muslim ist selbstverantwortlich und hat einen umfassenden Pflichten-Kodex zu erfüllen. Der Islam ist keine Religion der Theorie, sondern der Glaubenspraxis. Wie ein Wegweiser zeigt er die Richtung an, die der Gläubige sein Leben hindurch einzuschlagen hat. Er wird nie alleingelassen, sondern erfährt sich Tag für Tag als ein wichtiger Bestandteil der allumfassenden, welterhaltenden Wertegemeinschaft des Islam. Strenge Moralvorstellungen können bei Orientierungsproblemen sehr hilfreich sein. Jugendliche suchen oft in besonderer Weise nach verlässlicher Leitung. Der Islam setzt klare Maßstäbe und fordert ein, wie sich seine Anhänger zu Gott und zueinander zu verhalten haben. Er stellt diese Ansprüche nicht zur Disposition, sondern hat den Mut, an seinen religiösen Werten - die keineswegs immer den westlichen Vorstellungen entsprechen - unbeirrbar festzuhalten. Das Christentum kennt viele ganz großartige ethische Werte - wie Nächstenliebe, die Mitverantwortung jedes Einzelnen für die menschliche Gemeinschaft oder die Ehrfurcht vor dem Leben. Aber im heutigen Christentum wird vieles in Frage gestellt, wird zu Tode diskutiert und seinem Grundsatzanspruch nach aufgegeben. Der Islam hingegen verbietet den Abfall vom religiösen Wertekonsens als ärgste und unverzeihliche Sünde. Er wagt es, unkritisierbare Verhaltensweisen zu fordern, die zwar anstrengend sein mögen, deren unvergänglicher Lohn aber im Jenseits wartet. Der Koran schildert plastisch und in den herrlichsten Farben, wie köstlich und verlockend das Paradies ist - zumindest für die Männer. Für dieses Ziel lohnt es sich, vollen Einsatz zu machen, die Pflichten der fünf „Säulen des Islam" - Glaubensbekenntnis, rituelles Gebet, Fasten im Monat Ramazan, Sozialabgabe und Pilgerfahrt nach Mekka getreulich zu erfüllen und allerorten in der Welt ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen. Ein frommer Muslim lebt den ganzen Tag hindurch in seiner Religion. Er beschränkt sich nicht auf den gelegentlichen

Besuch des „Gotteshauses" und allenfalls ein abendliches Gebet. Die fünf täglichen Gebetszeiten strukturieren sein Lebensprogramm nach dem Willen Gottes und steuern nachhaltig jeder Isolierung in einer glaubenslosen Umwelt entgegen. So wird die Gemeinschaft der Gläubigen konkret erfahrbar beim rituellen Gebet, wenn sich alle Muslime mit den gleichen Gebeten und Worten in arabischer Sprache gen Mekka neigen und zu minudös festgelegten Tageszeiten gemeinsam Gott dienen. Machtvoll schwillt ihr Gebet an und wird zum Schöpfer empor getragen. Das Gebet nur eines Einzelnen könnte solche Kraft nie entfalten. Solidarität mit den Mitmuslimen und Mitmenschlichkeit gebietet insbesondere auch die religiöse Pflicht der Wohlhabenden, dem Bedürftigen vom eigenen Überfluss abzugeben. Gemeinsam fastet man im Monat Ramazan, und zu festgelegten Zeiten vollzieht man zusammen mit etwa zweimillionen anderen Gläubigen den Ritus der Pilgerfahrt im Heiligen Bezirk um die Kaaba zu Mekka. Gemeinsam mit allen Muslimen dieser Welt feiert man dann das Opferfest. Das Gemeinschaftserleben, wie es im Christentum ansatzweise auch Kirchentage oder das Weihnachtsfest zu vermitteln vermögen, verbindet und verbündet die Muslime über die Grenzen und Kontinente hinweg mit hoher Intensität und durchdringender Glaubenskraft. Während die Christen sich zunehmend ihren individuellen Glaubensvorstellungen überlassen und darin ihr Genüge finden, stellt der fromme Muslim das Wohl der Gemeinschaft der Gläubigen, der umma, über alle persönlichen Freiheiten, mögen sie auch als noch so verlockend erscheinen. Solch eine Grundhaltung erfordert neben strenger Disziplin hohe Opferbereitschaft. In einer weithin von Egoismus geprägten Welt ist sie ein sozialer Wert allerhöchsten Ranges, der gerade jungen Menschen viel bedeutet. Der Islam ist eine Religion der Öffentlichkeit, anders als das Christentum, das sich im Zweifelsfall auf das Gebet im Stillen Kämmerlein zurückziehen mag. Alle religiösen Pflich-

ten des Islam dienen nicht nur Gott, sondern zugleich der Gemeinschaft aller Gläubigen und sind damit öffentlich. Einerseits wird dadurch sozial kontrollierbar, wer diesen Pflichten nicht nachkommt, etwa während des Fastenmonats im Büro eine Zigarette raucht oder zur täglichen Gebetszeit Zeitung liest. Der Druck, sich ständig religionskonform verhalten zu müssen, kann in der Praxis ganz enorm sein. Andererseits aber wird allen Gläubigen im Umfeld offenbar, wie fromm man ist. So ist der pflichtbewusste Muslim eingebettet in Achtung und Anerkennung, erfährt Zuwendung und persönliche Aufwertung. Er ist nicht auf sich selbst angewiesen, sondern er ist wichtiger Teil einer Gemeinschaft, in der jeder ebenso seinen festen und sicheren Platz hat wie seinen unverwechselbaren höchstpersönlichen religiösen Wert. Der leidige Umstand, dass die traditionelle gesellschaftliche Ordnung auch in den islamischen Ländern aus den Fugen gerät und sich modernen Gegebenheiten wie der fortschreitenden Industrialisierung und deren Folgen anzupassen hat, bereitet zwar vielen Theologen erhebliche Beschwernis, lässt sich aber von den Vorgaben und Möglichkeiten des Islam her durchaus meistern. In dieser Hinsicht ist die religiöse Diskussion voll im Fluss. Sie verläuft zugleich spannend und differenziert. Das Spektrum der Betrachtungsweisen reicht vom strengsten Fundamentalismus über gemäßigte Positionen bis hin zur strikten Trennung von Religion und weltlicher Macht in Politik und Wirtschaft. Wenn auch einige Fundamentalisten-Gruppen versuchen, ihre Sicht des untrennbaren Ineinand e r von Religion und Staat in allen Lebensbereichen militant durchzusetzen, so lassen sich aufs Ganze gesehen dennoch die Stimmen, die für einen stärker verinnerlichten, ansonsten eher weltoffenen und unterschiedlichen Auffassungen gegenüber wahrhaft toleranten Islam sprechen, nicht mehr unterdrücken. Unbeschadet vielfältig kontroverser Positionen - auch innerhalb des fundamentalistischen Lagers - sind sich die gläu-

bigen Muslime darin einig, dass der Islam die Krone aller Religionen ist. Die beiden anderen „Buchreligionen", Judentum und Christentum, haben zwar Anteil an Gottes Heilsoffenbarungen für die Menschheit; deshalb können wahrhaftig fromme Juden oder Christen über alle Toleranz hinaus sogar geachtet und persönlich akzeptiert werden. Doch in beiden Religionen sind die einstigen Offenbarungen Gottes an Mose und Jesus durch deren Anhänger entscheidend verfälscht worden, im Christentum beispielsweise durch die Darstellung Jesu als Sohn Gottes oder durch die Lehre vom dreieinigen Gott; deshalb können sie bestenfalls als Vorstufen des Islam gelten und letztlich nicht zum Heil führen. Die angestrebte Herrschaft des Islam in der Welt ist unhinterfragbar gut, und zwar für die gesamte Menschheit. Der missionarische Impetus, die Glaubensgewissheit, dass diese Welt durch den Islam gesunden wird, beruht auf der Gewissheit, dass die Kraft des Islam, wenn sie zum Durchbruch kommt, echte soziale Gerechtigkeit auf Erden durchsetzen wird. Letztlich wartet auf die Frommen - als Ausgleich für all ihre Müh und Plage - das Piradies, das man sich sehr konkret und als das eigentliche Leben vorstellt. Dafür setzen heute Muslime - gerade auch in fundamentalistischen Kreisen - ihre gesamte Energie ein. Zunehmend studieren junge Leute - insbesondere aus religiösen Kreisen - bevorzugt technische Fächer, aber auch Wirtschaftswissenschaften, Medizin, Informatik usw. Sie haben erkannt, dass ohne modernes Know-how ihre Zukunftsvision von einem islamischen Weltreich nicht zu verwirklichen ist. Die Möglichkeit, qualifiziert daran mitzuwirken, dass diese heile Welt entstehen kann, ist ein sehr wesentlicher Grund für die wachsende Attraktivität gerade dieser Religion. Freilich kann erst die Zukunft zeigen, ob der Islam, der im Laufe der Geschichte bereits Gewaltiges geleistet hat, tatsächlich diesen Ansprüchen zu genügen vermag. Doch das Hoffnungspotenzial ist groß, die aus der ständigen Glaubenspraxis

genährte Tatkraft aller aktiv Beteiligten immens und das ethische Wertesystem - trotz manch unverkennbarer Traditionsbedingtheiten - nach wie vor voller ungebrochener Kraft. Alles Leben auf dieser Welt hat seinen Sinn von Gott her: Das ist das Wesen des Islam, des Miteinanders in der umma und des gemeinsamen Heilszieles der Gläubigen bis zum Ende aller Dinge.

,Es gibt keinen Gott außer ihm' Texte des Korans

Allah, es gibt keinen Gott außer ihm, dem Lebendigen, dem Ewigen. Schlummer ergreift ihn nicht noch Schlaf. Ihm gehört all das, was in den Himmeln und auf Erden ist. Wer ist es, der Fürsprache bei ihm einlegen wird ohne seine Erlaubnis? Er weiß, was vor ihnen liegt und was hinter ihnen, und sie verstehen nichts von seinem Wissen, außer, was er will. Sein Thron umschließt die Himmel und die Erde; ihre Überwachung ist ihm kerne Bürde. Er ist der Erhabene, der Ruhmreiche. Kein Zwang ist im Glauben. Rechtschaffenheit ist nunmehr klar unterschieden von Irrtum. Wer die Götzen verleugnet und an Allah glaubt, der hält sich an die stärkste Stütze, die unzerbrechliche. Allah ist der, der alles hört, der alles weiß. Allah ist der Beschützer der Gläubigen; er führt sie aus den Finsternissen ans Licht. Die Ungläubigen aber - ihre Beschützer sind Götzen, die sie aus dem Lichte in die Finsternis führen; jene sind die, die im Feuer wohnen werden, dort verweilen sie für immer. (II, 256-259) Das ist Allah, euer Herr. Es gibt keinen Gott außer ihm, dem Schöpfer aller Dinge. So dienet ihm, denn er ist Wächter über alles. Kein Auge kann ihn erfassen, aber er erreicht jedes Gesicht. Er ist der Scharfsinnige, der stets Kundige. ( V I | 0 2 -103) Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen. Es preiset Allah, was in den Himmeln und was auf Erden ist; er ist der Allmächtige, der Allweise.

Ihm gehört das Reich der Himmel und der Erde, er macht lebendig und tötet, und er ist aller Dinge mächtig. Er ist der Erste und der Letzte, der außen ist und innen, er hat Kenntnis von allem. Er ist es, der die Himmel und die Erde in sechs Tagen schuf und sich dann auf dem Thron niederließ. Er weiß, was in die Erde eingeht und was dann aus ihr hervorkommt, was vom Himmel herabkommt und was zu ihm aufsteigt. Er ist mit euch, wo immer ihr sein möget, und Allah sieht die Dinge, die ihr tut. Ihm gehört das Reich der Himmel und der Erde, und zu ihm kehren alle Dinge zurück. Er lässt die Nacht zum Tage werden und den Tag zur Nacht, und er kennt das Innerste der menschlichen Brust. (LVII, 1-5) Er ist Allah; es gibt keinen Gott außer ihm. Er kennt das Verborgene und das Sichtbare. Er ist der Erbarmer, der Barmherzige. Er ist Allah; es gibt keinen Gott außer ihm. Er ist der König, der Heilige, der Friedfertige, der Getreue, der Beschützer, der Allmächtige, der Starke, der Hocherhabene. Ruhm sei Allah, erhaben über dem, was sie ihm zugesellen. Er ist Allah, der Schöpfer, der Gestalter, der Bildner. Ihm geziemen die höchsten Namen. Ihn preist, was in den Himmeln und auf Erden ist; er ist der Allmächtige, der Allweise. (LXI, 23-25) Sehen sie denn nicht zum Himmel über ihnen empor, wie wir ihn erbauten und schmückten und wie er keine Risse hat? Und die Erde, wir breiteten sie aus und warfen in sie die festgegründeten Berge und ließen auf ihr sprießen von jeglicher schönen Art. Zur Einsicht und Ermahnung für jeden reuig sich bekehrenden Diener.

Und wir senden vom Himmel gesegnetes Wasser herab und lassen durch dasselbe Gärten sprießen und das Korn der Ernte, Und hohe Palmen mit dicht besetzten Fruchtscheiden, als eine Versorgung für die Diener. Und machen mit ihm ein totes Land lebendig; also wird die Auferstehung sein. Sind wir denn durch die erste Schöpfung ermattet? Doch sie sind in Unklarheit über eine neue Schöpfung. Und wahrlich, wir schufen den Menschen, und wir wissen, was ihm seine Seele einflüstert, denn wir sind ihm näher als die Halsader.

(L, 6-1.14-15)

Sprich: Wir glauben an Allah und an das, was uns herabgesandt wurde und herabgesandt wurde auf Abraham und Ismael, Isaak und Jakob und die Stämme, und an das, was Mose und Jesus und den Propheten gegeben wurde von ihrem Herrn; wir machen keinen Unterschied zwischen einem von diesen, und ihm (Allah) sind wir ergeben. Wer eine andere Religion als den Islam begehrt - er möge sie nicht annehmen -, der wird im Jenseits zu den Verlorenen gehören. Wie soll Allah ein Volk leiten, das ungläubig wurde, nachdem es glaubte und bezeugte, dass der Gesandte wahrhaftig sei, und nachdem deutliche Zeichen zu ihnen kamen? Aber Allah führt nicht ein Volk der Frevler. Jene - ihr Lohn ist, dass der Fluch Allahs und der Engel und der Menschen auf ihnen liegen soll. Ewig bleiben sie in ihm; die Strafe wird ihnen nicht erleichtert, und kein Aufschub wird ihnen gegeben. Aber jene, die bereuen und sich bessern: Allah ist verzeihend und barmherzig.

(jjl 78-g4)

Muhammad - Weg, der zu Gott führt Der Prophet als Vorbild muslimischer Lebensform

von Annemarie Schimmel

Es ist das Verständnis der Person Muhammads, an dem sich Islam und Christentum besonders stark scheiden, wie der langjährige Rektor der Al-Azhar-Universität in Kairo, Mustafa al-Maraghi, einmal zum anglikanischen Bischof von Ägypten sagte: „Das größte Ärgernis, das die Christen bei ihren muslimischen Freunden erregen, entsteht daraus, dass es ihnen völlig an Verständnis für die Verehrung mangelt, die der Prophet Muhammad im Leben der Muslime genießt." In ihm, dem letzten der gottgesandten Propheten, sind, wie die Überlieferung feststellte, die Weisheit und die Schönheit aller früheren Propheten vereinigt. Der Ausdruck „Siegel der Propheten" (Sure, 33,40) hat freilich, wörtlich genommen, dazu geführt, dass der Muslim keinen Propheten nach Muhammad akzeptieren kann - keine Offenbarung, die ein neues göttliches Gesetz bringt, ist nach seinem Auftreten noch möglich. Der Koran bezeichnet Muhammad auch als leuchtende Lampe (Sure 33, 40). Von hier aus konnte sich leicht der Gedanke entwickeln, dass er nicht nur die „Lampe der Rechtleitung" war, sondern auch körperlich strahlte: das Ur-Licht strahlte auf seines Vaters Stirn und ging in den Leib Aminas ein, und die Geburt des Knaben am 12. Rabi al-Awwal, dem dritten Mondmonat, war von Lichtwundern umgeben - ein typischer Zug in den Geburtslegenden der Stifter. Dieses Licht manifestierte sich in ihm so, dass er, wie Legenden wissen, keinen Schatten warf. In der schiitischen und mystischen Tradition ist die Lichtsubstanz des Propheten überaus wichtig ... Im Sufismus gilt das Muhammad-Licht als die eigentliche UrSubstanz, das erste, was Gott geschaffen hat.

Muhammads Rolle als „schönes Vorbild" zeigte sich vor allem im praktischen Leben: Man versuchte, ihm in seinen Haltungen und Handlungen so ähnlich wie möglich zu werden: „Ich unterlasse nichts von dem, was der Gesandte Gottes getan hat; denn ich fürchte, wenn ich es unterließe, könnte ich irregehen." So sagte Abu Bakr. Seine sunna, „Gewohnheit", wurde studiert und eine immer wachsende Anzahl von Berichten über seine Worte und Taten gesammelt, woraus sich die Wissenschaft vom hadith, „Bericht", entwickelte. Denn je ferner man der Zeit des Propheten war, desto mehr sehnten sich die Muslime, seinem Beispiel zu folgen, damit sie im Wirbel der Ereignisse nicht in Sünde und Irrtum fielen. Hierher gehört auch die Lehre von derisma, der Sündlosigkeit des Propheten: er muss vor jedem Irrtum geschützt sein,denn hätte er sündigen oder sich irren können, so wäre Sünde oder Irrtum eine Pflicht des Muslims, der gehalten ist, dem geliebten Propheten in jeder Hinsicht nachzufolgen. Das Traditionsbewusstsein der Muslime und der ständige Rückgriff auf das „Schöne Beispiel" Muhammad haben das Leben in allen islamischen Gebieten geprägt und liegt auch den fundamentalistischen Strömungen zugrunde; denn da die Zeit, da er auf Erden wandelte, die beste aller Zeiten ist, suchte man sich überall nach seiner sunna zu richten: Man wusste, wie er die Waschung vollzogen hatte, welche Speisen er liebte, dass er Dinge dreimal zu tun, Aussprüche dreimal zu wiederholen pflegte - kurz, jedes Detail seiner Handlungen wurde aufgrund von Berichten seiner Zeitgenossen überliefert und später in umfangreichen Werken niedergelegt, nachdem die Authentizität jeder Nachricht durch genaue Kriterien gesichert schien. Ob es sich um moralische Handlungen handelte oder um äußerliche Gebräuche, man suchte oft die scheinbar unbedeutendsten Einzelheiten nachzuvollziehen... Erschienungen des Propheten im Traume sind ein häufiges Thema in Biographien; man kann von ihm Traditionen lernen, die freilich nur für den Träumenden bindend sind; doch eine

der wichtigsten Funktionen, die ihm in der Heiligenlegende zugeschrieben wird, ist, zölibatär lebende Mystiker daran zu erinnern, dass die Ehe eine sunna ist - und in der Regel folgten die so Träumenden dem Befehl des Propheten. Muhammad lehnte es strikt ab, Wunder zu wirken. Er wusste, dass das einzige Beglaubigungswunder, das er vorzuweisen hatte, die Verkündigung des göttlichen Wortes im Koran war: Der Koran, unnachahmlich und immer gültig, war seine Legitimation, nichts sonst. Aber die Bewunderung seiner Gefährten und mehr noch der folgenden Generationen umgab ihn mit Wundern, deren wichtigste aus Bemerkungen im Koran abgeleitet sind. Die göttliche Frage zu Beginn von Sure 94: „Haben Wir dir nicht die Brust geweitet?" wird schon früh als Hinweis auf eine Art Initiationserlebnis aufgefasst: In einem sehr alten Text berichtet der Prophet, wie er als Knabe von grüngewandeten Wesen - Engeln also - mitgenommen wurde und wie sie ihm auf einem Hügel die Brust öffneten, das Herz herausnahmen, mit kühlender Flüssigkeit wuschen, den winzigen schwarzen Fleck darin entfernten und ihn wieder heilten - das war, wie man später verstand, die völlige Reinigung von negativen Eigenschaften, so dass er zum reinen Gefäß für die Offenbarung wurde, und die beruhigende Kühle der Absoluten Gewissheit ward ihm gegeben. Zu den Initiationserlebnissen gehört auch seine nächtliche Reise, auf die in den ersten Versen von Sure 17 angespielt wird: „Gepriesen sei Er, der nachts mit Seinem Diener reiste..." Diese Reise, so verstand man, führte zunächst nach Jerusalem, der drittheiligsten Stadt des Islam. Dort betete er mit allen ihm vorausgegangenen Propheten und wurde auf einem wundersamen Geschöpf gen Himmel geführt: Der Buraq, ein Wesen mit Menschengesicht und Pfauenschweif, gestaltet wie ein kleines Pferd, trug ihn durch die jenseitige Welt. Unter Führung Gabriels erblickte er die Höllenstrafen und die sieben Sphären mit ihren Bewohnern und wurde endlich in die unmittelbare Gegenwart Gottes getragen, während der getreue Gabriel am

„Lotosbaum der äußersten Grenze", dem Ende der geschaffenen Welt, zurückblieb und nicht in die unmittelbare göttliche Gegenwart eintreten durfte. Nur der Prophet durfte das, um unaussagbare Zwiesprache mit Gott zu halten - worauf das hadith deutet: „Ich habe eine Zeit mit Gott, in die selbst Gabriel, der reiner Geist ist, nicht hineinpasst." Einer Tradition zufolge wurden bei der Himmelsreise die Pflichtgebete nach längerer Diskussion auf fünf festgesetzt oder auch die Rolle des Propheten als Fürbitter für seine Gemeinde festgelegt; denn wenn am schrecklichen Auferstehungstage jeder Prophet ausruft: „nafsi, nafsi - Ich selbst, ich selbst (möchte gerettet werden!)" wird Muhammad mit der griinen Flagge des Lobes kommen und ausrufen: „Ummati, ummati - Meine Gemeinde, meine Gemeinde (soll gerettet werden!)"... Buraq erscheint heute als Schutzbild auf pakistanischen Lastwagen. Die Dichter der islamischen Welt haben die Himmelsreise immer weiter farbig ausgeschmückt, während die Mystiker in ihr ein Vorbild für ihre eigenen Seelenreisen sahen. Denn nach traditioneller Auslegung geschah die Reise des Propheten „im Leibe" während die Erfahrungen der Frommen in der Seele stattfinden; der Leib des Propheten war so vergeistigt wie die Seele normaler Frommer. Man konnte seine Rückkehr von der unmittelbaren Gottesgegenwart (die er im Gebet immer wieder zu erfahren suchte) auch als typisch für den „prophetischen" Frömmigkeitstyp ansehen: Während der Mystiker am liebsten nicht wieder aus der absoluten Einheit der Versenkung zurückkehren möchte, will, ja der Prophet das in der unmittelbaren Gottesgegenwart Erfahrene in der Welt verkünden, es praktisch zu verwirklichen suchen... Für die Mystiker spielt die Rolle Muhammads als des ersten je geschaffenen Wesens eine zentrale Rolle, und die Beschreibungen, die man seit dem späten 9. Jahrhundert über die von Gott geschaffene Lichtsäule, das ist die Ur-Form Muhammads, liest, reichen tief in mythische Sphären. Sie werden in allen islamischen Ländern von Bengalen bis in die Türkei und

Nordafrika immer reicher ausgeschmückt. Im Laufe der mystischen Spekulationen ward Muhammad zum Vollkommenen Menschen, zu dem, der in sich alle Attribute und Namen Gottes widerspiegelt, zur Nahtstelle zwischen dem göttlichen Wesen und der Schöpfung - aber doch immer ein Geschöpf, kein „Gottessohn". Er ist 'abduhu, „Gottes Diener" und da diese Bezeichnung für ihn im Koran an den beiden Stellen verwendet wird, wo von seinen visionären Erfahrungen gesprochen wird (Sure 17,1, die Nachtreise; Sure 53,10 die Vision), erschien diese Bezeichnung den Frommen als der höchste Rang, den der Mensch erreichen konnte. Muhammad ist der sichere Weg, der zu Gott führt, und in seiner Lichtsubstanz zu entwerden war das Ziel vieler Sufis bis zum heutigen Tage... Die Segenskraft Muhammads zeigt sich auch in seinem Namen: Ein Mann mit Namen Muhammad wird sicherlich, wie man glaubt, ins Paradies eingehen. Doch bestand auch Furcht vor der Entweihung des heiligen Namens - daher die Aussprache mit anderer Vokalisation, wie Mehmet im Türkischen, Mah oder Moh in Nordafrika. Die anderen Namen, die ihm beigelegt werden, sind ebenfalls segensreich, wie Mustafa, „der Erwählte" oder sein himmlischer Name Ahmad. Bei letzterem handelt es sich um die Bezeichnung des Propheten in Sure 61,6 in der das Kommen eines Propheten, „hochgelobt" ahmad, verkündet wird. Die frühen Muslime verstanden daraus, dass hier der Paraklet gemeint ist, denn parakleitos und perikletos, „der Gelobte" konnten durch die Autoren der Bibel verwechselt worden sein... Reliquienkult entwickelte sich früh; seine Haare, seine Sandalen und sein Gewand werden verehrt; sie alle werden mit dem Adjektiv scharif, „edel" bezeichnet, das bei allen zu Muhammad gehörigen Dingen verwendet werden soll. Es versteht sich von selbst, dass Muhammad in seiner mythisch überhöhten Gestalt zum Zentrum des Frömmigkeitslebens wurde, und manche Theologen tadelten es, dass

er, der ja nur Bote war, in der Volksfrömmigkeit wichtiger war als der Koran, das urewige Wort Gottes (das freilich für die Massen, vor allem in den nicht-arabischen Ländern, unverständlich war und ist). Mit dem zunehmenden Kontakt mit westlichen Ländern wurde die Verehrung Muhammads noch stärker in den Mittelpunkt gestellt - war er nicht der absolut vor Irrtum geschützte Führer seiner Gemeinde? Und während mystische Bruderschaften in Indien und Nordafrika, im Sudan und anderwärts von den lichtvollen Ereignissen sangen, die sich um den abgespielt hatten, zu dem Gott sagte: „Wenn du nicht wärest, hätte Ich die Welten nicht geschaffen" fanden die Reformtheologen des späteren 19. Jahrhunderts zurück zu der Rolle Muhammads als des ethischen Vorbildes, des politischen Führers, des Mannes, der einen grundlegenden Wandel in der Sozialstruktur seines Volkes herbeigeführt hatte. Wilfred Cantwell Smith hat darauf hingewiesen, dass die Zahl der Bücher über den Propheten in der islamischen Welt mit dem Ende des 19. Jahrhunderts sprunghaft ansteigt, denn sich an sein Beispiel zu halten, schien den Muslimen in einer Zeit politischen Niedergangs und sich immer verschlechternder Umstände die einzige Rettung. Wenn der Inder Syed Ameer Ali in seinem berühmten Buch „The Spirit of Islam" 1897 das Modell Muhammad vorstellt, so beginnt damit eine Flut von Veröffentlichungen, die den Propheten jeweils als vorbildhaften Führer darstellen, ob der Verfasser nun Kommunist, Sozialist, Fundamentalist sein mag, und wenn Gamal Nasser ihn als „Imam des Sozialismus" bezeichnete, ist das nur eines von vielen Beispielen einer Neu-Interpretation. Bei diesen Bemühungen, den Propheten zeitgemäß zu behandeln, wird freilich oft seine genuin religiöse Qualität zugunsten polirischer oder ideologischer Behauptungen übersehen. Muhammad zu beleidigen ist eine schwer Sünde, für die im Laufe der Jahrhunderte oft Todesstrafe verhängt wurde - der Fall Rushdie, unverständlich für die meisten Nicht-Muslime, erklärt sich aus dieser langen Tradition:

Den Propheten zu schmähen ist ein schauderhaftes Verbrechen. Denn es ist der Prophet, der den Islam als eigene Religion geformt und geprägt hat. Die erste Hälfte des Glaubensbekenntnisses, „Es gibt keine Gottheit außer Gott", kann wohl von jedem Menschen akzeptiert werden, aber mit der zweiten Hälfte „Muhammad ist der Gesandte Gottes" ist der Islam in seinen legalen und kultischen Aspekten, in seiner Rolle als eigenständiges Gebilde definiert - eine Lebensform, die Welt und Jenseits, geistiges und irdischen Heil für den Gläubigen umfasst; und wie Iqbal schreibt: „Liebe zum Propheten fließt wie Blut in den Adern seiner Gemeinde."

Das Geheimnis der Derwische Über Sufis und ihre Geschichten

von Idries Shah

Der Derwisch, so wie er in der reichen klassischen Literatur des Sufismus beschrieben wird, ist einer, der sich bemüht, ein Sufi zu werden. „Derwisch" ist der hierfür übliche Ausdruck. Das Wort „Derwisch" wird in der Umgangssprache auch für einen Menschen von gutherziger und schlichter Wesensart gebraucht: „Er ist ein wahrer Derwisch" bedeutet dann: „Er ist ein ehrenwerter Mann von hohen Grundsätzen." Sufismus ist der Gattungsbegriff für das Studium und für die Erkenntnisse, nach denen der Derwisch strebt. Niemand hat das Recht, sich selber einen „Sufi" zu nennen. Dies aus demselben Grunde, aus dem mancher Christ nicht den Titel eines wahren Christen für sich beanspruchen würde, sondern lieber sagt, er hoffe, einer werden zu können. Das Studium des Sufismus - sowohl im Osten als auch im Westen - bringt sehr große Mühen und Schwierigkeiten mit sich. Dies hat seine Ursache in einer Reihe von Umständen. Als allererstes ist vielleicht die Tatsache zu nennen, dass der Sufismus behauptet, dem Menschen sei eine direkte Wahrnehmung Gottes möglich ... Der Sufismus ist eine Form der Mystik, und Mystiker haben immer in einer nicht eben einfachen Beziehung zur dogmatischen und lebhaft fixierten Religion gestanden - und dies vor allem im Bereich der jüdischen, christlichen und islamischen Religion. Ein weiterer gewichtiger Umstand ... liegt in der Tatsache, dass die Sufilehre nicht dogmatisch-inhaltlich oder ideologisch ist, sondern in ihrer Übermittlung ereignet sich Wirkung. Dies bedeutet, dass der Sufi, wenn er gewisse Erfahrungen durchgemacht hat - die ihm, so glaubt man, den Zugang zur

letzten Wahrheit geschenkt haben sein Leben so lebt und seine Lehren in einer Weise vorbringt, wie es in seiner Zeit, an seinem Ort und bei den Menschen, die ihm begegnen, erforderlich ist. Dies bedeutet außerdem, dass die Art, wie er lehrt und die Lehre darstellt, sich nach den Möglichkeiten der Vermittlung richtet, nicht aber nach starr übernommenen Vorschriften aus alter Zeit. Das durch die Tradition überlieferte Material, wie eben die Derwischerzählungen, wird nur dann angewandt, wenn der Lehrer weiß, dass es sich erfolgreich auswirken wird. Sie werden nicht, wie man gewöhnlich meint, einfach nur zur Unterhaltung oder Belehrung gebraucht. Trotzdem dienen die Erzählungen verschiedenen Zwecken. Als erstes nimmt man an, dass hierdurch diese Welt mit der höheren geistigen Welt verbunden wird. Daher enthalten sie, so meint man, Elemente, die es ermöglichen, dass sich unter geeigneten Umständen die Übertragung der Sufiweisheit ereignet. Ferner sind sie in so unterhaltender Form erzählt, dass ihr Weiterleben gesichert ist und man sie nicht vergisst, sondern immer wieder erzählt. Und schließlich haben sie auch auf der psychologischen und soziologischen Ebene ihre Wirksamkeit, auch ungeschulte Zuhörer spüren und bemerken etwas von ihnen. Dadurch kommen der Lehrer und der Schüler miteinander in Verbindung. Nachdem dieser Vorgang die aktive Teilnahme des Lernenden erfordert, erfolgt die „Erklärung" der eigentlichen Bedeutung, die tiefer liegt als ihr allen sichtbarer Sinn, in keiner Weise so, dass dies durch Worte wiedergegeben werden könnte; die Erfahrung ereignet sich, und der Schüler wird dementsprechend auf eine Weise belehrt, die jenseits des relativ oberflächlichen Feldes der intellektuellen Aktivität liegt. Dies ist es, was - im Sinne des Sufismus - unter geistiger Erfahrung verstanden wird. Außer den Lehrgeschichten gibt es viele andere Formen der Umwandlung bewirkenden Suflilehren: Poesie, die Haltung der Ritterlichkeit, gemeinschaftliches Studium, symbolische

Systeme und so weiter - auch der Humor gehört dazu. Der letztere wird angewandt, um von gewissen verhärteten Denkund Empfindungsweisen, verdrießlichen und intoleranten Neigungen, die leider manchmal bei angestrengtem Studium auftreten, zu befreien...

Die Geschichte von der Sandwüste Ein Strom floss von seinem Ursprung in fernen Gebirgen durch sehr verschiedene Landschaften und erreichte schließlich die Sandwüste. Genauso wie er alle anderen Hindernisse überwunden hatte, versuchte der Strom nun auch, die Wüste zu durchqueren. Aber er merkte, dass - so schnell er auch in den Sand fließen mochte - seine Wasser verschwanden. Er war jedoch überzeugt davon, dass es seine Bestimmung sei, die Wüste zu durchqueren, auch wenn es keinen Weg gab. Da hörte er, wie eine verborgene Stimme, die aus der Wüste kam, ihm zuflüsterte: „Der Wind durchquert die Wüste, und der Strom kann es auch." Der Strom wandte ein, dass er sich doch gegen den Sand werfe, aber dabei nur aufgesogen würde; der Wind aber kann fliegen und deshalb vermag er die Wüste zu überqueren. „Wenn du dich auf die gewohnte Weise vorantreibst, wird es dir unmöglich sein, sie zu überqueren. Du wirst entweder verschwinden, oder du wirst ein Sumpf. Du musst dem Wind erlauben, dich zu deinem Bestimmungsort hinüberzutragen." Aber wie sollte das zugehen? „Indem du dich von ihm aufnehmen lässt." Diese Vorstellung war für den Fluss unannehmbar. Schließlich war er noch nie zuvor aufgesogen worden Er wollte keinesfalls seine Eigenart verlieren. Denn wenn man sich einmal verliert, wie kann man da wissen, ob man sich je wiedergewinnt. „Der Wind erfüllt seine Aufgabe" sagt der Sand. „Er nimmt

das Wasser auf, trägt es über die Wüste und lässt es dann wieder fallen. Als Regen fällt es hernieder, und das Wasser wird wieder ein Fluss." „Woher kann ich wissen, ob das wirklich wahr ist?" „Es ist so, und wenn du es nicht glaubst, kannst du eben nur ein Sumpf werden. Und auch das würde viele, viele Jahre dauern; und es ist bestimmt nicht dasselbe wie ein Fluss." „Aber kann ich nicht derselbe Fluss bleiben, der ich jetzt bin?" „In keinem Fall kannst du bleiben, was du bist" flüsterte die geheimnisvolle Stimme. „Was wahrhaft wesentlich an dir ist, wird fortgetragen und bildet wieder einen Strom. Heute wirst du nach dem genannt, was du jetzt gerade bist, doch du weißt nicht, welcher Teil deines Selbst der Wesentliche ist." Als der Strom dies alles hörte, stieg in seinem Innern langsam ein Widerhall auf. Dunkel erinnerte er sich an einen Zustand, in dem der Wind ihn - oder einen Teil von ihm? War es so? - auf seinen Schwingen getragen hatte. Er erinnerte sich auch daran, dass dieses, und nicht das jedermann Sichtbare, das Eigentliche war, was zu tun wäre - oder tat er es schon? Und der Strom ließ seinen Dunst aufsteigen in die Arme des Windes, der ihn willkommen hieß, sachte und leicht aufwärts trug und ihn, sobald sie nach vielen, vielen Meilen den Gipfel des Gebirges erreicht hatten, wieder sanft herabfallen ließ. Und weil er voller Be-Denken gewesen war, konnte der Strom nun in seinem Gemüte die Erfahrungen in allen Einzelheiten viel deutlicher festhalten und erinnern und davon berichten. Er erkannte: „Ja, jetzt bin ich wirklich ich selbst." Der Strom lernte. Aber die Sandwüste flüsterte: „Wir wissen, weil wir sehen, wie es sich Tag für Tag ereignet: denn wir, die Sandwüste, sind immer dabei, das ganze Flussufer entlang bis hin zum Gebirge." Und deshalb sagt man, dass der Weg, den der Strom des Lebens auf seiner Reise einschlagen muss, in den Sand geschrieben ist.

Der Mann mit dem unerklärlichen Leben Es war einmal ein Mann mit Namen Mojud. Er lebte in einer Stadt, in der er eine Stellung als kleiner Beamter bekommen hatte, und es sah so aus, als würde er seine Tage als Inspektor für Maße und Gewichte beenden. Als er nun eines Tages in den Gärten eines alten Anwesens, in der Nähe seines Hauses, spazieren ging, erschien ihm Khidr, der geheimnisvolle Führer der Sufis, in schimmerndes Grün gekleidet. Khidr sagte: „Du bist ein Mann, der gute Aussichten hat! Lass deine Arbeit und komm in drei Tagen ans Flussufer, wo du mich treffen wirst." Und damit verschwand er. Mojud ging zitternd vor Aufregung zu seinem Vorgesetzten und sagte, er müsse fortgehen. Bald hörten alle in der Stadt davon und sagen: „Armer Mojud! Er ist verrückt geworden." Da es jedoch viele Anwärter auf seinen Posten gab, vergaßen sie ihn bald. An dem vereinbarten Tag traf Mojud Khidr, der zu ihm sagte: „Zerreiß deine Kleider und wirf dich in den Fluss. Vielleicht wird dich jemand retten." Mojud, obgleich er sich selber fragte, ob er denn verrückt sei, tat es. Da er schwimmen konnte, ertrank er nicht. Er trieb aber eine weite Strecke dahin, bis ein Fischer ihn in sein Boot zog. „Du Narr" sagte er, „die Strömung ist stark. Was treibst du da? Was hast du vor?" Mojud sagte: „Ich weiß es eigentlich selber nicht." „Du bist verrückt" sagte der Fischer, „aber ich nehme dich mit in meine Schilfhütte drüben am Fluss, und wir wollen sehen, was man für dich tun kann." Als er merkte, dass Mojud gut lesen und schreiben konnte, lernte er es von ihm. Dafür erhielt Mojud zu essen und half dem Fischer bei der Arbeit. Nach einigen Monaten erschien Khidr wieder, diesmal am Fußende von Mojuds Bett, und sag-

te: „Steh sofort auf und verlass den Fischer. Es wird für dich gesorgt." Als Fischer gekleidet verließ Mojud unverzüglich die Hütte und wanderte umher, bis er auf eine Landstraße kam. Als der Tag anbrach, sah er einen Bauern, der auf seinem Esel unterwegs zum Markte war. „Suchst du Arbeit?" fragte der Bauer. „Denn ich brauche einen Mann, der mir hilft, die Einkäufe nach Hause zu bringen." Mojud ging mit ihm. Er arbeitete fast zwei Jahre für den Bauern und lernte in dieser Zeit manches in der Landwirtschaft, doch sonst nicht viel mehr. Als er eines Nachmittags Wolleballen schnürte, erschien ihm Khidr und sagte: „Verlass die Arbeit, geh in die Stadt Mosul und verwende deine Ersparnisse, um Pelzhändler zu werden." Mojud gehorchte. In Mosul wurde er ein bekannter Pelzhändler. Während er drei Jahre lang fleißig seinen Handel betrieb, bekam er Khidr nicht zu Gesicht. Er hatte eine ziemlich große Geldsumme gespart und dachte daran, sich ein Haus zu kaufen, als Khidr erschien und sagte: „Gib mir dein Geld, verlass diese Stadt, geh nach Samarkand und arbeite dort für einen Krämer." Mojud tat wie ihm geheißen. Bald darauf wurden eindeutige Zeichen der Erleuchtung an ihm sichtbar. Er heilte Kranke, diente seinen Mitmenschen im Laden und während seiner freien Zeit, und seine Erkenntnis der Mysterien wurde immer tiefer. Geistliche, Philosophen und manche andere Leute besuchten ihn und fragten: „Bei wem hast du studiert?" „Schwer zu sagen" antwortete Mojud. Seine Schüler fragten: „Wie hast du deine Laufbahn begonnen." Er sagte: „Als kleiner Beamter." „Und du hast das aufgegeben, um dich dem Pfad der Selbstverleugnung zu weihen?"

„Nein, ich habe es einfach nur aufgegeben." Sie verstanden ihn nicht. Es kamen Leute zu ihm, die seine Lebensgeschichte schreiben wollten. „Was bist du in deinem Leben alles gewesen?" fragten sie. „Ich sprang in einen Pluss, wurde ein Fischer und verließ dann mitten in der Nacht die Schilfhütte. Dann wurde ich Landarbeiter. Als ich gerade Wolleballen zusammenband, veränderte ich mich und ging nach Mosul, wo ich Pelzhändler wurde. Dort sparte ich etwas Geld und gab es weg. Dann ging ich nach Samarkand, wo ich für einen Krämer arbeitete. Und eben da bin ich jetzt." „Aber dieses unerklärliche Benehmen wirft kein Licht auf deine erstaunlichen Gaben und die wunderbaren Geschehnisse" sagten die Schreiber. „So ist es" sagte Mojud. Da entwarfen die Biographen eine wundervolle und aufregende Lebensgeschichte von Mojud; denn alle Heiligen müssen ihre Geschichte haben, und die Geschichte muss in Einklang mit dem Geschmack der Zuhörer stehen, nicht aber mit dem tatsächlichen Leben. Und niemand darf direkt von Khidr sprechen. Darum ist diese Geschichte auch nicht wahr. Es ist eine Schilderung eines Lebens. Und es ist das wirkliche Leben eines der bedeutendsten Sufis. Achtsamkeit des Glaubens Es war einmal ein guter Mensch. Er hatte sein ganzes Leben damit zugebracht, all die Tugenden zu entfalten, die jenen aufgetragen sind, die das Paradies erreichen möchten. Großzügig gab er den Armen, er liebte seine Mitmenschen und diente ihnen. Im Gedanken daran, wie notwendig Geduld ist, ertrug er oft um anderer willen große und unerwartete Mühsal. Auf der Suche nach Erkenntnis machte er Reisen. Seine Demut

und sein beispielhaftes Verhalten ließen seinen Ruf als weiser Mann und guter Bürger vom Osten bis zum Westen, vom Norden bis zum Süden widerhallen. Alle diese Tugenden übte er tatsächlich aus - wann immer er daran dachte. Aber er hatte eine Schwäche, und das war die Unachtsamkeit. Diese Neigung war nicht stark in ihm, und er meinte, dass sie, wenn man sie gegen all das Gute, was er tat, aufwöge, nur als kleiner Fehler gelten könne. Es gab da ein paar arme Leute, denen er nicht half, weil er bisweilen unempfindlich war für ihre Nöte. Auch die Liebe und das Dienen wurden manchmal vergessen, wenn das, was er als rechtmäßige persönliche Ansprüche oder doch zumindest als berechtigte Wünsche ansah, in ihm an die Oberfläche drang und Oberhand gewann in seinen Entscheidungen und in dem, was er tat. Er liebte den Schlaf; und manchmal, wenn er schlief, gingen Gelegenheiten ungenutzt vorüber, bei denen er Erkenntnis suchen oder Einsicht gewinnen, Demut üben oder die Summe seines guten Betragens noch um ein Gutes hätte vergrößern können. Und diese Gelegenheiten kamen nicht wieder. Genauso wie die guten Eigenschaften ihre Spuren in seinem Wesen hinterließen, so auch die Eigenschaft der Unachtsamkeit. Und dann starb er. Wie er sich nun jenseits dieses Lebens wiederfand und auf den Weg zu den Toren des „Ummauerten Gartens" begab, hielt er inne und prüfte sein Gewissen. Und er fand, dass er ausreichend Aussicht habe, durch die „Hohen Tore" eintreten zu dürfen. Er sah, dass die Pforten geschlossen waren, und dann wandte sich eine Stimme an ihn und sagte: „Sei achtsam! Denn die Pforten werden alle hundert Jahre nur einmal geöffnet." Er ließ sich nieder und wartete voller Spannung. Aber ohne die Möglichkeit, seine Tugenden gegenüber der Menschheit auszuüben, fand er, dass die bloße Achtsamkeit für einen Mann wie ihn doch zu wenig sei. Nachdem er eine Zeit, die

ihm so lang wurde, als sei es ein Jahrhundert, gewartet hatte, wurde er schläfrig. Für einen einzigen Augenblick schlössen sich seine Augenlider. Und in diesem unendlich winzigen Augenblick taten die Pforten sich weit auf. Noch ehe er die Augen wieder ganz geöffnet hatte, schlössen sich die Tore schon wieder unter donnerndem Getöse, laut genug,Tote zu erwecken.

Die Blinden und die Sache mit dem Elefanten Jenseits von Ghor lag eine Stadt. Alle ihre Einwohner waren blind. Eines Tages kam ein König mit seinem Gefolge in die Nähe; er brachte sein Heer mit und lagerte in der Wüste. Er besaß einen mächtigen Elefanten, den er zum Angriff einzusetzen pflegte, um den Schrecken des Feindes zu vergrößern. Die Bevölkerung war begierig, den Elefanten zu sehen, und einige aus dieser Gesellschaft von Blinden rannten los wie die Narren, um ihn zu finden. Nachdem sie nicht einmal wussten, was für eine Form oder welchen Umriss ein Elefant hat, betasteten sie ihn blindlings, um durch die Berührung seiner Körperteile Aufschluss zu erhalten. Jeder bildete sich ein, etwas zu wissen, weil er einen Teil fühlen konnte. Als sie zu ihren Mitbürgern zurückkehrten, wurden sie von aufgeregten Gruppen umringt; jeder Einzelne dieser Irrenden war begierig, die Wahrheit von denen zu erfahren, die doch selber in die Irre gingen. Sie fragten, wie der Elefant geformt sei und welche Gestalt er habe, und sie hörten sich alles an, was man ihnen erzählte. Der Mann, der das Ohr des Elefanten betastet hatte, wurde nach dem Wesen des Elefanten gefragt. Er sagte: „Er ist ein großes, raues Etwas, weit und breit wie eine Decke." Und der den Rüssel betastet hatte, sagte: „Ich weiß, was es

wirklich ist! Er ist wie eine gerade und hohle Röhre, furchterregend und gefährlich." Derjenige aber, der den Fuß und die Beine gefühlt hatte, sagte: „Er ist mächtig und fest gleich einer Säule." jeder hatte nur einen Teil des Ganzen betastet. Alle hatten es falsch verstanden. Keiner begriff das Ganze: Erkenntnis ist nicht die Gefährtin der Blinden. Alle hatten irgendeine Vorstellung, irgendeine irrige Vorstellung. Das Geschöpf weiß nichts über die Göttlichkeit. In dieser Wissenschaft gibt es mit den Mitteln des gewöhnlichen Intellektes keinen „Pfad" und keinen Zugang.

Gemeinschaft als Ort der Mystik Bei einer modernen türkischen Derwischbruderschaft

von Ursula Spuler-Stegemann

Angefangen hat alles mit einem zufälligen Besuch in einem der Antiquariate in den Sahaflar, einem Buchhändlerviertel nahe der Universität Istanbul. Ich suchte nach ein paar älteren Büchern, und wie es im Orient so Sitte ist, bekam ich den starken schwarzen Tee angeboten, der mich immer wieder umwirft, den man aber nicht ablehnen kann, denn das wäre sehr unhöflich. Nach den gewünschten Büchern werde er das nächste Mal, wenn ich wiederkäme, suchen, sagte der Buchhändler: Jetzt wolle er erst einmal wissen, wer ich sei, woher ich komme und warum der Mann neben mir so freundlich, aber stumm sei. Die Tatsache, dass ich mit ihm Türkisch plaudern könne, mein Mann aber nicht, leuchtete ihm nicht ein. Später lernten beide, miteinander mit Gesten und Mimik und einer Menge Verstand über theologische Themen zu diskutieren, so dass ich immer weniger den Dolmetscher spielen musste. Wie das genau geklappt hat, ist mir immer ein Rätsel geblieben; aber es funktionierte, wie so vieles andere. Der Buchhändler fragte mich aus, und bald war mir herausgerutscht, dass ich mich mit den Nurcus befasse. „Was halten Sie von den Nurcus?" versuchte ich die Situation zu retten. „Nun" erwiderte er diplomatisch, „sie sind nicht schlecht, auf ihre Weise sind sie sicher gut, aber sie sind politisch und fallen auf." Die folgenden Wochen war er durch seine Derwische über jeden unsere Schritte in Istanbul und über jedes meiner Treffen mit den Nurcus unterrichtet - auch das ist Orient. Auf Schritt und Tritt standen wir unter seiner Beobachtung und - unter seinem Schutz. Sein Bestreben war, ganz offensichtlich, mich von diesen Leuten, den Nurcus, abzubrin-

gen, die er offensichtlich nicht schätzte, und meine Aufmerksamkeit auf Wesentlicheres zu lenken. Und das hat uns um eine unglaubliche Erfahrung bereichert. Dieser Istanbuler Buchhändler und Antiquar Scheich Muzaffer Ozak al-Cerrahi, der im Jahr 1985 verstorben ist, hatte den Ehrennamen el-Hacc, denn er war in Mekka zur Pilgerfahrt gewesen. Er war eine äußerst imposante Erscheinung. Gewaltig war seine Leibesfülle, mächtig sein Resonanzkasten, beeindruckend sein Wissen. Selbst wenn er Zigarette rauchend hinter seinem Verkaufstisch, der mit verstaubten Büchern vollgestapelt war, saß und sich von seiner Frau den Rücken und die Schulter durchmassieren ließ, verlor er nichts von seiner Autorität. Die ankommenden Derwische küssten seine Hand, huschten auf eine kurze Fingerbewegung hin an die gewünschten Orte und erledigten, was immer er wollte; andere blieben stundenlang Tee trinkend sitzen, stumme Beobachter der Vorgänge im Laden. Das Deutsch des Scheichs beschränkte sich auf das Wort „Sargnagel", mit dem er immer wieder strahlend seine Zigaretten anbot, und den Ausdruck „Hüpfen und Springen" womit er recht plastisch den Hauptteil der Donnerstagabendzeremonie, des Zikr (dhikr), umschrieb, zu dem er uns nach näherem Kennen lernen einlud. Abgesehen davon war Muzaffar Bey, den man auch „Efendi" nannte, sehr gebildet, im klassischen Sinn. Er konnte sich in seinem komischen mit vielen „ö" und „ü" gespickten Arabisch sehr gut mit jedem arabischsprachigen „Müslim" verständigen. Er war weitgereist und - außer in arabischen Ländern - in den USA und in Europa, auch in Deutschland, gewesen. Außerdem hat er einige bedeutende Bücher geschrieben, von denen sein dreibändiger „lr§ad", „Die geistige Führung" 1988 mit dem Untertitel „Weisheit eines Sufimeisters" ins Englische übersetzt worden ist. Nun ist die Situation für Derwischorden in der Türkei sehr eigenartig: Diese Bruderschaften wurden offiziell 1925 durch

Atatürk verboten, weil dieser die Misere und den Zusammenbruch des Osmanischen Reichs auf das konservativ-rigistische Verhalten vor allem der Derwische zurückführte. Die Klöster, die tekke, wurden geschlossen. Seitdem sind Orden in der Türkei illegal, obwohl natürlich jeder weiß, dass sie immer weiter bestanden und jetzt sogar großen Zulauf haben. Solange man nicht politisch auffällig wird, kann man im „Halbverborgenen" wirken. Unser Scheich hatte allerdings eine eigene Lösung für dieses Problem gefunden: Er lud zu seinen DonnerstagabendZeremonien immer wieder einmal Fremde ein, um dann - für den Fall der Entdeckung - so tun zu können, als ob hier eine touristische Vorführung stattfände; sehr zum Ärger der Uralten und Unbeweglichen seiner Mitglieder, denen die Anwesenheit Fremder bei ihren Zeremonien gar nicht recht war. Aber der Scheich ist in solchen Orden nun einmal die maßgebliche Autorität, und seinen Entscheidungen fügt man sich ohne Widerspruch. Die Veranstaltungen fanden in einer der winkligen Straßen der Istanbuler Altstadt statt in einem Hinterhaus, das zu einer Art Klein-Tekke, einem Mini-Kloster also, umgebaut war. Eines Donnerstagabends wurden wir zum ersten Mal von einem Auto zu einer derartigen Veranstaltung abgeholt. Es war dunkel; man konnte nur nach dem ständigen Abbiegen des Autos vermuten, dass wir nicht unbedingt wissen sollten, wo wir schließlich landeten. Dann wurden wir vom Hof aus in den ersten Stock des Hauses geführt. Nach einem Flur betraten wir einen großen Versammlungsraum. Dort hatten sich schon zahlreiche Männer eingefunden. Man trank Tee; dazu wurde frisches Obst gereicht. Der Scheich nahm strategisch günstig mitten auf der langen Bank an der Wand auf einem Lammfell Platz, das Gesicht den Sufis zugewandt. Meinen Mann platzierte er mitten unter

die Leute, ich bekam den Ehrenplatz zu seiner Rechten - zum offensichtlichen Entsetzen einiger alter Derwische. Doch es kam noch schlimmer: Ohne um die besondere Bedeutung dieses Lammfells zu wissen, das von einem Opfertier aus Mekka stammte und auf dessen Rückseite fromme Sprüche verzeichnet waren und das darüber hinaus noch eine mir verborgen gebliebene tiefere Bedeutung hatte, hatte ich mich beim Hinsetzen arglos auf einem Zipfel dieses Lammfells niedergelassen. Mein ungewolltes Fehlverhalten ließ die älteren Derwische erschauern, entehrte ich als Nicht-Muslimin und dazu noch als Frau doch ganz offensichtlich dieses heilige Fell gleich in doppelter Hinsicht. Ein alter Derwisch erhob sich und bedeutete mir, dem Gast des Scheichs, mich von diesem Fell zu entfernen. Der Scheich gebot mir stattdessen, sitzen zu bleiben. Endlose Sekunden lang währte der Machtkampf zwischen dem Derwisch und dem Scheich, Sekunden, in denen ich für mein Leben gerne diese wenigen Zentimeter nach rechts gerutscht wäre, aber ich durfte ja dem Scheich nicht in den Rücken fallen. Eine Handbewegung des Scheichs brachte schließlich den Derwisch, der am meisten meuterte, zum Schweigen; die Gefahr einer kleinen internen Revolte war erst gebannt, als dieser Mann mit trotzigem Gesicht zwar, doch ohne weiteren Protest wieder Platz nahm. Minuten später erst nahm ich die inzwischen vollständige Versammlung in Augenschein. Von den etwa 130 Klostermitgliedern waren etwa siebzig gekommen, wohl fast alle, die sich momentan in Istanbul aufhielten. Es waren Männer jeglichen Alters, die Alten aber überwogen. Sie kamen aus allen Schichten. Ich kann mich dafür verbürgen, weil ich Gelegenheit hatte, manche in ihrem beruflichen Umfeld zu erleben: ein General war darunter, ein Direktor einer sehr großen türkischen Bank, ein paar Kaufleute, ein Versicherungsvertreter und mindestens drei Straßen-Bettler. Sie alle saßen einträchtig beieinander, sprachen über dies und jenes und fühlten sich wie eine große Familie.

Vor dem„Efendi" wie die meisten den Scheich ansprachen, aber bildete sich eine Schlange. Jeder Mann beugte sich zu ihm nieder, küsste seinen großen Ring und drückte seine Stirn auf den Handrücken. Der Scheich legte die Hand auf die Schulter des einen Mannes, oder er zog ihn zu sich empor, die Geste der Ergebenheit abwehrend, die er auf der anderen Seite natürlich auch erwartete. Dabei brachte jeder sein Anliegen vor. Die Geschäfte waren schlecht gegangen; der Bruder der Frau hatte einen Autounfall gehabt, und jemand musste sich um dessen Geschäft kümmern; der Sohn in Deutschland schrieb nicht. Der Scheich hörte sich alles an und gab Ratschläge. Ein anderer hatte irgend etwas Ungutes getan; was es genau war, konnte ich nicht verstehen, denn es wurde alles im Flüsterton vorgetragen, so dass auch der nächste in der Warteschlange nichts verstehen konnte. Aber irgendwie gelang es dem Scheich, etwas zu sagen oder vorzuschlagen, was den Mann sichtlich beruhigte; und die Dankbarkeitsbezeigungen und Handküsse wollten kein Ende nehmen, obwohl der Scheich diese nun sehr energisch abwehrte. Dann kam ein Geschäftsmann mit einer Frage: Es sei eine Schiffsladung mit Zucker im Hafen eingetroffen; er habe die Gelegenheit, sie zu kaufen. Solle er dies tun oder nicht? Der Scheich gab eine derart sibyllinische Antwort, dass ich keinerlei Schlussfolgerungen daraus ziehen konnte. Anders der Geschäftsmann. Ich will die Fortsetzung der Geschichte vorwegnehmen. Denn einige Tage später tauchte derselbe Mann im Buchladen wieder auf, mit hochzufriedenem Gesicht, und schob dem Scheich ein dickes Geldbündel zu, ganz offensichtlich der Zehnt aus dem Gewinn bei dem Profitgeschäft mit dem Zucker. Der Scheich legte das Bündel in die Schreibtischschublade und holte es am darauffolgenden Donnerstagabend - vermutlich ungezählt, so wie er es hineingelegt hatte - wieder heraus und schob es in die Jackentasche. An jenem Donnerstagabend in

dem Klosterraum holte er die Geldscheine in kleineren oder größeren Portionen hervor und verteilte sie unter den Leuten: Der Hausmeister, der die Räume in Ordnung hielt, bekam seinen Lohn; der Mann, dessen Schwager den Autounfall hatte, erhielt einige Scheine; die Bettler bekamen mehr oder weniger je nach dem Bedarf ihrer Familie, und alle anderen auch, die es aus diesem oder jenem Grund verdient oder nötig hatten, der General oder der Bankdirektor natürlich gar nichts. Schließlich war das ganze Geld umverteilt - und niemand erhob irgendeinen auch nur kleinen Einwand. In diesen Stunden erlebten wir, wie ein intaktes Gemeindeleben innerhalb eines Ordens funktionierte, und ich habe Vergleichbares auch bei den eher schiitisch orientierten Bektaschis erlebt. Was uns hier vor Augen kam, war Seelsorge im positivsten Sinn, durchgeführt von einem psychologisch zwar universitär ungeschulten, aber durch Herzensgüte, gesunden Menschenverstand, Autorität und Charisma geprägten und dadurch außerordentlich beeindruckenden Scheich. Die Geldumverteilung, die so mühelos, ja fast spielerisch aussah, war natürlich wohldurchdacht und den tatsächlichen Bedürfnissen der Einzelnen, die der Scheich offensichtlich gut kannte, bestens angepasst. Was die orthodoxen Geistlichen nur in den seltensten Fällen bringen, das bieten die Orden: Seelsorge, Rat, Geborgenheit, Volksnähe. Religiöse Orden sind im Islam fast immer volksnah, nicht abgehoben und sehr selten elitär. Diese Art von Seelsorge betrifft nicht nur die Männer; sie bezieht auch die Frauen mit ein. Jeden Donnerstagnachmittag vor dem Zikr und jeden Samstagnachmittag findet eine vergleichbare Zusammenkunft statt. Der Scheich bespricht mit den Frauen deren Probleme: Er spricht mit ihnen über Kindererziehung, Krankheiten und über ihre Träume; dann hält er ihnen eine kleine Ansprache. Gelegentlich sind derartige Treffen auch mit rituellen Mahlzeiten verbunden, und zwar für Frauen wie für Männer.

Doch zurück zu unserem Zikr am Donnerstagabend im tekke, im Kloster. Als die letzten ihre Probleme mit dem Scheich besprochen hatten, plauderte man noch eine Weile entspannt. Der Scheich entschuldigte sich schließlich, weil er sich umziehen, nämlich festlich gewanden musste. Die Derwische setzten ihr gesticktes Käppchen auf und gingen durch einen kleinen Flur zum eigentlichen Kultraum. In einem Nebenraum, von dem aus man in den Kultraum sehen konnte, saßen hinter einem schmiedeeisernen Gitter die Frauen. Mit ihren weißen langen Kopftüchern saßen sie da aufgereiht, wie Tauben im Taubenschlag auf der Stange sitzen. Sie waren zunächst stumme Zeuginnen des Schauspiels, das sich alldonnerstags ihren Augen bot. Erst später stimmten sie gelegentlich mit hoher Stimme in den Gesang mit ein. Als Ehrengast bekam ich als Frau einen Stuhl so hingestellt, dass ich aus der Nähe, aber nicht im Frauenraum, sondern im Gang sitzend, alles beobachten konnte. Mein Mann wurde voll integriert; er bekam ein Käppi und sollte mit den Derwischen mitmachen, also „hüpfen und springen" wie es der Scheich nannte. Der Kultraum war nach unseren Vorstellungen nicht gerade schön. Der Boden war mit Teppichen ausgelegt; von der Decke hing eine aus grünem Plastik gefertigte große Lampe. In der Ecke saßen zwei Musiker und ein Sänger. Musik - im Gottesdienst in der Moschee verpönt - spielt eine große Rolle; die Cerrahis haben ihre eigene, übrigens auch für unsere Ohren sehr klangvolle Musik und geben ihren Schülern oder Novizen auch eigenen Musikunterricht. Der Raum war angefüllt mit Männern, alten, jungen, und von irgendwoher waren plötzlich auch Knaben erschienen, der jüngste etwa fünf Jahre alt; sie alle machten bei dem Zikr mit. Der Scheich im langen weißen Gewand eröffnete den Zikr mit einem Lobpreis Gottes. Dann hielt er eine kurze Ansprache, in der er auf die besonderen ethischen Werte der

Cerrahiye einging. Heute spricht er über die Liebe zu Gott und die Liebe Gottes; er interpretiert das arabische Wort /aschq' Liebe. Dann folgte ein Lobpreis Gottes. Im Wechsel griffen ihn erst die Schüler, dann die höchstrangigen Derwische auf, die im Übrigen immer ganz in der Nähe des Scheichs waren. Es folgte ein langer Gesang, der das Leben Alis schilderte. In fast allen religiösen Orden hat Ali, der Schwiegersohn des Propheten Muhammad und vierter Kalif, einen besonderen Platz inne. Der Scheich ist ergriffen; er legt das Tuch der Liebe und Versenkung über seinen Kopf. Tränen rinnen ihm im Gedenken an das Martyrium Alis über die Wangen; das traurige Geschick des tapferen und frommen Ali und seiner Söhne Hasan und Husain berührt alle zutiefst. Flüchtig kommt mir der Gedanke, dass der Vater meines Mannes, ein pietistischer christlicher fostor, an den Karfreitagen zurückgezogen in seinem Arbeitszimmer Jesu Tod genauso mitleidend nachempfand und betrauerte. Doch die weihrauchgeschwängerte Atmosphäre fängt mich sofort wieder ein. Dann werden Rufe laut: „Ya hay" „o du Lebendiger" und „Du Einziger", „Du ewiger, unwandelbarer (Gott)" „huwa" und „hu" beides für „Er", für „Gott". Das Ritual ist genau festgelegt. Vierzigmal wird die Einheit Gottes angerufen usw. Die Gegenwart des liebenden und lebendigen Gottes wird durch diese Rufe beschworen; denn ein Zikr ohne seine Nähe ist sinnlos und leer. Dann bilden die Derwische und einfachen Ordensmitglieder je nach Anzahl der Teilnehmer zwei bis vier konzentrische Kreise um den Scheich im Mittelpunkt; mein Mann ist unter ihnen. Sie umfassen mit der linken Hand die Taille des linken Nachbarn, den rechten Arm legen sie über die Schulter des rechten Nachbarn und schreiten gelassen in vorgeschriebenen Bahnen. Der Scheich dreht sich in der Gegenrichtung. Die Bewegung symbolisiert den Kreislauf der Gestirne. Die Musik setzt wieder ein. Zum Rhythmus der Tamburine skandieren nun alle das Glaubensbekenntnis:

Lä iläha illä'lläh, immer schneller rufen sie; sie wiegen ihren Körper im Rhythmus der Worte. Man spürt, wie durch den Rhythmus und die eingesetzte Atemtechnik die Derwische und einfacheren Mitglieder immer mehr in Trance geraten, wenn auch nicht alle und nicht alle gleich intensiv. Aber etwa sieben Männer rufen, in Verzückung geraten, ohne die Außenwelt noch wahrzunehmen, inbrünstig immer weiter„hu", „Er", „hu". Dann werden sie von fürsorglichen Derwischen aus dem Kreis geholt und auf die Polsterbänke an der Wand gesetzt, bis sie sich wieder „erholt" haben. Aus dem Kreis löst sich ein junger Mann; er hat Jeans an und ein offenes Oberhemd. Langsam dreht er sich im Kreise, in einer vorgegebenen Schrittfolge, wird allmählich schneller. Der Scheich gibt mir heimlich ein Zeichen: es ist ein Mevlevi, ein „Tanzender Derwisch". Er ist - wie wir später erfahren Gast auf der Durchreise, und er ist im Kreise der Cerrahis herzlich willkommen. Niemand nimmt daran Anstoß, dass er den Zikr auf seine eigene Art feiert. Aber es gibt noch einen Gast, einen Rüfa'i, ein „Heulender Derwisch". So genannt werden die Heulenden Derwische lediglich nach ihren rhythmischen Rufen zum Glaubensbekenntnis und den Namen Gottes. Der Ritus der Rüfai (Rufai) ist äußerlich zunächst einmal dem der Cerrahiye sehr ähnlich. Doch dann nimmt er zwei kleine Dolche, mit denen er seine Wangen durchsdcht. Nach einer Weile entfernt der Scheich die Dolche, wischt mit einem weißen Tuch über die Einstiche und hält es hoch, damit alle, die noch etwas wahrnehmen, sehen können, dass kein Blutstropfen das Tuch verfärbt hat. Der Zikr geht weiter. Der Sänger singt von der Liebe Gottes zu den Menschen. Die kleinen Buben haben sich längst zurückgezogen; auch einige Alte sind erschöpft. Nur einige Unentwegte bewegen sich weiter im Rhythmus. Die Luft ist

dampfig, und es riecht nach Schweiß; doch davon nehmen die Teilnehmer am Zikr offensichtlich nichts wahr. Der Zikr war zunächst ein Zikr der „Zunge", also der Sprache, gewesen; er ist ein Zikr des Herzens geworden, und wenn er wirklich gut war, dann war er ein Zikr der Liebe, „der Wert eines solchen Gedenkens ist nur Gott bekannt" (Schimmel). Als die meisten ermüdet sind, gebietet der Scheich den Abbruch. Die Tamburine werden leise, verklingen; die Männer ziehen sich zurück. Der Scheich und die Derwische streifen ihre Festgewänder ab und kommen nach und nach wieder in den Raum, in dem sich alle zuerst versammelt hatten. Man plaudert. Tee wird gereicht und Obst in Erinnerung an den Paradiesgarten. Man ist müde, es ist weit nach Mitternacht. Manchmal - heißt es - kämen auch Frauen zu dem Abschluss-Gespräch. Es sollen - und das widerspricht eigentlich dem sozialen Geist des Ordens - nur die gesellschaftlich hochstehenden Frauen sein, die daran teilnehmen dürfen; so schreibt jedenfalls Fulya Atacan in dem ersten - 1990 erschienenen - türkischsprachigen Buch über die Cerrahiye, diesen Orden, bei dem wir zu Gast waren. Ich selbst kann mich dazu nicht äußern, bin allerdings verwundert, dass ich zu den Männertreffen eingeladen worden bin und nicht zu den Frauenversammlungen. Es wurde aus dem ganzen Verhalten des Scheichs allerdings klar, dass er uns wirklich etwas „bieten" wollte. Und der Zikr war zutiefst beeindruckend. Über die persönlichen religiösen Erfahrungen der Mitwirkenden habe ich natürlich nichts erfahren. Aber es ist ganz offenkundig, dass die Zikrs gerne besucht werden und dass auch junge Menschen daran Freude haben. Allerdings wurde mir allmählich klar, warum der Scheich gegen die Nurcus und besonders gegen die Süleymancis eingestellt war. Die jungen Türken waren oft eher den weltlich orienderten, politisch aktiven, ja - was die Süleymancis betrifft - auch militanten Gruppen gegenüber aufgeschlossen, bei denen sie Dinge bewegen können, als den mystischen Orden. Dennoch haben die - ja

immer noch verbotenen - Orden heute deutlichen Zuwachs, keineswegs nur die politisch akdven. Die zentrale Figur eines jeden Klosters ist der Scheich. Alle Scheiche, die ich kennen gelernt habe, waren - trotz deutlicher Charakterunterschiede - außerordentlich eindrucksvolle Persönlichkeiten. Sie ließen einen lange nicht mehr los. Ein Scheich hat außerordentliche Autorität. Er lehrt die verschiedenen Stufen der Meditation und die Glaubensinhalte. Er hat die besondere baraka, den Segen, der viele Scheichs im Volksglauben zu Heiligen macht. Doch wie wird man Scheich? Muzaffer Efendi hat mir Folgendes selbst erzählt. Er hatte die hierarchischen Stufen im Orden durchlaufen, als sein Vorgänger plötzlich starb. Drei Kandidaten standen für die Nachfolge zur Diskussion. Alle drei waren keine direkten Nachfahren aus der Prophetenfamilie; dies ist heutzutage auch nicht mehr nötig: Der rechte Nachfolger hat vom Ordensgründer die Erlaubnis, seine Nachfolge anzutreten, prinzipiell bekommen. „Geistige" Verwandtschaft ersetzt hier „Blutsverwandtschaft" zur Prophetenfamilie. Doch wie sollte man nun herausbekommen, welcher von den drei Kandidaten der Richtige war? Die ältesten Derwische erträumten sich ihren Scheich. Sie träumten Nacht für Nacht und Woche für Woche, ja Monat für Monat, bis schließlich jeder von ihnen geträumt hatte, dass Muzaffer Ozak ihr Oberhaupt sein solle. Auch diejenigen, die Ozak zunächst für zu fortschrittlich und zu forsch hielten, erträumten ihn schließlich als ihr künftiges Oberhaupt. Damit war der Scheich einmütig gewählt; der Segen des Ordensgründers war ihm gewiss. Unser Scheich erhielt den Beinamen „der Liebende". Die Derwische, die ursprünglich für einen anderen Kandidaten gewesen waren, leisteten sich hie und da gelegentlich ein wenig Opposition - so wie ich sie am eigenen Leib verspürt hatte, als ich mich auf das Fell setzte. Aber er konnte sich dagegen durchaus zur Wehr setzen ...

Im Islam gibt es eine gemeinsame, eine kollektive mystische Erfahrung, eine Erfahrung, die anderen Religionen wie dem letztlich individualistischen Zen-Buddhismus völlig fremd ist. Aber auch in Orden zieht man sich einzeln zurück, meditiert für sich allein: Doch ist das Zentrum mystischer Erfahrung die Gemeinschaft. Das ist tatsächlich eine Besonderheit islamischer Mystik.

Vergangenheitsbeschwörung Der Muslim und die Zeit

von Fatema Mernissi

Die Muslime leiden am Schmerz der Gegenwart, wie die europäische Jugend der Romantik am Weltschmerz litt. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die europäische Jugend der Romantik die Schwierigkeit, in der Gegenwart zu existieren, als Ekel am Leben empfand, wir Muslime sie jedoch als Todessehnsucht, als Wunsch, abwesend, anderswo zu sein, empfinden. Die Flucht in die Vergangenheit ist eine Form der Abwesenheit, eine selbstmörderische Abwesenheit. Der Erfolg marokkanischer Denker wie Mohammed Jaberi und Abdelkbir Khatibi liegt u.a. sicherlich darin, dass sie die Litanei beendet haben, in die die Intellektuellen der arabischen Welt seit der Niederlage von 1967 geflüchtet sind. Erst eine solche Haltung ermöglicht es uns, von der Zeit der Verletzungen zu sprechen. Nicht der gelähmte Blick auf die militärische Überlegenheit des feindlichen Westens als Rechtfertigung für die Flucht in die Vergangenheit hilft uns weiter, sondern das reflektierende Nachdenken, das nach einem geeigneten Rahmen zur Selbstentfaltung sucht. „Die Erinnerung ist nicht statisch" erklärt Khatibi, „sie akkumuliert jene Fortschritte der Zivilisation, mit denen sie sich auseinander setzen muss. Indem sie neu Gedachtes und neue Methoden aufspürt, lehrt sie den besseren Umgang mit Raum, Zeit und Lebenskraft. Das beste, demütigste und wirksamste Vorgehen ist das Lernen." Aber einer erniedrigten arabischen Welt zur Demut zu raten, zumal die Politiker auf die großartigen Träume und den Glanz vergangener Mythen setzen, heißt, die Dinge durcheinander bringen. Auf die Diskrepanz zwischen den Khotba (den besonders emphatischen Predigten) der Macht-

haber und den pragmatischen Analysen derjenigen Intellektuellen, die lieber sprechen, als den Wahnideen der Mächtigen Resonanz zu geben, sei hingewiesen. M. Jaberi macht sich nicht gerade beliebt mit der Feststellung, dass diejenigen, die in den alten Schriften nach der Größe vergangener Zeiten suchen, ganz einfach halluzinieren. Ihm zufolge wendet sich der arabische Leser der Vergangenheit zu, um aus ihr die Kraft zu schöpfen, die ihm die Gegenwart verweigert: „In ihr liest er seine Hoffnung, seine Wünsche. Er möchte", erklärt Jaberi in seinem Buch „Wir und unser Erbe" (Nahnu wa-t-thurat), „in ihr die Wissenschaft, die Rationalität, den Fortschritt usw. finden, d.h. alles, was in der Gegenwart nur schwer zu bewältigen ist. Er wendet sich der Vergangenheit zu, sei es auf der Ebene des Realen oder des Traumes, in allem, was ihm die Gegenwart vorenthält." Mit treffender Gewandtheit zeigt er in seinen Essays über die „Herausbildung der arabischen Vernunft" (Taqwin al-'A ql al-'Arabi), dass das wichtigste Erbe, das die Vorfahren uns hinterlassen haben, ein umfassendes und wirksames System der Kontrolle ist, in dem Politik und Religion so eng zusammenarbeiten, dass schließlich al-'Aql (die Vernunft) mit dieser Kontrolle selbst verwechselt wird. Jaberi bringt Licht in eines der Geheimnisse der heutigen muslimischen Welt: den unglaublichen Einfluss des Religiösen und der Imams auf die Entwicklung von Denkprozessen. In der Tat muss man sich fragen, weshalb nicht die Wissenschaftler die Priorität besitzen und von den Politikern als Referenz betrachtet werden, da unser wichtigstes Problem die Beherrschung der Technologie ist, die wir bis heute vollkommen passiv konsumieren, als wäre dies eine unabänderliche Notwendigkeit. Beide Teile von Jaberis Ausführungen bieten vielfältige historische Belege. Sie weisen nach, dass sich die Politiker im Islam sehr schnell darüber bewusst geworden sind, dass sie die Gegenwart nur dann fest im Griff haben, wenn sie das Alte, das Vergangene zum heiligen Vorbild erklären. Mit dem berühmten asr at-

tadwin (der Epoche der schriftlichen Fixierung) setzt seiner Auffassung nach auch die Institutionalisierung der Kontrolle ein. Ihm zufolge beginnt sie im Jahr 134 d.H. (8. Jahrhundert), als die gelehrten Muslime „auf das ausdruckliche Geheiß und unter der Aufsicht des Abbasidenstaates" anfingen, den Hadith (Worte und Taten des Propheten), das Fikh (Religionswissenschaft) und den Tafsir (Auslegung des Korans) zusammenzutragen. Das geschah unter der Herrschaft des Abbasiden-Kalifen Mansur, der vom Jahre 136 bis 158 d.H. regierte. In Jaberis Werk erscheint der Muslim von heute in einem außergewöhnlichen Licht. Die Vorliebe der modernen Politiker für die Vorfahren der arabischen Tradition, deren Verehrung mit der Institutionalisierung des Autoritarismus einherging, wird besonders verdächtig, wenn es mehr denn je gilt, die Verwendung unserer vorhandenen Energien genauestens zu achten. Woher kommt dieser Wunsch, uns zur Vergangenheit hin zu orientieren, in einer Zeit, in der es mehr denn je darauf ankommt, für die Zukunft zu kämpfen? Die Gesellschaften, die uns in unserer Identität bedrohen, haben sich ganz und gar der Zukunft verschrieben und machen aus ihr eine Wissenschaft, was sage ich, eine Waffe der Beherrschung und Kontrolle. Serge Moscovici sieht in dem Zugriff auf die Zeit den Kern dessen, was die planetarische Zivilisation aus dem Okzident bis heute gemacht hat. Eine Zivilisation, gegen die Widerstand zwecklos ist und die durch Homogenisierung alle anderen auslöscht: „Betrachtet man die Ereignisse seit einem Jahrhundert, so zeigt sich, dass die abendländische Zivilisation wahrhaftig die erste Zivilisation der Zeit ist. Das heißt, die erste Zivilisation, in der die Zeit eine entscheidende Rolle spielt, in der sie das Maß der Dinge ist. Wir messen alles in Zeiteinheiten: die Arbeit, die Entfernung, die Geschichte..., wir verzeitlichen alles (...). Wir verzeitlichen die Dinge,die eigentlich zum Raum gehören sollten: die Geschwindigkeit z. B. als größte Besessenheit unserer Zivilisation. Auf diese Weise wird der

Raum verzeitlicht (...)." Die postindustrielle abendländische Gesellschaft zwingt die anderen Kulturen, sich ihrem Rhythmus anzupassen. Uber den Rhythmus der Zeit, der die Verhaltensweisen über alle Orte und Kulturen hinweg normiert, beweist der Westen seine heutige Überlegenheit. Vergangen ist die Zeit der Kolonialarmee und ihrer Paradeaufführungen vor dem Sitz des Generalgouverneurs. All das gehört der Vergangenheit an. Heutzutage schleicht sich die Herrschaft durch die vertraute Gegenwart der Uhr ein. Das oftmals aufdringliche Geräusch der Quarzuhren, das zu jeder vollen Stunde die Unterhaltung zweier Araber an den milden Abenden von Tripoli oder Riad unterbricht, führt in seiner Absurdität die Allgegenwärtigkeit der neuen Form der Besetzung anschaulich vor Augen. Mit dieser Verzeitlichung, die zugleich eine Entwertung der Geopolitik bedeutet, wird die Beherrschung des Raumes, die Grundlage und Essenz der politischen und wirtschaftlichen Macht einer Nadon war, von der Beherrschung der Zeit ersetzt. Nicht der Besitz von Erdöl macht den Reichtum eines Landes aus, sondern die Beherrschung des Tempos über die Marktmechanismen bestimmt seine Marktposidon. Die Geopolitik als Wissenschaft zielte auf die Verteidigung des Greifbaren hin, das Land, die Grenzen und die verfügbaren Reichtümer. Heute wird sie von den Gesetzen der „Chronopolitik" abgelöst, einem Phänomen der Zeit, über das Macht im Wettlauf um die Beherrschung des Fließenden gewonnen wird: die Flut der Zeichen, der Kreislauf von Informationen und Liquidität. Die multinationalen Konzerne sind die Verkörperung dieser neuen Form der Beherrschung, in der die Akteure des politischen Spiels nicht mehr vom Räumlichen dirigiert werden. Die Landesgrenzen sind überflüssig, ja lächerlich geworden. Macht und Herrschaft benutzen eine andere Sprache: „Sie definieren sich als Investitionsvorhaben. Selbst Investition' ist ein zeitlicher Begriff, dem Zyklus von Produktion und Austausch unterworfen." Der neue Imperia-

lismus, der uns, die wir nicht zum Abendland gehören, beherrscht, äußert sich nicht mehr in der Besetzung unserer Länder. Er ist nicht einmal wirtschaftlicher Art, er zeigt sich viel subtiler: er ist eine Art zu zählen, zu rechnen, zu schätzen. Schluss mit den lieben alten nationalistischen Liedern, die den „Feind rausgeworfen" haben. Der Feind steckt in unserem kleinen Taschenrechner. Er ist in unserem Kopf, er ist unsere Art zu zählen, zu konsumieren, zu kaufen, zu rechnen. Der multinationale Konzern zwingt uns, nach seinen Vorbildern zu diagnostizieren, zu prognostizieren, zu programmieren. Das Vokabular, das wir für unseren Staatshaushalt benutzen, ist sein Vokabular: Investition, Amortisierung, Schulden ... Amerika hat es nicht nötig, die muslimischen Länder zu besetzen, um sie vor sich kriechen zu lassen. Über dem neuen Vietnam liegt die Irrealität der Verschuldung, und fern am Telefon piepen die Stimmen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds. Der Westen, „süchtig nach dem Werden", drängt seine Gegenwart in die Zukunft und zwingt uns alle zu der Gewissheit, dass wir uns, wollen wir seine Herausforderung annehmen, auf dem Feld schlagen müssen, das er auserwählt hat: der Gegenwart. Eine zielgerichtete Zeit, das ist die Herausforderung unseres Jahrhunderts. Eine Zeit, die in die falsche Richtung weist, die Richtung, die uns ängstigt: die Zukunft. Eine Zeit, die nach vorn drängt, die eins wird mit Raumfähren und dem Aufbruch zum Weltraum. Eine Gegenwart, die sich kaum von der Zukunft unterscheidet. Wie reagieren wir auf diese Beschleunigung der Zeit, auf dieses Drängen der Gegenwart in die Zukunft? Indem wir uns, verletzt, gekränkt und erniedrigt, zu den Ursprüngen zurückgleiten lassen, zu einer Vergangenheit, die uns einschläfert, in der wir beschützt waren, in der wir den Aufgang und den Untergang der Sonne beherrschten. Wir gleiten wie Seiltänzer auf dem straff gespannten Seil der falschen Zeit dahin. Die Zeit, die in die falsche Richtung weist, in

die Richtung der Toten. Die Zeit, die uns nicht loslässt, die uns zum Fest der Vorfahren zurückführt, zum Begräbnis unserer Trauer tragenden Gegenwart. Laden wir sie von Zeit zu Zeit ein, können die Vorfahren bereichernd für uns sein; setzen sie sich aber fest, verdunkeln sie die Morgenröte und die Sonne, verwandeln sie unsere Träume in Delirien. Die Muslime sind nicht die einzigen, die vom Verlust der Erinnerung gepeinigt werden. Auch das Abendland leidet darunter: „Zweifellos haben die Franzosen seit dem zehnjährigen Verharren in der Krise begonnen, wohlgefällig und liebevoll nach der angeblichen Harmonie von einst zu schielen. Alles wird zum Vorwand genommen. Freizeit und Hobby, von der Postkarte von anno dazumal bis zu den Klamotten der Großmutter, von der Hobby-Ahnenforschung bis zum Urlaub auf dem Lande: Überall wird Nostalgie großgeschrieben." Davon zeugt auch die Anekdote des Marschalls McLuhan, des Medienspezialisten, über den Herrn, der sich nicht mehr daran erinnert, wer er ist:

„Whoareyou?" „I, / hardly know, Sir, just a present, at least l knoiv who l was when I got up this morning, but 1 think I must haue been changed several times since then" Der Unterschied zwischen dem Abendland und uns besteht nicht so sehr in der Sensibilität gegenüber der Veränderung als vielmehr gegenüber der Zeit, der Angst vor der zielgerichteten Zeit, die uns in den Tod zieht. Sicher wartet in der Zukunft der Tod auf uns alle. Ist unsere Rolle jedoch nicht, die Vorzeichen zu ändern, den Tod hintanzustellen, ihn den Vorfahren zu überlassen und mit großen Schritten der Zukunft entgegenzugehen, in der die Schöpfung möglich ist, in der die Neuerschaffung der Welt ein Leben rechtfertigen kann? Dem modernen Abendland ist es gelungen, die Faszination des Todes in eine Faszination der Zukunft umzuwandeln und damit schöpferische Energien freizusetzen. Doch die modernen

Muslime, die sich von dem Charme einer undefinierbaren unterschwelligen Macht verführen lassen, sterben lieber, bevor sie überhaupt leben, und sei es nur für ein paar Jahrzehnte. Der Unterschied zwischen dem Abendland und uns liegt in der Art, wie wir Tod und Vergangenheit erleben. Die Abendländer machen daraus eine Nachspeise, wir hingegen versuchen, daraus eine Hauptmahlzeit zu machen. Die Abendländer erleben die Vergangenheit als Hobby, als Zeitvertreib, um sich vom Stress der Gegenwart zu erholen. Wir versuchen beharrlich, sie als Beruf, Berufung und Horizont zu sehen. Indem wir ständig die Ahnen beschwören, erleben wir die Gegenwart als wenig erbauliches Zwischenspiel; bestenfalls als ärgerliche Störung.

Glaubensbekenntnis der Muslim-Brüder

Ich glaube, dass alle Dinge auf Gott zurückgehen; dass unser Meister Muhammad, Gottes Segen ruhe auf ihm, der letzte der Propheten ist und zu allen Menschen gesandt wurde; dass der Qur'an das Buch Gottes ist; dass der Islam ein allgemeines Gesetz darstellt für die Ordnung dieser Welt und der jenseitigen. Ich gelobe, einen Teil des edlen Qur'an auswendig zu lernen, mich an die läuternde Sünna zu halten, das Leben des Propheten und seiner edlen Gefährten zu studieren. Ich glaube, dass Tugend, Aufrichtigkeit und Wissen zu den Grundlagen des Islam gehören. Ich verpflichte mich, aufrichtig zu sein, die Ritualvorschriften zu erfüllen, mich von den verbotenen Handlungen fernzuhalten, tugendhaft, wohlgesittet zu sein, schlechte Gebräuche aufzugeben, den Glaubensriten des Islam so genau wie möglich zu folgen, Liebe und Zuneigung dem Streit vorzuziehen, auf die Gebräuche und die Sprache des Islam stolz zu sein, das Wissen und die nützlichen Kenntnisse unter dem Volk zu verbreiten. Ich glaube, dass ein Muslim arbeiten und Geld verdienen soll, dass ein jeder Bedürftige und Notleidende ein Recht auf das Geld hat, das er verdient; ich verpflichte mich, zu arbeiten und für die Zukunft zu sparen, Almosensteuer zu entrichten und einen Teil meines Einkommens für gute Werke auszugeben, alle nützlichen Wirtschaftsprojekte zu ermutigen, den Erzeugnissen meines Landes und meiner Religionsgenossen den Vorzug zu geben, keinen Wucher zu treiben, in welchem

Geschäft immer es sei, mich nicht Dingen hinzugeben, die meine Fähigkeiten übersteigen. Ich glaube, dass der Muslim für seine Familie verantwortlich ist, dass es zu seinen Pflichten gehört, ihre Gesundheit zu erhalten, ihren Glauben und ihre guten Sitten. Ich verpflichte mich, alles mir Mögliche in diesem Sinne zu tun, den Mitgliedern meiner Familie die islamische Lehre einzupflanzen, meine Kinder nicht in eine beliebige Schule zu senden, die sie nicht die Sitten und den Glauben der Muslime lehrt, alle Zeitungen, Veröffentlichungen, Bücher, Organisationen, Gruppen und Clubs zu meiden, die sich den Lehren des Islam wiedersetzen. Ich glaube, dass ein Muslim die Pflicht hat, den Ruhm des Islam neu zu beleben, indem er die Renaissance der Völker fördert und die islamische Gesetzgebung wiederherstellt. Ich glaube, dass die Fahne des Islam die Menschheit beherrschen sollte und dass es Pflicht eines jeden Muslims ist, die Welt von den Regeln des Islam zu unterrichten. Ich gelobe, mein Leben lang zu kämpfen, um diese Mission zu erfüllen, und ihr alles, was ich besitze, aufzuopfern. Ich glaube, dass alle Muslime eine einzige und vereinte große Nation bilden, die durch den Islam geeint ist, und dass der Islam seinen Söhnen gebietet, allen Wohltaten zu erweisen. Ich gelobe alles, was ich vermag, zu tun, um die Bruderschaft aller Muslime zu stärken und ihre Gleichgültigkeit zu überwinden sowie die Unterschiede auszugleichen, die unter ihren Gruppen und Bruderschaften bestehen. Ich glaube, dass das Geheimnis der Rückständigkeit der Muslime mit ihrer Entfernung von ihrer Religion erklärt werden muss, dass die Grundlage einer Reform daraus besteht, dass

man zu den Lehren und Urteilen des Islam zurückkehrt. Dies ist möglich, wenn die Muslime in diesem Sinn wirken, und die Lehre der muslimischen Brüder zielt darauf hin. Ich gelobe, mich an diesen Grundausrichtungen festzuhalten, loyal zu bleiben gegenüber einem jeden, der für sie wirkt, ein Soldat in ihrem Dienste zu sein und nötigenfalls für sie zu sterben.

ÖKUMENE

Ein gewisser Nichtjude fragte Rabbi Josua: „Ihr habt Feiertage, und wir haben Feiertage. Wenn ihr euch freut, freuen wir uns nicht; und wenn wir uns freuen, freut ihr euch nicht. Wann freuen wir uns denn zusammen?" Rabbi Josua antwortete: „Wenn der Regen fällt." (Jakob J. Petuchowski; Es lehrten unsere Meister, S. 76)

Gemeinsam können wir Berge versetzen Aus der Erklärung für ein Weltethos

Unsere Welt geht durch eine fundamentale Orientierungskrise: eine Krise der Weltwirtschaft, der Weltökologie, der Weltpolitik. Überall beklagt man die Abwesenheit einer großen Vision, den erschreckenden Stau ungelöster Probleme, die politische Lähmung, nur mittelmäßige politische Führung ohne viel Einsicht und Voraussicht und allgemein zu wenig Sinn für das Gemeinwohl. Zu viele alte Antworten auf neue Herausforderungen. Hunderte Millionen von Menschen auf unserem Planeten leiden zunehmend unter Arbeitslosigkeit, Zerstörung der Familien, Armut und Hunger. Die Hoffnung auf dauerhaften Frieden unter den Völkern schwindet wieder. Spannungen zwischen den Geschlechtern und Generationen haben ein beängstigendes Ausmaß erreicht. Kinder sterben, töten und werden getötet. Immer mehr Staaten werden durch Korruptionsaffären in Politik und Wirtschaft erschüttert. Das friedliche Zusammenleben in unseren Städten wird immer schwieriger durch soziale, rassische und ethnische Konflikte, durch Drogenmissbrauch, organisiertes Verbrechen, ja Anarchie. Selbst Nachbarn leben oft in Angst. Unser Planet wird nach wie vor rücksichtslos ausgeplündert. Ein Zusammenbruch der Ökosysteme droht. Mit besonderer Betroffenheit beobachten wir, wie an nicht wenigen Orten dieser Welt Führer und Anhänger von Religionen immer wieder neu Aggression, Fanatismus, Hass und Fremdenfeindlichkeit schüren, ja sogar gewaltsame und blutige Auseinandersetzungen inspirieren und legitimieren. Mit Ab-

scheu erfüllt uns, dass Religion nicht selten für rein machtpolitische Zwecke bis hin zum Krieg missbraucht wird. Wir verurteilen diese Entwicklungen und erklären, dass dies nicht sein muss, nicht sein darf. Es darf nicht sein, weil ein Ethos bereits existiert, das diesen verhängnisvollen globalen Entwicklungen entgegenzusteuern vermag. Dieses Ethos bietet zwar keine direkten Lösungen für all die immensen Weltprobleme, wohl aber die moralische Grundlage für eine bessere individuelle und globale Ordnung: eine Vision, welche die Menschen von der Verzweiflung und der Gewaltbereitschaft und die Gesellschaften weg vom Chaos zu führen vermag. Wir, Männer und Frauen aus verschiedenen Religionen und Regionen dieser Erde, wenden uns deshalb an alle Menschen, religiöse und nichtreligiöse. Wir wollen unserer gemeinsamen Uberzeugung Ausdruck verleihen: - dass wir alle eine Verantwortung haben fiir eine bessere Welt-

ordnung;

- dass der Einsatz für die Menschenrechte, für Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Erde unbedingt geboten ist; - dass unsere sehr verschiedenen religiösen und kulturellen Traditionen uns nicht hindern dürfen, uns gemeinsam aktiv einzusetzen gegen alle Formen der Unmenschlichkeit und für mehr Menschlichkeit; - dass die in dieser Erklärung ausgesprochenen Prinzipien von allen Menschen mit ethischen Überzeugungen, religiös begründet oder nicht, mitgetragen werden können; - dass wir aber als religiöse Menschen, die ihr Leben auf eine letzte Wirklichkeit gründen und aus ihr in Vertrauen, in Gebet oder Meditation, in Wort oder Schweigen spirituelle Kraft und Hoffnung schöpfen, eine ganz besondere Verpflichtung für das Wohl der gesamten Menschheit und die

Sorge um den Planeten Erde haben. Wir halten uns nicht für besser als andere Menschen, aber wir vertrauen darauf, dass uns die uralte Weisheit unserer Religionen Wege auch für die Zukunft zu weisen vermag. Nach zwei Weltkriegen und am Ende des Kalten Krieges, nach dem Zusammenbruch von Faschismus und Nazismus und der Erschütterung von Kommunismus und Kolonialismus ist die Menschheit in eine neue Phase ihrer Geschichte eingetreten. Die Menschheit besäße heute genügend Ressourcen, um eine bessere Weltordnung heraufzuführen. Doch alte und neue

ethnische, nationale, soziale und religiöse Spannungen bedrohen

den friedlichen Aufbau einer besseren Welt. Unsere Zeit erlebt zwar größere wissenschaftliche und technische Fortschritte denn je. Und doch stehen wir vor der Tatsache, dass weltweit Armut, Hunger, Kindersterben, Arbeitslosigkeit, Verelendung und Naturzerstörung nicht geringer geworden sind, ja teilweise zugenommen haben. Vielen Völkern droht der wirtschaftliche Ruin, die soziale Demontage, die politische Marginalisierung, die ökologische Katastrophe, der nationale Zusammenbruch. In einer solch dramatischen Weltlage braucht die Menschheit nicht nur politische Programme und Aktionen. Sie bedarf einer Vision des friedlichen Zusammenlebens der Völker, der ethnischen und ethischen Gruppierungen und der Religionen in gemeinsamer Verantwortung für unseren Planeten Erde. Eine Vision beruht auf Hoffnungen, auf Zielen, Idealen, Maßstäben. Diese aber sind vielen Menschen überall auf der Welt abhanden gekommen. Und doch sind wir davon überzeugt: Gerade die Religionen tragen trotz ihres Missbrauchs und häufigen historischen Versagens die Verantwortung dafür, dass solche Hoffnungen, Ziele, Ideale und Maßstäbe wachgehalten, begründet und gelebt werden können. Das gilt insbesondere für moderne Staatswesen: Eben weil sie Gewissensund Religionsfreiheit garantieren, brauchen sie verbindende

Werte,Überzeugungen und Normen,die für alle Menschen gelten, gleich welcher sozialen Herkunft, welchen Geschlechts, welcher Hautfarbe, Sprache oder Religion ... Aufgrund von persönlichen Lebenserfahrungen und der notvollen Geschichte unseres Planeten haben wir gelernt, - dass mit Gesetzen, Verordnungen und Konventionen allein eine bessere Weltordnung nicht geschaffen oder gar erzwungen werden kann; - dass die Verwirklichung von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Erde abhängt von der Einsicht und Bereitschaft der Menschen, dem Recht Geltung zu verschaffen. - dass der Einsatz für Recht und Freiheit ein Bewusstsein für Verantwortung und Pflichten voraussetzt und deshalb Kopf und Herz der Menschen angesprochen werden müssen; - dass das Recht ohne Sittlichkeit auf Dauer keinen Bestand hat und dass es deshalb keine neue Weltordnung geben wird

ohne ein Weltethos.

Mit Weltethos meinen wir keine neue Weltideologie, auch keine einheitliche Weltreligion jenseits aller bestehenden Religionen, erst recht nicht die Herrschaft einer Religion über alle anderen. Mit Weltethos meinen wir einen minimalen Grundkonsens

bezüglich bestehender verbindender Werte, unverrückbarer Maß-

stäbe und persönlicher Grundhaltungen. Ohne einen Grundkonsens im Ethos droht jeder Gemeinschaft früher oder später das Chaos oder eine Diktatur. Wir sind allesamt fehlbare, unvollkommene Menschen mit Grenzen und Mängeln. Wir wissen um die Wirklichkeit des Bösen. Gerade deshalb aber fühlen wir uns um des Wohles der Menschheit willen verpflichtet, das auszusprechen, was Grundelemente eines gemeinsamen Ethos für die Menschheit sein sollten - für die Einzelnen ebenso wie für die Gemeinschaften,

Organisationen und Korporationen, für die Staaten ebenso wie für die Religionen selbst. Denn wir vertrauen darauf: Unsere oft schon jahrtausendealten religiösen und ethischen Traditionen enthalten genügend Elemente eines Ethos, die für alle Menschen guten Willens, religiöse und nicht religiöse, einsichtig und lebbar sind. Dabei ist uns bewusst: Unsere verschiedenen religiösen und ethischen Traditionen begründen in oft sehr verschiedener Weise, was dem Menschen nützt oder schadet, was recht oder was unrecht, was gut oder was böse ist. Die tiefgreifenden Unterschiede zwischen den einzelnen Religionen wollen wir nicht ignorieren oder gar verwischen. Aber sie sollen uns nicht hindern, öffentlich zu proklamieren, zuas uns bereits jetzt gemeinsam ist und wozu wir uns aufgrund unserer je eigenen religiösen oder ethischen Bindung schon jetzt gemeinsam verpflichtet fühlen. Religionen können die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Probleme dieser Erde nicht allein lösen. Wohl aber können sie das erreichen, was allein mit ökonomischen Plänen, politischen Programmen oder juristischen Regelungen offensichtlich nicht erreichbar ist: die innere Einstellung, die ganze Mentalität, eben das „Herz" des Menschen zu verändern und ihn zu einer „Umkehr" zu einer neuen Lebenseinstellung zu bewegen. Die Menschheit bedarf der sozialen und ökologischen Reformen, gewiss, aber nicht weniger bedarf sie der spirituellen Erneuerung. Wir als religiös orientierte Menschen wollen uns besonders dazu verpflichten - im Bewusstsein, dass es gerade die spirituellen Kräfte der Religionen sein können, die Menschen für ihr Leben ein Grundvertrauen, einen Sinnhorizont, letzte Maßstäbe und eine geistige Heimat vermitteln. Dies freilich können Religionen nur dann glaubwürdig tun, wenn sie selbst jene Konflikte beseitigen, deren Quelle sie selber sind, wenn sie wechselseitig Überheblichkeit, Misstrauen, Vorurteile, ja Feindbilder durch umfassende Aufklä-

rung abbauen und den Traditionen, Heiligtümern, Festen und Riten der jeweils Andersgläubigen Respekt entgegenbringen. Wir alle wissen: Nach wie vor werden überall auf der Welt Menschen unmenschlich behandelt. Sie werden ihrer Lebenschancen und ihrer Freiheit beraubt, ihre Menschenrechte werden mit Füßen getreten, ihre menschliche Würde wird missachtet. Aber Macht ist nicht gleich Recht! Angesichts aller Unmenschlichkeit fordern unsere religiösen und ethischen Über-

zeugungen: Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden!

Das heißt: Jeder Mensch - ohne Unterschied von Geschlecht, Alter, Rasse, Klasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischer Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft - besitzt eine unveräußerliche und unantastbare Würde. Alle, der Einzelne wie der Staat, sind deshalb verpflichtet, diese Würde zu achten und ihren wirksamen Schutz zu garantieren. Auch in Wirtschaft, Politik und Medien, in Forschungsinstituten und Industrieunternehmungen soll der Mensch immer Rechtssubjekt und Ziel sein, nie bloßes Mittel, nie Objekt der Kommerzialisierung und der Industrialisierung. Auch in unserer Epoche steht niemand „jenseits von Gut und Böse": kein Mensch und keine soziale Schicht, keine einflussreiche Interessengruppe und kein Machtkartell, kein Polizeiapparat, keine Armee und auch kein Staat. Im Gegenteil: Als ein mit Vernunft und Gewissen ausgestattetes Wesen ist jeder Mensch dazu verpflichtet, sich wahrhaft menschlich und nicht unmenschlich zu ver-

halten, Gutes zu tun und Böses zu lassen!...

Für ein wahrhaft menschliches Verhalten rufen wir vor allem jene Goldene Regel in Erinnerung, die sich seit Jahrtausenden in den meisten religiösen und ethischen Traditionen der Menschheit bewährt hat. Sie lautet: Was du nicht willst, das

man dir tut, das füg auch keinem andern zu. Oder positiv: Was du willst, das man dir tut, das tue auch den anderen!...

Die Goldene Regel schließt ganz konkrete Maßstäbe ein, an die wir Menschen uns halten sollen und wollen. Es sind vor

allem vier uralte Richtlinien, die sich in den meisten Religionen dieser Welt finden und die wir im Folgenden in Erinnerung rufen wollen. 1. Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfrucht vor allem Leben; 2. Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung; 3. Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit; 4. Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau. Alle unsere Entscheidungen und Taten, auch unser Versagen und Scheitern haben Konsequenzen. Diese Verantwortung wach zu halten, zu vertiefen und an künftige Generationen weiterzugeben, ist die besondere Aufgabe der Religionen. Dabei bleiben wir nüchtern und realistisch und bitten zu beachten: 1. Ein universaler Konsens für viele umstrittene ethische Einzelfragen (von der Bio- und Sexualethik über die Medien- und Wissenschaftsethik bis zur Wirtschafts- und Staatsethik) ist schwierig. Doch im Geist der hier entwickelten gemeinsamen Grundsätze sollen sich auch für viele bisher umstrittene Fragen sachgerechte Lösungen finden lassen. 2. In vielen Lebensbereichen ist bereits ein neues Bewusstsein für ethische Verantwortung erwacht. Wir begrüßen es deshalb, wenn für möglichst viele Berufsklassen wie zum Beispiel Ärzte, Wissenschaftler, Geschäftsleute, Journalisten, Politiker von den zuständigen beruflichen, nationalen oder internationalen Organisationen zeitgemäße Ethikcodes ausgearbeitet werden, die konkretere Richtlinien bieten für die brisanten Fragen ihres jeweiligen Berufsstandes.

3. Vor allem würden wir es begrüßen, wenn auch die einzelnen Religionen formulierten, was ihr ganz spezifisches Ethos ist: was sie aufgrund ihrer Glaubenstradition zu sagen haben etwa über den Sinn von Leben und Sterben, über das Durchstehen von Leid und die Vergebung von Schuld, über die selbstlose Hingabe und die Notwendigkeit von Verzicht, über Mitleid und Freude. Dies alles wird das schon jetzt erkennbare Weltethos vertiefen, spezifizieren und konkretisieren. Zum Schluss appellieren wir an alle Bewohner dieses Planeten: Unsere Erde kann nicht zum Besseren verändert werden, ohne dass das Bewusstsein des Einzelnen geändert wird. Wir plädieren für einen individuellen und kollektiven Bewusstseinswandel, für ein Erwecken unserer spirituellen Kräfte durch Reflexion, Meditation, Gebet und positives Denken, für eine Umkehr der Herzen. Allein vermögen wir keinen Felsblock zu bewegen, gemeinsam können wir Berge versetzen! Ohne Risiko und Opferbereitschaft gibt es keine grundlegende Veränderung unserer Situation! Deshalb verpflichten wir uns auf ein gemeinsames Weltethos: auf ein besseres gegenseitiges Verstehen sowie auf sozialverträgliche, friedensfördernde und naturfreundliche Lebensformen. Wir laden alle Menschen, ob religiös oder nicht, ein, dasselbe zu tun.

Nachwort von Rudolf Walter

„Nicht das Vielwissen sättigt die Seele..." Ignatius von Loyola hat am Beginn einer wissenshungrigen Neuzeit daran erinnert. Er benennt mit diesem Satz eine Erfahrung und einen qualitativen Maßstab nicht nur seiner eigenen religiösen Tradition: Aufs Ganze gesehen, ist es sinnlos, alles zu besitzen und an der Seele Schaden zu leiden. Der Mensch ist quantitativ nicht zu fassen, er ist mehr als Statistiken aussagen, er ist mehr als Materie und nicht nur Triebmaschine. Wissenschaften, Wirtschaft, Technik und andere Bereiche haben in der Regel nur noch Teilbereiche der Wirklichkeit im Blick. Fragen, die aufs Ganze des Lebens gehen, lassen sich aber nicht verdrängen: Wer bin ich? Wozu lebe ich? Nicht nur: Was steigert mein Wohlbefinden, meine Macht, meinen Gemütskomfort? Sondern auch: Wie erreiche ich Glück? Konsum, Karriere, Konto? Was bleibt und was fehlt, wenn alle materiellen Bedürfnisse gestillt sind? Gibt es ein Leben außerhalb des Alltags, einen Halt im hektischen Getriebe der Aktivitäten? Was muss ich tun, um nicht zu verschwinden hinter dem Sog der Ansprüche anderer? Damit etwas von mir bleibt in meiner immer schneller verschwindenden Daseinszeit? Was ist mein Ort in der Unübersichtlichkeit dessen, was passiert? Wo ist mein Platz im Universum? Und auch: Was soll das Leiden? Das Böse? Die Liebe? Warum muss ich sterben? Das sind Fragen, die nicht bloß Details betreffen, uns nicht nur in einer unserer Rollen ansprechen. Sie gehen uns unmittelbar an, ganz, unaufschiebbar: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Menschen finden Antworten darauf nicht mehr selbstverständlich in den überlieferten Religionen, weil diese nicht mehr so wie früher den Alltag bestimmen, weil traditionsgesättigte Antworten kaum mehr übersetzt werden auf den Hunger heutiger Fragen hin und weil beamtete Hüter religiöse Sprache oft nur überwachen und nicht das Feuer unter der Asche der Tradition entfachen. Schließlich sind auch die Umstände einer saturierten Konsum* und Leistungsgesellschaft nicht so, dass glühende Sehnsucht nach dem Absoluten, transzendentale Unzufriedenheit mit dem gegebenen Zustand zur Normalität gehörten. „Narkotika gegen den Schmerz der unerfüllten Sehnsucht" so hat es Karl Rahner einmal gesagt, legen einen Nebel der Banalität und Langeweile über die Wirklichkeit, dass man ihre Farben gar nicht mehr wahrnimmt. Die Vertröstung des Lebens aufs Diesseits, auf das, was vor Augen liegt, was man haben, kaufen, sich einverleiben und konsumieren kann - das ist das eigentliche Opiat unseres Alltags. Und längst ist auch das Arsenal von Antworten, die die Religionen zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Kulturen gegeben haben, Teil dieses gigantischen Konsumtempels, der unsere Gesellschaft ist: allen verfügbar, unverpflichtendes Angebot im Supermarkt der Weltanschauungen, frei zur Auswahl, zur „häretischen" Selbstbedienung. Ein kürzlich für Hamburg erstellter „Religionsatlas" hat gezeigt: Allein in dieser Stadt gibt es über achtzig Religionen, Sekten, religiöse Gruppierungen, jedem zugänglich - Zapfstellen für spirituelle Cocktails aller Geschmacksrichtungen. Zynische Beobachter haben einen „kleinen Grenzverkehr mit dem Unendlichen" ausgemacht, der auf Schnellverfahren und auf Sofortservice beruht und die Wahrheitsfrage gar nicht mehr stellt: Wahr wird, woran sich die Seele kuschelt. Aber noch die religiöse Subkultur zeigt: Die Faszination des Religiösen lebt, auch wenn immer wieder, sogar mit Gewalt, Religion totgesagt wurde.

Was hat das Lebenswissen der Religionen mit den Sinnfragen heute zu tun? Dieser Band will weder naiv die Sinnfrage mit religiöser Erfahrung gleichschalten noch behaupten, dass allein und nur religiöse Erfahrung sinnvoll sei. Er will bleibende kulturelle Unterschiede zwischen den Religionen nicht verwischen. Er will hinhören auf das, was religiös begabte Menschen als ihre Erfahrung vom Sinn des Lebens mitteilen. Die technische Einheit der Welt hat nicht nur die Vielzahl religiöser Ausdrucksformen vor Augen geführt, sondern positiv auch verschiedene menschliche Lebensformen aufeinander zu gelenkt, Mentalitäten und Kulturen miteinander in Kontakt gebracht, eine unkomplizierte Form der Begegnung ermöglicht, die zur gegenseitigen Wahrnehmung auch verschiedene Wahrheitsansprüche zu produktiven Infragestellungen geführt hat. Religionen sind in dieser neuen Nähe auch gemeinsam herausgefordert: durch Entwicklungen einer Moderne, die nicht nur Befreiung gebracht hat, sondern gleichzeitig Entfremdung in der Beliebigkeit, im Auseinanderfallen alles Möglichen. Die Schubkraft der Moderne - Rationalität, Beschleunigung, Effizienz, Nutzen und Ökonomie - ist so stark, dass ihr gegenüber menschliche Träume, Hoffnungen, Ängste auch starke Anwälte brauchen. Vor diesem Hintergrund sind das eine die Gräben zwischen Konfessionen und Religionen. Eine andere Grenze ist die, die zwischen einer Sicht von Wirklichkeit, die Transzendenz ausschließt, und einer Sicht, die sie als wesentlich zum Menschen gehörig erachtet, verläuft. Das Wissen der Religionen ist also nicht nur ein Lebensangebot für Einzelne, sondern auch ein Potenzial für die Gesellschaft, die in ihren Werten oft noch „vom alten Fett", von Überlieferungen lebt, die längst nicht mehr verbindliche Norm sind. Gemeint ist dieses Potenzial nicht als fundamentalistische Flucht in geistige Einfachheit, sondern als spirituelles Fundament und als geistige

Kraft, die sich überzeugend und nachhaltig in den mühsamen Dialog der pluralistischen Gesellschaft einbringen kann. Die in diesem Band ausgewählten Dokumente aus den großen Weltreligionen und die Zeugnisse religiöser Menschen wollen nicht umfassend dokumentieren, was Religion ist oder wie sie ein Leben prägen kann. Es kann auch nicht vergleichend auf die Unterschiede eingegangen werden. Aber es zeigen sich Konstanten, ein gemeinsames Potenzial, auf das sich die gegenseitige Aufmerksamkeit richten könnte. Der Band will die Aufmerksamkeit auf Erfahrungen lenken, von denen religiöse Menschen berichten, die ihr Leben ausgelotet haben in Höhen und Tiefen. Diese Erfahrungen haben mit dem zu tun, wonach viele Menschen heute suchen: Die Beschränkung auf die eigene Perspektive, die Beruhigung mit dem eigenen Ich kann unfrei machen und eng. Dagegen gibt es „verlorene Reiche" wiederzugewinnen: Ekstasen gehören dazu, die Wahrnehmung des kosmischen Ganzen, die Herausforderung des Heiligen. Leiden gehört zum Leben. Es ist wichtig, sich berühren und ansprechen zu lassen vom Leid des anderen, die Augen nicht zu verschließen vor seiner Not und sie auf sich zu beziehen. Es gibt eine Verbundenheit und Solidarität aller Wesen, die auch zum Handeln verpflichtet. Der Tod ist eine endgültige Realität, die wir nicht verdrängen dürfen, um nicht etwas zu verspielen, was wirklich zum Geheimnis unseres Daseins gehört. Loslassen und Einüben in diese zeitliche Begrenztheit sind eine lebenslange Übung für ein sinnvolles Leben und Sterben. Nicht Haben und Besitz bringen die „Fülle" des Lebens. Askese, Enthaltung können innerlich reich machen und mit der Achtsamkeit auf die kleinen Dinge und einer intensiven Freude am Leben durchaus zusammengehen. Es lohnt sich, der Zerstreuung aus dem Weg zu gehen, sich elementaren Dingen zu öffnen, staunend und dankbar zu leben. Der Mensch muss mit Grenzen leben. Aber er kann auch

auf eine grenzenlose Wirklichkeit stoßen, die die Seele nicht ruhen lässt, bis die eigene innere Beziehung dazu erfahren und erkannt ist. Erfüllung in wesentlichen Dingen ist nicht zu erhalten als schnelles Verbrauchsgut. Religiöses Leben verlangt (und lohnt) die Anstrengung, sich auf einen lebenslangen Weg zu machen, der mühevoll ist und Konzentration, Verzicht und Übung voraussetzt. Zentral ist die Erfahrung, dass in der Liebe die entscheidende und letzte Realität, der Schlüssel liegt für alles: für die Frage nach Gott und dem Nächsten, für sich selber und für eine kreative und „erlösende" Verwandlung der Wirklichkeit. Zu einem sinnvollen Leben, das ist die Überzeugung der Religionen, gehört Wahrheit: etwas, was nicht beliebig manipulierbar ist, aber auch nicht nur einzufordern von anderen, sondern fordernder Anspruch, unter den man sich selber stellt. In dieser Wahrheit zu leben, gibt eine Freiheit und Sicherheit, die zum Handeln auch gegenüber Mächtigen freimacht. Eine der hoffnungsvollsten und zukunftsweisenden Geschichten in der an Dunkelheiten reichen Geschichte der Beziehung zwischen den Religionen stammt aus dem Ende des 13. Jahrhunderts. Das „Buch vom Heiden und den drei Weisen" des Gelehrten Ramon Lull erzählt von einem friedlichen Religionsgespräch. Ein Jude, ein Christ und ein Muslim diskutieren miteinander, der Heide hört als Schiedsrichter zu. Es geht um alles, um die Wahrheit. Aber der Schiedsrichter gibt seine Entscheidung nicht bekannt. Das bedeutet: Wahrheit ist wichtig, man muss um sie streiten - allerdings in einer Weise, dass die Wahrheit selber nicht desavouiert wird. Man kommt ihr nur durch Dialog, in der Begegnung auf die Spur. Sie entscheidet sich aber letztlich nicht theoretisch, doktrinär, sondern in der Praxis: Im Leben wird sie sich zu erkennen geben, an der Weisheit und Güte der Menschen. Das ist heute nicht anders als damals.

Quellen

Vorwort Die Einführung Carl Friedrich von Weizsäckers ist aus teils veröffentlichten, teils unveröffentlichten Texten neu zusammengestellt. Absatz 1-2: neu; Absätze 3 - 9 aus „Selbstdarstellung" in: „Der Garten des Menschlichen" (Hanser 1977); Absatz 10; neu; Absätze 11-14 aus: „Bewusstseinswandel" (Ilanser 1988), S. 182f.; Absätze 15-24 aus einer ungedrucktcn Aufzeichnung „Gedanken zur Zukunft der Religion anlässlich des Projektes Wcltethos" (1993); Absätze 25-27 aus: „Der Mensch in seiner Geschichte" (Hanser 1991), S. 241 f. Hinduismus Upanishaden, Wahrlich, diese ganze Welt ist Brahman, aus: Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, Band 4: Quellentexte, Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1993. Bhagavadgita, Das unzerstörbare, ewige Selbst, aus: Mircea Eliade, ebd. Bhagavadgita, „Vollbringe die notwendige Tat", aus: Mircea Eliade, ebd. RabindranathTagore, Wo Freude ihre Feste feiert, aus: Tagore, Gesammelte Werke, herausgegeben von Martin Kämpchen, Artemis & Winkler Verlag 2005, © Patmos Verlag GmbH & Co. KG/Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf. Sri Ramakrishna, Ichsucht ist wie eine Wolke - der Geist wie ein tollgewordener Elefant, aus: Sri Ramakrishna, Gespräche mit seinen Schülern, herausgegeben von Martin Kämpchen, © Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2008. Martin Kämpchen, Ein moderner indischer Heiliger, Swami Vivekananda (1863-1902), in: Martin Kämpchen/Gertrude Sartory (Hg.),

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Autorenhinweise

Autoren der Einführungen Albert H. Fricdlander, 1927-2004, geb. in Berlin, Ph. D., D. D., Professor der Religionsgeschichte, Leo Baeck-College, London, zahlreiche Veröffentlichungen in verschiedenen Sprachen, Rabbiner der Westminster Synagogue, London. Führend im Gespräch zwischen Juden und Christen. Anand Nayak, geb. 1942 in Indien. Nach dem Studium der Lehren des Buddhismus, Hinduismus und des Christentums kam er 1972 nach Frankreich, promovierte in katholischer Theologie und an der Sorbonne in Religionswissenschaft. Er lehrt Religionswissenschaft an den Universitäten Fribourg und Neuchatel. Für Herder Spektrum schrieb er die Einführung zur „Bhagavadgita". Dietmar Mieth, geb. 1940, Dr. theol, Professor für Sozialethik an der Universität Tübingen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu theologischen, ethischen und literaturwissenschaftlichen Fragen. Bei Herder Spektrum u.a. „Das gläserne Glück der Liebe" und (zusammen mit Irene Mieth) „Schwangerschaftsabbruch. Die Herausforderung und die Alternativen". Ursula Spuler-Stegemann, geb. 1939, Dr. phil., Studium der Islamkunde, der semitischen Philologie, der vergleichenden Religionswissenschaft sowie der Neueren Deutschen Philologie und Sprache, lehrte an der Universität Marburg Türkisch und Islamwissenschaft. Zahlreiche fachwissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema. Bei Herder Spektrum „Muslime in Deutschland". Detlef Kantowsky, geb. 1936, Dr. phil., Professor der Soziologie an der Universität Konstanz, 1974 erste Kontakte zur Sarvodaya-Bewegung in Sri Lanka und seitdem zunehmende Beschäftigung mit buddhistischer Lebensführung und Daseinsinterpretation. Unter seinen Publikationen: Buddhismus, 2. Aufl. 1994; Wegzeichen, 1994; sowie die von

ihm edierten Textbände: Mathatma Gandhi, Gewaltfrei leben, 1992 und Wahrhaft sein, 1995. Carl Friedrich von Weizsäcker, 1912-2007 war Professor für theoretische Physik an den Universitäten Straßburg und Göttingen, von 1957-1969 für Philosophie an der Universität Hamburg, ab 1970 Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, Starnberg. Die Autoren Dalai Lama, Tendsin Gyatso, geb. 1935, geistliches und weltliches Oberhaupt der Tibeter, weltweit bekannt als spiritueller Führer. 1979 Trager des Friedensnobelpreises. Bei Herder Spektrum u.a.: Einführung in den Buddhismus, Sehnsucht nach dem Wesentlichen, Zeiten des Friedens. Eugen Drewermann, geb. 1940,Theologe und Psychotherapeut. Zahlreiche Publikationen. Bei Herder Spektrum: Die Spirale der Angst; Der tödliche Fortschritt; Das eigentliche ist unsichtbar; Der gefahrvolle Weg der Erlösung; Dein Name ist wie der Geschmack des Lebens; (mit Eugen Biser) Welches Credo; (mit Friedrich Schorlemmer) Tod oder Leben; Zeiten der Liebe. Mircea Eliade, 1907-1986, weltweite Studien, Romane, Essays, zuletzt Professor für vergleichende Religionswissenschaft in Chicago. Bei Herder Spektrum: Geschichte der religiösen Ideen. 5 Bände in Kassette; Schmiede und Alchimisten. Mythos und Magie der Machbarkeit; Schamanen, Götter und Mysterien. Die Welt der alten Griechen; Hochzeit im Himmel. Roman. Mahatma Gandhi, 1869-1948,Theoretiker und Praktiker gewaltloser Aktionen in politischen und gesellschaftlichen Konflikten. Bei Herder Spektrum: Handeln aus dem Geiste; Aus der Stille steigt die Kraft zum Kampf. Von der Macht des Gebetes. Geshe Rabten, studierte an der Sela-KIosteruniversität in Tibet, 1959 Flucht, anschließend lange Jahre persönlicher Berater des Dalai Lama. Von 1974 bis zu seinem Tod 1986 leitete er das klösterliche Institut in Rikom. Bei Herder Spektrum: Das Buch vom heilsamen Leben, vom Tod und von der Wiedergeburt. Mit einem Vorwort des Dalai Lama.

Martin Kämpchen, Dr. phil, geb. 1948 in Boppard. Studium der Germanistik, später der Indischen Philosophie und Vergleichenden Religionswissenschaft. Seit 1973 in Indien. Zahlreiche Übersetzungen, Veröffentlichungen zum christlich-hinduistischen Dialog. Martin Luther King, amerikanischer Bürgerrechtler, 1964 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, wurde am 4. 4.1968 in Memphis ermordet. Bei Herder Spektrum: Mein Traum vom Ende des Hassens. Texte für heute. Anthony de Mello S. J., 1931-1987, spiritueller Meister weltweit bekannter Autor erfolgreicher Weisheitsbücher. Bei Herder Spektrum u. a. Zeiten des Glücks; Warum der Vogel singt; Wer bringt das Pferd zum fliegen? Nyanaponika Mahathera, 1901-1994, bürgerlicher Name Siegmund Feniger, 1936 Reise nach Sri Lanka und Eintritt in einen buddhistischen Mönchsorden, zahlreiche Übersetzungen aus dem Rili, Publikationen. Gründete 1956 die Buddhist Publication Society in Sri Lanka. Fatima Mernissi, geb. 1940 in Fes/Marokko, Soziologin, seit 1973 Beraterin der UNESCO zur Situation muslimischer Frauen, lehrt an der Universität Rabat. Bei Herder Spektrum: Der politische Harem; Der Harem in uns. Die Furcht vor dem anderen und die Sehnsucht der Frauen. Jakob J. Petuchowski, Dr. mult., 1925-1991, war Forschungsprofessor für jüdisch-christliche Studien am Hebrew Union College, Cincinnati/USA. Bei Herder Spektrum: Es lehrten unsere Meister; Mein Judesein; (zusammen mit Clemens Thoma) Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung. Elizabeth Petuchoswki, Dr. phil., geb. in Bochum, lehrte Germanistik an der Universität von Cincinnati/USA. Zahlreiche Veröffentlichungen. Lebt in Ohio. Karl Rahner S.J., 1904-1984, Dr. theol., Dr. h.c. mult., Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte, Herausgeber des Lexikons für Theologie und Kirche, Autor zahlreicher Standardwerke, die theologische Wissenschaftsgeschichte gemacht haben. Die Gesamtausgabe seiner Werke erscheint bei Herder. Sri Ramakrishna, eig. Gadadhar Chatterji, 1836-1886, indischer Religionsreformer, Philosoph und Mystiker, Priester der Göttin Kali.

Katsuki Sekida, 1893-1987, war bis zu seiner Pensionierung 1945 Hochschullehrer für Englisch. Seit 1915 praktizierte und unterrichtete er Zen in Japan, Honolulu, Maui und London. Bei Herder Spektrum: Zen-Training. Das große Buch über Praxis, Methoden, Hintergründe. Idries Shah, 1924-1996, international bekannter Gelehrter und Schriftsteller, Mitbegründer des Club of Romc, gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des Sufitums im Westen. Bei Herder Spektrum: Die fabelhaften Heldentaten des vollendeten Narren und Meisters Mulla Nasrudin; Das Geheimnis der Derwische. Annemarie Schimmel, Professor, Dr. mult., 1922-2003, Lehrtätigkeiten an den Universitäten Marburg, Ankara, Bonn, Harvard. Zahlreiche Veröffentlichungen zur islamischen Mystik, Literatur und Schriftkunst; zahlreiche literarische Preise und Mitglied verschiedener Akademien. Übersetzungen aus dem Arabischen, Persischen,Türkischen, Urdu, Sindhi. Bei Herder Spektrum: Die orientalische Katze. Mystik und Poesie des Orients. Dorothee Solle, 1929-2003, Dr. theol., Publizistin, Lyrikerin, lehrte von 1975 bis 1987 als Professorin am Union Theological Seminary in New York. Bei Herder Spektrum: Leiden; (zusammen mit Fulbert Steffensky) Wider den Luxus der Hoffnungslosigkeit. DaisetzTeitaro Suzuki, 1870-1966, buddhistischer Philosoph und spiritueller Lehrer, Autor von über 20 Büchern, die den Dialog zwischen östlichem und westlichem Denken vertiefen. Bei Herder Spektrum: Wesen und Sinn des Buddhismus. Rabindranath Tagore, 1861-1941, gilt in seiner indischen Heimat als der größte Dichter der Moderne. 1913 erhielt er als erster Asiate den Nobelpreis für Literatur. F.r war zudem bedeutender Erzieher und Sozialreformer, malte, komponierte und sang. Werner Weinberg, 1905-1997, Häftling in Bergen-Belsen, emigrierte nach einem Aufenthalt in Holland 1948 in die USA, lebte als em. Professor für Hebräische Sprache und Literatur am Hebrew Union College in Cincinnati/Ohio. Elie Wiesel, geb. 1928 in Sighet, überlebte die Deportation nach Auschwitz, Schriftsteller, Gelehrter, Friedensnobelpreisträger, Professor in Boston. Bei Herder Spektrum u.a.: Den Frieden feiern; Der fünfte Sohn; Geschichten gegen die Melancholie; Gezeiten des

Schweigens; Der Vergessene; Adam oder das Geheimnis des Anfangs; Die Weisheit des Talmud. Heinz Zähmt, Dr. theol., Publizist, 1915-2003, war Chefredakteur des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts, Autor zahlreicher weitverbreiteter theologischer Publikationen. Jörg Zink, Dr. theol, geb. 1922, Theologe und Publizist, Sprecher der Ökologie- und Friedensbewegung. Zahlreiche Bücher und Bibelübersetzungen. Bei Herder Spektrum: „Zwölf Nächte"; Vor uns der Tag; Die sieben Zeichen.