Wegenetz europäischen Geistes II: Universitäten und Studenten. Die Bedeutung studentischer Migrationen in Mittel- und Südosteuropa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert 9783205158400, 3702802614, 3486540912, 9783205781578

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Wegenetz europäischen Geistes II: Universitäten und Studenten. Die Bedeutung studentischer Migrationen in Mittel- und Südosteuropa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert
 9783205158400, 3702802614, 3486540912, 9783205781578

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WEGENETZ EUROPÄISCHEN GEISTES II

SCHRIFTENREIHE DES ÖSTERREICHISCHEN OST- UND SÜDOSTEUROPA-INSTITUTS HERAUSGEGEBEN VON RICHARD GEORG PLASCHKA GESAMTREDAKTION DER REIHE KARLHEINZ MACK BAND XII

WEGENETZ EUROPÄISCHEN GEISTES II UNIVERSITÄTEN UND STUDENTEN Die Bedeutung studentischer Migrationen in Mittel- und Südosteuropa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert

Herausgegeben von

RICHARD GEORG PLASCHKA und KARLHEINZ MACK

@ 1987

VERLAG FÜR GESCHICHTE U N D POLITIK WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und des Participation Programme der U N E S C O

©1987. Verlag für Geschichte und Politik Wien Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Herstellung: Druckerei G. Grasl, 2540 Bad Vöslau Umschlagentwurf: Renate Uschan-Boyer ISBN 3-7028-0261-4 Auch erschienen im R. Oldenbourg Verlag München ISBN 3-486-54091-2

INHALT

Vorwort

9

EINLEITUNG

RICHARD G E O R G PLASCHKA

Umwelt und Grundtendenzen der Studentenmigrationen in Mittel- und Südosteuropa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert

11

STANISLAUS H A F N E R

Zur Typologie übernationaler kultureller Kommunikation

30

H E N R Y K BATOWSKI

Die Studentenvereine für internationale Freundschaft nach dem Ersten Weltkrieg am Beispiel Polens und der Tschechoslowakei

49

I. BEWEGUNGEN AUFGRUND BESTIMMTER LÄNDERAUSGANGSPOSITIONEN VIRGINIA PASKALEVA

Bulgarische Studenten und Schüler in Mitteleuropa in den vierziger bis siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts '.....

57

CVETANA T O D O R O V A

Migrationen bulgarischer Studenten an europäische Universitäten seit der Befreiung Bulgariens von den Türken bis zum Ersten Weltkrieg . . .

67

D A N BERINDEI

Rumänische Studenten im Ausland und die Entstehung des modernen Rumänien im 19. Jahrhundert

83

6

Inhalt

LJUBINKA TRGOVCEVIC

Die erste im Ausland ausgebildete Professorengeneration der Universität Belgrad

101

JAN HAVRÄNEK

Die Rolle der Universitäten und der modernen „peregrinatio academica" für den sozialen Aufstieg der Studenten

114

GYÖRGY HÖLVENYI

Studenten aus Ungarn. Ihr Studium an verschiedenen Universitäten im 18. Jahrhundert

118

ERICH DONNERT

Russische Studenten an englischen Universitäten im 18. Jahrhundert. Zum Wissenschaftsverständnis und zur politischen Ideologie des Glasgower Studenten und Moskauer Rechtswissenschaftlers Semen Efimovic Desnickij (um 1 7 4 0 - 1 7 8 9 )

127

II. B E W E G U N G E N A U F G R U N D B E S O N D E R E R N A T I O N A L E R U N D SOZIALER VERANLASSUNGEN VASILIJ MELIK, PETER VODOPIVEC

Die slowenische 1848 — 1918

Intelligenz

und die

österreichischen

Hochschulen 134

VLADIMIR MATULA

Die politischen Kreise slawischer Studenten in Wien. Ihre Bedeutung für die weltanschaulich-politische Heranbildung junger Ideologen der slowakischen nationalen Befreiungsbewegung in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts

155

EDITA BOSÄK

Slowakische Studentenorganisationen in Wien, Prag und Budapest und ihre Zusammenarbeit

162

STEFAN MALFER

Italienische Studenten in Wien, Graz und Innsbruck 1848 —1918

183

JAN SOLTA

Sorbische Studenten an den Universitäten Leipzig, Prag und Breslau (Wroclaw) 1750—1850

196

7

Inhalt JOSEF K O C Ì ( t )

Die Zusammenarbeit der Prager und Wiener Studenten während der Revolution von 1848

214

EDWARD C . T H A D E N

Deutsche Universitäten und die Agrar- und Sozialreform in den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches 1804—1866

225

III. UNIVERSITÄTEN ALS OPERATIVE BASISEINHEITEN V I K T O R GEORGIEVIC KARASEV, IVAN IVANOVIC KOSTJUSKO, LUIZA IVANOVNA U T K I N A

Ausländische Studenten aus slawischen Ländern an der Moskauer Universität in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts . .

241

WERNER G . ZIMMERMANN

Serbische und bulgarische Studenten an der Universität Zürich bis zum Ersten Weltkrieg

250

GERHARD GRIMM

Promotionen von Studenten aus Böhmen, Mähren und aus der Slowakei an der bayerischen Landesuniversität von 1472 bis 1945

256

WALTER HÖFLECHNER

Ausländische Studierende an der Universität Graz 1918 —1938

269

GARY B . C O H E N

Die Studenten der Wiener Universität von 1860 bis 1900. Ein soziales und geographisches Profil

290

WALTRAUD HEINDL

Ausländische Studentinnen an der Universität Wien vor dem Ersten Weltkrieg. Zum Problem der studentischen Migrationen in Europa . . .

317

PETER BACHMAIER

Die Bedeutung 1878 — 1918

Wiens

für

die

bulgarische

studierende

Jugend 344

Verzeichnis der Mitarbeiter

362

Personenregister

364

Ortsnamenregister

375

VORWORT Das „Wegenetz europäischen Geistes II" ist die Fortsetzung eines Sammelbandes von Aufsätzen über die Wissenschaftszentren und geistigen Wechselbeziehungen zwischen Mittel- und Südosteuropa seit der Aufklärung. 37 Wissenschafter aus 14 Ländern trugen zum ersten Band bei, der 1983 unter dem Titel „Wegenetz europäischen Geistes" als Band 8 dieser Reihe erschien. Der vorliegende Band — Ergebnis der Forschung von 27 Historikern aus 13 Ländern und Ergebnis einer Tagung über die Bedeutung der studentischen Migrationen — hat eine Reihe von Fragenkomplexen zum Gegenstand, so die Gründe für die Wahl des Studienortes, die Aktivitäten am Studienort selbst und die Fernwirkung des Studiums in die Heimat. In den vorgetragenen Fällen kamen politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Motive ebenso wie die Anziehungskraft bestimmter Lehranstalten und Studienorte zur Sprache. Es ist geplant, die Diskussion der Thematik wie deren Publikation in der Reihe in den nächsten Jahren fortzusetzen. Wie auch im ersten Band wurde auf die sorgfältige Anlage eines Personenregisters Wert gelegt, da die einzelnen Beiträge bis zu hundert und mehr Namen von Studenten, akademischen Lehrern und Forschern, Mäzenen, Politikern, Künstlern usw. enthalten. Die Mehrzahl wurde durch die Nachforschungen der Mitarbeiter dieses Bandes erst eruiert. Das Ortsnamenregister weist den historischen Gegebenheiten Mittel-, Ostund Südosteuropas entsprechend oftmals mehrere Namen für denselben Ort aus. In diesen Fällen wird vor den angegebenen Seitenzahlen auf den oder in alphabetischer Reihenfolge auf die anderen Namen verwiesen. Um die Benützung des Registers zu erleichtern, wird der heute amtlich gültige Ortsname in jedem Falle angeführt, und es wird selbst dann auf ihn verwiesen, wenn er in dieser Form im vorliegenden Band nicht vorkommt. Die in den cyrillischen Alphabeten vorkommenden Personen- und Ortsnamen wurden nach D I N 1460 transliteriert. Dasselbe gilt auch für die Titel der Bücher und Zeitschriftenaufsätze in den Anmerkungen. Für die Herausgeber ist es eine angenehme Pflicht, einer ganzen Reihe von Mitarbeitern zu danken, zunächst jenen im redaktionellen Bereich und den Bearbeitern und Übersetzern fremdsprachiger Beiträge. Zahlreiche Hinweise, vor allem im Bereiche der Ortsnamen, gaben Univ.-Prof. Dr. Josef Breu, Dr. Peter Jordan, Dr. Karl Schappelwein und Dipl.-Ing. Bohumila Taschler. Dr. Peter

10

Inhalt

Bachmaier und Dr. J o s e f Vogl besorgten eine Übersetzung aus dem Russischen. Dr. Sonja Schneller zeichnet für eine Ubersetzung aus dem Englischen verantwortlich; sie hat gemeinsam mit Mag. Andreas Gottsmann und Dr. Petra Moissi an der Redaktion und den Korrekturen mitgearbeitet. Mag. Gottsmann hat auch die beiden umfangreichen Register angelegt. Weiters ist dem Verlag, insbesondere Frau Dr. Erika Rüdegger, für die Betreuung und das Verständnis für die vielen Probleme eines Sammelbandes zu danken. Die Publikation hätte schließlich ohne Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und das Participation Programme der U N E S C O nicht erscheinen können. Auch ihnen gebührt der herzliche D a n k der Herausgeber.

RICHARD G . PLASCHKA

Wien, im Frühjahr 1987

KARLHEINZ MACK

EINLEITUNG

RICHARD GEORG PLASCHKA

UMWELT UND GRUNDTENDENZEN S T U D E N T E N M I G R A T I O N E N IN M I T T E L - U N D

DER SÜDOSTEUROPA

V O M 18. B I S Z U M 20. J A H R H U N D E R T Die Universitäten wurden vor allem seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zu Institutionen, die nicht nur die gesellschaftspolitische Entwicklung deutlich widerspiegelten, sondern die an dieser Entwicklung auch führend beteiligt waren. Ich versuche, nacheinander einige wesentliche Reformideen am Beginn des 19. Jahrhunderts und die ökonomischen und nationalen Entwicklungsakzente in dessen zweiter H ä l f t e zu skizzieren und schließlich die auf der T a g u n g gehaltenen Referate über die studentischen Migrationen in diesen allgemeinen P r o z e ß einzuordnen. U n d ich darf drei Beispiele an die Spitze stellen, die aufzeigen, wie radikal in T a t und Haltung und schwerwiegend im Einzelschicksal auf den Universitäten für neue Gedanken der Zeit die Bahn gebrochen werden konnte — zwei Fälle Studenten, ein Fall Professoren betreffend: Karl Ludwig Sand 1819, J o z e f Clemens Pilsudski 1887 und die „Göttinger Sieben" 1837. Karl Ludwig Sand, Student der T h e o l o g i e in Erlangen und J e n a , der 1819 von J e n a nach M a n n h e i m zog, zwei D o l c h e im Tornister, um einen M o r d zu begehen: An August von Kotzebue, einem Lustspieldichter, der ebenso publikumswirksame wie seichte Stücke schrieb, der freilich — Anhänger der neu installierten absolutistischen Herrschaft — russischer Staatsrat und einst G e n e ralkonsul und nun „literarischer Korrespondent" Sankt Petersburger ministerieller Stellen des Zaren war und über neue Ideen in Politik, Bildung und Literatur im deutschen Bereich berichten sollte. D e r Student und Attentäter sah in diesem Dichter vor allem den Vertreter der Reaktion, vom Zaren bezahlt, mit russischem P a ß augestattet, den „Denunzianten", der selbst gegen die Freiheit der Universitäten Stellung nahm. U n d er wollte ebenso im Sinne jenes freiheitsbezogenen studentischen Denkens, das vor zwei Jahren noch, 1817, vier J a h r e nach der Leipziger Schlacht, Studenten zum Wartburgfest geführt hatte, wie im Sinn des zum Letzten entschlossenen Uberzeugungstäters ein Fanal setzen: E r hat August von K o t z e b u e erstochen. U n d er hat wenige M o n a t e später — im M a i 1820 — selbst mit dem Leben dafür bezahlt: auf dem Blutgerüst vor dem Heidelberger T o r in Mannheim 1 ). Vgl. W. Platt: Attentate. Düsseldorf/Wien 1982.

12

Richard Georg Plaschka

Jozef Clemens Pifsudski, aus dem Landadel im Wilnaer Gebiet stammend, studierte ab 1885, ab seinem 18. Lebensjahr, an der Universität Char'kov. Dort, an der Universität, gewann der Widerwille der Studenten gegen den Autokraten, den Zaren, gewann gleichzeitig die Idee des Sozialismus an Boden, und Pilsudski — in Kontakt mit russischen Studenten — beteiligte sich an Studentenunruhen und an der Gründung eines sozialistischen Studentenzirkels daheim in Wilna. Dieser Zirkel wieder gewann Verbindung zu einer Petersburger revolutionären Gruppe — Aleksandr Il'ic Uljanov, Lenins Bruder, war mit dabei —, die ein Attentat auf den Zaren plante. Hatte Pilsudskis erstere Aktivität einen erzwungenen Universitätswechsel zur Folge — nach Dorpat/Derpt —, so die zweite harte Maßnahme: Jener Aleksandr Uljanov, verurteilt zum Tode und mit vier seiner Kameraden gehängt, Jozef Pilsudskis Bruder Bronislaw, verurteilt zu 15 Jahren Zwangsarbeit auf Sachalin, Jözef selbst auf administrativem Weg auf fünf Jahre nach Sibirien verbannt und im Sommer 1887 „per Etappe" in Marsch gesetzt. Hier, in Sibirien, glaubten die Gefangenen sich dem Sozialismus nun umso stärker verbunden, hier loderte noch einmal der Haß in die Höhe gegen diese „Maschinerie des Zarismus sowie seinen Einfluß auf das Leben der Menschen", gegen „dieses asiatische Gebilde, das mit europäischem Firnis überzogen war" — bis zum Aufbegehren der Häftlinge in Irkutsk, das mit Gewehrkolben zusammengeschlagen wurde 2 ). „Die Göttinger Sieben", Professoren der Göttinger Universität, hatten 1837 Protest erhoben: gegen den König Ernst August von Hannover, der die Verfassung von 1833 aufgehoben hatte. Sieben Professoren — darunter Jakob und Wilhelm Grimm und Dahlmann — nahmen die Entlassung, drei zusätzlich die Landesverweisung auf sich. Jakob Grimm hat seinen Standpunkt verteidigt und in seiner Rechtfertigungsschrift erläutert: Gerade die Universitäten seien „höchst reizbar und empfindlich für alles, was im Land Gutes oder Böses geschieht". Jakob Grimm unterstrich diese Funktion der Universitäten: „Wäre dem anders, sie würden aufhören, ihren Zweck so wie bisher zu erfüllen". Und Grimm hob die Position des verantwortungsbewußten Hochschullehrers gerade angesichts der Jugend hervor: Da dürfe es vor dem „uneingenommenen Gemüt" . . . „kein Heucheln" geben, und es könne „auch nicht hinterm Berg gehalten werden mit freier, nur durch die innere Uberzeugung gefesselter Lehre . . " 3 ). Den Extremsituationen, wie sie an diesen drei Fallbeispielen deutlich werden, war vor allem im deutschen Bereich ein richtungsweisender, auf tiefer 2 ) A. Loeßner: Josef Pitsudski. Leipzig 1935. S. 17—24; vgl. J. Buszko: Historia Polski 1864—1948. Warszawa 1979; G. Stökl: Russische Geschichte. Stuttgart 1962. 3 ) F. Bauer: Widerstand gegen die Staatsgewalt. Frankfurt a. M./Hamburg 1965. S. 181 — 187.

Umwelt und Grundtendenzen der Studentenmigrationen

13

Verinnerlichung fußender Freiheitsbegriff als Reformidee für die Universitätsgemeinschaften der Professoren und Studenten vorausgegangen.

I . REFORMIDEEN U N D SOZIALÖKONOMISCHE U N D NATIONALE EINFLÜSSE

A. Reformüberlegungen

am Beginn des Jahrhunderts

Die Reformideen des klassischen Idealismus und des romantischen Realismus, wie sie für die Universitäten ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem im deutschen Bereich vorgetragen wurden, hatten die auf die persönliche Freiheit abzielende Aufgabenstellung neu gefaßt: Wiederentdeckung des antiken Menschenbildes, Entfaltung der Persönlichkeit, Herausforderung der Fähigkeiten, Herrschaft über die Natur und schließlich wissenschaftliche Erkenntnis, die überholte Ansichten und Urteile überwindet. Der Bevormundung durch Bürokratien und Kirchen war der Kampf angesagt. Von „der notwendigen Einheit alles Wissens" ging Friedrich Schleiermacher aus, als freie, der Wissenschaft gewidmete Vereinigung wollte er die Universität erkennen, als Impuls für „einen ganz neuen geistigen Lebensprozeß": „Die Idee der Wissenschaft in den edleren, mit Kenntnissen mancher Art schon ausgerüsteten Jünglingen zu erwecken, ihr zur Herrschaft über sie zu verhelfen auf demjenigen Gebiet der Erkenntnis, dem jeder sich besonders widmen will, . . . daß sie lernen, in jedem Denken sich der Grundgesetze der Wissenschaft bewußt zu werden, und eben dadurch das Vermögen, selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen, allmählich in sich herausarbeiten, dies ist das Geschäft der Universität" 4 ). Daß der Beginn des Studiums schwierige Anforderungen stelle, hat Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in seiner Vorlesung über den absoluten Begriff der Wissenschaft betont: Der Jüngling erhalte, vor der „Welt der Wissenschaften" stehend, wohl zunächst den Eindruck „eines Chaos", „eines weiten Ozeans, auf den er sich ohne Kompaß und Leitstern versetzt sieht". Philosophie und Geschichte reihte Schelling zu den Grundanforderungen für den, der sich zunächst über sein Verhältnis zur Gesellschaft orientieren wolle: „Das erste Streben eines jeden, der die positive Wissenschaft des Rechts und des Staats selbst als ein Freier begreifen will, müßte dieses sein, sich durch Philosophie und Geschichte die lebendige Anschauung der späteren Welt und der in ihr notwendigen Formen des öffentlichen Lebens zu verschaffen." Und zur Voraussetzung für den Erfolg: „Es ist nicht zu berechnen, welche Quelle der Bildung in dieser Wissenschaft eröffnet werden könnte, wenn sie mit unabhän4 ) E. Anrieb (Hg.): Die Idee der deutschen Universität. Darmstadt 1964. S. 238; H. W. Prahl: Sozialgeschichte des Hochschulwesens. München 1978. S. 192.

14

Richard Georg Plaschka

gigem Geiste, frei von der Beziehung auf den Gebrauch und an sich behandelt würde." 5 ) Wie die Anforderungen in der persönlichen Einstellung und Absicherung zu bewältigen seien, versuchte Johann Gottlieb Fichte in seinem „deduzierten Plan" vorzuzeichnen: durch „gehörige Vorbereitung auf der niederen Gelehrtenschule für die höhere", durch Sicherung „angemessener Unterhaltung fürs Gegenwärtige, und Garantie einer gehörigen Versorgung für die Zukunft", für die Einstellung des Studenten selbst aber „Aufgehen seines gesamten Lebens in seinem Zwecke, darum Absonderung desselben von aller anderen Lebensweise, und vollkommene Isolierung", Distanz vom „dumpfgenießenden Bürgertum" 6 ). In diesem Sinn wollte Fichte die Universität angesetzt sehen, „das gelehrte Erziehungssystem dieser Welt umzubilden", sollte sie bei aller Abgrenzung in der Lebensform, in der geistigen Entfaltung „keineswegs etwa eine in sich abgeschlossene Welt bilden, sondern soll sie eingreifen in die wirklich vorhandene Welt . . ,"7). Den Staat sah Johann Gottlieb Fichte nur noch in der Schutz- und Förderfunktion für die Wissenschaften, die Wissenschafter auf dem Weg zum „idealen Bund freier Geister", die Universität für die Gesellschaft als das „geistige Ferment" 8 ). Und Wilhelm von Humboldt differenzierte bereits in den Bildungsgängen, unterschied die grundsätzliche allgemeine und die beruflich bestimmte spezielle Bildung: „ . . . beide Bildungen, die allgemeine und die spezielle," sah er „durch verschiedene Grundsätze geleitet": sollten durch die allgemeine „die Kräfte, d. h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden, durch die spezielle soll er nur Fertigkeiten zur Anwendung erhalten". Und schon bahnte Humboldt auch der Philosophie als der zentralen, die vorhandenen Erkenntnisse innovativ weiterentwickelnden Wissenschaft — nach Schelling „durch sich selbst von der Nützlichkeitsbeziehung freigesprochen" — den Weg, indem er dem allgemeinen Bildungsgang, der „reinen Idee der Wissenschaft" den Primat zuwies 9 ). Das Jahr 1848 hatte zur Durchsetzung der Lehr- und Lernfreiheit zusätzliche Zeichen gesetzt. Ein Slawist ersten Ranges, Franz von Miklosich, Slowene, Rektor der Wiener Universität, hatte noch 1873 im Herrenhaus die neuen Auffassungen vertreten: „Die Universität hat die Mission, durch wissenschaftliche Arbeit zur Selbständigkeit des Denkens und Handelns zu bilden!" Und den Folgen habe man ins Auge zu sehen: „Es werden aus der Universität Leute jeder Schattierung, jeder Farbe hervorgehen, Absolutisten ebenso gut wie

s

) ') 0 8 ) ')

Anrieh, Die Idee, S. 3, 89. Ebenda, S. 135, 138f. Ebenda, S. 146. Ebenda, S. 146; Prahl, Sozialgeschichte, S. 191. Prahl, Sozialgeschichte, S. 194 f.; Anrieh, Die Idee, S. 39.

Umwelt und Grundtendenzen der Studentenmigrationen

15

Radikale, Konservative wie Liberale. Mögen sie dann wirken nach ihrem besten Wissen und Gewissen . . ."10). Inzwischen aber war von Wien aus auch eine beachtenswerte rechtliche Basis im Hinblick auf das neue Selbstverständnis der Universitäten geschaffen worden: Die Thun-Hohensteinsche Neuordnung 1848 —1852 und das Gesetz von 1873 — die Neuregelung der Vorstudien, das Nachziehen der philosophischen Fakultäten im Rang, neuformulierte Grundsätze der Lehr- und Lernfreiheit, die Fixierung der Universitäten als Stätten von Forschung und Lehre. Damit waren hier regional ausgreifende, beispielgebende Rechtsgrundlagen für die Entwicklung der Universitäten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegeben 11 ). Diese Zeit aber wurde zunehmend geprägt von zwei weiteren wesentlichen Entwicklungsströmungen, die zur Universität als „idealem Bund freier Geister" ganz neue, einschneidende, zum Teil radikale Akzente hinzufügten: die ökonomischen und die nationalen. B. Die Universitäten in Wechselwirkung mit der sozial-ökonomischen

Entwicklung

Im sozial-ökonomischen Bereich veränderte die Industrialisierung die Strukturen der Gesellschaft: Auf der einen Seite die rasch anwachsende Arbeiterschaft, auf der anderen das an Stärke und Gewicht zunehmende Bürgertum; der alte Mittelstand — Handwerker, Händler, Bauern — durch neue massive Kontingente ergänzt: Beamte, Angestellte, Unternehmer, Kaufleute, Mittelschulprofessoren. Neue Qualifikationsanforderungen entstanden. Die Folge: Neue Beziehungen zwischen Wirtschafts- und Bildungssystem entwickelten sich. Bildung und Ausbildung begannen neue soziale Akzente zu setzen. Und nicht zuletzt die Universitäten und Hochschulen waren damit neu gefordert 12 ). Demgemäß wurden die Universitäten nun zunehmend auch von ökonomischen Interessen und von der Differenzierung der Berufsfelder der arbeitsteiligen Gesellschaft mitbestimmt. Das heißt, sie, die Universitäten, wurden Ausbildungsstätten für Akademiker, die auch in der Wirtschaft und in Unternehmen eingesetzt werden konnten, so vor allem von der Natur- und Rechts10 ) Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Herrenhauses des Osterreichischen Reichsrates vom 28. 1. 1873, S. 284 ff., nach: S. Hafner: Die österreichische Slawistik und die Nationalkulturen der Südslawen. In: R. G. Plaschka und K. Mack (Hg.): Wegenetz europäischen Geistes. Wissenschaftszentren und geistige Wechselbeziehungen zwischen Mittel- und Südosteuropa vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. ( = Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts. Bd. 8) Wien 1983. S. 235. ") Vgl. R. Meister: Entwicklungen und Reformen des österreichischen Studienwesens. In: SB der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 239. Band I. Abhandlung/I. 12 ) Prahl, Sozialgeschichte, S. 181—244; Plaschka, Mack (Hg.), Wegenetz; Akademischer Senat der Wiener Universität (Hg.): Geschichte der Wiener Universität von 1848 bis 1898. Wien 1898; Slovanstvo. Obraz jeho minulosti a pritomnosti. Praha 1912.

16

Richard Georg Plaschka

Wissenschaft her. Sie waren aber zugleich Ausbildungsstätten für Beamte, Mittelschulprofessoren, Richter, Theologen und zusätzlich für die „freien Berufe" wie Ärzte und Rechtsanwälte. Und die Universitäten vermochten diesen differenzierten Ausbildungsaufgaben, den eintretenden Aufgabenausfächerungen allein gar nicht mehr voll nachzukommen. Daher wurde als zweite Welle der Hochschulbildung die bereits im 18. Jahrhundert einsetzende Gründung von Spezialschulen und ihre Entwicklung zu Spezialhochschulen forciert. Aber Universitäten und Hochschulen fanden sich darüber hinaus nicht nur in der Ausbildung, sondern auch in der Forschung neu gefordert 13 ). Der von der Produktion her gesteigerte Bedarf an wissenschaftlichen Erkenntnissen erzwang seit der Mitte des Jahrhunderts eine starke Expansion der wissenschaftlich-technischen Forschungseinrichtungen. Die produktionsnahen Betriebslaboratorien waren zum Teil überfordert — kostenmäßig wie wissenschaftlich. Als Folge ergab sich die Verlagerung der Forschung in zentrale Forschungseinrichtungen, zu einem guten Teil an die Universitäten und Hochschulen. Daneben aber entstanden und wirkten in der vollen Breite so gut wie sämtlicher Fachrichtungen neue wissenschaftliche Vereinigungen und Fachorganisationen, an der Spitze die Akademien der Wissenschaften, oft in zusätzlichen Forschungsstätten agierend, personell meist mit den Universitäten verbunden. Zur eigenen Dynamik der Universitäten und Hochschulen und zu den Anstößen aus den praxis- und absatzbezogenen Bedürfnissen der Wirtschaft aber trat zunehmend die staatliche Wissenschafts- und Forschungspolitik — nicht zuletzt budgetmäßig — und schließlich die grenzüberschreitende übernationale wissenschaftliche Innovation 14 ). Zwei wesentliche Strukturentwicklungen entsprachen diesen Impulsen: die Entfaltung und Differenzierung des Lehrkörpers und die Einrichtung von neuen operativen Organisationsgruppen — von Forschungslaboratorien, Seminaren, Kliniken. Der gezielte Ansatz von Habilitationen, die daraus hervorgehenden Dozenturen und Extraordinariate verstärkten nicht nur die Spezialforschungen, sondern auch das Umsetzen der Forschung in die Lehre. Zusätzlich entstanden neue Schichten von Assistenten, Technikern, Laboranten, die ihrerseits bereits in die praktische Ausbildung miteingriffen. Damit bildete sich auch eine Hierarchie, an der Spitze der Ordinarius, der Institutsvorstand, der Klinikchef. Die Hochschule präsentierte sich insgesamt als organische und organisatorische Zusammenfassung der sich entfaltenden operativen Einheiten von Instituten, Seminaren, Kliniken. Und dennoch blieb die Person, die Persönlichkeit entscheidend: Der Gelehrte, der Gelehrtentyp dieses Jahrhunderts, Professoren, die die Kraft hatten, im Sinne ihrer Erkenntnisse Leitlinien zu setzen, „Schulen" zu bilden, daneben junge Wissenschafter, die aufschlössen, fort") Prahl, Sozialgeschichte, S. 198—244. ") Ebenda, S. 198—292; Plaschka, Mack (Hg.), Wegenetz; Slovanstvo.

Umwelt und Grundtendenzen der Studentenmigrationen

17

setzten, neu ansetzten, die Generationenfolge sicherstellten, schließlich der breite Ausstoß der Studentenjahrgänge, die neue Teile der Gesellschaft formierten und deren Entwicklung als Spitzengruppen wesentlich mitzubestimmen begannen 1 5 ).

C. Die Universitäten als Schrittmacher des nationalen

Selbstverständnisses

Ebenso wie die Universitäten ein P r o d u k t des Uberganges zur neuen Industriegesellschaft waren, so wurden sie auch Faktoren eines weiteren Produkts dieser Gesellschaft: Des modernen Nationalbewußtseins, des modernen Nationalismus, eines Integrationsvorganges, der zunehmend ebenfalls den Freiheitsgedanken — übertragen auf die nationale Gemeinschaft — in Anspruch nahm. Die arbeitsteilige Gesellschaft hatte neue Näheverhältnisse in der Sprachgemeinschaft geschaffen, der Bildungsprozeß ein neues Verhältnis vor allem zur Sprache und in ihrem Rahmen zur Geschichte herbeigeführt. U n d über die sozialen Schichtungen hinweg und ungeachtet staatlicher Grenzen hatte sich die nationale Homogenität als Gemeinschaft besonderer Anziehungskraft und hochrangigen Bildungsanspruchs angeboten, gefestigt und etabliert: Die Sprachnation — die Sprache als entscheidenden Faktor der Gruppenzugehörigkeit wertend, Loyalität abfordernd im Sinn von Ernest Renans „plebiscit de tous les jours", ein neues Selbstverständnis und mit zunehmender Intensität eine neue Selbstbestätigung vermittelnd, die freilich bis in Extreme führen konnte, zur Opferbereitschaft wie zur Intoleranz. U n d mit dem Bürgertum an der Spitze der Bewegung präsentierte sich zugleich jene Schicht, die auch die stärksten Kontingente an Studenten stellte 1 '). Die Schul- und Bildungsfrage erhielt in der nationalen Entwicklung einen besonderen Stellenwert. M a n verfolgte penibel die Ausfächerung des eigenen „nationalen" Volksschulaufgebots, man erstrebte konkurrenzbewußt die Einrichtung eigener Mittelschulen, den Ausbau eines eigenen Mittelschulnetzes. U n d neben das Bemühen um die Sicherung der Basis und der Mittelstufe trat die Forderung nach einer eigenen Spitzenebene, nach eigenen Hochschulen und Universitäten. Es galt als Zeichen nationalen Bildungsfortschritts, als Zeichen erreichter nationaler Spitzenstellung, über sie zu verfügen 1 7 ). Als Modell eines multinationalen Staates — in diesem Zusammenhang sei vor allem an die Arbeiten Gustav Otrubas erinnert — vermag die Habsburger-

15

) Prahl, Sozialgeschichte, S. 187—292; Plaschka, Mack (Hg.), Wegenetz; Manuskript R. G. Plaschka: Universität 1884; Slovanstvo. u ) R. G. Plaschka, H. Haselsteiner, A. Suppan: Zum Begriff des Nationalismus und zu seinen Strukturen in Südosteuropa im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Osterreichische Osthefte 20. 1978. 1. S. 48—78. 17 ) Ebenda.

Richard Georg Plaschka

18

monarchie schon für jenes national ausgefächerte Heranwachsen des Mittelschulnetzes einen aufschlußreichen Einblick zu gewähren. Die Anzahl der Gymnasien, Realgymnasien und Realschulen nach Nationalitäten ergibt im Rahmen von drei Stichjahren — 1851, 1890, 1910 — das in der Tabelle dargestellte Bild»8). Anzahl der Gymnasien, Realgymnasien und Realschulen nach Nationalitäten Cisleithanien Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Tirol, Vorarlberg deutsch in Tirol italienisch Böhmen deutsch tschechisch gemischtsprachig Mähren deutsch tschechisch Schlesien deutsch tschechisch Galizien deutsch polnisch ruthenisch (ukrainisch) gemischtsprachig Krain deutsch slowenisch italienisch gemischtsprachig Triest/Görz/G. Istrien deutsch italienisch serbo-kroatisch Bukowina deutsch ukrainisch (ruthenisch) Dalmatien italienisch serbo-kroatisch

1851

1890

1910

28 2

76 2

105 3

17 9

22 34





50 65 1

13 8

30 33

4 1

10 2

2 23 1 1

1 78 7 5

3 1 1 1

3 1

6 1

6 5 2

9 —

3 —

9 6 — —

3 — — —

3 1 —

2

2 —

7 —

99

18



5

4 1

1 3

2 6

206

425

) G. Otruba: Die Nationalitäten- und Sprachenfrage des Höheren Schulwesens und der Universitäten als Integrationsproblem der Donaumonarchie (1863—1910). In: Plaschka, Mack (Hg.), Wegenetz, S. 88 —106; Österreichisches Statistisches Zentralamt (Hg.): Geschichte und Ergebnisse der zentralen amtlichen Statistik in Österreich 1829—1979. Wien 1979.

Umwelt und Grundtendenzen der Studentenmigrationen Transleithanien

1851

Ungarn mit Fiume, Siebenbürgen, Militärgrenze deutsch slowakisch ungarisch rumänisch italienisch gemischtsprachig Kroatien/Slawonien kroatisch serbisch gemischtsprachig

19 8 76 2

1892

19 1910

7 —

8 —

14

13

231 5 1 1

2 2 1

12 4

17 4

199

267



158 5 —

124





Über die Differenzierung im Heranschließen der Nationen an die H o c h schulbildung vermag die Donaumonarchie ein ebenso instruktives Beispiel zu geben. Hochschulstädte in der cisleithanischen Reichshälfte waren Wien, Graz, Innsbruck, Salzburg, Leoben, Prag, Brünn, Olmütz, Pribram, Krakau, Lemberg, Czernowitz und Triest. In Transleithanien waren es Budapest, Klausenburg und Agram. Drei der Universitäten in Cisleithanien waren Gründungen des Mittelalters: Prag, Krakau und Wien. Die den Hochschulen in der Doppelmonarchie aus den Bevölkerungsanteilen zuströmenden Studentenanteile zeigt die Tabelle (1890, 1892/93 und 1910 als Richtjahre angesetzt) 19 ). Bevölkerungsanteil 1890 1910

Deutsche Tschechen Slowaken Polen Ruthenen (Ukrainer) Slowenen Kroaten, Serben Magyaren Italiener Rumänen Sonstige davon jüdische Anteile

25,9 18,1

23,6 16,5

Studentenanteil 1890 (1892) 1910 (1893) 31,3 16,5 —

30,7 14,9





9,1 8,5 3,1 8,0 18,2 1,6 6,9 0,6

9,8 7,9 2,5 11,1 19,8 1,5 6,3 1,0

10,1 2,4 1,6 4,5 27,4 2,5 2,4 1,3

15,2 2,9 1,5 4,8 23,4 1,8 2,1 2,7



100,0 4,6

100,0 4,4

100,0 16,8

100,0 17,3

") Otruba, Die Nationalitäten- und Sprachenfrage, S. 88 — 106; Österreichisches Statistisches Zentralamt, Geschichte und Ergebnisse.

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Aufschlußreich im nationalen Vergleich der Entwicklung im Umfeld östliches Mitteleuropa ist auch ein Blick auf den Stand der Studentenzahlen an den Hochschulen in Cisleithanien. Sie waren in der Hörerzahl-Entwicklung knapp vor dem Ersten Weltkrieg — 1913 — zu folgendem Stand gelangt: Insgesamt gab es an den zehn Universitäten und den beiden theologischen Fakultäten 28.259 Studierende. Die Universität Wien lag in den Studentenzahlen mit 9205 Studierenden an der Spitze. An die zweite Stelle hatte sich eine galizische Universität gesetzt: Lemberg mit 5206 Studierenden. Die tschechische Universität Prag folgte mit 4321 Studierenden. Krakau, Graz und die deutsche Universität Prag hatten zwischen 2000 und 3000, die Universitäten Innsbruck und Czernowitz zwischen 1000 und 2000, die beiden theologischen Fakultäten Olmütz und Salzburg jeweils unter 200 Studierende 20 ). Die sieben Technischen Hochschulen Cisleithaniens — Wien, deutsche und tschechische Hochschule Prag, deutsche und tschechische Hochschule Brünn, Lemberg, Graz — zählten 1913/14 — der Zustrom zu den technischen Fächern hatte voll eingesetzt — 10.221 Studenten. Die Technische Hochschule Wien hatte 2888 Studierende, knapp gefolgt von der tschechischen Technischen Hochschule Prag mit 2552 und dem auch mit seiner Technischen Hochschule stark aufkommenden Lemberg mit 1503 Studierenden. Die acht sogenannten „übrigen" Hochschulen — die Montanistischen Hochschulen Leoben und Pribram, die Hochschule für Bodenkultur Wien, die Tierärztlichen Hochschulen Wien und Lemberg, die Akademie für Orientalische Sprachen, die Scuola Superiore di Commercio Triest, die Exportakademie Wien — zählten 3471 Studierende. Die Hochschule für Bodenkultur in Wien allein hatte bereits 1035 Studierende gemeldet 21 ). J0 ) Otruba, Die Nationalitäten- und Sprachenfrage S. 88 —106; Österreichisches Statistisches Zentralamt, Geschichte und Ergebnisse; vgl. zur Entwicklung: J. Havränek:Vocätky a koieny pokrokoveho hnuti studentskeho na pocätku devatesätych let 19. stoleti (Anfänge und Wurzeln der fortschrittlichen Studentenbewegung Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts). In: Acta Universitatis Carolinae — H U C P . 11/1. Praha 1961; ]. Havrdnek: Protirakouske hnuti delnicke mlädeze a studentü a udälosti roku 1893 (Antiösterreichische Bewegung der Arbeiterjugend und Studenten und die Ereignisse des Jahres 1893). In: A U C - H U C P . II/2. Praha 1961; M. N. Kuz'min: Die Teilung der Prager Hochschulen. In: Plaschka, Mack (Hg.), Wegenetz, S. 112—123; G. Stourzh: Die FranzJosephs-Universität in Czernowitz 1875—1918. In: Plaschka, Mack (Hg.), Wegenetz, S. 54—59; J. Buszko: Organisatorische und geistig-politische Umwandlungen der Universitäten auf polnischem Boden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Plaschka, Mack (Hg.), Wegenetz, S. 132—145; P. Hanak: Wandlungen der österreichisch-ungarischen wissenschaftlichen Beziehungen im Laufe des 19. Jahrhunderts. In: Plaschka, Mack (Hg.), Wegenetz, S. 343—355; H. Haselsteiner: Die Bedeutung Wiens als Universitätsstadt in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts am Modell der slovenischen Studenten. In: Plaschka, Mack (Hg.), Wegenetz, S. 294—302; Slovanstvo. 21 ) Otruba, Die Nationalitäten- und Sprachenfrage. S. 88 —106; Österreichisches Statistisches Zentralamt: Geschichte und Ergebnisse; Plaschka, Mack (Hg.), Wegenetz; Slovanstvo.

Umwelt und Grundtendenzen der Studentenmigrationen

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I I . DER AUFBAU DES MIGRATIONS-NETZES

Die Fragestellung der Konferenz war auf ein Netz von Beziehungen gerichtet, auf ein Netz von Studentenwanderungen, von Studenten-Migrationen, vor allem Mittel- und Südosteuropa betreffend. Die Antwort konnte noch nicht auf das Gesamtbild abzielen, sondern auf Teilaspekte, aber doch auf modellhafte, das Gesamtbild wesentlich prägende Entwicklungen. Nur zwei Referate seien als solche genannt — das einleitende als These und eines als Quelle. Der Versuch der Aufschlüsselung und Einordnung der Erkenntnisse baut auf den auf der Konferenz präsentierten Arbeiten auf. „Der Geist weht, wo er will, kulturelles Geschehen vollzieht sich prinzipiell in übernationalen Räumen" — Stanislaus Hafner stellte es der Tagung in seinem Einleitungsvortrag „Zur Typologie übernationaler kultureller Kommunikation" an die Spitze. Und er unterstrich, daß „die Geschichte der menschlichen Meinungen, Erkenntnisse, Institutionen und Leistungen . . . grundsätzlich keine nationalen Barrieren" kenne, und er erfaßte Europa „als eine Gemeinschaft von Völkern", „deren Mitglieder in allen Bereichen und auf allen Ebenen des kulturellen Lebens untereinander mit einem Netz von Beziehungen und Gemeinsamkeiten verschiedenen Grades verbunden waren und noch sind". Daß Österreich auf eine Tradition als multinationaler Staat, als „eine Zone verstärkter kultureller Kommunikation und Information" zurückblicken könne, daß in dieser Zone modellhaft kulturelle Kommunikations- und Angleichungsprozesse vor sich gegangen sind, Konzepte erstellt, Kommunikationsmechanismen erprobt wurden, konnte als zunächst kulturtypologisch erfaßter, von Rationalismus und Romantik geprägter, auch migrations-relevanter Erfahrungswert eingebracht werden 22 ). Vermochte die Einleitung als These, so vermochte ein zweites Referat zugleich als Quelle zu wirken, ging das eine von umfassenden Bewegungen, so ging das andere von kleinen Organisationseinheiten, von Studentenzirkeln aus — das Referat von Henryk Batowski, dem Nestor unter den Tagungsteilnehmern: „Die Studentenvereine für internationale Freundschaft nach dem Ersten Weltkrieg am Beispiel Polens und der Tschechoslowakei". Anhand der Initiativen der „Confédération Internationale des Étudiants" gewannen Studentenkreise und ihre auf internationale Kontakte gerichteten Gedankengänge Gestalt, dem Gedanken des Völkerbundes verbunden, multi- wie bilateral ausgreifend, rührig, voll Idealismus, zumindest anfangs eher um den Gleichklang der Siegernationen des Ersten Weltkrieges bemüht — Studenten-„Außenpolitik", optimistisch als Stütze für die oft viel differenzierter agierende Außenpolitik auf Staatsebene gedacht 23 ). u

) Manuskript Stanislaus Hafner. " ) Manuskript Henryk Batowski.

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Richard Georg Plaschka

Die Referate der Tagung setzten das Thema schwerpunktmäßig in einen dreifachen Zusammenhang: Motivationen und Bewegungen, operative Einheiten und Rück- und Wechselwirkungen. A. Die auftretenden Motivationen

und Bewegungen

1. Die wesentlichen Motivationselemente Unter den erfaßten Motivationselementen für die Bewegungen sind folgende besonders hervorgetreten: das wissenschaftlich-fachliche, das ökonomische, das religiöse und das nationale Element. a) Das wissenschaftlich-fachliche Element: Vor allem die Staatsstipendien aus südosteuropäischen Ländern, aber auch Migrationen auf vorwiegend privater Basis lassen den starken Einfluß der fachlichen Anziehungskraft bestimmter Hochschulorte und bestimmter Länder erkennen. Als Beispiel sei auf die Sogwirkung französischer Hochschulorte in bezug auf die Rechtswissenschaften, auf die deutscher Hochschulorte in bezug auf philosophische, wirtschaftliche und technische Studien, auf die russischer Hochschulorte in bezug auf sprachwissenschaftliche Studien, aber auch in technischer Richtung verwiesen, insgesamt auf die Differenzierung im Bereich der Kunststudien 24 ). b) Das ökonomische Element: Es wurde an drei Beispielen besonders deutlich: Stipendien an der Universität Moskau — die russische Regierung stellte für den Unterhalt ausländischer Studenten aus slawischen Ländern seit 1857 namhafte Summen zur Verfügung, auch das Moskauer Slawische Komitee gewährte Unterstützungen. Mit Kulmination im Ersten Weltkrieg gab es in Wien — einschließlich eines Studentenheimes mit 25 Freiplätzen — Stipendien für bulgarische Studenten. Paris und andere französische Universitäten gewährten großzügig Stipendien an tschechische Studenten 25 ). c) Das religiöse Element: Es wurde als differenzierte Drehscheibe von Migrationen aus Ungarn im 18. Jahrhundert modellhaft aufgeschlüsselt. Die Protestanten wählten den Weg nach Deutschland, Holland, in die Schweiz und nach Großbritannien, die ungarischen Reformierten, die Calviner, meist in die Schweiz. Waren es hier, in der Schweiz, Basel, Bern, Genf, Schaffhausen, Zürich, die als Zielorte galten, so waren es für die ungarischen lutheranischen Auslandsstudenten in Deutschland Erlangen, Frankfurt/Oder, " ) Manuskripte Ljubinka Trgovcevic; Virginia Paskaleva; Cvetana Todorova; Vasilij Melik, Peter Vodopivec; Dan Berindei; György Hölvenyi; Viktor Georgievic Karasev, Ivan Ivanovic KostjuSko, Luiza Ivanova Utkina; Jan Havränek; Erich Donnert; Edward C. Thaden. " ) Manuskripte Viktor Georgievic Karasev, Ivan Ivanovic KostiuSko, Luiza Ivanovna Utkina; Peter Bachmaier; Jan Havränek.

Umwelt und Grundtendenzen der Studentenmigrationen

23

Göttingen, Greifswald, Halle, Heidelberg, Jena, Leipzig, Marburg, Rostock, Tübingen; besonders stark wirkten Halle, Jena, Wittenberg; Jena allein besuchten im 18. Jahrhundert 300 Studenten. Für die katholischen Priesterstudenten war Rom besonderer Zielpunkt, vor allem das Collegium Germanico-Hungaricum. An diesem Collegium studierten allein zwischen 1770 und 1782 296 ungarische Priesterkandidaten. Ein zweiter wesentlicher Zielort: das Pazmaneum in Wien, im 18. Jahrhundert mit 400 Studenten 26 ). d) Das nationale Element: Anziehungskraft in diesem Sinn zeigte im Hinblick auf serbische und bulgarische Studenten die Universität Moskau, ebenso für Serben, Bulgaren und Slowenen Prag. Auf Slowenen und Bulgaren in Wien konnten ihre Studentenvereine als heimatnationale Basis anziehend wirken. Slawische Studentenbewegungen fanden auch untereinander wechselseitige Beziehung, so in Wien russische, serbische und bulgarische Studenten anläßlich der PuSkin-Feier 1899 oder anläßlich eines allslawischen Balls 1902. Slowakische Studentenklubs wirkten in Wien, Prag und Budapest, Wiener Kreise slawischer Studenten hatten nicht zuletzt schon in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts Rückwirkung auf national-slowakische Aktivitäten. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten rumänische Studenten in Paris, Pest und Wien Vereinigungen gegründet. Prag, Leipzig und Breslau übten ab dem frühen 19. Jahrhunderte bedeutenden Einfluß auf die sorbische Erweckerbewegung aus27). 2. Motivationen aufgrund bestimmter Länderausgangspositionen a) Bulgarien: Die Donau bildete nicht nur handelsmäßiges, sondern auch erstes bildungsrelevantes Bindeglied in Richtung Wien und Mitteleuropa. Praktische Ausbildung, vor allem in landwirtschaftlich-technischer Hinsicht, zog im Bereich der Donaumonarchie zunächst besonders an: die Hochschule für Bodenkultur in Wien, aber auch Klosterneuburg — Wein- und Obstbau — und in Böhmen Prag, Täbor und Pisek. Wien und Prag begannen bald auch in den Geisteswissenschaften Anziehungskraft auszuüben, aber auch Moskau, Heidelberg, München und Wien in der medizinischen und technischen Ausbildung. In der Technik zählten vor allem deutsche Hochschulen, in der Rechtswissenschaft französische Universitäten zum Zielbereich. Insgesamt waren — nicht zuletzt durch gezielten Einsatz von Staatsstipendien — allein zwischen 1879 und 1915 rund 1150 Bulgaren an der Migration der Studenten an europäische Universitäten beteiligt 28 ).

2

') Manuskript György Hölvenyi. ") Manuskripte Viktor Georgievic Karasev, Ivan Ivanovic KostjuSko, Luiza Ivanovna Utkina; Virginia Paskaleva; Cvetana Todorova; Dan Berindei; Vasilij Melik, Peter Vodopivec; Vladimir Matula; Edita Bosak; Ljubinka Trgovcevic. 28 ) Manuskripte Virginia Paskaleva; Cvetana Todorova.

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b) Rumänien: In der ersten Welle der Auslandsstudien ab den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts studierten die meisten Walachen in Paris, einige in Genf, die Siebenbürger meist in Wien, einige in Pest, die Moldauer meist in Österreich und Deutschland. Zwar wurden 1860 und 1864 Universitäten in Jassy und Bukarest gegründet, die Auslandsstudien nahmen dennoch zu. 1864/65 befanden sich allein 55 Staatsstipendiaten zu Hochschulstudien im Ausland. 1860 meldeten sich 37 rumänische Studenten aus Wien, 1861 zählte man 33 rumänische Studenten in Pest. In Leipzig studierten 1821 bis 1866 41, 1867 bis 1878 49, in den nächsten 23 Jahren 100 rumänische Studenten 2 '). c) Serbien: 1839 begann Serbien mit der Entsendung der ersten Staatsstipendiaten ins Ausland. Anläßlich der Eröffnung der Belgrader Universität wurden 45 ordentliche und außerordentliche Professoren und Dozenten ernannt, die als Beispiel für Auslandsstudien besonders aufschlußreich sind. Sie hatten an 23 Universitäten in fünf Staaten studiert, vor allem in Paris, Berlin, Wien und München. Staatsstipendiaten waren an Hochschulen zugewiesen worden, private hatten frei gewählt — wohl den Sprachkenntnissen und dem fachlichen Ruf der Zieluniversität entsprechend. Die Promotionen: München 4, Wien 4, Paris 3, Leipzig 3, je 2 in Tübingen und Genf, je 1 in Rostock, Lausanne, Freiburg (D), Budapest und Krakau 30 ). d) Böhmen: Auslandsreisen tschechischer Studenten waren bis 1882 die Ausnahme, Natur- und Geisteswissenschafter traf man gegebenenfalls in Deutschland. Die neunziger Jahre brachten ebenso ein Ansteigen der Auslandsreisen wie eine Umorientierung in den Studienorten. Paris löste bei tschechischen Studenten der bildenden Kunst München ab, das Ziel früherer Generationen, Frankreich — nicht zuletzt seine Stipendienpolitik — zog auch Geistes- und Naturwissenschafter und Techniker an. Studien in Deutschland waren in den letzten zwei Jahrzehnten vor 1914 eher zur Seltenheit geworden. Vor allem um die Kulturszene kennenzulernen, reisten junge Wissenschafter auch nach Rußland 31 ). 3. Bewegungen aufgrund besonderer nationaler und sozialer Veranlassungen a) Bewegungen durch Boykott oder nationale Unterdrückung in der Heimat: Polen und Slowaken. Beispiel I: Polen. Als Reaktion auf Maßnahmen der russischen Regierung im polnischen Bereich strömten polnische Studenten zunächst auf die 1834 gegründete Universität in Kiev, wo sie zeitweise sogar die Mehrheit der Studenten stellten. Später sandten die russischen Behörden polnische Stipen") Manuskript Dan Berindei. 30 ) Manuskript Ljubinka Trgovcevic. 31 ) Manuskript Jan Havränek.

Umwelt und Grundtendenzen der Studentenmigrationen

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diäten nach Petersburg und Moskau. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nahm vor allem die Zahl polnischer Technik-Studenten an russischen Hochschulen zu. Mit der Boykottwelle gegen die Hochschulen in Kongreßpolen ergab sich nach Eröffnung der Warschauer Universität durch die russischen Behörden folgendes Verteilungsbild der Zahl polnischer Studenten: Warschau: 90; Krakau/Lemberg: 2600; übriges Osterreich: 750; Westeuropa einschließlich Deutschland: 2500"). Beispiel II: Slowaken. Die unterrichtsmäßig national bedrückende Situation der Slowaken — so die Schließung der slowakischen Gymnasien und der „Matica slovenskä" — gab dem Auslandsstudium slowakischer Studenten besonderen Stellenwert. Wien vermittelte zudem Kontakte im Sinn slawischer Gemeinsamkeit 33 ). b) Bewegungen mangels eigener nationaler Universität in der Heimat: Slowenen und Italiener. Inmitten von Auseinandersetzungen um eigene nationale Universitäten vollzogen sich Studentenbewegungen an „fremde" Hochschulen: Beispiel I: Slowenen. Ihre Zahl an den österreichischen Universitäten war in ständigem Steigen: Ende der achtziger Jahre unter 400, 1889—1895 400—500, 1896—1899 500—600, 1900 652, 1913 926 — auffallend ein hoher Theologenanteil. Zieluniversitäten waren vor allem Wien, Graz, Prag 34 ). Beispiel II: Italiener. Die Italiener der Donaumonarchie hatten im Staat die höchste Hochschulfrequenz unter den hochschullosen Nationen — 11 Hochschüler auf 10.000 Einwohner. Zieluniversitäten waren Wien, Graz — dieses in vergleichsweise sehr hohem Maß — und Innsbruck. Herkunftsbereiche waren Tirol, Dalmatien, Görz, Istrien und Triest 35 ). B. Universitäten

als operative

Basiseinheiten

Einige Universitäten konnten aufgrund einschlägiger Referate besonders erfaßt werden. 1. Universität Moskau: Die Ausländerzahlen unter den Studenten nahmen von der ersten zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu; in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts studierten an der Universität Moskau 407 Ausländer, ein Drittel davon aus südlichen slawischen Ländern, so 83 aus Bulgarien, 33 aus Serbien. Aber es kamen auch 269 Polen. Studentische Vereinigungen bildeten landsmannschaftliche Kreise, so die „Bolgar") ") ") ")

Manuskript Juliusz Bardach. Manuskripte Edita Bosäk; Vladimir Matula. Manuskripte Vasilij Melik, Peter Vodopivec. Manuskript Stefan Malier.

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skaja druiina" für die Bulgaren, so „OguP für die Polen aus Litauen und Weißrußland. Deutlicher Rückgang der Zahl der polnischen Studenten trat ein, als sie Anfang der sechziger Jahre in die revolutionäre Bewegung in ihrer Heimat abgingen 36 ). 2. Universität Zürich: Bis 1914 schlössen je etwa 30 Bulgaren — von rund 220 — und andere Südslawen — von rund 240 — mit dem Doktorat ab. Als Abschlußschwerpunkt ergab sich die Pädagogik: 24 von 59 erfaßten Dissertationen — 15 von bulgarischen, 9 von südslawischen Kandidaten. Bei Serben und Kroaten bleibt ein für die Zeit überdurchschnittlicher Anteil an weiblichen Studierenden hervorzuheben 37 ). 3. Universität München: eine Längsschnittstudie über fünf Jahrhunderte — 1472 bis 1945 — der Ludwig-Maximilians-Universität (Ingolstadt 1472—1800, Landshut 1800—1826, München ab 1826) erfassend, gab Einblick in die Anziehungsfähigkeit der bayerischen Landesuniversität in bezug auf Böhmen, Mähren-Schlesien und die Slowakei. Nach Fächern standen Mediziner, Juristen, Wirtschaftswissenschafter, Chemiker an der Spitze, als Ursprungsraum Böhmen, im Zeitablauf die letzten 100 Jahre vor 1945, der Nationalität nach Deutsche, insgesamt 71 Promovierte 38 ). 4. Universität Graz: Hatte Graz schon vor dem Ersten Weltkrieg studentischen Zuzug aus Südosteuropa, nicht zuletzt von Slowenen, ergab sich nach 1918 eine Fortsetzung dieser Migration vor allem aus dem bulgarischen, rumänischen und südslawischen Bereich, nicht zuletzt Angehörige des deutschen Bevölkerungsanteils der neuen Staaten. Als beachtlich ist auch der Zuzug von Studenten aus Deutschland ins „österreichische Heidelberg" hervorzuheben 39 ). 5. Universität Wien: Bemerkenswert ist eine Analyse der sozialen Schichten der Studenten: zwischen 1860 und 1900 an die 40 % aus den Schichten höherer Staatsbeamter und der Freiberufe, an die 20 % aus Besitzbürgertum und Adel, 40 % vor allem aus dem Kleinbürgertum, aus dessen alten und neuen Kontingenten; religiöse Minoritäten wie Juden und Protestanten waren im Anteil an den Studenten jedenfalls stärker vertreten als im Anteil an der Bevölkerung. Daß vor allem zahlreiche Bulgaren bis 1918 an der Wiener Universität und an Wiener Hochschulen studierten, sei als Beispiel für die Anziehungskraft des Platzes gegenüber Südosteuropa vermerkt 40 ).

36 ) Manuskript Utkina. 37 ) Manuskript 38 ) Manuskript 39 ) Manuskript 40 ) Manuskript

Viktor Georgievic Karasev, Ivan Ivanovic KostjuSko, Luiza Ivanova Werner G. Zimmermann. Gerhard Grimm. Walter Höflechner. Gary B. Cohen; vgl. Peter Bachmaier.

Umwelt und Grundtendenzen der Studentenmigrationen

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Akzente in der Entwicklung des Frauenstudiums an der Universität Wien: Der Herkunft nach stammten die „Pionierstudentinnen", 37 im WS 1897/98, davon 34 außerordentliche Hörerinnen — Immatrikulation für Frauen gab es an der Philosophischen Fakultät ab 1897/98, an der Medizinischen ab Ende 1900 — vor allem aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum Niederösterreichs und Mährens, zur ungefähren Hälfte katholischen und jüdischen Bekenntnisses, fast zwei Drittel in Wien geboren. 1911/12 kamen von den 576 Studentinnen der Philosophischen Fakultät der Universität Wien — die Universität zählte insgesamt 804 Hörerinnen — 45 % aus Wien, insgesamt 56 % aus den deutschen Erbländern, 34 % aus der übrigen Monarchie, davon der Großteil aus Galizien, Mähren und Böhmen, 10 % aus dem Ausland. Unter den Ausländerinnen waren die russischen Studentinnen am stärksten vertreten, der überwiegende Teil mit jüdischer Glaubenszugehörigkeit 41 ). Als Extrementwicklungen nationaler Schwerpunktbildungen im Gegensatz zur Umwelt-Region einer Universität waren zwei Beispiele hervorzuheben: Kiev mit einem außerordentlichen Anteil an nicht-ukrainischen, d. h. an polnischen, Wien mit einem außerordentlichen Anteil an nicht-deutschen, d. h. slawischen Studenten 42 ). C. Die Rück- und Wechselwirkung

der

Migrationen

1. Rückwirkung im wissenschaftlichen Bereich: Nicht zuletzt die ersten Lehrergenerationen der Hochschule und Universität Belgrad und der rumänischen Universitäten wurden wesentlich durch im Ausland ausgebildete Kräfte getragen. Ebenso lassen sich bulgarische Wissenschafter des 19. Jahrhunderts in ihrem Studiengang in Mitteleuropa verfolgen. Von den ersten Professoren der Laibacher Universität hatten elf ihr Studium in Wien abgeschlossen, zwei in Graz. Aber es lehrten auch Slowenen in Wien, Prag, Graz, Innsbruck, Czernowitz. Rückwirkung auf das ungarische Geistesleben schon im 18. Jahrhundert hatte vor allem Halle, nicht zuletzt von der Bewegung des Pietismus her, im selben Sinn wirkten Jena und Wittenberg, besonders im Hinblick auf die allgemein kulturellen Funktionen der Pastoren. Auf katholischer Seite nahmen in Rom und im Pazmaneum in Wien geschulte Priester hervorragende Stellungen in der kirchlichen Hierarchie Ungarns ein — Ideen der Aufklärung aus Wien, freier geistiger Entwicklung aus Rom wirkten zurück 43 ). Ein Beispiel mo41

) Manuskript Waltraud Heindl. ") Manuskripte Juliusz Bardach; Gary B. Cohen; Österreichisches Statistisches Zentralamt, Geschichte und Ergebnisse; Otruba, Die Nationalitäten- und Sprachenfrage, S. 88 — 106. 43 ) Manuskripte Ljubinka Trgovcevic; Dan Berindei; Virginia Paskaleva; Cvetana Todorova; Vasilij Melik, Peter Vodopivec; György Hölvenyi.

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dellhafter Rückwirkung ebenfalls im 18. Jahrhundert: Semen Efimovic Desnickij, Professor an der Moskauer Universität, Bahnbrecher der russischen Rechtswissenschaft, in seiner Studienzeit an der Universität Glasgow, Schüler von Adam Smith 44 ). 2. Rückwirkung im ökonomischen Bereich: Ein konkretes Modell: An den Ansätzen zu Agrar- und Sozialreformen in den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Rückwirkung von in Deutschland absolvierten Studien besonders deutlich — Dorpat präsentierte sich zusätzlich als erstrangiger Vermittlungsfaktor 4 5 ). 3. Wechselwirkung im Bereich gesellschaftspolitischer und kulturpolitischer Auffassungen: a) Angeführte allgemeine Wirkungslinien: In Moskau lernten ausländische Studenten auch revolutionäre Gedankengänge aus dem Bereich ihrer russischen Kommilitonen kennen. Südosteuropäische Absolventen der deutschen, französischen und russischen Universitäten und Hochschulen konnten bis zum Erreichen wichtiger politischer und kulturpolitischer Funktionen verfolgt werden. Am Modell Ungarn wurde die Rückwirkung bei Katholiken, Protestanten, Calvinern im 18. Jahrhundert deutlich. Das „aufgeklärte" Europa wirkte auch am Beginn des ^ . J a h r h u n derts über seine Studenten bereits auf Moldau und Walachei zurück. Eine besondere nationale Wirkung: Slowakische Studenten — im Mittelschulbereich entnationalisiert — fanden im Auslandsstudium oft verstärktes nationales Selbstbewußtsein 46 ). b) Ein punktuelles Modell Prag - Wien 1848: Die Beziehung der Prager zur Wiener Studentenschaft gewann in diesem Jahr einen besonderen Ausdruck. Gab es phasenweise übernationale Impulse revolutionär-demokratischen Vorgehens schon in Prag, der erhoffte Gleichklang mit Wien sollte im Aufruf auf einem Plakat Ausdruck finden: „. . . Prag unterstützt Wien, entweder wird Prag mit Wien siegen oder fallen . . ," 47 ). Es sind im wesentlichen 100 Jahre Entwicklung studentischer Migration, die die Konferenz ins Auge faßte. Jahrzehnt um Jahrzehnt packten Studenten ihre Tornister und Koffer, um auf große Fahrt zu gehen. Ihren Spuren zu folgen, ist

44 )

Manuskript Erich Donnert. Manuskript Edward C. Thaden. 46 ) Manuskripte Viktor Georgievic Karasev, Ivan Ivanovic Kostjuäko, Luiza Ivanovna Utkina; Dan Berindei; György Hölvenyi; Vasilij Melik, Peter Vodopivec; Edita Bosäk; Vladimir Matula; Ljubinka Trgovcevic; Virginia Paskaleva; Cvetana Todorova. ") Manuskript Josef Koci. 45 )

Umwelt und Grundtendenzen der Studentenmigrationen

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nicht nur ein Aufdecken persönlicher Initiativen und Schicksale, darüber hinaus auch ein vertieftes Erfassen nationaler Vergangenheit, vor allem aber — wie die Konferenz gezeigt hat — der Vorstoß zur Erkenntnis, wie sehr die Entwicklungen gerade auf den Universitäten und Hochschulen nicht national abgegrenzte Erscheinungen, sondern gemeinsame europäische Erlebnisse sind. Beide nunmehr in Wien zur Frage des universitären Wegenetzes abgehaltenen internationalen Konferenzen — 1978 und 1983 — haben in der Zusammenarbeit der Teilnehmer und in ihrem Ergebnis Zeichen europäischer Kooperation gesetzt. Daß die Rückbesinnung auf die gemeinsamen Wege in der Vergangenheit den Weg der Zusammenarbeit in der Zukunft verstärken möge, ist unser Anliegen.

STANISLAUS HAFNER

ZUR TYPOLOGIE ÜBERNATIONALER

KULTURELLER

KOMMUNIKATION

KULTURWISSENSCHAFT, EIN OFT VERNACHLÄSSIGTES GEBIET DER HISTORIE

Dieses T h e m a berührt, wenn man die Dinge genau nimmt, fast alle Bereiche kulturwissenschaftlicher Forschung; führt man die notwendige wissenschaftliche Einengung des Blickfeldes durch, so liegen die Schwerpunkte im Sinne der zu behandelnden Zeitumstände wohl in erster Linie bei kulturhistorischen und kultursoziologischen Aspekten, d. h. bei Problemstellungen der Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung von Kulturgütern, gleich ob wir Kultur als das Insgesamt aller durch menschliches T u n geschaffenen beständigen Objektivationen von Geistigem auffassen 1 ), oder Kultur definieren als die Gesamtheit der Leistungen einer Gesellschaft in materieller und geistiger Entwicklung, die von der Gesellschaft in Anspruch genommen werden, kulturelle Traditionen bilden und dem Fortschritt der Menschheit dienen, wie man es in der sowjetischen philosophischen Enzyklopädie lesen kann 2 ). Unsere Fragestellung berührt, wie gesagt, auch kultursoziologische Aspekte, d. h. Bereiche der Kulturformen menschlicher Gruppierungen und menschlichen Gruppenhandelns in verschiedenen nationalen Ausprägungen und damit letzten Endes die vergleichende Betrachtung menschlicher Institutionen als konsistenter Gebilde, deren Aufgabe es ist, organisatorische Strukturen und kulturelle Errungenschaften einer Gesellschaft zu bewahren. Dabei geht es nicht darum, Handelnsabläufe kultursoziologischen Geschehens zu erforschen, sondern vielmehr darum, die institutionellen Handelnsmodelle bzw. Verhaltensmuster vergleichend und in ihrer Interdependenz zu untersuchen. Kulturwissenschaftliche Forschungsarbeit, im übernationalen K o n t e x t betrachtet, ist im allgemeinen weniger theoretischen und methodischen Diskussionen ausgesetzt als die politische Geschichte bzw. Ereignisgeschichte, dafür aber stellt sie vor allem wissenschaftshistorisch ein unterentwickeltes Gebiet

') Siehe Lexikon der Philosophie von F. Austede, Wien 1979. S. 243 f. Filosofskaja enciklopedija (Philosophische Enzyklopädie). Moskva, 3. S. 118. 2)

1964.

Typologie übernationaler kultureller Kommunikation

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dar. Sie führt, wenn man die internationale Historiographie betrachtet, neben der Geschichte mehr ein Schattendasein. Man pflegt in der Geschichtsschreibung den einzelnen Zeitabschnitten in der Regel jeweils ein kurzes kulturhistorisches Kapitel als eine Art Adnex anzuhängen, wo man durch Anreihung kurzer Lebensdaten der Dichter, bildenden Künstler und Wissenschafter glaubt, der Darstellung des geistigen und kulturellen Hintergrundes, der Wirkung von Ideologien und weltanschaulichen Strömungen Genüge getan zu haben 3 ). Die Grundfragen nach den überregional wirkenden geistigen Kräften der Zeit, nach den Strukturen geistesgeschichtlicher und politischer Faktoren des Vergesellschaftetseins menschlicher Gruppen, nach den semiotischen Systemen der Weltbilder, den kulturtypologischen Wertkategorien und nach den Kommunikationsmodellen der Gesellschaft bleiben meist unberührt, namentlich seit die Historie von den übermächtigen Sozialwissenschaften und ihrer Ideologiekritik in den Hintergrund des öffentlichen Wissenschaftsinteresses gedrängt worden ist. Meines Erachtens könnte in dieser Situation eine durch Kommunikativwissenschaft und Semiotik objektivierte Kulturwissenschaft eine neue Ausgangsbasis der Kulturgeschichte bieten. Der Geist weht, wo er will4), kulturelles Geschehen vollzieht sich prinzipiell in übernationalen Räumen. Wie die einzelnen Sprachen nicht monadisch voneinander isoliert als „reine" Sprachen bestehen, sondern in Sprachfamilien und Sprachbünden ein weltumspannendes, harmonisch funktionierendes Ganzes bilden, so sind auch die Nationalkulturen in ein harmonisches System einer polyphonen Weltkultur, die eine mehr, die andere weniger, integriert, wie der in der Zwischenkriegszeit in Wien lehrende bedeutende russische Sprachwissenschafter und Begründer der Phonologie Nikolaj Sergeevic Trubeckoj 1927 es schrieb 5 ). Während bei den Sprachen genetische Bindungen den Vorrang haben, steht bei den Kulturen der Völker der historisch-soziologische Zusammenhang an erster Stelle. Man kann deshalb auch nicht von „reinen" und isolierten Nationalkulturen sprechen. Deshalb ist in der Kulturwissenschaft auch stets die Rolle der Umwelt der betreffenden Nationalkultur in Betracht zu ziehen. Die Voraussetzung für ein richtiges Erkennen dieses Eingefügtseins der Nationalkulturen in übernationale Zusammenhänge bildet nach Trubeckoj aber die Uberwindung des Ethnozentrismus mit Hilfe einer richtigen Selbstein3

) Einen Versuch, diese Mängel in der österreichischen Geschichtsschreibung wieder zu überwinden, stellt R. A. Kann: A History of the Habsburg Empire 1526—1918. Berkeley, Los Angeles, London 1974, bzw. deutsch: Geschichte des Habsburgerreiches 1526—1918. 2 Wien 1982, dar. 4 ) Vgl. Johannes 3,8. — Eigentlich: Der Wind weht, wo er will; für Wind und Geist steht aber im griechischen Text das gleiche Wort (pneuma). 5 ) Siehe N. S. Trubeckoj: Vavilonskaja baänja i smeäenie jazykov (Der babylonische Turm und die Vermischung der Sprachen). In: Evrazijskij Vremennik. 3. 1923. S. 119.

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Stanislaus H a f n e r

Schätzung und der Selbsterkenntnis der betreffenden nationalen kulturellen Gemeinschaft. Diese echte Selbsterkenntnis, das yvfi)-9i a e a u t ö v des Sokrates, das „istinnoe samopoznanie" nach Trubeckoj, weise nämlich erst dem Menschen oder dem Volke den Platz in der Welt an, der ihm zukommt, und zeigt ihm, daß er nicht das Zentrum des Weltalls, nicht der Nabel der Welt sei. Nur eine echte Selbsterkenntis der Völker könne zu einer harmonisch mit der Umgebung abgestimmten Eigenständigkeit eines Volkes führen. Die Formel Trubeckojs lautete daher „poznaj samogo sebja i bud' samim soboj", erkenne dich selbst und sei dir deiner selbst bewußt 6 ). Es steht dafür, heute nach den Erfahrungen, die gerade die Völker Mittel- und Südosteuropas, wo nationalstaatliche Abgrenzungen schwer durchzuführen sind, auch nach dem Zweiten Weltkrieg machen mußten, diesen Aufsatz Trubeckojs über den echten und den falschen Nationalismus in Erinnerung zu rufen, ungeachtet dessen, daß diese Schrift damals gegen den romano-germanischen Eurozentrismus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gerichtet war. KULTURELLE LEISTUNGEN KENNEN KEINE NATIONALEN BARRIEREN

Auch die Geschichte der menschlichen Meinungen, Erkenntnisse, Institutionen und Leistungen, kurz das, was den Kulturhistoriker in erster Linie interessiert, kennt grundsätzlich keine nationalen Barrieren. Seit eh und je haben Gedanken und Erkenntnisse Mittel und Wege gefunden, natürliche und künstliche Grenzen zu überwinden. Verdanken wir dem menschlichen Dialog unsere Sprache, so verdanken wir dem Verkehr unter den Völkern unsere Kultur. Jede kulturelle Epoche kennt in Europa Landschaften intensiver kultureller Kommunikation, Umschlagplätze regen kulturellen Austausches und stillere Zonen des Bewahrens des kulturellen Erbes, die sich aber in ihrer Virulenz nach den Gesetzen der Polyphonie auch ablösen können. Berühmte europäische natürliche kulturelle Nahtstellen waren z. B. im Mittelalter Spanien, die Rheinische Tiefebene oder Mazedonien, gleichzeitig waren diese Gebiete auch Zonen intensiver sprachlicher Kontakte und Landschaften natürlicher Zweisprachigkeit. Zonen solchen intensiven kulturellen Austausches bildeten in der europäischen Kulturgeschichte auch alle multinationalen Staaten bzw. Reiche des Mittelalters und der Neuzeit, alle großen übernationalen europäischen kulturellen Sinneinheiten, die lateinische Welt des Mittelalters, Byzanz und die kirchensla') Siehe N. S. Trubeckoj: K probleme russkogo samopoznanija (Zur Frage der russischen Selbsterkenntnis). Paris. 1927. S. 12—20; derselbe Text erschien 1921 im Sammelband: Ischod k Vostoku (Der Ausweg nach Osten). Sofija 1921. S. 71 — 85; J. Krammer: Fürst Nikolaj S. Trubetzkoy als Kultur- und Geschichtsphilosoph. Wien 1982, Phil. Diss., S. 26—41. — Unwillkürlich ruft dieser Kernsatz Trubetzkoys Grillparzers Epigramm ins Gedächtnis: Sei immer du und sei es ganz, in: Franz Grillparzer: Särmliche Werke. Bd. 1. München 1960. S. 460.

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wische Kulturwelt, schließlich auch die Zonen sprachlicher Verwandtschaft und funktionaler sprachlicher Gemeinsamkeiten. Kulturwissenschaftlich gesehen, können wir uns überhaupt Europa als eine Gemeinschaft von Völkern vorstellen, deren Mitglieder in allen Bereichen und auf allen Ebenen des kulturellen Lebens untereinander mit einem Netz von Beziehungen und Gemeinsamkeiten verschiedenen Grades verbunden waren und noch sind. Geben wir uns keinen Täuschungen hin, als Europa für den kulturellen Informationsaustausch nur über drei übernationale Schriftsprachen verfügte, war der sprachliche Kontaktmechanismus in großen Räumen leichter und effizienter zu handhaben als heute, wo jede kulturelle Information erst die Barrieren der Schriftlichkeit vieler größerer und kleinerer Schriftsprachen zu überwinden hat. Freilich, die Zahl der Teilnehmer an der mittelalterlichen kulturellen Kommunikation machte nur einen Bruchteil des heutigen Publikums der europäischen kulturellen Kommunikation aus. D I E ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHE MONARCHIE ALS ÜBERNATIONALER KULTURELLER KOMMUNIKATIONSRAUM

Auch der Vielvölkerstaat Österreich bildete in der europäischen Kulturgeschichte im 18. und 19. Jahrhundert eine Zone verstärkter kultureller Kommunikation und Information. Hier vollzogen sich auf einer zweiten, von politischen Auseinandersetzungen einigermaßen verschonten, kulturell kommunikativen, übernationalen Ebene, von Volk zu Volk verschieden gestaltete Prozesse der Akkulturation und der schöpferischen Entelechie nach dem Prinzip einer gemeinsamen Zielstrebigkeit der Anpassung und Aussonderung fremder oder verwandter Vorbildkultur nach ständischen und nationalen Bedürfnissen und Zweckmäßigkeiten der Form, dem wir schließlich die Entstehung von Nationalkulturen im Sinne des 19. Jahrhunders in diesem Raum zu verdanken haben. Hier setze ich die Annahme voraus, daß dieser Vielvölkerstaat als kultureller Kommunikationsraum und Informationsvermittler ein funktionierendes Ganzes darstellt, in dem sich die interkulturellen Informationsmechanismen frei entfalten können. Oder noch genauer formuliert, dieser Staat des alten Osterreich hatte der kulturellen Information keine Hindernisse in den Weg gestellt, die die schöpferischen Rezeptionen kultureller Güter und den Aufbau eigenständiger nationalkultureller Wertsysteme und Weltmodelle unterbunden hätten. Anderseits ist hier auch die Feststellung angebracht, daß alle in dem Vielvölkerstaat der Monarchie lebenden Völker von den für diesen Staat so typischen Kommunikations- und Angleichungsprozessen erfaßt worden sind und heute noch das Erbe dieses kulturellen Kommunikationsraumes in sich tragen, das nationalkulturell führende deutsche Volk genauso wie die nichtdeutschen Völker, wobei es bei diesen freilich auch wieder Unterschiede der Rezeptionsund Emanzipationsfähigkeit gab.

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Man versucht heute mit einigem Erfolg, wenn man an die Arbeiten der sogenannten Tartu-Schule denkt, kulturwissenschaftliche Forschungen mit Methoden der Semiotik und strukturellen Linguistik zu objektivieren. Dabei wird das gesamte kulturelle Geschehen unter dem Gesichtswinkel einer bestimmten inhaltlichen Information und eines Systems sozialer Kodizes betrachtet, die es ermöglichen, diese Information in entsprechenden Zeichen auszudrücken und sie zu Wertsystemen der einen oder der anderen Gruppe von Menschen zu machen 7 ). Und als Aufgabe der Kulturtypologie wird dann die Beschreibung der Haupttypen dieser kulturellen Kodizes gesehen, aus denen dann die sogenannte „Sprache", hier als semiotisches System verstanden, eines Kulturtypus gebildet wird; zur Kulturtypologie zählt auch die vergleichende Charakterisierung kultureller Grundtypen, und die Bestimmung des Anteils kultureller Universalien in ihnen. Eine solche kulturtypologische Forschung bietet sich vor allem im übernationalen Kontext und in kulturwissenschaftlichen Fragestellungen übernationaler kultureller Kommunikation an. In der letzten Zeit beschäftigt man sich, wenn man die Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften betrachet und sich vor allem den 3. Band: Die Völker des Reiches vornimmt 8 ), erfreulicherweise wieder intensiver mit der Vergangenheit des ehemaligen österreichischen Vielvölkerstaates. Man kann sich aber, von der Warte eines Kulturwissenschafters aus gesehen, mitunter des Eindruckes nicht erwehren, dieses hervorragende und im Grunde genommen pluralistisch konzipierte Geschichtswerk werde der Funktion dieses Vielvölkerstaates als einer Sinneinheit und als eines multinationalen kulturellen Kommunikationsraumes und seiner Leistungen, die auch seine politische Geschichte beeinflußten, stellenweise doch etwas zu wenig gerecht. Hätte man diese Gesichtspunkte stärker berücksichtigt, wären nicht nur ein weiteres Mal überzeugende Beweise vorgelegt worden, daß die Monarchie das ihr aufgegebene Nationalitätenproblem nicht gelöst hat oder nicht lösen konnte, sondern wir könnten auch erfahren, daß gerade im kulturellen Bereich der Monarchie immer wieder brauchbare Vorschläge und Konzepte angeboten wurden, wie man die nationalen Grundprobleme dieses Staates lösen könnte. Sicher, in der kulturwissenschaftlichen Forschung spielt bei der Bewertung der Fakten, die dem Kulturhistoriker zur Verfügung stehen, der Unterschied zwi7 ) /«. Lotman: K probleme tipologii kul'tury (Zum Problem der Kulturtypologie). In: Teksty sovetskogo literaturovedceskogo strukturalizma (Texte des sowjetischen literaturwissenschaftlichen Strukturalismus). Hrsg. und eingeleitet von K. Eimermacher, München 1971. S. 330—338; R. Lachmann: Wertaspekte in Jurij Lotmans Textbedeutungstheorie. In: B. Lenz und B. Schulte-Meddelich (Hg.) / Beschreiben, Interpretieren, Werten. München 1982. S. 134—155. B ) A. Wandruszka und P. Urbanitsch (Hg.); Die Habsburger Monarchie 1848 bis 1918. Bd. 3: Die Völker des Reiches. Wien 1980. XVIII, 1471 S., 1 Faltkarte.

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sehen einem theoretisch geschaffenen System und seiner Realisierung in der Masse des nichtsystemhaften Materials keine so entscheidende Rolle, wie in der politischen Geschichte. Solche Systeme nationalkultureller Bewußtseinsbildung, die meist auf eine Synthese der Zeitströmungen und des Reichsdenkens hin orientiert waren, indem sie das nationale Gruppenbewußtsein den Bedürfnissen der historischen Staatlichkeit anzupassen versuchten, entstammten Repräsentanten einer multinationalen Intellektuellenschicht, die man als ein zweites, kulturelles Osterreich der konservativen und liberalen geistigen Elite bezeichnen könnte, die, ob deutsch oder nichtdeutsch, sich über Kultur, Staat und Politik ihre Gedanken machte, diese auch aussprach, sie in der wissenschaftlichen Kultur Europas fundierte, einer Elite, die jedoch in den meisten Fällen ungehört blieb oder nicht die Macht besaß, ihre Konzeptionen zur Geltung zu bringen, freilich oft wohl auch deshalb, weil diese Konzepte im Gegensatz zu herrschenden politischen Richtungen standen'). Ende des 18. Jahrhunderts begann sich bekanntlich in der multinationalen kulturellen Kommunikations- und Bildungseinheit des alten Osterreich das Denken einzelner Intellektueller, vor allem der nichtdeutschen Völker, dank der Bildungsreformen und unter dem Einfluß europäischer geistiger Strömungen von einem rein dynastischen, landschaftlichen und ständischen Denken zu lösen und in ein Denken zu verwandeln, das der sprachlichen Gemeinschaft als einer primären Gemeinschaft als gruppenbildendes Merkmal eine ausschließliche Bedeutung beizumessen begann und dieses neue Selbstbewußtsein auch kulturtypologisch zu artikulieren verstand. Dieses geistige und kulturelle Erwachen der kleinen Völker Mitteleuropas vollzog sich gemäß den romantischen Prinzipien des Ursprünglichen, Irrationalen und Individuellen 10 ) und ließ eine bunte Reihe auch kulturtypologisch geprägter Modelle einer neuen Ordnung in Kultur und Staat entstehen, die es verdienen, von der kulturhistorischen Forschung ernster genommen zu werden. D a die Romantik außerdem ein europäisches Musterbeispiel für eine vielgestaltige, vom Gesetz der Entfaltung des Geistes in polaren Gegensätzen beherrschte und deshalb auch in den kulturellen Erscheinungen nur relativ einheitliche Kategorie darstellte, überrascht uns die Vielgestaltigkeit dieser kulturellen Systeme keineswegs.

') S. Hafner: Sprache und Volkstum bei den Slawen im Vormärz. In: Südostforschungen. 24. 1965. S. 161 f.; ders.: Das geistige Leben Österreichs und die Nationalkulturen Mittel- und Südosteuropas. In: Osterreichische Osthefte. 6. 1964. 1. S. 1 — 18. Nur nationalstaatlich ausgerichtete kulturhistorische Darstellungen weichen Fragestellungen nach den Anteilen österreichisch orientierten Tschechentums, Polentums, Slowenentums und Kroatentums meist aus. Die Dinge werden oft so dargestellt, als ob nationalkulturelle Leistungen dieser Slawen nur Konfliktsituationen mit der historischen Staatlichkeit zu verdanken wären. 10 ) Siehe F. Meinecke: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte. 'Leipzig 1951. S. 105, 107.

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Allen Typen dieser nationalkulturellen Modelle war aber auch gemeinsam, daß sie auf kultursoziologisch verschiedenen Ebenen durchwegs von starken Persönlichkeiten entworfen und propagiert wurden 1 1 ). NEUBEWERTUNG VON SPRACHE, VOLKSTUM UND STAATLICHKEIT

Wenn wir als ein Grundproblem der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts und des ganzen 19. Jahrhunderts im alten Osterreich die Fragestellung nach den Begriffen Sprache und Volkstum und nach dem Verhältnis dieser Begriffe zueinander und zu der historisch gegebenen übernationalen Staatlichkeit ansehen, so lag diese Problematik auch unseren kulturellen Konzeptionen als eine Kernfrage zugrunde. Sie wurde aber auch gleichzeitig zum Anlaß divergierender kulturtypologischer Kodebildung, bzw. ihrer Sprachen, im Sinne semiotischer Systeme. Begreiflicherweise unterschieden sich alle diese Konzepte sowohl in bezug auf ihre Strukturiertheit als auch in bezug auf ihre wissenschaftliche Kultur. In der Kulturgeschichte hat es bekanntlich noch nie abrupte Brüche zwischen einzelnen Epochen und Zonen gegeben, sondern allmähliche Ubergänge, Uberschneidungen und Hemmungen, oft von Landschaft zu Landschaft und von Volk zu Volk. Meist ging das Umdenken, oder besser gesagt, das Umkodieren der semiotischen und semantischen Systeme, recht zögernd und sozial differenziert vor sich. So gab es z. B. noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in Osterreich Intellektuelle, deren Staatsdenken in rationalen Strukturmodellen verharrte. In einem System, das in seiner Blütezeit nur einen Nationsbegriff kannte, in welchem es im wesentlichen nur zwei Kategorien gab, den Staat und das Individuum, ein System, das einen rein rationalen Bildungsidealismus verfocht, praktische staatliche Bedürfnisse für die Kulturentwicklung eines Volkes, womit die Staatsnation gemeint war, für allein maßgebend hielt, nur Institutionen und nicht Menschen als Träger des politischen Bewußtseins anerkannte und dem historischen Staats- bzw. Vaterlandsdenken den absoluten Primat einräumte. BERNARD BOLZANOS RATIONALES STAATSMODELL

Ein solches, die inneren Lebensgesetze des Vielvölkerreiches berührendes, aber noch im Geiste der Spätaufklärung konzipiertes Modell entwarf der böhmisch-deutsche Logiker Bernard Bolzano (1781 —1848) in seinen Universitätsreden in Prag 1816 12 ). Es betraf unter anderem auch das Zusammenleben veru ) Ich verweise auf die divergierenden sprachlichen und literarischen Programme z. B. der slowenischen Romantiker Bartholomäus Kopitar, Stanko V r a z , Martin Slomäek, France PreSeren, Matija t o p , Urban Jarnik und Matija Majar-Ziljski; siehe unten. 12 ) B. Bolzano: Uber das Verhältnis der beiden Volksstämme in Böhmen. Hg.: J. Fest. W i e n 1849, in der weiteren Folge zit. als Bolzano, Uber das Verhältnis.

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schiedener Völker in einem Staat auf der Grundlage einer staatsbürgerlichen Gesinnung, wie sie Bolzano in seiner nur handschriftlich auf uns gekommenen Schrift „Von dem besten Staate", als seine Staatsphilosophie dargelegt hat 13). Diese Vorträge verkünden bereits die Grundsätze der Sozial- und Ethnoethik Bolzanos 1 4 ), die in Osterreich bis spät in die liberale Ära der franzisko-josephinischen Zeit Anhänger besaß 15 ): Bolzano machte den nationalen Konflikt zwischen den Tschechen und den Deutschen in Böhmen, den Geist der Zwietracht, den die beiden Volksstämme untereinander nährten und der einer Vervollk o m m n u n g der Verfassung im Wege stand 16 ), zum Ausgangspunkt seiner staatspolitischen und kulturwissenschaftlichen Erörterungen. Das zentrale Anliegen eines Staates sieht er in der Verteidigung der wesentlichen Gleichheit aller Bürger. Die Tschechen und die Deutschen sind f ü r Bolzano Volksstämme eines Staatsvolkes, er kennt keine von vornherein bestehenden Verschiedenheiten der „Naturbeschaffenheit" der beiden Volksstämme und begründet vorhandene mit ungleichen historischen Schicksalen und mit ungleichem Bildungsgrad. Der Mensch werde allein durch Erziehung und durch Umstände geformt, und jedes Volk könne, wenn es in gleich günstige Verhältnisse versetzt wird, zu gleicher Vollkommenheit gelangen. Das Vorhandensein mehrerer Sprachen bei einem Staatsvolk sieht Bolzano als einen von der N a t u r gegebenen Nachteil an, der das Bild der wesentlichen Gleichheit aller Bürger durch den Unterschied der Sprache verdunkle, den wechselseitigen Umgang, wenn nicht ganz unmöglich mache, so doch sehr erschwere und behindere. Neben der Sprachverschiedenheit gäbe es, nach Bolzano, aber noch andere, die sich in der Gemütsart, in den Begriffen und im Grade der Aufklärung zwischen den beiden Volksstämmen vorfinden 1 7 ). Die Sprachverschiedenheit betreffe nur den äußeren, die Verschiedenheit der Gemütsart den inneren Menschen, beide seien aber „unwichtig" und keinesfalls groß genug, die Art der Gemeinschaft unmöglich zu machen 1 8 ). Gegenüber diesen Unterschieden seien tausend andere Dinge vor-

15

) Den.: Von dem besten Staate. Hrsg. v. A. Kowalewski, Prag 1932 (B. Bolzanos Schriften, Bd. 3). 14 ) S. Hafner, Sprache und Volkstum bei den Slawen, S. 142 — 146; E. Winter: Die Sozial- und Ethnoethik Bernard Bolzanos. (Osterr. Akad. d. Wiss., Philos.-histor. Kl., Sitzungsberichte, Bd. 316) Wien 1977; in der weiteren Folge zit. als Winter, Sozial- und Ethnoethik. 15 ) Noch 1882 berief sich der bedeutende österreichische Slawist slowenischer Herkunft, Franz Miklosich, im Herrenhaus auf den echten österreichischen Patriotismus Bolzanos und stellte ihn dem „frivolen Sport der Nationalitätenhetze" gegenüber (Stenogr. Protokolle über die Sitzungen des Herrenhauses des Osterr. Reichsrates vom 9 . 2 . 1882). 16 ) Bolzano, Über das Verhältnis, S. 16; bzw. Winter, Sozial- und Ethnoethik, S. 81. 17 ) Bolzano, Über das Verhältnis, S. 20, 22 f., 26, 32 f.; Winter, Sozial- und Ethnoethik, S. 82 f. 18 ) Bolzano, Über das Verhältnis, S. 32; Winter, Sozial- und Ethnoethik, S. 84 f.

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handen, in denen beide gleichförmig denken 1 9 ). In der weiteren Folge beruft sich Bolzano auf ein „merkwürdiges" Naturgesetz, daß „zur Entstehung eines jeden Ganzen, welches uns den Anblick der Vollkommenheit gewähren soll, eine gewisse Ungleichartigkeit der übrigens wohlverbundenen Bestandteile notwendig" sei 20 ), und deshalb biete gerade der Umstand, daß das Staatsvolk in Böhmen aus so ungleichartigen Bestandteilen zusammengesetzt ist, erst recht die Möglichkeit, die Böhmen zu einem der glücklichsten Völker Europas zu machen 2 1 ). Im letzten Teil seiner Schrift gibt Bolzano Ratschläge, wie man die Wohlverbundenheit der beiden Volksstämme fördern könne: Was die Verschiedenheit der Sprachen betrifft, sei es zunächst notwendig, den ganz Ungebildeten des Volkes, den tschechischen sowohl als auch den deutschen, über den Unterschied der Sprache gehörig aufzuklären, daß „es ganz willkürlich sei, ob man die Dinge so oder anders bezeichne, daß man aus Mangel der Verabredung bei den verschiedenen Völkern der Erde notwendig auch auf verschiedene Bezeichnungen der Begriffe habe verfallen müssen", und daß der auf diese Weise entstandene „Unterschied der Sprache der allerunwesentlichste sei, der unter Menschen nur immer stattfinden mag 22 )". Laut Bolzano wäre jener der größte Wohltäter eines Volkes, der es dahin brächte, daß von den Bewohnern eines Landes nur eine Sprache gesprochen würde, doch sei ein solcher Zustand nicht zu erwarten; umso eifriger müßte man alles das anwenden, was die Sprachverschiedenheit möglichst unschädlich mache. Eine Torheit sei es, einen Menschen schon darum, weil er eine andere Sprache spricht, f ü r etwas Besseres oder Schlechteres als sich selbst zu halten, ganz natürlich sei es aber, die M u t tersprache f ü r das gefälligste zu halten 2 3 ). Den Einfluß des romantischen Denkens über den Wert der Muttersprache auf dieses spätrationale Kulturmodell zeigen die Sätze: „. . . jeder vernünftige M a n n sollte es sich zur Regel gemacht haben, nie eine Sprache vor den Ohren solcher zu mißhandeln, die sie als ihre Muttersprache verehren . . ." 24 ), Bolzano befürwortet prinzipiell das praktische Erlernen anderer Landessprachen und macht es den Vorgesetzten zur Pflicht, die Sprache ihrer Untergebenen zu lernen. Die Ungleichheit der Gemütsart zwischen den Bewohnern eines Landes sei nach Bolzano nur durch das Fehlen des ausgiebigsten Mittels zur Verähnlichung, welches im Umgange gegeben ist, bedingt 2 5 ); als Gegenmittel empfiehlt er die Übertragung von Schriften, die von einem Teil des Volkes am häufigsten gelesen werden und den größten Einfluß auf seine Geistesbildung haben, in die Sprache des anderen Volkes, um sie auch

") °) 21 ) ") ") ») ") 2

Ebenda, Ebenda, Ebenda. Ebenda, Ebenda. Ebenda, Ebenda,

(Bolzano), S. 33; bzw. (Winter), S. 39; bzw. S. 87. S. 45; bzw. S. 87. S. 46. S. 47; bzw. S. 88.

S. 85.

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diesem brauchbar zu machen. Das Fehlen des „Gemeingeistes", wie sich Bolzano ausdrückt, will er im Lande durch die Verbreitung solcher Einsichten beheben, durch welche die „Notwendigkeit des Gemeingeistes" immer einleuchtender wird 26 ). Sein Postulat der „Befestigung der autoritativen Position", die den sittlich Tüchtigsten im Staat die Möglichkeit gibt, zum Heile der Gesellschaft voll wirksam zu sein27), will er dadurch verwirklicht sehen, daß das Auftreten vortrefflicher Personen aus jedem Volksstamme gefördert und ihnen freie Bahn gegeben wird, auch schon deswegen, weil ihre eigenen Vorzüge ihren ganzen Volksstamm dem anderen liebenswürdig machen würden 28 ). Die Forderung, die Bolzano in seinem Lehrbuch der Religionswissenschaft aufgestellt hat, „handle immer so, wie das allgemeine Beste oder das Wohl des Ganzen es erfordern 29 )", applizierte er auch auf das Verhältnis zwischen den Deutschen und den Tschechen, indem er jedem einzelnen ans Herz legte, durch seine eigene Person ein hohes Beispiel der Vortrefflichkeit vor seinen Stammesgenossen zu geben und sich besonders dem anderen Volksstamme von einer möglichst liebenswürdigen Seite zu zeigen 30 ). Es ist das ein Weltbild, übernational konzipiert im Sinne der Philosophie der österreichischen Spätaufklärung und ausgestattet mit den Schlüsselbegriffen der vorromantischen Zeit. DAS NATIONALREVOLUTIONÄRE PROGRAMM

Auf einem viel breiteren Hintergrund, im deutsch-slawischen geistigen Kommunikationsraum, ist zur gleichen Zeit das Gegenstück zu dieser noch rationalen Wertordnung entstanden, nämlich das revolutionär romantische Programm des Slowaken Jan Kollär (1793 — 1852), konzipiert 1817 in der geistigen Atmosphäre der Universität Jena, die damals ein Zentrum des deutschen national-romantischen Denkens war. Hier wurden ein völlig neues, nur nach Sprache und Kultur orientiertes, durch außerstaatliche Bindekräfte integriertes Volkstum, und eine nur intraslawische Wechselseitigkeit postuliert. Der Gedanke der Eigengesetzlichkeit und Eigenwertigkeit eines von der Sprache her bestimmten Volkstums wurde verkündet, und es wurden gegenüber der Aufklärung völlig neue Wertkategorien geschaffen. „Ein Vaterland", Kollär meint

") Ebenda, S. 50; bzw. S. 88. 27 ) Vgl. B. Bolzano: Erbauungsreden. Prag 1849. S. 157. Hier forderte Bolzano, daß wir jeden, den wir als einen „rechtschaffenen Menschen" kennen, in seinen wohltätigen Absichten nach Kräften unterstützen und seinen Wirkungskreis zu erweitern suchen. Auf diese Weise könne der sittlich Tüchtige nicht mehr verkannt werden, man gäbe ihm vielmehr die Möglichkeit, zum Wohle der Gesellschaft zu wirken. Vgl. auch das Vorwort A. Kowalewskis zu: Von dem besten Staate, S. 14, 19. 2 ') Bolzano, Über das Verhältnis, S. 51; bzw. Winter, Sozial- u. Ethnoethik, S. 88. ") B. Bolzano: Lehrbuch der Religionswissenschaft, 3, 2. Sulzbach 1834. S. 217. '") Bolzano, Über das Verhältnis, S. 51; bzw. Winter, Sozial- u. Ethnoethik, S. 89.

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damit den historischen übernationalen Staat, der kein Nationalstaat ist, „kann man leicht wieder finden, wenn es auch verlorengeht: Nation und Sprache aber nie und nirgends, das Vaterland an sich ist tote Erde, ein fremdartiges Objekt, ein Nicht-Mensch: die Nation ist unser Blut, Leben, Geist, Subjektivität. Die Vaterlandsliebe ist etwas Instinktartiges, ein blinder Naturtrieb: Liebe zur Nation und Nationalität ist mehr Erzeugnis der Vernunft und der Bildung. Selbst bei den Pflanzen und Tieren findet man die Vaterlandsliebe . . . Hingegen nichts findet man in der Tierwelt dem Entsprechendes oder Ahnliches, was wir Liebe zum Volk oder Nationalität nennen, weil diese sich eben über die Naturtriebe erhebt, nicht Produkt des Instinktes, sondern des reflektierenden Bewußtseins und Denkens ist. Das Tier hat nur den Individuums-Sinn, keinen Gemeingeist; es hat nur die sinnliche Anschauung und den äußeren Eindruck, darum auch eine Art Vaterlandsliebe: es hat aber keine Begriffe und Ideen, darum auch kein Analogon des Volkstums . . . " Weiters stellte Kollär fest, die „enge Vaterlandsliebe" wäre an der Menschheit eher eine Sünde, als es der „weite Bürgersinn" am Vaterlande sei. Er warnte vor „dumpfem, unduldsamem, haßsüchtigem Patriotismus", der nur zur „scheinbaren Rechtfertigung gekränkter Menschenrechte" und nur zu „mißbrauchter Gewalt gegen schwächere Nachbarn oder Landeskinder anderen Volkstums" 51 ) dienen würde. Er wolle damit aber keineswegs die Vaterlandsliebe verdammen, sondern nur wünschen, daß sie den seiner Ansicht nach „einseitigen antiken Charakter" ablege und den der Humanität annehme, — eines neuen Menschentums, in dem Liebe zu Nation und Sprache Platz hätte, denn „ohne diese könne man ohnehin keiner wahren Vaterlandsliebe empfänglich sein". Nur müsse das Kleinere dem Größeren, Erhabeneren, die Vaterlandsliebe der Nationsliebe untergeordnet sein. Wie sich Bäche, Flüsse, Ströme ins Meer ergössen, so „sollen sich einzelne Länder, Provinzen, Stämme, Mundarten in die Nation ergießen". Unbekümmert um historische Bindungen, um Rechte und Traditionen, um exaktes Denken und logische Folgerungen krönt schließlich Kollär seine Ausführungen mit der Parole: „Alle Slawen haben nur ein Vaterland 32 )", d. h. den Wunschtraum eines gesamtslawischen Nationalstaates. Diese wenigen Kernsätze aus dem Buch Jan Kollärs „Uber die literarische Wechselseitigkeit", in der Fassung Pest 1837, zeigen ein dem Bolzano-Programm diametral entgegengesetzes System von Werten und Begriffen, übrigens eine für jene Zeit typische Erscheinung. Das Kollärsche Weltbild hat, wie wir wissen, europäische Geschichte gemacht und wurde die weltanschauliche Basis vieler nationalkultureller Modelle. Auch die romantischen Systeme seiner Begriffssprache fanden bei den jungen

31 ) }. Kollär: Über die literarische Wechselseitigkeit. Pest 1837. S. 34ff.; vgl. S. Hafner, Sprache und Volkstum bei den Slawen, S. 152 f. 32 ) Kollär, Über die literarische Wechselseitigkeit, S. 36; Hafner, Sprache und Volkstum bei den Slawen, S. 153.

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Völkern Mittel- und Südosteuropas durchwegs vollen Anklang und begleiteten von nun an ihre nationalen Revolutionen. D I E VIELFALT NATIONALKULTURELLER MODELLE

Von nun an standen sich bei den Slawen Mitteleuropas, dem nationalpolitischen Typus nach, zwei Richtungen in der Lösung der Frage des Verhältnisses von Sprache zum Volkstum und des Volkstums zur historischen Staatlichkeit gegenüber, eine rational-konservative und eine national-revolutionäre Konzeption mit den entsprechenden Zwischenstufen. Ihre Entwicklung und ihre typologische Reihung kennzeichnen, um nur markante Vertreter zu nennen: die Rede Josef Dobrovskys (1753—1829), eines der Begründer der europäischen Slawistik, am 25. September 1791 in Prag vor Kaiser Leopold II33), die einschlägigen Werke Bernard Bolzanos 34 ), das austroslawische frühromantische Projekt des Begründers der Wiener Slawistik, Bartholomäus Kopitar (1780—1844) 35 ), das Staatsprogramm des Grafen Thun-Hohenstein (1811 —1888)36), die Bemühungen von Jan Purkyné (1787—1869) um eine Aufwertung der tschechischen Schriftsprache durch seinen Aufsatz: Uber die Wichtigkeit der Muttersprache, 1820, und seine Reden und Schriften, besonders durch seine Austria polyglotta, 18 6 7,37) die staatspolitischen Pläne von Frantisek Palacky (1798-1876) und von Karel Havlicek (1821 —1856)38) und nicht zuletzt der Illyrismus der Südslawen. Im großen Jahr der österreichischen Slawen, 1848, traten in Prag beide Richtungen, eine national-konservative und eine panslawistisch-revolutionäre vor die europäische Öffentlichkeit und beide mußten die Grenzen zur Kenntnis nehmen, die ihnen die historische und politische Wirklichkeit setzten 39 ).

") Über die Ergebenheit und Anhänglichkeit der slawischen Völker an das Erzhaus Osterreich, vorgelesen den 25. September 1791 im Saale d. k. Böhm. Gesellschaft d. Wiss., in Gegenwart Sr. Maj. des Kaisers Leopold des II. von Abbé Joseph Dobrowsky. Prag 1791. 8 S., 8°. M ) Siehe Winter, Sozial- u. Ethnoethik. 35 ) S. Hafner: Das austro-slawische kulturpolitische Konzept in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Österreichische Osthefte. 5. 1963. 6. S. 435-444; / . Pogacnik: Kopitars kulturologische Anschauungen. In: Studia Slavica Hungarica. 24. 1978, S. 259—294. 36 ) L. Thun: Uber den gegenwärtigen Stand der böhmischen Literatur und ihre Bedeutung. Prag 1842. 37 ) E. Lesky: Purkynës Weg. Wissenschaft, Bildung und Nation. (Österr. Akad. d. Wiss., Philos.-histor. Kl., Sitzungsberichte, Bd. 265, 5). Wien 1970. S. 8 - 1 3 , 1 7 - 2 6 . 3S ) Siehe H. Kohn: Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus. Wien 1956. S. 74—94; F. Wollmann: Slavismy a antislavismy za jara närodü (Slawismen und Antislawismen im Frühling der Völker). Praha 1968. S. 48 — 51, 65—68, 75f., 156f. ") Kohn, Die Slawen und der Westen, S. 69—94.

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Bis zu welchen Dimensionen sich die Intentionen, Pläne und Utopien der slawischen Romantik in bezug auf Sprache, Volk und Staat ausweiten konnten, zeigen die Romantik und der Messianismus der Polen, beginnend vom antirussischen Panslawismus eines Adam Czartoryski (1770—1861), zu dem er von Paris aus aufrief 4 0 ), und ausgehend vom antiösterreichischen Konzept von Ignacy Marquis Wielopolski (1803—1877) 41 ), über die europäischen Pläne Josef Maria Hoene-Wronskis (1778 —1853) 42 ), über das politische Credo des polnischen Klassikers Adam Mickiewicz (1798 —18 5 5) 43 ), das er in Rom verkündete und das eine weitgespannte Synthese aus nationalen, slawophilen, christlichen, liberalen und sozialen Elementen darstellte, bis zur „Philosophie der T a t " des Messianisten August von Cieszkowski (1814—1894) 44 ). Auch kleinere slawische Völker standen, wie das slowenische Beispiel zeigen mag, den größeren in der Vielfalt der dargebotenen nationalen und politischen Modelle in jener Zeit nicht nach, wenn man die profilierten Programme von Bartholomäus Kopitar 45 ), von France Preseren (1800—1849) 46 ) und Matija Cop (1797—1835) 47 ), Stanko Vraz ( 1 8 1 0 - 1 8 5 1 ) 4 8 ) , des Bischofs Martin SlomSek ( 1 8 0 0 - 1 8 6 2 ) 4 ' ) , von Matija Majar-Ziljski (1809—1892) 50 ) und das Programm der Slovenija in Wien 1848 miteinander vergleicht, die alle zusammengenommen ein weites Spektrum von Ideen und Aktivitäten bilden, das von der österreichischen Spätaufklärung über die kosmopolite zur nationalen Romantik eines nur auf Sprache und Nationalkultur zielenden Volkstums bis zu einem utopischen Panslawismus reichte. Kulturwissenschaftlich betrachtet, brachte der geistige Aufbruch in der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts bei den Slawen eine reiche Ernte verschiedenartiger nationalkultureller Programme hervor, die bei den Slawen das erste Mal die neue, nationalkulturelle Pluralität Europas widerspie40

) Ebenda, S. 286. ) Sein Lettre d'un gentilhomme polonais, Paris 1846. ") J. M. Hoené-Wronski: Développement progressif et but final de l'humanité. Paris 1861. 45 ) Kohn, Die Slawen und der Westen, S. 46—54; Wollman, Slavismy i antislavismy, S. 7—47, 66—72 u. ö. 44 ) A. Cieszkowski: Prolegomena zur Historiographie. Berlin 1838. « ) Siehe Anm. 35. **) A. Slodnjak: Slovensko slovstvo (Slowenische Literatur). Ljubljana 1968. S. 126—132. 47 ) Ebenda, S. 94—103 u. ö. 48 ) A. Barac: Hrvatska knjizevnost, 1. Knjizevnost ilirizma (Kroatische Literatur. 1. Die Literatur des Illyrismus). Zagreb 1954. S. 223—245. 4 ') Hafner, Sprache und Volkstum bei den Slawen, S. 151. 50 ) I. V. Curkina: Matija Majar-Ziljski. Ljubljana 1974. S. 21—55; Rado L. Lencek: The Theme of the Greek Koine in the Concept of a Slavic Common Language and Matija Majar's Model. In: American contributions to the 6 th Intern. Congress of Slavists. The Hague 1. 1968. S. 1 —18; S. Hafner: Der slowenische Briefsteller von Matija MajarZiljski 1850. In: Wiener Slavistischer Almanach. 10. 1982. S. 63 —78. 41

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geln, und das sowohl innerhalb übernationaler Staaten als auch außerhalb ihrer Grenzen 5 1 ). Dieser Aufbruch zum national-individuellen Selbstbewußtsein und zu eigenständigen nationalen Weltbildern bei den Slawen, denen der europäische Historimus Pate stand, erreichte im Laufe des 19. Jahrhunderts alle Zonen Europas, auch jene, die bisher jahrhundertelang von der europäischen kulturellen Kommunikation abgeschnitten waren, wie z. B. der innere Balkan. Ein markantes Beispiel dafür bietet uns die bulgarische nationale Revolution 52 ). Freilich, diese kulturelle Kommunikation über die Grenzen der Staaten und Völker hinweg vollzog sich zunächst nur in exklusiven Kreisen geistig führender Intellektueller, und es waren nur einzelne daran beteiligt; viele aber wurden später, als die kulturellen und politischen Verhältnisse breitere Rezeptionsmöglichkeiten boten, bei ihren Völkern zu Herolden fortschrittlichen nationalen Denkens. So begann sich im 19. Jahrhundert auch auf die kleineren Völker Mittel- und Südosteuropas jenes multinationale europäische Gespräch auszudehnen, an dessen Ergebnissen in Kultur und Wissenschaft jedes europäische Volk, das eine mehr, das andere weniger, Anteile hatte. Parallel dazu regte sich aber auch schon bei den jüngeren Völkern das Interesse an einer realistischeren Einschätzung der eigenen Situation, an einer nüchterneren Selbsterkenntnis und an einer kritischen Darstellung der nationalen Geschichte 53 ). Schließt man noch die Sozialrevolutionären Bewegungen, auf die ich hier nicht eingehen kann, mit ein, so vervollständigt sich das Bild zu jener schöpferischen Pluralität, wie sie sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in der übernationalen staatlichen Einheit der Monarchie zu entfalten begann und zum Mutterboden einer, typologisch gesehen, ziemlich einheitlichen, liberalen und konservativen bürgerlichen Kultur dieser Völker wurde. D I E ALTÖSTERREICHISCHE MULTILINGUALE BILDUNGSEINHEIT IN DER PRAGMATISCHEN PHASE DER NATIONALEN ROMANTIK

Den Bildungsinstitutionen, den kulturellen und religiösen Vereinigungen — und hier beziehe ich mich nur auf den altösterreichischen kulturellen Kommunikationsraum — fiel die Aufgabe zu, jenes große Bildungswerk zu leisten, das die Völker der Monarchie in die Lage versetzte, am modernen Leben der Kunst und Wissenschaft aktiv und formgerecht teilzunehmen und ihr eigenes Wesen 51 ) Siehe S. Hafner, O. Turecek, G. Wytrzens: West- und Südslaven, Staatlichkeit und Volkstum. Mensch und Welt. ( = Slavische Geisteswelt, 2. 3) Baden-Baden 1959. ") S. Hafner: Zur Geschichte der Bulgarienforschung in Osterreich. In: Osterreichische Osthefte. 23. 1981. 4. S. 3 1 9 - 3 2 9 . " ) Bei den Slawen z. B. Franz Miklosich, siehe S. Hafner: Über Miklosichs Weltbild und das Verhältnis zum Deutschtum. In: Ostdeutsche Wissenschaft. München. 9. 1962. S. 238 ff.; bei den Ungarn z . B . J o z s e f Eötvös, siehe /. Eötvös: Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat, 2 Bde. 1854; den., Gedanken, 1864.

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zur Geltung zu bringen. Die in der Romantik revolutionär verkündigten nationalkulturellen Wertsysteme mußten deshalb in einer dem Weltbild des 19. Jahrhunderts entsprechenden wissenschaftlichen Kultur verankert und für die Bildung des nationalpolitischen Gruppenbewußtseins, das in der allmählich einsetzenden Demokratisierung heranzureifen begann, entsprechend bereitgestellt werden. Ihrem Charakter nach waren es hauptsächlich Kräfte der Form, der Stilisierung des Lebens und der Weltbetrachtung, die von der historischen österreichischen staatlichen Sinn- und Bildungseinheit ausgingen und auf die revolutionären Impulse wirkten, die teils von außen kamen, teils von inneren partikularen Polen stammten. Ich pflege diese Epoche in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Kulturgeschichte der kleineren Völker Mittel- und Südosteuropas als die pragmatische Phase der Romantik zu bezeichnen, da sie eine sach- und handlungsbezogene Bewährungszeit darstellt. Diese pragmatische Phase der Romantik bildete besonders bei jenen Völkern, die keine eigene Staatstradition besaßen und sogenannte „geschichtslose Völker" waren, eine wichtige Etappe der nationalen Entwicklung, da sie für die nationale Bewußtseinsbildung vieles nachreichten, was die „historischen" Völker an geschichtlicher Substanz in die Romantik bereits mitgebracht hatten 54 ). Konnte sich doch das politische Bewußtsein der kleinen Völker der Monarchie, ich denke hier vor allem an die Slowaken, Slowenen, Kroaten und Ukrainer, im wesentlichen nur auf die Geschichtswirksamkeit des nationalen Prinzips stützen und sich nach außen hin vorwiegend durch Sprache, Literatur und Volkskultur manifestieren. Und die Tatsache, daß die Angehörigen dieser Völker sich ihre höhere Bildung in den meisten Fällen nur auf fremdsprachlichen Universitäten erwerben konnten, beschleunigte im allgemeinen zwar die Anpassungsprozesse an die Vorbildkulturen und förderte die übernationale Kommunikation, hemmte aber den Aufbau vollständiger, alle Bereiche des Lebens umfassender nationalkultureller Profile 55 ).

54 ) Siehe F. Zwitter: Nacionalni problem v habsburSki monarhiji (Das nationale Problem in der Habsburg-Monarchie). Ljubljana 1962. S. 185 —190. ") Es gibt leider noch keine vergleichende Kulturgeschichte der Völker Mittel- und Südosteuropas, vor allem vom Gesichtspunkt der Gemeinsamkeiten der einst in Österreich lebenden Völker aus. Versuche einer solchen Bestandaufnahme enthält das sog. Kronprinz-Rudolf-Werk, die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, 24 Bde., Wien 1886—1902. Von den späteren Versuchen wird deren repräsentativster: W. M. Johnstons: The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848 —1938. Berkeley 1972, bzw. die deutsche Übersetzung: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Wien 1974, den Ansprüchen einer Gesamtsicht auch nur teilweise gerecht.

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D I E VERSPRACHLICHUNG DER NATIONALKULTUREN

Innerhalb dieser A k k u s a t i o n s p r o z e s s e war begreiflicherweise die nationale Versprachlichung der kulturellen und wissenschaftlichen Welt der modernen Zeit zu einem Hauptproblem der nationalen Existenz dieser kleinen Völker geworden: hier lagen auch die größten Hindernisse für rationale und funktionale Lösungen im Sinne zeitgemäßer Information. Auf diese Weise wurde das Nationalitätenproblem bei den Völkern der Monarchie auch zu einem Kommunikationsproblem, ohne daß man damals schon in der Lage gewesen wäre, diese Problematik wissenschaftlich genauer zu erfassen: die Begriffswelt und die Vorstellungen, die damals in der Sprachwissenschaft herrschten, sträubten sich noch zu stark gegen rationale und funktionale Sprachmodelle: Es sollte die Bildungsbilingualität intellektuell bewältigt werden, die polyglotten Äquivalenzen der Begriffswelt der Verwaltungssprachen waren festzulegen, die jungen Schriftsprachen mußten sich mit Hilfe des inneren und äußeren Lehngutes erst ihren Kulturwortschatz zurechtlegen und mit den außersprachlichen Störungen des übertriebenen Purismus fertig werden. So mußten die kleineren Völker, vom nationalen Elan und von den Erfordernissen der Zeit getrieben, über Nacht sozusagen, leistungsfähige und polyvalente nationale Schriftsprachen schaffen, d. h. Entwicklungsprozesse in ihren Sprachen nachvollziehen, die bei kulturell führenden Völkern Jahrhunderte gedauert haben, Sprachen des Alltags und der Folklore in Standardsprachen verwandeln und noch dazu die Konfrontationen der Bilingualität überwinden 56 ). Die spätromantische Belastung der Sprache mit nationalem Prestigedenken stand dabei oft einer dem Wesen der Sprache entsprechenden natürlichen Lösung solcher Fragen im Wege. Diese Probleme, von politischer Seite in ihrer Bedeutung meist verkannt, entwickelten sich auf diese Weise zu Prüfsteinen der Möglichkeiten des übernationalen Dialogs innerhalb der multinationalen Sinneinheit der Monarchie. Die Sprachen wurden nun zu tragenden Elementen der nationalen Differen-

" ) Siehe B. Havränek: Studie o spisovnem jazyce (Studien zur Schriftsprache). Praha 1963. S. 111—261; Lj. Jonke: Knjizevni jezik u teoriji i praksi (Die Schriftsprache in Theorie und Praxis). Zagreb 1965; S. Hafner: Schriftsprache als Kulturfaktor bei den Slaven. In: Aus der Geisteswelt der Slaven, Dankesgabe an Erwin Koschmieder. München 1967. S. 32—54; V. V. Vinogradov: Problemy literaturnych jazykov i zakonomernostej ich obrazovanija i razvitija (Probleme der Schriftsprache und die Gesetzmäßigkeiten ihrer Bildung und Entwicklung). Moskva 1967. S. 37—82; D. Brozovic: Standardni jezik (Die Standardsprache). Zagreb 1970; P. Ivic: Srpski narod i njegov jezik (Das serbische Volk und seine Sprache). Beograd 1971; S. B. Bernstein u.a. ( H g . ) : Nacional'noe vozrozdenie i formirovanie slavjanskich literaturnych jazykov (Die nationale Wiedergeburt und die Formierung der slavischen Schriftsprachen). Moskva 1978; Z. Vince: Putovima hrvatskoga knjizevnog jezika (Auf den Wegen der kroatischen Schriftsprache). Zagreb 1978.

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Stanislaus H a f n e r

zierung und Typisierung und zu Trägern der nationalen Integration. Gleichzeitig aber verwandelten sie sich obendrein oft in Barrieren staatlicher Kommunikationsmechanismen, da sie, die eine früher, die andere später, zwangsläufig in eine Konfliktsituation mit der deutschen Reichssprache gerieten, die das „Bindemittel für alle, dem Szepter Österreichs gehorchenden Völker" war und einen Faktor darstellte, dem das „große Reich sein Dasein verdankte", um hier Formulierungen zu verwenden, deren sich der bedeutende österreichische Slawist slowenischer Herkunft, Franz Miklosich, 1882 im Herrenhaus bei der Würdigung der Funktion der deutschen Reichssprache im alten Osterreich bediente 57 ).

D I E R O L L E DER SLAWISTIK BEIM AUFBAU NATIONALKULTURELLER WERTSYSTEME BEI DEN ÖSTERREICHISCHEN SLAWEN

Kein Wunder, daß bei dieser Versprachlichung, d. h. beim Aufbau nationalsprachlicher Kommunikationsmittel, gerade die altösterreichische Slawistik der Lehrkanzeln Wien, Prag und Graz in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den Slawen eine überaus aktive Rolle spielte: Drei Generationen von Slawisten, alle Slawen ihrer Muttersprache nach, machten damals nicht nur die junge Slawistik zu einer der klassischen Philologie, der Germanistik und Romanistik ebenbürtigen Wissenschaft, sie steuerten auch die komplizierten Entstehungsprozesse der Nationalsprachen der West- und Südslawen im Sinne der zeitgenössischen Erkenntnisse der europäischen Sprachwissenschaft. Die Namen Bartholomäus Kopitar (1780—1844), J o s e f Jungmann (1773—1847), Paul J o s e f Safärik ( 1 7 9 5 - 1 8 6 1 ) , Jan Purkyne ( 1 7 8 7 - 1 8 6 9 ) , Franz Miklosich ( 1 8 1 3 - 1 8 9 1 ) , Konstantin Jirecek (1854—1918) und Vatroslav Jagic (1838 — 1923), um nur die bedeutendsten zu nennen, nehmen einen hervorragenden Platz sowohl in der europäischen Wissenschaftsgeschichte als auch in der Kulturgeschichte ihrer eigenen Völker ein 58 ). Was aber ihre Einstellung zu den Problemen von Volk, Sprache und Staat betrifft, können wir diese Männer zu jener Gruppe zählen, die ich oben als ein zweites kulturelles Osterreich bezeichnete, da ihre Werke mehr den Kulturstaat als den Machtstaat Österreich repräsentierten. Sie sahen ihr Lebensideal nämlich nicht in einer gegen die übernationale Staatlichkeit gerichteten Tätigkeit, sondern versuchten vielmehr, ihr nationales Gruppenbewußtsein mit dem historisch überlieferten Staatsdenken in Einklang zu bringen

" ) Stenogr. P r o t o k o l l e über die Sitzungen des H e r r e n h a u s e s des O s t e r r . Reichsrates v o m 9. 2. 1 8 8 2 . s s ) Siehe V. Jagic: Istorija slavjanskoj filologii (Geschichte d. slavischen Philologie). Sanktpeterburg 1 8 1 0 ; N. R. Pribic: Kleine slavische Biographie. W i e s b a d e n 1 9 5 8 . S. Hafiier: G e s c h i c h t e d e r österreichischen Slawistik. In: Beiträge z u r G e s c h i c h t e d e r Slawistik in nichtslawischen L ä n d e r n . ( O s t e r r . A k a d . d. Wiss., Philos.-histor. Kl., Schriften d e r B a l k a n k o m m i s s i o n , Linguistische Abteilung, 3 0 ) . W i e n 1 9 8 5 . S. 1 — 88.

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und diese Synthese zur Grundlage ihres Schaffens zu machen. Ihr Wirken können wir deshalb mit Fug und Recht übrigens auch als weitere Beweise dafür ansehen, daß, ungeachtet des Versagens bei der Lösung des Nationalitätenproblems, die österreichisch-ungarische Monarchie als multinationaler Kommunikationsraum auf einer zweiten, kulturellen Ebene für die Pluralität der europäischen Kulturen mehr Positives als Negatives zu vollbringen imstande war 59 ). VERSUCHE, DAS NATIONALITÄTENPROBLEM IN ÖSTERREICH ZU LÖSEN

Zu den positiven Ergebnissen der Existenz des Vielvölkerstaates im Sinne eines funktionierenden übernationalen kulturellen Kommunikationsraumes kann man auch alle, um die Jahrhundertwende so zahlreich vorgebrachten Versuche ansehen, das Nationalitätenproblem in Österreich, besser gesagt, das Problem „Osterreich" zu lösen. Sie stammten von Politikern und Wissenschaftern, deren Einstellung ein breites Spektrum von „links" und „rechts", „liberal" und „konservativ" darstellte und deren nationale Herkunft genauso verschieden war 60 ). Den Ansätzen, Österreich-Ungarn in einen Nationalitätenstaat zu verwandeln, wie dies bereits 1848 der Kroate Ognjeslav Utjesenovic-Ostrozinski (1817—1890) in seinem bekannten südslawischen liberalen Konzept (Osnova za savezno preporodjenje cesarevine austrijske po nacelu ustavne slobode i narodne nravstvene jednakosti = Grundlage für eine föderative Wiedergeburt des österreichischen Kaisertums nach dem Prinzip der verfassungsgemäßen Freiheit und der national-ethischen Gleichheit 6 1 )) und später das sozialdemokratische Nationalitätenprogramm von Brünn 1899 es vorsahen, folgten bekanntlich die Reformpläne von Stanislaus von Madeyski 62 ), Ludwig Gumplowicz 63 ), Karl Renner 6 4 ) und Otto Bauer 65 ), die Reorganisationspläne von Aurel Popovici 66 ) und Oscar Jäszi 6 7 ), die Lösungsvor5') S. Hafner: Die österreichische Slawistik und die Nationalkulturen der Südslawen. In: Wegenetz europäischen Geistes ( = Schriftenreihe des Österr. Ost- und Südosteuropa-Instituts, Bd. 8). Wien 1983. S. 2 2 3 — 2 3 8 . 60)

Siehe Kann, Geschichte des Habsburgerreiches 1 5 2 6 — 1 9 1 8 , S. 4 4 5 — 4 6 5 . " ) Veröffentlicht im „Slavenski jug" (Slavischer Süden) Zagreb, vom 27. 10.—5. 11. 1848. Dieses Programm sah einen Bundesstaat mit 7 nationalen Kronländern vor, unter ihnen auch einen südslawischen, gemeinsam sollten nur bleiben die Außenpolitik, das H e e r und das Handelsressort. ") 1899.

St. v. Madeyski:

Die Nationalitätenfrage in Osterreich und ihre Lösung. Wien

") L. Gumptowicz: Das Recht der Nationalitäten und Sprachen in Osterreich-Ungarn. Innsbruck 1879. ") K. Renner: D e r Kampf der österreichischen Nationen um den Staat. Leipzig 1902; ders.: Grundlagen und Entwicklungsziele der österr.-ungarischen Monarchie. Wien 1906. 6 5 ) O. Bauer: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. Wien 1907. ") A. Popovici: Die Vereinigten Staaten von Groß-Osterreich. 2 Leipzig 1906. " ) Minister für Nationalitätenfragen während der Regierung Kärolyi 1 9 1 8 / 1 9 . Sein Buch: D e r Zusammenbruch des Dualismus. Budapest 1918.

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Schläge von Ignaz Seipel68) und andere mehr. Allen diesen Versuchen, die nationalen Konflikte beizulegen und dem Staat moderne politische und wirtschaftliche Organisationsformen zu geben, ist gemeinsam, daß in ihnen die Leistungen Österreich-Ungarns als einer „Experimentierkammer pluralistischer europäischer Kultur", um eine bekannte Formel Victor Adlers zu adaptieren"), grundsätzlich nie in Zweifel gezogen wurden. Das kulturelle Bildungswerk jedoch, das der österreichische kulturelle Kommunikationsraum, ich möchte sagen, fast bis zu seiner politischen Selbstaufgabe vollbrachte, prägt zum Teil noch heute typologisch die Nationalkulturen der seinerzeit in diesem Staat lebenden Völker. Meine Ausführungen lassen sich zusammenfassend auf folgende Kernsätze reduzieren: In den kulturellen Kommunikationszonen Mittel- und Südosteuropas gab es im 18. und 19. Jahrhundert im Grunde genommen nur zwei kulturtypologisch wirksame Modelle, die die Entfaltung der Völker dieses Raumes steuern: den Kulturtypus des Rationalismus und den der Romantik. Beide prägten die kulturelle Entwicklung der betroffenen Völker, sie folgten teils hintereinander, teils bestanden sie nebeneinander, oder es bildeten sich Mischtypen. Das romantische Modell des nationalen Individualismus erwies sich als das geschichtswirksamere, aber die österreichisch-ungarische Monarchie hat sich, kulturtypologisch gesehen, als übernationaler kultureller Kommunikationsraum durchaus funktionsfähig erwiesen und dessen „Sprache" geprägt.

'») I. Seipel: Nation und Staat. Wien 1916. " ) Victor Adler sprach von Osterreich als der „Experimentierkammer der Weltgeschichte", siehe H. Mommsen: Sozialismus und Nationalismus im Widerstreit. In: Das Franzisko-josephinische Zeitalter, Die Presse, Wien, 19/20. 11. 1966. S. VIII.

HENRYK BATOWSKI

DIE STUDENTENVEREINE FÜR INTERNATIONALE FREUNDSCHAFT NACH D E M E R S T E N W E L T K R I E G AM BEISPIEL POLENS UND DER TSCHECHOSLOWAKEI

I. In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts hatte es den Anschein, als ob das auch vom Völkerbund vertretene Ideal einer internationalen Verständigung in den Kreisen der studentischen Jugend vieler Länder Anhänger gefunden habe. Abgesehen von der bestehenden Spaltung in Sieger und Besiegte, die bestimmt auch die jüngere Generation der betreffenden Länder beeinflußte, gab es überall junge Menschen, die an eine bessere Zukunft und an Kompromißlösungen glaubten. Die Studenten mehrerer Nationen, anfangs freilich nur derjenigen, die zu den Siegermächten gehörten, gründeten einige Jahre nach Abschluß der Friedensverträge die Confédération Internationale des Étudiants (C. I. E.). Diese Organisation nahm, dem Beispiel des Völkerbundes folgend, auch Vertreter der besiegten Staaten auf. So wurden Ungarn, Bulgaren und auch Türken zu Mitgliedern der C. I. E. Schwieriger war es mit der „deutschen Frage"; das wird im letzten Abschnitt dieses Beitrags ausführlich behandelt werden. Die ungenügende Kenntnis der Lage in der Sowjetunion hatte eine ablehnende Haltung gegenüber der Mitgliedschaft sowjetischer Studenten zur Folge. Russische Emigranten ließ man aber durchaus als außerordentliche Mitglieder zu. Die Grundsätze des Völkerbundes fanden unter den breiten Massen der Bevölkerung vieler Länder, die dieser internationalen Vereinigung beigetreten waren, ein lebhaftes Echo. In den meisten Mitgliedsstaaten entstanden „Vereine der Freunde des Völkerbundes", die dessen Prinzipien in der Gesellschaft propagierten und auch die offizielle Politik in dieser Hinsicht unterstützten. Man darf annehmen, daß auch die amtlichen Stellen die Bildung solcher Vereine förderten. Dem Beispiel der älteren Generation folgend, entstanden derartige Vereine auch an den Hochschulen. Meist trugen sie den Namen „Akademische Gesellschaft der Freunde des Völkerbundes". In Polen hieß der betreffende Verein „Akademickie Stowarzyszenie Przyjaciöt Ligi Narodôw", in der Tschechoslo-

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wakei lautete der Name etwas anders: „Akademicke kolo pro Spolecnost närodü" (Akademischer Kreis für den Völkerbund). Solche Vereine wurden in erster Linie von jungen Juristen gegründet, weil sie in den Völkerrechtsvorlesungen gut über die Genfer Institution unterrichtet worden waren. Selbstverständlich war die Mitgliedschaft auch für Studenten anderer Fakultäten offen. Den Mitgliedern dieser Studentenvereine, die für den Völkerbund und eine Politik der Verständigung schwärmten, war natürlich bekannt, daß auch in anderen Ländern ähnliche Vereine entstanden waren. Daraus entwickelte sich sehr bald der Wunsch, mit Hilfe gegenseitiger Besuche oder sogar kleinerer Kongresse der Völkerbundfreunde verschiedener Staaten einander näher kennenzulernen. Man hat solche Veranstaltungen auch tatsächlich durchgeführt. Darüber hinaus konnten sich die Vorstandsmitglieder einzelner Vereine gelegentlich im Rahmen der allmählich organisierten großen Kongresse der Internationalen Studentenkonföderation (C. I. E.) treffen. Eben diese großen Kongresse — z. B. 1927 in Rom, 1928 in Paris, 1929 in Budapest, 1930 in Brüssel, 1931 in Riga usw. — boten den Studenten sämtlicher der C. I. E. angehörenden Länder die beste Gelegenheit, einander näher kennenzulernen und auch Freundschaften zu schließen. Man muß aber bemerken, daß sich selbstverständlich nur ein kleiner Teil der Studenten die Teilnahme an solchen Kongressen leisten konnte, und zwar jene, die über ausreichende finanzielle Mittel verfügten. Deshalb kann man die Internationale Studentenkonföderation zu jener Zeit eher als eine Versammlung vermögender Studenten bezeichnen. Manchmal gewährte zwar auch die eine oder andere Regierung eine Unterstützung, jedoch nur in bestimmten Fällen und nur an regierungsfreundliche Studentenvereine. Trotzdem kann man feststellen, daß auf den Kongressen der C. I. E. viele Freundschaften angebahnt wurden und manche davon auch längere Zeit hielten. Einige von ihnen haben möglicherweise zur Uberwindung kleinerer Konflikte zwischen einzelnen Nachbarvölkern beigetragen.

II. Darüber hinaus hatte man in einzelnen Ländern mit der Bildung von Vereinen begonnen, die den bilateralen Kontakten zwischen den verschiedenen Völkern dienen sollten. So entstanden z. B. in Polen und in der Tschechoslowakei Vereine der Freunde Frankreichs, Italiens, usw. Das Beispiel der älteren Generation wurde selbstverständlich auch in den Studentenkreisen nachgeahmt. So bildeten sich etwa in Polen verschiedene „Akademickie Kola Przyjaciöl . .." (Akademische Kreise der Freunde . . . ) . Dasselbe geschah auch in der Tschechoslowakei (Akademicke kolo prätel . . . ) . Mitglieder dieser Vereine waren Studenten, bisweilen gehörten ihnen auch Assistenten an, die sich für

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eine bessere Verständigung mit einem anderen Volk und besonders mit dessen Jugend interessierten. Manchmal waren diese Vereine auch nur Zweige der bereits von älteren Generationen früher gegründeten Vereine; meist waren es jedoch selbständige Gründungen, die dann im Rahmen der erwähnten Vereine der älteren Generation mitarbeiten durften. Die Studentenvereine für internationale Freundschaft spielten im geistigen Leben der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre und auch anfangs der dreißiger Jahre eine nicht unbedeutende Rolle. Zur Bildung solcher Vereine kam es in Polen und der Tschechoslowakei fast in jeder Universitätsstadt, wobei diesen Vereinen selbstverständlich nicht nur Studenten an der Universität, sondern auch die Hörer anderer Hochschulen angehörten. Hatten sich in einem Land in einigen Universitätsstädten schon mehrere solcher Vereine gebildet, ging man an die Gründung einer Zentralorganisation, die meist in der betreffenden Hauptstadt geschaffen wurde. Auf diese Weise kam es zur Bildung einer Liga der Studentenvereine für Freundschaft mit einem anderen Volk, mit einer anderen Organisation usw. — und besonders zur Liga der Vereine der Freunde des Völkerbundes. Solch eine Liga konnte Kongresse oder auch wissenschaftliche Symposien veranstalten. O f t studierten an den Hochschulen Ausländer, unter denen sich Angehörige jenes Landes befanden, mit dem man Freundschaft pflegen wollte. Selbstverständlich wurde diesen Kollegen die Mitgliedschaft angeboten, denn dies konnte die gemeinschaftliche Arbeit nur erleichtern. So studierten z. B. nicht wenige Polen in Prag und waren in den dort bestehenden Vereinen immer herzlich willkommen. Wenn man erfuhr, daß in einem in Betracht kommenden Land Vereine auf derselben Basis bestanden, bemühte man sich um Zusammenarbeit und besonders um gegenseitige Besuche, die oftmals zu einer wirklichen Vertiefung der Freundschaft beitragen konnten. Dieser Aspekt spielte eine bedeutende Rolle in den Beziehungen zwischen der polnischen und der tschechoslowakischen Jugend. Einer anfänglichen Periode politischer Mißverständnisse zwischen Polen und der Tschechoslowakei folgte Mitte der zwanziger Jahre eine Annäherung der beiden Staaten; die Jugend beider Länder wollte daran mitwirken. Etwa 1924/25 wurden in Polen nicht nur polnisch-tschechoslowakische Vereine der älteren Generation, sondern auch gleichartige Organisationen der studentischen Jugend, meist unter dem Namen „Akademickie Kolo Przyjaciol Czechoslowacji" (Akademischer Kreis der Freunde der Tschechoslowakei) gebildet. In Prag war sogar noch etwas früher ein analoger Verein entstanden: „Akademicke kolo prätel Polska" (Akademischer Kreis der Freunde Polens) — ein sehr tüchtiger Kreis. „Akademicke kolo prätel Polska" hatte im Jahre 1925 eine Rundreise durch Polen unternommen, die überaus erfolgreich war, da in polnischen Studentenkreisen ein echtes Interesse für die Tschechoslowakei bestand.

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Dasselbe Interesse hegten sie übrigens auch für die Südslawen, und in einigen Städten Polens wie auch der Tschechoslowakei wurden Vereine für die Freundschaft mit Jugoslawien gegründet, in Polen unter dem Namen „Akademickie Kolo Przyjaciol Jugoslawii" (Akademischer Kreis der Freunde Jugoslawiens). Hier ist anzumerken, daß man in Polen zwar die tschechischen Nachbarn einigermaßen kannte, nicht so gut hingegen das zweite Volk der Tschechoslowakei, die Slowaken, auch weil sie in der öffentlichen Propaganda der Tschechoslowakei damals nur wenig berücksichtigt wurden. Die slowakische Jugend interessierte sich sehr für Polen, und da auf polnischer Seite bestimmte politische Gründe für eine Annäherung sprachen, verhalf man Studenten aus der Slowakei zum Studium in Polen; besondere polnisch-slowakische Studentenvereine entstanden dennoch nicht. Erst in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre kam es in Warschau zur Gründung eines Vereins der Freunde der Slowakei, der jedoch keine eigene Jugendorganisation hatte.

III. Wenn auch nicht alle, so haben sich doch viele von den oben beschriebenen Aktivitäten sowohl in Polen als auch in der Tschechoslowakei im Rahmen einer allgemeinen studentischen Landesorganisation abgespielt. Denn es existierten als Teilorganisationen der C. I. E. sogenannte „Nationale Verbände der studentischen Jugend" — in der C. I. E. als „Union Nationale des Etudiants" einzelner Länder geführt. In Polen hieß diese Organisation „Zwi^zek Narodowy Polskiej Mlodziezy Akademickiej" (Nationaler Verband der polnischen akademischen Jugend), abgekürzt: Z N P M A . In der Tschechoslowakei hieß er „Üstfedni svaz ceskoslovenskeho studentstva" (Zentralverband der tschechoslowakischen Studentenschaft), abgekürzt: TJSCS; in den Städten außerhalb Prags gab es lokale Verbände unter dem Namen „Sväz ceskoslovenskeho studentstva" (Verband der tschechoslowakischen Studentenschaft) in Brno (Brünn) und „Sväz slovenskeho studentstva" (Verband der slowakischen Studentenschaft) in Bratislava (Preßburg). Beide Nationalverbände waren ebenfalls Mitglieder der C. I. E. Für die Beziehungen mit der internationalen Konföderation und mit anderen Nationalunionen im Ausland sorgten sowohl in Warschau als auch in Prag besondere Sektionen des Exekutivausschusses. In Polen hieß sie „Wydzial Zagraniczny" (Auslandsabteilung), in Prag „Zahranicni odbor" — beide Ausdrücke bedeuten „Auslandsabteilung"; in den tschechoslowakischen Universitätsstädten hatten die lokalen Verbände auch ihre der Prager Zentralleitung untergeordneten Abteilungen für diese Angelegenheiten. Beim slowakischen Verband hieß sie: „Zahranicnä komisia Sväzu slovenskeho studentstva" (Auslands-

Studentenvereine für internationale Freundschaft

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kommission des Verbandes slowakischer Studenten) und genoß eine gewisse Selbständigkeit. Die Leiter dieser Auslandsabteilungen waren meist auch Hauptdelegierte bei den Kongressen der C. I. E. und nicht selten Mitglieder des Vorstands. Der Pole Jan Pozaryski war z. B. zuerst ihr Generalsekretär und später auch ihr Vorsitzender. Eine wichtige Rolle spielte in einigen Ausschüssen der C. I. E. Vaclav Palecek, der Leiter des Zahranicni odbor (Auslandsabteilung) in Prag. Unter den Delegierten der für die Kongresse gewählten Abordnungen fand man bisweilen auch ältere Kommilitonen, die eigentlich nicht mehr studierten, aber über die notwendigen Erfahrungen und Kenntnis des Auslands verfügten. Die verschiedenen Vereine für Freundschaft mit anderen Völkern standen in engem Kontakt mit der Auswärtigen Abteilung des Nationalverbandes und waren ihr in bestimmten Angelegenheiten behilflich. Man kann sagen, daß die Nationalunion bzw. ihre Auswärtige Abteilung eine Art von „großer Politik" der Studentenwelt betrieben. Dagegen durften die Vereine für Freundschaft mit anderen Völkern lediglich in „lokalen" Fragen mitreden. Die Vereine der Freunde des Völkerbundes nahmen dagegen einen höheren Rang ein, da sich unter ihren Mitgliedern oft bekannte Völkerrechtsspezialisten befanden. Es fehlte durchaus nicht an Versuchen, eine Art studentischer „Kleindiplomatie" zu pflegen, die der offiziellen amtlichen Diplomatie behilflich sein wollte. So hatte man z. B. im Jahre 1929 den Abschluß eines Vertrages über ständige Zusammenarbeit zwischen der polnischen, tschechoslowakischen und jugoslawischen Delegation bei den C. I. E. Kongressen vorgeschlagen. Die Außenministerien der betroffenen Staaten unterschätzten die internationalen Beziehungen der Studenten keineswegs und versuchten sogar, einzelne Aktivitäten zu beeinflussen, was nicht selten von Erfolg gekrönt war. Bisweilen kam es sogar vor, daß jüngere Angestellte des staatlichen Außendienstes auf den Kongressen der C. I. E. erschienen, um der Abordnung ihres Landes Ratschläge zu erteilen. Wenn aber die Mehrheit dieser Abordnungen wie auch die gesamte Nationalunion der politischen Opposition angehörte — wie in Polen nach 1926 —, konnte dennoch von einer Zusammenarbeit mit den Regierungsstellen selbstverständlich keine Rede sein. Die Behörden versuchten später eine Konkurrenzorganisation zu schaffen und sie zum Kongreß zu entsenden; das konnte jedoch die gefestigte Position der offiziellen Nationalunion in der C. I. E. kaum erschüttern, da die Leitung der Konföderation nur die formelle Mitgliedschaft anerkannte. Die tschechoslowakische Nationalunion, die in gutem Einvernehmen mit ihrem Außenministerium stand, hatte keinerlei derartige Schwierigkeiten. Die polnische Nationalunion hatte eine konservativ-nationalistische Ausrichtung und stellte sich seit Mai 1926 dem soeben an die Macht gekommenen Regime entgegen. Dagegen unterstützte die eher linksorientierte tschechische

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Nationalunion die offizielle Außenpolitik und genoß das volle Vertrauen des Außenministeriums. D i e beiden Nationalunionen waren jedoch keinesfalls die einzigen Organisationen der studentischen Jugend in ihren Ländern. Eine wichtige

Rolle

spielten in Polen und der Tschechoslowakei auch die Vereine der katholischen Studenten, die unter dem Einfluß der Kirche standen. Solche Vereine, wie z. B. in Polen „ O d r o d z e n i e " (Wiedergeburt), waren nur in geringem M a ß mit der Nationalunion verbunden und machten ihre eigene „Außenpolitik", die auf Zusammenarbeit mit anderen katholischen Vereinen beruhte. Diese Vereine veranstalteten auch ihre eigenen Studentenkongresse im N a m e n der katholischen Weltorganisation P a x R o m a n a .

IV. Sowohl Polen als auch die Tschechoslowakei waren Vielvölkerstaaten. Die nationalen Minderheiten beider Staaten bildeten eigene studentische Organisationen, wobei die T a t s a c h e , daß die deutsche Minderheit in der T s c h e c h o s l o wakei auch über eigene Hochschulen verfügte, ihr die Möglichkeit einer in jeder Hinsicht guten Entwicklung gab. Nicht so günstig war die Lage der ungarischen Studenten in der Slowakei sowie die der Ukrainer und Weißrussen in Polen. Angehörige dieser Minderheiten waren nicht Mitglieder der Nationalunion und durften auch keine eigenen Abordnungen zu den Kongressen der C. I. E . entsenden. Sie waren aber dort trotzdem unmittelbar vertreten. Die Lage der deutschen Studenten wird noch ausführlich im letzten Abschnitt dieses Beitrags besprochen werden. Die Hauptstadt der Tschechoslowakei war in den zwanziger Jahren ein sehr lebendiges Zentrum des internationalen Studentenlebens. Damals studierten in Prag mehr Jugendliche aus verschiedenen Staaten Europas als in irgendeiner anderen Hauptstadt Mitteleuropas. Dies ist der zielbewußten Aktivität des tschechoslowakischen

Unterrichtsministeriums

zu

verdanken,

d. h.

dessen

„ O d b o r pro kulturni styky s cizinou" (Abteilung für Kulturbeziehungen mit dem Ausland). Jedes Unternehmen, das eine Annäherung der Jugend im internationalen R a h m e n fördern konnte, wurde von dieser Behörde unterstützt. Auch das Außenministerium zeigte reges Interesse an der Tätigkeit des „Zahranicni o d b o r " der Studentenunion ( U S C S ) . So muß man z. B. annehmen, daß die Schaffung der „Petite Entente des Etudiants" etwa um das J a h r 1928, die die Zusammenarbeit der tschechoslowakischen, jugoslawischen und rumänischen Studenten organisieren sollte, eher vom Außenministerium als vom U n terrichtsministerium angeregt worden war. Zu den Eigentümlichkeiten des Prager Studentenlebens gehörte auch die Existenz des Zentralverbandes der russischen antisowjetischen Studenten (Emi-

Studentenvereine f ü r internationale F r e u n d s c h a f t

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granten). Dieser Verband hieß „Ob"edinenie russkich emigrantskich studenceskich organizacij" (Vereinigung der Studentenorganisationen russischer Emigranten), abgekürzt O R E S O . Die russischen Emigranten studierten an der in Prag bestehenden und teilweise von der tschechoslowakischen Regierung finanziell unterstützten Russischen Universität (Russkij Universitet v Präge). Die Prager Regierung finanzierte ferner auch eine Ukrainische Universität, deren Studenten im „Central'nyj emigrantskij sojuz ukrains'kych studentiv" (Zentralverband der ukrainischen Studenten in der Emigration), abgekürzt C E S U S , organisiert waren. Diese beiden Organisationen, die einander übrigens feindlich gegenüberstanden, entsandten ihre Abordnungen zu den Kongressen der C. I. E., wo sie jedoch nur als außerordentliche Mitglieder akzeptiert wurden.

V. Die in der Weimarer Republik entstandene Zentralorganisation „Deutsche Studentenschaft" beanspruchte das Recht, nicht nur die Studenten des Reiches, sondern auch sämtlicher deutsch sprechender Kollegen vertreten zu dürfen. Diese Organisation war „alldeutsch" gesinnt. In ihr gab es „Kreise", deren Gesinnung durchaus der an Hochschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Ländern wie Osterreich, der Tschechoslowakei und der damaligen Freien Stadt Danzig entsprachen. Die Nationalunionen der betreffenden Länder — im Falle Danzigs handelte es sich um Polen, das mit der Außenvertretung der Freien Stadt betraut war —, wollte diesen Anspruch der „Deutschen Studentenschaft" nicht anerkennen. Auf einigen Kongressen der C. I. E. wurde darüber heftig debattiert. Um 1929 entstand aber in der Weimarer Republik eine demokratisch gesinnte, neue studentische Zentralorganisation unter dem Namen „Deutscher Studentenverein", mit dem man endlich einen Kompromiß erzielen konnte. Danach war eine gemeinsame Vertretung der außerhalb des Deutschen Reiches liegenden deutschen Hochschulen vorgesehen. Nach 1933 wurde jedoch der „Deutsche Studentenverein" aufgelöst und neue Streitigkeiten flammten auf.

Die Studentenvereine für internationale Freundschaft spielten in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen eine nicht unbedeutende Rolle. Sie konnten die gegenseitige Annäherung fördern und alte Vorurteile abschwächen. Leider befand sich die Mehrheit der damaligen Studentenschaft, besonders in Mitteleuropa, unter dem Einfluß verschiedener nationalistisch gesinnter Studenten. Nur die Mehrheit der tschechischen, nicht aber der slowakischen Studenten blieb länger ihrer alten demokratischen Gesinnung treu. In Polen, Ungarn, Rumänien oder Bulgarien wurden die Nationalunionen der Studenten

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stets von nationalistischen Organisationen gesteuert, und auf eine echte Annäherung zwischen z. B. tschechoslowakischen und ungarischen Studenten war kaum zu hoffen. Auch auf den Kongressen der C. I. E. kam es manchmal wegen der Minderheitenfrage zu heftigen Auseinandersetzungen.

I. BEWEGUNGEN AUFGRUND BESTIMMTER LÄNDERAUSGANGSPOSITIONEN

VIRGINIA PASKALEVA

BULGARISCHE S T U D E N T E N U N D S C H Ü L E R IN M I T T E L E U R O P A I N D E N V I E R Z I G E R BIS S I E B Z I G E R J A H R E N D E S 19. J A H R H U N D E R T S

Zur Zeit der nationalen bulgarischen Wiedergeburt, einer Periode entscheidender Umwälzungen, war das bulgarische Bildungssystem von außerordentlich wichtiger Bedeutung. Selbstverständlich heißt dies keineswegs, daß Bildung in der Zeit vom Ende des Zweiten Bulgarischen Reiches im 15. Jahrhundert bis zur Epoche der Wiedergeburt im 18. Jahrhundert weniger wichtig, daß ihre Bedeutung im Leben des bulgarischen Volkes geringer war. Zu unterstreichen ist die Tatsache, daß nach der Unterjochung Bulgariens durch die Osmanen das bulgarische Bildungswesen nie ganz erlosch. Hunderte unbekannte und wenig bekannte Lehrer, Mönche und Geistliche verbreiteten in „Klosterzellenschulen" und kleinen, unauffälligen Häusern bulgarisches Bildungsgut. Ohne das hingebungsvolle Wirken dieser bescheidenen, der Bildung verpflichteten Männer hätte man die bulgarische Schrift und die bulgarische literarische T r a dition nicht vor dem Untergang bewahren können. Und ohne bulgarische Schrift, ohne bulgarische Literatur hätte es keine gebildeten Bulgaren gegeben, wäre also auch das unvergängliche Werk von Paisij Chilendarski, die „Slawobulgarische Geschichte", nicht zustande gekommen, die, wie weltweit anerkannt wird, den Anfang eines neuen Zeitalters in der Geschichte des bulgarischen Volkes einleitete, eine Epoche des Kampfes um Befreiung und nationale Unabhängigkeit. Bis Paisij jedoch war das bulgarische Bildungsniveau wegen der schwierigen Bedingungen äußerst niedrig. Erstens gab es nur wenige Grundschulen, und zweitens, was noch wichtiger war, beschränkte sich der Unterricht in den sogenannten „Klosterzellenschulen" auf die Erlernung des Alphabets, auf Schreiben und Lesen sowie auf das Studium einiger religiös-erbaulicher Schriften. Diese Art Bildung konnte den wachsenden Bedürfnissen der Gesellschaft längst nicht mehr gerecht werden. Im 18. Jahrhundert, besonders in der zweiten Hälfte, begann in Bulgarien ein sozioökonomischer Prozeß: Im Schöße der alten osmanischen feudalen Militärdespotie zeigten sich bereits erste kapitalistische Ansätze. In den darauf folgenden Jahrhunderten machte diese Entwicklung, wenn

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auch langsam, gewisse Fortschritte. Enorm waren die ökonomischen und politischen Schwierigkeiten im Osmanischen Reich. Und doch konnten sich in den bulgarischen Landen Gewerbe, Manufaktur und Handel entwickeln. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden auch die ersten bulgarischen Fabriken gebaut. Die bulgarischen Handwerker, Händler und Manufakturisten brauchten eine neue, weltliche Bildung und weitreichende wissenschaftliche Kenntnisse. Für die Entwicklung von Industrie und Handel bedurfte man junger Menschen, die wissenschaftliche Kenntnisse erworben hatten. So war es für die bulgarische Gesellschaft von größter Wichtigkeit, nationale Bildung zu verbreiten, um Kräfte für die Industrie, den Handel, die Kultur und das Bildungswesen heranbilden zu können. Das sollte die zügige Formierung der Nation fördern, die bulgarische Jugend in patriotischem Geiste erziehen und sie auf den Befreiungskampf vorbereiten. Den Bulgaren gelang schließlich auch ein solches Bildungswerk. Der unstillbare Bildungs- und Wissensdurst der bulgarischen Jugend sowie des ganzen Volkes, die unverfälschte Wertschätzung, Achtung und Liebe, die man der Wissenschaft entgegenbrachte, gehören zu den typischsten Erscheinungen in der Geschichte der bulgarischen nationalen Wiedergeburt. Mit diesem unaufhaltsamen Drang der Bulgaren nach Bildung und wissenschaftlichen Kenntnissen läßt sich erklären, daß das bulgarische Bildungswesen in nur vier Jahrzehnten — nämlich in den vierziger bis siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts — besonders große Fortschritte erzielen konnte. Diese Erfolge und die zunehmende Bedeutung der Bildung für die Bulgaren in der Epoche der nationalen Wiedergeburt lassen sich auch dadurch erklären, daß etliche ihrer Besten und Begabtesten sich der Förderung der Bildung verschrieben hatten. Es genügt, an dieser Stelle die Namen einiger dieser Lehrer und Pädagogen zu nennen: Neofit Rilski, der erste Lehrer an der neugegründeten Schule in Gabrovo (1835), P. R. Slavejkov, Najden Gerov, Dimitär Miladinov, Sava Filaretov, Jordan Hadzikonstantinov Dzinot, G. Kostadinov (Dinkata), Botju Petkov, Christo Botev, Jossif Kovacev, T. Burmov und noch viele andere, nur um vor Augen zu führen, welche maßgebenden Kräfte an der Entwicklung des bulgarischen Bildungswesens jener Zeit beteiligt waren. Mit ihrem Talent und ihrer tiefschürfenden Gelehrsamkeit hätten viele der damaligen bulgarischen Lehrer auch an Universitäten lesen können. Das Niveau der Schulen, an denen solche Lehrer tätig waren, war dementsprechend hoch. Es waren kreative Persönlichkeiten, vom ganzen Volk geschätzt und geachtet, und ihr Einfluß auf die Schüler war beachtlich. Der große bulgarische Schriftsteller Ivan Vasov stellte in seinem Roman „Unter dem Joch" überzeugend und realistisch die bulgarische Lehrerin dieser Zeit als eine Person mit besonderer Ausstrahlung dar. Der Aufschwung der bulgarischen Bildungsbewegung erforderte gut ausge-

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bildete Lehrer und eine neue pädagogische Literatur. Es war dringend nötig, den Unterricht der jungen Generation auf ein höheres Niveau zu stellen. Man suchte stets nach neuen Wegen, um so mehr jungen Menschen mit Hilfe von Stipendien den Zugang zur Ausbildung im Ausland zu ermöglichen. In einer ausführlichen Studie über den Einfluß Mitteleuropas auf die kulturelle Entwicklung und den Bildungsfortschritt der Bulgaren zur Zeit der nationalen Wiedergeburt haben wir den Versuch unternommen, auch auf die Rolle der mitteleuropäischen Kultur in kulturhistorischen Prozessen Bulgariens einzugehen, die sie von den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts bis hin zur Befreiung Bulgariens (1877—1878) hatte 1 ). In der vorliegenden Untersuchung wollen wir ausführlicher auf das Wirken der Bulgaren zu sprechen kommen, die ihre Ausbildung in der genannten Periode in Mitteleuropa erhielten. Die bestehenden Handelsverbindungen zwischen den bulgarischen Landen und Mitteleuropa machten für bulgarische Studenten das Studium an Bildungseinrichtungen der oberen und höchsten Stufe in verschiedenen mitteleuropäischen Städten leichter. Der gut zugängliche Transportweg über die Donau förderte den Ausbau der Beziehungen. Äußerst groß war die Bedeutung Wiens, das eine Mittlerrolle sowohl für ganz Mitteleuropa als auch zwischen diesem und Westeuropa einnahm. Deshalb zog die Hauptstadt der Donaumonarchie viele bulgarische Pädagogen an und erleichterte ihre praktische und geistige Tätigkeit. Darüber hinaus wurden in Wiener Druckereien sowie in der Universitätsdruckerei zu Buda in der genannten Zeit bulgarische Schulbücher, wissenschaftliche und belletristische Werke herausgegeben. Wir sammeln seit geraumer Zeit Angaben über das Studium von Bulgaren an mitteleuropäischen Hochschuleinrichtungen unterschiedlicher Fachrichtungen, Kategorien und Stufen des Lehrprozesses. Besonders verlockend erschien den Bulgaren in der Zeit nach 1848 eine Allgemein- und Spezialausbildung in Böhmen. Dorthin gingen viele von ihnen, und ihre Zahl wuchs ständig; Täbor, Prag und Pisek waren in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts besondere Anziehungspunkte. In einem Brief der bekannten tschechischen Schriftstellerin B. Nemcovä (1820—1862) vom 18. September 1860 an ihren Sohn Karl sind Informationen enthalten, die für die Geschichte des bulgarischen Bildungswesens besonders aufschlußreich sind. Diesem Brief können wir entnehmen, daß 1860 eine Gruppe junger Menschen aus der bulgarischen Stadt Sumen in Prag studierte 2 ). Wie wir aus der bulgarischen Presse erfahren, zeigten die Bulgaren — be-

') V. Paskaleva: Mitteleuropa und die Entwicklung der bulgarischen Kultur während der nationalen Wiedergeburt (18. —19. Jahrhundert). In: Österreichische Osthefte 23. 1981. 4. S. 412—429. 2 ) B. Nemcovd: Korespondence. Red. v. Dr. Jan V. Sedlak und E. Bau. Praha 1930. S. 925—929.

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sonders während der letzten zwei Jahrzehnte vor der Befreiung Bulgariens von der osmanischen Herrschaft — ein erhöhtes Interesse für die Schulen in der historischen böhmischen Stadt Täbor. Ende 1869 zum Beispiel schilderte Christo Danov, der bekannte bulgarische Kulturschaffende und Verleger, in seinem umfangreichen Artikel „Das Gymnasium und die landwirtschaftliche Schule zu Täbor (in der Tschechei) 3 )" die Organisation und die Lehrprogramme der Gymnasien und der landwirtschaftlichen Schule in Täbor sowie die Lebensbedingungen in der Stadt und die Aufnahmebedingungen an diesen Schulen. Ausführlich informierte er auch über die Lehrprogramme an den pädagogischen Schulen und Handelsschulen und machte besonders auf das Fach „Wirtschaft" aufmerksam, das die künftigen bulgarischen Lehrer studieren sollten. Der Lehrstoff dieses Fachs umfaßte: „Grundbegriffe von der Wirtschaft und deren Notwendigkeit. Die Wissenschaft von der Erdoberfläche. Die Wissenschaft vom Düngen. Der allgemeine und besondere Begriff von der Beschaffenheit der Pflanzen. Die Wissenschaft von der Gärtnerei und der Baumzucht mit Praktikum. Die Wissenschaft von der Zucht der Tiere und insbesondere von der Haltung von Haustieren, Bienen und Seidenraupen. Die Wissenschaft von der Gestaltung der Hauswirtschaft. Kenntnisse über landwirtschaftliche Geräte. Grundlagen der Volkswirtschaft." Die landwirtschaftliche und gewerbliche Kreisschule in Täbor wurde am 26. November 1866 eröffnet 4 ). Bis zum Jahre 1878 besuchten zwischen 20 und 25 Bulgaren jährlich (der Jahresdurchschnitt war aber unterschiedlich) die landwirtschaftliche Schule, das Realgymnasium und andere Anstalten in Täbor. Vasil Atanasov erwähnt in seinen Memoiren, daß es 1871 in Täbor am Realgymnasium und an der landwirtschaftlichen Anstalt über 90 bulgarische Schüler gegeben habe 5 ). Aus verschiedenen Briefen von bulgarischen Schülern in Böhmen erfahren wir, daß im Jahre 1871 zwölf Burschen und ein Mädchen in Prag und 54 Burschen und ein Mädchen in Täbor die Schule besuchten 6 ). In den bulgarischen Zeitungen „Svoboda" (Freiheit), „Makedonija" und „Otecestvo" (Vaterland) wurden Zuschriften von jungen Bulgaren veröffentlicht, die in Täbor und Prag studierten. Ihnen entnehmen wir Informationen, die interessante Einzelheiten aus dem Leben der bulgarischen Schüler vermit-

3 ) Letostruj ili d o m a s e n kalendar za prosta godina 1870 (Jahreskalender für das Jahr 1870). 4 ) I. Topuzov: Zemedelskite ucilista v T a b o r i Krizevci i razvitieto na bälgarskoto zemedelie ( D i e landwirtschaftlichen Schulen in T ä b o r und Krizevci und die Entwicklung der bulgarischen Landwirtschaft). Sofija 1959. S. 18. 5 ) V. Atanasov: Kak zahvanahme predi 50 godini da se ucim v C e s k o (Wie wir vor f ü n f z i g Jahren b e g o n n e n haben, in B ö h m e n zu studieren). In: Sävremenna iljustracija IV. Bd. 9 und 10. Sofija 1920. S. 14. 6 ) Topuzov, Zemedelskite ucilista, S. 25.

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teln. „Die jungen Bulgaren in diesen Ländern werden immer mehr" heißt es in einem Brief aus Prag vom Juni 1870 in der Zeitung „Otecestvo" 7 ). Aus dem Archivmaterial des Realgymnasiums zu Täbor kann man ersehen, daß in der Zeitspanne von 1870 bis 1874 allein an dieser Schule 28 Bulgaren lernten 8 ). Den biographischen Angaben einzelner Schüler kann man entnehmen, daß es sich vorwiegend um Kinder von Handwerkern, Kleinhändlern und Landwirten handelte. Sie lebten bescheiden und mußten mit den geringen Mitteln auskommen, die ihnen Eltern und Verwandte zukommen ließen. Einige wurden von bulgarischen Kirchengemeinden unterstützt. Die wenig beneidenswerte finanzielle Lage der meisten bulgarischen Schüler in Täbor, ihre auffallende Ausdauer beim Lernen, ihr Betragen und ihre Erfolge bei der Aneignung der tschechischen und der deutschen Sprache und in den wissenschaftlichen Fächern erweckten das Interesse ihrer Lehrer und anderer tschechischer Bürger. Sie begannen nun, sich mehr um sie zu kümmern, besonders um die Wohnungen, die bulgarische Schüler gemietet hatten. Aus Geldmangel konnten leider einige dieser jungen Bulgaren ihre Ausbildung nicht abschließen und kehrten vorzeitig in ihre Heimat zurück. Aus einigen Briefen spricht echter Schmerz darüber, daß sie gezwungen waren, ihre Studien abzubrechen. Ein Problem, das Verfassen und Herausgeben von Büchern für Landwirtschaft in bulgarischer Sprache, beschäftigte die Schüler an der Landwirtschaftsschule ernsthaft. Alleine die Übersetzung der landwirtschaftlichen Einführung ins Bulgarische, ihre Herausgabe und Verbreitung sind als solche wichtige Ereignisse in der Geschichte des bulgarischen landwirtschaftlichen Bildungswerks 9 ). Einige Schüler aus Täbor setzten später ihre Ausbildung in anderen mitteleuropäischen Städten fort, um ihr Studium dort auch abzuschließen. So zum Beispiel war Jordan M. Simeonov bereits in der ersten Augusthälfte 1871 in Leipzig. Er kam dorthin, um sein Landwirtschaftsstudium fortzusetzen, und weil ihn die deutsche Sprache und die deutsche Fachliteratur interessierten 10 ). Noch zwei weitere Bulgaren, die bislang in Täbor studiert hatten, gingen um diese Zeit nach Leipzig. Und alle drei inskribierten am dortigen landwirtschaftlichen Institut der Universität. Im Studienjahr 1874/75 reiste der in Tabor graduierte Georgi Petkov Sojlekov aus der bulgarischen Sadt Klisura nach Klosterneuburg und ging an

;

) Izvestija iz Bälgarija (Nachrichten aus Bulgarien). In: Svoboda I. 32 vom 27. Juni 1870. S. 252. 8 ) Topuzov, Zemedelskite uciliüta, S. 26. ') M. Stojanov: Bälgarska väzrozdenska kniznina (Bulgarische Literatur der Epoche der Wiedergeburt). Bd. 1. Sofija 1957. S. 413. l0 ) V. Jordanov: Lajpcig i bälgarite (Leipzig und die Bulgaren). Sofija 1938. S. 46.

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die dortige k. u. k. H ö h e r e Lehranstalt f ü r Wein- und Obstbau. 1880 schloß er sein Studium an der Hochschule f ü r Bodenkultur in Wien ab 11 ). Ahnlich ist der Fall von Vasil Manusev aus Samokov. Wegen nachgewiesenen großen Erfolgs beim Studium und f ü r gutes Betragen trat man an einige der in T a b o r ausgebildeten Bulgaren mit dem Angebot heran, dort eine Beschäftigung anzunehmen. Gleich nach Schulabschluß an der landwirtschaftlichen Schule zu T ä b o r wurde beispielsweise Konstantin I. Lekarski, der einen besonderen Lerneifer bewiesen hatte und die tschechische Sprache ausgezeichnet beherrschte, angeboten, eine Stelle als Hilfstechnologe in der Zuckerfabrik Erwin Schlicks in der Umgebung von Prag anzunehmen. Er bekleidete diesen Posten dann tatsächlich von August 1876 bis M ä r z 1878, wobei er während dieser ganzen Zeit seinen Dienstpflichten äußerst getreu und gewissenhaft nachkam. „Die Direktion der Zukkerfabrik empfiehlt ihn aufs Wärmste f ü r weitere Einsätze in ähnlicher Stellung", heißt es im Zeugnis, das ihm am 10. M ä r z 1878 ausgestellt wurde 1 2 ). Auch eine andere Schule im ehemaligen Habsburgerreich, die 1860 gegründete Staatliche Landwirtschaftliche Lehranstalt in Krizevci in Kroatien, wurde von Bulgaren besucht. Es war das Lehrziel der landwirtschaftlichen Abteilung dieser Schule, ihren Zöglingen, die später auf dem eigenen Gut tätig sein oder sich um Stellen auf fremden Gütern bewerben wollten, theoretische und praktische Vorkenntnisse zu vermitteln. Die Forstabteilung hatte es sich ihrerseits zur Aufgabe gemacht, Schüler auszubilden, die nach einer zweijährigen theoretischen und praktischen Ausbildung in eigenen oder fremden Forsten arbeiteten oder im Staatsdienst Försterstellen bekleiden wollten. In der Zeitspanne von etwa fünf Jahren (1871 — 1876) besuchten acht junge Bulgaren diese Anstalt 13 ). Nach der Befreiung Bulgariens wurden aus vielen ehemaligen Zöglingen der landwirtschaftlichen und Gewerbeschule in T ä b o r und der Landwirtschaftsund Forstschule in Krizevci angesehene bulgarische Schriftsteller, Publizisten, f ü h r e n d e M ä n n e r in der Wirtschaft und prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie Lehrer der bulgarischen Landwirte. Sie organisierten auch die Herausgabe der im neuen bulgarischen Staat dringend benötigten landwirtschaftlichen und technischen Fachliteratur. Viele von ihnen konnten selbst unter den damaligen schwierigen Bedingungen ihre wissenschaftlichen Kenntnisse und ihre Praxis auf den Gebieten Landwirtschaft und Forstwesen sowie anderes an diesen Schulen erworbenes Wissen in die T a t umsetzen. Die bulgarische Öffentlichkeit sah in ihnen die ersten Verbreiter des modernen landwirtschaftlichen und ökonomischen Bildungsguts und Wegbereiter der bulgarischen Landwirtschaft.

u ) N a r o d n a biblioteka „Kiril i Metodij" — Bälgarski istoriceski ( N B K M - BIA), Fonds B D D , II, V. 9289, Akt Nr. 22, Blätter 98, 108 und 109. 12 ) Topuzov, Zemedelskite ucilista, S. 58. 13 ) Ebenda, S. 64.

archiv

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Zu sagen bliebe noch, daß, außer in Täbor und Krizevci, einzelne Bulgaren ihre Ausbildung im oberschlesischen Proskau (seit 1945 Proszkow, Polen) und in der tschechischen Stadt Pisek fortsetzten. Mit soliden technischen und praktischen Kenntnissen der Landwirtschaft ausgerüstet, bereisten diese jungen Menschen, wenn auch mit bescheidenen finanziellen Mitteln, ganz Mitteleuropa und machten sich mit der Organisation der dortigen Landwirtschaft vertraut. Einige von ihnen träumten davon, eine Ausbildung an einer Wirtschaftshochschule zu absolvieren. Anziehungspunkt für sie war die Hochschule für Bodenkultur in Wien. In einem Brief des schon oben erwähnten G. Sojlekov, der Anfang 1877 von Klosterneuburg nach Wien zog, heißt es: „Da ich bereits Landwirtschaft an einer Oberschule in Täbor lernte, beschloß ich, die übrige Zeit an der hiesigen höheren Schule für Landwirtschaft zu studieren, um mich in einigen weiteren landwirtschaftlichen Fächern sowie in einigen naturkundlichen Fächern weiterzubilden, die eine unerläßliche Grundlage sowohl für die Landwirtschaft als auch für den Weinbau bilden." 14 ) Auch die Akademie für Landwirtschaft in Hohenheim bei Stuttgart war den Bulgaren ein Begriff, wegen der hohen Kosten konnten sie aber nur wenige besuchen. Insgesamt wurden die größeren mitteleuropäischen Städte für weniger wohlhabende junge Bulgaren wegen der Teuerung der Miete, Kost und Schulgelder immer unerschwinglicher und daher von Jahr und Jahr unzugänglicher. Auf staatliche Stipendien konnte man sowohl in der Heimat als auch in Österreich-Ungarn kaum hoffen. Die Ausbildung der jungen Bulgaren an den genannten Lehranstalten verfolgte rein praktische Ziele. In den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erlebte der Handel mit Getreide aus bulgarischen Landen mit dem übrigen Europa einen Aufschwung, und wissenschaftliche Kenntnisse auf dem Gebiet der Landwirtschaft wurden immer dringender notwendig. Aber auch das geistige Leben in der bulgarischen Gesellschaft entwickelte sich. Viele junge Menschen waren bereits bestrebt, eine Hochschulbildung zu erlangen, und richteten ihr Augenmerk auf verschiedene europäische Universitäten. Je nach den finanziellen Möglichkeiten schlössen einige von ihnen einen kompletten akademischen Lehrgang ab, anderen wiederum gelangen Spitzenleistungen in Wissenschaft und Kunst. Hierfür einige Beispiele: Der Sekretär der Bulgarischen Literarischen Gesellschaft, der späteren Bulgarischen Akademie der Wissenschaften, Vasil Stojanov, besuchte in Prag ein Gymnasium, studierte in den Jahren 1858 bis 1868 an der Fakultät für Geschichte und Philologie und an der juristischen Fakultät und pflegte rege Kontakte mit Vertretern der tschechischen Kultur 15 ). 14 )

N B K M - BIA, II, V. 9284, Akt Nr. 22, Blatt 98. Jubilejna kniga na Zeravnenskoto citaliste (Jubiläumsbuch der Volkslesehalle in Zeravna). Sofija 1921. S. 254—283. 15 )

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Dragan Cankov, in späteren Jahren ein namhafter Vertreter der bulgarischen Öffentlichkeit, Politiker und Diplomat, studierte anfangs in Rußland und dann an der Wiener Universität. In Wien gab Cankov, damals noch ganz jung, in Zusammenarbeit mit seinem Bruder Anton die erste bulgarische Grammatik in deutscher Sprache heraus, ein Werk, das ihm in wissenschaftlichen Kreisen Popularität einbrachte. In der österreichischen Hauptstadt kam ihm die Idee, eine bulgarische literarische Gesellschaft zu gründen und in seiner Vaterstadt, der Donaustadt Svistov, eine Druckerei zu eröffnen, um die kulturelle Entwicklung des bulgarischen Volkes zu fördern. Aus diesem Grund verließ Cankov die Universität und wurde Setzer, um das Druckerhandwerk gut zu erlernen. Der Ausbruch des Krimkriegs (1853) verhinderte jedoch die Verwirklichung seiner Projekte 16 ). Der große bulgarische Historiker, Ethnograph und Publizist Spiridon Palauzov (1818 —1872) studierte Rechte in Moskau, Heidelberg und München (bis 1844) und interessierte sich lebhaft für die Geschichte der Habsburgermonarchie. So wurde er zum profunden Kenner der Geschichte der mitteleuropäischen Völker seiner Zeit. Die Studien Spiridon Palauzovs über die Geschichte Österreich-Ungarns waren auch von seinen eigenen Beobachtungen während seiner Reisen durch Osterreich geprägt. Erleichtert wurde ihm diese Arbeit durch die vorzügliche Beherrschung der deutschen Sprache, die er während seines Studiums an der Münchener Universität, wo er den akademischen Grad „Dr. der Staatswissenschaften (Scientiarum Politico Oeconomicarum)" erworben hatte; seine Sprache war auch geprägt durch seine Reisen in Osterreich 17 ). In der kurzen Zeitspanne der drei Jahre zwischen 1859 und 1861 erschienen fünf Werke des fleißigen Gelehrten, die die österreichische Politik von verschiedenen Aspekten aus behandelten. Größtes Gewicht unter ihnen haue die Monographie „Osterreich zur Zeit der Revolution von 1848". Wir können dieses Werk hier nicht eingehend analysieren, möchten aber doch erwähnen, daß Palauzov, der alle bis dahin erschienen Quellen und die ganze einschlägige Literatur gründlich kannte, mit besonderer Wertschätzung die Aktenpublikationen von Joseph Freiherr von Hormayr, dem damaligen Direktor des Haus-, H o f - und Staatsarchivs in Wien, erwähnt. Bekanntlich geriet Hormayr mit dem Wiener Hof in Konflikt und sah sich gezwungen, nach Bayern zu emigrieren, wobei er viele wertvolle Archivalien in Sicherheit brachte; 1830 veröffentlichte

") M, Kovaceva: Dragan Cankov, obstestvenik, politik, diplomat (do 1878 g.) (Dragan Cankov — Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, Politiker, Diplomat [bis 1878]). Sofija 1980. Kap. 1. 17 ) V. Paskaleva: Trudovete na Spiridon Palauzov värhu istorijata na Avstrijskata imperija (Spiridon Palauzovs Werke über die Geschichte des Österreichischen Reichs). In: Izvestija na Bälgarskoto istoricesko druzestvo. X X I X . Sofija 1974. S. 119.

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er dann diese Unterlagen. Sie, wie auch spätere Publikationen Hormayrs, nutzte Palauzov als wertvolle Grundlage für seine eigenen Werke und sprach voller Achtung von dessen „seltener Weitsicht und verblüffender Belesenheit in historischen Fragen". Bekanntlich spricht auch Hugo Hantsch vom „historischen Genius" Hormayrs 18 ). Unbestritten sind die Beiträge Spiridon Palauzovs zur Weltgeschichte und insbesondere zur Erforschung der Geschichte der mitteleuropäischen Völker. Sie sind nicht allein für die bulgarische, sondern auch für die österreichische, ungarische, tschechoslowakische und rumänische Geschichtsschreibung von Bedeutung. Palauzov behandelt die für ihn aktuellen Probleme der Geschichte des österreichischen Reiches vor einem weiten Hintergrund mit beachtlicher Gelehrsamkeit und bedient sich treffender Analogien und eines beachtlichen Materials an Fakten, das gewissenhaft gesammelt, präzise analysiert und wissenschaftlich gut aufgearbeitet wurde. Von den Bulgaren, die in München, Wien, Würzburg, Heidelberg und anderen großen mitteleuropäischen Städten Medizin studierten, muß man unbedingt Dr. Beron erwähnen, der von der Münchener Universität nach erfolgreicher Verteidigung seiner in Latein abgefaßten Doktorarbeit zum Doktor der Medizin promoviert wurde, einer Arbeit, die als wesentlicher Beitrag zur medizinischen Wissenschaft seiner Zeit angesehen wird"). Peter Berons Neffe, Vasil Beron, studierte Medizin in München (1847) und Würzburg (1848 — 1852) und praktizierte 1853 in Wien 20 ). Vasil Beron schloß sein Studium mit einer gut bewerteten Doktorarbeit ab und veröffentlichte 1868 die erste bulgarisch-deutsche Grammatik. Um auf die Herausgabe der ersten bulgarischen Zeitung „Bälgarski orel" (1846—1847) in Leipzig zu sprechen zu kommen, wäre anzumerken, daß auch deren Redakteur Ivan Bogorov 1845—1847 an der Leipziger Universität studiert hatte 21 ). In der bildenden Kunst bleibt der bulgarische Maler Nikolaj Pavlovic nachhaltig mit der mitteleuropäischen Kultur verbunden. Er besuchte zwischen 1852 und 1857 in Wien die Kunstakademie und studierte bei den hervorragenden Pädagogen L. Schulz, F. Bauer, Karl von Blaas u. a.22). Später ging er nach München und studierte vom Herbst 1857 bis 1858 an der dortigen Kunstakademie als Schüler von Karl Piloty, Wilhelm Kaulbach und Hermann Anschütz. 18 ) H. Hantsch: Die Geschichte Österreichs. Bd. II. Graz, Wien, Köln 1968. S. 307. ") N. Bacvarova/M. Bacvarov: D-r Petär Beron, Zivot — dejnost. Naturfilosofija (Dr. Peter Beron — Leben und Wirken. Naturphilosophie). Sofija 1975. S. 27. 20 ) 50-godisen jubilej na d-r V. Beron (Der 50. Jahrestag des Doktorats von V. Beron). In: Sp. Ucilisten pregled. 1902. 7. S. 618 f. 21 ) I. A. Bogorov: Zivota mi, opisan ot mene (Mein Leben, von mir beschrieben). Sofija 1887. 22 ) N. D. Pavlovic: Nikolaj Pavlovic (1835 — 1894). Sofija 1955. S. 47.

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Virginia Paskaleva

Nikolaj Pavlovic gehört mit zu den bedeutendsten Malern der Epoche der bulgarischen Wiedergeburt. In Wien und München wurde er zum Anhänger des akademischen deutschen Romantizismus, der die reine, ausdrucksstarke und anmutige Linie zum Kult erhob. 1980 wurde in Sofia Nikolaj Pavlovic umfangreicher Briefwechsel veröffentlicht 23 ). Herausgegeben wurde dabei der Briefwechsel zwischen ihm und seinem Bruder D. Pavlovic, der in Wien Medizin studiert hatte. Diesen Briefen entnehmen wir, daß beide Brüder gezwungen waren, unter äußerst schwierigen Bedingungen zu leben; demnach war der Wunsch zu studieren, eine hohe Kultur zu erwerben und sich über Mittelmäßigkeit zu erheben, eine treibende Kraft. Wir sind immer noch dabei, Fakten über die Bulgaren, die im behandelten Zeitraum in Mitteleuropa studierten, zu sammeln und zu erforschen. Doch alle neuen und ergänzenden Informationen könnten lediglich in größerer Ausführlichkeit die weitreichenden Kontakte zwischen einem Teil der sich damals herausbildenden bulgarischen Intelligenz in der Epoche der nationalen Wiedergeburt einerseits, und den mitteleuropäischen Kultur- und Bildungskreisen und deren Kulturgut andererseits bestätigen.

" ) Arhiv na N . Pavlovic (1852—1894). (N. Pavlovic-Archiv [1852—1894]). Sofija 1980.

CVETANA TODOROVA

M I G R A T I O N E N BULGARISCHER S T U D E N T E N AN EUROPÄISCHE UNIVERSITÄTEN SEIT DER BEFREIUNG BULGARIENS V O N D E N T Ü R K E N BIS ZUM ERSTEN WELTKRIEG

Die Migrationen bulgarischer Studenten an europäische Universitäten nach 1878 sind nicht nur eine Frage der gesamteuropäischen Wechselwirkungen, sondern waren besonders in den ersten Jahren mit der Restauration des Staates und dem Aufbau Bulgariens eng verbunden. Durch den Präliminarfrieden von San Stefano und wenig später auf dem Berliner Kongreß — beide im Jahre 1878 — wurde Bulgarien als Staat endgültig wiederhergestellt. Damit war die historische Aufgabe gestellt, den bulgarischen Staatsorganismus in einer Epoche der Vorherrschaft des Bürgertums in Europa und im Zeichen des revolutionären Vormarsches des wissenschaftlich-technischen Fortschritts wieder zu errichten. Deshalb rückte die Nachfrage nach kompetenten Fachleuten in den Vordergrund, die das Gerüst des Staates aufbauen und die gesellschaftspolitische Führung des Landes gewährleisten sollten. Anders gesagt: aus der Sicht der bulgarischen Entwicklung nach 1878 ging es dabei um heranwachsende junge Menschen, die intellektuell und künstlerisch begabt waren und ins Ausland gehen wollten; die Ausbildung von Fachleuten für die Bedürfnisse des Staates war von besonderem Wert für den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt Bulgariens. Die provisorische russische Verwaltung legte die Fundamente des neuen Staates durch Mobilisierung der gesellschaftlichen Kräfte der Nation; sie wurden aber — besonders auf der Führungsebene — vornehmlich von der russischen Verwaltung selbst gestellt. Die Intelligenz zur Zeit der bulgarischen Wiedergeburt hatte brillante Geister hervorgebracht, Männer, die fähig waren, ihren freien Staat zu gestalten; es waren aber zu wenige. Nachdem die provisorische russische Verwaltung im Juni 1879 ihre Tätigkeit eingestellt hatte, wurde das Schicksal des Staates in bulgarische Hände gelegt. Bereits damals offenbarte es sich mehr denn je, daß die Wiederherstellung der staatlichen Existenz als selbständige Körperschaft durch die verfügbaren Fachleute nicht gewährleistet werden konnte. Daher nahm deren Aus- und Weiterbildung bis zum Hochschulabschluß, der wieder nur in Europa möglich war, von Anfang an eine Vorrangstellung in der Staatspolitik ein.

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Das Problem oblag zentral dem Ministerium f ü r Volksbildung (Ministerstvo na n a r o d n o prosvestenie). Unverzüglich wurde eine aktive staatliche Förderung f ü r die im Ausland immatrikulierten und studierenden jungen Bulgaren in die Wege geleitet. Nach Fürst Alexander Battenbergs Thronbesteigung und seinem Erlaß N r . 1 über die Bildung der ersten Regierung nach der Befreiung verfügten die beiden folgenden Staatsakte durch fürstliche Erlässe die Gewährung der beiden ersten staatlichen Jahresstipendien f ü r zwei Jusstudenten in Rußland 1 ). Vom ersten Ausgabenetat des Ministeriums f ü r Volksbildung f ü r die Jahre 1879/80 wurden zu diesem Zweck 60.000 Leva, d. h. 18,25 % des gesamten Staatshaushaltes in der H ö h e von 328.850 Leva, bereitgestellt. Auch wurde alles zur Erfassung der im Ausland Studierenden unternommen; die genannten 60.000 Leva wurden f ü r die materielle Unterstützung der Studenten und f ü r die Förderung ihres rechtzeitigen Studienabschlusses verwendet. Neben den Etatmitteln f ü r die Finanzjahre 1880/81 und 1881/82 — im letztgenannten Jahr betrug die Summe nur 45.000 Leva, weil sie von der liberalen Regierung gekürzt worden war, — verfügte das Ministerium f ü r Volksbildung auch über einige großzügige Schenkungen aus privater H a n d und über Spezialfonds zur Förderung des Auslandsstudiums 2 ). Das Ministerium hatte damit größere Möglichkeiten, und um das Jahr 1882/83 hatte es bereits den teilweisen oder vollständigen Unterhalt f ü r über 100 bulgarische Studenten übernommen, die ein Studium an europäischen Universitäten begonnen hatten 3 ). 36 der vom Ministerium geförderten Studenten belegten naturwissenschaftliche Fächer wie Physik, Mathematik oder Chemie an Polytechniken, 55 inskribierten Jus. Die Mehrheit, insgesamt 39 Personen, ging an die Universitäten in Rußland, in Österreich studierten 26, in Deutschland 20 und in Frankreich 19. U n t e r ihnen waren auch künftige Gelehrte und f ü h r e n d e Kulturschaffende von

') Därzaven vestnik. Nr. 3. 11. VIII. 1879. ) Die großzügigsten Spenden an das Ministerium für Volksbildung — abgesehen von der Schenkung der Brüder Evlogi und Christo Georgiev, die für den Bau der Universität bestimmt war —, kamen von einem Kaufmann aus Tärnovo, Petär Keremekciev, der eine bedeutende Summe insbesondere für Stipendien im Ausland zur Hochschulbildung hinterließ, ebenso von Atanas Beron aus Kotel und vom Archimandriten Rajkovic. 3 ) K. Jirecek (Dr., Minister für Volksbildung): Glavno izlozenie do Negovo Visocestvo Knjaza värchu polozenieto na ucebnoto delo v Knjazestvoto, dekemvri 1881 (Hauptbericht an Seine Hoheit, den Fürsten, über die Lage des Schulwesens im Fürstentum, Dezember 1881). In: Därzaven vestnik. Nr. 8. 23. I. 1882; als Ergänzung zu den Angaben im Bericht Jireceks siehe Z. Tadzer: Izlozenie za dejatelnostta na Ministerstvoto na narodnoto prosvestenie v Carstvo Bälgarija. V: Archiv na Ministerstvoto na narodnoto prosvestenie (Bericht über die Tätigkeit des Ministeriums für Volksbildung im Königreich Bulgarien. In: Archiv des Ministeriums für Volksbildung), g. II, kn. 1, 1910, wie auch die diversen fürstlichen Erlässe über die Vergabe von Stipendien oder regelmäßigen Unterstützungen für bulgarische Studenten im Ausland. In: Därzaven vestnik. 2

Migrationen bulgarischer Studenten

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europäischem R a n g wie Ljubomir Miletic, Student der Philosophie in Zagreb, Aleksandär T e o d o r o v - B a l a n , Student der slawischen Philologie in Prag, Emanuil Ivanov, Student am Polytechnikum in Stuttgart, usf. Staatliche Förderung genossen auch der künftige Schriftsteller Stojan Michajlovski, Student der Rechte in Aix-en-Provence, ferner Ivan Dimitrov aus Trjavna, Student der bildenden Künste in Paris, der später die Laufbahn eines Zeichenlehrers wählen und in den neunziger Jahren die ersten Kunstausstellungen in Bulgarien organisieren sollte. Staatliche Stipendien bezogen auch junge Menschen aus den Kreisen der Handel- und Gewerbetreibenden, die ihr Hochschulstudium im Hinblick auf eine künftige praktische Tätigkeit in der Wirtschaft gewählt hatten, wie Vasil N . Karagjozov, Student am Polytechnikum in Stuttgart, ein Mitglied der später führenden Industriellenfamilie, Ivan Kalpazanov, aber auch führende Politiker in fernerer Zukunft wie Petär Pesev, Jusstudent in M o s k a u , Christo Belcev sowie Aleksandär Ljuckanov, Student der politischen Wissenschaften in Paris, u. a. m. 4 ). Staatlich gefördert wurde auch das Studium künftiger Lehrer und Pädagogen, Wissenschafter und Künstler, höherer Staatsbeamter sowie Wirtschaftsführer und G r ö ß e n des politisch-gesellschaftlichen Lebens in Bulgarien. Im November 1879 wurde der W i e n e r tschechische Gelehrte Konstantin J i recek Generalsekretär des Ministeriums für Volksbildung. Später wurde er M i nister sowie Vorsitzender der wichtigsten Sektion in diesem Ministerium, des Obersten Schulrates, der die ideologischen Grundzüge der staatlichen Bildungspolitik

festlegte

und

Maßnahmen

zu

deren

Realisierung

einleitete.

Dreieinhalb J a h r e lang legte Jirecek, in Ubereinstimmung mit dem damaligen Staatsoberhaupt sowie den in das Ministerium gewechselten Mitgliedern der Bulgarischen Literarischen Gesellschaft, die Fundamente für den Aufbau Bulgariens zu einem kulturell entwickelten Land. Dieses Führungsteam um K o n stantin Jirecek, dem M ä n n e r wie Spas Vacov, V . D . Stojanov, Ivan Gjuzelev, Dimitär Agura, J o r d a n Bradel, Petär Gencev, Georgi J . Kirkov, J o s i f J . K o vacev, Dimitär P. M o l l o v angehörten, wurde vom Fürsten unterstützt. Diese M ä n n e r erfreuten sich der überzeugten und aktiven Mitwirkung des Professors Marin Drinov in seiner Funktion als Präsident der Literarischen Gesellschaft, der späteren Bulgarischen Akademie der Wissenschaften. Ungeachtet der Behinderungen durch wachsende Intoleranz und extreme Konfrontation zwischen den politischen Parteien sowie durch ihren Machtkampf, ungeachtet des häufigen Wechsels der jeweiligen Regierungschefs und der zuständigen Minister — innerhalb der ersten zwei J a h r e lösten einander sieben

Minister ab —

trugen Zusammenarbeit und gleiche Gesinnung der jungen bulgarischen Staatsmänner auf dem Bildungssektor dazu bei, daß sich in diesem Land in kurzer Zeit die Grundsätze des modernen europäischen Bildungssystems durchsetzten. 4)

Siehe Tadzer, Bericht; und fürstliche Erlässe . . . In: Därzaven vestnik, 1879—1881.

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Cvetana Todorova

Der organisatorische Aufbau der Mittelschule, der Lehrerbildungsanstalten, der landwirtschaftlichen und gewerblichen Berufsschulen sowie der Inhalt des Lehrplans wurden theoretisch und methodisch der europäischen Gymnasialbild u n g und der entsprechenden Berufsausbildung angeglichen. Die Ausbildung wurde den Erfordernissen des weltweiten wissenschaftlich-technischen Fortschritts angepaßt. Schon im August 1880 wurde f ü r das damals bevorstehende zweite Schuljahr nach der Befreiung ein Unterrichtsprogramm eingeführt, in dem, gemessen an der Stundenzahl, nach dem Gegenstand Bulgarisch die Fächer Mathematik und N a t u r k u n d e — in erster Linie Physik — am intensivsten gepflegt wurden. Dabei wurden die damals zeitgemäßen wissenschaftlichen Richtungen und Entdeckungen, beispielsweise auf dem Gebiet des Magnetismus und der Elektrizität, bevorzugt 5 ). In den humanistischen Fächern wurde im Geschichtsunterricht neben der bulgarischen auch die Weltgeschichte stark betont; sie wurde im Geiste der damals aktuellen Geschichtsphilosophie gelehrt. Charakter und Ziele des Unterrichts an den bulgarischen Mittelschulen werden besonders deutlich in einem Rundschreiben Konstantin Jireceks definiert, das er am 18. August 1881 als Minister erließ und das seine Mitarbeiter Spas Vacov und Vasil D. Stojanov als Koautoren hatte; darin heißt es, im Gegenstand Geschichte werde „alles gelehrt, was die menschliche Gesellschaft in ihrem Kausalzusammenhang mitbestimmt hat". Studiert wurden die Ursachen f ü r „die wichtigeren Bewegungen und das Leben und Wirken jener historischen Persönlichkeiten, die sich durch besondere Liebe f ü r ihr Vaterland auszeichneten und sich um die Freiheit und den Fortschritt der Menschheit verdient gemacht haben" 6 ). Selbstverständlich erschloß diese Politik der bulgarischen Jugend einen stärkeren und direkteren Zugang zur europäischen Universitätsbildung, als dies vor dem Jahre 1878 möglich war. So dauerte die studentische Migration an, weil auch die Anzahl der Fachleute f ü r den Bedarf des Staates noch immer nicht ausreichte, obgleich die Studenten sofort nach Studienabschluß nach Bulgarien zurückkehrten. Die Zahl der bulgarischen Fachleute in der Wirtschaft, in der staatlichen Verwaltung und im Bildungswesen nahm immer stärker zu. Das Ministerium f ü r Volksbildung betrieb mit besonderem Nachdruck die Ausbildung von Lehrern und appellierte an die an europäischen Universitäten studierenden Bulgaren, so rasch wie möglich zurückzukommen, mit der Arbeit an den Schulen zu beginnen und zur Ausbildung von Lehrern beizutragen 7 ). Bereits im Jahre 1881 leisteten die ersten jungen Hochschulabsolventen diesem Aufruf Folge.

s

) ') 7 ) dung

Siehe Därzaven vestnik. Nr. 71. 13. IX. 1880. Ebenda, Nr. 62. 29. VIII. 1881. Siehe ebenda, Nr. 86. 19. XI. 1880. Kundmachung des Ministeriums für Volksbilvom 12. XI. 1880.

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Der später bekanntgewordene Politiker Trajko Kitancev z. B., der an der Moskauer Universität Jus studiert hatte, wurde Lehrer an der „Peter und PaulSchule" in Tärnovo. Ivan T. GoSev, der in Grignon seine Agronomiestudien absolviert hatte, wurde Lehrer am Sofioter humanistischen Gymnasium für Knaben. Einer der ersten staatlichen Stipendiaten, Stefan Granicki, der 1882 in Jena Physik und Mathematik studiert hatte, wurde Lehrer am Gymnasium in Kjustendil, und Nikola Lazarov, der in Zagreb Naturwissenschaften studiert hatte, wurde am Gymnasium in Lom an der Donau angestellt. 1882/83 wurden Emanuil Ivanov, Ivan Siämanov und andere junge Leute, von denen die meisten im Ausland ihre Studien betrieben hatten, als Lehrer beschäftigt. Doch noch immer konnten sie trotz hoher fachlicher Qualifikation dem stetig wachsenden Bedarf der Gesellschaft nicht gerecht werden, sodaß man Ausländer als Lehrer anstellen mußte. So kamen fähige ausländische Pädagogen mit Hochschulabschluß an die Gymnasien, blieben dann auch zum größten Teil in Bulgarien, wie Stefan Jurinic, Petär Vulpe, Anton Spuljak, Julia Grisso u. a. Damit aber war die grundlegende staatliche Aufgabe der Lehrerausbildung immer noch nicht gelöst. Aus dieser Zeit der nationalen Wiedergeburt hatte Bulgarien die meisten Hochschulabsolventen für Staatswissenschaften und Medizin „geerbt". Als für die Gesellschaft unabdingbar notwendig entwickelte sich die medizinische Ausbildung selbstverständlich weiterhin ohne Unterbrechung. Besonders gefördert wurde, wie die bereits angeführten Zahlen belegen, die Ausbildung der Beamten für die Staatsverwaltung. Die Stipendiaten, die Jus und andere für den Staat wichtige Studienrichtungen wie Ökonomie, Finanzwissenschaften und Statistik gewählt hatten, kehrten so rasch wie möglich in die Heimat zurück. So konnte die Mehrzahl der russischen Beamten, die auch nach Beendigung der provisorischen russischen Verwaltung in bulgarischen Diensten tätig waren, schrittweise bis hin zur obersten Verwaltungsebene von Bulgaren abgelöst werden. Schon im Juni 1882 wurde es möglich, das Oberste Berufungsgericht ausnahmslos mit Bulgaren zu besetzen. Zur selben Zeit bildeten bulgarische Juristen einen kompetenten Rechtsausschuß beim Justizministerium, der bis zum Mai 1883 eine für den Staatsaufbau äußerst wichtige Aufgabe wahrnahm, nämlich ein umfassendes Gesetzbuch auszuarbeiten, worauf die bulgarische bürgerliche Rechtssprechung in Zukunft aufbauen sollte. 1882 wurde der Rechnungshof ausnahmslos von bulgarischen Juristen und Finanzexperten gebildet, und im selben Jahr wurden in den Bezirksgerichten junge bulgarische Juristen angestellt, die gerade erst ihr Studium an europäischen Universitäten als bulgarische Staatsstipendiaten oder vom Staat materiell geförderte Studenten beendet hatten. Aufgrund eines Berichtes des Justizministers Dimitär Grekov wurde mit Erlaß des Fürsten vom September 1882 E. K. Vacov, der an der Heidelberger Universität zum Doktor der Rechte promoviert worden war, als Mit-

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glied des Berufungsgerichtes in die Stadt Russe berufen. Vasil Marinov wurde Mitglied des Sofioter Bezirksgerichtes; er hatte das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Odessa absolviert. Am gleichen Gericht wirkte auch der Magister der Rechte der Universität Odessa, Christofer Kamburov. Venedikt Popov wurde Staatsanwalt am Bezirksgericht Varna; er hatte ebenfalls das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Odessa mit dem Magisterium abgeschlossen 8 ). Im Februar und Juli 1883 wurden weitere absolvierte Juristen in den Staatsdienst aufgenommen: als Hilfsstaatsanwälte am Sofioter Berufungsgericht Georgi Manolov Stojanov, der die Fakultät f ü r Rechtswissenschaften an der Pariser Universität absolviert hatte, und Georgi Zgurev, der an der Juridischen Fakultät in Odessa studiert hatte, sowie Dimitrij T o d o r o v , von der Juridischen Fakultät in Odessa kommend, der als Hilfsstaatsanwalt an das Bezirksgericht Varna verpflichtet wurde 9 ). Einerseits behinderten Intoleranz der streitenden Parteien und ständige Konfrontation in der komplizierten politischen Landschaft den zweckmäßigen Einsatz der kompetenten einheimischen Fachleute, andererseits blieb, objektiv gesehen, der bulgarische Nachwuchs an Lehrern und Verwaltungsfachleuten in den fünf Jahren nach der Befreiung zahlenmäßig unter dem Bedarf. Immer noch waren in den Bezirksverwaltungen die Posten bis zur Ebene eines stellvertretenden Sekretärs mit russischen Juristen besetzt. Die Praxis, diese als Vorsitzende von Bezirksgerichten anzustellen, wurde beibehalten. Die Militärgerichte blieben weiterhin ausnahmslos ein Feld f ü r die zwar sachkundigen, jedoch russischen Militärrichter. Analog war die Lage bei den Ärzten. Jahr f ü r Jahr promovierten Scharen bulgarischer Medizinstudenten, aber der öffentliche Bedarf an Ärzten konnte nicht gedeckt werden. Schwierig gestaltete sich die Einrichtung eines zivilen Gesundheitsamtes, die 1881 in Angriff genommen wurde. Dr. Grim, der Leiter des Gesundheitsressorts, war einer der loyalsten russischen Spezialisten in bulgarischen Diensten. Er brachte dem im Aufbau begriffenen, unabhängigen bulgarischen Staat echten Respekt entgegen und bemühte sich in diesem Sinne sehr um eine Verbesserung. Das rasch aufgebaute und stark entwickelte Militärressort berief aber die meisten Ärzte f ü r den medizinischen Dienst in die Armee ein. N o c h immer gab es keinen bulgarischen Apotheker, keine bulgarischen Zahnärzte und nur wenige ausgebildete bulgarische Hebammen. Nach den ersten fünf Jahren stieg der Bedarf an einheimischen Ingenieuren u n d Technikern f ü r die staatlichen Bauvorhaben und die öffentliche wie die Privatwirtschaft besonders an. Es gab keinen einzigen einheimischen Architekten, nur wenige Ingenieure, und 1879 bis 1883 promovierten etwa 15 Staats8 9

) Ebenda, Nr. 106. 16. IX. 1882. ) Ebenda, Nr. 16. 1. II. 1883; Nr. 76. 16. VII. 1883.

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Stipendiaten an verschiedenen polytechnischen Schulen — je drei in Rußland, Österreich-Ungarn, Deutschland, Frankreich und in der Schweiz. Doch auch diese folgten dem Appell des Ministeriums f ü r Volksbildung, wie es die Physiker, Mathematiker, Chemiker usw. taten, und gingen f ü r die ersten drei Jahre als Lehrer an die Gymnasien, wo sie die naturwissenschaftlichen Fächer unterrichteten. Als oberster Chef der Militärhochschule in Sofia war Fürst Alexander Battenberg sehr bemüht, die Ausbildung von Ingenieuren und Technikern f ü r die Armee zu fördern. In der an der Schule eingerichteten Technischen Abteilung wurden 1882 f ü n f , im darauffolgenden Jahr 47 Ingenieure ausgebildet. Diese dringend benötigten Experten mußten vorläufig den Platz der bisher in der Armee beschäftigten russischen Militäringenieure einnehmen. Im zivilen Bausektor, insbesondere beim Straßenbau, bei der Verlegung von Telegraphenleitungen und anderen Kommunikationseinrichtungen, in erster Linie aber bei Forschungsaufträgen und Projektierungen f ü r den Bau von Eisenbahnlinien wurden fast ausnahmslos ausländische Fachleute eingesetzt. Im August 1883 definierten der Schulrat des Ministeriums f ü r Volksbildung und der inzwischen geschaffene Staatsrat zur Vorbereitung des neuen Schuljahres 1883/84 die weiteren Schritte f ü r die Erfüllung der wissenschaftlichen Aufgaben in der staatlichen Bildungspolitik. Verabschiedet wurde ein Gesetz über die Vergabe von Stipendien und Beihilfen im Rahmen der Förderungsmaßnahmen der Regierung f ü r die staatlichen inländischen und ausländischen Bildungsanstalten 1 0 ). In diesem Gesetz wurden auch die Richtlinien f ü r eine intensive materielle Unterstützung der Auslandsstudenten seitens der Regierung festgeschrieben und weiter ausgebaut. N u n wurden junge Bulgaren, die eine Hochschulausbildung anstrebten, vom Staat planmäßig und den Fachrichtungen entsprechend gefördert. Bisher erhielten gemäß der seit Februar 1881 geltenden Verordnung des Ministeriums f ü r Volksbildung jene jungen Menschen materielle Unterstützung, die bereits ein von ihnen gewähltes Fach an einer europäischen Hochschule studierten 1 1 ). Mit dem Gesetz vom August 1883 wurde aber kategorisch festgelegt, daß in Z u k u n f t hinsichtlich der Fachrichtung jener Studierenden, die vom Staat entweder als reguläre Stipendiaten oder im Bedarfsfall durch etwaige einmalige Zuwendungen unterstützt wurden, „im vorhinein die Meinung des Ministerrates einzuholen ist" (Artikel 3). Am 21. September erging ein fürstlicher Erlaß, in dem jene Fachrichtungen festgelegt wurden, f ü r die das Ministerium f ü r Volksbildung im bevorstehenden Schuljahr 21 Stipendien zu verleihen gedachte. An erster Stelle wurden neun Stipendien an polytechnische Hochschulen vergeben: eines f ü r Architektur in München, drei f ü r das Ingenieurfach, davon zwei in Paris und eines in Prag, sowie vier weitere f ü r Physik, Mathematik und Naturwissenschaften, und 10 ) Ebenda, Nr. 94. 3. IX. 1883. >') Ebenda, Nr. 6. 7. II. 1881. Rundschreiben Nr. 371.

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zwar zwei für Moskau und je eines für Prag und Zagreb; ein Stipendium wurde für künstlerisches und technisches Zeichnen in Wien ausgeschrieben. Zum Medizinstudium wurden zwei Studenten nach Moskau und Kiev und zwei Mädchen zu den medizinischen Hochschulkursen nach Sankt Petersburg geschickt. Ein Stipendium wurde für das Studium des Forstwesens in Moskau vergeben. Nach der stark ausgeprägten Tendenz zur Heranbildung juristischer Fachleute in den ersten Jahren wurde jetzt dieser Fachrichtung nicht mehr so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Für die Rechtswissenschaften gab es ein einziges Stipendium, und zwar für die Universität Odessa. Stärker beachtet wurden auch die humanistischen Fächer und ihre neueste Entwicklung. Je ein Bewerber wurde zum Studium der Pädagogik nach Jena, Genf und Kiev geschickt, ein junger Bulgare sollte in Genf Geschichte und Philosophie studieren und zwei Studenten slawische Philologie in Moskau und Prag. Von den ausgewählen Anwärtern erwartete man viel. Es wurden jene jungen Menschen bevorzugt, die bereits an europäischen Hochschulen studiert hatten und vor Abschluß ihres Doktorates in die Heimat zurückgekehrt waren, um als Lehrer zu arbeiten oder Posten in der staatlichen Verwaltung zu bekleiden. Einer von ihnen war der später namhafte Gelehrte und Unterrichtsminister Ivan Sismanov, der als Staatsstipendiat die Lehrerbildungsanstalt in Wien besucht hatte und gleich danach in seine Vaterstadt Svistov zurückgekehrt war, um am dortigen Realgymnasium ein Jahr als Lehrer zu arbeiten. Jetzt ging er wieder als Staatsstipendiat an die Prager Universität, um das Doktorat im Fach Philologie, und nach Genf, um den Doktor der Philosophie zu erwerben. Amtlich zugelassener Anwärter für das Studium der höheren Pädagogik in Jena war Ivan Georgov aus Veles, der kurze Zeit vor SiSmanov als Staatsstipendiat die Lehrerbildungsanstalt in Wien absolviert hatte und anschließend als stellvertretender Leiter im Ministerium für Volksbildung angestellt wurde. Einer der ersten Staatsstipendiaten nach der Befreiung war auch Vasil Karagjozov, der drei Jahre lang Ingenieurwissenschaften am Polytechnikum in Stuttgart studierte, dann aber, einem Appell des Ministeriums für Volksbildung folgend, sich für ein Jahr als Lehrer an das Realgymnasium von Gabrovo verpflichtete. Jetzt erhielt er staatliche Unterstützung zur Weiterbildung im Fach Architektur. Von allen 21 Stipendiaten des Studienjahres 1883/84 hatten nur neun junge Bulgaren ihre Gymnasialbildung abgeschlossen. Im Geiste des 1883 für die Auslandsstipendiaten erlassenen Gesetzes erstreckte sich die politische und materielle Fürsorge für die Ausbildung kompetenter bulgarischer Fachleute auch auf die übrigen Ministerien. Das alles sollte dem Zweck dienen, den jeweiligen Dienststellen, die am besten über den Bedarf an Fachleuten für ihr Ressort Bescheid wußten, gerecht zu werden. Weitere Stipendiaten wurden von den Ministerien für Justiz, Finanzen, Inneres, auswärtige Angelegenheiten und konfessionelle Fragen vorgeschlagen. Ein Staatsstipendium zum Studium an der Juridischen Fakulät der Universität Heidelberg er-

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hielt der Hilfsstaatsanwalt des Bezirksgerichtes Tärnovo, Panteli Djukmedziev. Der stellvertretende Leiter des Finanzministeriums, Michail Vazov, wurde vom Dienst beurlaubt, um in Paris Finanzwissenschaften zu studieren. Ein Staatsstipendium erhielt auch der diensthabende stellvertretende Abteilungsleiter im Justizministerium und künftige aktive Politiker Vasil Radoslavov, um sein Rechtsstudium in Paris abzuschließen. Energische Schritte unternahm das Ministerium f ü r auswärtige Angelegenheiten und konfessionelle Fragen: überzeugt, daß es „keine bulgarischen Telegraphentechniker gibt" — das Post- und Telegraphenamt wurde vom Außenministerium verwaltet —, setzte es sich speziell f ü r Aleksandär Stojanov aus Veles ein, der auf eigene Kosten ein Mechanikstudium in Wien begonnen hatte; Stojanov erhielt daraufhin ein Stipendium. Dasselbe Ministerium gewährte dem Sekretär der Oberverwaltung des Post- und Telegraphenamtes, Nikola Bacarov, ein Stipendium, um den Lehrgang über „Wissenschaften der Elektrizität" an einer Spezialschule in Paris zu absolvieren. „. . .Das Ministerium denkt dabei an die Vervollkommnungen, die sich in letzter Zeit bei verschiedenen elektrischen Vorrichtungen und den neuen Erfindungen ergeben haben, die vielleicht in absehbarer Zuk u n f t einen durchgreifenden Wandel in der Telegraphenstation von heute herbeif ü h r e n könnten"; damit wurde der Antrag f ü r dieses Stipendium begründet. Darüberhinaus schlug das Ministerium auch ein allgemeines Programm f ü r die Ausbildung von bulgarischen Fachleuten f ü r sein Ressort vor: „Angesichts des weiter oben Gesagten und um die Lücke auszufüllen, die man in unserer Verwaltung wegen des Mangels an einheimischen Kräften f ü r die internationalen und überhaupt alle speziellen Angelegenheiten der Verwaltung des Post- und Telegraphenamtes feststellt, erachtet es das Ministerium f ü r notwendig, einige Jahre hintereinander mehrere Personen ins Ausland zu schicken, damit diese dort die erforderliche Ausbildung erhalten. Diese Personen sind im Prinzip von dergleichen Dienststelle zu wählen, weil sie schon einige Vorkenntnisse aufweisen und sich leichter das Wissen aneignen können, das sie später brauchen werden. Das Land, in das junge Menschen zu diesem Zweck zu delegieren sind, müßte Frankreich sein, weil a) die Studierenden das Französische beherrschen lernen müssen und b) weil es dort die besten Schulen f ü r Elektrizität gibt." 12 ) In diesem konkreten Fall wurde der Vorschlag gemacht, Bacarov ein Stipendium zu gewähren, und zwar in doppelter H ö h e der d a f ü r vorgesehenen Summe. Der Staatsrat erachtete den Antrag als zweckmäßig und stimmte zu. Ähnlich verfuhr man auch bei der Vergabe einer Reihe weiterer Stipendien durch andere Dienststellen. Auf dieser Grundlage wurde die staatliche Kultur- und Bildungspolitik bis zum Ende der achtziger Jahre beibehalten, d. h. von 1884/85 bis 1889/90: 236 neue Studenten wurden als Staatsstipendiaten vom Ministerium f ü r Volksbildung an europäische Universitäten gesandt 1 3 ).

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Ebenda, Nr. 91. 25. VIII. 1883. ) Siehe Tadzer, Bericht, beigelegte Liste der Stipendiaten im Ausland 1879—1909.

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Die Stipendiaten a n d e r e r Dienststellen sind noch immer nicht z u r G ä n z e ermittelt w o r d e n . U n b e k a n n t bleiben auch alle jene Studenten, die auf eigene Kosten in E u r o p a studierten. D e r tatsächliche U m f a n g der M i g r a t i o n bulgarischer Studenten ins Ausland w a r also im b e h a n d e l t e n Zeitraum o h n e Zweifel weit g r ö ß e r , als man v o m g e n a n n t e n Zahlenmaterial schließen kann. D a s gleiche Quellenmaterial ermöglicht, w e n n auch nicht ganz genau, den Schluß auf die F ö r d e r u n g dieser o d e r jener Fachrichtung; man ersieht daraus aber auch die d u r c h die Reglements der staatlichen Personalpolitik bevorzugten Relationen innerhalb der Fachrichtungen, H o c h s c h u l e n u n d Universitäten sowie die von den Studenten b e v o r z u g t e n europäischen Zielländer. Gleichzeitig w u r d e n 110 Studienanwärter f ü r Polytechniken, Universitäten u n d andere Spezialhochschulen ausgewählt; f ü r Ingenieurwesen u n d Architektur, M e c h a n i k u n d Technologie, M a t h e m a t i k und N a t u r k u n d e w u r d e n insgesamt 70 Stipendien vergeben. Abgesehen davon fällt die plötzliche Z u n a h m e an Bewerbungen u n d Studienplätzen in den Fächern Gewerbe u n d Landwirts c h a f t auf, nämlich 15 Stipendien dieser Art, weitere 24 Stipendien f ü r fast alle G e w e r b e u n d H a n d w e r k s b e r u f e der im Aufstieg b e g r i f f e n e n kapitalistischen W i r t s c h a f t Bulgariens kamen noch d a z u . So zeichneten sich die Ä n d e r u n g e n im Verhältnis der g e f ö r d e r t e n Fachrichtungen ab. D e r Kurs einer kontinuierlichen staatlichen Kultur- u n d Bildungspolitik w u r d e gesteuert, u m die H e r a n b i l d u n g von Fachleuten z u r L ö s u n g jener P r o b l e m e zu gewährleisten, denen das Land gegenüberstand, sowie f ü r eine beschleunigte Entwicklung der Landwirtschaft. U n t e r den europäischen H o c h s c h u l e n genossen z u r Ausbildung in diesen Fächern die Universitäten, Polytechniken u n d Spezialhochschulen Deutschlands und Ö s t e r r e i c h - U n g a r n s gleichermaßen den V o r r a n g . Vierzehn Stipendiaten w u r d e n in die Schweiz u n d acht nach R u ß l a n d geschickt. D i e Regierung Stefan Stambolov folgte diesem T r e n d d u r c h die Reglementierung der Stipendien f ü r 1886/87 u n d 1887/88. D a r ü b e r hinaus hielt sich das aktive Interesse an einer F ö r d e r u n g der Ausbildung, sowohl in der H u m a n - als auch in der Veterinärmedizin, unvermindert: 63 Stipendien w u r d e n vergeben, ein Teil davon f ü r P h a r m a k o l o g e n u n d H e b a m m e n . 20 Stipendien waren f ü r Studien in Frankreich bestimmt, 15 in der Schweiz, 13 in R u ß l a n d u n d die übrigen verteilten sich auf Deutschland, Ö s t e r r e i c h - U n g a r n u n d Belgien. Fünf Stipendiaten hatten Bukarest als Zielort gewählt, u n d zwar das dortige bek a n n t e Forschungsinstitut f ü r Immunologie. Für das Studium der Rechtswissenschaften w u r d e n bloß f ü n f Stipendien bewilligt; es blieben 44 f ü r P ä d a g o g i k u n d Philologie, davon allein 33 f ü r die letztere Studienrichtung, sowie f ü r Geschichte u n d Philosophie, Literatur u n d Kunst. Die S t u d i e n a n w ä r t e r dieser Fächer gingen in erster Linie nach Deutschland (Pädagogik) sowie nach R u ß l a n d u n d Ö s t e r r e i c h - U n g a r n (Philologie). Zwei Stipendien w a r e n insgesamt f ü r das Theologische Seminar in Kiev bestimmt, 15 f ü r Malerei u n d M u s i k (Rom, Florenz, M ü n c h e n , P r a g u n d Wien).

Migrationen bulgarischer Studenten

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Im gleichen, datumsmäßig noch nicht vollständig erfaßten Zeitraum 1 4 ) machten 34 der bulgarischen Studenten an europäischen Universitäten ihr Doktorat, davon 21 in Medizin, 5 in Rechtswissenschaften, 6 in ingenieur- und technikwissenschaftlichen sowie 2 in humanistischen Fächern. Darunter waren auch nachmalig bekannt gewordene Persönlichkeiten wie Petär Momcilov, der 1889 in Prag sein Diplom f ü r Architektur machte, A. Bukurestliev, der 1888 ebenfalls in Prag Musik absolvierte, Boris Michailov mit Zeichnen 1888 in Florenz usw. Eine strategisch richtig angelegte Staatspolitik führte nach zehn Jahren intensiver Arbeit zum Ziel: eine Hochschulbildung f ü r die bulgarische Jugend als Folge aktiver und direkter N u t z u n g der kulturellen und wissenschaftlichen Gegebenheiten europäischer Universitäten. Nicht nur der staatliche Verwaltungsapparat, die öffentliche Wirtschaft und andere Bereiche wurden mit Fachleuten versorgt, sondern auch die E r ö f f n u n g der ersten bulgarischen Universität in der Neuzeit wurde möglich. Als Ziel dieser staatlichen Bemühungen — schon 1881 in dem von K. Jirecek im Auftrag des Fürsten Alexander Battenberg ausgearbeiteten Programm über Zustand und Aufgaben des Bildungswesens im Lande vorgesehen — wurde die Universität 1889 in der Hauptstadt Sofia eröffnet. Ihr Lehrkörper rekrutierte sich aus dem Kreise gerade jener Intelligenz der Zeit nach der Befreiung, die in diesen Jahren in Europa studiert und Anschluß an die weltweite wissenschaftlich-technische Entwicklung gefunden hatte. Sehr bald wurde nach der juridischen, historisch-philologischen und pädagogischen auch eine technische Fakultät eingerichtet. Die Universitätsgründung war eine Folge der staatlich stimulierten Migration der bulgarischen Jugend zur Erlangung einer Hochschulbildung in Europa; im Laufe von nur zehn Jahren forcierter staatlicher Aufbauarbeit — und das in einer unruhigen Zeit zwischenparteilicher Streitigkeiten, eines Krieges und des ständigen Drucks der europäischen Diplomatie auf die Anwendung des f ü r Bulgarien nachteiligen Berliner Vertragswerkes — wurden die wichtigsten Bereiche staatlicher Verwaltung mit einheimischen Fachleuten besetzt. Der Bedarf an kompetenten Fachleuten war im wesentlichen gedeckt, einschließlich der Ausbildung jener Lehrer, die wieder den Nachwuchs heranzubilden hatten. In den neunziger Jahren und danach ließ die Migration bulgarischer Studenten ins Ausland jedoch nicht nach. Die Errichtung einer eigenen H o c h schule wirkte sich überhaupt nicht dämpfend aus; die bulgarische Hochschulbildung erforderte es, d a ß gerade diese Einrichtung weiterentwickelt und auf den letzten Stand gebracht wurde. Das konnte nur durch Vertiefung der Kontakte mit den Seminaren, Lehrstühlen und Schulen, den Laboratorien und Kliniken, der wissenschaftlichen Forschungsarbeit und Ausbildung an den europä14 ) Disertacii zazstiteni v c u i b i n a ot bälgari 1878 —1968 (Dissertationen, die im Ausland von Bulgaren 1878 —1968 verteidigt wurden). Quellennachweis. Nationalbibliothek „Kiril i Metodij", hrsg. von M. Lazarov und ]. Danceva, Sofija 1975.

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ischen Universitäten bewerkstelligt werden. Die staatliche Kultur- und Bildungspolitik pflegte weiterhin die direke materielle Förderung der studentischen Migration nach Europa. Bis zum Ende der Regierungszeit Stefan Stambolovs, genauer gesagt in den beiden Jahren 1892 und 1893, reisten 107 Studenten mit Staatsstipendien ins Ausland: Zum Studium der ingenieurwissenschaftlich-technischen Fächer Architektur, Mathematik und N a t u r k u n d e gingen sie meist nach Wien, Paris, Genf, Zürich und vor allem an ausbildungsadäquate deutsche Universitäten und Polytechniken. Für das Medizinstudium wurden 20 Stipendien vergeben, die fast ausnahmslos f ü r Frankreich galten. Unter den Stipendiaten war auch der nachmalig große bulgarische Gelehrte Metodij Popov, der in Lyon bis 1894 Medizin und später in München Naturwissenschaften studierte. Der Akzent lag aber auf den pädagogischen Fächern: 21 Stipendien wurden vornehmlich f ü r Jena und Dresden ausgeschrieben. Für Philologie wurden zehn Stipendien vergeben — wiederum in erster Linie f ü r deutsche Universitäten. U n t e r den Stipendiaten war auch der künftige Professor f ü r alte Geschichte Gavril Kacarov, der 1894 in Leipzig promovierte. Vorrangig behandelt wurden auch die Stipendien f ü r Finanzwissenschaften; drei davon wurden f ü r Paris ausgeschrieben. Erstmalig wurde ein Stipendium f ü r ein Archäologiestudium in Berlin vergeben, und zwar an Vasil Zlatarski, der später ein berühmter Historiker werden sollte. Die Naturwissenschaften wurden weiterhin gefördert. Gewährt wurden auch zwei neue Stipendien f ü r Literatur in Leipzig, von denen eines der bekannte Dichter Penco Slavejkov erhielt. Auch die Begabtenförderung auf dem Gebiet der Künste wurde nicht übergangen. Man gewährte zwei Stipendien f ü r Malerei (Florenz) und Bühnenkunst (Moskau). Mit einem solchen Stipendium kam auch die später so bekannte Schauspielerin Adriana Budevska nach Rußland. In gleichem Stil und mit der gleichen aktiven Staatspolitik regierte später selbst die Volkspartei. Die Mittel, die jährlich vom Ministerium f ü r Volksbildung f ü r den Unterhalt der Staatsstipendiaten im Ausland bewilligt wurden, erreichten in dieser Zeit ihr Höchstausmaß mit bis zu 600.000 Leva. Bislang nicht erforscht sind aber die Unterlagen über jene Mittel, die andere Ministerien f ü r diesen Zweck ausgegeben haben. 1895 bis 1898 gingen 121 weitere Stipendiaten ins Ausland. Davon erhielten fast die Hälfte, nämlich 55 Stipendien, die Mediziner; in erster Linie handelte es sich um Stipendien nach Frankreich: Montpellier, Paris, Nancy, Lyon, Lille, Bordeaux und Toulouse. Nach dem schlagartigen Anstieg der Stipendienzahl f ü r Ingenieur- und technische Wissenschaften sowie f ü r naturwissenschaftliche Fächer in der Zeitspanne von 1884 bis 1889 ging diese Zahl allmählich zurück; zuletzt waren es nur siebzehn. Zugenommen hat die Zahl der Architekturstipendien. Erstmals wurde auch ein Stipendium f ü r Altgriechisch und allgemeine klassische Philologie vergeben, das dem bemerkenswerten Talent eines Aleksandär Balabanov f ü r seine Studien in

M i g r a t i o n e n bulgarischer Studenten

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Tübingen und Erlangen gewährt wurde. Die Zahl der Kunststipendien wurde erhöht, und zwar durch Vergabe der ersten Zuwendungen für Musik (Frankreich, Italien, Schweiz, Deutschland), für Bühnenkunst (Moskau und Sankt Petersburg) und Bildhauerei (München); insgesamt waren es zwölf Stipendien. Ein Stipendiat wurde zum Studium der Agronomie nach Kopenhagen entsandt. In den neunziger Jahren erhielten in summa 240 Bulgaren Auslandsstipendien zum Studium an europäischen Universitäten: 93 Mediziner, 46 Studenten der ingenieurwissenschaftlichen und technischen Fächer wie Architektur, Mathematik und Naturwissenschaften, 15 für Wirtschaftswissenschaften. 68 für Gesellschafts- und humanistische Wissenschaften, davon 40 für Philologie, die ausnahmslos für ein Studium westlicher Sprachen bestimmt waren, 5 Studienplätze für klassische Sprachen, 1 Stipendium für slawische Philologie und 18 für die Schönen Künste. Im gleichen Zeitraum studierten 140 Bulgaren auf eigene Kosten in Europa und machten auch ihr Doktorat, und zwar 75 in Medizin, 23 in ingenieurwissenschaftlich-technischen und naturwissenschaftlichen Fächern, 42 in Gesellschaftswissenschaften und Schönen Künsten. Natürlich wählten alle Studenten, gleich ob sie ein Stipendium erhielten oder nicht, ähnliche Fächer, da dies letzten Endes von den gleichen Ansprüchen des Staates und der Gesellschaft diktiert wurde, nämlich vom Bedarf an kompetenten Fachleuten für die verschiedenen Bereiche der Staatsverwaltung, des Wirtschafts- und des Geisteslebens im Sinne der nationalen Entwicklung. Die Auslandsstudien der bulgarischen Jugend erhielten nun auch in der staatlichen Reglementierung einen neuen Schwerpunkt: die humanistischen Wissenschaften und Künste rückten immer mehr in den Vordergrund, also jene, die seinerzeit, als der Bedarf an Verwaltungsfachleuten gedeckt werden mußte, weit weniger gefördert worden waren. Der direkte Eingriff des Staates änderte sich weiterhin. Die forcierte Ausbildung von Fachleuten für den Aufbau eines unabhängigen Staatsapparates war rechtzeitig durch eine relativ strenge Reglementierung verwirklicht worden. Jetzt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, schien es zweckmäßig, die bisherige massive finanzielle Förderung durch den Staat und die direkte kulturpolitische Steuerung der studentischen Migration mit Hilfe der Stipendienprogramme wesentlich einzuschränken. In den Jahren 1899 und 1900 wurden nur zwölf Staatsstipendien ins Ausland vergeben, davon acht zur medizinischen Ausbildung, die hier ständig Nachwuchs benötigte, ein einziges Stipendium für die damals modernste wissenschaftliche Studienrichtung, die Ausbildung zum Elektroingenieur; erstmals wurde ein Stipendium für soziales Arbeitsrecht vergeben, zwei für Musik und Malerei. Das aber bedeutete noch längst nicht die Reduzierung der studentischen Migration. Im Jahre 1898 wurde bereits ein Gesetz in Kraft gesetzt, das die Legalisierung der Auslandsdiplome jener bulgarischen Studenten regelte, die keine Stipendien erhalten, im Ausland nach freier Wahl ein Fach belegt und darin promoviert hatten. Durch dieses Gesetz erklärte sich der Staat mit der „freien"

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Fachwahl des Studenten einverstanden, soferne diese nicht über den Rahmen der realen Kulturbedürfnisse Bulgariens hinausging und sich auch weiterhin in diesem Rahmen hielt. Auch künftighin sollte sie der Sättigung oder dem schwächeren Angebot in bestimmten öffentlichen Bereichen des Landes entsprechen und die Ü b e r n a h m e ausländischer Errungenschaften und Erkenntnisse sowie die Beteiligung am gesamteuropäischen wissenschaftlich-technischen Fortschritt garantieren. In diesem Sinne sollte die Ausbildung der Kultur- und Bildungsfachleute um die Jahrhundertwende und im ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts zu einer allseitigen und wechselweisen Durchdringung führen, zu einer Wechselwirkung zwischen den Bedürfnissen des Staates, den Aufgaben des Landes und seiner geistigen Entwicklung einerseits, und dem gesamteuropäischen Kulturprozeß als Ergebnis der übernationalen Gesetze der Wissenschaft und der geistigen Kultur andererseits. Im ganzen ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts wurden 53 Studenten als Staatsstipendiaten ausgeschickt, durchschnittlich vier bis fünf pro Jahr; nur im Jahre 1906 waren es elf Studenten, vornehmlich zum Studium der humanistischen Wissenschaften und Künste. Als Stipendiaten gingen später so bedeutende bildende Künstler zur Ausbildung an eine Hochschule in Europa wie C e n o T o d o r o v (Malerei, Paris 1901) und Meister Vladimir Dimitrov (dekorative Kunst, Paris 1906). Für die ingenieurwissenschaftlich-technischen Fächer Mechanik, Technik, Industrie und Naturwissenschaften wurden neun Stipendien bewilligt, und zwar f ü r Deutschland, Belgien und die Schweiz; doch allein f ü r französische Sprache waren es jetzt zwölf, f ü r deutsche Philologie sechs, f ü r slawische Philologie drei, f ü r klassische Philologie zwei, und ein Stipendium wurde f ü r das Studium orientalischer Sprachen vergeben. Zehn Stipendiaten wollten Kunst studieren: Malerei, Musik und Schauspielkunst, wobei Paris, Dresden, Wien, Berlin und Moskau bevorzugt wurden. D e r Strom der auf eigene Kosten an den europäischen Universitäten studierenden bulgarischen Jugend nahm aber quantitativ weiterhin zu 15 ). Aus den bisher untersuchten Quellen ist ersichtlich, daß die Zahl der im Ausland promovierten bulgarischen Studenten um das Ende des ersten Jahrzehnts und bis zum Eintritt Bulgariens in den Ersten Weltkrieg 1 6 ) insgesamt doch 319 Absolventen ausmachte. Die von ihnen gewählten Fachrichtungen bezeugen wechselnde Interessensschwerpunkte und den vorübergehenden Ausgleich im Verhältnis zwischen den exakten und den humanistischen Wissenschaften. Wieder inskribierte eine große Anzahl von Studenten an den juridischen Fakultäten der europäischen Universitäten. Doch die Fachrichtungen waren jetzt von anderer Art: Das Schwergewicht wurde auf sozialrechtliche Probleme gelegt und hatte 15 ) Archiv na Ministerstvoto na n a r o d n o t o prosvestenie (Archiv des Ministeriums f ü r Volksbildung), kn. 2, 1910. " ) Siehe Disertacii . . . (Dissertationen . . .).

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die Regelung der widersprüchlichen sozialen Verhältnisse zum Inhalt. Nun wurden mit Nachdruck Fachleute für die Wirtschaft und das Bauwesen ausgebildet, und zwar mit starker Betonung der ingenieurwissenschaftlich-technischen Fächer. Die in jener Zeit im Lande abrollende industrielle Revolution erweckte zweifelsohne selbst den Bedarf an relevanten Fachleuten. Unverändert war auch die Zahl auszubildender medizinischer Fachkräfte. Die zweckorientierte und bedarfsgerechte Ausbildung von Fachleuten „nach freier Wahl" gestattete es dem Staat, nur die Ausbildung jener Studenten in die Hand zu nehmen, die er unmittelbar benötigte, sei es die Ausbildung von Universitätslehrern für die Aufgaben der Wirtschaft sowie für Bauvorhaben und Dolmetscherdienste. Durch diese Fachleute wurde ein internationaler Kontakt gewährleistet und eine Beteiligung des Landes am gesamteuropäischen Kulturprozeß und am wissenschaftlich-technischen Fortschritt angebahnt. Zusammenfassend können wir sagen, daß nach vorliegenden Quellen zwischen 1879 und 1915 nicht weniger als 1148 Bulgaren an der Migration der Studenten an europäische Universitäten beteiligt waren. Von Bedeutung war die Zahl jener Studenten, die in Wien verschiedene Studienrichtungen belegten, in erster Linie Medizin und ingenieurwissenschaftlich-technische Fächer. Die zahlenmäßig stärkste Migration der Medizinstudenten erfolgte aber nach Frankreich. An den Polytechniken, Universitäten und technischen Hochschulen Deutschlands studierte der überwiegende Teil aller bulgarischen Studenten, die die exakten Wissenschaften als Studienrichtung gewählt hatten. Die rechtswissenschaftlichen Fakultäten der französischen Universitäten nahmen die meisten bulgarischen Jusstudenten auf. Florenz, Rom, Paris, München, Dresden, Wien und Prag zogen die Studenten der Künste — Malerei und Musik — an. Moskau und Sankt Petersburg waren Ziele für Studenten der Bühnenkunst und der Bildhauerei. Nach den Unterlagen für die Staatsstipendiaten bis zum 1. Jänner 1910, die um neuentdecktes Quellenmaterial bereichert werden konnten, gingen nach 1878 viele bulgarische Studenten nach Wien an Universität und Hochschulen und an andere Österreich-ungarische höhere Bildungseinrichtungen; insgesamt handelte es sich um 77 Personen, deren überwiegende Mehrheit Medizin (24 Studenten) und ingenieurwissenschaftlich-technische Fächer wie Architektur (26 Studenten) inskribierten. Sieben Stipendien wurden für Musik in Wien und Prag vergeben. Insgesamt 32 Studenen studierten in Prag in erster Linie Architektur und ingenieurwissenschaftlich-technische Fächer, Industrie, Philologie und Musik. Insgesamt waren es 109 bulgarische Studenten der genannten Fachrichtungen, die mit einem staatlichen Stipendium in Österreich-Ungarn studierten. In Frankreich belegten die bulgarischen Studenten vornehmlich Medizin: 30 Studenten in Montpellier, ebenso viele in Lyon, 15 in Nancy und kleinere Gruppen in Paris und an anderen französischen Universitäten. Nach

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Frankreich gingen auch alle jene Stipendiaten, die den Beruf eines Elektroingenieurs ergreifen wollten, und eine bedeutende Zahl von Studenten studierte Jus und Finanzwissenschaften, vor allem in Paris und Aix-en-Provence. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wurde eine Gruppe von 17 Personen zum Studium der französischen Sprache und romanischen Philologie bestimmt. Insgesamt waren es in Frankreich 130 junge Bulgaren. In Rußland — Moskau, Sankt Petersburg, Odessa, Char'kov und Kiev — studierten nicht weniger als 50 bulgarische Studenten Medizin und Rechtswissenschaften, viele auch an den russischen technischen Instituten und Polytechniken. Eine bedeutende Anzahl von Stipendien wurde für Theologie und Philologie gewährt. Insgesamt studierten zu dieser Zeit an die hundert Bulgaren in Rußland. An den deutschen Universitäten und an anderen höheren Lehranstalten inskribierten um das Ende des 19. Jahrhunderts die meisten Studenten Pädagogik, Geschichtsphilosophie und besonders Naturwissenschaften wie Mathematik, Physik und Chemie und an den ingenieurwissenschaftlich-technischen Instituten Architektur und andere ingenieurwissenschaftlich-technische Fächer. Die Gesamtzahl der bulgarischen Studenten in Deutschland entsprach jener in Österreich-Ungarn und Frankreich zusammengenommen; während des Ersten Weltkrieges machten in Deutschland die Bulgaren sogar die Mehrheit der Auslandsstudenten aus. In der Schweiz — Zürich, Genf, Lausanne — studierten ebenfalls viele Bulgaren, und zwar sowohl Medizin als auch an den polytechnischen Hochschuleinrichtungen des Landes. Zum Studium der bildenden Künste gingen die Bulgaren in die seinerzeit bekanntesten Kunstschulen der verschiedenen europäischen Länder. Die Migration bulgarischer Studenten erfaßte ganz Europa. Auf dieser Grundlage wuchs schon in den ersten zwei bis drei Dezennien nach der Wiederherstellung des bulgarischen Staates eine bulgarische Intelligenz heran, die hervorragende Namen von Gelehrten, Staatsmännern und Künstlern hervorbrachte, die den Staat und die Kultur des neuen Bulgarien als Teil der gesamteuropäischen Wissenschaft und des weltweiten kulturellen Fortschritts gestalten half. Eine solche Schlußfolgerung ist jedoch bloß ein erster Versuch. Zu den sich abzeichnenden Problemen des Themas aus bulgarischer Sicht steht noch eine enorme Forschungsarbeit sowie eine historische Analyse der konkreten Prozesse und der fundamentalsten Wechselwirkungen zwischen den europäischen universitären Forschungseinrichtungen und der bulgarischen Kulturentwicklung bevor.

D A N BERINDEI

RUMÄNISCHE S T U D E N T E N IM AUSLAND U N D DIE E N T S T E H U N G DES M O D E R N E N RUMÄNIEN IM 19. J A H R H U N D E R T

In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts erlebte die rumänische Nation, wie auch andere Nationen in Mittel- und Südosteuropa, eine Zeit der Renaissance. Zweifellos handelte es sich nicht um einen Vorgang, der sich auf einmal vollzog, sondern um ein stufenweises und zunehmend machtvolles Einbezogenwerden aller Rumänen in eine soziale und nationale Befreiungsbewegung. Als ihr Ziel begann sich allmählich ein künftiges Rumänien abzuzeichnen, das alle Rumänen umfassen sollte, die sich zu jener Zeit noch unter verschiedener Herrschaft bzw. in verschiedenen Einflußbereichen befanden. Es entstand ein einheitlicher, selbstverständlich unabhängiger und moderner Staat. Die Schlußphase dieses historischen Werdegangs sollte erst 1918 abgeschlossen werden, da in diesem Jahr die in früheren Etappen teilweise erreichten Zielsetzungen verwirklicht werden konnten. Der Unterschied zwischen dem neuen, einheitlichen Nationalstaat einerseits und den beiden autonomen Fürstentümern Walachei und Moldau, die bis 1821 die türkisch-fanariotische Unterdrückung erdulden mußten, andererseits war bemerkenswert. Dazu kam noch die schwere Lage jener Rumänen, die direkt der Fremdherrschaft und den Diskriminierungen außerhalb der Grenzen ihres Landes ausgesetzt waren. Die Befreiung, die Vereinigung aller Rumänen innerhalb einheitlicher Grenzen, ihre Unabhängigkeit und selbst die Modernisierung des Landes waren das Werk nachhaltiger Bemühungen mehrerer aufeinanderfolgenden Generationen der Rumänen, die zur Verwirklichung der großen nationalen Bestrebungen beitrugen und dabei nach Möglichkeit auch die vorteilhafte internationale Lage ausnutzten. Bei diesem Ubergang vom „alten Regime" zu einer modernen Gesellschaft spielte die öffentliche Bildung selbstverständlich eine bedeutende Rolle. Gheorghe Asachi, eine führende Persönlichkeit des kulturellen Lebens Rumäniens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, betrachtete die Bildung als ein „moralisches Besitztum, durch das eine Nation machtvoll und glücklich wird" 1 ). Er ') S. und F. Bärsänescu: Dicfionar cronologic. Educafia, inväpämintul, gindirea pedagogicä din Romänia (Chronologisches Wörterbuch. Erziehung, Unterricht und pädagogisches Denken in Rumänien). Bucurejti 1978.

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brachte damit die Meinung aller führenden Persönlichkeiten zum Ausdruck, die sich der Neuerungen und Umwälzungen bewußt waren, mit denen das rumänische Volk zu jener Zeit konfrontiert war. Nicolae Bälcescu, der Ideologe der walachischen Revolution von 1848, erklärte, daß der Bürger eines solchen Staates, wie er sich das künftige Rumänien erträumte, unbedingt „ein Mensch mit einem durch Bildung veredelten Verstand" sein müsse 2 ). Anders gesagt sollte die Bildung also ein wertvolles Werkzeug im umfassenden Gesamtwerk jener Umgestaltung werden, die sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens vollzogen. Eigentlich war das gar nichts Neues; so wurde etwa in einer im Frühjahr 1746 verfaßten Urkunde der Bojaren, die in der Walachei hohe Staatsämter bekleideten, festgehalten: „ . . . die Gelehrsamkeit ist ehrenvollster Schmuck und Leidenschaft" der Bojarensöhne 3 ). Allerdings verzeichnen wir im Vergleich dazu im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts eine stärkere Wirkung des Unterrichts auf die Gesellschaft, vor allem in der Walachei, wo zur Zeit der Herrschaft von Alexandra Ghica (1834—1842) auch ein umfangreiches Netz von Dorfschulen gegründet wurde. Damit konnte eine stetig steigende Zahl von Jugendlichen aus der Mittelschicht eine höhere Schulbildung erwerben, umso mehr, als es zugleich Bestrebungen gab, das Niveau der rumänischen Schule auf den Stand des modernen „europäischen" Unterrichts zu bringen. Traditionen waren vorhanden, vor allem bei der herrschenden Bojarenschicht. Mihai, der Sohn des walachischen Herrschers Mircea cel Bätrin (Mircea der Alte, 1386—1418), hatte sich in Byzanz selbstverständlich vor allem die Kunst des Umgangs mit Waffen, aber auch andere Kenntnisse angeeignet. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war ein rumänischer Fürst, Neagoe Basarab, Autor oder doch zumindest Auftraggeber und geistiger Urheber der „Lehren" für seinen Sohn Teodosie. Petru Cercel, der Bruder Michaels des Tapferen, jenes Herrschers, dem es für kurze Zeit gelungen war, die Walachei, Siebenbürgen und die Moldau seiner Autorität zu unterwerfen, und der dadurch zum Symbol der Vereinigung der Rumänen wurde, schrieb Ende desselben Jahrhunderts Gedichte in italienischer Sprache, und der Sohn des moldauischen Herrschers Petru §chiopul studierte gar bei den Jesuiten in Innsbruck. Ebenfalls im 16. Jahrhundert gab es außer der von siebenbürgischen Fürsten gegründeten Universität Cluj auch in der Moldau eine vom Abenteurer Despot — vormals selbst Student der Medizin in Montpellier — gegründete „Schola latina" in Cotnari, wo — kurzfristig wie die Anstalt selbst — Gaspar Peucerus aus Wittenberg als Professor gewirkt hat. Die moldauischen Bojaren schickten ihre Söhne zum Studium nach Polen. Eine solche Erziehung genossen unter anderen die Chronisten Grigore Ureche und Miron Costin. Aus

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) N. Bälcescu: Opere (Werke). Bd. 2. Bucurejti 1982. S. 124. ) Zitiert nach M. Bordeanu und P. Vladcovscbi: Inväfämintul romänesc in date (Der rumänische Unterricht in Daten). Ia$i 1970. S. 37. 3

Rumänische Studenten im Ausland

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der Walachei zog Constantin Cantacuzino zu Studienzwecken nach Adrianopel, nach Konstantinopel und schließlich nach Padua, während sein Bruder Mihai in Polen und Deutschland studierte. Die Siebenbürger studierten zur gleichen Zeit zu H u n d e r t e n vor allem an deutschen Universitäten, aber unter ihnen war die Zahl der in Siebenbürgen diskriminierten Rumänen sehr gering. Die Rolle der Walachei und der Moldau in der orthodoxen Welt war deshalb so bedeutend, da die Christen in den von der Pforte unmittelbar beherrschten Ländern von den Fürstentümern aus unterstützt wurden. U m die Mitte des 17. Jahrhunderts wollte der moldauische Fürst Vasile Lupu die Rolle der byzantinischen Kaiser im kulturellen Bereich übernehmen. Rumänische Drucke gibt es seit dem 16. Jahrhundert, wobei die Bücher an alle Rumänen gerichtet waren, unabhängig davon, in welchem Land das Buch erschienen war. Ende des 17. Jahrhunderts wurde in Bukarest eine Akademie gegründet, die in der unter türkischer Herrschaft stehenden orthodoxen Welt eineinhalb Jahrhunderte lang eine bedeutende Rolle spielte. Nach der Inthronisation der aus Fanar, dem griechischen Vorort von Konstantinopel stammenden Herrscher über die rumänischen Fürstentümer wurde sie zu einer griechischen Hochschule umgestaltet 4 ); die verbliebenen rumänischen Unterrichtsanstalten spielten im Vergleich dazu nur eine untergeordnete Rolle. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts ragte unter den Rumänen der gelehrte moldauische Fürst Dimitrie Cantemir heraus, ein Mitglied der Akademie von Berlin und einer der Gelehrten, die Europa die Einsicht in die Welt des Osmanischen Reiches ermöglichten. In der Fanariotenzeit wurden in den rumänischen Fürstentümern weitere rumänische und parallel dazu auch griechische Drucke angefertigt. Aber die Bemühungen um die Förderung der Bildung beschränkten sich meist auf die herrschende Klasse. Der moldauische Fürst Grigore Ghica, den die Türken 1777 hinrichteten, da er sich weigerte, den nördlichen Teil seines Landes, die Bukowina, an Osterreich abzutreten, hatte schon 1775 die A u f n a h m e junger Bojaren in höhere Ämter vom Abschluß eines fünfjährigen Studiums abhängig gemacht. Aber das kulturelle Leben wurde durch den türkischen Argwohn praktisch lahmgelegt. Als Constantin Mavrocordat zwölf junge Bojaren zum Studium nach Italien schickte, wurde er von Gegnern verraten und dazu gezwungen, sie schleunigst zurückzurufen. U n d als ein junger Bojare namens Cälinescu versuchte, zum Medizinstudium nach Deutschland zu reisen, ohne vorher um Genehmigung anzusuchen, wurde er bestraft 5 ). Natürlich darf nichts verallgemeinert werden. Mihail, ein Schüler des Me-

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) Siehe A. Camariano-Cioran: Les Académies princières de Bucarest et Jassy et leurs professeurs. Thessaloniki 1974. 5 ) N. Iorga: Românii în sträinätate de-a lungul timpurilor (Die Rumänen im Ausland im Laufe der Zeiten). Välenii de Münte 1935. S. 129.

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tropoliten der Walachei Antim Ivireanu, zog „aus dem Wunsch nach höherer Gelehrsamkeit" nach Holland, und Ioan Calimachi, der später zum Herrscher der Moldau wurde, war es gelungen, in Lemberg zu studieren. Amfilohie, späterer Bischof von Hotin, studierte in Rom, und Scarlat Sturdza, den der russische Zar nach dem Anschluß dieses Teils der Moldau an sein Reich zum Gouverneur Bessarabiens ernannte, ist im Herbst des Jahres 1771 als Student in Leipzig verzeichnet 6 ). Die Bojaren Olteniens, die bescheidener, aber auch praktischer waren, sandten nicht nur ihre Söhne, sondern auch ihre Töchter ins Kloster von Hermannstadt (Sibiu) in Siebenbürgen, wo sie Deutsch, vor allem aber Französisch lernten und nicht selten auch Klavierunterricht nahmen, was sich übrigens auch der K a u f m a n n Ioan Bälu|;ä aus der Walachei im Jahre 1818 f ü r seine Tochter wünschte. Nachdrücklich aber beharrten die Herrscher und Bojaren darauf, sich fremde und vor allem französische Erzieher zu halten, die sie manchmal auch als Sekretäre benützten und mit deren Hilfe sie die Erziehung ihrer N a c h k o m m e n sicherten. W e n n schon in der Walachei und der Moldau politische Hindernisse sogar f ü r die Fürstensöhne die Möglichkeiten der Aneignung hoher Bildung einschränkten, so bot die Annahme der Union mit Rom durch einen Teil der Rumänen in Siebenbürgen den griechisch-katholischen Rumänen neue Studienmöglichkeiten und eröffnete zugleich dem nationalen Erwachen aller Rumänen neue Perspektiven. Die Koryphäen der sogenannten „$coala ardeleanä" (Siebenbürgische Schule) — Samuel Micu Klein, Gheorghe Sincai, Petru Maior und Ion Budai Deleanu — haben in Rom und Wien nicht nur Theologie, Philosophie und kanonisches Recht studiert, sondern sie sind in erster Linie auch mit einer historischen Literatur in Kontakt gekommen, die ihnen das Alter und die Latinität ihres eigenen Volkes bestätigten. Diese bewiesen sie dann auch in ihren historischen Schriften, und das, obwohl sie doch in erster Linie Diener der Kirche waren 7 ). Ihre Arbeiten lagen dem „Supplex libellus Valachorum" von 1791 zugrunde, und auch sie trugen zur nationalen Belebung aller Rumänen bei. Eine Arbeit von Petru Maior, „Inceputurile Romänilor in Dacia" (Die Anfänge der Rumänen in Dazien), erschien 1812 in Buda, da die ungarische und die rumänische Bewegung der nationalen kulturellen Erweckung in dieser Zeit zusammenarbeiteten. Es war nicht nur ein wissenschaftliches Werk, sondern auch eine Botschaft an die Nation und ihre Führer. Ihre Auswirkungen können von T u d o r Vladimirescu, dem Führer der walachischen Revolution von 1821, der das Werk 1816 gelesen hatte, bis zum Walachen Heliade Rädulescu oder zum M o l d a u e r Mihail Kogälniceanu verfolgt werden, um nur einige zu erwähnen. Die Koryphäen der Siebenbürgischen Schule haben also tatsächlich

' ) D. C. Amzär: Studenfii romàni la Universitatea din Leipzig (Die rumänischen Studenten an der Universität Leipzig). In: Cercetäri Literare. Bucurejti 1943. 5. S. 21, 35. ') I. Lungu: $coala ardeleanä (Die Siebenbürgische Schule). Bucurejti 1978, passim.

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die Reihe der rumänischen Studenten im Ausland angeführt, die in der Zeit der Schaffung des modernen Rumänien zu verzeichnen sind. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts brachen die Dämme selbst in den Fürstentümern Moldau und Walachei, wenn auch die Möglichkeiten eines Auslandsstudiums zu dieser Zeit im allgemeinen nur den Bojarensöhnen offenstanden. Teodor Bai? und Vasile Bai? sind in Wien verzeichnet, Nicolae Roznovanu studierte drei Jahre lang in Deutschland und in Frankreich, die moldauischen Brüder Conachi hielten sich 1800 in Wien und 1802 in Jena auf, „um nötiges Wissen zu erwerben"; Scarlat Cananäu ging nach Berlin, Costachi Cantacuzino um 1809 nach Wien, und einen anderen moldauischen Bojaren, Gheorghe Bogdan, der zwar das Studentenalter schon hinter sich hatte, aber trotzdem bemüht war, sich in den Rechtswissenschaften weiterzubilden, treffen wir 1804 in Paris an 8 ). Zum Unterschied von den anderen und auch von allen, die wir während der folgenden Jahrzehnte antreffen werden, kehrte er als einziger nicht in die Moldau zurück, sondern blieb mehr als zwei Jahrzehnte in Westeuropa, und das auch dann noch, als sein Vetter Ionipä Sandu Sturdza im Jahre 1822 Herrscher der Moldau wurde 9 ). Gegen Ende des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts, also noch vor dem Ende der Fanariotenherrschaft, führten Gheorghe Asachi, der in Lemberg, Wien und Rom studiert hatte 10 ), in Jassy und der Siebenbürger Gheorghe Lazär in Bukarest den Hochschulunterricht in rumänischer Sprache ein; diesen stellten sie dem griechischen Hochschulunterricht gegenüber, wobei sie — ein Zeichen der neuen Zeit — das Hauptgewicht auf die Ausbildung von Vermessungsingenieuren legten. Ab 1792 zeichnete sich in den Fürstentümern ein Interesse für die „realen" Fächer ab; Anlaß dazu war die Reorganisation des Unterrichts in der Moldau, als die Bojaren des Diwan von Jassy meinten, eine Akademie ohne „reale" Fächer sei „wie ein Haus ohne Fenster". Und wieder studierte die rumänische Jugend auch im Ausland. Unter den ersten „modernen" Studenten in Paris waren die Söhne des oltenischen Bojaren Dimitrie Bibescu, die späteren Herrscher über die Walachei Gheorghe Bibescu (1842—1848) und Barbu $tirbei (1849—1856)"). Es gab aber auch Kritiker. „Europa" — heißt es in einem rumänischen Dokument dieser Zeit — „hat für-

8 ) N. lorga: Istoria inväfämintului românesc ( D i e Geschichte des rumänischen Schulwesens). Bucureçti 1928. S. 133 — 137. ') N. Iorga: Vicisitudinile celui dintîi Student m o l d o v e a n la Paris: Gh. Bogdan ( D i e Leiden des ersten moldauischen Studenten in Paris: Gh. Bogdan). In: Academia Romänä: Memoriile Secfiunii Istorice. 3. 1933. X I V . S. 365 f. 10 ) E. Lovinescu: Gh. Asachi. Viafa çi opera sa (Gh. Asachi. Sein Leben und sein Werk). Bucureçti 1927. S. 22 f. n ) P. Eliade : La R o u m a n i e au X I X e siècle. Bd. 2. Paris 1914. S. 254; Iorga, Istoria inväfämintului românesc, S. 137; N. Iorga: Contribuai la istoria inväfämintului in farà çi in sträinätate. 1 7 8 0 — 1 8 3 0 (Beiträge zur Geschichte des Schulwesens im Inland und im Ausland). In: Academia R o m ä n ä . Memoriile Secfiunii Istorice. 2. 1906—1907. X X I X . S. 51 ff.

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wahr viele gute und leicht zu erlernende Dinge, aber nur für die Würdigen und Strebsamen; es hat jedoch auch unzählige Mißstände für die Faulen und Zügellosen" 1 2 ). Später, um 1836, sollte gerade Petrache Poenaru, dem ein Stipendium einen siebenjährigen Studienaufenthalt im Ausland ermöglicht hatte, kritisch bemerken, daß jemand, der sich den Prüfungen der jungen Leute vom Land unterzogen hatte, „sich leicht davon überzeugen könnte, daß es nicht unbedingt nötig wäre, seine Kinder in zu zartem Alter auf die Schule ins Ausland zu schicken, damit sie von dort als was immer, aber jedenfalls nicht mehr als Rumänen", zurückkehrten 1 3 ). E r bezog sich in diesem Kommentar eindeutig weniger auf Studenten als auf Schüler. Seit dem Ende der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts besuchten immer mehr Jugendliche ausländische Universitäten, wobei sie verschiedene Hochschulzentren wählten. Die meisten Walachen studierten in Paris und einige in Genf, die Siebenbürger studierten vor allem in Wien und einige auch in Pest, während die Moldauer in einer ersten Etappe Osterreich und Deutschland bevorzugten, wobei mancher jedoch später nach Paris zog. Übrigens wurden auch aus der Walachei Stipendiaten nach Berlin geschickt (z. B. Mihai Goga, der Naturwissenschaften studierte, oder I. Zalomit, der philosophischen Studien nachging) 14 ). Einige rumänische Jugendliche gingen auch nach Moskau, doch sind das nicht allzu viele, darunter z. B. ein gewisser Gänescu, der in Rußland Medizin studierte. Im Jahre 1847 forderte das russische Generalkonsulat die jungen „adeligen" Rumänen auf, die Kurse der Rechts-Akademie in Petersburg zu besuchen 15 ). Selbst bis Edinburgh ist um diese Zeit ein Rumäne gelangt! Unter den deutschen Universitäten wurden Leipzig 16 ), Berlin 17 ) und München bevorzugt. In Leipzig inskribierten zwischen 1821 und 1848 sieben rumänische Jugendliche; drei von ihnen studierten Medizin 1 8 ). Übrigens war es auffällig, daß alle Mediziner Osterreich und Deutschland bevorzugten — mit Ausnahme einiger Griechen in den zwanziger Jahren sowie des ersten Arztes aus einer walachischen Bojarenfamilie, Nicolae Crefulescu, der in Paris studiert hatte. Im Jahre 1833 promovierten 27 aus der Walachei stammende Doktoren der Medizin an neun italienischen Universitäten sowie an den Universitäten in Paris, Wien und Pest sowie an sieben deutschen Hochschulzentren 1 9 ).

Iorga, Istoria inväfämintului, S. 134. V. A. Urechia: Istoria jcoalelor de la 1800—1864 (Die Geschichte der Schulen von 1800 bis 1864). Bd. 2. Bucurejti 1892. S. 316f.; Iorga, Istoria inväpämintului, S. 2 3 2 f . 14) Urechia, Istoria jcoalelor, S. 212. 15 ) Buletin. Gazeta Administrativä. Bucurejti 1846. S. 369. ") Amzär, Studenpii romàni . . . Leipzig, passim. ") D. C. Amzär: Studenpii romàni la Universitatea din Berlin (Die rumänischen Studenten an der Universität Berlin). Bucurejti. 1940, passim. 18) Amzär, Studenfii romàni . . . Leipzig, passim. ") Urechia, Istoria jcoalelor, S. 260 f. 12) 13)

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W e n n Pompiliu Eliade in den Jahren 1829—1830 in Paris 18 junge walachische und einen moldauischen Bojaren, den Dichter Vasile Alecsandri, sowie weitere sechs in Genf und zwei in München 2 0 ) verzeichnete, so waren seit fast einem Jahrzehnt auch junge Studenten mit Stipendien in den Westen gekommen, die nicht dem Bojarentum angehörten und die vom Staat zum Studium ins Ausland geschickt worden waren. Es handelt sich dabei um die Gruppe junger Walachen, die schon 1820 nach Italien, nämlich nach Pisa, gegangen waren und unter denen sich der fortschrittliche Kleriker Eufrosin Poteca, der Jurist Constantin Moroiu und der Philologe Simion Marcovici ausgezeichnet hatten; der vierte junge M a n n , ein, wie Poteca in einem Brief aus Pisa erwähnte, besonders begabter Mathematiker, hat in Paris Selbstmord verübt 21 ). Dazu kommt noch Petrache Poenaru, ein Vertreter des herabgekommenen Bojarentums, der erlesenste Eigenschaften aufwies und 1827 in Paris sogar ein Erfinderpatent f ü r einen Stylographen erzielte 22 )! 1834 sollte eine ähnliche Gruppe aus Jassy auf diesen Weg gebracht werden, wobei die Jugendlichen, wie auch ihre walachischen Kollegen, dazu bestimmt waren, Lehrkräfte an der vom Herrscher Mihail Sturdza in Jassy neu organisierten Akademie zu werden 2 3 ). Alle diese Jugendlichen, auch wenn sie sich — was vor allem bei jungen Bojaren nicht immer der Fall war — als fleißig erwiesen, konnten nicht allzu viele Diplome bzw. Studienabschlüsse vorweisen. Sie waren vor allem um eine allgemeine Information bemüht, was in gewisser Hinsicht auch den Bedürfnissen in ihrer Heimat entsprach, wo vor allem seit den dreißiger Jahren eine vielseitige Modernisierung eingesetzt hatte, die sich auf ihre Mithilfe stützen sollte; über einen dieser jungen M ä n n e r kommt das in einem Brief zum Ausdruck, in dem behauptet wird, er habe versucht, „alles zu lernen" 24 ). Poenaru studierte 1824—1826 in Wien Griechisch, Latein, Weltgeschichte, Psychologie, Logik, Moral, Metaphysik, Mathematik, Physik und hörte auch Fachkurse am Polytechnikum; in Paris studierte er dann 1827 Recht und schon ein Jahr später Geographie 2 5 )! Er war einer der Fleißigen, denn die jungen Bojaren überschritten in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts kaum das Niveau eines Bakkalaureus der Sprachen oder der Rechte. Eine einzige Ausnahme ist bekannt: Petru Manega erzielte 1820 auch das Lizentiat der Rechte, ließ sich jedoch zur Niederlassung in Bessarabien überreden, das seit acht Jahren dem Zarenreich angeschlossen war 26 ). Erst 1834 sollte ein junger Walache, Ioan AI. 20

) Eliade, La Roumanie au X I X e siècle, Bd. 2, S. 260 f. ") Ebenda, Bd. 1, S. 2 2 4 - 2 3 8 . 22 ) Ebenda, S. 241. ") Urechia, Istoria ?coalelor, Bd. 1, S. 245, 267 ff. u ) Iorga, Istoria învâfàmîntului, S. 234. ") Eliade, La Roumanie au X I X e siècle, Bd. 1, S. 2 3 8 - 2 4 1 , 252. ") L. S. Kasso: Petru Manega — un codificator uitat al Basarabiei (Petru Manega — ein vergessener Rechtsgelehrter aus Bessarabien). Bucureçti 1923.

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Filipescu, in Paris auch ein ähnliches Lizentiat erwerben; das erste Doktorat der Rechte in Paris erlangte im gleichen Jahr Dimitrie Filipescu. Eine fortlaufende Serie in Paris erworbener rechtswissenschaftlicher Doktortitel sollte für die walachischen Jugendlichen erst mit dem 1849 verliehenen Doktorat an George Costaforu beginnen 27 ). Nicht einmal der doch so überaus begabte Kogälniceanu schloß seine Studien mit einem Diplom ab. Nach einem kurzen Aufenthalt in Luneville zog er nach Berlin, wo er an der Universität Vorlesungen über Recht und Geschichte hörte — er war ein Schüler Leopold von Rankes — und ein Buch sowie mehrere Broschüren veröffentlichte, Salons, Theater und Bälle besuchte und bei seiner Heimkehr nach Jassy keinerlei Diplom vorweisen konnte, obwohl er den ungeheuren Nutzen, den er aus seinen Studien zu ziehen gewußt hatte, bis an sein Lebensende eindeutig unter Beweis stellen sollte; wiederholte Male war er Minister und wurde ein hochgeachtetes Mitglied der Rumänischen Akademie 28 ). Diplome hatten weder die Brätianus noch C. A. Rossetti, weder N. Bälcescu noch die Brüder Golescu aufzuweisen, die alle zu den prägnantesten Persönlichkeiten unter den Gründern des modernen Rumänien zählten. Zumindest bei den meisten in jener Zeit darf man aber nicht Gleichgültigkeit oder Unfähigkeit annehmen, sondern eher mangelndes Interesse für ein Diplom, ein Papier, das sie für ihre Tätigkeit im Vaterland nicht benötigten. Sie brauchten vor allem eine „allgemeine Bildung" 2 '), und diese erhielten sie, manche von ihnen sogar auf einem hohen intellektuellen Niveau. Auch bereisten einige von ihnen Europa, so Petrache Poenaru, der Fabriken in England besuchte und als erster bekannter Rumäne eine Reise mit der Eisenbahn unternahm 30 ). Die jungen intellektuellen Rumänen der damaligen Zeit, die keine Möglichkeiten für derartige Auslandsstudien und Reisen hatten, beneideten diese „freien" Studenten. Einer von ihnen, der Moldauer Anastase Panu — später Premierminister zur Zeit des Fürsten Cuza —, beklagte sich 1840, daß er in Pensionaten studiert habe, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, „in der Fremde wie die Honig sammelnde Biene das so wertvolle und von allen begehrte Wissen zusammenzutragen" 31 ). Es war jedoch viel wichtiger, daß sich alle diese jungen Studenten nicht nur Fachkenntnisse angeeignet haben, wenn auch die Zahl der von ihnen erworbenen Diplome eine Zeit lang gering bleiben sollte, sondern daß sie sich auch in eine Lebensart integrierten, die für die Modernisierung unumgänglich nötig ") C. C. Angelescu: Cei dintîi doctori in drept de la Paris (Die ersten Doktoren der Rechte von Paris). In: Dreptul. 56. 1928. S. 217f. 2S ) D. Berindei: Ein angehender rumänischer Staatsmann in Berlin (1835 — 1838) ( = Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa im 18. und 19. Jahrhundert. Festschrift für Heinz Ischreyt zum 65. Geburtstag). Berlin 1982. S. 17. 29 ) Eliade, La Roumanie au X I X e siècle, Bd. 2, S. 263. 3 °) Ebenda, S. 254. 31 ) Iorga, Istoria învâpâmîntului, S. 186.

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war, daß sie — junge Bojaren oder Mitglieder der Mittelschichten — zu Anhängern der R e f o r m wurden. Eufrosin Poteca empfahl den großen Bojaren des Landes die Errichtung eines Rechtssystems, eine gerechte Verteilung der Steuerlasten sowie die Befreiung der Zigeuner 3 2 ). Von Genf aus erwähnte der junge Bojar Constantin Bräiloiu „das Glück der armen Bauern" und forderte „gute Gesetze und, d a ß sich die neue Verwaltung auf Rechtlichkeit und Gerechtigkeit stütze." „Ach!" schrieb er seinem Vater, „wenn ich Ihnen das Bild dieser tugendhaften Schweiz nahebringen könnte, Sie würden fühlen, wie in Ihnen noch machtvoller jenes patriotische Gefühl wachsen würde, das Ihnen, ich weiß es, angeboren ist und das auch mich beflügelt." 33 ) Für die jungen Bojaren bestand die Hauptsache in der neuen Lebensart, die sie vorfanden; sie lernten, das Geld zu schätzen und sich das Leben zu vereinfachen, vor allem erlebten sie aber all die Probleme, denen sich die Gesellschaft in den entwickelten Ländern, in die man sie geschickt hatte, gegenübersah. Das zwang sie zugleich zu einer politischen Stellungnahme. Von Paris aus schrieb beispielsweise C. N. Filipescu — der Sohn eines großen Bojaren — in seiner Antwort an den einstigen Stipendiaten Simion Marcovici: „Was unsere Innenpolitik (die der rumänischen Fürstentümer, Anm. d. Verf.) anbelangt, würde ich sagen, sie könnte nicht genauer definiert werden als so, wie Sie das tun, nämlich als eine konfuse Ansammlung absurder Prinzipien, gegensätzlicher Standpunkte und genauso falscher wie schädlicher Folgen." 34 ). Die Eindrücke von Mihail Kogälniceanu sind besonders interessant: „. . . un an passé à l'étranger" schrieb er im N o vember 1835 an seine Schwestern, „m'a donné plus d'expérience que dix-sept passés en Moldavie". Er sollte die Erinnerung an die Berliner Gesellschaft seiner Jugend bis spät, bis an sein Lebensende bewahren. „Dieser Gesellschaft" — sagt er 1891 — „verdanke ich die Entwicklung meiner bescheidenen Intelligenz und die Liebe f ü r alles, was schön und groß ist im Leben des Menschen". Auch seine Professoren, Savigny und Ranke, hat er nicht vergessen, und letzteren beglückwünschte er 1877 und richtete an ihn die „Gratulationen seines ersten rumänischen Studenten an der Universität Berlin". „Hier, im aufgeklärten Europa", schrieb der junge Moldauer im O k t o b e r 1837 an seinen Vater, wobei er seine eigene Bojaren-Abstammung überwand, „werden die Menschen nur vor Gott kniefällig, und nicht vor den Menschen! Deshalb habe auch ich es hier gelernt, daß jeder Mensch gleich ist, daß einer sich vom anderen nur durch Verdienste und durch gute Taten unterscheidet." 3 5 ) D o c h diese jungen Männer sind sie selbst geblieben, trotz aller Vorbehalte, die einige ihrer Zeitgenossen geäußert haben. „. . . wir sind in der Moldau ge-

") ") ") 35 )

Eliade, La R o u m a n i e au X I X e siècle, Bd. 1, S. 236. Iorga, Istoria învàfâmîntului, S. 181 f. Eliade, La R o u m a n i e au X I X e siècle, Bd. 1, S. 273. Berindei, Rumänischer Staatsmann, S. 19, 24.

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boren", schrieb einer von ihnen, Alecu Russo, „und haben von der Fremde getrunken; unser Kopf ist der eines Deutschen, eines Franzosen, aber unser Herz ist trotzdem das eines Moldauers geblieben" 36 ). Zwischen diesen Jugendlichen und ihren Eltern klaffte jedoch ein Abgrund. „Im gleichen Haus eines Begüterten", schrieb der walachische Literat Heliade Rädulescu 1836 an den moldauischen Schriftsteller Costache Negruzzi, „sieht man den an Wissen, Geist und Herz weit zurückgebliebenen Vater und den in Frankreich oder in anderen Teilen Europas aufgewachsenen Sohn, mit den Ideen unseres Jahrhunderts" 37 ). Diese Jugendlichen sind nicht nur noch überzeugtere Patrioten geworden, sondern sie traten auch ganz selbstverständlich an die Spitze der Befreiungsbewegung ihrer Nation. Die Vorbehalte der Vertreter der Schutzmacht, des Zaren, sollten sich zumindest von ihrem Standpunkt aus als durchaus berechtigt erweisen; denn die aufgrund entsprechender Schulordnungen von 1831 in der Walachei bzw. 1835 in der Moldau — sie sahen Auslandsstudien von Jugendlichen in ihrem Programm vor, um die hohen Schulen der Fürstentümer mit entsprechenden Lehrkräften auszustatten 38 ), — entsandten und als „brav" eingestuften Jugendlichen lernten fast alle im „aufgeklärten Europa" in erster Linie, sich der allgemeinen demokratischen Bewegung einzugliedern, und einige von ihnen wurden sogar „Berufsrevolutionäre". Sie nahmen nicht nur enge Beziehungen zu den polnischen Revolutionären auf, die, vor allem um Czartoryski, eine gemäßigtere Stellung einnahmen, sondern sie zeigten sich auch von den utopischen Sozialisten angetan, von Saint-Simon, Fourier, Proudhon, Louis Blanc, und sie wurden zu begeisterten Anhängern der apostelhaften Professoren Michelet, Quinet und Mickiewicz oder sogar zu Anhängern der Pariser oder der deutschen Freimaurerlogen 39 ). Indem er die Begeisterung seiner Jugend gegenüber den Auffassungen von Fourier beschrieb, sollte Ion Ghica, einer dieser Jugendlichen und später ein bedeutender Staatsmann Rumäniens, nach einigen Jahren festhalten: „Es war etwas Bezauberndes an der Beredsamkeit, die der alte Reformator zur Erklärung der sympathischen Kreise aufwandte; es war soviel Kraft und Süße in seiner Rede, daß es unmöglich war, daß er die Zuhörerschaft nicht gefesselt hätte. Ich verließ jene Vorträge erstaunt und begeistert, ich würde sogar sagen, überzeugt." 40 ) Alexandru, ein früh verstorbener Bruder von Mihail Kogälniceanu, beschrieb seinem Vater in einem Brief die Atmosphäre der Bibliothek, die sich die

") ") 38 ) ") Revue 40 )

A. Russo: Scrieri (Schriften). Bucureçti 1934. S. 17. Urechia, Istoria çcoalelor, S. 417. Ebenda, S. 310, 416. D. Berindei: Préludes de la révolution roumaine de 1848. Les sociétés secrètes. In: Roumaine d'Histoire. XVII. 1978. 3. I. Ghica: Opere (Werke). Bd. 1. Bucureçti 1967. S. 292.

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in einer Gesellschaft organisierten jungen Rumänen in Paris unter der Schirmherrschaft von Lamartine eingerichtet hatten, wobei er darauf hinwies, daß die Jugendlichen sich dort versammelten, um der „Vorlesung der Geschichte der Moldau" zuzuhören; denn, so schreibt er „obwohl die jungen Rumänen fern von ihrem Land sind, vergessen sie dieses keine Minute". „Wir Jugendlichen, die wir uns in Paris befinden", fügte er hinzu, „sind nicht gekommen, um französisch sprechen zu lernen wie die Franzosen, sondern nur um die guten Ideen und Errungenschaften einer so aufgeklärten Nation zu übernehmen". Und weiter meint er: „. . . da ich höre, daß man in der Walachei die rumänische Sprache aus der Schule entfernen wird, so daß die Studenten künftig nur Französisch und Russisch lernen, denke ich mir, daß das der Untergang unserer Nation ist"41). Ein anderer Jugendlicher, Virnav, der die Bibliothek materiell unterstützte, erwähnte ebenfalls „die Pflicht, die wir erfüllen müssen gegenüber der Erde, die unsere Väter bis zu uns bewahrt haben trotz so vieler fataler Überfälle" und forderte, daß „wir versuchen müssen, das Wissen, das wir in der Ferne erringen, zu benutzen, um den heutigen Bedürfnissen unseres Landes zu entsprechen" 42 ). An diese Jugendlichen richteten sich Dimitrie Brätianu und Nicolae Bälcescu — ebenfalls junge Männer — am Vorabend der Revolution und riefen sie zu Taten und zum Eingreifen auf. „Unser Ziel", sagte Bälcescu den Jugendlichen in der Rumänischen Bibliothek von Paris, „kann meines Erachtens kein anderes sein, als die nationale Einheit der Rumänen", wonach er alle von Rumänen bewohnten historischen Provinzen aufzählte und forderte, daß die nationale Vereinigung selbstverständlich begleitet werden müsse von „einer sozialen Reform der Rumänen, die sich auf die heiligen Prinzipien der Gerechtigkeit und der Gleichheit stützt" 43 ). Als die Revolution in Paris ausbrach, stiegen die dort ansässigen Rumänen — allen voran Bälcescu — auf die Barrikaden; sie befanden sich später auch an der Spitze der Revolution in den Fürstentümern und arbeiteten eng mit den rumänischen Revolutionsführern in Siebenbürgen zusammen. Die Niederschlagung der Revolution und die Zeit der Gegenrevolution, die ihr auf dem Fuße folgte, brachte den jungen Rumänen bei Auslandsreisen zu Studienzwecken mancherlei Komplikationen. Im ersten Jahrzehnt nach der Revolution finden wir unter den Studenten im Ausland entweder nur diejenigen, die sich offen auf die Seite der im Exil lebenden Revolutionsführer stellten — vor allem die rumänischen Studenten in Paris, die 1851 die Zeitschrift „Junimea Romänä" (Die rumänische Jugend) herausbrachten 44 ) —, oder Studenten aus

41

) Iorga, Romänii in sträinätate de-a lungul timpurilor, S. 148 f. ) Iorga, Istoria inväpämintului, S. 238 f. 4J ) Bälcescu, Opere (Werke), Bd. 1, Bucurejti 1974. S. 177 f. 44 ) Siehe C. Bodea: Din activitatea revolufionarä a Junimii Romane de la Paris intre 1851 —1853 (Aus der revolutionären Tätigkeit der Junimea Romänä" während der Jahre 1851 — 1853). In: Studii. XIV. 1961. 5. S. 1165 — 1183. 42

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Jassy oder Bukarest, die vom Staat geschickt worden waren, um sich zu Spezialisten für verschiedenste Bereiche ausbilden zu lassen. Allmählich kehrten immer mehr Jugendliche mit Diplomen nach Hause zurück. Die Phase der „allgemeinen Information" war überschritten! 1857 gab die in Jassy erscheinende halboffizielle „Gazeta de Moldavia" (Moldauer Zeitschrift) bekannt, daß sich zu jenem Zeitpunkt 23 Jugendliche zu Studienzwecken im Ausland befänden, und zwar in Osterreich, Frankreich, Griechenland, Preußen und Rußland 45 ). Als Asachi ein Jahr später Bilanz machte, verzeichnete er die Anwesenheit junger rumänischer Studenten in Paris, Berlin, Wien, Lemberg, München, Petersburg, Odessa, Athen, Smyrna und in der Schweiz46). Einstige Revolutionsführer aus Siebenbürgen erwarben erst jetzt, in vorgerückterem Alter, ihre Diplome — Bärnufiu und Papiu-Ilarian in Italien und A. T. Laurian das Doktorat der Philosophie in Göttingen. Außerdem wurden mehr Jugendliche als vor 1848 zu technischen Studien entsandt; sie studierten Architektur, Mathematik, Astronomie, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften, usw. Die Jugendlichen aus Siebenbürgen studierten weiterhin in erster Linie an den Universitäten in Österreich und Ungarn, aber eine Statistik aus dem Jahr 1851 ergab, daß von fast 10.000 im Ausland studierenden Jugendlichen, die aus Siebenbürgen kamen, nur 62 Rumänen waren (von denen 57 in Wien studierten) 47 ). In der Brajover (Kronstädter) Zeitschrift „Foaie pentru minte, inimä $i literaturä" (Blatt für Verstand, Herz und Literatur) wurde 1858 ein langer Artikel über die Anwesenheit der Rumänen in der Reichshauptstadt veröffentlicht 48 ); Atanasie Marinescu veröffentlichte 1854 in der „Gazeta Transilvaniei" (Siebenbürgische Zeitschrift) eine Korrespondenz über die rumänischen Studenten in Pest49). 1858 wurden vier Jugendliche, Absolventen des Geographischen Instituts in Wien, zu Mitgliedern des „Pionierwaffen-Büros" im Kriegsministerium der Walachei ernannt 50 ). In Leipziger Matrikeln findet man in den Jahrgängen 1849—1858 neun Rumänen verzeichnet, darunter fünf, die Medizin bzw. Pharmazie studierten 51). Nach Rom und Paris hingegen zogen ab dem Jahre 1852 eher Künstler, wie z. B. der Maler Petre Alexandrescu 52 ); für theologische Studien bevorzugte man Athen 53 ). In Paris trafen sich sowohl die Stipendiaten aus der Walachei als auch die in der Befreiungsbewegung integrierten Studenten;

45

) ) ") 48 ) 82ff., 4 ') s °) 51 ) ") ») 46

Gazeta de Moldavia. X X V I I I (recte X X I X ) . 1857. S. 21. G. Asaki: Q u e s t i o n de l'instruction publique en Moldavie. Jassy 1858. S. 20. Bârsdnescu, Dicfionar cronologie, S. 80. Foaie pentru minte, iniraà çi literaturà. X X I . 1858. S . 3 3 f f . , 43 ff., 58 f., 65 ff., 75 ff., 89-92. Gazeta Transilvaniei. X V I I . Braçov (Kronstadt) 1854. S. 391, 395. Anunfâtorul Român. 48. Bucureçti 1858. S. 1. Amzâr, Studençii romàni la Universitatea din Leipzig, passim. Urechia, Istoria çcoalelor, Bd. III, S. 60. Ebenda, S. 168.

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ihre politischen Positionen waren praktisch dieselben. Jene, die eine Sammelaktion für den italienischen Revolutionär Manin unterzeichneten, riefen die vorsichtige Bemerkung der „Gazeta Transilvaniei" hervor: „Armes Taktgefühl!" 54 ) Ebenfalls nach Paris wurde der junge D. Frunzä von seinen Mitbürgern aus der moldauischen Stadt Bacäu geschickt 55 ). Der alte Asachi, der sich kurz vor seinem Lebensende einer konservativen Weltanschauung zugewandt hatte, verurteilte das „lange Verweilen" der Jugendlichen zu Studienaufenthalten im Ausland, da er der Meinung war, sie würden dadurch dem Vaterland entfremdet 56 ) — was sich im Verlauf mehrerer Jahrzehnte aber als unzutreffend erwiesen hatte, da alle zeitweise im Ausland lebenden Jugendlichen ihrem Vaterland mit voller Hingabe dienten. Auf jeden Fall hat das Jahrzehnt nach 1848 keine günstigen Bedingungen für die Zunahme der im Ausland studierenden rumänischen Jugendlichen geschaffen. Schuld daran waren in erster Linie die Maßnahmen, die man infolge der revolutionären Ereignisse, an denen sich viele junge Intellektuelle beteiligt hatten, ergriff. Den Ausgang der sechziger und die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts kennzeichnet ein neues Kapitel der Auslandsstudien — vor allem der Hochschulstudien — der jungen Rumänen. Das ist sowohl mit den neuen politischen Umständen zu erklären, die durch die Schaffung des rumänischen Nationalstaates entstanden waren — er kam durch die zweifache Wahl des Obersten Alexandru Ioan Cuza als Herrscher sowohl in der Moldau als auch in der Walachei zustande —, sowie mit dem Ende des Neoabsolutismus in Osterreich und mit der Durchsetzung eines liberalen Regimes im Lande ab 1860, das erstmals die siebenbürgischen Rumänen begünstigte. In den Vereinigten Fürstentümern wurden die ersten Universitäten gegründet, 1860 in Jassy und 1864 in Bukarest; die Lehrkräfte wählte man aus den Reihen der früheren rumänischen Studenten im Ausland. Zur Zeit der Herrschaft des Fürsten Cuza wurden die eigentlich schon vorher in einer ersten Form vorhandenen drei Fakultäten — für Rechtswissenschaften, Sprachen und Philosophie bzw. für Natur- und technische Wissenschaften — besser organisiert. Die Zahl der Studenten war noch relativ gering. Im Hochschuljahr 1864—1865 waren es 89 Studenten in Jassy und 122 in Bukarest; am zahlreichsten hatten sie sich an der Fakultät für Rechtswissenschaften eingeschrieben — 138 an beiden Universitäten zusammen 57 ) ! Hinzu kommen die Studenten der Nationalen Schule für Medizin und Pharmazie, die bald zur Fakultät werden sollte, sowie die einer in Jassy gegründeten Theologischen Fakultät.

") 55 ) ") 57 )

Gazeta Transilvaniei. XIX. 1856. S. 344. Gazeta de Moldavia. XXVIII (recte XXIX). Iaçi 1857. S. 21. Asaki, Question de l'instruction publique, S. 20. Anuarul General al Instrucfiunii Publice. Bucureçti 1864—1865. S. 238—241.

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Die Zahl der im Ausland studierenden rumänischen Jugendlichen war nach 1859 bedeutend größer als in der vorhergegangenen Zeit. Im Jahre 1864—1865 befanden sich 55 Staatsstipendiaten zu Hochschulstudien und 17 zu Lyzealstudien im Ausland 58 ); hinzu kommen Hunderte von Jugendlichen der begüterten Klasse, die die Unterstützung ihrer Familien im Ausland genossen. Zu Beginn des Jahres 1863 studierten allein in Frankreich — vor allem in Paris — 400 Jugendliche an Fakultäten und Offiziersschulen, sowie weitere 500 Jugendliche an Lyzeen 59 ). Diese große Anzahl rumänischer Jugendlicher ließ den Fürsten Cuza 1862 an die Gründung eines rumänischen „Kollegiums" in Paris denken 60 ). Aber die Jugendlichen aus den Fürstentümern gingen nicht nur nach Frankreich, sondern sie zogen wie bisher auch nach Osterreich und Deutschland. 1864—1865 studierte von den Stipendiaten des rumänischen Staates einer in Wien, ein anderer in München, zwei in Leipzig, zwei in Berlin und einer in Bonn. Des weiteren studierten im gleichen Jahr fünf Stipendiaten in Lüttich. Ab 1860 wurden Jugendliche in größerer Anzahl auch nach Italien gesandt; außerdem gab es Stipendiaten in Madrid und Athen"). Die Verzeichnisse der Stipendien machen auch die Aufgliederung in verschiedene Fachrichtungen augenscheinlich: Die Zahl jener, die Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften, Mathematik oder Architektur studierten, war eindeutig im Anwachsen begriffen. Von den 55 Jugendlichen, die im Schuljahr 1864—1865 staatliche Stipendien bezogen, waren 20 zu diesen Studien ins Ausland gesandt worden; weitere acht studierten Medizin. Auch die juristischen Studien, die für die Organisation des modernen Staates so sehr benötigt wurden, zogen weiterhin eine große Anzahl von Jugendlichen an; in der obengenannten Zeitspanne hatte man dafür elf Stipendien ausgeschrieben, obwohl eine große Zahl von Studenten dieser Fachrichtung auf eigene Kosten studierte 62 ). In Siebenbürgen fand hinsichtlich der Zahl der jungen Rumänen, die an Hochschulen studierten, eine ähnliche Explosion statt. Den Rumänen gelang es nicht, eine eigene Hochschule im siebenbürgischen Raum zu erhalten, aber die Zahl ihrer Studenten an den Hochschulen des Landes nahm trotzdem massiv zu. An der Rechtsakademie in Sibiu (Hermannstadt) studierten gegen Ende 1860 immerhin 60 rumänische Jugendliche, hingegen nur 20 Sachsen und vier Ungarn 63 ). In Cluj (Klausenburg) stellten 1865 die Ungarn die überwiegende Anzahl an Studenten an der Rechtsakademie (152!), doch gab es auch hier immerhin 26 rumänische Studenten6,1). Beträchtlich gestiegen war auch die Zahl S8

) ") 6 °) ") ") ") ")

Ebenda, S. 298 f. Gazeta Transilvaniei. XXVI. 1863. S. 32. Monitorili. Bucurejti 1862. S. 769. Anuarul General al Instrucfiunii Publice. 1864/65. S. 238—241. Ebenda. Gazeta Transilvaniei. XXIV. 1861. S. 394. Gazeta Transilvaniei. XXVIII. 1865. S. 243.

Rumänische Studenten im Ausland

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der rumänischen Jugendlichen, die in Pest und in Wien Hochschulstudien nachgingen. Gegen Ende des Jahres 1861 studierten in der Hauptstadt Ungarns 33 rumänische Jugendliche; die Mehrheit davon hatte sich dem Rechtsstudium zugewandt 65 ). Auch in Wien war die Zahl der rumänischen Studenten im Steigen begriffen. Im Herbst 1860 richteten z. B. 37 rumänische Studenten aus der Reichshauptstadt anläßlich der Gründung der ersten rumänischen Universität in Jassy einen herzlichen Glückwunsch an den Premierminister der Moldau, Mihail Kogälniceanu 66 ). Um den Jugendlichen aus der Monarchie während der Studienzeit eine finanzielle Unterstützung gewähren zu können, wurde eine umfangreiche patriotische Aktion gestartet, denn diese Jugendlichen waren zweifellos weniger begütert als viele Studenten aus den Vereinigten Fürstentümern. Man veranstaltete Sammelaktionen in den siebenbürgischen Städten und Dörfern, darüber hinaus spendeten auch die rumänischen Bischöfe sowie einige reiche Rumänen bedeutende Summen — das war vor allem bei der Familie Mocioni der Fall. Große Geldsummen wurden zu diesem Zweck auch aus Rumänien geschickt, wobei die siebenbürgischen Intellektuellen, die sich hier niedergelassen hatten, zu den ersten zählten, die sich an der Spendenaktion beteiligten 67 ). Die Organisation der Studentengesellschaften war um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine Ausdrucksform der Tätigkeit der rumänischen Studenten im Ausland. Die erste Gesellschaft, die besondere Aufmerksamkeit erregte, war die „Gesellschaft der rumänischen Studenten" in Paris, die 1845 organisiert worden war, eigentlich ein beträchtliches revolutionäres Zentrum darstellte und die Ereignisse von 1848 vorbereitete 68 ). In der Reihenfolge der Bedeutung kommt nach ihr 1862 die „Akademische Gesellschaft Petru Maior", die von den rumänischen Studenten der Pester Universität gegründet worden war, dann die „Gesellschaft Junges Rumänien", die 1871 in Wien gegründet wurde; es muß jedoch erwähnt werden, daß es vor diesen bedeutenderen Gesellschaften bereits sogenannten Lesegemeinschaften gegeben hatte (wie z. B. die der rumänischen Theologen, die 1838 in Wien gegründet worden war), und sogar Vereine kleineren Umfangs, wie z. B. den 1860 ebenfalls in Wien gegründeten Verein und die 1868 entstandene Gesellschaft „Romänia" 69 ). Auch die patriotische Gesellschaft „Transilvania" — die 1867 in Bukarest organisiert worden war, und der die Wiener Gesellschaft „Junges Rumänien" im Falle einer Einstellung ihrer Tätigkeit ihr ganzes Eigentum überlassen wollte — und vor allem die „Liga cultu") Amicul Scolii. Sibiu 1861. II. S. 358. ") V. Curticäpeanu: Miçcarea culturali româneascà pentru Unirea din 1918 (Die rumänische Kulturbewegung für die Union von 1918). Bucureçti 1968. S. 149f. " ) Gazeta Transilvaniei. XXV. 1862. S. 20. ") V. Maciu: La Société des étudiants roumains de Paris (1845—1848). ( = Nouvelles Etudes d'Histoire. Bd. III.) Bucureçti 1965. S. 243—270. ") Curticäpeanu, Miçcarea culturali, S. 147 ff.

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Dan Berindei

ralä", die im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine auf europäischem Niveau entfaltete Aktion der rumänischen Studenten zur Verteidigung der politischen Rechte der außerhalb der damaligen Grenzen des Nationalstaates lebenden Rumänen anführte, waren zwar selbst keine Studenten-Gesellschaften, doch hing ihre Tätigkeit stets eng mit der der Studenten zusammen 70 ). Nach der Festigung des modernen rumänischen Nationalstaates, nach der Thronbesteigung des Fürsten Carol von Hohenzollern, kam es im Jahrzehnt vor der Erringung der Unabhängigkeit Rumäniens und in den beiden auf dieses Ereignis folgenden Jahrzehnten zu einer Festigung und Entwicklung des Hochschulunterrichts in Rumänien, und zwar in Bukarest und Jassy; neue Universitäten wurden auch in Cluj (Klausenburg 1872) und in Czernowitz (1875) gegründet, aber sie wurden von den Rumänen im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung Siebenbürgens und der Bukowina nur in relativ geringer Zahl besucht. Parallel dazu jedoch besuchten die jungen Rumänen weiterhin europäische Universitäten. Während z. B. in der Zeitspanne 1821 —1866 an der Universität Leipzig 41 Rumänen (einschließlich sechs Mazedonier) studiert hatten, betrug ihre Zahl bloß in den 12 Jahren von 1867 bis 1878 bereits 49 und in den nächsten 23 Jahren wurden 100 gezählt. Zwischen 1867 und 1900 hörten somit 149 rumänische Studenten Vorlesungen an der Universität Leipzig; von diesen 149 rumänischen Studenten studierten 46 Philosophie, 35 Rechtswissenschaften und 28 Medizin 71 ). An der Universität von Paris erzielten in der Zeit zwischen 1850 und 1906 sogar 167 Rumänen den Titel eines Doktors der Rechte 72 ). Obwohl die beiden rechtswissenschaftlichen Fakultäten in Rumänien im Studienjahr 1899/1900 von mehr als 2500 Studenten besucht wurden 73 ) — das Rechtsstudium zog die Jugendlichen noch einige Zeit lang am meisten an —, ist auch die Zahl der rumänischen Studenten im Ausland angewachsen. Bezeichnend ist die Tatsache, daß 1905 von den 120 unabsetzbaren Magistraten in Rumänien rund 50 im Ausland erworbene akademische Titel trugen; dasselbe läßt sich für rund 400 der 2200 Rechtsanwälte sagen 74 ). Die Situation hatte sich also gegenüber den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts grundlegend verändert. Die rumänischen Studenten waren jetzt nicht mehr solche, die sich nur für eine allgemeine Information in der Fremde interessierten, oder solche, für die die Studien im Ausland in den Jahren vor Ausbruch der Revolution von 1848 eine Rechtfertigung für ihre Teilnahme an der 70 ) Siehe V. Netea und G. G. Marinescu: Liga culturalä unirea Transilvaniei cu Romania (Die „Liga culturalä" und die Vereinigung Siebenbürgens mit Rumänien). Ia?i 1978. 71 ) Amzär, Studenfii romàni, passim. 72 ) N. C. Fotino: Die Entstehung der rumänischen Rechtsschule. In: R. G. Plaschka und K. Mack (Hg.) : Wegenetz europäischen Geistes. Wien 1983. S. 47. n ) Ebenda, S. 50. 74 ) Ebenda, S. 47.

Rumänische Studenten im Ausland

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europäischen demokratischen oder gar revolutionären Bewegung darstellten. Ab 1859 forderte der neue Nationalstaat von diesen Studenten Resultate, und zwar auch von jenen, die er nicht mit Stipendien unterstützte. Man benötigte neue, moderne „europäische Nachwuchskräfte für die endgültige Durchsetzung des neuen Rumänien und seine Behauptung in der Welt". So kam es schließlich zur Forderung, die rumänischen Auslandsstudenten — vor allem diejenigen, die nach 1870 studierten — sollten, wie N. Iorga schrieb, „besondere Studienziele" haben 75 ). Iorga selbst war ebenfalls einer von ihnen — wie übrigens auch andere rumänische Gelehrte von europäischem Rang, die sich in jenen Jahren in verschiedenen Bereichen einen Namen gemacht haben. Trotz der Skepsis, die der große Historiker an den Tag legte, standen all diese Jugendlichen, obwohl der Großteil von ihnen zweifelsohne danach strebte, eine fachlich gute Ausbildung zu erlangen und sich im Beruf durchzusetzen, doch zumindest so lange vor großen Problemen, wie der rumänische Staat noch nicht in seinen nationalen Grenzen vollendet war. Diese Tatsache wird sich noch ganz deutlich zeigen. Im Jahre 1871 kam es anläßlich der Feier, die in der besetzten Bukowina, im Kloster Putna — einer Stiftung des großen moldauischen Wojewoden Stefan cel Mare — organisiert wurde, zu einer großangelegten patriotischen Kundgebung; an ihr nahmen Vertreter der rumänischen Studenten von überall teil — mit Ausnahme der „Akademischen Gesellschaft Petru Maior", die von der ungarischen Regierung an der Teilnahme gehindert wurde 76 ). Weiters gab es in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Kampagne für ein Memorandum, bei der sich die rumänischen Studenten jenseits der Landesgrenzen erneut in einer umfassenden patriotischen Aktion zusammenfanden. Wie dem auch sei, bis zum Ersten Weltkrieg haben alle Generationen rumänischer Auslandsstudenten ihr Studium mit einem offensichtlich patriotischen Einsatz verbunden — im Dienste des Nationalstaates, der Ideale und Zielsetzungen des modernen Rumäniens, das seiner 1918 erfolgten Vollendung harrte. Dieser Einsatz erfolgte vom Frühling bis zum Jahresende 1918, im Osten wie auch im Westen des Landes. Die Bilanz sieht so aus: Es kam zur Schaffung und Festigung des modernen rumänischen Staates, zur Lösung der Nation aus der feudalen Ordnung, zur Ausstattung mit modernen Institutionen und zu einer vielseitigen Umgestaltung. So kann man sagen, daß 1918 nicht nur die staatliche Vereinigung der ganzen Nation erfolgte, sondern auch, daß die ökonomische, sozialpolitische und kulturelle Entwicklung des Landes es ermöglichte, in den unmittelbar darauffolgenden Jahren eine neue Verfassung und ein Wahlgesetz anzunehmen, womit das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde, sowie — und das vor allem — eine neue Bodenreform durchzuführen. Bei all diesen umfassenden und viel") Iorga, Istoria inväfämintului, S. 164. 76 ) Curticäpeanu, Mijcarea culturalä, S. 157.

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D a n Berindei

seitigen Umgestaltungen, die zugleich die Perspektiven für das zeitgenössische Rumänien erschlossen, haben die im Ausland ausgebildeten Führungskräfte und Spezialisten eine erstrangige Rolle gespielt. Der rumänische Hochschulunterricht konnte gründlich organisiert werden, so daß er seinerseits bald imstande war, die Ausbildung von ausländischen Jugendlichen zu Spezialisten zu unterstützen. D a s umfassende Netz der nach 1918 im vollendeten einheitlichen Nationalstaat bestehenden Universitäten (Bukarest, Jassy, Cluj, Czernowitz und Chijinäu), die wertvollen Lehrkräfte, über die sie verfügten, wie auch die Führungskräfte der staatlichen Institutionen und der Wirtschaftsbetriebe dieser Zeit stützten sich weitgehend auf die einstigen rumänischen Studenten im Ausland, und diese haben in ihrer überwiegenden Mehrheit sowohl ihre Durchsetzungskraft im jeweiligen Fachbereich unter Beweis gestellt als auch ihre Hingabe und Einsatzbereitschaft gegenüber dem Vaterland. Es ist offenkundig, daß Hunderte Jugendliche, die im 19. Jahrhundert an geachteten europäischen Hochschulinstituten ausgebildet wurden, zur Beschleunigung der Eingliederung Rumäniens in die moderne Staatenwelt beigetragen haben.

LJUBINKA TRGOVCEVIC

DIE ERSTE IM AUSLAND AUSGEBILDETE PROFESSORENGENERATION DER UNIVERSITÄT BELGRAD

Als Serbien zu einem unabhängigen Staat wurde, gab es im Land fast keine Gebildeten, und die wenigen Personen, die ein Studium absolviert hatten, kamen aus Österreich-Ungarn. Mit der Zeit begann man aber das Schulwesen zu organisieren, das sich von Klosterschulen über das erste Gymnasium (1833) und das Lyzeum (1838) bis zur sogenannten „Hochschule" entwickelte, die mit einer Rechtswissenschaftlichen, einer Philosophischen und einer Technischen Fakultät ausgestattet war und 1863 eröffnet wurde. Im Laufe der vier Jahrzehnte ihres Bestehens legte die Hochschule allmählich den Weg von einer Anstalt für Fachausbildung, in der die Studenten von allem ein wenig lernten, bis zu einer Einrichtung zurück, deren Fakultäten zu wissenschaftlichen Hochschulinstitutionen mit Bibliotheken, Seminaren, Laboratorien und Instituten wurden, um sich schließlich in eine Universität zu verwandeln. Während der Existenz der Hochschule hatte es mehrere Versuche gegeben, aus ihr eine Universität zu machen. Dieser Wunsch wurde jedoch erst 1905 realisiert, sodaß am 15. Oktober desselben Jahres die Belgrader Universität feierlich eröffnet werden konnte 1 ). Damit legte Serbien im Laufe nur eines Jahrhunderts den Weg von einem Land mit nur wenigen Schriftkundigen zu einem Land mit einer eigenen Universität zurück. Eine solche Entwicklung wurde — neben anderen Faktoren — auch durch den Wunsch vieler serbischer Regierungen gefördert, Fachkräfte sowohl im Lande als auch im Ausland auszubilden und eine eigene Schicht von

') Ü b e r dieses T h e m a ist in der Geschichtswissenschaft und auch in der jugoslawischen Historiographie nicht viel gearbeitet w o r d e n . N u r in den Biographien einiger Prof e s s o r e n kann man konkrete H i n w e i s e finden. Zur G r ü n d u n g der Belgrader Universität siehe: Spomenica o otvaranju Univerziteta (Festschrift zur E r ö f f n u n g der Universität). B e o g r a d 1906; Univerzitet u Beogradu. Zakoni i uredbe (Universität Belgrad. G e s e t z e und V e r o r d n u n g e n ) . Beograd 1906; Velika Skola i univerzitet ( H o c h s c h u l e und Universität). Beograd 1905; Sto godina F i l o z o f s k o g fakulteta ( H u n d e r t Jahre Philosophische Fakultät) [weiterhin: Sto godina.] Beograd 1963; I. Bozic: Postanak i razvoj B e o g r a d s k o g univerziteta (Entstehung und Entwicklung der Belgrader Universität). In: Godisnjak grada Beograda. 1975. X I I . S. 139—158.

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Ljubinka Trgovcevic

Intellektuellen zu schaffen. Im Jahre 1839 begann Serbien mit der Entsendung der ersten Staatsstipendiaten zur Ausbildung an ausländische Universitäten 2 ). Es wurde allmählich üblich, unter den Schülern, die das Lyzeum absolviert hatten, und unter den Studenten der Hochschule diejenigen auszuwählen, die ihre Ausbildung auf Staatskosten im Ausland fortsetzen sollten. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat wurde ein Teil der Staatsstipendiaten im Staatsapparat beschäftigt und der andere im Schulwesen, sodaß in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die meisten Lehrer der Hochschule ein Diplom einer europäischen Universität besaßen. Die erste Professorengeneration der Belgrader Universität kam aus dem Kreis der ehemaligen Lehrer jener Hochschule, aus der sich die Universität entwickelt hatte. Da die Auswahlkriterien ziemlich streng waren, mußten einige Lehrer pensioniert werden, während sich andere mit niedrigeren Amtern, als sie an der Hochschule bekleidet hatten, zufriedengeben mußten. Anläßlich der Eröffnung der Universität wurden 45 ordentliche und außerordentliche Professoren und Dozenten ernannt, einschließlich der Besetzung der Stelle eines Ordinarius, die der damalige Minister und Geologe Svetolik Radovanovic erhielt. Alle Lehrer hatten im Ausland studiert, abgesehen vom Professor für Geschichte des serbischen Volkes, Ljubomir Jovanovic, der aber bald darauf die Universität verließ und sich der Politik widmete. Mit Rücksicht auf den Altersunterschied zwischen dem ältesten und dem jüngsten Professor umfaßte ihr Studium den Zeitraum zwischen 1868, als der erste Rektor der Belgrader Universität, Sima Lozanic, in Zürich Chemie zu studieren begann, und 1903, als der jüngste Dozent der Fakultät für Rechtswissenschaften, Velimir Bajkic, in München sein Doktorat machte. Die Mehrzahl der Professoren studierte in der Zeit von 1885 bis 1895. In dieser Zeitspanne waren 22 spätere Universitätsprofessoren im Ausland, während vor 1880 nur zwei außerhalb Serbiens studiert hatten. Die Tatsache, daß in nur einem Jahrzehnt die Hälfte der Professoren außer Landes studierte, ist darauf zurückzuführen, daß gerade in diesem Zeitraum die serbische Regierung die meisten Stipendiaten im Ausland ausbilden ließ. So wurden zum Beispiel 1888 für Studien an verschiedenen europäischen Universitäten 3 ) 15 Stipendien erteilt, was in bezug auf das kleine Serbien eine sehr große Anzahl ist, insbesonders deshalb, weil der Staat bereits in den vorangegangenen Jahren einige Stipendien vergeben hatte. Aber auch im Verhältnis zur Gesamtzahl der Studenten der Hochschule kann diese finanzielle Unter-

2 ) J. M. Milicevic: Prva grupa srbijanskih studenata, drzavnih pitomaca Jkolovanih u inostranstvu (1839—1842). (Die erste Gruppe serbischer Studenten, die als Staatsstipendiaten im Ausland ausgebildet wurden [1839—1842]). In: Istorijski casopis. 1959. IX—X. S. 363—374. 3 ) Arhiv Srbije, fond Velike skole (Archiv Serbiens, Bestand der Hochschule) [weiterhin: AS, VS] 1888, 11.

D i e ersten im A u s l a n d ausgebildeten B e l g r a d e r P r o f e s s o r e n

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Stützung als großzügig bezeichnet werden, denn insgesamt waren in allen acht Semestern nur 285 Studenten immatrikuliert 4 ). Die Mehrheit der ersten Professorengeneration hatte bereits vor ihrem Studium im Ausland eine der Fakultäten der Hochschule absolviert, nur zehn von ihnen hatten nicht in Belgrad studiert. In diese Zahl haben wir Professor Aleksandar Belic nicht eingerechnet, der nach Beendigung des ersten Studienjahres an der Philosophischen Fakultät in Belgrad aus familiären Gründen an die Universität Odessa wechselte 5 ). Der spätere Professor für Kirchenrecht, Cedomir Mitrovic, hatte die Theologische Hochschule absolviert, vier Professoren, die nicht in Serbien studiert hatten, waren Serben aus Österreich-Ungarn, und nur fünf Professoren hatten ihre Studien im Ausland betrieben, ohne vorher die Hochschule absolviert zu haben 6 ). Einige unter ihnen meinten, daß sie mit dem Studium in Belgrad nur Zeit verlieren würden, andere wieder waren in der Lage, auch ohne Unterstützung des Staates zu studieren. Darüber hinaus stellte ja der Staat die Bedingung, daß jeder Kandidat ein Diplom einer der drei Belgrader Pakultäten besitzen mußte.

D I E RICHTLINIEN FÜR IM AUSLAND STUDIERENDE PROFESSOREN

Die meisten Professoren der Belgrader Universität waren, wie gesagt, Stipendiaten der serbischen Regierung, beziehungsweise eines ihrer Ministerien. Neben den Stipendien gewährte die serbische Regierung eine weitere Unterstützung in Form der Weiterzahlung der Gehälter an diejenigen, die sich ins Ausland begaben, sodaß sie auf diese Weise studieren konnten. Für die Ausbildung der Professoren der Hochschule und der Mittelschullehrer sorgte das Ministerium für Erziehung und Bildung, das vor der Ausschreibung jedes Wettbewerbs für die Entsendung von Stipendiaten zum Studium ins Ausland den Akademischen Rat, das höchste Gremium der Hochschule, nach Bedarf im Ausland ausgebildeter Lehrer befragte. Der Akademische Rat stellte dem Ministerium Listen der vakanten Lehrstühle und der Disziplinen zur Verfügung, die an der Hochschule nicht vertreten waren und für die man Fachleute brauchte. S o wurde zum Beispiel im Oktober 1884 der Bedarf an 31 Fachlehrern aus ganz verschiedenen Gebieten angemeldet — von Lehrern für Geschichte der Philosophie bis zu Dozenten für das Fach Wasserbau, wobei dieser Bedarf an Kandidaten mit der „Notwendigkeit eines permanenten Vortragens von wissenschaft-

) S t o g o d i n a , S. 36. ) M. Stevanovic: Z i v o t i rad A l e k s a n d r a Belica ( A l e k s a n d a r Belic's Leben und W e r k ) . In: Z b o r n i k r a d o v a o A l e k s a n d r u Belicu. B e o g r a d 1976. S. 3 — 5 0 . ' ) E s handelt sich u m S l o b o d a n J o v a n o v i c , Zivojin Peric, Branislav Petronijevic, K o s t a K u m a n u d i u n d M o m c i l o Nincic. 4

5

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Ljubinka Trgovcevic

liehen Fächern an der Hochschule" begründet wurde, „damit es nicht passiere, daß die Hochschule in so eine traurige Lage gelange, wie dies bereits einmal der Fall war . . . " ' ) . Vier Jahre später (1888) war die Situation schon viel besser und die Ausbildung von Lehrern wurde nur mehr für neun Wissenschaftsbereiche gefordert 8 ). Uber die endgültige Zahl der an eine der europäischen Universitäten zu entsendenden Stipendiaten hatte das Ministerium für Bildung und Erziehung zu entscheiden, das auch den Wettbewerb ausschrieb, für die Wahl der Stipendiaten waren aber die Fakultäten der Hochschule zuständig. Eine der Bedingungen für das Studium im Ausland war der Besitz eines Diploms der Hochschule, denn man war der Meinung, daß Fachkräfte mit einem Hochschuldiplom und aktive Mittelschullehrer imstande sein würden, die Studien im Ausland rascher zu beenden, da ihre erfolgreich abgeschlossenen Studien an einer Belgrader Fakultät „gewährleisteten, daß sie die ihnen im Ausland gebotene Chance ernsthaft nützen würden, um sich so gut wie möglich für ihr Fach vorzubereiten"'). Es gab jedoch bei Anwendung dieser Regel hie und da Ausnahmen. So begab sich einer der größten serbischen Philosophen, Branislav Petronijevic, ohne die Hochschule absolviert zu haben, nach Wien, um dort Medizin zu studieren. Das war auch ganz verständlich, da es in Belgrad keine medizinische Fakultät gab; aber er wechselte nach einem Jahr nach Leipzig, um dort Philosophie zu studieren. Daraufhin wurde ihm sein Stipendium zunächst entzogen, jedoch gewährte man es ihm nach einiger Zeit wieder, da er im Laufe seines Studiums gute Erfolge erzielte. Auch Aleksandar Belic gelang es, dank des Engagements seines Professors an der Hochschule, Ljubomir Stojanovic, eine Unterstützung für sein Studium in Rußland zu erhalten, obwohl er nur ein Jahr an der Hochschule studiert hatte. Es gab aber auch Fälle, in denen der Akademische Rat der Hochschule selbst vorschlug, einem Kandidaten ein Stipendium zu gewähren, der diese Voraussetzungen nicht erfüllte. Dies geschah zum Beispiel im Fall des späteren Professors der Fakultät für Rechtswissenschaften, Slobodan Jovanovic, von dem es hieß, daß „dieser junge Mann das Gymnasium so vorzüglich absolviert hatte und an der Universität in Genf so vorzüglich die Rechtswissenschaften studiere", daß man ihm eine Unterstützung gewähren sollte10). Alle Staatsstipendiaten mußten sich verpflichten, nach beendetem Studium eine bestimmte Anzahl von Jahren im Staatsdienst zu arbeiten, und vor ihrer 7 ) Arhiv Srbije, fond Ministarstva prosvete (Bestand des Unterrichtsministeriums), [weiterhin: AS, MPS] 1884, 185: Brief des Unterrichtsministers an den Rektor der Hochschule und die Antwort des Rektors vom 27. Oktober 1884 (alte Zeitrechnung!), d . h . vom 8. November 1884. 8 ) AS, VS, 11: Brief des Akademischen Rates an den Unterrichtsminister vom 12./24. August 1888. ') Siehe Anm. 7. 10 ) AS, V$ 1888, 11: Brief des Unterrichtsministers vom 14./26. November 1888.

Die ersten im Ausland ausgebildeten Belgrader Professoren

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Abreise ins Ausland mußten sie eigenhändig die Regeln abschreiben und unterzeichnen. Diesen Regeln gemäß waren sie verpflichtet, vor Beginn jedes Semesters dem Unterrichtsministerium das Programm der gewählten Vorträge zuzustellen, jeden Mai und November einen ausführlichen Bericht zu unterbreiten, ihre Lehrbücher anzuführen und Bestätigungen über die bestandenen Prüfungen beizulegen. Falls es keine Prüfungen gab, mußten die serbischen Studenten außerordentliche Prüfungen ablegen. Diese Berichte wurden einer Fakultät der Hochschule zur Begutachtung zugestellt. Daß dies nicht nur eine reine Formsache war, beweist die Tatsache, daß man Jovan Cvijic, den damaligen Studenten in Wien, ermahnte, es genüge nicht, „nur die gewählten Fächer aufzuzählen, sondern man sollte begründen, warum man die Fächer gewählt hatte, diese mit dem bereits erlernten Stoff in Zusammenhang bringen, sowie mit den Fächern der kommenden Semester verbinden" 11 ). Nach dieser „Rüge" begann Cvijic Berichte zu schreiben, die mehr als zehn Seiten umfaßten. So gab er in seinem Bericht vom Dezember 1891 den ganzen Inhalt der Vorlesung „Physikalische Geographie Österreich-Ungarns" von Professor Albrecht Penck in gekürzter Form wieder 12 ). Daß es sich hier um keine Ausnahme handelte, sondern um eine Verpflichtung für alle, beweist der Bericht eines anderen Studenten der Wiener Universität, Stevan Markovic, der Physik studierte und für das Fach Mechanik, das Professor Josef Stefan lehrte, im Wintersemester 1890/91 in 71 Punkten aufzählte, was die Studenten gelernt hatten, aufgrund welcher Theorien, über welche physikalischen Gesetze sie gearbeitet hatten, usw.13). Daß die Belgrader Hochschule ihre Aufgabe im Zusammenhang mit der Beurteilung der Arbeiten der an ausländischen Universitäten studierenden Staatsstipendiaten sehr ernst nahm, beweisen uns die Berichte des Studenten am Berliner Polytechnikum und späteren Professors für Baukonstruktionen an der Technischen Fakultät in Belgrad, Andra Stevanovic. Aufgrund seines Berichtes für das Wintersemester 1885/86 war die Hochschule der Meinung, daß er „die gewählten Vorträge und Übungen mit gutem Erfolg besuche", aber man könne nicht beurteilen, wie und was er gelernt habe, solange man nicht im Besitz seiner Zeichnungen sei14). Ende November schickte er ihnen fünfzehn Zeichnungen, und aus diesen Unterlagen schloß der zuständige Professor der Hochschule, daß der „Stipendiat imstande war, das, was er gehört hatte, auch selbständig anzuwenden" 15 ). Diese Richtlinien waren jedoch nicht für jedes Fach

u ) AS, MPS 1893, IV-185: Gutachten von Sima Lozanic vom 6./18. Juli 1891, das an den Unterrichtsminister gerichtet war. 12 ) Ebenda. ") AS, VS 1891, 89: Bericht an den Unterrichtsminister vom 27. April/9. Mai 1891. u ) AS, VS 1886, 63: D. S. Milutinovics Gutachten vom 12./24. Juni 1886. 15 ) Ebenda, Nr. 150: Gutachten desselben Professors vom 4./16. Dezember 1886.

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Ljubinka T r g o v c e v i c

geeignet. Das beweisen die Berichte des Stipendiaten Bogdan Popovic, der in Paris französische und allgemeine Literaturgeschichte studierte und aufgrund der Bestimmungen dieser Vorschrift auch die Liste der von ihm benutzten Bücher zusenden mußte, was aber für einen Studenten dieser Studienrichtung fast undurchführbar war. Darum entschloß er sich, nur einige Werke und Zeitschriften anzuführen, die auf „die Richtung (oder die Schule) meiner Lektüre" hinweisen16).

K R I T E R I E N FÜR DIE W A H L AUSLÄNDISCHER UNIVERSITÄTEN

Die Professoren der Belgrader Universität studierten an 23 Universitäten in fünf Staaten (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Übersicht der Studienorte nach Ländern und Universitätsstädte

Land Berlin Deutschland ÖsterreichUngarn

Universitätsstädten

10 Wien 10

TüFreiburg bingen 2 2 Budapest 1

Graz 1

München 7

Aachen Leipzig Dresden Rostock insgesamt

Prag 1

Lemberg Krakau 1 1

1

6

1 Agram 1

1

30

16

Paris Frankreich

14

14 Zürich

Schweiz

Rußland

1

Genf

Lausänne

4

Peters- Moskau Odessa bürg 3 2 1

Freiburg 1

1

7

6

Die Gesamtzahl übersteigt die tatsächliche Professorenzahl, da einige von ihnen an zwei o d e r mehreren Universitäten studierten.

Überwiegend studierten sie an deutschen Universitäten, wo sie meist auch den Doktortitel erwarben (siehe Tabelle 3). Die beliebteste Studienstadt war Paris mit den Fakultäten Sorbonne, Ecole Normale Supérieure und Collège de

" ) AS, M P S 1893, X X X I X - 1 4 2 : Bericht des Unterrichtsministers vom 1 8 . / 3 0 . Mai 1888.

Die ersten im Ausland ausgebildeten Belgrader Professoren

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France. Nach Paris kamen Berlin, Wien und München. 26 von insgesamt 44 Professoren, die im Ausland studierten, waren nur an einer der genannten Universitäten immatrikuliert, die übrigen wechselten von einer Universität zur anderen und so mancher studierte gar an mehreren Universitäten. Diejenigen, die ihr Studium in Paris begannen und beendeten, waren prozentuell am zahlreichsten: nämlich 8 von insgesamt 14 Studenten. Immerhin waren die Studenten des Berliner Polytechnikums die treuesten: alle fünf Professoren, die dort studierten, harrten an dieser Hochschule bis zum Ende ihrer Studien aus17). Unter den großen Universitätszentren verzeichnete man in Wien die stärkste Fluktuation von Studenten: nur Jovan Cvijic, Svetolik Radovanovic und Stevan Markovic begannen und beendeten hier ihr Studium, während die übrigen nur einige Semester in Wien verbrachten. Im Gegensatz zur oft vertretenen Meinung studierte nur eine auffallend geringe Anzahl von Professoren in Rußland, es waren nur vier, darunter zwei Philologen: Aleksandar Belic studierte in Odessa und Moskau, seinen Doktor machte er jedoch in Leipzig; Radovan Kosutic, der drei Jahre in Petersburg studierte, aber einen Teil seiner Studienzeit in Wien verbrachte; dort erwarb er auch sein Diplom und studierte außerdem noch in Prag, Krakau, Lemberg und Paris. Der spätere Professor der Leipziger Universität, Dragisa Djuric genoß zwei Jahre seiner Ausbildung an der Fakultät für Rechtswissenschaften in Petersburg, während der Historiker Stanoje Stanojevic, nachdem er in Wien seinen Doktortitel erworben hatte, zur Ergänzung und Vervollkommnung seiner Ausbildung einige Zeit in Moskau, Petersburg und München lebte. Verglichen mit der Zahl der Universitätsprofessoren und der weitverbreiteten Meinung, daß viele serbische Professoren in Rußland studiert hätten, sind das eher wenige. Abgesehen vom Professor für experimentelle Physik, Djordje Stanojevic, der nach seinem Studium in Deutschland einige Zeit in den Laboratorien von Cambridge und Greenwich verbrachte, studierte keiner in Großbritannien. Die Frage nach den Gründen, die die Wahl der Universitäten beeinflußten, ist nicht leicht zu beantworten, besonders dann, wenn die Kosten aus eigener Tasche bestritten wurden. Handelte es sich um bereits zu einem früheren Zeitpunkt erworbene Sprachkenntisse oder um das Ansehen der betreffenden Universität? Wahrscheinlich spielten bei der Entscheidung mehrere Faktoren eine Rolle. Für die Staatsstipendiaten schlug der Akademische Rat der Hochschule den Studienort vor. Die Begründung für die Wahl des Studienortes, in den der Stipendiat entsandt wurde, ist in mancherlei Hinsicht interessant, denn sie sagt gewiß auch etwas darüber aus, wieviel man von den einzelnen Universitäten und der Entwicklung der Wissenschaft an diesen Stätten wußte; sie gewährt weiters auch Einsicht in die Erwartungen der Professoren hinsichtlich der 17

) Das waren: Andra Stevanovic, Nikola Nestorovic, Milenko Turudic, Dragoljub Spasic und Milorad Ruvidic.

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neuesten Errungenschaften, die aus den europäischen Zentren nach Serbien übernommen werden sollten, aber sie weist auch auf die kritische Einstellung der Professoren hin, da einige ihre jungen Mitarbeiter an jene Universitäten schickten, an denen sie selbst früher studiert hatten, während andere wieder meinten, ihre Mitarbeiter würden an einer anderen Universität besser ausgebildet werden. Zur Illustration dessen möchte ich einige Gründe für die Wahl der Universitäten, an denen die im Jahre 1888 auserkorenen Staatsstipendiaten studieren sollten, anführen. Hinsichtlich der Entscheidung für die Universität Wien für den Geographiestudenten Jovan Cvijic hieß es, daß er Kartographie, physische, politische, verwaltungsbezogene, statistische und historische Geographie an der Universität studieren, praktische Übungen am Geographischen Institut besuchen und Meteorologie und Klimatologie am Polytechnikum belegen müsse. Da diese drei Einrichtungen in Wien existierten, hielt man es für richtig, ihn eben dort studieren zu lassen18). Ein nachmaliger Dozent für Verwaltungsrecht mußte zunächst in Deutschland studieren und danach nach Belgien gehen. Als Begründung für diese Entscheidung führte man an, die Belgrader Fakultät für Rechtswissenschaften vertrete die Ansicht, daß die „Wissenschaft der Staatsverwaltung und des Verwaltungsrechts eine neuere Errungenschaft der deutschen Wissenschaft sei, während sich die französische Wissenschaft durch Vertretung der praktischen Seite dieser Disziplin auszeichne", und daß der Stipendiat deshalb beide Universitäten kennenlernen müsse. Man unterstrich, es sei wünschenswert, den Stipendiaten bei Professor Meyer in Jena studieren zu lassen, und für sein Studium in Belgien wurde als Grund angeführt, die eben erlassene serbische Verfassung habe ziemlich viel Ähnlichkeit mit der belgischen 19 ). Ein anderer Stipendiat, der Griechisch studierte, sollte nach Meinung der Philosophischen Fakultät in Belgrad Vorlesungen in Deutschland — und zwar am besten in Leipzig — hören, da „auch selbst die Griechen, die Altgriechisch gründlich erlernen wollen, nach Germanien gehen". Die Berliner Universität hielt man wiederum deshalb für gut geeignet, weil der Stipendiat gleichzeitig an der Preußischen Anstalt für Statistik ausgebildet werden könne. Berlin und Leipzig wurden auch im Zusammenhang mit dem Studium der Wirtschafts- und Finanzwissenschaften sowie der allgemeinen Geschichte erwähnt, wobei dem zukünftigen Historiker empfohlen wurde, eine gewisse Zeit auch in Paris zu verbringen 20 ). Für das Pädagogikstudium zog man gleichfalls die deutschen Universitäten vor, denn „diese Wissenschaft ist in Deutschland entstanden und wird dort am

™) AS, VS 1888, 11: das Schreiben des Akademischen Rates der Hochschule an den Unterrichtsminister vom 9./21. Februar 1889. »') Ebenda. 2Ü ) Ebenda.

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Die ersten im Ausland ausgebildeten Belgrader Professoren

meisten gepflegt". Wien hielt man dagegen f ü r den besten Platz, um das Bankwesen und die Börsengeschäfte zu studieren. Es ist schwer zu beurteilen, was die damaligen Professoren der Hochschule dazu bewog, die eine oder die andere Universität f ü r die Ausbildung ihrer künftigen Kollegen zu bevorzugen. In einigen Fällen lag die Ursache sicher in der persönlichen Erfahrung mit den betreffenden Universitätszentren. Deshalb wurden beispielsweise beinahe alle Professoren der Technischen Fakultät in Deutschland ausgebildet. Es gibt jedoch auch Gegenbeispiele. So wählten die Professoren Milan Nedeljkovic, ein ehemaliger Student in Paris, und Professor Milan Andonovic, der in Karlsruhe, München und Aachen studiert hatte, f ü r den Stipendiaten Jovan Cvijic gerade Wien als den geeignetsten Studienort 21 ), da es vor allem um die Qualität der einzelnen Universitäten und ihre Eignung zu bestimmten Studien ging. Die Entscheidung wurde zwar von den Professoren getroffen, doch die Wünsche der Stipendiaten wurden so weit wie möglich berücksichtigt. Darum ist es ziemlich schwierig, in den Auswahlkriterien eine bestimmte Regel festzustellen. Auch das Beispiel der Fakultät für Rechtswissenschaften, deren Professoren in der Mehrzahl an einer Fakultät im französischen Sprachraum studiert hatten (Paris, Genf), ist ein Beweis für die bereits oben getroffene Feststellung. Man hätte eigentlich erwarten können, daß nach der Änderung der serbischen Verfassung von 1888, die auf dem französischen Rechtssystem beruhte, die meisten Professoren an französischen juridischen Fakultäten studieren würden. Das war indessen nicht der Fall: von sechs Professoren der Fakultät f ü r Rechtswissenschaften studierten nach 1888 drei im französischen Sprachraum und drei im deutschen (siehe auch Tabelle 2). Tabelle 2: Aufteilung

nach Sprachgebieten Sprachgebiet

Fakultäten

deutsch

französisch

Naturwissenschaften und Mathematik

16%

26%

Geisteswissenschaften und Philologie

37%

13%

russisch



Philosophische

Juristische

45 %

Technische

100 %

21

55% —

8,7 %





) AS, MPS 1893, IV-185: Vorschlag des Rektors vom 21. Januar/7. Februar 1889.

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Ljubinka Trgovcevic

Tabelle 3: Promotionen München Wien Leipzig Paris

4 4 3 3

Genf Tübingen Rostock Lausanne

2 2 1

Freiburg i. Br. Budapest Krakau

1 1 1

honoris causa

Es gab auch Fälle, daß Studenten ihren Willen durchsetzten und an eine Fakultät ihrer Wahl entsandt wurden. Zu dieser Gruppe gehörte Bogdan Popovic, Professor für französische und allgemeine Literatur, einer der bedeutendsten Literaturtheoretiker, den Serbien je besaß. Er war zwar arm, wollte aber nicht irgendeine Lehrstelle annehmen, die „ihrer Natur nach im Widerspruch zu der Arbeit an der eigenen Bildung und der Fortsetzung des Studiums stand". Lieber arbeitete er einstweilen als Anwärter an der Hochschule und wartete auf eine Gelegenheit, sich früher oder später doch nach Paris begeben zu können, um dort zu studieren 22 ). Seinen Wunsch begründete er mit den Worten, daß „kein Volk so fleißig und fachkundig seine Geschichte und Literatur aufarbeite wie die Franzosen", und die „bis zur Vollkommenheit gestaltete französische Geschichts- und Literaturkritik ließe sich auch auf die Arbeit über die Geschichte und Literatur Serbiens anwenden" 23 ). Obwohl er an der Hochschule gute Noten hatte und die Unterstützung seiner Professoren genoß, mußte er über zwei Jahre auf das staatliche Stipendium warten. Er bekam es erst im September 1887 und zwar aus den Mitteln, die vom Stipendium des damaligen Jusstudenten und späteren serbischen Außenministers, Milovan Milovanovic, übriggeblieben waren. So konnte Popovic sich erst gegen Ende des genannten Jahres an der Faculté des Lettres der Sorbonne eintragen lassen24). Ahnlich war es im Fall von Mihailo Petrovic, dem später in ganz Europa bekannten Mathematiker, der sich auf eigenen Wunsch an der École Normale Supérieure immatrikulieren ließ und dort als erster Serbe eine „licence" in Mathematik und Physik und das Doktorat der mathematischen Wissenschaften erwarb. Aber auch ihm war es nicht sofort gelungen, ein Stipendium der serbischen Regierung zu erlangen 25 ). In der erhaltenen Korrespondenz der Belgrader Universität gibt es nur wenige Angaben über jene Universitäten, an denen Professoren studiert hatten, und man findet auch kaum etwas über das Unterrichtssystem, die Lehrer, usw. Die meisten genaueren Angaben — aber auch den Eindruck persönlicher Un22

) AS, V§ 1888, 58: Brief an den Professorenrat vom 6./18. August 1887. ") AS, MPS 1893, XXXIX-142: Brief an den Unterrichtsminister vom 6./18. August 1887. 24 ) Ebenda: Brief aus Paris vom 13./25. Dezember 1887. 25) D. V. Trifunovic: Letopis zivota i rada Mihaila Petrovica, 24. april 1868 —8.juni 1943 (Die Annalen des Lebens und der Arbeit von Mihailo Petrovic, 24. April 1868 —8. Juni 1943). Beograd 1969.

Die ersten im Ausland ausgebildeten Belgrader Professoren

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Zufriedenheit — hinterläßt der bereits bekannte Bogdan Popovic. Gleich nach seiner Ankunft in Paris stellte er fest, daß sich sein Wunsch, französische und allgemeine Literatur zu studieren, nur schwer verwirklichen lasse. Der Grund dafür war seiner Meinung nach das starre Unterrichtssystem und, daß man der griechischen und lateinischen Sprache zu viel Aufmerksamkeit widme. Obgleich auch er die Bedeutung dieser beiden Sprachen betonte, kritisierte er, die Professoren würden dafür so viel Zeit aufwenden, daß für andere Studien keine Zeit mehr bleibe. Seiner Unzufriedenheit machte er mit den Worten Luft, er hätte Griechisch und Latein auch in Belgrad lernen können, denn „solche Dinge lassen sich überall erlernen, wo man sich zwei Wörterbücher und zwei Grammatiken beschaffen kann, aber nie und nirgendwo werde ich mehr Gelegenheit haben, alle diese glücklichen Umstände zu vereinen", wobei er an den Reichtum der Pariser Museen und Bibliotheken dachte 26 ). Er führte auch an, daß es „keine andere Universität gebe, wo der Studierende weniger Student sei als hier", womit er die Sorbonne meinte. Nachdem seine Zeit für das Studium der Weltliteratur nicht reichte, schrieb er, seine Studien seien „grenzenlos schädlich sowohl für diejenigen, die später von mir einen Nutzen erwarten, als auch für mich" 27 ). Das Unterrichtsministerium war da anderer Meinung und riet ihm, seine Prüfungen im Fach „Klassische Sprachen abzulegen, um das Studium der Geschichte und Literatur beenden zu können, auch wenn er sich dann länger im Ausland aufhalten müsse" 2 8 ). So bestand Bogdan Popovic trotz seiner Kritik die Prüfungen aus dem Fach „Literatur" und erwarb seine „Licence des Lettres" als „premier admissable" unter 115 Kandidaten, während er im Fach „Klassische Sprachen" an 17. Stelle rangierte. Damit er seinen Wunsch nach „selbständigem Erwerb breiterer Bildung auch außerhalb der Studienprogramme" erfüllen konnte, wurde ihm eine weitere finanzielle Unterstützung gewährt, die es ihm ermöglichte, noch weitere 18 Monate in Paris zu verbringen 29 ).

D E R EINFLUSS DER STUDIEN AUF DAS POLITISCHE VERHALTEN DER PROFESSOREN IN INTERNATIONALEN KRISENSITUATIONEN

Die Bedeutung dieser ersten Generation von Universitätsprofessoren in Serbien war groß. Als ehemalige Professoren der Hochschule und danach auch der

" ) AS, M P S 1893, X X X I X - 1 4 2 : Bericht aus Paris an den Unterrichtsminister vom 18./30. Mai 1888. " ) Ebenda. 28 ) AS, VS 1888, 5: Antwort auf den angeführten Brief von Bogdan Popovic vom 11./23. Juni 1888. " ) AS, M P S 1893, X X I X - 1 4 2 : Brief aus Belgrad vom 13./25. Januar 1893.

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Universität schufen sie in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Grundstock für eine moderne wissenschaftliche Arbeitsweise in Serbien, die zu einem guten Teil — neben Talent und Aufopferung — auf den Kenntnissen beruhte, die sie von den damals berühmtesten europäischen Universitäten mitgebracht hatten. Gemeinsam mit einigen ihrer Vorgänger ermöglichte diese Generation die außerordentlich rasche Entwicklung der unterschiedlichsten Wissenschaftszweige und die Entfaltung der Belgrader Universität zu einem wissenschaftlichen Zentrum, dessen Vertreter auch in der europäischen Wissenschaft hervorragende Stellung einnahmen. Zu erwähnen sind hier nochmals die Namen des Geographen Jovan Cvijic, des Mathematikers Mihajlo Petrovic, des Philologen Aleksandar Belic und einiger anderer Wissenschaftler, deren Forschungen in die europäische Wissenschaftsgeschichte Eingang fanden. Es war dies die Generation, die wesentlich zur dynamischen Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts beitrug. Hier muß unter anderem erwähnt werden, daß die meisten Professoren der Technischen Fakultät Architekten oder Bauingenieure waren, was mit der Politik der damaligen Regierungen, die das Land möglichst schnell aufbauen wollten, im Einklang stand. Dazu trugen die Professoren entweder persönlich oder durch ihre Schüler sehr viel bei. Teilweise ist die erfolgreiche Tätigkeit dieser Generation serbischer Wissenschaftler sicher auch die Frucht des Wissens, das sie sich an den ausländischen Universitäten angeeignet hatten. Viele von ihnen strebten noch lange nach Beendigung ihrer Studien eine Fortsetzung der guten freundschaftlichen Beziehungen mit ihren ehemaligen Professoren an, obwohl einige serbische Professoren in der weiteren Entwicklung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit mit den Thesen ihrer Lehrer nicht mehr einverstanden waren. Ein Beispiel dafür ist die herzliche Beziehung zwischen Jovan Cvijic und seinem Mentor Penck, der von der Wiener Universität nach Berlin ging und deren Freundschaft bis zu Cvijic's T o d bestand. Auf wissenschaftlichem Gebiet ist interessant, daß Cvijic zwar die Grundlage von Pencks Thesen übernommen hatte und diese nachher noch ergänzte; doch obgleich sie eigentlich von denselben Grundsätzen ausgingen, kamen sie in ihren Arbeiten über politische Geographie, die sie während des Ersten Weltkriegs schrieben, zu sehr verschiedenen Ergebnissen. So trennten sich Lehrer und Schüler erst bei der Beantwortung von Fragen, die eher der wissenschaftlichen Praxis zuzuordnen sind, als der Wissenschaft selbst. Der Einfluß ihrer ehemaligen Universitäten färbte auch auf die Arbeiten einiger Professoren der Technischen Fakultät ab, die sie in Serbien verwirklichten. Die meisten Architekten, die in Deutschland studiert hatten, trugen den damals aktuellen Sezessionsstil nach Serbien, obwohl es auch Versuche gab, einen eigenständigen Architekturstil zu prägen. Schließlich darf auch nicht vergessen werden, daß die meisten Professoren durch ihre Auslandsstudien dazu beitrugen, die Kultur ihres ehemaligen Gastlandes den Serben zu vermitteln. Man kann jedoch nicht behaupten, daß die Ausbildung im Ausland die poli-

Die ersten im Ausland ausgebildeten Belgrader Professoren

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tische Haltung der Professoren beeinflußte, was insbesondere in der ereignisreichen Zeit nach Eröffnung der Belgrader Universität zu beobachten war. Obwohl die meisten Professoren der Belgrader Universität in Deutschland und Österreich-Ungarn studiert hatten, führte die Bedrohung Serbiens seitens dieser Großmächte nur dazu, daß fast alle Professoren die nach Unabhängigkeit strebende Außenpolitik ihres Landes unterstützten. Diesen Standpunkt bezogen sie auch im Ersten Weltkrieg. Die meisten Professoren standen, insbesondere nach der Annexionskrise 1908/09, an der Spitze der anti-österreichisch-ungarischen Politik. Von ihnen möchte ich nur Jovan Cvijic, den ehemaligen Studenten in Wien, und Bozidar Markovic, den ehemaligen Studenten in Deutschland, sowie Jovan Skerlic, der in der Schweiz studiert hatte, erwähnen. Ein weiteres Beispiel für unsere Behauptung, daß sich zwischen dem Studienort und dem späteren politischen Bewußtsein keine Korrelation herstellen läßt, ist der Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Zivojin Peric. Er hatte sein Studium in Paris absolviert und alles aus eigenen Mitteln bestritten, was darauf schließen läßt, daß dies sein persönlicher Entschluß war. Trotzdem war er später als einziger Professor der Belgrader Universität sowohl austrophil als auch germanophil. Er vertrat die Meinung, daß es für Serbien unumgänglich sei, sich mit der Habsburgermonarchie und Deutschland zu verbünden. Um seine politischen Ansichten auch realisieren zu können, gründete er die „Konservative Partei", deren Programm auf ein solches Bündnis abzielte. Diese Richtung verfolgte er auch im Laufe des Ersten Weltkrieges bis zum Jahre 1918; er schrieb mehrmals, daß Serbien und Montenegro als drittes gleichberechtigtes Mitglied eine Föderation mit Österreich-Ungarn bilden sollten. Aufschlußreich ist auch das Schicksal dieser Professoren im Ersten Weltkrieg. Von den verbliebenen 40 Professoren der „ersten Generation" folgten 32 ihrer Regierung in die „Emigration" nach Ni$, einer wurde interniert, und nur sieben blieben freiwillig in Serbien. Es bleibt noch zu erwähnen, daß aus dieser Generation auch mehrere politische Persönlichkeiten Serbiens (und später Jugoslawiens) hervorgingen. Fünf Professoren verließen die Universität und widmeten sich nur noch der Politik, aber auch unter denjenigen, die an der Universität blieben, waren mehrere Minister und Abgeordnete. Obwohl eine bedeutende Anzahl von Professoren die Wissenschaft nicht mit der Politik verband und kein politisches Engagement zeigte, gehörten diejenigen, die sich für eine bestimmte politische Partei entschieden hauen, ausschließlich entweder der Radikalen Partei oder der Selbständigen Radikalen Partei an. Nur ein einziger von ihnen war Mitglied der Serbischen Sozialdemokratischen Partei, während der Konservativen Partei von den Professoren nur ihr Gründer, der bereits erwähnte Zivojin Peric, angehörte.

JAN HAVRÄNEK

DIE ROLLE DER UNIVERSITÄTEN U N D DER M O D E R N E N „PEREGRINATIO ACADEMICA" FÜR D E N SOZIALEN AUFSTIEG DER S T U D E N T E N

Die Universitäten ermöglichten zu allen Zeiten ihren Studenten den sozialen Aufstieg. Bis heute existiert der akademische Titel als Namensteil auch in Ländern, in denen Adelstitel schon längst abgeschafft wurden. Die Titel „Magister" und „Doktor" waren gewissermaßen deren Äquivalente und die Promotion ist bis zum heutigen Tage eine Quasi-Nobilitierung. Selbstverständlich studierte bis zum 18. Jahrhundert an den Universitäten nur ein Bruchteil einer Generation junger Männer, meist weniger als 1 %. Ganz ausnahmsweise, wie z. B. im späten 16. Jahrhundert in Kastilien, machte der Anteil der jungen Männer, wie uns Richard L. Kagan zeigt 1 ), mehr als 5 % aus. Die Entscheidung für das Universitätsstudium mußte bereits in relativ jungen Jahren gefaßt werden, in Mitteleuropa vorwiegend mit zehn oder elf Jahren; denn die Zeit bis zum Studienbeginn wurde vor allem genützt, um Latein zu erlernen, das an der Universität Unterrichtssprache war. Die besten Resultate im Lateinunterricht erreichten die mitteleuropäischen Gymnasien skurrilerweise im 19. Jahrhundert, also zu einer Zeit, als Latein nicht mehr Vorlesungssprache der Universitäten war. Von denen, die ein Gymnasium besucht hatten, waren einige erfolglos geblieben, andere wiederum gaben sich mit der Matura zufrieden, die ihnen den Einstieg in eine angemessene Stellung im Staats- oder Privatdienst ermöglichte. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts galt in ganz Europa in erster Linie der Priesterberuf als Studienziel. Erst im 19. Jahrhundert wuchs die Zahl der Studenten allmählich an. Die gute materielle Stellung und das Sozialprestige der Doktoren, Professoren und Staatsbeamten motivierte die Eltern ganz entscheidend, ihre Kinder ins Gymnasium zu schicken. Wie sonst kann man den Umstand erklären, daß im Studienjahr 1889/1890 unter den Studenten der tschechischen Universität — damals noch ohne Theologische Fakultät — mehr als 25 % aus dem Bauernstand und mehr als 33 % aus Familien des nicht-akademischen Bürgertums stamm*) R. L. Kagan: University in Castile. In: The University in Society. Bd. II. Princeton 1974. S. 355—405.

Die Universitäten und die moderne „peregrinatio académica"

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ten 2 ). Am Vorabend des Ersten Weltkrieges erreichte die Zahl der Studenten in allen Ländern Ost- und Mitteleuropas einen Höhepunkt. In der Habsburgermonarchie waren an allen Universitäten im Jahre 1857 insgesamt 8809 Studenten immatrikuliert, im Jahre 1914 war ihre Zahl bereits auf 38.425 angestiegen. Die Zunahme der Studentenzahl im Russischen Reich war aber noch größer. Im Jahre 1850 registrierte man an den fünf russischen Universitäten 3018 Studenten, 1880 an acht Universitäten 8193 Studenten, im Jahre 1912 zählte man an der Moskauer Universität 15.000 Studenten und an der Universität von Sankt Petersburg waren 13.000 immatrikuliert. Die Berufsaussichten für diese überdimensional angewachsenen Studentenmassen waren düster. Die tschechische Studentenorganisation veröffentlichte in ihrem Kalender für das akademische Jahr 1914/15 eine sorgfältige Analyse der Berufsaussichten für die Studenten der tschechischen Philosophischen Fakultät, die Gymnasialprofessoren werden wollten — und das war damals bei weitem die überwiegende Mehrheit der Studenten dieser Fakultät. Die Berufsaussichten waren im allgemeinen schlecht, doch gab es zwischen den verschiedenen Gegenständen bedeutende Unterschiede. Die Lateinprofessoren konnten nach fünfjähriger Dienstzeit als Supplenten mit einer festen Anstellung rechnen. Die Absolventen der Richtung Tschechisch-Deutsch hingegen konnten erst nach dem Jahre 1938 mit dem Definitivum rechnen. Die Mathematiker und Physiker mußten bereits auf das Supplieren vier Jahre warten. Die Ereignisse der darauffolgenden Jahre aber haben diese sorgfältig ausgearbeiteten Prognosen zunichte gemacht, wie auch viele andere futurologische Prophezeiungen zuvor und danach. Die Studenten fanden nach dem Ersten Weltkrieg viele freie Stellen an neuen Universitäten und Gymnasien, in den Ministerien, im diplomatischen Dienst und in der Armee der neu gegründeten Republik. Anstatt Supplenten zu werden, waren sie bereits in den dreißiger Jahren Obristen und Botschafter, Gymnasialdirektoren und Universitätsprofessoren. Gerade diese jungen Männer aus der Zeit von 1914, die zwar gute Fachkenntnisse, aber schlechte Berufsaussichten hatten, entschieden sich in den Kriegsgefangenenlagern in Rußland, Frankreich und Italien rasch und mit Begeisterung für den Kampf gegen die Habsburgermonarchie und für eine unabhängige Tschechoslowakei. Sie fühlten sich der Monarchie nicht verpflichtet, nicht zuletzt deshalb, weil ihnen diese keine Alternativen zu bieten hatte. Dagegen erachteten sie ihre Pflichten gegenüber der Nationalgemeinschaft als heilig, geformt durch die Atmosphäre, die an den Gymnasien und den Universitäten geherrscht hatte. Die Gymnasien in Mittel- und Osteuropa hatten die alte Tradition der Jesui2

) J. Havranek: Pocätky a koreny studentskeho pokrokoveho hnuti na zacatku devadesätych let 19. stoleti (Die Anfänge und Wurzeln der Fortschrittlichen Studentenbewegung zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts). In: Acta Universitatis Carolinae — Historia Universitatis Carolinae Pragensis (AUC-HUCP) 2. 1961. 1. S. 10.

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Jan Havränek

ten- und Piaristenschulen übernommen; im 19. Jahrhundert begannen sich jedoch Form und Inhalt der Gymnasialstudien unter dem starken Einfluß des preußischen Modells zu verändern. In diesen Ländern mit großen sozialen U n terschieden und vielen feudalen Resten repräsentierte das ganze Schulsystem — vor allem die Gymnasien — die egalisierenden T e n d e n z e n des josephinischen Etatismus. Keinen Platz hingegen gab es für „Public S c h o o l s " , einen englischen Schultypus. Die sehr wenigen privilegierten staatlichen Eliteschulen, wie zum Beispiel das Wiener Theresianum, ergänzten nur das gut durchdachte und lange Zeit auch gut funktionierende System des Schulwesens, das auch Kindern aus den Unterschichten den Aufstieg ermöglichte, aber nur, wenn sie gegenüber Staat und Kirche volle Loyalität bewiesen. Die neuen Ideologien der Massengesellschaft konnten schließlich nicht vor den T ü r e n der stolzen Gymnasialgebäude haltmachen und der Nationalismus — oder besser gesagt: die Nationalismen — und, wenn auch in viel kleinerem Ausmaß, der Sozialismus fanden im letzten J a h r z e h n t des 19. Jahrhunderts Zugang zu den Studenten. Die Teilung des Studiums in zwei aufeinanderfolgende, jedoch voneinander völlig unabhängige Abschnitte, die meist in zwei verschiedenen Städten absolviert wurden, ersetzte teilweise die klassische mittelalterliche und frühneuzeitliche „peregrinatio academica". Im 19. Jahrhundert wurde die Universität von den Staatsbehörden nur als Staatsbeamtenschule betrachtet. Klar brachte dies der Prager Statthalter Philipp von W e b e r im Jahre 1881 in seinem Protest gegen die Teilung der Prager Universität zum Ausdruck: „Im Gefüge der staatlichen Einrichtungen haben nach meinem Dafürhalten die Universitäten einen doppelten Zweck zu verfolgen: die Pflege der Wissenschaft und die Heranbildung aller jener Männer, welche aufgrund eines höheren Wissens die wichtigsten Aufgaben des Staates — sei es als Angestellte desselben, sei es aufgrund einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Autorisation

— fördern helfen, als: Beamte,

Seelsorger,

Ärzte, Rechtsfreunde, Lehrerbildner, usw." 3 ) U n t e r diesen Umständen beurteilte man das Studium im Ausland als etwas Nutzloses, wenn nicht sogar Schädliches; das wirkte sich auch bei Staatsprüfungen und Nostrifikationen aus. Sogar mehrfacher Universitätswechsel im Inland war selten, weil man in diesem Fall die besonderen Ansprüche bestimmter Prüfer nicht kennenlernen konnte. So bleiben für die Mehrheit der Studenten nur zwei O r t e als wirkliche Anziehungspunkte bestehen: die Universitätsstadt, meistens eine Großstadt, und die Gymnasialstadt, meistens eine Kleinstadt. Dies hob in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Geistesleben verschiedener Städte in Böhmen, wie zum Beispiel Chrudim und T ä b o r , Jicin und LitomySl, Pisek und

3) J. Havränek: Ceskä univerzita v jednäni rakouskych üfadü do roku 1881 (Die tschechische Universität in den Verhandlungen der österreichischen Behörden bis zum Jahre 1881). In: AUC-HUCP 22. 1982. 1. S. 64.

Die Universitäten und die moderne „peregrinatio academica"

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Klatovy, auf ein ziemlich hohes Niveau; die inspirierenden Eindrücke, die ein Aufenthalt an einer fremden Universität mit sich brachte, konnten jedoch nicht ersetzt werden. Auslandsreisen tschechischer Studenten waren bis zum Jahre 1882 selten. N u r die an einer wissenschaftlichen Karriere interessierten Söhne der ersten Generation der tschechischen intellektuellen Führungsschicht und späteren Professoren der Naturwissenschaften an der Prager Philosophischen Fakultät verbrachten einige Semester an Universitäten in Deutschland — so zum Beispiel Vojtech §afarik, Ladislav Celakovsky, Antonin Fric oder zugleich auch in England wie Bohuslav Brauner. Auch einige andere junge Naturwissenschaftler und Techniker verbrachten kurze Zeit an ausländischen Universitäten. Bei den Geisteswissenschaftern hingegen waren Leute mit internationaler Erfahrung, wie sie der ehemalige Leipziger Student Masaryk oder der zeitweilige Sekretär des Botschafters Bancroft in Berlin, Jaroslav Göll, hatten, eher eine Ausnahme. In den neunziger Jahren kam es nicht nur zu einem zahlenmäßigen Ansteigen der Auslandsreisen, sondern auch zu einer Umorientierung hinsichtlich der Wahl der Studienorte. Paris wurde bei den tschechischen Studenten, in erster Linie bei den Malern, die beliebteste Stadt — München, das Ziel der vorhergehenden Generation, war fast vergessen — dann bei den Bildhauern, den Dichtern und Schriftstellern, den Geisteswissenschaftern und zuletzt — das aber vorwiegend nach dem Jahre 1918 mit Hilfe der großzügig verteilten französischen Stipendien — auch bei den Naturwissenschaftlern und Technikern. In Deutschland studierten tschechische Studenten in den letzten zwei Jahrzehnten vor 1914 nur ganz selten und nach 1918 nur mehr in Ausnahmefällen. Einige junge Wissenschafter reisten vor 1914 nach Rußland, um das Land kennenzulernen und große Wissenschafter oder Persönlichkeiten der Kulturszene zu treffen. N u r wenige Physiker, Chemiker und Techniker haben ihre Kenntnisse durch einen Studienaufenthalt in England erweitert, aber gerade diese Leute gehörten dann zu den „Erfindern" und lieferten neue Ideen in ihren Fächern. D o c h nicht nur die Studienaufenthalte, auch die Ferienreisen erweiterten den H o r i z o n t der Studenten. „Das W a n d e r n ist des Müllers Lust . . . " sagt ein altes Lied — aber f ü r die Studenten war es sogar Pflicht. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts reisten sie nicht mehr „per pedes" von einer Pfarre zur anderen, wie zur Zeit der Romantik, sondern mit der Bahn von einer Stadt zur anderen, von einer Studentenherberge zur anderen. Sie kannten zwar nicht die ganze Welt, aber immerhin ihre Heimat und die benachbarten Länder — und die kannten sie ziemlich gut. W e n n diese Reisen den Studenten auch nur in seltenen Fällen direkt zu einem sozialen Aufstieg verhalfen — das war nur der Fall, wenn sie dabei einen Protektor oder eine reiche Braut trafen —, so waren sie dennoch f ü r ihr Prestige in der Gesellschaft und damit auch f ü r ihren sozialen Aufstieg nicht ohne Bedeutung.

GYÖRGY HÖLVENYI

S T U D E N T E N AUS

UNGARN

I H R STUDIUM AN VERSCHIEDENEN UNIVERSITÄTEN IM 1 8 . JAHRHUNDERT

Im 10. Jahrhundert fanden die Ungarn durch die Christianisierung Anschluß an die geistigen Strömungen Europas. Schon seit der Gründung der ersten Universitäten und natürlich auch später studierten Ungarn in Paris, Bologna usw. Bereits im 14. Jahrhundert wurden seitens des Königs und der Kirche Versuche zur Gründung einer ungarischen Universität unternommen, aber alle diese Bemühungen blieben ohne nachhaltigen Erfolg. Im 16. Jahrhundert brachten die politischen Ereignisse und die Reformation grundsätzliche Änderungen mit sich. Die konfessionelle Spaltung blieb nicht ohne Folgen: es kam zu beträchtlichen Differenzen um die geistige Orientierung. Im Habsburgerreich, wie auch im sogenannten „Königreich Ungarn", kam es zur Gegenreformation. Kardinal Petrus Päzmäny, Erzbischof von Esztergom (Gran), gründete im Jahre 1635 die ungarische Universität in Nagyszombat (Tyrnau). Den Unterricht vertraute er den Jesuiten an. Somit sank auch die Zahl jener katholischen Studenten, die ins Ausland gingen. Die Protestanten Ungarns gehörten teils der lutherischen, teils der reformierten Kirche an. Da sie im Lande selbst keine Universität besaßen, mußten sie ins Ausland gehen, wollten sie akademische Grade erwerben. Die Mehrzahl der Auslandsstudenten ließ sich als Kandidaten für das Pastorenamt an verschiedenen ausländischen Universitäten inskribieren und nahm Unterstützungen sowohl von Institutionen als auch von Einzelpersonen in Anspruch. Das Auslandsstudium erforderte von den Studenten nicht nur Opfer, sondern auch geistige Disziplin, die sie aber gerne auf sich nahmen. Geldmangel und Epidemien erschwerten die Migration zusätzlich, und auch der Empfang an den ausländischen Universitäten war nicht immer eben freundlich. Die Verwalter der Fonds zur Unterstützung von Studenten mißbrauchten des öfteren ihre Stellung; und die Zustände in den Universitätsstädten waren darüber hinaus oft sehr ärmlich. Im 18. Jahrhundert wählten die Protestanten den gewohnten und bewährten Weg nach Deutschland, Holland, in die Schweiz und nach England. „Den Hörern, die von Städten geschickt wurden, war nicht nur die Universität, sondern auch die Fakultät vorgeschrieben. Maßgebend waren hiebei die Interessen der

Studenten aus Ungarn

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betreffenden Stadt. Die Städte nahmen lebhaft Anteil an den Fortschritten ihrer Schützlinge im Ausland, standen auch mit einzelnen Professoren in Verbindung und verlangten von den Studenten, daß sie von Zeit zu Zeit über ihre Fortschritte und die Verwendung der erteilten Unterstützung Rechenschaft ablegten. Ein Universitätsstipendium war übrigens ziemlich hoch bemessen." 1 ) Das Schicksal der ungarischen Reformierten, der Calviner, erregte das Interesse ihrer Schweizer Glaubensgenossen. Die ungarischen Studenten an den Schweizer Universitäten schrieben das bedeutendste Kapitel der schweizerischungarischen Kulturbeziehungen. Die Universitätsstädte Basel, Bern, Genf, Schaffhausen und Zürich boten den Auslandsstudenten gute und sichere Lebensverhältnisse. In Basel studierten in der Zeit von 1701 — 1797 203 Ungarn; in Genf und Zürich waren es jährlich mindestens je drei, in Bern vier und in Schaffhausen zwei. Diese Studenten erhielten eine entsprechende Vergütung für Wohnung, Verköstigung, Bücher und Reisekosten 2 ). In ihrer Heimat übernahmen Familien aus dem Hochadel und die Städte die Kosten für das Auslandsstudium. Die ungarischen Studenten schalteten sich oft in die Seelsorge ein, sie unterhielten auch gute und innige Beziehungen zu ihren Professoren. Diese Tatsache wurde von den schweizerischen Familien und der Schweizer Gesellschaft als Empfehlungsbrief gewertet. Die Universitätshörer konnten so die sich neu entwickelnden Disziplinen der Wissenschaften kennenlernen und in Ungarn verwerten; so führten die Reformierten z. B. in Debrecen und Särospatak eine Schulreform nach schweizerischem Vorbild durch 3 ). Die Auslandsstudenten brachten nicht nur wertvolle moderne Bücher nach Ungarn mit, sondern sie versuchten auch, sie ins Ungarische zu übersetzen; es ist also zu verstehen, daß die Behörden diese geistige Vermittlung argwöhnisch beobachteten. Die Studenten erfuhren im Ausland erstmals von der Konfrontation zwischen Aufklärung und Offenbarungsglauben, wobei sie der Radikalismus der französischen Aufklärung beeindruckte. „Denn für Holland waren die Beweggründe zur Reformation auch politischer Natur, sie war eine vaterländische Bewegung und richtete sich gegen die spanischen Machthaber, die den Katholizismus als ,Staatsreligion' ansahen und die Inquisition einführten. Holland wurde ein calvinistisches Land, die römisch-katholischen Kirchen gingen in die Hände der Protestanten über und wurden von fremden Elementen gereinigt." 4 ) ') M. Bucsay: Geschichte des Protestantismus in Ungarn. Stuttgart 1959. S. 116—119 und 143 ff. 2 ) B. Dezsenyi: M a g y a r o s z ä g es Sväjc (Ungarn und die Schweiz). Budapest 1946. S. 127. ') I. Meszäros: A z iskolaügy törtenete M a g y a r o r s z ä g o n 9 9 6 — 1 7 7 7 ( D a s Unterrichtsw e s e n in Ungarn 9 9 6 — 1 7 7 7 ) . Budapest 1981. 4 ) H. Suer: D i e holländische Kirche gestern. In: M. van der Pias: D i e s e holländischen Katholiken. Graz - W i e n - Köln 1969. S. 43.

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Es ist klar, daß die holländischen Protestanten für ihre Glaubensbrüder Zuneigung empfanden, denn die ungarischen Protestanten betrachteten die Katholiken als Repräsentaten einer Fremdherrschaft. Die Ungarn stellten sich, wie aus der allgemeinen Geschichte bekannt ist, nicht nur prinzipiell, sondern auch auf politischer Ebene gegen die Habsburgerherrschaft, und es gab auch heftige Kämpfe. Durch die siegreiche holländische Reformation kam es zu einer Solidarisierung zwischen ungarischen und holländischen Calvinisten. Als Beweis dessen kann man werten, daß den in Holland studierenden ungarischen Calvinisten mit Stipendien und verschiedenen Begünstigungen geholfen wurde. In Utrecht wurden im 18. Jahrhundert die Bernard- und die Everwijnstiftungen gegründet, die jährlich mehreren reformierten ungarischen Theologen nicht nur ein kostenloses Studium, sondern auch die Anschaffung der wichtigsten Handbücher sicherten. Die holländischen Professoren nahmen ihre ungarischen Hörer liebevoll auf, spornten sie zu wissenschaftlichen Leistungen an und halfen ihnen bei der Publikation ihrer Arbeiten. Seit dem 16. Jahrhundert besuchten ungarische Hörer holländische Universitäten, so z. B. Franeker, Harderwijk, Groningen, Leiden und Utrecht. Die Gesamtzahl der ungarischen Hörer in Holland betrug im 18. Jahrhundert mindestens 400. Die Anziehungskraft der holländischen Universitäten auf die ungarischen Studenten in dieser Zeit ließ allmählich nach. Ihr Interesse galt außer der Theologie auch noch Jus und Philologie. Selbst an englischen Universitäten waren im 18. Jahrhundert ungarische Theologiestudenten zu finden. Die Auslandsstudenten rechneten meist damit, nach ihrer Heimkehr nach Ungarn ihren Beruf als Seelsorger ausüben zu können. Sie hofften, daß sie zu Hause aufgrund ihres wissenschaftlichen Prestiges mühelos ein angesehenes Amt erhalten würden. Die pastorale Tätigkeit bot ihnen auch die Möglichkeit, mit Hilfe der Predigt wissenschaftliche Erkenntnisse zu verbreiten. Nur ein geringer Teil der Auslandsstudenten widmete sich nach seiner Heimkehr der Lehrtätigkeit in den Schulen. Die lutherischen Auslandsstudenten wiederum waren an zahlreichen deutschen Universitäten vertreten: Erlangen, Frankfurt an der Oder, Göttingen, Greifswald, Heidelberg, Halle, Jena, Leipzig, Marburg, Rostock und Tübingen. D e r Aufenthalt in Deutschland entsprach nur selten dem persönlichen Wunsch der Studenten; der viel bedeutendere Grund waren die günstigen Studienmöglichkeiten. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhielt das evangelisch-lutherische kirchliche und theologische Leben einen starken Auftrieb durch den Pietismus August Hermann Franckes. Auf das Schulwesen und die Entwicklung des Geisteslebens des ungarischen Protestantismus während des 18. Jahrhunderts hatte die Universität Halle den größten Einfluß. Charakteristika dieser Universität waren die Vorbereitung auf den Staatsdienst, und die Hereinnahme von Elementen aus der Aufklärung. Die Pietisten von Halle suchten auch Kon-

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takt mit der Orthodoxie. All das beweist, daß an der Universität Halle politische Gesichtspunkte wie auch politischer Ehrgeiz zur Geltung kamen. Eduard Winter meinte zum Einfluß des Pietismus: „Ein wichtiges Moment für die Anregungskraft des Pietismus im 18. Jahrhundert auf die west- und südslawischen Völker war die Abneigung derselben gegen die Habsburger und ihre Rekatholisierungsbestrebungen . . . Friedrich II. benützte doch den Pietismus skrupellos für seine politischen Zwecke." 5 ) Und O. Feyl schreibt: „Protestantische Bewegungen in Böhmen, Mähren, Schlesien und Nordungarn mußten zu ernster Schwächung Österreichs führen. Das war Grund genug, solche Bewegungen anzuregen und zu unterstützen."') Das bedeutete: „Das Bekenntnis zum Pietismus war ein revolutionäres Bekenntnis gegen Habsburg." 7 ) Zu erwähnen ist auch, daß „Jacob Schunn in seiner Funktion als Bischof die Hermannstädter Schule nach dem Muster des Halleschen Pädagogikums neuorganisiert" hat. „Überhaupt vermochte die von Halle tatkräftig geleitete pietistische Bewegung im geistigen Leben der ungarischen Nationalisten auch bei den Rumänen und Südslawen den erwähnten Widerhall zu erregen." 8 ) Für die ungarischen Studenten standen mehrere bedeutende Stiftungen zur Verfügung, darunter war auch ein Geschenk von über 5000 Talern. Der Pietismus enthielt auch die Forderung nach einer Verbesserung und Erweiterung des Unterrichtssystems und beeinflußte so den Lebensstandard im allgemeinen. Seine Forderungen fanden bedeutenden Widerhall in Oberungarn, in der Zips und in Pannonien. Die Universität Jena spielte für die ungarischen Hörer dieselbe Rolle wie jene von Halle. Nur in einigen Zweigen der Wissenschaft sind gewisse Unterschiede festzustellen, so zum Beispiel in Physik, Mathematik, Montanistik und Medizin. Gerade die Pflege dieser Disziplinen spielte aber in Ungarn eine führende Rolle. 300 Studenten besuchten die Universität Jena und 24 davon promovierten an dieser Universität. Aus der Reihe berühmter Professoren kann man als Beispiel den Theologen Johann Franz Budde (Buddeus) herausgreifen, dessen Ruhm bis nach Ungarn reichte. „Johannes Franz Budde ist nicht nur der Wegbereiter der Aufklärungsphilosophie in Jena, sondern zugleich derjenige Theologe, der neben den naturrechtlichen und philosophischen Einflüssen des Thomasius, Grotius, Cartesius und Locke zugleich auch die theologischen Einflüsse Speners und des Halleschen Pietismus A. H. Franckes von Halle, wo Budde von 1693 bis 1705 Morals ) E. Winter: Die Pflege der west- und südslawischen Sprachen in Halle im 18. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte des bürgerlichen Nationwerdens der west- und südslawischen Völker. Berlin 1954. S. 9. 6 ) O. Feyl: Beiträge zur Geschichte der slawischen Verbindungen und internationalen Kontakte der Universität Jena. Jena 1960. S. 33. 7 ) Ebenda, S. 252. «) Ebenda, S. 61.

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philosophie lehrte, nach J e n a verpflanzte." 9 ) An der J e n a e r Universität waren im 18. Jahrhundert nicht nur jene ungarischen Studenten zu finden, die sich auf das Pastorenamt vorbereiteten, sondern auch Wegbereiter verschiedener anderer Disziplinen, wie z. B. Mathematik, Physik und Statistik. Die H ö r e r erwarteten sich von J e n a nützliche Kenntnisse, die sie dann in ihrer Heimat erfolgreich verwerten konnten. Die Universität Göttingen hingegen stand im Dienste einer deutschen Politik und stellte sich somit den ungarischen Interessen entgegen. Im 18. Jahrhundert verlor die Universität Wittenberg, die bis dahin in hohem Ansehen gestanden war, ihre Anziehungskraft. T r o t z d e m verteidigte sie hartnäckig ihre orthodoxen Anschauungen. Die 385 Studenten, die zwischen 1693 und 1774 dort studierten, mußten unter den widrigsten Umständen arbeiten 1 0 ). „Die Universität Wittenberg erlangte in dieser Periode wieder eine ganz besondere Bedeutung für Ungarn. D e r ungarische Gelehrte G e o r g M i chael Cassai ( 1 6 4 0 — 1 7 2 5 ) . . . vermachte sein Haus, sein stattliches Vermögen und seine ungefähr 2000 Bände umfassende wertvolle Bibliothek seinen in W i t tenberg studierenden Landsleuten. Bereits 1726 wurde durch seine Stiftung das Studium von 13 ungarländischen Studenten in Wittenberg gesichert." 1 1 ) Schätzungen der Gesamtzahl ungarischer Studenten kann man nur mit gebotener Vorsicht akzeptieren. J e n e unter der studierenden Jugend, die sich für ein Auslandsstudium entschlossen hatten, waren wohl die Begabtesten und Wißbegierigsten; sie schauten mit offenen Augen in die Welt. Aufgrund der gemeinsamen Konfession fühlten sie sich auch an den betroffenen Universitäten rasch heimisch. Sie schlössen bald Bekanntschaft mit ihren Professoren und mit dem übrigen Universitätspersonal. Allerdings lernten sie von ihrer Umgebung und vom praktischen Leben mehr, als der Studienplan zu bieten vermochte. Sie verglichen die im Gastland herrschenden geistigen, politischen und wirtschaftlichen Strömungen mit jenen ihrer Heimat. Während ihrer Reisen gewannen sie gewisse Einblicke in das Alltagsleben in den Dörfern und Städten. All das befähigte sie dazu, den Glaubenseifer ihrer Konfession voranzutreiben und die neuesten politischen Anschauungen zu propagieren. Es ist nicht ohne Bedeutung, wie viele Auslandsstudenten — besonders jene in Deutschland — dann tatsächlich heimkehrten, bzw. wie sehr sie von ihren Studien profitierten. Die Kenntnisse, die sie im Ausland erworben hatten, übten aber in der Folge auch einen großen Einfluß auf die Jugend ihrer H e i m a t aus. D e r Pastor nahm im 18. Jahrhundert sowohl im geistlichen wie auch im kulturellen Leben eine wichtige Position ein. E r hatte einen weiten Aufgabenbereich, der sich nicht nur auf die Gemeinden und Dörfer, sondern auch auf die

') Ebenda, S. 14. Bucsay, Geschichte, S. 143. " ) Ebenda, S. 143. 10)

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schnellebigen Städte erstreckte. Denn Charakter, Gelehrsamkeit und Weltanschauung des Seelsorgers kamen in den Gemeinden wesentlich wirksamer zur Geltung als jene der Pädagogen in der Schule. Freilich ist die Schule als Ort der Vermittlung von Kenntnissen nicht mit der Kanzel zu vergleichen. Auslandsstudenten der lutherischen Konfession gelang es nach ihrer Rückkehr zumeist, in Schulen ihrer Konfession unterzukommen. Es ist gewiß dem Pietismus zuzuschreiben, daß sie die pädagogische Arbeit so hoch einschätzen. Daher nahm auch die Bedeutung der lutherischen Schule in Ungarn im 18. Jahrhundert zu. Es gab aber auch staatliche Verbote des Auslandsstudiums, die durchwegs religiösen und politischen Bewegungen entsprangen. Die für Auslandsreisen notwendigen Reisepässe stellte die Statthalterei nur mit Zustimmung Wiens aus. Im Jahre 1751 durften solche Pässe für Auslandsstudien nur Adeligen ausgestellt werden, die letzte Entscheidung in jedem einzelnen Fall behielt sich darüber hinaus die Behörde vor. Durch diese Verordnung wurden die ungarischen Protestanten aufs schwerste getroffen; denn der Nachwuchs ihrer Pfarrer und Lehrer rekrutierte sich zumeist aus dem Bauernstande. Zwischen 1763 und 1766 verbot man das Auslandsstudium zur Gänze. Nach 1759 war es den ungarischen Studenten untersagt, in Preußen oder in einem mit Preußen verbündeten Staat zu studieren, und daher zogen die ungarischen protestantischen Studenten in dieser Zeit zumeist über die abseits gelegenen Karpatenpässe, als Händler oder Handwerker verkleidet, um in Wittenberg oder Halle zu studieren. Ahnliche Maßnahmen fanden aber auch in protestantischen Ländern statt, so z. B. in Holland: „Die Maßnahmen betrafen nicht nur religiöse oder kirchliche Tätigkeiten. Die Katholiken wurden von den höheren Amtern ausgeschlossen, sie durften keine eigenen Schulen haben, sie durften nicht an ausländischen Universitäten studieren." 12 ) Für den ungarischen katholischen Klerus blieb auch im 18. Jahrhundert Rom das wichtigste Ausbildungszentrum. Freilich war es nicht nur Rom, die Urbs aeterna, die diese Anziehungskraft ausübte. Zunehmende Bedeutung für die Ausbildung gewann das im 16. Jahrhundert gegründete Collegium Germanico-Hungaricum, an dem für 12 ungarische Theologiestudenten Plätze reserviert waren. So studierten zwischen 1770 und 1782 nicht weniger als 296 ungarische Priesterkandidaten im Collegium Germanico-Hungaricum 13 ). Einige entstammten dem Hochadel, die Mehrheit aber den mittleren oder einfachen Adelsfamilien. Die neuernannten Bischöfe hatten das Collegium Germanico-Hungaricum absolviert, sechs von ihnen waren hochadeliger Abstam12

) /. ]. Poeisz: Gottes Volk auf dem Wege. Kurze Beschreibung der Vergangenheit. In: M. van der Pias: Diese holländischen Katholiken. Graz - Wien - Köln 1969. S. 130. 13 ) A. Steinhuber: Geschichte des Collegium Germanico Hungaricum in Rom. 2. Bd. Freiburg im Breisgau 1895. S. 317.

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mung. Im angeführten Zeitraum absolvierten auch 29 Mönche des Paulinerordens ihr Studium in Rom 1 4 ). Doch auf Befehl Josephs II. mußten die „Germaniker" Rom verlassen und ihr Studium in Parma fortsetzen. Freilich wissen wir nur von 12 ungarischen Zöglingen dieses kaiserlichen Instituts 15 ). Alle Orden waren bestrebt, möglichst viele begabte Kleriker in Rom studieren zu lassen. Es wäre gewiß der M ü h e wert, die genaue Zahl der von den O r d e n nach Rom entsandten Studenten festzustellen; doch da die ungarischen Orden in dieser Zeit keine eigenen Ordensprovinzen hatten, sondern mit den österreichischen vereint waren, ist es fast unmöglich, die Zahl der Ungarn, ihren Lebenslauf oder ihren Studienort festzustellen. Rom, die Residenz der Päpste, war damals eine Stadt des Freigeistes. Die vorherrschende katholische Glaubensrichtung der habsburgischen Länder verfolgte das mit Mißtrauen und begab sich damit in eine gewisse Selbstisolation gegenüber der Entwicklung des europäischen Geisteslebens. Rom war aber von einer entschiedenen Entschlossenheit gekennzeichnet; so kann man etwa über die Persönlichkeit Papst Benedikts XIV. lesen: „Interessiert f ü r alle Gebiete der Wissenschaft, förderte der Papst einzelne Gelehrte sowie größere Forschungsvorhaben, wobei er nicht nur die Geisteswissenschaften einbezog. Auffallend war, daß er seine Zustimmung zur Berufung von zwei Freunden an seine Heimatuniversität Bologna gab, in Freundschaft war er dem größten damals lebenden italienischen Historiker, Ludovico Muratori, verbunden." 1 6 ) Die Geisteshaltung Roms kam in Ungarn in breitesten Kreisen, vor allem durch die Piaristen, zur Geltung. Ungarische Piaristen wurden gerade in Rom mit den Regeln und Anschauungen ihres Ortes bekanntgemacht. Dahinter stand eine besondere Philosophie, gekennzeichnet durch einen gewissen Eklektizismus, die als „philosophia recentior" bekannt wurde. Diese philosophische Richtung wird heute der sogenannten „Katholischen Aufklärung" zugeordnet. Die Piaristen erwarben nicht nur Fachkenntnisse, sondern sie hatten auch eine andere Einstellung zu den neuen Erkenntnissen der Wissenschaften, was sicher durch die Autorität und die Werke großer Gelehrter noch gefördert wurde. Jenen Piaristen, die in Rom studiert hatten, bot sich in ihrer Heimat die Chance, mittels zahlreicher Ordensschulen auf die große Zahl ihrer Schüler einzuwirken. In diesen Schulen finden wir verhältnismäßig viele Kinder bürgerlicher H e r k u n f t , ja sogar Kinder von Leibeigenen. Auch die Nachfahren des verarmten Adels wurden in diesen Schulen unentgeltlich unterrichtet und unterstützt. Das Monopol der Jesuiten fand somit nicht nur in den Mittelschulen, son-

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) Ebenda, S. 368. ) Ebenda, S. 191. ") H. fedin (Hg.): Handbuch der Kirchengeschichte. Bd. V. Freiburg - Basel - Wien 1970. S. 621 f. 15

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dem auch in der Priesterausbildung ein Ende. In zahlreichen Diözesen wie in Kalocsa, Raab (Györ), Waitzen (Väc) und Veszprem — unterrichteten nur Piaristen die Theologen im Geiste der „philosphia recentior". Kardinal Peter Päzmäny hatte in Wien ein Priesterseminar für ungarische Theologen ins Leben gerufen: das Pazmaneum. Die Zöglinge des Pazmaneums hörten selbstverständlich auch an der theologischen Fakultät der Universität Wien. Im 18. Jahrhundert schickten die ungarischen Diözesen ihre begabtesten Priesterkandidaten nach Wien ins Pazmaneum. Bei der Auswahl dieser Studenten spielten weder soziale Herkunft noch Nationalität eine Rolle. Die Kosten der Ausbildung dieser Theologen übernahmen die einzelnen Diözesen. In der hier behandelten Periode hatte das Pazmaneum 400 Zöglinge. Ehemalige Studenten des Instituts nahmen nach ihren Priesterweihen hervorragende Stellungen in der kirchlichen Hierarchie Ungarns ein. „. . . die Aufklärung in Mitteleuropa beginnt sich erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts durchzusetzen. Wir wissen, daß die Habsburgermonarchie zu Beginn der Regierung Maria Theresias unter den entschiedenen Einfluß dieser weltlichen Strömung geriet." 17 ) Die Vorkämpfer einer Universitätsreform in Wien strebten nach „Zeitgemäßheit". Sie verglichen den überholten jesuitischen Studienplan mit dem deutscher Universitäten, wobei zunächst Jena und Halle als Vorbild dienten. Ziel dieser Reform — weniger ideologisch als vielmehr politisch bedingt — war die Übernahme des aufgeklärten Absolutismus als Regierungssystem, welches erstens eine Milderung der unbeschränkten Macht des Herrschers, zweitens eine Einschränkung der Rechtsstellung der Stände sowie drittens eine Ausbreitung der staatlichen Macht anstrebte. Die Ratio erlangte mit zunehmender Verbreitung der Aufklärung einen immer größeren Einfluß auf alle Wissensgebiete, natürlich auch in Wissenschaft, Forschung und Entfaltung neuer Disziplinen; eine genauere Kenntnis darüber ist mit einer intensiven Erforschung der Aufklärung sehr eng verbunden. Eine entscheidende Zäsur in dieser Entwicklung ist Mitte des Jahrhunderts an der Wiener Universität anzusetzen. Ideen, die bisher abgelehnt oder höchstens insgeheim über Halle, Jena, ja sogar Rom oder Italien nach Ungarn kamen, wurden nun offen vom Katheder verbreitet. Die erwähnte Universitätsreform betraf selbstverständlich den Studienplan aller Fakultäten und veränderte ihn auch. Nach dieser Reform konnten die ungarischen Jusstudenten dieselben Ideen kennenlernen, mit denen ihre protestantischen Landsleute schon vor mehreren Jahrzehnten an den deutschen Universitäten konfrontiert worden

17 ) M. Csdky: Faludi und die geistigen Strömungen seiner Zeit. In: Burgenländische Heimatblätter 1979. 4. S. 149.

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waren. Auch die medizinische Fakultät bot den ungarischen Studenten Gelegenheit, sich zeitgemäße Kenntnisse der Heilkunde anzueignen. Mitglieder des Jesuitenordens studierten während ihrer Ausbildung abwechselnd in Ungarn und in Österreich. Auch sie konnten sich dem Einfluß der neuen philosophischen Strömungen und der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht entziehen. So ist es auch zu erklären, daß sich zahlreiche Jesuiten in U n g a r n in den verschiedenen Wissenszweigen einen großen N a m e n erwarben. Zu Beginn der Rekatholisierung spielte vor allem die G r a z e r Universität für das ungarische Geistesleben eine große Rolle. D o c h mit zunehmender Bedeutung der Universität von Nagyszombat (Tyrnau) verlor G r a z mehr und mehr an Anziehungskraft. D i e Gesamtzahl der ungarischen Studenten betrug im 18. Jahrhundert 700. Davon waren 40 % T h e o l o g e n ; von diesen wieder gehörten drei Viertel der Gesellschaft Jesu an. Die restlichen 60 % der Studenten waren an der philosophischen Fakultät inskribiert. Leider konnte ich über das im Titel meines Beitrages angegebene T h e m a auf dem mir zur Verfügung stehenden Raum nur einige skizzenhafte Andeutungen machen. Gewiß hat hier die Forschung noch zahlreiche Hindernisse zu überwinden, besonders im Hinblick auf Detailfragen. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts traten in kulturellen Belangen einmalige Veränderungen ein. Neue Ideen und Konzepte traten auf den Plan und übten eine ungeheure Wirkung auf die weitere Entwicklung von Nationen und V ö l k e r n aus. Die kulturellen und politischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts sind in der T a t ohne die Kenntnis des vorherrschenden Denkens des 18. Jahrhunderts kaum richtig zu verstehen, geschweige denn zu erklären. W i r aber nähern uns schon dem Ende des 20. Jahrhunderts. Die rasch ablaufenden Ereignisse, die drückenden Probleme der V ö l k e r Europas harren einer Lösung. D e n heranwachsenden Generationen gegenüber haben wir die V e r pflichtung zu wahrer Selbsterkenntnis, wir haben die Verpflichtung, uns über Grenzen hinweg gegenseitig kennenzulernen. Gerade in diesem Zusammenhang können wir — im R a h m e n unseres T h e m a s — auf das Ergebnis der F o r schung hinweisen: D i e einstigen ungarischen Studenten waren im Besitz eines gemeinsamen Kulturguts, das sie nicht nur miteinander, sondern auch mit ihresgleichen in ganz Europa verband.

ERICH DONNERT

RUSSISCHE S T U D E N T E N AN ENGLISCHEN UNIVERSITÄTEN IM 18. J A H R H U N D E R T ZUM WISSENSCHAFTSVERSTÄNDNIS UND ZUR POLITISCHEN IDEOLOGIE DES GLASGOWER STUDENTEN UND MOSKAUER RECHTSWISSENSCHAFTLERS SEMEN EFIMOVIC DESNICKIJ (UM 1 7 4 0 — 1 7 8 9 )

Dieses Thema gehört in den Zusammenhang der russisch-englischen Beziehungen auf dem Gebiet des wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Denkens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wie die Forschung seit langem deutlich gemacht hat, waren im genannten Zeitraum die Einwirkungen des englischen Gedankenguts auf die russische Gesellschaft weit geringer als die Wirkungen der Sozial- und Gesellschaftslehren, die von französischen Denkern ausgingen. Dieser Umstand hat offensichtlich dazu geführt, daß der Einfluß Englands auf die Wissenschaftsentwicklung und das gesellschaftliche Denken in Rußland noch immer ungenügend untersucht sind und die namentlich von Georg Sacke1) vor dem Zweiten Weltkrieg begonnenen Forschungen nicht die gebührende Aufmerksamkeit gefunden haben. Die englische Gesellschafts- und Staatsliteratur fand in Rußland zunächst über deutsche und französische Ubersetzungen Eingang. Auch die russischen Adelsideologen beriefen sich nicht ungern auf englische Staatsdenker und Philosophen, wenn ihnen deren Anschauungen zur Begründung eigener Auffassungen dienlich waren. So nannte der konservative Theoretiker des Adels, Fürst Michail Michajlovic Scerbatov, David Hume einen berühmten Politiker und Philosophen, der einmal hervorgehoben habe, daß nur der Adel die wahre Stütze jeder Monarchie darstelle und demgemäß dessen Interessen über die aller anderen Gesellschaftsklassen und -schichten zu stellen seien. In seinem Kampf um die Erweiterung der Adelsprivilegien erinnerte derselbe Scerbatov an ') Vgl. vor allem G. Sacke.-Der Einfluß Englands auf die politische Ideologie der russischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts. In: Archiv für Kulturgeschichte 30. 1941. S. 85—105. Schon E. Donnert: Politische Ideologie der russischen Gesellschaft zu Beginn der Regierungszeit Katharinas II. Gesellschaftstheorien und Staatslehren des Aufgeklärten Absolutismus. Berlin 1976, besonders S. 118 ff. Uber Fragen der Entwicklung von Kultur, Bildung und Wissenschaft in Rußland im 18. Jahrhundert, vgl. E. Donnert: Rußland im Zeitalter der Aufklärung. Eine Kulturgeschichte. Leipzig 1983.

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die Habeas-Corpus-Akte, die ihm ebenfalls als Stütze für seine Auffassungen dienlich erschien. Auch Graf Aleksandr Romanovic Voroncov hat später in seinem Entwurf eines Gnadenbriefes für das russische Volk vom Jahre 1801 auf die Habeas-Corpus-Akte Bezug genommen. Allerdings entpuppte sich Voroncovs Projekt eines Gnadenbriefes für das russische Volk in Wirklichkeit als eine Gnadenurkunde für den russischen Adel. In dieser Hinsicht deckten sich Aleksandr Voroncovs Auffassungen durchaus mit den Entwürfen seines Bruders Semen Voroncov, der als Anglomane galt. Auch Semen Romanovic Voroncov ging es bei der Anrufung der Habeas-Corpus-Akte in erster Linie um die Sicherung der Interessen des russischen Adels. Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß gerade Semen Voroncov, der langjährige russische Botschafter in London, der England als seine zweite Heimat betrachtete, gleichzeitig einer der erbittertsten Gegner der Befreiung der russischen Bauern aus der Leibeigenschaft war. Insgesamt fanden die Ideen der englischen Gesellschafts- und Staatsdenker im russischen Adel weniger Resonanz. In wesentlich stärkerem Maße operierten mit den Argumenten englischer Denker die Ideologen der großgrundbesitzenden Hocharistokratie, die zum Teil bereits stark verbürgerlicht waren und daher in vielen Fällen sowohl zur Adelsklasse als auch zur Bourgeoisie zählten. Aus ihren Reihen sind Männer hervorgegangen, die treffend als „dvorjane v kupecestve" (Adelige in der Kaufmannschaft) bezeichnet worden sind. Das Wachstum der ökonomischen und politischen Macht der englischen Bourgeoisie und die Entwicklung einer bürgerlichen Kultur machten auf den russischen Botschafter in London, Graf Aleksej Semenovic Musin-Puskin, einen derartigen Eindruck, daß er, ungeachtet aller ständischen Vorurteile seiner Regierung, die Durchführung einer bürgerlichen Politik empfahl. Nach Musin-PuSkins Meinung, die er in einer Denkschrift äußerte, ist der Handel die Voraussetzung für den Wohlstand einer jeden Gesellschaft, da er sowohl die Bauern als auch alle Gewerbetreibenden und Unternehmer zur Ausweitung und Steigerung der Produktion stimuliert. Für England und die englischen Denker interessierten sich die russischen Gesellschaftsideologen vornehmlich deshalb, weil hier in aller Ausführlichkeit und Offenheit die Fragen des Handels, der Industrie, des Eigentums und der Arbeit des freien Menschen behandelt wurden. Es war ganz klar, daß dieses Thema vor allem die bürgerlichen Ideologen Rußlands bewegte. Wie die Verhandlungen und Reden in der Gesetzgebenden Kommission Katharinas II. von 1767/68 erwiesen, begannen sich auch in Rußland die gegen die Leibeigenschaft gerichteten Theorien immer stärker als bürgerliches Gedankengut zu offenbaren. Der wohl bedeutendste Vertreter bürgerlicher Wissenschaftslehren und Gesellschaftsauffassungen in Rußland vor Aleksandr Nikolaevic RadiScev ist Semen Efimovic Desnickij 2 ), dessen geistige Entwicklung sich spürbar unter 2 ) D i e wichtigste F o r s c h u n g ist verzeichnet bei Donnert, sischen Gesellschaft, S. 118.

Politische Ideologie der rus-

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dem Einfluß englischen Gedankenguts vollzogen hat. Desnickij wurde um 1740 geboren — das genaue Datum ist nicht bekannt — und stammte aus der ukrainischen Handelsstadt Nezin. Seine Eltern gehörten dem Kleinbürgertum dieser Stadt an. Die erste Bildung erhielt Desnickij am geistlichen Seminar. Danach besuchte er das Gymnasium und immatrikulierte 1759 als Student an der Universität Moskau. Von da wechselte er 1760 nach Petersburg an die dortige Akademie der Wissenschaften. Ein Jahr später, 1761, ging er gemeinsam mit Ivan Andreevic Tret'jakov nach England, wo er sich an der schottischen Universität Glasgow für Jurisprudenz einschreiben ließ. Hier erwarb er 1765 den wissenschaftlichen Grad eines Master of Arts (M. A.) und 1767 den Grad eines Legum Doctor, d. h. Doctor of Laws (LL. D) oder Doktor beider Rechte. Das Thema seiner Dissertation lautete: „De testamentis ordinariis". In diesem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, daß die Universität Glasgow im Jahre 1767 den Doktor beider Rechte nur zweimal vergeben hat, und zwar beide Male an Russen. Gleichzeitig mit Desnickij erhielt auch Tret'jakov den gleichen akademischen Grad. Nach seiner Rückkehr aus England wurde Desnickij als Professor an die Universität Moskau berufen. Hier wirkte er zwanzig Jahre lang, von 1767 bis 1787. 1783 wählte man ihn zum Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Im Jahre 1789 starb er in Moskau. Über den Studienaufenthalt Desnickijs in England sind wir durch die Glasgower Archivstudien Archibald Browns und andere Forschungen 3 ) recht gut informiert. An der schottischen Universität Glasgow herrschte in den Jahren von Desnickijs Aufenthalt eine geistig rege Atmosphäre. Im Unterschied zu den englischen hohen Schulen in Oxford und Cambridge lernten an den vier schottischen Universitäten, zu denen vorzüglich Glasgow gehörte, auch zahlreiche Studierende, die aus unteren Volksschichten der ländlichen Bevölkerung kamen. Daraus ergab sich in Glasgow eine, im Vergleich zu Oxford und Cambridge, andere soziale Zusammensetzung der Studenten, die sich auch durch besonderen Lerneifer auszeichneten. Die Ausbildung, die die Universität Glasgow ihren Zöglingen angedeihen ließ, zeichnete sich durch eine erkennbare Praxisbezogenheit und Nützlichkeit aus und hob sich in dieser Hinsicht deutlich vom Oxforder und Cambridger Lehrprogramm ab, in dem die klassi-

3 ) A. Braun (Brown): S. E. Desnickij i I. A. Tret'jakov v Glazgovskom universitete (S. E. Desnickij und I. A. Tret'jakov an der Universität Glasgow) (1761 —1767). In: Vestnik Moskovskogo universiteta (V. M. U.) 1969. 4. S. 75—88; M. T. Beljavkij: Semen Desnickij i novye dokumenty o ego dejatel'nosti (Semen Desnickij: Neue Dokumente über sein Werk). In: V. M. U. 1969. 4. S. 61—74; Dokumenty i materialy po istorii Moskovskogo universiteta vtoroj poloviny XVIII veka (Dokumente und Materialien über die Geschichte der Moskauer Universität in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts). 3 Teile. Moskva 1960, 1962, 1963 passim; A. G. Cross:,,By the Banks of the Thames". Russians in Eighteenth Century Britain. Newtonville 1980. S. 122—145. Vgl. auch ebenda, S. 92—121.

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sehe Bildung im Vordergrund stand. Zu den Professoren, die in den sechziger Jahren in Glasgow lehrten, gehörten Gelehrte vom Range eines Adam Smith, David Hume und William Blackstone. Desnickij hörte in Glasgow vor allem bei Adam Smith. Gleichzeitig besuchte er die Vorlesungen von John Miliar, der den Lehrstuhl für Zivilrecht innehatte. Mit Miliar, der selbst Schüler von Adam Smith war, stand Desnickij in engem Einvernehmen. Auch zu anderen Glasgower Professoren unterhielt er Beziehungen, so zu den Mathematikern James Williamson und Robert Simson sowie dem Naturphilosophen John Anderson, mit dem sich freilich auch persönliche Reibereien ergaben. Durch seine chemischen Studien wurde Desnickij auch mit Joseph Black bekannt. Desnickijs Studienaufenthalt, der in den letzten Monaten durch finanzielle Nöte gekennzeichnet war, fand infolge Rückberufung durch den Kurator der Moskauer Universität, Vasilij Evdokimovic Adodurov, im Frühjahr 1767 ein Ende. Mitte Juni desselben Jahres trafen die jungen Gelehrten Desnickij und Tret'jakov völlig mittellos in Petersburg ein. Nach aufwendigen Zusatzexamina wurden beide schließlich an der Moskauer Universität zu Professoren ernannt. Der von Glasgow heimgekehrte junge Student und Staatsstipendiat Desnickij war in England dem Auftrag, sich in den Wissenschaften zu vervollkommnen, mit Eifer nachgekommen. Als kostbare Trophäe brachte er eine Nachschrift von Smiths „Vorlesungen über Rechts-, Polizei-, und Heerwesen" 4 ) mit nach Moskau. Aber nicht nur die bürgerliche politische Ökonomie Smiths zog Desnickij an. In gleicher Weise schätzte er die Moralphilosophie seines englischen Lehrers „The Theory of Moral Sentiments", die er in russischer Übersetzung herausbringen wollte. Desnickij stützte sich in seinen Vorlesungen in hohem Maße namentlich auf die Auffassungen Adam Smiths. Neben der politischen Ökonomie hatte er sich vorrangig mit Rechtswissenschaft beschäftigt. Als Professor der Moskauer Universität lehrte er zunächst über die Pandekten und verglich diese mit dem russischen Recht. Für die Nachwelt wurde Desnickij bald zum Begründer der russischen Rechtswissenschaft schlechthin. Die Moskauer Universität war 1755 mit nur drei Fakultäten — einer juristischen, einer medizinischen und einer philosophischen — gegründet worden. 4 ) A. Smith: Vorlesungen über Rechts-, Polizei-, Steuer- und Heerwesen. Halberstadt 1928. Vgl. G. Sacke: D i e M o s k a u e r Nachschrift der Vorlesungen v o n Adam Smith. In: Zeitschrift für N a t i o n a l ö k o n o m i e . 9. 1939. S. 351 — 356. Zum Wirken der Universität M o s k a u in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens vgl. E. Donnert: Zur Verbreitung bürgerlicher Wissenschafts- und Gesellschaftslehren an der Universität M o s k a u in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas 23. 1979. 2. S. 2 5 — 3 4 ; derselbe: Zur Weltanschauung und gesellschaftspolitischen Wirksamkeit N . I. N o w i k o w s . In: D e u t s c h e Zeitschrift für Philosophie 31. 1983. 4. S. 4 7 8 — 4 8 7 .

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Eine theologische Fakultät gab es nicht. Die ersten Professoren der Jurisprudenz waren aus Deutschland berufen worden. Sie hielten sich in der H a u p t sache an die Theorien der Naturrechtler. So herrschten auch an der Universität Moskau Pufendorf und Wolff, doch Desnickij hielt nicht allzu viel von deren Lehren und polemisierte in seinen Vorlesungen gern gegen Pufendorf. Desnickijs Idealbild eines Juristen bestand in einem Gelehrten, der Rechtswissenschaftler, Historiker und Soziologe zugleich war. Als Wissenschaftler gehörte Desnickij zu jenem Kreis von fortschrittlichen Gelehrten, denen es möglich war, vom Katheder der Moskauer Universität herab vor einem größeren Auditorium Grundsätze zu vertreten, die den in der Adelsklasse vorherrschenden Gesellschaftsansichten widersprachen. In ähnlichem Sinne wirkten Desnickijs Universitätskollegen Nikolaj Nikitic Popovskij, Dmitrij Sergeevic Anickov, Ivan Andreevic Tret'jakov, Semen Gerasimovic Zybelin und andere. Die Auffassungen, die Desnickij in seinen Vorlesungen und Werken entwickelte, stellten bereits in recht weitgehendem M a ß e eine theoretische Rechtfertigung der Interessen der russischen Kaufmannschaft und der sich formierenden Bourgeoisie dar. Dabei ist bemerkenswert, daß Desnickij in seinen Vorlesungen die französischen Theoretiker nur am Rande erwähnte. Der Kleinbürger Desnickij fand in den theoretischen Ansichten der englischen D e n k e r offensichtlich eine Rechtfertigung der Auffassungen der russischen Kaufmannschaft und Unternehmer. So ließ er sich in seinen Darlegungen immer wieder von der Überlegung leiten, daß der Handel und die Industrie die ausschlaggebende Rolle in der Gesellschaft spielten. Wie Michail Vasil'evic Lomonosov, Aleksej Jakovlevic Polenov, Ivan Ivanovic Lepechin, Stepan Jakovlevic Rumovskij, Matvej Ivanovic Afonin, Vasilij Ivanovic Bazenov, Fedor Ivanovic Subin, Aleksandr Nikolaevic Radiscev und viele andere berühmte Wissenschaftler und Künstler Rußlands hatte auch Semen Efimovic Desnickij im Ausland studiert, die dort erworbenen Kenntnisse in seinem Vaterland schöpferisch verarbeitet, und er war dadurch zu einem originellen D e n k e r geworden. Auch wenn er sich von Adam Smiths Auffassungen im hohem M a ß e beeinflußt zeigte, so war Desnickij von einer sklavischen N a c h a h m u n g des großen Engländers weit entfernt. Desnickijs gesellschaftspolitische Anschauungen und sein Wissenschaftsverständnis dienten dem ehemaligen Glasgower Studenten und Moskauer Rechtsprofessor stets als Mittel, die russische Gesellschaftsordnung kritisch zu untersuchen und seinen H ö r e r n die von ihm erstrebte Gesellschaftsordnung zu empfehlen. In diesem Sinne kam ihm die von Adam Smith vertretene Auffassung von der Entwicklung der Menschheit sehr gelegen. Mit besonderer Klarheit kommen Desnickijs bürgerliche Gesellschaftsauffassungen in seiner Denkschrift zum Ausdruck, die er unmittelbar nach seiner Rückkehr aus England, im Februar 1768, der Gesetzgebenden Kommission gleichsam als Ergänzung zu der von Kaiserin Katharina II. erlassenen „Instruk-

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Erich Donnert

tion" vorlegte. Die Schrift Desnickijs führt den Titel „Denkschrift über die Einsetzung einer gesetzgebenden richterlichen und strafenden Gewalt im Russischen Kaiserreich". Bei diesem Memorial handelte es sich um den ersten bürgerlichen Verfassungsentwurf der russischen Geschichte. In ihm ist der Einfluß, den die englische Wissenschaft und die Gesellschaftsverhältnisse des Inselreiches auf Desnickij ausübten, besonders deutlich zu spüren. Darüber wurde an anderer Stelle5) bereits ausführlich berichtet. Der Verfassungsentwurf Desnickijs stellte eine direkte Reaktion auf die „Instruktion" der Kaiserin dar. Katharina II. hatte in ihrem Verfassungsprojekt zwar zahlreiche aufklärerische Werke vor allem französischer Provenienz ungeniert ausgeschrieben, dabei aber bewußt die Lehre Montesquieus von der Gewaltenteilung mit Stillschweigen übergangen. Desnickij scheute sich nicht, diesen heiklen Punkt nachzutragen und in seiner an die Kaiserin gerichteten Vorrede zu betonen, daß das Wohl der Untertanen und des Staates in der Kunst der Einrichtung dieser Gewalten bestehe. Die offene Forderung nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland wagte er zu diesem Zeitpunkt nicht zu erheben. Zudem hielt Desnickij die Beseitigung der Leibeigenschaft und die Ausbreitung des bürgerlichen Eigentums für eine logische Folge der Verwirklichung seines Verfassungsentwurfs. In seinen Arbeiten aus den achtziger Jahren gab Desnickij jedoch seine Zurückhaltung weitgehend auf. Er trat jetzt auch klar erkennbar für die Aufhebung der Leibeigenschaft ein. Desnickij benutzte hierfür vor allem seine Studien zur englischen Agrargeschichte, die er in Zusammenhang mit der Ubersetzung von englischen Werken ins Russische anstellte. Hier ist vor allem das Vorwort zu der von ihm besorgten Ubersetzung und Bearbeitung vom Thomas Bowdens „The Farmer's Director" hervorzuheben. Desnickij sagt an dieser Stelle ganz deutlich, worum es ihm geht: In England gebe es für die Landwirtschaft keinerlei politische Hindernisse. Der dort bearbeitete Grund und Boden sei für den Verkauf freigegeben, und zwar so, daß jeder, der es wünscht, ihn ungehindert erwerben könne. Der gesamte Ackerbau werde in England freiwillig, ehrlich, mit großer Sorgfalt, und auch mit Erfolg und Vollkommenheit betrieben. Auch hier forderte Desnickij nicht ausdrücklich die Aufhebung der Leibeigenschaft der russischen Bauern, aber er propagierte als Schüler von Adam Smith eindeutig die Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft. Dabei pries er die uneingeschränkten Eigentumsrechte an Grund und Boden, wie sie in England bestanden. Desnickij hielt es in Ubereinstimmung mit der in England gängigen Praxis auch für Rußland als unbedingt notwendig, moderne landwirtschaftliche Maschinen einzusetzen, englische Farmer nach Rußland zu rufen und im Zarenreich englische landwirtschaftliche Bearbeitungsmethoden 5

) Donnert, Politische Ideologie der russischen Gesellschaft, S. 122 ff.

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anzuwenden. In dieser Hinsicht hat er wohl jene russischen Farmen nach englischem Muster angeregt, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Zarenreich entstanden. In der politischen Praxis vermochte Desnickij nur wenige Erfolge zu erzielen. Sein Verfassungsentwurf fand nicht den Gefallen der Kaiserin und wurde nicht verwirklicht. Lediglich einige seiner Satzungen fanden Eingang in die Ergänzung der kaiserlichen „Instruktion". Es handelte sich dabei um die Paragraphen 575—600, die allerdings relativ belanglose Fragen betrafen. An der Arbeit der Gesetzgebenden Kommission Katharinas II. war Desnickij offensichtlich kaum beteiligt. Er, der angesehene Rechtswissenschaftler der Universität Moskau, wirkte überhaupt so gut wie nicht an der Gesetzgebung der Regierung mit. Der Kaiserin und ihren Ratgebern erschien dieser M a n n ob seiner Gesellschaftsauffassungen politisch suspekt, und sie zogen ihn aus diesem G r u n d e nur gelegentlich zur Mitarbeit heran. So hat Desnickij im Auftrag der Herrscherin das Werk von William Blackstone „Commentaries on the Laws of England" ins Russische übersetzt. Die russische Ausgabe von Blackstones Schrift gehörte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den meistgelesenen Schriften in Rußland. Sie erzielte jedoch keinen erkennbaren Einfluß auf die Gesetzgebung des Aufgeklärten Absolutismus in Rußland unter Katharina II. Desnickijs Weltanschauung und Gesellschaftsauffassung sind in sich nicht frei von Widersprüchen. In dieser Hinsicht reiht sich dieser bedeutende Gelehrte ebenbürtig in die Phalanx jener Denker ein, die ihre H o f f n u n g e n im Hinblick auf eine Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände letztlich in die Weisheit der „aufgeklärten" Monarchen setzten.

II. BEWEGUNGEN AUFGRUND BESONDERER NATIONALER UND SOZIALER VERANLASSUNGEN

VASILIJ M E L I K , PETER VODOPIVEC

DIE SLOWENISCHE INTELLIGENZ U N D DIE ÖSTERREICHISCHEN H O C H S C H U L E N 1848-1918 I. Wenn wir über die Hochschüler aus dem nationalen slowenischen Raum sprechen, müssen wir — schon im Hinblick auf Struktur und geographische Lage der Universitäten — mehrere Zeitabschnitte unterscheiden. Der erste reicht etwa bis zum Ende des 16. Jahrhunderts; es ist die Zeit, da die italienischen Universitäten am nächsten lagen: ab 1222 war es die Universität Padua, an der ziemlich viele Slowenen studierten; einige wirkten dort auch als Professoren. Später, vom 14. Jahrhundert an, kamen auch Prag, Krakau und Wien dazu. Der zweite Zeitabschnitt begann mit dem Sieg des Katholizismus über die Reformation, zu einer Zeit also, als auch neun Zehntel des slowenischen Gebietes zu den habsburgischen Ländern gehörten, und die Jesuiten sozusagen die Führung im gesamten Mittel- und Hochschulwesen in die Hand nahmen. Sie gründeten eine Reihe neuer Schulzentren, in denen sie nicht nur Mittelschulen einrichteten, sondern im Rahmen ihrer Kollegien auch ein teilweises und vollständiges Studium der Theologie und Philosophie organisierten. Einige dieser Zentren wurden durch ein besonderes Privileg des Monarchen in den Rang von Universitäten erhoben und hatten somit das Recht, akademische Titel zu verleihen, wie z. B. Graz und Innsbruck, während andere ein solches Recht nicht besaßen, wie z. B. Laibach, Klagenfurt und Görz. Der dritte Zeitabschnitt beginnt mit der Reform des österreichischen Hochschulwesens nach der Revolution des Jahres 1848. Von dieser Zeit soll hier die Rede sein. II. Schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts war der Staat bestrebt, das Schulwesen auf ein höheres Niveau anzuheben. Zugleich war man aber bemüht, es zu rationalisieren, d. h. kleinere Zentren aufzulösen und in größeren qualitativ bessere Ergebnisse zu erzielen. Durch die Erweiterung des Gymnasiums um zwei Jahre wurde das bisherige philosophische Studium absorbiert. Im Zuge

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dieser und noch anderer Reformen in den Jahren 1848 und 1849 wurden die Lyzeen aufgelöst. Von den höheren Schulen blieben im slowenischen Raum und in seiner nächsten Nähe nur die bischöflichen Lehranstalten 1 ). Als Folge der Revolution von 1848 forderte man die Gründung einer Universität in Laibach. Diese Forderung folgte einerseits ähnlichen in Krain schon früher mehrfach geäußerten Wünschen, andererseits war sie etwas vollkommen Neues. Das politisch-nationale Programm der Slowenen, das zu jener Zeit zum ersten Mal publik wurde, enthielt die Forderung nach einer slowenischen Universität. So wurde die Universitätsfrage in Laibach zu einer Nationalitätenfrage. Die einstige Übereinstimmung in kulturellen Fragen zwischen Krainer Landadel, Bürgertum und Intelligenz begann in die Brüche zu gehen. Es entstanden zwei nationale Parteien. Die slowenische Partei forderte eine slowenische Universität. Dagegen sprachen sich jene aus, die jeglichen Nationalismus haßten, Leute von altem Schrot und Korn, für die das Deutsche selbstverständlich die Sprache der Gebildeten war; dagegen war auch die deutsche Partei. Zum besseren Verständnis ihrer Gesinnung seien Worte zitiert, die Graf Anton Alexander Auersperg, bekannter unter dem Pseudonym Anastasius Grün, am 28. Jänner 1863 im Krainer Landtag sprach: „Krain . . . l i e g t . . . mit der ganzen ethnografischen Gruppe der Slovenen auf deutschem Culturgebiete . . . , seine Bildung lebt und gedeiht unter dem Einflüsse des deutschen Geistes, der deutschen Bildung. So war und ist es, und will es Gott, so soll es auch bleiben . . . Was Krain an Wohlfahrt, an geistigen Gütern, an Rechtsinstitutionen und anderen Vorzügen besitzt, welche es zu seinem Vortheile von anderen slavischen Stämmen unterscheidet, das hat es dem Einflüsse des deutschen Geistes zu verdanken . . . Die deutsche Sprache ist hier zu Lande die Mitgabe jedes Gebildeten, sie ist ein Gemeingut geworden, sie lebt neben der Sprache des Landes ein lebendiges Leben fort, sie ist es, welche unserem Volke die Schlüssel zu den Reichthümern der Wissenschaften, die Schlüssel zum Weltverkehr bietet . . . Möge man die wohlklingende, schöne Landessprache cultivieren, entwickeln, bereichern, bilden, möge man ihr Recht in Schule, Kirche und Amt wahren, möge man ihr auch die Flügel bieten zu einem höheren Aufschwung in die ideale Welt, aber man lasse daneben eben die deutsche gelten in ihrer Bedeutung, ihrer großen Aufgabe, in ihrer Bestimmung auch für dieses Land . . . Im

') Zur Geschichte des höheren Schulwesens und des Kampfes um die slowenische Universität siehe vor allem: J. Polec: Ljubljansko viSje Solstvo v preteklosti in borba za slovensko univerzo (Das Laibacher höhere Schulwesen in der Vergangenheit und der Kampf um die slowenische Universität). In: Zgodovina slovenske univerze v Ljubljani do leta 1929. Ljubljana 1929; V. Schmidt: Zgodovina Solstva in pedagogike na Slovenskem (Geschichte des Schulwesens und der Pädagogik im slowenischen Raum). 3 Bände. Ljubljana 1963—1966; F. Zwitter: ViSje Solstvo na Slovenskem do leta 1918 (Das höhere Schulwesen im slowenischen Raum bis zum Jahr 1918). In: Petdeset let slovenske univerze v Ljubljani. Ljubljana 1969.

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Vasilij Melik, Peter Vodopivec

Interesse und im Namen und zum Wohle des Volkes dürfen wir dieses deutsche Culturgebiet nicht aufgeben, wir müssen und sollen es festhalten." 2 ) Angesichts der Verherrlichung der deutschen Kultur zeigten viele kein Verständnis für die Slowenen und schauten auf das Slowenische als unterentwickelte und unkultivierte Sprache von oben herab. Die Frage einer Universität in Laibach wurde die ganze Zeit nur vom deutschen oder vom slowenischen Standpunkt aus erörtert, aber fast nie nüchtern, sachlich und objektiv beurteilt. Deshalb gab es auch zu wenig Verständnis für Zwischenlösungen, für Kompromisse. Das am häufigsten angeführte Argument, die Slowenen seien für eine Universität noch nicht reif, weil es ihnen an einer ausreichend entwickelten wissenschaftlichen Literatur mangle, verlor immer mehr an Gültigkeit. Im 19. Jahrhundert entstanden — anfangs spärlich, dann aber immer mehr — slowenische wissenschaftliche Werke; es bildete sich eine slowenische wissenschaftliche Terminologie heraus. Einige Fachbereiche zeigten raschere Fortschritte als andere, im allgemeinen aber kann man sagen, daß die slowenische Fachsprache zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon geformt war. Von deutscher Seite her nahmen einige diese Entwicklung wahr, andere wieder nicht, und diese gebrauchten 1901 in Polemiken über die Laibacher Universität die gleichen Argumente über die unterentwikkelte slowenische Sprache wie vor 40 Jahren 3 ). Die Bestrebungen, in Laibach eine Universität zu errichten, wurden in der Zeit der Habsburgermonarchie nicht verwirklicht. Einige Rechtsvorlesungen für das erste Studienjahr wurden 1848 für Laibach in slowenischer Sprache genehmigt, im Sommer 1849 an die Grazer Universität verlegt und 1854 wegen Hörermangels aufgegeben. Mit Beginn der konstitutionellen Ära tauchten von Zeit zu Zeit Forderungen nach einer slowenischen Universität auf, so z. B. zur Zeit der Tabori 1868—71. Damals genehmigte die Regierung Potocki die „Einführung slowenischer Vorträge über die Fächer der judiciellen Staatsprüfung" an der Universität Graz, der Reichsrat jedoch lehnte sie im nächsten Jahr ab. Verstärkte Forderungen nach einer slowenischen Universität sind nach den Badenischen Sprachenverordnungen und dem Kampf gegen sie zu verzeichnen sowie nach den antideutschen Ausschreitungen in Prag und einem Streik deutscher Studenten zu Beginn des Jahres 1898; von da an tauchen sie bei den verschiedenen Debatten im Laibacher Gemeinderat, im Landtag und im Reichsrat mehr oder weniger intensiv auf. Der Vertreter der deutschen Partei in Krain opponierte gegen die im Februar 1898 im Krainer Landtag gestellte Forderung nach einer slowenischen Universität grundsätzlich nicht; er meinte, „vom Standpunkt der Amtierung in slovenischer Sprache kann kein einsichtiger und ehrlicher Politiker verkennen, daß es wünschenswert ist, die Ausbildung in der

2 ) Bericht über die Verhandlungen des krainischen Landtages. Sitzung am 28. Jänner 1863. 3 ) Siehe die Polemik im Abgeordnetenhaus des Reichsrats am 6. Dezember 1901.

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slovenischen Sprache speciell für diejenigen Beamten, welche in dieser Sprache zu amtieren berufen sind, so sorgfältig als möglich zu gestalten" und schlug die Errichtung einer Universität in Laibach vor, „an welcher neben den Vorlesungen in deutscher Sprache auch in einzelnen Fächern solche in den anderen Landessprachen der südlichen Kronländer entsprechende Berücksichtigung finden" 4 ). Der Landtag beschloß, daß die Universität ihren Namen nach Kaiser Franz Joseph I. erhalten sollte; er errichtete einen Hochschulfonds und stellte zwei Stipendien für jene Slowenen zur Verfügung, die „geneigt wären, sich an der philosophischen oder juridischen Fakultät einer österreichischen Universität als Privat-Dozent zu habilitieren" 5 ). In der am 6. Dezember 1901 im Reichsrat geführten großen Debatte über den Dringlichkeitsantrag, die Errichtung einer südslawischen Universität mit juristischer, philosophischer und theologischer Fakultät betreffend, gab es Gegenstimmen, die der Abgeordnete Berger wie folgt begründete: „Es ist kein Schlag gegen die Deutschen in Osterreich allein, wenn wir heute eine Reihe anderer, fremdsprachiger, gar nicht nothwendiger Universitäten haben; nein, es ist der Beginn des Anfangs vom Ende Österreichs." 6 ) Andere wieder hielten die slowenischen Bestrebungen für Megalomanie, und Pommer schloß seine Rede mit folgenden Worten: „Nach 100 Jahren kommen Sie wieder mit einem solchen Dringlichkeitsantrag, dann wird es vielleicht möglich sein, eine slowenische Universität zu errichten, ein Bedürfnis, und gar ein dringendes Bedürfnis wird es nach meiner Meinung auch dann nicht sein."7) Die Dringlichkeit wurde abgelehnt, der Unterrichtsminister Dr. Wilhelm Ritter von Härtel, der sich auch dagegen ausgesprochen hatte, weil eine so schwierige Frage auf diesem Wege nicht gelöst werden könne, erklärte jedoch: „So oft mir aus ihren Volkskreisen irgendein begabter Studierender empfohlen werden wird, auch für den akademischen Beruf, werde ich denselben gewiß, soweit ich kann, unterstützen." 8 ) Tatsächlich studierten in den darauffolgenden Jahren sieben Juristen, die später Professoren an der Rechtsfakultät von Laibach wurden, und noch einige andere an den Universitäten in Berlin, Leipzig, Bonn, Heidelberg und München. Am 24. Juni 1905 erklärte Minister Härtel, die „Regierung sei entschlossen, die für die eventuelle Errichtung einer Rechtsfakultät erforderlichen Erhebungen und Verhandlungen einzuleiten, und hoffe, in absehbarer Zeit mit konkreten Vorschlägen hervortreten zu können" 9 ). Damit hatte man den größten 4

) Obravnave dezelnega zbora kranjskega (Verhandlungen des krainischen Landtages). 39. Bd. Ljubljana 1898. S. 236f. 5 ) Ebenda, S. 497 f. 6 ) Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrathes. XVII. Session. S. 7567. ') Ebenda, S. 7611. •) Ebenda, S. 7586. ») Laibacher Zeitung am 26. 6. 1905. S. 1299.

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Erfolg im Kampf um die Universität errungen. Weitere Bemühungen waren nicht sehr zielführend; die slowenischen Politiker und Reichsratsabgeordneten verbanden die Aktionen für eine slowenische Universität mit absoluter Ablehnung einer italienischen, was sehr unvernünftig war; dadurch verloren sie viele bisherige Sympathien. III. Zahlenmäßig kann das Wachstum der slowenischen Studenten an den österreichischen Universitäten nicht so verfolgt werden, wie es wünschenswert wäre. Das statistische Jahrbuch und danach die Osterreichische Statistik veröffentlichten Jahr für Jahr wertvolle Angaben über das Schul- und Hochschulwesen. Die Studierenden wurden nach Muttersprache, Landesherkunft, Staatsangehörigkeit und Religionsbekenntnis erfaßt. Doch fehlen die Angaben über die Muttersprache für die tierärztliche Hochschule bis 1907; bei Hochschulen für Land- und Forstwirtschaft fehlen die Angaben überhaupt. Vergleicht man das Verhältnis der Studentenzahl einer Nationalität zur Gesamtzahl aller Studierenden in Österreich mit dem Verhältnis des Bevölkerungsanteiles an dieser Nationalität zur Gesamtzahl der Bevölkerung, dann sollte man alle ausländischen Studenten dabei unberücksichtigt lassen. Das ist leider nur beschränkt möglich, da eine Aufteilung der Studierenden nach Staaten und Ländern für einige Schulen (z. B. für theologische Lehranstalten) nicht vorliegt; aber auch dort, wo sie zur Verfügung steht, können Staatsangehörigkeit und Landesherkunft den Angaben der Studierenden über ihre Muttersprache nicht entnommen werden. Aus den veröffentlichten Angaben der Statistischen Zentralkommission wissen wir zwar, wieviele Slowenen es unter den Studierenden gab, ebenso kennen wir die Zahl der Studenten aus Krain, der Steiermark usw., wir wissen jedoch nicht, wie groß die Zahl der Slowenen und wie groß die der Deutschen unter den steirischen oder krainischen Studenten war. Hie und da wurden auch diese Angaben gemacht, trotzdem gibt es zwischen diesen Zahlen, die größtenteils von Studentenorganisationen gesammelt wurden 10 ), und denen der amtlichen Statistik beträchtliche Unterschiede. Bis zum Jahr 1875 wurden die Slowenen im Statistischen Jahrbuch zusammen mit den Serben und Kroaten geführt. Im allgemeinen kann man sagen, daß Angaben, die lediglich die Gesamtzahl der südslawischen Studenten an österreichischen Universitäten vor dem Ersten Weltkrieg anführen, infolge der heterogenen Problematik der einzelnen Völker von nur geringem Wert sind. Es sei noch auf den falschen Eindruck verwiesen, den statistische Angaben im Zusammenhang mit den Slowenen erwecken können, wenn nur Studierende an Universitäten berücksichtigt werden. An den österreichischen theologischen Fakultäten studierten viele Deutsche, Tschechen, Polen und Ruthenen und fast keine Slowenen. Für die 10

) Viele Statistiken wurden in der Studentenzeitschrift „Omladina" veröffentlicht.

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Tabelle: Slowenische

Studenten an den österreichischen schulen

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Medizinische Fakultäten

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Deutschen, Tschechen, Polen und Ruthenen befanden sich nämlich die theologischen Fakultäten auf ihrem nationalen Gebiet, nicht aber für die Slowenen. Diese hatten in der Nähe in Laibach, Marburg, Klagenfurt und Görz bischöfliche Lehranstalten und dort studierten sie Theologie. Deshalb ist nach den statistischen Angaben der Anteil der Slowenen an den Studierenden der Universitäten zu niedrig, ihr Anteil an den Studierenden der theologischen Lehranstalten aber zu hoch. Die Theologen der Fakultäten und Lehranstalten müssen als Ganzes betrachtet werden. Die Tabelle zeigt uns die in den genannten Publikationen der k. k. Statistischen Zentralkommission angeführte Zahl der Slowenen, die in den Jahren 1876—1913 an den österreichischen Universitäten, an den technischen, montanistischen und tierärztlichen Hochschulen, an der Hochschule für Bodenkultur in Wien und an theologischen Lehranstalten inskribiert waren. Unter den angeführten Jahren ist jeweils das Studienjahr zu verstehen, z.B. bedeutet 1876: 1875/76 oder 1913: 1912/13; wenn aber die Statistik Angaben für einzelne Semester liefert, gelten die angeführten Zahlen jeweils für das Wintersemester. Die Angaben für tierärztliche Hochschulen stehen erst vom Jahre 1908 an zur Verfügung. Für das Jahr 1913 müßte man zu den 926 slowenischen Studierenden noch 30 Studenten an Handelslehranstalten „über die Mittelstufe" (Exportakademie in Wien, Scuola superiore di commercio fondazione Revoltella in Triest), elf Studenten an Kunstakademien und fünf an der Akademie für Musik und bildende Kunst in Wien dazurechnen — insgesamt 46 Studenten oder 5 %. Die Zahl der slowenischen Studenten an den österreichischen Universitäten und Hochschulen betrug bis zum Ende der achtziger Jahre weniger als 400 pro Jahr, in den Jahren 1889—1895 waren es 400—500, 1896—1899 gab es 500—600, im Jahre 1900 waren es 652 und ein Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 926. Stets machten Theologen und Juristen den überwiegenden Anteil unter den Studierenden aus. Das anfängliche Übergewicht der Theologie war keine slowenische Besonderheit, blieb aber länger als bei entwickelteren Völkern erhalten. Das läßt sich vor allem dadurch erklären, daß das Studium der Theologie am billigsten und die Schulen am nächsten waren. Viele Bauernsöhne entschlossen sich, nachdem der Versuch eines Medizin-, Rechts- oder anderen Studiums gescheitert war, aus Mangel an Mitteln die Theologie zu wählen und wurden Geistliche. Darauf wird wohl die liberale Gesinnung eines beträchtlichen Teiles unserer älteren Geistlichkeit zurückzuführen sein. 1876 stellten die Theologen ein Drittel aller slowenischen Studenten, doch in den Jahren 1878 —1881 sank ihre Zahl und die Juristen waren das erste Mal drei Jahre lang zahlenmäßig die stärkste Gruppe der slowenischen Studenten. In den achtziger Jahren stieg die Zahl der Theologen von 109 (1880) auf 272 (1891). In den Jahren 1886 bis 1894 machten die Theologen mehr als die Hälfte aller slowenischen Studenten aus, und 1891 war ihre Zahl am höchsten; von diesem Jahr an sank sie wieder, aber nicht ausnahmslos. Im Durchschnitt be-

Die slowenische Intelligenz u n d österreichische H o c h s c h u l e n

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trug sie 256 für die Zeit von 1890—1894, 249 für die Jahre 1895 bis 1899, 232 für 1900—1904, 209 für 1905 bis 1909 und 196 für die Zeit 1910—1913. Das Studium der Rechte betrieben in den achtziger und neunziger Jahren etwa 100 Slowenen pro Jahr; zu einem sprunghaften Anstieg kam es dann um die Jahrhundertwende. 1900 gab es schon 246 Juristen und sie wurden damit zahlenmäßig die stärkste Gruppe. 1908 überstieg ihre Zahl 300, zwei Jahre danach (1910) erreichten sie die Rekordzahl von 388. Vor dem Ersten Weltkrieg machten Juristen ein Drittel (33 %) und die Theologen ein schwaches Viertel (24 %) der slowenischen Studenten aus. Die Zahl der Studenten an medizinischen und philosophischen Fakultäten sowie an technischen Hochschulen änderte sich beträchtlich. Diese Schwankungen entsprachen teils den allgemeinen Entwicklungen an den österreichischen Hochschulen, teils wiesen sie besondere slowenische Merkmale auf. Medizinstudenten waren am Anfang verhältnismäßig zahlreich. Es müßte noch berücksichtigt werden, daß viele Slowenen, wie aus Sukljes Erinnerungen 11 ) hervorgeht, an der Medizinisch-Chirurgischen Josephsakademie studierten, die in den Jahren 1854 bis 1874 ihre Tätigkeit wieder aufnahm; leider stehen uns keine Zahlen zur Verfügung. Im Jahre 1873 studierten 61 Slowenen an medizinischen Fakultäten; der Börsenkrach in diesem Jahre drückte ihre Zahl. In den Jahren 1874—1886 waren es weniger als 30, meist jedoch unter 20, im Jahre 1880 nur acht Studenten. Etwas später erfaßte eine ähnliche Krise die Techniker. In den Jahren 1881 —1895 gab es weniger als 30 Studenten pro Jahr; die niedrigste Zahl erreichten sie im Jahre 1892, als an den technischen Hochschulen nur 12 Slowenen studierten. Von kürzerer Dauer war die Krise des Philosophiestudiums: Sie reichte von 1883—1891 mit einem Tiefpunkt im Jahre 1886 (12). Auf über 60 stieg die Zahl der slowenischen Medizinstudenten in den Jahren 1892—1898 und wiederholt vom Jahr 1908 an; an den philosophischen Fakultäten war 1900 und an der Technik 1905 ein Anstieg zu verzeichnen. Von allen drei Fachbereichen waren am stärksten die Philosophen — bis zum Jahre 1883 —, dann die Medizinstudenten in den Jahren 1884—1899 und erneut die Studenten der Philosophie zwischen 1900 und 1909 vertreten. In den Jahren 1902 bis 1908 stieg die Zahl der Slowenen, die an den philosophischen Fakultäten studierten, auf über 100, im Jahre 1905 erreichten sie mit 221 Studenten einen Höhepunkt, doch dieser Anstieg war ganz außerordentlich. Im Jahre 1910 gab es mehr als 100 Technikstudenten. Von da an bis zum Kriegsanfang führten die technischen Hochschulen hinsichtlich der Zahl slowenischer Studenten vor den medizinischen und philosophischen Fakultäten. Die Zahl der Slowenen, die an der Hochschule für Bodenkultur studierten, war nicht besonders groß, mehr als zehn pro Jahr betrug sie nur in den Jahren ") F. Suklje: Iz m o j i h spominov (Aus meinen E r i n n e r u n g e n ) . Bd. 1. L j u b l j a n a 1926. S. 56.

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1880—1882 und dann nach 1902. Einen beträchtlichen Anstieg verzeichnete man in den letzten Vorkriegsjahren. Die Zahl der Montanisten war die ganze Zeit über gering. Wieviele Slowenen an den tierärztlichen Hochschulen studierten, kann erst ab dem Jahre 1908 verfolgt werden. Schon mehrfach ist festgestellt worden 12 ), daß bei den Slowenen der Anteil der Studierenden und der Intelligenz viel geringer war als bei Deutschen, Polen oder Tschechen; das war auf die soziale Struktur und das Entwicklungsniveau der slowenischen Bevölkerung zurückzuführen. Nach der Umgangssprache machten die Slowenen im Jahre 1910 4,48 % der österreichischen Staatsbürger aus; unter den Studenten — den österreichischen Staatsbürgern — waren die Slowenen im Jahre 1913 nur mehr mit etwa 2,27 % vertreten. Ebenso war in jedem Land der Anteil der slowenischen Studenten niedriger als der Bevölkerungsanteil der Slowenen. In der Steiermark machten sie 29 % der Bevölkerung, 20 % der Gymnasialschüler und ungefähr 19 % der Hochschüler aus13). Die Slowenen studierten meist in Wien, Graz, später auch in Prag, einige auch anderswo in Osterreich oder im Ausland, dies jedoch nur einzelne, die unter besseren materiellen Umständen lebten, und denen sich eine günstige Gelegenheit geboten hatte. Die Slowenen aus Ungarn studierten selbstverständlich meistens an den ungarischen, die aus Italien an den italienischen Universitäten. Mancherorts wird die Frage gestellt, warum die Slowenen, die zu Hause keine Universität besaßen, nicht die Universität in Agram besuchten, die für sie nächstliegende und ihnen der Sprache nach am stärksten verwandte. Die Agramer Universität lag aber in der anderen Reichshälfte, und vor allem das Rechtsstudium an dieser Universität war für die österreichischen Staatsangehörigen wenig geeignet. Über die Anerkennung des Studiums in Agram wurde viel diskutiert. Vom Jahre 1904 an konnten aus Istrien und Dalmatien stammende Hörer, welche in Agram die juristische und staatswissenschaftliche Staatsprüfung mit Erfolg abgelegt hatten, vor einer besonderen österreichischen Staatskommission eine Ergänzungsprüfung in kroatischer Sprache ablegen14); das galt jedoch nicht für Studenten aus anderen Ländern und somit auch nicht für einen Großteil der Slowenen. Die traditionellen Studienzentren der Slowenen

12 ) /. Pleterski: Polozaj Slovencev pred prvo svetovno vojno (Die Lage der Slowenen vor dem Ersten Weltkrieg). In: /. Pleterski: Studije o slovenski zgodovini in narodnem vprasanju (Studien über die slowenische Geschichte und die nationale Frage). Maribor 1981. S. 193—214; G. Otruba: Die Nationalitäten- und Sprachenfrage des höheren Schulwesens und der Universitäten als Integrationsproblem der Donaumonarchie (1861 — 1910). In: R. G. Plaschka und K. Mack (Hg.): Wegenetz europäischen Geistes. Wien 1983. S. 88 —106; A. Suppan: Bildungspolitische Emanzipation und gesellschaftliche Modernisierung, ebenda, S. 303 — 325. u

) Diese Zahlen, ermittelt aus unvollständigen statistischen Angaben, sind approximativ. ") Österreichische Statistik. Neue Folge. 14. Bd. 3. Heft. Wien 1917. S. 13.

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waren also Wien und Graz; grob geschätzt studierten zwei Drittel in Wien, ein Drittel in Graz. Die steirischen Slowenen begaben sich eher nach Graz, die aus anderen Ländern häufiger nach Wien, doch studierte ein Drittel der Slowenen aus der Steiermark in den Jahren 1905/06 in Wien, ein Sechstel aus Krain aber in Graz. Von den ersten Professoren der Laibacher Universität hatten elf ihr Studium in Wien abgeschlossen, zwei in Graz, von den beiden letzteren stammte einer aus Krain und der andere aus der Steiermark. Von 24 slowenischen Abgeordneten des letzten Reichsrats (1911 —1918) gab es sechs Theologen, die alle ihr Studium an einheimischen bischöflichen Lehranstalten abgeschlossen hatten. Von vier Doktoren der Theologie hatten zwei ihren Doktorgrad in Wien, einer in Graz und einer in Rom erworben. Es gab auch sechs Juristen, fünf von ihnen hatten ihr Studium an der Wiener Universität abgeschlossen, einer in Graz — doch zwei der Wiener Studenten hatten ihren Doktorgrad in Graz erworben. Zwei Abgeordnete hatten ihr Studium an der philosophischen Fakultät in Graz abgeschlossen — einer aus Krain, der andere aus der Steiermark —, einer an der medizinischen Fakultät in Wien, das außerdem vor Graz den Vorteil einer Hauptstadt und eines großen Zentrums genoß; weiters bot es für krainische Studenten mehr Unterhalts- und Unterkunftsmöglichkeiten. Früh schon gingen einzelne Slowenen zum Studium nach Prag, in größerer Zahl aber erst Ende des 19. Jahrhunderts, in der Zeit der verschärften nationalen Konflikte. Die Entscheidung für Prag hatte national-politischen Charakter. Falsch wäre es zu denken, daß die Slowenen in Prag nur die tschechische Universität und das tschechische Technikum besuchten. Im Jahre 1900 gab es an der deutschen Universität und am Technikum 12, an der tschechischen Universität 13 Studenten, im Jahre 1905 an der deutschen 20, an der tschechischen 25. Erst im Jahre 1908 änderte sich das Verhältnis völlig zugunsten der tschechischen Universität und des tschechischen Technikums (77 zu 12). In Prag studierten im Jahre 1912 149 Slowenen, das entsprach 17 % aller slowenischen Hochschüler. Bis 1913 sank jedoch die Zahl auf 96. Wegen des dominierenden freisinnigen Einflusses von Prag begann die katholische Slowenische Volkspartei das Studium an der polnischen Universität in Krakau zu propagieren; einzelne studierten tatsächlich dort, doch blieb die Aktion ohne breitere Resonanz. IV. Eine eingehende Analyse des sozialen Ursprungs der slowenischen Studenten und der slowenischen Intelligenz im 19. Jahrhundert liegt noch nicht vor, doch einzelnen statistischen Daten und Lebensangaben zufolge, und entsprechend der nationalen und sozialen Struktur des damaligen slowenischen Gebietes kam die Mehrheit seiner Studenten aus den Reihen der Bauern, weniger aus dem Handwerkerstand. Das Verdienst um ihre Ausbildung kam

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häufig dem einheimischen Pfarrer zu, seltener dem Lehrer; das Universitätsstudium hingegen wurde durch verschiedene Unterstützungs- und Stipendieneinrichtungen ermöglicht. Ein besonders bedeutender Platz gebührt dabei — wie bekannt — der Knaffl-Stiftung, die verhältnismäßig hohe Stipendien gewährte: Im Jahre 1900 wurden 39 Jahresstipendien zu 600 Kronen ausbezahlt; sie waren jedoch an die Wiener Universität gebunden und für alle aus Krain kommenden Studierenden, sowohl Slowenen als auch Deutsche bestimmt 15 ). Außerdem konnten sich die slowenischen wie auch die anderen österreichischen Studenten noch um verschiedene Universitäts-, Staats- und Landesunterstützungen bewerben. Das Studium gewisser Fachbereiche wurde besonders durch einzelne Länder gefördert, gleichzeitig bezahlten einige von ihnen auch unterschiedliche Beträge für ihre Studenten, z. B. Krain und das Küstenland für den Krankenfonds 16 ). Trotzdem war das Leben der slowenischen Hochschüler, wie aus verschiedenen Berichten und Lebenserinnerungen hervorgeht, oft sehr ärmlich und lag häufig sogar an der Grenze des Existenzminimums. Einer ausreichenden Unterstützung von zu Hause konnten sich nur sehr wenige von ihnen erfreuen, meist hielten sie sich mit Nachhilfeunterricht und durch Unterstützungen seitens einzelner Gönner über Wasser. Davon zeugen unzählige Aufzeichnungen der Studierenden, in denen von Hunger die Rede ist, von ständiger Verschuldung und Suche nach dem Nötigsten, um Schulden und Miete bezahlen zu können. In dieser Hinsicht sollen die Verhältnisse in Graz und sogar in Prag beträchtlich schlechter als in Wien gewesen sein, wo es mehr Verdienstmöglichkeiten gab; außerdem waren auch zahlreiche, in Wien lebende slowenische Familien den slowenischen Studenten verhältnismäßig wohlgesinnt, mehr als z. B. in Graz 17 ). So können wir sogar im Blatt der national-radikalen Studenten „Omladina", das sonst unter dem Einfluß des MasarykKreises stand, eine Warnung lesen, die vom Studium in Prag wegen ungünstiger materieller Verhältnisse abriet 18 ). Im Jahre 1888 wurde in Wien auf Anregung des dort lebenden Sprachwissenschaftlers und Ethnographen Ivan Navratil ein „Verein zur Unterstützung slowenischer Hochschüler in Wien" gegründet, der durch freiwillige Beiträge Mittel für Studienbeihilfen besorgte. Etwa ein Jahrzehnt später, 1897, folgte ein ähnlicher Verein in Graz und 1904 ein weiterer in Prag. Alle drei Vereine hatten überparteilichen Charakter, die Unterstützungssummen bewegten sich Ende des 19. Jahrhunderts zwischen 10 und 20 Kronen monatlich, ") Über die Knaffl-Stiftung: P. Vodopivec: Luka Knafelj in ätipendisti njegove ustanove (Lukas Knaffl und die Stipendiaten seiner Stiftung). Ljubljana 1971. 16 ) „Zora" III, 1898/99, S. 93. Angaben über Unterstützungen und Studentenstiftungen können wir auch in den übrigen Jahrgängen der „Zora" verfolgen, desgleichen in der national-radikalen „Omladina", die von 1904 an herausgegeben wurde. ") „Omladina" 1/1904, S. 14, 11/1905 — 1906, S. 142. ls ) „Omladina" VIII/1911 —1912, S. 138.

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zum Teil in barer Münze, zum Teil als Freitisch; unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg beliefen sie sich auf 15 bis 30 Kronen pro Monat 19 ). Die Anzahl der Beihilfen schwankte vornehmlich in Wien stark, da der Zufluß der Mittel in den verschiedenen Jahren unterschiedlich und offensichtlich sehr unsicher war. In Studentenblättern kann man öfters Beschwerden darüber nachlesen, daß ehemals Unterstützte nach abgeschlossenem Studium die einst erhaltene Beihilfe vergessen hätten und den Stiftungen, die ihnen das Studium ermöglicht hatten, nun jede Hilfe versagten 20 ). Stabiler war die materielle Lage der Studentenstiftung „Radogoj", die auf Anregung des Unternehmers Josip Gorup und auf Betreiben von Ivan Hribar im Jahre 1893 in Laibach gegründet wurde. Den Startfonds spendierten neben Gorup noch der slowenische Triestiner Großkaufmann Janez Kalister und der Bischof Josip Juraj Strossmayer 21 ). „Radogoj" verlieh ungefähr 30 Stipendien jährlich und zwar an Studenten aus dem gesamten slowenischen Gebiet. Mit der Verschärfung der Gegensätze in der slowenischen Politik am Ende des 19. Jahrhunderts versuchten die beiden slowenischen Parteien, die katholische und die liberale, auch Beihilfen für Studenten im Zusammenhang mit deren parteilicher Stellungnahme zu organisieren. Angesichts der liberalen Orientierung des „Radogoj" sorgte die 1896 in Laibach gegründete Leogesellschaft („Leonova druzba") für die materielle Unterstützung von Studenten, die sich für das Programm der katholischen Partei aussprachen. Aus vielen Berichten geht jedoch hervor, daß sich die Lage der slowenischen Studenten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg trotz verschiedener Unterstützungsstiftungen verschlechterte. Berichte in der Presse und in Studentenblättern sprechen von der Erhöhung der Lebenshaltungskosten und von immer stärkerem Druck auf die Unterstützungsfonds, die sich selbst mit finanziellen Schwierigkeiten herumschlugen; dabei überstieg die Zahl der Bewerber stets die Zahl der zur Verfügung stehenden Beihilfen. V. Die slowenische Studentenbewegung blickte Ende des 19. Jahrhunderts schon auf eine Tradition zurück 22 ). Ihre Anfänge reichen in das Jahr 1848 zu") Nach Angaben der national-radikalen Studenten brauchte ein Student in Wien oder in Prag im Schuljahr 1907/08 mindestens 50—70 Kronen pro Monat, um ein einigermaßen würdiges Auskommen zu haben. „Dijaiki almanah" (Studentenalmanach) für das Jahr 1907/08, Ljubljana 1907, S. 60 ff. 2 °) „Omladina" 1/1904, S. 139. 21 ) I. Hribar: Moji spomini I. del (Meine Erinnerungen, I.Teil). Ljubljana 1928, S. 182, 2. Auflage mit Anmerkungen und einem kritischen Kommentar von V. Melik. Ljubljana 1983. S. 175 f. 22 ) Die Literatur zur slowenischen Studentenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg ist umfangreich, doch liegt eine eingehende und abgerundete Darstellung über das Leben und die Zusammenschlüsse slowenischer Studenten in der Zeit 1848 —1918 noch nicht

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rück, und die Bewegung war von Beginn an mit dem politischen Leben auf slowenischem Gebiet eng verbunden. Das national-politische Programm der Slowenen im Jahre 1848 mit der Forderung nach einem vereinten Slowenien (Zedinjena Slovenija) ging teilweise aus studentischen Kreisen hervor und fand unter den Studenten in Wien und Graz die eifrigsten Befürworter. Zugleich überwogen die Studenten in den beiden Vereinen mit dem Namen „Slovenija", die in Wien und Graz von dort lebenden Slowenen gegründet worden waren. Obwohl der Wiener Verband schon 1848 seine Tätigkeit aufgab, und der Grazer Verein nur als eine literarische Vereinigung bis zum Jahre 1850 vegetierte, bildeten beide einen wichtigen Ausgangspunkt für reine Studentenvereine, die in Wien und Graz in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden. In Wien kam es schon zu Beginn der Verfassungszeit zu einem erneuten Versuch, eine slowenische Studenten-Tischrunde in eine beständigere Vereinigung umzuwandeln, doch war auch dieser zweiten „Slovenija" nur ein kurzes Leben beschieden. Erst zur Zeit der Umwandlung Österreichs in eine Doppelmonarchie machte die Organisation slowenischer Studenten in Wien einen bedeutenden Fortschritt. Diese Generation — nach Ivan Prijatelj „das schönste Blatt in der Geschichte der slowenischen Studentenschaft" —, der eine Reihe slowenischer Literaturschaffender angehörte, erklärte sich mit der wankelmütigen slowenischen Politik unzufrieden; sie waren die resolutesten Anhänger des im Entstehen begriffenen liberalen Lagers. Anläßlich zweier allslowenischer Studententreffen in Laibach in den Jahren 1868 und 1869 setzten sich die Studierenden für ein Beharren auf dem Programm des Vereinten Slowenien ein; sie forderten die Gründung einer slowenischen Universität in Laibach und forvor. D e r hier vorliegende kurze Abriß der slowenischen Studentenbewegung stützt sich vor allem auf die f o l g e n d e n Publikationen und Abhandlungen: J. Vencajz: Spomenica ob petindvajseti obletnici akademskega druStva „Slovenija" na Dunaju (Denkschrift zum 25. Jahrestag des akademischen Vereines „Slovenija" in Wien). Ljubljana 1894; J. Kelemina, S. Hrasovec, S. Serajnik: A k a d e m s k o tehnicno druätvo „Triglav" (Akademischer Technikverein „Triglav"). Ljubljana 1906; I. Prijatelj: Slovenska kulturno politicna in slovstvena z g o d o v i n a (Geschichte der slowenischen Kultur, Politik und Literatur) 1848 —1895. IV. Ljubljana 1961; J. Puntar: Slovenski narod, njegova inteligenca in dijaätvo (Das slowenische Volk, seine Intelligenz und Studentenschaft). In: „Cas". Ljubljana 1908. S. 2 8 0 — 2 9 0 , 351 — 354; W. Petritscb: D i e slowenischen Studenten an der Universität Wien (1848 — 1890). Phil. Diss. W i e n 1972. D i e slowenische Studentenbeweg u n g 1848 — 1918 behandelt auch S. Kremensek umfassend in der Einführung zu seinem Buch: Slovensko Studentovsko gibanje 1919—1941 ( D i e slowenische Studentenbewegung 1919—1941). Ljubljana 1972. U b e r die slowenischen Studenten an der Wiener Universität erschien in deutscher Sprache die Abhandlung v o n H. Hasehteiner: D i e Bedeutung W i e n s als Universitätsstadt in der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts am M o d e l l der slovenischen Studenten. In: W e g e n e t z europäischen Geistes, zit. in Anm. 12, S. 2 9 4 — 3 0 2 . Natürlich ist damit die Literatur, die direkt oder indirekt v o m Leben der slowenischen Studenten und der slowenischen Studentenbewegung im fraglichen Zeitraum handelt, n o c h nicht erschöpfend ausgewertet.

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mulierten ihren Leitspruch: „Alles für die Freiheit und die Nationalität". Schon im Jahre 1867 wurde in Wien der slowenische akademische Verein „Sava" gegründet, der nach kurzer und weniger erfolgreicher kroatisch-slowenischer Zusammenarbeit mit dem gemeinsamen Studentenverband ,Jug" zu einem neuen, dem dritten „Slovenija"-Verein wurde. Diese „Slovenija", im Mai 1869 gegründet, war der Beginn einer kontinuierlichen Entwicklung der slowenischen Studentenbewegung. Obwohl grundsätzlich liberal orientiert, gelang es dem Verein vorerst noch nicht, Einigung über ein einheitliches „freisinnigeres" Programm zu erzielen. Regionale Unterschiede, mehr noch das Mißverhältnis zwischen den in Wien gewonnenen Erfahrungen und der Realität zu Hause, wo das Studium immer noch vom guten Willen des einheimischen Pfarrers abhing, lähmten eine entschiedenere Studentenaktion. Die Krise von 1873 und später die relative Beruhigung der klerikalliberalen Auseinandersetzungen wirkten sich auch auf die in Wien Studierenden entsprechend beruhigend aus. Etwas bewegter war das damalige slowenische Studentenleben in Graz; nach kurzem Bestand des Vereins „Sloga" und nach dem polizeilichen Verbot des zuerst technisch orientierten, dann literarischen Vereins „Vendija" gründeten die slowenischen Studenten in Graz 1875 den akademischen Verein „Triglav". Er jedoch war eher national ausgerichtet. Beinahe zwei weitere Jahrzehnte lang blieben die Aktivitäten der slowenischen Studenten auf ihre beiden Vereine beschränkt; sie griffen nicht wesentlich in das politische Leben in der Heimat ein. 1887 kam es zu einem neuerlichen allslowenischen Studententreffen in Laibach, das durch die in Wien und Graz studierenden Kollegen organisiert wurde; seine Wirkung reichte jedoch weder hinsichtlich des Echos noch des Programms an die beiden Treffen in den sechziger Jahren heran. Für die slowenische Politik waren diese beiden Jahrzehnte eine Periode der „Eintracht" und einer relativen politischen Windstille, die keine grundsätzlichere politische Differenzierung verlangte. Beide Studentenvereine waren bis in die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts zwar ihrer Grundorientierung nach so „liberal" wie — abgesehen von den Geistlichen — die gesamte slowenische Intelligenz. Angesichts des Wankelmuts der slowenischen Liberalen hatte auch eine liberale Ausrichtung der Mehrheit der Studenten keinen wesentlichen Einfluß auf die Verhältnisse im slowenischen Bereich. Zu Beginn der neunziger Jahre veränderten sich die Verhältnisse. Die Forderung nach einer deutlicheren weltanschaulichen Trennung kam aus dem katholischen Lager und führte auch innerhalb der Studentenschaft zur Spaltung. Einzelne katholisch gesinnte Studenten waren zwar schon früher dem Ruf der slowenisch-katholischen Presse gefolgt und statt der „Slovenija" dem deutschen und katholischen Studentenverein „Austria" beigetreten 23 ). Laute polemische Auseinandersetzungen verursachte u. a. die literarische Studentenzeit") Kremensek, Slovensko Studentovsko gibanje, S. 18.

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Schrift „Vesna", die zwischen 1892 und 1894 in Cilli erschien und wegen ihrer freisinnigen Ausrichtung vor allem im katholischen Lager auf Mißbilligung stieß. Der Austritt katholischer Studenten aus der „Slovenija" war Anlaß für die Gründung eines rein katholischen slowenischen akademischen Vereins „Danica" im Wintersemester 1893/94, der zwischen 1895 und 1921 auch das Blatt „ Z o r a " herausgab. Die Gründung des katholischen Studentenvereins wurde von der Heimat aus stark unterstützt, doch der Übertritt ging langsamer vonstatten, als es der Führung des katholischen Lagers wünschenswert erschien. Die Mehrheit der slowenischen Studenten verblieb weiterhin in der „Slovenija". 1901 kam es mit der Gründung des katholischen Studentenvereins „Zarja" auch im Grazer „Triglav" zur Spaltung. Erst 1910 erfolgte die Gründung des katholischen Studentenvereins „ D a n " in Prag. Damit hatte das katholische Lager die Teilung der Studentenschaft in Katholische und Liberale in allen drei österreichischen Universitätszentren erreicht, an denen slowenische Studenten inskribiert waren; dennoch gelang es den katholischen Vereinen nicht, zahlenmäßig die Oberhand zu gewinnen. Ihre Mitgliederzahl wuchs nur langsam; um das Jahr 1910 waren es, in allen drei Vereinen zusammengenommen, nur etwa 100 Mitglieder 24 ). Nach der Gründung des slowenischen Studentenverbandes „Slovenska dijaSka zveza" im Jahre 1905 versuchte man im katholischen Lager die katholischen Jugendvereine durch Ferientreffen, an denen auch Theologen mitwirkten, enger aneinander zu binden; man wollte die Mitgliederzahl vergrößern. Stärkeren Widerhall unter den Studenten fanden die christlich-sozialistischen bzw. christlich-sozialen Ideen, die im slowenischen Raum von Dr. Janez E. Krek verbreitet wurden. Zwischen den katholischen Studentenorganisationen und den übrigen slowenischen Studentenvereinen, die an ihrer liberalen Orientierung festhielten, gab es in der Regel keine Beziehungen; dennoch gelang es ihren Mitgliedern, einige gemeinsame Aktionen durchzuführen. So traf man sich, trotz der Spaltung, im Jahre 1898 in Laibach anläßlich der allslowenischen Studentenversammlung, in der man sich aber nur auf die Förderung der Gründung einer slowenischen Universität in Laibach einigte. Zu verschiedenen gemeinsamen Aktionen kam es auch später, vor allem im Zusammenhang mit weiteren Bestrebungen, eine slowenische Universität zu gründen. In dieser Hinsicht war besonders das Jahr 1901 sehr bewegt; es fanden zahlreiche Treffen slowenischer Studenten statt, sowohl in der Heimat als auch in österreichischen Universitätszentren. Ein Ergebnis der studentischen Zusammenarbeit waren verschiedene Publikationen über die slowenische Universität, z. B. „Vseuciliäki zbornik" (1902); im Kampf um die slowenische Universität arbeiteten slowenische Studenten aber auch in den folgenden Jahren zusammen. Erst die Unstimmigkeiten in der Hochschulsektion (Vseuciliski odsek), die 1908 von den sloweni" ) Ebenda, S. 21.

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sehen Studierenden in Wien als Propagandainstrument für die Gründung einer slowenischen Universität geschaffen worden war, vereitelten diese Kooperation endgültig. Enttäuscht über die Parteizwistigkeiten und die wirkungslose Politik der beiden bürgerlichen Parteien, insbesondere der Liberalen in Krain, versuchten die slowenischen Studenten in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts die nationalpolitischen Aufgaben des slowenischen Akademikers und Gebildeten genauer zu bestimmen. Die sogenannten „National-Radikalen" gewannen zuerst in der Wiener „Slovenija" die Oberhand und gründeten in ihrem Rahmen den politischen Bildungsklub „Skala"; solche national-radikale Vereine wurden 1904 auch in Graz („Tabor") und 1906 in Prag („Adrija") gegründet. Wegen der Vorherrschaft der National-Radikalen in der Wiener „Slovenija" gründeten liberale Studenten 1902 hier ihren eigenen Verein „Sava", während der Grazer „Triglav" und die Prager „Ilirija" nach dem Austritt der National-Radikalen eine liberale Leitung beibehielten. Nach Überzeugung der National-Radikalen vernachlässigten die slowenischen nationalen Führer und Parteien ihr Wirken im Volk; deshalb mußte gerade die Kleinarbeit zur Hebung des Bildungsniveaus des Volkes und zur Erweiterung des kulturellen Horizonts zur Hauptaufgabe eines nationalbewußten Akademikers und Gebildeten gedeihen. „Ein gebildetes Volk geht nicht unter und wird nicht entfremdet." Mit dieser Idee und unter dem Leitspruch „Aus dem Volk, für das Volk" organisierten die National-Radikalen Bildungskurse, erörterten die Organisation von Volks- und Mittelschulen, ermunterten zur Publikation der Fachliteratur in slowenischer Sprache und machten auf Erwerbsmöglichkeiten und -bedürfnisse auf dem slowenischen Gebiet aufmerksam. Mit dem Ziel, die Tätigkeit der Studenten während der Ferien nicht aussetzen zu lassen, war schon im Jahr 1904 der Ferienverein „Prosveta" in Laibach gegründet worden — später folgten ähnliche Vereine in Görz, der Steiermark, Triest, Istrien und Kärnten —, der unter anderem fahrende Volksbibliotheken einrichtete. In den Jahren 1904—1914 gab die Bewegung der nationalradikalen Studenten auch ihr Blatt „Omladina" heraus, das zunehmend unter den Einfluß des Masaryk-Kreises geriet 25 ). Der National-Radikalismus stieß bei den beiden slowenischen bürgerlichen Parteien auf Ablehnung und es ist bezeichnend, daß die national-radikalen Studenten ihre erste allslowenische Zusammenkunft im Jahre 1905 in Triest und nicht in Laibach organisierten. Ihr zweites Treffen fand 1907 in Cilli statt und erst das dritte 1909 in Laibach. Außer in den erwähnten Vereinigungen schlössen sich die slowenischen Studenten auch in Fachvereinen und in Klubs zusammen, die oft nur kurze Zeit am Leben blieben; deshalb sind Angaben über deren Tätigkeit und Wirkungsgrad sehr unzuverlässig. Schon in den sechziger Jahren wurde in Prag der 2S

) Darüber in Deutsch: Suppan,

Bildungspolitische Emanzipation.

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Verein slowenischer Techniker gegründet, dessen Ziel vornehmlich die Schaffung einer slowenischen Terminologie war 26 ). Anfang des 20. Jahrhunderts existieren eigene Fachverbände für slowenische Juristen, Mediziner, Techniker, Tierärzte und Agronomen in Wien, weiters für Mediziner und Techniker in Graz sowie für Techniker in Prag. Aus bestimmten Anlässen versammelten sich Gleichgesinnte in verschiedenen Kreisen, z. B. im tschechisch-slowenischen akademischen Alpen- und Sokolkreis in Prag. Ferienvereine, die nach der politischen Spaltung slowenischer Studenten in die katholische, liberale und national-radikale Strömung gemäß der jeweiligen Parteiideologie gegründet wurden, hatten ihren Vorgänger im 1892 geschaffenen Verein „Sava"27). Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg besaßen die National-Radikalen das bestorganisierte Netz von Ferienvereinen: „Prosveta" in Laibach, „Bodocnost" in der Steiermark, „Balkan" in Triest, „Istra" in Istrien und „Gorotan" in Kärnten. Auf katholischer Seite versammelte der Slowenische Studentenverein die Studierenden in der Ferienzeit, im liberalen Lager aber sorgte der Ferienverein „Sava" dafür und einige Zeit auch der regionale Verband „Vesna" in Oberkrain 28 ). Die sozialdemokratisch orientierten Studenten entwickelten offensichtlich keine nennenswerten Aktivitäten, obwohl sie in den Jahren 1908—1912 (?) einen eigenen sozialdemokratischen Verband slowenischer Studenten in Wien besaßen 29 ). Akademische Zweigstellen wurden auch durch die Kyrill und Method-Gesellschaft geschaffen, und zwar 1910 in Wien und 1913 in Graz. Von 1907 an gaben die national-radikalen Studenten, von 1908 an auch die katholischen — außer ihren regulären Blättern —, ein besonderes „Studentenkalenderchen" heraus, in dem sie neben verschiedenen programmatischen Artikeln die wichtigsten Angaben über das Studium in Wien, Graz und Prag veröffentlichten und über Unterstützungseinrichtungen, die materiellen Verhältnisse in diesen drei Universitätszentren und über die Studentenvereine

2

) Kaufmann, Festschrift, II. Teil, S. 274 ff. 43

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Jan Softa

kovsky als Professor für den neugegründeten Lehrstuhl für Slawistik gewonnen 46). Von den sorbischen Studierenden ist Jan Arnost Smoler (Johann Ernst Schmaler, 1816—1884) zu nennen, der hier 1836 bis 1840 evangelische Theologie und 1842 bis 1845 bei Celakovsky Slawistik studierte und später zum führenden Organisator des national-kulturellen Voranschreitens der Sorben heranwuchs 47 ). 18 3 8 gründeten er und der Deutsch-Oberlausitzer Adolf Rösler aus Görlitz den akademischen „Verein für lausitzische Geschichte und Sprache in Breslau", der neben regelmäßig stattfindenden Plenarversammlungen in den vier Sektionen für Geschichte, Geographie, der deutschen und der wendischen Sektion tätig war 48 ). Rösler und Smoler bekleideten das Amt des Vorsitzenden beziehungsweise des Sekretärs, seit 1841 unterstützte Purkyne als vom akademischen Senat bestätigter Protektor den Verein. Smoler lernte in Breslau als erste slawische Fremdsprache im polnischen Studentenverein Polnisch, bei Purkyne lernte er Tschechisch. Purkyne war 1838 auf den stud. theol. ev. Smoler aufmerksam geworden, als dieser auf der Gründungsversammlung des lausitzischen Vereins den Hauptvortrag über sorbische Volkslieder hielt. Purkyne, eine erstrangige Persönlichkeit der nationalen Wiedergeburt der Tschechen und der von J. Kollär begründeten slawischen Wechselseitigkeit, nahm Smoler als Lehrer seiner beiden Söhne in sein Haus auf. Smoler wohnte auch in seiner zweiten Breslauer Studienzeit bei Purkyne, hatte dort freien Zutritt zu dessen Bibliothek und vor allem zu der umfangreichen Sammlung slawenkundlicher Bücher, lernte slawische Persönlichkeiten kennen, die Purkyne in Breslau besuchten, und wurde insbesondere mit den nationalen Problemen bei den Tschechen vertraut. Er konsultierte Purkyne in allen wichtigen Fragen der sorbischen Kulturentwicklung. Smolers Korrespondenz mit tschechischen Briefpartnern bezeugt anschaulich, wie sehr er sich am tschechischen Beispiel orientierte 49 ). Der lausitzische Studentenverein war in der historischen und in der zu46

) H. Rösel: Dokumente zur Geschichte der Slawistik in Deutschland. Teil I: Die Universitäten Berlin und Breslau im 19. Jahrhundert. Berlin 1957. S. 8 —14, 48 — 55, 63—71. 47 ) }. Cyz: Jan Arnost Smoler. Ziwjenje a skutkowanje serbskeho wötcinca (Jan ArnoSt Smoler. Leben und Wirken eines sorbischen Patrioten). Budysin 1975. 48 ) Dr. Neumann: Geschichte des akademischen Vereins für lausitzische Geschichte und Sprache zu Breslau. In: Neues Lausitzisches Magazin. 29. 1852. S. 155—180; /. Cyz: Wröctawske akademiske towarstwo za stawizny a rec (Der Breslauer akademische Verein für Geschichte und Sprache). In: Rozhlad. 18. 1968. 1—2. S. 25 — 31, 52—61; ders.: Nekotare dokumenty Wröctawskeho akademiskeho towarstwa za stawizny a rec (Einige Dokumente des Breslauer akademischen Vereins für Geschichte und Sprache). In: Letopis. Reihe A. 20. 1973. 2. S. 2 2 9 - 2 3 9 . •") / . Pata: Z ceskeho listowanja J. E. Smolerja (Aus der tschechischen Korrespondenz J. E. Smolers). In: Casopis Macicy Serbskeje. 71. 1918. S. 49—100; 72. 1919. S. 3 — 112.

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nächst von Smoler geleiteten wendischen Sektion besonders aktiv tätig. In der letzteren w u r d e n Sprachübungen im Sorbischen veranstaltet, neue literarische Arbeiten besprochen, u n t e r dem Titel „Serbska n o w i n a " eine handschriftliche Sammlung sorbischer Sagen, Sprichwörter, Volkslieder, Gedichte angelegt, ein von P u r k y n e geleiteter tschechischer Sprachkursus absolviert u n d mit d e m A u f b a u einer Bibliothek sorbischer u n d slawischer Publikationen begonnen. Die Sektion pflegte einen regen Briefaustausch mit den anderen sorbischen Stud e n t e n - u n d Gymnasiastenvereinigungen, wechselseitig w u r d e n Anregungen gegeben u n d der G e d a n k e der Gemeinsamkeit g e f ö r d e r t . Ferner stand die Sektion im Briefwechsel mit b e r ü h m t e n Slawisten. Auch der Gesamtverein unterhielt K o n t a k t e mit n a m h a f t e n Gelehrten; besonders eng waren die Bezieh u n g e n z u r Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften in Görlitz, die den Verein mit ihren V e r ö f f e n t l i c h u n g e n versorgte u n d später Erbin seines Nachlasses wurde 5 0 ). V. Die Universitäten Leipzig, P r a g u n d Breslau u n d die an diese H o c h s c h u l e n geb u n d e n e n „sorbischen" Einrichtungen u n d studentischen Vereinigungen trugen wesentlich z u r F o r m u n g der sorbischen Intelligenzschicht in der Oberlausitz u n d ihrer H a u p t s t a d t Bautzen bei. G e m e i n t ist die Region, in der sich das nationale Erwachen u n d die Ausbildung des bürgerlichen nationalen Bewußtseins der Sorben k o n z e n t r i e r t e n . A m f r ü h e s t e n k a m der Leipziger Universität Bedeutung zu, die im L a u f e des 18. J a h r h u n d e r t s als eine H e i m s t ä t t e der deutschen A u f k l ä r u n g A n e r k e n n u n g f a n d . Die seit 1763 im Sinne des aufgeklärten Absolutismus, aber von bürgerlichen K r ä f t e n initiierte Politik des Retablissements w a r geeignet, diese Position Leipzigs weiter zu festigen. 1764 folgte die G r ü n d u n g der bedeutsamen Leipziger Ö k o n o m i s c h e n Sozietät, in der später der schon g e n a n n t e P r o fessor der Ö k o n o m i e Leska aktiv mitarbeitete. U n d 1779 w u r d e in Görlitz die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften konstituiert. Die deutsche A u f k l ä r u n g strahlte vor allem von Leipzig her auf die O b e r lausitz aus, f ö r d e r t e den kulturellen Fortschritt d e r Sorben u n d bestärkte deren Intelligenz in ihrer national selbstbewußten H a l t u n g . Im „ J a h r h u n d e r t der A u f k l ä r u n g " standen die sorbisch-deutschen kulturellen Wechselbeziehungen an v o r d e r e r Stelle, wiewohl es auch in dieser Zeit beachtliche Fakten einer sorbisch-slawischen Wechselseitigkeit gab. W i e immer man auch den Beginn des Prozesses der nationalen Wiedergeb u r t bei den Sorben ansetzen mag, die geistig-kulturellen Impulse von Seiten der A u f k l ä r u n g im letzten Drittel des J a h r h u n d e r t s , u n d die sorbisch-deutschen 50 ) /• Cyz: Z korespondency Wróciawskeho akademiskeho towarstwa za luziske stawizny a rèe (Aus der Korrespondenz des Breslauer akademischen Vereins für lausitzische Geschichte und Sprache). In: Létopis. Reihe A. 21. 1974. 2. S. 233—249.

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Wechselbeziehungen bildeten konstitutive Elemente derselben — sei es als ihre Vorstufe, sei es auch als eine erste oder einleitende Etappe. Schon der Prager Literaturhistoriker Josef Päta hat seinerzeit mit Nachdruck auf diese Komponenten hingewiesen, um die sorbisch-nationale Wiedergeburt allseitig zu erfassen, und auch um die Eigenständigkeit der sorbischen Entwicklung zu betonen 51 ). An diesen Satz anknüpfend sei bemerkt: Die aus dem Wiedergeburtsprozeß erwachsene sorbische nationale Bewegung wurde nicht aus Böhmen oder einem anderen slawischen Land importiert, sondern sie hatte in der bürgerlich-kapitalistischen Umwälzung im eigenen Lande ihren gesellschaftlichen und ethnischen Boden. Päta hat auch die Rolle der Leipziger Universität in der sorbischen Kulturentwicklung hoch eingeschätzt"). Richtig ist freilich, daß Leipzig nicht nur die aufklärerische Vorbereitung der anschließend von den romantisch-nationalen Strömungen und der slawischen kulturellen Wechselseitigkeit weiter getragenen nationalen Wiedergeburt maßgeblich angeregt hat, sondern daß von daher, gleichsam als eine Nebenentwicklung, im dichterischen Werk Stempels auch eine „Hinwendung zu klassischen Mustern" und eine Besinnung auf Goethe erfolgen konnte 53 ). Jedoch richtungsweisend im national-kulturellen Voranschreiten im 19. Jahrhundert wurde Stempels Schaffen nicht; es blieb eher eine Randerscheinung, eine bemerkenswerte Besonderheit. Die Rolle Prags im sorbischen Kulturleben der romantisch-nationalen Entwicklungsetappe wurzelt tief in der josefinischen Aufklärung, die ihrerseits schon über mehrere Stationen auf die Sorben einwirkte. Der allein aufgrund seiner slawistischen Forschungen stets auch auf Kontakte zu den Sorben bedachte Aufklärer Dobrovsky wurde zu einer zentralen Gestalt der tschechischen nationalen Wiedergeburt 54 ). Hinsichtlich der tschechischen Anteilnahme an den Geschicken der Sorben setzte er neue Maßstäbe. Die anhaltende progressive Einflußnahme auf die Erziehungs- und Bildungsarbeit im Wendischen Seminar durch Seibt, Lok, Dobrovsky, Hanka und die Bolzanisten zeitigte nicht nur in den dreißiger und vierziger Jahren Resultate, sondern sie hinterließ ihre Spuren noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum entscheidenden Faktor in den zwischennationalen kulturellen Wechselbeziehungen der Sorben wurden Prag, tschechische und slowakische Gelehrte 51) J. Päta: L u z i c k o s r b s k e närodni obrozeni a ceskoslovenskä ücast v nem (Die lausitzisch-sorbische nationale Wiedergeburt und der tschechoslowakische Anteil an ihr). In: Slavia. 2. 1923 —1924. S. 3 4 8 — 3 5 5 ; den.: Z a w o d d o studija serbskeho p i s m o w s t w a (Einf ü h r u n g in das Studium des sorbischen Schrifttums). Budyäin 1929. S. 83—95. ") Päta, L u i i c k o s r b s k e narodni obrozeni, S. 350. ") W. Potthoff: Sorbische literarische R o m a n t i k zwischen slavischer Wiedergeburt und Klassizismus. In: D i e Welt der Slaven. 27. 1982. 1. S. 182 f. M ) Prehled dejin C e s k o s l o v e n s k ä (Geschichte der T s c h e c h o s l o w a k e i im Überblick). 1/2 ( 1 5 2 6 — 1 8 4 8 ) . P r a h a 1982. S. 466 ff.

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in den Jahren zwischen 1815 und 1830. Wohl erfolgte die Erneuerung der Predigergesellschaft in Leipzig 1814—1816 noch unter dem Eindruck der gesellschaftlichen und geistigen Bewegungen im Zeichen des siegreich beendeten antinapoleonischen Befreiungskrieges. Aber die neuerliche Aktivierung ihrer sorbischen Sektion durch Zejler und seine Kommilitonen in den Jahren 1826—1828 war schon stark auf Prag orientiert. Die auswärtigen slawischen Besucher der Sorben seit Beginn der zwanziger Jahre kamen via Prag und Wendisches Seminar in die Lausitz. 1825 verwirklichte Dobrovsky seine seit langem geplante Studienreise in die Lausitz. Und der Slowake J i n Kollär ließ sich während seiner Studienzeit in Jena 1817 bis 1819 auf eine eigene und sehr persönliche Weise von dem Schicksal der slawischen Bevölkerung in Deutschland beeindrucken. Auch er unterhielt Beziehungen zu den Sorben. Im Vormärz, spätestens seit der Wende zu den vierziger Jahren, standen auch die Universitäten Leipzig und Breslau ganz unter dem Eindruck der tschechischen nationalen Bewegung, soweit es um Fragen der slawischen Völker, der Sorben und der deutsch-slawischen Beziehungen ging. Der junge Gutsbesitzerssohn und Jurastudent Korla Awgust Mosak-Kiosopolski (Karl August Mosig von Aehrenfeld, 1820—1898) unternahm zu Beginn seiner Leipziger Studienzeit eine Erkundungsreise nach Prag (Gespräche u. a. mit Pavel Josef Safarik, Josef Jungmann, Vaclav Hanka), Brünn, Wien, Krakau und Breslau. Die beiden führenden Männer der sorbischen Kultur J. P. Jordan in Leipzig und J. A. Smoler in Breslau waren im Geiste der tschechischen nationalen Wiedergeburt erzogen worden, Jordan bei Hanka im Prager Wendischen Seminar und Smoler bei Purkyne und Celakovsky in Breslau. Die Staatsreformen in Sachsen seit 1831, insbesondere jedoch die Agrarreformen sowohl im preußischen als auch im sächsischen Teil der Lausitz hatten eine sichtliche Erweiterung der sozialen Basis der sich formierenden sorbischen kleinbürgerlich-bäuerlichen nationalen Bewegung in der Lausitz zur Folge. Von der slawischen Wechselseitigkeit spürbar unterstützt und geprägt, entwikkelte sich die bürgerliche nationale Kultur der Sorben im Vormärz stark in Anlehnung an das tschechische Beispiel.

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DIE ZUSAMMENARBEIT DER PRAGER U N D WIENER S T U D E N T E N W Ä H R E N D DER REVOLUTION V O N 1848

Sowohl die Zeitgenossen des Revolutionsjahres 1848 wie auch die historiographischen Arbeiten über dieses Thema betonen übereinstimmend, daß die Studenten der Hochschulen von Wien und Prag an diesem Ereignis einen außerordentlichen und selbständigen Anteil hatten. Die Frage der Zusammenarbeit und der Wechselbeziehungen zwischen Wiener und Prager Studenten im Verlaufe des Revolutionsjahres 1848/49 wurde bisher noch nicht im Detail bearbeitet, aber schon die vorliegende Literatur bestätigt, daß es sich keineswegs um eine unbedeutende und historisch unwesentliche Erscheinung handelt. In meinem Beitrag mache ich den Versuch, einführende Betrachtungen zu diesem Thema zu entwerfen. Die Feststellung des gesellschaftspolitischen Radikalismus der Studenten der Prager Universität und des Polytechnikums kommt in jedem Werk über die bürgerliche Revolution in Böhmen zum Ausdruck. Eine einfache, aber nach meiner Meinung unbefriedigende Erklärung dieser eindrucksvollen Erscheinung im Verlaufe der Revolution des Jahres 1848 suchte die Mehrheit der Autoren in der jugendlichen Unreife der Teilnehmer an der Revolution zu finden. Die Unerfahrenheit der Jugend — angeblich ausgerechnet durch Mangel an Lebenserfahrungen und durch Neigung zu emotionalen Vorstellungen von der Wirklichkeit und zu spontanen Handlungen verursacht — bezeichnet man als Hauptursache und entscheidenden Beweggrund für das radikale Auftreten der Studentenschaft. Wenn auch die Berechtigung einiger psychologischer Erklärungen nicht zu bestreiten ist, so bleibt ein Faktum unberücksichtigt: Allein die große Masse der nichtstudentischen Jugend, die an dieser Bewegung teilnahm, erregt Zweifel an der Gültigkeit der angeführten Erklärung; die Gesamtzahl der Studenten in Prag im Jahre 1848 betrug außerdem maximal 3500 Personen. Die Studentenschaft war ein Bestandteil, gewissermaßen eine Reserve der Intelligenz für die Zukunft. Die Lebensinteressen eines Großteils dieser sozialen Schicht standen, wie sich an der entsprechenden Ideologie, an den gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und nationalen Stellungnahmen und Äußerungen zeigte, der Studentenschaft nahe. Die Intelligenz war zur Zeit des Verfalls des Feudalismus und des Aufkommens des Kapitalismus eine gesell-

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schafdiche Gruppe, die zahlenmäßig ständig wuchs und sich sowohl durch soziale Herkunft als auch durch Lebensweise und Anschauungen von den bekannten Klassen der Gesellschaft stark unterschied. Die Studentenschaft, die sich auf ihre künftige Stellung in der Gesellschaft vorbereiten mußte, hatte sich bereits von Anfang an am traditionellen, intensiven Konflikt zwischen den alten und neuen gesellschaftlichen Kräften zu orientieren. Sie mußte sich also zu einer sich formierenden Bourgeoisie bekennen, die mit dem absolutistischen Polizeiregime und dem System des Feudalismus ganz offensichtlich Schluß machen wollte. Die Lebensverhältnisse der Intelligenz verschlimmerten sich in der Epoche des Vormärz fühlbar, und für die überwiegende Mehrheit waren die Feudalherrschaft und das Regierungssystem Metternichs unhaltbar und unerträglich. Die Studentenschaft, die nicht so sehr auf politische Überlegungen wie auch auf Existenzfragen oder Karrieren bedacht sein mußte, registrierte diese Umstände besonders nachhaltig. Diese Reflexionen gesellschaftlicher Verhältnisse wurden nicht von ihren Lehrern angeregt, die sich, abgesehen von einigen wenigen, den Weisungen der Regierung unterordneten und in diesem Sinne auch den Unterricht und die Erziehung gestalteten. Die Studentenschaft erlangte ihre politische und nationale Reife außerhalb der Hochschule. Die zunehmende Zahl von Studenten aus den Schichten der Kleinbürger und persönlich Abhängiger bildete einen günstigen Nährboden dafür. Was die nationale Differenzierung der Studentenschaft in Prag betrifft, so ging die Steigerung des tschechischen Anteils der Studenten Hand in Hand mit dem fortschreitenden Prozeß der tschechischen nationalen Wiedergeburt. Die Teilnahme tschechischer Studenten an sprachlich-kulturellen Aktivitäten und patriotischen Taten erweckte allmählich auch das Interesse an direkter politischer Betätigung. Die deutsche Studentenschaft in Prag, aktiv auf kulturellem und literarischem Gebiet tätig, bekannte sich im Vormärz besonders zum sogenannten Landespatriotismus oder Bohemismus. Diese Bewegung wollte die Einwohner Böhmens, sowohl die deutscher als auch die tschechischer Sprache, national integrieren; und sie respektierten auch die Priorität und die Ansprüche der Tschechen im Königreich Böhmen, besonders in bezug auf ihre Vergangenheit. Nicht zufällig kritisierte die chauvinistische deutsche Historiographie diese Haltung in der Literatur des Vormärz, deren Vertreter U f f o Horn, Meißner, Hartmann und andere waren. Diese Haltung der Prager Deutschen zeigte sich während der Revolution in Prag in einer positiven Zusammenarbeit mit den Tschechen und in der Anerkennung ihrer politischen Stellung und Verdienste, die am 11. März 1848 mit der Einberufung der Petitionsversammlung des Prager Volkes — der Wenzelsbadversammlung — Gestalt annahm. Aber die Verschärfung des nationalen Konfliktes, zu der es im Laufe des revolutionären Prozesses in der Monarchie

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und den deutschen Staaten kam, führte diese Gruppe allmählich ins antitschechische Lager. Die Beziehungen und Kontakte der Prager Studentenschaft zu den Wiener Studenten waren schon in vorrevolutionärer Zeit lebhaft; besonders begünstigt wurden sie durch die Vermittlung der Studenten aus Prag und den böhmischen Ländern, die in Wien studierten. Die Wiener Studentenschaft, national stärker differenziert, ermöglichte es ihren tschechischen Kollegen, politisch-nationale Aktivitäten in Zusammenarbeit mit den anderen Studenten, in erster Linie solchen slawischer Nationalität, zu entwickeln. Die Zusammenarbeit mit den Polen überschritt sogar den Rahmen gesellschaftlich-kultureller Beziehungen und hatte nicht nur Einfluß auf die Jugend in Prag, sondern auch auf eine breitere politisch aktive Gruppe in Böhmen. Im Revolutionsprozeß des Jahres 1848 verstärkte sich dann die unmittelbare Zusammenarbeit zwischen den Prager und den Wiener Studenten. In den entscheidenden Momenten des Kampfes zwischen Revolutionären und Konterrevolutionären gewann diese Zusammenarbeit im Rahmen der Gesamtmonarchie eine historische Bedeutung und war in gewissem Maße auch für Mitteleuropa wichtig. An der Vorbereitung und Durchführung der Wenzelsbadversammlung am 11. März 1848 in Prag hatte die Studentenschaft als Ganzes keinen Anteil. Einzelne halfen vielleicht mit, indem sie Einladungskarten schrieben, der Großteil der Versammlung aber setzte sich aus anderen Teilnehmern zusammen. Die revolutionären Aktivitäten der Wiener Studentenschaft waren entscheidende Anregung und Vorbild für das selbständige kollektive Auftreten der Prager Studentenschaft im Revolutionsprozeß; Privatbriefe der Prager Studenten aus Wien, aussagekräftige Flugblätter und Zeitungsartikel waren der Motor. Die Wiener Studenten erhielten in Prag den Nimbus von Revolutionshelden, ihre Adresse an den Herrscher war Vorbild für eine analoge Aktion in Prag, ihr heldenhafter Kampf und ihre Opfer erregten in Prag Achtung und riefen Solidarität hervor. Das Interesse der Wiener Studenten für die Revolutionsbewegung in der übrigen Studentenwelt (und nicht nur in der Studentenwelt!) war fortan beständig und ernsthaft. Die Prager Studentenschaft bildete einen autonomen Bestandteil der Revolutionsbewegung in Prag, sie hatte ein eigenes Programm und eine eigene Organisation. Es ist bezeichnend, welche Bedeutung sowohl die Amtsstellen als auch die Repräsentanten des Petitionsausschusses der Bürgerschaft, des sogenannten Wenzelsbadausschusses (Wenzelsbadversammlung) — später Nationalausschuß genannt —, den Studenten und ihrer Politik beimaßen. Befürchtungen wegen der radikalen Haltung der Studenten, die bereits Amter innehatten, sollten durch retardierende, wenn auch erfolglose Aktionen der Universitätsführung kompensiert werden. Dem Wenzelsbadausschuß ging es vor allem darum, die Studentenschaft für seine eigene politische Taktik und sein Programm einzuspannen und sie seiner Leitung zu unterstellen. Der Ausschuß mußte sich dann aber damit zufriedengeben, daß die Stu-

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denten ihre Aktionen mit denen der Bürger koordinierten. Die Studenten beharrten aber weiterhin auf ihrer Unabhängigkeit und wollten in den offiziellen Delegationen, die der Ausschuß zum Herrscher nach Wien entsandte, ein Vertretungsrecht erhalten; der Ausschuß mußte dies akzeptieren. Am 15. März 1848 schritt die Vollversammlung im Carolinum zur Tat; die tschechischen und deutschen Studenten an der Universität und am Polytechnikum nahmen gemeinsam die Adresse an den Herrscher an, in der Forderungen nach Demokratisierung der Hochschulorganisation und der Studienordnungen sowie nach demokratischen Rechten der Studenten verankert waren. An der Spitze der Versammlung stand als führende Persönlichkeit der deutsche Literat U f f o Horn, ein begabter Redner, der die Einheit der tschechischen und deutschen Juristen in Prag im März 1848 gut zum Ausdruck brachte. Der Akademische Senat, der an diesem Tage noch die Studentenaktion zu bremsen versuchte, mußte bereits tags darauf kapitulieren. Ebenso ging der Versuch des Prager Bürgermeisters Müller, die Studenten im gemäßigten Geiste zu beeinflussen, ins Leere. Müller stellte noch im Verlauf der Versammlung seine aussichtslosen Bemühungen ein und applaudierte heuchlerisch den radikalen Studentenkundgebungen. Nach dem Muster der Wiener Akademischen Legion formierte sich eine solche auch in Prag, die Ende März 1848 2360 Mann zählte. Eine ihrer ersten bedeutenden Aktionen war die Teilnahme am Gottesdienst für die gefallenen Studenten in Wien, der am 21. März 1848 in der denkwürdigen Teynkirche am Altstädter Ring in Prag stattfand. Das magere Ergebnis, das die Petitionsdelegation aus Wien mitbrachte, ließ sowohl Bürger als auch Studenten demonstrieren. Man erreichte schließlich vom Landespräsident die einstweilige Annahme der Forderungen der Studenten, und schließlich wurde auch die definitive Bestätigung seitens der Regierung erzwungen. Die Studenten reagierten nach Wiener Vorbild auf die Herausgabe des provisorischen Pressegesetzes erneut mit einer Demonstration, die am 3. April 1848 im Carolinum stattfand und wo sie dieses Gesetz ostentativ verbrannten. Die Feier aus Anlaß des fünfhundertjährigen Bestehens der Prager KarlFerdinands-Universität, wie sie vom 17. Jahrhundert an genannt wurde, einer Gründung Karls IV., erfüllte das absolutistische Regime Metternichs schon vor dem März mit Befürchtungen, verlor aber freilich in der revolutionären Atmosphäre des Jahres 1848 an der ihr zugedachten Besonderheit. Die Studenten begingen diesen Jahrestag mit der Verbrennung des Zopfes und anderer Symbole der alten Feudalzeit. Die Einigkeit der tschechischen und deutschen Studenten in Prag war ein wichtiges radikales Element, das überall dort zur Geltung kam, wo sich demokratische, konstitutionelle Interessen und Ziele manifestierten. Das war ein wertvolles Detail für die Entwicklung der Revolution in Prag, die bis zum Juni

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1848 dauerte. Wenn auch nicht einmal die Studentenbewegung der nationalen Spaltung, die durch die Diskussionen in Frankfurt hervorgerufen wurde, entging, so erfaßte vielleicht doch ein Teil der Studentenschaft das Problem der Dialektik von Freiheit und Nationalität tiefer; das beeinflußte auch die revolutionären Ereignisse in Wien im Mai 1848, wo sich die Studenten auf die Seite der Revolution stellten. In Prag stand es seit Mai 1848 um die Sache der Konstitution immer schlechter, eine Folge des provokanten Kurses des reaktionären Armeekommandanten Windischgrätz. Am empfindlichsten reagierten gerade die Studenten auf solche Machtauswüchse, besonders jene, die sich im April 1848 im tschechischen Studentenverein „Slavia" zusammengeschlossen hatten; seine Losung war Gleichheit und Freiheit; die Mitglieder waren auch entschlossen, sie mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Das provozierende Auftreten des Militärs beeinflußte unmittelbar die Radikalisierung der Studentenschaft; zugleich führte es aber auch auf Seite der besitzenden Bevölkerungsschichten zu einer wachsenden Unsicherheit und zu Kompromissen. Die Studenten neigten zu einem Bündnis mit der Arbeiterschaft, auf das sie im Falle eines Zusammenstoßes mit Windischgrätz rechneten. Die Situation war schließlich reif zum Ausbruch. Am 7. Juni 1848 nahm Windischgrätz demonstrativ eine Truppenparade der Prager Garnison ab, was eine verstärkte Feindschaft seitens der Bürger zur Folge hatte. Der militärische Flügel des Vereines „Slavia" forderte für die Akademische Legion 2000 Gewehre, 80.000 scharfe Patronen und eine Kanonenbatterie an. Auf der Studentenversammlung vom 10. Juni 1848 im Carolinum wurden diese ziemlich unüberlegten Forderungen genehmigt. Selbstverständlich lehnte Windischgrätz die Wünsche der Studenten strikt ab. Diese veröffentlichten ihre Forderungen „auf roten Plakaten"; die Behörden ließen sie jedoch entfernen. Zur Stärkung der Einheit des Prager Volkes wurde am 18. Juni 1848 eine Manifestation auf dem Roßmarkt in Prag abgehalten, verbunden mit der Feier eines Gottesdienstes. Die Studenten und die Arbeiter bildeten die Masse der Teilnehmer an der Pfingstmesse. Nach ihrem Ende zogen die Anwesenden zum Generalkommando, um gegen Windischgrätz zu demonstrieren. Es kam zu einem Scharmützel mit einer Militäreinheit, worauf das Prager Volk nach Wiener und Pariser Vorbild mit dem Ruf nach Barrikaden reagierte. Ohne jegliche Vorbereitung entstanden in Windeseile Hunderte von Barrikaden, darunter auch im Zentrum, wo Studenten um das Klementinum Barrikaden errichteten, die zu den wichtigsten Verteidigungspunkten zählten. Die defensive Barrikadentaktik erwies sich aber gegen einen militärisch längst vorbereiteten Plan der Demütigung Prags wirkungslos. Trotz der zum Belagerungszustand von Prag führenden Niederlage und eines bedeutenden konterrevolutionären Schlages gegen die Revolutionsbewegung in der gesamten Monarchie kann

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man die bewaffnete Studentenrevolte im Juniaufstand als ein stolzes Kapitel der Prager Universität bezeichnen. Infolge eines tragischen Mißverständnisses sah die deutsche Öffentlichkeit in der Monarchie und in Deutschland im Prager Aufstand einen nationalen Kampf der Tschechen gegen die Deutschen. Manche gingen sogar so weit, Windischgrätz als Retter der Deutschen in Prag zu preisen. Nicht einmal eine Delegation von Wiener Studenten — sie hätte sich mit eigenen Augen vom wahren Charakter des Vorgehens Windischgrätz' überzeugen können — war imstande, die schicksalsvolle Spaltung, die nicht nur die Prager Studentenbewegung betraf, zu verhindern. Zur Oktoberrevolution in Wien bezog die liberal ausgerichtete tschechische Politik, die in den nationalistischen Positionen wurzelte und in den Wiener Ereignissen eine antislawische Verschwörung der Großdeutschen und Ungarn sah, eine eindeutig feindselige Stellung. Dieselbe Haltung nahmen auch die radikaldemokratischen tschechischen Strömungen ein, obgleich es in ihren Reihen bald zur Ernüchterung kam und sie begriffen, daß die Unterdrückung der Wiener Revolution durch Windischgrätz keinen Vorteil für die slawischen Völker der Monarchie brachte, sondern nur zu Reaktion und Konterrevolution führen würde. Die böhmische Studentenschaft in Prag, vertreten durch das Studentenkomitee, trat keineswegs gedankenlos dem Standpunkt der beiden Strömungen in der tschechischen politischen Bewegung bei. Im Gegenteil, zu jener Zeit, als die liberalen böhmischen Abgeordneten aus Wien flohen, entsandte das Studentenkomitee eine Delegation nach Wien, die sich von der Lage ein Bild machen und mit den revolutionären Wiener Studenten verhandeln sollte. Diese Entscheidung spiegelt den langfristigen Prozeß der tschechischen Studentenpolitik wider, der damit endete, daß die nationalen Forderungen den revolutionär-demokratischen untergeordnet wurden. Es war also keineswegs überraschend, daß ein Teil der Delegierten für die Wiener demokratische Bewegung Partei ergriff. Der Techniker Pavel Vaclav Kleinen, der die Funktion eines Sekretärs des Studentenkomitees bekleidete, ließ in Wien Plakate drucken und öffentlich anbringen, auf denen er sich entschieden mit dem revolutionären Wien solidarisch erklärte: „Die Gesandten der Prager Studentenschaft in Wien fordern ihre slawischen Brüder auf, gemeinsam mit Wien zu kämpfen. Prag unterstützt Wien, entweder wird Prag mit Wien siegen oder fallen. Kleinen." Die hochgehenden Wogen des Nationalismus in Prag — gewissermaßen eine Analogie zur Haltung der Deutschen zum Prager Juni-Aufstand — ergriffen auch die Massen der böhmischen Studentenschaft in Prag ganz intensiv; und sie verhinderten, daß die Stellungnahme Kleinem und der anderen Mitglieder der Studentendelegation in Wien im Prager Studentenplenum genehmigt wurden. Die Repräsentanten der tschechischen austroslawischen Politik entfalteten darüber hinaus eine massive und scharfe Agitation unter den Studenten selbst, um diese für sich gewinnen zu können. Auf der Plenarsitzung der

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böhmischen Studentenschaft am 13. Oktober 1848 im Karolinum siegte nach einer heftigen Diskussion schließlich die negative Stellungnahme zur Wiener Revolution. In dieser Diskussion hatte FrantiSek Ladislav Rieger den Hauptpart übernommen; ihm standen auch die slowakischen Führer L'udevit §tür und Josef Miloslav Hurban zur Seite. Gleichzeitig wurde beschlossen, den Sekretär des Studentenkomitees, Kleinert, vor ein Ehrengericht zu zitieren; seine Aufrufe zur Unterstützung der Wiener Kämpfer wurden feierlich für ungültig erklärt. Die Studentenschaft hatte sich also zur Politik der böhmischen Reichstagsabgeordneten, die Regierung und Thron treu blieben, bekannt. Der weitere Verlauf zeigte aber, daß der angenommene Beschluß keineswegs die einstimmige Meinung der Teilnehmer widergab. Kleinert wurde nicht vor ein Ehrengericht zitiert; das Studentenkomitee, das nach Ablehnung seiner Politik durch das Plenum eigentlich hätte zurücktreten sollen, arbeitete unverändert weiter. Es ist leicht zu verstehen, daß die national motivierte Spaltung zwischen den böhmischen und deutschen Studenten in Prag, die sich seit dem Ergebnis der Wahl in Frankfurt entwickelt hatte, zu diesem Zeitpunkt ihren Höhepunkt erreichte. Die deutschen Studenten in Prag haben das Studentenkomitee nicht anerkannt, und sie ignorierten darüber hinaus auch die akademische Legion, deren Leitung in die Hände tschechischer Studenten fiel. Die allgemeine Lage änderte sich aber ständig; man begriff, wie die Folgen der blutigen Niederlage der Wiener Revolution aussehen würden. Eines der ersten unmittelbaren Ergebnisse war die Teilnahme tschechischer und deutscher Studenten an einer größeren Delegation von Repräsentanten der Prager Vereine, die zum Kaiser nach Olmütz gesandt wurde, um für eine Milderung des unglücklichen Schicksals Wiens einzutreten. Die Antwort auf die Auflösung der Akademischen Legion in Wien am 1. November 1848 war eine intensive Aktivität, die zur Demokratisierung und Stärkung der bewaffneten Studentenkörperschaft in Prag führen sollte. Den Professoren wurde die Befehlsgewalt entzogen, und man wählte Studenten als Offiziere. Gleichzeitig wurde auch die Abhängigkeit der Akademischen Legion vom Kommando der Volksgarde geschwächt. Darüber hinaus versuchte man, die ausgeprägte politische Differenzierung in den einzelnen Abteilungen der Legion zurückzudrängen, und zwar durch Zuordnung der Studenten zu den verschiedenen Einheiten der Legion nicht nach Fakultäten, sondern aufgrund ihres Wohnortes. So wollte man die Einheit der Juridischen Fakultät, die als sehr rechtsorientiert galt, sprengen. Allerdings ist dieser Versuch einer Behinderung der Juristen nicht gelungen. Das Hauptproblem war, daß die Waffen, die bisher von den Armeekorps erworben worden waren, nicht ausreichten. Die Studenten veranstalteten eine freiwillige Spendenaktion zum Waffenkauf, die einen Betrag von 3000 Gulden einbrachte. Die Aktivität der Akademischen Legion erhielt nach der Ankunft der aufgelösten Wiener Legion in Prag Anfang Dezember 1848 verstärkten Auftrieb. Die Regierung hielt es für taktisch un-

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klug, gegen die Studenten vorzugehen, und sogar noch 14 T a g e vor der Auflösung der Akademischen Legion hatte man den Studenten zugesagt, daß dies nicht geschehen würde. Die erhöhte Aktivität der Prager Studenten zeigte sich mit Fortschreiten der Reaktion selbst auf dem Gebiet der Studentenorganisation. Um die Autorität des Studentenkomitees zu stärken, wurden für den 16. November 1848 Wahlen im Karolinum ausgeschrieben. An diesen Wahlen nahm die Mehrheit der tschechischen Studentenschaft in Prag, mit Ausnahme der Studenten der Theologischen Fakultät, teil; die Deutschen hatten das Studentenkomitee ignoriert. Die Wahlen brachten das überraschende Ergebnis einer Radikalisierung der Studentenschaft. Die radikalen Mitglieder des Komitees, wie zum Beispiel V. P. Kleinen, Dr. Bruna und Karel Sladkovsky, wurden in leitende Funktionen wiedergewählt; die gemäßigten Funktionäre schieden aus dem Komitee aus. Es ist jedoch bezeichnend, daß das Studentenkomitee trotz aller Bemühungen keine Anerkennung seitens der offiziellen Behörden erlangen konnte, obwohl die Amtsstellen gegen seine Existenz und Tätigkeit nie einschritten. Das Studentenkomitee behandelte zwar erfolgreich die Klärung einiger fachlicher Studienprobleme, aber alle Versuche, sich auf politischer Ebene als offizieller Partner im neu errichteten Landesschulrat zu etablieren, endeten verständlicherweise mit einem Mißerfolg. Gegen Ende des Jahres 1848 kam es in der Prager Studentenschaft sowohl zu zahlenmäßigen als auch zu nationalen Veränderungen. Die Schließung der Wiener Universität im Februar 1849 sowie die Schließung der Wiener Polytechnischen Hochschule führte eine Reihe von Studenten, die eigentlich in Wien studieren wollten, an die Prager Hochschulen; diese hatten seit Mitte November 1848 ihre Tätigkeit wieder aufgenommen. Im Zusammenhang damit kam es jedoch zu einer nationalen Agitation. Sie war auf tschechischer Seite mit der Zielsetzung verbunden, die Prager Universität in ein slawisches Institut zu verwandeln; auf deutscher Seite hatte man sich hingegen vorgenommen, die neuen Hochschüler für sich zu gewinnen, um so den deutschen Charakter der Universität erhalten zu können. Diese Tendenzen trugen aber keineswegs zur Milderung der nationalen Spaltung in der Studentenschaft in Prag bei, da es als Begleiterscheinung auch noch zu gegenseitiger Anfeindung und Denunziation bei den Amtern kam. Die allgemeine Stärkung der gegenrevolutionären Position zu Beginn des Jahres 1849 führte immer mehr dazu, daß die tschechische und die deutsche nationale Studentenpolitik in Prag das Steuer um 180 Grad herumriß. Den ersten Anstoß dazu bot der Auftrag des Innenministers Franz Graf Stadion vom 2. Januar 1849, die Akademische Legion aufzulösen. Der heftige Widerstand der Studenten gegen diese Entscheidung, die der Verfassung widersprach, führte zur Eingabe einer Protestnote an den Kremsierer Reichstag. Der Protest gegen die Regierung war keineswegs mit gewählten Worten formuliert, und er spie-

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gelte eindeutig die radikal-demokratische und oppositionelle Stellung der jungen Intelligenz wider. Die Uberführung der Standarten der aufgelösten Akademischen Legion ins Karolinum am 4. Februar 1849 wurde eine Protestkundgebung, bei der die Massen der Prager Einwohner ihre Sympathie bekundeten. Die angeordnete Rückgabe der Waffen der Legionäre ging nur sehr zögernd vonstatten. Das Geld, das die Studenten für die Waffen gesammelt hatten, hielt das Studentenkomitee mit der Begründung zurück, es werde diese Mittel nur für den Zweck ausgeben, für den sie gesammelt worden waren. Einen entscheidenden Anstoß für die Annäherung zwischen tschechischen und deutschen Studenten gab das Assentierungspatent, das die Studenten ohne Rücksicht auf ihre Nationalität erfaßte. Die deutschen Studenten in Prag nahmen Verbindung mit dem tschechischen Studentenausschuß auf; diese Entwicklung gipfelte in einer Studentenversammlung am 1. Februar 1849, als man die demokratischen Kräfte mit dem Hinweis auf die drohende Gefahr eines nationalen Separatismus unter Druck setzte und es zu regierungsfeindlichen Aktionen kam. Man wählte eine fünfköpfige Delegation — drei Tschechen und zwei Deutsche —, die bei Regierung und Reichstag gegen die Studentenrekrutierung protestieren sollte. Die Delegation erzielte aber mit ihrer Aktion am 10. Februar 1849 kein Resultat. Die Vollversammlung protestierte neuerlich gegen die Regierung, stieß aber auf den Widerstand von Rektor und Senat; die Kluft des Mißtrauens wie auch die Opposition gegen den Lehrkörper vertiefte sich. Zu einer schweren Konfliktsituation kam es auch zwischen dem Studentenausschuß und den tschechischen Liberalen. Karel Havlicek vertrat als Journalist ganz entschieden die Linie dieser offiziellen tschechischen Partei, und er war in seinen Angriffen gegen die nationale Position des Studentenkurses durchaus nicht wählerisch. Seine Agitation hatte die Verteidigung und Erhaltung der führenden Rolle der Parteileitung im Volk zum Ziel. In seinen ausfälligen Berichten führte er als Beispiel auch den Einfluß der Wiener Studentenschaft an und wies darauf hin, wozu dieser geführt habe. Er griff auch Kleinert und Sladkovsky persönlich an, die in ihren Repliken den Bankrott der offiziellen tschechischen bürgerlichen Politik anprangerten und sich öffentlich von ihr distanzierten. Die Studenten bezogen auch selbständig Position zur Vertrauensadresse an den Reichstag, die von der radikal-demokratischen Leitung der „Slovanska Lipa" (Slawische Linde) aus eigenem Antrieb formuliert wurde. Sie arbeiteten eine eigene Adresse an den Reichstag aus — sie erhielten dafür 2000 Unterschriften — und überbrachten sie dem Präsidenten Smolka, allerdings einen T a g vor der Auflösung des Reichstags. Die Prager Studentenschaft trat mit ihrer entscheidenden, politisch aktiven Fraktion an dieser schicksalsvollen Wende nochmals entschieden für einen scharfen Kurs gegen die Regierung, die offiziellen politischen Repräsentanten des Landes und auch gegen den Lehrkörper und die Universitätsführung ein.

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Von da an begannen die radikalsten Gruppen gewisse Formen einer legalen Opposition, die die tschechischen politischen Repräsentanten als einzig mögliche und annehmbare Form erachteten, mit illegalen Aktivitäten zu kombinieren. Anläßlich des Jahrestages des Ausbruchs der Wiener Revolution arrangierten sie ein Requiem in Form einer Demonstration für gefallene Wiener Studenten, aber auch für die Opfer der Oktoberrevolution in Wien. Bei der daran anschließenden Versammlung im Klementinum tat sich auch ein Wiener Student mit einer Kundgebung hervor. Man organisierte eine Reihe von Demonstrationen und Manifestationen, um die Rückkehr der früheren tschechischen und deutschen Abgeordneten nach Prag und ähnliches mehr zu bewirken. Diese Aktionen fanden auch die Sympathie zahlreicher Einwohner Prags, die sich sogar daran beteiligten. Der Prozeß der Radikalisierung ergriff die breite Öffentlichkeit, wuchs zu Sympathiekundgebungen für die ungarische Revolution an, und vereinzelt kam es auch zu Kundgebungen für den Republikanismus. Während in der bürgerlichen Öffentlichkeit diese hochgehende Welle des Radikalismus abzuflauen begann, hielt sie sich in einem beträchtlichen Teil der Studentenschaft und kam in der Vorbereitung eines Aufstands gegen die Regierung mit dem Ziel der Vernichtung der Habsburgermonarchie durch Einführung der Republik und eine revolutionäre soziale Umwandlung zum Ausdruck. Hauptkräfte des illegal organisierten Aufstands waren ein neugegründeter tschechischer Verein, die sogenannte „Tschechisch-mährische Brüderschaft", an dessen Spitze Vaclav Fric stand, der bekannte Studentenkommandant des Prager Aufstands vom Juni 1848, und die Bruderschaft „Marcomania", die vom Juristen Hans Rittig geleitet wurde. Die Anstifter des Aufstands knüpften Kontakte mit Bakunin, mit dem revolutionären Polen, mit Sachsen und mit Wien. Der Aufstand in Prag wurde mit dem in Vorbereitung befindlichen revolutionären Aufstand in Sachsen koordiniert, und sollte ein Herd für die Wiederbelebung der revolutionären Aktivität im europäischen Kontext sein. Die illegale Aktivität und Konspiration konnte wegen mangelnder Vorsicht und wegen des naiven Überschwangs der jungen Revolutionäre der Aufmerksamkeit von Behörden und Polizei nicht entgehen. Die Behörden, die sich schon seit dem Frühjahr 1849 auf die Unterdrückung eines neuerlichen Ausbruchs der Revolution vorbereitet hatten, griffen erst Anfang Mai 1849 im Zusammenhang mit den sächsischen Ereignissen ein. Sie verhafteten die wichtigsten Komplizen dieser Konspiration und nach einer langen Untersuchung wurden schwere Strafen über sie verhängt. In der älteren tschechischen Literatur, die die liberale tschechische Politik verteidigte, wurde dieser sogenannte Maiaufstand mit einer abschätzigen Bemerkung abgetan. Wenn auch nicht daran zu zweifeln ist, daß diese revolutionäre Aktion der radikalsten Kräfte der Prager Studentenschaft ihre Schwachstellen hatte, so verdient sie auf jeden Fall schon allein deshalb Anerkennung, weil diese jungen Leute die Revolutionsehre

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des Volkes und des Landes retteten, ähnlich wie es schon im Prager Juniaufstand geschehen war.

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D E U T S C H E UNIVERSITÄTEN U N D DIE AGRAR- U N D SOZIALREFORM IN D E N OSTSEEPROVINZEN DES RUSSISCHEN REICHES 1804-1866

Die Universität Dorpat war während der sechziger, siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stets das Angriffsziel russischer nationalistischer Publizisten. Mit Unterbrechungen war sie zwischen 1632 bis 1710 geöffnet und wurde dann von der russischen Regierung im Jahre 1802 wieder aktiviert. Obgleich dem russischen Ministerium für Volksaufklärung unterstellt, war sie eigentlich eine deutsche Universität innerhalb des Russischen Reiches. Bis in die neunziger Jahre hinein hatten die Lehrbeauftragten ihr Studium in Deutschland absolviert, lehrten auf deutsch und hatten für das russische Fühlen und Denken nichts übrig. Es scheint, daß die Verfechter des russischen Nationalismus guten Grund hatten, gegen die Universität Dorpat vorzugehen; sie war entscheidend daran beteiligt, in den Ostseeprovinzen einen deutschen Kulturraum zu schaffen, der dem deutschen Kulturleben angeschlossen war und vom Russischen Kaiserreich isoliert blieb. Aber die russischen Nationalisten verkannten die wichtige Rolle dieser Hochschule, besonders in bezug auf die Reform und Modernisierung sozial- und agrarwirtschaftlicher Verhältnisse in Rußlands Ostseeprovinzen. In diesem Beitrag möchte ich drei verschiedene Aspekte der baltischen Agrar- und Sozialreform berühren: 1. die Bauernbefreiung, 2. die Verbreitung der Volksbildung und 3. die Modernisierung der Agrarwirtschaft.

D I E BAUERNBEFREIUNG

Ein erster Versuch der Bauernbefreiung begann im Jahre 1804 mit der Inländischen Gesetzgebung, welche die Arbeitsleistungen der Bauern an Hand der von den Schweden im 17. Jahrhundert angelegten Wackenbücher regulierte. Nach dem Jahre 1804 arbeiteten verschiedene Komitees und Kommissionen zehn Jahre lang an der Erstellung und Gewährleistung der Register für die Landnutzung sowie die Arbeitsleistung der Bauern. Mittlerweile kam es in mehreren europäischen Staaten zur Bauernbefreiung: in Schleswig-Holstein im

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Jahre 1804, im Herzogtum Warschau und im Königreich Preußen im Jahre 1807 und im Königreich Bayern im Jahre 1808. Die russische Regierung verlangte von der estländischen Ritterschaft, daß sie dem Vorbild ihrer Inländischen Brüder Folge leisten und auch eine kostspielige Wackenbücher-Sammlung erstellen möge, die zur Regelung der Arbeitsleistungen der Bauern dienen sollte; die Estländer beschlossen aber, die Bauerbefreiung ohne Grund- und Bodenrecht durchzuführen. Ihre erste Etappe wurde für Estland im Jahre 1816, für Kurland 1817 und für Livland 1819 von der russischen Regierung genehmigt. Weitere Etappen der baltischen Bauernbefreiung setzten sich in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren durch und erreichten ihren Abschluß am 19. Februar 1866 mit der Landgemeindeordnung, welche die Einrichtungen bäuerlicher Selbstverwaltung von der Bevormundung der deutschbaltischen Gutsherren befreite 1 ). Akademiker deutscher Universitäten spielten sowohl beim Entwurf als auch bei der Durchführung der Gesetzgebung über die Bauernbefreiung in den Ostseeprovinzen eine wesentliche Rolle, ebenso in der Erweiterung des Erziehungswesens, der Volksschulbildung und der Modernisierung der Agrarwirtschaft. Das hatte seinen Grund wohl darin, daß das Universitätsstudium die theoretische Grundlage ihrer Expertise bot, die ihnen dann erlaubte, technische Ideen und Erneuerungen, die bereits im Westen verbreitet waren, den baltischen Verhältnissen anzugleichen, ohne aber die Privilegien und Rechte der deutschen Pfarrer, des Adels und der Bürger zu gefährden. Gewiß hatten nicht alle baltischen Reformfreunde an deutschen Universitäten studiert; doch ist ihre große Zahl bemerkenswert, besonders im Hinblick auf die damalige gesellschaftliche Struktur, welche vom Militär im Dienste der polnischen, russischen und schwedischen Herrscher dominiert war. Das deutschbaltische biographische Lexikon enthält Daten über viele Anhänger der Reform, aus denen hundert Persönlichkeiten als repräsentative Gruppe ausgewählt wurden. Von diesen hatten 80 an der Universität Dorpat oder an anderen deutschen Hochschulen studiert; 32 von ihnen, also 40 %, hatten in Deutschland vor der Wiedereröffnung der Universität Dorpat im Jahre 1802 ihre Ausbildung erhalten. Im 19. Jahrhundert waren 35, also 69 %, an Universitäten des deutschen Sprachraums immatrikuliert; 18 von diesen weilten wenigstens für einige Zeit auch an der Universität Dorpat. Eine überwiegende Mehrheit deutschbaltischer Studenten besuchte im 18. Jahrhundert entweder die Universität Göttingen oder die Universität Leipzig, die damals als erstrangige höhere Lehranstalten im deutschen Universitätswesen galten. Wäh-

') R. Wittram: Baltische Geschichte: Die Ostseelande Livland, Estland, Kurland 1180—1918. München 1954. S. 155 — 160; J. Blum: The End of the Old Order in Rural Europe. Princeton 1978. S. 356—400; A. von Gernet: Geschichte und System des bäuerlichen Agrarrechts in Estland. Reval 1901. S. 127—147.

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rend des 19. Jahrhunderts bevorzugten jene Berlin, Göttingen oder Heidelberg und kamen durchaus mit solchen hervorragenden Wissenschaftlern wie Johann F. Blumenbach, Karl F. Eichhorn, Hegel, Savigny, Schleiermacher und Alexander von Humboldt in Berührung 2 ). Wie zu erwarten, erhielten die baltischen Reformfreunde, die während der ersten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts wirkten, ihre akademische Ausbildung im Deutschland des 18.Jahrhunderts. D i e sogenannten Literaten, d . h . Akademiker, die nicht einer der baltischen Ritterschaften angehörten, spielten eine ganz besondere Rolle in der Verbreitung vom kameralistischen und aufklärerischen Ideen in Estland, Kurland und Livland; sie unterstrichen die N o t wendigkeit, das Los der Bauern zu verbessern, die menschliche Arbeitskraft jedes einzelnen Staates zu rationalisieren und den Landesverwaltungsapparat zu verbessern. Zugleich führten die von Schweden und der protestantischen Kirche angefangenen Bemühungen dazu, die estnischen und lettischen Bauern mit Publikationen religiöser Natur in ihrer Muttersprache zu versorgen und auch in etwa deren religiöse und praktische Ausbildung zu gewähren. Generell betrachtet, billigten sie eine baldige Bauernbefreiung, zögerten aber, ihre diesbezügliche Meinung offen kundzutun. Erst im Jahre 1797 forderte Garlieb Hedwig Merkel die Bauernbefreiung öffentlich in seinem Buch „Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts" 3 ). 2 ) W. Lenz (Hg.): Deutschbaltisches biographisches Lexikon. Köln - Wien 1970 (weiterhin: DBL). Die einhundert baltischen Reformer, deren Abstammung und Hochschulausbildung ich analysierte, sind: M. J. Baer, P. Benckendorff, J. G. Berg, K. E. Berg, K. G. Brevem, G. F. Bruiningk, K. A. Bruiningk, G. W. Budberg, F. G. Bunge, P. Buxhöwden, J. G. Büttner, H. Campenhausen, H. F. Düllo, M. Engelhardt, E. Fock, H. Fölkersahm, W. C. Friebe, F. Grote, D. Grothuss, A. Grünewaldt, J. Grünewaldt, M. Grünewaldt, O. Grünewaldt, A. Hagemeister, H. Hagemeister, H. G. Hagemeister, J. Hagemeister, T. Hahn, K. Hehn, O. R. Holtz, A. Hueck, C. Hueck, A. Hupel, H. J. Jannau, A. Keyserling, H. Keyserling, G. R. Klot, J. Krause, P. Lieven, W. Lieven, C. Lilienfeld, A. Löwis of Menar, K. Manteufel-Szoege, K. Maydell, R. Maydell, K. Medem, L. Medem, P. Medem, L. Mellin, G. Merkel, A. Middendorff, G. Nolcken, G. F. Nolcken, C. Numers, AI. (Dettingen, Aug. Oettingen, E. Oettingen, N. Oeningen, A. Pahlen, G. Parrot, R. Patkul, E. Rechenberg, C. Recke, J. Recke, G. Rennenkampff, J. Rolssen, O. Rosen, J. Roth, A. Salza, C. Samson-Himmelstiern, R. Samson-Himmelstiern, W. Samson-Himmelstiern, F. Schmaltz, D. Schöppingk, F. Schoultz-Ascheraden, J. Schultz, J. Sievers, A. Sivers, F. Sivers, J. Sivers, P. Sivers, C. Smitten, K. Sonntag, C. Stackelberg, O. Stackelberg, W. Stryck, F. Taube von der Issen, P. Tiesenhausen, C. Transehe, K. Ulmann, B. Uexküll, B. J. F. Uexküll, C. Ungern-Sternberg, C. Walter, G. Wetter-Rosenthal, G. Wolff, J. Wolter und M. Wrangel. J

) W. Lenz: Der baltische Literatenstand. Marburg 1953. S. 1 —19; H. Neuschaffer: Katharina II. und die baltischen Provinzen. Hannover 1975. S. 401—412; N. Wihksninsch: Die Aufklärung und die Agrarfrage in Livland. Riga 1933. S. 163—176, 206—230, 258 — 308; ]. Zutis: Ostzeiskij vopros v XVIII. v. (Die Ostseefrage im 18. Jahrhundert). Riga 1946. S. 275—279, 334—354; G. Merkel: Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosphischen Jahrhunderts. Leipzig 1797.

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Mehr als die humanistischen Erwägungen des Buches „Die Letten" war es die praktische Lebenseinstellung der Ritterschaft Estlands, welche verständlich machte, warum sie die Initiative ergriffen hatten und ihre Leibeigenen in den Jahren zwischen 1809 und 1816 freiließen. Sie taten dies, um den potentiellen Unannehmlichkeiten und Gefahren einer livländischen Agrarreform möglichst aus dem Wege zu gehen. Die Grundbedingungen einer Bauernbefreiung in Estland waren die freie Konkurrenz und Vereinbarungen zwischen Gutsherren und Bauern. Es scheint bedeutsam zu sein, daß die zwei führenden Hauptmänner der Ritterschaft jener Jahre, Otto Gustav von Stackelberg und Jacob Georg von Berg, in dem von England dominierten Hannover während der siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts in Göttingen studierten. Zu eben der Zeit wurde in Deutschland Adam Smiths These der vorteilhaften wirtschaftlichen Folgen freier Konkurrenz populär 4 ). Die russische Regierung sah in den baltischen Provinzen eine Versuchswerkstätte für Sozialreformen, sie befürchtete aber, daß es in Livland und Kurland zu Unruhen kommen könnte, falls die Bauernbefreiung nur in Estland Platz griffe; daher bemühten sie sich, die Ritterschaften Kurlands und Livlands zu überreden, die für Estland im Jahre 1816 genehmigte Emanzipationsgesetzgebung zu akzeptieren. Filippo Paulucci, der russische Generalgouverneur, konnte als erster die Ritterschaft Kurlands dazu bewegen, den Wünschen Sankt Petersburgs nachzukommen. Als man ihr dann im Jahre 1817 vorschlug, entweder die Leibeigenschaft auf die Basis von gerichtlich bestätigten bäuerlichen Pflichtleistungen zu stellen oder die Bauernbefreiung nach estländischem Vorbild durchzuführen, kam sie zur Uberzeugung, daß die Bauernbefreiung ohne Grund und Boden wohl die vorteilhaftere Lösung wäre 5 ). Nur in Livland standen die Bedingungen der Bauernbefreiung vollends zur Debatte. Die Literaten und der mit ihnen verbündete reformfreudige Adel, der die Leibeigenschaft verwarf, waren in Livland konzentriert. Im livländischen Landtag wurde die Bauernfrage zum ersten Mal in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts zur Regierungszeit Katharinas II. erörtert. Beide, Katharina und ihr Enkelsohn Alexander I., fanden in Livland, was sie im Inneren des russischen Reiches nicht finden konnten, nämlich verantwortungsbewußte und politisch organisierte Menschen, die sich nicht scheuten, die Bauernreform öffentlich zu diskutieren. Im Jahre 1803 machte Peter von Sivers im livländischen 4 ) Gernet, Geschichte, S. 127—147; K. Kahk: Krest'janskoe dviienie i krest'janskij vopros v Estonii (Die Bauernbewegung und die Bauernfrage in Estland). Tallinn 1962. S. 288—293; DBL, S. 51, 751; F. Bienemann: Ein estländischer Staatsmann. In: Baltische Monatsschrift 24. 1875. S. 446ff. 5 ) M. Haltzel: Der Abbau der deutschen Selbstverwaltung in den Ostseeprovinzen Rußlands 1855—1905. Marburg 1977. S. 7; Wittram, Baltische Geschichte, S. 36 ff., 160; A. Tobien: Die Agrargesetzgebung Livlands im 19. Jahrhundert. Bd. 1. Berlin 1899. S. 326 ff.

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Landtag sogar den Vorschlag der Bauernbefreiung, der aber überwiegend abgelehnt wurde. Im Jahre 1804 genehmigte jedoch der Landtag Verordnungen, die den Bauern etwa Schutz vor eigenwilliger Behandlung durch den grundbesitzenden Adel boten. In den folgenden Jahren änderten sich aber die Ansichten des livländischen Adels hinsichtlich der Bauernbefreiung aufgrund der Ereignisse in Zentraleuropa und in ihrer eigenen Provinz. Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts hatte eine zunehmende Zahl von Livländern an deutschen Universitäten studiert. Während sie Europa bereisten, kamen sie mit der neuen Ideenwelt und mit Regierungseinrichtungen in Berührung, die ein direkter Auswuchs der Revolution und der französischen Vorherrschaft waren. Das Interessengebiet einiger von ihnen waren im besondern die Agrarreform und die preußischen Bauernbefreiungsgesetze, die mit der Freilassung der Leibeigenen auf Staatsgütern im Jahre 1806 ihren Anfang genommen hatten 6 ). Nach der Bauernbefreiung von 1816 in Estland begannen Alexander I. und der Generalgouverneur Paulucci, den livländischen Adel unter Druck zu setzen, dem estländischen Vorbild nachzueifern. In Livland waren es zwar nur noch wenige, die sich der Bauernbefreiung widersetzten, aber die Livländer waren über die Bedingungen, unter welchen die estnischen und lettischen Leibeigenen emanzipiert werden sollten, nicht einig. In den Jahren 1817 und 1818, kurz bevor neue einschränkende Zensurmaßnahmen in Rußland eingeführt wurden, fanden in Livland die eingehendsten und gründlichsten Diskussionen über Bauernbefreiung und Bodenreform im Russischen Reiche statt, die dann erst wieder um die Jahrhundertmitte weitergeführt werden konnten 7 ). Im August 1817 eröffnete der Collegien-Assessor Heinrich von Hagemeister, Erbherr von Alt-Drostenhof, die Debatte mit seiner Flugschrift „Vorschläge, allen livländischen Gutsbesitzern zur Beherzigung". Sie empfahl, die livländischen Leibeigenen sofort zu befreien, sie als Erbpächter einzusetzen und die Pflichten und Rechte gemäß den Wackenbüchern, die seit 1804 revidiert und bestätigt worden waren, festzulegen. Einer der Hauptredner in der Debatte war Gustav Rennenkampff, der in Sachsen-Gotha seinen Militärdienst geleistet und an deutschen Universitäten studiert hatte. Seine Abhandlung „Bemerkungen über die Leibeigenschaft in Livland und ihre Aufhebung" erschien

') Tobten, Agrargesetzgebung. Bd. 1, S. 339—379; J. von Sivers: Zur Geschichte der Bauernfreiheit in Livland. Riga 1878. S. XI—XXI. 7 ) Jegör von Sivers gab die Flugschriften, Aufsätze und Abhandlungen der folgenden zwölf Debattenredner heraus: Heinrich von Bock, Karl von Bruiningk, Woldemar von Budberg, Peter von Buxhöwden, Heinrich G. T. von Hagemeister, Karl von Maydell, Garlieb Merkel, Gustav von Rennenkampff, Reinhold von Samson-Himmelstiern, C. M. Schröder, August von Sivers und Peter von Sivers. Alle Debattenredner — abgesehen vom Landvermesser Schröder — hatten eine akademische Ausbildung erhalten. (Biographische Daten und Anmerkungen bezüglich der Hochschulausbildung der Debattenredner, mit Ausnahme Schröders, können im DBL nachgesehen werden.)

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in Kopenhagen. Sie gilt als die eingehendste Überprüfung des Problems Inländischer Leibeigenschaft, wie es in den Jahren 1817/18 zur Debatte stand. Rennenkampff hob in seiner Arbeit hervor, daß sich die Leibeigenschaft nicht nur gegen das Interesse der Bauern und des Staates richte, sondern sich auch zuungunsten der Gutsbesitzer auswirke. Er war besonders dagegen, die wirtschaftlich rückständigen Bauern auf dem Altar der freien Konkurrenz zu opfern; er empfahl deshalb Verordnungen, die den Pächtern einen minimalen Rechtsschutz boten und zwei Drittel des traditionellen Bauernlandes ausschließlich den Bauern zur Nutzung garantierten 8 ). Die Vorschläge enthielten einige der Elemente, die in die endgültige Fassung der livländischen Bauerngesetzgebung der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts Eingang fanden. Hätte man sie in die Bauernverordnungen der Jahre 1816 und 1819 eingegliedert, wäre wohl mancher Kummer verhindert worden. Zar Nikolaus I. erklärte den Vertretern der Ritterschaften Estlands und Livlands während einer speziellen Audienz zu Sankt Petersburg ganz unverhohlen, daß die Bauerngesetzgebung zwischen 1816 und 1819 nicht den von Alexander I. erwarteten Erfolg gehabt habe. Die deutschbaltischen Führer konnten den Wahrheitsgehalt dieser Ausführungen nicht leugnen und mußten in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts zugeben, daß die Ansichten Hagemeisters und Rennenkampffs in bezug auf die ungeordnete freie Konkurrenz der Bauern echte Gefahren aufgedeckt hatten; sie waren dem Wohlergehen der estnischen und lettischen Bauern nicht zuträglich. Zwischen 1835 und 1840 wurde es klar, daß kurzfristige Vereinbarungen und ein hoher Grad von Frondienstleistungen die Landwirtschaft beeinträchtigen und sich für die Bauern wie für die Gutsbesitzer nachteilig auswirkten 9 ). Eine vorsichtige Uberprüfung der Gesetzgebung der Jahre 1816 bis 1819 begann in Estland zwischen 1839 und 1841 aufgrund der Empfehlungen des vorausschauenden Gutsbesitzers Otto von Grünewaldt und dank der Vorschläge von Georg von Brevem. Dieser war Sekretär der vom estländischen Landtag im Jahre 1839 ins Leben gerufenen Kommission für Agrarreform. Da beide Männer in Dorpat oder an deutschen Universitäten studiert und ganz Europa intensiv bereist hatten, waren sie bestens über die Rolle informiert, die der Erwerb von Grundbesitz durch die befreiten Bauern im Zusammenhang mit der Förderung des landwirtschaftlichen Fortschritts in Preußen und anderen Staaten Mitteleuropas spielte. Am Anfang allerdings widersetzten sie sich, den estnischen Bauern den Erwerb von Grundbesitz zu erleichtern; sie schlugen

s ) Sivers, Zur Geschichte, S. X X , 193—232; Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 342ff.; DBL, S. 619f. ' ) Tobien, Agrargesetzgebung, Riga 1911. Bd. 2. S. 38—47, 121 f.; Gemet, Geschichte, S. 185 f.; G. von Pistohlkors: Ritterschaftliche Reformpolitik zwischen Russifizierung und Revolution. Göttingen 1979. S. 56—89.

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statt dessen vor, man solle die Kompetenz der Bauerngemeinde erweitern, indem man das Bauernrecht genauer formuliere und die bäuerlichen Pflichten zufriedenstellender regle 10 ). Der Erwerb von Land durch estnische und lettische Bauern als Hauptpunkt einer Agrarreform wurde vom Adel in Livland erst nach ernsten Bauernaufständen und Massenbekehrungen zum orthodoxen Glauben akzeptiert, und als die russische Regierung angesichts der Hungersnot von 1841 einen gewissen Druck ausübte. Es war eine gut organisierte, sogenannte liberale Minderheit — sie hatte entweder in Dorpat oder an deutschen Hochschulen studiert —, die zwischen 1842 und 1860 den livländischen Adel zu überzeugen vermochte, daß das Bauernland ausschließlich für die Arbeits- oder Geldpacht und als Eigentum der Bauern zu reservieren sei. Der Minderheitsführer, Hamilker Baron von Fölkersahm war ein Idealist, der sich als Student in Berlin in den Jahren 1829/30 der Philosophie Hegels verschrieben hatte. Er verteidigte das Eigentum des Adels und sein Recht, Kontrolle und politische Vertretung auszuüben, genauso eifrig wie seine konservative Opposition im Landtag; er glaubte aber, daß gesellschaftliche und wirtschaftliche Verbesserungen die Bauern auch ohne politische Zugeständnisse zufriedenstellen würden. Während seiner Amtszeit als Landmarschall gelang es ihm im Jahre 1849 aufgrund seiner überzeugenden Beredsamkeit, mit der Unterstützung der russischen Regierung und der Hilfe seiner Gesinnungsgenossen, der Fölkersahmschen Partei, im Landtag die Billigung seines Programmes durchzusetzen; es nahm die Form einer kurzfristigen sechsjährigen Verordnung an, und es sah auch die Verwirklichung seines Lieblingsprojektes, einer Bauernrentenbank, vor, die den Bauern den Ubergang zur Geldpacht und zum Grundbesitz erleichtern sollte. Man muß darauf hinweisen, daß Fölkersahms Reformgedanke nicht gegen das Prinzip der freien Konkurrenz oder des freien Pachtvertrags eingestellt war, sondern er versuchte, die Bauern zu schützen, indem er ihnen ein kollektives Nutzungsrecht des Bauernlandes garantierte. Es war ihm nicht beschieden, die endgültige Verordnung des kurzfristigen Gesetzes im Jahre 1849 zu erleben; aber zwischen 1856 und 1863 wurde sein Programm die Basis für die endgültigen Bauernverordnungen der drei Ostseeprovinzen 11 ). Zwischen 1863 und 1866 wurde das Grundgesetz durch weitere Verord10 ) Gernet, Geschichte, S. 185—193; G. von Brevem: Erinnerungen aus seinem Leben und an die Anfänge der zweiten Agrarreform in Esthland. Reval und Leipzig 1907. S. 11, 79, 155 ff.; O. von Grünewaldt-Haackhof: Vier Söhne eines Hauses: Zeit und Lebensbilder aus Estlands Vergangenheit. Bd. 2. Leipzig 1900. S. 113 ff. u ) Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 2, S. 66—81, 113—240; Wittram, Baltische Geschichte, S. 162 —165; Pistohlkors, Ritterschaftliche Reformpolitik, S. 82 ff., 87—100, 107—111; R. Wittram: Meinungskämpfe im baltischen Deutschtum während der Reformepoche des 19. Jahrhunderts. Riga 1934. S. 1—38; R. Stael von Holstein: Baron Hamilkar von Fölkersahm. Riga 1907.

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nungen, die den Frondienst und die Körperstrafe abschafften, ergänzt; auch die Kontrolle über die Bauerngemeinde wurde dem deutschen Adel entzogen. Ganz besonders wichtig war das Gesetz vom 19. Februar 1866, da es die direkte Einmischung der Gutsbesitzer und der Ritterschaftsagenten in Bauernangelegenheiten verbot. Während der sechziger Jahre erzwangen die scharfen Angriffe in der russischen Tagespresse auf die Deutschbalten die estnischen und lettischen Gesuche um Einführung der russischen Bauernbefreiungsgesetze des Jahres 1861 in den Ostseeprovinzen sowie die wachsende Neigung russischer Beamter, in die Angelegenheiten baltischer Gesellschaft und Wirtschaft einzugreifen, das Programm Fölkersahms durch weitere Reformen zu ergänzen. Man muß jedoch den Ritterschaften zugestehen, daß sie den Herausforderungen der sechziger Jahre im großen und ganzen gewachsen waren 12 ). Fölkersahms liberale Nachfolger wurden von den Landmarschällen August von Oettingen und Paul Prinz von Lieven angeführt. Sie hatten das europäische Zeitgeschehen als Studenten in Dorpat und an deutschen Universitäten kennengelernt. Als „Liberale" wußten sie, daß die baltischen Provinzen im Zeitalter der russischen „großen Reformen" nicht stagnieren durften; trotzdem waren sie aber nicht bereit, die Teilnahme der gebildeten oder der grundbesitzenden estnischen und baltischen Minderheit am politischen Leben ernstlich in Betracht zu ziehen 13 ). Falls das als Fehler anzusehen ist, muß man jedoch hinzufügen, daß die Deutschbalten psychologisch gesehen nicht anders handeln konnten. Sie hatten wenigstens minimale Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen durchgeführt, die vielen der estnischen und lettischen bäuerlichen Grundbesitzer die Teilnahme am Wirtschaftsleben ermöglichten; in der Folge konnte so eine Einmischung der russischen Regierung in Lokalangelegenheiten der Deutschbalten vermindert oder wenigstens auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Die baltischen Bauernverordnungen der fünfziger und der sechziger Jahre gründeten oder bestärkten eine besondere Art von Eigentumsrecht, Gesellschaftsstruktur und Landwirtschaft, die sich wesentlich von denen des Kerngebietes im Russischen Kaiserreich unterschieden. Während der vierziger und fünfziger Jahre betrachteten Fölkersahm und seine Anhänger die gesellschaftliche und wirtschaftliche Abtrennung der Ostseeprovinzen vom Russischen Kaiserreich nicht als einen wichtigen Gegenstand. Die Verbesserungen im baltischen Agrarwesen beruhten beim Abschluß von Geldpacht- und Verkaufsverträgen auf freiem Vertragsrecht; zugleich waren Besitz und Eigentum einer kleinen Zahl estnischer und lettischer Bauern für das Entstehen eines kapitali-

12 ) ceton 13 ) raten:

E. Thaden: Russification in the Baltic Provinces and Finland, 1855 —1914. Prin1981. S. 37—40. Wittram, Meinungskämpfe, S. 28 — 31; R. Wittram: Liberalismus baltischer LiteZur Entstehung der baltischen politischen Presse. Riga 1931. S. 5—38, 100—104.

D e u t s c h e Universitäten und die Agrar- und S o z i a l r e f o r m

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stischen Agrarwesens und der Modernisierung der sozialwirtschaftlichen Verhältnisse ausschlaggebend, und das eine Generation früher als im Inneren des Russischen Reiches. Die beschleunigte Entwicklung des Wirtschaftslebens im Baltikum wäre aber ohne Hebung des Niveaus des estnischen und lettischen Erziehungswesens und ohne beträchtliche Verbesserungen im Ackerbau, die durch die deutschen Gutsbesitzer sowie die estnischen und lettischen Bauern eingeführt worden waren, nicht möglich gewesen.

D I E VERBREITUNG DER VOLKSBILDUNG

Das Erziehungswesen ist der zweite Aspekt der Reformtätigkeit, dem wir uns jetzt zuwenden wollen. Seit der Reformation erteilten protestantische Küster und Mütter in ihren Heimstätten den Kindern einen eingeschränkten Unterricht, der mittelbar der Aufsicht der lutherischen Pastoren unterstellt war. Im 17. Jahrhundert versuchte die schwedische Regierung, diesen Unterricht, der den Zweck hatte, das Lesen zur Vorbereitung auf die Konfirmation zu erlernen, zu regeln. Sonst aber überließen die Schweden im 17. und die Russen im 18. und bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts die ländliche Schulbildung den deutschen Pastoren und dem Adel. D a die lokale Unterstützung minimal war, gab es nur wenige Schuleinrichtungen. Die Ausbildung der Landjugend war daher vornehmlich estnischen und lettischen Eltern anvertraut, die ganz in den Lokalverhältnissen der Landbevölkerung verwurzelt waren 14 ). Viele der lutherischen Pastoren versuchten, die Kluft zwischen den bäuerlichen Verhältnissen und dem deutschen Protestantismus sowie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts durch Schulung und andere brauchbare Kenntnisse zu überbrücken. Aber obwohl ein großer Teil der Landbevölkerung lesen lernte, konnten sie auf wenig Erfolg hoffen, solange es die Leibeigenschaft gab und der Adel nicht die notwendigen Mittel aufbrachte, um das Erziehungswesen der Landbevölkerung zu erweitern. Das Befreiungsgesetz vom 26. M ä r z 1819 enthielt besonders für Livland genaue Vorschriften über Funktion, Organisation und Verwaltung des Landschulwesens. Dr. Karl Gottlieb Sonntag, der Generalsuperintendent des lutherischen Oberkonsistoriums von Livland, kritisierte diese Vorschriften auf schärfste, da sie den Pastoren keine führende Rolle in der Schulverwaltung zusprachen und keine Vorkehrungen für Lehrerseminare trafen, um junge Esten und Letten als Lehrer für den Landschulunterricht auszubilden. Die Einwen14 ) A. von Villebois: D i e Landvolksschulen. In: Baltische B ü r g e r k u n d e . R i g a 1908. S. 241 f.; H. Speer: D a s Bauernschulwesen in Estland v o m E n d e des achtzehnten J a h r h u n derts bis zur R u s s i f i z i e r u n g . T a r t u 1936. S. 3 5 — 4 2 , 5 3 — 8 8 , 9 6 — 1 3 2 ; H. Schaudinn: D e u t s c h e Bildungsarbeit am lettischen V o l k s t u m des 18. Jahrhunderts. M ü n c h e n 1937.

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düngen Sonntags wurden jedoch vom livländischen Adel ignoriert, und während der folgenden zwei Jahrzehnte wurde relativ wenig getan, das Erziehungswesen im Hinterland des Baltikums zu fördern. Man kann daraus folgern, daß im allgemeinen dem baltischen Adel der Grad des Gesellschaftsbewußtseins, der sich bei vielen seiner Führungskräfte zeigte, fehlte, und daß der Adel eben nicht gewillt war, eine finanzielle Unterstützung für seine ehemaligen Leibeigenen zur Gründung von Lehrerseminaren zu leisten15). Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und sozial-religiösen Unruhen Anfang der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts sowie der Druck der russischen Regierung wirkten sich zum Vorteil jener Pastoren und Adeligen aus, denen die weitere Entwicklung des Landschulwesens ein Anliegen war. Am Ende der sechziger Jahre dienten deutsche, besonders preußische, Schulen der Einführung eines Erziehungssystems in den Ostseeprovinzen als Vorbild. Im Königreich Preußen, beim Nachbarn im Süden, glich manches der baltischen Situation; Gutsbesitzer und Bürger übernahmen Privilegien aus der Vergangenheit, und die erst kürzlich befreiten Leibeigenen standen immer noch unter der geistigen Bevormundung der protestantischen Seelsorger und unter der sozialwirtschaftlichen Kontrolle des grundbesitzenden Adels. Die preußischen und die baltischen Eliten waren sich darüber einig, daß nur Schulen mit einer christlichen Ausbildung und mit Respekt für Autorität und den Status quo der Gesellschaft die Bedingungen des ländlichen Schulwesens erfüllten. Preußische Lehrbeauftragte erkannten allerdings, daß der Landlehrer sich nicht ganz allein auf Disziplin, Gehorsam und Auswendiglernen verlassen konnte, wenn man den ehemaligen Leibeigenen in einen brauchbaren Bürger, unabhängigen Bauern oder einen produzierenden Landwirtschaftsarbeiter verwandeln wollte. Aus diesen Gründen versuchten sie fortschrittlichere pädagogische Grundsätze anzuwenden, mit denen europäische Erzieher, besonders Johann Heinrich Pestalozzi, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts experimentierten. Viele der baltischen Adeligen und Pastoren waren ebenfalls an der Einführung neuer pestalozzischer Methoden im Erziehungswesen interessiert. Sie zogen die preußischen Bemühungen genauestens in Betracht, um ein Schulwesen zu schaffen, das modern, aber gleichzeitig konservativ und lutherisch ausgerichtet blieb. Zwischen 1837 und 1840 wurde je ein Lehrerseminar in Alexanderhof (Estland), Irmlau (Kurland) und Wolmar (Livland) gegründet. Ein Konsortium estländischer Adeliger gründete und finanzierte das Alexanderhofer Volksschullehrerseminar, welches Estnisch als Unterrichtssprache einführte. Die Gründer

15 ) Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 379—404; Sivers, Zur Geschichte, S. 229f.; K. Hoffmann: Volkstum und ständische Ordnung in Livland: Die Tätigkeit des Generalsuperintendenten Sonntag zur Zeit der ersten Bauernreform. Königsberg - Berlin 1939. S. 124—129.

Deutsche Universitäten und die Agrar- und Sozialreform

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dieser Schule schienen, obgleich viele von ihnen in Deutschland studiert hatten, vom preußischen Vorbild nicht besonders beeindruckt gewesen zu sein; sie verließen sich vielmehr auf ihre eigenen Erfahrungen als Lehrer und auf die Hilfeleistung von Seiten der Universität Dorpat. Der Gründer des Irmlauer Lehrerseminars in Kurland, Pastor Johann Christoph Wolter, studierte an der Universität Königsberg und besuchte anschließend Lehrerseminare in Ostpreußen. Er stellte mit der Genehmigung der kurländischen Ritterschaft einen preußischen Direktor an, um das neugegründete Seminar zu führen. Im Irmlauer Seminar war Deutsch die Unterrichtssprache, obgleich die Mehrheit der Studierenden Söhne lettischer Bauern waren. Der Gründer des Seminars in Wolmar (nach 1853 in Walk) in Livland, Pastor Dr. Carl Ferdinand Walter, hatte die Universitäten in Dorpat, Abo und Berlin besucht. Während er im Jahre 1828 Deutschland bereiste, besuchte er die Vorlesungen mehrerer preußischer Lehrerseminare. Im Jahre 1834 ermöglichte er es dem Letten Jänis Cimze, in dem zum Vorbild gewordenen Lehrerseminar Weißenfels in Preußisch-Sachsen, das von Wilhelm Harnisch geleitet wurde, zwei Jahre lang zu studieren. Anschließend subventionierte die livländische Ritterschaft für Cimze noch ein Studienjahr bei Alphons Diesterweg, der ein Schüler Pestalozzis war und als anerkannter Pädagoge an der Universität Berlin wirkte. In den Jahren 1839 bis 1881 wirkte Cimze als Direktor des Lehrerseminars in Wolmar-Walk und bildete dort Hunderte von Landlehrern aus; er ermunterte sie, den Fortschritt im baltischen Hinterland durch „stille, ruhige Arbeit im Hause, in der Kirche und in der Schule" zu unterstützen. Zuerst war die Unterrichtssprache im Seminar Lettisch, aber nachdem es im Jahre 1853 von Wolmar nach Walk, das an der Sprachgrenze lag, übersiedelt war, wurde Deutsch als Unterrichtssprache eingeführt, anscheinend um beiden Nationalitäten, d. h. den Letten und den Esten, gefällig zu sein16). In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts nahmen die deutschen Gutsbesitzer und Pastoren die Auflage der früheren Gesetzgebung zum ersten Male ernst; gemeint ist die Einführung des Bauernschulwesens in den Ostseeprovinzen. Dank der größeren Zahl qualifizierter Lehrer mit bestandener Abschlußprüfung der Lehrerseminare von Alexanderhof, Wolmar und Irmlau und

") Speer, Das Bauernschulwesen, S. 88—95, 158 — 162, 198 ff., 257—264, 328 — 343; L. von Wurstenberger: Die Gewissenfreiheit in den Ostsee-Provinzen Rußlands. Leipzig 1872. S. 148, 161 —164; J. G. Kohl.-Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen oder Naturund Völkerleben in Kur-, Liv- und Esthland. Bd. 2. Dresden und Leipzig 1841. S. 310 ff.; H. Thimme: Kirche und nationale Frage in Livland während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Der Pastor und Generalsuperintendent Ferdinand Walter und seine Zeit. Königsberg - Berlin 1938. S. 19—24, 39—49, 79f.; A. Tobien: Die Livländische Ritterschaft in ihrem Verhältnis zum Zarismus und russischen Nationalismus. Bd. 2. Berlin 1939. S. 156—159; A. Plakans: The National Awakening in Latvia 1850—1900. Harvard Ph. D. dissertation 1969. S.84ff.

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der finanziellen Unterstützung des Adels und der Bauerngemeinden konnten die neugegründeten Schulen den zu Hause erteilten Unterricht ersetzen, der den Konfirmanden bloß das Lesen beibringen sollte. Am Ende der sechziger Jahre hatte die Mehrheit der schulpflichtigen Esten und Letten mindestens ein paar Jahre Volksschulunterricht in ihrer Muttersprache erhalten. Fast alle Esten und Letten, die in den sechziger Jahren geboren wurden, waren im mündigen Alter des Lesens kundig. Im Zeitraum von 1874 bis 1883 waren 95 % der estnischen und livländischen, und 60 % der kurländischen Bauern und Bürger, die dem russischen Wehrdienst verpflichtet waren, des Lesens kundig, während es im restlichen Kaiserreich nur 25 % waren 17 ) Die baltischen Landschulen boten den estnischen und lettischen Bauern allerdings nur eine geringe Hebung ihres Bildungsstandes. Die estnischen und lettischen Nationalisten übten Kritik an diesem Schulwesen, da es ihrer Meinung nach auf einer konservativ-christlichen Basis und nach deutschem Vorbild der vierziger Jahre funktionierte, und weil es von protestantischen Pastoren beherrscht war, die nicht progressiv genug und nicht immer den Ansprüchen der Schüler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewachsen waren 18 ). Doch diese Fragen blieben offen: Konnten diese Landschulen mit ihren begrenzten Möglichkeiten eine Grundschulbildung vermitteln, welche die estnische und lettische Landbevölkerung benötigte, um ihre wirtschaftliche Position und ihre Nationalinteressen, wenn auch begrenzt, im Bereich der damaligen sozialpolitischen Ordnung, verteidigen zu können, und konnten sie sich der sozialen und wirtschaftlichen Verbesserungen, die durch die Gesetzgebung der Jahre 1804 bis 1866 durchaus in den Bereich des Möglichen rückten, bedienen? Und wenn dieses Schulwesen in der Lage war, einen solchen Lehrauftrag auszuführen, dann war es nur möglich im Zusammenhang mit dem damaligen europäischen praktischen und technischen Wissen und der Anpassungsfähigkeit eines sehr kleinen Teils der Landbevölkerung im Russischen Kaiserreich; diese Problematik behandelt der dritte Teil meines Beitrages.

D I E M O D E R N I S I E R U N G DER AGRARWIRTSCHAFT

Die Gründung der Gesellschaft „Die Livländische Gemeinnützige und Ökonomische Sozietät" bezeichnet einen Wendepunkt in der Verbreitung von prak-

17 ) Speer, Das Bauernschulwesen, S. 256 f., 264—268; T. Raun: The Development of Estonian Literacy in the 18th and 19th Centuries. In: Journal of Baltic Studies 10. 1979. S. 115—126; A. Rasin: Naselenie Rossii za 100 let (1811 — 1913) (Die Bevölkerung Rußlands in den 100 Jahren von 1811 — 1913). Moskva 1956. S. 304f. 18 ) Speer, Das Bauernschulwesen, S. 426—482; Wurstenberger, Die Gewissenfreiheit, S. 151 — 160.

Deutsche Universitäten und die Agrar- und Sozialreform

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tischem Wissen für agrarwirtschaftliche Verbesserungen in den Ostseeprovinzen. Die Reformtendenz in Livland wurde dadurch bestärkt, daß sie den führenden Adel mit der Aufklärung und die Literaten, welche in den Prinzipien des Kameralismus geschult waren, mit der physiokratischen Wirtschaftslehre und mit Adam Smiths Wirtschaftsliberalismus, der an den deutschen Universitäten vertreten wurde, konfrontierte. Georg Friedrich Parrot (Dr. phil. in Königsberg), der mit dem Baumeister des livländischen Gesetzes des Jahres 1804, Friedrich Wilhelm von Sivers, eng zusammenarbeitete, wurde zum ersten Sekretär der „Livländischen Gemeinnützigen und Ökonomischen Sozietät" ernannt. Später wurde er Rektor an der Universität Dorpat. Der zweite Sozietätssekretär, Wilhelm Christian Friebe, der in Göttingen studiert hatte, betätigte sich als Schriftsteller und schrieb viele Abhandlungen über die livländische Ökonomie, Geographie, Geschichte, Schafzucht und ganz allgemein über die Verbesserungen in der Landwirtschaft. Die „Livländische Gemeinnützige und Ökonomische Sozietät" druckte in tausendfacher Auflage Werke in Deutsch, Estnisch und Lettisch, seit 1808 auch eine regelmäßig erscheinende Zeitschrift in deutscher Sprache 19 ). Vorlesungen über Agronomie wurden an der Universität Dorpat seit 1803 gehalten. Die Professoren Johann Wilhelm Krause und Friedrich Schmaltz, die nur ein unvollständiges Universitätsstudium aufweisen konnten, dafür aber langjährige Erfahrung und Kenntnisse in der Gutshofbewirtschaftung besaßen, dozierten über Mehrfelderwirtschaft, Bodenkunde, Gartenbau, Fourageanbau, Düngemittel, Gutshofbewirtschaftung und Buchhaltung, Rinder- und Schafzucht, Pflanzennahrung, Milchwirtschaft, Alkoholdestillation und über Grundstücksschätzwerte. Die deutschen Institute für Agronomie, im besonderen die berühmte Versuchsanstalt des Berliner Universitätsprofessors Albrecht Thaer zu Möglin in Brandenburg, dienten als Vorbild des Lehrprogrammes der Dorpater Universität. Das Dorpater Lehrprogramm der Agronomie war das erste und auf lange Zeit das führende im Russischen Reich. Während Krause und Schmaltz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Dorpat lehrten, waren etwa fünfhundert Studenten für dieses Lehrprogramm immatrikuliert 20 ). Obgleich die Mehrzahl der Deutschbalten, die in Dorpat oder an deutschen Universitäten studiert hatten, sich nicht auf Agronomie spezialisierten, hatte es ihnen das Universitätsstudium dennoch ermöglicht, ihre Gutsbewirtschaftung erfolgreich zu betreiben. Baltische Studenten, die Fächer wie Philosophie, Rechtsgeschichte und Naturwissenschaften belegten und manches Wissen über die Außenwelt sammelten, lernten genau und logisch denken und handeln.

") H. Neuschäffer: Die Anfänge der livländischen ökonomischen Sozietät (1792—1939). In: Journal of Baltic Studies 10. 1979. S. 344—377. 20 ) E. Järvesoo: Early Agricultural Education at Tartu University. In: Journal of Baltic Studies 11. 1980. S. 3 4 1 - 3 5 5 ; DBL, S. 413, 684f.

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Nach der Rückkehr aus Deutschland und Dorpat hatten sie Gelegenheit, ihr theoretisches Wissen und ihre geordnete Denkweise zur Lösung von Lokalangelegenheiten im Hinblick auf die agrarische Wirtschaftsentwicklung anzuwenden. Die Ausbildung, die Otto von Grünewaldt beispielsweise in den Naturwissenschaften erhalten hatte, und die Beziehungen, die er während des Studiums in Göttingen und Bonn mit jungen deutschen Gutsbesitzern angeknüpft hatte, befähigten ihn, einer der fortschrittlichsten und erfolgreichsten Gutsbesitzer in den Ostseeprovinzen zu werden. Desgleichen war er Mitglied der „Livländischen Gemeinnützigen und Ökonomischen Sozietät" wie auch Gründer und erster Präsident des Estländischen Landwirtschaftlichen Vereins21). In den vierziger Jahren wurden Merinoschafe, und neue Erntesorten wie Klee und Kartoffel in die meisten Gebiete der Ostseeprovinzen eingeführt. Die Mehrfelderwirtschaft war bereits überall bekannt, und langsam kamen dann Dreschmaschinen, Eisenpflüge und auch andere verbesserte landwirtschaftliche Geräte auf den Gütern des baltischen Adels in Gebrauch. Diese neuen Methoden und technischen Verbesserungen in der Agrarwirtschaft kamen eben in jener Zeit zu voller Anwendung, als man den Frondienst durch Geldpacht ersetzte und den Bauern die Möglichkeit gegeben wurde, Besitzer und Bauer auf eigener Scholle zu werden. In den fünfziger und sechziger Jahren stieg daher die Produktivität der Agrarwirtschaft, im besonderen die Getreideproduktion, in den Ostseeprovinzen wesentlich an; in anderen Teilen des Russischen Reiches kam die landwirtschaftliche Produktion hingegen ins Stocken. Damit war die Basis für eine moderne und mannigfache kapitalistische Agrarwirtschaft in den Ostseeprovinzen allenthalben geschaffen 22 ). Anfang des 20. Jahrhunderts pflegten deutschbaltische Publizisten die hohe Produktivität ihrer Agrarwirtschaft mit der weniger erfolgreichen im Inneren des Zarenreiches zu vergleichen. Wenige ihrer Zeitgenossen konnten etwas dagegen einwenden, da der baltische Ackerbau ausgezeichnete Erfolge und eine bedeutende Produktionserhöhung erzielt hatte. Allerdings hätten die baltischen Barone ohne die relativ gut geschulten Kräfte der Landarbeiterschar diese hohe landwirtschaftliche Produktion nicht bewerkstelligen können. Dazu kommt, daß die jetzt selbständigen estnischen und lettischen bäuerlichen Grundbesitzer » ) DBL, S. 114—274, 290 f.; G. Philipp: Die Wirksamkeit der Herrnhuter Brüdergemeine unter den Esten und Letten zur Zeit der Bauernbefreiung. Köln - Wien 1974. S. 107 f.; Grünewaldt, Vier Söhne eines Hauses, Bd. 2, S. 4—50, 62, 98 —101. ") Philipp, Die Wirksamkeit, S. 107 ff.; J. Kahk: Die Krise der feudalen Landwirtschaft in Estland (Das zweite Viertel des 19. Jahrhunderts). Tallinn 1969. Die beste Beschreibung der Anfänge der Modernisierung der Agrarwirtschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den baltischen Provinzen kann man in einer Reihe von Aufsätzen nachlesen, die zwischen 1959 und 1977 von H. Strods in Ezegodnik vostocnoj Evropy im Druck erschienen. Tallinn, Kiev, Riga, Minsk und Vil'njus 1959—1977.

Deutsche Universitäten und die Agrar- und Sozialreform

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die Mechanisierung landwirtschaftlicher Geräte und die Mehrfelderwirtschaft einführten, was die Produktion von Getreide und Flachs wie auch die Milchwirtschaft bedeutend steigerte. Die Beteiligung der Esten und Letten an der Modernisierung der Agrarwirtschaft hätte sich ohne das seit den vierziger Jahren bestehende Volksschulwesen, die Abschaffung des Frondienstes und die Möglichkeit des Grunderwerbs auf Pacht oder als Besitz nicht vollziehen können. All dies trug dazu bei, die Hindernisse, die der Entwicklung einer sozialwirtschaftlichen Verbesserung in den Ostseeprovinzen entgegenstanden, zu beseitigen 23 ). Dieser Beitrag will zeigen, daß das Hochschulstudium an deutschen Universitäten einen gewissen Einfluß auf die baltische Sozial- und Agrarreform während der Jahre 1804—1866 ausübte. Die Sozial- und Wirtschaftsstruktur der Ostseeprovinzen war Anfang des 19. Jahrhunderts nicht sehr verschieden von jener der angrenzenden weiß- und großrussischen Provinzen des Zarenreiches. Die den mitteleuropäischen Vorbildern angeglichenen Wirtschafts- und Schulreformen halfen bis in die sechziger Jahre, die Entwicklung des Sozial- und Wirtschaftslebens in den Ostseeprovinzen zu fördern, wogegen im übrigen Rußland bis ins 20. Jahrhundert hinein ungünstige ländliche Verhältnisse vorherrschten. Um die Vorgänge in den Ostseeprovinzen verstehen zu können, scheint es wichtig zu sein, die Studienjahre der jungen Deutschbalten in Berlin, Dorpat, Göttingen, Heidelberg und Leipzig im Auge zu behalten. Deren Universitätsstudium hatte dazu beigetragen, sie in ein deutsches Informationsnetz einzugliedern, und sie darauf vorbereitet, Sozial- und Wirtschaftsprobleme nach dem Muster mitteleuropäischer Erfahrungen zu lösen. Das Wissen, die Ideen und Anschauungen, während eines Universitätsstudiums gesammelt, können nicht allein das komplizierte Phänomen der Sozialund Agrarreform erklären. Die günstige geographische Lage der Ostseeprovinzen in der Nähe Sankt Petersburgs und der Handel mit dem Ausland wirkten sich ebenfalls besonders vorteilhaft auf die Warenabsatzmöglichkeiten aus. Auch die Bemühungen seitens der schwedischen Regierung und der protestantischen Pastoren schufen das Fundament für die rasche Alphabetisierung während des 19. Jahrhunderts. Die Selbstbestimmung und die einzigartigen politischen Einrichtungen befähigten den baltischen Adel, die Initiative zur Lösung lokaler Probleme zu ergreifen; das blieb dem russischen Landadel versagt. Man muß betonen, daß die so oft verleumdeten baltischen „Barone" und protestantischen Pastoren alles, was sie als Studenten erlebt und gelernt hatten, an-

") Thaden, Russification, S. 71. Über die Modernisierung der Landwirtschaft während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe M. Kozins: Ocerki èkonomiceskoj istorii Latvii 1860—1900 (Skizzen der Wirtschaftsgeschichte Lettlands 1860—1900). Riga 1972. S. 214—284.

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wandten, um veraltete Gewohnheiten und Anschauungen zu ändern, die jahrhundertelang in der Leibeigenschaft vorgeherrscht hatten. Sie trugen dazu bei, ein Landwirtschaftswesen zu gründen, das ein gewisses Niveau an Selbstbestimmung erreichte, und zwar nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die Esten und Letten, die gemeinsam die Wirtschaftsproduktion und Allgemeinbildung auf einen für die damalige Zeit im Russischen Reich hohen Stand brachten.

III. UNIVERSITÄTEN ALS OPERATIVE BASISEINHEITEN

VIKTOR GEORGIEVIC KARASEV, IVAN IVANOVIC KOSTJUSKO, LUIZA IVANOVNA UTKINA A U S L Ä N D I S C H E S T U D E N T E N AUS S L A W I S C H E N L Ä N D E R N AN D E R M O S K A U E R U N I V E R S I T Ä T IN D E R Z W E I T E N HÄLFTE D E S 19. U N D A N F A N G D E S 20. J A H R H U N D E R T S

Die Moskauer Universität, im J a h r e 1755 von dem hervorragenden russischen Gelehrten M . V . Lomonosov gegründet, trägt auch heute seinen Namen. Sie entwickelte sich bereits in den ersten Jahrzehnten zu einem bedeutenden Zentrum der höheren Bildung und der Wissenschaft in Rußland und nahm einen ehrenvollen Platz unter den Universitäten der Welt ein. Die hohe Bildung der Professoren und Dozenten der Universität, die M ö g lichkeit, sich grundlegende Kenntnisse in ganz verschiedenen Fächern anzueignen, und andere günstige Bedingungen für das Studium zogen viele junge Menschen an, die eine Hochschulbildung erwerben und in einem gewählten Beruf Fachleute werden wollten. U n t e r den Studierenden an der Universität waren viele Ausländer. Bei Durchsicht der Akten der Kanzlei des Universitätsrates zeigt sich, daß in den Jahren 1826 bis 1850 an der Universität 68 Staatsangehörige aus europäischen Ländern und den U S A und 42 Ausländer nicht feststellbarer Staatsangehörigkeit studierten, unter ihnen vier Bulgaren, ein Serbe und vermutlich drei Personen aus den polnischen Gebieten Österreichs und Preußens. Darüber hinaus studierten hier 167 Studenten aus dem Königreich Polen und drei aus Finnland, also aus Ländern, die zum Russischen Reich gehörten. In der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts studierten an der Universität 407 Ausländer, darunter 18 Studenten nicht

feststellbarer

Staatsangehörigkeit (Tabelle 1). U n t e r den Studierenden kamen 56 aus der Schweiz, 36 aus Frankreich, 30 aus Griechenland, 28 aus der Türkei (Bulgaren nicht mitgerechnet), 26 aus dem Iran, 23 aus Großbritannien, 22 aus Osterreich (Österreich-Ungarn), zehn aus Belgien, acht aus Schweden, sieben aus Italien, sechs aus Preußen, vier aus den Niederlanden, vier aus Sachsen und drei aus Rumänien.

242 Viktor Georgievic Karasev, Ivan Ivanovic Kostjuäko, Luiza Ivanovna Utkina Tabelle 1: Studenten fremder Staatsangehörigkeit sowie aus Finnland und dem Königreich Polen an der Moskauer Universität. Jahre Land 1851 — 1861 1862—1881 Österreich bzw. ÖsterreichUngarn Belgien Bulgarien Braunschweig Großbritannien Griechenland Dänemark Iran Italien Lübeck Luxemburg Niederlande Preußen Rumänien Sachsen Serbien und andere südslawische Länder USA Türkei Frankreich Schweiz Schweden MecklenburgSchwerin Nichtfeststellbare Staatsangehörigkeit Finnland Königreich Polen

18 2 135

insgesamt

219

2 2 20 1 5 3

1882-1905

1906—1914 insgesamt

41

7 5 17

12 3 5







9 13 1 3 2

8 13

1







22 10 83 1 23 30 1 26 7 1 2 4 6 3 4

1 1

24

6 8



6 1 14 16 34 2

2 2 13 14 11 5

33 4 28 36 56 8







1 1













1 1 2 6 —





1 1

— — —





1



3 1



1



1 —

2



4



23 5





3 —

76

1

1

4 2

10 132

18 19 269

140

260

695





Quelle: Central'nyj gosudarstvennyj istoriceskij archiv g. Moskvy. F. 418. Moskovskij universitet. Kanceljarija Soveta.

D i e Angaben über die Ausbildung ausländischer Studenten aus slawischen Ländern und aus dem Königreich Polen in dieser Zeitspanne an der Universität sind unseres Erachtens von großem Interesse und gestatten uns, einige Beobachtungen zu machen und neue Schlußfolgerungen zu ziehen.

Studenten aus slawischen Ländern in Moskau

243

Die russische Regierung maß der Ausbildung junger Menschen aus südslawischen Gebieten in Rußland große Bedeutung bei. Mit Allerhöchstem Erlaß vom 31. Dezember 1857 wurde angeordnet, Studenten aus südslawischen Ländern an russischen Hochschulen zu immatrikulieren und ihnen jegliche Hilfe bei der Aneignung von Bildung in Rußland zu leisten. Viele junge Menschen aus diesen Ländern, die in Rußland studieren wollten, machten von diesen günstigen Bedingungen Gebrauch. In der zu behandelnden Periode studierten an der Universität 83 Studenten aus Bulgarien, 33 aus Serbien und anderen südslawischen Ländern (darunter fünf aus Montenegro, zwei aus Mazedonien und einer aus der Hercegovina). Sie bildeten rund 30 Prozent aller ausländischen Studenten. Aus dem Königreich Polen kamen 269 junge Menschen. Unter den an der Moskauer Universität Studierenden aus ausländischen slawischen Ländern gab es Personen, die Gymnasien (in Sofia, Plovdiv, Varna, Sliven, Ruse, Belgrad, Nis, Pirot, Cetin, Konstantinopel, Moskau, Odessa, Jalta, Tver', Warschau und anderen Städten) und spezielle Lehranstalten (das Lyzeum in Belgrad, das theologische Seminar in Prizren, die Fachschule in Plovdiv, das Rumjanzev-Lyzeum in Odessa, die geistliche Akademie, das Seminar und die Handelsschule in Moskau u. a. m.) absolvierten, die vorher an anderen Lehranstalten (den Universitäten Kiev und Novorossijsk, der medizinischen und chirurgischen Akademie, der Petersburger Universität und an der geistlichen Akademie von Kazan') studierten oder einen sogenannten Hausunterricht erhielten. Im September 1876 wurde eine Verordnung erlassen, nach der jungen Menschen aus slawischen Ländern, die ihre Bildung im Ausland oder in Rußland erworben hatten aber kein Zeugnis besaßen, nur als außerordentliche Hörer an der Universität aufgenommen werden durften, ohne die Vorlesungen bezahlen zu müssen. Nach Studienabschluß und Ablegung der Prüfungen wurden solchen Personen jedoch nicht jene Dienstrechte gewährt, die die Absolventen der russischen klassischen Gymnasien und der Universität genossen. Unter den Studenten, die 1876 an der Universität immatrikulierten, waren zwei außerordentliche Hörer, nämlich ein Serbe und ein Montenegriner. 1879 wurden sechs Bulgaren, sieben Serben, ein Montenegriner und 1880 sechs Bulgaren an der Universität als außerordentliche Hörer eingeschrieben. Von 1881 an wurden slawische Studenten mit einer solchen Ausbildung zwar an der Universität immatrikuliert, genossen jedoch nach Studienabschluß nicht die entsprechenden Dienstrechte. Ziemlich groß war die Zahl der Studenten aus Bulgarien. Der größte Teil der Studenten (rund zwei Drittel) entfiel auf die Jahre vor der Wiederherstellung der Unabhängigkeit des Landes. In den folgenden dreißig Jahren ging die Zahl der bulgarischen Studenten merklich zurück (auf insgesamt 22). Dieser Umstand erklärt sich in gewissem Maße durch die Lage des Landes vor der Befreiung von der Fremdherrschaft und wahrscheinlich durch seine außerpoliti-

244

Viktor Georgievic Karasev, Ivan Ivanovic KostjuSko, Luiza Ivanovna Utkina

sehe Orientierung in der nachfolgenden Periode. Aus Serbien kamen in den Jahren 1862 bis 1905 22 Studenten an die Universität, weitere drei studierten davor und darnach; aus anderen südslawischen Ländern stammten in den Jahren 1875 bis 1879 acht Studenten. Unter den Staatsangehörigen ÖsterreichUngarns waren drei Studenten „aus Böhmen" (Franz Jareü, Anton Paliza, Nikolai Rekac), ein Student kam aus Prag (Iv. Avgustovic Koral) und neun waren tschechischer, polnischer und südslawischer Herkunft, wie aus ihren Namen zu schließen ist (beispielsweise Vjaceslav Prohäzka, Tadeusz Krajski, Jovan Mackic). Besonders viele Studenten kamen aus dem Königreich Polen, und das ist durchaus verständlich. In den Jahren 1851 bis 1861 studierten 135 Polen und ungefähr ebenso viele (nämlich 132) in der Zeit von 1906 bis 1914; Angaben für den Zeitrauml862 bis 1881 sind nicht vorhanden. 1882 bis 1905 gab es lediglich zwei Studenten aus diesem Land. Das erklärt sich vor allem durch den polnischen Aufstand Anfang der 60er Jahre und seine Folgen sowie durch die Wiederherstellung der Universität Warschau. Die ausländischen slawischen Studenten kamen aus verschiedenen sozialen Klassen, Schichten und Gruppen. Da für das Studium am Gymnasium, an der Fachschule oder im Hausunterricht bedeutende Mittel erforderlich waren, kamen sie hauptsächlich aus wohlhabenden Familien. Der Serbe MiloS Milosevic war der Sohn eines Geistlichen, der Bulgare Vasil Misajkov der Neffe eines Erzbischofs. Die Gewährung von Stipendien oder Studienbeihilfen eröffnete den Zugang zur Universität auch jenen Personen, die materiell schwach oder überhaupt nicht versorgt waren. Die Klassenzugehörigkeit der Studenten aus dem Königreich Polen stellt sich in den Jahren 1851 bis 1861 folgendermaßen dar: Von den 135 Studenten gehörten 82 ( = 60 %) dem Adelsstand an, 16 ( = 11%) waren „Raznocincy" (Raznocinec: Nicht zum Adel gehörender Intellektueller im Rußland des 19. Jahrhunderts, Anm. d. Hg.), 8 ( = 6 %) Kleinbürger, 5 ( = 3 %) waren Söhne von Geistlichen, 28 ( = 17 %) Söhne von Offizieren, die soziale Herkunft eines Studenten ist unbekannt. Über die materielle Lage der Studenten gibt es nur fragmentarische Angaben. Ein Teil der Bedürftigen oder Mittellosen erhielt Stipendien oder Studienbeihilfen entweder vom Staat — die russische Regierung stellte seit 1857 für den Unterhalt ausländischer Studenten aus slawischen Ländern jährlich 5.000 Rubel zur Verfügung — oder vom Moskauer Slawischen Komitee bzw. von Privatpersonen. 16 bulgarische Studenten, die in den Jahren 1855 bis 1862 studierten, erhielten Unterstützungen vom Slawischen Komitee, zwei studierten auf Kosten des Moskauer Kaufmanns bulgarischer Herkunft I. N. Denkoglu. In den Jahren 1858 bis 1868 unterstützte das Moskauer Komitee acht Studenten aus Serbien. Angaben über andere serbische Studenten liegen nicht vor. Der Serbe Vasa Pelagic aus Bosnien, der an der Universität in den Jahren 1863 bis 1865 studierte, erhielt vom Moskauer Slawischen Komitee ein Stipendium in der

Studenten aus slawischen Ländern in Moskau

245

Höhe von 30 Rubel monatlich. 1851 bis 1861 erhielten 35 Studenten aus dem Königreich Polen Stipendien vom Staat, und 100 polnische Studenten studierten auf eigene Kosten. Die Studenten wurden an den vier Fakultäten der Universität ausgebildet: an der Fakultät für Geschichte und Philologie, an der juristischen, physikalisch-mathematischen und medizinischen Fakultät (Tabelle 2). Die Wahl der Fakultät hing vor allem von den persönlichen Interessen des Studenten, von den Erwägungen seiner Familie und seiner nächsten Umgebung und in gewissem Maß von den Bedürfnissen des Landes ab, aus dem er kam. Einige Ausländer verbanden die Wahl ihrer Fachrichtung mit der Absicht, später in Rußland bleiben zu können. Ausgehend von unvollständigen Angaben, kann trotzdem vermutet werden, daß der größte Teil der Studenten aus Bulgarien die medizinische (25) und historisch-philologische Ausbildung (12) anstrebten. Die juristischen (8) und die physikalisch-mathematischen Fächer (5) interessierten sie weniger. Angaben über die übrigen (33) bulgarischen Studenten sind zur Zeit nicht vorhanden. Ähnlich war die Fachorientierung auch bei den serbischen Studenten. Von den 22 Studenten aus Serbien studierten 15 an der medizinischen Fakultät, vier an der historisch-philologischen und drei an der juristischen Fakultät. In der Zeit von 1875 bis 1879 studierten an der juristischen Fakultät vier Montenegriner, an der medizinischen ein Montenegriner, zwei Mazedonier und ein Student aus der Hercegovina. Anders sah es im Hinblick auf die Spezialisierung bei den Studenten aus dem Königreich Polen aus. Sie zogen die juristische (113) und die medizinische (82) Ausbildung vor. Bedeutend war auch der Anteil der Studierenden an der physikalisch-mathematischen Fakultät (20 %). Relativ wenige Polen studierten an der historisch-philologischen Fakultät (8 %). Das erklärt sich in gewissem Maße aus der Situation im Königreich Polen und seiner Stellung im Russischen Reich. Es gab Fälle, da einzelne Studenten aus gesundheitlichen Gründen, aus Mangel an Unterhaltsmitteln oder anderen Umständen (namentlich der Serbe M. Stajkovic im Jahre 1864) die Universität verließen. Anfang der sechziger Jahre verließen die polnischen Studenten die Universität, um an der Befreiungsbewegung in ihrer Heimat teilzunehmen. Unter den Studierenden gab es nicht wenige begabte Menschen. Prof. R. Brandt charakterisierte A. Belic, der die historisch-philologische Fakultät 1899 mit „Auszeichnung" beendet hatte, wie folgt: „Belic offenbarte sowohl beim Seminar an der Universität, als auch in Privatgesprächen mit mir ein lebhaftes Interesse und hervorragende Fähigkeiten für die slawische Philologie, ergänzt durch einen beispielhaften Arbeitsfleiß. Nicht ohne Bedeutung ist auch die Tatsache, daß Belic in erster Linie zum grammatischen Teil der besagten Wissenschaft tendiert, die bei uns am wenigsten erschlossen ist. Die Prüfungsarbeit von Belic: ,Die Wesenszüge der serbischen Sprache in den Schriftdenkmälern

2 4 6 Viktor Georgievic Karasev, Ivan Ivanovic KostjuSko, Luiza Ivanovna Utkina T a b e l l e 2: Fachrichtungen aus Finnland

der Studenten

fremder

und dem Königreich

Staatsangehörigkeit

sowie

Polen an der Moskauer

jener

Universität.

Fakultäten Land

Osterreich bzw. Österreich-Ungarn Belgien Braunschweig Bulgarien Großbritannien Griechenland Dänemark Iran Italien Luxemburg Lübeck Niederlande Preußen Rumänien Sachsen Serbien und andere südslawische Länder USA Frankreich Schweiz Schweden MecklenburgSchwerin Finnland Königreich Polen

historischphilologische

physikalischjuristische mathema- medizinische tische

3

— —









12 1 1 —



8 1 —

1



5 1 — —



2



1 2 1 25 5 2

1

1 1



1

— —



1





1 2















4



7



1 2 4

Fakultät nicht bekannt

18 8



22 10 1 83 23 30 1 26 7 2 1 4 6 3 4 33 4 36 56 8



33 16 26 1 21 6 1 — — —

3



1

3

1 2 —

19 1 6 10









3 2 26 43 8



1 2 113







2 51



15

82











1



23

2 2

Insgesamt

1 19 269

Quelle: Central'nyj gosudarstvennyj istoriceskij archiv g. Moskvy. F. 418. Moskovskij universitet. Kanceljarija Soveta.

des 12. bis 15. Jahrhunderts', der s o w o h l gedrucktes als auch handschriftliches Quellenmaterial z u g r u n d e liegt, stellt eine z u s a m m e n f a s s e n d e U n t e r s u c h u n g dar, die nach entsprechender Bearbeitung gedruckt w e r d e n müßte. In Fremdsprachen kennt sich Belic ziemlich gut aus." Es w u r d e vorgeschlagen, Belic an der Universität z u m P r o f e s s o r auszubilden 1 ). W ä h r e n d des Studiums an der Universität unterhielten die ausländischen *) Central'nyi gosudarstvennyj istoriceskij archiv g. Moskvy (Zentrales staatliches historisches Archiv der Stadt Moskau). Fonds 418, op. 68, d. 380.

Studenten aus slawischen Ländern in Moskau

247

Studenten aus slawischen Ländern Kontakte zu ihren Landsleuten. Ende 1857 bildeten die bulgarischen Studenten einen literarischen Bildungsverein, den sie als „Bolgarskaja druzina" bezeichneten. Ihre Gründer waren hauptsächlich Studenten der historisch-philologischen Fakultät. Eine der Aufgaben der Organisation bestand darin, „die Russen mit den Bulgaren auf schriftlichem Wege bekanntzumachen". Zum Vorsitzenden der Organisation wurde der Student der medizinischen Fakultät Christo Deskalov gewählt. Früher studierte er am Richelieu-Lyzeum in Odessa. Für seine revolutionäre Tätigkeit wurde er 1848/49 aus Rußland ausgewiesen. Während des Krimkrieges kämpfte er freiwillig in der russischen Armee. 1856 wurde er in die Universität aufgenommen. Die Mitglieder der „Bolgarskaja druzina" wechselten ständig nach Zu- und Abgang der Studenten. Die Organisation hatte auch ein gedrucktes Organ, nämlich die Zeitschrift „Bratski trud" (Brüderliche Arbeit), die eine der ersten bulgarischen Zeitschriften war. Einer der Gründer der Zeitschrift war Ljuben Karavelov. Die Zeitschrift druckte Aufsätze der Mitglieder der Organisation und brachte 1859 bis 1861 vier Hefte heraus. Die Mitglieder der Organisation „Bolgarskaja druzina" trugen viel zur Propagierung der bulgarischen nationalen Befreiungsbewegung in der russischen Öffentlichkeit bei 2 ). Etliche Studenten aus dem Königreich Polen hatten Kontakte zur studentischen Organisation für gegenseitige Hilfe „Ogul" (1857—1861), die die Studenten polnischer Nationalität aus Litauen und Belorußland vereinigte, oder sie trugen tatkräftig zu ihrer Tätigkeit bei. Innerhalb der Organisation „Ogul" bestand ein Zirkel, dessen Ziel es war, „Werke polnischer Schriftsteller zu studieren, sich auf die bürgerliche und patriotische Tätigkeit nach der Rückkehr in die Heimat vorzubereiten, Ubereinstimmung in den öffentlichen Angelegenheiten unseres Ogul zu gewährleisten und schließlich eine entsprechende Propaganda in dieser Richtung zu betreiben" 3 ). Kontakte bestanden auch zwischen den Studenten aus einzelnen ausländischen slawischen Ländern, darüber ist aber nur ganz wenig bekannt. Es wird lediglich erwähnt, daß an einer studentischen Zusammenkunft von 1861 Polen, Russen und Bulgaren teilnahmen 4 ). Verhältnismäßig leicht und schnell wurden Kontakte der Studenten aus ausländischen slawischen Ländern mit russischen Studenten hergestellt. Diese Kontakte entwickelten sich öfter zu freundschaftlichen Beziehungen, was dazu beitrug, daß sich ausländische Studenten an das Leben der Universität schneller

2

) Central'naja i Jugo-Vostocnaja Evropa v novoe vremja (Mittel- und Südosteuropa in der Neuzeit). Moskva 1974. S. 184ff. 3 ) T. F. Fedosova: Pol'skie revoljucionnye organizacii v Moskve v 60-e gody X I X veka (Polnische revolutionäre Organisationen in Moskau in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts). Moskva 1974. S. 28. 4 ) Ebenda, S. 53.

248

Viktor Georgievic Karasev, Ivan Ivanovic KostjuSko, Luiza Ivanovna Utkina

gewöhnten und sich die russische Wirklichkeit zu eigen machten. Die Studenten lernten Werke bedeutender russischer Schriftsteller, die gesellschaftliche Bewegung in Rußland sowie die revolutionär-demokratischen und sozialistischen Ideen kennen. Der Bulgare L. Karavelov befand sich wegen der Lektüre „unzulänglichen Inhalts", wegen Bekanntschaft mit der „illegalen HerzenLiteratur" unter geheimpolizeilicher Aufsicht 5 ). Die Studenten aus dem Königreich Polen nahmen tatkräftig an der Bewegung der russischen Studentenschaft teil, die zu Beginn der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts große Ausmaße annahm. Ausländische Studenten aus slawischen Ländern lernten teils durch ihre russischen Kollegen, teils in Eigeninitiative russische Kulturschaffende und Wissenschaftler kennen, nutzten deren Ratschläge und Hilfe und nahmen öfters am kulturellen und gesellschaftlichen Leben Rußlands teil. V. Pelagic, zum Beispiel, wirkte an russischen Zeitschriften mit. Nach Abschluß des Studiums an der Universität kehrten die Studenten aus nichtrussischen slawischen Ländern mit wenigen Ausnahmen in ihre Heimat zurück. Dort arbeiteten sie als Lehrer, Arzte und Juristen und nahmen regen Anteil am gesellschaftlichen Leben. Viele von ihnen machten sich die Ideen der fortschrittlichen russischen Öffentlichkeit — der revolutionären Demokraten — zu eigen und wurden leidenschaftliche Verfechter der fortschrittlichen Entwicklung ihres Landes. Viele Bulgaren nahmen an der Befreiung ihres Landes teil. K. Kesjakov, Absolvent der physikalisch-mathematischen Fakultät, Kandidat der Wissenschaften, besuchte später die Konstantinovsker Militärschule. Er wurde Kommandeur der ersten Abteilung der bulgarischen Volkswehr, kämpfte bei Stara Zagora und Sipka. Unter den Kriegsteilnehmern waren die Ärzte K. Bonev, K. Vjazankov und andere Bulgaren, die die Moskauer Universität absolviert hatten 6 ). Die ehemaligen Studenten der Lomonosov-Universität R. Zinzifov, M. Drinov, P. Karavelov und andere Bulgaren wurden in der Folgezeit prominente Persönlichkeiten des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens. M. Drinov war 1878 bis 1879 Minister für Volksbildung in Bulgarien und leistete viel zur Entwicklung des Bildungswesens im Lande auf demokratischer Grundlage. L. Karavelov — der bekannte Schriftsteller und Publizist — bereicherte das pädagogische Denken durch neue fortschrittliche Ideen. Von den Südslawen, die an der Universität studierten, wurden später durch ihre Tätigkeit als Aufklärer und Revolutionäre V. Pelagic, J. Drec, G. Filipovic, J. Lepava, M. Zenic, Dj. Neäic, A. Belic und andere bekannt. In den Jahren 1854

5 ) dung ') XIX. ziger

Problemy obucenija i vospitanija v zarubeznych stranach (Probleme der Ausbilund Erziehung im Ausland). Moskva 1972. S. 14. L. I. Stepanova: Vklad Rossii v podgotovku bolgarskoj intelligencii v 50-70-e gg. v. (Der Beitrag Rußlands zur Ausbildung der bulgarischen Intelligenz in den fünfbis siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts). KiSinev 1981. S. 150—159.

Studenten aus slawischen Ländern in Moskau

249

studierte B. Limanowski, in der Folgezeit ein bedeutender Vertreter der polnischen sozialistischen Bewegung, an der Universität Moskau. Abschließend kann man feststellen: 1. An der Moskauer Universität, die in hohem Ansehen stand, studierten im untersuchten Zeitabschnitt viele Ausländer, ein Großteil der Studenten stammte aus slawischen Ländern, darunter auch junge Menschen aus dem Königreich Polen. 2. Die russische Regierung und die Öffentlichkeit gewährten den Studenten aus Bulgarien, Serbien und anderen südslawischen Ländern für ihre Hochschulausbildung in Rußland eine gewisse Hilfe und Unterstützung. 3. Dieser Umstand spielte keine geringe Rolle bei der Wahl der Bildungsstätte durch Südslawen, und eine dieser Stätten war die Moskauer Universität. 4. Die Wahl der Fachrichtung der Studenten wurde zum Teil durch ihre soziale Herkunft und die Situation in ihrem Heimatland bestimmt. 5. Studium an der Universität, Bekanntschaft mit der Lage in Rußland, Kontakte mit Vertretern verschiedener Kreise der Gesellschaft hatten eine große Bedeutung für die Entwicklung sozialpolitischer Anschauungen und die weitere Tätigkeit der Absolventen der Universität Moskau.

W E R N E R G . ZIMMERMANN

SERBISCHE UND BULGARISCHE STUDENTEN A N D E R U N I V E R S I T Ä T Z Ü R I C H BIS Z U M E R S T E N W E L T K R I E G

Zu den größeren Gruppen ausländischer Studenten an der Universität Zürich gehören von den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts an die Serben und von den achtziger Jahren an die Bulgaren. Ihre Namen sind ohne große Schwierigkeiten den vom Staatsarchiv Zürich mit dem Rechenzentrum der Universität erstellten Computerlisten zu entnehmen. Diese enthalten die Angaben der Matrikelbücher (laufende Nummer, Name und Vorname, Geburtsjahr, Land/Region der Herkunft, Fakultät) und als zusätzliche Information das Geschlecht der Studenten. Das dieser Aufnahme zugrunde gelegte Programm macht es möglich, bestimmt definierte Gruppen statistisch zu erfassen. Man kann also in Erfahrung bringen, wie die Frequenz der Immatrikulationen aus einem bestimmten Land verläuft, welches die Zahl der Studenten aus einem bestimmten Land zu einem bestimmten Zeitpunkt ist oder wie viele zu einem bestimmten Zeitpunkt schon an der Universität Zürich studiert haben. Im Unterschied zu den österreichischen Universitäten, wo derartige Erhebungen auf dem Hintergrund der Nationalitätenstatistik und der nationalen Bewegungen und Auseinandersetzungen etwas auszusagen vermögen, hängen rein statistische Feststellungen für eine einzelne Hochschule in der Schweiz in der Luft. Schon einfache Stichproben zeigen, daß beispielsweise wohl sehr viele Bulgaren und Bulgarinnen in Zürich studierten und kumulativ um 1900 die Serben überflügelten, daß aber an anderen Schweizer Hochschulen (zu berücksichtigen sind Basel, Bern, Fribourg, Genf, Lausanne, Neuchätel, die Eidgenössische polytechnische Schule bzw. Eidgenössische Technische Hochschule und ab 1900 die Handelshochschule St. Gallen) ebenfalls viele Serben und Bulgaren, dazu gelegentlich in bedeutend größerer Konzentration anzutreffen sind als in Zürich, so daß es unumgänglich ist, die Erhebungen auch auf diese auszudehnen, d. h. primär von der Schweiz als einem Studienland auszugehen. Das bedeutet natürlich, daß der zu bewältigende Stoff außerordentlich erweitert wird; aber nur auf diese Weise kann vermieden werden, die für einzelne Hochschulen ermittelten Daten falsch einzuschätzen. Die unabweisbare Notwendigkeit, die weiteren Ermittlungen auf diese Basis zu stellen, erfordert aber auch eine Lösung des Massenproblems. An der Uni-

Serbische und bulgarische Studenten in Zürich

251

versität Zürich studierten bis zum Ersten Weltkrieg etwa 160 Serben und rund 220 Bulgaren. Jede Auswertung, die über statistische Aussagen hinausstrebt, ist davon abhängig, was von den einzelnen Personen konkret über die elementaren Daten hinaus in Erfahrung zu bringen ist. Greift man zu entsprechenden Nachschlagewerken — für die Serben etwa zu den jugoslawischen Enzyklopädien —, so stellt man fest, daß die Zahl derer, die später eine entsprechende Prominenz erreichten, schon bei den nach 1875 immatrikulierten serbischen Studenten rasch absinkt. Das bedeutet, daß die weitere Erforschung nur noch im Herkunftsland selbst möglich ist; nur dort ist es möglich, für Fragestellungen, die das Verhältnis von Studium im Ausland und späterer Laufbahn und Tätigkeit ins Auge fassen, etwas auszurichten. Für Fragen dagegen, die sich auf das Studium selbst beziehen, bietet sich die Ermittlung der Studienresultate an Ort und Stelle als ein erster einfacher Schritt an. Das soll im folgenden anhand des Zürcher Materials etwas näher ausgeführt werden. Die am einfachsten zu erfassenden Studienabschlüsse sind die Doktorate, dokumentiert durch die Dissertationen, für die an der Universität Zürich seit ihrer Gründung 1833 Druckzwang besteht. Bis 1914 schlössen an der Universität Zürich je etwa 30 Bulgaren (von insgesamt rund 220) und Südslawen (von insgesamt etwa 240) mit dem Doktorat ab. Tabelle 1 zeigt, wie sich die tatsächlich erfaßten Dissertationen nach der Herkunft bzw. Nationalität ihrer Autoren (in Klammern die Zahl der promovierten Frauen) verteilen. Tabelle 1: Südslawische und bulgarische Studenten an der Universität Zürich bis zum Sommersemester 1914

Serbien

Studenten Studentinnen insgesamt Doktorate Jus, Staatswissenschaften Medizin Pädagogik Literatur Geschichte Naturwissenschaften

Vojvodina (nur Serben)

114 35 149 15(4)

10 5 15 3(2)

4 4(3) 5(1)

1(1) 1(1)

2

Kroatien Dalmatien Slavonien

BosnienHercegovina

43 19 62

12

11 (6)

12

Bulgarien

Bulgaren aus Rumänien, Türkei

143 61 204

16 1 17

30 (4)

1

3

3(3) 3 3(3) 1

7 15(4)

1 5

252

Werner G. Zimmermann

Aus diesen Daten und dem ihnen zugrundeliegenden Material ergeben sich einige Feststellungen, die vielleicht geeignet sind, als Beispiele dafür zu dienen, wie und wo Ansätze und Ansatzpunkte für eine inhaltliche Erforschung der Studien ost- und südosteuropäischer Studenten an mittel- und westeuropäischen Universitäten ermittelt werden könnten. Erstens: Am auffallendsten ist der Schwerpunkt „Pädagogik". Von den 59 erfaßten Dissertationen sind 24 (15 von bulgarischen, 9 von südslawischen Autoren) Themen aus diesem Gebiet gewidmet. Das weist einerseits auf eine besondere Bedürfnissituation in den Herkunftsländern hin, andererseits geht daraus hervor, daß die Universität Zürich auf diesem Gebiet ein besonderes Ansehen genoß. Die Geschichte der Universität Zürich zeigt, daß sie dieses nicht einer eigenen Schule, sondern vor allem dem Ableger aus dem Kreis um den deutschen Philosophen und Psychologen Wilhelm Wundt verdankte, den seine Schüler Ernst Meumann, Gustav Störring und Gottlob F. Lipps bildeten, die der Reihe nach ab 1897, 1902 und 1911 in Zürich tätig wurden, und bei denen mehr als die Hälfte aller bulgarischen und südslawischen Doktoranden abschlössen. Von den 15 Bulgaren dissertierten ihrer fünf bei Meumann, dem durch seine empirischen Forschungen wohl einflußreichsten unter diesen Lehrern. Wissenschaftsgeschichtlich bedeutsam ist der einzige Serbe (aus Slawonien), der in Zürich bei Meumannn dissertierte: Pavle R. Radosavljevic (1879—1959), mit einer Untersuchung über „Das Fortschreiten des Vergessens mit der Zeit" (1906). Radosavljevic ging von Zürich in die USA, wo er in New York zu einer führenden Autorität auf dem Gebiet der experimentellen Psychologie und Pädagogik wurde. In seinen Schriften „Who are the Slavs? A Contribution to Race Psychology" (1919) und „Eugenic Problems of the Slavic Race" (1923) kommt die bleibende Verbindung mit seiner Herkunft zum Ausdruck. Das seiner Dissertation beigefügte Curriculum vitae ist ein Studiendokument für sich und soll hier als Hinweis auf diese selten genutzte Quelle stehen (Orthographie des Originals): „Ich, Paul Radossawljewitsch, geboren am 11. Januar 1879 als Sohn des Ranko Radossawljewitsch und der Bosiljka Gajitsch zu Obrez (Syrmien), besuchte zuerst die Volksschule (5 Jahre) in meinem Heimatsorte, darauf die ersten 4 Klassen des Realgymnasiums in Zemun (Slawonien); dann setzte ich mein Studium fort auf den serbischen Lehrerbildungsanstalten zu Zombor in Ungarn (1. Jahrg.) und zu Pakrac in Slawonien (2. u. 3. Jahrg.), endlich auf der staatspädagogischen Schule zu Osijek an d. Drau (4. Jahrg.), welche letztere ich, mit dem Maturitätszeugnisse versehen, 1898 verliess. Nachdem ich eine Studienreise nach südslavischen Ländern (Slawonien, Kroatien, Istrien, Dalmatien, Montenegro, Herzegowina, Bosnien und Serbien) beendet hatte, war ich eine kurze Zeit als Lehrer an der Volksschule zu ASanja (Syrmien) tätig. Darauf bezog ich zu meiner ferneren Ausbildung das höhere Pädagogium in

Serbische und bulgarische Studenten in Zürich

253

Wien, wo ich einen Jahrgang blieb. Im W.-S. 1899/1900 bezog ich die Universität Jena. Nach zwei Semestern Studium daselbst musste ich eine Lehrerstelle an der serbischen Nationalschule zu Mostar (Herzegowina) übernehmen. Nach zweijährigem Schuldienste daselbst ging ich an die Universität Zürich, wo ich weitere 5 Semester studierte. Zuletzt war ich 7 Monate als Supplent an der serbischen Knaben- und Mädchen-Seminarschule zu Zombor (Ungarn) angestellt. Ich beschäftigte mich namentlich mit Psychologie, Pädagogik, Anthropologie, Logik, Ethik, Aesthetik und Soziologie. Meine hauptsächlichsten Lehrer waren in Wien die Herren Professoren: Hannack und Umlauft; in Jena die Herren Professoren: Ziehen, Rein, Eucken und Haeckel; in Zürich die Herren Professoren: Meumann, Martin, Störring und Hunziker." Außer Radosavljevic können noch zwei prominente Serben aus dem Königreich namhaft gemacht werden, die in Zürich ihr Studium vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges aufnahmen, um dann hier zu doktorieren. Der ältere von ihnen, MiloS Perovic (1874—1918), schrieb eine Arbeit über Dositej Obradovic; er ist als bedeutender Dichter und als Opfer der Kriege in Erinnerung geblieben; als Reserveoffizier verwundet, starb er 1918 in Paris. Der jüngere ist Vojislav Mladenovic (1884—19..), der bei Lipps doktorierte („Über die Grundlagen der Erziehungslehre"). Auch sein Curriculum vitae ist ein beredtes und informatives Zeugnis (Orthographie nach dem Original): „Geboren am 25. Juli 1884 in Jagodina (Serbien), besuchte ich daselbst die Volksschule, das Gymnasium, das Lehrerseminar und bestand im Juni 1902 die Lehramtsprüfung. Seit September 1902 bin ich als Lehrer in verschiedenen Ortschaften Serbiens tätig gewesen. Von 1907 bis 1912 gab ich die Lehrerzeitschrift „Nascha Schkola" („Unsere Schule") heraus, in welcher ich für die Neugestaltung des serbischen Volksschulwesens eintrat. Im Jahre 1912 wurde ich vom Dienste beurlaubt und begab mich zum weiteren Studium nach der Schweiz. Ich wurde im Sommersemester 1912 an der Universität Zürich immatrikuliert, mußte aber schon im nächsten Wintersemester während des Balkankrieges das Studium für zwei Monate unterbrechen. Nach dem Ausbruche des Weltkrieges im August 1914 begab ich mich wieder zum Militärdienst nach Serbien. Im Kriege erlitt ich eine schwere Verwundung, kam in bulgarische Kriegsgefangenschaft und, indem ich dieser entwich, mußte ich die dreijährige österreichisch-ungarische Okkupation meiner Heimat durchleben. Mit besonderem Dank gedenke ich hier der freundlichen Bemühungen der Herren Alt-Nationalräte R. Seidel und F. Fritschi aus Zürich, wie auch des bereitwilligen Sichannehmens des Herrn Bundesrats Dr. Calonder, die mir die Rückkehr noch im Jahre 1916/17 zu ermöglichen suchten. Die österreichischen Behörden gestatteten aber damals meine Rückkehr nicht, und erst nach der Befreiung Serbiens (Ende 1918) konnte ich nach Zürich zur Beendigung des Studiums zurückkehren. Seit dem Sommersemester 1919 setzte ich mein vor dem Kriege angefangenes Studium fort.

254

Werner G. Zimmermann

Ich besuchte hauptsächlich die Vorlesungen und Übungen über Pädagogik, Psychologie, Philosophie, Ethik und Anthropologie, wie auch die Übungen zur Einführung in die Unterrichtspraxis der Primarschule. In meiner ersten Studienzeit befaßte ich mich besonders damit, mich mit der Organisation des schweizerischen Schulwesens vertraut zu machen. Allen meinen Lehrern, namentlich den Herren Professoren Dr. G. F. Lipps, Dr. W. Freytag, Dr. O. Schlaginhaufen, spreche ich meinen besten Dank aus. Insbesondere bin ich aber dem Herrn Professor Lipps für die Anregungen, die mir bei der vorliegenden Arbeit zuteil geworden sind, sehr zu Dank verpflichtet." Mladenovic wurde später Professor an der Pädagogischen Hochschule in Belgrad. Diese Beobachtungen regen zu einer Reihe von Fragen an, die sich in ähnlich gelagerten Fällen ähnlich stellen lassen: Tritt Zürich, tritt die Schweiz im Bereich der Pädagogik um die Jahrhundertwende als bevorzugter Studienort hervor oder ebnen die Resultate von anderen Universitäten bzw. Ländern die auffallende Massierung in Zürich selbst wieder ein? Bildet der Zürcher Befund ein Partikel der Zuwendung zu modernen Strömungen, sodaß sich ähnliche Konzentrationen auch an anderen — schweizerischen, aber auch deutschen, französischen, österreichischen — Universitäten feststellen lassen? Ist es möglich, die spätere Tätigkeit und Wirksamkeit der bulgarischen und südslawischen Absolventen in ihrer Heimat für eine größere Zahl von ihnen zu ermitteln? Wieweit spiegelt sich im hier erhobenen Zürcher Material bulgarische und serbische Schulpolitik? Zweitens: Einige auffallende Konstellationen ergeben sich für das Frauenstudium. Rein statistisch ist das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Studenten für alle südslawischen Länder etwa 1: 3, für Bulgarien 1: 2,3. Daß sich unter den 17 bulgarischen Studenten aus Rumänien und den noch türkischen Gebieten nur eine Frau befindet, dürfte einen Hinweis auf die entwicklungsbedingte und wohl auch staatliche Förderung des Frauenstudiums im Fürstentum bzw. Königreich Bulgarien geben. Bei den serbischen Studierenden tritt es, von den Doktoraten her gesehen, nur in der Medizin markant hervor, wo von den fünf Promotionen deren vier von Frauen abgelegt wurden. Alle promovierten Mediziner aus Kroatien sind Frauen. Bei den Doktoranden aus Kroatien sind die Frauen überhaupt in der Mehrzahl, denn zu den drei Medizinerinnen kommen noch drei Anglistinnen aus Zagreb: Ada Broch („Die Stellung der Frau in der angelsächsischen Poesie"), Vera Philippovic („Swift in Deutschland") und Zora Prica („Daniel Defoes Robinson und Robert Paltocks Peter Wilkins"), die alle bei dem Schweizer Anglisten Theodor Vetter (1853—1922) dissertierten. Ob der Zugang zum Slawischen, den Vetter durch seine Tätigkeit als Lehrer und Biblio-

Serbische und bulgarische Studenten in Zürich

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thekar an einem Lyzeum in Moskau und seinem slawistischen Studienabschluß in Berlin erworben hatte, dabei eine Rolle spielte? Die Konzentrationen des Frauenstudiums: Pädagogik bei den Bulgarinnen, Medizin bei den Serbinnen, unter den Studierenden aus der Vojvodina und aus Kroatien, legen es nahe, darin Kanalisierungseffekte als Folge des um 1900 noch nicht überall und gleichmäßig eröffneten Frauenstudiums zu sehen. Drittens: Auffallend ist, daß sich nur sehr wenige Dissertationen mit Themen des Heimatlandes beschäftigen (Franz Milobar, „Das geschichtliche Verhältnis Bosniens zu Kroatien und Ungarn", 1898, und — Zweitstudium — „Der Berliner Kongreß und die Bosnische Frage", 1902; Christo Ivanov, „Die Wahldelikte nach den bulgarischen Gesetzen", 1903; MiloS Perovic, „Die pädagogischen Ansichten Dositej Obradovic's", 1906; Arsen Jovanovic, „Die Währungsverhältnisse in Serbien", 1910).

GERHARD GRIMM

P R O M O T I O N E N V O N S T U D E N T E N AUS BÖHMEN, M Ä H R E N U N D AUS D E R SLOWAKEI AN DER BAYERISCHEN L A N D E S U N I V E R S I T Ä T V O N 1472 BIS 1945

Die Anziehungskraft einer Hochschule auf Ausländer ist nicht so leicht zu messen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Sicherlich gibt die wachsende oder sinkende Zahl ausländischer Studenten einen Anhaltspunkt für die Wertschätzung einer solchen gelehrten Anstalt bei den Bildungsbeflissenen. D o c h spielen bei der Entscheidung, diese oder jene Universität zu besuchen, in beträchtlichem U m f a n g e auch Einflüsse eine Rolle, die nicht unmittelbar oder überhaupt nichts mit der Qualität der akademischen Lehrer oder der guten Ausstattung mit Lehreinrichtungen — wie Bibliotheken, Laboratorien und Kliniken — zu tun haben. U m nur ein paar solcher Motivationselemente zu nennen: Die Lebenshaltungskosten der Universitätsstadt, das geistige Klima und die kulturellen Anregungen, aber auch die landschaftlichen Reize in der U m g e b u n g der wissenschaftlichen Hochschule, nicht zuletzt die religiöse oder politische Lage in dem Staat, in dem die angestrebte Universität liegt. Gleichwohl möchte der Historiker gerne wissen, ob eine bestimmte Hochschule über einen längeren Zeitraum hinweg Studenten von jenseits der Landesgrenze angezogen hat. Mit einigem Aufwand an zählerischem und rechnerischem Bemühen ließe sich für die bayerische Landesuniversität ermitteln, wie viele Studenten aus welchen Ländern sich im Laufe von mehr als 500 Jahren hier einschreiben ließen. Ein solches Unternehmen setzte freilich voraus, daß man zuvor die Geburts- oder Herkunftsorte von Tausenden von Studenten bestimmt. D a s ist bisher nur für einen Zeitabschnitt der Universitätsgeschichte 1 ) und nur für eine nationale Gruppe von Studenten geschehen 2 ). Es bleibt auch *) L. Buzds: Die Herkunft der Studenten der Universität Ingolstadt von der Gründung der Universität bis zur Gründung des Jesuitenkollegs (1472—1556). In: Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt 72. 1963. S. 1—68. 2 ) Ks. P. Czaplewski: Polacy na studiach w Ingolsztacie, z r^kopisöw uniwersytetu Monachijskiego (Polnische Studenten in Ingoldstadt, aus handschriftlichen Aufzeichnungen an der Universität München). Poznan 1914; G. Grimm: Studenten aus J u g o s l a wien" an der Universität Ingolstadt - Landshut (1472—1826). In: Festschrift für Nikola R. Pribic. Neuried 1983. S. 475—484.

Studenten aus Böhmen, Mähren und der Slowakei in Bayern

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noch zu prüfen, inwieweit die gedruckten Universitätsmatrikel (bis 1800) und die daran anschließenden gedruckten Studentenverzeichnisse (bis 1918) vollständig und zuverlässig sind. Schließlich ist zu bedenken, daß der Besuch einer Universität für ein oder zwei Semester, wie er in der Zeit der lebhaften studentischen Wanderungen bis ins 19. Jahrhundert, aber auch später noch verhältnismäßig oft vorkam, durch Zufälle im Leben des Hochschülers stärker bestimmt gewesen sein kann als durch die Attraktivität einer bestimmten Bildungsanstalt. Etwas anders steht es mit den naturgemäß sehr viel weniger zahlreichen Studenten, die an einer Universität ihr Studium mit der Promotion zum Doktor abschlössen. Bei ihnen darf man doch wohl größtenteils die sehr bewußte Entscheidung für diese oder jene Hochschule, eine einzelne Fakultät oder einen darin wirkenden Hochschullehrer voraussetzen. Deshalb wurde in einer früheren Untersuchung die Zahl der Promotionen von Studenten aus „Südosteuropa" an der Ludwig-Maximilians-Universität (Ingolstadt: 1472 bis 1800, Landshut: 1800 bis 1826, München seit 1826), für die nicht ganz hundert Jahre von 1826 bis 1914 untersucht 3 ). Nachfolgend soll nun für einen benachbarten Bereich Ostmitteleuropas dieselbe Fragestellung für den längeren Zeitraum von 1472 bis 1945 studiert werden. Daß die Studie nicht über den tief einschneidenden Umbruch des Jahres 1945 fortgesetzt wurde, bedarf wohl keiner Begründung. Für die Frage der Anziehungskraft der alten bayerischen Landesuniversität 4 ) spielt es keine Rolle, ob die Promotion das Ende eines hier betriebenen Studiums darstellte oder ob der Kandidat zunächst an anderen Hochschulen studiert hatte oder ob er gar — wie bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht selten — lediglich zum Erwerb des Doktorhutes anreiste. Es sollen Studierende untersucht werden, die aus dem Staatsgebiet der Tschechoslowakischen Republik (CSR) von 1919 bis 1938 stammten. Das ist insofern bedenklich, als dieser Raum vor 1918 weder eine historische noch eine verwaltungsmäßige Einheit darstellte, ferner deshalb, weil etwa das Hultschiner Ländchen bis 1918 zu Preußisch-Schlesien gehörte und dessen Studierwillige sich wahrscheinlich stärker an den Wanderungstrend der Schlesier und Polen, die an der LMU sehr zahlreich waren, anschlössen als dem der Böhmen, Mährer oder gar der Slowaken. Auf jeden Fall ist unser so definierter Raum das Gebiet, in dem Tschechen und Slowaken die eindeutige Bevölkerungsmehrheit bildeten. 73 Promotionen von Studenten und Studentinnen aus diesen Ländern wurden für die Zeit von 1472 bis 1945 an den fünf, seit 1937 sechs Fakultäten der LMU ermittelt. Bevor an diese Zahl weitere Überlegungen angeknüpft 3 ) G. Grimm: Die Rolle der Universität München im geistigen Austausch mit den Ländern Südosteuropas zwischen 1826 und 1914. In: Wegenetz europäischen Geistes. Hg. von R. G. Plaschka und K. Mack. Wien 1983. S. 239—249. 4 ) Künftig kurz: L M U für Ludwig-Maximilians-Universität.

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werden, muß man Rechenschaft darüber ablegen, wie sie gefunden wurde. Ausgangspunkt war die aus den Quellen geschöpfte Bibliographie der Doktoren und Dissertationen, die der ehemalige Direktor der Universitätsbibliothek und eine Mitarbeiterin vor etwa zehn Jahren vorgelegt hatten 5 ). Die beiden Verfasser hatten der vollständigen Titelaufnahme der maschinenschriftlichen und gedruckten Doktorschriften auch den Herkunfts- oder Geburtsort der Promovierten angefügt, sofern diese auf dem Titelblatt oder anderen gedruckten Zeugnissen erschienen. Das ist aber nach 1918 zumeist nicht mehr der Fall6). Es mußten deshalb die mehr als 40 Bände gedruckter Promotionsurkunden (von 1827 bis 1945) durchgesehen werden, weil hier in der Masse der Zeugnisse dem Familiennamen eine Herkunftsbezeichnung („ex", bzw. „aus") angehängt wurde. Allerdings erfüllen auch diese amtlichen Druckerzeugnisse nicht alle Wünsche des Historikers. So wird bei den Theologen in der Regel nur angegeben „Priester aus der Diözese . . . " Einige Urkunden fehlen, dafür finden sich in den einzelnen Bänden handschriftliche Notizen des jeweiligen Pedells, aus denen Familien- und Vorname, Fakultät und Promotionsjahr, aber meist nicht die Herkunft des Promovierten hervorgehen. Die Urkundenbände der Jahre 1942 und 1943 sind dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen. Für die Zeit vor 1800 wird in den gedruckten Quellen statt einer genauen Ortsangabe oft nur eine Heimatbezeichnung angegeben (Bohemus, Hungarus usw.). Schwierigkeiten der Lokalisierung bereiten gleichnamige Orte, wenn nähere geographische Hinweise fehlen. So hat etwa 1886 ein Franz Banik aus Stanitz (Stanice) den medizinischen Doktortitel erworben. Wäre in der Urkunde nicht hinzugefügt worden „in Oberschlesien", so hätte man auch an Stanice in Südmähren denken können. Es ist nicht auszuschließen, daß sich in ähnlichen Fällen — man denke etwa an die zahlreichen „Neustadt" (Novo mèsto) — der eine oder andere „Tschechoslowake" der Aufmerksamkeit des Bearbeiters entziehen konnte. Schließlich sei noch auf den unter Umständen erheblichen Unterschied zwischen Geburts- und späterem Wohnort des Promovierten hingewiesen. So entging mir bei einer früheren Studie über bulgarische Doktoren der LMU 7 ) „Spiridion Palausoff" (Palauzov), der 1843 zum Dr. rer. pol. promovierte, weil die genannte Bibliographie als (Wohn-)Ort Odessa angegeben

5 ) L. Resch - L. Buzäs: Verzeichnis der Doktoren und Dissertationen der Universität Ingolstadt, Landshut, München 1472 bis 1970. Band 1—9. München 1975 — 1979. Hier finden sich für unser Thema 72 Namen. H. Wolff: Geschichte der Ingolstädter Juristenfakultät (1472—1625). Berlin 1973. ( = Ludovico-Maximilianea, Forschungen 5). 6 ) Eine Gesetzmäßigkeit, nach der solche Ortsangaben fehlen oder vorhanden sind, ist nicht zu erkennen. 7 ) G. Grimm: Promotionen bulgarischer Studenten an der Universität München von ihrer Gründung in Ingolstadt (1472) bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. In: Bulgarische Sprache, Literatur und Geschichte. Neuried 1980. S. 263—276 ( = Bulgarische Sammlung 1/Südosteuropa-Studien 27).

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hatte, während er auf der Urkunde als „aus Gabrovo" stammend bezeichnet wurde. Für die alte Universität Ingolstadt besitzen wir seit kurzem ein Gesamtregister der Studenten nach der Edition der Matrikel 8 ), das, von einer Anzahl ungeklärter Fälle abgesehen, die herkunftsmäßige Zuordnung erlaubt, wenn auch teilweise nur sehr grob in Form von Territorialbezeichnungen. Ein Ortsverzeichnis für die Studenten von 1800 bis 1945 wäre zwar aufgrund der gedruckten Studentenverzeichnisse und der sogenannten „Quästurbogen" möglich, aber auf absehbare Zeit ist mit einem solchen Hilfsmittel nicht zu rechnen. Von den 73 Promotionen unserer Gruppe sind zunächst zwei abzuziehen, weil es sich bei ihnen offenkundig um Ehrenpromotionen handelt. Weder der Theologe Anton Günther (1783 bis 1863), promoviert 1832, den das Lexikon trotz seiner Schwierigkeiten mit der Amtskirche „den bedeutendsten katholischen Philosophen seiner Zeit" nennt und der im Vormärz zwanzig Jahre lang seiner Heimat als Bücherzensor in Wien gedient hatte 9 ), noch Karl Joseph Kreutzberg, eigentlich Heinrich David Ascher, 1802 bis 1870, promoviert 1837, der ehemalige Geschäftsführer des „Vereins zur Ermunterung des Gewerbsgeistes in Böhmen" und wirtschaftspolitische Schriftsteller 10 ), hatten in München studiert. Ob Ehrenpromotionen zur Frage der Attraktivität etwas beitragen können, läßt sich derzeit überhaupt nicht sagen, weil es hierfür keinerlei Sammlung der einschlägigen Vorgänge gibt. Die als Ausgangspunkt gewonnene Anzahl von 71 Promotionen nimmt sich gegenüber etwa 29.000 im gleichen Zeitraum an der LMU vorgenommenen Doktorerhebungen recht bescheiden aus. Vergleichen wir indessen die promovierten „Tschechoslowaken" für die Jahre 1831 bis 1918 mit den früher untersuchten Bulgaren, so ergibt sich ein Zahlenverhältnis von 31 zu 2411). Bezieht man diese Zahlen auf die jeweilige Gesamtbevölkerung, so ist der böhmischmährisch-slowakische Raum deutlich unterrepräsentiert. Es könnte nun freilich sein, daß unter den damaligen bulgarischen Studenten ein größerer Anteil sein Studium mit dem Doktorat abgeschlossen hat, als dies bei den „Tschechoslowaken" der Fall war. Das müßte jedoch erst noch ausgezählt werden. In den Ingolstädter Jahren haben rund 4 % der eingeschriebenen Studenten aus dem hier untersuchten Gebiet promoviert, in Landshut (1800 bis 1826) waren es sogar B

) Die Matrikel der Universität Ingolstadt, Landshut, München, Hg. G. Freiherr v. Pölnitz und L. Boehm, Band 4. München 1981 = Personenregister, bearbeitet von L. Buzdi. Bd. 5. München 1984. = Ortsregister, bearbeitet von L. Buzds. ') Biographisches Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder. Hg. H. Sturm (künftig: BLBL), Band 1. München 1979. S. 487 f. l0 ) BLBL 2. 1984. S. 305. n ) Grimm, Promotionen bulgarischer Studenten, S. 264. Der nachträglich entdeckte Palauzov wurde dazugerechnet.

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6 %. Welchen Prozentanteil die Promovierten gegenüber den übrigen Studenten in den Jahren 1826 bis 1945 hatten, läßt sich derzeit noch nicht feststellen. Kann man nun im zeitlichen Ablauf der Promotionszeitpunkte und ihrer Häufigkeit eine gleichbleibende Anziehungskraft der L M U f ü r die Hochschüler erkennen? Eine Tabelle von jeweils hundert Universitätsjahren sieht so aus: 1472 1572 1672 1772 1872

bis bis bis bis bis

1571 1671 1771 1871 1945

0 9 6 7 49

Promovierte Promovierte Promovierte Promovierte Promovierte

Sieht man von dem Anlaufjahrhundert ab und bewertet die sprunghafte Vermehrung seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts als einen gesamteuropäischen Vorgang, dann scheint die bayerische Landesuniversität durch drei Jahrhunderte jeweils etwa gleich viele Studenten aus unserem Untersuchungsfeld zu D o k t o r h ü t e n verholfen zu haben. O r d n e t man freilich die 71 Promotionen nach den Prüfungsterminen in einem Häufigkeitsdiagramm, so ergeben sich, nachdem 1574 erstmals ein „Thynensis Bphemus" in Ingolstadt die D o k t o r würde erworben hatte, Lücken von 29 (1789 bis 1817), 38 (1601 bis 1638) und sogar 39 Jahren (1672 bis 1710), in denen kein Student aus dem tschechischslowakischen Raum sein Studium mit dem D o k t o r h u t abschloß. M a n denkt zunächst an die langen Kriegsjahre, die mit den Namen von Napoleon I., Wallenstein und Prinz Eugen verknüpft sind und auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen f ü r die Entsendung von Studierwilligen verschlechterten. Es erscheint aber fraglich, ob um die Wende vom 17./18. bzw. vom 18./19. Jahrhundert die Länder zwischen Böhmerwald und Karpaten-Ostrand wirtschaftlich so stark geschädigt wurden, d a ß nur so wenige im Ausland studieren konnten. Andererseits sind H ä u f u n g e n von Promotionen zu beobachten, so von 1875 bis 1888 sieben, von 1902 bis 1926 dreißig und von 1936 bis 1941 neun. In den Jahren nach der G r ü n d u n g des Deutschen Reiches, vor und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und kurz vor dem Zweiten Weltkrieg dürften zunächst der allgemeine Anstieg der Studentenzahlen, dann die Auffächerung der Wissenschaftsdisziplinen und schließlich auch die politischen Spannungen zwischen Berlin und Prag f ü r den Promotionsboom verantwortlich sein, im letztern Falle dadurch, daß besonders viele „sudetendeutsche" Studenten ihre Universitätsbildung im Deutschen Reich anstrebten. W o h e r kamen nun unsere Promovierten? Legt man die historische Gliederung des österreichischen Kaiserreiches zugrunde, so stammten aus Böhmen Mähren 12

45 11

Österreichisch-Schlesien 12 ) Preußisch-Schlesien

) Einschließlich des Hultschiner Ländchens.

8 2

der Slowakei Nicht bestimmbar

4 1

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Für die ersten drei Gebiete entspricht das wechselseitige Zahlenverhältnis etwa dem der Gesamtbevölkerung, nicht dagegen für die Slowakei, die signifikant schwächer vertreten ist. Legt man die Herkunftsorte zugrunde — bei vier Promovierten war das nicht möglich —, so kommen 36 aus Städten, die bei der Volkszählung von 1930 mehr als 30.000 Einwohner aufwiesen. Fünfzehn stammten aus Städten mit Einwohnerzahlen zwischen 5.000 und 30.000, und sechzehn kamen aus kleineren Städten und Dörfern. Gewiß ist das Wachstum der Siedlungen durch fast 500 Jahre unterschiedlich verlaufen, aber einen Anhaltspunkt geben die Zahlen von 1930 doch. Der Vorrang der größeren Orte schlägt sich deutlich nieder. Es fällt allerdings auf, daß eine Reihe größerer Städte keinen Promovierten der LMU aufzuweisen hatte: Mährisch-Ostrau, Kaschau, Olmütz, Aussig, Gablonz, Prossnitz, Komotau, Iglau und Teplitz. Alle „Slowaken" kamen aus Preßburg. Östlich der Linie Preßburg-Teschen hat offenbar die bayerische Landesuniversität keinen Studenten mehr für ein Doktoratsstudium gewinnen können. Gruppiert man unsere 71 Promovierten nach Fakultäten, ergibt sich folgende Reihung: Philosophie Medizin Jura Staatswissenschaft Theologie (kath.)

25 24 11 9 2

Hier täuscht allerdings der zeitliche Längsschnitt; denn unter den 20 Promotionen von 1472 bis 1863 waren nur Mediziner und Juristen. Da in der neueren Universitätsgeschichte die medizinische Fakultät die größte Zahl an Promotionen aufweist, scheint die LMU für Medizinstudenten aus unserem Untersuchungsgebiet eine etwas geringere Anziehungskraft gehabt zu haben. Eine Reihung der Promovierten nach Fächern liefert folgende Tabelle: ohne Dissertation Medizin Jura Wirtschaftswissenschaften Chemie Musikwissenschaft Germanistik Theologie Philosophie Kunstgeschichte Geographie

24 11 9 7 3 3 2 3 2 2

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Psychologie Zoologie Mathematik Zeitungswissenschaft

1 1 1 1

Daß Chemiker im Vergleich zu Mathematikern und Zoologen so stark, Physiker, Geologen, Botaniker überhaupt nicht vertreten sind, mag bei den insgesamt geringen Zahlen auf Zufall beruhen, im Falle der Chemie ist aber wohl das Ansehen der in München tätigen akademischen Lehrer mitentscheidend gewesen. Daß in Romanistik oder Anglistik kein „Tschechoslowake" in München promovierte, wird man wohl damit erklären können, daß Interessenten für diese Fächer sich bessere Studienerfolge in Frankreich oder England erwarteten. Die Historiker hingegen mögen sich für die vaterländische Geschichte eher in Wien oder Prag als in München Förderung ausgerechnet haben. Wie Zufälle die angeführten Zahlen beeinflussen können, soll der Fall des Studenten Bruno Studeny belegen. Er kam 1907 mit 19 Jahren nach München, um sich an der königlichen Akademie der Tonkunst der praktischen Ausbildung als Sänger zu widmen. Wegen eines schweren körperlichen Leidens mußte er dieses Studium abbrechen und wendete sich danach der Musikgeschichte zu 13 ). Stellen wir die bulgarischen Studenten, die von 1831 bis 1918 in München promovierten, den „tschechoslowakischen" des gleichen Zeitraums gegenüber, so zeigt sich, daß sich die 24 Bulgaren auf sieben Fachgebiete beschränkten, während 20 Tschechoslowaken dreizehn verschiedene Fächer studierten. Die Bevorzugung der Medizin durch die Bulgaren mit mehr als 50 % der Abschlüsse teilen unsere neuen Probanden nicht 14 ). Allerdings ist die Medizin mit acht — neben der Volkswirtschaft mit sieben — das meiststudierte Fach. Außer der Chemie mit vier Absolventen sind alle anderen Disziplinen nur mit einem oder zwei Promovierten vertreten. Daß nicht ein einziger Jurist aus dem tschechisch-slowakischen Raum in dieser Zeit sein Studium in München mit der Promotion krönte, mag mit der staatlichen Rechtsentwicklung im Habsburgerreich zusammenhängen, die die Nützlichkeit ausländischer Studienabschlüsse fragwürdig machte. Immerhin sollten folgende Beispiele zur Vorsicht bei Verallgemeinerung mahnen: Karl Wasserab hatte 1888 in München den Titel eines Dr. rer. pol. erworben, nachdem er schon vorher in Göttingen zum Dr. jur. promoviert worden war 15 ). Ähnlich war es bei Gustav Aubin, der im Mai 1905 den Doktortitel eines Juristen in Freiburg und im November 1907 den eines Nationalökonomen in München erwarb 16 ). 13

) Universitätsarchiv München (künftig UA M) O I 91 p. ) Grimm, Promotionen bulgarischer Studenten, S. 267. 15 ) UA M M II 12 p. ") Gedruckter Lebenslauf in: G. Aubin: Die Entstehung und Entwicklung des grundherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in Frankreich und einigen anderen mitteleuropäischen Ländern. Diss. rer. pol. München 1907. S. 55. u

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M a n darf ohne weitere Untersuchung unterstellen, daß ein Studium im bayerischen Auslande während der ganzen Zeitspanne vom 16. bis 20. Jahrhundert für unsere Studentengruppen teurer war als an einer heimischen Universität. O f f e n b a r haben bei den Promovierten der L M U die wirtschaftliche Lage der Eltern oder andere günstige Umstände das Studium fern der Heimat ermöglicht. N u r von 45 Vertretern unserer 73 Personen umfassenden Gruppe konnten bis jetzt biographische Angaben aus den gedruckten und ungedruckten Lebensläufen oder aus Nachschlagwerken 1 7 ) zusammengetragen werden. Dabei sind die Selbstzeugnisse äußerst karg und geben o f t nicht einmal den Beruf des Vaters oder die Vermögensumstände der Eltern bekannt. D a ß ein Großgrundbesitzer wie Vinzenz Danek von Esse keine Schwierigkeiten hatte, sein Studium an der L M U vor dem Ersten Weltkrieg zu finanzieren, liegt auf der H a n d . Bei einer Reihe von Berufsbezeichnungen der Väter liegt der Schluß nahe, daß der Sohn oder die Tochter ohne materielle Sorgen auch in München studieren konnte (Holzhändler, Baumeister, Fabrikant usw.). Berufe der unteren sozialen Schichten sind nur selten vertreten, z. B. nur ein „Landmann". Dessen Sohn hatte das Studium der Theologie gewählt, w o f ü r er einen „Alumnenplatz" erhielt. Bemerkenswert ist aber, daß dieser Ludwig Kalvoda als geweihter Priester und während seiner Dienstzeit als Kaplan nebenher seine aus der Gymnasialzeit stammende Vorliebe für die Chemie in eine Doktorarbeit über eine chemische Wirkung des Lichtes umsetzte 1 8 ). Lediglich 30 Studenten von den 45, die biographische Anhaltspunkte lieferten, können wir nach dem Elternhaus einigermaßen sozial einordnen. Acht sind dem Großbürgertum zuzurechnen — ihre Väter sind Industrielle Großhändler usw. —, fünfzehn stammen aus dem Mittelstand — die Väter sind Rechtsanwälte, Betriebsleiter, Kaufleute —, vier gehören zur mittleren und unteren Beamtenschaft — Amtsarzt, Bahnverwalter, Major, Turnlehrer — und drei sind kleine Leute — Dorfschmied, Friseurmeister, Landmann. Fünf Studenten entstammen adeligen Familien, ohne daß daraus schon ein sicherer Schluß auf die Vermögenslage zu ziehen wäre. Vielleicht ist auch aus dem Studienablauf der einzelnen Promovierten eine Erkenntnis über die Anziehungskraft der L M U zu gewinnen. Wieder müssen wir von den 45 „bekannten" Studenten ausgehen. Davon hatten 14 zwar als H e r k u n f t Böhmen oder Mähren angegeben, wohnten aber bei der Aufnahme ihres Studiums bereits in München, weil die Eltern aus privaten Gründen, im G e f o l g e der politischen Veränderung nach dem Ersten Weltkrieg oder wegen

, 7 ) Außer den bekannten Informationsquellen wie ADB, N D B , Wurzbach, ÖBL, BLBL wurden herangezogen: B. A. Balbinus: Bohemia docta. Band 1 — 3. Prag 1776—1780; Ottüv Slovnik naucny (Ottos Konversationslexikon) und Ceskoslovensko biografie (Tschechoslowakische Biographie). Band 1 — 3. Prag 1936—1941. " ) UA M O C I 2p.

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der Spannungen um die sudetendeutsche Frage in den dreißiger Jahren, ihre Heimat verlassen hatten. Ein Sonderfall ist der in Prag geborene Siegfried Giedion, dessen Vater als Leiter eines österreichischen Unternehmens nach Prag versetzt worden war. Dieser Student hatte bei der Münchner Universität beantragt, daß seinem Namen auf der Promotionsurkunde „aus Langnau (Schweiz)" hinzugefügt werde, weil seine Familie dort bis ins 17. Jahrhundert zurückzuverfolgen sei19). Von 43 Promovierten hatten elf ausschließlich in München ihre Studien betrieben, 15 neben München noch eine andere deutsche Universität aufgesucht, sieben ihr Studium in Prag begonnen, aber in München abgeschlossen, vier außer München und Prag noch eine österreichische Hochschule, ebenfalls vier neben München nur eine österreichische und zwei sogar vor München eine österreichische und eine schweizerische Universität kennengelernt. Wenn von den elf „Nur-Münchnern" der elterliche Wohnort den Ausschlag für die Wahl des Studienortes gegeben haben sollte, so blieben immerhin 32, die sich, aus welchen Gründen immer, für das Studienende an der LMU entschieden hatten. Wie attraktiv war die LMU für Frauen? Vier Vertreter unserer Gruppe waren weiblichen Geschlechtes, die erste, Pauline Ortner, die 1913 als Zoologin den Doktortitel erwarb 20 ). Bei der noch unzureichenden Erforschung des Frauenstudiums an den europäischen Universitäten kann derzeit nicht gesagt werden, ob der Frauenanteil an unserer Untersuchungsgruppe besonders hoch war. Auf jeden Fall hatten schon vor Fräulein Ortner zwei Damen aus Südosteuropa an der LMU promoviert: Emma Geliert aus Arpäs (Siebenbürgen) und Margit Shauff aus Agram, beide 191121). Prüfen wir auch die Frage, ob sich unter unserer Promovendengruppe geniale Geister befanden, für die die LMU besonders reizvoll erscheinen konnte. Auch in diesem Fall ist es ärgerlich, daß für die ersten drei Jahrhunderte kaum Lebensdaten der in Frage kommenden Personen vorliegen. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß Studenten, die die Beamtenlaufbahn eingeschlagen haben oder in der Wirtschaft Karriere machten, weniger gut erfaßt sind als spätere Hochschullehrer oder Schriftsteller. Da unser Untersuchungszeitraum sich bis 1945 erstreckt, muß auch damit gerechnet werden, daß so mancher Hochbegabte in den beiden Weltkriegen sein Leben einbüßte, bevor er sich einen Namen machen konnte. Immerhin befinden sich in unserer Gruppe vier Männer und eine Frau, die in der Wissenschaft über die Fachkollegen hinaus bekannt geworden sind. Ein bedeutender Mineraloge war Karl Haushofer

" ) U A M O II 8 p. 20 ) P. Ortner: Zur M o r p h o l o g i e des G l y k o g e n s bei T r e m a t o d e n und Cestoden. Diss. phil. M ü n c h e n 1913, gedruckter Lebenslauf. In: Archiv für Zellforschung 11, 1913, S. 449. 21 ) Resch, Buzds, D o k t o r e n und Dissertationen, 2. 1976. S. 439 bzw. 447.

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(1839 bis 1895), der nach der Promotion (1864) und der Habilitation (1865) viele Jahre lang am Münchner Polytechnikum als außerordentlicher Professor wirkte 22 ). Als Kunsthistoriker hatte Paul Frankl (1878 bis 1962) von 1920 bis 1933 einen Lehrstuhl in Halle inne. Nach seiner Vertreibung durch die Nationalsozialisten wanderte er in die USA aus und war zuletzt in Princeton tätig 23 ). Ein ausgezeichneter Nationalökonom war Gustav Aubin (1881 bis 1938), ein Bruder des bekannteren Historikers Hermann Aubin, habilitiert in Erlangen, Privatdozent und seit 1919 Ordinarius in Halle und von 1934 bis zu seinem Tod in Göttingen tätig 24 ). Weiterhin wird noch genannt der Prager Mathematiker Ludwig Berwald. Unrühmlich bekannt geworden ist Alfred Baeumler (1887 bis 1968), der seit 1933 auf einem neu eingerichteten Lehrstuhl an der Berliner Universität den Führern des „Dritten Reiches" mit seinen Ideen über politische Männerbünde und anderes diente. Immerhin war er aber bereits 1929 auf einen Lehrstuhl für Philosophie an die Technische Hochschule nach Dresden berufen worden 25 ). Die letzte in dieser Reihe ist Wanda Hanke (1893 bis 1958). Sie hatte nach ihrer Promotion in München (1918) im Fache Psychologie noch ein Jurastudium angehängt und dieses 1926 in Marburg mit einem weiteren Doktortitel abgeschlossen. Danach wandte sie sich der Erforschung der Indianerkulturen in Paraguay und Brasilien zu und lebte bis zu ihrem Tode in der iberoamerikanischen Welt 26 ). Stellen wir diese fünf herausragenden Personen in Relation zu den 71 Promovierten, so ergibt sich ein wesentlich ungünstigeres Verhältnis als bei den früher untersuchten Bulgaren, nämlich 6: 2427). Dabei ist aber zu bedenken, daß der hohe Anteil von Promovierten, die uns biographisch nicht näher bekannt sind, die Relation zu Ungunsten der „Tschechoslowaken" verzerrt. Es bleibt noch die Frage zu beantworten, wie die verschiedenen nationalen Gruppen des Raumes zwischen Eger und Preßburg an den Münchner Promotionen beteiligt waren. Hier lassen uns freilich die Quellen wieder weitgehend im Stich. Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Familiennamen im böhmischmährischen Raum im 20. Jahrhundert kaum zuverlässige Hinweise auf die Volkszugehörigkeit der Namensträger liefern. Für die früheren Jahrhunderte geben sie wenigstens Anhaltspunkte. Auf jeden Fall ist es überraschend, wenn man sich etwa an die Vielzahl polnischer Namen in den Matrikeln der LMU erinnert, daß von den 71 Studenten nur 14 slawisch klingende Namen führen, wobei noch zwei (Piessynus, 1574, und Zolith oder Zolitz, 1647) unsicher sind. u ) J. Ch. Poggendorff: Biographisch-literarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exacten Naturwissenschaften. Band 3, 1. Leipzig 1898. S. 597. » ) BLBL 1 (1979), S. 377. » ) BLBL 1 (1979), S. 30. ") BLBL 1 (1979), S. 42. ") BLBL 1 (1979), S. 529. ") Grimm, Promotionen bulgarischer Studenten, S. 272.

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Nur sechs dieser slawischen Namensträger sind biographisch etwas bekannter. Der schon erwähnte Geistliche Kalvoda hat vielleicht durch seinen Eintritt in den Dienst der Münchner Erzdiözese ein nationales Bekenntnis abgegeben. Bruno Studeny (Promotion 1911), dessen Mutter Hermine Niemeczek hieß, stammte aus dem Riesengebirge und wohl aus einer deutschen Familie28). Der schon genannte Vinzenz Danek von Esse könnte Tscheche gewesen sein, obwohl das Fehlen der Familie in den deutschen genealogischen Taschenbüchern ein schwaches Argument ist. Ebenfalls einen Tschechen vermute ich in Wenzel Nechvile (Promotion 1913), weil hier Familien- und Vorname zusammen mit der Herkunft aus Civic (Kr. Pardubitz) für diese Deutung sprechen 29 ). Wenn man von dem 1912 in Petzinow (Böhmen) geborenen Georg Sykora erfährt, daß er an der Prager Tschechischen Universität Jura studiert hatte, möchte man dies als Bekenntnis zur tschechischen Volkszugehörigkeit werten, stünde dem nicht entgegen, daß er schon als Student reichsdeutsche Stipendien erhalten hatte 50 ). Bei dem im mährischen Lundenburg 1895 geborenen Robert Nowak, promoviert 1937, spricht für die Zugehörigkeit zum Deutschtum, daß er schon 1933 am Münchner Institut für Rassenhygiene als wissenschaftliche Hilfskraft beschäftigt wurde 31 ). Tschechische oder slowakische Vornamen kommen nur selten vor (dreimal Wenzel, einmal Wanda), wobei offenbleibt, inwieweit in den studentischen Quellen die Vornamen nicht bereits eingedeutscht wurden. Eine Hilfe wäre sicherlich die Kenntnis der Namen und Vornamen der Großeltern, wie sie ab 1937/38 von den Studenten an den deutschen Hochschulen mittels Fragebogen verlangt wurden. Die Herkunft aus einem national homogenen Ort ist in keinem Fall sicher nachzuweisen, schon gar nicht für die Zeit vor 1800. In keinem der erhaltenen Lebensläufe wird der Besuch einer tschechischen Schule erwähnt, häufig aber der einer deutschen, z. B. „Deutsches Staatsgymnasium". Das kann aber nicht unbedingt als Beleg für die deutsche Volkszugehörigkeit gewertet werden, weil gegebenenfalls ein Tscheche oder Slowake durch diese Angabe nur hätte unterstreichen wollen, daß er Deutsch so gut beherrsche, um dem Lehrangebot der LMU ohne Schwierigkeiten folgen zu können. Faßt man alle Einzelhinweise zusammen, so scheint die Gruppe der „tschechoslowakischen" Promovierten in München zum größten Teil aus Angehörigen der deutschen Volksgruppe bestanden zu haben. Bei den Vorläufer-Uni-

2S

) UA M O I 91p. ) UA M M II 36 p. 30 ) Maschinenschriftlicher Lebenslauf in: G. Sykora: Volltrunkenheit und Rauschtat im österreichischen, tschechischen und deutschen Strafrecht. Diss. jur. München 1941, Bl. 133. 31 ) UA M O C N-prom. WS 1937/38. M

Studenten aus Böhmen, Mähren und der Slowakei in Bayern

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versitäten Ingolstadt und Landshut läßt sich dies nicht ermitteln, vor 1800 spielte ja auch das „nationale" Bekenntnis im allgemeinen nur eine untergeordnete Rolle. Eine Ausnahme stellen die Angehörigen der jüdischen Minderheit dar. Sie sind mit Sicherheit zu erkennen. Der oben angeführte Paul Frankl wurde wegen seiner „Rassezugehörigkeit" von seinem Lehrstuhl vertrieben. Der Physiker und Mathematiker Ludwig Berwald, promoviert 1908, fand 1942 im Ghetto von Lodz den Tod 32 ). Der Mediziner Benno Grünfelder aus Saaz, promoviert 1911, bekennt sich im Lebenslauf seiner Doktorarbeit ausdrücklich als Jude 33 ), und bei Philipp Pinhas Ehrenfest (Dr. med. 1837) liefern der zweite Vor- und der Familienname Beweise für die Zugehörigkeit zur jüdischen Volksgruppe. Der Prozentanteil von Juden an unserer Gruppe übersteigt sicher den Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung des tschechisch-slowakischen Raumes. Ob dies auch für die städtische Bevölkerung zutrifft, aus der die Masse der Studenten hervorging und unter der die meisten Juden lebten, ist fraglich. Man könnte abschließend auch vermuten, daß sich Promotionswillige unserer Untersuchungsgruppe die LMU deshalb als Studienort wählten, weil sie hofften, mit den mitgebrachten Landes- und Sprachkenntnissen hier eher einen Doktorvater finden zu können, als an den heimischen Hochschulen, wo naturgemäß die Konkurrenz der Landsleute stärker war. Vier Dissertationen setzten sich mit Fragen des Heimatlandes ihrer Verfasser auseinander: Vinzenz Danek von Esse über „Die Lage der Waldarbeiter in Mittelböhmen" (1913), der die auf seinem eigenen Besitz gewonnenen Erfahrungen und Befragungsergebnisse einbrachte; Moritz Robert Ritter von Bauer, der sich überwiegend auf gedruckte Quellen stützte, als er „Die Landwirtschaft in Mähren von der Aufhebung der Untertänigkeit (1781) bis 1848" untersuchte; Robert Nowak aus Lundenburg 34 ) (Mähren), der sich mit den „Spannungen zwischen den volkspolitischen und wehrgeographischen Grenzen des slowakischen Raumes" (1938) auseinandersetzte (die Druckfassung versah Karl Haushofer mit einem Vorwort); schließlich Wenzel Nechvile, der sich 1913 mit dem „österreichisch-ungarischen Holzexport" befaßte. Verglichen mit der bulgarischen Gruppe war der Anteil solcher „Heimat-Dissertationen" hier noch geringer. Man muß doch wohl annehmen, daß in den meisten Fällen bei der Wahl des Studienortes das spätere Dissertationsthema noch keine Rolle spielte. Will man künftig der Frage noch weiter nachgehen, wie attraktiv die LMU

") BLBL 1 (1979), S. 86. 33 ) Gedruckter Lebenslauf in: B. Grünfelder: Magengeschwüre durch KalichloriumVergiftung. Diss. med. München 1910. S. 31. 34 ) Wenn in den vorstehenden Ausführungen die deutschen Ortsbezeichnungen verwendet wurden, so geschah dies in Anlehnung an den Großteil der benützten gedruckten und ungedruckten Quellen.

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Gerhard Grimm

für Studenten aus Böhmen, Mähren und der Slowakei gewesen ist, so wird man einerseits die biographische Forschung über die promovierten Studenten vorantreiben, andererseits versuchen müssen, sämtliche „Auslandspromotionen" aus dem behandelten Raum zu erfassen, um dann feststellen zu können, wie die L M U im Vergleich etwa zu Leipzig, Krakau, Wien usw. abschneidet. Hierzu ist freilich noch viel Arbeit zu leisten.

WALTER HÖFLECHNER

A U S L Ä N D I S C H E S T U D I E R E N D E A N D E R U N I V E R S I T Ä T GRAZ 1918 — 1938

VORBEMERKUNG*)

Die Universität Graz galt seit alters her als die deutsche Universität des europäischen Südostens; ein erheblicher Anteil ihrer Hörer stammte tatsächlich aus dem südslawischen Raum — aus Krain, Kroatien, Dalmatien und auch aus Ungarn und Siebenbürgen. Darauf haben Franz Krones, Josef Matl, Johann Andritsch und zuletzt Harald Heppner in eingehenden Untersuchungen hingewiesen 1 ). Der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie im Jahre 1918 hat viele Hörer der Karl-Franzens-Universität zu Ausländern werden lassen und — wie verschiedentlich unter ganz unterschiedlichen Aspekten fest-

*) Diese Arbeit ist 1983 als Vortrag entstanden und wurde für den Druck nur geringfügig verändert und nicht aktualisiert. Da eine Erweiterung aus Platzgründen nicht möglich war, können zahlreiche Probleme nur angedeutet werden. Zusätzliche Information über den Hintergrund bietet mittlerweile meine Darstellung der neueren Universitätsgechichte „Zur Geschichte der Universität Graz". ( = Festschrift „Tradition und Herausforderung. 400 Jahre Universität Graz", hg. v. K. Freisitzer, W. Höflechner, H.-L. Holzer und W. Mantl.) Graz 1985. S. 3 — 141, bes. 38 — 56. ') F. von Krones: Geschichte der Karl-Franzens-Universität in Graz. Festgabe zur Feier ihres dreihundertjährigen Bestandes. Graz 1886; /. Matl: Die Bedeutung der Universität Graz für die kulturelle Entwicklung des europäischen Südostens. In: Festschrift zur Feier des dreihundertfünfzigjährigen Bestandes der Karl-Franzens-Universität zu Graz. Hg. vom Akademischen Senat. Graz 1936. S. 187—226, den.: Die Universität Graz und der Südosten. In: Ostdeutsche Wissenschaft. Jahrbuch des Ostdeutschen Kulturrates 9. 1962, S. 256—274; f . Andritsch: Studenten und Lehrer aus Ungarn und Siebenbürgen an der Universität Graz (1586—1782). Ein personengeschichtlicher Beitrag zur Geschichte der Karl-Franzens-Universität in der Jesuitenperiode. ( = Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark, Bd. 22.) Graz 1965; H. Heppner: Die Rolle und Bedeutung der Grazer Universität für die Studentenschaft aus Südosteuropa 1867—1914. In: R. G. Plaschka u. K. Mack (Hg.): Wegenetz europäischen Geistes. Wissenschaftszentren und geistige Wechselbeziehungen zwischen Mittel- und Südosteuropa vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. ( = Schriftenreihe des Osterreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, Bd. 8.) Wien 1983. S. 286—293.

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gestellt worden ist — die Universität eines Großteiles ihres Hinterlandes beraubt. Weniger haben die Ereignisse von 1918 in anderer Hinsicht geändert; denn die Universität G r a z fühlte sich schon in der zweiten Hälfte des ^ . J a h r h u n derts als Grenzlanduniversität. D e r Anteil derer, die in ihr ein Bollwerk und eine Missionsstation des deutschen Geistes sahen, war schon um 1860 recht erheblich, und er ist in der Folge bedeutend angewachsen. Als im W i n t e r 1 9 1 8 / 1 9 die ersten Bemühungen des neuen Staates vor allem der Sicherung seines deutschen Charakters galten, stimmten die staatlichen T e n d e n z e n in geradezu vollkommener Weise mit jenen an den Hochschulen in Deutsch-Österreich, nicht nur in Graz, überein. D e r deutsche Charakter der Universitäten und Hochschulen ist sogar gesetzlich festgelegt worden: „Die Universitäten sind deutsche Forschungs- und Lehrstätten . . . " heißt es in dem Bundesgesetz vom 20. Juli 1922, mit dem die alten Bestimmungen abgeändert wurden 2 ). W e n n man sich mit der vielschichtigen T h e m a t i k der Ausländer an dieser Universität in G r a z beschäftigt, dann muß man erst einmal die Frage aufwerfen, inwieweit man in G r a z überhaupt bereit war, solche aufzunehmen, und auf welche Bedingungen die Ausländer — von denen die Mehrzahl ja kurz zuvor noch keineswegs solche waren — gestoßen sind, und weiters, welche Studenten nach G r a z gekommen sind.

W I E STELLTE SICH DIE AUSLÄNDERFRAGE VON SEITEN DER UNIVERSITÄT GRAZ DAR?

1. Universitätsökonomische Faktoren O h n e daß hier auf die chronologische Darlegung der diesbezüglich wichtigen Ereignisse eingegangen werden kann, ist vorwegnehmend festzustellen, daß das Verhältnis der österreichischen Hochschulen zu den Ausländern generell sehr rasch von wirtschaftlichen Überlegungen bestimmt worden ist. Die akademischen Gebühren an den österreichischen Universitäten — deren es eine Vielzahl gab — waren vor dem Krieg sehr niedrig gewesen und 1919 geradezu auf Bagatellbeträge gesunken. Ein gleiches war aber freilich auch mit den Professorengehältern geschehen, die man 1919 provisorisch rasch erhöhen mußte. D a die wirtschaftliche Situation bekanntlich katastrophal war, kam man aber auf die Idee, diese Mehrausgaben durch die Erhöhung der akademischen Gebühren zu kompensieren, wobei man — nicht zuletzt wegen des losbrechenden Entrüstungssturmes der Heimkehrer — das Augenmerk vor allem auf die Ausländer richtete. Aus dieser Verkettung der Umstände entstand eine mit erheblicher Vehe2

) BGBl. 1922, 105, Nr. 546.

Ausländische Studierende an der Universität Graz

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menz und mit entsprechendem politischem Hintergrund abgehandelte Auseinandersetzung um die Höhe und mehr noch um die Verwendung der akademischen Gebühren, die 1921 zu einer neuen Regelung führte, die die Professoren tatsächlich wieder (wie schon vor 1898) an den Kollegiengeldeinkünften — allerdings auf dem Umweg über den Staat — beteiligte. Und die Höhe der Kollegiengelder für Ausländer betrug erst das 25fache, dann das 30fache jener der mittlerweile erhöhten Inländergebühren 3 ). Dies alles ist für die Entwicklung des Ausländerstudiums an den österreichischen Universitäten und Hochschulen in der Zwischenkriegszeit von gravierender Bedeutung gewesen. Denn man hat sich tatsächlich sehr um die Erhöhung der Frequenz bemüht — und die war im Grunde genommen eigentlich nur durch die Vermehrung der Ausländerzulassung möglich. Das Sinken der Gesamthörerzahl — und dies hieß eben auch der Ausländerhörerzahl — zu verhindern, war ein wesentliches Bemühen der Rektoren, die unter diesem Aspekt immer wieder an die Dekane, in deren Bereich die Kollegiengeldermäßigung für Ausländer fiel, mahnend herangetreten sind. Und auch die Vertreter der deutschen Studentenschaft in Graz waren sich der Bedeutung der Ausländerfrequenz für den Dotationsanspruch der Universität gegenüber der Unterrichtsbehörde wie für den autonomen finanziellen Bereich bewußt. Deshalb hat die Deutsche Studentenschaft z. B. auch den aus Jugoslawien kommenden Studierenden, die freilich anfangs vielfach deutscher Abstammung waren, keine Hindernisse in den Weg gelegt hat. 2. Kriterien und Verfahren der Universitätsbehörden bei der Zulassung von Ausländern Für die Zulassung ausländischer Studierender ist an der Universität Graz im Jahre 1919 ein „Ausschuß zur Überprüfung der Inskriptionsansuchen ausländischer Studierender" ( = Ausländerausschuß) eingerichtet worden, der zwar offiziell „lediglich als informative Körperschaft" wirken sollte, zumal die Entscheidung de jure dem Rektor allein zustand, der aber doch das wirklich entscheidende Gremium bildete und unter dem Vorsitz des Rektors tagte 4 ). Zu seinen Mitgliedern zählten außer vier Professoren, als Vertreter der vier Fakultäten, zwei Mitglieder der Deutschen Studentenschaft sowie der Kanzleidirektor des Rektorates, der zeitweise eine dominierende Rolle spielen sollte, insoferne das eher komplizierte Verfahren dahingehend vereinfacht wurde, daß

3 ) Vgl. dazu das in Anmerkung 13 wiedergegebene Schreiben der bulgarischen Studenten an den Akademischen Senat der Universität Graz. 4 ) Dazu und zum folgenden immer wieder UAG ( = Archiv der Karl-Franzens-Universität Graz), Akten über die Ausländerinskription 1919—1937/38.

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ihm die Normfälle delegiert worden sind; nun ist dieser Herr in der Zeit von 1938 —1945 Kurator der steirischen Hochschulen gewesen. Dieser Ausländerausschuß legte die Kriterien für die Vorgangsweise fest und beschloß, daß „auf Angehörige des deutschen Reiches und auf Angehörige deutschen Stammes, deren Heimat durch den Friedensvertrag den Nationalstaaten zugesprochen wurde, [ . . . ] diese Bestimmungen mit größtem Wohlwollen Anwendung zu finden" hätten — es ging dabei um die Uberprüfung der Papiere, der Anerkennung der Matura etc., also um Formalien, die aber eben doch reichlich Handlungsfreiraum bieten konnten. Die prinzipielle Regelung sah 1920 die generelle und uneingeschränkte Aufnahme von Ausländern deutscher Volksangehörigkeit vor, die mit den Inländern gleichgehalten werden sollten — nicht allerdings bei den Gebühren. Alle anderen Ausländer sollten jeweils nur für ein Semester zum Studium zugelassen werden. Dabei sollten jedoch einige Plätze für deutsche Heimkehrer reserviert bleiben. Es ist weiters bemerkenswert, daß die Deutsche Studentenschaft in Graz am 26. Februar 1920 beschlossen hat, „dem Studium der Südslawen im Sommersemester 1920 keine Schwierigkeiten zu bereiten" — dies war Ergebnis einer Aussprache, die der deutschnational eingestellte Kanzleidirektor des Rektorates mit den Vertretern der Deutschen Studentenschaft in den letzten Februartagen 1920 in der „Ausländerfrage" geführt hat. Bei den Medizinern sollten jene nichtdeutschen Ausländer vorrangig aufgenommen werden, „welche keine medizinische Fakultät im Heimatlande haben", daher bei „Neuaufnahmen [ . . . ] in erster Linie die Gesuche der Bulgaren, in zweiter die der Kroaten und Serben und dann die Ansuchen aller übrigen nichtdeutschen Ausländer". Die Inskription und in der Folge auch die Promotion nichtdeutscher Ausländer erfolgte gegen Revers, in dem diese sich verpflichteten, „sich nicht in Osterreich niederzulassen oder einen akademischen Beruf ausüben zu wollen". Ganz besondere Bedeutung erlangte dieser Gesichtspunkt natürlich bei den Pharmazeuten und mehr noch bei den Medizinern, bezüglich derer man 1919 schon beschlossen hatte, daß „mit Rücksicht auf die Leichtigkeit der Erlangung der deutsch-österreichischen Staatsbürgerschaft [. . .] zum Schutze unserer Staatsbürger" darauf zu achten sei, „daß nicht viele Ausländer an unserer Universität promovieren, welche sich dann ständig in Deutsch-Österreich niederlassen und betätigen wollen". Drei Aspekte sind noch von Bedeutung, von denen nur die beiden ersten in den Grundsatzbeschlüssen formuliert worden sind: 1. Der Anteil der weiblichen Hörer sollte 10 % der Gesamtzahl nicht überschreiten. 2. Uber die Inskriptionsansuchen der jugoslawischen Studenten sollte nach Maßgabe des politischen Klimas entschieden werden.

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3. Über die Inskriptionsansuchen von Ausländern jüdischer Abstammung wurde mitunter in eigenen Sitzungen und unter speziellen Bedingungen beraten, auf die noch zurückzukommen sein wird. Wie sehr man sich um die Ausländerinskription bemühte, geht aus den Akten der Folgejahre deutlich hervor. Als sich für das Wintersemester 1923/24 „eine weit geringere Zahl" von Ausländerinskriptionen abzeichnete, stellte der Rektor zur Diskussion, daß es vielleicht „zweckmäßig" wäre, „ganz besonders den südslawischen und bulgarischen Studierenden in etwas weiterem Ausmaße wie im vergangenen Semester bei der Kollegiengeldermäßigung entgegenzukommen", weshalb er das Professorenkollegium der Medizinischen Fakultät — als der hauptsächlich betroffenen — dringend bat, „bei der Beratung über die Kollegiengeldbefreiungsgesuche in diesem Semester auf die Frequenzzahl zu achten und alles daran zu setzen, daß wirklich berücksichtigungswürdige Ansuchen um Ermäßigung vom Kollegiengelde im günstigen Sinne erledigt werden, damit die Hörerzahl nicht weiter abnimmt". Er hatte allen Grund dazu — die Zahlen waren rückläufig, und die Medizinische Fakultät hatte sich bei den Befreiungen relativ hart gezeigt: Von 1355 Medizinern im Wintersemester 1922/23 waren nur 156 ( = 11,5 %) ganz und 134 ( = 9,88 %) zur Hälfte vom Kollegiengeld befreit gewesen. Aus diesem Grunde befürwortete das Rektorat im Oktober 1923 auch die Gleichstellung der ukrainischen Studenten mit den Inländern, um ihnen damit die Fortsetzung des Studiums zu ermöglichen. 3. Die Auswirkungen der wirtschaftlichen Verhältnisse in der Stadt Graz Die Schwierigkeit der Ernährungs- und Wohnungssituation in Graz stand freilich einem umfangreicheren Zustrom von Ausländern entgegen. Die öffentliche Meinung war sehr mißtrauisch — so hieß es im Juli 1919 in der Grazer Presse, daß ein Großteil der Hörer an der Medizinischen Fakultät aus russischen und polnischen Juden bestehe, die vielfach Bolschewisten seien, und daß sich die Bevölkerung wundere, daß in Zeiten der größten Wohnungsund Ernährungsnot solche Ausländer geduldet würden 5 ). Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten waren natürlich in den Herbstmonaten, also zu Beginn des Wintersemesters größer als zu Beginn des Sommersemesters, weshalb auch die Deutsche Studentenschaft am 30. Oktober 1919 — nachdem die Inskription bereits längere Zeit gelaufen war — das Ansuchen stellte, „es wolle die Aufnahme der Ausländer mit Rücksicht auf den Platzmangel" — auf der Universität wie eben auch in der Stadt — und „zum Schutze

5 ) Antwort des Rektors an das Wohnungsamt des Stadtrates von Graz vom 19. Juli 1919 in UAG, Akten über die Ausländerinskription 1919. — Die wirtschaftliche Situation erforderte, daß die Vertretungen ausländischer Studierender im Herbst 1920 vom Ausländerausschuß aufgefordert wurden, „die in Osterreich rationierten Lebensmittel ihren Studenten zu Händen der Universität allmonatlich zu liefern".

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der Interessen der deutschen Studentenschaft" [ . . . ] „nur mehr in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen gestattet werden" — zu einer wesentlichen Einschränkung der Ausländeraufnahme im Wintersemester 1919/20 hat dies aber nicht geführt. Allerdings wurde damals schon und wurde weiterhin die Inskription am Semesterbeginn zeitlich gestaffelt durchgeführt: Erst die Österreicher, dann deutsche Ausländer und darnach erst die übrigen Ausländer 6 ).

STUDENTEN WELCHER LÄNDER STUDIERTEN BZW. WOLLTEN AN DER UNIVERSITÄT GRAZ STUDIEREN?

Sieht man von der erheblichen, aber im Verlaufe der späten zwanziger Jahre rückläufigen Zahl der Studenten aus dem jugoslawischen Räume als ehemaliger Österreicher aus einem Nachfolgestaat einmal ab7), so waren es zwei große und mehrere kleinere Gruppen von Studenten, die in der Zwischenkriegszeit in Graz die Universität frequentiert haben. Die Hauptgruppen seien hier in der Chronologie ihres Auftretens angeführt: 1. Die Bulgaren Leider sind die diesbezüglichen Ausführungen Josef Matls völlig falsch; ein einziger Blick in die Statistik oder besser in die Matrikel unserer Universität hätte ihn eines besseren belehren müssen und nicht schreiben lassen, daß „erst Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre . . . wieder vereinzelt Studenten aus Slowenien, Dalmatien, Kroatien, Serbien, Bulgarien" nach Graz gekommen seien, von denen einige „auch Medizin" studiert hätten 8 ). — Die Bulgaren kamen sofort und in hellen Scharen, und die überwiegende Masse studierte Medizin, und ein erheblicher Teil dieser Studenten hat auch in Graz promoviert'). In Bulgarien gab es damals zwar seit 1918 eine neuerrichtete medizinische Fakultät, doch dauerte es verständlicherweise offenbar einige Jahre, bis diese die volle Funktionsfähigkeit erlangt hatte 10 ). Wie bereits erwähnt, hat man in Graz für diese Studenten großes Verständnis gehabt 11 ). Schon im Studienjahr 1919/20 waren an der Medizinischen Fakultät 70 Bulgaren — teils in höheren Semestern und teils ohne die erforderliche Lateinprüfung — inskribiert; sie sind 1920/21 alle wieder aufgenommen worden; die Festlegung der zum Studium an dieser Fakultät zuzulassenden An') Dieser Vorschlag ging von der Studentenschaft aus. 7 ) Siehe dazu die Tabelle 1. 8 ) Matl, Die Universität Graz und der Südosten, S. 271 f. ') Siehe dazu die Tabellen 2—4. 10 ) International Handbook of Universities and other Institutions of higher Education. 'Berlin - N e w York 1977. S. 151. ") S. S. 271, Fußnote 4.

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zahl der mittlerweile darüber hinaus „in großer Zahl eingetroffenen bulgarischen Studierenden" wurde der Fakultät überlassen, für die damals bereits 395 Inskriptionsansuchen ausländischer Studierender vorlagen. Von den 59 Bewerbern für die Aufnahme an der Philosophischen Fakultät wurde nur einer — wegen Überfüllung des Instituts für Chemie — abgewiesen. Freilich setzte man für das Studienjahr 1920/21 aus rechtlichen Bedenken hinsichtlich der weiteren Konsequenzen die Ausländerimmatrikulation aus — dies ist der Grund, weshalb die Statistik für dieses Jahr keine Ausländer an der Universität Graz aufweist. Dies hat dem Studium der Bulgaren aber keinen Abbruch getan — im Sommersemester 1921 wurde allein der Medizinischen Fakultät vom Ausländerausschuß „die neuerliche Aufnahme" von 234 bulgarischen Studenten empfohlen; zu ihnen traten noch 121 „Ausländer deutscher Volkszugehörigkeit [...], welche im vergangenen Semester an der Grazer Universität eingeschrieben waren". Es war natürlich für beide Seiten nicht immer leicht, das Studium der bulgarischen Studenten, die zu einem erheblichen Teil des Deutschen und natürlich auch des Lateinischen unkundig waren, zu organisieren. 1920 schon hat man an der Medizinischen Fakultät Sprachkurse in beiden Bereichen für Bulgaren eingerichtet und ihnen den Nachweis der Sprachkenntnis beim Medizinerdekan persönlich abgefordert. Während im Herbst 1920 die bulgarischen Studenten noch durch Lässigkeit, Unordnung und Mangel an Disziplin den Anstoß der akademischen Behörden erregten, sodaß der Rektor Pregl dem bulgarischen Gesandten nach Wien schrieb, er solle doch nach Graz kommen und „seine" Studenten „wieder ins richtige Geleise . . . bringen", besserte sich dies in der Folge sehr bald und die Bulgaren wurden in den späteren Jahren nicht nur an der Universität Graz, sondern auch in Innsbruck — wo sie ja ebenfalls in großer Zahl studierten 12 ) — als ordentliche und um ihr Studium bemühte Studenten betrachtet. Tatsächlich waren sich die Bulgaren 1921, 1922 und in den Folgejahren des außerordentlichen Wohlwollens bewußt, das man ihnen in Osterreich entgegenbrachte. Man muß freilich wissen, daß beide Seiten aufeinander angewiesen waren: Die Bulgaren mußten froh sein, hier studieren zu können, mußten dankbar sein dafür, daß man ihnen immer wieder das Kollegiengeld stundete, es ihnen teilweise erließ, daß man ihren Schulden bei Zimmerwirtinnen, in Wirtshäusern etc. nicht allzu rigoros nachging. Ihre Lage war freilich durch die politischen 12

) Dazu G. Oberkofler: Die bulgarischen Studenten an der Universität Innsbruck in den Jahren 1918 —1938. Mit einem Exkurs über die politische Betätigung bulgarischer Studenten an der Technischen Hochschule und an der Universität in Graz in den Jahren 1921—24. In: Tiroler Heimat 45. 1982. S. 39—76.

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Umstürze in der Heimat, durch die Schwierigkeiten des Devisenexportes und dessen rigorose Einschränkung durch den bulgarischen Staat alles andere denn beneidenswert. U n d die Österreicher haben auch profitiert: ein erheblicher Teil der Bulgaren zahlte volle Taxen; 1920 bemühte sich der bulgarische Gesandte um eine Mehlaktion für die österreichischen Professoren und Studenten; und der „bulgarische Tanzboden" in Graz — eine offenbar sehr beliebte Veranstaltung — erbrachte auch stattliche Reinerträge, die die Bulgaren der Deutschen Studentenschaft zur Unterstützung notleidender deutscher Studenten oder auch für Bücherankäufe der Universitätsbibliothek spendeten 13 ). 13

) Im Jahre 1922 stiftete der Verein „Bulgaria" 100.000 Kronen für die Universitätsbibliothek; im April 1924 spendete der bulgarische Verein „Rodina" (siehe Fußnote 14) den Erlös des bulgarischen Tanzbodens in der Höhe von 258.200 Kronen für notleidende deutsche Studierende (UAG Vereinsakten). — Dazu als Illustration die beiden nachstehend wiedergegebenen Schreiben der bulgarischen Studenten. Unter dem 29. Jänner 1921 schlug die Kammer der Deutschen Studentenschaft das folgende Schreiben an: „Kollegen! Wir erinnern uns an das Jahr 1914, als wir uns verabschiedet haben, wir erinnern uns an die herzlichsten Glückwünsche, welche wir uns zum Abschied gesagt haben und unserem Worte getreu, kommen wir zu Ihnen zurück, nachdem wir vier Jahre zusammen gekämpft haben. Das Schicksal hat gewollt, daß uns der Kampf nicht geglückt ist; aber die bulgarische Jugend ist den Deutschen treu geblieben und hat mit Wort und Tat immer bewiesen, daß die Annäherung unserer Völker ihr Streben ist. Kollegen! Wir erleben die schwersten Zeiten, wir sehen, wie vor unseren Augen die Kultur von Tag zu Tag schwindet, wir sehen, wie die Wissenschaft machtlos nach ihren Söhnen ruft, wir sehen, wie an jedem Tag die schwersten Erlebnisse für unsere Völker vorbereitet werden, wir sehen, wie die akademische Jugend in die schwerste Notlage kommt! Wir müssen unsere letzte Kraft anstrengen, um uns und die Wissenschaft aus diesem Elend zu retten. An uns, der akademischen Jugend ist es, die heilige Pflicht zu erfüllen und die Wissenschaft von dem Spott des alltäglichen Lebens reinzuhalten! Stolz muss der Student sein und muss verstehen, auch in den schwersten Zeiten durchzukommen. Nach all den gemeinsam ertragenen Leiden und nach der freundlichen Aufnahme, die wir bei Ihnen gefunden haben, versichern wir Sie, daß wir stets die freundschaftlichen Erinnerungen an unser Studentenleben nach Bulgarien bringen werden. Mit kollegialem Gruss zeichnen wir uns: Der Ausschuss des bulgarisch-akademischen Vereines: f . . . ] " Ein Bild der Lage gibt auch ein Ansuchen des bulgarisch-akademischen Vereines an den Akademischen Senat wegen des Kollegiengeldes (undatiert, Ende April/Anfang Mai 1922): „[. . .] Die Universitätstaxen betrugen für das Winter-Semester 1919/20 keine 100 Kronen. Die Taxen für das Sommer-Semester wurden mit 300 K festgesetzt, erhöhten sich aber für Ausländer im Winter-Semester 1921/22 auf das 25-fache = 10000 K und erreichten im jetzigen Semester die Höhe von 60.000 K, das ist das sechsfache des Wintersemesters für 20 Wochenstunden [. . .] trotz der scheinbaren Steigung der Lewa in Wien fällt sie andauernd an der maßgebenden Schweizerbörse. Der hiesige Stand der Lewa hält aber durchaus nicht Schritt mit der enormen Preissteigerung, sodaß das Defizit des bescheidenen Studentenbudgets fortwährend wächst [ . . . ] Die ansehnliche Kolonie bulgarischer Studenten in Graz wird aus ähnlicher Ursache bald nicht mehr sein [.. .]".

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So lebte man Seite an Seite, hatte seine eigenen politischen, aber auch viele essentielle gemeinsame Probleme. Die bulgarischen Studenten in Graz — also jene der Universität und jene an der Technischen Hochschule — haben in dem uns interessierenden Zeitraum nicht weniger als 10 studentische Vereine gegründet, deren bedeutendster der „Bulgarisch-akademische Verein ,Bulgaria'" war, der bereits im Mai 1920 entstand, als „völkisch-demokratisch" orientiert eingestuft wurde und 1921 an der Universität bereits 287 Mitglieder und an der Technischen Hochschule 126, also insgesamt 413 Mitglieder zählte. Dieser Verein hat durch Jahre hindurch die bulgarischen Studenten in Graz repräsentativ vertreten; 1929 hat er sich selbst aufgelöst 14 ). D i e zahlreichen bulgarischen Vereine waren einander mitunter im Wege und haben auch Neugründungen keineswegs enthusiastisch begrüßt und mannigfache, nicht selten politische Streitereien unter sich ausgetragen, bei denen sie mitunter den Rektor als obersten Schiedsrichter angesprochen haben. 2. Die Studierenden aus SHS D i e Inskription der Studierenden aus den südslawischen Ländern 15 ) — soferne sie nicht deutscher Abstammung waren — war zu Beginn des Betrachtungszeitraumes natürlich durch die äußerst gespannten politischen Verhältnisse und vor allem durch den Einmarsch Jugoslawiens in Kärnten schwer belastet, was auch für die Anfänge der Beziehungen oder besser Nichtbeziehungen

14

) Der zweitgrößte Verein war der „Verein Bulgarischer nationalistischer Studierender ,Rodina'", der von Februar 1924 bis zu seiner Selbstauflösung im August 1929 bestand und als „völkisch" eingestuft wurde; weiters gab es den im Februar 1925 begründeten „Akademischen Verein bulgarischer Mediziner" (er bestand 1932 nicht mehr), den „Akademisch-wissenschaftlichen Bund der bulgarischen Studierenden in Graz" (gegründet 1922, als „sozialistisch" eingestuft und 1925 wegen politischer Betätigung von der Steiermärkischen Landesregierung aufgelöst), den „Bulgarisch-studentischen Verein ,Sosnanie'" (gegründet im März 1927, politisch aktiv, besteht zumindest bis 1932), den „Bulgarischen National-agrarischen Studentenverein ,Petko D. Petkoff'" (gegründet 1932, weiteres unbekannt), den „Akademischen Verein Bulgarisch-nationalistischer Studierender ,Rodna Sastita'", der 1932 gegründet wurde, die „Bulgarische akademische wirtschaftliche Organisation" (dies war die 1925 gegründete Nachfolge des aufgelösten Akademisch-wissenschaftlichen Bundes bulgarischer Studierender in Graz; dieser Verein führte auch die Messe seines Vorgängers weiter) und den „Verein bulgarisch-nationalistischer Studierender in Graz ,Balkan'", der 1929 gegründet wurde und bis in die NS-Zeit hinein bestanden hat — Ehrenobmann dieses Vereines war der Nobelpreisträger Fritz Pregl, der den Studenten nicht nur als Wissenschaftler, sondern zweifellos auch als offizieller Organisator und Vertreter der wichtigen Studentenküche in den 1920er Jahren eine verehrungswürdige Persönlichkeit gewesen ist; nicht zugelassen wurde 1924 der proponierte Verein „Narodno". 15

) Vgl. für die Immatrikulationen Tabelle 1.

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zwischen der Universität Graz und der neu gegründeten Universität Laibach gilt. So wurde im September 1920 im Ausländerausschuß angeregt, „das Generalkonsulat des SHS-Staates darauf aufmerksam zu machen, daß die Inskription der slawischen SHS-Studierenden sofort für ungültig erklärt werden wird, wenn neuerlich im SHS-Staate gegen die deutschen Staatsbürger vorgegangen werden sollte. Die den Ausländern gewährte Gastfreundschaft wird nur unter der Bedingung gewährt, daß den deutschen Volksangehörigen im betreffenden Auslande die vollen Staatsbürgerrechte zuerkannt werden. Bei Verfolgungen und Bedrückungen der Deutschen im Auslande wäre sie sofort nicht mehr zu gewähren und die ausländischen Studenten darauf aufmerksam zu machen" 16 ). Die Zahl der Hörer aus Jugoslawien veränderte sich nicht ganz so drastisch wie jene der Bulgaren oder der Rumänen. Wohl aber änderte sich ihre Herkunft: während die Namen anfänglich hauptsächlich, ja fast ausschließlich deutsch waren, findet sich unter den 109 Namen jugoslawischer Studierender an der Medizinischen Fakultät im Sommersemester 1926 kein einziger deutscher Name. Sehr aufschlußreich — hier aber nur am Rande zu erwähnen — ist die Herkunftsangabe der jugoslawischen Studierenden hinsichtlich ihres Heimatlandes; während anfangs die Nennungen der alten Landesbezeichnungen aus der Monarchie weitaus überwiegen, wandelt sich das Bild nach der Mitte der zwanziger Jahre langsam, bis die Existenz des jugoslawischen Staates auch in diesem Rahmen ihren Ausdruck findet. Die Studenten aus Jugoslawien haben an der Universität Graz 15 Vereine gegründet, von denen 7 allgemein „südslawisch" (das Wort „jugoslawisch" durfte lange nicht verwendet werden), 5 slowenisch, 2 kroatisch und einer serbisch gewesen sind17)- Mit diesen Vereinen sind keine Schwierigkeiten aufgetreten — sieht man von einem Fall, der sich an einem Ereignis in Jugoslawien entzündete, ab.

u

) UAG, Akten der Ausländer-Inskription 1920/21. ) Es waren dies: der „Südslawische-akademische Verein" (gegründet im Mai 1921), der „Bund südslawischer Hochschüler in Graz" (gegründet 1923 und offenbar bis in die NS-Zeit bestehend), die „Literarische Vereinigung der südslawischen Studenten an den Grazer Hochschulen" (gegründet 1925), der „Serbisch literarisch-akademische Verein ,Srbadija'" und der „Südslavisch-akademische Verein in Graz", gegründet 1921, 1932 Selbstauflösung und Uberführung in den „Südslavisch-akademischen Verein ,Triglav'", der der zweite dieses Namens in Graz war; offenbar nicht tatsächlich ins Leben getreten ist der 1934 proponierte „Verein jugoslawischer Studenten" — diese Vereine haben eine Generation älterer, in der Monarchie begründeter und zumeist im Ersten Weltkrieg zu1;

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3. Übrige Slawen Neben den schon erwähnten Gruppen kamen aber auch Studenten anderer slawischer Provenienzen in unterschiedlicher Zahl nach Osterreich: Polen, Ruthenen, Ukrainer und Russen 18 ). Ihre Zahl ist nie ins Gewicht gefallen, aber auch sie haben ihre Vereine gegründet, sich als Gruppen zu artikulieren und zu erhalten versucht — so gab es vier ukrainische, drei russische, drei polnische und einen ruthenischen Verein an der Universität Graz 19 ). Sie sind wie andere Vereine auch nur dann den Behörden wirklich interessant geworden, wenn sie Post aus Moskau erhalten haben 20 ). 4. D i e Rumänen Die Studierenden aus Rumänien stellten in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre ein erhebliches Kontingent 21 ). Sie zerfielen freilich ebenso wie ihre jugogrunde gegangener südslawischer Vereine abgelöst, die 1919—1922 bei diversen Revisionen des Vereinswesens wegen Nichtbetätigung polizeilich aufgelöst wurden (es waren dies der „Krankenunterstützungsverein slowenischer Hochschüler in Graz", um den sich Murko bemühte, der Unterstützungsverein akademischer slowenischer Hochschüler, der slowenisch katholische akademische Verein „Zarja", der kroatisch-katholische akademische Verein „Preporod", der südslawische Medizinerverein, der kroatisch-akademische literarisch gesellschaftliche Verein „Hrvatska", der Klub fortschrittlicher slowenischer Akademiker in Cilli, der slovenisch-akademische technische Verein „Tabor" und der akademische technische Verein „Triglav" — die beiden letzteren dürften ihr Schwergewicht wohl an der Technischen Hochschule gehabt haben); UAG, Vereinsakten. 18 ) Die „größte" Gruppe bildeten die Polen in den Jahren 1928 —1933 mit maximal 20 Inskriptionen pro Semester. " ) Die ukrainischen Vereine waren: der „Ukrainische Studenten-Verein Sitsch in Graz" (dieser Verein bestand auch an anderen Hochschulen), von dem sich 1924 die „Professionelle Organisation der ukrainischen Studenten .Ukraina'" mit der Begründung abspaltete, daß „Sitsch" in Wahrheit ein politisch-nationaler Verein sei, und aus dem auch 1925 der Verein „Wilna Hromada" ( = Freier Bund) hervorging, und die 1934 begründete Ukrainische F. Tschernyk-Pfadfindergruppe; ein Vorgängerverein war der 1922 aufgelöste „Ukrainisch freiheitliche Studentenverein". Die russischen Vereine waren: die Lesehalle der Studierenden aus Rußland in Graz, der Verein akademischer Jugend aus Rußland „Razswjet", der Sportklub akademischer Jugend aus Rußland. Polnisch waren: der 1886 gegründete und 1922 aufgelöste „Polnisch akademische Verein ,Ogrisko"', der 1934 gegründete und offenbar bis 1939 bestehende polnische Studentenverein „Sarmatia". Ruthenisch war die zeitlich nicht einzuordnende ruthenisch-akademische Landsmannschaft „Sic", die sich als Nachfolgeverein von „Rusj" verstand. 20 ) Solches wurde 1932 in bezug auf den bulgarischen Verein „Sosnanie" der Sicherheitsbehörde gemeldet. 21 ) Die Rumänen frequentierten vornehmlich die Medizinische Fakultät und waren durchgehend bis 1938 vertreten; die Zahl der Inskriptionen schwankt zwischen einigen wenigen und über 30 in den Wintersemestern 1922/23 und 1929/30. Zu den Immatrikulationen siehe Tabelle 1, zu den Abschlüssen die Tabellen 2—4.

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slawischen Kollegen in zwei Gruppen, in jene, die sich im „Karpathendeutschen Hochschülerverein", im „Siebenbürgisch-sächsischen" und dann im „Bund südostschwäbischer Hochschüler" trafen, und in jene, die Mitglied des „Rumänisch-akademischen sozialliberalen Vereines .Carmen Sylva'" waren, der von 1897 bis zu seiner Selbstauflösung 1935 in Graz existierte 22 ). Die überwiegende Mehrheit der Rumänen frequentierte wie die Südslawen die Medizinische Fakultät, deren Hörerzahl in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre enorm hoch war. 5. Auslandsdeutsche Aus all den bisher erwähnten Ländern des vom gewaltigen Umbruch erschütterten europäischen Ostens und Südostens kamen natürlich auch Studenten deutscher Herkunft, deren Zahl nur in sehr mühseliger Arbeit zu erfassen ist und die sich nur teilweise in spezifischen Gruppen — wie etwa die Siebenbürger — fanden, da sie vielfach wohl in den alten traditionellen CV-, KV- und burschenschaftlichen Vereinigungen Anschluß fanden. Ihr gemeinsames Dach war aber die 1921 gegründete „Vereinigung ausländischer Studierender", zu deren erklärtem Vereinsziel u. a. die Pflege der Beziehungen zum Mutterlande zählte 23 ). 6. „Nichtarier" Wie bereits erwähnt, war die Grundtendenz an der Universität Graz von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an ausgeprägt deutschnational. Etwa ab den späten siebziger Jahren lassen sich deutliche Kristallisationspunkte des Antisemitismus in diesem Bereich feststellen. Auch nach 1918 haben bedauerlicherweise diese Strömungen ihre Wirksamkeit nicht verloren. Wie ich bereits erwähnt habe, wirkte im Ausländerausschuß auch der damalige Kanzleidirektor des Rektorates, dessen Wirksamkeit ihren Höhepunkt in der nationalsozialistischen Zeit erreicht hat; er war jedoch, das muß ausgesprochen sein, keineswegs der einzige, der antisemitische Tendenzen vertrat. Im Sommer 1921 schon wurde mit Befriedigung festgestellt, daß es gelungen sei, „den vielfach geäußerten Wünschen der einheimischen Studenten-

") Der Verein „Carmen Sylva" strich 1930 die Bezeichnung „sozialliberal" aus seinem Namen und führte Satzungsänderungen durch; der Verein führte wie viele andere auch Farben (rot-gold-blau). ") Es gab natürlich auch Vereine deutschen Charakters, die sich nicht aus den Territorien der Monarchie rekrutierten: den zeitlich wohl in der Zwischenkriegszeit anzusiedelnden „Verband studierender Balten in Graz", die 1929/30 existierende deutsch-baltische akademische Verbindung „Fraternitas Hanseatica", die sich 1930 selbst auflöste, und den „Akademischen Verein Lettländischer Studierender in Osterreich, Sektion Graz", dessen Gründung 1930 aus formaljuridischen Gründen offenbar nicht gelang und erst 1932 erfolgte.

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schaft auf Nichtaufnahme von Studierenden, welche sich mit dem überwiegenden Teile unserer Studentenschaft nicht verträgt", zu entsprechen, „ohne dadurch die Frequenzzahl der Universität herabzudrücken" 24 ). Diesen hier angedeuteten Grundsätzen entsprachen denn auch die Namen jener Studenten, deren Aufnahmegesuche zu befürworten der Ausschuß nicht imstande war. Im Sommer 1919 waren von 559 Medizinern nur 22 Juden. Als allerdings 1924/25 die Ausländerimmatrikulationen deutlich zurückgingen und erkennbar wurde, daß die Frequenz merklich sinken würde, und als auch die persönliche Zusammensetzung des Ausschusses sich endlich änderte, befand man, gegen die Aufnahme (einiger weniger) jüdischer Studierender „keinen Einwand zu erheben" — obwohl der Kanzleidirektor vorsorglich die Mitglieder dieses Gremiums darauf aufmerksam gemacht hatte, daß die Bewerber — deren Namen eher unauffällig waren — „Protektionskinder des Landesrabbiners Herzog sind". Allerdings wurde diesen Bewerbern offenbar deutlicher als anderen zu verstehen gegeben, „daß sie ihre Rigorosen seinerzeit an einer heimatlichen Universität abzulegen haben werden". Nicht alle haben sich diese Behandlung gefallen lassen, vor allem nicht ein Student mit „rein deutschem" Namen, der wohl nur deshalb Schwierigkeiten bekam, weil sein Vater für Jugoslawien optiert hatte. Dieser Mann wurde zum „Fall" — er hat lange in Graz studiert. Gegen Ende der zwanziger Jahre und in den dreißiger Jahren ist die Zahl der Studierenden aus Ostgalizien und auch die aus den USA gestiegen — in beiden Gruppen gab es einen erheblichen Anteil von Studierenden jüdischer Abstammung 25 ). Das Leben der jüdischen Studenten in Graz war zweifellos nicht sehr angenehm: Die übermächtige, national ausgerichtete Deutsche Studentenschaft beherrschte die Stadt. Die in der Regel nationalen Gruppen aus den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie haben sie wohl auch nicht in ihren Reihen geduldet. So ist es zu verstehen, daß die jüdischen Studenten in Graz trotz ihrer geringen Zahl zwei Vereine gründeten, ein dritter ist Ende 1937 wohl nicht mehr zustandegekommen: 1924 wurde die „Jüdisch-akademische Vereinigung der Studenten und Studentinnen beider Hochschulen in Graz" gegründet, und 1935 erschien — geradezu als contradictio in se — die farbentragende und schla24 ) Darauf führte man auch 1922 zurück, daß es „in den vergangenen Semestern auch gelungen [ s e i , . . . ] die Ruhe und Ordnung auf der Universität aufrecht zu erhalten und [dennoch] die Frequenzzahl unserer Hochschule gegenüber dem Friedensstande ganz bedeutend zu erhöhen". — UAG, Akten der Ausländer-Inskription. 25 ) Die Mehrheit der Studierenden aus den USA, aber auch ein Teil der wenigen aus Frankreich, Argentinien etc. stammenden Studenten dürfte dem Namen nach jüdischer Herkunft gewesen sein.

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gende „Jüdisch-akademische Verbindung Charitas", die es unternehmen wollte, den national-antisemitischen Bedrängern Paroli zu bieten 26 ). 7. Sonstige Ausländer In Graz haben in der Zwischenkriegszeit Studenten aus etwa 45 Nationalitäten bzw. nationalen Gruppierungen und 25 Staaten studiert; einige weitere Gruppen seien hier aufgezählt: die Ägypter, die 1923 schon einen Verein gegründet haben, die Iraker, die Albaner, die Türken, die Griechen mit mehreren Vereinen, die Tschechen, die Italiener und Perser 27 ). Ein Problem für sich stellten die Aufnahmeansuchen der Studierenden aus Ländern der Siegermächte dar 28 ). Am heikelsten lag die Sache bei den Italienern. Aus Italien kamen anfangs zwar viele Studierende, aber eben aus Görz, Triest und dem Küstenland, also Bewohner aus Gebieten der einstigen österreichisch-ungarischen Monarchie. U m 1923/24 kamen auch italienische Staatsbürger mit italienischen Namen. Und als diese 1923/24 eine akademische Vereinigung mit dem Namen „Gruppo Goliardi" gründen wollten, die sofort als faschistisch eingestuft wurde, brach ein Entrüstungssturm der Deutschen Studentenschaft los, der den Senat bewog, dieser von der Steiermärkischen Landesregierung — zwangsläufig — genehmigten Gruppe auf akademischen Boden die Anerkennung zu verweigern 2 '). 26 ) Schon in der Monarchie hatte es in Graz drei jüdische akademische Vereine gegeben: Achduth, Emunah und Herzlia. — Zur Charitas vgl. Dieter A. Binder: J. A. V. Charitas Graz 1929 — 1938. Ein Beitrag zum Problem des Farbenrechts jüdisch-akademischer Verbindungen auf österreichischem Hochschulboden. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 10. 1978. S. 2 8 5 - 2 9 4 . 2? ) Es seien hier noch folgende Vereine erwähnt: der 1923 begründete und erst 1940 aufgelöste „Verein der Ägyptischen Studierenden beider Grazer Hochschulen", der zeitweise durch wilde Schismen (1934 bestand der Verein aus nur drei Mitgliedern, die acht anderen Ägyptern den Beitritt verwehrten) erschüttert wurde, der „Verein griechischer Hochschüler in Graz .Hellas'" (gegründet 1924, 1935 noch existent, 1927 aus 11 Medizinern und drei Chemikern bestehend) und der 1937 proponierte „Arabische Bund zu Graz", der im gleichen Jahr als „Bund Hochschulstudierender arabischer Volkszugehörigkeit" ins Leben trat. 2S ) Der Artikel 228 des Vertrages von Saint-Germain, der allerdings nur von der freien Berufsausübung für Handwerker, Handel und Gewerbe spricht, ist damals als Grundlage für eine bedingungslose Verpflichtung zur Aufnahme von Studenten aus den Siegerstaaten interpretiert worden. — Wichtig war in diesem Zusammenhange, daß der österreichische Staat und die Landesregierungen stets betonten, daß sie mit keinem der Nachfolgestaaten sich im Kriegszustand befunden hätten, daß diese also als neutrales Ausland zu betrachten seien, womit die Universitäten den Studierenden aus diesen Ländern gegenüber freie Hand hatten. 29 ) Der Gruppo Goliardi hatte die Devise „Per aspera ad astra", sein Obmann führte einen deutschen Namen und dürfte wohl Südtiroler gewesen sein. — Zeitlich nicht einzuordnen ist die „Italienische katholische Studentenverbindung", die aber wohl ebenso wie der 1915 aufgelöste „Circolo studentesco ,Carducci Giosue'" schon in der Monarchie bestanden hat, UAG Vereinsakten.

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Man hat damals allen ausländischen Studenten jegliche politische Betätigung auf österreichischem Boden untersagt; ganz besonders aber legte man den Studierenden der Siegermächte nahe, vorsichtig zu sein. Bezüglich eines Franzosen, dem man — in Entsprechung des Artikels 228 des Vertrages von Saint-Germain, über dessen Interpretation man sich auch in Osterreich selbst nicht ganz einig war, — im September 1923 die Aufnahme auf die Dauer eines Semester gewährte, bat der Ausländerausschuß das Philosophische Dekanat, „den Studierenden mit Rücksicht auf die herrschenden Spannungen zwischen dem deutschen und dem französischen Volke darauf aufmerksam zu machen, daß er sich von jeder politischen Betätigung in Graz fernehalten und in seinem Verkehr mit der deutschen Studentenschaft sich entsprechend verhalten möge, damit sein Betragen zu keinerlei Klagen Anlaß geben kann" 30 ). 8. Die Deutschen „Die Jugend hat das österreichische Heidelberg' entdeckt. 620 Studenten aus dem Deutschen Reich waren während des Sommersemesters 1932 an der Universität der zweitgrößten Stadt Österreichs eingeschrieben und wüßten nun, daß Graz wirklich nicht in Böhmen liege, wie ihnen daheim so oft versichert worden sei." Nach dem Schwung und der Wärme des Genius loci, nach der Farben- und Waffenfreude der Grazer Jugend könnten sie sich nun diese in ihrem grünen Bergversteck vereinsamte Musenstadt mitten ins Herz Deutschlands hineindenken. „Freier ist der Bursch nirgends mehr, und selten ist ihm ,der Philister noch so gewogen' wie h i e r . . . " , wie in dieser Stadt, in der die „deutsche Treue der österreichischen Jugend" nach „jahrtausendlangem Kampf gegen Avaren und Türken und Slawen" demonstriert wird wie nirgendwo, die „der Studentenwanderung nach Osterreich" den wahren „deutschen Sinn" gibt — so jedenfalls empfand es ein Journalist der Münchener Zeitung im November 193231). Der Zug nach Österreich hatte freilich viel früher und eher unauffällig begonnen — er läßt sich wegen der Vielschichtigkeit des Begriffes „deutsch" in dieser Zeit nur schwer quantitativ feststellen. Die Masse der deutschen Studenten belegte an der Medizinischen Fakultät 32 ). Die deutschen Studenten kamen nicht nach Graz, um hier — wie etwa die Bulgaren — möglichst einen erheblichen Teil ihres Studiums zu absolvieren, sondern sie kamen in der Regel für ein bis zwei Sommersemester, und dies vielleicht nicht primär des Studiums wegen. Die Immatrikulationszahlen und die 30

) UAG, Akten der Ausländer-Inskription. ) Münchener Zeitung Nr. 305/306 vom 5./6. November 1932, S. 22. 32 ) An der Medizinischen Fakultät lag die Zahl der ausländischen Studierenden ab 1921 bis 1933 durchwegs höher als die der inländischen. 31

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Z a h l der P r o m o t i o n e n deutscher H ö r e r — v o r allem der M e d i z i n e r — zeigen dies deutlich 3 3 ). A b e r selbst der U m s t a n d , d a ß der d e u t s c h e R u n d f u n k a m 19. O k t o b e r 1931 im g a n z e n R e i c h s g e b i e t die N a c h r i c h t verbreitete, d a ß die U n i v e r s i t ä t G r a z gesperrt w ü r d e — eine G e f a h r , die tatsächlich g e g e b e n war, — hat nicht zu einer wesentlichen V e r r i n g e r u n g des d e u t s c h e n Z u s t r o m s g e f ü h r t 3 4 ) . D i e rasche R a d i k a l i s i e r u n g , die K r a w a l l e und U n r u h e n auf den

Hoch-

schulen u n d die politischen E r e i g n i s s e des J a h r e s 1933 h a b e n d e m A n s t u r m der d e u t s c h e n S t u d e n t e n auf die Universität G r a z ein E n d e bereitet. D a s V e r b o t der N S D A P , die V e r p f l i c h t u n g s e r k l ä r u n g der Studenten, keiner a u s l ä n d i s c h e n politischen O r g a n i s a t i o n a n z u g e h ö r e n , und vor allem ein g a n z neues und un33 ) Siehe dazu die Tabellen 1—4. Besonders aufschlußreich ist die folgende Statistik der Ausländerinskriptionsbewilligungen an der Medizinischen Fakultät:

Semester

"WS SS WS SS WS SS

1930/31 1931 1931/32 1932 1932/33 1933

deutsche Hörer

nichtdeutsche Hörer

alt

neu

alt

neu

21

88 261 129 326 111 302

49 87 59 47 67 39

49 22 38 19 32 9

?

20 15 25 11

Viel weniger drastisch ist das Bild an der Philosophischen Fakultät: Semester

WS SS WS SS WS SS

1930/31 1931 1931/32 1932 1932/33 1933

deutsche Hörer

nichtdeutsche Hörer

alt

neu

alt

neu

69 77 86 80 68 47

76 126 68 113 55 69

51 78 76 78 64 47

29 19 27 7 14 6

Die Zahl der Promotionen von Studenten aus Deutschland ist minimal: insgesamt wurden zwischen 1918 und 1934 nur 22 Mediziner aus Deutschland promoviert; an der Philosophischen Fakultät erlangten 55 Kandidaten aus Deutschland das Doktorat. — Zweifellos wies die Medizinische Fakultät z. T . hervorragende Fachvertreter auf; Pregl — dessen Laboratorium früher einen Anziehungspunkt dargestellt hatte — lebte zur Zeit des Höhepunktes des deutschen Zustroms allerdings nicht mehr. 34 ) Die Universität Graz bzw. ihre Philosophische Fakultät waren in der Zwischenkriegszeit mehrmals in ihrer Existenz gefährdet.

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gleich rigoroseres Zulassungsverfahren unter staatlicher Kontrolle ab dem Sommer 1933, das speziell auf die Deutschen abzielte, hat die Zahl der Hörer aus Deutschland unvermittelt nahezu auf Null sinken lassen. Damit war aber auch die große Zeit des Ausländerstudiums in Graz vorüber. Der Strom aus den Nachfolgestaaten war versiegt, Bulgarien besaß eine eigene medizinische Fakultät, die neue politische Ordnung war einigermaßen stabilisiert, die allgemeine Fluktuation und Migration nahm ab. Und Osterreich war wohl seit der Dominanz der deutschnationalen und schließlich nationalsozialistischen Studenten und insbesondere nach den Ereignissen von 1933 und 1934, die starke Restriktionen mit sich brachten, auch nicht mehr so interessant. So konnte man an den Universitäten nicht mehr wählen, man mußte sich bemühen. 1931 schon — also noch auf dem Höhepunkt des deutschen Zustroms — war es unter der Führung der Kammer der Deutschen Studentenschaft beider Grazer Hochschulen zur Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft deutscher und ausländischer Studierender" gekommen, an der sich eine stattliche Reihe ausländischer Studentenvereine beteiligte35). 1933 wurde, nach der Auflösung der Deutschen Studentenschaft, in Wien der „Österreichisch-Ausländische Studentenklub" gegründet. Es wurde diese Gründung auf die Basis des christlichen Studentenweltbundes in Genf gestellt; sie verfolgte mit Hilfe von Professoren der Universität Wien den Zweck, „die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den österreichischen und ausländischen Studenten zu fördern und zu pflegen, die ausländischen Kommilitonen in das kulturelle und soziale Leben Österreichs einzuführen und das Verständnis der österreichischen Studenten für andere Nationen durch persönliche Berührung mit den Ausländern zu erweitern und zu vertiefen" 36 ). 1935 hat dieser Verein, der sich bewußt und ausgesprochenermaßen auch als eine der damals zahlreichen internationalen Werbeaktionen für Osterreich verstanden hat, eine Zweigstelle in Graz gegründet, um die sich vor allem der Slawist Heinrich Felix Schmid sehr bemüht hat, der ja auch Zweigstellenleiter der Vaterländischen Front war. Die Konstituierung dieser Zweigstelle wurde unter Mitwirkung eines rumänischen, eines ägyptischen, eines griechischen, eines bulgarischen, eines ukrainischen, eines polnischen, eines ungarischen, eines slowenischen und eines jugoslawischen Studentvereines durchgeführt, da sich der 35

) Bericht der Kammer an das Rektorat vom 29. Jänner 1931 in UAG, Vereinsakten; beteiligt waren: die „Professionelle Organisation ukrainischer Studenten ,Ukraina'", der „Grazer ungarische Akademikerverein", der mazedonisch-akademische Verein, der rumänische Verein „Carmen Sylva", der südslavisch-akademische Verein, der ukrainische Studentenverein „Sitsch", der Verein ägyptischer Studenten, der bulgarische Verein „Balkan", der griechische Verein „Hellas", der Verband albanischer Studierender und der Verband litauischer Studierender. 36 ) UAG, Vereinsakten.

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Österreichisch-Ausländische Studentenklub nicht als Konkurrenzvereinigung zur Absorbierung der nationalen Vereine, sondern als H i l f e bietende Dachorganisation verstanden wissen wollte. Viel Zeit und viel Wirksamkeit war diesen Bemühungen nicht mehr beschieden — dann haben die Zeiten sich geändert und es ist zu einer neuen Migrationswelle weltweiten Ausmaßes g e k o m m e n . Tabelle 1 : Immatrikulationen Semester SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS SS WS

1919 1919/20 1920 1920/21 1921 1921/22 1922 1922/23 1923 1923/24 1924 1924/25 1925 1925/26 1926 1926/27 1927 1927/28 1928 1928/29 1929 1929/30 1930 1930/31 1931 1931/32 1932 1932/33 1933 1933/34 1934 1934/35 1935 1935/36 1936 1936/37 1937 1937/38

Bulgarien

19 33 1 —

208 24 14 4 30 22 30 14 15 4 11 8 8 7 14 4 9 5 18 1 13 8 2 —

2 3 5 2 12 3 6 7 15

einiger ausgewählter

Herkunftsländer

Jugoslawien

Rumänien

4 22 11 79 18 225 51 237 33 102 26 102 20 43 28 52 11 63 16 59 21 62 32 67 18 100 22 45 9 58 13 37 12 42 13 25 10 30

2 37

Deutsches Reich



40 28 53 9 30 9 21 19 30 6 31 10 18 4 22 6 22 7 40 11 17 3 25 3 10 4 9 5 9 5 3 5 9 6 3

5 12 46 12 36 24 59 23 68 49 173 47 217 54 266 141 462 196 481 174 398 28 27 21 11 5 8 21 26 19

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