Thüringen im Industriezeitalter: Konzepte, Fallbeispiele und regionale Verläufe vom 18. bis zum 20. Jahrhundert [1 ed.] 9783412513313, 9783412513290

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Thüringen im Industriezeitalter: Konzepte, Fallbeispiele und regionale Verläufe vom 18. bis zum 20. Jahrhundert [1 ed.]
 9783412513313, 9783412513290

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Stefan Gerb er, Werner Greiling, Marco Swiniartzki (Hg.)

Thüringen im Industriezeitalter Konzepte, Fallbeispiele und regionale Verläufe vom 18. bis zum 20. Jahrhundert

Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen Kleine Reihe Band 55

Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen Kleine Reihe Band 55

Stefan Gerber, Werner Greiling, Marco Swiniartzki (Hg.)

Thüringen im Industriezeitalter Konzepte, Fallbeispiele und regionale Verläufe vom 18. bis zum 20. Jahrhundert

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Dampflok, im Hintergrund Industrieanlagen, links der Geraer Mühlgraben, 1912, Fotograf: Cuno Romroth, Stadtarchiv Gera, III F 50 Nr. 0087 Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Redaktion und Satz: Dr. Marco Swiniartzki, Jena

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51331-3

Inhalt

Stefan Gerber/Werner Greiling/M arco Swiniartzki Einleitung...........................................................................................................................7

I. Industrialisierungs- und K lassenkonzepte R alf Banken Das Konzept der regionalen Industrialisierung revisited.......................................25 Tobias K aiser Protoindustrialisierung in Thüringen. Konzeptionelle Fragen vor dem Hintergrund der erfolgreichen Industrialisierung des Textilgewerbes in Apolda...............................................................................................41 Jürgen Schmidt „Im Denken, Glauben, Hoffen, Arbeiten, Genießen leben die verschiedenen Stände fast in getrennten Welten“ – wirklich? Arbeiterschaft und Bürgertum in Thüringen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts...........................................................................................65

II. Begriffe und Bilder Werner Greiling Publizistische Debatten zum Fabrik- und Maschinenwesen.................................83 Jens R iederer Leistungsschau oder Gesamtbild von Thüringens Wirtschaft? Die Zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung in Weimar 1861...................................................................................................................107

III. Staat, Stadt, Gewerbe, Unternehmer: Fallbeispiele aus Thüringen H ans-Werner H ahn Staat und Wirtschaft in der Industrialisierung Thüringens.................................147 R ita Seifert Seidengewerbe und Seidenindustrie in Thüringen.................................................165

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Inhalt

Stefan Gerber Von der reichsstädtischen Textilmanufaktur zum wirtschaftsbürgerlichen Netzwerk: Familie und Firma Lutteroth in Mühlhausen im 18. und 19. Jahrhundert..................................................................181 Frank Boblenz Zur Gründung der Firma Dreyse & Kronbiegel und zum Beginn der Frühindustrialisierung in Sömmerda 1816.........................................203 Steffen R assloff Erfurt – Thüringens erste Industriegroßstadt. Wirtschaft, Sozialstruktur und Stadtentwicklung um 1900.................................237 Ronny Schwalbe Die Chancen einer prosperierenden Stadt in der Industrialisierung. Wie Carl Louis Hirsch vom Handwerksgesellen zu einem der größten Unternehmer Geras avancierte....................................................................261

IV. A rbeiterbewegung(en) in Thüringen K arsten Rudolph Die Aufgabe der Staatsbildung. Die Thüringer Sozialdemokratie zwischen Revolution und Gegenrevolution 1918–1930........................................277 M arco Swiniartzki Die Industriegewerkschaften in Thüringen bis 1933. Entwicklungslinien, Organisationsbedingungen, Forschungsfragen................291 Rüdiger Stutz Im Banne der Zahlen. Zwei Umfragen des Deutschen MetallarbeiterVerbandes zur „objektiven Lage“ der Arbeiter in der optischen Industrie, 1927 und 1931...........................................................................325 Abbildungsnachweis......................................................................................................351 Ortsregister.....................................................................................................................353 Personenregister.............................................................................................................357 Autorenverzeichnis........................................................................................................361

Stefan Gerber/Werner Greiling/M arco Swiniartzki

Einleitung

Aus Sicht der „traditionellen“ Industrialisierungsgeschichtsschreibung handelte es sich bei der thüringischen Region in vielerlei Hinsicht um einen „Ausreißer“. Weder hatten die thüringischen Kleinstaaten und der preußische Teil Thüringens zu den Motoren der Frühindustrialisierung gehört noch konnten die Leitindustrien der Industrialisierung wie der Eisenbahnbau oder die Eisen- und Stahlindustrie hier ab Mitte des 19. Jahrhunderts Fuß fassen.1 Hinzu kamen deutliche Vorurteile gegenüber der politischen Kleinteiligkeit, der im Rahmen der Erforschung des Staat-Industrialisierungs-Zusammenhangs meistens eine Rückständigkeit bescheinigt wurde.2 Dennoch wies Thüringen – vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – ein großes wirtschaftliches Potential auf, das die Region von einem Zentrum traditioneller Gewerbezweige nicht katapultartig, sondern langsam und sukzessive ins Industriezeitalter übergehen ließ und dazu führte, dass die thüringischen Staaten um 1900 zu den am stärksten gewerblich-industriell verdichteten Räumen des Kaiserreichs gehörten.3 Die Region vollzog daher auch nicht den lange als „typisch“ apostrophierten Industrialisierungsweg eines boomartigen Wachstums, das etwa das Ruhrgebiet oder Westsachsen nach 1850 prägte – der thüringische Industrialisierungsweg gestaltete sich viel eher als evolutionäres Einsickern industrieller Produktionsmethoden in eine große Gewerbevielfalt, in der in der Folge lange eine konstante Parallelität vorindustrieller und industrieller wirtschaftlicher und sozialer Prinzipien herrschte. Es ist daher auch absolut gerechtfertigt, in Thüringen von einer

1

2

3

Als Zusammenfassung bisheriger Forschungen vgl. Hans-Werner Hahn, Thüringen im deutschen Industrialisierungsprozess. Forschungsbilanz und Forschungsperspektiven, in: Stefan Gerber/Werner Greiling/Marco Swiniartzki (Hg.), Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen in Thüringen (Materialien zur thüringischen Geschichte, 1), Köln/Weimar/Wien 2018, S. 37–53; vgl. auch Wolfgang Mühlfriedel, Die Industrialisierung in Thüringen. Grundzüge der gewerblichen Entwicklung in Thüringen von 1800 bis 1945, Erfurt 2001. Vgl. Hans-Werner Hahn, Fortschrittshindernis oder Motor des Wandels? Die thüringische Kleinstaatenwelt im 19. Jahrhundert, in: Vom Königreich der Thüringer zum Freistaat Thüringen, hg. v. Thüringer Landtag und der Historischen Kommission für Thüringen, Erfurt 1999, S. 69–92. Vgl. dazu die Tabellen 1 und 2.

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Stefan Gerber/Werner Greiling/Marco Swiniartzki

„Industrialisierung“ zu sprechen und dem Terminus der „Industriellen Revolution“ für diese Region skeptisch zu begegnen.4 Die thüringischen Staaten und den preußischen Teil Thüringens rund um Erfurt als regional geschlossenes Konstrukt der Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu interpretieren, ist historisch jedoch problematisch, da der Raum nicht nur in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht keine homogene Region, sondern eine Ansammlung zahlreicher, hoch unterschiedlicher betrieblicher, urban segregierter, lokaler und regionaler Einheiten darstellte, die auf ihre jeweils spezifische Entwicklung befragt, miteinander verglichen und auf ihren gegenseitigen Einfluss hin untersucht werden müssen. Genau wie die Textilindustrie Ostthüringens untrennbar mit Westsachsen und die Spielzeug- und Korbindustrie Südthüringens mit Franken verbunden waren, bildeten viele Regionen des heutigen Thüringens Räume verstärkter Zusammenarbeit und Verflechtung mit Gebieten anderer politischer Zugehörigkeit.5 Dass es daher wenig überzeugen kann, Thüringen in seiner heutigen Gesamtheit zur Grundlage wirtschaftshistorischer Untersuchungen zu machen, zeigt Ralf Banken (Frankfurt a. M.) in seiner Rückschau und Bewertung des Konzepts der regionalen Industrialisierung in diesem Band sehr eindrücklich. Sein Beitrag bietet dabei ein hervorragendes Beispiel für den Mehrwert einer genuin wirtschaftsgeschichtlichen Perspektive, die sich in kaum einer anderen Region so anbieten dürfte wie in Thüringen, dessen politische Grenzen bei Fragen nach der ökonomischen Transformation kaum eine Orientierung geben können. Wendet man diese Ergebnisse auf Thüringen an, ergibt sich neben der politischen auch das Bild einer wirtschaftlichen Polyzentralität, die starke Verbindungen in den mitteldeutschen Raum aufwies und Thüringen gewissermaßen zur Heimat vieler Regionen der Industrialisierung machte. Zwischen diesen wirtschaftlichen Analyseeinheiten, die thüringisches Territorium ganz oder meistens nur teilweise umfassten, bestanden noch dazu gewaltige Unterschiede bei Faktoren wie den Industrialisierungsgrundlagen, dem Tempo der wirtschaftlichen Entwicklungen sowie deren Auswirkungen. Die Industrialisierung war hier genauso wie ihre wichtigste Reaktion, die Etablierung sozialer Bewegungen, ein Phänomen mit äußerst verschiedenen lokalen Eigengeschwindigkeiten.

4 5

Zur Begriffsdebatte vgl. Hans-Werner Hahn, Die industrielle Revolution in Deutschland (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 49), München 32011, S. 51–59. Zu Regionen als „Verflechtungsbereiche“ ökonomischer Interaktion vgl. Peter Weichhart, Die Region – Chimäre, Artefakt oder Strukturprinzip sozialer Systeme?, in: Gerhard Brunn (Hg.), Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde, Baden-Baden 1996, S. 29–38, hier S. 34; Toni Pierenkemper, Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, München 22007, S. 100–112.

9

Einleitung

Tab. 1: Gewerbebetriebe und Beschäftigte in den thüringischen Staaten (1882)6

Staat

„sämmtliche Gewerbebetriebe“

Beschäftigte

Betriebe auf 10.000 Einwohner

Beschäftigte auf 10.000 Einwohner

Sachsen-Weimar

28.270

48.237

918,6

1.567,5

Sachsen-Meiningen

22.257

43.966

1.078,6

2.130,6

Sachsen-Altenburg

15.330

31.436

983,9

2.017,6

Sachsen-Coburg und Gotha

17.746

37.050

895,8

1.870,2

Schwarzburg-Sondershausen

6.717

11.648

939,4

1.629,1

Schwarzburg-Rudolstadt

7.402

15.126

912,8

1.865,3

Reuß älterer Linie

5.169

14.249

1.006,5

2.774,5

Reuß jüngerer Linie

9.086

24.519

884,9

2.387,8

Thüringen insgesamt

111.977

226.231

952,6

2.030,3

Deutsches Reich

3.609.801

7.340.789

798,2

1.623,3

Die Gewerbezählung von 1882 machte deutlich, dass die thüringischen Staaten zusammengenommen ein Raum mit einer überdurchschnittlichen Gewerbedichte waren. Sämtliche Territorien übertrafen den Reichsdurchschnitt und beim Durchschnitt der Beschäftigten blieb nur Sachsen-Weimar leicht zurück (vgl. Tab. 1). Dieser regionale Charakter hatte durchaus Tradition: Bereits 1861 waren in Thüringen pro 1.000 Einwohner 153 Personen im Gewerbe beschäftigt, womit der Raum Platz zwei hinter dem Königreich Sachsen belegte und weit über dem Zollvereinsdurchschnitt von 109 lag. Gleiches galt für die Handwerkerdichte von 86 auf 1.000 Einwohner, bei der Thüringen auf Platz eins im Zollverein lag, der einen Durchschnitt von 63 aufwies. Selbst beim großgewerblichen Personal belegte Thüringen mit 62 Personen auf 1.000 Einwohner einen Spitzenplatz über dem Schnitt von 41. Dass die Region mit 10 Dampfmaschinen-PS auf 1.000 Einwohner jedoch weit hinter dem Durchschnitt im Zollverein (29 PS) zurückblieb,7 wirft ein erhellendes Licht auf den Gewerbecharakter in Thüringen, der 1861 noch sehr stark vom Handwerk und einem Großgewerbe im Verlagssystem sowie der Hausindustrie geprägt war. Eine Industriali-

6 7

Bei diesen Zählungen sind alle Gewerbe berücksichtigt worden. Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 7 (1886), S. 52 f. Alle Angaben vgl. Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, S. 94.

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Stefan Gerber/Werner Greiling/Marco Swiniartzki

sierung im Sinne des Aufbaus „klassischer“ Fabriken erlebte die Region punktuell erst nach 1870. Traditionelle Gewerbestrukturen existierten in Thüringen spätestens seit 1870 neben mittel- und großbetrieblichen Industriestrukturen, wobei es in manchen Gegenden zu mono- oder bi-industriellen Wirtschaftsansiedlungen kam, während andere eine stark differenzierte Gewerbestruktur beibehielten. So bestand die Industrie in den Räumen rund um Gera-Greiz oder Apolda beinahe ausschließlich aus textilverarbeitenden Betrieben, Jena entwickelte sich vor allem seit der Jahrhundertwende rasant zu einem Zentrum der optisch-feinmechanischen Industrie, in Gotha dominierte der Maschinen- und Anlagenbau, Sömmerda etablierte sich bereits seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Waffenproduktionsort und in Südthüringen wurden ganze Landstriche neben der Landwirtschaft komplett von der Spielzeug- und Korbherstellung geprägt.8 Den weit bis ins 20. Jahrhundert hinein größten dieser industriellen Ballungsräume in Thüringen bildete dabei die Textilregion in und um die Städte Gera und Greiz, wo selbst kleine Orte wie Münchenbernsdorf, Triebes, Weida oder Zwötzen zwischen 1870 und 1900 zu bedeutenden Industrieorten aufstiegen. Bereits 1891 arbeiteten allein in den 122 Fabriken von Gera und Greiz etwa 20.000 Beschäftigte,9 was dazu führte, dass die kleinen Fürstentümer Reuß älterer und Reuß jüngerer Linie den Reichsdurchschnitt des Industriearbeiteranteils und der Gewerbedichte bei Weitem überschritten: 1882 kamen auf 10.000 Einwohner in Reuß älterer Linie 1.006 Gewerbe und 2.774 Beschäftigte – Anteile, die bezogen auf die Gewerbe im Kaiserreich lediglich die Großstädte und das Rheinland sowie Sachsen-Meiningen (Hausindustrie) übertrafen, während bezogen auf den Anteil an Erwerbspersonen nur Berlin, Hamburg und Bremen leicht höhere Werte aufzuweisen hatten.10 Nach der Jahrhundertwende konnten jene thüringischen Gebiete, in denen sich die Textilindustrie konzentrierte, jedoch nicht mehr an ihren Aufschwung seit der Reichsgründungszeit anknüpfen und stagnierten wie in anderen Regionen aufgrund der konjunkturellen und strukturellen Probleme dieses Industrie8

Vgl. Falk Burkhardt, Grundzüge ostthüringischer Wirtschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Werner Greiling/Hagen Rüster (Hg.), Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum?, Jena 2013, S. 193–213, hier S. 198 f., 205 f.; Ders., Gewerbe, Industrie und Industrialisierung im 19. Jahrhundert in den thüringischen Residenzen, in: Konrad Scheurmann/Jördis Frank (Hg.), Thüringen – Land der Residenzen, Bd. 3, Essays, Mainz 2004, S. 425–444, hier S. 436 f.; für Sömmerda vgl. Annegret Schüle, BWS Sömmerda. Die wechselvolle Geschichte eines Industriestandortes in Thüringen 1816–1995, Erfurt 1995; Für Jena vgl. Klaus Mütze, Die Macht der Optik. Industriegeschichte Jenas 1846–1996, Bd. 1: Vom Atelier für Mechanik zum Rüstungskonzern 1846–1946, Weimar 2004; Rolf Walter, Zeiss 1905–1945, Köln/Weimar/Wien 2000. 9 Vgl. Burkhardt, Grundzüge (wie Anm. 8), S. 201 f. 10 Vgl. Anm. 6.

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Einleitung

zweigs. Dies betraf auch den Nähmaschinenbau, der eng mit der Textilbranche verknüpft war und etwa verhinderte, dass sich Altenburg als Industriestandort etablierte. Parallel zu dieser Stagnation erlebten dagegen Regionen mit einer Gewerbestruktur, die sich aus Metall- und Bauindustrie sowie „neuen“ Industrien wie Energie, Chemie und Optik zusammensetzte, ein deutliches Wachstum bis zum Ersten Weltkrieg. Zu den Profiteuren dieses Wandels gehörten in Thüringen vor allem Saalfeld (Maschinenbau, Energie, Optik), Jena (Optik), Erfurt (Maschinen- und Anlagenbau, Schuhindustrie), Gotha (Maschinen- und Anlagenbau) und Eisenach (Fahrzeugbau). Das signifikante industrielle Wachstum Sachsen-Weimars und Sachsen-Coburg-Gothas zwischen 1905 und 1911 (vgl. Tab. 2) war besonders auf diese Verschiebungen zurückzuführen, während dabei gleichzeitig die Stagnation der Textilreviere in den reußischen Fürstentümern deutlich wird. So verzehnfachte sich in diesen Jahren etwa die Zahl der Betriebe und Beschäftigten im Baugewerbe Sachsen-Weimars und parallel dazu erlebten auch die Maschinenindustrie, der Bergbau sowie die Industrie der Steine und Erden einen erheblichen Aufschwung, der auch in Sachsen-Coburg-Gotha vor allem von der Bauindustrie und dem Maschinenbau getragen wurde. Insgesamt kamen in Sachsen-Weimar 41 % und in Sachsen-Coburg-Gotha 43 % der neuen Industriearbeiter aus diesen beiden Industriezweigen.11 Tab. 2: Industriebetriebe und Beschäftigte unter Gewerbeaufsicht (1905 und 1911)12 Staat

„Anlagen“ 1905

„Betriebe“ 1911

„Arbeiter“ 1905

„Arbeiter“ 1911

Sachsen-Weimar

598

2.027

26.549

45.897

Sachsen-Meiningen

700

1.100

31.749

33.795

Sachsen-Altenburg

927

1.291

27.115

32.036

Sachsen-Coburg-Gotha

619

1.324

20.600

29.339

Schwarzburg-Sondershausen

259

422

7.660

10.341

Schwarzburg-Rudolstadt

202

403

8.364

11.113

11 Berechnung der Verfasser nach: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 28 (1907), S. 48 f.; vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 34 (1913), S. 64 f. 12 Vgl. ebd.

12

Stefan Gerber/Werner Greiling/Marco Swiniartzki Reuß älterer Linie

219

267

12.406

13.845

Reuß jüngerer Linie

724

870

23.085

25.803

Insgesamt

4.248

7.704

157.528

202.169

Neben thüringischen Städten und Regionen mit einem klaren industriellen Schwerpunkt wiesen etwa Städte wie Gera, Erfurt oder Altenburg sowie der größte Teil Westthüringens eine wesentlich höhere Gewerbevielfalt auf, die sich nicht nur auf traditionelle Handwerkszweige beschränkte, sondern auch mit dem Aufstieg gleich mehrerer Industriebranchen verbunden war. Dazu zählten etwa der Maschinenbau und die Nahrungsmittelindustrie, die in Gera bestehende textilindustrielle Strukturen erweiterten, während sich in Erfurt Großbetriebe der Waffen-, Bekleidungs- und vor allem Schuhindustrie etablierten und Altenburg nach 1870 einen raschen Aufschwung der Nähmaschinenindustrie sowie der polygraphischen-, Bekleidungs-, Tabak- und Textilbetriebe erlebte.13 Der teilweise weit überdurchschnittliche Anteil, den Industrie, Handel und Verkehr in fast allen thüringischen Kleinstaaten einnahmen (vgl. Tab. 3), ergab sich maßgeblich aus diesen dezidiert industriellen Wirtschaftsschwerpunkten, in denen groß- und oft auch riesenbetrieblich produziert wurde. Allein in den drei Altenburger Nähmaschinenfabriken waren im Durchschnitt des Jahres 1908 beispielsweise 1.433 Lohnarbeiter beschäftigt, während in der Waffenfabrik Dreyse & Collenbusch in Sömmerda bereits 1866 mehr als 1.000 Personen arbeiteten. In der Königlich Preußischen Gewehrfabrik in Erfurt überschritt man diese Marke 1876, in der Geraer Färberei und Appretur von Louis Hirsch 1890 und bei Carl Zeiss in Jena etwa 1900.14 Parallel zu diesen industriellen Strukturen hielt sich in einigen thüringischen 13 Für Gera vgl. Ute Heckmann, Der Siegeszug der Maschine. Zu Voraussetzungen und Verlauf der Industrialisierung im 19. Jahrhundert in Gera, in: Geraer Hefte 1 (2003), S. 97–118, hier S. 111–116; für Altenburg vgl. Fritz Sagel, Die Altenburger Nähmaschinen-Industrie, Altenburg 1910, S. 1 sowie Burkhardt, Gewerbe (wie Anm. 8), S. 435; für Erfurt vgl. Jürgen Schmidt, Begrenzte Spielräume. Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870 bis 1914, Göttingen 2005, S. 31–36. 14 Für Altenburg vgl. Sagel, Die Altenburger Nähmaschinen-Industrie (wie Anm. 13), S. 31; für Sömmerda vgl. Frank Boblenz, Vom separaten Firmengelände zum Industriepark Sömmerda. Zu den Industriebauten der Firmen Dreyse, Rheinmetall, Zentronik und Robotron, in: Heimat Thüringen 22 (2015) H. 1–2, S. 45–48, hier S. 46 f.; zu Erfurt vgl. Werner Limbrecht, Kgl. Preuss. Gewehrfabrik Erfurt. Ein geschichtlicher Abriss, Bad Langensalza 22017, S. 23 f.; für Gera vgl. Heckmann, Siegeszug (wie Anm. 13), S. 110; für Jena vgl. Armin Müller, Eintrag: Carl Zeiss, Jena. 1846–1948, in: Mathias Mieth/Rüdiger Stutz (Hg.), Jena. Lexikon zur Stadtgeschichte, Berching 2018, S. 118 f., hier S. 119.

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Einleitung

Gebieten jedoch lange eine erfolgreiche kleinindustrielle Fertigung, die vor allem aus metall-, holz- und textilverarbeitenden Zulieferbetrieben bestand, häufig hausindustriell organisiert wurde und besonders rund um Suhl und Mehlis, Schmalkalden sowie im Meininger und Eisenacher Oberland stark konzentriert war.15 Thüringen wies durch dieses Nebeneinander noch weit bis in das 20. Jahrhundert hinein eine äußerst hohe Bandbreite an regionalen Gewerbearten und -größen auf. So betrug die durchschnittliche Betriebsgröße der Unternehmen im Bezirkstarif der Thüringer Metallindustrie im Jahre 1924 zwar nur 38 Beschäftigte, doch setzte sich dieser Wert aus lokal großen Unterschieden zusammen: In Sömmerda waren es etwa 579, in Jena 356, in Gotha 143, in Erfurt 100 und in Eisenach 88, während in Suhl nur 17 und in Schmalkalden nur 12 Arbeiter und Arbeiterinnen pro Betrieb beschäftigt wurden.16 Trifft das gerne bemühte Bild der Thüringer Kleingewerblichkeit daher für den Durchschnitt auch zu, wird diese Interpretation unter Zugrundelegung wirtschaftlicher Grenzziehungen sehr schnell korrigiert. Tab. 3: Verhältnis der Wirtschaftssektoren in den thüringischen Staaten 190717 Staat

Industrie, Handel und Verkehr

Landwirtschaft

Reuß älterer Linie

76 %

13 %

Reuß jüngerer Linie

70 %

17 %

Sachsen-Altenburg

67 %

22 %

Sachsen-Meiningen

65 %

24 %

Sachsen-Coburg-Gotha

63 %

23 %

Schwarzburg-Rudolstadt

62 %

25 %

Schwarzburg-Sondershausen

58 %

29 %

Sachsen-Weimar

55 %

30 %

Reichsdurchschnitt

56,1 %

28,6 %

Glich der thüringische Raum aufgrund seiner ökonomischen Vielfalt und der großen inneren Differenzierungen einem Mikrokosmos der Wirtschaftsentwicklung des 18. bis 20. Jahrhunderts, in dem sich verschiedene Industrialisierungswege räumlich komprimiert zeigten, trifft dies für die sozialen Folgen die15 Vgl. Emanuel Sax, Die Hausindustrie in Thüringen, Bd. 1: Das Meininger Oberland, Jena 1885, Bd. 2: Ruhla und das Eisenacher Oberland, Jena 1884. 16 Vgl. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1924. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, hg. v. Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1925, S. 88. 17 Aufstellung nach Sagel, Die Altenburger Nähmaschinen-Industrie (wie Anm. 13), S. 45– 47.

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Stefan Gerber/Werner Greiling/Marco Swiniartzki

ser Prozesse umso mehr zu. So bildeten die thüringischen Staaten einen frühen Schwerpunkt der Arbeiterbewegung – etwa in den Erinnerungsorten der deutschen Sozialdemokratie in Eisenach, Gotha und Erfurt – und umfassten einige der ersten Gewerkschaftshochburgen im Kaiserreich.18 Parallel dazu existierten jedoch auch konstant Räume wie das Eichsfeld oder der Thüringer Wald, die innerhalb der Arbeiterbewegung geradezu zu Synonymen für Organisationslosigkeit und politischen Misserfolg avancierten. Erhebliche Unterschiede in den lokalen Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnissen, der lebensweltlichen Alltagswirklichkeit sowie den dörflichen, urbanen und religiösen Verfassungen führten auch zu immensen Unterschieden bei den Organisationsgrundlagen sozialer Bewegungen. In all diesen Fällen erwiesen sich die Industrialisierung und die mit ihr einhergehenden Umwälzungen als spannungsreiche Prozesse zwischen grundlegenden Veränderungen und großen Beharrungskräften, die sich lokal in unterschiedlichen Konstellationen aneinander rieben, aber auch durchaus Verbindungen eingehen konnten – man denke nur an das Beispiel der bis in die 1920er Jahre bedeutenden Heimarbeit und Hausindustrie, die häufig in direktem Zusammenhang mit der industriellen Fertigung stand und eine (trotz kapitalistisch-industrieller Durchdringung) vollkommen andere soziale Logik aufwies als die Arbeits- und Machtverhältnisse in den städtischen Industriebetrieben.19 Thüringen bildete im 19. Jahrhundert eines der wichtigsten heimgewerblichen Zentren des Kaiserreichs, dessen Verlagssysteme seit Mitte des Jahrhunderts noch einmal an Reichweite zunahmen und in dem sowohl „alte“ wie „neue“ Hausindustrien als auch alle Typen an Heimgewerbetreibenden vorhanden waren.20 Leider wurde bisher weder der Geschichte der Industrialisierung und des Heimgewerbes noch der Geschichte der sozialen Bewegungen in Thüringen eine besondere Aufmerksamkeit der historischen Forschung zuteil. Zwar ist in den letzten Jahren ein vorsichtiger Aufschwung zu beobachten, der seinen Ausdruck in einer Reihe verdienstvoller Einzelstudien gefunden hat,21 doch existie18 Vgl. Karsten Rudolph, Frühgeschichte der Arbeiterbewegung in Thüringen, Erfurt 2011; Ders., Die Thüringer Arbeiterbewegung vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik, Erfurt 2018; Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 698–711; Marco Swiniartzki, Apolda versus Altenburg. Die thüringische Metallarbeiterbewegung in den 1890er Jahren, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 72 (2018), S. 125–145. 19 Vgl. Johann Peter Baum, Die wirtschaftliche Entwickelung des Obereichsfeldes in der Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung der Hausindustrie, Berlin 1903; Sax, Die Hausindustrie in Thüringen (wie Anm. 15). 20 Vgl. Kocka, Arbeitsverhältnisse (wie Anm. 6), S. 223–293. 21 Vgl. z. B. Jürgen Schreiber, Uhren – Werkzeugmaschinen – Rüstungsgüter. Das Familienunternehmen Gebrüder Thiel aus Ruhla 1862–1972, Köln/Weimar/Wien 2017; Steffen Kachel, Ein rot-roter Sonderweg? Sozialdemokraten und Kommunisten in Thüringen 1919 bis 1949, Köln/Weimar/Wien 2011.

Einleitung

15

ren bislang keine Forschungen, die den thüringischen Raum in seiner vielschichtigen historischen Bandbreite betrachten und als wichtigen Teil der mitteldeutschen Gewerbe- und Industriegeschichte einordnen. In diesem Zusammenhang versteht sich der vorliegende Sammelband als erster wichtiger Schritt zur Schließung dieser schmerzlichen Forschungslücke und als Versuch, bestehende Forschungen zu bündeln und zu kontextualisieren. Gleichzeitig sollen die theoretischen und konzeptionellen Angebote der Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf ihren Mehrwert für dieses Forschungsfeld überprüft werden. Der Sammelband geht aus einer geschichtswissenschaftlichen Tagung hervor, die im Rahmen des Themenjahres „Thüringens Aufbruch in die Moderne. Industrialisierung und soziale Bewegung“ im Juni 2018 in Pößneck veranstaltet wurde. Die Gesamtschau und Vielfalt der hier präsentierten Beiträge macht es erstmals möglich, die ausgeprägte Binnendifferenzierung Thüringens im Industrialisierungsprozess nachzuzeichnen und den Vergleich zu anderen Wirtschaftsräumen anzustoßen. Darüber hinaus korrigieren die Beiträge gängige Klischees über die ökonomische Entwicklung Thüringens und ordnen die Region als wichtigen Bestandteil des deutschen Industrialisierungsprozesses ein. Gleichzeitig ermöglicht es der zeitliche Rahmen des Bandes, historische Phasenverschiebungen zu erkennen, und die hier versammelten Aufsätze aus unterschiedlichen zeitlichen, räumlichen und thematischen Perspektiven vermitteln erstmals ein Bild von der historischen Vielschichtigkeit des thüringischen Raums und der anhaltenden Attraktivität des Industrialisierungskonzepts für die Forschung.22 Ein weiteres Anliegen dieses Bandes ist es, die Debatten und Schwerpunktsetzungen der internationalen Forschung aufzugreifen. So war in den vergangenen Jahren zu beobachten, dass sich der Fokus der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte deutlich verschoben hat. Unter Begriffen wie Kapitalismus-, Konsum-, Markt- oder Handelsgeschichte rückte das Interesse von den „klassischen“ Industrialisierungsfragestellungen zum 19. Jahrhundert vermehrt auf die Phase der Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsmechanismen im 18. Jahrhundert.23 Ob bei der Kommerzialisierung ländlicher Gewerbe, der „Entdeckung“ des Konsumenten oder bei Fragen der Erbrechtsregelungen, Heiratsgewohnheiten und Agrarverfassungen – unter den Gesichtspunkten der „Neuen 22 Trotz internationaler Verschiebungen hat der Industrialisierungsfokus seine große Bedeutung für die historische Forschung bewahrt, was auch an Studien deutlich wird, die diesen eher „reformieren“ als aufgeben. Vgl. z. B. Michael Schäfer, Eine andere Industrialisierung. Die Transformation der sächsischen Textilexportgewerbe 1790–1890, Stuttgart 2016. 23 Für einen Forschungsüberblick vgl. Marco Swiniartzki, Kapitalismus und Industrialisierung im Textilgewerbe. Tendenzen und Fragen für die Forschung zur mitteldeutschen Geschichte, in: Gerber/Greiling/Swiniartzki (Hg.), Industrialisierung (wie Anm. 1), S. 93–109.

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Institutionenökonomik“ oder der „Historischen Netzwerkforschung“ werden sozioökonomische Grundlagen untersucht und auf ihre Auswirkungen auf den späteren Industrialisierungsprozess hin befragt.24 Einige der zentralen Anliegen dieses Turns finden daher auch ganz bewusst Platz in diesem Band: So widmet sich Tobias K aiser (Jena) mit seiner Einordnung des Konzepts der Proto-Industrialisierung einem Ansatz, der besonders in der deutschsprachigen Forschung bis heute großen Einfluss besitzt,25 aber in seinen ursprünglichen Hauptthesen und Implikationen mittlerweile fast durchweg abgelehnt wird. Kaiser verknüpft dabei die forschungsanregende Wirkung des Konzepts mit neueren Studien und weist auf die daraus resultierenden Potentiale hin, die er anschließend vor dem Hintergrund der Geschichte der Strumpfwirkerei in Apolda überprüft. Sein Plädoyer für eine verstärkte Berücksichtigung der „innovativen Unternehmer“ entspricht dabei ganz den Forderungen und Ansätzen der neueren Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die sich ebenfalls in großem Maße dem entstehenden Unternehmertum widmet. Der Autor umreißt dadurch ein sowohl attraktives wie aussagekräftiges zukünftiges Forschungsfeld für die thüringische Geschichte. Wenn es darum geht, die thüringische Wirtschafts- und Sozialgeschichte an bestehende Forschungsperspektiven und aktuelle wie traditionelle Debatten anzukoppeln, ist es neben einer Würdigung der sozioökonomischen Ansätze ebenfalls entscheidend, die in den letzten Jahrzehnten erzielten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Sozial- und Kulturgeschichte der Arbeiterschaft, des Bürgertums und ihrer sozialen Organisation zu berücksichtigen – gehörte und gehört doch die Orientierung an „Klassen“ zu einer der wichtigsten Folgen der Industrialisierungsprozesse auch in Thüringen. Der Aufsatz von Jürgen Schmidt (Berlin) zeigt in diesem Zusammenhang sehr eindrücklich, wie sehr 24 Vgl. Julie Marfany, Land, proto-industry and population in Catalonia, 1680–1829. An alternative transition to capitalism?, Farnham u. a. 2012; Marcel Boldorf, Europäische Leinenregionen im Wandel. Institutionelle Weichenstellungen in Schlesien und Irland (1750– 1850), Köln/Weimar/Wien 2006; Maxine Berg (Hg.), Markets and Manufacture in Early Industrial Europe, London/New York 1991; Gérard Beaur u. a. (Hg.), Property rights, land markets and economic growth in the European countryside (Thirteenth-Twentieth Centuries), Turnhout 2013; Dietmar Müller/Angela Harre (Hg.), Transforming Rural Societies. Agrarian Property and Agrarianism in East Central Europe in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Innsbruck 2011; Anne-Lise Head-König (Hg.), Inheritance practices, marriage strategies and household formation in European rural societies, Turnhout 2012. 25 Vgl. grundlegend Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm (Hg.), Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1978; Ulrich Pfister, Proto-industrielles Wachstum: ein theoretisches Modell, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 39 (1998) H. 2, S. 21–47; Markus Cerman/Sheilagh C. Ogilvie (Hg.), Protoindustrialisierung in Europa. Industrielle Produktion vor dem Fabrikszeitalter, Wien 1994.

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die thüringische Geschichte von einem Anschluss an sozialgeschichtliche Theorie- und Konzeptangebote profitieren kann. Schmidt macht vor allem deutlich, wie wichtig es vor dem Hintergrund mehrdimensionaler und (aus marxscher Klassendefinition heraus) widersprüchlicher Beziehungen zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft auf der lokalen Ebene ist, die dahingehenden Vernetzungsangebote der Forschung zu nutzen, um zu einem integrierten Ansatz zu gelangen, der die Klassenlinien in ihrer Entstehung und Wirkung zwar berücksichtigt, aber nicht überzeichnet und dabei stets die stadt- und kulturgeschichtlichen sowie lebensweltlichen Verbindungen im Blick behält. Vor der Folie der Geschichte Erfurts im 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelt er in diesem Kontext ein beeindruckendes Panorama einer „gelebten“ Klassengesellschaft, in der Verflechtungen zwischen den vermeintlichen Antipoden wesentlich häufiger anzutreffen waren als erwartet. Während sich die Beiträge des ersten Kapitels einem „Thüringen im Industriezeitalter“ von konzeptioneller und forschungsgeschichtlicher Seite widmen, umfasst das zweite Kapitel unter dem Titel „Begriffe und Bilder“ zwei Aufsätze, die in vielerlei Hinsicht Schnittstellencharakter besitzen. Denn sowohl in den „Publizistischen Debatten zum Fabrik- und Maschinenwesen“, die Werner Greiling (Jena) verfolgt, als auch beim Blick auf die Zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung 1861 in Weimar, die Jens R iederer (Weimar) untersucht, geht es im Kern um Akte der Vermittlung zwischen dem industriellen Wandel und der Bevölkerung. Dabei machen beide deutlich, dass es sich weder bei der publizistischen Begriffsbildung noch bei der Konzeption von Gewerbeausstellungen durch Gewerbevereine um bloße Spiegel und damit Reaktionen auf die umfassenden Veränderungen handelte – vielmehr waren die Industrialisierung und ihre Auswirkungen von vornherein Bereiche der Interessenpolitik, die entweder durch den Begriff oder durch das Bild – und vor allem unter ständigem Blick auf das englische Vorbild – versuchte, Anschauungen und Gefühle in der Breitenwirkung zu beeinflussen. Werner Greiling veranschaulicht diesen Aspekt durch eine Rekonstruktion des allmählichen – und parallel zur Industrialisierung verlaufenden – Einzugs der Begriffe „Fabrik“ und „Maschine“ in die Wörterbücher und Lexika des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts und weist dabei die interessengeleitete Agenda-Setting-Funktion solcher Veröffentlichungen nach. Unter Berücksichtigung verschiedenster zeitgenössischer Druckerzeugnisse und der Entwicklung von Industrie- und Gewerbeausstellungen thematisiert er die wechselvolle Qualität der entscheidenden Begriffe und kann zeigen, wie sich auch die Begriffsgeschichte als Debattenthema sozial aufzuladen begann. Er leistet damit einen wichtigen Beitrag zur industriekulturellen Dimension der Medien- und Begriffsgeschichte, der – darauf weist er deutlich hin – nicht nur aufgrund eines breiten Quellenfundaments weitergehende Forschungen anstoßen sollte.

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Unter einem gleichzeitig stadtgeschichtlichen wie innerthüringisch-vergleichenden Fokus macht auch Jens Riederer darauf aufmerksam, vor welch umstrittenem diskursiven Hintergrund die beiden Thüringischen Gewerbeausstellungen von 1853 und 1861 stattfanden. Durch eine Einordnung der Gewerbeausstellung als „Fortschrittsbarometer“ und durch die gründliche Interpretation ihrer Vorgeschichte, Konzeption, ihres Aufbaus und Verlaufs gelingt es ihm, die Gewerbeausstellung von 1861 in Weimar als genuin thüringisches, aber auch international reflektierendes Ereignis zu umreißen. Da bei den Fragen, ob und wie eine solche Ausstellung durchgeführt werden sollte, innerhalb der thüringischen Territorien große Interessenunterschiede seitens der Ausrichter und potentiellen Aussteller bestanden, vermutet Riederer, dass es sich um eine Ausstellung „an der Schwelle zu einer sich intensivierenden Industrialisierung“ handelte. In jedem Fall zeugen die Auseinandersetzungen über Sinn und Zweck einer „thüringischen Leistungsschau“ von der Existenz verschiedener thüringischer Entwicklungsgeschwindigkeiten, während die Tatsache, dass die Ausrichter der Ausstellung 1861 auf staatliche Hilfe bewusst verzichteten, auf ein beginnendes wirtschaftsbürgerliches Regional- bzw. Landesbewusstsein hinweist. Das dritte Kapitel des vorliegenden Bandes entfaltet ein Panorama der thüringischen Industrialisierungswege unter Berücksichtigung staatlicher, städtischer, gewerblicher und familiär-biographischer Entwicklungspfade. Die sechs hier versammelten Beiträge rufen dabei ins Bewusstsein, wie vielfältig sich der Wandel durch Industrialisierung gestaltete und wie viele verschiedene Einflusssphären berücksichtigt werden müssen, um ihn für den thüringischen Raum zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund widmet sich Hans-Werner H ahn (Aßlar/ Jena) in seinem Beitrag der wohl klassischsten, aber gleichzeitig für die thüringischen Kleinstaaten auch umstrittensten Fragestellungen der Industrialisierungsforschung, nämlich derjenigen nach der Rolle des Staates für die Industrialisierung. Er wirft dabei einen facettenreichen und vielschichtigen Blick auf die Zusammenhänge zwischen der thüringischen Wirtschaftsentwicklung und der kleinstaatlichen Förderung bzw. Wirtschaftspolitik. Neben den Aspekten der Zoll- und Handelspolitik, den Infrastrukturmaßnahmen, der Gewerbegesetzgebung und der Bildungs- und Schulpolitik verweist er in diesem Zusammenhang auf die großen Unterschiede zwischen den Fürstenpersönlichkeiten, die sich nicht selten auf die kleinstaatliche Initiative auswirkten. In der resümierenden Gesamtschau führen all diese Punkte den Autor zu einer deutlichen Korrektur der lange übermächtigen und prominent postulierten Kleinstaatenkritik: So konnte die staatliche Förderung in den Kleinstaaten zwar keinesfalls so umfassende Ausmaße annehmen wie etwa in Preußen oder Sachsen, doch war die kleinstaatliche Förderung auch keineswegs so bedeutungslos oder gar schädlich, wie dies einige Zeitgenossen behaupteten. Zu den – in ihrer Reichweite natürlich begrenzten – Instrumenten gehörte dabei neben zahlreichen institutionel-

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len Weichenstellungen, deren Wirkungen sich kaum oder nur schwer nachverfolgen lassen, besonders die Bildungspolitik, die großen Einfluss auf den industriellen Aufschwung Thüringens während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte. Ein Beispiel für diese obrigkeitliche Gewerbeförderung, mit dem sich Rita Seifert (Jena) auseinandersetzt, betrifft den Thüringer Seidenbau. Sie verfolgt dabei die Bemühungen um die Etablierung einer Seidenzucht und der dazu notwendigen Pflanzung von Maulbeersträuchern von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre und kann zeigen, wie sich die Gewerbeentwicklung über mehr als 100 Jahre und zahlreiche politische sowie wirtschaftliche Brüche hinweg vor allem in Jena konzentrierte. Von Anfang an in enger Kooperation mit der Jenaer wissenschaftlichen Forschung wurde Seide dabei in Kaiserreich, Nationalsozialismus und DDR aus verschiedenen Gründen produziert, denen aber allen das Streben nach einer möglichst großen Unabhängigkeit von italienischen, chinesischen oder brasilianischen Importen zugrunde lag. Besonders durch die Akzentuierung der Brüche innerhalb dieser Entwicklung – etwa zwischen 1884 und den 1930er Jahren – leistet Seifert einen wichtigen lokalgeschichtlichen Beitrag zu der Frage, welche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Gewerbeentwicklung gegeben sein mussten. In einer Verbindung der Bürgertumsforschung mit wirtschafts-, familien- und netzwerkgeschichtlichen Ansätzen untersucht Stefan Gerber (Jena) den spektakulären Verlauf des Auf- und Abstiegs der Familie Lutteroth vom frühen 18. bis zum späten 19. Jahrhundert. Ausgehend von der Beobachtung, dass sich eine Trennung von wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Lebens-, Denk- und Handlungsmustern für den Familienverband der Lutteroths – wie für viele andere Fälle auch – nicht anbietet, beschreibt er die sich im 18. Jahrhundert rasch ausbreitenden Aktivitäten und Beziehungen der Familienangehörigen, die vom Landbesitz über die Textilherstellung, den Handel und das Bankenwesen bis zu Versuchen im Montangeschäft, der Kunst und Diplomatie reichten. Gleichzeitig weist er ein starkes Bemühen seitens der Unternehmer in der Familie nach, auch politischen Einfluss in den städtischen Institutionen, vor allem Mühlhausens, zu gewinnen. Durch die Problematisierung des defizitären unternehmerischen Engagements und der Risikobereitschaft, neue Tätigkeitsfelder zu generieren, die im 19. Jahrhundert zum Niedergang der Geschäfte der Lutteroths führten, schließt der Beitrag in gewisser Weise dort ab, wo der Beitrag von Ronny Schwalbe in diesem Band einsetzt und verdeutlicht dadurch einmal mehr den Bedarf und die Aussagekraft unternehmensgeschichtlicher Forschungen für den thüringischen Raum. Als ausgewiesener Kenner der Geschichte des preußischen Thüringens präsentiert Frank Boblenz (Sömmerda) neue Erkenntnisse zur Gründungsphase der Firma Dreyse & Kronbiegel in Sömmerda, die nicht nur die Stadt auf Jahrzehnte ökonomisch und sozial prägte, sondern in Form ihrer Nachfolger auch

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lange eines der größten Unternehmen des thüringischen Raums überhaupt bildete. Gestützt auf ein langwieriges und akribisches Quellenstudium kann er dabei zeigen, dass die Gründung des Unternehmens tatsächlich auf das Jahr 1816 zu datieren ist, womit er bisherige Ungenauigkeiten korrigiert. In der Folge bettet Boblenz die Gründerpersönlichkeiten dann in ein Geflecht aus militär-, politik-, wirtschafts-, stadt- und biographiegeschichtlichen Entwicklungen ein, wodurch er die Mehrdimensionalität des industriellen Wandels genauso veranschaulicht wie die innerdeutsche und auch europäische Vernetzung des „innovativen Unternehmers“ in der Frühindustrialisierung. Er leistet damit einen Beitrag zur Geschichte der frühen Entwicklung eines Unternehmens, das durch die Zündhütchen- und Waffenproduktion seit Mitte der 1820er Jahre zu einem der wichtigsten Rüstungsbetriebe Preußens avancierte. Gleichzeitig bildet die Studie ein eindrückliches Beispiel für die Relevanz einer Industrialisierungsgeschichte des preußischen Thüringens, die in ihren Grundzügen immer noch als Desiderat anzusehen ist. Welche Vorteile es haben kann, die ökonomischen und sozialen Veränderungen im Zuge der Industrialisierung auf stadtgeschichtlicher Meso-Ebene nachzuverfolgen, veranschaulicht der Aufsatz von Steffen R assloff (Erfurt). Ausgehend von einer genauen Rekonstruktion der Entwicklung der Erfurter Unternehmenslandschaft im 19. Jahrhundert, bei der in der Hauptstadt der preußischen Provinz Erfurt vor allem die Schuh- und Maschinenindustrie sowie der Gartenbau herausragten, beschreibt der Autor die differenzierten sozialen Schichtungen, die sich in Arbeiterschaft und Bürgertum der Stadt herausbildeten. Auch er verweist wie Jürgen Schmidt dabei auf die besondere Mischung aus Verflechtung und Abgrenzung der „Klassen“ und zeigt, dass sich soziale Stellungen nicht naturwüchsig und ausschließlich als Funktionen der Arbeitswelt verstehen lassen, sondern immer auch vielfältige Anknüpfungspunkte in der konkreten Lebenswelt besaßen. So resultierte das soziale Profil Erfurts und viele der sich daraus entwickelnden Konflikte aus einer deutlichen räumlichen Segregation der „Klassen“, die sich in kaum einer anderen Stadt so stark ausprägte wie in Erfurt. Wirtschaft, Sozialstruktur und Stadtentwicklung erscheinen auf diese Weise als vielfältig miteinander verschränkte Begriffe, deren lokalspezifische Konstellation und Verfestigung während des Kaiserreichs großen Einfluss auf die spätere Stadtgesellschaft ausübten. Einen ähnlichen Ausgangspunkt für seine Betrachtungen wählt auch Ronny Schwalbe (Neustadt an der Orla), der in seinem Aufsatz zunächst die ökonomische Entwicklung der Stadt Gera sowie des Fürstentums Reuß jüngerer Linie untersucht, die besonders von der Textilproduktion, Textilveredelung sowie vom Maschinenbau geprägt waren. Ganz im Sinne des Plädoyers von Tobias Kaiser für eine Berücksichtigung des „innovativen Unternehmers“, konzentriert er sich anschließend auf die Geschichte des Unternehmers Carl Louis Hirsch und seines Färbereibetriebes zwischen den 1830er und 1880er Jahren. Er

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kann dadurch an einem Unternehmensbeispiel, für das er an anderer Stelle bereits den späteren globalen Charakter untersucht hat,26 überzeugend zeigen, wie sich der individuelle Mut zu technisch-organisatorischen Innovationen sowie zu finanziellen Risiken schon unter den Bedingungen zünftiger Handwerksorganisation in unternehmerischem Erfolg niederschlug. Gleichzeitig verweist Schwalbe aber auch stets auf die familienpolitische Untermauerung dieses Erfolges, dessen globale Dimensionen unter Hirschs Sohn Karl Georg daher ebenfalls als Ergebnis einer strategischen Heirats- und Familienplanung angesehen werden müssen, die sowohl zur gegenseitigen Versicherung als auch zur Ressourcenbündelung im Unternehmerlager führten. Während die sozialen Industrialisierungsfolgen in den vorherigen Kapiteln bereits mehrfach eine Rolle spielten, fokussiert sich das vierte und letzte Kapitel noch einmal explizit auf die Aspekte der sozialen und politischen Organisation von Interessen, die sich unmittelbar aus dem industriellen Wandel Thüringens im 19. Jahrhundert herleiteten. Damit einher geht auch eine Verschiebung des zeitlichen Schwerpunkts, sodass sich das Gros der drei hier versammelten Beiträge auf die Jahre der Weimarer Republik konzentriert. Aufgrund der bedauerlichen Lage, dass vor allem die Geschichte der Arbeiterbewegung in Thüringen bisher kaum über Ansätze hinausgekommen ist, gleichzeitig aber – man betrachte nur den Beitrag Jürgen Schmidts – die Konzepte und Quellen für einen Neuansatz bereitstehen würden, ist dieses Kapitel durchaus als Aufruf zu weitergehender historischer Forschung zu verstehen. Denn nicht zuletzt durch das Revolutionsjubiläum 2018, das Jubiläum der Thüringer Landesgründung 2020 sowie durch die Sonderstellung Thüringens (und Sachsens) für die politische Geschichte der Weimarer Republik drängen sich Fragen nach der Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit im proletarischen Milieu sowie dem Handeln der politischen Arbeiterbewegung geradezu auf. Daher ist dieses Feld in den letzten Jahren auch verstärkt zum Gegenstand vor allem der politikwissenschaftlichen Forschung geworden.27 26 Vgl. Ronny Schwalbe, Von einer reußischen Stückfärberei zum Global Player. Kommerzienrat Dr. h. c. Georg Hirsch als Fallbeispiel der Industrialisierung in Ostthüringen, in: Gerber/Greiling/Swiniartzki (Hg.), Industrialisierung (wie Anm. 1), S. 111–129. Im Forschungsfeld des Autors vereinen sich daher gleich beide aktuellen Forschungsschwerpunkte. Für den globalgeschichtlichen Forschungszweig vgl. z. B. Christof Dejung, Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851–1999, Köln/Weimar/Wien 2013; Mark Häberlein/Christof Jeggle (Hg.), Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit, München 2010; Sven Beckert, King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus, München 2014. 27 Zu denken ist dabei vor allem an die Veröffentlichungen von Andreas Braune und/oder Michael Dreyer im Umkreis der „Forschungsstelle Weimarer Republik e. V.“ und des „Weimarer Rendez-vous mit der Geschichte“ aber auch an: Stefan Gerber, Die Revoluti-

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Auf Basis seiner neueren Forschungen geht Karsten Rudolph (Bochum) in seinem Beitrag auf die Entwicklung der SPD in Thüringen zwischen 1918 und 1930 vor dem Hintergrund der demokratischen Staatsbildung ein. In kritischer Distanz zu vielen bisherigen Veröffentlichungen, die von einem „rot-roten Sonderweg“ oder der traditionell starken Linksprägung der thüringischen Arbeiterbewegung sprechen, präsentiert er die SPD dabei als Teil eines frühen und bewusst staatsbildenden „linksrepublikanischen Projekts“, in dessen Zentrum neben der SPD die DDP stand. Unter der These, dass die sozialdemokratische Arbeiterbewegung „keineswegs radikal, koalitionsunwillig und politisch verantwortungslos agierte“, interpretiert Rudolph das Projekt der linksrepublikanischen Staatsbildung zwischen 1918 und 1921 und beschreibt dabei die zahlreichen Unterschiede zur Reichsebene, unter denen die Etablierung des Thüringer Landbundes als „game changer“ herausragte. Die sich ab 1921 verändernde politische Lage kulminierte laut Rudolph bereits ab 1927 in der sukzessiven Aufgabe des Landes Thüringen durch die einst staatstragenden Parteien SPD und DDP, wofür der Autor vor allem die politische Lagerbildung in diesem Zeitraum sowie die um sich greifende Einschätzung verantwortlich macht, das Land sei fiskalisch nicht mehr lange haltbar. Die Aufgabe dieser politischen Leistung ebnete demnach den Weg für die NSDAP, die sich gemeinsam mit dem Thüringer Landbund als Retter Thüringens aufspielen konnte. Für die zweite „Säule“ der Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften, gestaltet sich die skizzierte Forschungssituation noch ernüchternder – existiert doch bis heute keine Studie zur Gewerkschaftsbewegung, einem Einzelverband oder einer betrieblichen Organisation in Thüringen. Gleiches gilt auch für die Geschichte der Industriearbeit. Der Fortschritt der historischen und soziologischen Forschung sowie die massive Verschiebung der Forschungsschwerpunkte seit den 1980er Jahren blieben für die thüringische Geschichte in diesem Bereich bisher leider ohne Folgen. In seinem Beitrag zur Geschichte der Industriegewerkschaften in Thüringen zwischen 1890 und 1933 macht es sich Marco Swiniartzki (Jena) daher zur Aufgabe, zunächst interpretative Schneisen in das unübersichtliche Forschungsfeld zu schlagen, um auf diese Weise einige Forschungsfragen und weiterführende Ansätze zu entwickeln. Ausgehend von einer Rekonstruktion der Mitgliederentwicklung der Industrieverbände der Metall-, Textil- und Holzindustrie beschreibt er dazu neben den innerregionalen Organisationsunterschieden in Thüringen auch erste Ergebnisse zur beruflichen und Geschlechtergliederung der jeweiligen Gewerkschaften. Entlang der Fragen, welche Rolle Thüringen als Bezugspunkt für gewerkschaftliches Hanon 1918/19 in Thüringen, Erfurt 2019; Ders., Hort des „Radikalismus“? Die Revolution 1918/19 in Sachsen-Gotha, in: Ders. (Hg.), Das Ende der Monarchie in den deutschen Kleinstaaten. Vorgeschichte, Ereignis und Nachwirkungen in Politik und Staatsrecht 1914–1939, Köln/Weimar/Wien 2018, S. 199–240.

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deln spielte, wie sich die innerthüringische Differenzierung gestaltete und auswirkte und welche Wirkungen von den bestehenden Thüringen-Bildern in den Köpfen der Gewerkschaftssekretäre ausgingen, versucht Swiniartzki, ein komplexes und attraktives zukünftiges Forschungsfeld zu umreißen. Als eine Verknüpfung der Arbeiter- und der Arbeiterbewegungsforschung präsentiert sich der Aufsatz von Rüdiger Stutz (Jena). Ausgehend von dem Befund, dass die Jahre des Ersten Weltkriegs und vor allem der frühen Weimarer Republik eine Phase darstellten, in der sich eine sukzessive Entfremdung zwischen den Gewerkschaftsleitungen und der Arbeiterschaft ausbildete, interpretiert er die beiden großen Befragungen des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV) 1927 und 1930 an den Standorten der feinmechanisch-optischen Industrie. Dabei eröffnet Stutz das gesamte Feld der Prozesse, die in den 1920er Jahren eigentlich zu den Kernproblemen des DMV gehört haben müssten: Rationalisierung und die „Hybris der Technik“, steigende Beschäftigung von Frauen zu ungleichen Konditionen, Umstrukturierungen in den Belegschaften sowie der gnadenlose Kampf immer größerer Konzerne um Absatzmöglichkeiten. Dass sich der DMV dieser Probleme nicht annahm oder annehmen konnte, weist der Autor auch in der quantitativen und betriebslosen Herangehensweise der beiden Befragungen nach – denn weder spielten darin massenhaft geäußerte Problemlagen der Belegschaften eine Rolle noch wurde aus ihnen eine Handlungsanleitung gewonnen. Im Zuge der technikgläubigen Rationalisierungshoffnung der DMV-Führung, die im „Banne der Zahlen“ dachte, spielten vermeintlich subjektive Belange der Belegschaften in Jena, Dresden und Rathenow keine Rolle. Im Rahmen des Themenjahres „Thüringens Aufbruch in die Moderne. Industrialisierung und soziale Bewegungen“, in dem im Juni 2018 in Pößneck die Tagung als Grundlage dieses Sammelbandes abgehalten wurde, machten zahlreiche Landes- wie Kommunalpolitiker deutlich, dass sie mit der Erforschung der thüringischen Industrialisierungsgeschichte mehr verbinden als bloßes historisches Interesse. Vielmehr wurde die thüringische Wirtschaftsgeschichte – und besonders jene im 19. Jahrhundert – strategisch eingesetzt, um den Klischees zu begegnen, mit denen die Region in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung anscheinend immer noch zu kämpfen hat. Über die zahlreichen historischen Brüche der Landesgeschichte hinweg bemühte man sich augenscheinlich, erfolgreiche Kontinuitäten zur Etablierung eines bestimmten Thüringen-Bildes zu postulieren, das dazu dient, kleinstaatliche und DDR-belastete Vorurteile hinter sich zu lassen und als Objekt aktiver Geschichtspolitik ein als defizitär empfundenes Landesbewusstsein zu stärken. Obgleich landespolitische Initiativen in der Art des Themenjahres aus wissenschaftlicher Sicht zu begrüßen sind, muss dieser Aktivierung vermeintlicher Traditionen und dem Ziehen „langer historischer Linien“ doch eher skeptisch begegnet werden, da – vor allem unter den Bedingungen einer wirtschaftlichen Landesgeschichte als Desiderat – poli-

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tische Instrumentalisierung allzu schnell vor historischer Genauigkeit und Kontextualisierung kommt. Aus diesen Gründen versteht sich der hier vorliegende Band nicht nur als erster Versuch zur Schließung einer großen Forschungslücke, sondern auch als geschichtswissenschaftliches Korrektiv einer leider allzu oft populären Landläufigkeit.

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Das Konzept der regionalen Industrialisierung revisited

1. Das Aufkommen der regionalen Industrialisierungsforschung Toni Pierenkempers Erkenntnis, dass der Nationalstaat keine geeignete Ebene für die Untersuchung des Industrialisierungsphänomens darstellt, weil er einerseits zu klein und andererseits zu groß ist, um die damit verbundenen historischen Entwicklungen adäquat erfassen zu können, löst heute sicherlich keinen größeren Widerspruch mehr aus.1 Die Ebene des Nationalstaates ist nach Pierenkemper zu groß, da sich zum Beispiel Deutschland eben nicht ganz flächendeckend, sondern nur einzelne Gebiete des Landes industrialisierten. Der deutsche Nationalstaat ist aber als Untersuchungsebene gleichzeitig auch zu klein, weil der Industrialisierungsprozess ein europäisches Phänomen darstellt, das heißt einen grenzüberschreitenden internationalen Prozess, bei dem die einzelnen aufkommenden Industrieregionen häufig stärker mit anderen sich industrialisierenden Regionen im Ausland als mit benachbarten Gebieten im eigenen Land ökonomisch verbunden waren. Diese Erkenntnis war allerdings bis weit in die 1970er Jahre noch nicht sehr weit verbreitet, da die Regionen zumeist nur unter landesgeschichtlicher Perspektive in den Blick genommen wurden und der Nationalstaat als die quasi natürliche räumliche Untersuchungsebene galt. Letzterer traditioneller Meinung, die auch stark von den Volkswirten unter den Wirtschaftshistorikern propagiert wurde, verlieh Christoph Buchheim noch in seiner Einführung in die Wirtschaftsgeschichte von 1997 Ausdruck, als er schrieb, dass es zu weit ginge, wenn man leugne, dass die Industrielle Revolution ganze Nationalwirtschaften erfasste, da es doch Industrieländer mit einem großen Lebensstandard für die Massen sowie nationale Märkte für Arbeit und Kapital gebe.2 Allerdings überging Buchheim mit dieser Argumentation die Tatsache, dass die Industrialisierung zunächst regionalen Ursprungs war und erst in ihrem Verlaufe zahlreiche weitere Regionen in den jeweiligen Ländern erfasste, wodurch sich der Großteil der jeweiligen Nationalwirtschaft langfristig erst industrialisierte. 1 

Toni Pierenkemper, Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, München ²2007, S. 101. 2  Christoph Buchheim, Einführung in die Wirtschaftsgeschichte, München 1997, S. 18 f.

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Entgegen der traditionellen Perspektive, die Industrialisierung als nationalen Prozess aufzufassen, setzte eine erste Auseinandersetzung um regionale Disparitäten im deutschen Industrialisierungsprozess in den 1960er Jahren ein, als deutsche Historiker wie Knut Borchardt und angelsächsische Autoren wie Frank Tipton oder Thomas Orsagh den Formen, Ursachen und Konsequenzen eines regional ungleichgewichtigen Wachstums in der deutschen Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nachgingen.3 In den älteren Studien und daran anknüpfend bestätigte sich dabei immer wieder die räumliche Ungleichheit von Industrialisierung und Wachstum in Deutschland. Dabei zeigte sich wiederholt, dass die Daten und die darauf aufbauenden Indikatoren regionaler ökonomischer Differenzen für eine flächendeckende Analyse der deutschen Entwicklung als außerordentlich problematisch anzusehen sind. Meist mussten Ersatzgrößen unterschiedlicher Art wie die Ärztedichte oder die Zahl höherer Schüler an den Gymnasien für die eigentlich favorisierten, aber nicht vorhandenen Daten über regionale Pro-Kopf-Einkommen verwandt werden; nach dem Motto, wo viele Ärzte sich niederließen, war das durchschnittliche Einkommen besonders hoch – eine durchaus plausible Vermutung, die jedoch letztlich nur eine Annäherung an die Variable der regionalen Einkommensentwicklung darstellte. Außerdem zeigte sich, dass für eine gesamtwirtschaftliche Analyse ökonomischer Entwicklungsdifferenzen meist nur wenige Indikatoren verwandt wurden, was die Erklärung möglicher Ursachen für unterschiedliche regionale Entwicklungstendenzen außerordentlich einschränkte. Ein noch größeres Problem bestand bei diesen Untersuchungen allerdings in der Wahl der Untersuchungsregionen, da zumeist nur größere Verwaltungsbezirke wie preußische Provinzen oder aber Regierungsbezirke gewählt wurden, unter anderem weil für diese Verwaltungseinheiten ausreichend und flächendeckend Daten zur Verfügung standen.4

3  Knut Borchardt, Regionale Wachstumsdifferenzierung in Deutschland im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des West-Ost-Gefälles, in: ders., Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik, Göttingen 1982, S. 42–59; Thomas J. Orsagh, The Probable Geographical Distribution of Income 1882–1963, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 124 (1968), S. 280–311; Helmut Hesse, Die Entwicklung der regionalen Einkommensdifferenzen im Wachstumsprozess der deutschen Wirtschaft vor 1913, in: Wolfram Fischer (Hg.), Beiträge zu Wirtschaftswachstum und Wirtschaftsstruktur im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1971, S. 261–279; F. B. Tipton, Regional Variations in the Economic Development of Germany during the Nineteenth Century, Middletown (Conn.) 1976. Zum Überblick dieser Forschungsrichtung siehe auch: Pierenkemper, Gewerbe (wie Anm. 1), S. 100–113; Ralf Banken, Die Industrialisierung der Saarregion 1815–1914, Bd. 1. Die Frühindustrialisierung 1815–1850, Stuttgart 2000, S. 17–33. 4  Die Kritik zusammenfassend: Banken, Saarregion (wie Anm. 3), S. 17–33.

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Diese Verwaltungsbezirke bildeten allerdings keine Wirtschaftsregionen ab, sondern waren kleiner als solche oder aber gingen darüber hinaus, das heißt, dass sich Industrieregionen auch über mehrere Verwaltungsbezirke hinweg erstreckten. So breitete sich das Ruhrgebiet zum Beispiel über die drei preußischen Regierungsbezirke Münster, Düsseldorf und Arnsberg aus, die wiederum auch zahlreiche andere Regionen wie das Münsterland, Sauerland und des Niederrheins umfassten, die aber eine ganz andere Wirtschaftsstruktur als das schwerindustrielle Ruhrrevier besaßen. Diesen Problemen versucht ein Konzept zu entgehen, das nicht eine gesamte Volkswirtschaft auf ihre regionalen ökonomischen Strukturen hin untersucht, sondern nur einzelne Regionen davon als die wichtigsten Entwicklungsregionen im Deutschland des 19. Jahrhunderts herausgreift. Diese werden detailliert, unter zu Hilfenahme außerordentlich dichter lokaler Quellen, hinsichtlich ihrer spezifischen Entwicklungsdynamik als Fallbeispiele analysiert. Damit ist es nicht mehr die deutsche Gesamtwirtschaft, sondern es sind ihre Führungsregionen, die zum eigentlichen Ziel des wissenschaftlichen Interesses werden. Die Entstehung und Entwicklung dieser Führungsregionen sind dabei im Sinne eines lokalen Produktionssystems oder einer regionalen Produktionsfunktion zu verstehen und zu interpretieren, worin auch ein erster Schritt dieses Modells regionaler Industrialisierung bestand. Dass sich diese Regionen dabei nicht allein und isoliert entwickelten ist evident. Sie waren vielfältig verkoppelt mit ihrem Umland, besonders stark aber auch mit ähnlich strukturierten Entwicklungsregionen anderswo in Deutschland oder Europa. Der Vorteil des Ansatzes der regionalen Industrialisierung ist nun der, dass insbesondere die Beziehungen zu Entwicklungsregionen jenseits der nationalen Grenzen thematisiert werden können. Auf diese international verkoppelten Führungsregionen der europäischen Ökonomie bzw. gar der atlantischen Ökonomie des 18. und 19. Jahrhunderts hat bereits Sidney Pollard verwiesen.5 Pollards Ansatz wurde dann konzeptionell durch das Münsteraner Trio Rainer Fremdling, Toni Pierenkemper und Richard Tilly weiterentwickelt, die darauf hinwiesen, dass man die Grenzen einer Wirtschaftsregion auf der kleinstmöglichen Verwaltungsebene bestimmen

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Sidney Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760–1970, Oxford 1981. Darüber hinaus findet sich dieser Gedanke auch in den weiteren Arbeiten Pollards zur regionalen Industrialisierung: ders. (Hg.), Industrialization and European Economy, in: EHR 26 (1973), S. 636–648; ders., Einleitung, in: ders., Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle von Regionen in der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte, Göttingen 1980, S. 11–21; ders., Betrachtungen zur Dynamik britischer Industrieregionen, in: VSWG 74 (1987), S. 305–322; ders., The Concept of Regional Industrialization. The British Experience, in: JWG (1992) 1, S. 11–35.

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sollte, das heißt auf der Ebene der Kommunen und Kreise bzw. ähnlich großer Verwaltungsbezirke außerhalb von Preußen.6

2. Die Definition von Wirtschaftsregionen auf Basis der kleinstmöglichen Verwaltungsebene Der Vorteil dieses Verfahrens zeigte sich auch am Beispiel des Industriebezirkes an der Saar sehr deutlich. Durch die Definition der Industrieregion an der Saar auf Basis der Kreise und Gemeinden kann auch diese Wirtschaftsregion nicht nur sehr viel genauer als der ansonsten hierfür vielfach gewählte Regierungsbezirk Trier, sondern auch grenzüberschreitend bestimmt werden. Auf diese Weise ist es möglich, auch die angrenzenden Industriegebiete der bayerischen Rheinpfalz und Lothringens als zum Saarrevier zugehörig in die Analyse einzubeziehen. Zugehörig zur Industrieregion Saar waren dabei diejenigen Kreise bzw. Bezirksämter, die nach der Berufszählung von 1907 mehr als 50 % Industriebeschäftigte aufwiesen sowie diejenigen Gemeinden mit größeren Industrieunternehmen in denjenigen Kreisen und Bezirksämtern, die eine Industriebeschäftigung von mindestens 20 bis 35 % besaßen.7 Unabhängig von den Nachteilen einer solchen Vorgehensweise ist dieses Verfahren auch gut für eine Untersuchung der Industrialisierung des Thüringer Raumes geeignet, der im 19. Jahrhundert verwaltungstechnisch besonders stark zerrissen war. Die Tabelle 1 zeigt dabei, dass die einzelnen thüringischen Territorien eine deutlich unterschiedliche Struktur aufwiesen und am Ende des 19. Jahrhunderts in unterschiedlichem Ausmaß dem Strukturwandel unterlagen. So wuchs der sekundäre Sektor zwischen 1895 und 1907 – den beiden Daten der reichsweiten Berufs- und Gewerbezählungen8 – in den beiden Fürstentümern 6  Rainer Fremdling/Toni Pierenkemper/Richard Tilly, Regionale Differenzierung in Deutschland als Schwerpunkt wirtschaftshistorischer Forschung, in: dies. (Hg.), Industrialisierung und Raum. Studien zur regionalen Differenzierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1979, S. 9–26. 7  Banken, Saarregion (wie Anm. 3), S. 33–43; Vgl. auch: Rüdiger Hohls/Hartmut Kaelble (Hg.), Die regionale Erwerbsstruktur im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik 1895–1970, St. Katharinen 1989; dies., Der Wandel der regionalen Disparitäten in der Erwerbsstruktur Deutschlands 1895–1970, in: Jürgen Bergmann u. a. (Hg.), Regionen im historischen Vergleich. Studien zu Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Opladen 1989, S. 288–413. 8  An dieser Stelle konnten aufgrund des großen Aufwandes nur einige der Berufs- und Gewerbezählungen exemplarisch ausgewertet werden, weshalb auf die Einbeziehung der preußischen Gebiete Thüringens verzichtet wurde, gleichzeitig sind aber heutige Gebiete Sachsen-Anhalts in den Daten enthalten, was aber den Wert der hier vorgestellten Methode einer Auswertung der Reichsstatistik auf Kreis- und Bezirksebene nicht mindert, sondern geradezu als notwendig erscheinen lässt.

Das Konzept der regionalen Industrialisierung revisited

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Reuß älterer Linie und Reuß jüngerer Linie mit 9,7 bzw. 16,7 % deutlich langsamer als in den anderen thüringischen Staaten, wo das Gewerbe in Sachsen-Weimar mit 25,2 % am schnellsten wuchs, während die anderen Territorien zwischen 19,2 und 21,5 % verzeichneten. Dieser Umstand ist allerdings nicht auf eine agrarische Struktur, sondern auf den bereits fortgeschrittenen Strukturwandel der beiden Reußischen Staaten zurückzuführen, wo die Landwirtschaft mit 16,6 % (älterer Linie) und 25,2 % (jüngerer Linie) den kleinsten Anteil an der Beschäftigung aufwies, während der primäre Sektor in den anderen Staaten noch deutlich höhere Anteile innehatte (Tabelle 2). In Sachsen-Weimar waren zum Beispiel mit 40,7 % die meisten Beschäftigten noch im Agrarsektor tätig. Dies erklärt denn auch den schnellen, nachholenden Strukturwandel dieser Gebiete nach 1895, da die Industrialisierung der reußischen Territorien auf der Textilindustrie und damit der ersten Industrialisierungsphase Deutschlands (Textil- und Eisenindustrie, Bergbau und Eisenbahnbau) beruhte, während Sachsen-Weimar und die anderen Staaten trotz ebenfalls vorhandener Textilbetriebe sich stärker in der zweiten deutschen Industrialisierungsphase entwickelten, die von der Chemischen, Elektro- und Optikindustrie sowie dem Maschinenbau geprägt war. Interessanterweise wiesen alle thüringischen Staaten geringe Anteile im Dienstleistungssektor auf, dessen Werte zwischen 9,5 % (Schwarzburg-Rudolstadt) und 12,3 % (Reuß jüngerer Linie) kaum voneinander abwichen; auch weil Thüringen ein überregionales Handelszentrum fehlte. Insgesamt aber waren alle diese Gebiete um 1907 schon stark industrialisiert, da Sachsen-Weimar mit einem Anteil von 47,6 % den geringsten Anteil der Beschäftigten im Gewerbesektor aufwies und in den anderen hier untersuchten Territorien der Anteil des Gewerbe an der Beschäftigung über 50 % lag und mit 73,7 % in Reuß älterer Linie sogar einen Spitzenwert aufwies. Unabhängig von den Unterschieden zwischen den einzelnen thüringischen Staaten macht es aber auch Sinn, die Entwicklung der Wirtschaftsstruktur eines dieser Staaten allein zu untersuchen. Dies zeigt das Beispiel Sachsen-WeimarEisenachs, dessen Territorium – unabhängig von den weiteren kleineren Enklaven – allein aus drei größeren, voneinander durch andere thüringische Territorien getrennte, Gebiete bestand. die keine homogene Wirtschaftsstruktur aufwiesen (Tabelle 3). Dies machen die Daten der Berufs- und Gewerbezählungen auf Kreisebene ab 1882 deutlich, die zeigen, dass sich der Verwaltungsbezirk Dermbach mit einem Beschäftigtenanteil von über 50 % in der Landwirtschaft deutlich von den anderen Bezirken und insbesondere dem Bezirk Eisenach unterschied, wo schon weniger als 30 % im Agrarbereich und bereits 40 % im sekundären Sektor arbeiteten. Berücksichtigt man allerdings auch die absolute Zahl der Erwerbstätigen, relativiert sich die Bedeutung des Bezirkes Eisenach ein wenig, da die Bezirke Weimar und Apolda eine erheblich größere Beschäftigung aufwiesen,

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Ralf Banken

wenngleich nur Apolda eine ähnlich hohe Beschäftigung im Gewerbe zu verzeichnen hatte. Da die Berufsstatistik des Statistischen Reichsamtes nicht nur Daten für einzelne und die hier wiedergegebenen Wirtschaftsgruppen enthält, sondern disaggregiert auch die Beschäftigten einzelner Wirtschaftszweige aufführt, kann man die Analyse deutlich differenzieren und für die einzelnen Kreise die Verteilung nach einzelnen Berufsgruppen genauestens untersuchen. Vergleicht man die drei Berufszählungen auf Reichsebene von 1882, 1895 und 1907 miteinander – was etwas Arbeitsaufwand für die Standardisierung, aber keinerlei statistische Spezialkenntnisse erfordert –, so ist es möglich, die Entwicklung einzelner Berufsgruppen – und auch einzelner Gewerbe aufgrund der Gewerbestatistik, die genauso tief bis auf Kreisebene und einzelnen Gewerbezweige disaggregiert ist – im Kaiserreich nachzuvollziehen (Tabelle 4). Wertet man nun die Berufs- und Gewerbezählungen des Statistischen Reichsamtes (1882, 1895, 1907, 1925 etc.) aller heutigen thüringischen Gebiete – also auch inklusive der preußischen Gebiete – in dieser Weise auf Kreis- und Bezirksebene aus, ist es möglich, ein genaues Bild des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandels von Thüringen in der Industrialisierung nachzuzeichnen, was an dieser Stelle aufgrund des großen Aufwands jedoch nicht möglich war und einer eigenen Studie vorbehalten bleiben muss.

3. Das Forschungsfeld der regionalen Industrialisierung ab den 1980er Jahren Trotz zahlreicher Arbeiten zur Industrialisierung vieler deutscher Wirtschaftsregionen in den 1980er Jahren schwand nach 1990 das Interesse der historischen Forschung an diesem Forschungsfeld, was auch daran lag, dass zahlreiche Historiker alten landesgeschichtlichen Wein in neuen regionalen Schläuchen anboten und viele Studien über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung eines Gebietes nur das Etikett „Region“ nutzten. Sie stellten vielfach nichts anderes dar als deskriptive, traditionelle Darstellungen ohne einen modernen methodischen und vergleichend angelegten Zugriff, denen es meistens auch noch an einer fundierten Einordnung in die allgemeine Industrialisierungsforschung mangelte und die deshalb weder dem Pollardschen Ansatz noch dem Konzept von Fremdling, Pierenkemper und Tilly entsprachen. Allerdings entstanden am Frankfurter und Kölner Lehrstuhl von Pierenkemper seit Anfang der 1990er Jahre einige Dissertationen, die sich explizit dem regionalen Ansatz nach diesen beiden Konzepten verpflichtet sahen und in einer eigenen Reihe zur regionalen Industrialisierung erschienen. Diese Reihe wurde dann nach Pierenkempers Emeritierung 2010 von Dieter Ziegler weitergeführt, an dessen Bochumer Lehrstuhl der Forschungsansatz der regionalen

Das Konzept der regionalen Industrialisierung revisited

31

Industrialisierungsforschung in Westdeutschland einzig noch in größerem Ausmaß betrieben wird.9 Etwas anders ist die Lage in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, wo weiterhin ein stärkeres Interesse am Thema der regionalen Industrialisierung besteht. So entstanden bei Peter Hertner in Halle mehrere Arbeiten zur regionalen Industrialisierung wie etwa diejenige von Dirk Schaal zur Rübenzuckerindustrie im mitteldeutschen Raum oder jene von Alf Zachäus zum Kupferbergbau in der Mansfelder Region.10 Ein weiteres Zentrum bilden die Arbeiten von Michael Schäfer und anderen zur Industrialisierung in Sachsen.11 Sieht man von den bereits erwähnten Kölner und Bochumer Studien einmal ab, entstanden in den alten Bundesländern nach der Jahrtausendwende dagegen eher wieder klassische landesgeschichtliche Arbeiten. Ein Beispiel hierfür ist die Wirtschaftsgeschichte Bayerns im 19. und 20. Jahrhundert von Dirk Götschmann.12 Das Problem derartiger, durchaus nützlicher Übersichtswerke für die Industrialisierungsforschung ist aber weiterhin, dass die verschiedenen Wirtschaftsregionen der Flächenländer vielfach nichts miteinander verbindet. Im Falle Bayerns ist etwa der Aschaffenburger Raum ökonomisch viel enger mit dem Wirtschaftsraum Rhein-Main in Hessen und Rheinland-Pfalz verflochten, auch da er nur durch eine Laune der Geschichte nach dem Wiener Kongress bayerisch geworden ist. Und auch der Coburger Raum „erlitt“ das gleiche Schicksal, obwohl er in wirtschaftlicher Hinsicht deutlich stärker mit Thüringen und Sachsen verbunden war als mit Passau oder dem Allgäu. 9 

Banken, Saarregion (wie Anm. 3), Bd.1; Toni Pierenkemper, Die Industrialisierung europäischer Montanregionen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2002; Klemens Skibicki, Industrie im oberschlesischen Fürstentum Pless im 18. und 19. Jahrhundert. Zur ökonomischen Logik des Übergangs vom feudalen Magnatenwirtschaftsbetrieb zum modernen Industrieunternehmen, Stuttgart 2002; Ralf Banken, Die Industrialisierung der Saarregion 1815–1914, Bd. 2.: Take-Off-Phase und Hochindustrialisierung 1850–1914, Stuttgart 2004; Nikolaus Olaf Siemaszko, Das oberschlesische Eisenhüttenwesen 1741–1860. Ein regionaler Wachstumssektor, Stuttgart 2011; Juliane Czierpka, Montanindustrielle Führungsregionen der frühen europäischen Industrialisierung im Vergleich. Das Black Country und das Borinage, Stuttgart 2017. Außerhalb der Reihe entstand zudem: Juliane Czierpka/Kathrin Oerters/Nora Thorade (Hg.), Regions, industries and heritage. Perspectives on economy, society and culture in modern Western Europe, Basingstoke 2015. 10  Dirk Schaal, Rübenzuckerindustrie und regionale Industrialisierung. Der Industrialisierungsprozess im mitteldeutschen Raum 1799–1930, Münster 2005; Alf Zachäus, Chancen und Grenzen wirtschaftlicher Entwicklung im Prozess der Globalisierung. Die Kupfermontanregionen Coquimbo (Chile) und Mansfeld (Preußen/Deutschland) im Vergleich 1830–1900, Frankfurt am Main 2012. 11  Michael Schäfer, Eine andere Industrialisierung. Die Transformation der sächsischen Textilexportgewerbe 1790–1890, Stuttgart 2016. 12  Dirk Götschmann, Wirtschaftsgeschichte Bayerns im 19. und 20. Jahrhundert, Regensburg 2010.

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Ralf Banken

Die Ursachen für das geringe Interesse der historischen Forschung am Ansatz der regionalen Industrialisierung in den letzten 20 Jahren sind vielfältig, obwohl gleichzeitig durch das Thema der Industriekultur das Interesse an lokaler und regionaler Industriearchitektur und ehemaligen Unternehmen in Forschung und Öffentlichkeit stark gestiegen ist. Ein Grund hierfür scheint zu sein, dass Untersuchungen über Wirtschaftsregionen, die unabhängig von staatlichen Verwaltungsgrenzen definiert werden und quantitativ arbeiten, einen sehr hohen Arbeitsaufwand erfordern. Dabei wäre es ohne Zweifel lohnenswert, wenn zahlreiche weitere Regionen in den Blick genommen und die Fixierung auf preußische Regionen und die Montanindustrie zugunsten süd- und ostdeutscher Gebiete bzw. nichtmonostrukturierter Regionen wie in Thüringen aufgehoben werden würden. Der Arbeitsaufwand erklärt jedoch nicht allein das Fehlen weiterer Arbeiten über die regionale Industrialisierung, da dieses Paradigma auch andere methodische Zugriffe als den über die kleinsten Verwaltungseinheiten kennt. Eine weitere Ursache ist zweifellos die Konzentration der wirtschaftshistorischen Forschung auf das 20. Jahrhundert. Wie in der Geschichtswissenschaft allgemein wird das 19. Jahrhundert und damit auch die Industrialisierung immer weniger erforscht; einzig die Zeit des Kaiserreichs findet ein gewisses Interesse in der wirtschaftshistorischen Forschung. Ein weiterer Grund ist sicherlich auch, dass sich die Wirtschaftsgeschichte aufgrund der Finanzkrisen von 2001 und vor allem 2008 wieder stärker der Finanz- und Krisengeschichte mit volkswirtschaftlichen und ökonometrischen Analysen auf Makroebene zugewandt hat und räumlich hierfür häufig die Ebene des Nationalstaats gewählt wird. Schließlich ist auch die sogenannte kulturalistische Wende, die sich seit den 1990er Jahren auch in den Geschichtswissenschaften durchgesetzt hat, dafür mitverantwortlich, dass empirische Regionalstudien in der Wirtschaftsgeschichte immer weniger eine Rolle spielen. So wählte die kulturalistisch gewendete Geschichtswissenschaft zwar für den Kieler Historikertag von 2004 das Motto „Kommunikation und Raum“, doch spielten dort empirische Raumstrukturen im Programm keinerlei Rolle. Weder zur regionalen Industrialisierung noch zu irgendeiner anderen empirischen Raumentwicklung gab es Vorträge oder gar Sektionen. Es war bezeichnend, dass in Kiel nicht einmal ein Vortrag zur regionalen Wirtschaftsgeschichte angeboten wurde, weil man damals allerorten kulturalistisch dem – heute wieder außer Mode geratenen – Spatial Turn huldigte und stärker am Denken über Raumkonzepte und Raumwahrnehmung interessiert war und weniger an der Frage, wie sich die regionalen Wirtschaftsstrukturen empirisch verändert haben. Vielfach wurden in den Diskursen zum Spatial Turn sogar die alten Erkenntnisse der regionalen Indus-

Das Konzept der regionalen Industrialisierung revisited

33

trialisierungsforschung nicht zur Kenntnis genommen, zum Beispiel eben die Frage, wie man eine Region definiert.13 Ungeachtet dieser neueren und vielfach wechselnden Moden in der Geschichtswissenschaft ist jedoch zu konstatieren, dass das Potential der regionalen Industrialisierungsforschung noch lange nicht ausgeschöpft ist. Neben der detaillierten Untersuchung einzelner Wirtschaftsregionen – ob nun nach dem Konzept von Fremdling, Pierenkemper und Tilly durch die Kombination der kleinsten Verwaltungseinheiten oder mittels anderer methodischer Zugriffe – gibt es zahlreiche Erkenntnischancen, die die regionale Perspektive auf den Industrialisierungsprozess bietet. Ein besonders fruchtbarer Weg ist dabei, die Handelsverflechtungen zwischen den frühindustriellen Industrieregionen zu analysieren, wie dies Rainer Fremdling in seiner Studie von 1985 über den westeuropäischen Eisenhandel vor 1860 deutlich machte.14 Fremdling konnte dabei detailliert zeigen, wie stark die britischen, belgischen, französischen und deutschen Eisenreviere miteinander ökonomisch verbunden waren und wie stark sie sich gegenseitig in ihrer Entwicklung beeinflussten, unter anderem durch Techniktransfer oder durch gegenseitige Lieferverflechtungen und Importsubstitutionen.15 Auch eine Kombination des regionalen mit dem sektoralen Forschungsansatz bietet viele Möglichkeiten. Im thüringischen Fall verspricht eine Studie über die Frage, in welchem Zusammenhang die erfolgreiche Entwicklung der optischen Industrie mit der restlichen Industrialisierung Thüringens im 19. Jahrhundert stand oder ob die Entwicklung der Optikindustrie einzig als Zufallsprodukt zu werten ist, äußerst spannende Ergebnisse – auch durch eine Kombination mit der modernen Unternehmensgeschichte. Weiterhin stellen die personellen Netzwerke bzw. Unternehmensverflechtungen oder Kapitalströme in der deutschen Frühindustrialisierung lohnende Untersuchungsobjekte dar und sind nur unter Berücksichtigung der regionalen Ebene zu analysieren. Gleiches gilt für den Warenverkehr und die damit zusammenhängende Marktintegration des deutschen Binnenmarktes oder die Adaption neuer Technologien, da es hier bis 1870 große regionale Entwicklungsunterschiede und -muster gab. Neben den interregionalen Verflechtungen stellen auch die verschiedenen innerregionalen Interdependenzen, zum Beispiel die Entwicklung und Bedeutung der Unterneh13  Siehe zum Programm den Berichtsband: Gerhard Fouquet/Arnd Reitemeier (Hg.), Kommunikation und Raum. 45. Deutscher Historikertag in Kiel, 14. bis 17. September 2004, Berichtsband, Neumünster 2005. 14  Rainer Fremdling, Technologischer Wandel und internationaler Handel im 18. und 19. Jahrhundert. Die Eisenindustrien in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Deutschland, Berlin 1986. 15  Vgl. Ralf Banken, Die wachsenden wirtschaftlichen Verflechtungen der westeuropäischen Montanreviere in Frankreich, Belgien, Luxemburg und Deutschland zwischen 1890–1914, in: Cahier Lorraine 2002, S. 107–127.

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Ralf Banken

mensnetzwerke, ein wichtiges Untersuchungsobjekt dar, dessen Bedeutung jedoch in Deutschland bisher kaum wahrgenommen oder untersucht wurde, während sich die ausländische Forschung der Bedeutung regionaler Unternehmenscluster intensiver widmete, etwa für Norditalien.16 Abschließend soll in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Forschungsansatz hingewiesen werden, der die Ergebnisse der regionalen Industrialisierungsforschung in besonders interessanter Weise aufnimmt und fruchtbar aufbereitet. Gary Herrigel betonte nämlich in seiner 1996 erschienenen Dissertation, dass Deutschland faktisch nicht eine, sondern zwei verschiedene Industrialisierungen durchlaufen habe.17 Zum einen habe es Industrieregionen gegeben, die aus weitgehend agrarischen Gebieten entstanden seien und auf keiner größeren Gewerbetradition fußend alle Bereiche der Industrieproduktion und ihrer Lenkung selbst neu aufbauen und integrieren mussten. Zu diesen zählt er unter anderem das Ruhrgebiet, Nordostwestfalen, Brandenburg sowie alte Residenzund Handelsstädte wie Hannover, Kassel, Nürnberg und Augsburg, die im Wesentlichen auch durch Großunternehmen geprägt waren. Diesen regionalen Industrialisierungstyp nennt er dabei die autarke Form der neu entstehenden industriellen Ordnung, während bei ihm der andere Typ als dezentralisierte Form der industriellen Ordnung bezeichnet wird. Dieser wiederum war durch kleine und mittlere Unternehmen gekennzeichnet, die in ihrem lokalen und regionalen Umfeld ein regelrechtes industrielles Cluster bildeten und zumeist auf vorindustriellen Traditionen basierten, wie etwa in Württemberg, Baden, dem Königreich Sachsen, im Bergischen Land, dem Siegerland sowie im Linksrheinischen. Herrigels strukturgeschichtliche Betonung der unterschiedlichen Industrialisierungspfade deutscher Regionen und die große Bedeutung kleinerer und mittlerer Unternehmen ist zwar im Lichte der neueren regionalen Industrialisierungsforschung nicht besonders neu – und seine Argumentation überzeichnet die tatsächliche Entwicklung – dennoch zeigt diese anregende Studie das Potential vergleichender Regionalstudien, unter anderem für die Bestimmung regionaler Einflussfaktoren der Industrialisierung, und erklärt, warum sich die duale Struktur der deutschen Wirtschaft mit wenigen Großunternehmen und einem industriellen Mittelstand bis heute gehalten hat.

16  Michael E. Porter, Locations, Clusters and Company Strategy, in: Gordon L. Clark/ Maryann P. Feldman/Meric S. Gertler (Hg.), The Oxford Handbook of Economic Geography, New York 2000, S. 253–274. 17  Gary Herrigel, Industrial Constructions. The Sources of German Industrial Power, New York 1996.

Das Konzept der regionalen Industrialisierung revisited

35

4. Fazit Insgesamt lässt sich für den deutschen Forschungsstand zur regionalen Industrialisierung konstatieren, dass der Stillstand dieses Forschungsfeldes keinesfalls seinem, noch lange nicht ausgeschöpften, Erkenntnispotential entspricht. Neben der wieder stärkeren Berücksichtigung internationaler Ergebnisse und dem notwendigen Vergleich der regionalen Entwicklung in Deutschland mit ausländischen Regionen bildet Deutschland aufgrund seiner regionalen Disparitäten und staatlichen Zerrissenheit bis 1870 geradezu ein ideales Untersuchungsfeld für die regionale Industrialisierungsforschung, zum Beispiel für eine vergleichende Analyse regionaler institutioneller Rahmenbedingungen.18 Daher sollte die heutige Wirtschaftsgeschichte die einseitig bestehende Konzentration auf das Kaiserreich und das 20. Jahrhundert aufgeben, weil durch Nichtbeachtung der Zeit vor 1870 und hier insbesondere der Frühindustrialisierung nicht nur ein wichtiges Forschungsfeld, sondern auch zentrale Erkenntnismöglichkeiten des Faches verschenkt werden. Der säkulare Strukturwandel zwischen 1750 und 1870 und die vielfältigen Reaktionen der Menschen und Institutionen besitzen in heutigen Globalisierungszeiten einen starken Aktualitätsbezug, so dass das gesellschaftliche Interesse an einer Industrialisierungsforschung durchaus vorhanden ist. Allerdings sollte – auch um weiter Anschluss an die internationale Forschung zu halten – die bisherige zeitliche Fixierung auf das 19. Jahrhundert aufgebrochen werden, damit die evolutionären Entwicklungen einzelner Vorbedingungen des Industrialisierungsprozesses vor 1800 wieder stärker in den Blick geraten. Einige neuere Arbeiten – etwa von Wilfried Reininghaus über das Iserlohner Drahtgewerbe oder von Stefan Gorißen über das Handelshaus der Harkorts in der westfälischen Mark – um nur zwei Beispiele aus dem westdeutschen Raum zu nennen – zeigen, wie groß das Erkenntnispotential neuerer wirtschaftshistorischer Forschungen über das 18. Jahrhundert ist.19 Die regionale Disaggregation des Industrialisierungsprozesses bildet dabei ein hervorragendes methodisches Instrument, um die dargestellten Schwierigkeiten der statistischen Überlieferung für diese frühe Zeit zu überwinden, auch für den thüringischen Fall.

18  Siehe als Beispiel etwa die Diskussion um die Bedeutung der napoleonischen Umbrüche für die deutsche Industrialisierung: Daron Acemoglu u. a., The Consequences of Radical Reform. The French Revolution, in: American Economic Review 2011, S. 3286–3307; Michael Kopsidis/Daniel W. Bromley, The French revolution and German industrialization. Dubious models and doubtful causality, in: Journal of Institutional Economics 2015, S. 161–190. 19  Stefan Gorissen, Vom Handelshaus zum Unternehmen. Sozialgeschichte der Firma Harkort im Zeitalter der Protoindustrie (1720–1820), Göttingen 2002; Wilfried Reininghaus, Die Stadt Iserlohn und ihre Kaufleute (1700–1815), Dortmund/Münster 1992.

36

Ralf Banken

Tab. 1: Die Beschäftigungsstruktur der thüringischen Staaten 1895–190720 Gewerbe

S.-Weimar

S.-Meiningen

S.-Altenburg

1907

1895

1907

1895

1907

1895

Hauptberuflich Erwerbstätige u. berufslose Selbständige

188.676

148.100

122.913

100.070

97.857

80.468

Erwerbstätige

165.573

133.304

112.654

93.232

87.678

73.642

Landwirtschaft

60.187

56.693

33.028

32.106

24.666

24.883

Gärtnerei u. Tierzucht

1.133

812

455

317

608

549

Forstwirtschaft

1.184

1.127

1.182

1.475

524

473

Fischerei

6

14

3

4

5

4

Bergbau

1.261

217

957

373

3.595

1.728

Steine/Erden

7.112

3.877

14.206

9.624

5.735

3.136

Metallverarbeitung

6.699

4.212

5.832

3.772

3.876

2.784

Maschinen u. Apparate

6.120

2.123

2.408

1.195

3.325

1.379

Chem. Industrie

572

333

389

360

166

129

Industrie forstwirt. Nebenstoffe

225

146

142

65

143

108

Textilindustrie

10.223

8.717

3.041

3.253

3.881

3.968 662

Papier

935

618

4.431

2.893

1.100

Leder

1.986

1.559

1.282

1.028

652

607

Holz

5.381

4.200

5.827

5.107

4.912

4.424

Nahrungsmittelindustrie

6.255

5.287

4.430

3.395

5.186

4.309

Bekleidung

7.110

7.812

5.991

6.150

6.543

5.894

Reinigung

1.532

1.097

681

444

924

630

Baugewerbe

16.221

10.608

9.358

6.652

8.169

5.917

Polygraph. Gewerbe

1.083

805

939

592

756

435

Künstl. Gewerbe

213

136

55

26

63

57

andere Fabriken

111

6

106

1

70

4 3.736

Handel

7.425

5.739

4.798

3.951

4.315

Versicherung

389

225

70

44

74

44

Post u. Eisenbahn

4.304

2.240

2.788

1.349

1.786

971

sonstiges Verkehrsgewerbe

1.298

712

869

468

749

592

Gast- und Schankwirtschaft

4.567

3.361

2.106

2.054

1.698

1.473

Summe der Gewerbe Tätigen

153.532

122.676

105.374

86.698

83.521

Wachstumsrate 1895–1907 in %

25,2

21,5

68.896

21,2

20  Statistik des Deutschen Reichs, hg. v. Kaiserlichen Statistischen Amt, Bd. 211; Berufsund Betriebszählung 12.6.1907. Die berufliche und soziale Gliederung des deutschen Volkes, Berlin 1913. Aufgrund der Erhebungs- und Zählweise wurde die Wachstums-

37

Das Konzept der regionalen Industrialisierung revisited S.-CoburgGotha

Gewerbe

SchwarzburgRudolstadt

1907

1895

1907

1895

1907

1895

Hauptber. Erwerbstätige u. berufslose Selbständige

115.421

94.584

39.382

32.050

44.810

36.131

Erwerbstätige

103.016

86.831

35.294

29.390

40.688

33.974 11.770

Landwirtschaft

30.043

29.073

12.511

11.212

13.133

Gärtnerei und Tierzucht

750

651

193

165

182

144

Forstwirtschaft

1.029

1.158

490

513

449

431

Fischerei

1

6

1

1

3

2

Bergbau

229

136

738

136

438

157

Steine/Erden

6.236

4.346

3.440

2.210

5.954

4.380

Metallverarbeitung

6.616

4.704

969

678

943

726

Maschinen u. Apparate

4.215

2.220

701

399

966

619

Chem. Industrie

251

229

177

164

463

308

Ind. forstw. Nebenstoffe

2.66

207

45

30

84

18

Textilindustrie

1.419

1.434

390

535

901

756

Papier

2.590

1.712

212

120

521

216

Leder

1.954

761

605

501

559

564

Holz

6.428

6.297

1.499

1.105

2.452

1.857

Nahrungsmittelindustrie

3.246

3.018

1.529

1.133

1.338

1.271

Bekleidung

6.030

6.044

2.933

2.752

1.535

1.831

Reinigung

1.053

832

247

229

277

195

Baugewerbe

10.197

8.178

2.723

2.189

3.701

2.981

Polygraphisches Gewerbe

745

539

180

172

255

184

Künstl. Gewerbe

200

103

26

19

50

16

Andere Fabriken

125

3

11

2

20

1

Handel

4.987

3.924

1.338

1.306

1.430

1.427

Versicherung

451

244

31

7

29

15 342

Post u. Eisenbahn

2.624

1.312

796

403

879

Sonst. Verkehrsgewerbe

1.063

729

340

239

295

231

Gast- und Schankw.

3.179

2.583

654

651

1084

973

Summe der Gewerbetätigen

95.927

80.443

32.779

26.871

37.941

31.415

Wachstumsrate 1895–1907 in %



SchwarzburgSondershausen

19,2

22,0

20,8

rate nicht anhand der Zahl der Spalten „Hauptberuflich Erwerbstätige und berufslose Selbständige“ bzw. „Erwerbstätige“ errechnet, sondern an der Summe der „Gewerbe Tätigen“, da sich die Anteile nicht auf 100 % beziehen. Die Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur dürfte hierdurch trotzdem richtig wiedergegeben sein.

38

Ralf Banken Reuß älterer Linie

Gewerbe

Reuß jüngerer Linie

1907

1895

1907

1895

Hauptber. Erwerbstätige u. berufslose Selbständige

34084

29.817

69.698

57.524

Erwerbstätige

31.114

28.273

62.688

53.601

Landwirtschaft

4.607

4.566

12.478

11.666

Gärtnerei und Tierzucht

122

91

480

396

Forstwirtschaft

212

222

534

619

Fischerei

0

0

3

2

Bergbau

2

1

60

73

Steine/Erden

643

693

2.127

1.412

Metallverarbeitung

1.010

772

2.687

2.003

Maschinen u. Apparate

820

378

2.310

1.143

Chem. Industrie

21

23

338

277

Ind. forstw. Nebenstoffe

72

50

97

100

Textilindustrie

13.001

11.889

13.697

13.425

Papier

507

231

784

483

Leder

144

96

932

814

Holz

779

658

1.561

1.370

Nahrungsmittelindustrie

915

858

2.922

2.354

Bekleidung

1.177

1.242

2.870

3.026

Reinigung

264

202

646

481

Baugewerbe

2.238

2.248

5.985

4.687

Polygraphisches Gewerbe

211

179

538

357

Künstl. Gewerbe

176

181

136

215

Andere Fabriken

3

0

96

2

Handel

1.635

1.705

3.621

2.956

Versicherung

39

19

96

59

Post u. Eisenbahn

489

289

1.746

844

Sonstiges Verkehrsgewerbe

222

143

594

390

Gast- und Schankwirtschaft

536

471

1.393

1189

Summe der Erwerbstätigen Wachstumsrate 1895–1907 in %

29.845

27.207

58.731

9,7

50.343 16,7

39

Das Konzept der regionalen Industrialisierung revisited

Tab. 2: Die Entwicklung der Wirtschaftsstruktur in den thüringischen Staaten 1895 und 1907 in Prozent21 S.-Weimar

S.-Meiningen

S.-Altenburg

1907

1895

1907

1895

1907

1895

Landwirtschaft

40,7

47,8

32,9

39,1

30,9

37,6

Gewerbe

47,6

42,2

57,0

51,8

58,8

52,5

Dienstleistungen

11,7

10,0

10,1

9,1

10,3

9,9

Summe

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

S.-CoburgGotha

SchwarzburgSondershausen

SchwarzburgRudolstadt

1907

1895

1907

1895

1907

1895

Landwirtschaft

33,2

38,4

40,3

44,3

36,3

39,3

Gewerbe

54,0

50,7

50,1

46,0

53,9

51,2

Dienstleistungen

12,8

10,9

9,6

9,7

9,8

9,5

Summe

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

Reuß älterer Linie

Reuß jüngerer Linie

1907

1895

1907

1895

Landwirtschaft

16,6

17,9

23,0

25,2

Gewerbe

73,7

72,4

64,3

64,0

Dienstleistungen

9,8

9,7

12,7

10,8

Summe

100,0

100,0

100,0

100,0

21  Vgl. ebd. Eigene Berechnungen.

40

Ralf Banken

Tab. 3: Die Beschäftigungsstruktur in Sachsen-Weimar 189522 ohne Beruf Öff. Dienst, freie Berufe Häusl. Dienste, Tagelöhner Gast- und Schankwirtschaft Verkehr Versicherung Handel andere Fabriken Künstl. Gewerbe Polygraph. Gewerbe Baugewerbe Reinigung Bekleidung Nahrungsmittelindustrie Holz Leder Papier Textilindustrie Industrie forstwirt. Nebenstoffe etc. Chem.Industrie Maschinen u. Apparate Metallverarbeitung Steine/Erden Bergbau Forstwirtschaft Landwirtschaft

9602 2436 4567 5602 389 7425 111 213 1083 1532

23103

16221

7110 6255 5381 1986 935 10223 225 572 6120 6699 7112 1261 1190 0

10 00 0

20 00 0

61320 30 00 0

40 00 0

50 00 0

60 00 0

70 00 0

Tab. 4: Die Beschäftigungsstruktur in Sachsen-Weimar 190723

22  Vgl. Statistik des Deutschen Reichs, Berufs- und Gewerbezählung vom 14.6.1895, hg. v. Kaiserlichen Statistischen Amt, NF Bd. 109, Berlin 1897; Berufs- und Betriebszählung vom 12.6.1907, hg. v. Kaiserlichen Statistischen Amt, NF Bd. 209, Berlin 1910. 23  Vgl. ebd. Eigene Berechnungen.

Tobias K aiser

Protoindustrialisierung in Thüringen Konzeptionelle Fragen vor dem Hintergrund der erfolgreichen Industrialisierung des Textilgewerbes in Apolda

Heinrich Moritz Gottlieb Grellmanns „Historisch-statistisches Handbuch von Teutschland“ aus dem Jahr 1801 berichtet von einem aufblühenden Textilgewerbe – moderner als Tuchmacherei und Leinenweberei –, das entstanden sei, weil „ein großes und hochverdientes Genie in England, die bewunderungswürdige Maschine und Kunst erfand, Strümpfe zu wirken“,1 also jene Technik, die man vereinfacht als maschinelles Stricken bezeichnen könnte. Grellmann führt weiter aus, dass die Wirkerei inzwischen in vielen Gebieten Deutschlands „von vorzüglicher Wichtigkeit“2 sei, um dann zu betonen: „Die erste und größte Strumpfmanufactur unter allen Provinzen Teutschlands aber hat unstreitig die Stadt Apolda im Fürstenthume Weimar […] Nur Aberdeen möchte sich vielleicht unter allen bekannten Manufacturen der Art mit dem Teutschen Apolda messen dürfen.“3 Grellmann beschreibt hier die Situation des 18. Jahrhunderts, also vor den Prozessen, die gewöhnlich als Industrialisierung oder auch als Industrielle Revolution bezeichnet werden. Im „Herbst des alten Handwerks“4 war in Apolda ein bemerkenswertes frühneuzeitliches Gewerbezentrum entstanden. Die Forschung hat für solche Formen von verdichtetem frühneuzeitlichen Gewerbe den Begriff „Protoindustrialisierung“ geprägt, mit dem die dezentrale Produktion – oft im Nebenerwerb auf dem Land – für entfernte Märkte noch vor der

1  H[einrich] M[oritz] G[ottlieb] Grellmann, Historisch-statistisches Handbuch von Teutschland und den vorzüglichsten seiner besonderen Staaten. Erster Theil. Allgemeiner Abriß des Teutschen Reichs, Göttingen 1801, S. 130. Hervorhebungen im Original. 2  Dies gelte „in einigen Theilen von Schwaben, im herzoglichen und kurfürstlichen Sachsen, in den Anhaltischen Landen, im Saalkreise des Herzogthums Magdeburg, und in Schlesien“, ebd., S. 131. 3  Ebd., S. 131 und S. 141, Anm. h. Hervorhebungen im Original. 4  Vgl. Michael Stürmer, Herbst des alten Handwerks. Quellen zur Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, München 1979.

42

Tobias Kaiser

Entstehung zentralisierter Fabriken sprachlich und konzeptionell als eine Vorform der Industrialisierung konturiert wird. Bemerkenswert am Beispiel Apolda ist, dass sich in dieser Stadt in der Folgezeit dann tatsächlich ein erfolgreicher Industriestandort entwickeln sollte, dessen Wurzeln sich zweifellos im protoindustriellen Textilgewerbe verorten lassen. Im 19. Jahrhundert stieg die Einwohnerzahl Apoldas. Die Stadt wurde angesichts der boomenden Industrie auch „Manchester Thüringens“ genannt und die gründerzeitlichen Industriebauten lassen Bürgerstolz und florierendes Wirtschaftsleben erkennen.5 Ziel dieses Aufsatzes ist es, anhand des anscheinend erfolgreichen Beispiels Apolda allgemeine Fragen zur Bedeutung der „Protoindustrialisierung“ in Thüringen zu formulieren und damit den theoretischen Rahmen dieses Konzepts zur Diskussion zu stellen. Dieses kann nur gelingen, wenn zunächst beides präsentiert wird: das Konzept und das Beispiel, um dann einige Schlussfolgerungen zu ziehen und vor allem weiterführende Fragen zu stellen. Angesichts des Thüringen prägenden städtischen und ländlichen Kleingewerbes, das häufig zunächst im Verlagswesen organisiert und dann teilweise zentralisiert wurde, mag ein Nachdenken über die Protoindustrialisierung von allgemeinem Interesse sein.

1. Protoindustrialisierung – Bedeutung, Konzepte und Probleme „In the early 1970s an ugly new word – ‚proto-industrialization‘ – entered the literature of economic history and since then rapidly colonized books, articles and even undergraduate essays“.6 Protoindustrialisierung, das „hässliche neue Wort“, wie es Leslie A. Clarkson hier etwas respektlos nennt, wurde zunächst in Aufsätzen des „Journal for Economic History“ in die öffentliche Diskussion einge-

5 

6 

Walter Schulz, Apolda, das Manchester Thüringens [1902], in: Reinhard Escher (Hg.), So haben wir gelebt. Thüringen vor hundert Jahren, Gehren 1997, S. 293. Zur Geschichte Apoldas und seines Gewerbes vgl. Werner Greiling, Im Schatten von Weimar und Jena. Apoldas Weg in die Moderne, in: ZVThG 56 (2002), S. 299–318. Sehr gut gestaltet: Thomas Bahr, 400 Jahre Apoldaer Strickerei 1593–1993, Apolda 1993. Durchaus lesenswert auch die ältere Literatur; vgl. vor allem J[ulius] C[onstantin] Kronfeld, Geschichte und Beschreibung der Fabrik- und Handelsstadt Apolda und deren nächster Umgebung, Apolda 1871; Helmut Möller, Handwerk und Industrie im Fürstentum Sachsen-Weimar und der Jenaischen Landesportion während des 18. Jahrhunderts, Diss. Jena 1951 (MS); Hans Eberhardt, Goethes Umwelt. Forschungen zur gesellschaftlichen Struktur Thüringens, Weimar 1951; Thomas Bahr u. a., 700 Jahre Stadt Apolda 1289–1989, Apolda 1989. L[eslie] A. Clarkson, Proto-Industrialization. The First Phase of Industrialization?, London 1985, S. 9.

Protoindustrialisierung in Thüringen

43

bracht, wobei der Schöpfer des Begriffs, Franklin F. Mendels, den Ausdruck aus Verlegenheit, „for lack of a better name“, gewählt haben will.7 In Deutschland wurde das Konzept durch die Arbeit einer Projektgruppe des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte vorangetrieben, die 1978 ihr Referenzwerk „Industrialisierung vor der Industrialisierung“8 vorlegte, das als „genereller Überblick über ein wenig beachtetes Forschungsgebiet gedacht“9 gewesen war, so Hans Medick, der neben Jürgen Schlumbohm und Peter Kriedte zum Kern der Göttinger Gruppe gehörte. In der Folgezeit wurde das Konzept von verschiedenen Seiten aufgegriffen, diskutiert und modifiziert, sodass es sich „in eine Familie verschiedener Theorien verwandelt“10 hat. Dabei dehnte sich die „proliferation of polysyllabic nouns“11 bald schon so weit aus, dass beispielsweise auch eine „post-proto-industrielle Phase“ diskutiert wurde.12 Bei all dem ist vor allem bemerkenswert, dass sich die Begrifflichkeit durchgesetzt hat, „ohne daß das dahinterstehende Konzept allgemein akzeptiert wurde“ – ein Effekt, den Wilfried Reininghaus die „Karriere eines Begriffs“ nennt.13 Ulrich Pfister konstatiert, dass sich „ein pragmatischer P.-Begriff, der sich weitgehend vom ursprünglichen Konzept löste“, durchgesetzt habe.14 Ganz allgemein bezeichnet der Terminus Protoindustrialisierung den Prozess der Konzentration gewerblicher Produktion, wobei in einer verdichteten Gewerbelandschaft Waren für den überregionalen Vertrieb im Verlagswesen herge7  8  9  10  11 

12  13  14 

Franklin F. Mendels, Proto-industrialization. The First Phase of the Industrialization Process, in: The Journal of Economic History 32 (1972), S. 241–261, hier S. 241. Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsphase des Kapitalismus, Göttingen 1978. Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996, S. 18. Markus Cerman/Sheilagh C. Ogilvie, Einleitung: Theorien der Proto-Industrialisierung, in: diess. (Hg.), Proto-Industrialisierung in Europa. Industrielle Produktion vor dem Fabrikzeitalter, Wien 1994, S. 9–22, hier S. 9. Clarkson, Proto-Industrialization (wie Anm. 6), S. 63 über die englische Übersetzung von Kriedte/Medick/Schlumbohm, Industrialisierung (wie Anm. 8): „Translation is only partly to blame for the proliferation of polysyllabic nouns and almost endless sentences.“ Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm, Sozialgeschichte in der Erweiterung – Proto-Industrialisierung in der Verengung?, in: Geschichte und Gesellschaft 18 (1992), S. 233 und ebd., Anm. 70. Wilfried Reininghaus, Gewerbe in der frühen Neuzeit, München 1990, S. 81. Vgl. auch Wolfgang Mager, Protoindustrialisierung und Protoindustrie. Vom Nutzen und Nachteil zweier Konzepte, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), S. 279. Ulrich Pfister, Protoindustrialisierung, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 10, Stuttgart/Weimar 2009, Sp. 505–514, hier Sp. 506.

44

Tobias Kaiser

stellt wurden. Die Theorie bezieht dabei Aspekte der Historischen Demographie mit ein und impliziert eine Bedeutung der Gewerberegionen für die Entwicklung zur modernen Fabrikproduktion. Die theoretisch ambitionierte Konzeption wollte weitgehende Erklärungen liefern, warum sich die Arbeitswelt im Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne veränderte. Sie sollte beschreiben, wie aus feudalen, auf altem Handwerk und landwirtschaftlich geprägter Heimarbeit fußenden Gewerbelandschaften Industriestandorte entstanden oder warum diese Entwicklung ausblieb, wobei differenzierte Hypothesen zur demographischen und sozialen Entwicklung am Anfang standen.

1.1. Der ursprüngliche Ansatz des Protoindustrialisierungs-Konzeptes Als Kern der damals neuen Theorie stellten die Protagonisten ein altes Thema heraus: das Verlagswesen, jenes „nahezu vergessene Lieblingsobjekt […] der Historischen Schule der Nationalökonomie“.15 In Verbindung mit der Analyse der Auflösung der traditionellen Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land lenkte man die Aufmerksamkeit auf die durch den Verlag eingebundenen Produzenten auf dem Land, die an der Fertigung von Waren für den überregionalen Handel beteiligt waren. Im Ansatz der Protoindustrialisierung wurde diese Erscheinung in einen Zusammenhang mit der Industriellen Revolution gestellt. Mendels stellte die These auf, dass hier die erste Phase der Industrialisierung auszumachen sei, „part and parcel of the process of ‚industrialization‘ or, rather, as a first phase which preceded and prepared modern industrialization proper“.16 In einem Briefwechsel mit Jürgen Kuczynski nannte Mendels die Gründe für seinen neuen Ansatz: „Was mich endgültig davon überzeugte, daß die marktorientierte ländliche Manufaktur etwas war, das schon der Industrialisierung – dem Kapitalismus, wenn Sie wollen – zu ähneln begann, war die Entdeckung ihrer demographischen Folgen.“17 Die Protoindustrialisierung habe zu einem völlig neuen demographischen Verhalten, zu frühen Heiraten und Bevölkerungswachstum geführt, so Mendels. Die deutsche Forschergruppe hat den von Mendels eingeschlagenen Weg ausdrücklich fortgesetzt.18 Dabei hat sie „um 1500 Abhandlungen aus allen europä-

15  Hans Linde, Proto-Industrialisierung: Zur Justierung eines neuen Leitbegriffs der sozialgeschichtlichen Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), S. 103. 16  Mendels, Proto-industrialization (wie Anm. 7), S. 241. 17  Franklin F. Mendels, in: Jürgen Kucynski/Franklin F. Mendels, Zum Problem der Protoindustrialisierung. Ein Briefwechsel, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1984) 2, S. 157. 18  Kriedte/Medick/Schlumbohm, Industrialisierung (wie Anm. 8), S. 26.

Protoindustrialisierung in Thüringen

45

ischen Sprachen“19 ausgewertet und ein komplexes Theoriemodell entwickelt. Protoindustrialisierung definierten Kriedte, Medick und Schlumbohm „als Herausbildung von ländlichen Regionen, in denen ein großer Teil der Bevölkerung ganz oder in beträchtlichem Maße von gewerblicher Massenproduktion für überregionale und internationale Märkte lebte“.20 Die Autoren verstanden Protoindustrialisierung nun nicht mehr wie Mendels als erste Phase des Industrialisierungsprozesses, sondern lockerten den Nexus zwischen Protoindustrialisierung und „echter“ Industrialisierung zugunsten einer langfristigeren, „epochalen“ Perspektive: Die Protoindustrialisierung sei „in den Zusammenhang der Übergangsepoche zwischen feudaler Agrargesellschaft und industriellem Kapitalismus“21 zu stellen, allerdings belege sie in Bezug auf die Industrialisierung „[g]egen die Vorstellung eines einheitlichen, weltbeherrschenden und weltverändernden plötzlichen Take-Off zur ‚Industriellen Revolution‘ […] die Perspektive der Vielfalt, langen Dauer und historischen Offenheit“.22 Durch die Protoindustrialisierung komme es zur Destabilisierung der Agrarverfassung. Das „Handelskapital“, auf kapitalistischen Gewinn ausgerichtet, nutze das Freiwerden von Arbeitskraft aus und verlagere beziehungsweise erweitere den Standort der Produktion von der Stadt auf die Dörfer.23 Soweit die Argumentation von „Industrialisierung vor der Industrialisierung“. Für die Anwendbarkeit des Konzepts auf das Beispiel Apolda scheint einiges zu sprechen, vor allem, da in Apolda tatsächlich der protoindustriellen Blüte eine gelungene Industrialisierung folgte. Zwar liegen hinreichende demographische Daten nicht vor, jedoch ist auf jeden Fall eine im Zusammenhang zur Wirkerei stehende Bevölkerungszunahme nachweisbar, die stark durch Zuwanderung bedingt war. Zwar scheint Apolda als Stadt nicht in das ursprüngliche Konzept der Protoindustrialisierung zu passen, das das ländliche Gewerbe betont und die städtische Wirtschaft negativ einschätzt. Doch diese Position wurde von Kriedte, Medick und Schlumbohm geändert: „Die Rolle der Stadt innerhalb der proto-industriellen Dynamik wurde von uns unterschätzt, der Zusammenhang zwischen ländlicher Hausindustrie und städtischer Wirtschaft zu undifferenziert negativ gesehen.“24 Damit griff man die Kritik Eckart 19  Geschätzt von Linde, Proto-Industrialisierung (wie Anm. 15), S. 104. 20  Kriedte/Medick/Schlumbohm, Industrialisierung (wie Anm. 8), S. 26. 21  Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm, Die Proto-Industrialisierung auf dem Prüfstand der historischen Zunft. Antwort auf einige Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 99. 22  Medick, Weben und Überleben (wie Anm. 9), S. 16, über den Ansatz von Kriedte/ Medick/Schlumbohm, Industrialisierung (wie Anm. 8). Vgl. ausführlich zur Ursachendebatte Hans-Werner Hahn, Die industrielle Revolution in Deutschland, München 1998, S. 57–76, zum „Take-off“ zudem S. 54 f. 23  Peter Kriedte, in: Ders./Medick/Schlumbohm, Industrialisierung (wie Anm. 8), S. 59. 24  Kriedte/Medick/Schlumbohm, Prüfstand (wie Anm. 21), S. 87.

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Tobias Kaiser

Schremmers auf und bezog die Städte mit ein.25 Vor allem war es Peter Kriedte, der sich in seiner Spezialstudie Krefeld, also einer Stadt, zuwandte und damit eine Neuorientierung und Öffnung zur Stadtgeschichtsschreibung vollzog, nachdem er 1978 noch Zünfte als „wachstumsfeindlich“ bezeichnet hatte und das städtische Gewerbe „gegenüber der ungewohnten Konkurrenz“ dem Verfall preisgegeben ansah.26 Die Protoindustrialisierung zeige, so die neue Variante, statt dessen „ein doppeltes Gesicht: alte städtische Zentren wurden partiell entwertet, andere wurden neu gebildet“.27 Könnte also eine so für Stadt und Stadtbürgertum geöffnete Theorie der Protoindustrialisierung den richtigen Hintergrund für die Beschreibung der Apoldaer Strumpfwirkerei abgeben, obwohl diese im städtischen Umfeld und in handwerklicher Tradition verwurzelt blieb? Bevor hierzu eine Stellungnahme möglich ist, soll der Blick auf die Kritikpunkte der Protoindustrialisierung gerichtet werden. Zu beachten ist nämlich vor allem, dass zu dem Zeitpunkt des Erscheinens von „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ nur eine verschwindend geringe Anzahl von empirischen Studien (aber bereits eine Vielzahl von Theorievarianten) vorlag.28 In der Folgezeit mehrten sich kritische Stimmen. Deshalb soll im Folgenden diese „‚second generation‘ of research on proto-industrialization“29, um es mit Sheilagh C. Ogilvie auszudrücken, zu Wort kommen.

1.2. Kritik, Debatten, Weiterentwicklung und Resignation „Das theoretische Konzept der Proto-Industrialisierung erlebte seinen Höhepunkt zu Beginn der achtziger Jahre und scheint mittlerweile in die Jahre gekommen zu sein“30, meinte schon 1994 eine Rezensentin der gerade erschienenen Habilitationsschrift Jürgen Schlumbohms. Diese löste das Versprechen ein, dem 1978 aufgestellten theoretischen Fahrplan die entsprechenden Fallstudien folgen zu lassen. Dabei hat Schlumbohm eine Region untersucht, in der eine weit verbreitete nebengewerbliche Leinenproduktion im 18. Jahrhundert vorherrschte, später 25  Eckart Schremmer, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Anmerkungen zu einem Konzept der Proto-Industrialisierung, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), S. 425. 26  Peter Kriedte, in: Ders./Medick/Schlumbohm, Industrialisierung (wie Anm. 8), S. 59. 27  Peter Kriedte, Eine Stadt am seidenen Faden. Haushalt, Hausindustrie und soziale Bewegung in Krefeld in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1991, S. 51. 28  Vgl. Sheilagh C. Ogilvie, Proto-industrialization in Europe, in: Continuity and Change 8 (1993), S. 160. 29  Ebd., S. 175. 30  Jutta Nowosadtko, Rezension zu „Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe […]“, in: Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 255.

Protoindustrialisierung in Thüringen

47

die Fabrik-Industrialisierung aber nicht einsetzte.31 Die erhofften Erkenntnisse, warum die Protoindustrialisierung dort nicht zur Industrialisierung führte, blieben aus. Stattdessen änderte sich das Forschungsinteresse und die Arbeit wurde zu einer Fallstudie der demographischen Familienrekonstruktion. Von der Kritik wird dies als „schlagender Beweis dafür [gesehen], wie sehr manche vorschnelle Verallgemeinerung, die sich dann zur Theorie auswächst, der empirischen Absicherung bedarf“.32 Wie Schlumbohm beschäftigte sich auch Hans Medick mit der Leinenproduktion, indem er die Entwicklung des Marktfleckens Laichingen im Herzogtum Württemberg untersuchte. Auch sein Forschungsziel änderte sich dadurch: Es gelte „die Proto-Industrialisierungsdiskussion nicht etwa gewerbe- und wirtschaftsgeschichtlich zu verengen“33 , sondern durch anthropologische Fragestellungen zu einer mikrohistorischen und lebensweltlichen Beschreibung zu öffnen: „Lokalgeschichte als mikro-historisch begründete Allgemeine Geschichte“34 hieß das Motto, das Medick vorantrieb. Peter Kriedte schließlich wandte sich in seiner Monographie zu Krefeld dem späteren 19. Jahrhundert zu, öffnete sich – wie schon erwähnt – der Stadtgeschichtsschreibung und bezog ebenso die Unruhen der Revolution des Jahres 1848 mit ein. Insgesamt blieben die empirischen Ergebnisse im Vergleich zu den weitreichenden theoretischen Entwürfen ernüchternd. Hierzu nur vier konkrete Punkte: 1. Zu den sicherlich weitreichendsten und faszinierendsten Thesen der Protoindustrialisierungs-Forscher gehörte es, einen Grund für die Entwicklung einer späteren Industrialisierung gefunden zu haben. Für das deutsche Beispiel kann man jedoch sagen, daß „die moderne deutsche Fabrikindustrie kaum oder gar nicht an die protoindustriellen Zentren [hat] anknüpfen können“.35 Auch in gesamteuropäischer Perspektive ist das Bild ernüchternd: Die „protoindustriell“ zu nennenden Gebiete verteilten sich relativ gleichmäßig über den Kontinent, völlig unabhängig davon, ob und wann sie industrialisiert wurden.36 Zwar gab es Fälle einer nachfolgenden industriellen Entwicklung, ebenso jedoch auch Beispiele der Reagrarisierung. Diese Möglichkeit hatten Kriedte, Medick und Schlumbohm zwar bereits gesehen 37 – Es ist ihnen jedoch nicht gelungen, typi31  Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860, Göttingen 1994. 32  Walter Achilles, Rezension zu „Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe […]“, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 82 (1995), S. 531. 33  Medick, Weben und Überleben (wie Anm. 9), S. 20. 34  Ebd., S. 13. 35  Hahn, Die industrielle Revolution (wie Anm. 22), S. 68. 36  Vgl. Ogilvie, Proto-industrialization (wie Anm. 28), S. 175 f. 37  Vgl. Cerman/Ogilvie, Einleitung (wie Anm. 10), S. 11.

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Tobias Kaiser

sche Ursachen für die eine oder andere Entwicklung zu isolieren: „Die konkreten Gründe für die Entwicklung zur De-Industrialisierung bleiben weitgehend unklar.“38 2. Das demographische Muster Mendels’ wie auch Medicks „Modell der Strategien proto-industrieller Familien, um zu zeigen, daß es eine innere Logik und Rationalität ihres demographischen Verhaltens gab“39, konnten ein eingetretenes oder auch ausgebliebenes Bevölkerungswachstum nicht erklären, sodass allgemein, auch von den „Schöpfern der ursprünglichen Theorien“, eingeräumt werden musste, „daß die demographischen Voraussagen durch die empirischen Forschungsergebnisse nicht generell bestätigt werden können“.40 Die Göttinger Autoren sprachen sich deshalb für Familien- und Lebenslaufrekonstruktion aus, die ein breites Spektrum variabler Verhaltensmuster darzustellen erlaubten.41 3. „Auch stand die Proto-Industrialisierung nicht immer mit dem Zusammenbruch des Feudalismus im Zusammenhang“42 , so das Resümee von Markus Cerman und Sheilagh C. Ogilvie. Oftmals trug die Protoindustrialisierung sogar dazu bei, dass alte Strukturen erhalten blieben, in anderen Fällen hingegen veränderte sich die Agrarverfassung, ohne dass es sich um protoindustrielle Regionen handelte. 4. Es wurde von Anfang an die mangelnde Differenzierung zwischen ländlichem Nebengewerbe und vollberuflicher Beschäftigung kritisiert, wie auch die Konzentration auf das Textilgewerbe und speziell die Leinenproduktion.43 Die Strumpfwirkerei wurde, wie Wolfgang Mager zutreffend herausstellte, meist in vollberuflicher Arbeit betrieben – im Gegensatz zum Spinnen und Weben.44 Sie wird deshalb in „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ kaum beachtet.45 38  Ebd., S. 14 f. 39  Jürgen Schlumbohm, „Proto-Industrialisierung“ als forschungsstrategisches Konzept und als Epochenbegriff. Eine Zwischenbilanz, in: Cerman/Ogilvie (Hg.), Proto-Industrialisierung in Europa (wie Anm. 10), S. 24 f. über das Konzept Medicks. 40  Cerman/Ogilvie, Einleitung (wie Anm. 10), S. 16. Ebenso Kriedte/Medick/Schlumbohm, Sozialgeschichte in der Erweiterung (wie Am. 12), S. 77 f.; vgl. auch Toni Pierenkemper, Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1994, S. 55 f. 41  Kriedte/Medick/Schlumbohm, Sozialgeschichte in der Erweiterung (wie Anm. 12), S. 87. 42  Cerman/Ogilvie, Einleitung (wie Anm. 10), S. 20. 43  Vgl. Schremmer, Industrialisierung vor der Industrialisierung (wie Anm. 25), S. 423–425 und Friedrich-Wilhelm Henning, zitiert nach Pierenkemper, Gewerbe und Industrie (wie Anm. 40), S. 54. 44  Vgl. Mager, Protoindustrialisierung und Protoindustrie (wie Anm. 13), S. 285. 45  Vgl. das Register bei Kriedte/Medick/Schlumbohm, Industrialisierung (wie Anm. 8), S. 392. Peter Kriedte bezieht später die einschlägigen Beispiele der Verlagerung von Strumpfwirkerei auf das Land (London, Chemnitz) mit ein; Vgl. Kriedte, Stadt am seidenen Faden (wie Anm. 27), S. 23.

Protoindustrialisierung in Thüringen

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Letztlich stellt das Konzept der Protoindustrialisierung eine Einschränkung dar, die nicht alle Gewerbelandschaften erfasst, worauf Karl Heinrich Kaufhold hinwies.46 Die neue Gesamtdarstellung zum sächsischen Textilexportgewerbe stellt deshalb „Varianten der Protoindustrialisierung“ pragmatisch nebeneinander.47 Von Ulrich Pfister stammt der jüngste Versuch, die Protoindustrialisierungstheorie „konzeptionell wiederzubeleben“48 , der unter anderem auch an diesem Kritikpunkt ansetzt. Sein Konzept läuft auf eine regionale Differenzierung hinaus und versucht mit mathematischen Methoden, die jeweiligen „größenabhängigen Transaktionskosten“ zu berücksichtigen.49 Bei diesen Monita ist man geneigt, das Konzept der Protoindustrialisierung eher als hinderlich denn als dienlich für eine Beschreibung des Phänomens der Herausbildung von frühneuzeitlichen Gewerbelandschaften und deren Weiterentwicklung in der Industrialisierung anzusehen. Stefan Gorißen formuliert deutlich: Die Fülle disparater empirischer Befunde sowohl zum Problem der agrarisch-heimgewerblichen Verflechtung im protoindustriellen System als auch zu den demographischen Implikationen hebeln die Modellüberlegungen weitgehend aus. […] Was mit dem Anspruch begonnen wurde, Erklärungen für zentrale Prozesse beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus zu liefern, verkümmerte in der empirischen Umsetzung zu mikrohistorischen Beispielsammlungen zur Demographie und Haushaltsforschung.50

Auf die innovativen Schlussfolgerungen, die Gorißen aus diesem Befund zieht, und die konzeptionellen Erweiterungen, die er vorschlägt, wird im Fazit dieses Aufsatzes noch einzugehen sein. Unbestritten bleibt eigentlich nur die heuristische, forschungsanregende Funktion des Konzepts. Schon 1986 äußerte sich Jürgen Kocka entsprechend: Auch wenn die empirischen Überprüfungen der hieraus entstehenden Hypothesen oftmals zu negativen Ergebnissen zu führen scheinen […] und sich die empirischen Erträge bisher überhaupt sehr in Grenzen halten – dies war einer der interessantesten Neuansätze im letzten Jahrzehnt, und er integrierte Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte.51 46  Karl Heinrich Kaufhold, Gewerbelandschaften in der frühen Neuzeit (1650–1800), in: Hans Pohl (Hg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 1986, S. 112–202, hier S. 186 f. 47  Vgl. Michael Schäfer, Eine andere Industrialisierung. Die Transformation der sächsischen Textilexportgewerbe 1790–1890, Stuttgart 2016, S. 46–64. 48  So die Formulierung im Forschungsüberblick ebd., S. 12. 49  Ulrich Pfister, Proto-industrielles Wachstum. Ein theoretisches Modell, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1998) 2, S. 21–47, hier S. 45. Vgl. auch ders., Protoindustrialisierung (wie Anm. 14). 50  Stefan Gorissen, Vom Handelshaus zum Unternehmen. Sozialgeschichte der Firma Harkort im Zeitalter der Protoindustrie (1720–1820), Göttingen 2002, S. 19. 51  Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme, Göttingen 21986, S. 143.

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Und Jürgen Kuczynski bezeichnete die Protoindustrialisierung als talentierten Fehler, der „für den Fortschritt der Wissenschaft […] außerordentlich fruchtbar und darum auch begrüßenswert“52 sei.

2. Das Beispiel der Apoldaer Strumpfwirker Die Apoldaer Textilindustrie wurde eingangs als ein gelungenes Beispiel für eine verdichtete Gewerbelandschaft, die sich später zum Industriestandort entwickelte, charakterisiert. Um zu beurteilen, ob und wie das Fallbeispiel angesichts der ernüchternden Forschungsgeschichte des Protoindustrialisierungskonzepts einzuordnen ist, gilt es nun zunächst, die Apoldaer Besonderheiten herauszustellen. Eine solche ist, dass die Regierung des Kleinstaats Sachsen-Weimar die Strumpfwirkerei im 18. Jahrhundert als boomendes und zukunftsträchtiges Gewerbe erkannte und in einen besonderen rechtlichen Rahmen stellte. Statt lokal gebildeter Zünfte und Innungen wurde 1713 für Sachsen-Weimar ein so genanntes Manufakturreglement erlassen, wobei der Begriff allerdings nichts mit der „Manufaktur“ im modernen oder im Marxschen Sinne zu tun hat.53 Die Strumpfwirkerei des Landes war im Verlagswesen organisiert und wurde mit dem Reglement zum staatlich privilegierten Gewerbe. Die Handwerksmeister waren nicht frei im Verkauf ihrer Waren. Nur die Verleger durften mit Strümpfen handeln, Hausieren wurde untersagt und die Verleger waren verpflichtet, die Ware „in ganzen und en gros zu verhandeln“.54 Das Verlagssystem wurde also zwingend vorgeschrieben. Die Verleger bildeten die Spitze des „Manufakturkollegiums“, dessen Aufgabe es war, die Einhaltung des Manufakturreglements zu überwachen. Hierzu gehörte das Führen des Meisterbuchs, die Registrierung (Stempelung) der Wirkstühle, die Entscheidung in Streitigkeiten und das Anfertigen von Berichten an die Regierung. Das Kollegium wurde durch Wahlen bestimmt. Ihm gehörten drei Oberälteste aus der Gruppe der Verleger (§19) und drei – später acht55 – Geschworene (§15) aus der Gruppe der Meister an. Das Kollegium bereitete die Quartalstreffen aller 52  Jürgen Kuczynski, in: Ders./Mendels, Briefwechsel (wie Anm. 17), S. 152. 53  Strumpf-Manufactur. Reglement für das gesammte Weimarische Fürstenthum, in: Johannes Schmidt (Hg.), Aeltere und neuere Gesetze, Ordnungen, Cirkurlar-Befehle für das Fürstenthum Weimar und die Jenaische Landes-Portion bis zum Ende des Jahres 1799 in einen alphabetischen wörtlichen Auszug gebracht, 11 Bände, Jena 1800–1805, hier Bd. 4, S. 384–408. Vgl. auch die nachfolgenden „Regulative, Rescripte, Resolutionen und Circularien“, 1732–1799, in: ebd., S. 408–416. 54  Ebd., Paragraph 8. Die Ausnahme bildete der Verkauf einzelner Strümpfe „an die Inwohner des Ortes, da sie wohnen“, zum alltäglichen Bedarf. 55  August Schumann, Vollständiges Staats-, Post- und Zeitungslexikon von Sachsen […], Bd. 1, Zwickau 1814. zu Apolda S. 167–173, hier S. 169.

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Verleger und Meister vor. All diese Gremien entsprachen vollständig den Handwerksgewohnheiten,56 nur mit dem Unterschied, dass die Strumpfverleger daran beteiligt waren. Das System bot Aufstiegschancen, die in der zeitgenössischen Literatur gelobt wurden. So war es den Gesellen erlaubt, „unter der Hand […] einen Stuhl nach und nach anzuschaffen“ (§33), auf dem er allerdings nicht für sich arbeiten lassen durfte, bevor er das Meisterrecht erworben hatte. Zur Meisterrechtserwerbung musste der Geselle zudem das Bürgerrecht einer Stadt erworben haben und einen Wirkstuhl selbst besitzen. Besaß er zwei Stühle, durfte er einen Lehrling ausbilden. Die Verhaltensweisen, Alltags- und Festkultur, Ehrvorstellungen und Rechtsgebräuche der „Manufaktur“ entsprachen den Regeln des alten Handwerks. Im Apoldaer Stadtmuseum ist ein so genannter „Willkomm“, ein großer Trinkpokal, der bei Zünften üblich war und aus dem zu feierlichen Anlässen gemeinsam getrunken wurde, aus dem Jahr 1745 erhalten.57 Neben der „Lade“ war er ein materielles Symbol des Gewerbes.58 Für die Apoldaer Strumpfwirker galten Kleidervorschriften, die man aus der Erlanger Gesellenordnung übernommen hatte. Um sich „auch äußerlich einen feinen Anstrich zu bewahren“, galt, „daß außer den Werktagen bei Strafe kein Geselle ohne Stock und Handschuhe ausgehen solle“.59 Es gab Handwerksrituale, auch die Protestformen waren zünftig organisiert bis hin zum Gesellenstreik und dem Auszug aus der Stadt.60 Man fühlte sich den Personen außerhalb der Zunft überlegen. Vor allem diese kulturelle und strukturelle Ausgestaltung des Manufakturreglements in der Praxis war es, die den traditionellen Handwerkscharakter festigte, mochte das Gewerbe in den Quellen auch „Manufaktur“ oder die Meister „Fabrikanten“ genannt werden. Die Strumpfwirkerei wurde in Sachsen-Weimar nur in den Städten zugelassen (anders als etwa um Chemnitz). Dabei sollte 1713, als das Manufakturreglement erlassen wurde, die Hauptstadt Weimar zum Hauptort des neuen Gewerbes gemacht werden: Nur Weimarer Händler sollten ursprünglich die Lizenz zum Verkauf der Waren erwerben können. Es zeigte sich jedoch schon sehr bald, 56  Vgl. Christian Döhler, Kurtze Beschreibung der Handwercks-Rechte und Gewohnheiten. Nach der heutigen Observanz, Nebst einem Register, Jena o. J. [um 1720], S. 48–54. Zu Döhlers Veröffentlichung vgl. Möller, Handwerk und Industrie im Fürstentum Sachsen-Weimar (wie Anm. 5), S. V. 57  Er trägt die Aufschrift: „Einer ehrsamen Gesellschaft derer löblichen Strumpfmachergesellen allhier 1745“. Abbildung in: Bahr, 400 Jahre Strickerei (wie Anm. 5), S. 9. 58  Ebd., S. 8. 59  Kronfeld, Geschichte und Beschreibung (wie Anm. 5), S. 292. Dort auch der Hinweis auf das Erlanger Vorbild. Zur Bedeutung der Kleidervorschriften, die auch in Notzeiten der ständischen Abstufung dienten und beibehalten wurden, vgl. allgemein Jürgen Kocka, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, Bonn 1988, S. 112–115. 60  Vgl. Kronfeld, Geschichte und Beschreibung (wie Anm. 5), S. 201–305.

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dass Apolda bereits ein Zentrum der Strumpfwirkerei war. Die dortigen Handwerker und Händler hatten schon Wirkstühle angeschafft und handelten in großem Umfang mit Wirk- und Strickwaren. In den Meisterbüchern des Apoldaer Manufakturkollegiums, die 1714 erstmals angelegt wurden, fanden sich von Anfang an Einträge von Wirkern, die aus den Dörfern haben „herziehen müssen“.61 Von den 142 Meistern des Jahres 1714 waren nur 49 in Apolda geboren.62 Die Stadt Apolda wurde durch zuziehende Strumpfwirker im 18. Jahrhundert enorm geprägt. Entwicklung und Urbanisierung hingen von der Strumpfwirkerei unmittelbar ab. Dass durch das Manufakturreglement dem städtisch-bürgerlichen Element ein zusätzliches Gewicht gegeben wurde, unterstützte diese Entwicklung sicherlich. Wie die zeitgenössischen Quellen zu berichten wissen, gingen Apoldas Strümpfe in alle Welt. In Schlözers Briefwechsel aus dem Jahr 1779 heißt es: „Der Vertrieb der Strümpfe geschieht teils auf den Messen zu Frankfurt am Main, Braunschweig, und Leipzig; teils auch und hauptsächlich durch bestellte Versendungen nach Rußland, Frankreich, Spanien, Italien, ins Reich, und auch nach Amerika.“63 Apolda wurde zur Industrie- und Handelsstadt und entwickelte dieses Profil mit einem gewissen Stolz im Dreieck mit der Residenzstadt Weimar und der Universitätsstadt Jena. Dabei blieb Apolda lange Zeit eine Stadt ohne politische Bedeutung: Der Ort, der im Amt Roßla lag, gehörte zu jenen Orten, die als Mediatstädte unselbständig waren und „deren Bürger auch noch am Ende des 18. Jahrhunderts wie leibeigene Bauern fronen und zinsen mußten“.64 Stadtherr in Apolda war jedoch nicht ein einzelner Freiherr, Gutsherr oder Pächter, sondern seit 1633 die Universität Jena. Ihr wurde das Rittergut Apolda mit den zugehörigen Feudalrechten als so genanntes Dotalgut zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz der Universität überlassen. Das Gut umfasste nicht nur 217 ha Land, sondern auch weitgehende feudale Rechte über die Stadt, sodass die Universität bis 1837 die Patrimonialgerichtsbarkeit innehatte und noch bis 1848 Handfronen einfordern durfte.65 Ohne Zweifel war das, was 61  Bahr, 400 Jahre Strickerei (wie Anm. 5), S. 8. 62  Vgl. Kronfeld, Geschichte und Beschreibung (wie Anm. 5), S. 284. 63  August Ludwig Schlözer, Verzeichniß von der Strumpf-Manufactur-Stadt Apolda, im Herzogtum Weimar, wie solche dermalen bestehet, Michael.[is] 1779, in: ders. (Hg.), Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts, 6. Teil, Göttingen 1780, 31. Heft, S. 52–55, hier S. 54. 64  So die Formulierung von Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München ³1996, S. 181. 65  Vgl. Heinz Wiessner, Die wirtschaftlichen Grundlagen der Universität Jena im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1548/58–1658), Diss. Jena 1955 (MS), S. 187–195; Walther Munkelt, Geschichtlicher Überblick, in: Erwin Stein/Ernst Stegmann (Hg.), Die Stadt

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Heinz Wiessner „ein Stück Mittelalter“ für die aufgeklärte Universität bezeichnet hat, nämlich die Fundierung durch grundherrschaftlichen Gutsbesitz, auch „ein Stück Mittelalter“ für die Gewerbestadt Apolda in der Zeit ihrer Urbanisierung.66 Völlig untypisch für die Entwicklung zu einer Gewerbestadt war zum Zweiten auch die schlechte infrastrukturelle Lage Apoldas. Keine einzige ausgebaute Straße erreichte die Stadt; die nächsten Poststationen lagen in Weimar, Jena, Auerstedt und Eckartsberga. Der Handel war jedoch gerade auf Verbesserungen in diesem Bereich angewiesen. Erst 1836 konnte der Weg zur Leipziger Straße befestigt werden. Eine Poststelle wurde sogar erst 1843 eingerichtet. Der Bahnhof eröffnete 1846. Dass Apolda trotzdem zum Gewerbe- und Industriestandort wurde, ist letztlich vor allem dadurch zu erklären, dass es ausgehend von den Schafbeständen des Weimarer Landes in Apolda eine Tradition der Strumpfwarenproduktion und des Handels gab, die bereits Jahrhunderte zurückreichte.67 Lange vor der Erfindung der Wirkstühle hatten sich Apoldaer Händler bereits überregionale Absatzmärkte erschlossen. Handstricker sind in Apolda schon im 16. Jahrhundert nachweisbar und schon im 17. Jahrhundert sind Apoldaer Strümpfe nachweislich auf den Messen in Leipzig und Frankfurt gehandelt worden. Als im Jahr 1700 zum ersten Mal eine Steuer auf Strumpfwirkstühle erhoben wurde, zählte man dann in Apolda 19 Wirkstühle, aber bereits 35 Strumpfhändler, was nur durch den Handel mit handgestrickten Strümpfen zu erklären ist.68 Dies alles sorgte dafür, dass ausgerechnet Apolda und nicht etwa das staatlich favorisierte Weimar die besten Voraussetzungen für die Aufnahme der neuen Technik des Strumpfwirkstuhls und seiner Verbreitung bot. Hinzu kam, dass in Weimar die Tuchmacherzunft ihre Privilegien bei der Wollverarbeitung behauptete, während eine solche in Apolda gar nicht existierte. Bereits 1723 wurde in der Revision des Manufakturreglements die Macht des Faktischen anerkannt und Apolda zum Hauptort des Gewerbes erklärt.

Apolda, Berlin-Friedenau 1936, S. 30; Jochen Oehme, Das Dotalgut der Jenaer Universität in Apolda, in: Bahr u. a., 700 Jahre Stadt Apolda (wie Anm. 5), S. 40–44. 66  Wiessner, Die wirtschaftlichen Grundlagen (wie Anm. 65), S. 187. 67  Vgl. Rosalinde Gothe, Schafe vor den Toren der Stadt, in: Apoldaer Heimat 11 (1993), S. 18–20. Ausführlich hierzu dies., Untersuchungen zur Agrargeschichte des Weimarer Territoriums vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zu den bürgerlichen Reformen im frühen 19. Jahrhundert, 2 Bände, Diss. Jena 1983 (MS). 68  Kronfeld, Geschichte und Beschreibung (wie Anm. 5), S. 269.

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3. Erfolgreiche Protoindustrialisierung in Apolda? Wie passt das Beispiel zur Protoindustrialisierungstheorie? Nach dem oben beschriebenen Forschungsstand überrascht es nicht, dass der Übernahme des Ansatzes Skepsis entgegengebracht werden kann. Dennoch bieten insbesondere die Forschungen Peter Kriedtes zu Krefeld interessante Vergleiche: Wie Krefeld verdankte Apolda seinen Aufstieg im 18. Jahrhundert einem einzelnen Gewerbe.69 Wie in Krefeld wuchs – allerdings nicht ganz so stark – in Apolda die Bevölkerungszahl.70 Die Zugehörigkeit zum Gewerbe wurde sowohl von den Seidenwebern Krefelds als auch von den Strumpfwirkern Apoldas betont: Verhalten und kulturelle Verhältnisse ähnelten sich.71 Die von Kriedte vorgestellte Variante der Protoindustrialisierungsforschung unterscheidet sich zwar von der ursprünglichen Theorie, die die Warenproduktion auf dem platten Land und das unzünftige Arbeiten von landlosen Dorfbewohnern oder nebenberuflich tätigen Bauern im Blick hatte. In diesem Zusammenhang ist jedoch das Weimarer Land als von den Städten aus erschlossenes „Garnland“ der Wirkerei zu sehen. Den Typus des Garnlandes, seine Bedeutung und weite Verbreitung hat ebenfalls Peter Kriedte herausgearbeitet.72 Apolda kann somit als Zentrum einer protoindustriellen Region bezeichnet und der Aufstieg Apoldas zur Handels- und Gewerbestadt als ein Beispiel protoindustrieller Urbanisierung bewertet werden.

3.1. Kein kontinuierliches Wachstum: Strukturkrise und Not Vor allem erscheint jedoch die Tatsache beachtenswert und erklärungsbedürftig, dass im Falle Apoldas letztlich eine erfolgreiche Transformation von der protoindustriellen Gewerbeverdichtung zum Industriestandort zu verzeichnen war. Dieser Weg ist jedoch nicht als bruchlose und kontinuierliche Entwicklung beschreibbar, da auf diese Weise mit der Überwindung der tiefen Strukturkrise um 1800 ein entscheidender Faktor missachtet werden würde. Denn 1801, als Grellmann sein zu Beginn zitiertes Lob publizierte, waren seine Informationen eigentlich schon veraltet. So berichtete der „wandernde Helvetier“ im Jahr 1800 69  Vgl. Peter Kriedte, Lebensverhältnisse, Klassenstrukturen und Proto-Industrie in Krefeld während der französischen Zeit, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, Göttingen 1982, S. 295 f. 70  Vgl. ebd., S. 296. 71  Vgl. den Abschnitt „Die Arbeiterschaft des Seidengewerbes – eine Welt für sich“ bei Kriedte, Stadt am seidenen Faden (wie Anm. 27), S. 125–276, insbes. den Unterabschnitt „Die ‚Embleme des Weberstandes‘. Lebensverhältnisse und Kultur“, S. 231–258. 72  Vgl. ebd., S. 26.

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auf seinem Weg von Naumburg nach Erfurt, das thüringische Wollgewerbe sei „ganz gesunken, wahrscheinlich weil man nicht mit den Fabrikanten andrer Gegenden gleiche Fortschritte in der Vervollkommnung der Arbeiten gethan, wie dieß offenbar der Fall mit der Thüringischen Strumpfwirkerei ist, welche durch die vollkommnere Englische sehr eingeschränkt worden ist“.73 Friedrich Gottlob Leonhardi schrieb 1806 in seiner „Erdbeschreibung“ über die „Wollmanufacturen“: „Im Weymarischen ist die Strumpfmanufactur die wichtigste und ihr Hauptsitz zu Apolda, aber freylich hat sie mit ähnlichen Manufacturen […] gleiches Schicksal und ist bey weitem nicht mehr in dem blühenden Zustande, wie vor 20 Jahren.“74 Bereits 1779 war die Krise für den erst wenige Jahre zuvor in den Staatsdienst eingetretenen Minister Johann Wolfgang von Goethe erkennbar gewesen. So ließ er in einem Brief an Charlotte vom Stein wissen: „Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden als ob kein Strumpfwürcker in Apolde hungerte.“75 Am Vortag notierte er in seinem Tagebuch: „Apolda, Amtsrath. Strumpfw. liegen an 100 Stühlen still seit der neujahrs messe. […] Armer Anfang solcher Leute leben aus der Hand in Mund der Verleger hängt ihnen erst den Stuhl auf, heurathen leicht.“76 Diese oft zitierten Notizen sind keine nebensächliche Bemerkung des Dichters, der beim Schreiben seiner „Iphigenie“ ins Stocken kam. Was Goethe in Weimar von der Situation in der Nachbarstadt Apolda zu berichten hatte, konnte der Regierung nicht gleichgültig sein, denn die Strumpfproduktion in Apolda war ohne Zweifel „das bedeutendste wirtschaftliche Unternehmen im weimarischen Staate zur Goethezeit“.77 Eine weitere Notiz belegt, dass Goethe eine Analyse der Situation anstrebte: „Sonst gaben die Verleger die gesponnene Wolle dem Fabrikanten iezt muss sie der Fabrikant spinnen oder Spinnen lassen und das Gewicht an Strümpfen liefern. Verlust dabey an Abgang Schmuz und Fett denn die Strümpfe werden gewaschen.“78 Ohne Zweifel kam es in der Zeit von 1750 bis 1800 zu einer Verschärfung der sozialen Ungerechtigkeit und zu starker Konkurrenz zwischen den Verlegern. Die Zahl der Verleger, die von 35 im Jahr 1700 auf 59 im Jahr 73  Vgl. Briefe auf einer Reise durch Thüringen und Hessen geschrieben von einem wandernden Helvetier im Jahr 1800, Altenburg/Erfurt 1801, S. 83. 74  Friedrich Gottlob Leonhardi, Erdbeschreibung der Churfürstlich- und HerzoglichSächsischen Lande, Bd. 4/2, Leipzig ³1806, S. 498. 75  Johann Wolfgang von Goethe, Brief an Charlotte vom Stein vom 6. März 1779, in: Ders., Werke. Weimarer Ausgabe (WA), Abt. IV, Bd. 4, Weimar 1889, S. 18. 76  Ders., Tagebucheintrag vom 5. März 1779, in: ebd., Abt. III, Bd. 78, Weimar 1887, S. 82. 77  Eberhardt, Goethes Umwelt (wie Anm. 5), S. 67. 78  Goethe, Tagebucheintrag vom 9. März 1779, in: WA, Abt. III, Bd. 78, Weimar 1887, S. 82.

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1724 gestiegen war, sank bis 1779 auf 26 und erreichte 1812 mit 13 ihren niedrigsten Wert.79 Auskunft über den harten Konkurrenzkampf, aber auch über das frühzeitig zu verzeichnende radikalkapitalistische Wirtschaftsgebaren der Verleger, gibt eine Aktennotiz des Jahres 1726. Ein Verleger gab vor einem Messebesuch an, „er wolle diese Messe 300 Rthlr. daran setzen und seine Ware wohlfeiler verkaufen, damit die anderen Verleger ein andermal nicht wieder kämen […] der Hauptzweck sei, daß seine Mitverleger sitzen bleiben und ruiniert werden sollen, er aber künftige Zeiten das Monopolium haben möge“.80 Staatliche Bemühungen der Wirtschaftsförderung, die dem altständischen Modell des fürsorgenden Staates entsprachen, hatten angesichts der globalen Herausforderungen keinen Erfolg mehr. Die Interventionsmöglichkeiten Weimars stießen bald an Grenzen, denn es gab keinen starken Staat, der diese Bemühungen vorantrieb. Dass die Überwindung der Krise gelang, ist letztlich nicht staatlichem Einsatz, sondern dem Engagement maßgeblicher bürgerlicher Kräfte zu verdanken. So lesen wir 1841 in der „Thuringia. Zeitschrift zur Kunde des Vaterlandes“ eine sehr frühe und ausführliche Darstellung der Lage in Apolda, die zunächst einmal mit einer Beschreibung der besonderen Bedeutung des Gewerbes für die Stadt aufmachte.81 Die Strumpfproduktion habe in allen Städten des Landes nachgelassen. Der Autor beschreibt, daß die Strumpfwirker in anderen Städten allmählich weniger wurden; […] Weimar ist Residenz und bietet als solche viele Hülfsmittel dar; Jena wird von der Universität erhalten; Buttstädt hat ausgebreiteten Ackerbau; von Stadtsulza’s ärmeren Bewohnern finden viele Beschäftigung und Brod auf der naheliegenden Saline etc.; Apolda aber mußte bei der Manufaktur aushalten, so schlecht es auch ging.82

Der Autor legt dar, dass sich die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts immer weiter steigernde Not deshalb so stark ausgewirkt habe, „da die Mehrzahl der hiesigen Bevölkerung unmittelbar und mittelbar durch die Manufaktur Beschäftigung fand, und die Gemüther mußten um so mehr von Bangigkeit und Besorgniß ergriffen werden, als der Stadt keine anderen Hülfsquellen zu Gebote stehen“.83 Aufgrund des großen Dotalgutes mit seinen Besitzungen sei es den 79  Eberhardt, Goethes Umwelt (wie Anm. 5), S. 79; für 1700: Kronfeld, Geschichte und Beschreibung (wie Anm. 5), S. 269 und für 1812: Schumann, Zeitungslexikon (wie Anm. 55), S. 168. 80  Verleger Neuber im Jahr 1726, zitiert nach Eberhardt, Goethes Umwelt (wie Anm. 5), S. 74. 81  F. [Karl Wilhelm Friedrich Faber (?)], Apolda’s Strumpfwaaren-Manufaktur, von ihrem Ursprung an bis auf jetzige Zeit, in: Thuringia 1 (1841), Sp. 587–589, 606 f., 616–622, 630–636, 642–649, 658–664. Der Autor ist meiner Vermutung nach der damalige Schulmeister Karl Wilhelm Friedrich Faber. 82  Ebd., Sp. 634. Hervorhebung im Original. 83  Ebd., Sp. 633.

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Handwerkern schwerer möglich gewesen, Grundstücke zu kaufen, „wo der Preis der wenigen Bürgeräcker außerordentlich hinaufgetrieben ist, und mit dem Ertrag außer allem Verhältniß steht und trotz dieses Preises selten einige Aecker zu erlangen sind“.84 Eine Reagrarisierung, die häufig in den protoindustriellen Zentren, zum Beispiel in dem von Jürgen Schlumbohm untersuchten Kirchspiel Belm, eintrat, konnte in Apolda nicht einsetzen.85 Auch wurde den Wirkern keine effektive staatliche Sonderunterstützung zuteil, wie etwa in Erlangen, wo die Kollegen Äcker zur Linderung der Not kostenlos überlassen bekamen, die als „Strumpfwirkerfelder“ bekannt wurden.86 Auch in Chemnitz und Zeulenroda stand der Weg zur Landwirtschaft offen. 87 In Apolda gab es die dafür notwendigen landwirtschaftlichen Flächen aber nicht in ausreichendem Maße.

3.2. Innovation als Weg aus der Krise: der Verleger als innovativer Unternehmer „‚Indolenz‘ war der zeitgenössische Begriff für die nur gering entwickelte Fähigkeit und Bereitschaft, sich den vor allem von England ausgehenden ökonomischen und technischen Herausforderungen zu stellen.“88 Um die Strukturkrise zum Ende des 18. Jahrhunderts zu überwinden, musste die Indolenz abgelegt werden. Darin lag zwar keine hinreichende, aber doch eine notwendige Bedingung für die Besserung der Lage. Konkret bedeutete dies in der Wirkerei: Ausweitung der Produktpalette, Anschaffung neuer Wirkstühle, Verwendung neuer Rohstoffe und Schaffung neuer Handelsverbindungen. In Apolda waren Bemühungen in allen genannten Punkten zu verzeichnen. Die Innovationen gingen dabei allerdings nur von wenigen Personen aus, insbesondere von Christian Zimmermann, einem zum Verleger aufgestiegenen Strumpfwirker, der maßgeblich an der Überwindung der Krise, dem Erhalt und späteren Wiederaufstieg des Textilgewerbes beteiligt war, sodass er zu einer

84  Ebd., Sp. 634. 85  Zum Niedergang des Gewerbes im Kirchspiel Belm vgl. Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe (wie Anm. 31), S. 76–81 und passim. 86  Vgl. Johannes Bischoff, Erlangen 1790 bis 1818. Studien zu einer Zeit steten Wandels und zum Ende der „Französischen Kolonie“, in: Jürgen Sandweg (Hg.), Erlangen. Von der Strumpfer- zur Siemens-Stadt. Beiträge zur Geschichte Erlangens vom 18. zum 20. Jahrhundert, Erlangen 1982, S. 95. 87  Vgl. Walter Trensch, Die Chemnitzer Strumpfwirker-Innung, Diss. Berlin 1927, S. 43– 55; Gerti Stahl, Die Wirkwarenindustrie in Zeulenroda (Thür.). Ihre geschichtliche Entwicklung und die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Gegenwart, Jena 1929. 88  Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt am Main 1985, S. 27.

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lokalen Berühmtheit wurde.89 Entscheidend für die Überwindung der lange andauernden Krise war das Bemühen Zimmermanns und einiger anderer Verleger, die Indolenz zu überwinden und sich der neuen technischen Entwicklung zu stellen. Seit 1780 wurde auch in Apolda Baumwolle als Rohstoff eingesetzt, und das Jahr 1784 wird in den Ortschroniken als Beginn der „Zeit des technischen Fortschritts“90 angesehen: Mit den „Castorstühlen“ konnte man neue Produkte herstellen. „So begann man damals mit der Anfertigung von Hosenstücken, Kinderkleidern, Frauenröcken, Käppchen, Handschuhen“91 und ähnlichen Produkten. Zur Verarbeitung wurde jetzt auch englisches Garn importiert, weil es eine bessere Qualität hatte. Damit führte man einen (auch psychologisch bedeutsamen) Bruch mit der traditionellen, auf die Schafbestände des Weimarer Landes ausgerichteten Wirtschaftsweise herbei. Auch wurde neben der Schafswolle nun auch Baumwolle, Angorawolle, Seide und Halbseide verarbeitet. In diesen Kontext ist die Gründung des Verlegergeschäftes durch Christian Zimmermann und seinen Bruder Samuel im Jahr 1789 einzuordnen. Das Handelshaus übernahm bald eine Vorreiterrolle für die technische Erneuerung: Bis 1792 stellten die Brüder Zimmermann bereits 20 Stühle auf Castorarbeit um. In Gädickes Manufakturenlexikon aus dem Jahr 1799 sind sie als einer der wenigen Anbieter für Produkte aus Angorawolle („Seidenhaasenhaar-Waaren“) aufgeführt.92 Auch bei der Aufstellung der 16 Apoldaer Strumpflieferanten fallen die Zimmermann-Brüder als einzige durch ein erweitertes Angebot auf: „Christian und Samuel Zimmermann […] liefern alle Arten feine gewirkte und gestrickte Strumpfwaaren, Castor- Halbseidene- und Seidenhaasenhaar-Strümpfe, Handschuhe, Mützen, Hosen etc. Auch sind diese Artikel in Leinen oder Baumwolle bey ihnen zu haben.“93 Die neuen Materialien machten die Einführung neuer Wirkstühle notwendig. Im Jahr 1802 ließ er „den ersten Kettenstuhl nach seiner Beschreibung eines von ihm in Berlin gesehenen derartigen Stuhles bauen und später auch eine

89  Vgl. Tobias Kaiser, Vom Strumpfwirkermeister zum Unternehmer. Der Aufstieg des Christian Zimmermann und seine Bedeutung für die Stadt Apolda, in: Hans-Werner Hahn/Werner Greiling/Klaus Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen, Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt/Jena 2001, S. 253–280; ders., Christian Zimmermann (1759–1842). Symbolfigur des wirtschaftlichen Umbruchs und Aufbruchs in der Stadt Apolda, in: Apoldaer Heimat 20 (2002), S. 31–38; Thomas Bahr, Christian Zimmermann zum 250. Geburtstag, in: Apoldaer Heimat 27 (2009), S. 6–9. 90  Walter Schneider, Die Apoldaer Wirkwarenindustrie bis zum Jahre 1914, Jena 1922, S. 17. 91  Ebd., S. 18. 92  Johann Christian Gädicke, Fabriken- und Manufacturen-Addreß-Lexicon von Teutschland und einigen angränzenden Ländern, 2 Bde., Weimar ²1799, hier Bd. 1, S. 289. 93  Ebd., S. 332.

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Spinnmaschine, die aber nicht so gut einschlug wie der Stuhl“.94 Der neue Stuhl wurde – ein Zeichen von Indolenz – vom Manufakturkollegium zunächst verboten. Das Gremium musste jedoch auf Weisung der Weimarer Regierung diesen Beschluss zurücknehmen und die Neuerung zulassen.95 In der Face-ToFace-Kommunikationssituation des Kleinstaates fand Zimmermann offenbar beim Regenten oder der Regierung Gehör. In den folgenden Jahren blieb Zimmermann bemüht, „alle neuern Erfindungen im Stuhlbau für die hiesige Fabrikation sofort nutzbar zu machen“.96 Von großer Bedeutung war dabei der Besuch der Messen, der auch dem Informationsaustausch diente.97 Die schwierigste Aufgabe für den innovativen Unternehmer blieb jedoch die Frage der Absatzmärkte, denn neben den Napoleonischen Kriegswirren, die Apolda 1806 sehr hart trafen, verhinderten Handelsbeschränkungen und Zollbarrieren das erneute Aufblühen des Apoldaer Gewerbes, insbesondere da der preußische Markt verschlossen blieb.98 Dem Apoldaer Tageblatt zufolge hat Christian Zimmermann den Großherzog von der Notwendigkeit des Beitritts zum Deutschen Zollverein überzeugt – was sicherlich noch näher untersucht werden müsste.99 1833 jedenfalls erfolgte der Beitritt und der Absatz des Apoldaer Gewerbes wurde stark beflügelt, da es technisch und logistisch auf diese Situation vorbereitet war. Das von Zimmermann 1789 gegründete Handelshaus wuchs zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einer „Weltfirma“, die „fast über ganz Thüringen ausgebreitet gegen 5000 Menschen“ beschäftigte.100 Es entstanden zentrale Fabrikgebäude in der Apoldaer Bahnhofsstraße, in denen durch Dampfkraft angetriebene Strumpfmaschinen die mechanischen Wirkstühle ersetzten.101 Das Geschäft blieb nach dem Tod des Gründers (1842) im Besitz der Familie und bestand bis ins 20. Jahrhundert hinein fort. Im Jahr 1892 wurde zu Ehren Christian Zimmermanns ein Denkmal errichtet, das auf dem Alexander-Puschkin-Platz in Apolda zu sehen ist. Den Zeitgenossen war die Besonderheit des 94  Artikel „Aufzeichnungen aus dem Stammbaum der Familie Christian Zimmermann und aus dem Leben des Begründers der Firma, des seligen Herrn Christian Zimmermann“, in: Apoldaer Tageblatt 42, Nr. 118 vom 21. Mai 1889, S. 1, Sp. 3. 95  Kronfeld, Geschichte und Beschreibung (wie Anm. 5), S. 305. 96  Ebd., S. 306; Vgl. die Beispiele ebd., S. 305 f. 97  Es wird berichtet, dass Christian Zimmermann um 1800 noch zu Fuß mit seinen Waren auf dem Rücken die Leipziger Messe besuchte, so Fritz Regel, Thüringen. Ein geographisches Handbuch, Bd. 3: Kulturgeographie, Jena 1896, S. 238. 98  Vgl. Kronfeld, Geschichte und Beschreibung (wie Anm. 5), S. 310. 99  Aufzeichnungen aus dem Stammbaum (wie Anm. 94), S. 2, Sp. 5. 100 Regel, Thüringen (wie Anm. 97), Bd. 3, S. 238 f. 101 Vgl. Kronfeld, Geschichte und Beschreibung (wie Anm. 5), S. 316–320. Vgl. auch die Beschreibung der Maschinenwirkerei bei Schäfer, Eine andere Industrialisierung (wie Anm. 47), S. 399–405.

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Denkmals bewusst, es diente der Ausprägung eines spezifischen Selbstbewusstseins und stellte heraus, dass „Männern der Industrie und des Handels“ die Ehre eines Denkmals zuteilwerden kann, weil auch sie „ein[en] Kulturfaktor“ darstellen und „den Dank der Nachwelt verdienen, wie Helden und Dichter“.102 Wenn man so will, kann man das Jahr 1990 als Ende der Firma ansehen, denn der bis zu diesem Zeitpunkt existierende „Volkseigene Betrieb Thüringer Obertrikotagen“ sah sich als Nachfolger des Handelshauses Zimmermann & Sohn. So erschien 1989 eine Veröffentlichung zum Jubiläum „200 Jahre Thüringer Obertrikotagen Apolda – 40 Jahre volkseigener Betrieb“.103 Dies ist bemerkenswert, weil die Person Zimmermann bis dato in der lokalen Politik nicht geachtet wurde, galt er doch als Kapitalist und Ausbeuter. Auch das Denkmal wurde in der DDR an einen weniger prominenten Ort versetzt. In der Tat stieß die Aufarbeitung der Apoldaer Gewerbegeschichte, die im Wesentlichen auf die Initiative des leider viel zu früh verstorbenen Lokalhistorikers Thomas Bahr zurückging, auf grundsätzliche Schwierigkeiten, „da der Betriebsparteisekretär der Auffassung war, daß die Geschichte des Betriebes erst nach 1945 mit dem volkseigenen Betrieb begonnen habe“.104

4. Schlussfolgerungen: Plädoyer für die Berücksichtigung des innovativen Unternehmers in der Protoindustrialisierungstheorie Das Beispiel Apoldas hat gezeigt, dass der Übergang von der protoindustriellenzur Industrieproduktion kein Selbstläufer, sondern vielmehr in einer strukturell angespannten Notsituation von Innovationen abhängig war. Am Beispiel Christian Zimmermanns wurde die Rolle „des dynamischen Unternehmers“, des Unternehmers als Neuerer, betont.105 102 So der Festredner zur Denkmalseinweihung, zit. nach Kaiser, Vom Strumpfwirkermeister zum Unternehmer (wie Anm. 88), S. 227 f. Dort auch weitere Informationen. 103 Thomas Bahr/Paul Gebser (Red.), 200 Jahre Thüringer Obertrikotagen Apolda – 40 Jahre Volkseigener Betrieb. Betriebsgeschichte, hg. v. VEB Thüringer Obertrikotagen Apolda, 2 Bde., Apolda 1989. 104 Thomas Bahr, Textilgeschichte 1989 und 1993, in: Blätter des Vereins für Thüringische Geschichte 5 (1995), S. 58. 105 Christoph Franke, Wirtschaft und Politik als Herausforderung. Die liberalen Unternehmer (von) Mallinckrodt im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 11. Vgl. zum Begriff des Unternehmers ebd., S.  10–12. Der Begriff geht auf eine eng gefasste Definition des Unternehmers von Josef Schumpeter zurück. Christian Zimmermann ist aber auch nach anderen Definitionsansätzen als Unternehmer zu bezeichnen, vgl. etwa den Begriff der „Unternehmer-Funktion“ bei Jürgen Kocka, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1978, S. 14. Eine Unterscheidung zum „protoindustriellen Kaufmann“, die Stefan Gorißen aufmacht, ist aufgrund der schlechten Quellenlage im Falle

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Schaut man sich nun die Protoindustrialisierungstheorie an, so offenbart sich genau hier ein blinder Fleck.106 Die Produzenten, ihr Heiratsverhalten, die demografische Entwicklung und die in mikrohistorischen Studien analysierte Lage vor Ort stehen im Zentrum der Untersuchungen. Die Veränderungen auf den überregionalen Absatzmärkten tauchten dabei eher wie auswärtige Faktoren auf. Unternehmerische Bemühungen, gerade hier einzuwirken und durch Erweiterung der Produktpalette, Erschließung neuer Handelswege und Anpassung der Produktionsweise eine Verbesserung des Absatzes herbeizuführen, wurden in den protoindustrialisierungstheoretischen Modellen weniger beachtet. An dieser Stelle setzen die Überlegungen von Stefan Gorißen an, die für das Fallbeispiel Apolda ebenfalls erhellend sind und einschlägig zu sein scheinen, ja vielleicht sogar generell für den Thüringer Raum nutzbar gemacht werden könnten. Gorißen untersucht ein Handelshaus, das die Familie Harkort in der Grafschaft Mark aufbaute und in dem Produkte aus Hammerwerken und metallverarbeitendem Gewerbe vertrieben wurden. Aus protoindustriellen Anfängen entwickelte sich letztlich ein mehrere Industriebetriebe umfassender Konzern. Die Herausforderung lag dabei stets in der Erschließung neuer Absatzmärkte. Die Parallelen zum Apoldaer Beispiel, etwa der Firma Zimmermann, liegen also nicht in der Wirtschaftsgeschichte einer bestimmten Branche oder auch nur in der Produktionsweise, sondern in der systematischen Frage nach der Rolle der Verleger beziehungsweise der Händler und Unternehmer. Zu Recht mahnt Gorißen „weiterführende Konzeptualisierungen der kaufmännisch-unternehmerischen Dimension des Produktionsprozesses“107 an. Forschungen zur Unternehmergeschichte sind in Deutschland sehr ausführlich betrieben worden, sie stehen jedoch weitgehend unverbunden neben denen zur Protoindustrialisierung. Als ein Ergebnis seiner Fallstudie schlägt Gorißen vor, eine „Typologie der vorindustriellen Kaufmannschaft“108 zu versuchen, die der Vielfalt der verschiedenen Handel treibenden Personen gerecht wird und dabei durchaus die Übergangssituation einer weitgehend dem „ständischen Charakter der vorindustriellen Kaufmannschaft“109 folgenden Gruppe akzeptiert.

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Zimmermanns nicht seriös zu treffen. Vgl. Gorissen, Vom Handelshaus zum Unternehmen (wie Anm. 50), S. 358–360. Für die nun folgenden Ideen danke ich Ralf Banken, der den „blinden Fleck“ der Protoindustrialisierungstheorie auf der Tagung in Pößneck erwähnt hat und mich auf die Studie von Gorißen verwiesen hat. Gorissen, Vom Handelshaus zum Unternehmen (wie Anm. 50), S. 28. Ebd., S. 357. Ebd., S. 377.

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Die Rolle der Verleger wurde im vorgestellten Beispiel der Strumpfwirkerei Sachsen-Weimars schon durch das Manufakturreglement institutionell hervorgehoben. Sie spielten per Gesetz in Sachsen-Weimar eine wichtige Rolle. Hier lag vielleicht sogar ein – durch den Landesherrn (ungewollt) herbeigeführter – Grund für den Erfolg. Christian Zimmermann, selbst als Strumpfwirkermeister gestartet, war fest eingebunden in die Strukturen des alten Handwerks und der städtischen Bürgerschaft. Nicht umsonst betont Marko Kreutzmann, wenn er über das bürgerliche Bewusstsein spricht: „Eine bisher kaum erforschte Vorreiterrolle nahmen offenbar die sich in einigen Thüringer Städten, so auch Apolda, Eisenach und Weimar angesiedelten Textilfabrikanten ein.“110 Diese Vorreiterrolle zeigte sich im Bemühen um Erneuerung. Für Zimmermann war seine Orientierung am überregionalen Markt entscheidend und diese wurde durch die Regierung in Weimar unterstützt. Sein auf Messen und Erkundungsreisen erworbenes Wissen bestimmte seine unternehmerische Tätigkeit. Die Abkehr von der heimischen Schafswolle ist dafür ein Symbol, ein Paradigma im eigentlichen Wortsinne. Zimmermann steht dabei als ursprünglicher Strumpfwirkermeister für eine aus dem Stadtbürgertum sich heraus entwickelnde Innovation.111 Hieraus kann man nicht nur für Apolda, sondern auch für Thüringen Schlussfolgerungen ziehen. Die Rolle und Herkunft der frühen Unternehmer, die Wolfgang Huschke vor seiner Flucht aus der DDR untersuchen wollte, bleibt genauso wie die Entwicklung einzelner Betriebe ein Desiderat.112 Genau hier gilt es aber anzusetzen, da in der kleinstaatlichen Struktur Thüringens einzelne Betriebe relativ schnell vor Ort wichtig werden konnten. Aus der geografischen Kleinteiligkeit Thüringens ergibt sich zudem die Besonderheit, dass das Erschließen neuer Absatzmärkte außerhalb des Landes eine hohe Priorität innehatte, dass zudem die Kommunikationsräume zwischen den Verleger-Unternehmern und dem Landesherren eng waren. Aber auch die engräumigen Kommunikationsnetzwerke sind konstitutiv: Face-to-Face-Kommunikation konnte hilfreich sein. In jeder Wirtschaftsgeschichte der Moderne wird die Protoindustrialisierung stets als Ausgangslage für die Industrialisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts beschrieben werden.113 Diese Ausgangslage war facettenreich und es lohnt sich, 110 Marko Kreutzmann, Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770 bis 1830, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 48. 111 Leider ist die Quellenlage im Fallbeispiel Zimmermann ungleich schlechter als im Falle Harkorts. Ein Firmenarchiv ist nicht überliefert. Die staatlichen Bestände des Amtes Roßla sind 1945 bei einem Bombenangriff zerstört worden. 112 Vgl. Wolfgang Huschke, Forschungen über die Herkunft der Thüringischen Unternehmerschaft des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden 1962, zu Christian Zimmermann S. 21. 113 Vgl. Schäfer, Eine andere Industrialisierung (wie Anm. 47), S. 46–64.



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wenn im Thüringer Fall dieser Facettenreichtum konstruktiv aufgegriffen wird; womöglich mit einem verschärften und neuen Blick auf die Verleger, Händler und Unternehmer und auf deren überregionale Marktstrategien. Vielleicht kann der oft beklagte Zustand über das Fehlen einer gewerbegeschichtlichen Darstellung zu Thüringen überwunden werden – jene Klage, dass „die territoriale Zerrissenheit des Landes […] sich im Forschungsstand“ widerspiegele, „umfassendere Darstellungen fehlen“ und so „sich auch Gewerbelandschaften noch nicht in allen Punkten zuverlässig bestimmen und abgrenzen“ lassen.114 Jürgen John stellte bereits 1994 fest, dass „Fragestellungen nach der Reformbereitschaft oder dem Konservatismus der Kleinstaaten, nach der Provinzialität oder Weltoffenheit ihrer Kultur wie insgesamt den Ursachen ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Leistungskraft in den Vor­dergrund des Forschungsinteresses“ gerückt seien, und führt weiter aus: „Als eine klassisch kleinstaatliche, durchmischte, wirtschafts-, bildungs- und kulturintensive politische Land­schaft der Mitte bietet sich Thüringen für entsprechende Untersuchungen und Vergleiche regelrecht an.“115 Dieses Plädoyer besitzt auch 25 Jahre später noch Gültigkeit.

114 Karl Heinrich Kaufhold, Gewerbelandschaften (wie Anm. 46), S. 131. Vgl. auch Ulrich Pfister, Gewerberegion, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 845–852. 115 Jürgen John, Kleinstaaten und Kultur oder: der thüringische Weg in die Moderne, in: Ders. (Hg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Weimar/ Köln/Wien 1994, S. XVIII.

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„Im Denken, Glauben, Hoffen, Arbeiten, Genießen leben die verschiedenen Stände fast in getrennten Welten“1 – wirklich? Arbeiterschaft und Bürgertum in Thüringen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Im Jahr 1850 starb, erst 50 Jahre alt, in Apolda Andreas Wiedemann, Teilhaber eines die Stadt prägenden Textilunternehmens. In einem Nachruf in den „Deutschen Blättern aus Thüringen“ hieß es, Wiedemann sei „Besitzer eines großen Vermögens, das er sich hauptsächlich durch Fleiß, Ordnung und Sparsamkeit erworben“ und „mit wohltätigem und gemeinnützigem Sinne verwaltet“ habe.2 Im Jahr 1890 verteidigte der sozialdemokratische Verein in Erfurt in einem Flugblatt seinen Vorsitzenden Paul Reißhaus gegen Vorwürfe, er habe die in seinem Geschäft beschäftigten Schneider und Schneiderinnen ausgebeutet. Dagegen argumentierten die Verfasser des Flugblatts: „Herr Reißhaus hat es durch Geschicklichkeit, Reellität [sic], Pünktlichkeit und unermüdlichen Fleiß soweit gebracht, um sich ein Haus – das er zum Betriebe seines umfänglichen Geschäfts haben mußte – kaufen zu können.“3 Sowohl dem Unternehmer als auch dem sozialdemokratischen Arbeiterführer schrieben die Autoren Werte wie Fleiß, Ordnung und Pünktlichkeit zu, um ihren Erfolg zu erklären. Gleichzeitig wurden nach Einschätzung der Verfasser des Nachrufs sowie des Flugblatts Vermögen und Erfolg nicht zum Selbstzweck erworben, sondern waren im Fall von Wiedemann rückgebunden an Praktiken der Wohltätigkeit und Gemeinnützigkeit, bzw. im Fall von Reißhaus nicht Resultat kapitalistischer Ausbeutung, sondern Ergebnis eines sozialdemokratisch inspirierten Unternehmertums.

1 

Kirchenvisitationsbericht für Jena 1913, zit. n. Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866 bis 1914. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Volker Wahl, Weimar 1991, S.  370. 2  Zit. n. Tobias Kaiser, Vom Strumpfwirkermeister zum Unternehmer. Der Aufstieg des Christian Zimmermann und seine Bedeutung für die Stadt Apolda, in: Hans Werner Hahn/Werner Greiling/Klaus Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt 2001, S. 253–280, hier S. 275. 3  Flugblatt des sozialdemokratischen Vereins Erfurt, Februar 1890, zit. n. Jürgen Schmidt, Begrenzte Spielräume. Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870–1914, Göttingen 2005, S. 147.

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Dieser biografisch-lokale Einstieg eröffnet ein ganzes Raster an konzeptionellen Überlegungen und Fragestellungen in Hinblick auf die beiden Sozialgruppen Arbeiterschaft und Bürgertum seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei werden sofort Fragen der Definition, der Abgrenzung und Verflechtung zwischen den beiden Sozialgruppen offensichtlich. Der Sozialdemokrat Paul Reißhaus als selbstständiger Kleinunternehmer: Gehört er sozial verortet nicht eher zum Bürgertum als zur Arbeiterschaft? Sind die gefeierten Werte „Fleiß, Ordnung und Sparsamkeit“, mit denen der Unternehmer Wiedemann bedacht wurde, denn wirklich bürgerlich? Waren Arbeiter nicht immer schon stolz auf ihren Fleiß und ihr handwerkliches Können? Hat nicht August Bebel in Leipzig eisern gespart, um sich den Traum vom selbstständigen Drechsler zu erfüllen?4 Wie also Arbeiterschaft und Bürgertum umreißen, wenn sowohl sozioökonomische Maßstäbe als auch kulturelle Werte und Vorstellungen ineinanderfließen? Eine „reine“ klassengesellschaftliche Analyse scheidet damit aus. So prägend der ökonomische Kapital-Arbeit-Gegensatz gewesen sein mag, er wird den vielfältigen Facetten der beiden Sozialgruppen nicht gerecht und hat zwei grundsätzliche Schwachstellen: Zum einen berücksichtigt er außerökonomische Erfahrungen, kulturelle Deutungen und nichtklassenspezifische Identitäten nur ungenügend; zum anderen wird die polare, agonale Gegenüberstellung von Kapital und Arbeit, Bourgeoisie und Proletariat, Bürgertum und Arbeiterschaft den zahlreichen weiteren Handlungsmöglichkeiten der Akteure nicht gerecht.5 Hinzu kommt, dass sich in der neueren Bürgertumsforschung nie ein klassenspezifischer Zugriff durchgesetzt hat. Möchte man aber beide Sozialformationen untersuchen, müsste die Untersuchung immer wieder zwischen unterschiedlichen methodischen Zugängen und analytischen Konzepten wechseln.6 Ein verflechtungsgeschichtlicher Ansatz hilft daher weiter, um Abgrenzungen, Überschneidungen, Konflikte und Kontakte innerhalb sowie zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum sichtbar zu machen. Verflechtungsgeschichte meint in diesem regionalgeschichtlichen Fall also weniger die transnationalen Aspekte dieses Ansatzes,7 sondern bezieht sich auf Transfer, Austausch, gegenseitige Abkapslung, 4  Jürgen Schmidt, August Bebel. Kaiser der Arbeiter. Eine Biografie, Zürich 2013, S. 41–45. 5  Zum Wandel klassenanalytischer Zugriffe auf die Geschichte der Arbeiterschaft siehe Thomas Welskopp, Klasse als Befindlichkeit? Vergleichende Arbeitergeschichte vor der kulturhistorischen Herausforderung, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 301– 336; Jürgen Kocka, Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse. Unter Mitarbeit von Jürgen Schmidt, Bonn 2015, S. 21–28; Jürgen Schmidt, Brüder, Bürger und Genossen. Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Bürgergesellschaft, Bonn 2018, S. 20–25. 6  Die Gründe, warum die Bürgertumsgeschichte sich keines Klassenmodells bediente, wird im folgenden Abschnitt deutlich. 7  Agnes Arndt/Joachim C. Häberlen/Christiane Reinecke (Hg.), Vergleichen, Verflechten, Verwirren. Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, Göttingen 2011.

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aber eben auch gegenseitige Kontakte und Kommunikation zwischen Sozialgruppen innerhalb einer Gesellschaft. Im Folgenden möchte ich diesen Ansatz am Beispiel einiger Themen und neuer Forschungsansätze auffächern und soweit möglich an Thüringer Beispielen illustrieren.

1. Soziale Differenzierung und Homogenisierung innerhalb des Bürgertums und der Arbeiterschaft Zunächst stellen sich Fragen nach den Binnendifferenzierungen innerhalb des Bürgertums und der Arbeiterschaft. Verknüpft man die zwei großen Forschungsprojekte der 1980er und 1990er Jahre zum deutschen Bürgertum, die Frankfurter und Bielefelder Richtung,8 setzte sich das Bürgertum nach Meinung der einen Seite eher aus einer traditionell städtisch verankerten und geprägten Herkunftsgruppe zusammen, während die andere Richtung stärker das Neue und Besondere der Männer von Bildung und Besitz, das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum als prägende Kräfte im Bürgertum ansahen. Durch die eher kleinstädtische Struktur der Thüringer Stadtlandschaft dürfte das traditionelle Stadtbürgertum als prägendes Merkmal angesehen werden. Die in dem Sammelband „Bürgertum in Thüringen“ herausgearbeiteten Lebenswege haben am Beispiel von Pfarrern, Handwerksmeistern, Unternehmern und Verlegern dieser Sozialgruppe für das frühe 19. Jahrhundert Konturen gegeben.9 Daneben spielten in den Kleinstaaten die Verwaltungen und der öffentliche Dienst eine wichtige Rolle. Bildungsbürgertum und Beamtenschaft waren daher eng miteinander verflochten. Die Zuordnung der Beamten zum Bildungsbürgertum ist in der Forschung umstritten.10 Ulrich Heß machte in seinen Arbeiten auf einen regio8  Einen Überblick über die beiden Forschungslinien bieten Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, München 1993, sowie Peter Lundgreen (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997), Göttingen 2000. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen, sei auf die Stadtstudien von Ralf Roth (Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1760–1914, München 1996), Gisela Mettele (Bürgertum in Köln 1775–1870. Gemeinsinn und freie Association, München 1998) und Andreas Schulz (Vormundschaft und Protektion. Eliten und Bürger in Bremen 1750–1880, München 2002) für die Frankfurter Richtung verwiesen. Als neuerer Überblick hilfreich Manfred Hettling, Bürger, Bürgertum, Bürgerlichkeit, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 04. September 2015, http://docupedia.de/zg/hettling_buerger_v1_201 (Zugriff am 24. Oktober 2018); Thomas Mergel, Die Bürgertumsforschung nach 15 Jahren. Für Hans-Ulrich Wehler zum 70. Geburtstag, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 515–538. 9  Hahn/ Greiling/Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen (wie Anm. 2). 10  Stefan Brakensiek, Staatliche Amtsträger und städtische Bürger, in: Lundgreen (Hg.),

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nalspezifischen Unterschied in der Rekrutierung der höheren Beamten im Kaiserreich aufmerksam. Während beispielsweise die Landräte im preußischen Erfurter Regierungsbezirk zu zwei Dritteln aus dem Adel stammten, waren es in den thüringischen Staaten nur 16 %. Bei den höheren Verwaltungsbeamten kamen in dem preußischen Gebiet etwas über die Hälfte der höheren Verwaltungsbeamten aus dem Adel, in den thüringischen Teilen nur knapp jeder Fünfte.11 Diese Verhältniszahlen machen die Schwierigkeit bei der Verortung der Beamten deutlich. Andererseits gehörten beispielsweise Lehrer unbestreitbar zu jenem Teil des Bürgertums, der nicht nur Werte von Leistung, Disziplin und Selbstständigkeit propagierte, sondern auch nationale und staatstragende Werte der Nation und Vaterlandsliebe in die Bevölkerung trug. Mit dem Ausbau des Schulwesens nahm diese Berufsgruppe dabei zu. So gab es in den thüringischen Gebieten (einschließlich der preußischen Teile) um 1900 13 Lehrerseminare. Allein an den Volksschulen im Regierungsbezirk Erfurt stieg die Zahl der Lehrer zwischen 1871 und 1901 von knapp 900 auf 1.200. In allen thüringischen Staaten unterrichteten im Jahr 1911 fast 4.700 Volksschullehrer.12 Die Universitätsstadt Jena hatte in der Professorenschaft eine einflussreiche Berufsgruppe, die sich ebenfalls an der Schnittstelle zwischen der Beschäftigung als Beamte im öffentlichen Dienst und dem Bürgertum befand. Eine der zentralen Kategorien im bürgerlichen Selbstverständnis bildete die (wirtschaftliche) Selbstständigkeit. Selbstständigkeit umschloss dabei sowohl die freien Berufe der Ärzte, Rechtsanwälte usw., die ihre Arbeit dem Erwerb von Bildungspatenten verdankten.13 Doch auch der selbstständige Kaufmann und der Handwerksmeister fielen in diese Kategorie. Mit der Selbstständigkeit verknüpften sich in der Regel auch politische Mitwirkungsrechte in der Kommune. Allerdings ging zum Beispiel in Erfurt der Anteil der Selbstständigen sowohl an der Erwerbs- wie an der Gesamtbevölkerung kontinuierlich zurück. 1882 stufte sich in der Berufszählung fast jeder fünfte Erwerbstätige als „selbstständig“ ein, ein Vierteljahrhundert später tat dies nur noch jeder Achte.14 Die traditionellen Träger des Stadtbürgertums der Handwerksmeister und kleinen und mittleren Selbstständigen befanden sich auf dem Rückzug. Sozial- und Kulturgeschichte (wie Anm. 8), S. 138–172; Mergel, Bürgertumsforschung (wie Anm. 8), S. 520–522. 11  Hess, Geschichte Thüringens (wie Anm. 1), S. 138. 12  Ebd., S. 202, 197, 444. 13  Hannes Siegrist (Hg.), Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich. 8 Beiträge, Göttingen 1988; Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 92–105. 14  Preußische Statistik, Bd. LXXVI (1884), S. 339; Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 207 (1907), S. 105 f. Zum Rückgang der Selbstständigen in den beiden Reuß siehe Hess, Geschichte Thüringens (wie Anm. 1), S. 140.

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Metaphorisch gesprochen bestand der bürgerliche Kern aus Wirtschafts- und Bildungsbürgertum. Diese Kerngruppen waren ausgestattet mit einer gewissen Wohlhabenheit, Bildungspatenten und Bildungszugängen, kommunalem politischem Einfluss und sozialen Netzwerken. Darum lagerten sich zahlreiche Sozial- und Berufsgruppen der kleinen und mittleren Selbstständigen, der arrivierten Handwerksmeister, kleinen und mittleren Beamten und Angestellten, die über geregelte Einkommen verfügten, eine gewisse berufliche Perspektive und Sicherheit besaßen und in ihren jeweiligen lokalen Bezügen verankert waren.15 Zwar deutlich unterschiedlich nuanciert, aber doch mit unverkennbaren Ähnlichkeiten, wurde in beiden Projekten der Frankfurter wie der Bielefelder Bürgertumsforschung herausgearbeitet, dass sich das Bürgertum nicht nur über ökonomische Merkmale wie Einkommen, Beruf und sozialen Status definierte (daher gab es auch nie einen klassenanalytischen Ansatz in der Bürgertumsforschung). Vielmehr spielten Lebensführung, Lebensstil, Habitus und kulturelle Praktiken eine mindestens genauso wichtige Rolle, um die Sozialformation „Bürgertum“ angemessen zu beschreiben. Kurz: Bürgertum war ohne „Bürgerlichkeit“ nicht vorstellbar.16 Diese ließ sich aus Sicht der Zeitgenossen beispielsweise auch an der Wohnungsgröße ablesen. Als sich der Erfurter Haus- und Grundbesitzer-Verein 1897 an einer Umfrage über die Miethöhe nach Wohnungsgröße in verschiedenen deutschen Städten beteiligte, kam es zur folgenden Kategorisierung: Wohnungen mit weniger als drei Zimmern galten als „kleine Wohnungen“, Wohnungen mit drei bis fünf Zimmern und ein bis zwei Kammern wurden als „bürgerliche“, alle noch größeren Wohnungen wurden als „herrschaftliche Wohnungen“ eingestuft. Bescheidenheit ist eine Zier, mögen sich die Statistiker gedacht haben, als sie die Maßstäbe festlegten – oder sie wollten ein möglichst großes und umfassendes Bürgertum dokumentieren. Legt man nämlich diese Wohnraum-Bemessungsgrenze von Bürgerlichkeit zugrunde, lebte 1905 fast ein Drittel der Erfurter Einwohner in bürgerlichen 3-bis 5-Zimmer-Wohnungen. Den Kern des Erfurter Bürgertums hätten dagegen jene knapp acht Prozent der Erfurter und Erfurterinnen gebildet, die nach Meinung des Hausbesitzervereins gar nicht mehr bürgerlich, sondern „herrschaftlich“ wohnten.17

15  Zu den verschiedenen Begrifflichkeiten, um die internen Differenzierungen des Bürgertums zu fassen, siehe auch Mergel, Bürgertumsforschung (wie Anm. 8), S. 521 f.; Schäfer, Geschichte des Bürgertums (wie Anm. 13), Kapitel 4. 16  Hettling, Bürger (wie Anm. 8), Abschnitt „‚Bürgerlichkeit‘ als kulturelles Muster“; Schäfer, Geschichte des Bürgertums (wie Anm. 13), S. 114–130. 17  Erfurter Haus- und Grundbesitzerverein. Jahres-Bericht für das Vereinsjahr 1897/98, nach Schmidt, Begrenzte Spielräume (wie Anm. 3), S. 75.

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Zahlreiche weitere Aspekte in der Lebensführung spielten eine wichtige Rolle und lassen das Bild von einem Kern-, Mittel- und Randbürgertum plastisch vor Augen treten. Die Beschäftigung von Dienstpersonal war dem reichen Wirtschafts- und Bildungsbürgertum vorbehalten. In einer gut verdienenden Beamtenfamilie konnte vielleicht noch ein Dienstmädchen im Haushalt mithelfen, wohingegen bei einem Handwerksmeister die Grenze zwischen bürgerlicher und nicht-bürgerlicher Zugehörigkeit eher daran gemessen werden konnte, ob die Ehefrau überhaupt von der Mitarbeit im Gewerbe des Ehemanns freigestellt war.18 Diese Binnendifferenzierung ist notwendig, um das Konstrukt des Bürgertums in seiner Vielfalt kenntlich zu machen und sich darüber hinaus die Reichweite dieser Sozialgruppe mit ihrem „besonderen Ethos, getragen von einer spezifischen bürgerlichen Kultur“ erschließen zu können.19 Auf Seiten der Arbeiterforschung hatte lange Zeit vor allem das Bild einer durch Lohnarbeit geprägten Arbeiterschaft dominiert. Handwerksgesellen und Fabrikarbeiter waren die klassischen Repräsentanten. Gruppen wie Landarbeiter, Heimgewerbetreibende sowie zunehmend auch Dienstpersonal wurden im 19. Jahrhundert in einem kontinuierlichen Prozess immer stärker an den Status der freien Lohnarbeit herangeführt.20 Diese nach wie vor für weite Teile Mitteleuropas zutreffende Analyse hatte jedoch unverkennbare Schwächen, die durch eine global ausgerichtete Forschung zur Geschichte der Arbeit und der Arbeiter kenntlich gemacht wurden. Demnach blendete diese Forschung zahlreiche Formen von Arbeit aus, die in weltweiter Betrachtung sehr viel prägender für das Schicksal der Arbeiterschaft waren als Lohnarbeit. Dazu zählte unfreie Arbeit wie Sklaverei oder Schuldknechtschaft sowie Mischformen wie Kuli-Arbeit, die auch in den deutschen Kolonialgebieten praktiziert wurde.21 Darüber hinaus gilt es auch für die regionale Forschung zu berücksichtigen, dass Lohnarbeit oft an eine begrenzte Phase im Lebenslauf gebunden war. Paul 18  Heidi Müller, Dienstbare Geister. Leben und Arbeitswelt städtischer Dienstboten, Berlin 1985; Dorothee Wierling, Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin/Bonn 1987; Gunilla-Friederike Budde, Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft, in: Lundgreen (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte (wie Anm. 8), S. 249–271, hier S. 263 f. 19  Wolfgang J. Mommsen, Die neue Lektüre der Vergangenheit, in: Frankfurter Rundschau, 3. Dezember 1993, S. ZB 3. 20  Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990. 21  Marcel van der Linden, Workers of the World. Eine Globalgeschichte der Arbeit, Frankfurt am Main/New York 2017; als Fallbeispiel im kolonialen Kontext siehe Jürgen Schmidt, Arbeit und Nicht-Arbeit im „Paradies der Südsee“ – Samoa um 1890 bis 1914, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte. Zeitschrift für historische Studien 15 (2016), S. 7–25.

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Reißhaus, um an das Ausgangsbeispiel zurückzukehren, begann in den 1880er Jahren als lohnabhängiger Schneider in Erfurt zu arbeiten, bevor er sich selbstständig machte.22 Thüringer Heimgewerbetreibende versuchten mit aller Macht ihren Status als Selbstständige zu verteidigen und wollten sich gerade nicht als Lohnarbeiter klassifiziert wissen.23 Zudem prägte das Leben vieler prekär Beschäftigter eine Ökonomie des Notbehelfs und der Notdürftigkeit, das heißt, eine Vielzahl an Einkommensquellen flossen zusammen, um die Existenz zu sichern. Lohnarbeit war dabei oft nur eine unter vielen Einkommensarten, und das Spektrum reichte von der Bewirtschaftung eines eigenen Stückes Land, über die unbezahlte Mitarbeit der Familienangehörigen in der Hausindustrie bis zum Antrag auf zwischenzeitliche Armenunterstützung.24 Die Arbeiterschaft in Thüringen zu rekonstruieren, heißt, vielfältige regionale Entwicklungspfade zu berücksichtigen.25 Arbeit in der Spielwarenindustrie Thüringens bedeutete lange Zeit Arbeit im Kleinbetrieb, in der Hausindustrie und Heimarbeit. Diese Tradition ging in diesem Industriezweig nie verloren – selbst als er gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfolgreich expandierte und der Weg in die Massenproduktion beschritten wurde. Eine in Königsee bei Rudolstadt gelegene Puppenfabrik beispielsweise beschäftigte 1905 neben 853 Industriearbeitern parallel immer noch 428 Heimarbeiter.26 Außerdem entwickelten sich in vielen Orten Branchen, die auf eine qualifizierte Facharbeiterschaft angewiesen waren und kontinuierlich expandierten. Die Uhrenfabrik der Gebrüder Thiel in Ruhla rekrutierte Uhrmacher aus der Schweiz und gab immer mehr Menschen Arbeit. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte dieses Unternehmen rund tausend Mitarbeiter bei 6.500 Einwohnern Ruhlas.27 Der in Erfurt stark vertretene Maschinenbau oder die staatliche Gewehrfabrik in Erfurt benötigten Fachkräfte aus den Metallgewerben. Die großen Erfurter Schuhfabriken wie Lingel oder Heß zogen Schuhmacher aus allen Landesteilen an. In Verbindung mit seiner zentralörtlichen Funktion entwickelte sich Erfurt zur Metro-

22  Schmidt, Begrenzte Spielräume (wie Anm. 3), S. 282–285. 23  Hess, Geschichte Thüringens (wie Anm. 1), S. 106, 140–142. 24  Grundlegend zu einer „economy of makeshifts“ Olwen Hufton, The Poor of Eighteenth-century France, 1750–1789, Oxford 1974; zur Praxis eines „Einkommensmix“, um sich den Lebensunterhalt zu sichern, siehe auch Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994, S. 290 f. 25  Vgl. Stefan Gerber/Werner Greiling/Marco Swiniartzki, Einleitung, in: dies. (Hg.), Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen in Thüringen, Köln/Weimar/ Wien 2018, S. 7–14, hier S. 7 f. 26  Brunhild Meyfarth, Spielzeugindustrie, Erfurt 1993, S. [6]. 27  Jürgen Schreiber, Uhren – Werkzeugmaschinen – Rüstungsgüter. Das Familienunternehmen Gebrüder Thiel aus Ruhla 1862–1972, Köln/Weimar/Wien 2017, S. 39, 49 f.

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pole Thüringens mit einer hochgradig differenzierten Arbeiterschaft.28 Dagegen verloren andere thüringische Regionen wie das Eichsfeld im Verlauf der Industrialisierung den Anschluss. Arbeitskräfte wanderten entweder ganz ab oder versuchten durch saisonale Wanderung Lohnarbeit aufzunehmen und damit den eigenen klein- und kleinstbäuerlichen Besitz zu bewahren.29 Diese Binnendifferenzierung macht Synthesen keinesfalls unmöglich. Aber sie zwingt zur genauen Beobachtung, auch zur Relativierung gängiger Muster in der Arbeitergeschichtsforschung, ohne sie dabei völlig über Bord werfen zu müssen.30

2. Organisationsfähigkeit in der Arbeiterschaft und im Bürgertum Bei der Frage nach der Charakterisierung von Arbeiterschaft und Bürgertum spielt der Aspekt der politischen Organisation beider Sozialgruppen eine zentrale Rolle. So wenig sich allerdings das Bürgertum in einer Partei wiederfand, fand sich die Arbeiterschaft geschlossen in der Sozialdemokratie. Es greift nämlich zu kurz, die sozialdemokratischen Mitglieder mit der Arbeiterschaft gleichzusetzen. Das sozialdemokratische Vereinsmilieu war auf Respektabilität angelegt und sprach vor allem eine Facharbeiterschaft an, die in den 1860er und 1870er Jahren noch stark handwerklich geprägt war. Erst allmählich und ab der Jahrhundertwende verstärkt fanden auch Arbeiter aus den modernen Fabrikbetrieben in der Sozialdemokratie ihre Heimat.31 Aber gerade prekär und unstet Beschäftigte standen dem sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Vereinskosmos oft fremd gegenüber und wurden unzureichend angesprochen. Ein typisches Beispiel sind die in den Erfurter Gartenbaubetrieben Beschäftigen. Viele von ihnen waren zugewandert und in schäbigen Sammelunterkünften untergebracht; ein großer Teil kam aus den umliegenden thüringischen Dörfern. Obwohl in der Hochsaison weit über tausend Menschen, manche Quellen sprechen sogar von mehreren tausend, dort arbeiteten, waren nach 1900 kaum fünfzig gewerkschaftlich organisiert. Eine tiefgreifende geschlechterspezifische Trennung der Arbeitswelt, eine hohe Fluk28  Steffen Rassloff, Flucht in die nationale Volksgemeinschaft. Das Erfurter Bürgertum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur, Weimar/Wien/Köln 2003, S. 39–49; Schmidt, Begrenzte Spielräume (wie Anm. 3), S. 31 f., 56 f. 29  Detlef Schnier/Sabine Schulz-Greve, Wanderarbeiter aus dem Eichsfeld. Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Ober- und Untereichsfeldes seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Duderstadt 1990. 30  Jürgen Schmidt, Arbeiter in der Moderne. Arbeitsbedingungen, Lebenswelten, Organisationen, Frankfurt am Main/New York 2015, S. 28–32. 31  Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 212 f.

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tuationsquote, eine jugendliche, nur saisonal beschäftigte Arbeiterschaft sowie eine klar hierarchisch gestufte Qualifikationsstruktur mit (eher konservativ) ausgerichteten, gelernten Gärtnern auf der einen und politisch inaktiven Hilfskräften auf der anderen Seite erschwerte die Aufnahme in den sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Vereinskosmos.32 Die früher in der Forschung diagnostizierte Unterscheidung zwischen einer Arbeiterkultur und einer Arbeiterbewegungskultur ist daher viel tiefgreifender zu denken.33 Um nur ein Beispiel aus einer 1.-Mai-Veranstaltung der Sozialdemokratie in Erfurt im Jahr 1902 zu zitieren: Dort meinte der Festredner im Zusammenhang möglicher Arbeitszeitverkürzungen: Von einem Arbeiter, welcher beispielsweise schon am Nachmittag um 4 Uhr die Arbeit beende, sei nicht zu erwarten, dass er schon um diese Zeit in die Kneipe gehe, sondern er werde seine Familie aufsuchen, sich um die Erziehung seiner Kinder und auch um die Politik bekümmern.

Das sozialdemokratische Arbeiterbewegungs-Milieu zielte nicht nur auf die Belehrung und „Veredelung“ der Arbeiterschaft.34 Vielmehr standen sich in solchen und zahlreichen weiteren Äußerungen grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen der Lebensgestaltung gegenüber. Eine klare Abgrenzung gegen jene Kneipen-Proletarier zeichnete sich ab, die ihren Lohn in der Kneipe verflüssigten. Dagegengestellt wurde ein Familienideal am heimischen Herd, in dem der Mann die Frau unterstützte und in die Erziehungsarbeit integriert wurde. Gleichzeitig wurde mit dieser Idealvorstellung aber auch das klassische bürgerliche Konzept der Trennung zwischen der privaten, der Frau zugerechneten und der öffentlichen, dem Mann zugeschriebenen Sphäre konterkariert.35 Sowohl was das Alltagsleben und die Freizeitgestaltung als auch was die Rollenzuschreibungen betraf, sprachen solche respektablen Verhaltensweisen nur einen Teil der männlichen Arbeiterschaft an. Dieser normative Überschuss orientierte sich an der Klientel des eigenen Milieus aus gelernten Handwerkern und Facharbeitern, für die Vereins- und Parteileben eine für sie gewohnte Form organisierter Freizeit darstellten. Er traf aber nicht das Lebensgefühl unsteter, jüngerer, unverheirateter Männer oder jener Arbeiter, die vollauf damit beschäftigt waren, ihre Existenz zu sichern und denen die Geselligkeit in Kneipen und eine unpolitische Freizeitgestaltung genügte.36 Kurz: die Sozialdemokratie war 32  Schmidt, Begrenzte Spielräume (wie Anm. 3), S. 97–100. 33  Gerhard A. Ritter (Hg.), Arbeiterkultur, Göttingen 1977 sowie als Überblick für die Arbeiterschaft bis in die 1870er Jahre: Kocka/Schmidt, Arbeiterleben (wie Anm. 5), S. 259–266. 34  Birgit Emig, Die Veredelung des Arbeiters. Sozialdemokratie als Kulturbewegung, Frankfurt am Main 1980. Vorstehendes Zitat nach Schmidt, Begrenzte Spielräume (wie Anm. 3), S. 334. 35  Karin Hausen, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 19–105. 36  Um und nach 1900 bot eine sich allmählich klassenspezifisch öffnende, kommerzialisierte

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zwar eine tief in der Arbeiterschaft verankerte Partei, die unter Arbeitern die Masse ihrer Mitglieder und ihrer Wähler fand, aber aus der anderen Perspektive war die Arbeiterschaft nie vollständig hinter der Sozialdemokratie versammelt. Noch weniger hatte das Bürgertum eine politische Heimat. Die Formel des „Liberalismus als herrschende Partei“ im Bürgertum bringt zwar eine wirkmächtige Tendenz zum Ausdruck, doch prinzipiell verallgemeinerbar war sie nicht.37 Allein die beiden Grundströmungen des Konservativismus und Liberalismus teilten das Bürgertum in unterschiedliche politische Lager, ganz zu schweigen von den parteipolitischen Strömungen eines Links- und Nationalliberalismus und den verschiedenen konservativen Ausrichtungen. Gerade für Thüringen spielte die unterschiedliche politische Tradition und Kultur in den jeweiligen Fürstentümern eine wichtige Rolle, ob das Bürgertum eher in einer liberalen oder in einer konservativen Richtung einzuordnen war. Dabei kam dem Liberalismus in den meisten thüringischen Fürstentümern immer ein stärkeres Gewicht zu als in den preußischen Gebieten, in denen eine konservative Ausrichtung vorherrschte. So hatte Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen 1887 gegen das Sozialistengesetz gestimmt.38 Sicherlich eines der außergewöhnlichsten Beispiele für eine ausgeprägte Form des Thüringer Liberalismus stellte die Wahl des Sozialdemokraten Wilhelm Bock zum Landtagsvizepräsidenten von Sachsen-Coburg-Gotha im Jahr 1901 unter maßgeblicher Beteiligung bürgerlicher, freisinniger Landtagsabgeordneter dar.39 Zwischen 1903 und 1907 kam es dort im Landtag zu einer Zusammenarbeit zwischen Freisinn und Sozialdemokratie. Allerdings sollte man den strategischen Hintergrund bei dieser Kooperation genauso wenig vergessen wie das wenig Sozialdemokratie-freundliche Klima in der Stadt Gotha selbst.40 Dagegen entwickelte sich das benachbarte preußische Erfurt zu einem Hort eines politisch konservativ ausgerichteten Bürgertums. Mit der einflussreichen Familie Lucius hatte zur Zeit von Bismarcks Kanzlerschaft die Freikonservative Reichspartei eine Stütze in der Stadt. Um und nach der Jahrhundertwende prägte ein rechtslastiger Nationalliberalismus die politische Szene, der auch einen wesentlichen Förderer des „Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie“ darstellte. In diesem Verband schlossen sich in Erfurt verschiedene Berufs- und

37  38  39  40 

Vergnügungskultur weitere attraktive Alternativen zum sozialdemokratischen Vereinsmilieu. Vgl. Daniel Morat u. a., Weltstadtvergnügen Berlin 1880–1930, Göttingen 2016; Schmidt, Begrenzte Spielräume (wie Anm. 3), S. 364–366. Frank Möller, Bürgerliche Herrschaft in Augsburg 1790–1880, München 1998, S. 355. Hans-Werner Hahn, Ernestinische Monarchen und industrielle Welt., in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 71 (2017), S. 167–187, hier S. 186. Hess, Geschichte Thüringens (wie Anm. 1), S. 374. Helge Matthiesen, Bürgertum und Nationalsozialismus in Thüringen. Das Bürgerliche Gotha von 1919 bis 1930, Jena 1994, S. 37 (die Liberalen brauchten die SPD kurzfristig als Bündnispartner, um die Domänenteilung durch das Parlament zu bringen).

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Sozialgruppen des Bürgertums zusammen. Unter den 275 Mitgliedern im Jahr 1913 waren die „Vordenker“ aus dem Bildungsbürgertum stark vertreten. Allein die beiden Berufsgruppen der Pfarrer und Lehrer stellten rund elf Prozent der Mitglieder. Aber auch Vertreter freier Berufe und vor allem Kaufleute und weitere selbstständige Unternehmer prägten diese Vereinigung. Nur schwach vertreten waren hingegen Handwerksmeister und Angestellte.41 Um zu verstehen, was einen großen Teil des parteipolitisch facettenreichen Bürgertums zusammenhielt, ist der Antagonismus gegenüber der Sozialdemokratie und der Arbeiterschaft sicherlich als ein stabilisierendes Element hervorzuheben. Allerdings zeigen die unterschiedlichen Praxen im Herzogtum Gotha und in der Stadt Erfurt auch, dass unterschiedliche bürgerliche politische Lager sich aus ähnlichen bürgerlichen Sozialgruppen rekrutierten. Die Arbeiterschaft fand nicht unter dem einen politischen Dach der Sozialdemokratie zusammen, der Sozialdemokratie wiederum gelang es nicht, die Arbeiterschaft übergreifend anzusprechen. Das Bürgertum seinerseits blieb politisch variabel und konnte daher aus ähnlichem sozialem Profil unterschiedliche politische Strömungen speisen.

3. Klassenbildung als multivariates Modell Angesichts der Vielfalt und Varianz in Arbeiterschaft und Bürgertum ist – wie eingangs erwähnt – ein an sozioökonomischen Merkmalen ausgerichtetes Klassenbildungsmodell, von dem aus sich politische Formierungsprozesse hin zu einer Arbeiterbewegung ableiten lassen, stark in den Hintergrund gedrängt worden.42 Ein insbesondere beziehungs- und verflechtungsgeschichtlich erweitertes Klassenmodell kann dagegen für die künftige Forschung zur Geschichte der Arbeiterschaft und des Bürgertums ein hilfreiches Analyse- und Darstellungsinstrument sein. Es geht dabei darum, vielfältige Dimensionen von Kontakten und Konflikten, Austauschprozessen und Kommunikationsblockaden, gegenseitigen Wahrnehmungen und Ablehnungen, kulturellen Aneignungen und gegenseitigem organisatorischem Lernen, Inklusions- und Exklusionsprozesse zu rekonstruieren. Das Spektrum der Themen ist dabei breit, lässt sich an die lokal oder regional vorhandenen Quellen anpassen und ist doch durch einen allgemeinen Rahmen verknüpft. Es eröffnet sich so eine Sozial-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte der Arbeiterschaft und des Bürgertums. Ein Beispiel für die Verflechtungsebene lässt sich erkennen, wenn man die Rolle der Arbeitervereine und Sozialdemokratie innerhalb der städtischen Kommunalpolitik betrachtet. Selbst in Erfurt, in dem die städtische Elite bei Kommu41  Schmidt, Begrenzte Spielräume (wie Anm. 3), S. 200–202. 42  Vgl. Anm. 5.

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nalwahlen an der restriktiven Idee der Bürgergemeinde und der Einteilung der Wahlberechtigten in drei Klassen festhielt, zeigten sich Aneignungsprozesse. So verstand die Sozialdemokratie das Modell der Bürgergesellschaft in einem sehr viel umfassenderen, demokratischeren Sinn als viele Vertreter des Bürgertums. Die Sozialdemokraten übernahmen die Argumentationslinie der bürgerlichen Wählervereinigungen von der interessenübergreifenden Kommunalpolitik, nur dass sie bei den bisher Gewählten gerade deren Unabhängigkeit und Allgemeinvertretungsanspruch bezweifelten. 1886, als sich die Erfurter Sozialdemokratie erstmals an Stadtverordnetenwahlen beteiligte, forderte in einer öffentlichen Bürgerversammlung Paul Reißhaus „die Bürgerschaft auf, Männer zu wählen, welche den Interessen der Bürgerschaft voll und ganz dienen, Männer, welche sich durch keinen Händedruck von ihrer Abstimmung beeinflussen ließen“.43 Nur sozialdemokratisch gesinnte Bürger würden einer bürgerlichen Vetternwirtschaft ein Ende bereiten. Auf einem Flugblatt zu den Stadtverordnetenwahlen im Jahr 1898 versuchte die Sozialdemokratie ebenfalls den Brückenschlag zwischen Arbeiterinteressen und einer Politik für die gesamte Bürgerschaft herzustellen. In dem mit „Mitbürger!“ überschriebenen Flugblatt argumentierten die Verfasser, dass die sozialdemokratischen Kandidaten „das notwendige Rückgrat und den Mut [besitzen], ihre eigene Meinung rückhaltlos auch den Mächtigen gegenüber auszusprechen.“ Darüber hinaus seien sie „weit davon entfernt; nur Zukunftsmusik zu machen“. Auch für „patriotische Gegenwartsarbeit“ hätten sie „nichts übrig“. Stattdessen würden sie „durch fleißige, eifrigste und sachkundigste Mitarbeit an den praktischen Fragen der städtischen Verwaltung an der Spitze marschieren und dadurch den Dank ihrer Mitbürger zu verdienen suchen“.44 Sozialdemokratische Reformpolitik zum Wohle Aller war das Motto dieses Aufrufs und unterschied sich in seiner Grundidee nicht von der der bürgerlichen Vertreter. Mit der Beteiligung an den Kommunalwahlen demonstrierten die Sozialdemokraten bei jeder Wahl die demokratisch-partizipatorischen Mängel der bürgerlichen Kommunalpolitik.45 Sie war der Stachel im Fleisch der städtischen Bürgergesellschaft. Sah sich die sozialdemokratische Arbeiterbewegung als Wahrerin und Herausforderin der kommunalen Bürgergesellschaft zugleich und forderte die Arbeiterschaft dazu auf, sich diesen politischen Bereich zu erobern, trafen auf der Ebene der Betriebe die Arbeiterschaft und das Bürgertum in der „klassischen“ 43  Allgemeiner Anzeiger, Nr. 280 vom 30. November 1886, zit. n. Schmidt, Begrenzte Spielräume (wie Anm. 3), S. 304. 44  Flugblatt „Stadtverordnetenwähler der dritten Abteilung!“, 19. November 1898 (Hervorhebungen im Original), Thüringisches Staatsarchiv Gotha, Regierung zu Erfurt Nr. 414, Bl. 124 f. 45  Steffen Rassloff, Geschichte Thüringens, München 2010, S. 75; Hess, Geschichte Thüringens (wie Anm. 1), S. 434 f.

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ökonomischen Konfliktsituation von Arbeiterklasse und Unternehmer aufeinander. Auch hier gilt es zahlreiche Unterschiede zu bedenken. Die Beziehung zwischen Meister und Geselle in der Welt des Handwerks hatte wenig mit den Herrschaftsverhältnissen in Industriebetrieben zu tun.46 Und im Thüringer Raum lagen Welten zwischen den Vorstellungen über betriebliche Herrschaft bei solchen Großunternehmern wie dem Jenaer Ernst Abbe und dem Erfurter Otto Schwade. Dem Jenaer Unternehmer und Sozialreformer ging es um eine grundsätzliche „Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen“ – wie Sebastian Demel feststellte.47 Dagegen war dem Erfurter Unternehmer und Mitglied des Zentralverbands deutscher Industrieller jegliche Beteiligung der Arbeiterschaft zuwider. Als sich bei den Wahlen zum Erfurter Gewerbegericht die Arbeitervertreter klar durchgesetzt hatten, meinte Schwade: Er wolle nie mehr Chef seiner Firma sein, wenn ihm „die Schmach zugemuthet würde, event. vor einem Gerichtshof erscheinen zu müssen, dessen Organe in der Majorität aus socialistisch-organisierten Personen“ bestünden.48 Schließlich gilt es zu bedenken, dass Macht und Herrschaft im Betrieb und am Arbeitsplatz in einem großen Unternehmen weit unterhalb der Ebene zwischen Produktionsmittelbesitzern und lohnabhängig Beschäftigten, zwischen kapitalistischem Bürger und Lohnarbeiter begann. Letztendlich entschied der Pförtner, der sich in seinem Haushalt bestimmt kein Dienstmädchen leisten konnte, darüber, ob er einen etwas verspätet zur Arbeit kommenden Arbeiter noch in den Betrieb ließ oder nicht. Pförtner und Arbeiter – dieses Gegensatzpaar eröffnet eine weitere zentrale – und leider in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte mit ihrem cultural turn vernachlässigte – Kontakt- und Abgrenzungsebene zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum: die der sozialen Mobilität.49 Ohne Frage sind mit dieser Forschungsrichtung zahlreiche methodische Schwierigkeiten verbunden; andererseits bietet sich gerade der lokal- und regionalgeschichtliche Zugriff für solche Forschungen an, um die komplexen Daten zu erheben und die gewonnenen Ergebnisse in einem konkreten Kontext zu verorten. Mit den heutigen Möglichkeiten der Computernutzung und Datenvernetzung wäre es möglich, die früher stark standardisierende Methode der Kirchenbuchauswertung von Berufsbe46  Karl Lauschke/Thomas Welskopp (Hg.), Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen und Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts, Essen 1994; allgemein: Hartmut Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte. Eine themenund theorieorientierte Einführung, Berlin/Boston 22016. 47  Sebastian Demel, Auf dem Weg zur Verantwortungsgesellschaft. Ernst Abbe und die Carl-Zeiss-Stiftung im deutschen Kaiserreich, Göttingen 2014, S. 259. 48  Otto Schwade an den Erfurter Regierungspräsidenten, 12. November 1900, zit. n. Schmidt, Begrenzte Spielräume (wie Anm. 3), S. 216. 49  Ruth Federspiel, Soziale Mobilität im Berlin des zwanzigsten Jahrhunderts. Frauen und Männer in Berlin-Neukölln 1905–1957, Berlin/New York 1999; Volkmar Weiss, Bevölkerung und soziale Mobilität. Sachsen 1550–1880, Berlin 1993.

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zeichnungen auszuweiten, mit zusätzlichen Daten wie Vereinszugehörigkeit, Steueraufkommen usw. zu verknüpfen und so ein vielfältigeres Bild von sozialer Mobilität in historischer Perspektive zu gewinnen. Derartige Untersuchungen lassen erst erkennen, welche Heiratskreise und Aufstiegskanäle wem offenstanden, wo sich Grenzen der Aufstiegsmobilität abzeichneten, wer in Gefahr stand, aus bürgerlichen Gruppen abzusteigen, welche Arbeiterkreise in der persönlichen Karriere oder im intergenerationellen Verlauf Chancen oder Risiken von Auf- und Abstieg trugen. Der Pförtner und der Arbeiter waren sich dann in ihrer sozialen Position sehr nah. Um nur zwei Zahlen zu nennen: Unter den zwischen 1905 und 1909 in Erfurt heiratenden Handwerksmeistern, kleinen Selbstständigen und Angestellten – zu denen die Pförtner gehörten – hatten in der Generationenfolge nur 3,5 % den Aufstieg in das Kernbürgertum geschafft, während fast 40 % von ihnen nun zur Arbeiterschaft rechneten.50 „In Ostthüringen“ wiederum „ermöglichte die Textilindustrie auch den sozialen Aufstieg von handwerklichen Kleinbürgern“ zu erfolgreichen Textilunternehmern. Ansonsten ging das „Großbürgertum“ in den übrigen thüringischen Regionen „vornehmlich aus den führenden Schichten des älteren Bürgertums hervor, das im Spätfeudalismus dem Patriziat der Mittelstädte angehört hatte“, postulierte Ulrich Heß.51 Solche Setzungen könnten regional- und lokalgeschichtliche Analysen quantitativ bestätigen oder zu hinterfragen suchen sowie sie mit weiterem Quellenmaterial beleuchten. Während solche modernisierten, quantifizierenden Ansätze in nächster Zeit wohl kaum zu erwarten sind, kann eine verflechtungsgeschichtliche Analyse von Arbeiterschaft und Bürgertum auf eine Vielzahl an qualitativen, kulturgeschichtlichen Ansätzen zurückgreifen. Unter der Fragestellung der Aneignung und Anverwandlung bürgerlicher Werte, auch missverständlich und pejorativ als „Verbürgerlichung“ interpretiert, ist die Integration der Arbeiterschaft und der Arbeiterbewegung in Staat und bürgerliche Gesellschaft intensiv diskutiert worden.52 Auf der einen Seite stand die institutionelle Einvernahme der Arbeiterschaft durch die staatlichen Sozialisationsinstanzen wie Schule und Militär. Die damit verbundene Integration erfolgte nicht bruchlos. Aber der „Militarismus der kleinen Leute“ beispielsweise verband in den zahllosen, auch in Thüringen weit verbreiteten Kriegervereinen nicht nur die Arbeiterschaft und die Ränder des 50  Schmidt, Begrenzte Spielräume (wie Anm. 3), S. 249. 51  Hess, Geschichte Thüringens (wie Anm. 1), S. 136. 52  Heinz Schilling, Kleinbürger. Mentalität und Lebensstil, Frankfurt am Main/New York 2003, S. 61 f. Für das 20. Jahrhundert siehe Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin u. a. 22014, S. 47, der die Entwicklung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg so zusammenfasst: „Nicht die Verbürgerlichung, wohl aber eine Entproletarisierung der Arbeiterschaft war das Ergebnis.“

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Bürgertums in geselliger Eintracht, sondern vermittelte auch das Gefühl von Stolz und Ehre für die Nation.53 Auf der anderen Seite eigneten sich die Arbeiterschaft und die Arbeiterbewegung kulturelle Werte und Lebenspraxen in einer für sie zweckdienlichen Form an. In den Schiller-Feiern wurde der Dichter aus Weimar zur Freiheitsikone erklärt. Die Weihnachtsfeste beging man in der sozialdemokratischen Arbeiterschaft wie im Bürgertum, nur legte man die Betonung verstärkt auf die Friedensbotschaft. Erfurter Sozialdemokraten reisten angesichts des etwas dürftigen kulturellen Angebots in der Bezirkshauptstadt zu Theatervorstellungen nach Weimar, versuchten ihren Mitgliedern Opernaufführungen mit vergünstigten Karten schmackhaft zu machen. Und bei den Arbeitern durfte „in den Städten […] in der Arbeiterwohnung niemals die gute Stube fehlen, mag man im übrigen auch noch so beengt wohnen“, wie es in einem Gewerbeinspektionsbericht über den Regierungsbezirk Erfurt vom 28. Januar 1914 hieß.54 Kulturelle Einflüsse der Arbeiterschaft auf das Bürgertum sind schwieriger nachzuweisen. Die Werte der Solidarität und das sich in vielen Fällen bewährende Zusammenstehen in Krisenzeiten nötigten dem aufgeschlossenen Bürgertum Respekt und Anerkennung ab: Millionen von Arbeitern, sind grade so gescheidt, so gebildet, so ehrenhaft wie Adel und Bürgerstand, vielfach sind sie ihnen überlegen. Alle diese Leute sind uns vollkommen ebenbürtig […]. Sie vertreten nicht bloß Unordnung und Aufstand, sie vertreten Ideen, die zum Theil ihre Berechtigung haben und die man nicht todtschlagen kann

schrieb Theodor Fontane schon 1878.55 Viele weitere beziehungsgeschichtliche Analyseebenen zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum ließen sich noch einbeziehen, etwa die Frage nach einer gemeinsamen regionalen Identität, die angesichts des thüringischen Flickenteppichs vermutlich eher schwerer als „gesamtthüringische“ Identität herzustellen war. Zu erwähnen ist insbesondere der Aspekt des Geschlechts und der Männlichkeit. Das Bild des männlichen Alleinverdieners – so schwierig es in der Praxis zu realisieren war – entwickelte sich zu einem tragenden Rollenmodell in der Arbeiterschaft. Auch die bipolare Vorstellung von privater und öffentlicher Sphäre fand sich gleichermaßen in Arbeiterschaft und Bürgertum. Das Vereinsleben war geprägt von Männlichkeit ausstrahlenden Verhaltensmustern.56 53  Thomas Rohkrämer, Der Militarismus der „kleinen Leute“. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, München 1990. 54  Bericht des Gewerbeinspektors Rittershausen, 28. Januar 1914, zit. n. Schmidt, Begrenzte Spielräume (wie Anm. 3), S. 360. 55  Th. Fontane an E. Fontane, 5. Juni 1878, in: Emilie und Theodor Fontane, Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel 1873–1898, hg. v. Gotthardt Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1998, S. 105 f. 56  Welskopp, Banner (wie Anm. 30), S. 335–337, 415–418.

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Im politischen Verein bewies man sich in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, im geselligen Verein blieben die Männer bei Alkohol, Tabak und Kartenspiel unter sich. Frauen bekamen die Funktion zugewiesen, sich um die Ausschmückung von Festen und Festsälen zu kümmern. Diese wiederum wollten sich damit nicht mehr abspeisen lassen und gründeten sowohl im Bürgertum als auch in der Arbeiterschaft ihre eigenen Frauenvereine.57 Abschließend möchte ich auf den Aspekt der Einbindung der beiden Sozialgruppen der Arbeiterschaft und des Bürgertums in transnationale, teilweise globale Prozesse eingehen. Charlotte Bühl-Gramer verwies darauf, dass „Ort und Region als Ausgangspunkt und Einflussfaktor historischer Entwicklungen“ genutzt werden können, um „Rückwirkungen auf die allgemeine Geschichte von ‚unten‘ nach ‚oben‘ sichtbar“ zu machen. Regionalgeschichtliche Fallbeispiele können „zur Enttypisierung“ beitragen, „um die geschichtliche Individualität, das geschichtliche Profil einer Landschaft, einer Region, eines Ortes und die eigene historische Dignität zu wahren sowie globale Verflechtungsgeschichten von Orten und Regionen“ herauszuarbeiten.58 Zu dieser Verflechtungsgeschichte gehörten auch die Prozesse der Aus- und Rückwanderung; vor allem Letztere scheint in der älteren Forschung unterschätzt worden zu sein und bedarf der weiteren regionalgeschichtlichen Untersuchung.59 Deutlich wird mit solchen Fragestellungen dann auch, insbesondere wenn man noch die innerdeutsche Zu- und Abwanderung berücksichtigt, dass Region „nicht als eine kulturelle Einheit“ festgeschrieben werden muss, die der Gefahr einer engen Identitätszuschreibung unterliegen kann, sondern dass Region einen „Interaktions- und Transitraum von Menschen mit sehr unterschiedlichem kulturellen Hintergrund“ repräsentiert.60 Diesen Wanderungsbewegungen wiederum waren Arbeiterschaft und Bürgertum in ganz unterschiedlichem Maße und unterschiedlicher Qualität ausgesetzt und sind entsprechend zu analysieren.

57  Ute Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, München 2009, S. 49 f.; Hess, Geschichte Thüringens (wie Anm. 1), S. 361. 58  Charlotte Bühl-Gramer, Rezension zu: Anke John, Lokal- und Regionalgeschichte, Frankfurt am Main 2018, in: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-29110 (Zugriff am 31. Oktober 2018). – Vgl. Ronny Schwalbe, Von einer reußischen Stückfärberei zum Global Player. Kommerzienrat Dr. h. c. Georg Hirsch als Fallbeispiel der Industrialisierung in Ostthüringen, in: Gerber/Greiling/Swiniartzki (Hg.), Industrialisierung (wie Anm. 25), S. 111–130. 59  Daten zur Auswanderung bei Hess, Geschichte Thüringens (wie Anm. 1), S. 133, 363 f. Zur Rückwanderung siehe allgemein Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800–2000, München 2004, S. 80. 60  Peter Dürmüller, Panelbericht zu Welche Regionalgeschichte in Zeiten der Globalisierung 2013, https://doi.org/10.5167/uzh-90535 (Zugriff am 30. Oktober 2018).

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Aber auch im Bereich der Wirtschaft gab es im 19. Jahrhundert zahlreiche globale Verknüpfungen.61 Erfurts Großunternehmen in der Schuhherstellung, Lingel, lernte von den Produktionsbedingungen in den USA. Die Unternehmensleitung reiste dorthin, Maschinen wurden importiert, Erfurter Schuhmacher arbeiteten an amerikanischen Maschinen. Wie erwähnt benötigte Ruhlas Uhrenindustrie Fachkräfte aus der Schweiz und aus Frankreich für ihre Produktion.62 Und die besonders erfolgreichen und günstigen Uhren fanden ihre Hauptabnehmer in Großbritannien. Auch die Spielwarenindustrie profitierte vom Export über die deutsche Grenze. „Die beiden feinmechanisch-optischen Unternehmen in Jena“ schließlich „schufen sich mit ihren Erzeugnissen eine Monopolstellung auf den internationalen Märkten“, wie Wolfgang Mühlfriedel feststellte.63 Schließlich empfahlen sich die Erfurter Kunst- und Handelsgärtnereien wie die Firma „Haage & Schmidt“ in der Zeitschrift „Der Tropenpflanzer“ „für den Bezug aller Arten von Sämereien“ für die koloniale Landwirtschaft.64

4. Schlussbemerkungen Die Geschichte von Bürgertum und Arbeiterschaft als Verflechtungsgeschichte darzustellen, eröffnet vielfältige Forschungsperspektiven und Forschungsfragen für die thüringische Geschichte: Wie sahen beispielsweise räumliche Segregationsmuster in den verschiedenen thüringischen Stadttypen aus? Welche Gemeinsamkeiten teilten die Strumpfwirkerstadt Apolda mit der Residenz- und zunehmend auch Industriestadt Gotha? Worin lagen die Unterschiede? Wenn die politischen Charakterisierungen von eher progressiven thüringischen Staaten wie Sachsen-Coburg-Gotha und Sachsen-Meiningen einerseits und eher konservativen Ländern wie Schwarzburg-Sondershausen ihre Berechtigung haben, wie sahen die Beziehungen zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum dort jeweils aus? Der sozialen Zusammensetzung und dem Verhältnis der verschiedenen Vereine kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Letztlich eröffnet die regionalgeschichtliche Verknüpfung der beiden Sozialgruppen die Möglichkeit, die – 61  Auch das Forschungszentrum Gotha hat sich, wenngleich eher für die frühe Neuzeit, der Verknüpfung von regionaler und globaler Geschichte zugewendet. Siehe die Forschungsprojekte „Globalisierung und lokales Wissen“ (Laufzeit 2012–2016) sowie „Karten – Meere. Für eine Geschichte der Globalisierung vom Wasser aus“. 62  Schreiber, Uhren (wie Anm. 26), S. 39, 49 f. 63  Wolfgang Mühlfriedel, Die Industrialisierung in Thüringen. Grundzüge der gewerblichen Entwicklung in Thüringen von 1800 bis 1945, Erfurt 2001, S. 92 f., 104; Schreiber, Uhren (wie Anm. 26). 64  Siehe z. B. das Inserat in: Der Tropenpflanzer. Zeitschrift für tropische Landwirtschaft 15 (1911), Heft 2, Anzeigenseite 22.

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auch in der Forschung zu Thüringen – lange Zeit vernachlässigte Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte wieder stärker in den Fokus zu nehmen. Durch eine ideologisierte Geschichtsschreibung in der DDR, einem Überangebot an Forschungen sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch der DDR sowie dem Ende der Rivalität zwischen west- und ostdeutscher Forschung in der Arbeitergeschichte, hatte dieses Feld in der Geschichtswissenschaft nach 1990 massiv an Interesse verloren. Dabei zeigen neuere kulturgeschichtliche Ansätze, die Verknüpfung von Klassen- und zivilgesellschaftlichen Analysen sowie die verflechtungsgeschichtliche Herangehensweise mit dem Bürgertum durchaus attraktive Zugänge zu einer keineswegs „zu Tode erforschten“ Arbeitergeschichte.65 Wie etwa sind die titelgebenden „getrennten Welten“ der „Stände“ vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs einzuordnen? Denn auch dies gilt es zu bedenken: Vor lauter verflechtungsgeschichtlichen Perspektiven auf Arbeiterschaft und Bürgertum darf man die harten Grenzen sozialer Ungleichheit sowie die politischen Konflikte und Klassenspannungen nicht aus den Augen verlieren. Es gibt noch viel zu tun – und die Geschichte der Arbeit sowie der Arbeiterschaft und des Bürgertums kann dabei ein bewährter und dennoch innovativer Zugang zur thüringischen Geschichte sein.

65  Welskopp, Banner (wie Anm. 30); Schmidt, Brüder (wie Anm. 5); Schmidt, Arbeiter (wie Anm. 29); Dietmar Süss, A scheene Leich? Stand und Perspektiven der westdeutschen Arbeitergeschichte nach 1945, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, Nr. 34/2005, S. 51–76; Kim Christian Priemel, Heaps of work. The ways of labour history, in: H-Soz-Kult 23. Januar 2014, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ forum/2014-01-001 (Zugriff am 31. Oktober 2018).

Werner Greiling

Publizistische Debatten zum Fabrik- und Maschinenwesen

Immer dann, wenn etwas Neues entsteht und sich ein Phänomen für die Gesellschaft als relevant zu erweisen beginnt, geschehen zwei Dinge: Zum einen werden – über kurz oder lang – Regeln aufgestellt, die den Umgang mit der neuartigen Erscheinung fixieren. Es werden Normen ausgehandelt, Gebote formuliert und auch Verbote erlassen. Das Instrumentarium hierfür waren in der Frühen Neuzeit auf der Ebene des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation die Reichsabschiede sowie Mandate, Dekrete und Reskripte. Dem föderalen Prinzip des Alten Reichs entsprechend gab es innerhalb der einzelnen Reichsstände noch zusätzliche Bestimmungen, die in den Territorialstaaten mittels Landesund Policeyordnungen zudem meist auch ein bestimmtes Maß an Systematisierung erfuhren. Im 19. Jahrhundert wurde dem politischen und juristischen Regulierungsbedarf durch eine zunehmend modernere Gesetzgebung Rechnung getragen. Diese wurde hinsichtlich ihrer jeweiligen Effizienz und der Folgewirkungen häufig durchaus kontrovers bewertet, sowohl bei den Zeitgenossen als auch in der wissenschaftlichen Literatur. Das gilt beispielsweise für die gesetzlichen Regelungen zur Gewerbefreiheit, die in Preußen bereits 1810/11 eingeführt wurde, im Königreich Sachsen jedoch erst in den 1860er Jahren Rechtskraft erlangte. Dass Sachsen dennoch zu einem Vorreiter des Industrialisierungsprozesses in Deutschland wurde, verdeutlicht die Ambivalenz dieser Problematik.1 Das Zweite, was beim Auftauchen eines neuen Phänomens, einer Entdeckung, Erfindung oder einer neuen Technologie erfolgt, ist eine öffentliche Debatte darüber. Es wird – seitdem den Menschen der Buchdruck zur Verfügung steht – berichtet, erläutert und debattiert, meist in verschiedenen Medien gleichzeitig. Man tauscht sich über das Neue sowie dessen Vorzüge und Einsatzmöglichkeiten, aber auch über Nachteile und Gefahren aus. Dieser öffentliche Meinungsaustausch geht der politischen und juristischen Regelung des entsprechenden Phänomens oft voraus. Die Diskussionen begleiten aber auch den Regulierungsprozess und greifen mitunter korrigierend ein. Im Idealfall werden die Medien dabei der Dreiheit ihrer „objektiven Funktion“ umfassender Nach1 

Vgl. Hans-Werner Hahn, Die Industrielle Revolution in Deutschland, München ³2011, S. 80.

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richtenvermittlung und Information, eines Beitrags zur Meinungsbildung sowie öffentlicher Kontrolle und Kritik auch tatsächlich gerecht. In den einschlägigen Darstellungen zur Wirtschaftsgeschichte nehmen Fragen zur Rolle des Staates und zur Wirtschaftsgesetzgebung in aller Regel den ihnen gebührenden Platz ein.2 Hierzu zählen die Gewerbegesetzgebung, die Zollgesetze, der gesetzliche Schutz von Erfindungen und geistigem Eigentum, aber auch die Regelungen zum wirtschaftlichen Engagement des Staates und die Bestimmungen für den Finanzsektor, etwa das preußische Aktiengesetz von 1843. Die Dimension der Kommunikation hingegen wird meist auf einige, wenn auch eminent wichtige Bereiche beschränkt, die mit den von mir angesprochenen öffentlichen Debatten nichts zu tun haben. Dies gilt für die Marktzugänglichkeit und den entstehenden Massenmarkt, das Verkehrs- und Transportwesen, für Teilbereiche wie den Chausseebau, den Bau und Einsatz von Dampfschiffen sowie für das gesamte Eisenbahnwesen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zählten hierzu aber auch die technischen Verbesserungen der Kommunikation, etwa die Telegrafie und das Telefon.3 In den folgenden Ausführungen soll es jedoch dezidiert um den Zusammenhang von Industrialisierung und Öffentlichkeit gehen, wobei drei Aspekte beleuchtet werden: 1. die Begrifflichkeit der neuen Phänomene, wie sie sich in Wörterbüchern und Lexika des 19. Jahrhunderts findet und sukzessive verändert; 2. die Bilder und Deutungen, welche aus der Wirtschaft und Gesellschaft von den neuen Phänomenen an die Öffentlichkeit vermittelt werden; 3. die Debatten über das, was man im Zeitalter der Industrialisierung als neu und faszinierend, aber auch als gefährlich, bedrohlich und nicht zuletzt als regelungsbedürftig empfand.4 Im Zentrum des Interesses standen der Einsatz mechanischer, meist mit Dampfkraft betriebener Arbeitsgeräte, also Maschinen, und die neue Organisationsform, in der zentralisiert und arbeitsteilig, unter Einsatz von Kraft- und Arbeitsmaschinen sowie mit hoher Kapitalintensität massenhaft produziert wurde – die Fabrik. Das System wird als „Fabrikwesen“ bezeichnet.

2  Vgl. ebd., S. 76–88; Hubert Kiesewetter, Industrielle Revolution in Deutschland 1815– 1914, Frankfurt am Main 1989, S. 18–21; Dieter Ziegler, Die Industrielle Revolution, Darmstadt 2005, S. 15–34. 3  Vgl. Kiesewetter, Industrielle Revolution (wie Anm. 2), S. 239–266. 4  Vgl. Werner Greiling, Medienproduktion und Medienrealität im Jahrhundert der Industrialisierung, in: Stefan Gerber/Werner Greiling/Marco Swiniartzki (Hg.), Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen in Thüringen, Wien/Köln/Weimar 2018, S. 141–169.

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1. Die Aneignung der Begrifflichkeit Seit jeher sind Wörterbücher und Lexika ein Indiz für die Aneignung neuer Phänomene in der Gesellschaft und für die Art und Weise, wie man etwas Neues auf den Begriff bringt. Dem Historiker steht damit ein reichhaltiges Quellenmaterial zur Verfügung, dessen Nutzungsmöglichkeiten hier lediglich angedeutet werden sollen. Im Leipziger „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches“ ist 1775 unter dem Lemma „Fabrik“ zu lesen: In engerer Bedeutung eine jede Werkstätte, wo Waaren von mehrern unzünftigen Arbeitern im Großen verfertiget werden, und zuweilen auch diese Waaren selbst. Eine Strumffabrik, Lederfabrik, Zuckerfabrik, Bandfabrik, Zwirnfabrik u. s. f. […] In der engsten Bedeutung, werden nur diejenigen Werkstätten dieser Art mit diesem Namen beleget, in welchen die Waaren durch Hülfe des Feuers und Hammers hervorgebracht werden, um sie von den Manufacturen zu unterscheiden, welche die übrigen Anstalten dieser Art begreifen. Eine Gewehrfabrik, Messerfabrik u. s. f. Doch wird dieser Unterschied im gemeinen Leben nur selten beobachtet.5

Im gleichen Wörterbuch findet sich unter dem Stichwort „Maschine“ die folgende Beschreibung: Eigentlich, ein jedes künstlich zusammen gesetztes Ding ohne Leben oder eigene Bewegung. […] In engerer Bedeutung, ein solches zusammen gesetztes Ding, eine Absicht durch dasselbe zu erreichen; ein Werkzeug. […] In einer andern Einschränkung ist die Maschine, ein künstlich zusammen gesetztes und mit einer, obgleich nicht eigenen und willkührlichen Bewegung versehenes Ding. […] In der engsten Bedeutung ist es ein zusammen gesetztes Werkzeug eine Bewegung hervor zu bringen oder zu erleichtern, zum Unterschiede von einem bloßen Werkzeuge oder Instrument, welches auch einfach seyn kann. Große Maschinen, schwere Lasten zu heben oder zu erleichtern, werden Rüstzeuge genannt.6

Die für das 19. Jahrhundert eminent wichtigen Begriffe „Fabrik“ und „Maschine“ werden also in den 1770er Jahren bereits erfasst und gewissermaßen in einer vormodernen Weise definiert. In der zweiten, verbesserten Auflage dieses Wörterbuchs, dessen Titel leicht modifiziert ist, finden sich beide Lemmata 20 Jahre später mit der exakt gleichen Beschreibung.7 Die Stichworte „Fabrikwesen“ und „Maschinenwesen“ sind nicht enthalten. Eines der viel gelesenen Lexika im 19. Jahrhundert war jenes, das Heinrich August Pierer in Altenburg zunächst unter dem Titel „Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe“ herausbrachte und das dann 5  Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, 2. Teil, Leipzig 1775, Sp. 3. 6  Ebd., 3. Teil, Leipzig 1777, Sp. 384. 7  Vgl. Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, 2. Teil, Leipzig ²1796, S. 3; ebd., 3. Teil, Leipzig ²1798, S. 91.

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von der zweiten Auflage an den Haupttitel „Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit“ erhielt. Der „Pierer“ erschien von 1824 bis 1827 in 26 Bänden, die zweite Auflage folgte von 1840 bis 1846 in 32 Bänden. Eine dritte Auflage wurde zwischen 1849 und 1852 veröffentlicht. Allein an diesem forcierten Publikationsrhythmus, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit zwei weiteren Auflagen fortsetzte, lässt sich erkennen, dass dieses Lexikon völlig zu Unrecht im Schatten der freilich noch erfolgreicheren Nachschlagewerke von Friedrich Arnold Brockhaus und Carl Joseph Meyer steht.8 Auch in Pierers „Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit“ finden sich durchgängig die Lemmata „Fabrik“ und „Maschine“. Deren Beschreibung kann man nun von Auflage zu Auflage analysieren und vergleichen. Bei „Fabrik“ beginnt es 1827 mit den Topoi der großen Warenmenge sowie der Fertigung mit Feuer und Hammer wie im Leipziger Wörterbuch 50 Jahre zuvor. Doch es folgen auch Erweiterungen und Präzisierungen, denn Fabrik sei zweitens ohne auf die Verfertigung durch Feuer Rücksicht zu nehmen, eine Anstalt, wo auf Rechnung und unter Leitung eines Unternehmers (Fabrikherren, Fabrikanten) Waaren verfertigt oder in einen vollkommneren Zustand gebracht werden, wobei die einzelnen Arbeiter (Fabrikarbeiter) einander in die Hände arbeiten, also nur eine gewisse Arbeit daran vornehmen, oder bei zusammengesetzten Sachen, nur einzelne Theile verfertigen. Liefern solche Fabriken gewöhnliche Handwerkswaaren, so brauchen sie sich nicht in die Zunft aufnehmen zu lassen, sondern betreiben ihr Werk durch ein landesherrliches Privilegium, dürfen aber nur im Ganzen, d. h. bei langen Waaren stückweise, bei kurzen Waaren dutzendweise, verkaufen.9

Als eines der neuen Elemente in dieser Begriffserläuterung wird 1827 auf die arbeitsteilige Produktion in der Fabrik hingewiesen und zudem auch auf den Unterschied zwischen Fabriken und Manufakturen abgehoben. Ferner wird erläutert, dass das Wort „Fabrik“ auch für „das Gebäude, in welchem eine solche Anstalt ist“, Verwendung findet. Was es 50 Jahre zuvor noch nicht gab, wird 1827 ebenfalls geliefert, nämlich eine grundsätzliche Erörterung zur Rolle der Fabriken in der Volkswirtschaft, zu ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und zu Fragen der gesetzlichen Regulierung. Hierzu ist zu lesen:

8  Vgl. Conversations-Lexicon oder enzyklopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. Das 1812 begonnene, vollständig bei Friedrich Arnold Brockhaus herausgegebene Lexikon war der Auftakt für eine ganze Reihe nacheinander erscheinender mehrbändiger Lexikonunternehmen des Leipziger Verlegers. „Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. In Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern und Technikern“, das Carl Joseph Meyer von 1840 bis 1855 in 52 Bänden herausbrachte, gilt als Meilenstein in der Lexikonliteratur und entwickelte diverse Vorläufer, zu denen auch der „Pierer“ zählte, weiter. 9  Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, hg. v. Heinrich August Pierer, Bd. 7, Altenburg 1827, S. 283.

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Fabriken und Manufacturen sind ein vorzüglicher Theil des Staatsreichthums, denn sie geben nicht allein einer Menge Menschen Unterhalt, sondern sie ziehen Geld in das Land durch die Producte (Fabrikate), die sie liefern, welche sie ins Ausland senden; sie vermindern ferner wenigstens den Ausgang des Geldes, indem sie die Einfuhr fremder Fabrikate unnöthig machen. Sie müssen daher vom Staate so viel wie möglich begünstigt werden, doch mit weiser Rücksicht auf die übrigen Erwerbsquellen des Landes.10

Es folgen Erörterungen zur Förderung von Fabriken gegenüber dem traditionellen Handwerk und Ausführungen zu den Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Handelsbeschränkungen und Zölle. Auch auf eine aktive Wirtschaftspolitik des Staates geht der Lexikonartikel bereits ein. So wird ausgeführt, dass der Staat die Fertigung bestimmter, als notwendig erachteter Produkte fördern solle, die Konkurrenz auf dem Markt aber so wenig wie möglich reglementieren möge. Begünstigung der F.en durch Einfuhrverbote ist überhaupt nur zur Erweckung derselben zu empfehlen, für die Dauer wirkt sie, wie alle Monopole, mehr schädlich, indem besonders durch Rivalität der Erfindungsgeist und Betriebseifer unterhalten werden.11

Auch die Fragen nach dem nötigen Kapital für eine Fabrikgründung sowie nach Sinn und Unsinn einer wirtschaftlichen Tätigkeit des Staates werden artikuliert: Endlich ist auch bisweilen nöthig, daß der Landesherr zu Anlegung kostspieliger F.en Capitale vorschießt; weniger empfehlungswerth ist es, wenn der Landesherr auf eigne Rechnung Fabriken anlegen läßt, und fast immer nur schädlich, wenn er sie auf eigne Kosten fortbetreiben läßt. Die meisten landesherrlichen F.en würden in den Händen eines Privatmannes bessere Waaren liefern und mehr Gewinn geben.12

Und schließlich wird die Industrie auch ins Verhältnis zum Agrarsektor gesetzt, wobei nicht nur ökonomische Kriterien berücksichtigt, sondern auch soziale und sittliche Aspekte ins Spiel gebracht werden: Nie dürfen F.en auf Kosten des Ackerbaues begünstigt werden, da er eine ergiebigere Quelle des Landesreichthums ist und kräftigere, gehorsamere und sittlichere Unterthanen gibt. Da die F.en die Unterthanen schwächen, entnerven und entsittlichen, sind solche nur in unfruchtbaren und doch bevölkerten Gegenden oder in großen Städten anzulegen wo eine Menge arbeitsloser Menschen zusammengedrängt sind. In neuerer Zeit haben die Maschinen, besonders wenn sie mit Dampf getrieben werden, einen großen Einfluß auf die Fabriken gehabt u. wirklich liefern dieselben, besonders in England, Erstaunungswürdiges.13

Wenn man die bereits erwähnte zweite und dritte Auflage des „Pierer“ oder auch die vierte und fünfte Auflage in den 1850er und 1860er Jahren durchmustert, so lässt sich ein zunehmender Umfang der Texte zum Lemma „Fabrik“ 10  11  12  13 

Ebd. Ebd. Ebd., S. 284. Ebd.

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erkennen. Geboten wird außerdem eine wachsende Anzahl entsprechender Komposita, die ebenfalls erläutert werden. Zu den bereits 1827 enthaltenen Lemmata wie „Fabrikarbeit“ und „Fabrikmaschinen“ kommen nun ausführliche Einträge zu Begriffen wie „Fabrik- und Gewerbegerichte“, „Fabrikschulen“ und „Fabrikzeichen“ hinzu.14 Bereits von der zweiten Auflage an werden auch die ökonomischen Vorteile der arbeitsteiligen Fabrikproduktion genauer benannt. Dies erfolgt dadurch, dass jene Passage, in der von der Verfertigung lediglich einzelner Teile der späteren Ware durch die Arbeiter die Rede ist, zunächst textidentisch übernommen, jedoch durch die folgende Erörterung noch ergänzt wird: Hierdurch werden mancherlei Vortheile erlangt, nämlich: der Arbeiter bekommt mehr Geschwindigkeit u. Geschicklichkeit in der meist sehr einfachen Arbeit; der Zeitverlust bei dem Uebergehn von einer Beschäftigung zur andern wird vermieden; das stete Einnerlei führt den Arbeiter jedenfalls auf Verbesserungen u. neue Erfindungen; die Arbeit kann zweckmäßiger, nach der Geschicklichkeit jedes Einzelnen vertheilt werden, lassen es die Gegenstände zu, können Maschinen (F.-maschinen) angewandt werden etc.15

Das wichtige Phänomen der „Arbeitstheilung unter Menschen u. Maschinen“16 wird in der vierten Auflage expressis verbis auf den Begriff gebracht. In zunehmendem Umfang finden sich zudem neben grundsätzlichen Ausführungen über die Vorteile des Fabrikwesens auch Aussagen über die „Übelstände“, die es zur Folge hat. Hierzu zählt der „Pierer“ in der bereits zitierten vierten Auflage von 1858 zunächst den „Ruin des kleinen Gewerbes“, vor allem jedoch die „Entstehung des Arbeiterproletariats in großen u. gewerbreichen Städten“ sowie „Armuth und Elend“, deren verschiedene Ursachen im Detail erörtert werden. Diese hätten „schon früh die Aufmerksamkeit der Regierungen u. wohlthätigen Gesellschaften erregt, ohne daß ein durchgreifendes Gegenmittel gefunden worden ist“.17 Insgesamt zeigt die Analyse der Lemmata zu „Fabrik“ und „Maschine“ bzw. Fabrikwesen in den verschiedenen Auflagen des „Pierer“, wie die neuen Phänomene immer klarer erfasst und zunehmend präzise beschrieben werden. Auch das Verständnis für ihre Vorzüge und Gefahren entwickelte sich weiter. Insofern leisten die Wörterbücher nicht nur einen Beitrag zur Begriffsgeschichte, sondern sind auch selbst Teil der publizistischen Debatte zum Fabrik- und Maschinenwesen, auf die im dritten Teil eingegangen wird. Hinzu kommt eine 14  Vgl. Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 6, Altenburg 5 1869, S. 57–61. 15  Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, hg. v. Heinrich August Pierer, Bd. 10, Altenburg ²1842, S. 195. 16  Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 6, Altenburg 41858, S. 58. 17  Ebd., S. 58 f.

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wachsende Aufmerksamkeit für gesetzliche Regelungen im Wirtschaftssektor, etwa zum Patentrecht. So hat das Lemma „Fabrik- und Gewerbegerichte“ in der vierten Auflage von 1858 immerhin einen Umfang von zweieinhalb Spalten.18 Ein ähnliches begriffliches Fortschreiten und Fortschreiben findet sich in den Lemmata zu „Maschine“. Hier wird bis zur dritten Auflage des entsprechenden Lexikonbandes 1851 noch ein sehr traditionelles, gewissermaßen vormodernes Verständnis an den Tag gelegt, während man das Lemma im Jahr 1860 sowohl ausführlicher als auch in neuer Qualität erläutert. Erstmals ist jetzt auch von einem „Motor“ als der bewegenden Kraft einer Maschine und vom wichtigen technischen Aspekt der Kraft- bzw. Energieübertragung, der Transmission, die Rede. Durch sie wirke die Kraft auf die eigentliche Arbeitsmaschine. „Eine vollständige M. besteht demnach aus Kraft-, Zwischen- und Arbeitsmaschine; doch sind die Theile der Transmission oft zum Theil an der Kraftmaschine, zum Theil an der Arbeitsmaschine befindlich.“19 Erörtert werden auch Fragen des Antriebs, der Konstruktion und des Wirkungsgrads von Maschinen. Auch hierbei finden sich im „Pierer“ – also ähnlich wie in den zahlreichen weiteren Lexika des 19. Jahrhunderts – immer wieder aufs Neue Veränderungen und Präzisierungen der Bedeutungszuschreibungen. Unter den Lemmata „Fabrik“ und „Maschine“ wird wiederholt auch ins Grundsätzliche ausgegriffen. Man kann festhalten, dass etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein allgemeines Grundverständnis von den wichtigsten Phänomenen des Industriezeitalters etabliert war. Hierfür sei ein letztes Beispiel angeführt. Im Jahre 1845 konnte man in der „Allgemeine[n] Encyklopädie der Wissenschaften und Künste“ sowohl eine knappe Definition von „Fabrik“ als auch Ausführungen zu ihren Entwicklungsbedingungen lesen. Zugleich wird in dem Lexikonartikel auf die rechtlichen Rahmenbedingungen der Wirtschaft abgehoben und deutlich gemacht, dass sich parallel zur realen Entwicklung auch ein Bedeutungswandel der Begriffe hin zu dem heute dominierenden Verständnis von Gewerbe und Industrie vollzog. Heute wird unter Industrie jener Teil der gewerblichen Produktion gefasst, der „in großgewerblich organisierten Fabrikbetrieben“ erfolgt. „Industrie erfaßt daher nur einen Teil der gewerblichen Produktion, einen Teilbereich der veredelnden Weiterverarbeitung einer Volkswirtschaft.“20 In der Enzyklopädie von 1845 ist dieses neue Verständnis bereits erkennbar: Wird […] ein Gewerbe im Großen betrieben, so bedient es sich immer einer mehr oder minder getheilten Arbeit, oder neben dieser noch der Maschinen. Man würde daher auch sagen können, eine Fabrik sei eine gewerbliche Anstalt, welche ihre Producte mit Hilfe der Arbeitstheilung oder vermittels dieser und der Anwendung von Maschinen zu Stande bringt. […] Die Entstehung und Erwei18  Vgl. ebd., S. 59–61. 19  Ebd., Bd. 10, Altenburg 41860, S. 940. 20  Toni Pierenkemper, Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1994, S. 3.

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Werner Greiling terung der Fabriken in einem Lande setzt immer drei Bedingungen voraus: 1) die Einsicht in die anzuwendende Arbeit und in die Mittel zu ihrer Unterstützung, sowie den Besitz der Geschicklichkeit bei der Anwendung der arbeitenden Kräfte; 2) den Besitz von größeren Capitalien, als das Handwerk in Anspruch nimmt; und 3) die Möglichkeit einer freien Bewegung der Gewerbe.21

2. Maschinen und Fabriken in der Propaganda der Akteure In den zeitgenössischen Lexika und Wörterbüchern wird man aber auch in einem anderen Zusammenhang fündig. In „Pierer’s Universal-Lexikon“ kann man seit 1851 unter dem Lemma „Fabriken u. Manufacturen“ lesen: Endlich sind von entschiedenem Einfluß auf die Förderung der Gewerbe die Gewerbe- od. Industrieausstellungen. Denn selbst wenn eine derart. Schaustellung sich nur auf die industriellen Erzeugnisse des Inlandes bezieht, bleibt sie doch immer bedeutsam an sich, da dem Beschauer dadurch ein übersichtliches u. möglichst vollständ. Bild von Fortschritten u. Leistungen des Gewerbfleißes des betreffenden Landes dargeboten wird; aber eine noch weit höhere Wichtigkeit erlangen dergleichen Ausstellungen, wenn sie neben den einheim. Industrieerzeugnissen auch die anderer Nationen zur Anschauung bringen, weil sich so nicht nur erkennen läßt, worin die einzelne Nation sich vorzugsweise auszeichne u. welche Kunstproducte etwa ihr allein angehören, sondern zugleich auch in Bezug auf die gleichartige Industrie der verschiedenen Nationen eine Vergleichung möglich wird, also die graduelle Verschiedenheit der Leistungen deutlich daraus wahrgenommen werden kann. Deshalb sind auch dergleichen Ausstellungen in der neueren u. neuesten Zeit häufig veranstaltet worden, die großartigste 1851 in London.22

Die Verfasser richten den Blick auf die Gewerbe- und Industrieausstellungen, denen im „Pierer“ neben diesem Text fortan auch noch ein eigenes Lemma gewidmet wird. Derartige Expositionen wurden in wachsender Anzahl sowohl im regionalen als auch im nationalen und internationalen Rahmen organisiert und durchgeführt. Das Interesse der Forschung haben bislang insbesondere die Weltausstellungen gefunden. Seit ihrer ersten Ausrichtung 1851 in London galten sie als „Vergleichsmaßstab nationaler Entwicklungen“ und als „Motor für die Entwicklung des Freihandels“. Dass es bei ihnen auch um Aspekte der Selbstinszenierung der Gastgeber und ihrer Volkswirtschaften sowie um eine „Demonstration des nationalen Selbstverständnisses“ faktisch aller Teilnehmerländer geht, kommt noch hinzu. Mit der Beschreibung als „globale[r] Modernisierungswettbewerb“23 wird man ihnen wohl insgesamt am besten gerecht.

21  Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet und hg. v. J.[ohann] S.[amuel] Ersch und J.[ohann] G.[ottfried] Gruber, 41. Teil, Leipzig 1845, S. 1–3, hier S. 1. 22  Fabriken u. Manufacturen, in: Supplemente zu Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 2: Deutschland–Gyzen, Altenburg 1851, S. 208–213, hier S. 212 f. 23  Werner Telesko, Das 19. Jahrhundert. Eine Epoche und ihre Medien, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 275.

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Seit der „Kunst- und Handwerksausstellung“ 1790 in Hamburg haben in Deutschland Gewerbe- und Industrieausstellungen in großer Zahl stattgefunden. Bis 1900 kann man ca. 300 derartige Veranstaltungen unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Formats zählen. Der Begriff „Gewerbeausstellung“ wurde vermutlich erstmals 1804 in Lübeck verwendet. Im mitteldeutschen Raum ist im Jahr 1824 die Residenzstadt Dresden mit der „Sächsischen Gewerbeausstellung“ der offensichtlich wenig spektakuläre Vorreiter, bevor das sächsische Ausstellungswesen seit 1831 durch „die Einsetzung einer Jury, die Verleihung von Auszeichnungen und die Veröffentlichung eines offiziellen Abschlußberichtes […] die typischen Elemente einer mit gewerbefördernder Zielsetzung durchgeführten Veranstaltung“ erhielt.24 Auf dem Territorium des heutigen Freistaats Thüringen gab es zunächst mehrere kleinere Gewerbeausstellungen, nämlich 1826 in Altenburg, 1831 und 1833 in Erfurt sowie 1834 in Weimar. Eine Exposition, die für die Wirtschaft der gesamten Region Thüringen offen war, fand erstmals 1853 auf dem Friedenstein zu Gotha statt. Im Jahr 1861 folgte die zweite „Allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung“ in Weimar.25 Nachdem bei den einschlägigen Expositionen zunächst von „Gewerbeausstellungen“ gesprochen wurde, ist im Jahre 1812 in Stuttgart dann erstmals von „Industrieausstellung“ die Rede. Für das Territorium des heutigen Freistaats Thüringen ist dieser Terminus erstmals 1862 für Nordhausen belegt. Allein der einführende Text des „Amtlichen Berichts über die allgemeine deutsche Gewerbe-Ausstellung zu Berlin im Jahr 1844“ macht deutlich, 26 welche Fülle an unterschiedlichsten Ausstellungsformen in jener Zeit auf bundesstaatlicher, regionaler und einzelstaatlicher Ebene existierte.27 24  Uwe Beckmann, Gewerbeausstellungen in Westeuropa vor 1851 (Studien zur Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 3), Frankfurt u. a. 1991, S. 75. Vgl. auch Enrico Hochmuth, Industrie- und Gewerbeausstellungen in Sachsen 1824–1914. Ihr Beitrag zur kommunalen und regionalen Standortbildung, Beucha/Markkleeberg 2012. 25  Vgl. Katalog der zweiten allgemeinen thüringischen Gewerbe-Ausstellung zu Weimar im Jahre 1861. Nebst Uebersichtsplan und Geschäftsanzeiger, Weimar 1861; Jens Riederer, Die zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung 1861 in Weimar, in: Julia Dünkel/Andreas Christoph (Hg.), Erlebnis Industriekultur. Innovatives Thüringen seit 1800, Pößneck 2018, S. 429–432. Vgl. ferner den Beitrag von Jens Riederer in diesem Band. 26  Amtlicher Bericht über die allgemeine deutsche Gewerbe-Ausstellung zu Berlin im Jahr 1844, 4 Bde., Berlin 1845/46. 27  Vgl. u. a. Beckmann, Gewerbeausstellungen in Westeuropa (wie Anm. 24), Anhang, S. VII–XIII; Kenneth E. Carpenter, European Industrial Exhibitions before 1851 and their publications, in: Technology and Culture 13 (1972), S. 465–486; Thomas Grossbölting, „Im Reich der Arbeit“. Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 21), München 2008, S. 441–458.

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Für unsere Fragestellung sind die Kataloge der Ausstellungen und die Berichte darüber von besonderem Interesse. Sie waren Selbstauskunft der Aussteller und Information über die Präsentationen, stellten aber auch einen Beitrag zu den Debatten über die wirtschaftliche Entwicklung der Zeit dar. Dabei war man sich zugleich darüber einig, dass diese Ausstellungen dem Gewerbe und der Industrialisierung zugutekamen. So endete beispielsweise der Beitrag über die „Augsburger Ausstellung der Kunst- und Gewerbs-Erzeugnisse“ im Jahre 1819, auf der die Produkte in sechs Abteilungen präsentiert wurden und die die zweite ihrer Art war, mit den Worten: „Möchten alljährlich in allen größern Städten des Reichs ähnliche Ausstellungen Statt finden! – Auf welch eine hohe Stufe würde sich dann Bayerns Kunst- und Gewerbefleiß in kurzer Zeit heben.“28 Diese Exposition stand 1819 noch unter dem Titel „Ausstellung der Kunst- und Gewerbs-Erzeugnisse“, während der Begriff „Industrieausstellung“ nur im Text selbst verwendet wurde.29 Im Jahr darauf wurde die Zählung dann zwar fortgesetzt, doch wurde diese Schau jetzt explizit als „Dritte Industrie-Ausstellung zu Augsburg“ bezeichnet.30 In der Folge wurde in zahlreichen Ausstellungskatalogen und in den Berichten über entsprechende Expositionen neben der Dokumentation diverser Fabrikate und ihrer Hersteller auch in einer grundsätzlichen Weise über den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung sowie über deren Voraussetzungen und rechtliche Rahmenbedingungen geschrieben. Auch hierbei finden sich implizite Debattenbeiträge zum Fabrik- und Maschinenwesen. So werden in den „Mittheilungen über die Industrie-Ausstellung in Nürnberg im Jahre 1840“ zunächst Informationen über die Provenienz der Exponate geboten, wobei sich eine klare Dominanz des Kreises Mittelfranken (597 Einsender) und der Stadt Nürnberg (160) zeigt. Sodann werden sehr detailliert die Fortschritte der einzelnen Branchen gegenüber dem Stand von 1835 bilanziert und neue Fabriken für Maschinenbau, für chemische Produkte, für Flachs-Spinnerei, für „Maschinenweberei“ und für Kammgarnspinnerei hervorgehoben. Und schließlich äußerte sich der Berichterstatter im Jahr 1840 – unmittelbar vor Beginn der Hochphase der Industriellen Revolution in Deutschland – auch in einer grundsätzlichen Art und Weise über die raschen Fortschritte der Industrie in Bayern. Zugleich wird festgehalten: Es beginnt allenthalben mehr und mehr der fabrikmäßige Betrieb, es kündigt sich in unserm Vaterlande, und zwar vorzugsweise in Mittelfranken, wo die Industrie der Kleinmeister heimisch und eigenthümlich ist – die Herrschaft der Fabriken an, welche jener nationalen Industrie bedrohlich oder aber wenigstens manche gewerbliche Verhältnisse verändern wird. – Eine große Anzahl von 28  Kunst- und Gewerbe-Blatt, Nr. 48 vom 27.11.1819, Sp. 667–678, hier Sp. 678. 29  Ebd., Sp. 667. 30  Vgl. Bericht von der dritten Industrie-Ausstellung zu Augsburg im October 1820, von Hrn. Dr. Dingler, in: Kunst- und Gewerbe-Blatt, Nr. 91 vom 11.11.1820, Sp. 751–758.

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Verbesserungen jeder Art hat sich seit wenigen Jahren in den einzelnen Gewerben geltend gemacht, und ein lobenswerther Eifer nach Vervollkommnung der Erzeugnisse ist unter allen Gewerbetreibenden unverkennbar.31

Die Ausstellungen waren Leistungsschau und Werbeplattform, dienten aber auch als Anregung für die Wirtschaftsförderung und für die Gewerbegesetzgebung. In vielen Fällen waren offizielle Vertreter der Regierungen anwesend, um sich über das Potential der heimischen Gewerbe zu informieren und gegebenenfalls auf Defizite hinzuweisen. Diese konnten dann bei Bedarf mit staatlicher Hilfe behoben werden. Eine solche Funktion hatte beispielsweise der bayerische „Commissions-Bericht über die Leipziger-Industrie-Ausstellung vom Jahre 1850“, den Karl Schafhäutl zusammenstellte und redigierte. Schafhäutl fungierte als Obmann der zur Besichtigung der Leipziger Exposition abgeordneten bayerischen Sachverständigen, zu denen neben ihm noch acht Experten aus den einzelnen Regierungsbezirken gehörten. Als Geologe und Universitätsprofessor, nicht zuletzt aber als guter Kenner der wirtschaftlichen Verhältnisse in England und insbesondere der dortigen Eisen- und Stahlindustrie, war er für seine Aufgabe in besonderer Weise qualifiziert. Die anderen Delegationsmitglieder, allesamt berufen vom Bayerischen Staatsministerium des Handels und der öffentlichen Arbeiten, waren als Handwerksmeister und Fabrikbesitzer Männer der gewerblichen Praxis. Im rund 140-seitigen Bericht werden allgemeine Überlegungen zur Konzeption der Ausstellung und zu Fragen der Präsentation der Schaustücke vorgetragen, die sieben Abteilungen der Exposition vorgestellt, die Qualität einzelner Wirtschaftsbereiche bilanziert und mit den Standards in Bayern verglichen. Zudem werden zahlreiche Einzelexponate noch besonders gewürdigt, auch in ihrem Preis-Leistungsverhältnis. Die Übersicht der insgesamt rund 1.500 Aussteller verzeichnet neben 666 Teilnehmern aus Sachsen, 269 aus Bayern, 166 aus Preußen und 144 aus Österreich auch Unternehmer aus den thüringischen Staaten Sachsen-Altenburg (19), Reuß älterer Linie (7), Schwarzburg-Sondershausen (6), Sachsen-Gotha (5), Sachsen-Coburg (5), Sachsen-Meiningen (4) und Sachsen-Weimar (3).32 Von Interesse sind an diesem Bericht aber vor allem die übergreifenden Schlussfolgerungen des Berichterstatters, der zum einen betont, dass „diese wie jede Ausstellung der Art den meisten Nutzen für den Gewerbetreibenden selbst“ habe, „der da sieht, wie weit er und sein Bezirk oder sein Gewerbe in Beziehung zu den Leistungen der andern Gewerbe vorgerückt ist, oder wie

31  Mittheilungen über die Industrie-Ausstellung zu Nürnberg im Jahre 1840, in: Kunst- und Gewerbe-Blatt, München 1840, Sp. 713–760, hier Sp. 757. 32  Vgl. Commissions-Bericht über die Leipziger-Industrie-Ausstellung vom Jahre 1850 mit Rücksicht auf die bayerische Industrie, München 1850, S. 8 f.

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viel ihm noch nöthig ist, um mit den Vorzüglichen seines Gewerbes in die Schranken treten zu können“.33 Schafhäutl betont die Notwendigkeit unternehmerischer Eigenverantwortung und Innovationsbereitschaft, die sich nicht nur bedingt durch staatliche Förderung, sondern in erster Linie durch „eigene Ueberzeugung, die […] durch Selbstanschauung gewonnen“ ist,34 erreichen lasse. Bisherige Defizite seien vor allem dem „Mangel an praktischem merkantilen Ueberblick und Durchblick“ sowie dem „Mangel an Vorbildung für irgend ein großartiges Unternehmen“ geschuldet.35 Zudem könne die „gründliche Reform“, die in den „gewerblichen Verhältnissen“ vonnöten sei, nicht in der „Niederschlagung aller Concurrenz“ bestehen. Der Unternehmer müsse Leistung und Wettbewerbsfähigkeit auf dem Markt der freien Konkurrenz unter Beweis stellen. Die Rolle des Staates bei der Industrialisierung, die bis heute als wichtiger Schwerpunkt wirtschaftshistorischer Forschungen gilt und sehr differenziert gewichtet wird,36 sieht der Berichterstatter in der Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen, indem beispielsweise der „Absatz erleichtert, der Verkehr im allgemeinen befördert und ein rascher Umsatz des Kapitals möglich gemacht“37 sowie „die Eingangszölle mehr und mehr nach dem wahren Bedürfnis der heimischen Industrie geregelt werden“.38 Vor übermäßigen Eingriffen in die Wirtschaft warnt Schafhäutl hingegen: Die Staatsregierung aber kann nicht berufen seyn, dem einzelnen Gewerbe-Unternehmer eine direkte Förderung zu verschaffen, weil der Staat durch die Begünstigung einer Unternehmung ein Unrecht gegen die andern Unternehmungen durch Erschwerung der Concurrenz begehen würde; es wäre denn, dass die vorhandenen Unternehmungen einem allgemeinen Bedürfnisse der Industrie nicht genügen und ein entschiedenes Interesse vorliegen würde, durch Gründung einer neuen Unternehmung Leistungen zu erzielen, welche als ein wesentliches industrielles Bedürfnis erscheinen, von den bisherigen Unternehmern aber gar nicht oder nicht mit genügendem Eifer berücksichtigt worden sind.39

3. Debatten zum Fabrik- und Maschinenwesen „Das Maschinenwesen hat seit dem Anfange dieses Jahrhunderts einen bis ins Bewundernswürdige gehenden Aufschwung genommen“, ist im „Damen Con33  34  35  36 

Ebd., S. 10 f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 136. Vgl. Hahn, Die Industrielle Revolution in Deutschland (wie Anm. 1), S. 76–88; Kiesewetter, Industrielle Revolution (wie Anm. 2), S. 18 f. 37  Commissions-Bericht über die Leipziger-Industrie-Ausstellung (wie Anm. 32), S. 137. 38  Ebd., S. 138 f. 39  Ebd., S. 136 f.

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versations Lexikon“ zu lesen, das Carl Herloßsohn 1836 „im Verein mit Gelehrten und Schriftstellerinnen“ herausgegeben hatte und das sich an eine bürgerliche weibliche Leserschaft richtete. Auch in diesen Kreisen gehörten inzwischen ökonomische und technische Grundkenntnisse offensichtlich zum guten Ton und zum Allgemeinwissen. Im Artikel „Maschinenwesen“ wird das Spektrum verschiedener mechanischer Vorrichtungen vorgeführt, von der einfachen Mahlmühle bis zur komplizierten Dampfmaschine, und insbesondere auf die Frage der Antriebskraft verwiesen. Menschen- und Thierkräfte, Wind und Wasser werden jetzt immer seltener benutzt. Der Dampf muß alles ersetzen; viele Arbeiten, die sonst die Kräfte des Menschen in Anspruch nahmen, hat man dem Dampfe überlassen. Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß die Vervollkommnung des Ganzen dadurch viel gewonnen hat, die Frage ist nur noch unentschieden, ob nicht eine große Menschenmasse dadurch brodlos geworden? Aber auch dies scheint zum Vortheil des Maschinenwesens beantwortet werden zu müssen, da gerade nirgends mehr Menschen beschäftigt sind, als in Fabriken, welche ihre Geschäfte durch Maschinen betreiben.40

Auch dieses Damenlexikon ist ein Beleg für die Tatsache, dass die Debatten zum Fabrik- und Maschinenwesen in allen Bereichen präsent waren und über viele Jahrzehnte hinweg – immer wieder im Rekurs auf die gesellschaftlichen Auswirkungen – intensiv geführt wurden. Neben den Beiträgen in den Ausstellungskatalogen, den Berichten in diversen Periodika sowie den Einträgen in Wörterbüchern und Lexika spielten hierbei auch die Verhandlungen in den Landtagen zur Gewerbe- und Zollpolitik eine wichtige Rolle,41 die in mehreren Fällen in den 1840er Jahren auch in entsprechenden Reformgesetzen mündeten. Es existierte aber auch eine ganze Anzahl selbständig erschienener Schriften, die sich dem Für und Wider des Fabrikwesens widmeten. Entsprechend der historischen Abläufe verwundert es nicht, dass einiges davon zunächst aus England kam. Das gilt beispielsweise für das Buch „The philosophy of manufactures“ aus der Feder von Andrew Ure,42 in welchem das Fabriksystem aus allen erdenklichen Blickwinkeln erörtert wird. Die Darstellung beruht auf den konkreten Erfahrungen des Verfassers während einer Rundreise durch die Zentren der englischen Industrie im Spätsommer 1835. Als einen Hauptzweck seines Werkes nennt Ure die Unterrichtung der englischen Politiker über die Grundprinzipien wirtschaftlicher Tätigkeit, gebe es doch „eine grobe Unwissenheit 40  Maschinenwesen, in: Damen Conversations Lexikon, hg. v. Carl Herlosssohn, Bd. 7, Adorf 1836, S. 133 f., hier S. 134. 41  Vgl. etwa Henning Kästner, Der Deutsche Zollverein in den parlamentarischen Debatten am Beispiel Sachsen-Weimar-Eisenachs, in: Hans-Werner Hahn/Marko Kreutzmann (Hg.), Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert, Köln/ Weimar/Wien 2012, S. 175–194. 42  Andrew Ure, The philosophy of manufactures or an exposition of the scientific, moral and commercial economy of the factory system of Great Britain, London 1835.

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unserer in anderen Dingen wohl unterrichteten hochgestellten Gesetzgeber und Staatswirthe in Hinsicht auf jene staunenswerthen Manufacturen oder Fabriken […]. Bis nicht diese Unwissenheit vertrieben ist“, könne „man keine gesunde Gesetzgebung über Fabrikinteressen erwarten.“43 Noch im gleichen Jahr erschien diese Schrift bei Otto Wigand in Leipzig. Obwohl sie sich erkennbar auf die Verhältnisse in England bezieht und als Übersetzung aus dem Englischen gekennzeichnet ist, adressierte der Herausgeber die deutsche Ausgabe ausdrücklich an „Deutschlands Staatsmänner, Fabrikherren, Kaufleute und jeden gebildeten Vaterlandsfreund“. Dem lag zweifellos die Überzeugung zugrunde, dass man einerseits aus den Verhältnissen in England und der Entwicklung der dortigen Industrie lernen könnte, dass andererseits aber auch in Deutschland seitens der Politik in den Staaten des Deutschen Bundes eine größere Aufmerksamkeit für die Wirtschaft nötig und entsprechende gesetzgeberische Aktivitäten wünschenswert seien. Im Jahr zuvor war mit der Gründung des Deutschen Zollvereins bereits ein bedeutendes wirtschaftspolitisches Ergebnis zustande gekommen, das sich als „wichtigste Etappe auf dem Weg zur deutschen Wirtschaftseinheit“44 erweisen sollte. Nun galt es, den Blick nicht nur auf die zollpolitischen Rahmenbedingungen, sondern auch auf die inneren Entwicklungsprozesse wirtschaftlicher Tätigkeit zu richten. Denn insgesamt schlugen dem Fabrik- bzw. Maschinenwesen mancherlei Vorurteile in Deutschland entgegen. So hält eine thematisch einschlägige, 1846 ebenfalls bei Otto Wigand in Leipzig erschienene Schrift fest, dass kein Vorurtheil […] unter allen Klassen des Volks, unter Hoch und Niedrig, unter Gelehrten und Ungelehrten weiter verbreitet [sei] als dasjenige, welches in dem Maschinenwesen und seiner ferneren Entwickelung ein Uebel erblickt und unberechenbares Unheil daraus weissagt.45

Um dem entgegenzutreten, um „die öffentliche Meinung in Deutschland […] aufzuklären“ und dadurch zum Abbau der „vielen und mannigfaltigen Vorurtheile“ gegenüber der „weiteren Entwickelung der industriellen Thätigkeit“ beizutragen, soll eine „Reihe kleiner wohlfeiler Schriften über das Wesen und die Bedeutung der modernen Industrie, des sogenannten Fabrikwesens“46 veröffentlicht werden. Als Referenztext wird in dem anonym veröffentlichten Pamphlet das Werk von William Cooke Taylor über „Factories and the factory system“ angeführt und passagenweise auch zitiert.47 Argumentiert wird mit der Notwendigkeit, 43  Das Fabrikwesen in wissenschaftlicher, moralischer und commercieller Hinsicht. Von A. Ure. Aus dem Englischen von Dr. A. Diezmann, Leipzig 1835, S. 6. 44  Hans-Werner Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984, S. 5. 45  Das Maschinenwesen und die darüber verbreiteten Vorurtheile, Leipzig 1846, S. 9. 46  Ebd., S. 5. 47  Vgl. William Cooke Taylor, Factories and the factory system. From the parliamentary documents and personal examination, London 1844.

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bei Herstellung alles dessen, was der Mensch zur Leibes Nahrung und Nothdurft, zum Bedürfnis, zur Bequemlichkeit, zum Genuß braucht, Arbeit zu ersparen“ [bzw.] „mit einem möglichst geringen Aufbrauch von Menschenarbeit alle genannten Güter in reichster Fülle hervorzubringen.48

Exakt so habe menschlicher und gesellschaftlicher Fortschritt seit jeher funktioniert, lange vor dem Maschinenzeitalter. Neue Erfindungen und technische Entwicklungen hätten die Produktion jeweils nicht nur erleichtert und beschleunigt, sondern auch neue Bedürfnisse geweckt, neue Produkte entwickelt und dadurch wiederum auch Arbeitsplätze geschaffen. Dies wird anhand der Geschichte der Baumwollmanufakturen anschaulich erläutert, „da sie helles Licht auf die wahren Wirkungen des Maschinenwesens wirft und die eingebildeten Wirkungen desselben in ihrer Nichtigkeit darstellt“.49 Der Verfasser skizziert die Entwicklung von der Erfindung der Spinnmaschine bis hin zur Entfaltung eines riesigen Industriezweigs, in welchem vor allem durch die Verarbeitung von Baumwolle weit mehr Menschen Lohn und Brot finden würden als in Zeiten der ausschließlich handwerklichen Fertigung. Ein Beispiel, mit dem der Verfasser die angeblichen Nachteile des Maschinenwesens zu widerlegen versucht, ist der Buchdruck. Zwar habe die „Erfindung der beweglichen Lettern und deren Benutzung zur Vervielfältigung der Bücher mittels einer Schraubenpresse […] einige tausend Abschreiber ihres Erwerbs beraubt“50 , zugleich aber dafür gesorgt, dass jegliches Schrifttum fortan preiswerter und in bislang nicht gekannter Menge bereitgestellt wurde. Vor allem aber habe sich beim Druck eines Werkes von „vielen hunderttausend Exemplaren mittels der Schnellpresse die Anzahl der dabei wirkenden Arbeitskräfte ins Unendliche“ vervielfältigt, da nicht nur eine Menge Schriftsteller, Setzer, Schriftgießer, Drucker, Buchbinder, Papierfabrikanten, Maschinenbauer und Buchhändler etc. direct dadurch beschäftigt werden, sondern in zweiter Linie die Gewerke des Kohlen-, Eisen-, Kupfer-, Blei-, Zink- etc. Bergbaues, die Oelfabrication und hundert andere Erwerbszweige ihren Vortheil und die Bedingung ihrer Existenz und Ausdehnung daraus ableiten, so daß sich in Wahrheit behaupten läßt, die Herstellung und der Vertrieb eines einzigen größeren Schriftwerkes gewähre heutzutage einer hundertfachen Anzahl von Menschen lohnenden Erwerb, als die war, welche sich zur Zeit der Erfindung der Buchdruckerkunst dadurch und großentheils nur vorübergehend in ihrem Erwerb beeinträchtigt gefunden hat.51

Neben diesen Ausführungen, in denen vor allem auf positive ökonomische und soziale Aspekte des wirtschaftlichen Wandels verwiesen wird und die durchaus als plausibel erschienen, führt der anonyme Autor noch eine zweite Begründung an, die für die Branche des herstellenden und verbreitenden Buchhandels gegenüber anderen Wirtschaftszweigen eine Besonderheit darstellt und im Kontext 48  49  50  51 

Das Maschinenwesen (wie Anm. 45), S. 9 f. Ebd., S. 20. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19 f.

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unserer Ausführungen besonders betont werden muss. Denn der Anonymus schreibt weiter: Dabei ist die moralische Seite dieser Entwickelung nicht einmal in Anschlag gebracht worden, daß nämlich heutzutage für wenige Groschen jeder im Volk sich und den Seinigen Bildungsmittel verschaffen kann, die vor jener Erfindung nur den Reichsten zu erlangen möglich war und die von ihnen mit Gold aufgewogen werden mußten.52

Zu den wirtschaftlichen Vorteilen der Mechanisierung komme beim Buchdruck und Verlagswesen also auch noch ein Beitrag zur sittlichen, kulturellen und intellektuellen Entwicklung der Menschen hinzu. Diese besondere Bedeutung wird damit auch für das Zeitalter der Industrialisierung nochmals unterstrichen. Denn den Produkten der Buchdruckerpresse war auch im 19. Jahrhundert ein Doppelcharakter eigen – nämlich sowohl Handelsware als auch Kulturgut zu sein. So erscheint es als durchaus passend, dass der Verfasser seine Argumentation zu den Vorzügen des Buchdrucks am Beispiel eines bildungsbürgerlichen Standardwerks illustriert, dem „Konversationslexikon“ von Friedrich Arnold Brockhaus. Denn der späterhin weltberühmte Buchhändler hatte sich seit 1808 mit einem mehrbändigen Großprojekt zu beschäftigen begonnen, das sich unter dem Titel „Conversations-Lexicon oder enzyklopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände“ zügig etablierte,53 in rascher Folge zahlreiche Auflagen erreichte und exakt jene arbeitsintensive Massenproduktion generierte, die dem Verfasser des zitierten Pamphlets als Beispiel für die Vorzüge des Maschinenwesens dient. Als Ziel der technischen bzw. technologischen Verbesserungen in der Wirtschaft wird am Ende der Schrift „Das Maschinenwesen und die darüber verbreiteten Vorurtheile“ eine Hebung des materiellen Wohlstands aller Menschen festgehalten, und zwar ausdrücklich auch der sozialen Unterschichten. Das dem Text vorangestellte Subskriptionsverzeichnis führt die Namen zahlreicher Fabrikanten auf, die jeweils eine größere Anzahl an Exemplaren orderten und offensichtlich in ihrem Umfeld verteilten. Die größte Stückzahl hat mit 400 der „Württembergische Fabrikantenverein“ abgenommen. Eine deutliche Konzentration zeigt sich bei den Unternehmern Sachsens, von denen mehrere jeweils 100 Bücher vorbestellten. Indirekte Rezeptionsbelege für diese interessante, gut verständliche und überzeugend argumentierende Publikation zum Maschinenwesen gibt es aber auch für Thüringen, haben hier doch ebenfalls mehrere Fabrikanten die Subskription gezeichnet. Das gilt beispielsweise für die Firmen Brehme und Söhne (50) in Weida, Bruhm und Nägler (20) sowie Ernst Weber 52  Ebd., S. 20. 53  Vgl. Heinrich Eduard Brockhaus, Die Firma F.A. Brockhaus von der Begründung bis zum hundertjährigen Jubiläum. 1805–1905, Leipzig 1905; ders., Friedrich Arnold Brockhaus. Sein Leben und Wirken nach Briefen und andern Aufzeichnungen geschildert, 3 Bde., Leipzig 1872–1885.

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(50) in Gera, Carl Kämmerer (20) in Gotha, Heinrich Schopper (20) in Zeulenroda und Christian Zimmermann & Sohn (30) in Apolda.54 Es gibt in dieser Zeit noch mehrere Schriften, in denen Aspekte des Maschinen- und Fabrikwesens erörtert und die Vorzüge des technologischen Fortschritts herausgestellt werden – um zugleich auch die gelegentlich aufflammende Maschinenstürmerei ad absurdum zu führen. Auch diese Debatten setzten in jenen Ländern, die Deutschland in der industriellen Entwicklung vorangingen, früher ein. In Deutschland hat man sich mitunter auf die ausländischen Autoren berufen oder sie sogar – wie oben gezeigt – ausführlich zitiert.55 Andere Publikationen wurden zeitnah ins Deutsche übertragen, wozu neben jener von Andrew Ure auch eine der frühesten Analysen der Technologie und Organisation des Industriekapitalismus aus der Feder des englischen Mathematikers, Erfinders und politischen Ökonomen Charles Babbage zählt.56 Sein 1832 in London erschienenes Grundlagenwerk kam 1833 unter dem Titel „Ueber Maschinen- und Fabrikwesen“57 in deutscher Übersetzung heraus. Ein 1844 verlegtes Traktat mit dem ausführlichen Titel „Das Fabrik- und Maschinen-Wesen oder der Einfluß des Fabrik- und Maschinenwesens auf die physischen, sittlichen, politischen und wirthschaftlichen Zustände des Völkerlebens“ ist ebenfalls dieser Debatte zuzuordnen. Der auch hier anonym gebliebene Verfasser konstatiert mit Respekt die ungeheuren, lange Zeit als undenkbar geltenden Leistungen, die in den Jahrzehnten zuvor durch menschlichen Geist, menschliche Arbeit, Naturkräfte und Kapital erbracht worden seien. In klarer Struktur erörtert er zunächst die relevanten Phänomene wie Nation, Staat, Industrie, Fabrik- und Maschinenwesen, Nationalreichtum u. Ä., um sodann die ökonomischen und sozialen Auswirkungen zu untersuchen. Die von verschiedenen Seiten vorgebrachten Empfehlungen „zu Verbesserung des gefundenen Resultats“ werden kritisch hinterfragt.58 Es wird eine Gesamtanalyse der wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Situation vorgenommen und schließlich eigene „Vorbeugungsmittel“ zu deren Verbesserung in Vorschlag gebracht.59

54  55  56  57 

Vgl. Das Maschinenwesen (wie Anm. 45), S. 3 f. Vgl. Taylor, Factories and the factory system (wie Anm. 47). Vgl. Charles Babbage, On the economy of machinery and manufactures, London 1832. Vgl. Charles Babbage, Ueber Maschinen- und Fabrikwesen. Aus dem Englischen übersetzt von Gottfried Friedenberg, Mit einer Vorrede von Karl Friedrich von Klöden, Berlin 1833. 58  Vgl. Das Fabrik- und Maschinen-Wesen oder der Einfluß des Fabrik- und Maschinenwesens auf die physischen, sittlichen, politischen und wirthschaftlichen Zustände des Völkerlebens, Schaffhausen 1844, S. 79–91. 59  Vgl. ebd., S. 155 f.

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Festgehalten wird aber auch, dass die „eminent gesteigerte Produktionskraft“ und „die ihr folgende Produktion“ die Grundpfeiler der Verhältnisse in den Nationen zu erschüttern drohten.60 Zu den großen Problemen der Gegenwart zählt der Autor die Überbevölkerung in fast allen Staaten und die „Massen-Verarmung“, deren Hauptgrund „in der unrichtigen Vertheilung der erworbenen Reichthümer“ liege. Zwar sei die Tatsache eines steigenden Nationalreichtums nicht zu leugnen. Zu kritisieren sei allerdings die Tatsache, „daß in Folge des jetzt herrschenden Prinzips dieses Steigen nur einzelnen Wenigen zu Gute kommt, während Tausende auf eine klägliche Art sich durchs Leben schlagen“.61 Und am Schluss der 157-seitigen Schrift wird der Verfasser sogar noch deutlicher: Die schlimmste Seite des Fabrik- und Maschinenwesens ist, daß es die ungleiche Vertheilung des National-Einkommens begünstigt, und den Wohlstand untergräbt, indem er die Nation in zwei Klassen, in Arme und Reiche scheiden hilft, somit den glücklichen Zustand der Nation stört.62

Allerdings gebe es keine Alternative zu diesem System, dessen negative Folgen von zwei weiteren Phänomenen noch verstärkt würden, nämlich der „Uebervölkerung und ungemessene[n] Konkurrenz in allen Zweigen der menschlichen Thätigkeit“.63 Um „den zu besorgenden Nachtheilen so weit vorzubeugen, als es thunlich ist,“64 werden eine Reihe sozialpolitischer „Vorbeugungsmittel“ in Vorschlag gebracht, zu denen eine bessere Bildung auch in den niederen Ständen, das Verbot von Kinderarbeit, eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf maximal 12 Stunden, die Pflicht der Lohnzahlung mit Bargeld sowie geregelte Gesundheitsvorsorge und staatliche Kontrollen in den Fabriken zählen. „Diese Vorsichtsmaßregel wird heilsamer sein“, so der Verfasser, „als eine gänzliche Umänderung der socialen Zustände“.65 Über diesen Punkt geht Friedrich Engels in seiner berühmten Schrift über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ noch hinaus, die im Zusammenhang mit den Debatten zum Fabrik- und Maschinenwesen ebenfalls Erwähnung finden muss. Diese viel zitierte und mehrfach kommentierte Studie bemüht sich ebenfalls um eine Analyse der wirtschaftlichen Verhältnisse im industriell fortgeschrittenen England, hat jedoch nicht die Verbesserung der ökonomischen Effizienz des Fabrik- und Maschinenwesens, sondern – in letzter Konsequenz – die Vorbereitung des „ganz offnen, direkten Krieges der Armen gegen die Reichen“ zum Ziel. Dieser Krieg sei in England inzwischen unvermeidlich 60  61  62  63  64  65 

Das Fabrik- und Maschinen-Wesen (wie Anm. 58), S. VII. Ebd., S. VIII. Ebd., S. 153. Ebd., S. 154. Ebd., S. 155. Ebd., S. 156.

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geworden, meint Engels 1845. Es gehe lediglich noch darum, dass „sich wenigstens so viel Klarheit über die soziale Frage im Proletariat verbreiten wird, daß mit Hülfe der Ereignisse die kommunistische Partei imstande sein wird, das brutale Element der Revolution auf Dauer zu überwinden“.66 Für eine friedliche Lösung sei es jedoch zu spät. Den politischen Schlussfolgerungen, die Engels aus der Betrachtung der Lebensbedingungen der englischen Arbeiter ableitet, gehen umfang- und kenntnisreiche Schilderungen zum industriellen Proletariat, zur Situation in den großen Städten und zur Konkurrenz, zu Spezialfragen wie der irischen Einwanderung nach England sowie zu einzelnen Wirtschaftszweigen und den dort tätigen Arbeitern voraus. „Die Benutzung der Elementarkräfte, die Verdrängung der Handarbeit durch Maschinerie […] und die Teilung der Arbeit“ betrachtet er als „das Charakteristische der modernen Industrie“.67 Doch die vielfältigen Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung und des technologischen Fortschritts, die von Autoren wie Andrew Ure oder Edward Baines vor allem in ihrer technischen Funktionalität und ökonomischen Bedeutung beschrieben werden,68 nimmt Engels immer wieder zum Ausgangspunkt politischer Polemik. So habe „die Anwendung von Dampfkraft, Maschinerie und Arbeitsteilung“ zu einer Erniedrigung der Arbeiter geführt.69 Aus der Ablösung der Handarbeit durch die wasser- oder dampfkraftgetriebene maschinelle Produktion leitet er nicht einen wieder steigenden Arbeitskräftebedarf in den zahlreichen, durch den technischen und technologischen Fortschritt fortan neu generierten Branchen ab. Vielmehr stellt Engels eine Verelendungsprognose, indem er schreibt: In einem geordneten sozialen Zustande wären solche Verbesserungen nur erfreulich; im Zustande des Kriegs Aller gegen Alle reißen einzelne den Vorteil an sich und bringen dadurch die meisten um die Mittel der Existenz. Jede Verbesserung der Maschinerie wirft Arbeiter außer Brot, und je bedeutender die Verbesserung, desto zahlreicher die arbeitslos gewordene Klasse; jede bringt demnach auf eine Anzahl Arbeiter die Wirkung einer Handelskrisis hervor, erzeugt Not, Elend und Verbrechen.70

Während der Verfasser der Schrift „Das Maschinenwesen und die darüber verbreiteten Vorurtheile“ im Jahr darauf am Beispiel des Buchdrucks mit lebhaften

66  Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1972, S. 225–506, hier S. 505 f. 67  Ebd., S. 273. 68  Vgl. Ure, The philosophy of manufactures (wie Anm. 42); Andrew Ure, On the Cotton Manufacture of Great Britain, 2 Bde., London 1836; Edward Baines, History of the Cotton Manufacture in Great Britain, London 1835. 69  Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England (wie Anm. 66), S. 273. 70  Ebd., S. 361.

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Worten schildert,71 welche neuen Perspektiven sich aus einer einzelnen, wenn auch grundlegenden „Verbesserung der Maschinerie“ ergeben können, gelangt Friedrich Engels zu einem deutlich anderen Befund. Dabei leitet er aus seiner Betrachtung sogar noch radikalere Konsequenzen als jener ebenfalls anonym gebliebene Verfasser des Pamphlets über „Das Fabrik- und Maschinenwesen“ ab, das 1844 in Schaffhausen erschienen war.72 Allerdings haben Engels bereits zeitgenössische Kritiker wie Bruno Hildebrand scharf kritisiert, da er einerseits die ‚heile Welt‘ der vorindustriellen Zeit idealisiert und andererseits aus den zahlreichen, durchaus richtigen Einzelerkenntnissen unzulässige Generalisierungen vorgenommen und Trugschlüsse gezogen habe.73 Ein interessantes Detail stellt die Tatsache dar, dass sowohl Engels’ späterhin berühmte Schrift als auch im Jahr darauf das Büchlein über „Das Maschinenwesen und die darüber verbreiteten Vorurtheile“ beim gleichen Verleger erschienen sind. Es handelt sich um Otto Wigand in Leipzig, der darüber hinaus auch die für unsere Thematik bedeutsame deutsche Ausgabe des bereits vorgestellten Werks von Andrew Ure über „Das Fabrikwesen“ herausbrachte. Wigand gilt als ein herausragender Verleger „aller litterarischen Bestrebungen und politischen Richtungen, welche auf religiösen und politischen Gebieten neue Bahnen, zum Theil solche der kühnsten Art, zu brechen versuchten“.74 Hierzu zählten beispielsweise die „Hallischen Jahrbücher“ der Junghegelianer, aber auch Ludwig Feuerbachs „Sämtliche Werke“ und zahlreiche weitere Publikationen, die man der vormärzlichen Opposition zurechnen kann. Insofern ist die Tätigkeit mutiger, gesellschaftlichen Fragen aufgeschlossener Verleger wie Otto Wigand, der gerade in den Jahren 1845/46 „fast ständige Auseinandersetzungen mit den Polizeibehörden“ zu führen hatte,75 ein weiteres Forschungsfeld, das hinsichtlich der publizistischen Debatten zum Fabrik- und Maschinenwesen größere Aufmerksamkeit verdient. Es existiert eine ganze Phalanx quasi „staatstragender“ Publikationen zum Zwecke einer wirtschaftlichen Bestandsaufnahme,76 aber es gibt eben auch Texte, die aus der Analyse der ökonomischen Gegebenheiten heraus das gesamte staatliche bzw. gesellschaftliche System in Frage stellten. 71  Vgl. Anm. 45. 72  Vgl. Anm. 60. 73  Vgl. Wolfgang Holeschak, Vertrauen durch Partizipation. Strategien zum Umgang mit riskanten Technologien, Wiesbaden 2000, S. 35–37. 74  Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 42, Leipzig 1897, S. 457. 75  Vgl. Inge Kiesshauer, Otto Friedrich Wigand (10. August 1795 bis 1. September 1870), in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 1 (1990), S. 155–188, hier S. 167. 76  Vgl. beispielsweise Friedrich Georg Wieck (Hg.), Das Gesammtgebiet des sächsischen Manufaktur- und Fabrikwesens, Handels und Verkehrs. Historisch, statistisch und kritisch beleuchtet, Chemnitz 1840.

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4. Resümee Es bleibt festzuhalten, dass sich die begriffliche Aneignung der neuen Phänomene „Maschine“ und „Fabrik“ und die Etablierung eines bestimmten Sprachgebrauchs parallel zum Prozess der Industrialisierung in Deutschland vollzogen. Die auch zeitlich weitgehende Parallelität war möglich, weil die beteiligten Publizisten immer wieder nach England blickten, wo sich diese Entwicklungen – im Positiven wie im Negativen – Jahrzehnte früher entfalteten als in Deutschland. In den Lexika, aber auch in Wörterbüchern und nicht zuletzt in den spezialisierten öffentlichen Debatten wurden die Vorzüge und Nachteile des Neuen immer wieder abgewogen. Zugleich wurden sie in einen Kontext zu den legislativen Normsetzungen gestellt, die man in der Wirtschaft und in der Öffentlichkeit forderte und – sobald sie erlassen waren – auch intensiv kommentierte. Das umfangreiche Quellenmaterial, das zu diesen Fragen vorliegt, sollte künftig noch stärker in einer systematischen und chronologischen Synopse in den Blick genommen werden. Dabei wird sich zeigen, wie sich der Diskurs mit dem Voranschreiten der Industrialisierung zunehmend spezialisierte und ausdifferenzierte. Die publizistisch-propagandistische Begleitung der Gewerbeausstellungen ist dabei einzubeziehen, stellten diese Texte doch in mehreren Fällen zugleich einen Versuch dar, sich über das Neue der maschinellen Produktion und die Grundprinzipien des Fabrikwesens Klarheit zu verschaffen.77 Die Ausstellungen selbst sind als Leistungsschau, Leistungsvergleich, wirtschaftspolitische Inszenierung und zugleich als Element der Industriekultur zu verstehen und zu untersuchen. Sie sind auch dazu geeignet, in stärkerem Maße eine regionale oder gar territorialstaatliche Forschungsperspektive einzunehmen. Bei den publizistischen Debatten ist eine solche Sicht dann möglich, wenn man die hier angeführten Quellenkorpora um die Gattung der Periodika ergänzt, von denen sich im 19. Jahrhundert einige ausdrücklich auf bestimmte Regionen und Wirtschaftsräume bezogen. Schließlich ist festzuhalten, dass in den Debatten die sozialen und politischen Bewegungen keineswegs eine dominierende Rolle spielten. Friedrich Engels’ Schrift über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, mit der der Verfasser „das konstatierte englische Elend“ zum Anlass nahm, „auch unser deutsches Elend zu konstatieren“78 und zum „Ausgangspunkt aller sozialen Bewegungen der Gegenwart“ zu nehmen,79 ist hier eher die Ausnahme. Dennoch geriet die soziale Frage in einer grundsätzlichen Weise zunehmend in den Fokus. Mit dem weiteren Voranschreiten des Industrialisierungsprozesses nahmen die Sensibili77  Vgl. ders., Die Manufaktur- und Fabrikindustrie des Königreichs Sachsen. Bei Gelegenheit der Gewerbe-Ausstellung in Dresden im Jahre 1845, Leipzig 1845. 78  Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England (wie Anm. 66), S. 233. 79  Ebd., S. 232.

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tät und das Problembewusstsein für die Auswirkungen des Maschinen- und Fabriksystems auch bei den „bürgerlichen“ Beobachtern weiter zu. Dies lässt sich selbst an jenen Lemmata belegen, die beispielsweise „Herders Conversations-Lexikon“ für das Stichwort „Fabrik“ bereithält. In der ersten Auflage 1854 kann man lesen: Die Fabriken sind die Grundbedingung, auf welcher gegenw. die Blüte jeder Industrie beruht, andererseits aber hat die neueste Zeit klar bewiesen, daß sie der socialen Ordnung unter Umständen sehr gefährlich werden können.80

Zwei Jahrzehnte später wird das Lexikon, das in der konservativ und katholisch ausgerichteten Herder’schen Verlagshandlung nun in der zweiten Auflage erschien, in einer wichtigen Nuance schon sehr viel bestimmter: Die F.en sind die Grundbedingung, auf welcher seit dem 18. Jahrh. die Blüte jeder Industrie beruht, anderseits aber beweist die neueste Zeit jährlich besser, daß sie der socialen Ordnung sehr gefährlich werden können.81

Die Formulierung „unter Umständen“ und jegliche andere Einschränkung für diese Beobachtung sind 1877 entfallen. Die soziale Frage ist längst offen ausgebrochen und stellt jenen Aspekt des Fabrik- und Maschinenwesens dar, der unter dem Stichwort „Verarmungsfrage“ bzw. Pauperismus seit den 1820er Jahren eine breite zeitgenössische Spezialliteratur hervorgebracht 82 und seinen Platz auf der politischen Agenda gefunden hat. Seit 1863 bzw. seit 1869 gibt es dann eine politische Partei,83 die sich die „Abschaffung der jetzigen Produktionsweise (Lohnsystem)“ und damit die Veränderung der sozialen Ordnung ins Programm geschrieben hat.84 Auch jetzt korrespondierten die Artikulation von Problemen und der publizistische Diskurs mit der juristischen bzw. der politischen Regulierung der neuen Phänomene. Und schon ein Jahr nach Veröffentlichung der zweiten Auflage von „Herders Conversations-Lexikon“, am 21. Oktober 1878, 80  Herders Conversations-Lexikon. Kurze aber deutliche Erklärung von allem Wissenswerthen aus dem Gebiete der Religion, Philosophie, Geschichte, Geographie, Sprache, Literatur, Kunst, Natur- und Gewerbekunde, Handel, der Fremdwörter und ihrer Aussprache etc., Bd. 2, Freiburg im Breisgau 1854, S. 653. 81  Ebd., Bd. 2, Freiburg im Breisgau ²1877, S. 371. 82  Vgl. Klaus-Jürgen Matz, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1980, S. 274–281. 83  Vgl. Susanne Miller/Heinrich Potthoff, Kleine Geschichte der SPD. Darstellung und Dokumentation 1848–1983, Bonn 1988, S. 29–43. 84  „Programm und Statuten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, beschlossen auf dem Kongreß in Eisenach 1869“, in: Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, hg. v. Dieter Dowe/Kurt Klotzbach, Bonn 1990, S. 171–176, hier S. 172. Vgl. auch die „Grundzüge der Bestrebungen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, beschlossen auf der Generalversammlung in Braunschweig 1867“, in: ebd., S. 165–167.

Publizistische Debatten zum Fabrik- und Maschinenwesen

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verabschiedete der Reichstag das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“.85 Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen hingen also auch im öffentlichen Diskurs und in der öffentlichen Wahrnehmung eng zusammen.

85  Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878), in: documentArchiv.de, http://www.documentArchiv.de/ksr/soz_ges.html, (Zugriff am 15.07.2018).

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Leistungsschau oder Gesamtbild von Thüringens Wirtschaft? Die Zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung in Weimar 1861

1. Gewerbeausstellungen als Fortschrittsbarometer Es ist inzwischen allgemeine Forschungsmeinung, dass für den Prozess der Industrialisierung auch in Deutschland weniger Landesgrenzen, Landesverwaltungen und deren Wirtschaftspolitik maßgeblich waren, als vielmehr regionale Gegebenheiten und Triebkräfte unterhalb und jenseits staatlicher Strukturen.1 Das gilt ebenso für Thüringen, auch wenn hier die Dinge im 19. Jahrhundert etwas anders lagen. Mit Thüringen haben wir eine Region vor uns, die sich noch im Jahr 1920 aus acht kleinen Staaten sowie weiteren Staatenteilen zusammensetzte. Diese Staaten waren so klein, dass sie – pointiert ausgedrückt – weniger aus Regionen bestanden als vielmehr eine Region bildeten.2 Damit birgt das etablierte Forschungsparadigma der „regionalen Industrialisierung“ für Thüringen noch immer einen besonderen Reiz, dem bisher nur sporadisch Beachtung geschenkt worden ist.3 Was an Quellenstudien zur Wirtschaftsgeschichte Thüringens vorliegt, ist meist älteren Datums und hat nur vereinzelt empirische Fortschreibung erfahren. Es überwiegt die kursorische Aufsatzwissenschaft, dazu kommen aufzählende Überblicksdarstellungen und einige Spezialstudien zu einzelnen Unternehmerpersönlichkeiten, einzelnen Unternehmen, zur staat-

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Vgl. inzwischen klassisch hierzu Sidney Pollard (Hg.), Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle der Region in der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte, Göttingen 1980. Vgl. zu Region-Begriffen der Industrialisierungsforschung als „testfähige“ Untersuchungsräume Peter Steinbach, Zur Diskussion über den Begriff der „Region“ – eine Grundsatzfrage der modernen Landesgeschichte, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 31 (1981), S. 185–210, bes. S. 194. Vgl. Hubert Kiesewetter, Regionale Industrialisierung in Deutschland zur Zeit der Reichsgründung. Ein vergleichend-quantitativer Versuch, in: VSWG 73 (1986), S. 38–60; sowie Ders., Region und Industrie in Europa 1815–1995, Stuttgart 2000.

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lichen Gewerbepolitik sowie etwas Gewerbestatistik.4 Von einer systematischen Auswertung der Archivquellen sind wir weit entfernt.5 So verwundert es nicht, dass auch das für das 19. Jahrhundert so typische Phänomen der Gewerbeausstellungen bisher kaum Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.6 Wobei einzuräumen ist, dass diese insgesamt als von der deutschen Wirtschaftsgeschichte vernachlässigt gelten können.7 Bei den Gewerbeausstellungen handelte es sich um Präsentationen, auf denen Städte und zunehmend auch größere Staaten ab 1800 Produkte und Produktionsmittel ihres heimischen Handwerks und Gewerbes einer allgemeinen Öffentlichkeit zeitlich befristet zugänglich machten.8 Als Organisatoren wirkten meist lokale oder regionale Gewerbevereine, die ab etwa 1820 verstärkt aus privater, mitunter auch staatlicher Initiative hervorgegangen waren.9 Industriell fortgeschrittene Staaten wie Württemberg, Sachsen und Preußen organisierten ihre unbeschränkt zugänglichen Leistungs- und Werbeschauen zunehmend als lan-

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Vgl. z. B. Wolfgang Mühlfriedel, Die Industrialisierung in Thüringen. Grundzüge der gewerblichen Entwicklung in Thüringen von 1800 bis 1945, Erfurt 2001; sowie Horst Moritz, Thüringen im 19. Jahrhundert. Von der Agrar- zur Industriegesellschaft (1800 bis 1918), 2 Bde., Erfurt 2010. Vgl. jüngst den Überblick von Hans-Werner Hahn, Thüringen im deutschen Industrialisierungsprozess: Forschungsbilanz und Forschungsperspektiven, in: Stefan Gerber/ Werner Greiling/Marco Swiniartzki (Hg.), Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen in Thüringen, Wien/Köln/Weimar 2018, S. 37–53. Vgl. auffallend flüchtig Moritz, Thüringen im 19. Jahrhundert (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 56– 58; falsch datiert Friedrich Facius, Politische Geschichte von 1828 bis 1945 (Geschichte Thüringens, hg. von Hans Patze und Walter Schlesinger, Bd. 5/2), Köln/Wien 1978, S. 144. Vgl. Thomas Grossbölting, „Im Reich der Arbeit“. Die Repräsentationen gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914, München 2008, S. 22 f. Vgl. zu den frühen Ausstellungen die Einleitung zu: Amtlicher Bericht über die allgemeine Deutsche Gewerbe-Ausstellung zu Berlin im Jahre 1844, Berlin 1845/46, Teil 1, S. 3–9 (http://www.digitalis.uni-koeln.de/Gewerbeaus/gewerbeaus_index.html [letzter Abruf 28.8.2018]). Zu Vereinsgründungen durch den Staat Sachsen-Meiningen in den 1830er Jahren vgl. Thomas Schwämmlein, Gewerbeverein, Industrieschule und Gewerbeausstellung. Die Hausindustrie des Thüringer Waldes im Blick staatlicher Wirtschaftsförderung zwischen 18. und 20. Jahrhundert, in: Handwerk in Thüringen als Kultur- und Wirtschaftsfaktor. Tagung Elgersburg, hg. v. Gudrun Braune und Peter Fauser im Auftrag der Volkskundlichen Kommission für Thüringen e. V. und der Thüringischen Vereinigung für Volkskunde e. V., Erfurt 1997, S. 22–32, hier S. 23 f.

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desweite „Gewerbe- und Industrieausstellungen“, auf denen sie ihre Industrieprodukte und -technik einem rasant anwachsenden Publikum präsentierten.10 Aufgrund einzelner Befunde – an systematischen Forschungen fehlt es bisher – kann vermutet werden, dass seit den 1830er Jahren auch in thüringischen Städten lokale Gewerbeausstellungen stattgefunden haben, wobei wohl Altenburg mit 1826 voranging, gefolgt von Erfurt 1831.11 Gerade für die uns interessierende Frage nach dem Verhältnis von Staat und Region im Prozess der Industrialisierung Thüringens verspricht eine Erforschung der zugehörigen Gewerbeausstellungen wesentliche Einsichten in mehrfacher Hinsicht: Zunächst gewinnt der Historiker – anders als die damaligen Ausstellungsbesucher natürlich nur aus zweiter Hand – einen mehr oder weniger vollständigen Überblick über den aktuellen Stand des Gewerbes eines Ortes, einer Region oder eines Staates, das nämlich ist die erklärte Absicht der Organisatoren der temporären Expositionen selbst. Auch wenn dieser niemals komplett ausfallen kann, lässt sich doch ein Eindruck gewinnen über Typisches, Spezifisches, auch Spezielles eines bestimmten Wirtschaftsraumes. Die Organisatoren verfolgten in der Regel auch wirtschaftspolitische Absichten, die sie anfangs proklamierten und hernach in Ausstellungsberichten in z. T. erstaunlicher Offenheit bilanzierten. Schließlich lieferten die Veranstalter durch ihre bei solchen Ausstellungen üblichen Prämierungen immer auch Qualitätsurteile und vergleichende Bewertungen zu den ausgestellten Produkten. Damit bilden die gedruckten Berichte und Kataloge über die Gewerbeausstellungen gewissermaßen sich selbst kommentierende Enqueten, die nicht zufällig von staatlichen Stellen damals für ökonomische Bestandsaufnahmen ausgewertet worden sind.12 Auch die heutige Wissenschaft kann Gewerbeausstellungen wie Momentaufnahmen, wie „Fortschrittsbarometer“ lesen, erkennt in ihnen Modelle der sich industrialisierenden Gesellschaft. Als Indikatoren für wirtschaftliche Zustände sind sie dort von besonderem Interesse, wo es an wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen in der Fläche, wie in Thüringen der Fall, noch immer fehlt. Dies alles gilt in einem besonderen Maße für die „Zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung“, die im Sommer 1861 in Weimar stattfand, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Die Quellenlage allein im Stadtarchiv Weimar ist 10 Vgl. Enrico Hochmuth, Industrie- und Gewerbeausstellungen in Sachsen 1824–1914. Ihr Beitrag zur kommunalen und regionalen Standortbildung, Beucha/Markkleeberg 2012, S. 9 f. 11 Vgl. Gerd Schöneburg, Erfurter Gewerbeausstellungen im 19. Jahrhundert, in: Stadt und Geschichte. Zeitschrift für Erfurt 4 (2001) 13, S. 15; zu Altenburg kurz: Amtlicher Bericht über die Allgemeine Deutsche Gewerbe-Ausstellung zu Berlin (wie Anm. 8), S. 8. Beide Ausstellungen fehlen in der chronologischen Aufstellung von Grossbölting, Im Reich der Arbeit (wie Anm. 7), S. 441 f. 12 Vgl. Grossbölting, Im Reich der Arbeit (wie Anm. 7), S. 197; für das Folgende ebd., S. 11 u. 13.

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vortrefflich; dazu kommen ein parallel zur Ausstellung gedruckter Katalog, der alle Aussteller aufführt, sowie eine aktuell ausstellungsbegleitende Berichterstattung über viele Exponate in der Weimarer Lokalpresse durch den Weimarer Juristen und Kulturhistoriker Adolph Mirus (1825–1918), die dieser zusammengefasst in Buchform als sog. Referate publizierte.13 In ähnlicher Form hatte Mirus im Jahr zuvor die hoch entwickelte Gewerbelandschaft des Königreichs Württemberg als beispielgebend referiert.14 Schließlich erschien im Jahr nach der Ausstellung zusätzlich ein „Illustrirter Bericht“, in dem der Vorsitzende des Weimarer Gewerbevereins, der Großherzoglich Sächsische Oberbaurat und Eisenbahndirektor Ernst Heinrich Kohl (1825–1901) (Abb. 1) die von ihm maßgeblich initiierte Gewerbeausstellung nachträglich eingehend statistisch und organisatorisch auswertete sowie wirtschaftspolitisch einordnete.15 Beste empirische Vorausaussetzungen also, um der thüringischen Wirtschaft wenigstens für das Jahr 1861 einmal den Puls zu fühlen.16 Zum besseren Verständnis und zum Vergleich ist dafür auch die Vorgeschichte in Form der ersten thüringischen Gewerbeausstellung, die 1853 in Gotha stattfand, kurz in den Blick zu nehmen.

2. Die erste allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung in Gotha 1853 Am 29. Januar 1853 erreichte den Weimarer Stadtrat das Programm für eine „allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung“, die bereits für August des gleichen Jahres in Gotha anberaumt war, und wurde zur Einsichtnahme in der

13 Vgl. Katalog der zweiten allgemeinen thüringischen Gewerbe-Ausstellung zu Weimar im Jahre 1861. Nebst Uebersichtsplan und Geschäftsanzeiger, Weimar, Druck der HofBuchdruckerei [1861]; sowie Adolph Mirus, Referate über die zweite allgemeine Thüringische Gewerbe-Ausstellung in Weimar, vom 9. Juni bis 22. Juli 1861 […]. Als Manuskript gedruckt, Panse’schen Offizin 1861. 14 Vgl. Adolph Mirus, Ueber Gewerbeförderung und Gewerbethätigkeit im Königreich Württemberg. Mittheilungen, Leipzig 1861, S. 44 f.; Mirus hatte laut Vorwort Stuttgart im Jahr 1860 besucht. 15 Vgl. Illustrirter Bericht über die zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung mit Streifblicken auf Thüringens Industrie von Ernst Heinrich Kohl, Königl. Sächsischer geprüfter Civil-Ingenieur, Abtheilungs-Ingenieur und Baumeister bei der Thüringischen Eisenbahn, Ritter zweiter Klasse […], Mit 111 Holzschnitten, einem Plane und einem Geschäftsanzeiger, Weimar 1862. 16 Eine Vorstudie des Autors zu diesem Beitrag ist erschienen unter „…die Ausstellung zwar thunlichst auf dem Wege der Selbsthilfe ins Werk zu setzen“. Die zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung 1861 in Weimar, in: Julia Dünkel/Andreas Christoph (Hg.), Erlebnis Industriekultur. Innovatives Thüringen seit 1800, Katalog, Pößneck 2018, S. 29–32.

Die Zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung 1861

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Ratsstube ausgelegt.17 Am gleichen Tag forderte das für die Wirtschaft im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach zuständige Erste Departement des Staatsministeriums in der „Weimarer Zeitung“ die örtlichen Gewerbetreibenden und Künstler auf, sich „recht zahlreich zu betheiligen“.18 Die erste gesamtthüringische Gewerbeausstellung, so die Gothaer Initiatoren, solle „ein Bild der gesammten gewerblichen Thätigkeit der thüringischen Länder im weitesten Sinne gewähren und die Anregung geben zu regelmäßigen, in bestimmten Zeiträumen und in verschiedenen Städten sich wiederholenden Ausstellungen“.19 Die Organisatoren sprachen von einer „allgemeinen Ausstellung“ im Sinne einer Universalausstellung, zielten also auf die Beteiligung möglichst aller Gewerbe; Fachausstellungen einzelner Branchen wurden erst später üblich.20 Der Begriff der „Industrie“ fand im Ausstellungstitel hingegen noch keine Verwendung. Da kombinierte „Gewerbe- und Industrieausstellungen“ in Preußen und Sachsen seit den 1830er Jahren längst üblich waren, kann man einen bewussten Verzicht unterstellen, der dem aktuellem Stand der in Thüringen erst um 1850 einsetzenden Industrialisierung entsprach.21 Die Etikettierung als „allgemeine Ausstellung“ war auch geographisch gemeint, indem sie erstmalig alle acht thüringischen Staaten zusammenführen sollte.22 Als die thüringischen Staaten bezeichnete man damals die aus zahlreichen Landesteilungen hervorgegangenen vier ernestinischen Länder, wie das Großherzogtum Sachsen-Weimar und Eisenach als das größte, dazu die Herzogtümer Sachsen-Coburg und Gotha, Sachsen-Meiningen und Sachsen-Altenburg, dazu die beiden schwarzburgischen Fürstentümer Schwarzburg-Sondershausen und Schwarzburg-Rudolstadt sowie schließlich die beiden reußischen Fürstentümer Reuß älterer Linie und Reuß jüngerer Linie.23 Deren politische Grenzen griffen weit über die lange zurückreichende historische Landschaft Thüringen hinaus, namentlich ins Fränkische durch das erst Ende 1826 durch Zusammenlegung entstandene Herzogtum Sachsen-Gotha-Coburg. Die verwaltungsmäßige Vereinigung beider entfernt voneinander liegender Landesteile bereitete große Probleme, die selbst bis 1918 nicht abschließend gelöst werden 17 Vgl. Stadtarchiv Weimar (im folg.: StadtAW), HA II-16-15, Bl. 1. 18 Anzeige Nr. 224 vom 25.01.1853, in: Weimarische Zeitung Nr. 8 vom 29.01.1853, S. 67. 19 Programm der allgemeinen Thüringischen Gewerbeausstellung, Gotha, den 14.1.1853 (Druck), § 1, hier nach: StadtAW, HA II-16-15, Bl. 2. 20 Vgl. Hochmuth, Industrie- und Gewerbeausstellungen (wie Anm. 10), S. 33 f. 21 Vgl. Hahn, Thüringen im deutschen Industrialisierungsprozess (wie Anm. 5), S. 42 und 45. 22 Vgl. Programm der allgemeinen Thüringischen Gewerbeausstellung 1853 (wie Anm. 19), § 2. 23 Vgl. immer noch grundlegend Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 5/2, Köln/Wien 1984, hier bes. S. 864 f.

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konnten.24 Das Staatsministerium teilte sich in zwei rivalisierende Abteilungen mit Sitz in Gotha und Coburg, wo zudem jeweils eigene Landtage tagten, noch neben einem gemeinschaftlichen Landtag.25 In den Händen der Gothaer Minister lagen dabei die beide Landesteile gemeinsam betreffenden Angelegenheiten, darunter Gewerbe- und Zollsachen. Vor dem Hintergrund der inneren Spaltung dieses Staates mag es auf den ersten Blick erstaunen, dass ausgerechnet er es unternahm, die erste thüringenweite Gewerbeausstellung 1853 zu organisieren. Dass diese in Gotha stattfand und nicht in Coburg, war nun gewiss kein Zufall. So kann man diesen Ausstellungsaufruf wohl nicht nur als an Thüringen gerichtet verstehen, sondern aus gothaischer Perspektive auch als Ermahnung nach innen, duodezstaatliche Egoismen endlich zu überwinden. Die Gothaer Initiatoren um den Regierungsassessor Hermann Müller, der der Ausstellungskommission als von der Gothaer Regierung bestellter Kommissar vorstand, dachten jedenfalls alles andere als in kleinstaatlichen Grenzen.26 Ihr Begriff der „thüringischen Länder im weitesten Sinne“ entsprach aus naheliegenden Gründen dem Gebiet des am 10. Mai 1833 geschaffenen „Zoll- und Handelsvereins der thüringischen Staaten“, der ab 1834 dem „Deutschen Zollverein“ angehörte. Neben den acht genannten Kleinstaaten umfasste er den preußischen Regierungsbezirk Erfurt und den Kurhessischen Kreis Schmalkalden.27 Eine Einladung erging außerdem an den preußischen Regierungsbezirk Merseburg „bis zur Saale und Elster, jedoch Halle mit eingeschlossen“28 . Damit griffen die Organisatoren weit nach Norden aus, zielten auf ein „Thüringen im älteren Sinne“, 29 verstanden als eine durch geographische Gegebenheiten 24 Zu dem Behörden-Wirrwarr vgl. Ulrich Hess, Geheimer Rat und Kabinett in den ernestinischen Staaten Thüringens. Organisation, Geschäftsgang und Personalgeschichte der obersten Regierungssphäre im Zeitalter des Absolutismus, Weimar 1962, hier S. 299 f. 25 Vgl. auch Ulrich Hess, Geschichte der Behördenorganisation der thüringischen Staaten und des Landes Thüringen von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Jahr 1952, Jena 1993, S. 104 f. (ursprüngliches Manuskript von 1958). 26 Vgl. Katalog der ersten [sic] Allgemeinen Thüringischen Gewerbe-Ausstellung im Herzoglichen Residenzschlosse Friedenstein zu Gotha. Eröffnet am 1. August 1853, Gotha [1853], S. XIII; für das Folgende ebd., S. III. 27 Vgl. Hans-Werner Hahn, Thüringischer Zollverein und regionale Wirtschaftsinteressen. Erfurt als Zentralort einer neuen thüringischen Wirtschaftspolitik 1834–1848/49, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 60, N.F. 7 (1999), S. 75–87. 28 Programm der allgemeinen Thüringischen Gewerbeausstellung (wie Anm. 19). 29 Die in der Präambel des am 2.1.1852 gegründeten „Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde“ gebrauchte Formulierung ist hier zitiert nach: Konrad Marwinski, Die Gründer des gesamtthüringischen Geschichtsvereins von 1852, in: 150 Jahre Verein für Thüringische Geschichte (und Altertumskunde) (Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte, Beiheft), Jena 2004, S. 39–50, hier S. 49.

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geformte „territorialübergreifende Geschichtslandschaft“.30 Die Verfechter dieser kulturgeschichtlichen Idee sahen in Thüringen – wenn es endlich gelang, dessen sprichwörtlich gewordene staatliche Zersplitterung zu überwinden – einen Vorreiter bei der Überwindung der deutschen Vielstaaterei insgesamt. Mit geo-geschichtlichen Argumenten hatte der Schriftsteller Ludwig Bechstein (1801–1860) in seiner einflussreichen Schrift „Thüringen in der Gegenwart“ 1843 auch Halle an der Saale für einen „Naturraum Thüringen“ reklamiert.31 Auch existierten vielfältige wirtschaftsorganisatorische Beziehungen zu dieser „volkreichste[n] Stadt Thüringens“.32 Doch dürfte letztlich die technische Fortgeschrittenheit der aufstrebenden preußischen Industriestadt ausschlaggebend für die Einladung nach Gotha gewesen sein.33 Die Ausstellung versammelte vom 1. August bis zum 11. September 1853 immerhin 851 Aussteller in etwa 25 Räumen des Gothaer Schlosses Friedenstein sowie im Schlosshof.34 Die ca. 18.300 Besucher bis Ende August feierten die Organisatoren als großen Erfolg und verliehen der Hoffnung Ausdruck, diesen so bald als möglich zu wiederholen. Bis dahin sollten indes acht Jahre vergehen.

3. Der Gewerbeverein Weimar und seine Einladung zur Zweiten allgemeinen Thüringischen Gewerbeausstellung 1861 Der am 5. November 1833, im Jahr nach Goethes Tod, gegründete „Gewerbeverein für Weimar“ dürfte als einer der ältesten seiner Art in Thüringen gelten.35 30 Georg Kunze, Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 163; für das Folgende vgl. ebd., S. 169 und 189. 31 Vgl. Stefan Gerber, Historisierung und Nationalisierung der Region. Gründungsmotive und Gründungskonstellationen des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde zwischen 1848 und 1852, in: Matthias Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, Köln/ Weimar/Wien 2005, S. 1–22, hier S. 5 f. 32 Ernst Rudolf Jahr, Die Entwicklung des Verkehrswesens in Thüringen im 19. Jahrhundert, Leipzig 1903, S. 5; für diesen Autor reichte Thüringen bis zum Harz (ebd., S. 1). 33 Vgl. auch Frank Boblenz, Abriß der Territorialgeschichte des preußischen Thüringen, in: Das preußische Thüringen. Abhandlungen zur Geschichte seiner Volksvertretungen, hg. v. Thüringer Landtag, Rudolstadt 2001, S. 9–45. 34 Vgl. Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 34; dazu den Ausstellungsplan in: Katalog der ersten Allgemeinen Thüringischen Gewerbe-Ausstellung (wie Anm. 26), eingeklebt nach S. 100; die Dauer nach: Gothaische Zeitung, Nr. 176 vom 6.9.1853. 35 Vgl. immer noch C.[arl] A.[ugust] H.[ugo] Burkhardt, Geschichte des Gewerbevereins zu Weimar 1833–1883. Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Jubiläums, im Auftrag des Vereins quellenmäßig bearbeitet, Weimar 1883, S. 5 f.

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Auch im deutschen Vergleich gehörte er zu den frühen Gründungen, die in den 1820er Jahren eingesetzt hatten.36 Nach Überzeugung seiner Mitglieder war es eine der wichtigsten Aufgaben von Gewerbevereinen, „zur Belebung gewerblicher Thätigkeit und Förderung der Gewerbe“37 Ausstellungen durchzuführen. Doch schon die erste der jährlich geplanten Präsentationen scheiterte Anfang 1834 mangels Anmeldungen. Deshalb beteiligte man sich an der „Landwirthschafts- und Gewerbs-Ausstellung“ [sic], die der 1823 gegründete „Landwirtschaftliche Verein für den Weimarischen und jenaischen Kreis des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach“38 vom 15. bis 26. Oktober 1834 gestaltete.39 Über 100 landwirtschaftlichen standen allerdings nur 25 gewerbliche Aussteller gegenüber. Dennoch erinnerte man diese Exposition später als eine reine Gewerbeausstellung.40 Dem folgte fünf Jahre danach im Oktober 1839 eine einwöchige gemeinsame öffentliche Präsentation beider Vereine erneut im Weimarer Schießhaus, wobei wieder die Agraraussteller überwogen haben dürften.41 Auch an der „Allgemeinen Deutschen Gewerbe-Ausstellung zu Berlin“, der zweiten gesamtdeutschen ihrer Art, beteiligten sich 1844 einige Weimarer Gewerbetreibende und errangen sogar vereinzelt Medaillen.42 Für eine eigenständige Ausstellung war der Gewerbeverein noch nicht stark genug, zwischen 1854 und 1857 sistierte er wegen Inaktivität.43 Als die Einladung zur oben erwähnten Ersten Thüringischen Gewerbeausstellung 1853 nach Gotha erging (vgl. Abs. 2), sah sich der Vorstand wegen Mitgliedermangels außer Stande, der Aufforderung des Gemeinderats nachzukom-

36 Vgl. Günther E. Krug, Die Entwicklung ökonomischer Freiheitsrechte in Deutschland im Wandel von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft vom Ancien Régime bis zur Reichsgründung (1776–1871), Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 384. 37 Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 1. 38 Vgl. Statuten des Landwirtschaftlichen Vereins für den Weimarischen und jenaischen Kreis des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, [Weimar] 1823. 39 Vgl. die Liste der Aussteller und Ausstellungsstücke in: Weimarische Zeitung Nr. 96 vom 3.12.1834, Nr. 97 vom 6.12.1834, Nr. 98 vom 10.12.1834, Nr. 99 vom 13.12. und Nr. 100 vom 17.12.1834. Fälschlicherweise auf November 1834 datiert die Veranstaltung Burkhardt, Geschichte des Weimarer Gewerbevereins (wie Anm. 35), S. 8. 40 Vgl. Amtlicher Bericht über die allgemeine Deutsche Gewerbe-Ausstellung zu Berlin (wie Anm. 8), S. 8. 41 Vgl. Weimarische Zeitung, Nr. 44 vom 1.6.1839, Nr. 63 vom 7.8.1839, Nr. 76 vom 21.9.1839 und Nr. 84 vom 19.10.1839. Beide Ausstellungen erinnerte der spätere Vereinsvorsitzende Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 1, fälschlich als „Lokalausstellung“ allein des Gewerbevereins und datierte Letztere zudem falsch ins Jahr 1837. 42 Vgl. Amtlicher Bericht über die allgemeine Deutsche Gewerbe-Ausstellung zu Berlin (wie Anm. 8), passim. 43 Vgl. Burkhardt, Geschichte der Weimarer Gewerbevereins (wie Anm. 35), S. 23 f.

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men, ein Ortskomitee zu bilden, um eine Teilnahme abzusichern.44 Deshalb übernahm es die Weimarer Stadtverwaltung in der Person des Oberbürgermeisters Wilhelm Bock (1815–1888), fünf Handwerksmeister persönlich anzusprechen, um ein Ortskomitee zu bilden, das wiederum andere Gewerbetreibende für eine Teilnahme in Gotha gewinnen sollte, was immerhin bei 34 Handwerkern gelang.45 Im Jahr darauf fand im Münchener Glaspalast die „Erste Allgemeine Deutsche Industrieausstellung“ statt, eigentlich schon die dritte ihrer Art, für die der Weimarer Gemeindevorstand wie auch der Bezirksvorstand für den 1. Verwaltungsbezirk Weimar, das war der Kreis um die Stadt Weimar, erneut ausdrücklich eine Beteiligung der Weimarer wünschten. Über das gleiche Ortskomitee aus Handwerksmeistern, das schon für die Gothaer Exposition geworben hatte, kamen für das Großherzogtum ganze 15 Anmeldungen zusammen. Dies stellte alles andere als eine repräsentative Vertretung dar, wohl eher eine Notlösung auf Drängen des Staatsministeriums, das unbedingt eine Beteiligung an der auch „Allgemeine Ausstellung deutscher Industrie- und Gewerbeerzeugnisse“ genannten Veranstaltung gewünscht und alle Transportkosten übernommen hatte.46 In dieser frühen Phase waren es also eher Staats- und Kommunalbehörden, von denen die Initiativen zur Teilnahme an gewerblichen Ausstellungen ausgingen. Auch die Einladung zu einer ersten reinen Gewerbeausstellung für das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach erging im Jahr 1857 durch das weimarische Staatsministerium.47 Hinsichtlich Organisation und Ordnung der Exponate sich ganz am Gothaer Vorbild von 1853 orientierend, wandte sich das einladende Departement des Innern jedoch nicht mehr nur an Gewerbetreibende, sondern auch an „Fabrikanten“ und sprach folglich erstmals von einer „Ausstellung von Erzeugnissen der Gewerbe und Industrie des Großherzogthumes“.48 Im Sommer 1857 versammelten sich vom 15. Juni bis 12. Juli für knapp vier Wochen immerhin 255 Aussteller aus dem ganzen Land im Weimarer Schießhaus, um insgesamt 706 Stücke auszustellen.49 44 Vgl. die Antwort des Gewerbevereins vom 23.5.1853 auf den Gemeinderatsbeschluss vom 18.5.1853, StadtAW, HA II-16-15, Bl. 7 u. 9; für das Folgende ebd., Bl. 10. 45 Ermittelt nach: Katalog der ersten Allgemeinen Thüringischen Gewerbe-Ausstellung Gotha 1853 (wie Anm. 26), passim. 46 Vgl. StadtAW, HA II-16-15, Bl. 16, bes. Bl. 27 mit der Liste der wenigen Aussteller; dazu die Einladung in der Weimarischen Zeitung, Nr. 103 vom 28.12.1853, S. 1018–1020. 47 Vgl. Programm der Gewerbe-Ausstellung für das Grossherzogthum Sachsen-WeimarEisenach vom 9.2.1857 (Druck), StadtAW, HA II-16-23, Bl. 9–10. 48 Vgl. Ministerial-Bekanntmachung vom 5.2.1857, in: Weimarer Zeitung Nr. 31 vom 6.2.1857; sowie Ministerial-Bekanntmachung vom 7.3.1857, in: ebd., Nr. 59 vom 11.3.1857 (Zitat). 49 Vgl. Verzeichniß der Gewerbe-Ausstellungs-Gegenstände des Großherzogthumes [sic] Sachsen. Ausgestellt im Schießhause zu Weimar vom 15. Juni bis 12. Juli 1857.

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Es war diese erste sachsen-weimarische Landesausstellung – zugleich die erste, die das Wort „Industrie“ im Titel führte –, die den Weimarer Gewerbeverein zu einer Neugründung anregte.50 In der Folgezeit entwickelten die neuen Mitglieder verstärkt Aktivitäten, trafen sich zu Vorträgen und organisierten 1859 und 1860 unter Ernst Kohls Leitung dreitägige „Lokalgewerbeausstellungen“.51 Letztere seien zwar nur klein ausgefallen, weil allein Vereinsmitglieder zugelassen waren, doch habe selbst dies so gut Anklang gefunden, dass man sich wieder etwas Größeres wünschte. Am 12. November 1860 stimmten die Mitglieder des Gewerbevereins darüber ab, ob man im Jahr darauf zu einer zweiten Thüringer Gewerbeausstellung einladen wolle. Der Abstimmung waren längere Diskussionen vorausgegangen: [D]ie „im Schooße des Vereins des Vereinsjahres 1859–1860 gepflogenen wiederholten und eingehenden Berathungen über die Frage der Gewerbefreiheit, über Gewerbegesetz gebung, die mehr und mehr wahrscheinlich werdende baldige Einführung der Gewerbefreiheit in Thüringen – gaben zugleich wiederkehrende Anregung, sich die hervorragende Wichtigkeit von Gewerbeausstellungen zu vergegenwärtigen.52

Auslöser war also die bevorstehende vollständige Befreiung der Gewerbe von den Zunft- und Innungszwängen sowie Sondergesetzen, die sich auch für die thüringischen Kleinstaaten abzuzeichnen begann.53 Diese erwartete Zäsur bildete für den Weimarer Gewerbeverein, dessen Mitglieder in dieser Sache durchaus uneinig waren, einen wichtigen Grund, über die eigene Stadt, auch den eigenen Kleinstaat hinausblickend, das Gewerbe Gesamtthüringens nach 1853 erneut zusammenzurufen.54 Mit seiner reichen Ausstellungserfahrung fühlte sich der Weimarer Gewerbeverein offensichtlich berufen, um als Initiator und Organisator einer Nachfolgeausstellung aufzutreten. Nur wenige Tage später lud man für den 17. und 18. November 1860 zum ersten „thüringischen Gewerbe-Vereinstag“ ein, um für sein Anliegen zu werben.55 50 Vgl. Burkhardt, Geschichte des Weimarer Gewerbevereins (wie Anm. 15), S. 24 f.; dazu die abgedruckten Statuten vom 2.2.1858, ebd. im Anhang. 51 Vgl. ebd., S. 31; dazu Adolf [sic] Mirus, Dem Andenken des Großherzoglich Sächs. Oberbauraths, Eisenbahn-Direktors Ernst Heinrich Kohl gewidmet, Weimar 1901, S. 4. 52 Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 1. 53 Vgl. zu diesem an Gegentendenzen reichen Prozess Paul Möslein, Die Gewerbegesetzgebung der Thüringer Herzogtümer im 19. Jahrhundert bis zur Einführung der Gewerbefreiheit, Weimar 1909, bes. S. 69 f.; dass allgemeine Gewerbefreiheit auch Freizügigkeit für die gesamte Bevölkerung umfasste, betont Krug, Die Entwicklung ökonomischer Freiheitsrechte (wie Anm. 36), S. 238 f. 54 Zur inneren Debatte vgl. Burkhardt, Geschichte des Weimarer Gewerbevereins (wie Anm. 35), S. 25 f. 55 Vgl. die Mitgliedermitteilung vom 5.11.1860 und die Einladung vom 18.11.1860 (beides Drucke), StadtAW, HA II-16-25, Bd. 1, Bl. 1 und 2; ebd. folgende Zitate.

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Den aus 24 Städten angereisten Mitgliedern, die 20 Gewerbevereine und ähnliche Korporationen vertraten, unterbreiteten die Weimaraner den Vorschlag zur Errichtung einer „gewerblichen Centralstelle und eines Musterlagers“ sowie zur Gründung einer „volkswirtschaftlichen Gesellschaft für Thüringen“. Zwar fanden beide innovative Ideen nach dem Vorbild des Königreichs Württemberg keine Mehrheit, immerhin einigte man sich darauf, den Gewerbetag als eine lockere Versammlung von Wirtschaftsvertretern künftig jährlich abzuhalten.56 Mit 98 gegen 9 Stimmen beschloss der erste thüringische Gewerbetag zur „Zweiten allgemeinen Thüringischen Gewerbeausstellung“ nach Weimar einzuladen, und zwar erstaunlich kurzfristig bereits für den kommenden Sommer des Jahres 1861.57 In gebotener Eile bildete sich am 17. Dezember 1860 eine Ausstellungskommission unter dem Vorsitz von Ingenieur Kohl, dem neben acht Wirtschaftsvertretern aus den Reihen des Weimarer Gewerbevereins der erwähnte Weimarer Oberbürgermeister Bock sowie der Direktor für den Verwaltungsbezirk Weimar Justizrat Thuiskon Friedrich Sachse angehörten. Bereits am 28. Dezember 1860 versendete die Kommission an 250 Adressen immerhin 2.400 Einladungen mit einem Anmeldeformular für die geplante Gewerbeausstellung, deren Absicht es sei: Dieselbe soll ein möglichst vollständiges Bild der gesammten gewerblichen Thätigkeit und des gewerblichen Fortschritts, sowie des Rohproducten-Reichthums der thüringischen Länder gewähren, dadurch aber Konsumenten wie Producenten Gelegenheit biethen, einerseits den Stand des Gewerbes, bezüglich auch den Rohproducten-Reichthum Thüringens, andererseits die besten Bezugsquellen kennen zu lernen und damit ebensowohl die gegenseitigen Verkehrsbeziehungen erhöhen, als vorzügliche Anerkennung und folgeweise vermehrten Absatz vermitteln.58

Sechs Ziele sind ablesbar, die wie eine Art Reaktionskette aufgefasst wurden: Erstens war nicht weniger beabsichtigt, als ein möglichst vollständiges Panorama über die gesamte Breite der gewerblichen Produktion im „Austellungsrayon“ zu geben, zweitens sollten ausdrücklich dabei erzielte technische Fortschritte angezeigt werden. Drittens zielte die Exposition nicht allein auf verarbeitete Produkte, sondern ebenso auf eine Präsentation unverarbeiteter Rohstoffe, gemeint waren Bodenschätze wie Erze, Salze und Mineralien, weil diese den besonderen Reichtum Thüringens ausmachten. Dadurch solle viertens die Beziehungen zwischen den Rohstoff-Lieferanten und den rohstoffver56 Vgl. zum Vorbild Mirus, Ueber Gewerbeförderung (wie Anm. 14), S. 1 f. 57 Vgl. Der erste thüringische Gewerbetag, abgehalten in Weimar am 17. und 18. November 1860 (Druck), S. 9, hier nach dem eingehefteten Exemplar in StadtAW, HA II-16-24. 58 Ausstellungsprogramm vom 28.12.1860 (§ 3), abgedr. bei Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 4. Mit ganz ähnlicher Formulierung hatte schon 1829 die sächsische Gewerbeausstellung in Leipzig geworben, hier nach Amtlicher Bericht über die allgemeine Deutsche Gewerbe-Ausstellung zu Berlin (wie Anm. 8), S. 7.

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arbeitenden Produzenten sowie besonders auch dieser untereinander befördert werden. Diese Vernetzung wiederum verbessere fünftens die Produktqualität und führe zu mehr Anerkennung seitens der Konsumenten, zunächst in Form möglichst vieler Ausstellungsbesucher, und schließlich sechstens – so letztlich die Hoffnung – zu einem erhöhten Absatz im Geschäftsalltag. Dieser Glaube, die einzelnen Produzenten würden sich durch besseres Kennenlernen gegenseitig inspirieren und anspornen, war noch ganz in den Kategorien eines ehrlichen Wettstreits ehrbarer Gewerke gedacht. Auch daran wird deutlich, dass sich Thüringens Wirtschaft noch in der Anfangsphase der Industrialisierung befand und der Konkurrenzgedanke noch nicht im Vordergrund stand. Die Organisatoren baten die Aussteller, selbst jenes Merkmal möglichst genau zu benennen, an denen der gewerbliche Fortschritt ihres Erzeugnisses ablesbar sei.59 Erwünscht waren solche Ausstellungsobjekte, „die geeignet sind, den Höhepunkt der Produktion und Fabrikation des Orts und der Gegend“ zu bezeichnen (§ 5). Es ging also sowohl um einen möglichst vollständigen Überblick über die Gewerbeproduktion, also um Quantität, wie auch um herausragende Produkte, also Qualität. Darin lag ein gewisser Widerspruch, der den Organisatoren anfangs vielleicht gar nicht bewusst war, sich aber bald als ein grundsätzliches Problem erweisen sollte. Bereits bei der sachsen-weimarischen Landesaustellung 1857 hatte sich der Weimarer Gewerbeverein organisatorisch an der Ersten Thüringischen Gewerbeausstellung in Gotha 1853 orientiert und blieb diesen bewährten Organisationsprinzipien auch 1861 treu. Die erwähnte Ausstellungskommission unterteilte sich in „Special-Comités“, die für die Zuordnung der vorgeschlagenen Stücke in bestimmte Gruppen und Klassen verantwortlich waren, nach denen die Ausstellung aufgebaut werden sollte (§ 14). Zur Gewinnung von Ausstellern erging an die Gewerbevereine und, wo diese fehlten, an die Ortsbehörden in den beteiligten Staaten die Bitte, Orts- oder Bezirks-Komitees zu bilden. Diese nahmen die Anmeldungen der örtlichen Gewerbetreibenden entgegen (§ 15 und § 16) und entschieden über deren „Ausstellungszulässigkeit“ (§ 17). An 50 Orten entstanden solche Werbekomitees, die in 27 Fällen von örtlichen Gewerbevereinen getragen wurden, darunter Erfurt, Jena, Gotha, Schleiz und Weißenfels.60 Für die reußische Residenz Gera übernahm dies die 1849 gegründete Handelskammer, die älteste Thüringens.61 In den drei Städten Kahla, Nordhausen und Suhl 59 Vgl. Programm der II. [sic] allgemeinen Thüringischen Gewerbe-Ausstellung in Weimar vom 28.12.1860 (Druck), § 4, hier nach dem eingehefteten Exemplar in StadtAW, HA II-16-24. 60 Vgl. die Aufstellung bei Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 8 f.; dazu kam der Gemeinnützige Verein in Stadtilm. 61 Vgl. Reyk Seela, Die Industrie- und Handelskammer Ostthüringens zu Gera. Festschrift zur 150-jährigen Kammergeschichte in Ostthüringen (1849–1999), Gera 1999, S. 50 f.

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stellten sich einzelne Unternehmer als Ansprechpartner vor Ort zur Verfügung. In den restlichen 18 Gemeinden, darunter Apolda, Greiz und Mühlhausen, gehörten neben Handwerkern und Unternehmern auch Amtsträger zu den Ortskomitees. Somit trugen einerseits Gewerbevereine über die Hälfte dieser Komitees, andererseits bedurfte mehr als ein Drittel von ihnen der Hilfe der Lokalbehörden. Jedes zuständige Ministerium aller beteiligten Staaten sollte einen Regierungskommissar bestellen, um der Weimarer Ausstellungskommission wie den örtlichen Komitees staatlicherseits als alleiniger Ansprechpartner zu dienen.62 Um die Blicke der Besucherinnen und Besucher zu lenken und sie zum Vergleich der ausgestellten Produkte nach Material und Qualität anzuregen, bedarf jede Ausstellung einer inneren Ordnung, die gleiche und ähnliche Erzeugnisse nebeneinanderstellt. Schon in ihren Einladungen gaben die Weimarer Organisatoren vor, wonach sie alle eingesendeten Stücke sortieren würden. Auf den ersten Blick folgte auch hier die zweite Thüringische Gewerbeausstellung ganz der ersten: Sechs römisch nummerierte Gruppen untergliederten sich in 30 Klassen, von denen hier in Klammern nur eine Auswahl genannt werden kann: Tabelle 1 Gruppen mit ihren Klassen (ursprüngliche Ordnung bei Einsendung der Ausstellungsstücke) 63 I. Rohstoffe und Materialwaren (Bergbauerzeugnisse, Minerale, Farben, Brennstoffe, Nahrungsmittel u. a.) II. Maschinerien (Dampf-, Gespinst- und Landwirtschaftsmaschinen, Spinnräder, Werkzeuge u. a.) III. Manufakturwaren (aus Baumwolle, Wolle, Leinen, Seide; Papier, Schreibwaren u. a.) IV. Metall- und Irdenwaren (Stahlwaren, Waffen, technische Instrumente, Glas, Porzellan, Geschirr u. a.) V. Holz- und Steinfabrikate (aus Horn, Holz, Schiefer, Marmor; Möbel- und Polsterwaren u. a.) VI. Schöne Künste in Anwendung auf die Gewerbe (Skulpturen, Modelle, Bildhauerarbeiten u. a.). Diese Klassifikation in Großgruppen nach Material und ihre Untergliederung nach Gewerbearten und Bearbeitungstechniken folgten der Ordnung jener „Mustersammlungen“, wie sie zahlreiche polytechnische Vereine zusammenge62 Die Ministerialschreiben sind abgedruckt bei Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 6 f. Allein Greiz (Reuß ä. L.) sah davon ab und Gera (Reuß j. L.) bestellte auf mehrfaches Drängen schließlich den Präsidenten seiner Handelskammer Carl Christoph Nürmberger. 63 Wie Anm. 57.

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tragen hatten, und waren ein Charakteristikum der frühen Gewerbeausstellungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu denen man die Weimarer als Typus noch immer zählen muss.64 Tabelle 2 Vergleich der Zuordnung der Ausstellungsstücke in der Gruppe „Maschinerien“ nach Klassen auf der Ersten sowie Zweiten allgemeinen Thüringischen Gewerbeausstellung Gotha 1853 und Weimar 1861 Nr. der Klasse 1853

Name der Klasse 1853

Nr. der Zuordnung der Klasse Klasse nach Gruppen 1861 1861

5.

Maschinen zum unmittelbaren Gebrauch, einschließlich Fuhrwerke und mechanische Triebwerke

5.

desgl.

6.

Gewerbsmaschinen und Werkzeuge

6.

desgl.

7.

Architektonische und bauliche Arbeiten

30.

zur VI. Gruppe: Schöne Künste in Anwendung auf die Gewerbe

8.

Waffen

19.

zur IV. Gruppe: Metall- und Irdenwaren

9.

Maschinen und Geräte zum Acker- und Gartenbau

7.

desgl.

10.

Physikalische, chirurgische, horologische und musikalische Instrumente

20.

zur IV. Gruppe: Metall- und Irdenwaren

Die Gruppe „Maschinerien“ beansprucht unser besonderes Interesse (Tab. 1). Es sticht ins Auge, dass darunter auch Werkzeuge, Instrumente und Waffen, selbst Spinnräder gezählt wurden. Dies entsprach der lateinischen Etymologie

64 Vgl. Grossbölting, Im Reich der Arbeit (wie Anm. 7), S. 207.

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des Wortes „Maschine“ für jegliche Art von Werkzeug.65 Die Sinnverengung auf eine selbstantreibende mechanische Kraftvorrichtung vollzog sich bekanntlich erst im Verlauf der Industrialisierung. Dass die Ausstellungsorganisatoren noch den handwerklichen Maschinen-Begriff zu Grunde legten, markiert ebenfalls den unausgereiften Status der thüringischen Industrieentwicklung. Obwohl der Begriff „Industrie“ gelegentlich in den Akten auftaucht, ist offiziell immer nur von einer „Gewerbeausstellung“ die Rede. Vergleicht man die Zuordnung der Produktklassen zu den Materialgruppen von 1861 mit der von Gotha 1853 werden Unterschiede erkennbar, die nicht ganz zufällig sein können, sondern etwas mit den inzwischen doch eingetretenen Gewerbeentwicklungen zu tun haben müssen, auch wenn letztlich nur acht Jahre vergangen waren. In der Gruppe „Maschinerien“ hatte gegenüber 1853 insofern eine Bereinigung stattgefunden, als Waffen und technische Instrumente herausgenommen und anderen Gruppen zugeordnet wurden, während Fuhrwerke und Werkzeuge, gemäß dem traditionellen Maschinen-Begriff, verblieben. Als primärer Indikator für den Industrialisierungsprozess sind Maschinen natürlich von besonderem Interesse und es wird auf sie zurückzukommen sein. Die übrigen Materialgruppen waren bis auf geringe Abweichungen 1853 und 1861 weitgehend identisch. Die III. Gruppe umfasste sog. „Manufacturwaaren“, wozu die Textilbranche in ganzer Breite, von der Baumwolle bis zu Mischgeweben, zählte, worauf ebenfalls zurückzukommen sein wird, dazu Leder- und Pelzwaren sowie Papier- und Druckerzeugnisse. Zur IV. Gruppe „Metall- und Irdenwaaren“ waren Waffen und Instrumente hinzugekommen (vgl. Tab. 2), gewiss sachlich richtiger als sie unter Maschinen zu zählen. Die Klasse 21 in dieser Gruppe umfasste neben Schneidewerkzeugen nicht mehr nur „Messerschmiedearbeiten“, sondern allgemeiner „Stahlwaaren“, worin sich der Vormarsch des Stahls als neuer Werkstoff ausdrückte. Gruppe V vereinte „Holz- und Steinfabrikate, kurze und gemischte Waaren“. Hier fügte die Ausstellungskommission gegenüber 1853 eine neue Klasse (Nr. 24) ein, die sie „Erzeugnisse aus Horn, Elfenbein und Holz“ nannte. Damit hat sie zweifellos der immer stärker hervortretenden Schnitzkunst, die im Thüringer Wald in Heimarbeit betrieben wurde, Rechnung getragen.66 Insgesamt hatten sich die Weimarer Organisatoren bei der Objektordnung stark an ihren Gothaer Vorgängern orientiert. Wir wer65 Vgl. kurz das Lemma „Maschine“, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarbeitet unter Leitung von Wolfgang Pfeifer, München 2003, S. 844. 66 Vgl. W.[ilhelm] Gau, Die Hausindustrie im Eisenacher Oberland des Großherzogtums Sachsen, in: Die deutsche Hausindustrie, Bd. 2, Leipzig 1889, S. 75–115, hier S. 89 f.; dazu Rudolf Funk, Hausiererwaren und Kunstwerke aus Holz. Widerspiegelungen eines Rhöner Erwerbszweiges in den Heimatstuben des Feldatales, in: Handwerk, Hausgewerbe, Industrie. Beiträge zur historischen Arbeitswelt in Thüringen, hg. v. Gudrun Braune und Peter Fauser im Auftrag der Volkskundlichen Kommission für Thüringen e. V., Erfurt 2007, S. 140–148.

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den sehen, dass sich dies nicht recht bewährt haben kann. Gruppe VI zeigte „Schöne Künste in Anwendung auf die Gewerbe“. Sie berührte eine der zentralen Fragen der Zeit, das Verhältnis von Nutzen und Schönheit, das durch die einsetzende Massenproduktion für die meisten Zeitgenossen aus dem Lot geraten war.67 In der ersten Gruppe („Rohstoffe und Materialwaaren“) war es zu keinen Veränderungen gekommen, da es sich um unverarbeitete Ausgangsmaterialien handelte. Ein gravierender Unterschied, den die Veranstalter nicht müde wurden hervorzuheben, verdient besondere Beachtung: Im Gegensatz zu Gotha 1853 sollte diese zweite Gewerbeausstellung ausdrücklich nicht von staatlichen Behörden finanziert werden, sondern von der Wirtschaft selbst, die damit ihre gewachsene Stärke und vor allem Unabhängigkeit zu demonstrieren beabsichtigte: Es würde sich allerdings die thüringische Gewerbethätigkeit kaum ehrenwerther äußern können, als wenn sie möglich machte, eine thüringische Ausstellung durch eigene Hilfe, ohne sichtbare Mitwirkung der Regierungen ins Werk zu setzten; es würde dann Thüringen den Ruhm davon tragen, eine solche Thätigkeit zuerst entwickelt zu haben.68

Man verpflichtete sich ausdrücklich auf „die Anerkennung des obgleich nur im Stillen, wenngleich oft, bespöttelten und bekritelten [sic] Grundsatzes der privaten Selbstthätigkeit, der Selbsthilfe“. Diese „Selbsthilfe“ der Wirtschaft habe sich, so Kohl weiter, vollkommen bewährt, keineswegs wie behauptet zu „Unordnung und Gesetzlosigkeit“ geführt. Statt „behaglicher Ruhe“ und der Neigung, „etwaiges Mißlingen des Unternehmens den Behörden zur Last legen zu können“, werde vielmehr Selbstdenken und Selbsttätigkeit gefördert. Mit dieser klaren Absage an den bisher üblichen staatlichen Wirtschaftsprotektionismus wähnten sich die Thüringer, was die erste vom Staat unabhängig veranstaltete Gewerbeausstellung anging, gar als Vorreiter in Deutschland. Das war zwar ein Trugschluss – die sächsische Wirtschaft organisierte ihre Gewerbeausstellungen längst eigenständig69 – zeigt aber das gewachsene Selbstvertrauen, mit dem Thüringens Wirtschaftsvertreter inzwischen auftraten und der bevorstehenden allgemeinen Gewerbefreiheit entgegensahen. Der Verzicht auf staatliche Hilfe hatte zur Konsequenz, dass die Ausstellung sich allein durch den Verkauf von Eintrittskarten und Katalogen sowie freiwillige Zuschüsse der beteiligten Vereine und Gewerbetreibenden würde finanzieren müssen, was sehr solide gelang.70 Obwohl keine Verkaufsausstellung war es den Ausstellern erlaubt, 67 Zur Rolle von Gewerbeausstellungen zur Geschmacksbildung vgl. Ingeborg Cleve, Geschmack, Kunst und Konsum. Kulturpolitik als Wirtschaftspolitik in Frankreich und Württemberg (1805–1845), Göttingen 1996, bes. S. 248 f. 68 Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 2; folgende Zitate ebd., S. 3 und Vorbemerkung. 69 Vgl. ausführlich zu Leipzig Hochmuth, Industrie- und Gewerbeausstellungen in Sachsen (wie Anm. 10), S. 49 f. 70 Vgl. die detaillierte Rechnungsakte StadtAW, II-16-28, mit einer „balancierten Bilanz“

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Preise an ihren Objekten anzubringen. Damit sollten sie sich keineswegs untereinander Konkurrenz machen, sich vielmehr als preiswerte Alternative gegenüber ausländischer Konkurrenz anbieten. Der erzielte Verkaufserlös fiel kaum ins Gewicht.71 Der selbstauferlegte hohe Anspruch, „die Ausstellung zwar thunlichst auf dem Wege der Selbsthilfe ins Werk zu setzen“,72 schloss allerdings keineswegs aus, die Staatsregierungen nicht doch vereinzelt „um fördernde Unterstützung“ zu ersuchen. So stellten sich Wirtschaftsvertreter aus den Ortskomitees zwar als Preisrichter zur Verfügung, um die auf Gewerbeausstellungen üblichen Produkt-Prämierungen vorzunehmen, doch die Kosten für die prächtigen Diplome – auf Medaillen wurde aus Geldgründen verzichtet – übernahmen die Landesregierungen.73 Auch saßen, wie oben erwähnt, in 18 der 50 Ortskomitees Verwaltungsleute. Die selbstbewussten „Selbsthelfer“ der Wirtschaft nahmen also sehr wohl noch administrative Hilfe in Anspruch. Die Wahl des Ausstellungortes, der im Gegensatz zu Gotha ausdrücklich kein Amts- oder Hofgebäude sein sollte, entsprach ganz dem Grundsatz möglichst großer Unabhängigkeit vom Staat. Man schlug das stadtnahe Weimarer Schießhaus vor, in dem der Weimarer Gewerbeverein schon mehrfach ausgestellt hatte. Anders als die bis heute übliche Bezeichnung suggeriert, handelt es sich bei dem 1805 fertiggestellten klassizistischen Bau um weit mehr als das Vereinshaus der Weimarer Büchsenschützen. Mit Unterstützung des Herzogs Carl August war der Stadtrat als Bauherr aufgetreten und hatte für die Weimarer Bürgerschaft ein vielbesuchtes Gesellschaftshaus geschaffen.74 Dieser betont bürgerliche Bau entsprach genau den Vorstellungen einer staatsunabhängigen Gewerbeausstellung. Da sich jedoch bald herausstellte, dass der vorhandene Platz nicht ausreichen würde, musste dann doch der Weimarer Großherzog Carl Alexander einspringen, um mittels aufwändiger Anbauten die Ausstellungsfläche faktisch zu verdoppeln (Abb. 2).

über 5.900 rt. 71 Von jedem verkauften Produkt gingen 2 % als Provision an den Veranstalter. Da insgesamt nur 52 rt eingenommen wurden (vgl. Kohl, Bericht, S. 31), folgt daraus rechnerisch, dass Güter im Wert von 2.625 rt verkauft worden sind, bei einem Gesamtwert von 80.824 rt sind das nur 3 %. 72 Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 3; dort auch folgende Zitat. 73 Vgl. die Liste der am 11.7.1861 zusammengetretenen Preisrichter, StadtAW, NA II-293, Bl. 3; dazu Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 26 f. 74 Vgl. Jürgen Beyer, „Die neuen Schieß und Lust Orts Anlagen“. Zur Geschichte des Weimarer Schießhaues und seiner Freianlagen, in: Ders./Ulrich Reinisch/Reinhard Wegner (Hg.), Das Schießhaus zu Weimar. Ein unbeachtetes Meisterwerk von Heinrich Gentz, Weimar 2016, S. 49–70.

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4. Kritik im Vorfeld über Sinn und Zweck von thüringischen Gewerbeausstellungen Kaum waren erste Ausstellungsanmeldungen eingegangen, wurde im Vorfeld eine öffentliche Kritik aus den eigenen Reihen vernehmbar, die das Projekt ernsthaft zu gefährden drohte, noch ehe es in Gang gekommen war. Der Vorstand des „Oberländischen Kunst-und Gewerbevereins“ mit Sitz in Sonneberg veröffentlichte in seinen Monatsblättern im Januar 1861, offenbar in direkter Reaktion auf die Einladung, einen mehrseitigen „Offene[n] Brief an die deutschen Gewerbe-Vereine“, in dem er den Nutzen der allerorten stattfindenden Gewerbeausstellungen prinzipiell in Frage stellte, besonders für Thüringen.75 Bei den in fast jedem Städtchen inzwischen bestehenden Gewerbevereinen handele es sich bereits um eine zweite Gründungswelle, denn die erste Generation sei aus Mangel an Praxis zu Grunde gegangen, was durchaus selbstkritisch gemeint war.76 Der Hauptvorwurf der Sonneberger zielte darauf, dass eine Gewerbeausstellung für ein so kleines Gebiet wie Thüringen weder zeitgemäß noch zweckmäßig sei. Beteiligungen an den Leipziger Messen und den Gewerbeausstellungen der großen Staaten seien viel effektiver und damit ausreichend. Im Kern getroffen sah sich die Ausstellungskommission genötigt, eine Entgegnung im „Gothaischen Tageblatt“ zu veröffentlichen und diese zusätzlich als „Cirkularmitteilung“ zu versenden, um den Vorwürfen energisch entgegenzutreten.77 Weimar sei gewiss kein „Weltmarktplatz“, aber immerhin eine Stadt mit guter Eisenbahnanbindung, die von vielen Fremden besucht werde. Es wird zugegeben, daß ein bedeutender Handelsplatz, wie z. B. Leipzig und Berlin, vorteilhafter für eine Gewerbeausstellung ist, daß es schön wäre, wenn man allen Leipziger Meßfremden [Messebesuchern – J. R.] die Thüringische Ausstellung zeigen könnte; das geht nun aber nicht …

Mit einigem Recht hielten die Weimarer Organisatoren ihren Kritikern entgegen, dass die Produkte aus Thüringen auf den großen Verkaufsmessen und Gewerbeausstellungen als solche nicht wahrgenommen werden könnten, allenfalls als Produkte einzelner thüringischer Kleinstaaten, nicht aber eben als typisch thüringisch. Dies könne nur eine rein thüringische „Sonderausstellung“ leisten, mit der, wie oben erwähnt, vor allem eine innerthüringische Vernetzung der Hersteller beabsichtigt war. Die sich in Vorbereitung befindende Thürin75 Vgl. Offener Brief an die deutschen Gewerbe-Vereine, in: Monats-Blätter des Oberländer [sic] Kunst- und Gewerbevereins, Nr. 10, Januar, Sonneberg 1861, S. 145–156, hier nach StadtAW, HA II-16-26, Bl. 53–58. 76 Zum 1837 erstmals und 1846 neu gegründeten Verein vgl. kurz Ernst Rausch, Die Sonneberger Spielwaren-Industrie und die verwandten Industrieen [sic] der Griffel- und Glasfabrikation unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in der Hausindustrie, Sonneberg 1900, S. 26. 77 Vgl. Gothaisches Tageblatt, Nr. 81 vom 8.4.1861, hier im Folgenden mehrfach zit. nach StadtAW, HA II-16-26, Bl. 52.

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gen-Ausstellung sei weder ein bloßer Jahrmarktsrummel noch eine Verkaufsausstellung, rechtfertigte sich die Kommission weiter: Eine Gewerbeausstellung soll ein klares Bild geben von den wahren Leistungen und von der Konkurrenz fähigkeit des Gewerbestandes; wenn also etwas Außergewöhnliches ausgestellt wird, so streut man den Besuchern Sand in die Augen, man zeigt ihnen wohl, was unter besonderen Anstrengungen geleistet werden kann, aber nicht, was im alltäglichen Leben geleistet wird.

Diese Argumentation unterschied sich durchaus von der im Einladungstext, der Ende 1861 verschickt worden war. Von Gegenständen, die den örtlichen Höhepunkt der Fabrikation und gewerblichen Fortschritt repräsentieren, war keine Rede mehr. Auffallend defensiv hieß es dagegen: „die Ausstellungsgegenstände sollen keine Produkte außergewöhnlichen Kopfzerbrechens und eines außergewöhnlichen Aufwandes von Zeit und Geld sein“. Keine „Meisterstücke, die den Handwerker erfreuen, aber ruinieren, seien gefragt, vielmehr Alltagsware, die dennoch seiner würdig sei“. Ein klares Bild von den wahren Leistungen – das klang nun doch um einiges bescheidener, unnötig bescheiden angesichts des in ganz Deutschland inzwischen etablierten Modells auch überstaatlicher Gewerbeausstellungen. Die Organisatoren zielten nun wohl weniger auf eine Thüringer Leistungsschau hervorstechender Produkte als auf einen Überblick gängiger Handelsware. Ursprünglich hatten sie wohl beide Ansätze möglichst miteinander verbinden wollen, neigten angesichts der harschen Kritik aus den eigenen Reihen nun Letzterem zu. Damit folgten sie der preußischen Praxis, die ihre Industrie- und Gewerbeausstellungen dezidiert als Instrument der Gewerbeförderung ansahen und deshalb auch einfachste Waren zuließen, wenn sie sich nur auf dem Absatzmarkt bewährten.78 Erst als spätere Expositionen durch schiere Überfülle zu sprengen drohten, führte man auch in Preußen Qualitätskriterien ein. Dieser Rückzieher des Organisationskomitees bildete vielleicht auch eine Reaktion auf die bis dahin getätigten Anmeldungen, die durchaus schleppend eingingen. Nach der festgelegten Frist vom 15. Mai bis 1. Juni 1861 lagen erst 670 von ihnen vor. Weitere 271 Anmeldungen folgten im Grunde verspätet bis zum 8. Juni, einen Tag vor Ausstellungseröffnung. Selbst danach wurden noch 104 Gegenstände zugelassen, sodass die Gesamtzahl schließlich doch auf 1.045 Einlieferungen von 1.058 Ausstellern stieg.79 Nicht weniger als 13.507 Ausstellungsstücke im Gesamtwert von 80.824 Reichstalern (rt) waren am Ende zusammengekommen. Nicht allein die hohe Zahl der Ausstellungsstücke, mehr noch ihr vergleichsweise niedriger Durchschnittswert von knapp 6 rt sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass es den Organisatoren letztlich doch mehr um Masse als um Klasse gegangen war. 78 Vgl. Grossbölting, Im Reich der Arbeit (wie Anm. 7), S. 200 f. 79 Vgl. Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 16 f.

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5. Zu den Ausstellern: größte Bandbreite, ausländische Vorbilder, eigene Vorzüge Dass nach unten kaum Niveaugrenzen gegolten haben können, verrät der Blick auf eine Reihe gar nicht so seltener Einzelstücke, wie sie der Ausstellungskatalog aufführt.80 Sechs Gläser Confitüre aus Coburg (Katalog, Nr. 241) waren ebenso zugelassen wie sieben Kräuter aus Kleinneuhausen (Katalog, Nr. 132), ein Kübel unverfälschtes Pech aus Ilmenau (Katalog, Nr. 249) ebenso wie eine Kiste mit Sand aus Kerspleben bei Erfurt (Katalog, Nr. 137), letztlich alles Pfennigartikel. Nun sollte man aus heutiger Sicht mit Blick auf die ausdrücklich erwünschte Präsentation von Rohstoffen gewiss nicht zu hohe Maßstäbe anlegen, aber einige Ausstellungsstücke dürften auch dem damaligen Publikum eher kurios vorgekommen sein: etwa ein Hühnernest mit Schirmchen und ein Fußsack, beides hergestellt im Armenhaus zu Weimar (Katalog, Nr. 37). Die Einsendung auch „gewöhnlicher, ordinärer Sachen“ war ausdrücklicher Wunsch der Kommission, um dem Anspruch eines möglichst vollständigen Bildes der gesamten Gewerbetätigkeit gerecht zu werden.81 Es fällt auf, dass die meisten Exponate offensichtlich von Einzelpersonen stammten, die im Katalog jedenfalls nicht als Firmen erkennbar sind. Dahinter verbargen sich i. d. R. allein wirtschaftende Handwerksmeister und kleinere Handwerksbetriebe, die meist auch nur ein einziges Produkt präsentierten. Unter den über 1.000 Ausstellern finden sich gerade einmal 15 Frauen (ca. 1,4 %), wie z. B. Frau Amalia Krankenhagen aus Weimar mit einer aufwändigen Filetstickerei (Katalog, Nr. 173) oder Emma Quehl aus Langensalza mit ihren kleinen und großen Puppen (Katalog, Nr. 211).82 Firmen in weiblicher Hand, wenn auch nicht unbedingt unter weiblicher Führung, wie die 1793 gegründete und damit älteste deutsche Nudelfabrik J. P. Bellings Witwe & Co. aus Erfurt (Katalog, Nr. 255) mit ihren Nudelproben, bildeten absolute Ausnahmen. Die wenigen größeren Firmen sind leicht an ihrer breiten Produktpalette erkennbar, einzelne brachten es auf 50 bis 100 ausgestellte Stücke. Dabei handelte es sich um überregional bekannte Namen, wie etwa der Gothaer Verlag Justus Perthes (Katalog, Nr. 94). Einige Betriebe bestehen noch heute als Traditionsbetriebe in der einen oder anderen Art fort, wie die Gebrüder Born aus Erfurt, die „für ihren durch Reinheit, Schmackhaftigkeit und Billigkeit ausgezeichneten Essigsprit und guten Senf“ (Bericht, S. 35) mit Silber prämiert wur80 Im Folgenden werden zur Entlastung des Anmerkungsapparates die Katalog-Nummern, über die die Ausstellungsstücke im Katalog (wie Anm. 13) eindeutig zu identifizieren sind, im Text nachgewiesen, desgleichen die Erwähnungen im Bericht von Ernst Kohl (wie Anm. 15). 81 Vgl. Benachrichtigung an die Herren Hersteller! [sic] vom 6.5.1861 (Druck), Nr. F, in: StadtAW, HA II-16-27, Bd. 3, Bl. 8. 82 Eine genaue Zahl ist leider nicht möglich, da viele Vornamen in Katalog (wie Anm. 13) nur abgekürzt sind.

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den. Oder der in 47 Brennereien, davon zehn mit Dampfeinrichtung, hergestellte Branntwein aus Nordhausen, schon damals „altberühmt“ (Bericht, S. 48). Und natürlich erhielt der Mechaniker Carl Zeiss (1816–1888) einen ersten Preis für seine ausgezeichneten Linsensysteme. Mit ihren „zum Theil zu den vortrefflichsten in Deutschland überhaupt gehörenden Mikroskopen“ (Bericht, S. 35) gehörte die Jenaer Firma Zeiss bekanntlich zu den wenigen deutschen Marktführern aus Thüringen.83 Da wir die damaligen Ausstellungsstücke nicht mehr vor Augen haben, stellt sich die Frage, woran sich ihr Wert oder auch ihre Qualität erkennen lassen. Dafür bietet der Katalog mit seiner bloßen Nennung des Produkts mit seinem Hersteller und dessen Herkunftsort nur wenige Anhaltspunkte, die zudem mit Vorsicht zu gebrauchen sind. Es fällt auf, dass Aussteller ihre Stücke etwa als „fein“ oder „extrafein“ vor allem dann bezeichneten, wenn sie zugleich auf ein ausländisches Vorbild verwiesen, z. B. „feiner englischer Siegellack“ (Katalog, Nr. 73), hergestellt von der Papier- und Siegellack-Handlung Ch. Niedling in Erfurt, oder drei Flaschen „extrafein destillierte Liqueure“ von C. A. Wilhelm aus Rudolstadt (Katalog, Nr. 324). Das thüringische Gewerbe befand sich noch ganz in der „Imitationsphase“, die Nachahmung englischer und französischer Vorbilder galt wie ein Qualitätssiegel. Friederike Martersteig aus Weimar, als Gattin des Schießhauspächters hatte sie gewissermaßen Heimvorteil, zeigte drei von ihr mit Kragen und Manschetten verzierte Herrenhemden „von Shirting“ (Katalog, Nr. 428), offensichtlich, um sich möglichst modern zu geben.84 Darauf zielte ebenso J. Hübner aus Mühlhausen mit seinen Stoffproben „Fancy-Coating“, „Lady-Coating“ und „Buckskin“ (Katalog, Nr. 20), also langhaarige Wollgewebe für die feine Dame sowie ein strapazierfähiger Herrenstoff mit Wildlederanmutung. England galt in jeglicher Hinsicht als Vorbild für Deutschland, insondere natürlich, was die Technik betraf.85 Gleich mehrfach wurden Klaviere mit sog. englischer Mechanik ausgestellt (Katalog, Nr. 12, Nr. 246; Bericht, S. 37); dazu ein „Cottage-Piano“, offensichtlich eine Kleinform (Katalog, Nr. 159). Mehrfach zu sehen waren auch englische Reitsättel, ob wattiert, als „Holzbaumsattel mit Stahlfedern“ oder als englischer Federsattel (Katalog, Nr. 149, 252 und 382). August und Joseph Pflug aus der bekannten Jenaer Kupferschmiedefamilie zeigten einen englischen Schwungkessel für 9 rt (Katalog, Nr. 145), bronziert nach 83 Das Diplom ist abgebildet in Dünkel/Christoph (Hg.), Erlebnis Industriekultur (wie Anm. 16), S. 54. 84 Zu dieser in Leinwandbindung gewebten Baumwolle vgl. Rudolf Lohse, Webwaren von A bis Z, Leipzig 41960, S. 17; zum Folgenden ebd., S. 28, 66 u. 72. 85 Vgl. Peter Wende, Models of Britain for Nineteenth-Century German, in: Arnd Bauernkämper/Christiane Eisenberg (Hg.), Britain as a Model of Modern Society? German Views, Augsburg 2006, S. 25–39.

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einem Familiengeheimnis, wofür sie einen 2. Preis erhielten, weil „dieser Artikel sehr gesucht wird und früher nur in England fabriziert wurde“ (Bericht, S. 36).86 Der Regierungsrat a. D. von Schreeb in Schkeuditz bekam einen dritten Ehrenpreis mit lobender Erwähnung für seine zwei Schwingpflüge „nach amerikanischem System, von zweckmäßiger leichter Konstruktion“ (Katalog, Nr. 272; Bericht S. 38). Selbstverständlich handelte es sich sämtlich um mehr oder weniger gelungene Nachahmungen englischer Modelle, die aufgrund des nötigen Knowhows höchstes Ansehen genossen, von dem die Nachahmer zu profitieren hofften. Über die Mode prägte vor allem Frankreich die Termini der Textilbranche. Insgesamt liest sich der Weimarer Ausstellungskatalog wie ein Lexikon der Textilsprache, die uns heute fremd geworden ist. Wie sehr Thüringen einmal Textilland war, lässt sich hier eindrucksvoll ablesen, und zwar nicht allein repräsentiert durch Großbetriebe, die ersten der Region überhaupt, sondern durch viele kleine Handwerksbetriebe wie auch Einzelhersteller in Heimarbeit. Der Vorrangstellung des Textilgewerbes in Thüringen trug der erwähnte Berichterstatter Adolph Mirus Rechnung, indem er seinen ersten Spezialbericht dieser Branche widmete. Die namhafte Geraer Textilfirma Morand & Co., die 1833 die erste Dampfmaschine eingesetzt hatte, zeigte ihr großes Sortiment sog. Thibets, einen drei- oder vierschäftig gekörperten Stoff aus Kammgarn, dazu gemusterter Wollripse (ein Wollgewebe mit Rippen87) sowie „besonders feine breite Cachemirs, gelungen in den Farben, schwer an Qualität“,88 also ein hochwertiger Stoff aus seidenweicher Ziegenwolle. In die Kaschmirherstellung, lange eine englische und französische Domäne, war zuerst Sachsen eingebrochen, nun gefolgt von den Geraern, die bereits auf der Deutschen Industrie- und Gewerbeausstellung 1844 in Berlin lobend erwähnt worden waren. Auch in Weimar erhielten Morand & Co. einen Goldpreis „wegen vorzüglicher Qualität der ausgestellten Artikel und namentlich ausgezeichneter schwarzer Waare (Velour [sic] travers)“ (Bericht, S. 35), also Samt in der Modefarbe Schwarz, die besonders schwer zu färben war.89 Eine Silber-Prämierung erhielt die Firma Hermann Günther, ebenfalls aus Gera, „wegen ausgezeichneter Appretur von Kaschmir 86 Vgl. auch Adolph Mirus, Jahres-Bericht über die Industrie-Halle des Gewerbevereins zu Weimar, Weimar 1864, S. 9; dazu Uwe Plöthner, Der Hofkupferschmied Christian Carl Gottlob Pflug (1747–1825), in: „Wie zwey Ende einer großen Stadt…“. Die „Doppelstadt Jena-Weimar“ im Spiegel regionaler Künstler 1770–1830, Katalog der Städtischen Museen Jena und des Stadtmuseums Weimar, Teil 1, Rudolstadt 1999, S. 29–39. 87 Vgl. Lohse, Webwaren (wie Anm. 84), S. 156 f. 88 A.[dolph] M.[irus], Thüringer Gewerbeausstellung, 1. Spezialbericht vom 13.6., in: Zeitung Deutschland vom 14.6.1861. 89 Vgl. Lohse, Webwaren (wie Anm. 84), S. 200 f.; sowie Amtlicher Bericht der Gewerbeausstellung zu Berlin (wie Anm. 8), S. 483.

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und Herstellung eines vorzüglichen Weißes“ (ebd.), was technisch gleichfalls als besonders anspruchsvoll galt. Bekanntermaßen war in Thüringen nicht allein die Textilherstellung vertreten, sondern vor allem auch die Verarbeitung und Veredlung.90 Dafür stand die Kunstfärberei B. Mohr in Königssee bei Rudolstadt (Katalog, Nr. 218). Dort konnte man Seide und Atlas ebenfalls schwarz färben, dazu schweres Moiré, ein Gewebe aus Seide, Baumwolle oder Wolle, das durch eine feuchte Pressung nachträglich einen wellenartigen Schimmer erhielt.91 Desgleichen Barége, einen leichten gazeartigen Damenkleiderstoff, in schwarz und braun.92 Die gleiche Firma färbte Crêpetuch, einen feinen Stoff mit krauser Oberfläche, hochrot, dazu „Langshawls“ in rosa, Krawatten in chamois, lila und kornblau (Katalog, Nr. 218). Für sein Sortiment „mit großer Sorgfalt aufgefärbter und appretierter, bereits getragener seidener Stoffe“ (Bericht, S. 38), erhielt Mohr einen 3. Preis. Nicht in der Liste der Ausgezeichneten erscheint der Druckfabrikant Hugo Scheitz aus Greiz (Katalog, Nr. 804), der seine bedruckten Kaschmirtücher u. a. in den Export nach Russland schickte.93 Mit diesem Nebeneinander von Spitzenfirmen, die der Forschung in der Regel bekannt sind, und weniger profilierten Produzenten, die gleichwohl auch ihren Markt gefunden hatten, gibt die Gewerbeausstellung eine Momentaufnahme der ganzen Produktbreite eines Gewerbes, wie sie nur selten zu bekommen ist. Auf der anderen Seite präsentierten sich führende Branchen Thüringens in Weimar nicht in angemessener Weise. Sehr zum Ärger des Ausstellungskomitees fehlten vor allem die mechanisch fortgeschrittenen Strumpfwirker aus Apolda, dem „Manchester Thüringens“.94 Dabei mag die eingefleischte Abneigung gegen die eigene Residenz eine Rolle gespielt haben.95 Dazu kam der erhebliche Umstand, dass die Apoldaer Fabrikanten weniger für den heimischen 90 Vgl. Falk Burkhardt, Grundzüge ostthüringischer Wirtschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Werner Greiling/Hagen Rüster (Hg.), Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum?, Jena 2013, S. 193–213. 91 Vgl. Richard Hünlich, Textil-Fachwörterbuch, Berlin 1958, S. 82 f. 92 Vgl. Lohse, Webwaren (wie Anm. 84), S. 17; für das Folgende Hünlich, Textil-Fachwörterbuch (wie Anm. 91), S. 30. 93 Vgl. Mirus, 1. Spezialbericht (wie Anm. 88); zu Hugo Scheitz und der Vorreiterrolle der Druckfabrikanten beim Einsatz von Dampfmaschinen in den 1850er Jahren vgl. Friedrich Beck, Die Wirtschaftliche Entwicklung in der Stadt Greiz während des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Industrialisierung in Deutschland, Weimar 1955, S. 133 f. 94 Walter Schulz, Apolda, das Manchester Thüringens (1902), wieder abgedruckt in: Reinhard Escher (Hg.), So haben wir gelebt. Thüringen vor hundert Jahren, Gehren 1997, S. 293–304; dazu der Beitrag von Tobias Kaiser in diesem Band. 95 Vgl. Werner Greiling, Im Schatten von Weimar und Jena – Apoldas Weg in die Moderne, in: ZThG 56 (2002), S. 299–318.

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Markt produzieren ließen, „die Heimath biete ihnen die geringste Abnahme, sie seien auf den Export angewiesen“ (Bericht, S. 34). Dass wesentliche Vertreter unter den Schrittmachern der Industrialisierung in Thüringen sich mit einer thüringischen Identität schwertaten, ist ein bemerkenswertes Phänomen, das weitere Betrachtung verdient. Dies umso mehr, da die durch vielfältige Kontakte mit der westsächsischen Textilregion eng verbundene Textilindustrie Ostthüringens trotz ebenfalls starker Exportorientierung der Einladung nach Weimar gefolgt war, wenn auch längst nicht in vollem Umfang.96 Wenn ein Hersteller sein Produkt als „deutsch“ kennzeichnete, beabsichtigte er offensichtlich, sich von ausländischen Vorbildern abzusetzen. Allein die Gebrüder Kirchner aus Kölleda erhoben im Ausstellungskatalog diesen Anspruch für ihr „deutsches Pfeffermünzöl“ [sic] (Katalog, Nr. 121) als Teil ihrer in der Tat deutschlandweit bekannten Verarbeitung dieser Pflanze.97 Nur gelegentlich taucht „thüringisch“ als Produktherkunft auf, naheliegend am ehesten bei Rohstoffen und Textilien. Der Weimarer „Handschuhfabrikant“ W. Minckert stellte einem Ziegenfell aus Amerika und einem Lammfell aus Italien ein rohes Ziegenfell und ein rohes Lammfell aus Thüringen gegenüber, gewiss, um mindestens die Ebenbürtigkeit seines einheimischen Ausgangsrohstoffes gegenüber dem aus dem Ausland zu demonstrieren. Aus dem von ihm gegerbten und gefärbten Lamm- und Ziegenfell – ebenfalls ausgestellt – fertigte er seine im Dutzend ausgelegten Herren- und Damenhandschuhe, letztere sogar in Glacé-Qualität, also aus einem durch Walkung sehr weichen und damit waschbaren Ziegenleder, das zudem geweißt wurde. Ein echter Luxusartikel, von dessen Herstellung die württembergische Handelskammer noch 1830 abgeraten hatte, weil man mit Frankreich darin nie würde konkurrieren können (Katalog, Nr. 309). Überhaupt stechen die auf der Gewerbeausstellung zahlreich präsentierten Lederwaren hervor, nicht zuletzt auch als Folge des Viehreichtums der noch weitgehend agrarisch geprägten Landschaften Thüringens. F. W. Münzer & Co. aus Ronneburg boten rohe und gewaschene „thüringische Kammwolle“ an, dazu Kämmlinge aus „thüringer Wolle“, alles in „aa. Qualität“ (Katalog, Nr. 311). Die namhafte Weimarer Firma des Töpfermeisters Johann Friedrich Schmidt zeigte fünf Öfen aus Tonkacheln zu moderaten Preisen von 18 bis 50 rt. Die 1792 gegründete und seit 1871 größte Ofenfabrik Thüringens, bis 1972 als „Ofen-Schmidt“ bekannt, hatte neben zwei „Berliner Ofen“ auch einen „Thüringer Ofen“ für 35 rt im reichen Sortiment (Bericht,

96 Vgl. Beck, Die Wirtschaftliche Entwicklung (wie Anm. 93), bes. S. 106 und 177; in übergreifend mitteldeutscher Perspektive dazu Friedrich-Wilhelm Kirchhoff, Impulse aus Mitteldeutschland 1800–1945, Hanau 1992, S. 33 f. 97 Zum erst 1824 begonnenen Anbau medizinischer Kräuter vgl. 1225 Jahre Kölleda. Festschrift 786–2011, hg. v. Stadtverwaltung Kölleda, Kölleda 2011, S. 42.

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S. 107 f. und 120) 98 (Abb. 3). Insgesamt blieben dies absolute Ausnahmen, „Thüringen“ hatte durchaus noch keinen Markenwert. In den stets nur knappen Preisbegründungen finden sich gelegentlich Hinweise, dass die Jury Produkte deshalb prämierte, um neue Gewerbe für Thüringen zu fördern. Albertus & Tittelbach erhielten einen 3. Preis dafür, dass sie mit ihren Bronzewaren einen neuen Industriezweig in der Stadt Eisenberg eingeführt hatten (Bericht, S. 37). Desgleichen wurden allein drei Konstrukteure feuerfester Geldschränke (Karl Graf in Altenburg, Karl Friedrich Pertzel in Gera und Karl Heinrich Striebritz in Apolda) gleichlautend aufgemuntert, sich gegenüber „der außerhalb Thüringens bestehenden großen Konkurrenz“ zu behaupten (Bericht, S. 37–39). Die Gebrüder Küchler aus Ilmenau (Katalog, Nr. 765) bekamen Silber für ihre Hohlglaswaren, weil sie bei der Überführung ihres Etablissements in die „Großindustrie“ (Bericht, S. 36), womit der Übergang zur Massenproduktion gemeint war, erhebliche Schwierigkeiten überwunden hätten. Gewiss bot die Ausstellung ihrem Publikum auch Luxusgüter, wie die mit Gold prämierten vorzüglichen Porzellane der Firma F. E. Henneberg & Co. in Gotha (Bericht, S. 35), dazu ein „Haustempel in goth.[ischem] Styl als Modell mit Figuren aus Volkstedter Porzellan“ für stolze 130 rt (Katalog, Nr. 254).99 Die favorisierte Produktionsmaxime bildeten jedoch eindeutig „Fabrikate, welche in Masse gefertigt, welche sich durch große Billigkeit auszeichnen“.100 A. Birnstiel aus Firmelsdorf bei Coburg fertigte in Massenproduktion Korbwaren, brauchbar und billig, dennoch in vorzüglichem Geschmack, wie der Hersteller versicherte, wofür es Gold gab (Bericht, S. 35). Selbst „Nippsachen von Geschmack, guter Ausführung bei angemessener Billigkeit“ von Karl Frommann jr. aus Coburg waren der Jury einen zweiten Preis wert (ebd.). Die große Frage des 19. Jahrhunderts, wie guter Geschmack auch bei großen Massen gewahrt werden könne, hatten die Thüringer Preisrichter also durchaus im Blick. Dabei begegneten ihnen eine ganze Reihe von Imitationen, z. B. von dem Jenaer J. Bürger, der eine Blumenvase und eine Tischplatte aus „jenaischem Marmor“ anbot (Katalog, Nr. 310). Dabei handelte es sich natürlich ebenso um ein preisgünstiges Material wie von der Erfurter Firma A. L. Burckardt, die die Jury mit einem 3. Preis belohnte „wegen guter und naturgetreuer Nachahmungen der verschiedenen Marmorarten und sauberer Arbeit bei verhältnißmäßig niedrigem Preise“ (Bericht, S. 37). Noch mehr überzeugten die Jury die gut modellierten Figuren

98 Vgl. dazu kurz Gitta Günther/Wolfram Huschke/Walter Steiner (Hg.), Weimar. Lexikon zur Stadtgeschichte, Weimar 1993, S. 339. 99 Zum Betrieb von Friedrich Egidius Henneberg und zum Volkstedter Porzellan vgl. Porzellanland Thüringen – 250 Jahre Porzellan aus Thüringen, hg. v. Museumsverband Thüringen e. V., Gera 2010, S. 73 f. und S. 161 f. 100 Benachrichtigung an die Herren Hersteller! vom 6.5.1861 (wie Anm. 81).

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aus Terralith (einem plastischen Ton) und aus Papiermaché von Fischer, Naumann & Comp. aus Ilmenau (2. Preis). Eigene Innovationen oder gar neue Erfindungen gehörten dagegen zu den Seltenheiten auf der Weimarer Gewerbeausstellung, wobei es für die technikund produktgeschichtliche Spezialforschung bestimmt noch einiges zu entdecken gibt. Neben den oben erwähnten Mikroskopen aus dem Hause Zeiss kommen am ehesten die großen Verlage in Frage, wie sie im nördlichen Arkadenflügel des Schießhaues (vgl. Abb. 2) zu sehen waren: mit farbigen Kartenwerken von Justus Perthes aus Gotha sowie aufwändigen Erd- und Himmelsgloben aus dem Weimarer Geographischen Institut, beides mit Gold ausgezeichnet (Katalog, Nr. 94 und 10; Bericht, S. 35).101 Karl August Fliedner fertigte in Gotha ein Kupferdrahtseil für Blitzableiter, eine „Novität in dieser Anwendung“ (Bericht, S. 37), wofür es einen 3. Preis gab. Das Faßspundmanometer von Oskar Kropf & Co. in Nordhausen zum Messen des Innendrucks von Holzfässern war von „eigenthümlicher und neuer Konstruktion“ (Bericht, S. 38), ebenso eine „feine Häckselmaschine und rotierende Egge“ (ebd.) von Franz Schäfer aus Mühlhausen. Die Jury zeigte sich spürbar bemüht, auch die kleinsten technischen Verbesserungen gebührend zu würdigen. Sie verlieh G. Bräutigam aus Weißenfels einen 2. Preis für seine „Kranken-Hebemaschine, deren Ausführung er durch eine neue Idee bereichert“ habe (Bericht, S. 35), desgleichen Friedrich Langenickel aus Gotha wegen „Einführung einer verbesserten Schuhmaschine“, mit der er ebenso elegante wie praktische Schuhe fertige (Bericht, S. 36). Die Verweise auf eine gelungene Verbindung von Schönheit und Praktikabilität finden sich zu häufig, um zufällig zu sein. Nach Meinung der Preisrichter waren die Modelle einer Wasserflasche und einer Fruchtschale, die der Bürgerschullehrer J. G. Gerbing für die Weimarer Firma B. Gerbing entworfen hatte, wenigstens in Ansätzen gelungen „in Rücksicht auf das Bestreben, die Kunst mit der Industrie zu verbinden“ (Bericht, S. 37). Nur wenige Aussteller präsentierten ausdrücklich „Luxusartikel“, vielmehr sollten die Güter bei aller Schönheit doch immer auch einen Nutzen haben. In diesem Misstrauen gegenüber Dingen, die einfach nur schön sind, lag durchaus ein Abwehrgestus gegen Englands und Frankreichs Industrien, die man gern der luxuriösen Verschwendung zieh – wenn schon Nippsachen, dann bitte „von künstlerischer Vollendung“ wie die von C. G. Schierholz & Sohn aus Plaue bei Arnstadt (Bericht, S. 36). Der Gaskronleuchter des Erfurters G. Läßker (Kata101 Zu Perthes vgl. Frank Köhler, Gothaer Wege in Geographie und Kartographie, Gotha 1987, bes. S. 37 f.; sowie Andreas Christoph, Das kartografische Spektrum des „LandesIndustrie-Comptoirs“ & des „Geographischen Instituts“ im Spiegel der Produktkataloge, in: Ders./Olaf Breidbach (Hg.), Die Welt aus Weimar. Zur Geschichte des Geographischen Instituts, Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Weimar 29. Juli–16. Oktober 2011, Jena [2011], S. 69–81.

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log, Nr. 822) dürfte zumindest für viele Ausstellungsbesucher doch Neuigkeitswert gehabt haben, denn Licht aus der Gasleitung war noch recht jung. Unter den Maschinen waren einige echte Neuheiten zu besichtigen, auf die zurückzukommen sein wird. Nur einmal ist ausdrücklich von „modern“ die Rede, ausgerechnet bei einer Perücke von G. Fontaine aus Gera (Katalog, Nr. 785). Viel technisches Innovativpotenzial trug die thüringische Waffenherstellung jener Jahre in sich. Der Waffensaal, im südlichen Anbau gelegen, entwickelte sich wohl zu einer Hauptattraktion der Ausstellung, „denn in der That man könnte meinen, es solle eine große Jagd eröffnet werden, so einladend stehen die Gewehre da“.102 Unübersehbar mit gleich mehreren Anbietern war die sowohl bei Militär- wie Luxuswaffen führende Stadt Suhl vertreten.103 Einige von ihnen errangen Medaillen, z. B. V. Chr. Schilling (Katalog, Nr. 206) „wegen vortrefflich gearbeiteter Militärgewehre verschiedener Konstruktion und schöner Luxuswaffen nach neueren Systemen“ (Bericht, S. 36); so auch Ernst Wilhelm, der seine sämtlichen für die preußische Armee bestimmten Waffen präsentierte: u. a. Kavallerie-, Artillerie- und Entersäbel, dazu englische, peruanische, brasilianische, auch österreichische und hessen-darmstädtische Bajonette – insgesamt nicht weniger als 47 Stück (Katalog, Nr. 208; Bericht, S. 39), womit er offensichtlich die Armeen dieser Staaten ausrüstete. Natürlich räumte ein weiterer Marktführer, Dreyse & Collenbusch aus Sömmerda (Katalog, Nr. 714), einen ersten Preis ab „wegen eines ebenso umfangreichen, als höchst sorgfältig gearbeiteten Sortiments von Munitionsgegenständen für Feuerwaffen der verschiedensten Konstruktion“ (Bericht, S. 35). Da die beiden Firmengründer bereits 1834 getrennte Wege gegangen waren, stellte nur die Familie Kronbiegel-Collenbusch aus, nicht aber ihr nunmehriger Konkurrent Nicolaus Dreyse.104 Weiteres wäre zu nennen, etwa die Produktpalette der hochspezialisierten Glasindustrie im Thüringer Wald, des hochwertiges Instrumentenbaus, der breit gefächerten Porzellanherstellung, der Spielwarenherstellung – alles Branchen, für die Thüringen damals bekannt war oder es wenig später wurde.105 Es

102 A.[dolph] M.[irus], Thüringer Gewerbeausstellung, 4. Spezialbericht vom 22.6., in: Zeitung Deutschland vom 23.6.1861. Eine Abbildung des Waffensaals zeigt Jens Riederer, „…die Ausstellung zwar thunlichst…“ (wie Anm. 16), S. 31. 103 Vgl. dazu kurz Heinrich Müller, Gewehre, Pistolen, Revolver. Hand- und Faustfeuerwaffen vom 14. bis 19. Jahrhundert, Leipzig 1979, S. 159 f. 104 Vgl. Frank Boblenz, „Bete und arbeite für König und Vaterland“. Zur Biographie des Industriellen Johann Nicolaus von Dreyse, in: Hans-Werner Hahn/Werner Greiling/ Klaus Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt/Jena 2001, S. 201–229, hier S. 219 f. 105 Vgl. immer noch Johannes Müller, Die thüringische Industrie. Eine wirtschaftskundliche Darstellung, zugleich ein Beitrag zur Lehre von den Standortfaktoren der Fertigindustrie, Jena 1930, bes. S. 31 f.

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muss der Spezialforschung vorbehalten bleiben, das Niveau der ausgestellten Produkte im Einzelnen technik- und konsumgeschichtlich zu bewerten. Unerlässlich ist jedoch der angekündigte Blick in den bereits erwähnten sog. Maschinensaal, der sich südlich an den Waffensaal anschloss (vgl. Abb. 1). Der Einsatz von Maschinen gilt gemeinhin als unbestechlicher Gradmesser für industriellen Fortschritt. 355 Maschinen im Gesamtwert von 20.000 rt, das entsprach dem Wert eines Viertels aller Ausstellungsstücke, erscheinen auf den ersten Blick vorbildlich. Allerdings waren die wenigstens davon Maschinen in modernem Sinne, wie Ernst Kohl in seinem Bericht freimütig einräumte. Als Ingenieur wusste er natürlich, was Kraftmaschinen sind, künstliche Vorrichtungen zur Verrichtung mechanischer Arbeit. Doch wollte er darunter immer noch auch Instrumente und Werkzeuge verstehen, denn „sie dienen nur zur Verrichtung auch kleinerer Arbeiten durch Menschenkräfte“ (Bericht, S. 54). Mit diesem nicht mehr zeitgemäßen Rückgriff auf den alten Begriff der „machina“ (lat.) ließ sich der Maschinenpark um „Landwirtschaftsmaschinen“ zum Häckseln, Futterschneiden und Kartoffelquetschen, auch um „Dampf-Kaffee-Brennmaschinen“ und Feuerspritzen anreichern (vgl. mit Abbildungen Bericht, S. 64–70). Diese abgerechnet bleiben ganze 14 Maschinen übrig, wovon, wegen der hohen Transportkosten nicht unüblich, acht nur im Modell zu sehen waren, darunter vier „niedliche“ Eisenbahn-Lokomotiven (Bericht, S. 55). Der in Zeitz ansässige C. Lochmann zeigte neben dem Modell einer stationären Dampfmaschine (vgl. Katalog, Nr. 515) auch das Original „einer bei der Neuheit der Erfindung um so mehr anzuerkennenden Gaskraftmaschine“ (Bericht, S. 38). Diese Novität, bei der ein Leuchtgas-Luftgemisch entzündet wurde, war erst seit einem Jahr in Paris im Einsatz und schon als Nachbau in Weimar zu sehen. Mit seinen bis ins Detail exakten Maschinenmodellen habe Lochmann „ein entschiedenes Renommé erlangt“ (ebd., S. 59). Auch bei den in Originalgröße ausgestellten Dampfmaschinen handelte es sich durchweg um sehr kleine Ausführungen, wie die von Alfred Kühn aus Gera mit der geringen Leistung von 4 bis 6 PS sowie die gut konstruierte Hochdruck-Dampfmaschine von Schäde & Comp. aus Zeitz mit 3 PS zum Preis von 325 rt. Bei beiden handelte es sich um noch ganz junge Firmen, wie die Jury hervorhob (Bericht, S. 36 u. 54 f.) (Abb. 4). Anders die bereits seit 1841 in Gera bestehende namhafte Textilmaschinenbauanstalt von Moritz Jahr (1816–1899), bekannt dafür, „die neuesten Erscheinungen im Gebiete des Maschinenwesens in Thüringen einbürgern zu helfen“ (Bericht, S. 57): Hinter dem unscheinbaren Katalogeintrag Nr. 787 verbargen sich zwei teure Dampfmaschinen, eine sog. Lokomobile und eine sog. Kalorische Maschine, beide zusammen im Wert von 2.400 rt.106 Letztere, eine auf 106 Zur Firma Moritz Jahr, eine der ersten für Textilmaschinenbau, vgl. Gera. Geschichte der Stadt in Wort und Bild, hg. v. einem Autorenkollektiv, Berlin 1987, S. 101 und 108.

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Heißluft (300 °C) basierende Konstruktion, hatte von der Londoner Weltausstellung 1851 über die Maschinenfabrik im sächsischen Buckau 1858 den Weg nach Deutschland gefunden und stellte also noch eine absolute Neuheit dar (Abb. 5). Der Hersteller Jahr pries sie als preiswert, einfach zu bedienen und zu warten sowie sehr sparsam im Kohleverbrauch für allerdings nur max. 2 PS (Bericht, S. 57 f.). Von geringer Antriebskraft war auch die Jahrsche Lokomobile, die es zudem auf max. 120 Umdrehungen/min brachte. An diesen kleinen Maschinen lobte man ausnahmslos ihr günstiges Preis-Leistungsverhältnis, das ganz den Anforderungen der thüringischen Wirtschaft entspreche. Ihre Wohlfeilheit und Mobilität mache sie für den Antrieb von Landwirtschaftsmaschinen besonders geeignet. Dies ist ein Hinweis darauf, dass auch von der immer noch starken Landwirtschaft Thüringens maschinelle Impulse ausgegangen sind.107 Zu erwähnen sind zwei Maschinen größerer Bauart. Die von Dr. Georg Keßler in Schkeuditz gebaute Hydraulische Ölpresse verband einmal mehr „bei dem sehr billigen Preis von 475 Thlr. die größte Leistungsfähigkeit mit der äußersten Raumersparniß“ (Bericht, S. 61). Größtes und wertvollstes Stück war die „Vorspinn-Krempel-Maschine“ der Maschinenfabrik Moritz Zwanziger aus Kahla (gegr. 1854). Jedoch konnte die im Detail verbesserte Maschine zum ersten Ausrichten der losen Textilfaser (Krempeln) aus Platzmangel in Weimar gar nicht aufgebaut werden, wie Ernst Kohl einräumen musste (Bericht, S. 63). Freimütig gestand er auch ein, dass die „Maschinenindustrie in Thüringen“ (ebd., S. 54), allein schon wegen des Brennstoffmangels (Kohle), mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Ihre Leistungen seien darum besonders zu würdigen, auch wenn sie noch nicht dem allgemeinen deutschen Standard entsprächen.

6. Die Ausstellung in der statistischen Auswertung und im Fazit Nachdem der Blick bisher vor allem auf einzelnen Ausstellern mit ihren Exponaten lag, soll in einem nächsten Schritt mit übergreifender Statistik ein systematischer Überblick über die Teilnehmer der Ausstellung und ihr Sortiment gewonnen werden. Auf ihrer Einladung hatten die Organisatoren, wie schon 1853 für Gotha, sechs Gruppen vorgegeben, nach denen die eingelieferten Objekte in der Ausstellung sortiert werden sollten. Die tatsächliche Objektfülle gebot in der Aufstellung selbst offenbar eine feinere Untergliederung (vgl. Tab. 3). Auch in seinem im Auftrag des Weimarer Gewerbevereins nachträglich publizierten, „Illustrirten Bericht“ verdoppelte Kohl die Anzahl der Gruppen beinahe, d. h. er unterschied nunmehr elf, die er Hauptabteilungen nannte. Diese 107 Vgl. Marina Moritz/Andreas Stein, erfahren-verändern-beharren. Dorfleben im 19. Jahrhundert, Begleitbuch zur gleichnamigen Dauerausstellung im Museum für Thüringer Volkskunde Erfurt, Erfurt 2001, bes. S. 102.

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orientierten sich weit mehr an gängigen Gewerbebranchen und fassten nur noch benachbarte Gewerbezweige sinnvoll zusammen. Erst diese Verfeinerung, die Sachfremdes trennte, ermöglichte Kohl eine statistische Auswertung, um im Nachhinein Schwer- wie auch Schwachpunkte der Exposition herauszuarbeiten. Nachstehende Tabelle zeigt diese erweiterte Neuordnung in elf Hauptabteilungen mit ihren 30 Klassen, deren Zahl beibehalten worden war. Die Sortierung erfolgt nach Anzahl der ausgestellten Exponate, um die am stärksten vertretenen Branchen zu erkennen: Tabelle 3 Abteilungen sortiert nach Anzahl der ausgestellten Exponate (absolut und in Prozent)108 1. Rohstoffe und Materialwaren (I.) 3.521 (26,0) 2. Manufakturwaren, Tapisserie- und Posamentierarbeiten (III.) 2.438 (18,0) 3. Glas, Porzellan, Steingut, Ton- und Irdenwaren, Holz, Elfenbein, Meerschaum, versch. Fabrikate (IX.) 2.168 (16,0) 4. Metallarbeiten und Metallwaren (VII.) 1.102 (8,1) 5. Schreibmaterialien, Buchbinder- und Portefeuillearbeiten, Buch-, Kupfer-, Stein- und Buntdruck, geografische Lehrmittel (V.) 1.007 (7,4) 6. Mathematische, physikal., horologische, chirurgische, musikal. Instrumente (VIII.) 822 (6,1) 7. Möbel, Tapeten, Korbwaren, Bettfedern, Roßhaare (X.) 683 (5,0) 8. Leder und Lederwaren, Pelzwerk und Haararbeiten (IV.) 609 (4,5) 9. Fertige Kleidungsstücke (VI.) 429 (3,1) 10. Maschinen (II.) 355 (2,8) 11. Fabrikate aus Mineralien zum Bau und zur Dekoration, Kunstgewerbliche Gegenstände, Blumen (XI.) 382 (2,6) Gesamt 13.507 (99,6) Die gegenüber der Ordnung im Einladungsschreiben (vgl. Tab. 1) notwendig gewordene Ausdifferenzierung war gewiss kein Zufall und trug offensichtlich der Fortentwicklung jener Gewerbezweige Rechnung, deren Bedeutung zwischenzeitlich angewachsen war. Sofort sticht ins Auge, dass allein ein Fünftel dessen, was in Weimar zu sehen war, Rohstoffe gewesen sind, also unverarbeitete Ausgangsstoffe, die, wie wir oben gelesen haben, den Reichtum Thüringens ausgemacht haben.109 Die nachfolgenden Gruppen, die Textil-, Glas- und Por108 Errechnet nach Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 16; die einzelnen Hauptgruppen folgen ebd., S. 40 f. 109 Zu einigen rohstoffverarbeitenden Zweigen, die hier außerhalb der Betrachtung bleiben müssen, vgl. Peter Lange, Kleinstaatlichkeit und Wirtschaftsentwicklung in Thüringen, in: Jürgen John (Hg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert,

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zellanherstellung, sind uns als typisch thüringische Gewerbe vertraut. In einigen Zweigen der Textilproduktion, namentlich Wollwaren, stehe Thüringen im Deutschen Zollverein obenan (Bericht, S. 71). Tabelle 4 Hauptabteilungen sortiert nach dem Wert der Ausstellungsstücke (absolut und in Prozent)110 Hauptabteilung mit (Nr.)

Wert der Stücke in rt absol.

Maschinen (II.)

20.131 (1.)

Wert je Stück in rt absol. 56,7 (1.)

Metallarbeiten und Metallwaren (VII.)

12.915 (2.)

11,7 (2.)

1.102

Glas, Porzellan, Steingut, Ton etc. (IX.)

12.044 (3.)

5,5 (4.)

2.168

Manufakturwaren etc. (III.)

11.796 (4.)

4,8 (5.)

2.438

Instrumente (math., physik.) etc. (VIII.)

7.350 (5.)

8,9 (3.)

822

Schreibmaterialien, Druck etc. (V.)

5.637 (6.)

5,6 (7.)

1.007

Leder und Lederwaren etc. (IV.)

3.397 (7.)

5,6 (8.)

609

Fabrikate zum Bau u. Dekorat. etc. (XI.)

2.866 (8.)

7,5 (6.)

382

Rohstoffe und Materialwaren (I.)

2.268 (9.)

1,55 (11.)

3.52

Möbel, Tapete, Korbwaren etc. (X.)

1.302 (10.)

1,9 (10.)

683

Fertige Kleidungsstücke (VI.)

1.118 (11.)

2,6 (9.)

420

Summe

80.824

Ø 12,2

13.507

Anzahl der Stücke absol. 355

Auch in den mit einem einstelligen Prozentanteil vertretenen Branchen der Metallwaren, hier vor allem Waffen, dazu Druck und Papier sowie Instrumentenbau, genoss Thüringen einen guten Ruf.111 Insgesamt scheint die Gewerbeausstellung Stärken und Spezifika der damaligen Wirtschaft einigermaßen Weimar/Köln/Wien 1994, S. 193–203. 110 Nach Kohl, Bericht (wie Anm. 15), S. 16 f. 111 Vgl. Falk Burkhardt, Gewerbe, Industrie und Industrialisierung im 19. Jahrhundert in den thüringischen Residenzen, in: Konrad Scheurmann/Jördis Frank (Hg.), neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen, Essays, Mainz 2004, S. 425–444.

138

Jens Riederer

repräsentiert zu haben, übrigens auch, was die geringe Anzahl ausgestellter Maschinen betraf. Diese mit 355 Stück kleinste Gruppe machte wie erwähnt ein Viertel des Gesamtwertes der Ausstellung aus (vgl. Tab. 4). Hier schlugen die erwähnt wenigen Energiemaschinen, obwohl keineswegs übermäßig teuer, voll zu Buche. Mit deutlichem Abstand, aber immerhin noch mit einem zweistelligen Stückwert, folgen die Metallwaren (vor allem Waffen), dann der Instrumentenbau, dessen hoch spezialisierte Produkte ebenfalls ihren Preis hatten. Die prinzipiell weitgehende Übereinstimmung der Rangfolge der Gewerbe zueinander hinsichtlich Stückzahl und Stückwert spricht für eine gewisse Ausgewogenheit ihrer Repräsentanz auf der Ausstellung. Allein der geringe Stückwert der gerade einmal 420 fertigen Kleidungsstücke legt nahe, dass es sich fast ausschließlich um einfache Heimarbeiten gehandelt haben dürfte. Zu einer „Gewerbe- und Industrie-Ausstellung“, wie in Preußen, Sachsen und Württemberg längst üblich, war man in Thüringen noch nicht fähig. Dazu waren die Kleinstaaten auch ökonomisch viel zu unterschiedlich strukturiert und entwickelt. Dies spiegelte auch ihre Beteiligung in Weimar, die erhebliche Ungleichgewichte aufwies (vgl. Tab. 5). Die meisten Exponate, über ein Viertel, entsandte der auch im innerpreußischen Maßstab gewerblich fortgeschrittene Regierungsbezirk Erfurt. Zusammen mit dem Regierungsbezirk Merseburg stellte das „preußische Thüringen“ sogar über ein Drittel aller Exponate (35,4 %). Gefolgt wurde es vom Gastgeberland Sachsen-Weimar-Eisenach, das als einziges alle 30 Gewerbeklassen bestückt und insgesamt den höchsten Wert gestellt hatte. Die übrigen sieben Staaten standen mit einem Beteiligungsanteil unter 10 % deutlich zurück, bis hinab zu Reuß ä. L. (Greiz) mit gerade einmal 90 Ausstellungsstücken (0,6 %). Diese allerdings hatten den mit Abstand höchsten Durchschnittswert, fast doppelt so hoch wie Sachsen-Weimar, gefolgt von Reuß j. L. Mit nur wenigen hochwertigen Kraftmaschinen hatten die Reußen einen vor allem qualitativen Beitrag geleistet. Das Organisationskomitee anerkannte dies sehr wohl, hatte sich aber neben den gezeigten Maschinen wohl doch mehr Stoffproben aus der hochentwickelten ostthüringischen Textilregion erhofft. Nur so ist zu erklären, dass Ernst Kohl in seinem Bericht vorrechnete, das Verhältnis von Ausstellern zur Landesbevölkerung hätte bei Reuß j. L. nur 1:1.300 und bei Reuß ä. L. gar nur 1:3.370 betragen, gegenüber einem Gesamtdurchschnitt aller Teilnehmerländer von 1:610 (Bericht, S. 18). Auch wenn man die völlig unterschiedlichen Qualitätsniveaus der einzelnen Branchen in Rechnung stellt – die Einzelfertigung eines Mikroskops erforderte ganz andere Fähigkeiten als die Massenherstellung eines Tonkrugs – kann man mit Kohl zu dem Schluss kommen, dass die einzelnen Teilnehmerländer doch eher ungleichgewichtig präsent waren.

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Die Zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung 1861

Tabelle 5 Teilnehmerstaaten sortiert nach Anzahl der Ausstellungsstücke sowie deren Wert (absolut und in Prozent)112 Staat bzw. Regierungsbezirk

Anzahl der Ausst.-Stücke absolut (in %)

Wert der Ausst.-Stücke in rt absolut

Wert je Ausst.Stück in rt

Reg.bez. Erfurt

3.686 (27,3)

15.435 (2.)

4,2 (8.)

S.-Weimar-Eisenach

3.084 (22,8)

23.971 (1.)

7,8 (4.)

S.-Coburg-Gotha

1.163 (8,6)

7.221 (5.)

6,2 (5.)

Schwarzburg-Rudolstadt

1.129 (8,3)

2.830 (8.)

2,5 (10.)

Reg.bez. Merseburg

1.097 (8,1)

9.696 (3.)

8,8 (3.)

S.-Altenburg

998 (7,3)

4.953 (6.)

4,9 (7.)

Reuß j. Linie (Gera)

820 (6,0)

8.655 (4.)

10,5 (2.)

Schwarzburg-Sondershausen

803 (5,9)

4.730 (7.)

5,8 (6.)

S.-Meiningen

547 (4,0)

1.881 (9.)

3,4 (9.)

Reuß ä. Linie (Greiz)

90 (0,6)

1.317 (10.)

14,6 (1.)

Kurhessen

90 (0,6)

135 (11.)

1,5 (11.)

Summe

13.507 (99,5)

80.824

Ø 6,4

Als die Ausstellung nach 44 Tagen am 22. Juli 1861 ihre Pforten schloss, hatten sie ca. 35.000 Menschen besucht, im Durchschnitt knapp 800 täglich (Bericht, S. 23 und 34). Gegenüber den 28.000 Besuchern der Gothaer Ausstellung stellte das zwar eine Steigerung von 25 % dar, die aber doch hinter den Erwartungen 112 Wie Anm. 111.

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Jens Riederer

zurückgeblieben war. Mit Hilfe der Eisenbahn hatte man sich mehr Zuspruch gerade auch außerhalb von Thüringen erhofft und dafür bei der preußischen Eisenbahndirektion Erfurt vorab 12.000 Billets drucken lassen. Dass die Resonanz geringer als erwartet ausfiel, lastete man auch der Presse an. Zwar hätten die Thüringer Zeitungen durch kostenloses Einrücken von Einladungen und Anzeigen im Vorfeld hilfreiche Unterstützung geleistet, es dann aber an aktiver Berichterstattung über die Ausstellung selbst fehlen lassen. Kohl dankte verschiedenen überregionalen Zeitungen, verhehlte aber nicht seine Enttäuschung über das insgesamt zu geringe Presseecho vor allem auch über Thüringen hinaus, was besonders schmerzte. Die von Ernst Kohl dennoch nicht ohne Stolz vorgerechneten Zahlen können über qualitative Defizite nicht hinwegtäuschen. Er selbst beklagte, dass der Blick auf die „industrielle Thätigkeit der gesegneten thüringer Länder“ für das einheimische wie auswärtige Publikum weit günstiger ausgefallen wäre, „wenn ihm bei dieser Ausstellung gleichzeitig Thüringens Großindustrie zur Anschauung gebracht worden wäre“ (Bericht, S. 34). Offen kritisierte er, dass die Strumpfwaren- wie auch Spielwarenfabrikation „nur einseitig und sehr unvollständig vertreten gewesen“ (ebd.) ist. Gemeint waren in erster Linie die Apoldaer Textilfabrikanten und die Sonneberger Handelshäuser mit ihren in Heimarbeit hergestellten Spielwaren, die in der Tat auf der Ausstellung gefehlt hatten.113 Nach Meinung Kohls, der für die Organisatoren sprach, hätten sich diese exportorientierten Gewerbe, auch wenn ihre Absatzgebiete außerhalb Thüringens lagen, als zur heimischen Thüringer Wirtschaft gehörig in Weimar bekennen sollen. In seiner Bilanz kam Kohl nicht umhin, die Kritik aus den eigenen Reihen aus dem Vorfeld noch einmal aufzunehmen. Zunächst räumte er ein, dass je größer das Einzugsgebiet von Gewerbeausstellungen sei, sie desto mehr „zum Aufschwunge der Industrie“ (Bericht, S. 33) beitrügen. Aber, fährt er fort, daneben hätten auch Ausstellungen kleinerer Gebiete ihre „hohe industrielle Bedeutung“. Hier lerne „selbst das einfachste Gewerbe, da es dabei zu dem lebendigsten Wetteifer Anlaß bekommt, es Andern an Güte und Wohlfeilheit der Erzeugnisse zuvor zu thun“ (ebd.). Die Gegenüberstellung mit unmittelbaren Konkurrenten in der Nähe wirke dem „Rückgang oder Verkümmerung einzelner Gewerbe“ an kleinen Orten, denen sonst der Vergleich fehle, entgegen. Dies verrät eine Binnensicht, die offensichtlich ganz auf die Thüringer Verhältnisse abstellte. Hier habe eine Gewerbeausstellung zuerst die Kleinen der Branchen in der Fläche zu nutzen, ja sie vor dem Zurückbleiben zu bewahren. Nicht primär 113 Zu Apolda vgl. Hermann Lehmann, Die Wollphantasiewaren-Industrie im Nordöstlichen Thüringen, in: Die deutsche Hausindustrie, Bd. 2, Leipzig 1889, S. 1–73, bes. S. 19 f.; zu Sonneberg Emanuel Sax, Die Hausindustrie in Thüringen. Wirthschaftsgeschichtliche Studien, T. 1: Das Meininger Oberland, Jena 1882, bes. S. 27 f.

Die Zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung 1861

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die Beförderung von Spitzenqualität sei das Ziel, sondern die Hebung des allgemeinen Qualitätsniveaus. Nicht mit Auswärtigen stehe man in Wettbewerb, sondern mit dem einheimischen Nachbarn, um voneinander zu lernen, wie sich gut und dennoch preiswert produzieren lasse. Das alles zielte noch ganz auf das „ehrbare Handwerk“, das nach den Berechnungen des Ökonomen Gustav Schmoller seinen Anteil an der Thüringer Gesamtbevölkerung von 3,1 % (1846) auf 8,4 % (1861) mehr als verdoppelt hatte. Nach seiner damals aktuellen Berechnung galt: „Thüringen hatte 1846 am wenigsten Handwerker, 1861 am meisten.“114 Mit dem Jahr 1861 hat die Zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung offensichtlich an der Schwelle zu einer sich intensivierenden Industrialisierung stattgefunden, an der maßgebliche Industrien in eine neue Entwicklungsphase eintraten.115 Als Ausstellung des Übergangs bildete sie noch sichtbar mehr Traditionelles als Innovatives ab.116 Trotz überbordender Objektfülle konnte sie auch kein „möglichst vollständiges Bild der gesammten gewerblichen Thätigkeit und des gewerblichen Fortschritts“ herstellen.117 Andererseits, die immer wieder als thüringisches Charakteristikum herausgestellte „außerordentlich breitgefächerte Mannigfaltigkeit des Wirtschaftslebens“118 hat die Gewerbeausstellung produktseitig in ganz besonderer Weise zur Anschauung gebracht. Gelungen war immerhin so etwas wie eine repräsentative „Gesammt-Übersicht“.119 Angesichts der Tatsache, dass es sich erst um die zweite Gewerbeausstellung für ganz Thüringen gehandelt hat, konnte man eine wirkliche Leistungsschau noch nicht erwarten, die eben auch der Stand seiner Wirtschaft schwerlich hergab. So bekamen die Besucher vor allem einen breiten Querschnitt über den Durchschnitt zu sehen, wie er typisch war für eine frühe Ausstellungsphase. Trotz einiger Enttäuschungen, über die Ernst Kohl mit großer Offenheit berichtete, zog er, wie nicht anders zu erwarten, insgesamt dennoch ein positives Resümee und stilisierte die Ausstellung zur historischen Zäsur. Sie sei umso notwendiger gewesen „gerade jetzt an der Schwelle der durch Einführung der Gewerbefreiheit bedingten neuen gewerblichen Aera Thüringens“ (Bericht, 114 Gustav Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert [Halle 1870] mit einer Vorbemerkung von Wilhelm Treue, Hildesheim/New York 1975, S. 299. 115 Vgl. dezidiert für Greiz Beck, Die Wirtschaftliche Entwicklung (wie Anm. 93), S. 123 f. 116 So auch in ihrer Bildbeschreibung des abgebildeten Maschinensaals (hier Abb. 4) Sigrid und Wolfgang Jacobeit, Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes 1810–1900, Leipzig/Jena/Berlin 1987, S. 77. 117 Wie Anm. 58. 118 Burkhardt, Grundzüge ostthüringischer Wirtschaftsentwicklung (wie Anm. 90), S. 195; so auch Peter Lange, Die Industrialisierung Thüringens, in: Dünkel/Christoph (Hg.), Erlebnis Industriekultur (wie Anm. 16), S. 19–28, hier S. 23. 119 Mirus, Referate (wie Anm. 13), S. 3.

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S. 34). Heute wissen wir, dass der Kampf um die gewerbliche und persönliche Freizügigkeit genau in jenen Jahren entschieden worden ist.120 Das im Vorfeld der Ausstellung wie in ihrer Auswertung gleichermaßen immer wieder beschworene „Prinzip der thunlichsten Selbsthilfe“ (ebd.) klang in diesem Zusammenhang wie ein Nachhall zum 1848er-Schlagwort von der „Selbstregierung des freien Bürgers“, das während der Revolution auch in Thüringen die Runde gemacht hatte, hier besonders oft verbunden mit der Forderung nach nationaler Freiheit und Einheit. Diese Forderung war schon 1848/49 nicht allein politisch, sondern ebenso ökonomisch gemeint, weil gerade die thüringische Wirtschaft sich Vorteile von der Überwindung der Zersplitterung versprochen hatte.121 Freilich wurde das durch die Gewerbeausstellung erfolgreich demonstrierte Selbsthilfe-Prinzip der freien Wirtschaft – anders als in der Revolution – nicht gegen die Behörden, sondern im Einvernehmen mit diesen praktiziert.122 Kann die Ausstellung in materiell-technischer Hinsicht nur bedingt als ein Erfolg gelten, so ist ihre symbolische Wirkung nicht zu unterschätzen. Organisiert nur mit geringster staatlicher Unterstützung wirkte sie als ein starkes Signal in Richtung der Befürworter der Gewerbefreiheit. Dies zeigte sich in den Beschlüssen des Zweiten thüringischen Gewerbetages, der Mitte Juli 1861, noch vor Beendigung der Ausstellung, in Weimar tagte. An erster Stelle stand die Forderung nach Aufhebung des Zunft- und Innungszwanges und die Herstellung weitreichender Freizügigkeit über Staatengrenzen hinweg.123 Wir hatten gesehen, wie groß der Anteil Erfurts gewesen war, ohne den die Ausstellung kaum hätte stattfinden können. Dass die zweite thüringische Gewerbeausstellung, wie übrigens auch die erste, im industriell fortgeschrittenen Erfurt selbst hätte stattfinden können, darf angesichts seiner Sonderstellung als politisch zu Preußen gehörende Stadt in Thüringen indes bezweifelt werden. Dafür kam nur eine Stadt in einem der thüringischen Kleinstaaten in Frage. Erstaunlicherweise übernahm das oft der wirtschaftlichen Rückständigkeit verdächtigte Weimar diese Rolle. Sehr wohl waren von Erfurt bereits vor 1848 maßgebliche Initiativen ausgegangen, um sich als thüringische Wirtschaft 120 Zum 1862 in Weimar gegründeten „Deutschen Handwerkebund“ gegen Gewerbefreiheit vgl. Möslein, Die Gewerbegesetzgebung der Thüringer Herzogtümer (wie Anm. 53), S. 70 f. 121 Vgl. Hans-Werner Hahn, Die „Selbstregierung“ des „freien Bürgers“. Thüringen und die Revolution von 1848/49, in: Parlamente und Parlamentarier Thüringens in der Revolution von 1848/49, hg. v. Thüringer Landtag, Weimar 1998, S. 11–33, hier S. 26. 122 Zur tendenziell wohlwollenden bis duldenden Wirtschaftspolitik in den ernestinischen Staaten vgl. Hans-Werner Hahn, Ernestinische Monarchen und industrielle Welt, in: ZThG 71 (2017), S. 167–187. 123 Vgl. Der zweite thüringische Gewerbetag, abgehalten in Weimar am 13. und 14. Juli 1861 (Druck), S. 52, hier nach dem eingehefteten Exemplar in StadtAW, HA II-16-24.

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gemeinsamer Interessen bewusst zu werden, doch als „natürlicher Mittelpunkt dieser Interessen“124 kam Erfurt erst 1894 als Veranstalter der „Großen Thüringischen Gewerbe- und Industrieausstellung“, der dritten ihrer Art, zum Zuge.

7. Anhang

Abbildung 1 Eisenbahn-Ingenieur Ernst Kohl

124 Hahn, Thüringischer Zollverein und regionale Wirtschaftsinteressen (wie Anm. 27), S. 87; das Folgende wie Anm. 11.

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Abbildung 2 Lageplan der Gewerbeausstellung 1861 im Schießhaus mit Anbauten und Nebengebäuden

Die Zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung 1861

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Abbildung 3 Thüringer Ofen und Berliner Ofen der Weimarer Firma J. F. Schmidt

Abbildung 4 Maschinensaal mit den kleinen Dampfmaschinen von A. Kühn und Schäde & Co. aus Zeitz im Hintergrund

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Abbildung 5 Kalorische Maschine vom Moritz Jahr aus Gera

Hans-Werner Hahn

Staat und Wirtschaft in der Industrialisierung Thüringens

Über die Rolle des Staates im Industrialisierungsprozess ist in der Forschung viel diskutiert worden. Dabei ist weitgehend unbestritten, dass die deutsche Industrialisierung kein maßgeblich vom Staat gesteuerter und betriebener Vorgang war. Dies galt selbst für die wirtschaftspolitisch besonders aktiven Staaten wie Preußen oder Sachsen. Vielmehr betonen Historiker heute mehr die eigenständige Dynamik marktwirtschaftlicher Entwicklungen und verweisen bei der Frage nach den treibenden Kräften vor allem auf eine zunehmend selbstbewusster auftretende Unternehmerschaft, die ihre Interessen gerade in der frühen Phase der Industrialisierung nicht selten sogar gegen staatliche Regelungen durchsetzen musste.1 Auf der anderen Seite aber wäre es übertrieben, die Rolle der staatlich-bürokratischen Eliten bei der Ingangsetzung, Aufrechterhaltung und Moderierung industrieller Wachstumsprozesse als völlig unbedeutend darzustellen. Die deutsche Industrialisierung war in vielen Bereichen schon deshalb tief verwoben mit den Aktivitäten des Staates, weil der institutionelle Wandel, also die Anpassung der rechtlichen und administrativen Rahmenbedingungen an die Erfordernisse eines marktwirtschaftlichen Systems, eine wichtige Voraussetzung für neue wirtschaftliche Entwicklungen darstellte.2 Durch die Regelung der jeweiligen Eigentums- und Verfügungsrechte an Gütern und Dienstleistungen konnte der Staat den Auf- und Ausbau effizienter Märkte befördern und die Wirtschaftsentwicklung damit ebenso anstoßen wie durch den Aufbau der Verkehrsinfrastruktur oder die Anpassung des Bildungssektors an die Erfordernisse des Industriezeitalters. Folglich wird der Rolle des Staates in vielen Untersuchungen zum deutschen Industrialisierungsprozess auch weiterhin Beachtung geschenkt. Dies gilt vor allem für Preußen und das Königreich Sach1

2

Zum Forschungsstand Rudolf Boch, Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 70), München 2004, S. 55–77; Hans-Werner Hahn, Die Industrielle Revolution in Deutschland (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 52), München ³2011, S. 76–88. Grundlegend hierzu Douglass C. North, Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988; Clemens Wischermann/Anne Nieberding, Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004.

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sen, aber etwa auch für Württemberg.3 Dagegen sind die Rolle des Staates und die Aktivitäten einzelner Monarchen im Industrialisierungsprozess deutscher Kleinstaaten bislang nur wenig erforscht worden.4 Dies betrifft gerade die thüringischen Staaten, die etwa in dem von Rudolf Boch 2004 vorgelegten Forschungsüberblick zum Verhältnis von „Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert“ aufgrund fehlender einschlägiger Untersuchungen gar nicht erwähnt werden. Die Forschungslücke dürfte auch auf das lange geltende Pauschalurteil zurückzuführen sein, nach dem den kleinen Staaten eigentlich alle Voraussetzungen fehlten, um industrielle Wachstumsprozesse erfolgreich zu begleiten und zu fördern. Vor allem Friedrich List hat im frühen 19. Jahrhundert immer wieder auf den Zusammenhang von politischer Zersplitterung und wirtschaftlicher Rückständigkeit verwiesen.5 Aus Sicht vieler Zeitgenossen blockierte der Kleinstaat nicht nur die politische Einigung Deutschlands, sondern auch den wirtschaftlichen Aufstieg der Nation. So schrieb der nationalliberale Reichstagsabgeordnete und Publizist Karl Braun über den Kleinstaat: Seine Ohnmacht wurde darin offenbar, als der moderne Verkehr Anstalten erforderte, die innerhalb der künstlichen Schranken bunter Vielherrschaft nicht errichtet werden konnten. Dampfmaschinen, Eisenbahnen und Telegraphen haben, weil sie Blick und Willen für große Beziehungen des Staatslebens erfordern, die meisten unserer Kleinstaaten in nicht geringerem Maße zerstört, wie die geräuschvollen Vorgänge, die man sonst unter dem Begriff großer geschichtlicher Aktionen begreift.6

Auf der anderen Seite aber zeigt gerade das Beispiel der Thüringer Kleinstaaten, dass sich auch unter solchen Strukturen erfolgreiche Industrialisierungsprozesse vollziehen konnten. Die lange ganz auf den deutschen Nationalstaat und seine Führungsmacht Preußen fixierte Wirtschaftsgeschichtsschreibung hat dem bislang aber wenig Beachtung geschenkt. Und auch die Frage, inwieweit die 3

Zu Preußen vgl. etwa Wolfram Fischer/Adelheid Simsch, Industrialisierung in Preußen. Eine staatliche Veranstaltung?, in: Werner Süss (Hg.), Übergänge. Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit, Festschrift für Helmuth G. Bütow, Berlin 1989, S. 103–122; Eric D. Brose, The Politics of Technological Change in Prussia. Out of the Shadow of Antiquity 1809–1848, Princeton 1993; zu Sachsen und Württemberg Hubert Kiesewetter, Staat und regionale Industrialisierung. Württemberg und Sachsen im 19. Jahrhundert, in: ders./Rainer Fremdling (Hg.), Staat, Region und Industrialisierung, Ostfildern 1985, S. 108–132. 4 Eine der wenigen Ausnahmen bildet Stefan Meyer, Georg Wilhelm Fürst zu Schaumburg-Lippe (1784–1860). Absolutistischer Monarch und Großunternehmer an der Schwelle zum Industriezeitalter, Bielefeld 2007. 5 Zur ökonomisch motivierten Kleinstaatenkritik vgl. Theodor Schieder, Partikularismus und nationales Bewusstsein im Denken des Vormärz, in: Werner Conze (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848, Stuttgart ²1970, S. 9–38. 6 Karl Braun, Verkehrte Verkehrspolitik, in: ders., Bilder aus der deutschen Kleinstaaterei, Bd. 5, Hannover 1881, S. 71–89, hier S. 89.

Staat und Wirtschaft in der Industrialisierung Thüringens

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staatlichen Strukturen und das Handeln staatlicher Akteure den wirtschaftlichen Wandel förderten oder hemmten, ist in Bezug auf den Raum des heutigen Thüringens bislang zu wenig verfolgt worden.7 Entsprechende Untersuchungen erscheinen aber vor allem aus zwei Gründen sinnvoll zu sein: Zum einen ermöglichen sie weiterführende Aussagen über die Leistungskraft des Kleinstaates. Zum anderen eröffnet der Blick auf diese in weiten Teilen zu Preußen gehörende mitteldeutsche Region auch den unmittelbaren Vergleich mit Ansätzen und Möglichkeiten eines großen Staates. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Zeit zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhundert, als auch die kleinen Staaten vor neuen wirtschaftlichen Herausforderungen standen, und der Zeit bis zur Reichsgründung, mit der dann der eigene wirtschaftspolitische Handlungsspielraum der Kleinstaaten doch deutlich schrumpfte. Angesichts einer wachsenden Bevölkerung, einer angespannten Lage der Staatsfinanzen und wachsender Kosten der Hofhaltung mussten auch die kleinen Fürstenstaaten Thüringens im 18. Jahrhundert an der Steigerung des eigenen Wirtschaftspotentials interessiert sein. Im Zuge der merkantilistischen, beziehungsweise kameralistischen Politik der Landesherren strebte man Verbesserungen in der Landwirtschaft an, die in Thüringen noch immer die meisten Menschen ernährte. Zugleich wurde versucht, die gewerbliche Wirtschaft durch neue staatliche oder vom Staat privilegierte Unternehmen zu fördern, etwa durch die Gründung von Porzellanmanufakturen.8 Durch die zahlreichen Unternehmen der Porzellanherstellung wurden zwar Prozesse angestoßen, die noch im 19. Jahrhundert der wirtschaftlichen Entwicklung Impulse gaben. Auf der anderen Seite zeigt aber gerade das Beispiel Sachsen-Weimars, dass die merkantilistische Wirtschaftspolitik oft rasch an ihre Grenzen stieß. Goethes Versuche einer Wiederingangsetzung des Ilmenauer Bergbaus scheiterten trotz erheblicher staatlicher Kapitalzuschüsse. Porzellan- und Textilmanufakturen litten immer wieder unter Absatzkrisen, und die Versuche einer intensiveren wirtschaftlichen Binnenintegration liefen sich nur zu oft an den komplizierten Staats- und Verwaltungsgrenzen fest. Trotz erster vorsichtiger Liberalisierungstendenzen bot die Weimarer Gewerbepolitik – und das gilt wohl auch für die übrigen Kleinstaaten – noch eher das Bild einer traditionellen Nahrungsvor-

7

8

Knappe Hinweise finden sich bei Peter Lange, Kleinstaatlichkeit und Wirtschaftsentwicklung in Thüringen, in: Jürgen John (Hg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 187–204 und Hans-Werner Hahn, Deutsche Kleinstaaterei und Industrialisierung. Überlegungen zur Rolle kleiner Staaten im Industrialisierungsprozess am Beispiel des Fürstentums Reuß älterer Linie, in: Werner Greiling/Hagen Rüster (Hg.), Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum, Jena 2013, S. 187–192. Vgl. die Beiträge in: Porzellanland Thüringen. 250 Jahre Porzellan aus Thüringen, hg. v. Museumsverband Thüringen, Jena 2010.

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sorge und war damit von einem neuen, marktwirtschaftlich orientierten Konzept noch weit entfernt.9 Mit der Französischen Revolution und den politischen Veränderungen des Jahres 1806 setzten aber auch in den thüringischen Gebieten neue Debatten und Entwicklungen ein. In den nördlichen Gebieten Thüringens, die wie die ehemaligen Reichsstädte Nordhausen und Mühlhausen nun zum 1807 geschaffenen Königreich Westfalen gehörten, wurde das alte Gewerberecht zugunsten der Gewerbefreiheit aufgehoben und auch den zu Staatsbürgern emanzipierten Juden freies Niederlassungs- und Gewerberecht gewährt.10 Bald kamen auch in den fortbestehenden Kleinstaaten Forderungen nach einer grundlegenden Reform der traditionellen Zunftverhältnisse auf. Gedrängt von aufstrebenden Industriellen wie dem Eisenacher Textilfabrikanten Eichel diskutierte man auch in der Weimarer Staatsverwaltung über die Einführung der Gewerbefreiheit und versuchte zugleich, auch andere ernestinische Staaten wie Sachsen-Gotha in die Reform einzubeziehen.11 Am Ende scheiterte eine große Lösung, und selbst die einzelstaatliche Gesetzgebung Sachsen-Weimars ging nicht jenen Weg der Liberalisierung, den Westfalen und Preußen zur gleichen Zeit mit der Gewerbefreiheit beschritten. Das neue Zunftgesetz von 1821 bestätigte die Existenz der Zünfte und viele ihrer Rechte. Mit der Forderung, dass die Innungen die Moralität und das Ehrgefühl der Handwerker, deutsche Redlichkeit und den Gemeinsinn fördern sollten, knüpfte man auch noch einmal an ein altständisches, sozialkonservatives Vokabular an. Dies konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Gesetz auch Anpassungen an eine neue Realität vollzog. Es gestatte den Gewerbetreibenden letztlich mehr Freiheit bei der Ausübung ihres Gewerbes und erleichterte durch das Konzessionswesen zugleich die Gründung von Manufakturen und Fabriken.12 Diese Entscheidung für einen mittleren Weg zwischen Tradition und Moderne, der das alte Handwerk nicht schlagartig einem völlig freien Markt aussetzen, zugleich aber neue Entwicklungen nicht blockieren wollte, hing mit zwei Faktoren zusammen. Erstens leisteten die Innungen des reich gegliederten Thüringer Handwerks lange Widerstand gegen eine völlige Liberalisierung des Gewerbe9

Ausführlich hierzu Marcus Ventzke, Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach 1775– 1783. Ein Modellfall aufgeklärter Herrschaft?, Köln 2004, S. 191–289. 10 Zur Gewerbepolitik Jan Ziekow, Freiheit und Bindung des Gewerbes, Berlin 1992, S. 396 f.; zur Judenemanzipation Helmut Berding, Die Emanzipation der Juden im Königreich Westfalen (1807–1813), in: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983) S. 23–50. 11 Ausführlich hierzu jetzt Gerhard Müller (Bearb.), Thüringische Staaten. Sachsen-Weimar-Eisenach 1806–1813 (Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, 9), hg. v. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften durch Hans-Werner Hahn, Berlin/München/Boston 2015, S. 451–457. 12 Stephan Faulwetter, Von der Zunft zur Handelskammer. Zur Entwicklung des Gewerberechts in den thüringischen Staaten, Frankfurt am Main 2011, S. 172–195.

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rechts. Dies zeigte nicht zuletzt die auch in Thüringen stark hervortretende Handwerkerbewegung des Jahres 1848, die sich klar gegen Gewerbefreiheit und Niederlassungsrecht positionierte. Zum anderen betrachteten aber offenbar auch die Staatsführungen eine forcierte Industrialisierung zunächst noch nicht als das Heilmittel aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme.13 Der Weimarer Herzog Carl August hatte sich zwar schon früh mit den neuen Techniken beschäftigt. 1790 besuchte er gemeinsam mit Goethe das schlesische Tarnowitz, um sich Dampfmaschinen anzuschauen und ihre Brauchbarkeit für den Ilmenauer Bergbau zu prüfen. Beide erkannten, dass mit den Maschinen ein gewaltiger Wandel des Wirtschaftslebens einhergehen würde und dieser Prozess wohl auch nicht aufzuhalten war. Goethe hat dieses Gefühl in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ wie folgt beschrieben: „Das überhand nehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich. Es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam, aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.“14 Und als Carl August im Sommer 1814 in England weilte, bestaunte er die großen Werkshallen und die in neuen Arbeitsprozessen gefertigten qualitätsvollen Massenwaren, welche die englische Industrie auf den Markt warf. Was die Mechanik betreffe, so schrieb er an Goethe, sei England „das wahre Paradies“. Aber der Weimarer Fürst thematisierte mit dem Verweis auf die Zustände in den rasch expandierenden Industriestädten und die rauchenden Feuerschlünde auch die Schattenseiten des neuen Wirtschaftssystems: „Die Sonne wird davon meilenweit verdunkelt, und die ganze Gegend wird mit einem schwarzen Staube, dem Niederschlage dieser Räuche, bedeckt.“15 Diese Erfahrungen führten bei manchen Monarchen zu einer vorsichtigen Haltung gegenüber einer raschen Industrialisierung, und die meisten wollten zumindest die eigene Residenzstadt von entsprechenden Fabriken verschonen.16 Ungeachtet solcher Skepsis schritt der Aufbau des Fabriksystems aber auch in den Thüringer Kleinstaaten schon vor 1850 voran. Entscheidend waren freilich nicht staatliche Initiativen, sondern das Wirken von Unternehmerpionieren. Inwieweit die vormodernen Relikte in der Gewerbeordnung oder auch in den städtischen Niederlassungsbestimmungen, die in den Thüringer Kleinstaaten erst in den 1860er Jahren durch die jetzt erfolgte Einführung der Gewerbefrei13 Vgl. hierzu Hans-Werner Hahn, Ernestinische Monarchen und industrielle Welt, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 71 (2017), S. 167–187. 14 Zitiert nach Wolfgang Hädecke, Poeten und Maschinen. Deutsche Dichter als Zeugen der Industrialisierung, München/Wien 1993, S. 115. 15 Zitiert nach Volker Ebersbach, Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Goethes Herzog und Freund, Köln 1998, S. 212 f. 16 Zur Industrieentwicklung in den Residenzstädten vgl. Falk Burkhardt, Gewerbe, Industrie und Industrialisierung in den thüringischen Residenzen, in: Konrad Scheurmann/ Jördis Frank (Hg.), neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen, Essays, Mainz 2004, S. 425–444.

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heit endgültig wegfielen, den Aufbau einer modernen Gewerbewirtschaft verzögert haben, bedarf einer umfassenderen Prüfung. Dass sich bei Ansiedlungen zukunftsträchtiger Gewerbe durch die traditionellen Gewerbe- und Bürgerrechtsordnungen in der Thüringer Kleinstaatenwelt manche Probleme ergeben konnten, zeigt das Beispiel des aus Sonneberg stammenden talentierten Feinmechanikers Moritz Hensoldt.17 Inwieweit die Ansiedlung neuer Gewerbe in den preußischen Gebieten Thüringens einfacher war als in den Kleinstaaten, müsste ebenfalls noch genauer hinterfragt werden. Allerdings existierten auch in der preußischen Provinz Sachsen, zu der die Thüringer Gebiete gehörten, bis Mitte des 19. Jahrhunderts teilweise noch alte Ordnungen.18 Preußen verzichtete bis in die 1840er Jahre darauf, seine Gewerbeordnung von 1811 auch in den neu erworbenen Gebieten einzuführen und ließ deshalb vor Ort die vorgefundenen Gesetze bis zur neuen Gewerbegesetzgebung von 1845 weiter gelten. Folglich galt in Mühlhausen Gewerbefreiheit und die Gleichstellung der Juden, während im benachbarten Langensalza kursächsisches Recht noch lange fortbestand. Im Verwaltungshandeln selbst zeichneten sich die preußischen Beamten dann aber eher durch Pragmatismus und wirtschaftspolitische Liberalität aus. Dies zeigt sich etwa bei Niederlassungen jüdischer Familien in Erfurt und Nordhausen, die vom städtischen Bürgertum anfangs noch bekämpft, von den Behörden aus wirtschaftlichen Gründen aber durchgesetzt wurden. Hiervon profitierte unter anderem die Familie von Levy Benary, die später für den Erfurter Gartenbau eine wichtige Rolle spielte.19 In Bezug auf die Wirtschaftsgesetzgebung kann man somit festhalten, dass die thüringischen Kleinstaaten im Vergleich zu Preußen, das in den 1840er Jahren durch neue Gesetze wirtschaftsliberalen Prinzipien endgültig zum Durchbruch verhalf, einen viel vorsichtigeren Kurs steuerten. Man bemühte sich zwar sowohl im Agrarbereich wie in der Gewerbegesetzgebung schon vor 1850 durchaus um eine Anpassung der institutionellen Rahmenbedingungen. Der Durchbruch zu einem liberalen Gewerberecht erfolgte aber in den Kleinstaaten erst in den 1860er Jahren. 1863 kamen in den vier ernestinischen Staaten und in 17 Christine Belz-Hensoldt, Zwei Pioniere der Optik. Carl Kellners Briefe an Moritz Hensoldt 1846–1852, Gladenbach 2007, S. 27. 18 Hans-Werner Hahn, Territoriale Neuordnung und wirtschaftliche Folgen. Die preußische Provinz Sachsen und der mitteldeutsche Wirtschaftsraum 1815–1850, in: Ulrike Höroldt/Sven Pabstmann (Hg.), 1815: Europäische Friedensordnung – Mitteldeutsche Neuordnung. Die Neuordnung auf dem Wiener Kongress und ihre Folgen für den mitteldeutschen Raum, Halle 2017, S. 399–420. 19 Vgl. Olaf Zucht, Die Geschichte der Juden in Erfurt von der Wiedereinbürgerung 1810 bis zum Ende des Kaiserreichs. Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Geschichte Thüringens, Erfurt 2001, S. 40 f.; zu Nordhausen Marie-Luis Zahradnik, Vom reichsstädtischen Schutzjuden zum preußischen Staatsbürger jüdischen Glaubens. Chancen und Grenzen der Integration der Nordhäuser Juden im 19. Jahrhundert, Nordhausen 2018, S. 28–35.

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Reuß jüngerer Linie neue Gewerbegesetze zustande, 1864 folgte das Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt, 1866 auch Schwarzburg-Sondershausen. Als letzter Kleinstaat folgte Reuß älterer Linie im Jahre 1868, nachdem schon feststand, dass der Norddeutsche Bund eine einheitliche liberale Wirtschaftsordnung schaffen würde.20 Die negativen Folgen des verspäteten Übergangs zur Gewerbefreiheit, der im stark industrialisierten Königreich Sachsen auch erst 1861 erfolgte, dürfen jedoch nicht überschätzt werden. Durch eine großzügige Konzessionierung nichtzünftiger Gewerbe konnte sich die moderne Industrie schon vor 1860 auch in Staaten entwickeln, die an Elementen des alten Gewerberechts festhielten.21 Dass sich die kleinstaatlichen Regierungen Thüringens im Übrigen aber nicht nur aus fiskalischen Gründen darum bemühten, die Wünsche der einheimischen Wirtschaft zu berücksichtigen und zu unterstützen, zeigte sich nach 1815 vor allem auf dem Felde der Zoll- und Handelspolitik. Hier wurden die Thüringer Kleinstaaten früh aktiv.22 Das 1806 untergegangene Reich war aufgrund seiner komplizierten Strukturen nicht mehr in der Lage gewesen, eine einheitliche Zoll- und Handelspolitik zu treiben, und auch in der Rheinbundzeit scheiterten alle entsprechenden Versuche. Der 1815 entstandene Deutsche Bund hatte dann zwar im Artikel 19 der Bundesakte gemeinsame Regelungen der Zoll- und Handelsfragen in Aussicht gestellt, konnte dies aber angesichts der auseinanderstrebenden wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Interessen seiner souveränen Gliedstaaten nicht umsetzen. Im Gegenteil, die größeren Staaten gingen nun dazu über, eigene Grenzzollsysteme zu errichten, was den innerdeutschen Handelsaustausch vor allem seit dem preußischen Zollgesetz von 1818 schwer belastete. Diesen Entwicklungen hatten kleine Staaten wenig entgegenzusetzen. Es war daher wenig verwunderlich, dass sich gerade Thüringer Unternehmer wie der Geraer Textilfabrikant Ernst Weber und der Gothaer Versicherungspionier Ernst-Wilhelm Arnoldi frühzeitig für eine Beseitigung der innerdeutschen Handelsschranken einsetzten und darin von den Regierungen der Klein20 Friedrich Facius, Politische Geschichte von 1828 bis 1945. Geschichte Thüringens, hg. v. Hans Patze u. Walter Schlesinger, Bd. V/2, Köln/Wien 1984, S. 144. Zu Weimar und Coburg und Gotha ausführlich Faulwetter, Von der Zunft (wie Anm. 12), S. 202–214 und 254–257. 21 Vgl. hierzu Heinrich Kaufhold, Gewerbefreiheit und gewerbliche Entwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 118 (1982), S. 73–114. 22 Marko Kreutzmann, Zwischen Deutschem Bund und Deutschem Zollverein. Die Zollpolitik in der Region Thüringen im 19. Jahrhundert, in: Stefan Gerber/Werner Greiling/Marco Swiniartzki (Hg.), Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen in Thüringen, Wien/Köln/Weimar 2018, S. 77–91; Hans Patze, Die Zollpolitik der thüringischen Staaten von 1815–1833, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 40 (1953), S. 28–58.

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staaten kräftig unterstützt wurden. Gerade die ernestinischen Staaten forderten von der Frankfurter Bundesversammlung seit 1817 entsprechende Anstrengungen. So sah der Herzog von Sachsen-Hildburghausen die Herstellung eines vollständigen freien Binnenmarktes nach den Kriegen gegen Napoleon geradezu als nationale Pflicht an und schrieb an den Gesandten der ernestinischen Staaten: Der so schwer errungene Friede und die innige Verbindung der deutschen Fürsten lassen alle Bundesstaaten nicht nur wechselseitige Hilfe und Unterstützung in Nothfällen, sondern auch ein ganz freies Commerz im Innern erwarten, und dessen Herstellung ist in Ansehung aller deutscher Producte und Fabrikate desto nothwendiger, da denselben in mehreren auswärtigen Staaten der Eingang gänzlich gesperrt ist.23

Nachdem die entsprechenden Beratungen in der deutschen Bundesversammlung zu keinem Ergebnis geführt hatten, beteiligten sich die thüringischen Regierungen seit 1820 an den Verhandlungen über eine Zollunion deutscher Mittel- und Kleinstaaten. Als die Dinge auch hier ins Stocken kamen, versuchten mehrere Thüringer Staaten im Arnstädter Vertrag vom 23. Dezember 1822, einen eigenen Handelsverband als Vorstufe für den Anschluss an einen größeren Zollverband zu gründen. Auch dieser Versuch scheiterte letztlich an gegensätzlichen Interessen und den komplizierten Grenzverhältnissen des Thüringer Raumes. Mehrere Staaten besaßen Exklaven, die weitgehend von preußischem Gebiet umschlossen waren. Für diese Staatsteile vereinbarten die Schwarzburger Fürstentümer sowie Sachsen-Weimar schon zwischen 1819 und 1823 besondere Zollanschlussverträge mit Preußen, mit denen man die Exklaven der preußischen Zollverwaltung unterstellte und dafür an deren Einnahmen beteiligt wurde. Da Preußen wie die Spinne im Netz der mitteldeutschen Kleinstaatenwelt saß, konnte es auf dem Feld der Handelspolitik seine wirtschaftsgeographischen Vorteile bald immer stärker ausnutzen. Treibende Kraft dieser Politik war Friedrich von Motz, der zunächst Regierungspräsident in Erfurt gewesen war und 1825 das preußische Finanzministerium übernahm.24 Diesem preußischen Expansionsdrang hatten die Thüringer Kleinstaaten auf Dauer wenig entgegenzusetzen. Als Preußen mit dem Großherzogtum Hessen den ersten Mittelstaat als Partner einer Zollunion gewann, schlossen sich zwar auch die Thüringer 23 Herzog Friedrich III. an Hendrich, 31. Mai 1817. Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Gotha, Geheime Kanzlei I, A. XI. 4.5. Den Zugang zu den ungedruckten Berichten von Hendrich verdanke ich der Masterarbeit von Florian Vogt, „Mindermächtige“ Politik im Deutschen Bund. Die ernestinische Bundestagsgesandtschaft von 1815–1820, Jena 2014. Zu den Folgen der Vorstöße beim Deutschen Bund ausführlich Eckhard Treichel (Bearb.), Organisation und innere Ausgestaltung des Deutschen Bundes 1815–1819 (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Abt. I, 2), München 2016, Einleitung S. LXXXVII–XCVII. 24 Zu Motz und seiner Politik ausführlich Hermann von Petersdorff, Friedrich von Motz. Eine Biographie, Bd. 2, Berlin 1913.

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Staaten 1828 mit anderen preußischen Nachbarn zum Mitteldeutschen Handelsverein zusammen.25 Doch dieser Verein zerbrach schon Anfang der 1830er Jahre, als auch das Kurfürstentum Hessen dem preußischen System beitrat. Jetzt war der Weg frei zu einem großen, von Preußen geführten Zollverein, dem 1833 auch die Thüringischen Staaten beitraten.26 Ihr zeitweiliger Widerstand gegen die Expansion des preußischen Zollsystems sollte nicht als „Souveränitätsdünkel“ oder fehlender handelspolitischer Weitblick abgetan werden. Es ging den Regierungen der kleineren Staaten vor allem darum, den eigenen Bedürfnissen und Interessen angemessen Rechnung zu tragen. Dies war freilich gegenüber einem mächtigen Nachbarn wie Preußen, der in Thüringen wichtige Gebietsteile besaß und auf dessen Absatzmarkt die kleinstaatliche Wirtschaft dringend angewiesen war, alles andere als einfach. Auch im 1833 entstandenen „Thüringischen Zoll- und Handelsverein“, der als Teil des Deutschen Zollvereins die Kleinstaaten und die preußischen Gebiete Thüringens umfasste, spielte Preußen eine wichtige Rolle. Der Verwaltungssitz des Vereins lag im preußischen Erfurt, an der Spitze stand allerdings ein Beamter des Großherzogtums Sachsen-Weimar.27 Die Regierungen der Thüringer Kleinstaaten nutzten die Mitgliedschaft im Zollverein, um etwa in den Tarifdebatten die spezifischen Interessen ihrer Wirtschaftszweige zu vertreten. Ihr Einfluss auf die Zollvereinspolitik blieb freilich eher gering. Der über Erfurt gesteuerte preußische Einfluss auf die Haltung des „Thüringischen Zoll- und Handelsvereins“ war letztlich so groß, dass auf den jährlichen Generalkonferenzen des Zollvereins „dessen Stimme am Ende immer für Preußen gerechnet werden konnte“.28 Die Mitgliedschaft im Zollverein hatte aber auch Auswirkungen auf die kleinstaatliche Wirtschaftspolitik. Dies zeigte sich zum einen beim Eisenbahnbau und zum anderen in den Debatten über eine staatliche Gewerbeförderung. Die Einbindung in einen großen deutschen Wirtschaftsraum verstärkte bei Regierungen und Monarchen der Kleinstaaten das Interesse an den neuen Entwicklungen des heraufziehenden Industriezeitalters und lenkte den Blick vor allem auf den zeitgleich mit der Zollvereinsgründung einsetzenden Eisenbahnbau. Der Meininger Herzog 25 Hierzu zuletzt Oliver Werner, Konfrontation und Kooperation. Der Mitteldeutsche Handelsverein im Gründungsprozess des Deutschen Zollvereins 1828 bis 1834, in: HansWerner Hahn/Marko Kreutzmann (Hg.), Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 75–96. 26 Zur Entstehungsgeschichte Hans-Werner Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984, S. 43–87. 27 Ausführlich hierzu Kurt Wildenhayn, Der Thüringische Zoll- und Steuerverein, sein Wesen und seine Bedeutung in völkerrechtlicher und staatsrechtlicher Hinsicht, Ellrich 1927. 28 Wilhelm Weber, Der deutsche Zollverein. Geschichte seiner Entstehung und Entwickelung, Leipzig ²1871, S. 229.

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Bernhard II. und der Coburger Ernst I. befassten sich seit Mitte der 1830er Jahre intensiv mit Fragen des Eisenbahnbaus und schlossen sich 1840 gemeinsam mit Weimar zum Thüringischen Eisenbahnverein zusammen. Ziel war eine mitteldeutsche Eisenbahn, die vom preußischen Naumburg über Erfurt nach Eisenach führte.29 Der Weimarer Hof nutzte die familiären Beziehungen zum preußischen Königshaus, um den großen Nachbarn für diese von Thüringen gewünschte Linienführung zu gewinnen.30 Die entscheidende Dynamik bei Planung und Bau der Eisenbahnen ging freilich auch in Mitteldeutschland von privaten Initiativen und Interessen aus, zumal die Einflussmöglichkeiten der kleinen thüringischen Staaten auf den Bahnbau letztlich gering waren. Zum einen war man angesichts der komplizierten geopolitischen Verhältnisse stets auf das Wohlwollen der großen Nachbarn angewiesen, wenn es darum ging, von den Streckenführungen zu profitieren. Zum anderen fehlte es den kleinen Staaten an Mitteln, um wie in Belgien die Bahnen auf Staatskosten zu bauen. Die 1844 gegründete Thüringische Eisenbahngesellschaft in Erfurt erfuhr jedoch durch Aktienbeteiligungen von Staaten wie Herrscherhäusern und Zinsgarantien eine erhebliche staatliche Förderung.31 Dies begünstigte den Bau weiterer Linien. Angesichts der engen Kooperation aller Beteiligten erwies sich die Thüringer Kleinstaaterei beim Aufbau des regionalen Eisenbahnnetzes somit keineswegs nur als Hemmnis. Auch bei den späteren Erweiterungen des Bahnnetzes wie dem Bau der Saalebahn spielten die staatlichen Entscheidungsträger oft eine wichtige Rolle. Als Bismarck aber nach der Reichsgründung den Aufbau einer Preußischen Staatsbahn betrieb, hatten die Thüringer Kleinstaaten dem wenig entgegenzusetzen und mussten akzeptieren, dass die Preußische Staatsbahn am Ende alle wichtigen thüringischen Strecken in Besitz nahm und ihre Gewinne auf Kosten der Kleinstaaten vergrößerte.32 Vor dem Eisenbahnbau hatten die Regierungen der Thüringer Staaten neue Anstrengungen unternommen, den Handelsverkehr und damit auch die eigene Wirtschaftsentwicklung durch den Bau besserer Straßen zu fördern. Dies galt vor allem für Sachsen-Weimar, wo die Regierung sich nach 1815 bemühte, die Verkehrsverbindungen zwischen den einzelnen Landesteilen zu verbessern und anfangs sogar Gelder der Landschaftskasse ohne Zustimmung des Landtages einsetzte. 1820 einigten sich Regierung und Landtag dann auf ein Straßenbau29 Facius, Politische Geschichte (wie Anm. 20), S. 48. 30 Silke Satjukow, Bahnhofstrassen. Geschichte und Bedeutung, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 50. 31 Den Forschungsstand zusammenfassend Dieter Ziegler, Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung. Die Eisenbahnpolitik der deutschen Staaten im Vergleich, Stuttgart 1996, S. 111–114; Vgl. ferner Wolfgang Mühlfriedel, Die Industrialisierung in Thüringen. Grundzüge der gewerblichen Entwicklung in Thüringen von 1800 bis 1945, Erfurt 2001, S. 72–80. 32 Ebd., S. 78 f.

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regulativ. Obwohl sich der Verkehrswegebau daher auch in Sachsen-Weimar „zu einem der finanziell aufwendigsten Staatsprogramme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ entwickelte33 , offenbarten sich jedoch gerade auf diesem Feld immer wieder die begrenzten Möglichkeiten einer kleinstaatlichen Wirtschaftspolitik. Die großen Staaten des Deutschen Bundes verfügten über ganz andere Ressourcen. Dies zeigten nicht zuletzt die Straßenverträge, die Preußen im Juli 1829 mit Sachsen-Meiningen und Sachsen-Coburg abschloss. Mit preußischen Krediten sollten Straßen von Langensalza über Gotha, Suhl und Coburg sowie über Meiningen und Mellrichstadt gebaut werden, die den Warenverkehr zwischen den bereits eng kooperierenden preußisch-hessischen und bayerisch-württembergischen Zollvereinen befördern sollten. Damit schwächte der preußische Finanzminister von Motz im Vorfeld der Zollvereinsgründung die Position des „Mitteldeutschen Handelsvereins“ und setzte die thüringischen Kleinstaaten einem noch stärkeren Druck aus.34 Die Kleinstaaten gaben mit ihren Investitionen in die Infrastruktur durchaus Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung. Eisenbahnpolitik und Straßenbau zeigten freilich auch immer wieder die Grenzen der eigenen Möglichkeiten auf. Das Ausmaß der wirtschaftlichen Folgen der Infrastrukturpolitik sollte man deshalb nicht überschätzen. Das gleiche gilt für die Bedeutung, die den zahlreichen Thüringer Kleinstaaten in ihrer Rolle als Konsumenten zufiel.35 Gewiss schlug sich der Bedarf der Höfe in den Residenzstädten in der Nachfrage nach kunsthandwerklichen Produkten nieder. Dies konnte in Einzelfällen, wie eine Studie über die Hofhandwerker in Weimar gezeigt hat, Erfindungen und Innovationen anregen, die zumindest langfristig die gewerbliche Entwicklung förderten. Das bekannteste Beispiel ist die Tätigkeit des in Weimar und Jena wirkenden Hofmechanikers Johann Christian Friedrich Körner, dessen Arbeiten von Goethe gefördert wurden und zu dessen Schülern Carl Zeiss gehörte.36 Auf der anderen Seite waren die kleinen Thüringer Höfe in finanzieller Hinsicht viel zu schwach ausgestattet, um eine florierende Luxuswarenproduktion aus eigener Kraft in Gang zu setzen. Und auch der im 19. Jahrhundert in den großen Staaten immer wichtiger werdende Bedarf des Militärs spielte in den Kleinstaaten mit ihren geringen Kontingenten keine große Rolle. Der preußische Staat setzte jedoch als Konsument von Militärbedarf in thüringischen Städten wich33 Henning Kästner, Der Weimarer Landtag 1817–1848. Kleinstaatlicher Parlamentarismus zwischen Tradition und Wandel, Düsseldorf 2014, S. 308. 34 Facius, Politische Geschichte (wie Anm. 20), S. 25 f. 35 Vgl. hierzu Wolfram Fischer, Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft in Deutschland am Beginn der Industrialisierung, in: ders. (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 70. 36 Katrin Pöhnert, Hofhandwerker in Weimar und Jena (1770–1830). Ein privilegierter Stand zwischen Hof und Stadt, Jena 2014, S. 325–331.

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tige wirtschaftliche Impulse. Dies galt zum einen für die Stadt Sömmerda, die der Schlosser Nikolaus Dreyse durch das von ihm entwickelte Zündnadelgewehr zu einem Zentrum der preußischen Rüstungsindustrie aufsteigen ließ,37 und zum anderen für die vor 1815 noch sächsische Stadt Suhl mit ihrer traditionsreichen Waffenproduktion sowie Erfurt, die unter preußischer Herrschaft zu wichtigen Standorten der Rüstungsproduktion ausgebaut wurden. Der preußische Staat profitierte in seinen 1815 erworbenen thüringischen Gebieten zwar von einer langen Gewerbetradition, unternahm aber auch sogleich Anstrengungen, um die wirtschaftliche Entwicklung durch neue Ansätze der Gewerbeförderung weiter voranzubringen. Diese auch von anderen Staaten des Deutschen Bundes gerade in der frühen Industrialisierungsphase betriebene Gewerbeförderung war kein völliger Rückfall in altes merkantilistisches Denken. Vielmehr ging es darum, durch flankierende staatliche Maßnahmen die privaten Unternehmen besser auf die liberale Konkurrenzwirtschaft vorzubereiten. Dabei spielten direkte Förderungen durch Subventionen des Staates letztlich nur eine geringe Rolle. Wichtiger waren die staatlich unterstützte Gründung von Vereinen, Gewerbeschulen und Ausstellungen sowie die Auszeichnungen für erfolgreiche Unternehmer. Unter Peter Christian Beuth, der im preußischen Ministerium des Inneren viele Jahre die Abteilung für Handel und Gewerbe leitete, entwickelte Preußen ein umfassendes System der Gewerbeförderung, das dann auch andere deutsche Staaten nachzuahmen versuchten.38 Beuth gründete 1821 in Berlin den „Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen“ sowie eine Fachschule für Werkmeister und Fabrikanten, aus der später die Technische Universität hervorgehen sollte. Über diese zentrale Stelle in Berlin hinaus wurden in vielen preußischen Städten Gewerbeschulen und Vereine zur Beförderung des Gewerbefleißes initiiert, durch die begabte junge Männer mit den neuesten technischen Entwicklungen vertraut gemacht werden sollten. In welchem Maße davon auch die zu Preußen gehörenden Gebiete Thüringens profitierten, müsste noch genauer untersucht werden. In Erfurt schlug sich diese Politik jedenfalls rasch nieder. Wenige Jahre nach der Berliner Vereinsgründung entstand auf Anregung eines preußischen Regierungsrates in Erfurt ein Zweigverein zur Förderung des Gewerbestandes. Sein Ziel war es, die gewerbliche Entwicklung von Stadt und Umland durch die Vermittlung naturwissenschaftlicher und technische Kenntnisse und Anregungen 37 Annegret Schüle, BWS Sömmerda. Die wechselvolle Geschichte eines Industriestandortes in Thüringen 1816–1995, Dreyse & Collenbusch – Rheinmetall – Büromaschinenwerk, Erfurt 1995. Zu Dreyse ferner: Frank Boblenz, „Bete und arbeite für König und Vaterland“. Zur Biographie des Industriellen Johann Nicolaus von Dreyse, in: HansWerner Hahn/Werner Greiling/Klaus Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt/Jena 2001, S. 201–230. 38 Ilja Mieck, Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806–1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus, Berlin 1965.

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zur Eigeninitiative zu fördern. Auch wenn zunächst beklagt wurde, dass viele Handwerker noch zu wenig Interesse an der Arbeit des Vereins fanden, so entwickelte er sich vor allem seit den 1860er Jahren zu einer wichtigen Vermittlungsinstanz bei technischen, gewerblichen und statistischen Fragen.39 Trotz solcher staatlicher Entwicklungsimpulse waren es am Ende aber auch im preußischen Thüringen die aufstrebenden Kräfte des Bürgertums, die den wirtschaftlichen Strukturwandel vorantrieben. Je erfolgreicher sie ihre Unternehmen betrieben, desto stärker wurde der Wunsch nach mehr Einfluss auf die staatliche Wirtschaftspolitik. Preußen kam diesen Wünschen bis 1847 allerdings nur teilweise entgegen. Mit der 1831 in der Provinz Sachsen eingeführten revidierten Städteordnung stärkte der Staat den lokalen Gestaltungsspielraum des Wirtschaftsbürgertums. Zugleich schuf er mit den Handelskammern institutionelle Voraussetzungen für eine engere Abstimmung zwischen staatlichen und privatwirtschaftlichen Interessen. 1845 nahm die Erfurter Handelskammer unter Führung des Kaufmanns und Fabrikanten Sebastian Lucius ihre Arbeit auf. 40 Auch wenn Preußen etwa auf dem Felde des Aktien- und Bankenrechts bis 1848 noch nicht allen Wünschen des aufstrebenden Wirtschaftsbürgertums nachkam, so wuchs offenbar dessen Zufriedenheit mit der staatlichen Wirtschaftsverwaltung und förderte die Integration der neuen Gebiete in den preußischen Staat. Im Vergleich zu Preußen oder auch dem Königreich Sachsen besaßen die Thüringer Kleinstaaten nur begrenzte Möglichkeiten, die eigene Gewerbeentwicklung direkt oder indirekt zu fördern. Nach dem Beitritt der Thüringer Staaten zum Deutschen Zollverein wurden die Regierungen allerdings vermehrt dazu aufgefordert, in der Industrie- und Gewerbeförderung nach dem Vorbild anderer Staaten neue Initiativen zu ergreifen, um die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Gewerbe auf dem neuen großen Binnenmarkt zu verbessern. Im Landtag von Sachsen-Weimar wurde darüber diskutiert, inwieweit man in den Städten des Großherzogtums die Niederlassung von ausländischen Fabrikarbeitern erleichtern sollte, die zum Aufbau der Industrie benötigt wurden. Zu einer völligen Freizügigkeit konnten sich Landtag und Regierung aber nicht durchringen. Man überließ die Entscheidung den jeweiligen Stadträten. Zugleich stellte der Ilmenauer Abgeordnete Voigt den Antrag, im Großherzogtum einen staatlich geförderten Handels- und Industrieverein zu gründen, der den Gewerbetreibenden die Möglichkeit einer wirksameren Interessenvertretung geben und 39 Lars Martin/Harald Baum, Die Erfurter Wirtschaft von 1815 bis 1850, in: Königstreue und Revolution. Erfurt, Eine preußische Stadt im Herzen Deutschlands, Eine Ausstellung des Stadtarchivs Erfurt unter Mitwirkung des Stadtmuseums Erfurt, Erfurt 1999, S. 155–161. 40 Zu Lucius vgl. Hans-Werner Hahn, Zwischen Mainzer Rad und preußischem Adler. Sebastian Lucius und der Aufstieg einer Erfurter Bürgerfamilie, in: Hahn/Greiling/Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen (wie Anm. 37), S. 165–184.

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den Absatz ihrer Produkte fördern sollte. Darüber hinaus sollten Unternehmen in bestimmten Fällen auch Kapitalhilfen zur Verfügung gestellt werden. Obwohl der Landtag dem Antrag mit großer Mehrheit zustimmte, lehnte die Regierung eine staatliche Mitfinanzierung des Vereins ab. Lediglich Gewerbeausstellungen sollten mit staatlichen Geldern finanziert werden.41 Die Zurückhaltung der Regierung war nicht auf ein klares wirtschaftsliberales Konzept zurückzuführen, nach dem sich der Staat grundsätzlich aus dem Wirtschaftsleben weitgehend herauszuhalten hatte, sondern hing wohl vor allem mit mangelnden finanziellen Ressourcen des Kleinstaates zusammen. Auch den meisten Regierungsbeamten war längst bewusst, dass sich ihre kleinen Staaten dem wirtschaftlichen Wandel nicht entziehen konnten. Weimarer Minister wie Fritsch und Schweitzer wiesen schon in den 1830er Jahren gegenüber der großherzoglichen Familie darauf hin, dass Industrielle wie der Eisenacher Textilfabrikant Eichel und andere, die vielen Arbeitern Brot geben, vom Staat und Hof die gleiche Anerkennung und Zugang zum Hofe erhalten sollten wie etwa alteingesessene Adelsfamilien und die Staatsbeamten.42 Während der Weimarer Monarch Karl Friedrich hier noch zögerte, legten sein Nachfolger Carl Alexander und andere Thüringer Monarchen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine deutlich größere Offenheit gegenüber den neuen wirtschaftlichen Entwicklungen an den Tag. Sie waren zwar keine treibende Kraft des industriellen Wandels, aber die meisten von ihnen hatten erkannt, dass man sich dem wirtschaftlichen Wandel nicht verschließen konnte, wenn man die finanziellen Ressourcen des Kleinstaates sichern und der wachsenden Einwohnerzahl Arbeit und Einkommen geben wollte. Wichtig war hier zum einen die Auswahl von Ministern, die wie etwa Gustav Thon in Weimar frühzeitig die Bedeutung der modernen Industrie für den Kleinstaat erkannten. Thon trat beispielsweise aktiv für den Erhalt und Ausbau des Deutschen Zollvereins ein.43 Zum anderen pflegten Monarchen auch durch Ordensverleihungen an Fabrikanten sowie Besuche von Gewerbeausstellungen und Fabriken den Kontakt zur neuen industriellen Welt. Großherzog Carl Alexander besuchte mehrfach die aufstrebende optische Industrie in Jena, informierte sich bei Ernst Abbe über die Entwicklung des Werkes, sprach mit Angestellten und Arbeitern und hielt seine Eindrücke auch in seinem Tagebuch fest.44 Darüber hinaus gab es auch direkte Initiativen, mit denen Carl Alexander sein Bemühen um Fort41 Kästner, Der Weimarer Landtag (wie Anm. 33), S. 304. 42 Marko Kreutzmann, Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770–1830, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 280. 43 Ders., Die höheren Beamten des Deutschen Zollvereins. Eine bürokratische Funktionselite zwischen einzelstaatlichen Interessen und zwischenstaatlicher Integration (1834– 1871), Göttingen 2012, S. 174–180. 44 Angelika Pöthe, Carl Alexander. Mäzen in Weimars „Silberner Zeit“, Köln 1998, S. 474.

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schritte der gewerblichen Wirtschaft unterstrich. 1868 regte er die Errichtung einer gewerblichen Zentralstelle für das Großherzogtum an, eine Initiative, die aber erst 1877 zur Gründung einer Gewerbekammer führte. Die aus Vertretern der Gewerbevereine und vier vom Großherzog ernannten Mitgliedern bestehende Kammer sollte jährlich über den Zustand der Industrie berichten, Statistiken erstellen, Anträge der Gewerbetreibenden an den Staat weiterleiten und die Errichtung von Fortbildungsschulen koordinieren.45 Darüber hinaus versuchte Carl Alexander wie andere Monarchen des 19. Jahrhunderts, die Absatzchancen heimischer Gewerbezweige durch gezielte Maßnahmen zur Geschmacksbildung46 zu verbessern. 1860 gründete er in Weimar die „Großherzoglich Sächsische Kunstschule“. 1881 entstand eine allerdings nur kurzlebige „Großherzoglich-Sächsische Centralstelle für Kunstgewerbe“. Mit all dem sollte dem Qualitätsverlust der Gebrauchsgüter, der durch die industrielle Massenfertigung drohte, entgegengewirkt und gerade dem Handwerk neue Entwicklungsperspektiven gegeben werden.47 Auch wenn die Folgen solcher Maßnahmen, zu denen auch Carl Alexanders Förderung der Töpferei in Bürgel und der Korkholzverarbeitung im Verwaltungsbezirk Dermbach gehörten,48 für die Industrialisierung in Sachsen-Weimar-Eisenach nicht überschätzt werden dürfen, so zeigte es doch, dass die Staatsführung in Weimar die neuen wirtschaftlichen Entwicklungen nicht passiv hinnahm, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeiten gezielt zu fördern versuchte. In ähnlicher Weise agierte Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen. Er pflegte Kontakte zur wirtschaftlichen Elite des kleinen Landes, etwa zum führenden Sonneberger Unternehmer Adolf Fleischmann. 1858 regte Georg noch als Erbprinz in Sonneberg die Gründung eines „Kunstund Industrievereins“ an, der dazu beitragen sollte, die künstlerische Qualität der in Heimarbeit gefertigten Produkte zu heben und dadurch die Exportchancen zu steigern. Zudem ließ er spezielle Bildungsstätten wie die „Zeichen- und Modellierschule“ in Lauscha oder eine „Modellier- und Holzschnitzschule“ in Sonneberg errichten und schickte Glasbläser zur Weiterbildung nach Böhmen. In Bezug auf die schwierigen Verhältnisse des stark saison- und konjunkturab-

45 Faulwetter, Von der Zunft (wie Anm. 12), S. 215–222. 46 Allgemein hierzu Ingrid Cleve, Geschmack, Kunst und Konsum. Kulturpolitik als Wirtschaftspolitik in Frankreich und in Württemberg (1805–1845), Göttingen 1996. 47 Angelika Emmrich, Von Friedrich Justin Bertuch zu Henry van der Velde. Die Idee, Kunst und Handwerk zu verbinden, in: Kerrin Klinger (Hg.), Kunst und Handwerk in Weimar. Von der Fürstlichen Freyen Zeichenschule zum Bauhaus, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 128 f.; Kerstin Vogel, „Die Verbindung von Kunst und Industrie“. Bemühungen um das Kunstgewerbe in Weimar im 19. Jahrhundert, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar 38 (1992), S. 149–154. 48 Facius, Politische Geschichte (wie Anm. 20), S. 279.

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hängigen Heimgewerbes des Thüringer Waldes blieben die Folgen der herzoglichen Initiativen aber oft eher begrenzt.49 Der wichtigste Bereich der indirekten Gewerbeförderung durch die kleinstaatlichen Regierungen war zweifellos der Bildungssektor. Die Kleinstaaten waren zwar nicht in der Lage, nach preußischem, sächsischem oder württembergischem Vorbild große polytechnische Bildungsstätten zu schaffen. Zum einen aber zeigt vor allem das Beispiel Ernst Abbes, wie auch eine klassische Universität mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen dem regionalen Industrialisierungsprozess entscheidende Impulse geben konnte. Zum anderen hatte schon die kleinstaatliche Schulpolitik für einen guten Stand an Allgemeinbildung gesorgt, der langfristig dem wirtschaftlichen Wachstum zugutekam. Darüber hinaus förderten staatliche Stellen neben den bereits erwähnten gewerblichen Bildungsstätten auch die über lokale Gewerbevereine betriebene technische Fortbildung. Sie kamen auf diesem Feld den Forderungen des Bürgertums entgegen und reagierten auf die neuen Bedürfnisse der Wirtschaft. Durch staatlich unterstützte Gewerbeschulen sollten jene mathematischen, physikalischen, chemischen und technischen Kenntnisse verbessert werden, die für eine Weiterentwicklung der Gewerbeproduktion erforderlich waren.50 So führten in Weimar die Initiativen Goethes und des Baumeisters Clemens Wenzeslaus Coudrays schon 1829 zur Gründung einer freien Gewerkeschule, die auf Förderung und Vervollkommnung der Bautechnik ausgerichtet war und zumindest langfristig dazu beitrug, den Ausbildungsstand im Weimarer Handwerk zu heben.51 Wie groß die Wachstumsimpulse all dieser staatlichen Maßnahmen waren, lässt sich schwer ermessen. Dennoch kann man festhalten, dass die Kleinstaaten keineswegs nur ein Hindernis auf dem Weg zur Industriegesellschaft waren, sondern mit ihrer Politik durchaus dazu beitrugen, dass Thüringen nach einem bis 1850 eher verhaltenen Verlauf der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen beachtlichen Industrialisierungsgrad erreichte.52 Man muss aber einräumen, dass mit dem fortschreitenden Industrialisierungsprozess 49 Hierzu ausführlich Hans-Werner Hahn, Industrialisierung und gesellschaftlicher Wandel im Herzogtum Sachsen-Meiningen, in: Maren Goltz/Werner Greiling/Johannes Mötsch (Hg.), Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen (1826–1914). Kultur als Behauptungsstrategie, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 173–186. 50 Zu Sachsen-Weimar vgl. Kästner, Der Weimarer Landtag (wie Anm. 33), S. 304. 51 Vgl. Sebastian Hunstock, Die (groß)herzogliche Residenzstadt Weimar um 1800. Städtische Entwicklungen im Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft (1770–1830), Jena 2011, S. 144–154. 52 Einen guten Überblick bieten hierzu Mühlfriedel, Die Industrialisierung (wie Anm. 31); Horst Moritz, Thüringen im 19. Jahrhundert. Von der Agrar- zur Industriegesellschaft, Teil 1: 1800–1870, Erfurt 2010, Teil 2: 1871–1918, Erfurt 2012. Zur Stellung der Thüringer Kleinstaaten im deutschen Industrialisierungsprozess vgl. ferner Hubert Kiesewetter, Regionale Industrialisierung in Deutschland zur Zeit der Reichsgründung. Ein

Staat und Wirtschaft in der Industrialisierung Thüringens

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auch die Grenzen kleinstaatlicher Wirtschaftspolitik immer deutlicher hervortraten, etwa in der Energiewirtschaft. Angesichts der Größe und vor allem auch angesichts der komplizierten Grenzverhältnisse mit vielen En- und Exklaven war man in vielen Bereichen auf die nicht immer leichte Kooperation untereinander und das Wohlwollen der großen Nachbarn angewiesen. Die entscheidenden Akzente in der regionalen Wirtschaftspolitik setzte daher Preußen, dessen wichtigste thüringische Stadt Erfurt schon vor der Reichsgründung den Mittelpunkt des Wirtschaftslebens bildete.53 Hier saßen Bahn- und Zollverwaltung, und hier entstand 1848 auch der „Industrieverein des Thüringischen Zollgebietes“ als Interessenverband des regionalen Wirtschaftsbürgertums, das seine Forderungen an die staatliche Wirtschaftspolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf allen Ebenen – im Reich wie in den Einzelstaaten – immer selbstbewusster artikulierte. Dies zeigte nicht zuletzt die zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung, die 1861 in Weimar stattfand. Die beteiligten Wirtschaftskreise legten bei Vorbereitung und Durchführung großen Wert darauf, die Ausstellung nicht als staatliche Veranstaltung, sondern als Eigeninitiative des Wirtschaftsbürgertums zu präsentieren und damit den eigenen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung Thüringens und der Binnenintegration eines staatlich zersplitterten Wirtschaftsraums zu unterstreichen.54

vergleichend-quantitativer Versuch, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 38–60. 53 Hans-Werner Hahn, Thüringischer Zollverein und regionale Wirtschaftsinteressen. Erfurt als Zentralort einer neuen thüringischen Wirtschaftspolitik 1834–1848/49, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 60, NF 7 (1999), S. 75–87. 54 Jens Riederer, Die zweite allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung 1861 in Weimar, in: Julia Dünkel/Andreas Christoph (Hg.), Erlebnis Industriekultur. Innovatives Thüringen seit 1800, Pößneck 2018, S. 29–34.

R ita Seifert

Seide von der Saale Jena als Zentrum des thüringischen Seidenbaus

Unter den schützenswerten Bäumen der Stadt Jena befinden sich auch einige Vertreter eines Baumes, der eigentlich nicht Teil der heimischen Flora ist – der Maulbeerbaum. Auch in anderen Städten Thüringens findet man immer wieder eindrucksvolle Exemplare des morus alba, wie der weiße Maulbeerbaum botanisch genannt wird. Vor wenigen Jahrzehnten gab es sogar ganze Flächen mit Maulbeerhecken an der Saale. Eine befand sich beispielsweise in Zwätzen in der Nähe der heutigen Maria-Pawlowna-Straße. Was führte nun dazu, dass die aus dem chinesischen Raum stammende Maulbeere in unseren Breiten heimisch wurde? Es war der v. a. seit dem 18. Jahrhundert verstärkt betriebene Versuch, die Seidenzucht nach Deutschland zu bringen. Da die Seidenraupen mit dem Laub der Maulbeere gefüttert werden, war es zunächst erforderlich, größere Anpflanzungen mit Maulbeersträuchern anzulegen, um genug Futter für die Seidenraupen erzeugen zu können. Der Jenaer Professor und Direktor des Landwirtschaftlichen Instituts, Friedrich Gottlob Schulze, berichtete 1848, dass seit den 1820er Jahren im Großherzogtum Sachsen-Weimar und Eisenach Versuche unternommen worden waren, Maulbeerpflanzungen anzulegen und Seidenraupen zu züchten. Nach anfänglichen Erfolgen gab man diese Unternehmungen jedoch bald wieder auf. Als Hauptgrund wurden die angeblich schlechten klimatischen Bedingungen, die dem erfolgreichen Seidenbau im Wege stünden, benannt. Schulze erwähnte, dass auch er zunächst dieser Meinung gewesen sei, jedoch durch die guten Ergebnisse eines 1847 in Jena unternommenen Versuchs, die Seidenraupenzucht wieder zu beleben, seine Ansichten revidiert habe. Der Versuch wurde von dem aus Ostpreußen stammenden Herrn von Trentovius initiiert und vom Gärtner Friedrich Bischoff und seiner Schwester Bernhardine durchgeführt. Der Jenaer Stadtrat genehmigte die kostenlose Nutzung der in der Stadt befindlichen Maulbeerbäume. Für den Versuch nutzte man Raupeneier, die Trentovius aus der Lombardei mitgebracht hatte. Man erzielte ein Ergebnis von 100 Pfund Kokons. Die daraus gewonnene Seide wurde an einen Fabrikanten in Berlin verkauft. Ein Seidenhändler aus Sachsen, dem eine Jenaer Probe zugesandt worden war, beurteilte sie als gleichwertig der in Italien gewonnenen Seide. Dieser

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Erfolg führte dazu, dass in Jena das Interesse am Seidenbau wieder anstieg und in Zwätzen und einigen Orten der Umgebung Maulbeerpflanzungen vorgenommen wurden. Schulze erwähnte, dass er, da Trentovius Jena verlassen würde, sich selbst um die Fortsetzung der Seidenraupenzucht in Jena kümmern würde.1 In welchem Umfang dieses Vorhaben tatsächlich umgesetzt wurde, lässt sich jedoch nicht feststellen, da bisher kaum aussagekräftige Quellen zu diesem Sachverhalt ermittelt werden konnten. Zumindest erwähnt Hermann Schulze, dass Friedrich Gottlob Schulze in Zwätzen eine Seidenbauzucht aufgebaut hätte, die „erfreulichste Resultate“ geliefert habe.2

Abb. 1: Friedrich Gottlob Schulze (1795–1860), Stahlstich von August Weger, um 1860 Bei Herrn von Trentovius könnte es sich um das korrespondierende Mitglied der Kaiserlichen freien ökonomischen Gesellschaft zu St. Petersburg, G. von Trentovius handeln, der sich in der Lombardei und in Deutschland Kenntnisse im Seidenbau angeeignet hatte und sogar in Weimar eine Seidenbauanstalt begründet haben soll.3 Trentovius stellte auch Hermann Ludwig, Assistent am pharmazeutisch-chemischen Institut der Jenaer Universität, für dessen Forschungen Material zur Verfügung. Ludwig publizierte seine Untersuchungsergebnisse 1848 im „Archiv der Pharmacie“.4 1 

Friedrich Gottlob Schulze, Bericht über den Seidenbau in Jena, in: Deutsche Blätter für Landwirthschaft und Nationalökonomie 1 (1843), S. 154–160, hier S. 154–156. 2  Hermann Schulze, Friedrich Gottlob Schulze-Gävernitz. Ein Lebensbild, Breslau 1867, S. 133. 3  Mittheilungen der Kaiserlichen freien ökonomischen Gesellschaft zu St. Petersburg 9 (1852), S. 314. 4  Hermann Ludwig, Ueber den frischen Seidensaft, in: Archiv der Pharmacie 14 (1848) 2, S. 142–154.

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Die Bemühungen, den Seidenbau im Großherzogtum Sachsen-Weimar und Eisenach anzusiedeln, wurden auch vom großherzoglichen Haus unterstützt. So befindet sich beispielsweise im Aktennachlass der Großherzogin Maria Pawlowna ein Brief aus dem Jahr 1853, aus dem hervorgeht, dass in Creuzburg durch die Fürstin Holl eine Seidenraupenzucht eingerichtet worden sei, für die Maria Pawlowna eine finanzielle Unterstützung gewährt hatte.5 Über den Creuzburger Seidenbau erschienen im 20. Jahrhundert zwei ausführliche Darstellungen in der „Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte“.6 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in der Jenaer Universitätsstadt erneut Untersuchungen mit Seidenraupen durchgeführt. Für diese Zwecke war durch den Jenaer Professor für Botanik, Ernst Hallier, eine Versuchsstation eingerichtet worden, die sich u. a. mit der Erforschung von Krankheiten der Seidenraupen beschäftigte. In der von ihm herausgegebenen „Zeitschrift für Parasitenkunde“ berichtete Hallier 1870: „Auf der von mir begründeten Seidenbau-Versuchsstation zu Jena ist die Seidenraupenkrankheit vollständig beseitigt und wir garantiren Jedem, der unsere Regeln befolgt und unsere absolut gesunden Eier aufzieht, den günstigsten Erfolg.“ Als Ursache der Erkrankung der Seidenraupen hatte er mit dem Rußtau einen Pilz identifiziert, der durch die als Futtergrundlage dienenden Maulbeerblätter auf die Seidenraupen übertragen wurde.7 Mit großer Wahrscheinlichkeit erfolgte die Einrichtung der Versuchsstation im Jahr 1868. Ein genaues Datum konnte bisher nicht ermittelt werden. Da jedoch Halliers Mitarbeiter Julius Zorn 1869 über „die Resultate des hinter uns liegenden ersten Jahres“ der von ihm als „Versuchsstation für parasitische Krankheiten“ bezeichneten Einrichtung berichtete, lässt sich das wahrscheinliche Gründungsdatum auf den o. g. Zeitraum eingrenzen. Zorn erwähnte in seinem Beitrag auch eine neue Jenaer Zuchtmethode, die die Übertragung von Krankheiten auf die Seidenraupen verhindern sollte.8 In einem weiteren Zeitungsbeitrag vom Januar 1870 beschrieb Zorn die Arbeit der Jenaer Versuchsstation ausführlich.9 Er teilte mit: 5  Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, HA A XXV Nr. 77 (Die Akte enthält nur das genannte Schreiben). 6  Vgl. hierzu: Joh[annes] Trefftz, Maulbeerbaum-Zucht und Seidenbau in Creuzburg a. Werra. Ein volkswirtschaftlicher Versuch des 18. Jahrhunderts, in: ZVThGA 20 (1902), S. 577–620 und Andreas Krause, „Mithin bleibet der Seidenbau immer im kleinen …“ Der Creuzburger Seidenbau und sein Netzwerk am Ende des 18. Jahrhunderts, in: ZVThG 59/60 (2005/06), S. 131–152. 7  Julius Zorn/Ernst Hallier, Untersuchungen über die Pilze, welche die Faulbrut der Bienen erzeugen, in: Zeitschrift für Parasitenkunde 2 (1870), S. 137–159, hier S. 137. 8  Julius Zorn, Ueber die Vorkehrungsmassregeln gegen die Gattine-Epidemie, in: Zeitschrift für Parasitenkunde 1 (1869) 1, S. 190–194, hier S. 190, 192. 9  Ders., Entstehung und Ziel der Versuchsstation für Seidenbau in Jena, in: Der Fortschritt. Zeitschrift für Handel, Gewerbe und Landwirthschaft 21 (1870) 4, S. 25–27.

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Rita Seifert Was den Ertrag an Seide anlangt, so ist er uns einmal dadurch etwas geschmälert worden, daß die jetzige Plantage reichlich weit abliegt und daß es dem ersten Jahre durchaus noch nicht gelingen wollte die richtige Pünktlichkeit in die Lieferungen zu bringen, zweitens aber haben wir auch sämmtlich gute Cocons zur Eierzucht verwandt, so daß jetzt viel Millionen Grains im Keller der Versendung und der Frühjahrlichen Auferstehung harren. Wir sind zu diesem weiteren und letzten Theile der Seidenzucht veranlaßt worden, zunächst um auch ihn selbst und gründlicher kennen zu lernen, vor allen Dingen aber ausgehend von der Forderung, dass man gerade die gesundesten Zuchten der Eiergewinnung bieten soll, um endlich die von Generation zu Generation verschleppte Infection der Grains wieder los zu werden.

Und er benannte die weiteren Aufgaben der Versuchsstation: „Einführung des Seidenbaues in Thüringen.“10 Trotz intensivster Recherchen konnten bisher keine weiteren Quellen über die Jenaer Versuchsstation ermittelt werden. Gleiches betrifft auch den Seidenbau-Verein zu Jena, der in den 1870er Jahren nachweislich existierte. Da zur gleichen Zeit in Jena auch ein Gartenbauverein unter dem Vorsitz Ernst Halliers tätig war, ist nicht auszuschließen, dass Hallier auch dem Seidenbau-Verein vorstand oder ihn sogar begründete.11 Diese Vermutung wird unterstützt durch die Ankündigung einer „Seidenbau-Zeitung für Norddeutschland“, die als Organ des Seidenbau-Vereins und der Seidenbau-Versuchsstation in Jena ausgewiesen ist, und die als Herausgeber u. a. Ernst Hallier und Julius Zorn nennt. In den online zugänglichen Bibliothekskatalogen ist die Zeitung allerdings nicht nachweisbar, so dass nicht verifiziert werden kann, ob die angekündigten zwölf Ausgaben tatsächlich publiziert worden sind.12 Spätestens 1884, dem Jahr, in dem Hallier seine Jenaer Professur aufgab, dürften auch die Arbeiten in der Versuchsstation zu einem Ende gekommen sein.13 Nach dem Weggang Halliers sollte es mehr als ein halbes Jahrhundert dauern, ehe Jena im Rahmen des Seidenbaus wieder Bedeutung erlangte. Die Basis dafür wurde in den 1930er Jahren gelegt, als dem Seidenbau in Deutschland aus ökonomischen Gründen erneut eine große Bedeutung zugewiesen wurde. Da Seide auch für militärische Zwecke benötigt wurde, stieg das Interesse am Seidenbau in diesem Zeitraum stark an. So benötigte man beispielsweise zur Herstellung von Fallschirmen reine Seide, die aus China und Japan eingeführt werden

10  Ebd., S. 27. 11  Beide Vereine werden erwähnt in: Allgemeines Deutsches Vereins-Handbuch, Frankfurt am Main 1873, S. 104. 12  Die Zeitung wird erwähnt in: Bibliotheca Historico-Naturalis Physico-Chemica et Mathematica oder systematisch geordnete Uebersicht der in Deutschland und dem Auslande auf dem Gebiete der gesammten Naturwissenschaften und der Mathematik neu erschienenen Bücher 20 (1870) 1, S. 24. 13  Angaben zu Hallier https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Hallier (abgerufen am 6. Dezember 2018).

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musste. Durch die Förderung des einheimischen Seidenbaus sollten die Importe verringert werden.14 In den 1930er Jahren wurde daher der Seidenbau in Kleinsiedlungen verstärkt vorangetrieben. Um die Futtergrundlage für die Seidenraupenzucht zu schaffen, musste zunächst der Bestand an Maulbeersträuchern erhöht werden. Zu diesem Zweck wurden sowohl durch den Reichs- und Preußischen Arbeitsminister als auch durch den Thüringischen Wirtschaftsminister Runderlasse veröffentlicht.15 In Thüringen war in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit der Pflanzung von Maulbeersträuchern verwiesen worden. Infolge der Umsetzung des Erlasses waren in zahlreichen Gemeinden Thüringens nach Beratung durch die Landesfachgruppe Seidenbauer insgesamt 93.600 Maulbeersträucher gepflanzt worden. Mit Verweis auf die Tatsache, dass aber immer noch eine Million Kilogramm Rohseide importiert werden musste, wurde für Thüringen eine erhebliche Steigerung der Neupflanzungen gefordert und durch die Reichsfachgruppe Seidenbauer ein Soll von 400.000 Neupflanzen festgelegt. Die Betreibung des Seidenbaus erfolgte auf der Grundlage eines Programms dieser Reichsfachgruppe. Demzufolge sollten die benötigten Maulbeeranlagen „durch die öffentliche Hand geschaffen“ werden, während die Kokongewinnung durch Privatpersonen erfolgte. Für diese Aufgabe sollten u. a. Kleintierzüchter, Kleinsiedler, Invaliden und Arbeiter gewonnen werden. Die Reichsfachgruppe Seidenbauer beschäftigte einen Außendienstbeamten, der im Rahmen von Bürgermeisterversammlungen die Gemeindevertreter zu Fragen des Seidenbaus schulen und beraten sollte. Da die einzelnen Gemeinden die Kosten für die Beschaffung der Maulbeerpflanzen selbst tragen mussten, wurde eine Kostenbeihilfe von 50 % für den Erwerb der Pflanzen in Aussicht gestellt.16 In einem 14  Karl Moeller, Raupen spinnen Fallschirmseide! Der deutsche Seidenbau hilft der Wehrmacht, in: Land und Frau vom 22. März 1941, S. 93. 15  Runderlass des Reichs- und Preußischen Arbeitsministers vom 3. August 1935, zitiert in: LATh–HStA Weimar, Thüringisches Wirtschaftsministerium Nr. 2091, Schreiben des Thüringischen Wirtschaftsministers vom 12. August 1935, den Seidenbau in der Siedlung betreffend, unpaginiert; im gleichen Schriftstück wird u. a. erwähnt: „[…] legt die Reichsregierung aus verschiedenen Gründen besonderen Wert darauf, den Seidenbau nachdrücklichst zu fördern. Eingehende Verhandlungen […] haben zu dem Ergebnis geführt, dass der Seidenbau auch in Kleinsiedlungen unter gewissen Voraussetzungen möglich ist und für die Kleinsiedler eine beachtenswerte Nebenverdienstmöglichkeit ergeben kann.“; vgl. auch Schreiben des Thüringischen Wirtschaftsministers vom 20. November 1936 in der gleichen Akte mit Benennung einer Rundverfügung des Ministers vom 19. Februar 1936, die sich auf die Notwendigkeit der Förderung des Thüringer Seidenbaus und die Anpflanzung von Maulbeersträuchern bezieht. 16  LATh–HStA Weimar, Thüringisches Wirtschaftsministerium Nr. 2091, Schreiben des Thüringischen Wirtschaftsministers vom 20. November 1936, unpaginiert. Die Akte enthält zwei gleich datierte Schreiben des Wirtschaftsministers zur Thematik, die inhaltlich jedoch leicht voneinander abweichen, da ein Schreiben etwas ausführlicher auf die einzelnen Sachverhalte eingeht.

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Schreiben des Reichsarbeitsministers vom 28. September 1939 an die Landesregierungen heißt es: „Aus wehrpolitischen Gründen ist es unbedingt geboten, in größerem Ausmasse als bisher Seidenbau zu treiben.“ Mit gleichem Datum erschien ein Erlass des Reichsarbeitsministers zum Anbau von Maulbeeren in Kleinsiedlungen und Kleingartenanlagen.17 Auch in Thüringen wurde die Förderung des Seidenbaus daher vorangetrieben. Ein Schreiben des Thüringer Wirtschaftsministers an das Thüringische Volksbildungsministerium Weimar vom 10. Februar 1936 bezeichnet die Steigerung des Seidenbaus als nationales Interesse, basierend auf der Forderung der Reichsregierung im „Rahmen des Wiederaufbaues unserer Wehrmacht“. In diesem Zusammenhang sollte „eine allgemeine Aufklärung über den Seidenbau in der deutschen Jugend“ unter „Mitarbeit der ländlichen Schulen“ erfolgen. Für diese Zwecke wollte man den Thüringer Landschulen kostenlos 100 bis 150 Maulbeersämlinge zur Anpflanzung zur Verfügung stellen. Das Volksbildungsministerium wurde gebeten, eine entsprechende Anweisung zur Auspflanzung zu erteilen.18 Da die Gewinnung der Seidenraupenbrut in Deutschland in Celle erfolgte, waren somit die Pflanzung von Maulbeerhecken und die Gewinnung von Seidenbauern die wichtigsten Anliegen. Forschungsarbeiten und -untersuchungen, wie sie noch bis in die 1880er Jahre in Jena durchgeführt wurden, waren viele Jahrzehnte in Thüringen nicht mehr weiter betrieben worden. Das sollte sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs ändern, als der wissenschaftliche Seidenbau in Jena mit der Gründung einer Seidenraupen-Nachzuchtstation an der Landesanstalt für Tierzucht eine neue Blüte erreichte. Die Station entstand im Zug der wirtschaftlichen Reorganisation, die zu einer Belebung des Seidenbaus, v. a. in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), führte. Um die Verbreitung von Seuchen unter den Seidenraupen zu verhindern, durften die Seidenbauer ihre Brut nicht selbst erzeugen. Stattdessen erfolgte die Brutgewinnung in speziell dafür geschaffenen Einrichtungen. Bis zum Jahr 1946 hatte die Reichsforschungsanstalt für Seidenbau in Celle diese Aufgabe wahrgenommen. Für den Seidenbau in der SBZ und der späteren DDR übernahm nun Jena die Bruterzeugung.19 Am 18. November 1947 fand in Berlin die Konstituierende Versammlung des Zentralverbandes der Kleintierzüchter e. V. Berlin-Charlottenburg, Fachabtei17  Ebd., unpaginiert. Der Akte beigefügt ist auch die 16 Seiten umfassende Broschüre „Warum Maulbeeren pflanzen?“, die kostenlos von der Reichsfachgruppe Seidenbauer verteilt wurde. Sie enthält einen Einleitungstext mit dem Titel „Fördert den Seidenbau!“, verfasst vom Geschäftsführenden Präsidenten der Reichsfachgruppe Seidenbauer, Diplom-Landwirt Friedel aus Berlin. 18  LATh–HStA Weimar, Thüringisches Volksbildungsministerium Nr. 958, Bl. 5. 19  LATh–HStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium für Land und Forstwirtschaft Nr. 2336, Bl. 51–57: Bericht über die Arbeit der Seidenbaunachzuchtstation für die Zeit vom 1.11.47.–31.10.48, hier Bl. 56.

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lung Seidenbauer, statt, an der 21 Personen aus ganz Deutschland teilnahmen. Thüringen wurde durch die Sachbearbeiterin für Seidenbau bei der Landesregierung, Charlotte Schmidt, sowie durch Fritz Hofmann und Renate Hill von der Seidenraupen-Nachzuchtstation Jena vertreten.20 Die Teilnehmer stellten u. a. fest: Der Rücklieferung von Seidenstoffen muß eine erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Heute und auch in Zukunft wird in einem Stückchen Seide ein besonderer Anreiz liegen. Noch auf Jahre hinaus werden wir auf die Einfuhr von Seide aus dem Ausland verzichten müssen. Mit jedem Kokon, der in die Volkswirtschaft hineinfließt und mit jedem Wort, das Verständnis für den Seidenbau weckt, wird ein entscheidender Beitrag für den Neuaufbau des demokratischen und friedlichen Deutschlands getan werden.21

In der SBZ hatte man zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche praktische und organisatorische Maßnahmen ergriffen, um den Seidenbau wieder zu beleben. Durch den Befehl Nr. 65 der SMAD vom 21. März 1947 waren Maßnahmen zur Förderung des Seidenbaus festgelegt worden. Die Berichterstatter für Thüringen konnten für das Jahr 1947 auf einen Gesamtertrag von 500 kg Seidenkokons, der durch 158 Seidenbauer erwirtschaftet worden war, verweisen. Bei der Seidenerzeugung kam den Schulen eine besondere Bedeutung zu, denn von den genannten Seidenbaueinrichtungen waren allein 111 in Schulen angesiedelt worden. Demgegenüber standen 36 Privatzüchter, ein Staatsgut sowie eine Heilstätte, die ebenfalls Kokons erzeugten. Weiterhin kristallisierte sich bereits die künftige Bedeutung Jenas als Lieferant von Seidenraupenbrut heraus. Während 1947 noch der überwiegende Teil der Seidenraupenbrut aus Celle an deutsche Seidenbauer versandt wurde, hatte Jena bereits die Gesamtbelieferung für Thüringen übernommen.22 Der Direktor der Mitteldeutschen Spinnhütte Plauen, die die auf deutschem Boden erzeugten Kokons verarbeitete, konnte auf einen deutlichen Anstieg der Kokonproduktion innerhalb eines Jahres verweisen. Noch 1946 wurden der Spinnhütte insgesamt 2.954 kg Frischkokons geliefert. Im Folgejahr stieg die Menge bereits auf 7.230 kg an. Allerdings stellte sich auch heraus, dass die Kosten für die deutsche Seide weit über denen für Seide aus dem Ausland lagen. Während der Spinnhütte für ein Kilogramm deutscher Seide Kosten von 105,RM entstanden, lag der Weltmarktpreis bei nur 52,- RM.23 Im Anschluss an die Sitzung erfolgte die Gründung des Ausschusses für Seidenbau der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft. Zur 1. Vorsitzenden wurde Renate Hill von der Seidenraupen-Nachzuchtstation in Jena gewählt.24 20  21  22  23  24 

Ebd., Protokoll der Seidenbautagung, Bl. 34–38, hier Bl. 34 und 38. Ebd., Bl. 34. Ebd., Bl. 35. Ebd., Bl. 36. Ebd., Bl. 36v.

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Die gesamtdeutsche Entwicklung im Seidenbau verlief nach dem Zweiten Weltkrieg unterschiedlich. Während auf dem Gebiet der Altbundesländer der Seidenbau schon bald als wirtschaftlich unrentabel keine Rolle mehr spielte, wurde in der DDR weiterhin Seidenbau mit dem Ziel der „Verbesserung der Gewinnung von Naturseide“ betrieben. Diese unterschiedlichen Auffassungen fanden auch ihren Niederschlag im Bericht über die Tagung der Seidenbauer am 19. August 1949 in Berlin: „In der Ostzone wird der Seidenbau staatlich gefördert, während die Regierungsstellen in Westdeutschland an ihm vollständig uninteressiert sind.“25 Von staatlicher Seite wurden entsprechende Festlegungen getroffen, die später ihre Niederschrift in der „Verordnung zur Förderung des Seidenbaues“ vom 8. November 1951 fanden. Sämtliche Maulbeerpflanzungen durften nun nur mit Erlaubnis genutzt werden. Jeder Seidenbauer war zur Pflichtablieferung der Seidenkokons verpflichtet und zur Sicherstellung der Futtergrundlage der Seidenraupen waren Maulbeerpflanzungen bei den Obstbaumzählungen mit zu berücksichtigen.26 Nachdem bereits im Januar 1949 ein Sonderplan Seidenbau für Sachsen erarbeitet worden war, sollte auch in Thüringen ein Sonderplan erstellt werden, der für einen Zeitraum von fünf Jahren Maßnahmen zur Gewährleistung der Versorgung der Mitteldeutschen Spinnhütte Plauen mit Seidenkokons aus Eigenerzeugung enthalten sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten sowohl der Anteil der Maulbeerpflanzen als Futtergrundlage für die Seidenraupen, als auch die Zahl der Seidenbauer zur Steigerung der Kokongewinnung erhöht werden. Den Anteil der Maulbeerpflanzen wollte man in Thüringen wieder auf den 1944 ermittelten Stand von fünf Millionen Pflanzen bringen.27 Während Thüringen mit der Jenaer Seidenraupen-Nachzuchtstation eine exponierte Stellung im Seidenbau einnahm, lag das Land im Vergleich mit den anderen Ländern der DDR bei der Seidenkokonerzeugung an letzter Stelle. Im Bericht über die Jahreshauptversammlung des Landesverbandes Thüringer Seidenbauer im Oktober 1949 wurde weiterhin bemängelt, dass nur ein Drittel der vorhandenen Thüringer Maulbeerpflanzen für die Futtergewinnung der Seidenraupen genutzt werden würde.28 Zwei Jahre später hatte sich an diesen Verhältnissen offensichtlich noch nicht viel geändert, da der Leiter der Forschungsanstalt für Tierzucht, 25  Ebd., Bl. 118–129: Bericht über die Tagung der Seidenbauer am 19.8.49 in Berlin bei der DWK, hier Bl. 129. 26  Verordnung zur Förderung des Seidenbaues vom 8. November 1951, in: Gesetzblatt der DDR Nr. 132 vom 17. November 1951, vgl hier Präambel und §§ 3 und 5. 27  LATh–HStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium für Land und Forstwirtschaft Nr. 2336, Bl. 92 und 95. 28  Ebd., Bl. 147–149: Bericht über die Jahreshauptversammlung des Landesverbandes Thüringer Seidenbauer am 29. Oktober 1949 in Erfurt, hier Bl. 149.

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Fritz Hofmann, während einer Arbeitstagung für Seidenbau am 13. April 1951 über die „Notwendigkeit der Förderung des Seidenbaus in Thüringen“ referierte und u. a. feststellen musste, dass in 69 Thüringer Orten, die über Maulbeersträucher verfügten, keine Seidenbauer tätig waren.29 Nach wie vor wurde der Seidenerzeugung eine große wirtschaftliche Bedeutung zugemessen, so dass Hofmanns Kritik an den bestehenden Verhältnissen nachvollziehbar ist. Welchen Status die Seidenproduktion im Rahmen der Volkswirtschaft der DDR in den 1950er Jahren einnahm, lässt sich einem Bericht über die Förderung des Seidenbaus im Bezirk Erfurt aus dem Jahr 1955 entnehmen, in dem Naturseide als „lebenswichtiger Rohstoff zur Herstellung von Müllergaze, Wundnähseide, Isolierseide30 und zur mannigfaltigen Verwendung in der Textilindustrie“ benannt wird, deren Bedarf „bei steigendem Lebensstandard unserer Bevölkerung in erhöhtem Maße aus eigener Produktion“ zu decken sei. Als Vorteil der einheimischen Seidenproduktion galt die Tatsache, dass für den Seidenbau keine landwirtschaftliche Nutzfläche benötigt wurde sowie durch die selbst produzierte Seide keine Valutamittel für Rohseide ausgegeben werden mussten. Weiterhin sollte die mit der Verarbeitung der Seidenkokons beauftragte Mitteldeutsche Spinnhütte in Plauen mehr Rohstoffe erhalten, da sie zu diesem Zeitpunkt nur über eine Kapazitätsauslastung von 15–20 % verfügte.31 Der bereits erwähnten Seidenraupen-Nachzuchtstation Jena kam für den Seidenbau in der SBZ und der DDR eine zentrale Rolle zu. Die Landesanstalt für Tierzucht, zu der die Nachzuchtstation gehörte, war eine Landeseinrichtung, die in Personalunion mit dem Institut für Tierzucht und Milchwirtschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena geführt wurde und ihren Sitz in Jena hatte. Beide Einrichtungen wurden durch Fritz Hofmann geleitet.32 Die Jenaer Einrichtung arbeitete von Anfang an sehr effizient. Innerhalb eines Jahres konnte der Ertrag der Seidenraupenbrut verzehnfacht werden. Wurde 1947 noch ein Kilogramm Brut erzeugt, waren es im Folgejahr bereits elf Kilogramm. Der Direktor der Forschungsanstalt wies in einem Bericht darauf hin, dass durch den steigenden Bedarf an Seidenraupenbrut „eine Vergrößerung

29  Ebd., Bl. 151. 30  Zur Bedeutung der Seidenherstellung für andere Industriezweige vgl. Herbert Gleisberg, Seidenbau, ein Erfordernis der Elektroindustrie, in: Elektrotechnik 5 (1951) 3, S. 110 f., hier S. 111. Gleisberg erwähnt, dass angestrebt wird, in der DDR die für die Kabelisolierung benötigte Rohseide durch „Eigenkraft selbst zu decken“. 31  LATh–HStA Weimar, Bezirkstag und Rat des Bezirks Erfurt Nr. 642, Bl. 5. 32  Vgl. hierzu die Personal- und Vorlesungsverzeichnisse der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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der Nachzuchtstation in räumlicher und personeller Hinsicht“ erfolgen müsse.33 Dieser Entwicklung wurde Rechnung getragen. Im Sommer des Jahres 1952 konnte die Nachzuchtstation ein eigenes Gebäude in der Naumburger Straße 55 in Jena beziehen.34 Auch die materielle Ausstattung der Station verbesserte sich. Nachdem für die Überwinterung der Brut zunächst noch ein Kühlschrank der Jenaer Veterinäranstalt benutzt werden musste, stand der Nachzuchtstation ab Juli 1948 ein eigenes Gerät zur Verfügung. Um die Qualität der Brut zu verbessern und einen Befall mit Krankheiten zu reduzieren oder gar zu vermeiden, wurde auf die Qualität der zur Zucht dienenden Kokons besonders Wert gelegt. Daher wurden die Fachberater für Seidenbau der Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen angewiesen, in ihren Bereichen die Raupereien zu ermitteln, die für die Lieferung dieser Kokons nach Jena am geeignetsten wären.35

Abb. 2: Kontrolle der im Kühlschrank lagernden Brut Die Nachzuchtstation war zunächst von Renate Hill geleitet worden. Ab 1948 übernahm die Diplom-Landwirtin Ursula Hense diese Aufgabe. Im Jahr 1949 wurde mit Helmut Rost noch ein weiterer Mitarbeiter eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt war die Station mit der Seidenraupenbrutgewinnung für die gesamte SBZ bzw. die DDR betraut worden. Mit Unterstützung von technischen Hilfskräften und Saisonarbeitern wurden die Aufgaben der Brutuntersuchung, Brutgewinnung und deren Versand bewältigt.36 Die Nachzuchtstation führte 33  LATh–HStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium für Land und Forstwirtschaft Nr. 2336, Bl. 50: Schreiben Prof. Hofmanns an das Ministerium für Versorgung, Hauptabteilung Landwirtschaft in Weimar vom 1. Februar 1949. 34  U[rsula] Hense/H[elmut] Rost, Die Seidenbau-Nachzuchtstation der Landesanstalt für Tierzucht Jena, in: Archiv für Geflügelzucht und Kleintierkunde 3 (1954), S. 181–183, hier S. 181. 35  LATh–HStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium für Land und Forstwirtschaft Nr. 2336, Bl. 51–57: Bericht über die Arbeit der Seidenbaunachzuchtstation für die Zeit vom 1.11.47.–31.10.48, hier Bl. 51 und 56. 36  Hense/Rost, Seidenbau-Nachzuchtstation (wie Anm. 34), S. 181.

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weiterhin Lehrgänge für Seidenbauer durch und gab Merkblätter für den Seidenbau heraus. Die Mitarbeiter berichteten darüber hinaus in verschiedenen Publikationen über ihre Arbeit.37 In Jena befand sich zugleich am Standort der Nachzuchtstation in der Kriegerstraße 1 der Landesverband Thüringer Seidenbauer. Die Jenaer Einrichtung war auch in der Weiterbildung aktiv. Da sich herausgestellt hatte, dass der Anteil der Schulen unter den Seidenbauern sehr hoch war, wurden spezielle Veranstaltungen für Lehrer durchgeführt. Aus einem Bericht über eine Tagung im Schulseidenbau in Jena am 7. Juli 1948 geht hervor, dass neben Referaten über die Geschichte und wirtschaftliche Bedeutung des Seidenbaus auch Möglichkeiten der Vermittlung dieser Thematik im Schulunterricht besprochen wurden. Es folgten Ausführungen zur praktischen Umsetzung des Seidenbaus in den Schulen und eine Besichtigung des Zuchtraums der Jenaer Forschungsanstalt.38

Abb. 3: Brutversand in Jena Nachdem die Sachbearbeiterin für Seidenbau bei der Landesregierung Thüringen im März 1949 ihr Amt verlassen hatte, wurde die Leiterin der Nachzuchtstation in Jena mit der vorübergehenden Wahrnehmung dieser Aufgaben betraut. Dazu gehörten auch Besprechungen mit den Geflügelzuchtberaterinnen, die sich in Thüringen ebenfalls um die Seidenbauer kümmerten.39 In ihrem Tätigkeitsbericht für das zweite Quartal 1949 führte Ursula Hense nicht nur dieses neue Arbeitsgebiet an, sie berichtete auch über Probleme bei der Saatgutgewinnung für Maulbeerpflanzen, die Durchführung von Kurzlehrgängen, die Bereitstellung von Materialien für die Zuchträume der Seidenbauer sowie die Überar37  Ebd., S. 182 f. 38  LATh–HStA Weimar, Land Thüringen, Ministerium für Land und Forstwirtschaft Nr. 2336, Bl. 45: Bericht über die Tagung im Schulseidenbau in Jena vom 20. Juli 1948. 39  Ebd., Bl. 59 und 113.

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beitung von Merkblättern und Anleitungen für den Seidenbau. Dieser Bericht steht damit exemplarisch für die Vielfalt der Aufgaben, die die Jenaer Einrichtung zu bewältigen hatte. Der Bericht erwähnt auch eine mit großem Interesse aufgenommene Ausstellung zum Seidenbau im Jenaer Kunstgewerbehaus Sperber, für die Schrift- und Bildtafeln zur Verfügung gestellt worden waren.40 Neben den Merkblättern und Handreichungen, die als Hilfestellung für Seidenbauer in Jena erarbeitet wurden, verfassten Fritz Hofmann und Ursula Hense mit dem Seidenbau-Ratgeber eine umfangreiche Abhandlung über Seidenbau und Seidenzucht. Zwischen 1951 und 1954 wurden im Neumann Verlag Radebeul und Berlin insgesamt vier Auflagen verlegt. Die achtzig Seiten umfassende Publikation informierte ausführlich über Seidenzucht, praktische Raupenaufzucht sowie Pflege und Nutzung von Maulbeerpflanzen. Auch die Brutgewinnung, der Brutversand und die Kokonverarbeitung wurden berücksichtigt und durch Illustrationen und s/w-Abbildungen anschaulich erläutert.41 Die Förderung des Seidenbaus in der DDR erstreckte sich auch auf die jüngste Generation. Um deren Interesse für den Seidenbau zu wecken, wurden Schulen mit der Installation von Seidenbaueinrichtungen betraut und der Seidenbau im Unterricht thematisiert. Für diese Zwecke wurden spezielle Publikationen und Anschauungsmaterialien herausgegeben, an deren Erarbeitung auch die Jenaer Wissenschaftler beteiligt waren. Die Landesregierung Thüringen ließ beispielsweise den im Juni 1949 von August Porath veröffentlichten Beitrag „Der Maulbeerseidenspinner im Biologieunterricht“ in einer größeren Auflage nachdrucken und verteilen.42 Der Verlag Rudolf Forkel Pößneck gab ein aus 36 Bildkarten bestehendes Lehr-Quartettspiel unter den Namen „Raupen spinnen Seide!“ mit einer „Einführung in die Seidenraupenzucht“ heraus, um auf spielerische Art und Weise das Interesse für den Seidenbau zu wecken. Die Illustrationen stammten vom Jenaer Künstler Ludwig Griesinger.43 Im gleichen Verlag erschien auch die „Seidenbaufibel der Jungen Pioniere“, erarbeitet von einem Autorenkollektiv des Instituts für Seidenbau Jena. Die Publikation enthält auch

40  Ebd., Bl. 113v. 41  Fritz Hofmann/Ursula Hense, Seidenbau-Ratgeber, Radebeul und Berlin 31954. 42  LATh–HStA Weimar, Bezirkstag und Tag des Bezirks Erfurt Nr. 642, Bl. 13. Der Nachdruck erfolgte auf der Grundlage der Erstveröffentlichung in „Die neue Schule“, 1. Juniheft 1949. 43  Lehr-Quartettspiel „Raupen spinnen Seide!“ mit Texten von Oskar Siegel und Illustrationen von Ludwig Griesinger, 36 Bildkarten und Booklet mit Spielanleitung, Bericht der Universität Jena zum Thema und Gespräch mit einem Seidenraupenzüchter, Pößneck 1951; Angaben zum Quartettspiel: https://www.zvab.com/servlet/BookDetailsPL?bi=17532932118&cm_mmc=aff-_-ir-_-kvk-_-17532932118 (abgerufen am 6. Dezember 2018).

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Informationen zum Jenaer Institut sowie zahlreiche Zeichnungen und s/w-Abbildungen.44 Die Seidenbau-Nachzuchtstation wurde später in Institut für Seidenbau Jena umbenannt. Sie wurde dem Rat des Bezirks Gera unterstellt. Aus den vorhandenen Quellen geht jedoch weder das genaue Datum der Umbenennung des Instituts, noch der Beginn der Unterstellung unter den Rat des Bezirks Gera hervor. Mit Sicherheit kann nur gesagt werden, dass das Institut im Jahr 1960 bereits Gera unterstellt war, da in einer Zeitungsannonce zwei Außendienstmitarbeiter für das Institut gesucht wurden und die Bewerbungen an den „Rat des Bezirks Gera, Institut für Seidenbau Jena“, zu richten waren.45 Auch das Datum der Auflösung des Instituts und somit der genaue Zeitraum seiner Existenz konnten bisher nicht ermittelt werden.46 Die Archivalien zum Seidenbau im Universitätsarchiv Jena, die sich im Bestand des Instituts für Tierzucht und Milchwirtschaft befinden, sind nicht sehr umfangreich und enden in den frühen 1950er Jahren. Im Landesarchiv Thüringen–Staatsarchiv Rudolstadt, das für die Unterlagen des ehemaligen Rats des Bezirks Gera zuständig ist, werden keine Akten des Instituts für Seidenbau Jena aufbewahrt. Im Bundesarchiv Koblenz sind unter den Unterlagen der ehemaligen DDR Berichte des Instituts für Seidenbau für die Zeit bis 1964 nachweisbar, jedoch keine Archivalien, die direkt vom Institut stammen könnten. Da sämtliche ermittelten Überlieferungen nicht über dieses Jahr hinausreichen, kann daher die Vermutung geäußert werden, dass das Institut kurz nach 1964 seine Arbeit eingestellt hat und aufgelöst worden ist.47 Aufgrund der unzureichenden Quellenlage ist es kaum möglich, Aussagen über die Arbeit des Instituts für Seidenbau in den 1960er Jahren zu treffen. Hinweise lassen sich hier lediglich der von einem Autorenkollektiv des Instituts herausgegebenen „Seidenbaufibel der Jungen Pioniere“, erschienen Anfang der 1960er Jahre, entnehmen. Im Kapitel „Ein Besuch im Institut für Seidenbau“ wird die Jenaer Einrichtung näher vorgestellt. Demzufolge standen dem Institut in seinem Gebäude Labore, Kühl- und Klimaräume sowie Aufzuchträume zur Verfügung. Angeschlossen war ein Garten mit einer großen Maulbeeranlage. Vor dem Versand wurde die Seidenraupenbrut in einem eigenen Mikroskopiersaal untersucht. Das Institut verfügte über eine eigene biologische Sammlung mit Seidenkokons verschiedener Rassen aus unterschiedlichen 44  Seidenbaufibel der jungen Pioniere, Pößneck ca. 1962. 45  Die deutsche Landwirtschaft 11 (1960) 1. 46  Laut email-Auskunft der Deutschen Nationalbibliothek, Standort Leipzig, vom 30.10.2018 ist in der 1964 erschienenen letzten Ausgabe der „Mitteilungen für Seidenbauer“, die vom Institut für Seidenbau Jena herausgegeben wurden, kein Hinweis zu einer eventuellen Schließung des Instituts enthalten. 47  Email-Auskunft des LATh–StA Rudolstadt vom 26. Oktober 2018 mit dem Hinweis, dass in Rudolstadt keine Unterlagen vorhanden sind, das Bundesarchiv jedoch Berichte des Instituts für den Zeitraum 1954 bis 1964 verwahrt.

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Herkunftsländern. Verglichen mit den Anfängen der Institutsarbeit in Jena nach 1945, als noch nicht einmal ein eigener Kühlschrank zur Verfügung stand, verfügte das Institut nun durch sein größeres Gebäude mit den darin integrierten Kühlräumen über deutlich bessere Räumlichkeiten und Arbeitsbedingungen.48 Der Garten, in einem Zeitungsbeitrag als „Maulbeerversuchsgarten“ bezeichnet, war bereits 1954 angelegt worden, um Maulbeersorten unter verschiedensten Bedingungen auf ihre Ertragsleistung zu überprüfen.49 Bisher konnte ebenfalls nicht exakt ermittelt werden, wann der Seidenbau in der DDR als wirtschaftliches Unternehmen eingestellt wurde. Das Ende des Seidenbaus in der DDR und des Instituts für Seidenbau Jena dürften jedoch zeitlich nah beieinander liegen. Noch 1963 berichtete die Zeitung „Neues Deutschland“: „Um unserer Wirtschaft den unentbehrlichen Rohstoff Naturseide zuzuführen, setzte sich die Arbeitsgemeinschaft ‚Seidenbau‘ am Seidenbauinstitut Jena zum Ziel, 500 neue Züchter zu gewinnen und während der nächsten sieben Jahre 26 Tonnen Seidenkokons zu ernten.“50 Trotz dieser bis in das Jahr 1970 reichenden Planungen, soll die Spinnhütte in Plauen schon ab 1967 ihre Rohstoffe ausschließlich aus China und Brasilien bezogen haben.51 Die vom Institut für Seidenbau Jena seit 1958 herausgegebenen „Mitteilungen für Seidenbauer“ waren bereits 1964, ohne Angabe von Gründen, eingestellt worden.52 Der letzte umfangreichere Bericht über den Seidenbau in der DDR, der in einer Zeitschrift publiziert wurde, erschien 1964. Er geht ausführlich auf die bestehenden Maulbeerpflanzungen als Futtergrundlage für die Seidenraupen ein und beziffert den Bestand auf ca. drei Millionen, ausgehend von der letzten vor Erscheinen des Beitrags durchgeführten Obstbaumzählung von 1956, bei der ein Bestand von vier Millionen Maulbeerpflanzen ermittelt worden war. Bei diesen Pflanzungen handelte es sich vorwiegend um Maulbeerhecken als Randbepflanzung an Straßen und Plätzen oder in Kleingärten, da Maulbeerplantagen in der DDR nicht auf ausgewiesenen landwirtschaftlichen Nutzflächen angelegt worden waren. Als Nutzungsdauer wurde ein Zeitraum von 30 Jahren pro 48  Seidenbaufibel der jungen Pioniere (wie Anm. 44), S. 26–28. 49  Thüringer Neueste Nachrichten vom 12. März 1955, Artikel „Nachwuchs im Eisschrank“, zitiert nach: Universitätsarchiv Jena, T Abt. V, Nr. 6 (Zeitungsausschnittsammlung), unpaginiert. 50  Neues Deutschland, Ausgabe vom 18. Mai 1963, S. 11. 51  Reinhard Wylegalla, Vom Maulbeerblatt zum Seidenkleid, in: Deutsche Apotheker Zeitung, Nr. 40 vom 6. Oktober 2011, S. 130. 52  Vgl. hierzu den Eintrag im Online-Katalog der Deutschen Nationalbibliothek unter https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=Mitteilungen+f%C3%BCr+Seidenbauer (abgerufen am 6. Dezember 2018). Die Mitteilungen sind in den online zugänglichen Bibliothekskatalogen nur in der Deutschen Nationalbibliothek, Standort Leipzig, nachweisbar.

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Pflanze veranschlagt. Die vorhandenen Pflanzungen sollten die Futtergrundlage für eine jährliche Erzeugung von 45 t Frischkokons bilden.53 Während sich bis zum Jahr 1955 der Seidenbau in der DDR kontinuierlich entwickelt hatte, war ab 1956 ein Rückgang in der Kokonerzeugung zu verzeichnen, der so bedeutend war, dass die Plauener Spinnhütte nicht mehr in der Lage war, ihr Plansoll zu erreichen. Die Staatliche Plankommission forderte daher 1959, die Erzeugung von Naturseide beizubehalten und auf den Stand von vor 1956 zurückzuführen. Daher beauftragte das Ministerium für Land- und Forstwirtschaft der DDR das Institut für Seidenbau Jena am 21. Mai 1959, auch die Anleitung der Seidenbauer zu übernehmen. Damit wurde der am 2. November 1946 von der Zentralverwaltung für Land- und Forstwirtschaft der damaligen Seidenbau-Nachzuchtstation Jena erteilte Auftrag der Brutgewinnung und Bekämpfung von Seuchen der Seidenspinnerbrut erweitert. Die Anzahl der nun durch das Institut zu betreuenden Seidenbauer in der gesamten DDR lag bei 500 bis 1.000, wobei hier nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Arbeitsgemeinschaften der Pionierorganisation oder Schulen dazuzuzählen sind. Es konnte festgestellt werden, dass 101 Seidenbauer seit mehr als zehn Jahren kontinuierlich in der Erzeugung von Seidenkokons aktiv waren.54 Bisher lässt sich nur vermuten, dass in der Mitte der 1960er Jahre die Entscheidung getroffen worden ist, den Seidenbau in der DDR nicht weiter zu betreiben. Verschiedene Gründe dürften wohl zu dieser Überlegung geführt haben. So konnte der einheimische Seidenbau nicht die von der Industrie benötigte Menge an Seidenkokons erwirtschaften, um ganz auf Importe verzichten zu können. Der Seidenbau selbst war nur mit hohem Aufwand zu betreiben und blieb, da er nur für eine bestimmte Zeit im Jahr durchgeführt werden konnte, auch nur ein Nebenerwerbszweig. Darüber hinaus waren sowohl die Menge der jährlich erzeugten Kokons als auch deren Qualität nicht vorhersehbaren Schwankungen unterworfen. Ein Hauptgrund für die aufgezeigten Schwierigkeiten dürfte wohl darin liegen, dass die Anzahl der Seidenbauer in der DDR von 2.117 im Jahr 1950 auf 495 im Jahr 1961 zurückgegangen war und der noch 1950 erreichten Kokonerzeugung von 23,8 t im Jahr 1961 eine Menge von nur noch 4,6 t Kokons gegenüberstand.55 Die Erfüllung der von der Plankommission 1959 benannten Forderung, den Seidenbau wieder zur alten Stärke zurückzuführen, erscheint angesichts dieser Zahlen als ein aussichtsloses Unterfangen. So ist wohl die Tatsache, dass der Seidenbau in der DDR etwa ab Mitte der 1960er Jahre nicht mehr als Wirtschaftsunternehmen betrieben wurde, mit Sicherheit eine ökonomische

53  Bericht über den Stand des Seidenbaues in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Archiv für Geflügelzucht und Kleintierkunde 13 (1964) 2/3, S. 57 f. 54  Ebd., S. 62 f. 55  Vgl. ebd., S. 63.

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Entscheidung gewesen, die dem sich abzeichnenden stetigen Rückgang der Seidengewinnung in den 1950er Jahren Rechnung trug. Bemerkenswert bleibt die Tatsache, dass die Universitätsstadt Jena, wenn auch mit Unterbrechungen, über einen Zeitraum von rund 115 Jahren im Bereich des Seidenbaus, der Seidenraupenzucht und der damit verbundenen Forschungen eine bedeutende Rolle einnahm. In einem Zeitungsartikel von 1956 wurde Jena als „Seidenbaumittelpunkt der DDR“ bezeichnet.56 Bis heute sind noch viele Fragen zur Rolle Jenas innerhalb der vor gut 50 Jahren zu Ende gegangenen Ära des deutschen Seidenbaus nicht beantwortet. Da sich auch die regionalgeschichtliche Forschung noch nicht intensiver mit diesem Aspekt der Jenaer Stadt- und Universitätsgeschichte auseinandergesetzt hat, eröffnet sich hier ein lohnenswertes Forschungsfeld für Regionalhistoriker.

56  Thüringer Neueste Nachrichten, Nr. 131 vom 6. Juni 1956, Artikel „Seidenraupenzüchter besuchen China“, zitiert nach: Universitätsarchiv Jena, T Abt. V, Nr. 6 (Zeitungsausschnittsammlung), unpaginiert.

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Von der reichsstädtischen Textilmanufaktur zum wirtschaftsbürgerlichen Netzwerk Familie und Firma Lutteroth in Mühlhausen im 18. und 19. Jahrhundert

Für die sich seit der Mitte der 1980er Jahre etablierende und am Ende dieses Jahrzehnts an Fahrt aufnehmende moderne deutsche Bürgertumsforschung war die Frage nach dem Rahmen, den Trägern und den Triebkräften des Übergangs aus der vormodernen Ständegesellschaft in die Bürgergesellschaft des 19. Jahrhunderts das zentrale Forschungsproblem. Der modernisierungstheoretische Ansatz, der sich vor allem mit einem Bielefelder DFG-Sonderforschungsbereich zur Bürgertumsgeschichte verband, deutete die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft – all dies natürlich verkürzt und zugespitzt gesagt – als Emanzipationsprozess aus den alten, als statisch und innovationsfeindlich betrachteten stadtbürgerlichen Strukturen, der von einer in dieser Theoriebildung als „neue Bürgerliche“ apostrophierten Sozialgruppe getragen worden sei. Diese sei vor allem durch ein Bildungsbürgertum geprägt gewesen, das die Werte und Normen entwickelt und verbreitet habe, die diese neue Sozialgruppe zusammenhielten. Diese Führungsrolle eines neuen, im wesentlichen außerhalb städtischer Strukturen stehenden bzw. in ihnen als Randgruppe existierenden Bildungsbürgertums und der „neuen Bürgerlichen“ bei der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft bestritt dann ein 1988 in Frankfurt am Main etabliertes Projekt zur Erforschung von „Stadt und Bürgertum“ im 19. Jahrhundert. Die Frankfurter Bürgertumsforschung stellte nicht nur die Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten und Potenzialen stadtbürgerlicher Strukturen – im Alten Reich wie im gesamten 19. Jahrhundert der bürgerliche Lebensraum schlechthin – , sondern bestritt auch die schematische Trennung zwischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertum und die Konstruktion der Sozialgruppe der „neuen Bürgerlichen“: Nicht nur hätten sich die verschiedenen stadtbürgerlichen Gruppen veränderungsfähiger und offener gezeigt, als der modernisierungstheoretische Ansatz nahelege. Vor allem seien die Impulse zur Veränderung aus einem Wirtschaftsbürgertum hervorgegangen, das in Kooperation mit stadtbürgerlichen Eliten (ja in dem Bestreben selbst Teil dieser Eliten zu werden) sowie dem traditionalen, zünftisch organisierten Handwerk und Gewerbe agiert, und

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dies, ohne dass eine Bruchlinie zu erkennen sei, mit der Hochschätzung neuer bürgerlicher Bildung verknüpft habe.1 Die politikgeschichtlichen Fragestellungen der Bürgertumsforschung waren und sind – auch nach der vielfältigen Relativierung und Differenzierung der hier schematisch umrissenen Positionen – also natürlich ganz entscheidend auch sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen. Die Erfassung der bürgerlichen Lebenswelt und damit Antworten auf die skizzierten bürgertumsgeschichtlichen Fragen sind nur in zusammenklingender Betrachtung von Wirtschaften und Arbeiten, Herrschaft und Politik, Kultur-, Lebens- und Glaubensformen bürgerlicher Protagonisten möglich – wobei es seit den 1990er Jahren zu einem in allen bürgertumsgeschichtlichen Zugriffen und Differenzierungen zustimmungsfähigen und inzwischen auch vielfach empirisch untermauerten Grundansatz geworden ist, dass die Herausbildung und Durchsetzung eines bürgerlichen Werte- und Normenkanons ein zentrales Element bei der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland war.2 Obwohl gerade der mitteldeutsche Raum, Kursachsen, die thüringische und anhaltische Staatenwelt – man denke nur an Leipzig als eines der Zentren von Handel, Gewerbe und Öffentlichkeit im Reich – außerordentlich aussagekräftige und lohnenswerte Untersuchungsbeispiele für bürgertumsgeschichtliche Fragestellungen geboten hätten, sorgte die deutsche Teilung dafür, dass dieser Raum nicht in den Fokus der Bürgertumsforschung rückte: Schon allein die Schwierigkeiten bzw. die Unmöglichkeit des Quellenzugangs, aber z. T. auch eine Ausblendung des mitteldeutschen Raumes, der mit der sich verfestigenden Zweistaatlichkeit in wachsende Ferne zu geraten schien, hinderten die bundesdeutsche Forschung daran. In der DDR-Geschichtswissenschaft wären gerade die modernisierungstheoretischen, teilweise marxistisch inspirierten, sozialgeschichtlichen Fragestellungen der Bielefelder Bürgertumsforschung durchaus anschlussfähig gewesen. Aber gerade darin lag das Problem: Nicht nur schien es aus der Perspektive der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft inopportun, alternativen marxistisch „informierten“ Theoriebildungen Raum zu geben. Die nicht in Frage zu stellenden Grundaxiome einer formationstheoretischen marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung standen eingehenden sozialgeschichtlichen Analysen zudem oft im Weg. Dennoch gab es auch 1 

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Statt an dieser Stelle viele programmatische Sammelbände und Einzelstudien der Projekte aufzuführen, sei auf die beiden kritischen Rück- und Ausblicke Beteiligter mit ihren Literaturangaben verwiesen: Dieter Hein, Stadt und Bürgertum im „langen“ 19. Jahrhundert. Ein kritischer Rückblick auf das Frankfurter Leibnizprokjekt, in: Manfred Hettling/Richard Pohle (Hrsg.), Bürgertum. Bilanzen, Perspektiven, Begriffe, Göttingen 2019, S. 59–81; Thomas Mergel, Die Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums im Bielefelder SFB 177 (1986–1997), in: ebd., S. 83–103. Vgl. z. B. Hans-Werner Hahn/Dieter Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Köln/Weimar/Wien 2005.

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eine DDR-Sozialgeschichte, die sich nicht nur den Arbeitern (hier wurde Hartmut Zwahr am bekanntesten), sondern auch – so etwa in den Arbeiten von Helga Schultz – den Stadtbürgern zuwandte.3 Für das Wirtschaftsbürgertum galten diese Schwierigkeiten ganz besonders und auch nach 1990 wandelte die Aufmerksamkeit der nun für die mitteldeutsche Region wieder verstärkt einsetzenden, an Ansätze der 1950er und frühen 1960er Jahre anknüpfenden Stadt- und Bürgertumsforschung4 eher in den Spuren der These von den „neuen Bürgerlichen“ oder aber wandte sich in der Folge der Konzentration auf das Phänomen der Weimarer Klassik und das „Ereignis Weimar-Jena“ den Bildungsbürgern zu.5 Gerade hier zeigte sich – etwa an Gestalten wie Friedrich Justin Bertuch6 – noch einmal, wie unfruchtbar letztlich eine schematische Trennung zwischen wirtschaftendem Bürgertum und Bildungsbürgertum oftmals ist. Ein Jenaer Projekt zum Bürgertum in Thüringen, aus dem ein auch programmatisch so betitelter Sammelband hervorging, machte das ebenso deutlich.7 Dennoch: Dezidierte Untersuchungen zum mitteldeutschen Wirtschaftsbürgertum in der Formierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. für die Zeit ab der Mitte des 17. und das 18. Jahrhundert sind noch immer nicht zahlreich vorhanden – und ganz besonders gilt das für den thüringischen Raum. Dabei bietet ein Familienverband, wie die Familie Lutteroth, der im folgenden in seinen Untersuchungspotenzialen für eine Bürgertums-, Wirtschaftsund Sozialgeschichte im thüringischen Raum des 18. und 19. Jahrhunderts skizzenhaft vorgestellt werden soll, dazu nahezu ideale Voraussetzungen. Das hat 3  Vgl. beispielhaft: Hartmut Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Berlin 1978; Helga Schultz, Berlin 1650–1800. Sozialgeschichte einer Residenz, Berlin 1987. 4  So z. B. an die sozial- und familiengeschichtlichen Untersuchungen Wolfgang Huschkes. Vgl. Wolfgang Huschke, Forschungen über die Herkunft der thüringischen Unternehmerschicht des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden 1962. 5  Das hing vor allem mit dem Großforschungsunternehmen des Jenaer DFG-Sonderforschungsbereichs 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ zusammen, der von 1998–2010 arbeitete. Vgl. zur Bilanz Olaf Breidbach/Georg Schmidt (Hrsg.), Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800, Paderborn 2015. 6  Vgl. Katharina Middell, „Die Bertuchs müssen doch in dieser Welt überall Glück haben“. Der Verleger Friedrich Justin Bertuch und sein Landes-Industrie-Comptoir um 1800, Leipzig 2002; Julia A. Schmidt-Funke, Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft. Die politische Publizistik des Weimarer Verlegers Friedrich Justin Bertuch, Köln/Weimar/ Wien 2005; Katharina Middell., „Dann wird es wiederum ein Popanz für Otto …“. Das Weimarer Landes-Industrie-Comptoir als Familienbetrieb (1800–1830). Mit einem Anhang ungedruckter Dokumente, Leipzig 2006. 7  Vgl. Hans-Werner Hahn/Werner Greiling/Klaus Ries (Hrsg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Jena/Rudolstadt 2001.

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inhaltlich-sachliche und überlieferungsgeschichtlich-historiographische Gründe. Die inhaltlichen Gründe liegen in der Breite bürgerlicher Lebensentwürfe und Lebenswege, die sich in der Familie Lutteroth schon früh, bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts präsentieren: Denn es war eben nicht nur die Führung des sich immer mehr verzweigenden, erfolgreichen Handelshauses, für das diese Familie steht, auch wenn der bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts außerordentliche ökonomische Erfolg der Lutteroths und ihr Ausgreifen in charakteristische Investitionsfelder der Zeit wie den Bergbau und die Landwirtschaft natürlich stets die Grundlage der familiären Entwicklung blieb. Und es ist nicht nur die für bürgertumsgeschichtliche Problemstellungen im engeren Sinne bei den Lutteroths sehr ergiebige Frage, wie die Familie, die ihren Sitz und Tätigkeitsschwerpunkt Anfang des 18. Jahrhunderts aus dem benachbarten kursächsischen Thüringen in die Reichsstadt Mühlhausen verlagerte, sich in die reichsstädtische Gesellschaft integrierte, in welches Verhältnis sie zu den Eliten, der Ratsoligarchie, der wirtschaftlichen Oberschicht und dem zünftisch organisierten Handwerk der Reichsstadt trat, die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, wie so viele Reichsstädte der Zeit, von heftigen, in Mühlhausen zum Teil gewaltsam ausgetragenen Verfassungskämpfen erschüttert wurde.8 Früh begann sich auch – und hier zeigten sich andere, weiterführende Wege – das für ein Handelshaus fundamentale Problem von Geldbeschaffung, Kredit und finanziellen Transaktionen in der Form verschiedener Bankfirmen der Familie zu verselbständigen. Dies ist vor allem im Zeichen der später noch zu erörternden Frage bedeutsam, welche Strategien des „Oben-Bleibens“9 im Übergang von der gewerblichen zur industriellen Wirtschaft bestanden und warum aus dem europaweit agierenden, im mitteldeutschen Raum zu den ersten Adressen gehörenden Handelshaus des 18. Jahrhunderts kein „global player“ des „langen“ 19. Jahrhunderts wurde, wie das anderen Protagonisten der thüringischen Textilproduktion und des Textilhandels durchaus gelang. Daneben wurden in der Familie Lutteroth auch vielfältige Wege ins Bildungsbürgertum beschritten, die über den Hof- und Beamtendienst bei den benachbarten Territorien, vor allem in Preußen und Hessen, bis hin zu zentralen staats- und nationalpolitischen Handlungsfeldern der Politik des 19. Jahrhunderts, aber natürlich auch zu Wissenschaft und Kunst reichten. 8 

Vgl. dazu Thomas Lau, Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in den Reichsstädten Mühlhausen und Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Bern u. a. 1999. 9  Vgl. zu dieser in der Adelsforschung entwickelten Perspektive Rudolf Braun, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben. Adel im 19. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990, S. 87–95. Vgl. u. a. auch Dominic Lieven, Abschied von Amt und Würden. Der europäische Adel 1815–1914, Frankfurt am Main 1995; Eckardt Conze/Monika Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2004.

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Überlieferungs- und historiographiegeschichtlich sind die Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit der Familie und den Handelshäusern der Lutteroths vor allem deshalb günstig, weil sich bei ihnen schon früh ein ausgeprägtes familiengeschichtliches Bewusstsein und Selbstbewusstsein zeigte. Christina Maria Lutteroth, die Frau des gleich noch näher zu betrachtenden ersten Mühlhäuser Lutteroth Christian Lutteroth, der das Handelshaus 1713 nach Mühlhausen transferierte,10 legte ab 1707 den Grundstein zu intensiven familiengeschichtlichen Forschungen, Aufzeichnungen, Chroniken, Brief- und Gedichtsammlungen und schließlich auch Publikationen, die in der Familie bis ins 20. Jahrhundert betrieben wurden und ein umfängliches Familienarchiv entstehen ließen.11 Die Einheirat Christina Marias, die eine Tochter des Langensalzaer Bürgermeisters Christoph Schmidt war, brachte die Lutteroths übrigens auch in familiäre Verbindung zu deren Neffen, dem Dichter Friedrich Gottlob Klopstock.12 10  Zu den familiengeschichtlichen Angaben vgl. v. a. Mathilde Lutteroth, Das Geschlecht Lutteroth, Hamburg 1902, besonders S. 255–350; Lutteroth, in: Bernhard Koerner (Hrsg.), Genealogisches Handbuch Bürgerlicher Familien. Ein deutsches Geschlechterbuch, Bd. 18, Görlitz 1910, S. 140–242 (hier sind alle Zweige des Hauses Lutteroth umfassend genealogisch aufgearbeitet); Heinz-Rudolf Keil, Etliche Mühlhäuser Geschlechter im Mittelalter. Teil 2, [Hanau] 2005, S. 477–503. 11  Erinnerungen, Aufzeichnungen und Briefe von Familienmitgliedern sind verschiedentlich publiziert. Besonders verdient machte sich hier der Hamburger Jurist Ascan Wilhelm Lutteroth (1874–1960), der nach seiner Pensionierung als Landgerichtsdirektor umfängliche familiengeschichtliche Forschungen betrieb. Er war ein Urenkel des Begründers der Hamburger Linie der Lutteroths, des Senators und Bürgermeisters Ascan Wilhelm Lutteroth (1783–1867). Vgl. u. a. Ascan Lutteroth (Bearb.), 1762–1763. Briefe des Hofrates Gottfried Lutteroth (1713–1779) zu Mühlhausen/Thüringen an den Geheimen Rat Alexander Adam Freiherr v. Sinclair (1713–1778). Minister von Hessen-Homburg in Homburg v. d. Höhe, Hamburg 1944 (Ms.); Ascan Wilhelm Lutteroth, Leitfaden durch das Familienarchiv Lutteroth. 2 Tle., Hamburg 1943; Ders. (Hrsg.), Der Kampf um des Reiches Zukunft in den Jahren 1802 bis 1815 (Nach Tagebüchern und Briefen des Familienarchivs Lutteroth). Ein Zeitbild von Margot Boger (1935), Hamburg 1944; Ders., Über den 1922 im Mannesstamm ausgestorbenen Pariser Zweig der Familie Lutteroth. Insbesondere über 1. die Familie Henri Lutteroth 1802 bis 1889 und über 2. Alfonse Lutteroth 1806 bis 1882, [Hamburg] 1945 (Ms.); Ders., Katalog über 256 Familienbildnisse Lutteroth aus den Jahren 1720 bis 1945. Nebst Lebensbeschreibung der 112 im Bilde Dargestellten, mit Anhang über sonstige Familienbilder, Hamburg 1945 (Ms.); Ders., Streiflichter aus meinem 70-jährigen Leben, Hamburg 1946; Ders., Nun zu guterletzt! (Aus dem Familienarchiv Lutteroth), Hamburg 1948. 12  Vgl. J[ohann] M[artin] Lappenberg (Hrsg.), Briefe von und an Klopstock. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit, Braunschweig 1867, S. 439. Ansonsten waren die Beziehungen zwischen den Familien Lutteroth und Klopstock aufgrund eines langwierigen Rechtsstreites um die Rückzahlung eines Kredits für den Vater des Dichters, Gottlieb Heinrich Klopstock, für den Christina Maria Lutteroth (geb. Schmidt) gebürgt hatte, eher gespannt. Vgl. Helmut Pape, Die gesellschaftlich-wirtschaftliche Stellung Friedrich Gottlieb Klopstocks, Bonn 1962, S. 18, 251 f.

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Abb. 1: Senator Christian Lutteroth liest seiner Familie aus Familienaufzeichungen vor. Schattenriß, 1790 Dass diese Beschäftigung mit der Familiengeschichte keineswegs nur eine „Liebhaberei“ war und einem antiquarischen Interesse einzelner Lutteroths entsprang, sondern dass sie einen Kern dessen darstellte, was Michael Maurer als das Herauswachsen aus der ständischen in die bürgerliche Lebenswelt durch auto- und familienbiographische „Arbeit“ des Bürgers herausgestellt hat,13 macht ein programmatischer Schattenriss der Kernfamilie deutlich, den Christian Lutteroth (II.), der die Firma 1786 gemeinsam mit seinen Brüdern vom Vater übernommen hatte, 1790 anfertigen ließ: Der Titel wies darauf hin, dass das links stehende Oberhaupt der Familie und der Firma, Christian Lutteroth, der Familie „aus einer alten Familienpostille“ vorlese, während der auf dem Schoß der Mutter sitzende Ascan Wilhelm Lutteroth, einer der Erben des Hauses, dabei ein Bild seines Großvaters Johann Christian Lutteroth betrachtet, der die Firma ab den 1720er Jahren zu einer ersten großen Blüte und Ausdehnung geführt hatte. Der Erstgeborene Christian Karl Lutteroth, der dann allerdings kurz nach der Anfertigung des Schattenrisses, im Oktober 1790 erst elfjährig sterben sollte, macht sich Notizen zu den vom Vater vorgetragenen familiengeschichtlichen Informationen. Der Unternehmenserbe weist mit dem Finger auf sich selbst; Mutter und jüngerer Bruder zugleich auf das Bildnis des Großvaters 13  Vgl. Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815), Göttingen 1996.

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und den Erben. Was die neuere, und in den letzten Jahren ausgedehnte geschichts- und wirtschaftswissenschaftliche „Familiy business“-Forschung herausgearbeitet hat: Dass die Unternehmerfamilie einen hierarchisch interdependenten Sozialisationskontext für Wirtschaftsgesinnung, unternehmerische Strategien und unternehmerische Werte, für das „Entrepreneurial Mindset“ darstellt – das wird in solchen Selbstinszenierungen einer Unternehmerfamilie des 18. Jahrhunderts überdeutlich.14 Zur ausgedehnten und facettenreichen familiengeschichtlichen Forschung tritt – dies nur als kurze Bemerkung – eine gute Quellenlage auch in Bezug auf die Unternehmen der Lutteroths. Im Stadtarchiv Mühlhausen befindet sich ein Bestand, der sich hauptsächlich aus Kassen- und Musterbüchern einer der Teilund Nachfolgefirmen der Lutteroths in Mühlhausen, der 1801–1827 geführten Firma „Heinrich & Christian Lutteroth“ zusammensetzt.15 Die ausgedehnte Geschäftstätigkeit, die Konflikte der Lutterothschen Handelshäuser innerhalb der Stadt Mühlhausen aber auch mit auswärtigen Territorien und Geschäftspartnern haben – ohne dass diese im Rahmen dieser Skizze geprüft, geschweige denn gesichtet werden konnte – archivalische Überlieferung entstehen lassen, die am Magdeburger Standort des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt und im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu finden ist. Ältere, erst spät gedruckte und nur im Manuskript vorliegende Arbeiten, wie Karl Paul Haendlys Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Eichsfeldes, die Kieler Dissertation Rudolfs Knabes zur Entwicklung der Mühlhäuser Textilindustrie von 1922 oder die Untersuchung von Fritz Fenner zum Handelshaus Lutteroth von 1934 haben diese Quellen z. T. unter den ihnen damals relevant erscheinenden Gesichtspunkten ausgewertet.16 Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Forschungslage, dass es diese ca. 80 Jahre alten Manuskripte und die mehr als 100 Jahre alten genealogischen Untersuchungen Lutterothscher Familienmitglieder sind, 14  Vgl. dazu u. a. Rudolf Wimmer/Torsten Groth/Fritz B. Simon, Erfolgsmuster von Mehrgenerationen-Familienunternehmen, Witten 2004; Donata Mussolino/Andrea Calabro, A., Paternalistic leadership in family firms: Types and implications for intergenerational succession, in: Journal of Family Business Strategy 5 (2014), S. 197–210; Nadine Kammerlander u. a., The Impact on Shared Stories on Family Innovation: A Multicase Study, in: Family Business Review 28 (2015), S. 332–354; Simon Caspary, Das Familienunternehmen als Sozialisationskontext für Unternehmerkinder, Wiesbaden 2018. Aus historischer Perspektive für Mitteldeutschland: Michael Schäfer, Familienunternehmen und Unternehmerfamilien. Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der sächsischen Unternehmer 1850–1940, München 2007. 15  Vgl. Stadt- und Verwaltungsarchiv Mühlhausen, 31/7 (Firma Lutteroth). 16  Vgl. Karl Paul Haendly, Das kurmainzische Fürstentum Eichsfeld im Ablauf seiner Geschichte, seine Wirtschaft und seine Menschen 897 bis 1933, Duderstadt 1996; Rudolf Knabe, Zur Entwicklung der Mühlhäuser Textilindustrie, Diss., Kiel 1922 (Ms.); Fritz Fenner, Das Handelshaus Lutteroth in Mühlhausen, Mühlhausen 1934 (Ms.).

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an denen heute zur ersten Orientierung anknüpfen muss, wer sich mit dieser bedeutenden Wirtschaftsbürgerdynastie beschäftigen will. Wer war diese Familie, woher kam sie und welche Entwicklungswege von Unternehmen und Familie zeichneten sich im 18. und im frühen 19. Jahrhundert ab? Quellenmäßig greifbar wird der Familienverband – darauf sei nur knapp verwiesen – seit der Zeit um 1200 auf dem Eichsfeld sowie im Harz und Harzvorland. Bereits im 13. und 14. Jahrhundert waren Lutteroths in der reichsstädtischen Elite Nordhausens etabliert und stellten dort bis 1667 neun Bürgermeister und fünf Ratsherren.17 Der in der Familie bis in das 20. Jahrhundert vielfach verwendete, ungewöhnlich anmutende Vorname „Ascan“ leitet sich von dem in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Wernigerode lebenden, bereits wohlhabenden Hütten-, Papiermühlen- und Gutsbesitzer Ascanius I. Lutteroth her, der den Beinamen „Asche“ von „Ask“, dem niederdeutschen Wort für „Esche“ führte. Die familiengeschichtliche Tradierung ergab sich wohl aber nicht nur aus dem gewerblich-unternehmerischen Erfolg dieses Lutteroths des 16. Jahrhunderts, sondern auch aus der Person des Kaufmannes Ascanius II. Lutteroth (oder Lutterodt), der 1612–1628 regierender Bürgermeister von Magdeburg, in Stadt und Umgebung ebenfalls begütert war und die Familie eng mit dem Magdeburger Patriziat, besonders der bekannten Magdeburger Rats- und Bürgermeisterdynastie der Gerickes vernetzte: 1594 heiratete der aus Stendal gebürtige Lutteroth in Magdeburg Gertraud Gericke. Ein Enkel seines Schwiegervaters Marcus Gericke sollte der berühmte, 1602 geborene Magdeburger Bürgermeister und Naturforscher Otto von G(u)ericke sein, der 1666 von Kaiser Leopold I. in den Adelsstand erhoben wurde (und seinem Familiennamen erst bei dieser Gelegenheit das „u“ einfügte).18 Die Lutteroths waren also alles andere als „Newcomer“, als sich der 1675 geborene Christian Lutteroth, der seit 1703 Teilhaber, dann alleiniger Besitzer eines Tuchhandels in Langensalza gewesen war, 1713 in Mühlhausen niederließ. Die Entscheidung war durch eine Mischung aus ökonomisch-finanziellen Standortüberlegungen und individuellem Schicksal zustande gekommen: Da war einerseits der wachsende Steuerdruck in Kursachsen, der für Handel und Gewerbe besonders durch die Einführung der Generalkonsumtionsakzise beträchtlich geworden war, mit der Kurfürst Friedrich August I. sich im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts vom ständischen Kredit unabhängig machte.19 17  Vgl. Koerner, Lutteroth (wie Anm. 10), S. 143. 18  Vgl. ebd., S. 171 f.; Keil, Mühlhäuser Geschlechter (wie Anm. 10), S. 478 f. 19  Vgl. zur Gesamtproblematik Willy A. Boelcke, „Die sanftmütige Accise“. Zur Bedeutung und Problematik der „indirekten Verbrauchsbesteuerung“ in der Finanzwirtschaft der deutschen Territorialstaaten während der frühen Neuzeit, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 21 (1972), S. 93–139. Zu Sachsen: Robert Wuttke, Die Einführung der Land-Accise und der Generalkonsumtionsaccise in Kursachsen auf Grund von archivalischen Quellen dargestellt, Leipzig 1890; Artur Reuschel, Die

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Diesem Steuerdruck standen günstige Steuerverhältnisse in der nahegelegenen, zudem noch dichter an der eichfeldischen Zulieferregion liegenden Reichstadt gegenüber. Und da war vor allem die Zerstörung des Hauses der Lutteroths in Langensalza und des größten Teils ihres Warenlagers durch einen Stadtbrand am 13. Februar 1711, der Lutteroth einen Schaden von 20.000 Reichstalern verursachte.20 Wirtschaftlich war die Übersiedlung in die Reichsstadt also durchaus ein Neuanfang für Christian Lutteroth. Grundlage des nordwestthüringischen Tuchhandels war die Herstellung von hochwertigen Wolltuchen, vor allem dem sogenannten Raschzeug, auf dem Eichsfeld, wo sich die traditionelle Hausspinnerei und -weberei seit dem späten Mittelalter zu einem hausindustriellen Textilgewerbe intensiviert hatte, das in Verbindung mit der Landwirtschaft den Haupterwerb des kurzmainzischen Territoriums darstellte. Das Obereichsfeld wurde neben der Zeugmacherei, also der Weberei mit Garnen aus gekämmter Schafwolle, vor allem durch die Leineweberei, die Herstellung von Leinenstoffen geprägt. Mitte der 1760er bis Mitte der 1770er Jahre waren nach der Erfassung des Historikers und Statistikers August Ludwig Schlözer in den obereichsfeldischen Ämtern bei einer Bevölkerung ca. 54.000 Personen 3.000 Webstühle in Betrieb; ca. 25 Prozent der Einwohner im Obereichsfeld lebten hauptsächlich vom Textilgewerbe. Daraus ergab sich eine auch im Reichsmaßstab sehr beträchtliche Textilproduktion dieser kurmainzischen Exklave. Der bekannte Nationalökonom Walter Troeltsch errechnete 1897 in einer damals gewerbegeschichtlich wegweisenden Studie zur Calwer Textilkompagnie und zum altwürttembergischen Textilgewerbe, dass die Eichsfelder Produktion die Zeugherstellung des viermal größeren Herzogtums Württemberg im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts um das Doppelte übertraf.21 Noch im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatten die umliegenden Städte, allen voran die Reichsstadt Mühlhausen, die von der kurmainzischen Herrschaft steuerlich geförderte Ausbreitung der ländlichen Zeugmacherei auf dem Eichsfeld im Hinblick auf die Textilproduktion in ihren Städten bekämpft. 1718 klagte der Mühlhäuser Rat, dass „die eingesessene Pfuscherey auf dem Eichsfelde mit Machung der Rasche und Wollenkämmen so überhand Einführung der Generalkonsumtionsakzise in Kursachsen und ihre wirtschaftspolitische Bedeutung, Leipzig 1930. 20  Vgl. Lutteroth, Geschlecht Lutteroth (wie Anm. 10), S. 259; Haendly, Fürstentum Eichsfeld (wie Anm. 16), S. 168 f. 21  Vgl. Walter Prochaska, Die Entwicklung des Textilgewerbes auf dem Eichsfelde, [Heiligenstadt 1963], S. 12 f. Vgl. auch Walter Troeltsch, Die Calwer Zeughandlungskompagnie und ihre Arbeiter. Studien zur Gewerbe- und Sozialgeschichte Altwürttembergs, Jena 1897, S. 196. Zur wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Entwicklung auf dem Eichsfeld vgl. auch Josef Hartmann, Die kurmainzischen Ämter des mittleren und oberen Eichsfeldes. Untersuchungen zur Verwaltung, Bevölkerungsentwicklung und Sozialstruktur eines geistlichen Fürstentums, Diss. phil., Halle-Wittenberg 1962.

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genommen, daß fast nicht ein einziges Dorf übrig, das nicht mit dergleichen Pfuscherey belegt sey.“ Dadurch sei das Handwerk in den umliegenden Städten Erfurt, Duderstadt, Mühlhausen, Göttingen, Eisenach, Langensalza und Eschwege bereits schwer geschädigt worden, ja es sei, „Was die tuch- und Raschmacher betrifft, totaliter ruiniert und der Wollhandel ganz und gar destruirt.“22 Für Mühlhausen, und genau hier setzten die Lutterothschen Unternehmungen an, war diese – letztlich nicht aufzuhaltende – Rustikalisierung der Textilerzeugung aber auch eine Chance. Die Stadt etablierte sich als ein Distributions- und (auch das sollte ein Kern der Lutterothschen Firmen werden) Weiterverarbeitungs- und Veredlungszentrum der eichsfeldischen Zeuge. Die Viertelsmeister der um den Tuchhandel mit Mühlhausen konkurrierenden Stadt Eisenach beklagten sich im Oktober 1787 bei Herzog Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach, die „nunmehr etablierten Eichsfelder Dorfpfuscher“ hätten „die Mühlhäuser Handlung fundiert, diese hat die Vorteile der Nähe des Eichsfeldes […]. Mithin können die Mühlhäuser Kaufleute wohlfeilere Preise stellen als die hiesigen“.23 Und auch Gottlieb Hagenbruch, Steuersekretär aus Langensalza, wusste, wovon er in diesem Zusammenhang sprach: Sein Vater Johann Gottlieb war mit einer Tochter aus dem Hause Lutteroth verheiratet und Geschäftspartner des dritten Sohnes des eben erwähnten, 1713 nach Mühlhausen gekommenen Christian Lutteroth, des Textilhandelsunternehmers Ascan Wilhelm Lutteroth, in der 1751 ausgegründeten Teilfirma „Lutteroth & Hagenbruch“ gewesen. Er schrieb 1802: „Mühlhausen genoss vor allem die Vorteile der eichsfeldischen Weberei. In der Freien Reichsstadt blieben die Manufakturisten ebenfalls von weiteren Abgaben unbeschwert. Zu den Mühlhäuser Sansparails oder Golgasdrucken lieferte das Eichsfeld die Ware […].“24 Beim Golgasdruck handelt es sich um das Bedrucken von Wollstoffen durch das Einschnüren oder Einpressen des Stoffes an den Stellen, die von der Farbe oder der Bleiche nicht berührt werden sollen (Bandanadruck).25 Färben und Drucken gehörte auch zum Geschäftsmodell des Mühlhäuser Neueinrichters von 1713, Christian Lutteroth. Denn dieser nutzte nicht nur den Standortvorteil der Nähe zum Eichsfeld, sondern begann auch sofort mit der Veredelung der Stoffe, was schnell zünftischen Widerstand hervorrief. Die Mühlhäuser Gewandschneiderinnung führte beim Rat Klage darüber, dass Lutteroth die Wollstoffe selbst veredele und verkaufe, fand aber kein Gehör.26 Sol22  23  24  25 

So zit. in: Prochaska, Entwicklung des Textilgewerbes (wie Anm. 21), S. 16. So zit. ebd. So zit. ebd., S. 19. Max Heiden, Handwörterbuch der Textilkunde aller Zeiten und Völker. Für Studierende, Fabrikanten, Kaufleute, Sammler und Zeichner der Gewebe, Stickereien, Spitzen, Teppiche und dergl., sowie für Schule und Haus, Stuttgart 1904, S. 49, 224. 26  Haendly, Fürstentum Eichsfeld (wie Anm. 16), S. 169.

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che Auseinandersetzungen sollten sich – sicher auch befeuert von Konkurrenten – wiederholen: Mitte des 18. Jahrhunderts z. B. mussten die Lutteroths eine Entscheidung des Wetzlarer Reichskammergerichts erwirken, um sich gegen die Mühlhäuser Färberinnung durchzusetzen, die auf Verletzung ihres Privilegs klagte.27 Insgesamt aber verlief die Etablierung Lutteroths in der kleinen Reichsstadt zunächst fast erstaunlich reibungslos; vielleicht haben Patronageverhältnisse, die über seinen Schwiegervater, den (wie bereits erwähnt) aus einer alteingesessenen Ratsfamilie stammenden Langesalzaer Bürgermeister Schmidt, in eine der entscheidenden Fraktionen des reichsstädtischen Rats hineinreichten, dazu beigetragen. Zumindest Christian Lutteroth konnte nicht nur schnell, bereits 1714, das Mühlhäuser Bürgerrecht erwerben, er stieg auch mit frappierender Schnelligkeit in die reichsstädtische Elite auf: Denn es war, wie der Mühlhäuser Superintendent Johann Jacob Lungershausen in einem bei den Trauerfeierlichkeiten in der Mühlhäuser Divi Blasii-Kirche verlesenen Lebenslauf über Lutteroth schreiben sollte weil Er, in allen seinen Verrichtungen, jederzeit eine sonderbare Prudence und Klugheit von sich verspühren lassen, […] ein Hoch Edler und Hochweiser Rath dieser Kayserl. freyen Reichs-Stadt Mühlhausen, bewogen worden, Ihn 1719 mit in den Raths-Stand zu erheben, welchen Amte nebst allen seinen anderen Verrichtungen, er auch bis an sein Ende treulich obgelegen.28

Lutteroth war damit rasch in den politischen Entscheidungsort der Reichsstadt aufgerückt. Die komplizierte Organisation dieses Rates in der zu Beginn des 18. Jahrhunderts bestehenden und im Laufe des 17. Jahrhunderts konsolidierten Form der Stadtverfassung sollte zumindest de jure die Ausbildung eines klientelistisch-oligarchischen Regiments eindämmen, was den Forderungen des überwiegenden Teils der nicht am Rat beteiligten, in einem weitgehend ausgeschalteten Bürgerausschuss organisierten Bürgerschaft entsprach. Der Rat, daher auch „Senatus Triplex“ genannt, bestand aus drei sich jährlich in der Funktion des „Senatus ordinarius“, also des regierenden Rates, abwechselnden Räten, die sich ihrerseits jeweils aus 24 Senatoren, 12 gelehrten und 12 handwerklichen Mitgliedern („Mechanici“ genannt) zusammensetzten, die aus ihrer Mitte zwei „Consul“ genannte Bürgermeister wählten. So gab es in Mühlhausen bis zur Reform der Stadtverfassung, die nach langen Verfassungskämpfen erst 1757 in Form eines kaiserlichen Beschlusses abschließend geregelt wurde, sechs Bürgermeister und 72 Ratsherren, von denen jeweils zwei als regierende Bürgermeister und 24 als regierender Rat fungierten, in wichtigen Entscheidungen aber alle Mitglieder des Senatus triplex einbeziehen mussten.29 Auch der Mühlhäuser 27  Vgl. Lau, Bürgerunruhen (wie Anm. 8), S. 170 (Anm. 86). 28  So zit. in Lutteroth, Geschlecht Lutteroth (wie Anm. 10), S. 262. 29  Zur Verfassung der Reichsstadt Mühlhausen vgl. Reinhard Jordan, Zur Verfassungsgeschichte der Stadt Mühlhausen in Thüringen im 18. Jahrhundert, in: Mühlhäuser Ge-

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Senat war – dies sei mit Verweis auf die umfängliche Forschungsliteratur zu Verfassungskonflikten in den der Reichsstädten des 17. und 18. Jahrhundert hier ganz verkürzt angemerkt30 – innerhalb wie außerhalb der Kommune durchsetzungsschwach und trug wie alle anderen reichsstädtischen Räte auch, „den Charakter von Familienverbänden“31, selbst wenn es, wie etwa in Mühlhausen, kein über Jahrhunderte eingewurzeltes kontinuierliches reichsstädtisches Patriziat gab, sondern die dominierenden Familien und ihre Ratsfraktionen im Laufe der Zeit wechselten. Verwundert das rasche Aufrücken Christian Lutteroths also unter diesem Gesichtspunkt, so lässt doch ein anderer von der Reichsstadtforschung herausgestellter Umstand die Entwicklung nachvollziehbarer erscheinen: Im Zweifelsfall hätten ökonomische Interessen familiär-klientelistische Motive bei der Kooption in den Rat tendenziell überwogen. Offensichtlich wollte man den neuen Tuchgroßhändler und -veredler, dessen Handelshaus schon in den wenigen Jahren seit 1713 einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg erlebt hatte, 1719 in die städtische Führungsschicht einbeziehen. Umgekehrt galt offenbar, dass seine Nachfolger, die schon in der zweiten Mühlhäuser Generation zum konkurrenzlos beherrschenden „Player“ unter den Handelshäusern und Tuchfabrikanten der Stadt geworden waren, von eben dieser Ratssphäre ferngehalten werden sollten. Denn als Christian Lutteroth 1720 überraschend auf der Leipziger Herbstmesse starb, kooptierte der Rat nicht seinen 1715 ebenfalls von Langensalza nach Mühlhausen übergesiedelten Bruder Gottfried Lutteroth, der gemeinsam mit der Witwe Christians das Handelshaus unter dem Namen „Christian Lutteroth Witwe & Bruder“ bis 1754 weiterführte. Auch dem Sohn Christians, Johann Christian Lutteroth (1715–1786), der sich als begabter Kaufmann erwies und den Geschäftsradius des seit 1754 unter der Bezeichnung „Christian Lutteroth & Söhne“ firmierenden Tuchfabrikations- und Handelshauses weiter ausdehnte, blieb der Weg in den reichsstädtischen Rat versperrt. Titel und Funktion eines königlich-dänisch-norwegischen diplomatischen schichtsblätter 4 (1903), S. 28–36; Lau, Bürgerunruhen (wie Anm. 8), S. 62–70. 30  Vgl. u. a. Reinhard Hildebrandt, Rat contra Bürgerschaft. Die Verfassungskonflikte in den Reichsstädten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 1 (1974), S.  221–241; Urs Hafner, Republik im Konflikt. Schwäbische Reichsstädte und bürgerliche Politik in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001; Rita Sailer, Verwissenschaftlichung des Rechts in der Rechtspraxis? Der rechtliche Austrag reichsstädtischer Verfassungskonflikte im 17. und 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 119 (2002), S. 106–156. – Systematisierend zum Austrag solcher Konflikte vor den Reichsgerichten: Siegrid Westphal, Stabilisierung durch Recht. Reichsgerichte als Schiedsstelle territorialer Konflikte, in: Ronald Asch/Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/ Wien 2005, S. 235–253. 31  Lau, Bürgerunruhen (wie Anm. 8), S. 48.

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Agenten (Konsuls) für den Thüringischen Kreis des Kurfürstentums Sachsen, die Johann Christian 1775 übernahm, konnten für den blockierten Aufstieg in die Regierungssphäre der Reichsstadt kein Ersatz sein. Diese Blockade sollte sich erst in der übernächsten Generation, mithin schon in der Endphase der reichstädtischen Ära auflösen, als drei Enkel Christians: Christian, Ludwig Wilhelm und Christian Gottfried Lutteroth wieder als „Mechanici“ in einen der Senate einzogen. Der Letztgenannte, Christian Gottfried, sollte mitregierender Bürgermeister bei der Aufgabe reichsstädtischen Selbständigkeit Mühlhausens 1802 sein. Festzuhalten ist also: Auch die Lutteroths kritisierten das reichstädtische Ratsregiment, wenn und so lange sie davon ausgeschlossen waren, strebten aber durchaus nach Teilhabe daran und betrachteten es keineswegs als eine obsolet und für ihr bürgerliches Selbstverständnis unwichtig gewordene Struktur. Ludwig Wilhelm, der ein Sohn des dritten Sohnes Christians, Ascan Wilhelm Lutteroth war, ist ein charakteristisches Beispiel für die Kontinuitäten, die ungeachtet aller späteren erinnerungspolitischen und historiographischen Überformungen, die reichsstädtische Zeit mit den folgenden Herrschaftsträgern verknüpften und die pragmatische, auf das städtische und ökonomische Interesse, weniger auf politische Sympathien ausgerichtete Haltung der Mühlhäuser Ratseliten deutlich machten: Zunächst reichsstädtischer Senator mit amtlicher Zuständigkeit für das (zu mannigfachen Konflikten Anlass gebende) Jagd- und Forstwesen, gehörte er nach 1802, 1803 zum königlich-preußischen Kommerzienrat ernannt, sowohl dem preußischen Interimsmagistrat als auch dem 1805 eingerichteten regulären preußischen Magistrat an. Als Mühlhausen 1807 an das napoleonische Königreich Westphalen kam und der bisherige preußische Bürgermeister Stephan zum „Maire“ avancierte, wurde Lutteroth westphälischer Munizipalrat und überdies Abgeordneter Mühlhausens in den Reichsständen des Königreichs Westphalen; 1821 ist er gestorben.32 Zuvor aber hatten die Lutteroths nach dem überraschenden Aufstieg des Neuankömmlings Christian Lutteroth doch erleben müssen, was vielen Mitgliedern der wirtschaftlichen führenden Oberschichten gerade in kleineren und mittleren Reichsstädten des 18. Jahrhunderts widerfuhr: Der Rat versuchte sie von der politischen Entscheidungsgewalt fernzuhalten. Im Jahr 1755 kamen nur 27 der Mitglieder des Mühlhäuser Senatus Triplex aus der Gruppe der 100 steuerkräftigsten Bürger, an deren Spitze die Familie Lutteroth stand.33 Der Erfolg der Firma führte in dieser Phase auch zu Versuchen der Ratsoligarchie, die wirtschaftliche Entwicklung der Lutteroths auszubremsen: Noch im Frühjahr 1776 ordnete der Senat auf Betreiben von Lutteroths Konkurrenten, des Handelsun32  Vgl. Lutteroth, Geschlecht Lutteroth (wie Anm. 10), S. 324–329, Koerner, Lutteroth (wie Anm. 10), S. 221. 33  Vgl. Lau, Bürgerunruhen (wie Anm. 8), S. 50 (Anm. 81).

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ternehmers, Senators und Bürgermeisters Johann Gottfried Lauprecht (1719– 1797) die Schließung der Lutterothschen Färberei und Stoffdruckmanufaktur an, weil ihre Einrichtung gegen die reichsstädtische Feuerordnung verstoße. Unter der Androhung einer Zerstörung der Manufaktur stellte Lutteroth den Betrieb im Herbst 1776 ein. Nun aber zeigte sich, wo in der Reichsstadt die tatsächliche Macht über die Bürgerschaft lag: Die Manufaktur war der größte Arbeitgeber Mühlhausens und die Manufakturarbeiter sowie 123 von Lutteroth abhängige Handwerker in der Stadt bedrängten den Rat, das Verbot zurückzunehmen. Der Senat war gezwungen, es faktisch außer Kraft zu setzen, wollte aber sein Gesicht wahren und verweigerte die formelle Aufhebung, so dass Johann Christian Lutteroth erst einen Beschluss des Wiener Reichshofrates erwirken musste, der die Mühlhäuser Anordnung für nichtig erklärte.34 Worin lag der so beargwöhnte Erfolg? Schon Christian Lutteroth und weit mehr noch sein Sohn Johann Christian, der die Firma 1754 übernahm, bauten, neben den immer mehr expandierenden Färbe- und Druckmanufakturen am Stammsitz Mühlhausen schnell ein europäisches Vertriebsnetz auf, das sich auf Lager und Vertretungen überall in Europa stützte: Mitte des 18. Jahrhunderts unterhielt das Haus Lutteroth Verkaufslager nicht nur in allen entscheidenden deutschen Handelszentren, in Frankfurt, Leipzig, Augsburg, Nürnberg, Bremen, Danzig und anderen, sondern auch in Amsterdam, London, Prag, St. Petersburg, Venedig, Genua, Triest, Turin, Neapel und Konstantinopel.35 Auch die erhaltenen Rechnungs- und Verkaufsbücher weisen – neben Mittel- und Süddeutschland – einen intensiven Versand besonders auf den oberitalienischen Markt aus; für Osteuropa (Polen und Russland) wurden eigene Faktura-Bücher geführt, die nicht erhalten sind.36 Produktion und Verkaufserfolg stützten sich auf die steuerlich und logistisch vorteilhaften Herstellungs- und Vertriebsbedingungen in Mühlhausen und die damit günstigen Preise für vergleichsweise hohe Qualität sowie auf wachsende Konsumbedürfnisse und auf die in Mitteleuropa zwischen dem Ende der Nordischen Kriege und dem Beginn des Siebenjährigen Kriegs 1756 unbeeinträchtigte Prosperität – Faktoren, die selbst merkantilistische Handelshindernisse, über die im Hause Lutteroth wie in vielen großen Handelshäusern geklagt wurde, relativieren konnte. Verbunden mit dem Einsatz der verfügbaren Familienmitglieder für die Unternehmen formte sich eine Strategie, die die Gewinne rasch wachsen ließ. Christian Lutteroth, der 1713 mit dem erwähnten Verlust von 20.000 Reichstalern angetreten war, wirtschaftete so, dass seine Witwe und sein Bruder Gottfried Lutteroth im Jahr nach Christians Tod 1721 mit einem Geschäftskapital von 54.000 Reichstalern weitermachen konnten. Zuvor hatte Gottfried Lutteroth seine eigene Wollzeughandlung 34  Vgl. zum Vorgang: ebd., S. 169–173. 35  Vgl. Haendly, Fürstentum Eichsfeld (wie Anm. 16), S. 174. 36  Vgl. Stadt- und Verwaltungsarchiv Mühlhausen, 31/7 (Firma Lutteroth).

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aufgelöst, die er 1715 mit einem Geschäftspartner aus der den Lutteroths verwandtschaftlich verbundenen Langensalzaer Bürgermeister- und Stadtrichterfamilie Zeumer begründet hatte.37 Auch dieses Textilhandelshaus „Zeumer & Lutteroth“ war ein erfolgreiches Unternehmen gewesen und hatte zuletzt Waren- und Versandlager in Nürnberg, Amsterdam und London unterhalten.38 Die Entwicklung der Bilanzsummen des Handelshauses „Christian Lutteroth Witwe & Bruder“, ab 1754 als „Christian Lutteroth & Söhne“ unter Christian Lutteroths bereits mehrfach erwähntem Sohn Johann Christian, verweist auf die über Jahrzehnte ungebremste Expansion: 1721 wurden 44.586, 1733 73.173 und 1741 85.709 Reichstaler als Bilanzsumme ausgewiesen. Das Geschäftsvermögen bestand neben beträchtlichen Warenbeständen (Wolltuche, blaue Textilfarbe, Holz- und Stahl, die z. T. im Hessen-Kasseler Weserhafen Karlshafen gelagert waren) nun auch aus einer Reihe von Bergwerksunternehmen. Denn mit den stetig wachsenden Gewinnen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die in den Textilunternehmen und im Handelshaus selbst nicht mehr investiert werden konnten, versuchte das Haus Lutteroth Ende der 1720er Jahre den Einstieg in das Berg- und Hüttenwesen: Man pachtete bzw. erwarb zwischen 1726 und 1731 ein Kobaltbergwerk in Kupfersuhl im Herzogtum Sachsen-Eisenach, das Hüttenwerk im selben Ort, einen Stahlhammer in Helmers in Sachsen-Meiningen und schließlich ein Eisenerzbergwerk in Steinbach im selben Herzogtum. Diese Investitionen wurden zu wirtschaftlichen Fehlschlägen: Bis 1758, als man diese Besitztümer wieder veräußerte, hatten die Lutteroths hier ca. 60.000 Reichstaler Verlust gemacht.39 Nach diesem Scheitern setzten die Lutterothschen Familienunternehmen bis ins 19. Jahrhundert stark auf die „konservativste“ aller Anlageformen: den Erwerb von Grundbesitz. Eine ganze Reihe von Rittergütern in Thüringen wurde von verschiedenen Familienmitgliedern erworben: Johann Christian Lutteroth kaufte 1776 das Rittergut Elleben bei Arnstadt in der Oberherrschaft des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen. Sein Sohn Christian Gottfried 37  Vgl. zur Familie und den Verbindungen: Renate Schönfuss-Krause, Das Erbe des Churfürstlich Sächsischen Hof- und Justizrates Johann Friedrich Zeumer (1717–1774) – Der Zerfall eines Familienbesitzes am Beginn einer neuen Epoche, in: Familie und Geschichte 25 (2016), S. 1–25. 38  Vgl. Haendly, Fürstentum Eichsfeld (wie Anm. 16), S. 170. 39  Vgl. ebd., S. 173 f. – An den Steinbacher Eisenerzgruben sollte sich dann fast 100 Jahre später ein weiterer Thüringer Unternehmer die Zähne ausbeißen: Joseph Meyer, der Begründer des Bibliographischen Instituts in Gotha bzw. Hildburghausen, der ab 1842 versuchte, den schon zum Erliegen gekommenen Eisenbergbau mit seinen Kohlegruben in Neuhaus zu einem großen Grundstoffunternehmen für den deutschen Eisenbahnbau zu verbinden und schon nach wenigen Jahren wegen viel zu geringer Erträge aufgab. Vgl. Peter Lange, Joseph Meyer (1796–1856) und sein Engagement im Bergbau, Steinbach 1996.

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Lutteroth – der bereits erwähnte Mühlhäuser Senator und Bürgermeister beim Ende der Reichsstadt 1802 – wurde 1788 Eigentümer des Gutes Bellstedt in der Sondershäuser Unterherrschaft und weiterer Flächen um Mühlhausen. Sein Bruder Christian Lutteroth, auch er Ratsherr und in westphälischer Zeit Munizipalrat in Mühlhausen, kaufte 1795 die Rittergüter Groß- und Kleinvargula, die (Großvargula als kursächsisches Lehen) im Erfurter Teil des Mainzer Kurstaates bzw. im Thüringisches Kreis Kursachsens lagen. Der dritte Sohn Johann Christians schließlich erwarb 1791 das Stiftsgut in Großburschla in der Ganerbschaft Treffurt, später das Gut Frauensee bei Salzungen, das 1816 von Hessen-Kassel vollständig an Sachsen-Weimar-Eisenach überging.40 Diese und auch weitere von Familienmitgliedern erworbene Güter, die z. T. lange im Familienbesitz verblieben, bildeten eine solide wirtschaftliche Grundlage, auch als in den 1830er Jahren der Erfolg der Textilunternehmen und Handelshäuser nachließ. Ähnliches galt für die Bankhäuser, die die Lutterothschen Firmen an ihren wichtigen Vertretungsorten gründeten, allen voran die beiden Banken „Christian Wilhelm Lutteroth & Com.“ in Leipzig und Wien, sowie das Bankhaus „Lutteroth & Comp.“ in Hamburg. Das Leipzig-Wiener Bankhaus wurde von seinem Gründer Christian Wilhelm Lutteroth, Urenkel des Mühlhäuser Firmengründers von 1713, 1815, nach dem Ende der Napoleonischen Ära nach Paris verlegt, wo das Haus „C. W. Lutteroth“ unter dem Bürgerkönigtum einen steilen Aufstieg erlebte und einer der privaten Finanziers von König Louis Philippe wurde.41 Einer der Söhne Christian Wilhelms, Alphonse Lutteroth, war enger Freund eines der Söhne Louis Philippes und unter der Julimonarchie Botschafter Frankreichs in Neapel; ein anderer, Henri, einer der bekannten protestantischen Publizisten Frankreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.42 Das Hamburger Bankhaus – und das verweist auf einen der weiteren Bereiche, in denen sich diese Wirtschaftsbürgerfamilie im 19. Jahrhundert etablierte – war von Ascan Wilhelm Lutteroth, einem weiteren Urenkel des Mühlhäuser Firmengründers, der zunächst Teilhaber des väterlichen Geschäfts in Mühlhausen, dann einer Ausgründung seines Cousins in Leipzig gewesen war, mit Lutterothschem Hauskapital begründet worden. Ascan Wilhelm etablierte sich auf diesem Wege schnell in der Hansestadt: 1835 wurde der Bankier Senator, noch 1848 Hamburgischer Bundestagsgesandter in Frankfurt und war 1850 Mitglied des Erfurter Unionsparlamentes. 1862/63 und 1865/66 war er zweiter Bürger40  Vgl. Haendly, Fürstentum Eichsfeld (wie Anm. 16), S. 176 f. 41  Vgl. Keil, Mühlhäuser Geschlechter (wie Anm. 10), S. 490; Koerner, Lutteroth (wie Anm. 10), S. 208. 42 All diese bürgerlichen bzw. bürgerlich-adligen Lebenswege im Familienverband der Lutteroths, die zusammengenommen ein weites Spektrum der europäischen Geschichte im 19. Jahrhundert zeigen, können hier nicht nachverfolgt werden. Vgl. zu beiden Koerner, Lutteroth (wie Anm. 10), S. 210 f.

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meister Hamburgs43 und auch einer seiner Söhne, Christian Friedrich Lutteroth, wurde Hamburgischer und preußischer Abgeordneter und Diplomat,44 während sein Enkel, der 1842 geborene Ascan Lutteroth, Kunsthistoriker und Maler in Düsseldorf und Berlin wurde, wo er in engen Kontakt mit Kronprinz Friedrich Wilhelm, den späteren Kaiser Friedrich III. und Kronprinzessin Victoria kam, die er zwischen 1882 und 1885 auf ihren Italienreisen begleitete. Auch nach 1888 blieb dieser Ascan Lutteroth ein Vertrauter der isolierten Kaiserinwitwe Victoria – eines von einer ganzen Reihe von Beispielen ausgesprochen bildungsbürgerlicher Wege im Lutterothschen Familienverband, die besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben den Großhändlern, Bankiers, Gutsbesitzern, Abgeordneten und Diplomaten stehen, die die Familie prägten.45 Ein solcher übrigens – auch er einer der vielen Urenkel des ersten Mühlhäuser Christian Lutteroths – war der erste Lutteroth, der in den Adelsstand erhoben wurde. Gottfried Ascan hatte 1825, ebenfalls mit Lutterothschem Firmenkapital, an einem weiteren Lutterothschen Handelsort, in Triest, das Bankhaus „Brentano, Lutteroth und Comp.“ begründet und war über mehrere Etappen zum preußischen und schließlich deutschen Generalkonsul in dem österreichischen Adriahafen und zum Direktor in der III. Abteilung des „Österreichischen Lloyd“, dem Verlags- und Informationshaus dieser größten Seereederei der Monarchie aufgestiegen. 1852 wurde er von Kaiser Franz Joseph mit dem österreichischen Freiherrenstand bedacht, weil er mitgeholfen hatte, die österreichische Kriegsflotte während der Seekriegshandlungen des österreich-sardischen Krieges 1849 mithilfe von Handelsschiffen des „Lloyd“ in den Triester Hafen zu schleppen.46 Ascan Wilhelm Lutteroth, der spätere Hamburger Bürgermeister, der sich seine ersten Sporen für das Handelshaus bei der Organisation von Umgehungsmaßnahmen während der Napoleonischen Kontinentalsperre verdient hatte,47 war eine bezeichnende Gestalt für den Wandel, den das so erfolgreiche Handelshaus des 18. Jahrhunderts mit seinen verschiedenen, allesamt vom Familienmitgliedern geführten Teilfirmen und Bankhäusern in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erlebte. Er hatte Napoleon, „den größten und verehrungswürdigsten Mann der Erde“48, bewundert und gegen Kritik aus der 43  Vgl. Alex Heskel, Bürgermeister Ascan Wilh. Lutteroth Legat (22. September 1783 bis 20. Dezember 1867) zum Gedächtnis, in: Hamburgische Geschichts- und Heimatblätter 2 (1927), S. 225–246. 44  Koerner, Lutteroth (wie Anm. 10), S. 201 f. 45  Vgl. ebd., S. 197 f. 46  Vgl. ebd., S. 230 f. 47  Vgl. Heskel, Bürgermeister (wie Anm. 43), S. 227. 48  So Ascan Wilhelm Lutteroth in einem Brief an seine Verlobte Charlotte von Legat, 16. Juli 1807. So zit. in: Lutteroth, Geschlecht Lutteroth (wie Anm. 10), S. 287.

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Familie in Briefen die Einverleibung Mühlhausens in das Königreich Westphalen begrüßt, weil von dem ausgelaugten Preußen auf längere Sicht keine Wirtschaftsförderung zu erwarten sei.49 Lutteroth hatte dann zunächst daran gedacht, zum bereits erwähnten Pariser Bankhaus zu gehen, weil für ihn nach 1815 der Eindruck unabweisbar wurde, das die Mühlhäuser Wolltuchherstellung, wie er in seinen in der Familie überlieferten und 1902 gedruckten Lebenserinnerungen schreibt „ihren Glanzpunkt überschritten“ hatte. „In mehreren Ländern“, so Ascan Wilhelm weiter, „war die Einfuhr der Fabrikate verboten worden, in andern durch hohe Zölle erschwert, und es war […] vorherzusehen, daß veränderte Mode und vermehrter Verbrauch jene Artikel überall bald beschränken werde.“ Zwar habe man vor allem mit den Bankhäusern die richtigen Weichen gestellt, doch werde sich der Schwerpunkt des Lutterothschen Wirtschaftens immer mehr von Mühlhausen weg verlagern: „Wir fühlten jedoch bald“, so Ascan Wilhelm, „daß ein Theil der neu aufgenommenen Geschäfte von Mühlhausen aus nur mit Schwierigkeiten geleitet werden konnte, und daß es zweckmäßig sei, sie auf ein besseres Terrain zu verpflanzen.“50 Das sahen nicht alle Familienmitglieder so und nicht alle wollten die Stagnation der in Mühlhausen verbliebenen Firma in den 1830er Jahren – eine Stagnation auf hohem Niveau, aber kein Wachstum mehr – auf verändertes Konsumverhalten der potenziellen Käufer oder auf eine zu zögerliche Anpassung an die neuen Trends in der Wolltuchproduktion und -veredelung zurückführen. Ascan Eduard Lutteroth, ein weiterer Urenkel von Christian Lutteroth, beklagte 1836, man hätte das Stammhaus nie – wie es 1801 geschehen war – in drei Einzelfirmen teilen dürfen und würde dabei auch ohne die Zerschlagung des Gesamthauses sich von der Unmöglichkeit, auf dem alten Wege ferner bleiben zu können, überzeugt haben und mit der Zeit fortgeschritten sein. So aber fanden die mehrsten aus jenem Hause stammenden Söhne, die nötigen Kenntnisse entbehrend, das Fabrikwesen für so mühevoll und gingen mit dem von ihren Vätern, freilich auf eine leichtere Weise als jetzt möglich, erworbenen Gelde ins Ausland.

So sei die Gründung der erwähnten Bank in Triest verwerflicherweise mit Familienkapital erfolgt, das für eine Spinnerei, und damit eine Unternehmung auf dem traditionellen Tätigkeitsfeld der Familie bestimmt gewesen sei.51 Und tatsächlich waren es, blickt man auf die weitere Entwicklung der Lutterothschen Unternehmen, nicht nur strukturelle Faktoren, die zum Niedergang der Textilproduktions- und Handelsunternehmen der Familie führten. Die von Heinrich Lutteroth (1792–1819) und Johann Christian Lutteroth – Enkeln des so überragend erfolgreichen Tuchfabrikanten und Handelsherrn Johann Christian – geführte Firma „Heinrich & Christian Lutteroth“ startete mit einem Geschäftsvermögen von 120.000 Reichstalern und unterhielt von Mailand über 49  Brief von 16. August 1807. So zit. ebd., S. 287 f. 50  Vgl. Lutteroth, Geschlecht Lutteroth (wie Anm. 10), S. 355. 51  So zit. Haendly, Fürstentum Eichsfeld (wie Anm. 16), S. 317.

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Florenz und Neapel bis Palermo nicht nur Warenlager an allen bedeutenden italienischen Handelsplätzen, sondern auch in Amsterdam, Rotterdam und Konstantinopel. Aber nach dem Rückschlag der Napoleonischen Zeit setzte eine scheinbar unaufhaltsame Abwärtsspirale ein: Hatte man 1815 noch Waren im Wert von 5.889 Talern versendet, waren es 1820 bereits nur noch 706 und 1828, im Jahr der Liquidation der Firma nach dem Tode Johann Christian Lutteroths nur noch 250 Taler.52 Dies lag wohl tatsächlich zu einem nicht geringem Teil an der Inaktivität der Firmeninhaber, die sich eher als vermögende Privatiers, denn als Unternehmer begriffen und keine Innovationskraft mehr für die Weiterführung des Geschäfts entwickelten. Heinrich Lutteroth führte in Familie und Stadt den Namen „der tolle Lutteroth“ und habe, so die übereinstimmende Formulierung in der Familienüberlieferung, ein „unstetes Leben“ geführt – wohl eine Chiffre für die Weigerung, Geschäft und Erwerbsleben in den Mittelpunkt seiner Aktivitäten zu stellen. Wie vorsichtig mit der Überlieferung zu solchen, dem wirtschaftsbürgerlichen Familienideal nicht entsprechenden Existenzen umzugehen ist, zeigen die stark abweichenden Informationen zum frühen Tod Heinrichs mit 37 Jahren 1819: Heißt es einmal, er sei an „Auszehrung“ gestorben, wird an anderer Stelle die Anekdote wiedergegeben, er habe gewettet, Mühlhausen auf der Stadtmauer zu umreiten und sei bei diesem Versuch von der Mauer gestürzt und umgekommen.53 Die vom geteilten Stammhaus und seinen Nebenfirmen noch in Mühlhausen verbliebene Firma „Ascan Lutteroth & Co.“ hatte dort noch bis 1916 als Textilhandelsfirma Bestand: Solide und stabil, aber nicht in der Größenordnung, die der europäische Umfang des Geschäftes im 18. Jahrhundert hätte erwarten lassen können. Anders als etwa die Firma Hirsch in Gera wurde Lutteroth nicht zum „global player“ in der Textilbranche und zu einem ausgedehnten Mischkonzern der Hochindustrialisierungsphase, obwohl es unternehmensgeschichtlich beste Voraussetzungen mitzubringen schien. Die Firma konzentrierte sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts auf das Geschäft in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden. Ihre Inhaber blieben im gesamten 19. Jahrhundert bestimmende Größen des Mühlhäuser Bürgertums: als wirtschaftsbürgerliche Honoratioren im Stadtrat, in der Kirche aber auch auf der gesamtstaatlichen Ebene Preußens, als Arbeitgeber in Mühlhausen, in der karitativen und philanthropischen Tätigkeit vor Ort. Ascan Otto Lutteroth (1816–1870), nunmehr der Ur-Urenkel jenes Christian, der 1713 nach Mühlhausen gekommen war, war Teilhaber der Tuchfabrik „Ascan Lutteroth u. Comp.“, Stadt- und Kirchenrat, Rechnungsführer des Elisabeth-Wohltätigkeitsvereins und seit 1854 lebenslängliches Mitglied der ersten preußischen Kammer bzw. des Herrenhau-

52  Vgl. ebd., S. 319 f. 53  Vgl. ebd., S. 320 f., Lutteroth, Geschlecht Lutteroth (wie Anm. 10), S. 483.

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ses.54 Seine Brüder und Mitinhaber Wilhelm und Karl lebten noch bis 1899 bzw. 1902 als Rentiers in Mühlhausen; der 1819 geborene vierte Bruder August war nach Mexiko gegangen und lebte dort als Kupferbergwerksbesitzer. Die männlichen Angehörigen der folgenden Generation der Lutteroths waren Soldaten und Juristen. Schon 1888 hatte die Familie den Prokuristen Karl Edmund Muthreich als Teilhaber in das einstige Familienunternehmen hineingenommen. Er war nach dem Rückzug der Lutteroth-Brüder ab 1893 Alleininhaber und mit seinem Tod 1916 endete die Geschichte der Lutterothschen Unternehmen in Mühlhausen.55 Wo genau die unternehmerischen Entscheidungen, aber sicher auch die Kontingenzen lagen, die diese Entwicklung bedingten, muss weitere Forschung zu den Lutteroths zeigen. Sie müsste auf der Basis des reichlich vorhandenen archivalischen Materials wirtschaftsgeschichtlich auch den Umfang und die Art der Textilproduktions- und Handelstätigkeit näher bestimmen, das Lutterothsche Firmengeflecht präzise rekonstruieren und sozialgeschichtlich das außerordentlich dichte wirtschafts- und bildungsbürgerliche Netzwerk nachzeichnen und in seinen Wirkungen aufzeigen, das die Familie Lutteroth seit dem frühen 18. Jahrhundert knüpfte. Sie müsste das mäzenatische Handeln der Lutteroths in Mühlhausen und anderenorts untersuchen. Nicht zuletzt müssten in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen literarischen und bildlichen Zeugnisse bürgerlicher Lebensvollzüge, bürgerlicher Werthaltungen und Selbstsichten ausgewertet werden, die Gedichte, Tagebuchblätter und Zeichnungen, die aus dem Familienverband überliefert sind. Schon prima vista – und mehr kann dieser Beitrag nicht sein – wird also deutlich, dass Familie und Firma Lutteroth ein überaus faszinierender Gegenstand sowohl der Wirtschafts- als auch der Bürgertumsgeschichte sein können. Aus der thüringischen Reichsstadt des 18. Jahrhunderts spannt sich der Aktivitätsbogen dieser Familie in ihrer mehr als 100-jährigen Blütephase vom zweiten Jahrzehnt des 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts über die kursächsische, kurmainzische, ernestinische und schwarzburgische Region, in die Mühlhausen eingebettet war, nach ganz Mittel- und Oberdeutschland, im Textilhandel in die Niederlande, nach Italien, Osteuropa und ins Osmanische Reich, familiär mit der Etablierung erfolgreicher Bankhäuser und Familienzweige nach Hamburg, Frankreich und in die Habsburgermonarchie. Lebensformen und Lebenswelten des bei den Lutteroths eng miteinander verflochtenen Stadt-, Wirtschafts- und Bildungsbürgertums werden facettenreich und exemplarisch sichtbar. Es bleibt zu hoffen, dass in nicht allzu ferner Zeit die umfassende Studie entstehen kann, die alle diese Aspekte darstellt und damit für die historische Forschung verfügbar macht. Das wäre für die thüringische Landesgeschichte der Frühen Neuzeit 54  Vgl. Koerner, Lutteroth (wie Anm. 10), S. 212 f. 55  Vgl. Haendly, Fürstentum Eichsfeld (wie Anm. 16), S. 324.

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und des 19. Jahrhunderts als regionale Bürgertums- und Wirtschaftsgeschichte ein großer Schritt nach vorn.

Frank Boblenz

Zur Gründung der Firma Dreyse & Kronbiegel und zum Beginn der Frühindustrialisierung in Sömmerda ab 1816

Die von 1802 bis 1806 sowie ab 1813 wieder im preußischen Teil Thüringens1 gelegene Ackerbürgerstadt Sömmerda gehörte um die Wende vom zweiten zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit seiner spezifischen wirtschaftlichen Ausrichtung zu den industriellen Zentren der Region.2 Prägend hierfür waren 1

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Vgl. zum Umfang Frank Boblenz, Abriß der Territorialgeschichte des preußischen Thüringen, in: Das preußische Thüringen. Abhandlungen zur Geschichte seiner Volksvertretungen (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, 17), hg. v. Thüringer Landtag, Rudolstadt 2001, S. 9–45. Vgl. dazu für die jüngste Zeit im Überblick (und für Sömmerda in der Regel auf Literaturbasis): Tamara Hawich, Manufakturen Maschinen Manager. Unternehmer und Unternehmen in und um Erfurt – Geschichte und Geschichten, hg. v. der IHK Erfurt, Erfurt 2001, hier besonders S. 89 f.; Wolfgang Mühlfriedel, Die Industrialisierung in Thüringen. Grundzüge der gewerblichen Entwicklung in Thüringen von 1800 bis 1945 (Thüringen gestern & heute, 12), hg. v. der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2001, hier besonders S. 46 f. und 120 f.; Horst Moritz, Thüringen im 19. Jahrhundert. Von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Teil 1: 1800 bis 1870 (Schriften der Volkskundlichen Beratungs- und Dokumentationsstelle für Thüringen, 37), hg. v. Gudrun Braune und Peter Fauser, Erfurt 2010, hier besonders S. 35–37. Eine umfassende Erforschung der Wirtschaftsgeschichte des preußischen Thüringen liegt bisher nicht vor. Wenn an anderer Stelle (Stefan Gerber/Werner Greiling/Marco Swiniartzki, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen in Thüringen (Materialien zur thüringischen Geschichte, 1), Köln/Weimar/Wien 2018, S. 7.) auf den guten Aufarbeitungsstand der preußischen Wirtschaftsgeschichte im Gegensatz zum unterschätzen Forschungsfeld Thüringen verwiesen wird, so hat dies keine Relevanz für das preußische Thüringen. Für dieses stehen die Forschungen m. E. bisher sogar noch hinter denen zu den Einzelstaaten zurück. Als älteres Beispiel für die kleinstaatlich geprägte und nachwirkende Herangehensweise sei verwiesen auf: Johannes Müller, Die thüringische Industrie. Eine wirtschaftskundliche Darstellung zugleich ein Beitrag zur Lehre von den Standortsfaktoren der Fertigindustrie, Jena 1930. Müller hatte ursprünglich in Hinblick auf „die geschichtliche Entwicklung der thüringischen Waffenindustrie“ auch Sömmerda im Blickfeld. Er nahm deshalb 1929 sowohl mit Carl Otto Kronbiegel-Collenbusch wie der Firma Rheinmetall Verbindung auf. Der Kontakt ist aus einer Akte ersichtlich, die sich ehemals im Archiv der Firma Rheinmetall befand, heute in Privatbesitz ist und dem Autor dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt wurde. In der Veröffentlichung führt Müller zu Sömmerda (S. 44) dann jedoch nur in einer Fußnote aus: „Auf die Geschichte

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Frank Boblenz

insbesondere die Firma Dreyse & Collenbusch sowie die 1834 daraus hervorgegangene bzw. separierte Gewehrfabrik N. Dreyse (ab 1864 N. v. Dreyse) des Johann Nicolaus (von) Dreyse (1787–1867).3 Die Dimension sollen als Einstieg die nachfolgenden Zahlen verdeutlichen, wobei konjunkturelle Schwankungen zu berücksichtigen sind. So schrieb Dreyse am 20. März 1858: „Die Contracktlichen Bestellungen des Krieges Ministeriums sind retuciert, so das ich so fort 100 Arbeiter entlassen kann, was mir freilich schmertzlich ist.“4 Nur wenige Monate später hatten sich die Verhältnisse wieder geändert, so dass er am 20. September des Jahres berichtete: „Das Personal der Fabrik hat sich wegen der großen Munition Bestellung bis auf 1300 Menschen vermehrt.“5 Danach verringerten sich die Zahlen jedoch wieder. Am 3. Dezember 1861 – gleichsam im Jahr der 2. Thüringer Gewerbeausstellung6 – lebten in der im Landkreis Weißensee gelegenen Stadt Sömmerda 5.508 Einwohner.7 In Relation zur Gesamteinwohnerschaft des Kreises mit 26.506 Personen waren dies 20,78 % bzw. rund 1/5. Die Beschäftigungszahl der Firma N. Dreyse lag nun bei 964 ab 14 Jahren und die von Dreyse & Collenbusch betrug 124: zusammen 1.088.8 Fünf Jahre später (1866) hatte die Gewehrfabrik 1.031 Beschäftigte.9 Zum Vergleich sei darauf verwiesen, dass die Erfurter Gewehrfabrik „1866 mit 420 Arbeitern das größte Fabrikunternehmen der Stadt“ an der Gera war;10 und die Firma Zeiss in

der Sömmerdaer Gewehrindustrie, die mit dem Namen Dreyse und dem Zündnadelgewehr verknüpft ist, sei hier nicht näher eingegangen“. 3 Vgl. zu seiner Person Frank Boblenz, „Bete und arbeite für König und Vaterland“. Zur Biographie des Industriellen Johann Nicolaus von Dreyse, in: Hans-Werner Hahn/Werner Greiling/Klaus Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt/Jena 2001, S. 201–229. 4 Stadtarchiv Sömmerda (im Folgenden SAS), Familiennachlass von Besser/von Rechenberg Nr. 3, Bl. 12r. 5 Ebd., Bl. 19r. 6 Siehe dazu den Beitrag von Jens Riederer in diesem Band. 7 Vgl. F[riedrich] B[ernhard] Frhr. von Hagke, Historisch-statistisch-topographische Beschreibung des Weissensee‘r Kreises, Weissensee 1863, S. 30 und 264. 8 Vgl. SAS, B 39, Bl. 90 ff. Bei Hagke, Beschreibung (wie Anm. 7), S. 265 finden sich für 1861(?) zu beiden Firmen: Acht Personen Direktionspersonal sowie 801 männliche und 172 weibliche Arbeiter (= 981); drei Personen Direktionspersonal und 30 männliche und 83 weibliche Arbeiter (= 116). 9 Eine erste Veröffentlichung der Entwicklung der Beschäftigungszahlen siehe bei Günter Thiede, Zur Geschichte des Zündnadelgewehres, in: Militärgeschichte 2 (1973) 4, S. 439–448. Ferner: Annegret Schüle, BWS Sömmerda. Die wechselvolle Geschichte eines Industriestandortes in Thüringen 1816–1995, Dreyse & Collenbusch, Rheinmetall, Büromaschinenwerk, Erfurt 1995, S. 382. Die dort zu findende Angabe von rund 3.000 Beschäftigten für 1870 ist jedoch eine Fehlinterpretation, wobei 1872 dann nur noch 300 ausgewiesen werden, was auch nicht zutreffend ist. 10 Ulrich Hess, Bürgerlich-demokratische Revolution, Durchsetzung der kapitalistischen

Zum Beginn der Frühindustrialisierung in Sömmerda

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Jena erst 20 Beschäftigte hatte.11 1867 war die Beschäftigtenzahl in der Gewehrfabrik bereits auf 1.397 gestiegen. Für das Ende der 1860er Jahre bzw. 1870 gibt eine Publikation die wahrscheinlich aufgerundeten oder geschätzten Belegschaftsstärken der beiden Sömmerdaer Firmen mit „1400–1800“ Arbeitern bzw. „300“ männlichen und weiblichen Beschäftigten an.12 Konkreter und im größeren Kontext eingeordnet sind schließlich die amtlich für 1874/75 in Preußen erhobenen und auf Meldungen der Firmen basierenden Zahlen zu sämtlichen unter „der Aufsicht der Königlichen Regierungen stehenden gewerblichen Anlagen und Betriebe, welche 30 und mehr Arbeiter beschäftig[t]en, so wie derjenigen Betriebe von geringerem Umfange, welche sich durch besondere Leistungen auf diesem Gebiete hervorgethan“ hatten.13 In der preußischen Provinz Sachsen betraf dies insgesamt 611 Gewerbebetriebe, davon mindestens 521 ab 30 Arbeitern.14 Die Spitzenposition nahm die Firma Grusson

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Gesellschaftsordnung und Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1848 bis 1870), in: Geschichte der Stadt Erfurt, hg. im Auftrag des Rates der Stadt Erfurt von Willibald Gutsche, Weimar ²1989, S. 270. „Die Firma Zeiß in Jena, die mit Hilfe der Glasproduktion der ebenfalls dort ansässigen Firma Schott & Genossen bedeutend geworden war, hatte sich bis 1913 mit 4678 Arbeitern (bei 1866 erst 20 Beschäftigten) zum größten Industrieunternehmen Thüringens entwickelt.“ Peter Mast, Politischer Raum und Industrialisierung. Thüringen vor und nach der Reichsgründung im Vergleich zum zeitgenössischen Franken, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 62 (2002), S. 298. Zur Fabrik Dreyses kurz auf S. 297, jedoch ohne Nennung von Zahlen. Die Angaben zu Jena nach Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866 bis 1914 (Regionalgeschichtliche Forschungen im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar), aus dem Nachlaß herausgegeben von Volker Wahl, Weimar 1991, S. 309. Vgl. Handbuch der Leistungsfähigkeit der gesammten Industrie Deutschlands, Oesterreichs, Elsass-Lothringens und der Schweiz. I. Band: Handbuch der Leistungsfähigkeit der gesammten Industrie des Preussischen Staates, Nach den zuverlässigsten und authentischen Quellen aufgenommen, systematisch und sorgfältig bearbeitet und herausgegeben von Christoph Sandler, Leipzig 1873, S. 33 f. Siehe http://books.google.de/ books?hl=de&as_brr=3&id=E3xbAAAAcAAJ&dq=Franz+von+Dreyse&q=dreyse#v=snippet&q=dreyse&f=false, Zugriff am 17. März 2019. Einen Druckbogen der Veröffentlichung mit den für die Sömmerdaer Firmen relevanten Angaben siehe in Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar (im Folgenden LATh – HStA Weimar), Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 46, Bl. 158–161. Die Einrichtungen für die Wohlfahrt der Arbeiter der grösseren gewerblichen Anlagen im preussischen Staate. Bearbeitet im Auftrage des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, In drei Theilen, I. Theil: Beschreibung der Einrichtungen, Berlin 1876, S. I. Vgl. ebd., S. 68–91. Die Zahl dürfte geringfügig größer gewesen sein, da bei sieben Firmen keine Angaben vorliegen, die Analogie bei den zwei darunter befindlichen Zuckerfabriken aber eine Beschäftigungsstärke von über 30 nahelegt. Die originalen Erhebungsunterlagen von 1875 konnten bisher weder im Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv

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in Buckau (Regierungsbezirk Magdeburg) mit 1.500 Beschäftigten ein. Danach folgten schon die Sömmerdaer Gewehrfabrik und die Eisengießerei in Lauchhammer (Regierungsbezirk Merseburg) auf Position zwei mit jeweils 1.150 Beschäftigten. An vierter Stelle findet sich die staatliche Gewehrfabrik in Erfurt mit 1.129 Beschäftigten, so dass das Sömmerdaer Unternehmen nach wie vor als größtes im preußischen sowie überhaupt in Thüringen gelten kann, auch wenn zu dieser Zeit wahrscheinlich schon der Abwärtstrend einsetzte. Weitere Firmen mit über 1.000 Beschäftigten gab es darüber hinaus in der Provinz nicht. In der Rangfolge kamen dann zwei Firmen mit 700 bzw. 725 Beschäftigten und acht mit 500 bis 640 Beschäftigten (davon fünf im thüringischen Teil der Provinz: zwei im Regierungsbezirk Merseburg und drei im Regierungsbezirk Erfurt). Insgesamt gehörte damit die Hälfte der 14 erfassten Firmen zum preußischen Thüringen, wovon sich vier auf den Bereich der Waffenfertigung (vornehmlich Gewehre, aber auch Faustfeuerwaffen) spezialisiert hatten, die alle im Regierungsbezirk Erfurt ansässig waren. Für Sömmerda sei ferner angeführt, dass neben den bereits erwähnten 1.150 Beschäftigten in der Gewehrfabrik Dreyses noch 200 Personen (davon 50 Frauen) bei der Firma Dreyse & Collenbusch arbeiteten. Dass die Beschäftigten sowohl 1861 wie in der ersten Hälfte der 1870er Jahre jedoch nicht nur aus der Stadt kamen, lässt sich gut belegen.15 Ein erheblicher Teil der Belegschaft, die täglich ihren Gang in die Fabriken antreten musste, kam aus dem Umland. Ein Aspekt der Industrialisierung im ländlichen Raum bzw. in diesem Teil der Unstrut-Finne-Region, der hier jedoch nicht weiter behandelt werden soll. Ausgehend vom Prozesscharakter der Industrialisierung stellt sich natürlich u. a. die Frage, wann diese Entwicklung in Sömmerda einsetzte bzw. wie und mit welchen Exponenten der Beginn der Phase der Frühindustrialisierung in dieser Stadt nachvollziehbar ist. Analog wäre der Blick auf nachfolgende Zäsuren zu richten, was hier aus Platzgründen unterbleiben muss. Vorwegnehmend sei darauf verwiesen, dass für die Anfangszeit vordergründig eine Verknüpfung mit der Geschichte der Firma Dreyse & Kronbiegel (später die bereits benannte Firma Dreyse & Collenbusch) sowie deren Inhaber Johann Nicolaus (von) Dreyse (1787–1867) und Friedrich August Kronbiegel (1777–1820) – ab 1820 Carl Collenbusch (1793–1849) – zu sehen ist. Letzterer reflektierte die Firmengründung in seinem Freimaurerlebenslauf vom Anfang der 1840er Jahre mit Gotha (im Folgenden LATh – StA Gotha) noch im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden GStA PK) in Berlin-Dahlem ermittelt werden und scheinen nicht mehr überliefert. Für die Unterstützung bei der Recherche und Auskunft vom 31. Januar 2019 dankt der Autor herzlich seiner Kollegin Frau Christiane Brandt-Salloum vom GStA PK. 15 Eine Quellenedition zu den Beschäftigten der Firma N. v. Dreyse, die bei der Stiftung Stoye erscheinen soll, befindet sich in Vorbereitung, so dass hier auf weitere Ausführungen verzichtet wird.

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1816/1716. Und sein Pflegesohn Ernst August Kronbiegel-Collenbusch (1819– 1870)17 – Sohn des Firmengründers Kronbiegel – vermerkte in seinen Notizen zur Firmengeschichte, dass Kronbiegel und Dreyse „im Juni 1816 in Soemmerda eine zweite Fabrik unter der Firma Kronbiegel & Dreyse“ gründeten.18 Analog findet sich die Zäsur 1816 in verschiedenen offiziellen Publikationen vom Anfang des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts.19 Seit etwa Ende des 19. Jahrhunderts wurde jedoch ohne quellenmäßige Grundlage und trotz positiver Beschäftigung mit der eigenen Unternehmensgeschichte durch die Inhaber der Firma Dreyse & Collenbusch von 1817 ausgegangen und dies u. a. auch in den Kopfbögen der Firmenschreiben zum Ausdruck gebracht. Dabei wird offenkundig, dass sie die ihnen zu dieser Zeit noch in größerem Umfang vorliegenden Quellen zum Teil nicht richtig interpretierten bzw. Schlüsseldokumente anscheinend übersahen. Bis Anfang der 1990er Jahre wurde diese Problematik nicht erkannt, so dass bei bestimmten Aussagen eine kritiklose Rezeption erfolgte, was auch heute noch entsprechend nachwirkt. Im Kontext dazu erschienen bereits in den 1860er Jahren fiktionsreiche Berichte – insbesondere 1866 in den Zeitschriften „Daheim“20 und der „Gartenlaube“21 – deren Aussagen einer quellenkritischen Hinterfragung nur teilweise standhalten. In den 1990er Jahren wurde dann wieder stärker auf das Jahr 1816 reflektiert.22 „Neue“ Akzente versuchten dagegen allerdings seit 2016 Ausstel16 Vgl. LATh – HStA Weimar, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 43 (unfoliiert). 17 Er und seine Nachkommen führten seit 1848 den Doppelnamen als Reverenz an den Pflegevater Carl Collenbusch. Vgl. ebd., Nr. 66. 18 Sömmerdaer Heimat- und Geschichtsverein (im Folgenden SHGV), Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 361, Bl. 2r. 19 Vgl. u. a. insbesondere Hagke, Beschreibung (wie Anm. 7), S. 261; Vollständiges Adreßbuch der Deutschen und Österreichischen Hüttenwerke, Maschinenfabriken …, I. Abteilung, hg. v. Alexander Rabe – der Hinweis nach der Magdeburger Presse (Abend-Ausgabe vom 11.09.1865), Nr. 460 – siehe dazu https://books.google.de/books?id=_35MAAAAcAAJ&pg=PA446&dq=dreyse+1816&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwj8n8ik64PMAhViEJoKHdu2BUg4MhDoAQhSMAg#v=onepage&q=dreyse%201816&f=false, Zugriff am 17. März 2019; Pariser Ausstellung. Amtlicher Spezial-Catalog der Ausstellung Preussens und der Norddeutschen Staaten, Berlin ²1867, S. 137 (auf der Basis der „von den Ausstellern selbst mitgetheilten Daten“) – siehe dazu https://books.google. de/books?redir_esc=y&hl=de&as_brr=3&id=JfkI2LAkboIC&dq=dreyse+1816&q=1816#v=onepage&q=dreyse&f=false, Zugriff am 17. März 2019; Handbuch der Leistungsfähigkeit (wie Anm. 12), S. 33 f. 20 Vgl. [August] M[els], Ein Besuch beim Erfinder des Zündnadelgewehrs, in: Daheim (August 1866) Nr. 45, S. 658–661. 21 Vgl. Preußens militärischer Luther, in: Die Gartenlaube. XIV (1866) Nr. 40, S. 628–631 und Nr. 41, S. 640–643. 22 Vgl. die Ansätze (die durch die Einbeziehung von Sekundärquellen zum Teil wieder relativiert werden) auf der Grundlage der zugearbeiteten eigenen Forschungsergebnisse des

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lungen und darauf basierende Pressemeldungen zu setzen, bei welchen man im entsprechenden Teil ohne relevante Quellenrecherchen und bei Negierung des Prozesscharakters zu folgendem – jedoch schon in dieser Aussage ambivalenten – Fazit kam: Unstrittig ist, das Dreyses (hier: Johann Michael und Johann Christian) und Kronbiegel schon seit 1810, spätestens aber seit 1813, Geschäftsbeziehungen unterhalten. Nach dem Tod des Vaters [gemeint ist Johann Christian Dreyse] und der Übernahme des Handwerksbetriebes sind die Geschäfte nach 1815 unter Johann Nikolaus [Dreyse] nicht allein fortgeführt, sondern möglicherweise intensiviert worden. Nach der Interpretation und bei einer formalen Betrachtung kommt eine Firmengründung aber nicht vor 1817 in Frage: Johann Nikolaus Dreyse erwirbt nachweislich am 05.03.1817 das Bürgerrecht. Daraus ist zu schließen, dass er es vorher nicht besaß. Das wiederum hat aber Konsequenzen für seine Geschäftsfähigkeit. Ihm, dem Nicht-Bürger und lediglich Schutzbefohlenen, war nach den preußischen Städteordnungen[!], z. B. von 1808, die Ausübung eines Gewerbes nicht erlaubt (hier z. B. §42 „Erlaubniß zum Gewerbsbetrieb“). Das gilt übrigens auch für den Geschäftspartner Friedrich Kronbiegel, der Erfurter Bürger war. Fazit: Erst mit dem Erwerb des Bürgerrechts am 05.03.1817 erlangte Johann Nikolaus Dreyse uneingeschränkte Geschäftsfähigkeit. Diese Argumentation liefert eine sachliche, weil juristische Begründung für den Beginn der gemeinsamen Unternehmung und somit zugleich für den Beginn der Industrialisierung in Sömmerda.23 Autors aus der ersten Hälfte der 1990er Jahre bei Schüle, BWS Sömmerda (wie Anm. 9), S. 20–22. In der ersten Textvariante war sie noch – den sekundären Darstellungen folgend – vom 15. Oktober 1817 als der Geburtsstunde der Firma ausgegangen. Siehe dazu den Schriftwechsel des Autors von 1994 und 1995. Eine stärker quellengestützte Untersuchung erschien erst 1997 mit dem Tagungsbeitrag von Frank Boblenz, Die frühen Geschäftsbücher der Firmen Friedrich Kronbiegel & Comp. sowie Collenbusch & Wapler in Erfurt und Dreyse & Collenbusch in Sömmerda. Aspekte der Bestandsgeschichte und Überlieferungslage, in: Jochen Hoock/Wilfried Reininghaus (Hg.), Kaufleute in Europa. Handelshäuser und ihre Überlieferung in vor- und frühindustrieller Zeit, Beiträge der Tagung im Westfälischen Wirtschaftsarchiv 9. bis 11. Mai 1996 (Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte, 16), Dortmund 1997, S. 147–169, hier S. 155 f. 23 Die Angaben stammen aus einer Tafelausstellung von Landkreis und Stadt Sömmerda, die zur SÖM im November 2016 gezeigt wurde. Analog ambivalent dazu u. a. die Ausführungen in: 200 Jahre Industriegeschichte Sömmerda. Start ins Themenjahr mit Tag der offenen Tür im Archiv und Schaudepot am 2. April, in: Sömmerdaer Nachrichten. Amtsblatt der Stadt Sömmerda 27 (2017) 6, S. 8. Dort mit Bezug auf das Bürgerrecht und den entsprechenden Eintrag im Bürgerbuch: „Dieses Dokument ist bei formaler Betrachtung Beleg für den Beginn von unternehmerischer Tätigkeit und somit von 200 Jahren Industriegeschichte in Sömmerda.“ Zur Ausstellung ferner mit der Zäsur 1817: Erfindergeist und Pragmatismus. Zwei Jahrhunderte Industriegeschichte in Sömmerda, in: Thüringer Staatsanzeiger 27 (2017) 43, S. 1461 und 1511. Inzwischen wurde durch Veröffentlichungen der Stadt mehrfach im Zusammenhang mit einer museumspädagogischen Veranstaltung zum Ausdruck gebracht, dass „die Industrialisierung der Stadt […] mit dem vom Unternehmer Nicolaus von Dreyse entwickelten, 1828 patentierten und später in der Dreys'schen Gewehrfabrik in großen Stückzahlen produzierten Zündnadelgewehr ihren Anfang nahm.“ Siehe zuletzt: Gymnasiasten informierten sich auch in

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Als Problem wurde lediglich apostrophiert, dass „Uneinigkeit […] über den tatsächlichen Beginn der massenhaften Produktion“ herrschen würde. Allerdings lässt sich bisher zu diesem Themenkomplex keinerlei weiterer schriftlicher Niederschlag finden, so dass unklar bleibt, woher die Ausstellungsmacher diese Erkenntnis haben, was sie unter massenhafter Produktion verstehen und wann sie diese letztendlich für die Firma ansetzen. Erschwerend kommt hinzu, dass Johann Nicolaus (von) Dreyse sich zu den hier zu behandelnden Fragestellungen lediglich in Ansätzen geäußert hat bzw. keine relevanten Unterlagen von ihm dazu bisher bekannt sind. Dabei dürfte es sich jedoch nicht nur um ein Quellenproblem handeln. Für Dreyse, der sich immerhin für rund fünf Jahre im französischen „Feindesland“ aufhielt, kann es bei dessen ab den 1820er Jahren nachvollziehbarer propreußischer Haltung und eigenen wiederholten Verweisen auf sein Wirken für das „Vaterland“ durchaus als Makel gegolten haben, sich dazu detaillierter zu äußern. Dies umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass andere Personen wegen ihrer profranzösischen Haltung nach der Vertreibung der Franzosen zum Teil Restriktionen ausgesetzt waren. Dass Dreyse sich jedoch faktisch traumatisiert von seinen Eindrücken vom Jenaer Schlachtfeld des Jahres 1806, auf Vergeltung hinwirkend sowie über der „französischen Rasse“ stehend, als Feind im Feindesland aufhielt, wie es eine romanhafte Biografie seines Urenkels Johann Nikolaus Franz Wilhelm von Dreyse (1899–1938) direkt bzw. faktisch zwischen den Zeilen glauben machen will, ist zu bezweifeln.24 Partiell wird die eben geschilderte Quellenproblematik jedoch insbesondere durch das in erheblichen Teilen und an unterschiedlichen Stellen überlieferte Archiv der Familie Kronbiegel-Collenbusch25 sowie verschiedene zeitgenössische Berichte ausgeglichen.

Sonderschau, in: Sömmerdaer Nachrichten. Amtsblatt der Stadt Sömmerda 29 (2019) 5, S. 23. Eine weitere Sichtweise der Stadt offenbart deren Homepage in Bezug auf die Geschichte von Dreyses Wohn- und Sterbehaus: „Im Museum ist die 200-jährige industrielle Entwicklung Sömmerdas, beginnend mit der Gründung der Dreyseschen* Gewehrfabrik, über die Produktionsstandorte von Rheinmetall bis hin zum Büromaschinenwerk in der ehemaligen DDR, dargestellt.“ Unklar bleibt dabei, ob bei der Gründung der Gewehrfabrik auf den dafür relevanten Zeitraum 1826–28 oder 1840/41 reflektiert wird, was aber beides nicht für eine 200-jährige industrielle Entwicklung stehen würde. Siehe http://www.soemmerda.de/tourismus/sehenswuerdigkeiten/dreyse-haus.html, Zugriff am 25. März 2019. 24 Vgl. Nikolaus von Dreyse, Der Waffenschmied von Thüringen. Der Roman eines deutschen Handwerkers, Sömmerda 1933, S. 15 ff. Spätere Ausgaben erschienen leicht verändert und unter dem Pseudonym von Wilhelm Franz. 25 Siehe zur Überlieferungslage insbesondere Frank Boblenz, Die frühen Geschäftsbücher (wie Anm. 22), S. 147–169.

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Die Firmengründer Zunächst sei auf Friedrich August Jacob Kronbiegel – so der vollständige Name – verwiesen,26 der bereits in einem noch mehrfach zu zitierenden amtlichen Bericht über die Betriebsverhältnisse von 1820 als „eigentliche[r] Gründer der [Sömmerdaer] Fabrik“ bezeichnet wurde.27 Er entstammte einer Kaufmannsfamilie, die in den 1740er Jahren in der thüringischen sowie kurmainzischen Metropole Erfurt Fuß gefasst hatte. Nach dem Schulbesuch in Erfurt und einem vermutlichen Studium in Jena begann für den 21-jährigen 1798 ein neuer Lebensabschnitt. Am 14. September 1798 erwarb Friedrich Kronbiegel in seiner Geburtsstadt das Bürgerrecht und am 25. des Monats genehmigte die kurmainzische Regierung seinen Antrag auf Etablierung eines eigenen Geschäftes und zum Handel „mit Tüchern, wie auch Ausschnitt- und Galanterie Waaren, in so fern letztere [in Erfurt] nicht gefertigt würde“.28 Von Beginn an scheint Kronbiegel ein gewisses Gespür für erfolgversprechende Unternehmungen besessen zu haben. Hinzu kam seine Risikobereitschaft, was sich 1808 zeigte. Inzwischen hatte Napoleon von Erfurt Besitz ergriffen und die gegen England verhängte Kontinentalsperre zeigte ihre Wirkung. In Deutschland war daher ein steigender Bedarf an guten Metallknöpfen für den zivilen und militärischen Bereich zu befriedigen, was von den bestehenden Firmen nur ungenügend realisiert werden konnte. Im Sommer 1808 etablierte Kronbiegel zusammen mit N. Diebel die Firma „Friedrich Kronbiegel et. Comp.“, welche in den folgenden Jahren marktführend auf dem Gebiet der metallenen Knopffertigung in Thüringen wurde und auch darüber hinaus Handelsbeziehungen unterhielt. Deutlich wird dies u. a. anhand des ersten überlieferten Briefkopierbuches für die Zeit von 1808 bis 1815.29 Als sich der militärische Konflikt zu Beginn des zweiten Jahrzehntes zuspitzte und der Stern Napoleons zu sinken begann, verschlechterten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Erfurt zusehends. Besondere Einschränkungen 26 Zum folgenden siehe insbesondere Frank Boblenz, Verzeichnis der Korrespondenzpartner der Erfurter Metallwaren- und Knopffabrik Friedrich Kronbiegel & Comp. auf der Grundlage des ältesten Firmenbriefkopierbuches von 1808 bis 1815 (Teil 1), in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 59 (1998), S. 75– 100, hier S. 79–94). 27 Landesarchiv Sachsen-Anhalt, F 38, Xc Nr. 38, Bd. 1, Bl. 3. 28 Stadtarchiv Erfurt, 1-1/VIIIa-41, Bl. 158. 29 Vgl. SAS, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 1. Darauf aufbauend Boblenz, Verzeichnis der Korrespondenzpartner (wie Anm. 26); ders., Verzeichnis der Korrespondenzpartner der Erfurter Metallwaren- und Knopffabrik Friedrich Kronbiegel & Comp. auf der Grundlage des ältesten Firmenbriefkopierbuches von 1801 bis 1815 (Teil 2), in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 60 (1999), S. 47–73. Den nachfolgenden Band für die Zeit von 1815 bis 1819 siehe im LATh – HStA Weimar, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 10.

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erlitt das Unternehmen während der Belagerung der Stadt im Jahre 1813. Kronbiegel wagte deshalb einen Ausbruch aus der Stadt, um die Preußen von den Zuständen zu informieren und die Einnahme/Befreiung Erfurts zu befördern. Eine Tat, für die er später mit dem Eisernen Kreuz geehrt wurde. Seine ab 1816 nachvollziehbaren Ambitionen, die zur Errichtung einer Nägelbzw. Eisenwarenfabrik unter dem Namen Dreyse & Kronbiegel in Sömmerda führten, seien an dieser Stelle übersprungen und später behandelt. Erwähnt sei aber, dass das Sömmerdaer Engagement dazu führte, dass Kronbiegel 1818 sein Erfurter Unternehmen an seinen Kompagnon Carl Collenbusch veräußerte, der die Firma dann zusammen mit Carl Wapler die nächsten Jahre führte. Von nun an widmete sich Kronbiegel ganz dem Sömmerdaer Unternehmen, wobei er weiter in Erfurt wohnte, in Sömmerda aber Räumlichkeiten im Haus von Dreyse nutzte.30 Allerdings blieben ihm dafür nur rund 1 ½ Jahre Zeit, da er bereits am 20. Januar 1820 in Erfurt verstarb. In seine Rechte trat zunächst seine Witwe – die aus Weißensee stammende Juliane (Julie) Christiane Dorothea Kronbiegel (geb. Schencke) (1790–1840) – ein, was vertraglich mit Dreyse fixiert wurde.31 Da die Witwe wenige Zeit später den bereits genannten Carl Collenbusch heiratete,32 gingen diese Rechte an den Ehemann über, wodurch sich schließlich die Änderung der Firmenbezeichnung in Dreyse & Collenbusch ergab.33 Die weitere Geschichte der Firma soll hier aber nicht behandelt werden. Völlig anders verhält es sich dagegen mit dem Lebensweg des 1787 im ebenfalls kurmainzischen Sömmerda geborenen und 1864 geadelten Johann Nicolaus (von) Dreyse. Dessen Vater gehörte zu den Sömmerdaer Schlossern, wodurch der Berufsweg für Johann Nicolaus sowie dessen Bruder Rudolph Dreyse (gest. 1872) zunächst vorbestimmt schien. Mit etwa 14 Jahren dürfte Dreyse noch 1801 bzw. 1802 Schlosserlehrling geworden sein. Da die Lehrzeit in der Regel drei Jahre dauerte, wird er 1804 bzw. 1805 den Status eines Gesellen erlangt haben. Damit ergab sich die Möglichkeit, auf die Wanderschaft zu gehen. Ein konkretes Datum dafür ist gegenwärtig nicht bekannt. Der bisher früheste Hinweis darauf findet sich in einem Zeitungsbeitrag vom Mai 1864, wo erstmalig 1806 ins Spiel gebracht wurde: „Nach beendeter Lehrzeit wanderte er im Jahre 1806 nach Altenburg, dann nach Dresden und im Jahre 1809 nach Paris.“34 August Mels (1829–1894) wird im August 1866 – wenige Tage nach der für Preußen siegreichen Schlacht von Königgrätz – in der Zeitschrift „Daheim“ 30 Vgl. LATh – HStA Weimar, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 1, Bl. 4v. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. dazu SHGV, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 82. Davon Bl. 1r und 5v abgebildet bei Schüle, BWS Sömmerda (wie Anm. 9), S. 25. 33 Vgl. Boblenz, Die frühen Geschäftsbücher (wie Anm. 22), S. 157. 34 Johann Nikolaus v. Dreyse, Erfinder der Zündnadelgewehre, in: Neue Preussische Zeitung (15. Mai 1864), 1. Beilage zu Nr. 112.

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sogar noch konkreter, indem er Dreyse auf die Frage, „ob er je in seinem Leben ein Schlachtfeld unmittelbar nach der Schlacht gesehen habe“ selbst berichten lässt: „Ein einziges“ – erwiderte er – „das von Jena [im Oktober 1806] – es ist lange, lange her – und auf diesem Schlachtfelde kam mir die erste Idee, daß die preußische Schießwaffe verbessert werden müsse, wenn Preußen überhaupt auf seine Militärmacht etwas rechnen wollte. Ich war damals ein reisender Handwerksbursche, – Sie wissen, ich war Schlosser – und mit dem Ränzel auf dem Rücken durchreiste ich Deutschland und suchte in der unglücklichen Zeit nach Frankreich zu kommen – dem einzigen Lande, wo man damals in meinem Handwerke etwas lernen konnte! – So kam ich am 15. October 1806 durch Jena und sah die langen Reihen Todter auf den Feldern und die abgeschnittenen Zöpfe daneben! Ich kann Ihnen nicht sagen, welch einen grausigen Eindruck meine Seele empfing. Ich nahm ein Gewehr auf und prüfte es; – hören Sie – ich weiß nicht, ob der Witz: „um die Ecke schießen“ schon damals existierte, aber er konnte nur auf die preußischen Gewehre von damals sich beziehen! Nein, ich habe wirklich nie mehr so etwas gesehen – es war das schlechteste, was man sich denken konnte, ebenso wie das französische Feuersteingewehr nach dem Modell von 1779 die gelungenste, vollendetste Waffe war, die es damals gab.“ 35

Seitdem hält sich hartnäckig die Geschichte, dass Dreyse am 14. bzw. 15. Oktober 1806 seine Vaterstadt verlassen habe. Darüber hinaus ist bisher lediglich noch ein anderes Datum in einem teilweise als Erinnerungsbericht einzustufenden Pressebeitrag von Dr. phil. Julis Schadeberg (1806–1880) in Halle zu finden.36 Schadeberg, ein gebürtiger Sömmerdaer und u. a. zeitweise Korrespondenzpartner von Arnold Ruge (1802–1880) – der mit Karl Marx (1818–1883) und dem aus dem thüringischen Griesheim stammenden Carl Ferdinand Julius Fröbel (1805–1893) in Verbindung stand –, teilte 1866 mit, dass er um 1811 Dreyse ein Stück des Weges begleitet hätte, als sich dieser auf seine Wanderschaft begab.37 Da Schadeberg erst 1806 geboren wurde, ist diese Aussage jedoch sehr fraglich, sofern Dreyse nicht zwischen- und kurzzeitig von Paris nach Sömmerda zurückgekehrt war. Wann Dreyse – wie bereits angedeutet – von seiner Heimatstadt Abschied nahm, ist jedoch bisher nicht quellengestützt bekannt, so dass er Sömmerda durchaus bereits 1805 verlassen haben könnte. Ebenso wenig offenkundig sind die Stationen seiner Wanderschaft, auch wenn später „konkrete“ Hinweise auf den Vetter Beck in Altenburg sowie den Schlossermeister Johann Friedrich Mühlefeld (gest. 1813) in Dresden angebracht werden.38 Letzterer wohnte in der 35 Mels, Ein Besuch beim Erfinder des Zündnadelgewehrs (wie Anm. 20). 36 Für die Unterstützung bei der Ermittlung der Lebensdaten sowie die Auskunft vom 4. Juni 2018 dankt der Autor herzlich seinem Kollegen Ralf Jacob, Leiter des Stadtarchivs Halle. 37 Vgl. Julius Schadeberg, Nicolaus Dreyse, in: Berliner Revue (10. August 1866), Heft 6, S. 166–170. 38 Für die Recherche und Auskunft zu Mühlefeld mit Schreiben vom 10. April 2006 dankt der Autor Frau Hoppe vom Stadtarchiv Dresden. Ein Hinweis auf die Anwesenheit von Dreyse in Dresden konnte bei der Recherche nicht ermittelt werden.

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Kleinen Fischgasse 602, stammte ursprünglich aus Spandau und hatte 1780 das Meister- und Bürgerrecht in Dresden erlangt. Mit einer gewissen Sicherheit muss Dreyse auf der Wanderschaft zumindest das nordthüringische Weißenfels im Kurfürstentum bzw. Königreich Sachsen passiert haben, da er in einem Schreiben von ca. 1810/11 auf die Größe der Saale bei diesem Ort verweist, was die persönliche Ortskenntnis von Briefschreiber und -empfänger voraussetzt.39 Sollte ein beruflicher Aufenthalt in Altenburg erfolgt sein, so war dies jedoch kaum beim Vetter Beck. Zwar wird am 30. April 1787 ein aus „Groß Sömmern“ stammender Johann Andreas Beck Bürger in Altenburg,40 doch war dieser dort als Sattlermeister (1787 - Sattlergeselle) tätig. In den 1790er Jahren wird er bereits als Hofsattler unter den „Hof-Befreyte[n], Künstler[n] und Handwerker[n]“ in Altenburg aufgeführt,41 während sein Wohnsitz bisher nicht nachvollziehbar ist. Am 12. Juli 1791 heiratete der inzwischen zum Meister etablierte Beck Dorothea Sophia Schmidt,42 die Tochter des Altenburger Bürgers und Hutmachermeisters Johann Christoph Schmidt. Aus der Verbindung gingen fünf Kinder hervor, wobei sich ein Bezug zur Familie Schadewitz ergibt, die auch eine mögliche Verbindung zu Dreyse darstellen könnte. Bei Becks ältester Tochter Dorothea Sophia war 1798 Marie Dorothea Schadewitz erste Taufpatin. Sie war gleichzeitig die Ehefrau des Wagnermeisters Christian Johann Schadewitz (1745–1819), der zudem das Prädikat Hofwagner besaß. Schadewitz stammte aus Prettin und hatte 1778 das Bürgerrecht in Altenburg erlangt.43 Er besaß das Haus Pauritzergasse 63, das an das Grundstück von Hutmachermeister Schmidt – dem Schwiegervater von Beck – grenzte. Bis ins zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hatte sich an diesen Verhältnissen nichts geändert, wobei in den offiziellen Hof- und

39 Erstmals als Auszug veröffentlicht wurde das undatierte Schreiben bei Otto Hesse, Aus Sömmerdas Vergangenheit und Gegenwart. Versuch einer Zusammenstellung der geschichtlichen Begebenheiten, Erfurt 1898, S. 137. Auf 1813 datiert ihn Siegfried Hübschmann/Werner Eckardt, Johann Nikolaus von Dreyse, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, Erster Band: Lebensbilder des 19. Jahrhunderts, hg. v. der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und für Anhalt, Magdeburg 1926, S. 115 f. 40 Vgl. Wolfgang Becher u. a., Die Bürgerbücher der Stadt Altenburg in Thüringen 1700– 1838 (Schriftenreihe der Stiftung Stoye, 46), Marburg an der Lahn 2008, S. 166, Nr. 3497. 1787 zahlte auch ein Johann Andreas Becke in Sömmerda wegen weggewendetem Erbe das halbe Bürgerrecht. Vgl. SAS, A 723, Bl. 2. 41 Vgl. Herzoglich-Sachsen-Gotha- und Altenburgischer Hof- und Adreß-Calender auf das Jahr 1794, Gotha [o. J.], S. 72. 42 Für die freundliche Auskunft vom August 2011 dankt der Autor herzlich Frau Ingrid Katzsch vom Stadtkirchenamt Altenburg. 43 Vgl. Becher u. a., Bürgerbücher (wie Anm. 40), S. 148, Nr. 3061.

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Adreßbüchern auch kein anderer Hofwagner aufgeführt ist.44 Seine Stellung übernahm später sein Sohn Christian Friedrich Schadewitz (1779–1847),45 der als „Altenburger Bild- und Wortchronist“ Beachtung fand.46 Sofern Dreyse bei einem Hofwagner in Altenburg beschäftigt war, kann dies deshalb nur bei Schadewitz gewesen sein. Ob sich hieran bereits ein Aufenthalt in Dresden anschloss, bleibt jedoch unklar. Am 20. August 1807 muss Dreyse dann wieder in Sömmerda gewesen sein, da er als erster Pate bei der Tochter des Schlossermeisters Johann Franz Micks fungierte und eine Abwesenheit nicht vermerkt wurde.47 Etwas mehr als ein halbes Jahr später entschied sich Dreyse schließlich im Sömmerda benachbarten albertinischen Kölleda Bürger zu werden, wo er am 10. März 1808 den Bürgereid ablegte, das Bürgerrecht erhielt und 6 Reichstaler 1 Groschen an Bürgerrechtsgeld sowie 6 Groschen zur Anpflanzung erlegte.48 Damit war er – da Sömmerda seit 1807 zu dem Napoleon direkt unterstellten Gebiet in Thüringen gehörte49 – vom französischen zum Untertan des Königreichs Sachsen avanciert. Die Anwesenheit in Kölleda war jedoch nicht von langer Dauer, da sich Dreyse 1809 bereits nach Frankreich begab. Ein Reiseziel, was als relativ gesichert gelten kann, da darauf bereits im Juni 1817 in einem Bericht50 und im Oktober 1818 in einer Veröffentlichung ohne Jahresangabe Bezug genommen wurde.51 Nur 44 Vgl. Herzoglich-Sachsen-Gotha- und Altenburgischer Hof- und Adreß-Calender auf das Jahr 1806, Gotha [o. J.], S. 81; Herzoglich-Sachsen-Gotha- und Altenburgischer Hof- und Adreß-Calender auf das Schalt-Jahr 1812, Gotha [o. J.], S. 86. 45 Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg, Altenburg 1828, S. 18. 46 Siehe dazu: Die Aquarelle und Autographen des Altenburger Bild- und Wortchronisten Christian Friedrich Schadewitz 1779–1847, hg. v. Schloß- und Spielkartenmuseum Altenburg, Bd. 1–3 und Register, Altenburg 1992–1997. Das Schadewitzsche Haus – wo Dreyse gewohnt haben könnte – siehe Bd. 2, S. 120 f. 47 Vgl. Archiv der Regionalgemeinde Sömmerda, Kirchenbuch St. Bonifatius 1803–1815, Bl. 32v–33r. 48 Vgl. Stadtarchiv Kölleda, Bürgerbuch 1782–1832, Bl. 89v. Für den Hinweis auf diese Quelle dankt der Autor herzlich seiner Kollegin Andrea Aschenbach, Leiterin des Stadtarchivs Kölleda. 49 Vgl. zu den Territorialverhältnissen Frank Boblenz, Das Königreich Westphalen sowie die Provinzen Erfurt und Fulda. Zum Umfang des „französischen“ Thüringen von 1806/07–1813/14, in: Katrin Beger u. a. (Hg.), „Ältestes bewahrt in Treue, freundlich aufgefasstes Neue“. Festschrift für Volker Wahl zum 65. Geburtstag, Rudolstadt 2008, S. 333–348. 50 Vgl. LATh – StA Gotha, Regierung Erfurt Nr. 1877, Bl. 139v–140r. 51 Vgl. Allgemeiner Anzeiger der Deutschen (10. October 1818), Nr. 276, Sp. 2985–2986. Hier wird erstmals die Dauer des Aufenthalts mit fünf Jahren angegeben und dass er vor etwa vier Jahren zurückgekehrt sei. Damit ergibt sich bereits hier das Raster 1809 und 1814.

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wenige Tage nach dem Erwerb des Kölledaer Bürgerrechts war im Königreich Sachsen eine Bekanntmachung ergangen, die die Vorhaben der „Unterthanen, welche nach Frankreich reisen wollen“, betraf. Dieser zufolge hatten die Reisenden sich mit einem von der Ortsobrigkeit ausgestellten Pass beim zuständigen Departement in Dresden zur Erlangung eines „Cabinets-Paßes“ zu melden, welcher dann durch die Kaiserlich-Französische Gesandtschaft mit der nötigen Legitimation versehen werden musste.52 Spätestens im Kontext dazu und ab Frühjahr 1808 dürfte Dreyse daher nach Dresden gelangt sein, von wo er, eventuell nochmals in Sömmerda verweilend, um 1809 nach Frankreich reiste. Napoleons Staat sollte dann für rund fünf Jahre sein Domizil darstellen. Dass er dabei nicht der einzige Handwerker aus Thüringen war,53 zeigt sich in Bezug auf Angehörige der Kölledaer Familie Beck, die zwar erst ab Anfang 1815 in Paris als Schneider/Kleidermacher belegt sind, aber schon vorher nach dort übergesiedelt waren.54 Möglicherweise standen sie in Paris auch in Verbindung mit Johann Nicolaus Dreyse. Was Dreyse in Paris bzw. in Frankreich konkret gemacht hat, entzieht sich überwiegend unserer Kenntnis. Authentisch offenbart lediglich sein unvollständig datierter, aber auf 1810 oder 1811 anzusetzender Brief, einige Ansatzpunkte, in dem er am 3. März ausführt: Dein Schreiben zu beantworten war längst mein Wunsch, aber die stark pressierende Arbeit ließ mir keine Zeit übrig und noch jetzt ist der selbe Fall, Dir nur wenige Zeilen mitzuteilen. Selbst habe ich keine Weihnachtsfeiertage können halten, weil wir gerade die Reisewagen des Königs von Neapel55 in Arbeit hatten, welcher gleich nach den Feiertagen abreiste.56

Besonders interessant ist dabei der Hinweis auf seine Mitarbeit am Reisewagen. Betrachtet man dies im Kontext zum Altenburger Wagenbauer und den Wagen-Bezügen im nachfolgend zitierten Teil des Presseartikels von 1864, so deutet sich an, dass Dreyse ursprünglich stärker in diesem Metier tätig gewesen zu sein scheint und sich erst danach umorientierte. Oder er war zu dieser Zeit schon wesentlich universeller hinsichtlich seines Broterwerbs aufgestellt? Erst Jahre später – am 10. Juli 1827 – kommt Dreyse in einem Schreiben auf diesen Aufenthalt selbst kurz und konkret zu sprechen, in dem er ausführte:

52 Vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 10079 Landesregierung Loc. 30998, Vol. I, Bl. 191 ff. Entsprechende Recherchen des Autor zur Ermittlung von Aktivitäten Dreyses zur Beschaffung der Reiseunterlagen waren bisher erfolglos. 53 Spezielle Untersuchungen zu deutschen Handwerkern in Paris fehlen für die Periode des napoleonischen Kaiserreiches, während die Zeit davor und danach besser erforscht ist. 54 Vgl. Pfarramt Kölleda, Kirchenbuch 1801–1821, Bl. 274/275 und 332/333. 55 Es dürfte sich dabei um Napoleons Schwager Joachim Murat (1767–1815) handeln, der ab 1808 König von Neapel war. 56 Hübschmann/Eckardt, Johann Nikolaus von Dreyse (wie Anm. 39), S. 115.

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„Im Jahre 1811, wo [Samuel Johann] Pauli57 in Paris die Gewehre von hinten zu laden erfand, arbeitete ich in seiner Fabrik; es entstand schon damals in mir der Gedanke, die Paulischen Gewehre auf eine andere Art zu construieren, und ihr System zu ändern.“58 Und indirekt nahm er am 1. November 1832 in einem Schreiben an den preußischen Offizier und ersten Sömmerdaer Ehrenbürger Georg Heinrich (von) Priem (1794–1870) darauf Bezug,59 als er diesem im Zusammenhang mit der Fertigung des „Zündnadelgewehr[s] für [den] Militärgebrauch“ u. a. mitteilte: „Wer sich hiervon nicht theoretisch überzeugen will, mag in die praktische Militär u. Waffenschule gehen u. dort das A, B, C, lernen. Ich bin in dieser Religion schon seit 25 Jahren [würde seit Herbst 1807 bedeuten] confirmirt u. bei den größten Meistern in die Schule gegangen“.60 Konkreter wird schließlich der bereits angeführte Artikel von 1864, ohne dass sein Wahrheitsgehalt jedoch in allem erwiesen ist: Hier [in Paris] suchte er die besten Werkstätten zu seiner technischen Ausbildung zu benutzen und ließ es sich besonders angelegen sein, auch seine wissenschaftlichen Kenntnisse zu erweitern, namentlich im Zeichnen und in den Sprachen sich zu vervollkommnen. Es gelang ihm, in mehreren größeren mechanischen Werkstätten, u. A. in der Gewehrfabrik von Pauli, in optischen Anstalten und in verschiedenen, zu jener Zeit berühmten Wagenfabriken Beschäftigung zu finden. Während seines Aufenthaltes in Paris hat er an der Herstellung eines Staatswagens für den König Joseph von Spanien, an der eines Kinderwagens für den König von Rom, so wie an der Herstellung von optischen Gegenständen und an der Verfertigung von Gewehren für die Französische Armee nach Paulischer Construction Theil genommen. Bei der Bearbeitung von Reflexspiegeln für den Leuchtthurm von Havre de Grace zog er sich eine langwierige Augenkrankheit zu.61

Während so die Tätigkeit nur partiell nachvollziehbar ist, kann übereinstimmend mit bestimmten Meldungen davon ausgegangen werden, dass Dreyse die 57 Siehe zur Person und der Erfindung von Pauly (1766–1821) u. a.: Pourquoi le fusil PAULY fut-il refusé en 1812?, in: Armes & Uniformes de l'Histoire (Mars-Avril 1973), N° 13, S. 11–13; J[ean]-R[enè] Clergeau, Le fusil Pauly. Son évolution – sa descendance, in: Gazette des armes (Avril 1975), N° 26, S. 8–16; Alex Capus, Himmelsstürmer. Zwölf Portraits, München 2008, S. 67–82; Peter Pulver/Matthias S. Recktenwald, Die Entwicklungen des Konstrukteurs Samuel Johann Pauly. Wer hat's erfunden?, in: Visier (2015) 5, S. 76–81. 58 GStA PK, Rep. 120 D XIII 1 Nr. 21 Bd. 1, S. 66. Dies ist der bisher älteste Beleg dazu in einem Selbstzeugnis von Dreyse. 59 Vgl. 1877. Georg Heinrich von Priem, Geb. 13.11.1794 zu Vietz (Kr. Landsberg a. d. W.), in: Soldatisches Führertum, Teil 9: Die preußischen Generale vom Regierungsantritt König Friedrich Wilhelm IV. bis zum Jahre 1858, hg. v. Kurt von Priesdorff, Hamburg [1938], S. 250–252; Frank Boblenz, Militär, Förderer und Stifter. Georg Heinrich von Priem (1794 bis 1870) ist Sömmerdas erster Ehrenbürger, Er erhielt vor 170 Jahren seine kommunale Auszeichnung, in: Sömmerdaer Allgemeine. Thüringer Allgemeine vom 6. November 2018, Nr. 258, S. 17. 60 GStA PK, VI. HA, FA Priem, v., Nr. 9. 61 Johann Nikolaus v. Dreyse, Erfinder der Zündnadelgewehre (wie Anm. 34).

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ihm zur Verfügung stehende Freizeit zum Selbststudium nutzte. Dass er dabei allerdings auch in der polytechnischen Schule in Paris gebildet wurde, wie im Jahresbericht des Altenburger Kunst- und Handwerksverein62 von 1825 – eventuell von Dreyse & Collenbusch63 sogar suggeriert – nachzulesen, dürfte eher eine Aussage zu seiner Reputation als eine Tatsache sein. Dagegen sei auf eine Einschätzung des Suhler Bergmeisters und Inspektors der Gewehrfabrik Wilhelm Gottlob (Gottlieb) Spangenberg64 (1763–1827) verwiesen, der das Unternehmen im Juni 1820 umfassend inspizierte und wo angemerkt wird: Eine natürliche Anlage zur Mechanik und zur leichten Auffaßung ihrer verschiedenen Gegenstände, verbunden mit Application und Nachdenken über die Wirkung ihrer Potenzen, haben den jungen Mann unstreitig zum Künstler gemacht. Hierzu kommt noch, daß er fertig zeichnet und auch nicht ohne Lectüre gewesen seyn muß, da er sich über die Gegenstände der Maschienenlehre ziemlich richtig, überhaupt aber, in seinem Fache sehr deutlich ausdrückt.65

Welche Lektüre dies konkret war, lässt sich bisher für Frankreich nicht und für Deutschland nur in Ansätzen konkret nachweisen. Er selbst erwähnt 1818 die Maschinenlehre von Johann Heinrich Moritz Poppe (1776–1854),66 die von 1805 bis ins genannte Jahr in sieben Bänden erschien.67 Diese weisen eindeutig 62 Vgl. Das siebente Jahr des Kunst- und Handwerkervereins zu Altenburg (Jahresbericht vom 4. Februar 1824 bis dahin.), [Altenburg 1825, S. 65]. Das Exemplar im Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Altenburg, Bibliothek GAGO 213. 63 Beide waren am 9. Juli 1824 als auswärtige Mitglieder des Vereins auf Grund ihrer Beteiligung an der ab 1. Juli 1824 stattfindenden Ausstellung von Kunst- und Gewerbs-Gegenständen durch den Kunst- und Handwerksverein aufgenommen worden. Vgl. u. a. LATh – StA Altenburg, Gewerbeverein zu Altenburg B 2, Bl. 226r und B 3, Bl. 6r; Verzeichniss der Mitglieder des Kunst- und Handwerksvereins im Herzogthume Altenburg nach dem Stiftungsfeste, den 4. Februar 1834, Altenburg 1834, S. 14. Das Exemplar ebd., Bibliothek: GAGO 213. 64 Vgl. Hermann Sp., 84. Wilhelm Gottlieb Spangenberg, in: Neuer Nekrolog der Deutschen, 5 (1827), hg. v. Bernhard Friedrich Voigt, Erster Theil, Ilmenau 1829, S. 247–251; Heinz Wiefel/Josepha Wiefel, Biographisches Lexikon zur Geschichte der Geowissenschaften in Thüringen. Biobibliographische Daten über Geowissenschaftler und Sammler, die in Thüringen tätig waren (Schriftenreihe der der Thüringer Landesanstalt für Umwelt und Geologie, 95), Jena ²2010, S. 138. 65 LHAS, F 38, Xc Nr. 3 Bd. 1, Bl. 3v–4r. 66 Vgl. Allgemeiner Anzeiger der Deutschen (17. October 1818), Nr. 283, Sp. 3056. 67 Vgl. z. B. den ersten Band Johann Heinrich Moritz Poppe, Encyclopädie des gesammten Maschinenwesens, oder vollständiger Unterricht in der praktischen Mechanik und Maschinenlehre, mit Erklärungen der dazu gehörigen Kunstwörter, in alphabetischer Ordnung. Ein Handbuch für Mechaniker, Kameralisten, Baumeister und Jeden, dem Kenntnisse des Maschinenwesens nöthig und nützlich sind, Erster Theil, A–D, Leipzig 1805. Poppe war zu dieser Zeit bereits Hochfürstl. Schwarzburg-Sondershäusischer Rat und gab noch weitere Werke heraus, die für Dreyse und Kronbiegel von Relevanz gewesen sein können.

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Bezugspunkte zur Produktion der Sömmerdaer Firma auf, was hier jedoch aus Platzgründen nicht weiter erörtert werden kann. Hinzu kommt der Hinweis auf den Erwerb einer Veröffentlichung über das Neueste der Erfindungen im März 1817.68 Vorausgesetzt werden kann zudem das Lesen weiterer spezifischer Zeitschriften, sofern diese für Dreyse erschwinglich waren. Doch zurück nach Paris. Am nachhaltigsten war dort – in der Perspektive gesehen –, das schon angeführte Zusammentreffen von Dreyse mit den Waffenproduzenten Johann Samuel Pauly und dessen Teilhaber François Prélat.69 Von 1808 bis 1814 hatte Pauly seine Fabrik (bzw. Manufaktur) in der rue des Trois-Frères Nr. 4 im Bereich des Montmartre. Dort arbeitete er u. a. an der Entwicklung eines Hinterladers, für den er am 29. September 1812 ein Patent erhielt. Diese Aktivitäten fanden auch öffentliches Interesse in Fachkreisen und wurden nicht zuletzt für den dort beschäftigten Dreyse zum entscheidenden Impuls für die Konstruktion seiner eigenen Waffen ab den 1820er Jahren. Wie weit dabei die Aktivitäten von Pauly schon gediehen waren, belegt die bisher diesbezüglich anscheinend nicht beachtete Schilderung des Schweizer Offiziers Johann Conrad Fischer (1773–1854),70 der insbesondere als Pionier der Metallurgie Bedeutung erlangte und die Pariser Firma am 17. September 1814 – Pauly war zu diesem Zeitpunkt in England – besucht hatte: Seine Associés hatten indess die Gefälligkeit, mir nicht nur die Einrichtung dieser neuen Art Gewehre (die von hinten, und sieben- bis achtmal geschwinder als gewöhnliche Gewehre geladen und los gefeuert werden können, und ohne Zündpfanne, Pfanndeckel, Feuerstein und Ladstock sind) zu zeigen, sondern mich noch auf dem hinter dem Hause gelegenen Schiessplatz zu führen, welches mir um so mehr Vergnügen machte, da ich mich wohl darauf zeigen zu dürfte glaubte. Wir schossen mit Doppelflinten und mit gezogenen Pistolen, und ich muss gestehen, dass ich über die Schnelligkeit erstaunte, mit welcher der Schuss zusammenbrannte und losging, so wie man nur den Drücker oder 68 Vgl. SAS, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 6, Bl. 41v. 69 Zu hinterfragen wäre noch, ob Dreyse Kenntnis von der Tatsache hatte, dass die ersten Patente auf Zündhütchen ausgerechnet Personen aus dem Umfeld von Pauly erhielten. So Joseph Egg (1775–1837) 1817 in England und Prélat 1818 in Frankreich. Dreyse selbst begann 1824 mit der Zündhütchenproduktion. Siehe dazu Vgl. Frank Boblenz, „Heute ist uns das Praeparat fertig gelungen“ – Vor 175 Jahren begann die Zündhütchenproduktion in Sömmerda, in: Sömmerdaer Heimatheft 11 (1999), S. 65–70. Vor diesem Aufsatz war der Übergang zur Zündhütchenproduktion in Sömmerda meist mit 1823 angesetzt worden, was insbesondere aus einem nicht beachteten Datierungsfehler in einer Ministerialakte herrührte. Siehe z. B. Günter Thiede, 2.3 Das Zündhütchen und Collenbusch, in: Das Zündnadelgewehr. Eine militärtechnische Revolution im 19. Jahrhundert (Wehrtechnik und wissenschaftliche Waffenkunde, 7), bearb. v. Rolf Wirtgen u. a., hg. im Auftrage der Wehrtechnischen Studiensammlung des Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung, Herford/Bonn 1991, S. 21–25. 70 Vgl. zu seiner Person Rudolf Gnade/Karl Schieb, Fischer, Johann Conrad, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 5: Falck–Fyner, hg. v. der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1961, S. 192.

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Stecher, der gleich wie an einem andern Gewehr ist, berührte. Der Grund lag darin, dass das Zündkorn (Amorce), welches an Farbe und Gestalt einem Hanfkorn glich, und das sie Muriatique oxiginée (?) nannten, in der Mitte des Pulvers in dem durchlöcherten Boden der für jeden Schuss einzuschiebenden Patrone lag, und beim Abfeuern des Gewehrs mittelst des Stosses von einem stählernen Stängelchen, Hammer genannt, augenblicklich explodirte. Diese Schnelligkeit der Endzündung gewährte für die Sicherheit des Schusses einen grossen Vortheil, wie ich selbst erfuhr, indem ich in vier Schüssen, zu einiger Verwunderung dieser Herren, den Pavillon dreimal in die Höhe brachte. Der Preis einer auf diese Art eingerichteten Doppelflinte ist sechshundert Franken, und der von einem Stutzer oder Pistolenpaar nur wenig geringer. Als Ursache dieses, wie mir vorkam, hohen Preises gaben sie mir an, dass derselbe die auf Versuche und Verbesserungen verwendeten Auslagen decken müsse, und sie, weil sie patentirt seien, keinen Konkurrenten zu befürchten haben. In wie fern dieses Raisonnement richtig und vorteilhaft für sie ist, wird der Erfolg lehren.71

Ob Dreyse zu dieser Zeit noch in Paris weilte und bei Pauly arbeitete, entzieht sich bisher unserer Kenntnis. Sofern dies der Fall war, wird die Rückkehr nach Thüringen zumindest kurz bevor gestanden haben. Ausschlaggebend dafür dürften der sinkende Stern Napoleons und die Besetzung der französischen Metropole durch die Alliierten am 31. März 1814 gewesen sein. Hinzu kommt, dass Pauly – wahrscheinlich ähnlich motiviert – im selben Jahr nach London übersiedelte, wo er mit seinem Landsmann, dem Gewehrproduzenten und Erfinder Urs Egg (1748–1831), zusammenarbeitete. Beide erlangten übrigens in England ein Patent für ein Luftschiff – ein Thema, mit dem sich Pauly bereits in Frankreich beschäftigt hatte. Ob Pauly – der bereits 1821 verstarb – und Dreyse nach ihrer Trennung noch in Kontakt blieben, ist momentan nicht bekannt.72 Die Frage nach der Perspektive für Dreyse, dürfte darüber hinaus in Verbindung damit zu sehen sein, welche Nachrichten er aus der Heimat erhielt. Sicherlich wusste er davon, dass seine Geburtsstadt seit Ende 1813 wieder zu Preußen gehörte und das Königreich Sachsen unter alliierter Besatzung stand. Vielleicht gab es aber schon Signale, dass es seinem Vater – er starb am 1. August 1815 – in Sömmerda schlecht ging und eine Regelung der Erbschaftsverhältnisse sowie die Übernahme der Werkstatt anstehen würden bzw. in absehbarer Zeit zu 71 Johann Conrad Fischer, Tagebuch einer im Jahr 1814 gemachten Reise über Paris nach London und einigen Fabrikstädten Englands vorzüglich in technologischer Hinsicht, Arau 1816, S. 210–212. Siehe https://books.google.de/books?id=CsVQAAAAcAAJ&dq=intitle:Tagebuch+Paris+inauthor:Fischer&as_brr=3&redir_esc=y, Zugriff am 24. März 2019. 72 Dies gilt ebenso für Kontakte nach Paris. Eventuell war es deshalb kein Zufall, dass sich im Oktober 1819 „eine sehr gebildete Pariserin“ in Sömmerda aufhielt, wie der Arzt Friedrich Caspar Christian Trommsdorff (1782–1822) am 19. des Monats aus der Stadt an seinen Bruder berichtete. Vgl. Der Briefwechsel von Johann Bartholomäus Trommsdorff (1770–1837) (ACTA HISTORICA LEOPOLDINA, Nr. 18, Lieferung 10), bearb. u. komm. v. Hartmut Bettin, Christoph Friedrich und Wolfgang Götz, Halle (Saale) 2007, S. 127.

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erwarten seien? Möglicherweise erhielt Dreyse aber auch Kenntnis davon, dass preußischerseits zielgerichtet nach Fachkräften in Paris gesucht wurde, die die heimische Wirtschaft mit ihren Erfahrungen und Fertigkeiten voranbringen sollten? So weilte der später noch eingehender zu behandelnde Berliner Fabrikenkommissar Johann Gottfried May (1774–1849) im Sommer 1814 u. a. in Paris. Dort animierte er den aus Breslau stammenden Werkmeister Karl Joseph Schweighofer zur Übersiedlung nach Berlin, wo er einen maßgeblichen Beitrag für die Straßenbeleuchtung in der preußischen Hauptstadt leistete.73 Darüber hinaus waren weitere „fabrikkundige Männer“ durch das Berliner Departement für Handel und Gewerbe im Ministerium des Innern nach Frankreich beordert worden, um die Fabriken bezüglich der vorhandenen Maschinen und möglicher Fabrikgeheimnisse in Augenschein zu nehmen. Als Zwischenstation war Ende Mai bzw. Anfang Juni Erfurt vorgesehen, wo der Vizelandesdirektor August Heinrich Kuhlmeyer (1781–1865) ihnen zugleich alle Nachrichten geben sollte, die sie zur vollständigen Realisierung ihres Auftrages benötigen würden.74 Bei ihnen ist ebenso davon auszugehen, dass sie gleichzeitig nach entsprechenden Fachkräften für die Entwicklung der heimischen Industrie Ausschau hielten. Etwa im Sommer bzw. Herbst 1814 wird Dreyse nach Sömmerda zurückgekehrt sein. Dieser Ortswechsel stellte einen radikalen Bruch mit den bisherigen Verhältnissen dar. Während zu dieser Zeit in bestimmten Kommunen des preußischen Fürstentums Erfurt zumindest schon Ansätze für die industrielle Entwicklung nachvollziehbar sind,75 verharrte man in Sömmerda noch auf dem Status der Ackerbürgerstadt, wie die eingeforderte Meldung des Stadtrates vom 14. Oktober 1814 zu den Gewerbeverhältnissen deutlich unterstreicht. Gleichzeitig wurde betont, dass es Fabriken und Manufakturen im Ort nicht gäbe und der Ackerbau der vorzüglichste und fast einzige Erwerbszweig sei. Das Vorhandensein anderer Gewerbe – genannt werden zumindest Gerber, Tuchmacher und Branntweinbrenner – wird dagegen nur angerissen.76 Letzteres glich aber mehr einer Selbstverleugnung, wenn man z. B. die für das Ende des 18. Jahrhun-

73 Vgl. Ilja Mieck, Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806–1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, 20/Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung, 1), Berlin 1965, S. 108 f. 74 LASA, C 6, Nr. 109 (unfoliiert). Siehe die Nachricht des Geheimen Staatsrats und Zivilgouverneurs (seit 1817 preußischer Finanzminister und seit 1825 Oberpräsident der Provinz Sachsen) Wilhelm Anton von Klewitz (1760–1838) in Magdeburg an den Vizelandesdirektor Kuhlmeyer in Erfurt vom 24. Mai 1814. Es handelte sich bei den Beauftragten um den beim Departement im Maschinenfach angestellten Architekten Franck, den Maschinenbauer Trappert sowie die Tuchfabrikanten Busse und Liepe aus Luckenwalde. 75 Siehe die eingeforderten Berichte in ebd. 76 Vgl. ebd.

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derts veröffentlichten Angaben zum Handwerk berücksichtigt.77 Sömmerda unterschied sich damit quantitativ kaum von den umliegenden Städten,78 wobei aber bereits eine relativ kontinuierliche Bevölkerungszunahme zu verzeichnen ist. Wie bereits angedeutet, war das Fürstentum Erfurt nach der Leipziger Völkerschlacht im Oktober 1813 wieder weitestgehend von Preußen in Besitz genommen wurden. Eine Verzögerung ergab sich lediglich in Bezug auf die noch durch die Franzosen besetzte Stadt Erfurt, die, abgesehen von der Festung Petersberg, erst im Dezember besetzt werden konnte. Zu einer Übergabe der Verteidigungsanlage und dem endgültigen Abzug der Franzosen kam es dagegen sogar erst im Mai 1814. Zu dieser Zeit ging man von preußischer Seite noch davon aus, dass das gesamte Fürstentum beim Königreich verbleiben würde. Infolge des Wiener Kongresses kam es jedoch zu einer erheblichen Gebietsabtretung an das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach.79 Der Rest wurde 1816 auf die neu gebildeten Kreise Erfurt, Langensalza und Weißensee im Regierungsbezirk Erfurt aufgeteilt, wobei allerdings das bisherige Fürstentum Erfurt auf Grundlage der geltenden Gesetze weiter eine administrative Bezugsgröße bildete. Dreyses Geburtsstadt Sömmerda wurde damit Bestandteil des Kreises Weißensee. Im Fürstentum Erfurt waren zunächst die durch die französische Besetzung bestehenden Verhältnisse sanktioniert worden.80 1815 nahm die Administration jedoch die Einführung der Gewerbefreiheit entsprechend der altpreußischen Gebiete in Angriff.81 Dabei sollte Anfang des Jahres noch geprüft werden, ob das Gewerbesteueredikt vom 2. November 1810 vollständig umgesetzt oder entsprechend der Verhältnisse modifiziert würde. Bereits am 23.  Februar 1815 erging an die Ämter sowie den Magistrat zu Erfurt und Stadtrat von Sömmerda die Aufforderung zur Einsendung eines genauen Verzeichnisses zur Gewerbesteuer, was auch umgesetzt wurde. Per 1. Juli 1815 galt das Gewerbesteueredikt 77 Vgl. Jakobus Dominikus, Erfurt und das Erfurtische Gebiet. Nach geographischen, physischen, statistischen, politischen und geschichtlichen Verhältnissen, T. 2, Gotha 1793, S. 75–87, hier besonders S. 82 f. 78 Vgl. in Bezug auf die Bevölkerungszahlen Frank Boblenz, Zur Statistik thüringischer Städte und Flecken im 18. und 19. Jahrhundert, in: Hahn/Greiling/Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen (wie Anm. 3), S. 337–348. 79 Vgl. Boblenz, Abriß der Territorialgeschichte des preußischen Thüringen (wie Anm. 1), S. 26–36; Rudolf Benl, Der Erwerb des östlichen Teils des Erfurter Landgebietes durch das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach im Jahre 1815, in: Jahrbuch für Erfurter Geschichte 10 (2015), S. 9–89. 80 Vgl. knapp Moritz, Thüringen im 19. Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 27 f. Umfassendere Untersuchungen zur Frühzeit der Gewerbefreiheit in den einzelnen Teilen des preußischen Thüringen stehen noch aus. 81 Vgl. LASA, C 6, Nr. 458 (unfoliiert).

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schließlich für die wieder in Besitz genommenen altpreußischen Gebiete, wozu auch das Fürstentum Erfurt zählte.82 Leider scheinen die Gewerbesteuerrollen aus der hier relevanten Zeit für Sömmerda nicht überliefert, so dass sie uns für eine weitere Auswertung nicht zur Verfügung stehen. Nachweisbar ist jedoch, dass Kronbiegel in Erfurt die Gewerbesteuer für seine Knopffabrik 1816 und 1817 bezahlt hat. Analoge Ausgaben für das Sömmerdaer Unternehmen, zu denen er nach Paragraph 5 (7) verpflichtet war, finden sich dort jedoch nicht.83 Wenn man daher die aus der Gesetzlichkeit resultierende Anmeldepflicht und damit verbundenen Grundbedingungen (verwiesen sei auf die eingangs angeführte These vom Erwerb des Bürgerrechts) nicht als Dogma betrachtet, so zeigt sich, dass es bei der Etablierung eines Gewerbes durchaus einen Spielraum gab. Als die Gewerbesteuer im Fürstentum Erfurt erhoben werden sollte, war Dreyse – wie bereits angeführt – wieder in Sömmerda. Erstmals nachweisbar ist er dort bisher aber erst am 4. März 1815, da ihn das Kirchenbuch der St. Bonifatiusgemeinde mit diesem Datum unter den Paten des Sohnes des Sömmerdaer Uhrmachers Israel Strohmann ausweist.84 Ferner führte er in diesem und dem folgenden Jahr wiederholt Arbeiten für den Stadtrat aus, was entsprechend in Rechnung gestellt wurde.85 Jenes ist zugleich ein Beleg dafür, dass die Umsetzung der Gewerbefreiheit nicht rigoros an die gesetzlichen Vorgaben gebunden und eine moderate Praxis zumindest in Einzelfällen möglich war. Nicht zuletzt hätte sonst der Sömmerdaer Stadtrat – dem zugleich die Aufsichtspflicht für die Gewerbe oblag – bewusst gegen die gesetzlichen Vorgaben verstoßen, in dem er eine Person beschäftigte, die „eigentlich“ kein Gewerbe hätte ausüben dürfen. Inwieweit Dreyse nach dem Tod des Vaters auch dessen Geschäft weiterführte, muss dagegen offenbleiben. Als relativ sicher kann jedoch gelten, dass er in dieser Zeit kein Meisterrecht erlangt hat, wie verschiedentlich offeriert wurde. Bedingt durch die 1815 erfolgte Einführung der Gewerbefreiheit im Fürstentum Erfurt, bestand für ihn kaum die Notwendigkeit zum Erwerb des Meisterrechts und die damit verbundene, stärkere Integration in die vereinigte Innung der Schlosser, Hufschmiede und Wagner in Sömmerda. Für diese Annahme spricht zudem, dass Dreyse bisher auch nicht als Meister und Mitglied der

82 Vgl. Gouvernements-Blatt für die Königlich Preußischen Provinzen zwischen der Elbe und Weser (5. September 1815), S. 1315–1334. 83 Vgl. SAS, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 9, Bl. 53–54r und 62r. 84 Vgl. Archiv der Regionalgemeinde Sömmerda, Kirchenbuch St. Bonifatius 1803–1815, Bl. 87v. 85 Vgl. SAS, B 5772, Rechnungsbeleg 235 und B 5801, Beleg 177. Es handelt sich dabei gleichzeitig um die ältesten bekannten Autographen Dreyses.

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Innung in Primärquellen nachweisbar ist.86 Die Betitlung als Meister wäre jedoch damals in der Regel auch bei einer Anrede nachvollziehbar. Stattdessen ist Dreyse als Mechanikus aktenkundig, was ihn bereits in jener Zeit vom normalen Schlosser unterschied und aus der Masse der Handwerker abhob. Dies wird ebenso anhand der zeitgenössischen Zuordnung deutlich: Die Mechanik (gr.), der Theil der angewandten Mathematik, der sich hauptsächlich mit der Bewegung der Körper und den Kräften beschäftiget, welche jene Bewegungen bewirken; die Maschinenlehre. Sie begreift noch die Statik, Hydrostatik, Aërostatik, ferner die Hydraulik, Dynamik etc. (siehe diese Art. besond.) unter sich. - Im engern Sinne braucht man auch Mechanik von der wirklichen Bewegung der festen Körper, zum Unterschied von der Hydraulik. Eben daher heißt auch der Mechanicus, derjenige, der diese Wissenschaft versteht; und im weitern Sinne ein Künstler, welcher allerhand mathematische und physikalische Werkzeuge verfertiget.87

Letzteres trifft zugleich auf den Sömmerdaer zu, wie die bereits angeführte Klassifikation als Künstler durch Spangenberg im Jahre 1820 offenbart. Damit verfügte Dreyse – der den „Virus“ der Industrialisierung seit seinem Frankreichaufenthalt in sich trug – über das Rüstzeug, auch in Sömmerda entsprechend zu agieren. Dies bedeutete allerdings nicht, dass damit der Erfolg schon vorprogrammiert war. 86 Im Gegensatz Hübschmann/Eckardt, Johann Nikolaus von Dreyse (wie Am. 39), S. 97. Dort werden zwar keine konkreten Angaben zum Erwerb des Meisterrechts gemacht, dafür aber detailliert und zugleich relativierend „angebliche“ Meisterstücke beschrieben. 87 Kleineres Conversations-Lexikon oder Hülfswörterbuch für diejenigen, welche über die, beim Lesen sowohl, als in mündlichen Unterhandlungen vorkommenden, mannichfachen Gegenstände näher unterrichtet sein wollen, Dritter Theil: M–P, Leipzig 1814, S. 59. Siehe https://books.google.de/books?id=iRAbAAAAYAAJ&pg=PA207&dq=meckanicus&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwi1gKv9sorPAhUJaRQKHUc4DdQ4CxDoAQgzMAQ#v=onepage&q=mechanisch&f=false, Zugriff am 24. März 2019. Der von Dreyse geschätzte Poppe beschreibt den Berufsstand 1806 wie folgt: „Mechaniker, heißt im engern Sinne derjenige, welcher Maschinen anzugeben, auch wohl selbst zu erbauen versteht; im weitläuftigern Sinne aber derjenige, welcher gute Kenntnisse in den mechanischen Wissenschaften besitzt. Dieses muß man freylich auch von jenem sagen können. Denn ohne gute Kenntnisse in allen Theilen der Mechanik läßt sich keine Maschine gründlich bauen. Es ist nicht genug, eine Maschine auf Papier zu zeichnen und darnach einen Bau auszuführen; man muß auch vorher geprüft haben, ob die Maschine für den beabsichtigten Zweck vortheilhaft sey, man muß alle Theile der Maschine auf die beste Art mit einander in Verbindung gesetzt, gute Materialien dazu gewählt und überhaupt alles das beobachtet haben, was vorzüglich in dem Artikel Effekte oder Wirkung der Maschine vorkommt; s. auch Maschine und Mechanik.“ Johann Heinrich Moritz Poppe, Encyclopädie des gesammten Maschinenwesens, oder vollständiger Unterricht in der praktischen Mechanik und Maschinenlehre, mit Erklärungen der dazu gehörigen Kunstwörter, in alphabetischer Ordnung. Ein Handbuch für Mechaniker, Kameralisten, Baumeister und Jeden, dem Kenntnisse des Maschinenwesens nöthig und nützlich sind, Dritter Theil, K–Q, Leipzig 1806, S. 276 f.

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Neue Produktionsmethoden Zugleich ergab sich so eine Schnittstelle zu den Ambitionen von Kronbiegel, der nicht auf seine Tätigkeit als Knopffabrikant fixiert war. Vielmehr wirkte er darauf hin, auch in der Kleineisenproduktion tätig zu werden und eine Metallwarenfabrik zu etablieren. Unter dem 18. Januar 1817 lässt sich anhand des Kopialbuches der Erfurter Knopffabrik die Existenz des Unternehmens erstmals belegen, da der Firma Beyer & Ferber in Hamburg offeriert wurde: „Wir haben seit einiger Zeit eine Nägelfabrick etablirt, wo die Nägel durch Maschinen gefertigt werden.“88 Da diese Mitteilung am Jahresanfang erfolgte, muss der Beginn des Unternehmens für 1816 angesetzt werden, was mit einem Zeitungsbeitrag vom 10. Oktober 1818 korrespondiert, wonach Dreyse „vor etwa zwey Jahren, in Verbindung mit Friedr. Kronbiegel in Erfurt, der früherhin eine Knopffabrik daselbst [… begründet] hat, die genannte Eisenwaarenfabrik [in Sömmerda] an[legte].“89 In Analogie zur Etablierung des kronbiegelschen Unternehmens in Erfurt war dies wieder ein Gewerbe, welches in Mittelthüringen keinen vergleichbaren Vorgänger hatte. Nicht zuletzt lag dies an den dafür verfügbaren Rohstoffen. Aber auch die Absicherung des Brennstoffbedarfs bei Verfahren auf heißem Wege bildete eine schwer zu kompensierende Herausforderung. Der lokale Markt in Mittelthüringen wurde daher vorrangig durch die örtliche zünftige Produktion sowie Lieferungen aus dem Thüringer Wald befriedigt. Es sprach allerdings nicht nur die Produktpalette für die Novität. Noch bedeutender war vielmehr die avisierte Produktionsmethode, da man die Erzeugnisse auf kaltem Wege mit Maschinen herstellte, wodurch gleichzeitig mit der Mechanisierung begonnen wurde. In Thüringen gab es dazu keine vergleichbaren Vorhaben. Woher der Gedanke der Nägelproduktion auf kaltem Wege kam, lässt sich momentan nicht nachweisen. Vielleicht waren es Erfahrungen von Dreyse auf seiner Wanderschaft oder Anregungen für ihn und Kronbiegel aus der Literatur?90 Während für England, wo der Sömmerdaer aber nicht weilte, in größerem Umfang entsprechende Aktivitäten Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts insbesondere mit glühendem Rohmaterial nachvollziehbar sind, wird für Frankreich und Paris in der 1872 in München erschienen „Geschichte der Technologie“ auf die Aktivitäten von Learenwerth im 88 LATh – HStA Weimar, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 10, Bl. 59v. 89 Allgemeiner Anzeiger der Deutschen (10. October 1818), Nr. 276, Sp. 2985–2986. 90 Poppe Beschreibt die Fertigung von Nägeln mit Maschinen relativ ausführlich und mit neustem Kenntnisstand 1816. Vgl. Johann Heinrich Moritz Poppe, Encyclopädie des gesammten Maschinenwesens, oder vollständiger Unterricht in der praktischen Mechanik und Maschinenlehre, mit Erklärungen der dazu gehörigen Kunstwörter, in alphabetischer Ordnung. Ein Handbuch für Mechaniker, Kameralisten, Baumeister und Jeden, dem Kenntnisse des Maschinenwesens nöthig und nützlich sind, Sechster Theil, oder Supplementband zu den fünf ersten Theilen, A–Z, Leipzig 1816, S. 389 f.

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Jahre 1810 und von J. White im Jahre 1811 verwiesen.91 Dabei wird zugleich angemerkt, dass diese Versuche erfolglos waren. In Österreich war es in Gratz Franz Xafer Schafzahl,92 der dafür bereits 1811 ein entsprechendes kaiserliches Patent erhielt und über den zeitgenössisch in verschiedenen Zeitungen berichtet wurde. Möglicherweise dienten dessen Aktivitäten ebenso als Impulsgeber. Zunächst war es deshalb notwendig, eine entsprechende Maschinerie verfügbar zu haben. Für deren Bau muss Dreyse in den Augen Kronbiegels der richtige Partner und findiger Geist gewesen sein. Bestätigt wird dies bereits in der Mitteilung vom Oktober 1818, wo angemerkt wird, dass „mehrere der angewandten Maschinen, die entweder als Walzen oder Pressen wirken, [… Dreyses] eigene Erfindungen“ seien.93 Und Spangenberg notierte 1820, dass ihm Dreyse „mit einer sehr gefälligen Offenheit einen ganzen Schrank voll dergleichen zum Theil sogar noch unvollendeten Maschienen, und Maschienentheile [zeigte], die sämtlich bezeugten, daß [… er] ein denkender Kopf ist, der unermüdet auf Verbeßerung seiner Machwerke sinnet.“94 Seit Sommer 1816 lässt sich die intensive Zusammenarbeit zwischen Dreyse und Kronbiegel aus den fragmentarisch überlieferten Geschäftsunterlagen konkreter nachweisen. In Verbindung mit der nach dem Tod von Kronbiegel notwendigen Kontenklärung von 1820 wurde deshalb im Firmen-Memorialbuch fixiert, dass Dreyse vom Juli 1816 bis 1817 „für [die] Benutzung seiner Werkzeuge beym Maschinenbau und für seine Bemühung“ 300 Reichstaler berechnete. Ferner kamen u. a. für 1817–1818 noch 450 Reichstaler „Hausmiethe des 91 Vgl. Karl Karmasch, Geschichte der Technologie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, 11), München 1872, S. 393– 396. Siehe https://books.google.de/books?id=ak0JAAAAQAAJ&dq=m%C3%BCnchen+intitle:geschichte+der+technologie&as_brr=3&redir_esc=y, Zugriff am 24. März 2019. Zu Sömmerda finden sich dort keine Angaben. 92 Siehe z. B.: Allgemeine Handlungs-Zeitung (31. Januar 1816), 21. Stück, S. 88; Die Maschinennägel-Fabrik des Herrn Schafzahl in Grätz, in: ebd. (2. August 1816), 148. Stück, S. 611 f. Siehe https://books.google.de/books?redir_esc=y&hl=de&as_brr=3&id=b-Y_AAAAcAAJ&dq=n%C3%A4gel+schafzahl&q=schafzahl#v=snippet&q=schafzahl&f=false, Zugriff am 24. März 2019. Ferner mit kurzem Verweis auf die vorausgegangene Aktivität des Großuhrmachers Fidelis Schmidt in Graz: Darstellung des Fabrik- und Gewerbewesens in seinem gegenwärtigen Zustande, vorzüglich in technischer, mercantilistischer und statistischer Beziehung. Nach den neuesten und zuverlässigsten Quellen und nach vieljährigen eigenen Beobachtungen, mit steter Berücksichtigung der neuesten Erfindungen und Entdeckungen, und des Zustandes des Fabriks- und Gewerbswesens im österr. Kaiserstaate bearbeitet, hg. v. Stephan Edlem von Keess, Zweiter Theil, Bd. 2, Wien ²1824, S. 691 f. Siehe https://books.google.de/books?id=kSouehpczfYC&pg=PA298&dq=Fabrik+1815&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwi12tu2uvfgAhUEna0KHVxnA7Y4ZBDoAQh9MBA#v=snippet&q=n%C3%A4gel&f=false, Zugriff am 24. März 2019. 93 Allgemeiner Anzeiger der Deutschen (10. October 1818), Nr. 276, Sp. 2985 f. 94 LASA, F 38, Xc Nr. 3 Bd. 1, Bl. 15v–16r.

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Geschäfts“ hinzu. Bei der Finanzklärung wurde ebenso offensichtlich, dass Kronbiegel vom Juli 1816 bis Januar 1820 für das Sömmerdaer Unternehmen einen Posten von 1.076 Reichstalern aufgewandt hatte.95 Diese Ausgaben korrespondieren mit anderen Hinweisen. So mehren sich seit Juni 1816 die Kosten in Bezug auf Sömmerda. Kronbiegel scheint dabei auch persönlich in der Stadt geweilt zu haben, was sich im August in entsprechenden Ausgaben niederschlug.96 Möglicherweise wurde bereits in dieser Zeit der Gedanke zu einem gemeinsamen Unternehmen begründet, welches ursprünglich in Erfurt etabliert werden sollte. Letzteres geht aus einem Vertragsentwurf hervor, der teilweise in Abschrift überliefert ist. Obwohl nicht datiert und bisher ohne Beleg darauf, ob er vollzogen wurde bzw. umfassend zum Tragen kam, dürfte die Vereinbarung 1816 zuzuordnen sein. Dafür spricht u. a. Paragraph 14: „Sollte das Geschäft wider Erwarten von einer hohen Obrigkeit und in der ersten Zeit mit allzu hohen Abgaben belegt werden und dem Geschäft durch fernere Schwierigkeiten Nachteil gelegt werden, so versteht sich, dass man einen schicklicheren Ort als Erfurt, besonders in Hinsicht der Teuerung wähle.“97 Dass dies für Kronbiegel bereits Anfang 1816 eine Rolle spielte, offenbart sich anhand von Beschwerden 95 SAS, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 2, Bl. 14v. 96 Vgl. ebd., Nr. 6, Bl. 24 ff. 97 Das Original scheint nicht mehr erhalten. Ein Auszug ist von Carl Otto Kronbiegel-Collenbusch von 1927 überliefert, der noch folgende Passagen enthält: „Nach diesem Kontraktentwurf soll die Finanzierung des Unternehmens durch Kronbiegel erfolgen. K[ronbiegel] verlangt Verzinsung seines Kapitals mit 5 %. Dreyse beanstandete die Höhe dieser Zinsforderung und bemerkt, daß 4 % üblich wären. Er willigt aber unter folgenden Bedingungen in die 5 %ige Verzinsung ein: 1. Muss K[ronbiegel] seinem Compagnon für die erster 6 Monate, und zwar pro Monat einen kleinen Barbetrag / 10 Talern / auszahlen, der nicht der Compagnie, sondern dem Privatkonto Kronbiegels zur Last geschrieben wird, 2. Bis sich das Betriebskapital auf 10.000 Taler erhöht hat, darf keiner der beiden ‚Contrahenten‘ mehr als 400 Taler pro Jahr aus dem Geschäft nehmen. Sind 10.000 Taler beisammen, so erhält jeder der beiden Contrahenten jährlich 600 Taler bis zur gestiegenen Summe von 15.000 Talern. Von da an wird der Jahresverdienst voll geteilt – es sei denn, dass mehr als 2.000 Taler pro Jahr verdient werden. Für diesen Fall sollen zwischen den beiden Compagnons neue Bestimmungen vereinbart werden. 3. Für den Fall, dass das Geschäft durch widrige Fälle entweder keinen hinlänglichen Absatz oder in Unthätigkeit geraten sollte, so soll der ‚D[reyse]‘ nicht verpflichtet sein, den hierdurch zu erwartenden Schaden mit zu tragen, ausgenommen, es wäre erwiesen, dass derselbe durch Nachlässigkeit etwas zum Schaden beigetragen. Ist schon Gewinn vorhanden, so soll dieser natürlich mit heran gezogen werden.“ Eine andere Ausfertigung siehe in: Sömmerdaer Heimat- und Geschichtsverein, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 362, Bl. 2–3r. Danach auch die Angaben bei Schüle, BWS Sömmerda (wie Anm. 9), S. 23 f.

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der Erfurter Kaufmannschaft zum Einfluss der Steuerverfassung auf den Handel in der Stadt.98 Bei einer Verhandlung am 24. Januar 1816 wurde auf die schwierige Situation verwiesen, die sich durch die faktische Insellage Erfurts, die große Grenze mit dem Ausland und die Exklaven des Fürstentums sowie die kurze gemeinsame Grenze mit dem nun preußischen Thüringer Kreis ergab.99 Hinzu kamen die Auswirkungen durch die Gebiets- und Bevölkerungsverluste. Kronbiegel wurde zudem selbst noch vorstellig. Er brachte dabei zum Ausdruck, dass er sich zukünftig einen bedeutenderen Absatz seiner Knöpfe in den preußischen Provinzen erhoffte und erbat zugleich eine geringere Besteuerung seiner Waren.100 Auch dies belegt, dass die Finanzfrage für die (zukünftigen) Geschäftspartner Kronbiegel und Dreyse einen hohen Stellenwert hatte. Sie waren daher darauf bedacht, dass es zu keiner Verschwendung von Geldern und Fehlinvestitionen kommen sollte, zumal im Folgenden auch keine staatliche Förderung erfolgte. Die Sparsamkeit dürfte ebenso bei der Errichtung eines Fabrikgebäudes in Sömmerda von Relevanz gewesen sein. Die erheblichen Ausgaben wären kaum getätigt worden, wenn es nicht zu dieser Zeit schon Erwägungen dahingehend gegeben hätte, dass das Unternehmen in Sömmerda produzieren sollte. Im August 1816 lässt sich auch ein erster Ausgabeposten in Bezug auf Crawinkel im Herzogtum Sachsen-Gotha nachweisen.101 Dies ist deshalb von Relevanz, da vom 7. August des Jahres der Vertrag zwischen Kronbiegel und Caspar Großgebauer (geb. 1766) aus Crawinkel über die Errichtung eines Wohnhauses für die Summe von 320 Reichstalern vorliegt.102 Die Grundmaße sollten 63 Fuß in der Länge sowie 27 Fuß in der Tiefe betragen. Ferner sollte das Haus mit einem „Frontispiz“ versehen sein, was auf eine repräsentativere Ausstattung der Vorderseite hindeutet. Während im Vertragstext kein Ort aufgeführt ist, enthält der Dorsualvermerk auf der Rückseite des Dokuments: „Contrackt mit dem Zimmermann Grossgebau[er] in Krawinckel über das in Sommerda zu errichtete Fabrick Gebeude“.103 Dass dabei nicht einfach auf eine Werkstatt referenziert wurde, verdeutlicht ebenfalls eine neue Qualität des Unternehmens. Bereits bei Vertragsabschluss wurden 106 Reichstaler und 6 Groschen gezahlt. Einen 98 Vgl. LASA, C 6, Nr. 467 (unfoliiert). 99 Zum Thüringer Kreis siehe: Frank Boblenz, Thüringer Kreis und Thüringer Städteverband. Ein Exkurs zum preußischen Thüringen bis 1919/20, T. 1, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 49 (1995), S. 65–86. 100 Vgl. LASA, C 6 Nr. 467 (unfoliiert). 101 Vgl. SAS, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 6, Bl. 30v. Und für den Februar 1817: Bl. 41r. 102 Vgl. zur Person von Großgebauer für die Zeit bis 1808, Christian Kirchner, Register zu den Kirchenbüchern der evg.-luth. Kirchgemeinde Crawinkel 1683–1808 (Quellen zur Thüringer Genealogie), Bad Langensalza 2016, S. 71 und 158. 103 SAS, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 9, Bl. 46.

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Abschlag von 88 Reichstalern und 13 Groschen quittierte Großgebauer am 11. September. Und am 15. des Monats wurde der Rest von 125 Reichstalern 5 Groschen in Empfang genommen. Es ist daher davon auszugehen, dass das Gebäude im September 1816 fertig war und mit dem weiteren Ausbau begonnen werden konnte.104 Mit gewisser Sicherheit handelte es sich bei diesem Objekt um jenes eigens dazu erbaute Haus, welches in einer Mitteilung105 von 1818 und im Vertrag106 zwischen Dreyse und Kronbiegels Witwe von 1820 Erwähnung findet. Laut Spangenberg wird es als von „Kronbiegel [… auf einem alten] Haus-Hofstätte-Areal von Grund aus neuerbaute[s] Fabrikgebäude […] am Ende der Stadt“ wie folgt beschrieben: Es besteht A., aus einem Wohnhauße, in deßen Erdgeschoße: a., rechts die Drehstube und b., links das Comptoir und die Wohnstube pp sich befinden. In letzterer wohnt und arbeitet Dreysse nebst seinem Buchhalter, Rupprecht; ferner B., aus einem geräumigen Gehöfte, welches c., links durch die Nägel-Fabrik mit einer Oeße und Tretbalge und d., durch die Materialien- und Waarenniederlage; e., rechts durch den sogenannten Fabriksaal und f., hinten durch eine Roßkunst, oder Pferdegöpel eingeschloßen wird.107

Auf Grund der Zuweisung Spangenbergs – die Lage am Ende der Stadt – ist davon auszugehen, dass sich diese Keimzelle der industriellen Entwicklung bereits von Anfang an in Dreyses Haus in der Weißenseer Torgasse (jetzt Weißenseer Straße 15: Wohn- und Sterbehaus des Erfinders sowie Bibliotheks- und Museumsgebäude) befand. Dafür spricht zudem, dass die Grundmaße des heutigen Gebäudes – nimmt man den Erfurter Fuß als Berechnungsgrundlage – weitestgehend mit jenen übereinstimmen, die im Bauvertrag angegeben wur-

104 Vgl. ebd., Bl. 46r. Anscheinend gab es aber später noch Unstimmigkeiten, da Kronbiegel am 3. September 1817 an den Zimmermann Johann Nicol. May in Crawinkel schrieb und bemerkte: „In Beantwortung Ihres Briefes habe ich schon anfang vorigen Monats an den Zimmermann Grosgebauer die Meinung des Herrn N. Dreysse, welchen die Angelegenheit nur allein angeht, wegen des Vergleichs geschrieben. Nehmt mit Grossgebauer Rücksprache, und im Fall Ihr diesen Vorschlag genehmiget, so gebt mir Nachricht.“ Weite Bezüge dazu sind bisher nicht bekannt, so dass davon ausgegangen werden dürfte, dass die Sache geklärt war. LATh – HStA Weimar, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 10, Bl. 75v. 105 Vgl. Allgemeiner Anzeiger der Deutschen (10. October 1818), Nr. 276, Sp. 2984. 106 Vgl. LATh – HstA Weimar, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 1, Bl. 4v. 107 LASA, F 38, Xc Nr. 3 Bd. 1, Bl. 4v–5r.

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den.108 Ursprünglich gehörte das Hausgrundstück dem Großvater und Paten des Erfinders, Chirurg Nicolaus Ludwig Fleischmann. Allerdings ist der Übergang des Objektes an Dreyse momentan erst für 1818 nachvollziehbar, was aber nicht im Widerspruch zu einer Neubebauung stehen muss.109 Hinzu kommt, dass bisher kein anderes Grundstück zu dieser Zeit im Besitz Dreyses nachweisbar ist und sein Bruder Rudolph Dreyse später Eigentümer des väterlichen Hauses in der Langen Gasse war. Kronbiegels Nachfolger Carl Collenbusch erwarb dagegen erst ab 1820 in der Weißenseer Torgasse auf der nördlichen Straßenseite Grundstücke, die auch für die Firma Dreyse & Collenbusch genutzt wurden.110 Am 6. Oktober 1816 wurden schließlich sechs eiserne Maschinen von Erfurt nach Sömmerda zu Dreyse gesandt.111 Ferner wird man nicht fehl gehen, dass sich eine Mitteilung zu einer in Gotha gefertigten Spindel mit Qualitätsmängeln ebenso auf Dreyse bezog, wenn Kronbiegel am 9. September 1816 an einen Listing in Gotha u. a. schrieb: „Wir haben dieselbe einem sehr geschickten Mann gegeben, der sie […] wo möglich in Ordnung bringen wird. Er wundert sich sehr, daß ein meister so eine Spindel verfertigen kann, daß ein Gang 3 Zoll, der andere nur 2 ¾ Zoll Steigung hatte; u. wo die Stöcke der Gänge so sehr deferirt, daß keine Mutter dazu zu fertigen ist.“112 Nach den notwendigen Vorarbeiten für die Metallwarenfabrik dürften die Aktivitäten, wie bereits angedeutet, gegen Jahresende einen gewissen Abschluss gefunden haben, da Kronbiegel an Beyer & Ferber in Hamburg die bereits angeführte Offerte vom 18. Januar 1817 sandte. Die Intention war dabei, mit den Hamburgern Geschäftsverbindungen anzuknüpfen, weshalb gleichzeitig gebeten wurde 108 Für die entgegenkommende Möglichkeit zur Überprüfung der Gebäudemaße dankt der Autor Frau Katharina Pölz vom Bau- und Umweltamt der Stadt Sömmerda. 109 Eine entsprechende Bauuntersuchung (einschließlich Dendrochronologie) war bei der bis 2005 vorgenommenen Sanierung des Gebäudes zur Bibliothek und zum Museum nicht durchgeführt worden. Auf der Homepage der Stadt wird nur kurz dazu ausgeführt: „Bisher ist durch verlässliche Quellen nicht nachzuweisen, in welchem Jahr das jetzige Dreyse-Haus in der Weißenseer Straße 15 erbaut wurde. Mit Sicherheit war Nicolaus von Dreyse 1831 Eigentümer dieses repräsentativen zweistöckigen Hauses mit zwei Nebengebäuden.“ Ein spezieller Kontext zur Sömmerader Industriegeschichte wird für das Haus – abgesehen davon, dass es der musealen Ausstellung dient – nicht hergestellt. Siehe http://www.soemmerda.de/tourismus/sehenswuerdigkeiten/dreyse-haus.html, Zugriff am 24. März 2019. 110 Ein Sömmerdaer Häuserbuch für 1818 – ebenso wie ein umfassendes Werk für den Bereich der Altstadt bis in die Gegenwart – befindet sich durch den Autor in Vorbereitung, weshalb an dieser Stelle auf weitere Ausführungen zum Gebäudebestand von Dreyse sowie seinen Angehörigen und Partnern aus Platzgründen verzichtet werden soll. 111 Vgl. SAS, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 9, Bl. 52. 112 LATh – HStA Weimar, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 10, Bl. 47r.

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Frank Boblenz da uns aber die dort gangbaren Sorten nicht bekant sind, so ersuchen wir Sie hoflichst, uns gefelligst Muster der gangbarsten Sorten besonders von Schiffs-Nagel und Pariser Stiften, mit Bemerkung der Preiße so bald als möglich einzusenden; Wir dürfen mit Recht hoffen, daß dort in diesen Artickel besonders bey so schener Waare wie wir liefern können, bedeutender Absatz gemacht werden kann, und in diesen Fall würden wir so frey sein, Ihnen eine Parthie zuzusenden, um solche für unsere Rechnung zu verkaufen.113

Die Antwort erfolgte am 3. Februar unter Beifügen eines Preisverzeichnisses sowie von Mustern verschiedener Schiffsnägel. Ferner wurde darauf verwiesen, dass der Hamburger Markt reichlich durch Schweden versorgt sei und auch Pariser Stifte im Angebot wären. Zu einer Übersendung der angebotenen Produkte wollte man nicht ermuntern. Angeraten wurde daher lediglich, einen Versuch mit einer „Kleinigkeit“ zu machen.114 Da sich nachfolgend keine weiteren relevanten Verbindungen nachweisen lassen, ist davon auszugehen, dass die Einbeziehung des norddeutschen Marktes nicht weiter verfolgt wurde. Allerdings zeigt sich, dass Kronbiegel – sicherlich unter Einbeziehung von Dreyse – noch an anderer Stelle Marktanalyse betrieb. Rückschlüsse darauf lassen insbesondere Kontakte zu dem schon angeführten Berliner Fabrikenkommissar Johann Gottfried May zu.115 Dieser war gebürtiger Erfurter, der auch nach seiner Übersiedlung in die brandenburgisch-preußische Metropole in Verbindung mit der Heimat stand. Kronbiegel, den er bereits aus seiner Jugendzeit gekannt haben dürfte, titulierte er mit Freund und Vetter,116 so dass eventuell sogar verwandtschaftliche Bindungen naheliegend sind. Einbezogen waren zudem Familienangehörige, wie aus einem Schreiben vom 4. Februar 1817 in Beantwortung eines Briefes vom 8. Januar hervorgeht: „Meine beste Empfehlung an deine Frau und deinen Vater. Vielleicht daß ich im nächsten Sommer eine Geschäftsreise nach Thüringen erhalte. Lebe wohl! Dein aufrichtiger Freund May.“117 Das avisierte Vorhaben kam auch zustande, da in einem Schreiben vom 23. September 1817 auf die glückliche Rückreise Bezug genommen wurde.118 In Berlin gehörte May seit 1803 der technischen Deputation an und war mit dem Gewerbe sowie dessen Förderung vertraut. Im Sommer 1814 weilte er – wie 113 Ebd., Bl. 60r. 114 Vgl. SAS, Familiennachlass-Kronbiegel-Collenbusch Nr. 9, Bl. 68r. 115 Vgl. zu seiner Person Uta Motschmann, Schule des Geistes, des Geschmacks und der Geselligkeit. Die Gesellschaft der Freunde der Humanität 1797–1861 (Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800, 14), Hannover 2009. Für ihre Auskunft vom 8. Oktober 2018 mit der Bestätigung der vom Autor vermuteten Erfurter Herkunft sowie Hinweisen auf weitere Angaben zu seiner Person in ihrer Arbeit dankt der Autor herzlich Frau Uta Motschmann in Berlin. 116 SAS, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 9, Bl. 124r. 117 Ebd., Bl. 71v. 118 Vgl. ebd, Bl. 124r.

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bereits angedeutet – in Paris, von wo er sich dann auf Befehl des Staatsministers Carl August von Hardenberg (1750–1822) nach England begab und einen Bericht über die Industrieverhältnisse verfasste.119 Im Kontext dazu trat er zudem publizistisch in Erscheinung. Diesen Erfahrungsschatz zumindest partiell kennend, muss sich Kronbiegel am 8. Januar 1817 an May gewandt und Fragen der Gewerbeförderung sowie zur Nägelproduktion angesprochen haben. In der Antwort verwies May deshalb darauf, das baare Vorschüße zu Fabriken-Unterstützungen nur in äußerst seltenen Fällen bewilliget [würden], und zwar nur dann, wenn es darauf ankommt: a, neue nützliche Maschinen, welche im Lande noch nicht existieren, oder b, neue im Lande noch nicht bekannt Fabrikations-Methoden einzuführen, und zum Besten in Anwendung zu bringen.

Wenn er solche hätte, dann müsste er sich zuerst an die Regierung in Erfurt wenden, von deren Bericht alles abhängen würde. Im Folgenden wurde die Vorgehensweise noch etwas näher erläutert. Beigefügt waren dem Schreiben Nägel mit der Erklärung: Endlich erfolgen hierbei noch einige Nägel von Gußeisen |d. h. gegoßene Nägel| wovon der kleine verzinnt ist. Es versteht sich, daß dergl[eichen] Nägel in England in allen Sorten zu haben und über die Hälfte wohlfeiler sind, als die geschmiedeten. Wie ich höre, werden sie, nach dem Gießen, durch Glühen im Kohlenstaub, weich und biegsam gemacht, In unserm Staate hat man, so viel ich weiß, dergl[eichen] noch nicht. Es gehört aber dazu auch ein besonders gutes Eisenerz, welches sich nicht überall findet.120

In einem Schreiben vom 23. September 1817 wird schließlich die Thematik der Dampfmaschinen angesprochen. May informierte darin detailliert über die Kosten und die Bezugsmöglichkeiten. Gleichfalls wurde die Frage des Verbrauchs an Steinkohle bzw. Holz berührt. Dass der Gegenstand dabei umfassender interessierte, wird aus einem Schreiben von J. V. Bugler(?) aus Berlin vom 2. September 1817 deutlich, der ebenso die Möglichkeit der Beschaffung einer Dampfmaschine thematisierte. In Verbindung damit ist davon auszugehen, dass es zu den Dampfmaschinen bereits während des vorhergegangenen Treffens von May und Kronbiegel Gespräche gab. Naheliegend ist, dass Dreyse dabei anwesend war und dieser darüber hinaus Kenntnis von den entsprechenden Schriftwechseln hatte. Sofern der Sömmerdaer nicht bereits in Paris speziellere Kenntnisse zu Dampfmaschinen erlangte und nachfolgend schon mit der Konstruktion einer entsprechenden Maschine – am 22. April 1828 erhielt er darauf

119 Vgl. Ruth Hoppe, Ein Deutscher Reisebericht über das englische Fabrikwesen aus dem Jahre 1814, in: Jürgen Kuczynski (Hg.), Darstellungen der Lage der Arbeiter in England von 1760 bis 1832 (Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Teil II: Die Geschichte der Lage der Arbeiter in England, in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Frankreich, 23), Berlin 1964, S. 173–206. 120 SAS, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 9, Bl. 70r.

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ein Patent121 – beschäftigt war, bekam er spätestens jetzt Anregungen durch die Thematisierung. Rund ein halbes Jahr später – im März 1818 – hatte Dreyse dann nach eigener Aussage und im Kontext zu seiner Dampfmaschine die Fabrikation von Erzeugungs- und Zersetzungsröhren erfunden, was eine gewisse Vorlaufzeit voraussetzt.122 Wie die bereits angeführten Fakten offenbaren, hatte die Etablierung der Metallwarenfabrik in Sömmerda in den letzten Monaten des Jahres 1816 einen konkreten Stand erreicht. Damit war für Dreyse eine längere Perspektive in der Unstrutstadt gegeben. Eine Konsequenz daraus war der Erwerb des Bürgerrechts. Spätestens im Januar oder Februar 1817 dürfte Dreyse dazu beim Sömmerdaer Stadtrat vorstellig geworden sein, so dass dieser am 5. März 1817 dem Ansinnen entsprach.123 Mit der Erteilung des Bürgerrechts waren zugleich die entsprechenden Vorgaben hinsichtlich des Gesetzes zur Gewerbefreiheit erfüllt. Für Friedrich Kronbiegel hatte dies dagegen keine Relevanz, da er weiter sein Erfurter Bürgerrecht behielt. Wenige Monate später offenbart schließlich ein amtlicher Bericht den Sachstand in Sömmerda. Vorausgegangen war eine Präsidialverfügung vom 16. Mai 1817. In dem darauf am 26. Juni eingesandten Bericht über den Fabrik- und Handelszustand im Fürstentum Erfurt wird konstatiert, dass das Unternehmen acht Beschäftigte124 hätte und „aus mehreren Druck-, Preß-, und Schneide-Maschinen [bestehen würde], auf welchen ohne Feuer und Hammer, Nägel und Fensterbeschläge verfertigt werden. Beide sind von vorzüglicher Qualität, und wenn das Etablissement seinen Fortgang hat, so verspricht solches vielen Nutzen.“ Zugleich wurde mitgeteilt, dass Dreyse noch mit der „Einführung dieses Etablissement beschäftigt“ sei bzw. „das Unternehmen allererst im Beginnen [stünde und sich dadurch …] noch nicht bestimmen [ließe], woher das Eisen und Blech“ geliefert würde.125 121 Vgl. insbesondere GStA PK, Rep. 120 D XIII 1 Nr. 21 Bd. 1, S. 60 ff. und Rep. 120 TD Schriften D 114; siehe u. a. auch die Bekanntmachung von Dreyse vom Juni 1828 in: Oeffentlicher Anzeiger zum 29. Stück des Amtsblatts der königlichen Regierung zu Erfurt (2. August 1828), S. 230 f. 122 Vgl. GStA PK, Rep. 120 TD Schriften D 114, Bl. 6v. 123 Vgl. SAS, B 5785, Bl. 53r und B 5801, Beleg 3 – Dreyse zahlte dafür den üblichen Betrag von 2 Reichstalern 18 Groschen. Zum Bürgerrecht von Dreyse siehe erstmals Boblenz, „Bete und arbeite für König und Vaterland“ (wie Anm. 3), S. 212. 124 1820 besaß die Firma bereits 16 Arbeiter, wobei Kinder von elf bis 14 Jahren mit einbezogen waren. Vgl. LASA, F 38, Xc Nr. 38, Bd. 1, Bl. 5r. Angemerkt sei noch, dass die Firma nach Aussagen des späteren Firmeninhabers von 1857 mindestens ab 1819 für ihre Beschäftigten bereits eine eigene Krankenkasse unterhielt. Vgl. SAS, B 1186, Bl. 42v und die entsprechenden Ausgabevermerke in: SAS, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 2. 125 LATh – StA Gotha, Regierung Erfurt Nr. 1877, Bl. 139v–140r.

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Die Geschäftsverbindung zu Kronbiegel und die Existenz einer gemeinsamen Firma werden dagegen in dem Bericht nicht angeführt. Sie sind beim gegenwärtigen Kenntnisstand erstmals direkt aus einem Schreiben des Erfurters vom 20. Juli 1817 an Oberfaktor Hartmann im braunschweigischen Zorge ersichtlich,126 nach dem bereits am 5. Juni auf die Lieferung von Modellen zum Guss aus Sömmerda Bezug genommen wurde.127 Konkret heißt es im Julischreiben: „[…] habe ich das Vergnügen, Ihnen meinen Asso[c]ie [= Teilhaber] Herrn Nicolas Dreysse aus Sommerda vorzustellen. […] Alles was H[er]r Dreysse je[t]zt mit Ihnen unterhandelt und künftig unter der Firma „Dreysse & Kronbiegel[“] mit Ihnen unterhandeln wird, genehmige ich ganz“.128 Bestätigung findet dies zudem in einem fragmentarischen Rechnungsbuch der Firma, welches durch die Entnahme von Blättern aber erst mit dem August 1817 sowie der Altfoliierung 171 beginnt und ab September 1817 Einträge zu „Dreyse & Kronbiegel in Sommerda“ enthält.129 Trotz der bereits positiven Einschätzung vom Juni 1817 waren die Firmeninhaber bestrebt, die Qualität der Produktion weiter zu erhöhen. Am 6. Oktober 1818 ließen Dreyse & Kronbiegel deshalb u. a. öffentlich verlauten: Unser Geschäft hat nach dem früher gemachten Plan seinen guten Fortgang; wir fertigen bis jetzt vier Sorten Striegeln, und alle Sorten Fensterbeschläge, sowohl schwarz als verzinnt, und unsere Abnehmer sind mit den gelieferten Waaren, welche sich durch Schönheit der Formen, Wohlfeilheit des Preises und große Daner [= Dauer!] vortheilhaft auszeichnen, sehr zufrieden. Die Einrichtung für Holzschrauben und Nägel hoffen wir mit Anfang künftigen Jahres beendigt zu haben, doch sind schon jetzt Muster davon zu sehen. Sämmtliche Artikel werden durch Maschinen, und ohne Feuer, 126 Zu den Hüttenwerken in Zorge, die u. a. in die Provinz Sachsen und die sächsischen Herzogtümer lieferten, siehe Héron de Villefosse, Über den Mineral-Reichthum. Betrachtungen über die Berg-, Hütten- und Salzwerke verschiedener Staaten; sowohl hinsichtlich ihrer Production und Verwaltung, als auch des jetzigen Zustandes der Bergbau- und Hüttenkunde, deutsch bearbeitet von Carl Hartmann, Erster Band: Oekonomischer Theil, Sondershausen 1822, S. 78–82. Vgl. https://books.google.de/books?redir_esc=y&hl=de&as_brr=3&id=DY9EAAAAIAAJ&dq=hartmann+zorge&q=hartmann#v=snippet&q=zorge&f=false, Zugriff am 23. März 2019. 127 Vgl. LATh – HStA Weimar, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 10, Bl. 67r. Auf die bereits bestehenden Geschäftsbeziehungen nach Zorge sowie Fragen der Materialbeschaffung kann hier aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden. 128 Ebd., Bl. 71v. Damit ist zugleich die Mitteilung von Carl Otto Kronbiegel vom 1. April 1927 an die Rheinmetall in Sömmerda zu relativieren: „Den genauen Termin der Gründung der Firma Dreyse & Kronbiegel kennen wir nicht. Wir nehmen an: Oktober 1817. Jedenfalls lauten Rechnungen über gelieferte Bleche, Schraubstöcke u.s.w. aus dem Oktober 1817 schon auf ‚Dreyse & Kronbiegel/Erfurt‘“. Privatakte (wie Anm. 2). Die Bemerkung fand ohne weitere Prüfung und relevante Quellenkritik Eingang in verschiedene Darstellungen, zuletzt bei Schüle, BWS Sömmerda (wie Anm. 9), S. 21 sowie der oben aufgeführten Ausstellung als Gegenbeleg zum Datum 1816. 129 Vgl. SAS, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 5, Bl. 3v ff.

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Frank Boblenz welches nur zum Ausglühen und einigen Nebenarbeiten benutzt wird, gefertigt, und haben dieser Behandlung allerdings ihre größere Dauer zu verdanken.

Weiter wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Einrichtung des Geschäfts Zeit und Kenntnisse in der Maschinenlehre benötige.130 Diese Vorsicht wurde auch später noch beibehalten, wie z. B. ein Schreiben an Hans von Bülow (1774– 1825), preußischer Minister für Handel und Gewerbe, vom 20. August 1823 bezeugt. So entschuldigten sich die Firmeninhaber wegen Nichtbeteiligung an der preußischen Gewerbeausstellung in Berlin vom September bis Oktober 1822 auf Grund „der Unvollkommenheit verschiedener Gegenstände, welche zu jener Zeit noch durch freie Handarbeit und nicht wie jetzt durch Maschienen geliefert werden konnten“.131 Verbunden war die Mitteilung mit der Übersendung von Produkten und der Bitte um entsprechende Prüfung. Bei der folgenden Gewerbeausstellung von 1827 in Berlin war die Firma dann vertreten und wurde mit einer Medaille bedacht, die sogar Aufnahme in das Firmenschreiben fand (siehe Abb. 1).132 Dass die Aktivitäten von Erfolg gekrönt waren und bereits 1820 sehr positiv eingeschätzt wurden, mag abschließend eine Passage aus dem schon mehrfach angeführten Bericht Spangenbergs verdeutlichen, wo angemerkt wird: Nach dem zu urtheilen, was ich sahe und auf Nachfrage erleuterungsweise hörte, wird die Fabrik ohne Zweifel ihren guten Fortgang haben, wenn es nicht an Betriebs-Capital fehlt, denn sie kann gleiche, wo nicht noch wohlfeilere Preisen mit den Pferdestriegel- und anderen Eisenwaaren-Fabriken zu Schmalkalden, Zella & Mehlis pp in Kurf. Heßischen und Sachsen-Gothaischen Gebiete halten, und noch dazu die Waaren beßer und wo es darauf ankomt, egaler, nemlich von gleicher Form, Größe und Volumen liefern. Hierzu kommt die außerordentlich große Ersparung an Menschenkraft, Anstrengung, Brennmaterial und Zeit. – Nach einem ungefähren Ueberschlage ist im Durchschnitte der Fabrikation der verschiedenen Waarengattungen wahrscheinlich anzunehmen, daß eine Partie Handarbeiter kaum im Stande seyn dürfte, mit Hülfe des Feuers wöchentlich so viel Waaren zur Absendung fertig zu machen, als eine Parthie, oder villeicht gar nur ein fleisiger und gewandter Arbeiter mittelst der Dreysseschen Maschienen in einen Tage ohne Feuer fertigt. Auser diesen enormen Geschwindigkeit darf sich die Fabrick nicht nur der Soliditaet ihrer Waaren und, wie schon gedacht, der Gleichheit ihrer Form, Schwere, und ihres Volums, sondern auch der Außicht erfreun, noch mehrere Gattungen, als bisher geschehen konnte, fabriciren und die Maschienen auf deren Fertigung anwendbar zu machen.133

130 Allgemeiner Anzeiger der Deutschen (17. October 1818), Nr. 283, Sp. 3056 f. Angemerkt sei hier nur kurz, dass die Berichte in dieser Zeitung noch im selben Jahr sowie 1819 und 1820 in Deutschland sowie in ausländischen Veröffentlichungen (Belege liegen für Frankreich, Spanien und England vor) rezipiert wurden, was für das Interesse an den Produktionsmethoden spricht. 131 LATh – HStA Weimar, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 12, Bl. 88. 132 Vgl. ebd., Nr. 43 (unfoliiert). 133 LASA, Rep. F 38, Xc Nr. 3 Bd. 1, Bl. 15r–17r.

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Dass die Kreativität beibehalten wurde, sollte sich nachfolgend erweisen. Dank der Erfindungen von Dreyse und der Unternehmensfreudigkeit seines Partners Collenbusch ging die Firma – nun unter dem Namen Dreyse & Collenbusch – ab 1824 zur Zündhütchenproduktion134 und ab 1826 zur Waffenfertigung135 über, wodurch der Prozess der Industrialisierung weiter vorangetrieben wurde.

Abb. 1: Rechnung der Firma Dreyse & Collenbusch in Sömmerda für C. W. Kuss in Stargard vom 6. Dezember 1828 über die Lieferung von 20.000 Zündhütchen und 2 Aufsetzer. Die Aufnahme der 1827 bei der Gewerbeausstellung in Berlin an die Firma verliehenen Medaille in die Rechnung zählt zu den frühesten Zeugnissen der Werbung auf Geschäftsschreiben für die eigene Leistungsfähigkeit in Thüringen und steht zugleich für das unternehmerische Selbstverständnis. 134 Vgl. Anm. 69. 135 Vgl. dazu umfassend: Das Zündnadelgewehr (wie Anm. 69); hier insbesondere die Beiträge ab S. 25.

Steffen R assloff

Erfurt – Thüringens erste Industriegroßstadt Wirtschaft, Sozialstruktur und Stadtentwicklung um 1900

Der Schriftsteller Karl Emil Franzos hat 1901 in einem seiner beliebten Reiseberichte „Thüringen das Herz Deutschlands […] und Erfurt das Herz Thüringens“ genannt.1 Dies charakterisiert bis heute treffend Lage und Bedeutung der Stadt.2 Seit frühester Zeit besiedelt, entwickelte sich Erfurt im Mittelalter zur bedeutendsten Stadt Mitteldeutschlands neben Magdeburg.3 Auch nach der Blütezeit als autonomes Handels- und Kulturzentrum blieb es das urbane Herzstück Thüringens, das im 20. Jahrhundert zur Landeshauptstadt aufstieg. Mit der Industrialisierung begann zudem der Wandel zur modernen Metropole Thüringens. Am Beginn stand der Wechsel von Kurmainz zu Preußen 1802/15. Erfurt wurde Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirkes in der neuen Provinz Sachsen. Für Preußen war es zunächst in erster Linie als Garnison und Festung im kleinstaatlichen Thüringen interessant, blieb aber bis zur Jahrhundertmitte eine relativ unbedeutende Mittelstadt von 30.000 Einwohnern. Danach setzte nicht zuletzt mit dem Anschluss an das Eisenbahnnetz 1847 eine deutliche Aufwärtsentwicklung ein. Diese nahm nach der Reichsgründung 1871 rasant an Fahrt auf und gipfelte 1906 mit Überschreiten der 100.000-Einwohnergrenze im Status der ersten und lange Zeit einzigen Großstadt Thüringens.4 Damit verbunden waren einschneidende Veränderungen in Wirtschaft, Sozialstruktur und Stadtentwicklung.5

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Karl Emil Franzos, Erfurt. Ein Reisebericht aus dem Jahre 1901, Erfurt 2008, S. 215. Vgl. Steffen Rassloff, Geschichte der Stadt Erfurt, Erfurt 42016; Ders., Geschichte Thüringens, München 2010. 3 Ders., Mitteldeutsche Geschichte. Sachsen – Sachsen-Anhalt – Thüringen, Leipzig 2016, S. 77–81. 4 Erst 1959 bzw. 1975 überschritten mit Gera und Jena zwei weitere Städte die 100.000-Einwohnergrenze. Heute besitzt nur noch Jena den Status einer Großstadt (111.000 Stand Dez. 2017), während Gera (95.000, Stand Dez. 2017) diesen 2009 wieder verloren hat. 5 Steffen Rassloff, Flucht in die nationale Volksgemeinschaft. Das Erfurter Bürgertum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 7), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 9–136; Tamara Hawich,

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Erfurt bildet damit ein fruchtbares Forschungsfeld für die Themen Industriekultur und regionale Industrialisierung mit all ihren wirtschafts-, sozial- und politikgeschichtlichen Fragestellungen, wie sie erstmals 2018 im Jahresthema „Industrialisierung und soziale Bewegungen“ des Freistaates mit zahlreichen Veranstaltungen und der Sonderausstellung „Erlebnis Industriekultur – Innovatives Thüringen seit 1800“ in Pößneck komplex in den Fokus genommen wurden.6 Zugleich spiegeln sich hier auch viele der Problemfelder der industriellen Moderne und des „Zeitalters der Extreme“ in Deutschland.7

1. Wirtschaft Mitte des 19. Jahrhunderts begann Erfurt die Führungsrolle in einer vielgestaltigen und innovativen Wirtschaftsregion zu übernehmen. Das kleinstaatlich geprägte Thüringen entwickelte sich zu einem Kernraum der Industrialisierung, der es bedeutende wissenschaftlich-technische Impulse verliehen hat.8 Der Deutsche Zollverein von 1833 verbesserte die Rahmenbedingungen. Die Ansiedlung der Behörde des Thüringischen Zollvereins (1833), einer Handelskammer (1845), des ersten regionalen Wirtschaftsverbandes (1848) und weiterer Einrichtungen zeigt, dass sich „die thüringische Wirtschaft […] ihrer gemeinsamen Interessen bewußt wurde und Erfurt noch mehr als zuvor als natürlicher Mittelpunkt dieser Interessen angesehen wurde“.9 Auf dieser Grundlage erfolgte die Transformation der alten Zentralortstellung ins Industriezeitalter. In der Phase der Frühindustrialisierung hatte vor allem die Textilverarbeitung Impulse gesetzt. 1726 gründete Hieronymus Friedrich Taschner die erste Textilmanufaktur, 1790 bestanden bereits 17 solcher Betriebe. 1842 kam in einer Textilfabrik der Familie Lucius die erste Dampfmaschine zum Einsatz.10 Nach der Reichsgründung 1871 erfuhr die Wirtschaft der Stadt eine enorme Dynamisierung. Es boomten nun vor allem die neue Metallund Bekleidungsindustrie. Die „Gründerjahre“ 1871–1873 und ein weiterer

Manufakturen – Maschinen – Manager. Unternehmer und Unternehmen in und um Erfurt – Geschichte und Geschichten, Erfurt 2001. 6 Vgl. Andreas Christoph/Julia Dünkel (Hg.), Erlebnis Industriekultur – Innovatives Thüringen seit 1800. Katalog zur Ausstellung vom 6. Juni bis 9. September 2018 in Pößneck, Pößneck 2018. 7 Steffen Rassloff, Nationalstaat im Konflikt mit Europa 1888–1945, in: Deutsche Geschichte. Die große Bild-Enzyklopädie, München 2018, S. 268–329. 8 Ders., Geschichte Thüringens (wie Anm. 2), S. 64–77. 9 Hans-Werner Hahn, Thüringischer Zollverein und regionale Wirtschaftsinteressen. Erfurt als Zentralort einer neuen thüringischen Wirtschaftspolitik, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 60 (1999), S. 75–88, hier S. 87. 10 Hawich, Manufakturen (wie Anm. 5), S. 40.

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Schub um die Jahrhundertwende sorgten für den Durchbruch zur modernen Industrie- und Dienstleistungsstadt. Ein wichtiger Meilenstein war der Bau der Thüringer Eisenbahn 1844–1847, deren Verwaltungssitz in Erfurt angesiedelt wurde. 1850 war der Zugverkehr von Berlin über Erfurt nach Frankfurt am Main möglich. Mit ErfurtNordhausen (1869), Erfurt-Sangerhausen (1883) und weiteren Strecken wurde die Stadt der wichtigste Verkehrsknotenpunkt. Angesichts der zentralen Bedeutung der Eisenbahn als modernstes Verkehrsmittel und Katalysator der Industrialisierung ist dies kaum zu überschätzen. Die Ansiedlung der Großbetriebe entlang der Bahnlinien verdeutlicht dies ebenso wie die direkt von der Bahn profitierenden großen Unternehmen, etwa die Lokomotivenfabrik Hagans (1857) oder das Eisenbahnausbesserungswerk (1876). Zugleich wurde die Bahn selbst mit ihren zahlreichen Arbeitern und Beamten ein wichtiger Faktor. Als Sitz der Königlichen Eisenbahn-Direktion (1882) war die Stadt zudem der Verwaltungsmittelpunkt des thüringischen Eisenbahnwesens, dessen Streckennetz zwischen 1882 und 1895 zu rund drei Vierteln in den Besitz der preußischen Staatsbahn übergegangen war.11 Der 1893 eingeweihte neue Hauptbahnhof wurde zum Aushängeschild der dynamischen Großstadt.12

Abb. 1: Der 1847 eingeweihte alte Erfurter Bahnhof, die heutige Eisenbahndirektion, steht für den Beginn des Industriezeitalters 11 Vgl. Festschrift Fünfzig Jahre Eisenbahndirektion Erfurt 1882–1932, Erfurt 1932. 12 Steffen Rassloff, Das „Tor zur Stadt“ im Wandel der Zeit, in: Beate Hövelmans (Hg.), Freie Bahn. Abriss und Neubau des Erfurter Hauptbahnhofes, Erfurt 2009, S. 9–11.

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Das lange Zeit herausragende Unternehmen der Metallindustrie war die 1862 von Saarn bei Mülheim nach Erfurt verlegte Königlich-Preußische Gewehrfabrik im Brühl.13 Hierbei spielten sowohl die günstige Verkehrsanbindung als auch die strategisch vorteilhafte Lage der Festung Erfurt inmitten des Deutschen Bundes eine entscheidende Rolle. Die Gewehrfabrik entwickelte sich zum größten Arbeitgeber der Stadt und zählte neben den Staatsunternehmen in Spandau und Danzig sowie den Privatunternehmen in Suhl und Sömmerda zu den wichtigsten Gewehrherstellern in Preußen. Auf dem Höhepunkt der Produktion 1890 arbeiteten dort über 2.600 Beschäftigte. Nach dem Ersten Weltkrieg sollte sich die Gewehrfabrik zum erfolgreichen Hersteller von Schreibmaschinen unter den Marken AEG und Olympia wandeln. Von den älteren Privatunternehmen blieben die Eisengießerei H. Queva & Co. sowie die erwähnte Firma Hagans wichtige Arbeitgeber. Die Vita des aus einer Metallhandwerkerfamilie stammenden Firmengründers Christian Hagans und seiner Söhne darf als typisches Beispiel für eine „Gründerzeit“-Karriere und für die Herausbildung einer wirtschaftsbürgerlichen Führungsschicht gelten. 1857 als Kesselschmiede gegründet, stellte sein Unternehmen ab 1872 erfolgreich Lokomotiven her, die „Krone des Maschinenbaus“.14 Bis 1928 verließen 1.252 Lokomotiven der verschiedensten Bauarten das Werk. Zunächst in der Kartäuserstraße angesiedelt, erfolgte 1913 der Umzug in das neue Industrieareal von Ilversgehofen. Letzteres verweist auf die Bedeutung der kommunalen Wirtschaftspolitik, zu der auch die Ausweisung großer Ansiedlungsflächen am Stadtrand gehörte. 1909 gab die Stadt ein ausgedehntes Gelände im Norden frei, das man 1912 mit einer eigenen Eisenbahngesellschaft (Städtische Industriebahn, heute Erfurter Bahn) erschloss. Hier siedelten sich vor allem großflächige Metallbetriebe an. Flankiert wurde dies durch die Eingemeindung des Industrievorortes Ilversgehofen 1911. Dieser lag zwischen der nördlichen Stadterweiterung und der Ansiedlungsfläche. Eines der Zugpferde im neuen Industriegebiet Erfurt-Nord mit eigenem Bahnhof war die von einer Eisenwarenhandlung zum Industrieunternehmen gewachsene Schornstein-, Aufsatz- und Blechwarenfabrik J. A. John (1839). Sie wurde 1903 durch Fusion der Berliner Handelsfirma Henry Pels & Co. mit der Maschinenbauabteilung von John als Berlin-Erfurter Maschinenfabrik Henry Pels & Co. zum riesigen Umformmaschinen-Hersteller mit Filialen in aller Welt ausgebaut.15

13 Hawich, Manufakturen (wie Anm. 5), S. 77. 14 Ebd., S. 84. 15 Vgl. Rolf Hörnlein, 100 Jahre weltweite Nutzung von Maschinen der Umformtechnik aus Erfurt. Chronik eines Unternehmens, Erfurt 1997.

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Ein weiterer industrieller Schwerpunkt bildete sich am südöstlichen Stadtrand entlang der Weimarischen Straße heraus. Hier siedelten sich unter anderem die Feuerungs- und Heizungsfirma J. A. Topf & Söhne, später als „Ofenbauer von Auschwitz“ eng in den Holocaust verstrickt,16 die Mühlenbau-Firma Matthiaß, Topf & Co., die Kesselfabrik Gebr. Wolf, die Erfurter Maschinenfabrik Franz Beyer & Co. und die Otto Schwade & Co. Pumpenfabrik an.17 Unmittelbar nördlich der Weimarischen Straße schloss sich der große Erfurter Güterbahnhof an, das logistische Herzstück der Industriegroßstadt. Seit der Jahrhundertmitte zählte vor allem die Schuh- und Bekleidungsherstellung zu den aufstrebenden Wirtschaftszweigen und wurde schließlich zum zweitgrößten Sektor nach der Metallindustrie. Ende der 1850er Jahre waren schon mehrere Schuhunternehmer zu industrieller Produktion übergegangen.18 Daneben gab es eine Reihe von Bekleidungsunternehmen.19 Aber auch der klassische Textilbereich, wenngleich er seine Vorreiterrolle aus der Frühindustrialisierung verlor, war etwa mit den Lucius-Unternehmen weiter präsent.20 Bis zum Ersten Weltkrieg hatte sich in Erfurt auf diese Weise eine moderne Schuh- und Bekleidungsindustrie mit tausenden Arbeitern etabliert, die den regionalen Zentren der Textilbranche in Apolda und in Ostthüringen um Gera und Greiz kaum nachstand. Hierbei ragte ein Unternehmer heraus, der es vom Werkstattbesitzer zum Konzernchef brachte. Der aus dem fränkischen Königsberg stammende Kaufmann Eduard Lingel begann 1872 mit einer Schuhwerkstatt seine Bilderbuchkarriere und gründete zwei Jahre später am Herrmannsplatz die erste Fabrik.21 Auf dem 1887 angelegten Areal an der Landgrafenstraße (Martin-Anderson-Nexö-Straße) beschäftigte Lingel Ende der 1880er Jahre schon über 1.000 Arbeiter. Viele kleinere Schuhfabriken wurden dem Konzern angegliedert. Dank konsequenter Mechanisierung entwickelte sich Lingel zum bedeutendsten deutschen Schuhhersteller neben der Conrad Tack & Cie. AG in Burg bei Mag-

16 Vgl. Annegret Schüle, Industrie und Holocaust. Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz, Göttingen 2010. 17 Manfred Krieg, Wie Schwade-Pumpen das Fliegen lernten, in: Stadt und Geschichte 13 (2001), S. 18 f.; Hawich, Manufakturen (wie Anm. 5), S. 70. 18 Roland Kowalski, Vom Handwerksbetrieb zum Industrieunternehmen. Zur Geschichte der Erfurter Schuhfabrikation, in: Stadt und Geschichte 13 (2001), S. 6 f. 19 Hawich, Manufakturen (wie Anm. 5), S. 44. 20 Hans-Werner Hahn, Zwischen Mainzer Rad und preußischem Adler. Sebastian Lucius und der Aufstieg einer Erfurter Bürgerfamilie, in: Hans-Werner Hahn/Werner Greiling/Klaus Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt/Jena 2001, S. 165–184. 21 Johannes Biereye, Erfurt in seinen berühmten Persönlichkeiten. Eine Gesamtschau, Erfurt 1937, S. 64 f.; Hawich, Manufakturen (wie Anm. 5), S. 47 f.

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deburg.22 Neben Lingel behaupteten sich weitere Schuhfabriken. M. & L. Hess (1879) war nach Lingel zweitgrößter Hersteller der Stadt. Die drei Fabrikbesitzer-Generationen, besonders der Kunst-Mäzen Alfred Hess,23 gehörten trotz ihrer jüdischen Herkunft zu den angesehenen Wirtschaftsbürgern der Stadt. Neben der Metall- und der Bekleidungsbranche spielte die Lebensmittelindustrie eine tragende Rolle.24 Die vorwiegend in „Backstein“-Bauweise errichteten großen Produktionsanlagen prägten den Charakter der Industriestadt und wurden ebenfalls von führenden Familien des einheimischen Wirtschaftsbürgertums geleitet. Zu Letzteren gehörten insbesondere die Malzfabrikanten Wolff, vor allem der „Malzgraf“ Friedrich Ernst (Fritz) Wolff und sein Sohn Fritz Wolff junior.25 Sie brachten es in ihrer Branche um 1900 ebenfalls zu einer nationalen Führungsstellung. Weitere wichtige Unternehmen waren die Malzfabrik Eisenberg in Ilversgehofen, die Nudelfabrik Ferdinand North (1860) und der Senfhersteller Gebrüder Born (1820). In der traditionsreichen „Bierstadt“ mit ihren vielen mittelalterlichen Biereigenhöfen entwickelten sich gleich vier industrielle Großbrauereien: Gottlieb Büchner AG, Brauerei J. Baumann, Steigerbrauerei AG und Erfurter Aktienbrauerei. Diese sollten jedoch Anfang der 1920er Jahre mit Ausnahme der Steigerbrauerei zusammen mit anderen Brauereien Thüringens im Leipziger Riebeck-Konzern aufgehen.26

Abb. 2: Die Erfurter Schuhfabrik Lingel gehörte zu den größten Unternehmen ihrer Branche in Deutschland

22 Vgl. Der Lingel-Konzern. Jubiläumsschrift der Eduard Lingel Schuhfabrik AG 1872– 1922, Erfurt 1922. 23 Steffen Rassloff, Bürgerkrieg und Goldene Zwanziger. Erfurt in der Weimarer Republik, Erfurt 2008, S. 91 f. 24 Hawich, Manufakturen (wie Anm. 5), S. 121–136. 25 Biereye, Persönlichkeiten (wie Anm. 21), S. 121. 26 Steffen Rassloff, Die Industriegroßstadt Erfurt. Wirtschaft, Politik und Bier, in: Hardy Eidam/Gudrun Noll-Reinhardt (Hg.), Es braut sich was zusammen. Erfurt und das Bier, Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Erfurt 2018/19, Erfurt 2018, S. 125–136.

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Der Aufschwung der Baubranche resultierte aus der dynamischen Stadterweiterung mit zahlreichen Miet- und Villenquartieren, öffentlichen Großprojekten und weiträumigen Industriebauten. Zu den wichtigsten Bauunternehmern gehörte Maurermeister Ferdinand Schmidt, seine 1875 gegründete Firma war ein wesentlicher Träger der städtebaulichen Veränderungen.27 Als Aufsteiger aus dem alten Mittelstand gehörte auch er nunmehr zum wirtschaftlich-politischen Establishment, wurde Stadtrat und gehörte wichtigen Gremien an. Andere bedeutende Bauunternehmen waren die 1887 gegründete Firma von Maurermeister und Stadtrat Rudolph Walther sowie die der Maurermeister Schwethelm, Haddenbrock und des Architekten Max Brockert.28 An Baustoffen wurden im Norden der Stadt Kies und Sand gewonnen sowie einige Ziegeleien betrieben. Wichtigstes Unternehmen waren hierbei die Ziegelwerke Gebr. Sahlender (1839). Im Gefolge des Baubooms etablierten sich neue bzw. ausgeweitete Geschäftszweige wie die Grundstücks- und Häusermaklerei, vertreten etwa durch die Immobilienfirma von Hermann Simmen („Häuser-Simmen“, 1902). Mit dem preußischen Staatsunternehmen des Salzwerkes (1857–1916) in Ilversgehofen war Erfurt sogar ein Bergbaustandort.29 Von Bedeutung waren daneben noch das – in Erfurt eine lange Tradition besitzende – Druckerei- und Verlagsgewerbe sowie die Lampenherstellung.30 Zu den führenden Unternehmen gehörten unter anderem die Druckereien Stenger, Richters und Zander & Co. (1899) sowie die Lampenfabriken Stübgen & Co. (1843), Kloepfel & Sohn (1867) und Kaestner & Toebelmann (1874). Weiterhin blieb auch die Kunst- und Handelsgärtnerei ein wirtschafts- und imageprägender Sektor der städtischen Industrie.31 Die Zahl international agierender Unternehmen war groß: Fr. Ad. Haage jun. („Kakteen-Haage“, 1822), J. C. Schmidt („Blumenschmidt“, 1823), Ernst Benary (1843), F. C. Heinemann (1848), Haage & Schmidt (1863), N. L. Chrestensen (1867), Liebau & Co. (1892) sowie Stenger & Rotter (1897). Erfurt erwarb sich in dieser Zeit seinen Beinamen „Blumenstadt“, der durch große Gartenbauausstellungen seit 1865 gefestigt wurde. Die Bundesgartenschau wird daher 2021 in Erfurt zu ihren frühen

27 Ruth und Eberhard Menzel, Villen in Erfurt, 4 Bde., Arnstadt/Weimar 1996–2002, hier Bd. 1, S. 41. 28 Die Bauunternehmer schöpften ihren Gewinn auch aus dem Ankauf städtischen Grund und Bodens, den sie bebauten und die Wohnungen dann vermieteten bzw. verkauften. 29 Vgl. Heinrich Bartl/Wolfgang Grünemeier, Das Königliche Salzwerk zu Erfurt 1857– 1916, Erfurt 2007. 30 Hawich, Manufakturen (wie Anm. 5), S. 104–111. 31 Vgl. Martin Baumann/Steffen Rassloff (Hg.), Blumenstadt Erfurt. Waid - Gartenbau iga/egapark (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, 8), Erfurt 2011.

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Wurzeln zurückkehren.32 Neben den fest Beschäftigten arbeiteten zahlreiche Saisonkräfte im Gartenbau, allein bei Benary und Chrestensen jedes Jahr jeweils rund 1.000. Die Gärtnereien waren Aushängeschild der Stadt und wurden in Reiseführern geradezu als Sehenswürdigkeiten gepriesen. Man muss sich Erfurt um 1900 als Insel in einem „Meer von berauschend duftenden, in allen Farben leuchtenden Blüten: Rosen und Veilchen, Reseden, Levkojen und Tulpen, Balsamienen“ vorstellen.33 Neben den 22 Kunst- und Handelsgärtnereien, die sich der Herstellung und Vermarktung von Frischblumen, Kakteen, Trockenblumen und Samensortimenten widmeten, beschäftigten sich 40 Betriebe ausschließlich mit dem Gemüseanbau. Auch die Stadt war bestrebt, den Gartenbau als tragende Säule der Wirtschaft zu erhalten. Versinnbildlicht wird dies im monumentalen Angerbrunnen, der 1890 eingeweiht wurde.34 Zwei allegorische Figuren symbolisieren die Träger von Wohlstand und Ansehen der Stadt, den Gewerbefleiß und den Gartenbau. Auch wenn Industrie, Dienstleistung und Verwaltung den Gartenbau an Beschäftigten und Umsatz weit übertrafen, war es doch letztere Branche, die der Blumenstadt „einen weit über die Grenzen des deutschen Vaterlandes hinaus reichenden Ruf erworben“ hatte.35 Ihre protektionistische Haltung musste die Stadt freilich zumindest teilweise korrigieren, indem sie etwa durch ihre Entscheidung für das Industrieareal im Norden nolens volens dem Gartenbau wertvolle Anbauflächen entzog. Die Gartenbauunternehmer gehörten ebenfalls zu der großbürgerlichen Führungsschicht der Stadt. Auf dem Wege wirtschaftlichen Erfolgs erlangten auch hier jüdische Geschäftsleute eine geachtete Stellung. Zu ihnen zählten Ernst Samuel Benary und dessen Nachkommen.36 Die 1843 gegründete Firma begann als kleine Gärtnerei. Ab 1844 erwarb Benary Gartengrundstücke im Brühl, die schließlich mit ihren Gewächshäusern, Beeten, Grünanlagen, vier Villen und dem Geschäftshaus (1888) durch das Unternehmen geprägt wurden. Seine Söhne Friedrich und John Benary führten das erfolgreichste Erfurter Gartenbauunternehmen vor dem Ersten Weltkrieg auf den Höhepunkt seiner Entwicklung. Weitere aufstrebende Unternehmer stellten der Gärtner Friedrich Carl Heinemann sowie dessen Nachkommen dar.37 Seit dem 18. Jahrhundert trug die 32 Steffen Rassloff, Blumenstadt Erfurt. Die Bundesgartenschau kehrt 2021 zu ihren Wurzeln zurück, in: BUGA – Mitschnitt der Jahre 2011–2015, Erfurt 2016, S. 72–79. 33 Franzos, Erfurt (wie Anm. 1), S. 94. 34 Steffen Rassloff, 100 Denkmale in Erfurt. Geschichte und Geschichten. Mit Fotografien von Sascha Fromm, Essen 2013, S. 102 f. 35 Hans Haupt, Die Erfurter Kunst- und Handelsgärtnerei in ihrer geschichtlichen Entwickelung und wirtschaftlichen Bedeutung, Jena 1908, S. 1. 36 Baumann/Rassloff, Blumenstadt (wie Anm. 31), S. 133–151. 37 Ebd., S. 152–176.

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Familie Haage die Erfurter Gartenbautradition von Generation zu Generation.38 So bearbeiteten sie seit 1769 die deutschlandweit einzigartige Brunnenkresse-Anlage im Dreienbrunnenfeld, wo sich auch Firmen- und Wohngebäude der Haages befanden. Im Kaiserreich gehörten sie weiterhin zu den wichtigsten Unternehmern und waren gleich an mehreren Firmen beteiligt. Der wirtschaftliche Aufschwung seit Mitte des 19. Jahrhunderts war begleitet von der dynamischen Entwicklung des Banken- und Versicherungsgewerbes.39 Wichtigste Geldgeber Erfurts waren die Banken von Wilhelm Moos und Adolph Stürcke. Insbesondere das Bankhaus Stürcke (1848) wurde die „Hausbank“ des Erfurter Großbürgertums.40 Hier rückten ebenfalls die erfolgreichsten Unternehmer zu Mitgliedern der tonangebenden Bourgeoisie auf, und auch hier etablierten sich Juden, wie Bankier Wilhelm Moos. Insbesondere die Stürckes zählten zu den angesehensten Familien der Stadt. Firmengründer Adolph Stürcke hatte wiederum „klein angefangen“, 1849 eine einheimische Bank übernommen und sich 1857 am Anger angesiedelt. Dank der expandierenden Wirtschaft, dem Baugeschehen, einer gutsituierten Bürgerschaft sowie weitreichenden Geschäftsbeziehungen nahm die Bank eine glänzende Entwicklung. Seit der Jahrhundertwende drängten auch überregionale Banken stärker auf den Erfurter Markt. Insbesondere die Magdeburger Privatbank erlangte große Bedeutung. Sie hatte mehrere Erfurter Banken übernommen41 und firmierte seit 1909 als Mitteldeutsche Privatbank. Unter den neu entstehenden Versicherungen ragte die Thuringia AG heraus.42 1853 als erste Erfurter Aktiengesellschaft gegründet, dehnte sie bald ihre Aktivitäten auf alle Versicherungsfelder, vor allem die lukrative Lebensversicherung, aus. Die Thuringia konnte ihre Geschäftsbeziehungen ins Ausland ausweiten, errichtete reichsweit Filialen und erwirtschaftete hohe Gewinne. An der Aktiengesellschaft waren viele Erfurter Bürger als Aktionäre beteiligt, sie bot von den ortsansässigen Gesellschaften die höchsten Renditen mit deutlich steigender Tendenz (1854: 4 %, 1878: 13,3 %, 1898: 26,6 %, 1907: 50,0 %, 1913: 66,6 %).43 Der Verwaltungsrat setzte sich aus führenden Wirtschaftsbürgern der Stadt zusammen: 1898 etwa hatten Bankier Hermann Stürcke den Vorsitz und Textilfabrikant Ferdinand Lucius den stell38 39 40 41 42

Ebd., S. 74–107. Hawich, Manufakturen (wie Anm. 5), S. 185–194. Biereye, Persönlichkeiten (wie Anm. 21), S. 109 f. Bankhaus Fr. Unger (1907), Erfurter Bank Pinckert, Blanchart & Co. AG (1908). Vgl. 75 Jahre Versicherungsgesellschaft Thuringia, Erfurt 1928; Thuringia. 100 Jahre einer deutschen Versicherungsanstalt, München 1953. 43 Dividenden nach 1900: Lingel 19 %, Straßenbahn 7 %, Aktienbrauerei 8 %. Willibald Gutsche, Die Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur und der Differenzierungsprozeß innerhalb des Bürgertums der Stadt Erfurt in den ersten Jahren der Herrschaft des Imperialismus, in: Jahrbuch für Geschichte 10 (1974), S. 343–371, hier S. 357.

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vertretenden Vorsitz inne. Ergänzt wurde das Gremium unter anderem durch den Malzfabrikanten Fritz Wolff.44 Auch die Stellung Erfurts als Handels-, Verkehrs- und Verwaltungszentrum schlug sich in Beschäftigtenzahl und Umsatz nieder. Zahlreiche Großhandlungen lieferten Rohstoffe, Fertigwaren und Lebensmittel aller Art. Im Einzelhandel etablierten sich die ersten Warenhäuser: Kaufhaus Germania (1895), Richard Reibstein (1897), L. Pinthus (1898), J. Leschziner (1898), Kaufhaus am Angerbrunnen (1899). Flaggschiff war das Kaufhaus Römischer Kaiser (1908) am Anger (heute Galerie Anger 1). Das durch die Kaufhaus-Dynastie Tietz geschaffene „KRK“ stellte das erste und größte Warenhaus im neuen Stil des Berliner Wertheim (1897) in Thüringen dar. Erfurt hatte damit den Anschluss an die großstädtische Einzelhandelsentwicklung gefunden. Aber auch kleinere Händler erkannten die Zeichen der Zeit. So errichtete die seit 1890 von der Familie Neumann betriebene „Keyser'sche Buchhandlung“ Zweigstellen in den Bahnhöfen größerer thüringischer Städte, installierte zwischen 1908 und 1913 die ersten Zeitungskioske auf dem Anger, Domplatz und Bahnhofsvorplatz und stellte im Stammhaus am Anger eine Zeitungs-Lesehalle und Leihbibliothek zur Verfügung. Zugleich leistete Neumanns Buchhandlung Pionierarbeit für das im späten 19. Jahrhundert aufkommende Postkartengeschäft.45

Abb. 3: Die 1853 als erste Erfurter Aktiengesellschaft gegründete Thuringia Versicherung erlangte eine nationale Spitzenposition Im Gastgewerbe ragten mit „Hofkonditor“ Horst Kohl und Hotelbesitzer Georg Kossenhaschen zwei Unternehmer heraus. 1905 gründete Kohl am Kaiserplatz (Karl-Marx-Platz) sein erstes Café, später folgten Filialen am Anger, in der Bahnhofstraße und Magdeburger Straße, ein Weinrestaurant am Kaiserplatz 44 75 Jahre Thuringia (wie Anm. 42), S. 70 f. 45 Vgl. Bruno Neumann, Bruno Neumann und die Keyser'sche Buchhandlung. Erinnerungen aus meinem Leben, Erfurt 1948.

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und ein Speiselokal am Anger.46 Kossenhaschens „Erfurter Hof“ (1905) mit dem „Haus Kossenhaschen“ (1916) am Hauptbahnhof war das „erste Haus am Platze“. Als eines der angesehensten Hotels im Reich sollte es später durch den Besuch des „falschen Prinzen“ Harry Domela 1926 und das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen mit Willy Brandt und Willi Stoph 1970 Geschichte schreiben.47 Das Eisenbahnwesen hatte sich ebenfalls expansiv entwickelt. Symbole dieses wichtigen Wirtschaftszweiges sind der Hauptbahnhof (1893),48 die Bahndirektion (1847/96) sowie der Güterbahnhof. Hinzu traten große Speditionsbetriebe, wie der von Julius König (1864).49 Die 1883 gestartete und 1894 elektrifizierte Erfurter Straßenbahn gehörte 1907 zu den 16 Großbetrieben mit mehr als 200 Mitarbeitern. Als eine grundsätzliche Tendenz ist die Konzentration der Unternehmen zu betonen.50 In den führenden Wirtschaftszweigen nahm die Anzahl der Betriebe bei insgesamt steigender Beschäftigtenzahl ab. In der Metallindustrie sank allein zwischen 1907 und 1913 die Zahl der Unternehmen von 268 auf 133, während die Beschäftigtenzahl von 6.022 auf 6.732 stieg. Die Durchschnittsbelegschaft hatte sich damit von 22,5 auf 50,6 mehr als verdoppelt. Ähnlich entwickelte sich die Bekleidungsindustrie (von 5,3 auf 25,8) sowie die meisten anderen Industriebranchen, aber auch der Gartenbau (von 14 auf 33,4). Die wachsende Größe der Unternehmen führte zur stärkeren Verbindung des Wirtschafts- mit dem Finanzsektor, die sich in der zeittypischen Umwandlung in andere Rechtsformen äußerte.51 Als neue Aktiengesellschaften entstanden die Eduard Lingel Schuhfabrik AG (1898), die Sächsisch-Thüringische AG für Licht- und Kraftanlagen (1898), die Erfurter Mechanische Schuhfabrik AG (1899), die Brauerei Gottlieb Büchner AG (1899), die Schornstein-, Aufsatz- und Blechwarenfabrik J. A. John AG (1902), die Steigerbrauerei AG (1908), die Elektrizitätswerk Gispersleben AG (1909) und die M. & L. Hess Schuhfabrik AG (1912). Die Aktien vor allem der Metall- und Schuhindustrie entwickelten sich sehr vorteilhaft. Mit 6 bzw. 4,5 Mio. Mark Aktienkapital kurz vor dem Ersten Weltkrieg waren Lingel und Hess die potentesten Unternehmen, übertroffen nur noch von der Thuringia mit rund 10 Mio. Mark. 46 Hawich, Manufakturen (wie Anm. 5), S. 221–228. 47 Vgl. Steffen Rassloff (Hg.), „Willy Brandt ans Fenster!“ Das Erfurter Gipfeltreffen 1970 und die Geschichte des „Erfurter Hofes“ (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, 6), Jena 2007. 48 Vgl. Hövelmans, Freie Fahrt (wie Anm. 12). 49 Biereye, Persönlichkeiten (wie Anm. 21), S. 58. 50 Rassloff, Erfurter Bürgertum (wie Anm. 5), S. 49 f. 51 Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866–1914, hg. v. Volker Wahl, Weimar 1991, S. 98–114.

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Neben der Industrie behaupteten sich aber auch Handwerk und Kleingewerbe. 1907 waren von den 6.779 Unternehmen 5.788 Kleinbetriebe (85,4 %) mit bis zu fünf Arbeitern, davon allein 1.954 Alleinbetriebe (28,8 %). Neue Chancen taten sich als Zulieferer der Industrie oder als Montage- und Reparaturbetriebe auf. Im Einzelhandel dominierte ungeachtet der ersten Warenhäuser noch der Kleinhändler, im Lebensmittelbereich der Kleinbetrieb der Bäcker, Fleischer etc., obgleich auch hier modernisierende Tendenzen spürbar wurden, etwa durch den Bau eines Schlachthofes (1890). Trotz des Konzentrationsprozesses war die Wirtschaftsstruktur also noch recht ausgewogen und besaß einen großen mittelständischen Sektor. Ein Querschnitt durch die Wirtschaftsstatistik im Jahre 1907 zeigt noch einmal das Übergewicht von Industrie und produzierendem Gewerbe bei dominierender Metall- und Bekleidungsbranche.52 Von 40.106 Erwerbstätigen waren 23.400 Arbeiter und Angestellte in Industrie und Gewerbe beschäftigt, 11.848 Arbeiter allein in den beiden Leitindustrien. Damit stellte der Industrie- und Gewerbesektor rund 58 % der Beschäftigten. Als zweitwichtigster Sektor folgten die Bereiche Handel, Transport und Verkehr sowie Versicherungen (7.260). Handel und Transportwesen nahmen nach Metall- und Bekleidungsindustrie und vor dem Baugewerbe den dritten Rang in der Erfurter Wirtschaft ein. Immerhin noch 4.553 Selbständige bildeten die Schicht der Unternehmer, Handwerker, Kleinhändler und freien Berufe, 4.793 Beamte standen bei Reich, Land und Stadt im Sold.

2. Sozialstruktur Die Entwicklung zur modernen Industriegroßstadt war mit einschneidenden sozialen Strukturveränderungen verbunden. Schon einige wenige Zahlen belegen das explosionsartige Wachstum der Stadt. 1840 mit 24.784 Einwohnern noch mittelstädtisch geprägt, erhöhte sich deren Zahl bis 1867 schon auf 41.760. Nach der Reichsgründung verdoppelte sich die Einwohnerzahl in drei Jahrzehnten von 48.025 (1875) auf 102.193 (1906). Mit großem Stolz konnte Oberbürgermeister Hermann Schmidt verkünden, dass mit dem Fleischermeistersohn Wilhelm Mund am 22. Mai 1906 der einhunderttausendste Erfurter das Licht der Welt erblickt habe und „die Stadt Erfurt Großstadt geworden ist“.53 Zuzüglich der Eingemeindung Ilversgehofens 1911 brachte man es bis 1914 auf 130.110 Einwohner. Erfurt ragte damit in Thüringen, dessen Einwohnerzahl sich von 1871 bis 1914 von 1,5 auf 2,3 Millionen erhöhte, aus einer weite Teile des Reiches erfas52 Rassloff, Erfurter Bürgertum (wie Anm. 5), S. 427. 53 Erfurter Allgemeiner Anzeiger vom 30. Juni 1906.

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senden Verstädterung heraus.54 Auch aus beschaulichen Residenzen wurden Industriestädte wie Gera (49.000), Altenburg (40.000) und Gotha (40.000). Beim enormen urbanen Wachstum Erfurts spielte neben dem Geburtenüberschuss der Zuzug in das regionale Wirtschaftszentrum eine große Rolle.55 Nicht unerheblich war dabei anfangs der 1802/15 einsetzende Zuzug von preußischen Staatsbeamten. Auch andere bürgerliche Sozialschichten, allen voran die wachsende Angestelltenschaft, haben ihren Beitrag zur demographischen Entwicklung geleistet. Das Gros der Neu-Erfurter stellte jedoch die Industriearbeiterschaft. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts dominierten noch das alte von Handel und Handwerk geprägte Stadtbürgertum sowie die preußischen Beamten und Soldaten. Die Industrialisierung veränderte dies nachhaltig. Die mit Abstand größte Schicht waren 1907 die 23.790 Arbeiter. Sie machten 59,3 % der Erwerbstätigen aus. Zusammen mit ihren häufig großen Familien bildeten die Arbeiter deutlich die Majorität der Bevölkerung. Die Arbeiterschaft war zu gut zwei Dritteln in Groß- und Riesenbetrieben (mehr als 500 bzw. 1.000 Arbeiter) beschäftigt, was die Organisation in der Arbeiterbewegung begünstigte. Unter Führung der SPD kam es zur Herausbildung eines lebensweltlich fest verankerten sozialistischen Milieus. Die Entstehung der beiden großen Bevölkerungsgruppen Arbeiterschaft und Bürgertum mit weitgehend separaten Milieustrukturen, Weltdeutungsmustern und politischen Parteien darf als eine zentrale Entwicklung des Industriezeitalters angesehen werden.56 Erfurt gilt wie ganz Thüringen als ein frühes Zentrum der Arbeiterbewegung beziehungsweise der SPD. 1865 bildete sich eine Ortsgruppe des 1863 in Leipzig von Ferdinand Lassalle gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV). Seine Mitglieder traten der 1869 in Eisenach von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Seit dem Gothaer Vereinigungsparteitag 1875 gehörten sie der Sozialistischen Arbeiterpartei an, die nach dem „Sozialistengesetz“ (1878–1890) im Erfurter Programm von 1891 den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands festschrieb. Die Sozialdemokratie fasste in der Industriestadt rasch Fuß.57 Es gab Vereine, Feste und Traditionen, wie den seit 1890 begangenen 1. Mai. Mit dem Volkshaus „Tivoli“ besaß man ein Kulturzentrum, mit der „Thüringer Tribüne“

54 Rassloff, Geschichte Thüringens (wie Anm. 2), S. 73. 55 Einwohnerbuch der Stadt Erfurt 1941/42, S. VIII. Zwar fiel der relative Anteil der Sterbefälle von 1875 bis 1913 von 2,4 % auf 1,3 %, der Geburtenüberschuss fiel jedoch von 1,4 % auf 1,2 % und entsprach nicht annähernd der Bevölkerungszunahme. 56 Vgl. Rassloff, Erfurter Bürgertum (wie Anm. 5). 57 Ders., Erfurt und die Geschichte der SPD. Ereignisse – Erinnerungsorte – Entwicklungen, in: Stadt und Geschichte 38 (2008), S. 24 f.

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(1889) eine Parteizeitung. Ihr Herausgeber war der 1880 aus Berlin ausgewiesene Schneidermeister Paul Reißhaus, die Vaterfigur der Erfurter SPD. So war es auch kein Zufall, dass der wegweisende Programmparteitag von 1891 in Erfurt stattfand. In der Reichstagswahl 1890 hatte der SPD-Kandidat 52,7 % erzielt. Ähnlich gute Ergebnisse konnten nur Berlin, Breslau, Hamburg, Elberfeld-Barmen, Königsberg und Magdeburg vorweisen. Im Stadtgebiet errangen die Sozialdemokraten meist absolute Mehrheiten, 1912 gelangte erstmals der SPD-Kandidat im Wahlkreis Erfurt-Schleusingen-Ziegenrück in den Reichstag. Von der Erfurter Stadtverordnetenversammlung blieb die SPD wegen des undemokratischen Dreiklassenwahlrechtes in Preußen allerdings bis 1918 weitgehend ausgeschlossen. 1911 zogen die beiden ersten SPD-Stadtverordneten dank der Eingemeindung Ilversgehofens ins Rathaus ein. Andererseits war Arbeiter nicht gleich Arbeiter. Es gab eine Reihe von Berufsgruppen, die vom sozialistischen Milieu nicht erfasst wurden. Hierzu sind etwa Arbeiter kleiner Familienbetriebe oder städtischer Unternehmen,58 Vorarbeiter, Hausgehilfen oder aus anderen Gründen „klassenentfremdete“ Arbeiter zu rechnen.59 Zugleich gab es durchaus auch „begrenzte Spielräume“ der Annäherung zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum.60 Betrachtet man also das großindustrielle Proletariat als Kern, so wird aus der Mehrheit von rund 60 % eine Minderheit von gut 40 % der Bevölkerung. Unter Einbeziehung von Arbeitern kleinerer Betriebe und kleinbürgerlicher Sympathisanten umfasste das Potenzial des sozialistischen Milieus wohl die Hälfte der Bevölkerung. Der Arbeiterschaft stand ein wesentlich stärker differenziertes Bürgertum gegenüber. Es setzte sich aus dem neuen Mittelstand der Angestellten und kleineren Beamten, dem alten Mittelstand der Selbstständigen und einer schmalen Oberschicht von Besitz- und Bildungsbürgern zusammen. Sie vergesellschafteten sich trotz aller Heterogenität in einem bürgerlich-nationalen Milieu.61 Getragen wurde dieses von Weltdeutungsmustern wie Besitz, Bildung, Gemeinnützigkeit, Nationalismus, Antisozialismus und Religion. Nicht zuletzt die Abgrenzung von der als „vaterlandslose Gesellen“ und „rote Gefahr“ verfemten Arbeiterbewegung wirkte integrierend. Ein Netz von Vereinen und Verbänden 58 So ist von „einer wohlwollenden Behandlung ihrer Arbeiter“ durch die Stadt die Rede. Wilhelm Horn, Erfurts Stadtverfassung und Stadtwirtschaft in ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart. Ein Beispiel zur Verfassungsgeschichte und Sozialpolitik der deutschen Städte, Jena 1904, S. 237. 59 So gehörten 1922 555 vor allem gelernte Facharbeiter zum Kreis der Hausbesitzer. Arthur Winne, Der Erfurter Hausbesitz. Seine soziale Gliederung und seine wirtschaftliche Lage, Jena 1923, S. 43. 60 Vgl. Jürgen Schmidt, Begrenzte Spielräume. Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870–1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 165), Göttingen 2005. 61 Vgl. Rassloff, Erfurter Bürgertum (wie Anm. 5).

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sowie eine bürgerliche Tageszeitung („Erfurter Allgemeiner Anzeiger“) bildeten die Organisationsstruktur, an deren Spitze eine großbürgerliche Honoratiorenschicht stand. Sie band das Milieu an die eher lose organisierten liberalen und konservativen Bürgerparteien und hatte die kommunalpolitischen Fäden in ihrer Hand. Die bürgerlichen Sozialschichten machten in Erfurt 1907 rund 40 % der Erwerbstätigen aus.62 Die 6.970 Angestellten waren hierbei mit 17,4 % die zweitgrößte Gruppe nach den Arbeitern. Rund ein Drittel war in Industrie und Gewerbe, zwei Drittel waren im Dienstleistungssektor tätig. Die kleinste Schicht stellten die 4.553 Selbständigen dar (11,3 %), zu denen das Wirtschafts- und Besitzbürgertum, Teile des Bildungsbürgertums (freie Berufe) und der alte Mittelstand der Handwerker, Kleinhändler und Gastwirte zählten. Auch für Rentiers und Spekulanten bot die Stadt vielfältige „Gelegenheit zu gewinnbringenden Beteiligungen und Gründungen“.63 4.793 Beamte (12 %) komplettierten die Zahl der Erwerbstätigen, die mit insgesamt 40.106 einen Anteil von 36,7 % der 108.903 Einwohner ausmachten. Neben der Herausbildung einer breiten Arbeiterschaft stellte die Entstehung des neuen Mittelstandes die markanteste Entwicklung dar.64 Dieser geht auf den Bedarf qualifizierter Kräfte in Verwaltung, Technik und Dienstleistung zurück. Obwohl abhängige Arbeitnehmer mit eher bescheidenem Gehalt, unterschied sich doch ihre Tätigkeit klar von der der Arbeiterschaft. Die Angestellten übten etwa als Handlungsgehilfen, Verkäufer, Sekretäre, Buchhalter, Aufseher, Techniker oder Zeichner Tätigkeiten diesseits der „sauberen“ „Hemd- und Kragengrenze“ aus, was ihnen den Spottnahmen „Stehkragenproletarier“ einbrachte. Zudem verdienten sie im Durchschnitt mehr als die Arbeiter und waren arbeitsrechtlich bessergestellt, manche Angestellte nahmen eigenverantwortliche oder weisungsbefugte Positionen ein. Viele Unternehmer suchten ihre Loyalität durch Gesten wie Treueprämien und Auszeichnungen zu sichern. Auf der Grundlage dieser Sonderstellung entwickelten die meisten Angestellten eine ausgeprägte Identifikation mit dem Bürgertum. Erfurt besaß als Verkehrs-, Verwaltungs-, Behörden- und Garnisonsstadt mit 4.793 Staatsdienern eine überdurchschnittlich starke Beamtenschicht. Auf den zivilen Bereich entfielen 2.738 Beamte, in ihrer Mehrzahl kleine und mittlere Bahn- und Postbeamte sowie Lehrer. Hinzu kamen die 2.055 Beamten der Gar62 Im Reichsmaßstab gehörten vor dem Weltkrieg nur rund 15 % der Bevölkerung zum Bürgertum. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des ersten Weltkrieges 1849–1914, S. 713. 63 Max Timpel, Erfurt in Thüringen, hg. v. Erfurter Verkehrsverein, Erfurt 1910, S. 82. 64 Jürgen Kocka, Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850–1980. Vom Privatbeamten zum angestellten Arbeitnehmer, Göttingen 1981; Wehler, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 62), S. 757.

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nison. Die Beamten besaßen eine enge Bindung an den Staat, übten ihren Dienst in obrigkeitlich-hierarchischen Strukturen aus und hatte sich „staatsfeindlicher“, insbesondere sozialdemokratischer Aktivitäten zu enthalten. Zugleich waren die Beamten an der staatlichen Autorität beteiligt, was allein im stolzen Tragen der Uniformen deutlich wurde. Sie genossen in Laufbahn, Lebensanstellung und Pension soziale Privilegien. All dies machte sie trotz meist eher bescheidenem Einkommen zu festen Stützen des Bürgertums. Die Beamten, insbesondere die hohen Beamten und Offiziere, sorgten für einen konservativ-monarchistischen Einschlag im Erfurter Bürgertum. Seit 1802/15 waren viele von ihnen aus allen Landesteilen nach Erfurt versetzt worden. Damit kam zum autochthonen Bürgerstand eine neue staatsnahe Schicht, die bald ins bürgerliche Milieu integriert wurde. Der Volkskundler Martin Wähler schrieb ihnen gar einen derartigen Einfluss auf das Erfurter Bürgertum zu, dass Selbiges „von den Thüringern z. T. als ‚fremd‘, als ‚norddeutsch‘ empfunden“ worden sei.65 Das ausgeprägte Preußentum wurzelte auch in der Überzeugung, dass man den Aufstieg zur Industriemetropole Thüringens der Zugehörigkeit zur dynamischen Reichseinigungsmacht verdanke.66 Die Selbstständigen, der alte stadtbürgerliche Kern von Handwerkern, Händlern und Gastwirten, die Freiberufler sowie der kleine exklusive Kreis der Bourgeoisie, waren mit 4.553 Angehörigen beziehungsweise 11,3 % zahlenmäßig bereits hinter die Beamten zurückgefallen. Freilich ist hier zugleich das Gros der wohlhabenden Honoratiorenschicht zu suchen, die das bürgerliche Milieu und die Kommunalpolitik beherrschten. Andererseits zählten zu den Selbstständigen aber auch die nicht wenigen „Kümmerexistenzen“, etwa die 1.954 Inhaber von „Alleinbetrieben“. In seiner Mehrzahl fand der gewerbliche Mittelstand jedoch im Rahmen der fortschreitenden Industrialisierung weiterhin sein Auskommen. Auch die unteren Ränge dieser Schicht blieben meist nach ihrem Selbstverständnis bürgerliche Unternehmer. Entsprechend den geschilderten Berufs- und Sozialgruppen, die sich in Arbeiter- und Bürgermilieu formierten, differenzierte sich die Stadtbevölkerung im Lebensstandard deutlich aus. Im Jahre 1900 zahlten von 28.715 steuerpflichtig Erwerbstätigen 19.022 (66,3 %) für ein Jahreseinkommen zwischen 300 und 1.200 Mark Klassen- und Einkommenssteuer. Hier sind die Arbeiterschaft und Teile des Kleinbürgertums einzuordnen. 1.200 bis 3.000 Mark im Jahr verdien65 Martin Wähler, Der Erfurter. Ein Charakterbild aus Vergangenheit und Gegenwart, in: Festschrift dem 19. Deutschen Historikertag in Erfurt dargeboten vom Oberbürgermeister der Stadt Erfurt und vom Erfurter Geschichtsverein, Erfurt 1937, S. 7–35, hier S. 29. 66 Steffen Rassloff, Landesbewusstsein und Geschichtsbild im preußischen Thüringen. Das Erfurter Bürgertum 1871–1933, in: Matthias Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 13), Köln/ Weimar/Wien 2005, S. 45–64.

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ten 7.055 Personen (24,6 %). Mit 3.000 bis 12.000 Mark gehörte man zu den 2.355 Vertretern (8,2 %) des gehobenen alten Mittelstandes, den Bildungsbürgern und höheren Angestellten. Die Spitze der Einkommenspyramide bildeten die gerade 283 Großbürger, überwiegend Unternehmer, mit einem Einkommen von über 12.000 Mark im Jahr (0,9 %).67 Das durch Eigentum und selbstständige Arbeit geprägte Stadtbürgertum im ursprünglichen Sinne war zu einer elitären Minderheit geworden. Die materielle Distanz der Kleinbürger zum Großbürgertum war wesentlich größer als zur Arbeiterschaft, auch innerhalb des Großbürgertums lagen zwischen Bildungsbürgern und Bourgeoisie bisweilen Welten. Dennoch konnte sich das bürgerliche Selbstverständnis des Mittelstandes auf ein gewisses Maß an materieller Herausgehobenheit sowie andere arbeits- und lebensweltliche Abgrenzungen gegenüber der Arbeiterschaft stützen. Die schmale bourgeoise Führungsschicht wiederum hatte fast alle wirtschaftlichen Fäden in der Hand. Die Großunternehmer, Bankiers und Direktoren flankierten ihre Stellung durch Aktienbesitz und Aufsichtsratsposten in den großen Unternehmen. An der Spitze des Wirtschaftsbürgertums standen sieben Großunternehmer und Mehrfachmillionäre: Textilfabrikant Ferdinand Lucius (8–9 Mio. Mark geschätztes Vermögen),68 Malzfabrikant Fritz Wolff (5–6 Mio.), Gartenbauunternehmer Friedrich Benary (5–6 Mio.), Lampenfabrikant Franz Kaestner (4–5 Mio.), Bankier Hermann Stürcke (2–3 Mio.), Bankier Max Stürcke (2–3 Mio.) und Maschinenfabrikant Ludwig Topf (2–3 Mio.).69 Hinzu kamen 19 einfache Millionäre, darunter die Schuhfabrikanten Georg, Leo und Maier Hess, Mäntelfabrikant Rudolf Lamm, die Bankiers Heinrich Ullmann, Theodor Friedemann sowie Moritz und Otto Heilbrunn, Eisenwarenhändler Paul Schneider, Mühlenbesitzer August Wender, Kaufmann Carl Bender und Hofjuwelier Franz Apell.

3. Stadtentwicklung Eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung Erfurts zur Industriegroßstadt bildete die räumliche Ausdehnung nach der Aufhebung der Festungsfunktion 1873. Die militärischen Einschränkungen mit gewaltigen Bastionen und Wassergräben rund um die heutige Altstadt hatten diese bisher erheblich gehemmt: „Der äußeren Ausbreitung der Stadt stand das Rayongesetz im Wege“, es fehlte an Baugelände für die Industrie, das Eisenbahnnetz konnte sich nicht 67 Rassloff, Erfurter Bürgertum (wie Anm. 5), S. 68. 68 Vgl. Hahn, Sebastian Lucius (wie Anm. 20). 69 Schätzung um 1910. Gutsche, Die Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur (wie Anm. 43), S. 354 f.

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entfalten, es war nicht genug Wohnraum vorhanden und es herrschte kein förderliches Investitionsklima.70 Mit dem Ankauf des Militärgeländes durch die Stadt 1878 und der nahezu vollständigen Beseitigung der Fortifikationen wurde eine umfassende Erweiterung möglich. Nun entstanden in rasantem Tempo im Norden und Osten große Industrieareale und Arbeiterwohnsiedlungen, im Süden und Südwesten Viertel der bürgerlichen Oberschicht. Aus der konzentrischen Anlage dieses „Gründerzeitgürtels“ ragt die Ausdehnung nach Norden heraus. Hier wuchsen die neuen Viertel entlang der heutigen Magdeburger Allee mit dem 1911 eingemeindeten Ilversgehofen zur Industrievorstadt Erfurt-Nord zusammen. Gleichzeitig erfuhr die Infrastruktur eine epochale Modernisierung. Im Zuge der Entfestigung wurde das jahrhundertealte Hochwasserproblem gelöst.71 Für den Ausbau des äußeren Befestigungsgrabens als Umflutgraben und die Anlage einer breiten Ringstraße (Juri-Gagarin-Ring) setzte sich besonders der verdienstvolle Oberbürgermeister und „Vater des modernen Erfurt“ Richard Breslau ein.72 Von 1890 bis 1899 schuf man dieses mit seinen 14 Brücken, drei Wehranlagen und Kanalsystemen größte Vorhaben seiner Art in Thüringen. Es legte zugleich die Grundlagen einer modernen Verkehrsinfrastruktur. Auf den Resten der Stadtbefestigung schuf man Grünanlagen, etwa den Stadtpark auf der Daberstedter Schanze (1908). Die vier Friedhöfe der Innenstadt wurden geschlossen und 1876 der Südfriedhof sowie 1916 der Hauptfriedhof eröffnet. 1882 nahm das neue Städtische Krankenhaus in der Nordhäuser Straße seinen Betrieb auf. Die Trinkwasserversorgung wurde durch eine Zentralwasserleitung (1876) qualitativ gehoben sowie die Kanalisation (1876) eingeführt. Im Bildungswesen verbesserten sich die Verhältnisse durch zahlreiche Schulneubauten. Die Elektrifizierung der Stadt hatte 1887 begonnen und machte nach dem Bau eines Elektrizitätswerkes (1901) rasche Fortschritte. Modernisierend wirkte auch die Installation des ersten thüringischen Telefon-Ortsnetzes ab 1883.73 Die sozialen Trennlinien wurden nun in der wachsenden Großstadt räumlich sichtbar.74 Vor der Entfestigung 1873 wohnten die „gutbürgerlichen“ Schichten meist in den Hauptstraßen in repräsentativen Bauten, Kleinbürgertum und Arbeiterschaft in den Nebenstraßen. Selbst in einzelnen Wohnhäusern gab es soziale Abstufungen, etwa die Beletage. Seit den 1880er Jahren entstanden nun 70 Horn, Erfurts Stadtverfassung (wie Anm. 58), S. 224. 71 Fritz Wiegand, Der Flutgraben – einer der größten Wasserbauten der Stadt Erfurt, in: Aus der Vergangenheit der Stadt Erfurt II/5 (1958), S. 161–165. 72 Rassloff, 100 Denkmale (wie Anm. 34), S. 136 f. 73 Hess, Geschichte Thüringens (wie Anm. 51), S. 117. 74 Eine komplexe Planung gab es noch nicht, doch übte die Stadt durch Baupolizei, Grundstücksverkauf, Festlegung eines Straßenrasters u. Ä. Einfluss aus.

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im Norden und Osten wenig anspruchsvolle Wohnsiedlungen für Arbeiter und Kleinbürger nahe der neuen Industrieareale. Auswüchse menschenunwürdiger Mietskasernen-Architektur konnten dabei immerhin vermieden werden. Anteil hieran hatten sowohl Staat und Kommune als auch das Bürgertum. So wurde der 1898 gegründete „Erfurter Spar- und Bauverein e. G.“ von bürgerlichen Honoratioren getragen.75 In dem von 1898 bis 1912 im „Auengrund“ errichteten Viertel fanden 326 kinderreiche bzw. Arbeiterfamilien ein bezahlbares Zuhause mit sozialer Infrastruktur. Die Stadt hatte billig Bauland zur Verfügung gestellt und Baulasten übernommen.

Abb. 4: Das große Stadtmodell im Stadtmuseum „Haus zum Stockfisch“ zeigt Erfurt kurz vor der Entfestigung 1873, nach der es sich sozial differenziert in alle Himmelsrichtungen ausdehnte. Die Kommune war des Weiteren bemüht, über soziale Einrichtungen das Los der Unterschichten zu mildern. So konnte 1912 die Walderholungsstätte im Steiger übergeben werden. Diese Einrichtung war für Arbeiterkinder gedacht, „bei denen durch schlechte Wohnungsverhältnisse ein Loslösen von der Wohnung für einige Zeit angebracht“ erschien.76 Gleichwohl steckte hinter diesen durch öffentliche und private Fürsorge gemilderten Fassaden genügend soziales Elend.77 1905 wohnten 26.399 Personen, also ein gutes Viertel der Bevölkerung, in selbst nach damaligen Vorstellungen überbelegten Wohnungen. Rund die Hälfte der Arbeiterfamilien lebten laut Statistik in bedrückender Enge unter 75 Neben dem Vorsitzenden Ferdinand Schmidt traten unter anderem der OB Hermann Schmidt, Schuhfabrikant Meier Hess, Gärtnereibesitzer Niels Lund Chrestensen, Bauunternehmer Karl Haddenbrock, Stadtrat Karl Weydemann und Brauereibesitzer Wilhelm Baumann ein. 76 Thüringer Allgemeine Zeitung vom 6. Mai 1927. 77 Rassloff, Erfurter Bürgertum (wie Anm. 5), S. 73 f.

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ärmlichen Verhältnissen, aber auch der anderen Hälfte dürfte es bis auf wenige Ausnahmen nur unwesentlich bessergegangen sein. Etwa 3.000 junge Arbeiter verfügten als „Schlafgänger“ und „Chambregarnisten“ über keinen eigenen Wohnraum. Etwa 62 % der zwischen 1871 und 1918 neu errichteten Wohnungen verfügten weder über Bad noch WC. Die Stadt versuchte dies durch zwei öffentliche Volksbäder leidlich zu kompensieren. Dennoch mangelte es aufgrund des hohen Mietzinses in Erfurt an bezahlbarem Wohnraum. Das Zusammenleben von fünf und mehr Personen in Ein- und Zweiraumwohnungen mit unzureichenden Sanitärbedingungen gehörte um 1900 zum Alltag. Die Bemühungen der Bauvereine wirkten ebenso wie die Errichtung von Werkswohnungen durch einige Unternehmer wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.78 Die Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft bildeten in Verbindung mit Lebensstandard und Arbeitsbedingungen den Nährboden für den Aufstieg der Sozialdemokratie, die sich neben der politischen Emanzipation der Arbeiter vor allem der sozialen Frage verschrieben hatte. Der bürgerliche Mittelstand verteilte sich sowohl auf die Innenstadt, als auch auf die neuen Viertel in Nord und Ost. Der alte Mittelstand konzentrierte sich traditionell in der Altstadt, wo das Gros der Werkstätten, Geschäfte und Gastronomiebetriebe zu finden war. Mit der Stadterweiterung entstanden auch in den neuen Vierteln entsprechende Einrichtungen, wobei häufig die Altmittelständler selbst als Bauherren bzw. Hauseigentümer auftraten. So verliehen sie ihren Unternehmen mehr Sicherheit und erweiterten – für einige Privatiers sogar alleinige Existenzgrundlage – ihren finanziellen Spielraum. Innerhalb der nordöstlichen Vorstädte gab es wiederum soziale Gefälle, insbesondere trug der Norden in weiten Teilen den Charakter einer Arbeitervorstadt, während der Osten stärker kleinbürgerlich geprägt war. Die Errichtung standes- bzw. berufsbezogener Wohnsiedlungen begann zwar erst in den 1920er Jahren in großem Stil, hatte aber mit einer Eisenbahnersiedlung in Daberstedt 1891 zukunftsweisende Anfänge genommen.79 Das Großbürgertum siedelte sich dagegen vor allem in den südwestlichen Ebenen an. Vor 1873 hatte sich das früher als Gartenbereich genutzte Brühl zwischen innerem und äußerem Mauerring zur bevorzugten Wohngegend mit ersten Villen entwickelt und verschmolz danach mit den neuen Arealen der Löber und Brühler Flur zum „bürgerlichen Südwesten“. Hier entstanden zwischen Altstadt und Steigerrand bzw. Cyriaksburg großzügige, mit viel Grün auf78 So errichteten in Fabriknähe der Pumpenfabrikant Otto Schwade 1897 am Grenzweg (Häßlerstraße) und die Schuhfabrikanten Hess ab 1921 in der Radowitzstraße (Iderhoffstraße) Werkswohnungen. 79 „Erste Erfurter Baugenossenschaft für Arbeiter und niedere Beamte“ der preußischen Bahn (1891).

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gelockerte Quartiere. Für diese Entwicklung spielten die angenehmere Lage, klimatische Bedingungen und topographisch-verkehrstechnische Gründe eine Rolle. Damit korrespondierend entstanden im Süden als städtebauliche Kernpunkte von der bürgerlichen Oberschicht genutzte Einrichtungen, wie das neue Gymnasium (1896), aber auch repräsentative Verwaltungsbauten, etwa der Thuringia-Komplex (1900). Hier lag auch bei der Gestaltung von Grünanlagen und Parks der Schwerpunkt.80 In Erfurts „Millionärsviertel“ wohnten Großhändler, Fabrikbesitzer, Bauunternehmer und Bankiers. Ihnen standen vereinzelte hohe Beamte und Offiziere, Freiberufler sowie städtische Amtsträger zur Seite. Für die finanzkräftigsten Wirtschafts- und Besitzbürger wurde eine Reihe prächtiger parkumsäumter Villen errichtet.81 Diese waren nicht nur Wohnstätten, sie waren Statussymbol großbürgerlichen Selbstgefühls. Für diesen Repräsentationsgeist in seiner meist historistischen Ausprägung steht als eine der markantesten Villen die des Hofphotographen und Unternehmers Karl Festge in der Cyriakstraße.82 Mit ihrem hellen Sandstein, den zahlreichen Säulen und ornamentalen Verzierungen, bekrönt von einem hohen Kuppelbau sowie in einen großen Park am Hang der Cyriaksburg eingebettet, wirkt die Festge-Villa wie ein herrschaftlicher Schlossbau. Im Südwesten entstanden aber auch komfortable Mehrfamilienhäuser für Lehrer, Rechtsanwälte, Ärzte, für höhere Beamte und Angestellte, für solide Handwerksmeister und Einzelhändler. Die eher seltene Ausnahme bildete die Ansiedlung von Groß- und gehobenen Mittelbürgern im Norden und Osten oder der Typ der Unternehmer-Villa auf dem Betriebsgelände.83

4. Fazit Erfurt entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer relativ unbedeutenden Mittelstadt zu einer pulsierenden Industriegroßstadt, womit es seine alte Rolle als Metropole Thüringens erneuerte. Auf dem Höhepunkt der Hochindustrialisierung um 1900 besaß es eine ausgewogene, moderne Wirtschaftsstruktur mit der Metall- und Bekleidungsindustrie an der Spitze. Einige Unternehmen brachten es zu nationalen Führungspositionen oder gar zu Welt80 Allerdings beschränkte sich die Grüngestaltung nicht auf den Süden. So zog man den Grüngürtel entlang des Flutgrabens bis zum Talknoten. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurde auch der Nordpark konzipiert. Baumann/Rassloff, Blumenstadt (wie Anm. 31), S. 223–270. 81 Vgl. Menzel, Villen in Erfurt (wie Anm. 27). 82 Rassloff, Bürgerkrieg und Goldene Zwanziger (wie Anm. 23), S. 18. 83 Unternehmer-Villen gab es bei der Nudelfabrik North in der Roonstraße (Liebknechtstraße), der Schuhfabrik Hess in der Moltkestraße (Thälmannstraße) und den Gärtnereien Benary im Brühl und Heinemann in der Hügelgasse (Am Hügel).

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ruf, wie der Schuhkonzern Lingel und der Maschinenbaukonzern Pels, aber auch die großen Gartenbauunternehmen der „Blumenstadt“. Dies sicherte zugleich einem weiterhin breiten Mittelstand neue Entwicklungschancen. Ergebnis dieser Entwicklung war auch eine extreme soziale Ausdifferenzierung der Bevölkerung, die Wilhelm Horn zwei Jahre vor Überschreiten der 100.000-Einwohner-Grenze 1906 eindringlich charakterisiert hat: Durch die dauernde Zuwanderung proletarischer Volksmassen auf der einen Seite und andererseits durch die schnelle Bereicherung städtischer Grundbesitzer, die Niederlassung wohlhabender Kaufleute und Unternehmer, sowie endlich durch das Aufkommen einer industriellen Rentnerklasse ist im Verlaufe der modernen Großstadtentwicklung die Kluft zwischen Arm und Reich immer tiefer geworden.84

Arbeiterschaft und Bürgertum bildeten lebensweltlich fest verankerte Milieus aus. Diese verlängerten sich in den politischen Raum, wo sich die Arbeiterpartei SPD und die liberal-konservativen Bürgerparteien gegenüberstanden. Die Spannungen zwischen beiden Bevölkerungsgruppen sollten sich nach dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution 1918 mehrfach bürgerkriegsähnlich entladen. Dies trug in der Weimarer Republik zum Aufstieg des Nationalsozialismus bei.85 Eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung zur dominierenden Industriegroßstadt Thüringens war die Etablierung als Eisenbahnknoten seit 1847. Trotz der Verlagerung großer Teile des Verkehrs auf die Straße hat sich auch an dieser Grunddisposition nichts geändert. Vielmehr konnte die Stadt durch die Inbetriebnahme der ICE-Schnellstrecke Berlin-Erfurt-München 2017 als europäische Verkehrsdrehscheibe weiter an Bedeutung gewinnen.86 Die Industrialisierung war von einer dynamischen Stadtentwicklung begleitet, die Erfurt bis heute prägt. Neben der Modernisierung der Infrastruktur breitete sich die Stadt nach der Entfestigung 1873 rasant aus. Dies geschah unter klarer sozialer Ausdifferenzierung. Im Norden und Osten entstanden einfache Vorstädte für Arbeiter und Kleinbürger sowie große Industrieareale, während sich im Süden und Westen die „besseren Viertel“ des Bürgertums etablierten. Erfurt steht damit paradigmatisch für viele expandierende Industriegroßstädte.87 Nach einer gewissen Durchmischung in der DDR-Zeit hat sich das soziale Südwest-Nordost-Gefälle nach 1990 wieder weitgehend reproduziert. Jüngere sozialwissenschaftliche Studien bescheinigen Erfurt mit seinen 215.000 Ein-

84 Horn, Erfurts Stadtverfassung (wie Anm. 58), S. 237. 85 Vgl. Rassloff, Erfurter Bürgertum (wie Anm. 5). 86 Steffen Rassloff, Zwischen Via regia und ICE-Drehkreuz, in: Thüringer Allgemeine vom 9. Dezember 2017, S. 16. 87 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 142.

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wohnern sogar einen der höchsten Segregationsgrade deutscher Großstädte,88 wenngleich städtebauliche Bemühungen in der wachsenden Stadt und die Vorbereitungen auf die Bundesgartenschau 2021 den Norden attraktiver machen. Das Erbe der Industriekultur ist dagegen im Zuge der Deindustrialisierung nach der deutschen Einheit 1990 weitgehend aus dem Stadtbild verschwunden. Nach 1945 hatte sich die Erfurter Wirtschaftsstruktur nur geringfügig verändert. Zwar brachten Enteignungen und Planwirtschaft eine tiefe Zäsur, die dominierenden Industriezweige blieben aber erhalten und spielten in der DDR-Wirtschaft eine wichtige Rolle. Aus Lingel wurde das VEB Schuhkombinat „Paul Schäfer“, aus Pels das VEB Kombinat Umformtechnik, im Brühl stellte man „Optima“-Schreibmaschinen her und das Funkwerk stieg zum Kombinat Mikroelektronik Erfurt auf. Nach 1990 kam jedoch für den Großteil der Industrie das Aus. Ganze Branchen wie die Schuh- und Schreibmaschinenproduktion verschwanden völlig. Andere Bereiche blieben mit erheblich weniger Mitarbeitern im Kern erhalten wie Umformtechnik als Teil eines südwestdeutschen Konzerns. Städtebaulicher Ausdruck dessen ist der Abriss ganzer Industrieviertel, wie des großen Lingel-/ Paul Schäfer-Komplexes und des Gewehrfabrik-/Optima-Komplexes. Andere markante Industriebauten sehen einer unsicheren Zukunft entgegen. Einige positive Ansätze, wie das Kreativzentrum „Zughafen“ im ehemaligen Güterbahnhof und das kulturell genutzte Heizwerk im Brühl, machen jedoch Hoffnung für die Zukunft. Die traditionsreiche Dom-, Luther- und Blumenstadt Erfurt sollte auch die Epoche als Industriegroßstadt über die Dauerausstellung im Stadtmuseum „Haus zum Stockfisch“ hinaus als Teil des kulturhistorischen Erbes pflegen.89

88 Marcel Helbig/Stefanie Jähnen, Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten, Discussion Paper P 2018–001, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2018 (https://bibliothek. wzb.eu/pdf/2018/p18-001.pdf). Erfurt landet bei verschiedenen Kriterien des Segregationsindexes auf Rang vier bzw. fünf von 74 untersuchten deutschen Großstädten. 89 Das Museum präsentiert die Entwicklung zur Industriegroßstadt und bietet einen Überblick über die wichtigsten Wirtschaftszweige mit umfangreichen Sammlungen von Handfeuerwaffen, Schreibmaschinen, Schuhen usw.

Ronny Schwalbe

Die Chancen einer prosperierenden Stadt in der Industrialisierung Wie Carl Louis Hirsch vom Handwerksgesellen zu einem der größten Unternehmer Geras avancierte

1. Die Industrialisierung Geras Ohrenbetäubender Lärm in den Fabriksälen, rauchende Schornsteine über den Dächern der Stadt und hektische Betriebsamkeit bei Schichtwechsel auf den Straßen. So, oder so ähnlich lässt sich eine pulsierende Industriestadt charakterisieren, die im Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts angekommen war und den Schwung ihrer Zeit zu nutzen wusste. Gera war eine dieser Städte. Sie lag in einer der bedeutendsten Wirtschaftsregionen, die „insbesondere in der Montanindustrie, der Optik-Mechanik, im Maschinenbau, in der Rüstungsproduktion, der Glas- und Keramikherstellung sowie der Textil- und Schuhbranche“1 ihre größten Kräfte besaß. Thüringen zählte neben Sachsen, dem Rheinland und Westfalen zu den vier industriellen Zentren Deutschlands im 19. Jahrhundert.2 Die zum Fürstentum Reuß j. L. gehörende Stadt Gera wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich durch die Textilindustrie, den Maschinenbau sowie eine große Vielfalt an produzierendem Gewerbe geprägt. Hierzu zählten unter anderem der Musikinstrumentenbau,3 die Lederfabrikation, die Porzellanherstellung,4 die Baustoff- und Lebensmittelindustrie sowie der Buchdruck. 1 Horst Moritz, Thüringen im 19. Jahrhundert. Von der Agrar- zur Industriegesellschaft, Teil 2, 1871–1918, Erfurt 2012, S. 51. 2 Vgl. u. a. Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866–1914, Weimar 1991, S. 95; Falk Burkhardt, Grundzüge ostthüringischer Wirtschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Werner Greiling/Hagen Rüster (Hg.), Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum?, Jena 2013, S. 195. 3 Vgl. Yvonn Hempel/Rainer Schmidt, Von Orgeln, Harmonikas und Geigen. Die Tradition des Musikinstrumentenbaus in Gera, Rudolstadt/Jena 2001. 4 Christina Bitzke, Zur Geschichte des Geraer Porzellans, in: Porzellan für jedermann, hg. v. Museum für angewandte Kunst, Gera 1996.

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Aber vor allem durch die Herstellung, Zurüstung und Veredlung von Textilprodukten war die Stadt bekannt geworden. „Von den im Jahr 1913 in 770 Fabriken und gewerblichen Einrichtungen beschäftigten 19.109 Arbeitern waren allein 9.731 in der Textilbranche tätig.“5 So arbeitete fast jeder fünfte Geraer Einwohner in jenen Tagen in der Textilindustrie. Kammgarnwebereien und -spinnereien, Strickgarn- und Teppichfabriken, Färbereien und Appreturanstalten sowie Wollwarengroßhandlungen beschäftigten mehr als die Hälfte der Geraer Fabrikarbeiter. 1908 lassen sich im Industrieraum Gera 263 Firmen mit 36.005 Maschinenwebstühlen nachweisen, wovon allein 36 Firmen mit über 9.000 mechanischen Webstühlen im Stadtgebiet von Gera zu finden waren.6 Das Tackern und Klappern verbreitete in der Stadt und besonders auf den Fabrikgeländen einen ohrenbetäubenden Lärm, der den Pulsschlag der Stadt bildete. Zu den größten Geraer Textilfirmen gehörten die Kammwollspinnerei Morand & Co.,7 die Kammwollweberei Ernst Friedrich Weißpflog, die Wollwarenfabrik Ernst Weber, die mechanische Kammwollwebereien Heinrich Bruhm & Wilhelm Naegler und Wilhelm Focke & Arno Luboldt, die Wollwebereien Alfred Münch, Ueltzen & Völsch, Lummer, Bach & Ramminger, die Woll- und Seidenweberei Schulenburg & Bessler sowie die Strickgarnfabrik Friedrich Feistkorn. Diese Fabrikanten sowie weitere Industrielle und Gesellschafter des Gera-Greizer Gebietes gründeten 1890 zudem die Gera-Greizer Kammgarnspinnerei-AG als eines der größten Unternehmen für die Herstellung von Kammgarnspinnereierzeugnissen, verbunden mit einer Wollkämmerei.8 1897 zählte das Geraer Adressbuch9 52 Textilunternehmen, zu denen auch Veredelungsbetriebe gehörten. Noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war es üblich, wenn auch nicht gestattet, dass Spinner- und Webereien die Veredelung ihrer Produkte, besonders in Bezug auf die Färbung, selbst ausführten. Erst im später spezialisierten Verfahren wurden eigens hierfür Unternehmen zur Veredelung und Weiterverarbeitung der Zeugwaren beauftragt. Zu den bedeutendsten zähl-

5 Ute Heckmann, Rauchende Schornsteine. Gera als prosperierende Industriestadt, in: Dies. (Hg.), Stromauf. Das moderne Gera zwischen 1900 und 1930, Gera 2005, S. 41. 6 Reyk Seela, Die Industrie- und Handelskammer Ostthüringen zu Gera 1849–1999, Festschrift zur 150-jährigen Kammergeschichte, Gera 1999, S. 91. 7 Sie wurde bereits 1804 von Jakob Anton Morand und Daniel Gottfried Naumann für den Vertrieb von Zeugwaren gegründet und wurde ab 1810 von Morand und Johann Christian Ferber weitergeführt. 1833 nahmen sie die erste Geraer Dampfmaschine in Betrieb. Das Unternehmen zählte 1850 bereits 130 Arbeitskräfte und wuchs bis zur Jahrhundertwende auf 1.072 Beschäftigte an. 8 Vgl. Ernst-Paul Kretschmer, 50 Jahre Gera-Greizer Kammgarnspinnerei mit kulturgeschichtlichen Beiträgen zur Entwicklung der Geraer Textilindustrie, Gera 1940. 9 Adreß- und Geschäfts-Handbuch der Haupt- und Residenzstadt Gera mit den Orten Debschwitz, Pforten und Untermhaus, Gera 1897.

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ten die Färberei und Appreturanstalt Louis Hirsch sowie die Färberei Gebrüder Schlott.10 Vergleicht man nun die Beschäftigtenzahlen und setzt diese mit den Betriebsgrößen in Beziehung, so fällt auf, dass 1895 im Fürstentum Reuß j. L. 39,7 % der Arbeiter in 25 Betrieben mit über 200 Beschäftigen tätig waren. Für das Fürstentum Reuß ä. L., das mit Gera und Greiz eine Textilregion darstellte, arbeiteten in 14 Betrieben 32,8 % der dortigen Arbeiter. In den thüringischen Staaten gesamt waren es 99 Betriebe bei lediglich nur 13,7 % aller gewerblichen Arbeiter.11 Transferiert man diese statistischen Zahlen des Jahres 1895 nun auf Gera, dann verdeutlicht sich die Bedeutung des Textilsektors nochmals. Es existierten vier Kammgarnspinnereien, 63 Mechanische Webereien, zehn Färberei- und Appreturanstalten sowie zahlreiche weitere Textilfertigungsbetriebe mit 160 Dampfkesseln, mehr als 10.200 Maschinenwebstühlen und 12.979 Arbeitern bei einer Einwohnerzahl von 43.544. Die drei größten Unternehmen stammten 1890 alle aus dem Textilsektor. Es waren die Mechanische Weberei Ernst Fr. Weißflog mit 880 Beschäftigten, die Mechanische Weberei, Färberei- und Appreturanstalt Morand & Co. mit 900 Beschäftigten und die Färberei und Appreturanstalt Louis Hirsch mit 1.000 Beschäftigten.12 Ein ähnliches Bild lässt sich auch für den Maschinenbausektor darstellen.13 Denn bedingt durch den wachsenden Maschinenbedarf im Textil- und Textilveredelungsgewerbe entstand der zweite große Industriezweig, der hochwertige Spezialmaschinen und Werkzeuge produzierte.14 Für eine Vielzahl von Firmen und Unternehmern sollen hier stellvertretend zwei genannt werden. Moritz Jahr (1816–1899), der Sohn eines Geraer Zeugmachermeisters, erkannte, dass der „textilen Ausrüstung vor Ort vor allem damit geholfen werden müsse,

10 Am 25. Januar 1868 wurde die Firma „Gebrüder Schlott“ mit deren Inhaber, dem Kaufmann Karl Rudolf Schlott, und dem Färber Hermann Gustav Schlott ins Handelsregister eingetragen. Vgl. Amts- und Verordnungsblatt für das Fürstenthum Reuß Jüngerer Linie auf das Jahr 1868, Gera 1868, S. 34. 11 Ulrich Hess, Geschichte der Behördenorganisation der thüringischen Staaten und des Landes Thüringen von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Jahre 1952, Jena/Stuttgart 1993, S. 99. 12 Vgl. alle statistischen Angaben zu Gera in Ute Heckmann, Der Siegeszug der Maschine. Zu Voraussetzungen und Verlauf der Industrialisierung im 19. Jahrhundert in Gera, in: Geraer Hefte (2003) 1, S. 110 f. 13 Ein einleitender Überblick findet sich in dies., „Da in hiesiger Stadt eine Menge von Fabriken bestehen, welche Maschinen aller Art bedürfen …“. 170 Jahre Maschinenbau in Gera, in: Geraer Hefte (2011) 3, S. 37–48. 14 Vgl. dies., Rauchende Schornsteine (wie Anm. 5), S. 41; Wolfgang Mühlfriedel, Die Industrialisierung in Thüringen. Grundzüge der gewerblichen Entwicklung in Thüringen von 1800 bis 1945, Erfurt 2001, S. 99.

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daß sie mit Maschinen bessere Ausrüstung erziele“.15 Der gelernte Buchdrucker und Uhrmacher erhielt 1841 die Konzession zur Errichtung einer Maschinenbauanstalt und konstruierte „anfänglich vornehmlich Appreturmaschinen und suchte den Bezug ausländischer Maschinen, wie sie in Berlin, Aachen, Verviers, Lüttich und Paris importiert werden, durch eigene verbesserte Konstruktionen zu ersetzen“.16 In einer eigenen Eisengießerei setzte er seine Konstruktionen um und produzierte zugleich für weitere Bereiche, wie zum Beispiel den Musikinstrumentenbau. Den Höhepunkt der Produktion erreichte die Eisengießerei „Moritz Jahr AG“ durch den Bau von Dampfkesseln und Dampfmaschinen sowie Färberei- und Appreturarmaturen. Zum Großbetrieb mit teilweise über 1.000 Arbeitern avancierte auch die Firma Wesselmann-Bohrer A.G., die Werkzeuge und Spiralbohrer für die Bearbeitung von Holz, Aluminium, Messing, Hartgummi und Marmor in höchster Präzision herstellte. Sie galt neben einer weiteren US-Firma als weltweit größter Hersteller solcher Bohrwerkzeuge17 und fügt sich damit in die oben dargestellte Statistik ein. Was aber waren die Voraussetzungen für diesen Industrialisierungsprozess? Zunächst muss festgehalten werden, dass die Entwicklung auf den seit vielen Generationen ansässigen, hausindustriell betriebenen Kammwollwebereien beruhte.18 Schon im späten Mittelalter waren die Geraer Tuchmacher mit ihren Produkten auf den Naumburger und Leipziger Messen vertreten. So konnten während einer einzigen Messe über 300 Tuchballen mit einem Umfang von 30 bis 80 Ellen getauscht oder veräußert werden.19 An diesem Erfolg beteiligt, waren zumeist die infolge der im 16. Jahrhundert stattfindenden Protestantenverfolgung aus den Niederlanden kommenden Kaufleute, Weber und Färber. Unter ihnen war auch Nikolaus de Smit, der sich 1595 in Gera niederließ. Seine Überlegungen zu innovativen Produktionstechniken von Geweben und Färbereimethoden machten die Geraer Waren schnell zum begehrten Produkt.20 Nikolaus de Smit gilt durch seine frühindustriellen Produktionsmethoden im Verlagswesen als Begründer der Geraer Textilindustrie. So konnten sich auf der 15 Walter Jahr/Hedwig Overhoff (Hg.), Moritz Jahr. Erinnerungen aus seinem Leben, Gera 1941, zit. nach: Stadtarchiv (StA) Gera, III F02 – 017: Ernst Paul Kretschmer, Industriegeschichte der Stadt Gera (maschinenschriftliches Manuskript), o. O., o J. [1940], Geras Metallindustrie, S. 1. 16 Ebd., S. 2. 17 Vgl. Heckmann, Rauchende Schornsteine (wie Anm. 5), S. 45. 18 Einen grundlegenden Überblick zur Geraer Textilgeschichte liefert Ernst Paul Kretschmer, 50 Jahre Gera-Greizer Kammgarnspinnerei (wie Anm. 8), S. 1–78. 19 StA Gera, III F02 – 017, Kretschmer, Industriegeschichte (wie Anm. 15), Tuchmacher, S. 13 f. 20 Vgl. Adelheid Schleitz, Aus der Textilgeschichte der Stadt Gera, Erfurt 1999, S. 4.

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Basis von Heimarbeit früh auch Manufakturen mit großgewerblichen Tendenzen entwickeln. Diese wurden, nach einer Phase der Rezession im späten 18. Jahrhundert, ausgelöst durch die englischen Produktionsvorteile, weiter beflügelt. Denn 1811 nahm in Gera der erste mechanische Webstuhl seine Produktion auf. Zwei Jahre zuvor hatte der Geraer Kaufmann Johann Christoph Münch die fürstliche Landesregierung um die „Anlegung einer Maschinenspinnerey“ ersucht, welche auch von den Landesherren 21 persönlich bewilligt wurde. Damit bewies der regierende Fürst ausreichendes Geschick und Gespür für die wirtschaftliche Prosperität des Landes und zeigte sich darüber hinaus auch bei der steuerlichen Belastung für Neuansiedelungen sehr flexibel. Münch erhielt vier Jahre in Folge eine Befreiung von allen Abgaben.22 So nahm die Einführung neuer Maschinentechnik in hohem Maße zu. Die Steuernachlässe und fortan auch die staatlich verordneten Baugelder zum Bau von Maschinenspinnereien nutzten auch Jacob Anton Morand und Johann Christoph Ferber. Beide stehen in der Geraer Wirtschaftsgeschichte für den ersten Einsatz einer Dampfmaschine zum Antrieb ihrer Spinnmaschinen. Sie war 1833 zugleich die erste in der Thüringer Textilindustrie und legte den Grundstein für die weitere Prosperität der Stadt. Mitte der 1850er Jahre konnten in der Stadt elf Kammwollfabriken, zwei Wollspinnereien und -kämmereien, zwei Baumwollfabriken und zwölf Textilveredelungsfirmen gezählt werden.23 Auch die Textilveredelung hatte am Standort Gera eine lange Tradition. 1616 errichtete Balduin Conrad aus Neuß bei Köln die erste privilegierte Schönfärberei. Das Grundstück, eine alte Schmelzhütte, kaufte er 1606 für 1.064 fl., 5 gr. und 9 pf.24 Weitere bekannte Färber im 17. Jahrhundert waren Stockelmann und Fehre. Auch Nikolaus de Smit und sein Sohn Antoine betrieben in Gera eine Schönfärberei. Zu diesen günstigen Bedingungen bis ins beginnende 19. Jahrhundert kamen weitere positive Standortfaktoren: die Existenz eines Binnenmarktes unter anderem durch die enge Beziehung im Gera-Greizer Gebiet sowie die Nähe zum Königreich Sachsen; dazu kamen die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen wie Wolle und anderer zur Produktion benötigter Rohstoffe; gute Bedingungen 21 Mit Heinrich XXX. (1727–1802), der kinderlos verstarb, erlosch am 26. April 1802 Reuß jüngerer Linie zu Gera im Mannesstamm. Die Grafschaft wurde zunächst aufgeteilt, sodass Reuß-Schleiz die Hälfte und Reuß-Ebersdorf und Reuß-Lobenstein je ein Viertel erhielten. 1811 regierten gemeinschaftlich Fürst Heinrich XLII. (1752–1818) Reuß zu Schleiz, Fürst Heinrich LI. (1761–1822) Reuß zu Ebersdorf und Fürst Heinrich LIV. (1767–1824) Reuß zu Lobenstein(-Selbitz), obgleich die Schleizer Linie formal die Regierung führte. 1848 konnte der aus der Schleizer Linie stammende Heinrich LXII. alle Landesteile der jüngeren Linie vereinigen. 22 Seela, Die Industrie- und Handelskammer Ostthüringen (wie Anm. 9), S. 34 f. 23 Ute Heckmann/Matthias Wagner, Von 1914 bis heute, Gera 2010, S. 82. 24 Kretschmer, 50 Jahre Gera-Greizer Kammgarnspinnerei (wie Anm. 8), S. 45.

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für die Ansiedlung weiterverarbeitender Unternehmen und deren Arbeitskräfte; eine gute Infrastruktur durch Wasserläufe und später der Bau von Eisenbahnlinien sowie die gesetzlichen Rahmenbedingungen durch landesherrliche Erlasse oder den am 11. Mai 1833 erfolgten Beitritt zum „Deutschen Zollverein“. Neben all diesen Faktoren brauchte es aber die Menschen, die durch ihren unternehmerischen Geist, das handwerklich-fachliche Wissen und den Mut die günstigen Standortvorteile zu nutzen wussten.

2. Carl Louis Hirsch und sein Unternehmen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Carl Louis Hirsch war einer von ihnen. Er griff die Bedingungen als spezialisierter Weiterverarbeiter im Gefüge des Binnenmarktes auf, was seiner Firma später den Ruf der größten und modernsten Färberei und Appreturanstalt Deutschlands einbringen sollte.25 Er war es, der 1837 den Grundstein des späteren Hirschschen Firmenimperiums legte.26 25 Vgl. Seela, Die Industrie- und Handelskammer Ostthüringen (wie Anm. 9), S. 43. 26 Sein einziger Sohn Georg Hirsch musste, obgleich er noch nicht volljährig war, 1880 nach dem Tod des Vaters in dessen Fußstapfen treten, führte ab 1887 den Betrieb eigenverantwortlich weiter und hielt ihn produktionstechnisch auf der Höhe der Zeit. Eine Stoffdruckerei, Wollstückfärberei und Spezialseidenfärberei wurden im Laufe der Jahre ergänzt. Darüber hinaus konnte Georg Hirsch mit dem Kohleabbau im Meuselwitzer Revier sowie in Böhmen, Kroatien und Ungarn weitere Geschäftsfelder bedienen, denn die Vorkommen reichten aus, um auch andere Fabriken unter anderem in Gera zu beliefern. Auch im Maschinenbau wurde er tätig, gründete die Maschinenbaufirma Wesselmann-Bohrer-Co.-A. G in Gera und übernahm die brach liegende Werkzeugfabrik Ernst Ullmann & Co. Mit der Geraer Verlagsanstalt und der Druckerei Karl Basch & Co. erweiterte er in Gera sein wirtschaftliches Profil. Auch die überseeischen Märkte wurden bedient. Mit der Botany Worsted Mills in Passaic (New Jersey, USA) legte Georg Hirsch gemeinsam mit der Leipziger Kammgarnspinnerei Stöhr & Co. und der Greizer Weberei Friedrich Arnold den Grundstein zu einem der größten Textilunternehmen jenseits des Atlantiks. Die Elly Coal Company A.G. in Illinois sollte den Rohstoffabbau genauso in Blick nehmen, wie die Bergbauaktivitäten an der Westküste Sumatras. Ebenso besaß er in Niederländisch Indien Plantagenbetriebe für den Anbau von Kautschuk, Tee und Öl. Kautschuk und Baumwolle wurden auch in Deutsch-Ostafrika ein Standbein seiner ausländischen Wirtschaftsunternehmungen. Für den Absatz seiner Kautschukprodukte erwarb er in München die Metzeler-Gummiwerke A.G. Auch der heimischen Wirtschaft war er nicht nur wegen der enormen Firmenvergrößerungen verbunden. Die angeschlagene Gera-Meuselwitz-Wuitzer Eisenbahn A.G. erwarb er kurz vor deren wirtschaftlichem Zusammenbruch und sanierte sie. Ebenso schloss er sich mit weiteren Unternehmern und Kaufleuten zusammen und gründete 1890 die für Gera bedeutende Gera-Greizer-Kammgarnspinnerei. Vgl. zu allen wirtschaftlichen Betätigungsfeldern Georg Hirschs Ronny Schwalbe, Von einer reußischen Stückfärberei zum Global Player.

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Carl Louis Hirsch wurde am 15. Oktober 1814 in Gera als Sohn des Johann Heinrich Gottlob Hirsch (geb. 1761) geboren. Dessen Vorfahren standen mit Johann Hirsch († 1768) und Johann Gottlieb Hirsch (1732–1813) im Dienst der reußischen Landesherren und wohnten im heutigen Geraer Stadtteil Untermhaus. Über die ersten Lebensjahre von Carl Louis Hirsch können nur wenige gesicherte Aussagen getroffen werden. Bekannt ist, dass er in Gera das Färberhandwerk erlernt und am 3. September 1837 als Färbermeister eine eigene Wollstückfärberei eröffnet hat.27 Die Schön- und Schwarzfärber waren in Gera seit dem 6. August 1756 durch Heinrich XXX. mit eigenen Innungsartikeln ausgestattet worden, die bis ins 19. Jahrhundert Bestand hatten. Darin wurde der Stand der Färber in seinen Verrichtungen genau von anderen textilverarbeitenden Innungen, wie die der Leineweber und Tuchscherer, getrennt, weil auch die dem ganzen Heil. Römischen Reich, denen Schwarz- und Schön-Färbern verstattet wird, daß Sie allerhand Waaren, als Samt, Seiden, Damast, Cstoff, Paß halb Seidenes, Baumwollenes, Cameelhaarnes, halb Wollenes, Strümpfe, Leinwand, Felle, Federn, Stroh und dergleichen mehr färben, auch Roß- und Waißer-Mandeln, ingleichen kalte und warme Pressen aufrichten und führen dürfen; So wollen Hoch Gräfl. Gnädigste Landes-Herrschaft, auch die allhiesige Zunft derer Schwarz- und Schön-Färber damit begnadigen, und sie bey der in diesem Articel beschriebenen Handthierung jedesmal wieder alle Stöhrer kräftigst schützen.28

In dieser Zunftordnung wurde nun auch detailliert geregelt, wie ein Lehrling den Gesellenstand zu erreichen hatte. Er musste zunächst ein vierzehntägiges Probearbeiten beim künftigen Lehrmeister absolvieren. War man sich anschließend über die Lehre einig, hatte der Lehrmeister bei offener Innungslade Fünf und Zwanzig Gulden Caution auch durch einen oder Zwey angeseßene Männer bestellen und dieserhalb einen Gerichtlichen Bürg-Schein in die Lade legen, ferner soll derselbe Sechs Gulden Meißni. Aufdinge-Geld bezahlen, als Zwey Gulden, Hoch Gräfl. gnädigster Landes-Herrschaft, Einen Gulden 7 Gr. dem allhiesigen Stadt-Rathe, Einen Gulden 7 Gr. dem Zucht- und Waisen-Hauß, und Einen Gulden 7 Gr. der Handwerks-Lade.

Beizubringen war für ein „hiesiges Stadt-Kind“ zudem ein glaubwürdiges Taufzeugnis. Einen „förmlichen Geburths-Brief, [worin er] seine eheliche Geburth und Herkommen dem Handwerck darthun“ kann, war für auswärtige LehranKommerzienrat Dr. h. c. Georg Hirsch als Fallbeispiel der Industrialisierung in Ostthüringen, in: Stefan Gerber/Werner Greiling/Marco Swiniartzki (Hg.), Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegung in Thüringen, Köln/Weimar/Wien 2018, S. 111–129. 27 Vgl. u. a. 100jähr. Geschäftsjubiläum der Firma Louis Hirsch G.m.b.H. Gera und 50jähr. Geschäftsjubiläum von Herrn Kommerzienrat Dr. Georg Hirsch am 3. und 4. September 1937, Sonderdruck aus der Geraer Zeitung 1937, S. 4. 28 StA Gera, III B 19350, Innungsartikel (1804), darin: Schön- und Schwarzfärber, S. 251 f.

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wärter beizubringen. Der Lehrmeister hatte nun die Pflicht, das Handwerk drei Jahre zu unterweisen. Nach dieser Zeit hatte sich der Lehrjunge mit dem Handwerksmeister erneut vor offener Lade zu melden. Dabei hatte der Meister anzuzeigen, wie sich der Lehrling verhalten hatte. War nichts einzuwenden, mussten nun zwei Gulden in die Lade gelegt und drei Gulden für die Obermeister zu einer Mahlzeit aufgewendet werden. Alsdann wurde im Beisein des Obermeisters und zweier Gesellen dem Lehrjungen der Gesellenstand zugesprochen und ein ordentlicher Lehrbrief gegen die Gebühr von einem Thaler und sechzehn Groschen ausgestellt. Der Meister selbst konnte nun die folgenden zwei Jahre keinen Lehrjungen aufnehmen. Diese Lehrzeit wird Carl Louis Hirsch in gleichem Maße durchlaufen haben, jedoch bleibt noch zu untersuchen, bei welchem Meister er die drei Jahre absolvierte. Gleiches gilt für die Erlangung der Meisterwürde. Nach der entsprechenden Lehrzeit wurden für „bey hiesiger Lade incorporierter Meisters Kind“ zwei Jahre und bei Fremden drei Jahre Wanderschaft im Handwerk vorausgesetzt. Carl Louis Hirsch wird also für zwei Jahre die Stadt verlassen haben, um in der Fremde auf Wanderschaft sein Handwerk zu vertiefen. Nach dieser Zeit hatte ein Fremder 20 Gulden und ein „Meisters Sohn“ aus der Stadt zehn Gulden bei Anmeldung zur Meisterprüfung beizubringen, wovon je die Hälfte der Landesherrschaft und der Färberlade zustand. Waren die Voraussetzungen erfüllt, so hatte sich der Kandidat beim Obermeister anzumelden und mit einer eigenen oder geliehen „Färbe-Statt“ im Beisein zweier hiesiger Meister zwanzig Ellen Glanz-Leinwand grün, zwanzig Ellen dergleichen schwarz, zwanzig Ellen dergleichen rot, zwanzig Ellen Bougran- oder Steifleinwand weiß, zwanzig Ellen dergleichen braun und zwanzig Ellen dergleichen schwarz zu färben.29 Nach Fertigstellung wurden die gearbeiteten Stücke vor die Lade, das hieß vor alle Mitglieder der Innung, gebracht und in Augenschein genommen. Nach erfolgter praktischer Prüfung hatte der Kandidat sechs Gulden beizubringen, wovon die Landesherrschaft, der Rat, das Zucht- und Waisenhaus, die Innung sowie die Kirche des Orts, bei dem sich der Meister niederließ, ungleiche Teile erhielten. Der Sohn eines Meisters hingegen, oder einer, der eine Witwe oder Tochter eines Meisters heiratete, hatte eine geringere Zahl an Meisterstücken und nur drei Gulden beizubringen. Carl Louis Hirsch nun muss das Meisterrecht kurz vor 1837 erhalten haben und wurde damit einer von im Schnitt acht Färbermeistern in Gera.30 Er wurde am 29 StA Gera, III B 19350, Innungsartikel (1804), darin: Schön- und Schwarzfärber, S. 246 f. 30 Vergleicht man die Geraer Adressbücher der verschiedenen Jahrgänge zwischen 1861 und 1879, so werden unter den Färberei- und Appreturgeschäften zwischen sechs und zehn Betriebe genannt. 1837 waren es sicherlich weniger. Bis 1863 wird auch der Obermeister der Innung ausgewiesen. Es war Christian Seydel.

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4. Januar 1838 unter der laufenden Nummer 3.719 nach dem Geraer Stadtbrand von 1780 als Färber ins Bürgerregister eingetragen.31 Damit nahm er gleich als Erster dieses Jahres das Recht war, mit Grundbesitz und Meistertitel das Bürgerrecht der Stadt zu erwerben. Da war er gerade knapp über 20 Jahre alt. Mit dem Bürgerrecht erhielt er zugleich das Wahlrecht.32

Abb. 1: Färberei Hirsch am Mühlgraben „Am Korbe“ Im September 1837 erwarb er am Mühlgraben, „Am Korbe“ genannt, ein kleines Haus und richtete dort „in räumlich eng begrenzten Anlagen“33 seine Stückfärberei ein.34 Zwei Zinnkessel, ein Kupferkessel sowie „wenige Utensilien, die dem damaligen Standpunkt der Färberei entsprachen“35 gehörten zur Ausstattung seines Handwerksbetriebes. Die Kessel wurden über offenem Feuer 31 StA Gera, III B 17640, Bürgerregister II 1780–1840, S. 149. 32 StA Gera, Verzeichnis sammtlicher für den Gemeinderath wählbaren Bürger der Stadt Gera nebst Pöppeln welche das 25. Lebensjahr zurückgelegt haben, o. Sig. [um 1853]. Carl Louis Hirsch wird hier auf S. 8 als wahlberechtigter Bürger geführt. 33 Vgl. u. a. 100jähr. Geschäftsjubiläum der Firma Louis Hirsch (wie Anm. 27), S. 4. 34 Aus der frühen Phase des Handwerksbetriebes und der späteren Firma von Louis Hirsch sind keine direkten Quellenbestände erhalten. Lediglich zwei Jubiläumsschriften von 1887 und 1937 können ausgewertet werden, die die bisher einzigen Einblicke in die frühe Phase des Handwerksbetriebes bieten. Dabei ist festzustellen, dass die Festschrift von 1937 inhaltlich wie sprachlich auf die 1887 erschienene Jubiläumsausgabe Bezug nimmt. Alle im folgenden Text übernommenen Inhalte mit Bezug zur Firmenentwicklung entstammen diesen beiden Schriften (Stadtmuseum Gera, ohne Signatur, Festschrift der Firma Hirsch zum 50-jährigen Jubiläum 1887.; 100jähr. Geschäftsjubiläum der Firma Louis Hirsch (wie Anm. 27) und werden durch weitere zitierte Quellen ergänzt. Wörtliche Zitate aus den Schriften werden gesondert zitiert. 35 Festschrift der Firma Hirsch zum 50jährigen Jubiläum (wie Anm. 34), S. 6v.

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beheizt und der am Haus vorbeifließende Mühlgraben bot mit seiner vorgelagerten Spülbrücke die Möglichkeit, die gefärbten Stückwaren im Wasser zu spülen. Der Geraer Mühlgraben war seit jeher ein Ort, den Gerber und Färber zu schätzen wussten. Im Zuge der Industrialisierung gewann der Wasserlauf in der Stadt an Bedeutung und es wuchsen bedeutende Firmen, wie Morand & Co., Louis Hirsch und Gebrüber Schlott zu wirtschaftlicher Blüte. Im Zuge der Industrialisierung entwickelten sich diese Handwerksbetriebe dann zu Großfabriken und überformten durch Neubauten auch den Mühlgraben.36 Nicht zuletzt boten diese und auch die Verunreinigungen immer wieder Anlass zur Klage um den wichtigen Produktionsstandort.37 Ende der 1840er Jahre kam im Färberwesen das Ombrieren der Stoffe in Mode. Dabei wurden Wollstoffe mit farbigen Streifen gefärbt, die in ihrer Mitte am dunkelsten sind und gegeneinander verlaufen.38 Dieses Verfahren machte aber den Einsatz mechanischer Kraft notwendig, sodass bei Carl Louis Hirsch eine Vergrößerung des Betriebes durch die Anschaffung eines ersten Dampfkessels notwendig wurde, weil Hirsch der erste Färber im Gera-Greizer Gebiet war, der dieses Verfahren anwendete. Auch der Dampfkessel war zugleich der erste Kessel dieser Art in Gera. 1853/54 erhielt die Firma mit der Nutzung des neu erfundenen Kaliblaus erneuten Aufschwung. Zu gleicher Zeit entwickelte Carl Louis Hirsch ein Verfahren zum Färben von „ausgezeichnetem Schwarz“.39 Mit diesem „HirschSchwarz“, das „durch seine Echtheit, die Fülle und Intensität des sammetartigen Tones damals schon und heute noch von der Conkurrenz unerreichten Schwarz“ bestach, gelang Carl Louis Hirsch der wirtschaftliche Durchbruch. Diese Methode, ein tiefes Schwarz in die Stoffe einzufärben, ohne beim Waschen zu verblassen, vergrößerte schnell den Kundenkreis. Die Geschäftswelt wurde in steigendem Maße auf den jungen Betrieb aufmerksam. In diese Zeit des wirtschaftlichen Aufstiegs fiel auch Hirschs familiäres Glück. Sicherlich kam er durch Geschäftsbeziehungen im Gera-Greizer Milieu mit der Webereidynastie Arnold in Greiz in Kontakt. Sie gehörte zu den großen Webereien,40 die den Gera-Greizer Raum dominierten und auch gesellschaftlich breit 36 Beispielsweise hatte die Firma Louis Hirsch am 21. Mai 1869 um die Erlaubnis gebeten, ein acht Zoll weites gußeisernes Rohr in den Mühlgraben mit einpflastern zu dürfen. Dieses hat der Bauamtsbeschluss vom 25. Mai 1869 gestattet. Vgl. StA Gera, III A 41 - 1163, Mühlgraben, Vereinte Rechte der Färbereien (1878–1908). 37 Vgl. Ute Heckmann/Matthias Wagner, „Müller, Fischer, Hausgenossen und ander müssigk Volk…“ am Mühlgraben in Gera, Gera 2001. 38 Meyers Kleines Konversations-Lexikon, Leipzig/Wien 1893, Bd. 2, S. 649. 39 Vgl. u. a. 100jähr. Geschäftsjubiläum der Firma Louis Hirsch (wie Anm. 27), S. 5. 40 Vgl. zur Greizer Wirtschaftsentwicklung und deren Fabrikanten: Falk Burkhardt, Grundzüge (wie Anm. 2), S. 195 (im Besonderen das Kapitel „Greiz“) sowie Friedrich

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aufgestellt waren.41 So ist anzunehmen, dass Hirsch für oder von Arnold produzierte Stückwaren färbte. Erst im Alter von 43 Jahren trat er so in den Stand der Ehe ein und heiratete am 17. November 1857 in Greiz die 23 Jahre jüngere Louise Wilhelmine Arnold (1837–1907), die Tochter des Weberfabrikanten Ferdinand Arnold.42 Louis und Louise Hirsch hatten vier Kinder, die kurz nach der Hochzeit, zwischen 1858 und 1863, das Licht der Welt erblickten. Die erste Tochter Helene Louise Elisabeth verstarb noch nicht einjährig im Kindbett. Marie Ottilie (geb. 1859) heiratete später den Geraer Fabrikanten Eugen Ruckdeschel (1849–1919), Clara Alwine Louise (1860–1929) den Geraer Wollwarenfabrikanten Max Ramminger und Johann Karl Georg (1863–1939) trat die Nachfolge des Vaters an.

3. Carl Louis Hirsch und sein Unternehmen bis zum Tod des Gründers Um den produktionstechnischen Anforderungen gerecht zu werden, holte Carl Louis bereits 1854 seinen Neffen Paul Scheibe in die Firma, der durch seine im In- und Ausland erworbenen Kenntnisse den Betrieb fortan maßgeblich mitprägte. Ihm sollte später, mit dem Tod von Carl Louis Hirsch, eine besondere Rolle zufallen. Als dann mit der Entdeckung der Anilinfarben gegen Ende der 1850er Jahre das Färbereiwesen einen neuen Weg beschritt, wurde die Ausdehnung der Fabrikanlagen unausweichlich. Jedoch bot das Grundstück am Mühlgraben, „Am Korbe“ keinerlei Erweiterungsmöglichkeiten, sodass Carl Louis Hirsch am 25. Oktober 1860 die Grünersche Färberei in der Schützenstraße, südlich des alten Standortes am Mühlgraben, und einige unbebaute Nachbargrundstücke erwarb und seinen Betrieb dorthin verlegte.

Beck, Die wirtschaftliche Entwicklung in der Stadt Greiz während des 19. Jahrhunderts, Weimar 1955. 41 Christian Friedrich Arnold (1818–1879) entwickelte den einstigen väterlichen Handwerksbetrieb zum Unternehmen, das sein Sohn Ernst Arnold (1841–1893) weiterführte und sich zugleich gemeinsam mit seiner Frau in dem Ernst-und-Lina-Arnold-Stift sozialgesellschaftlich engagierte. Über die Arnold-Linie bestanden zudem verwandtschaftliche Beziehungen zu den großen Greizer Fabrikantenfamilien Heyer und Schilbach. Als Handelskammerpräsident und Mitglied des Landtages Reuß ä. L. war Paul Arnold (1856– 1928) politisch mit für den wirtschaftlichen Erfolg der Region verantwortlich. 42 Ernst Paul Kretschmer, Aus den vergangenen Tagen des kanzleischriftsässigen Rittergutes Kospoda und seiner nächsten Umgebung. Beiträge zur Geschichte des Orlalandes, seiner Ortschaften und alten Herrengeschlechter, Gera 1934, S. 431 f.

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Abb. 2: Färberei in der Schützenstraße 1861.

Abb. 3: Färberei- und Appreturanstalt 1871.

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Nun war auch Platz, um 1863/64 den Betrieb um eine Appreturanstalt zu erweitern. Durch das Appretieren erhalten Stoffe eine besondere Beschaffenheit. So können wollene Gewebe gerauht, geschoren, genoppt, gepresst oder zum Teil auch dekatiert werden, leinene Stoffe gebleicht, geglättet oder gestärkt und baumwollene Stoffe gerauht, gesengt und geschoren werden.43 Mit diesen Verfahrenstechniken reagierte die Firma auf die Bedürfnisse des Gera-Greizer Gebietes und erhöhte durch das innerbetriebliche Verfahren des Färbens und Appretierens ihre Leistungsfähigkeit. Immer neue Methoden wurden entwickelt, immer neue Maschinen angeschafft und immer neue Färbe- und Appreturtechniken übernommen. 1865 wurde mit Adolph Eichenberg eine weitere Führungskraft in den Betrieb aufgenommen. Auch er sollte der Firma eine wichtige Stütze werden und mit dem Tod von Carl Louis Hirsch eine besondere Rolle erfüllen. Zugleich stieg die Zahl der Arbeiter. In den Jahren 1870/71 nahm die Firma dann einen erneuten ungeahnten Aufschwung und es kam mit der dritten Entwicklungsphase zur erneuten räumlichen Ausdehnung. Neue Dampfkessel wurden angeschafft und in der eigenen Maschinenbau- und Reparaturanstalt wurden zudem neue Maschinen entwickelt und gebaut. Die Fabrikanlagen umfassten nun fünf Hektar.44 Allein das 1878 fertiggestellte Appreturgebäude maß im Hauptsaal 5.100 m².45 Mit drei Fabrikschornsteinen rühmte man sich in der Jubiläumsschrift, die „Siegessäulen der Industrie“ zu besitzen.46 Gera zählte 1875 95 Textilbetriebe, wovon neun als Zurüster, also als Färberei- und Appreturgeschäfte, tätig waren. 26 dieser 95 Betriebe beschäftigten mehr als fünf Angestellte. Sie führten 2.562 Arbeiter in Lohn. Die Gesamteinwohnerzahl lag da bei 20.810. Das hieß, dass mehr als 10 % der Geraer Bewohner in jenen Tagen Fabrikangestellte waren. Diese schlossen sich gerade im Zuge der emporstrebenden Sozialdemokratie in Gera zu einer Arbeiterbewegung in vereinsähnlichen Strukturen zusammen, die jedoch gemäß Bundestagsbeschluss vom 13. Juli 1857 auch im Fürstentum Reuß j. L. noch immer verboten waren. Louis Hirsch schloss sich daraufhin mit 51 weiteren Geraer Unternehmern zusammen, die am 21. Juni 1878 ein Flugblatt veröffentlichten, bei dem „die unlauteren Bestrebungen der Socialdemokratie mißbilligt“47 wurden. So sollte 43 Vgl. Meyers Kleines Konversations-Lexikon, Leipzig/Wien 1892, Bd. 1, S. 95. 44 Ständige Grundstückszukäufe sind in den Jahren zu verzeichnen. So bestätigt am 19. Juli 1875 der Gemeinderat beispielsweise den Verkauf einer Parzelle von 36 Ar längs der Südstraße zu 108 Mark pro Quadratmeter. Vgl. StA Gera, III B 2133, Abtretung einer Parzelle längs der Südstraße an Färber Louis Hirsch Feldparzelle Nr. 440, 1966 (1875–1876). 45 Vgl. Festschrift der Firma Hirsch zum 50jährigen Jubiläum (wie Anm. 34), S. 7r. 46 Ebd. 47 Hans Embersmann, Gera. Geschichte der Stadt in Wort und Bild, Berlin 1987, S. 116.

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in den Fabriken und Werkstätten niemand Beschäftigung finden, „der fernhin Beziehungen zur socialdemokratischen Partei unterhält, deren Versammlungen besucht und deren Presse unterstützt“.48 Man appellierte an das Gewissen der Arbeiter, die Ordnung in den Betrieben aufrechtzuerhalten und die „gegenseitigen freundschaftlichen Beziehungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern“49 zu erhalten. Nichtsdestotrotz hatten die sozialdemokratischen Bestrebungen enormen Zulauf. Aber Carl Louis Hirsch versuchte dennoch, die Arbeitsbedingungen in seiner Firma entsprechend zu gestalten. Eine Unterstützungskasse wurde eingerichtet und die Arbeitsbedingungen durch helle und trockene Arbeitsräume, die durch Ventilatoren mit Frischluft und im Winter mit erwärmter Luft versorgt wurden, verbessert. Ebenso wichtig waren großzügige Speiseund Pausenräume. Gleichsam stand Carl Louis Hirsch den technischen und innovativen Neuerungen besonders aufgeschlossen gegenüber, die auch seinen Angestellten zugutekamen. Am 24. Januar 1880 schrieb die Geraer Zeitung: Die elektrische Lampe, deren Lichtstoff durch eine dynamoelektrische Maschine erzeugt wird, hat bekanntlich in der neueren Zeit mehrfach Verbesserungen erfahren. Die so vielfach auch von den deutschen Blättern gebrachte Erfindung Edisons hat sich nicht bewährt, dagegen haben deutsche Erfinder und Techniker die elektrische Lampe zu einer Vollkommenheit gehoben, die allgemein anerkannt ist und in der Reichshauptstadt vielfach Anwendung bereits gefunden hat. Auch hier soll in der nächsten Zeit der erste Versuch mit der Beleuchtung eines Arbeitssaales durch elektrisches Licht gemacht werden. In der Hirsch’schen Färberei ist bekanntlich schon seit längerer Zeit eine derartige Maschine aufgestellt und speist die Laterne, welche die Fabrikhöfe erleuchtet. Nun soll der eine neu erbaute Fabriksaal mit 3 oder 4 elektrischen Lampen neuesten Systems demnächst erleuchtet werden.50

Bis dahin waren in den Färberei- und Appreturräumen Gaslampen im Einsatz, die pro Monat 9.000 m³ Gas verbrauchten. 1887 wurden 40 neuen Bogen- und 80 Glühlichter angeschafft. Diese Einführung jedoch konnte Carl Louis Hirsch nicht mehr miterleben. Er starb bereits am 15. Januar 1880 in seinem 66. Lebensjahr. Die Angestellten der Firma schrieben über ihn: Seinen Beamten ein väterlicher Freund, seinen Arbeitern ein fürsorglicher Herr, dessen gerader biederer Sinn, gepaart mit milder Strenge, Aller Herzen für ihn schlagen ließ, hat er einen schmerzlich tiefempfundenen Riß in der Mitte seiner Untergebenen zurückgelassen.51

48 Ebd. 49 Ebd. 50 Geraer Zeitung, Tageblatt und Anzeiger vom 24. Januar 1880, S. 3. 51 Vgl. Festschrift der Firma Hirsch zum 50-jährigen Jubiläum (wie Anm. 34), S. 7r f.

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Auch die Geraer Zeitung schrieb bereits zwei Tag nach dem Ableben einen Nachruf, in welchem sie die Entwicklung des Unternehmens resümierte, aber auch die Person Carl Louis Hirsch in den Blick nahm: Es mag richtig sein, daß dem Unternehmer manche glückliche Conjukturen zur Hand gingen, allein seine Umsicht, sein Fleiß und seine Ausdauer bei Verfolgung des gesteckten Zieles ließen ihn auf die Höhe gelangen, auf der sich das Geschäft heute befindet.52

Die Angestellten und Arbeiter formulierten einen Gruß an den vermeintlich väterlichen Arbeitgeber: Du warst uns stets ein treuer Freund, für das Leid und die Freude Deiner Arbeiter hattest Du immer ein mitfühlendes Herz. Keiner, der Dir mit einer Klage nahte, verließ Dich ohne ein tröstendes Wort, wie Vielen halfst Du, ohne daß die Welt etwas davon erfuhr. […] Nur das Eine rufen wir Dir über das Grab nach: nimmer wird das Andenken an unseren guten Prinzipal, an den treuen Freund seiner Arbeiter, an Dich, aus unseren Herzen schwinden und bis zu unserem letzten Athemzuge wird Dein Name in dankbarer Erinnerung in uns fortleben.53

In diesem Geist wurde auch die Trauerfeier gehalten, als Carl Louis Hirsch am 18. Januar zu Grabe getragen wurde. Viele Hunderte von Begleitern aus allen Ständen folgten in dem Zuge. Vorangetragen wurde eine Menge von großen Fächerpalmen, denen ebenso neben und hinter dem Sarge eine noch weit größere Zahl andere Palmzweige, hierauf 60 bis 70 blumentragende junge Mädchen und sodann der unabsehbare eigentliche Leichenzug folgten. Der großartige Zug stellte, wie ein treues Geschichtsbild, recht offen die Bedeutung dar, die das von dem Verewigten begründete Werk für Gera erlangt hat. […] Hirsch war stets wie ein Vater gegen seine Arbeiter-Bevölkerung.54

Carl Louis Hirsch lebte zuletzt mit seiner Frau und den Kindern in unmittelbarer Nähe seiner Firma. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der heutigen Geschwister-Scholl-Straße, ließ er vom Architekten Gottlob Rüdiger 1872/73 eine gründerzeitliche Villa errichten, bei der die historisierende Formenvielfalt das Gebäude bis heute prägt. Vier individuell gestaltete Fassaden unterstreichen den eingeschossigen Neorenaissancebau, dessen repräsentativste Räume nach Westen und Süden, also mit Blick auf die Fabrik und den Garten, ausgerichtet waren. Besonders war und ist die offene Diele mit Pilastern, zweiflügeligen Türen und einer stuckierten Decke mit eingezogener Voute. Im östlichen Teil des Gebäudekomplexes schlossen sich Pferdeställe und Remisen an, die dem im Stil eines englischen Landschaftsgartens gestalteten Park mit terrassierten Hängen Abschluss gaben. Der Garten wurde gleichzeitig mit dem Bau des Hauses geplant und ausgeführt.55 Bis zur Fertigstellung der Villa lebte die Familie auf 52 53 54 55

Geraer Zeitung, Tageblatt und Anzeiger vom 17. Januar 1880, S. 2. Geraer Zeitung, Tageblatt und Anzeiger vom 20. Januar 1880, S. 3. Ebd., S. 2. Vgl. Anja Löffler, Stadt Gera. Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmale in Thüringen, Bd. 3, Erfurt 2007, S. 345.

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dem Firmengelände im Haus der einstigen Grünerschen Färberei. Dieses Haus wurde dann als Verwaltungsgebäude genutzt. Somit lassen sich für die Zeit von 1837–1880, der Zeit des Bestehens der Firma Louis Hirsch, drei Wohnstätten ausmachen. Dem Haus am Mühlgraben „Am Korbe“, dem Haus der einstigen Grünerschen Färberei und der Gründerzeitvilla gegenüber der Firma. Nach der letzten Verfügung von Carl Louis Hirsch übernahmen seine engsten Mitarbeiter Paul Scheibe und Adolph Eichenberg zunächst die Leitung des Unternehmens, da der Erbe Karl Georg Hirsch sich noch in Ausbildung befand und mit 16 Jahren keine Mündigkeit besaß. Beide führten das Unternehmen im Sinne des Gründers weiter, bis nach einer knapp siebenjährigen Interimszeit der 24-jährige Karl Georg Hirsch am 1. Januar 1887 den Färberei- und Appreturbetrieb übernahm. Weil der Mitverwalter und Prokurist Paul Scheibe aus gesundheitlichen Gründen aus der Firma aussteigen musste, wurde Adolph Eichenberg zum Teilhaber. Zu diesem Zeitpunkt, als die Firma ihr 50-jähriges Bestehen feiern konnte, zählte man 36 angestellte Beamte, 1.000 Arbeiterinnen und Arbeiter, die täglich bis zu 2.000 Stück Zeugs56 färbten und appretierten. Ferner verfügte die Firma über 181 mechanische bewegte Farbfässer, 410 Appreturmaschinen, drei Dampfkesselanlagen mit 23 Kesseln für je 80 m² Heizfläche. Der jährliche Kohlebedarf von 25.000 t wurde auf einem eigenen Eisenbahngleis bis zu den Kesselhäusern befördert. Die Maschinen wurden über zehn Dampfmaschinen und einen Gasmotor bewegt. Der jährliche Verbrauch an Farbstoffen und Chemikalien belief sich auf 1.350 t. Karl Georg Hirsch führte die Färberei unter dem Namen seines Vaters bis zu seinem Tode weiter und entwickelte sie stetig fort.57 Sie blieb auch für die zweite Generation das Fundament des wirtschaftlichen Erfolges mit rauchenden Schornsteinen und hektischer Betriebsamkeit.

56 Tuche zu je 100 m Länge. 57 Der Autor betreibt derzeit am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena ein Promotionsprojekt mit dem Arbeitsthema „Wirtschaftsbürgertum in Ostthüringen. Der Geraer Industrielle Georg Hirsch“ und bettet dabei den Protagonisten zum einen in den Zeit-Raum-Kontext ein und verortet ihn andererseits als Wirtschaftsbürger der Ostthüringer Industrieregion des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie seines Wirkens als Global Player. Hierbei spielen biographisch-familiäre Beziehungen, unternehmerische Entwicklungslinien und deren Veränderungsprozesse sowie die bürgerliche Präsenz Georg Hirschs eine zentrale Rolle. Auch die Voraussetzungen der Firma durch Carl Louis Hirsch werden im Besonderen berücksichtigt.

K arsten Rudolph

Die Aufgabe der Staatsbildung Die Thüringer Sozialdemokratie zwischen Revolution und Gegenrevolution 1918–1930

1. Die Sozialdemokratie als staatsbildende Partei Die Erforschung der thüringischen Geschichte hat seit der Neugründung des Landes einen bemerkenswerten Aufschwung genommen, weil sie eine anhaltende und vielseitige Förderung von gleichermaßen universitären wie außeruniversitären Einrichtungen erfuhr. Sie hat damit ganz wesentlich zu einem großen gesellschaftlichen Interesse an der kritischen Beschäftigung mit historischen Themen beigetragen und das neuere Landesbewusstsein stark geprägt. Als wir uns in Bochum vor über 25 Jahren in einem Forschungsprojekt, das von jüngeren Wissenschaftlern aus Ost- und Westdeutschland getragen wurde, für die Geschichte der mitteldeutschen Demokratiebewegungen zu interessieren begannen, standen zwei Ausgangspunkte am Beginn unserer Überlegungen: Welche Rolle spielte die von uns angenommene besondere Radikalität der regionalen Arbeiterbewegungen für die Entfaltung und Behauptung der Demokratie und gab es so etwas wie einen spezifischen Weg zur sozialen Demokratie in Mitteldeutschland, der sich von dem in anderen Räumen wie etwa dem des Ruhrgebiets, von Südwestdeutschland oder Hamburg und Berlin unterscheiden ließ? Dabei fanden wir heraus, dass die Rede von der besonderen Radikalität der Arbeiterbewegung namentlich in Sachsen und in Thüringen einerseits auf der starken Überzeichnung lokaler Ereignisse und parteipolitischer „Heldenverehrung“ durch die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung und andererseits auf der Unkenntnis der westdeutschen Historiografie beruhte, die keinen Zugang zu den regionalhistorischen Quellen erlangt hatte.1 Die politische Leistung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Thüringen lag in einer 1

Das Ergebnis bestand u. a. in einer mehrbändigen Buchreihe: Demokratische Bewegungen in Mitteldeutschland (10 Bände), hg. v. Helga Grebing/Hans Mommsen/Karsten Rudolph, Köln/Weimar/Wien 1995–2005. Siehe auch Franz Walter/Tobias Dürr/ Klaus Schmidtke, Die SPD in Sachsen und Thüringen zwischen Hochburg und Diaspora, Bonn 1993.

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genuinen Form demokratischer Staatsbildung, die ähnlich wie die soziale Modernisierungspolitik im Nachbarland Sachsen von einer linksrepublikanischen Mehrheit gestaltet wurde.2 Mit der Bezeichnung „linksrepublikanisches Projekt“ sollte eben diese spezifische Verschränkung von demokratischer Mehrheitsbildung und Reformpolitik charakterisiert werden, die sich vom Typus der Weimarer Koalition in Preußen und im Reich unterschied.3 Dieser linksrepublikanische Typus von Demokratie- und Staatsbildung lässt sich nicht auf einen „rot-roten Sonderweg“ verengen und nicht als ein gleichsam strategisches Bündnis aus sozialdemokratischer und kommunistischer Arbeiterbewegung begreifen.4 Nur temporär schloss er realpolitische Teile des Kommunismus mit ein und kann auch nicht auf die kurze Phase der so genannten Arbeiterregierung in Dresden und Weimar verkürzt werden.5 Denn die linksrepublikanische Mehrheitskonstellation prägte die politische und gesellschaftliche Entwicklung in Mitteldeutschland über rund fünf Jahre und ging von vornherein über die Arbeiterbewegung hinaus, weil sie das linksliberale Bürgertum fest mit einschloss. Dafür fehlte in diesem republiktreuen Spektrum der demokratische Katholizismus, der sich im protestantischen Mitteldeutschland in der Diaspora befand. Die Zentrumspartei konnte nur dann auf eine parlamentarische Vertretung hoffen, wenn sie mit der DDP kooperierte. Diese spezifische Konstellation verband die mitteldeutschen Länder Sachsen, Anhalt und Thüringen miteinander (und diese wiederum mit dem Freistaat Braunschweig) und unterschied sie von derjenigen in Preußen oder im Reich.6

2

Vgl. Karsten Rudolph, Die Sozialdemokratie in der Regierung. Das linksrepublikanische Projekt in Sachsen 1920–1922, in: Helga Grebing/Hans Mommsen/Ders. (Hg.), Emanzipation zwischen Saale und Elbe. Beiträge zur Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bis 1933, Essen 1993, S. 212–225. 3 Vgl. Ders., Zum mitteldeutschen Format der demokratischen Bewegungen in Sachsen, Thüringen und Anhalt (1848–1933), in: Jürgen John (Hg.), „Mitteldeutschland“. Begriff – Konstrukt – historische Realität, Rudolstadt 2001, S. 269–281. 4 So jedoch Steffen Kachel, Ein rot-roter Sonderweg? Sozialdemokraten und Kommunisten in Thüringen 1919 bis 1949, Köln/Weimar/Wien 2011. Vgl. dagegen Karsten Rudolph, Das Scheitern des Kommunismus in Deutschland 1923, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32 (1996), S. 484–519. 5 So Hans-Joachim Krusch, Linksregierungen im Visier. Reichsexekutive 1923, Schkeuditz 1999. Vgl. dagegen: Bernhard H. Bayerlein u. a. (Hg.), Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Berlin 2003. 6 Zu Braunschweig vgl. Bernd Rother, Die Sozialdemokratie im Lande Braunschweig 1918–1933, Bonn 1990. Zum Vergleich der Protagonisten siehe Karsten Rudolph, „Streitbare Republikaner“ in der frühen Weimarer Republik. Preußen und Sachsen im Vergleich, in: Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.), Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 212–241.

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Die fortlebende Annahme, es hätte in Thüringen eine radikale Arbeiterbewegung gegeben, schon weil dort eine stark linksorientierte SPD entweder zu machtbewusst oder koalitionsunwillig agiert hätte, stützt sich – fälschlicherweise – auf die umfangreiche Untersuchung Dietmar Klenkes über die Linksopposition innerhalb der SPD,7 auf die Studie von Helge Matthiesen über den Sonderfall Gotha8 und auf die Auswertung der stark tendenziösen zeitgeschichtlichen Zeitungsquellen. Auch Timo Leimbach, der selbst auf die Diskrepanz zwischen öffentlicher Berichterstattung und Landtagspraxis eindringlich hingewiesen hat,9 spricht in seinem jüngst erschienenen Überblick über die „Politik im Land Thüringen 1920–1933“ von einer traditionell „starken Linksprägung“ der thüringischen Arbeiterbewegung. Nach der formellen Landesgründung 1920 hätten „nur noch wenige inhaltliche Überschneidungen“ zwischen liberalem Bürgertum und Arbeiterbewegung im I. Thüringer Landtag bestanden und habe die SPD dazu geneigt – statt eine lagerübergreifende Koalition einzugehen – sich lieber auf die vermeintlich bequeme Oppositionsrolle zurückzuziehen.10 Daneben findet sich in allgemeinen Darstellungen immer noch die ältere, gleichsam stehende und stetig wiederholte, weil einfach-eingängige Interpretation von einer Radikalisierung an den politischen Rändern und einer fortschreitenden Polarisierung im Parteiensystem. Sie habe – ausgelöst durch eine links stehende SPD – zu einem vorzeitigen Eintritt der NS-Bewegung in die etablierte Politik geführt, zunächst indem der Ordnungsbund 1924 von der völkischen Fraktion im Landtag gegen die Linksparteien gestützt wurde, danach indem 1930 ein Eintritt der NSDAP in die Landesregierung erfolgt sei.11

7

Vgl. Dietmar Klenke, Die SPD-Linke in der Weimarer Republik. Eine Untersuchung zu den regionalen organisatorischen Grundlagen und zur politischen Praxis und Theoriebildung des linken Flügels der SPD in den Jahren 1922–1932, neu bearb. Aufl., Münster 1989. 8 Vgl. Helge Matthiesen, Bürgertum und Nationalsozialismus in Thüringen. Das bürgerliche Gotha von 1918 bis 1930, Jena 1994; und ders., Zwei Radikalisierungen – Bürgertum und Arbeiterschaft in Gotha 1918–1923, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 32–62. 9 Vgl. Timo Leimbach, Landtag von Thüringen 1919/20–1933, Düsseldorf 2016, S. 443– 446. 10 Siehe Ders., Politik im Land Thüringen 1920–1933, Erfurt 2018, S. 27, 51 und 62. 11 Vgl. Eberhard Kolb/Dirk Schumann, Die Weimarer Republik, 8., überarb. u. erw. Aufl., München 2013, S. 53 f.; oder Ulrich Kluge, Die Weimarer Republik, Paderborn u. a. 2006, S. 78 f. Für einen Vergleich zu anderen Ländern siehe Karsten Rudolph, Nationalsozialisten in Ministersesseln. Die Machtübernahme der NSDAP und die Länder 1929–1933, in: Christian Jansen/Lutz Niethammer/Bernd Weisbrod (Hg.), Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen, Berlin 1995, S. 247–266.

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Karsten Rudolph

Im Folgenden soll gegen derartige Verzeichnungen argumentiert und für einige Klarstellungen gesorgt werden, die im Lichte neuerer Veröffentlichungen12 und einer eigenen, neuerlichen Beschäftigung mit der Thüringer Arbeiterbewegung erfolgen, die als kleiner Band von der Landeszentrale für politische Bildung kürzlich veröffentlich worden ist.13 Der Beitrag konzentriert sich zunächst auf die Betrachtung des revolutionären Übergangsprozesses zwischen dem Ende des Krieges 1918 und der Bildung des Landes Thüringen 1921. Er stellt die sozialdemokratische Arbeiterbewegung als eine staatsbildende politische Kraft vor, die ihre Position als größte Oppositionspartei rasch aufgibt und – anders als im Reich – sogleich im Verein mit den Linksliberalen die Grundlagen für den Aufbau eines neuen Staates legt. Nach der Beurteilung der Leistungen der Arbeiterbewegung für die Durchsetzung und Fundierung der Demokratie in Thüringen soll anschließend die Aufgabe dieser Staatsbildung im Angesicht des Durchbruchs demokratiefeindlicher Bestrebungen und rechtspopulistischer Bewegungen betrachtet werden. Die These lautet somit, dass der dominierende Teil der Thüringer Arbeiterbewegung, mithin die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, keineswegs radikal, koalitionsunwillig und politisch verantwortungslos agierte. Allerdings muss geklärt werden, warum sie sich bald nach ihrem Aufstieg zur „Thüringen-Partei“ von der Gründung des neuen Landes sukzessiv distanzierte und ihre Versuche zur Konsolidierung eines demokratischen Bundeslandes so rasch aufgab.

2. Linksrepublikanische Staatsbildung (1918–1921) Als der Fraktionsvorsitzende der SPD, Philipp Scheidemann, am Nachmittag des 9. November 1918 vom Balkon des Reichstages die deutsche Republik ausrief, war Friedrich Ebert über die Proklamation seines Parteifreundes nicht gerade amüsiert. Dies nicht etwa, weil sie eine Entscheidung zugunsten der parlamentarischen Monarchie ausschloss. Ebert glaubte zu diesem Zeitpunkt nämlich nicht mehr an ein Überleben der Hohenzollern. Es war eine andere Festlegung, die Ebert bitter aufstieß, nämlich die nicht abgestimmte Ankündigung, dass er, Ebert, unverzüglich eine neue Regierung aus allen sozialistischen Parteien bilden wolle.14 Damit schied die Bildung einer provisorischen Regierung 12 Hervorgehoben gehört hier die große empirische Studie von Leimbach 2016 (wie Anm. 9). 13 Vgl. Karsten Rudolph, Die Thüringer Arbeiterbewegung vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik, Erfurt 2018. 14 Vgl. Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006, S. 107 f.; die ältere Interpretation bei Kolb/Schumann, Die Weimarer Republik (wie Anm. 11), S. 7; jetzt auch: Lothar Machtan, Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht, Darmstadt 2018, S. 134–156 und 285–289.

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auf der Basis des interfraktionellen Ausschusses aus Fortschrittlicher Volkspartei, Zentrum und SPD aus, obschon diese Mehrheitsparteien des Reichstages die Parlamentarisierung des deutschen Regierungssystems gegen die Widerstände der alten Gewalten eingeleitet hatten. Selbst eine sozial-liberale Zusammenarbeit wurde damit verbaut, was mehr als riskant erschien, weil unklar war, ob die Unabhängigen Sozialdemokraten überhaupt in eine Regierung eintreten wollten.15 Im Reich bildete sich schließlich ein Rat der Volksbeauftragten aus beiden sozialdemokratischen Parteien. Der erste Satz des Aufrufs der Volksbeauftragten vom 12. November 1918 lautete folgerichtig: „Die aus der Revolution hervorgegangene Regierung, deren politische Leitung rein sozialistisch ist, setzt sich die Aufgabe, das sozialistische Programm zu verwirklichen.“16 Rund 300 Kilometer entfernt kam die Botschaft Scheidemanns nicht wirklich an, jedenfalls bedeutete sie für die politische Entwicklung in den Thüringer Staaten keine solche Weichenstellung wie im Reich oder in anderen Ländern, was erklärungsbedürftig ist. Denn wo, wenn nicht in Mitteldeutschland, wo die sozialdemokratische Arbeiterbewegung ein deutliches politisches Übergewicht besaß, ließ sich eine sozialistische Alleinregierung besser rechtfertigen? Stattdessen suchte die Sozialdemokratie ausgerechnet hier eine vertrauensvolle, konstruktive und dauerhafte Zusammenarbeit mit den Linksliberalen. Auffällig ist ferner, dass die provisorischen Arbeiter- und Soldatenräte keinen großen Einfluss auf die Bildungen provisorischer Regierungen nahmen. In vier Thüringer Staaten bildete sich kein Arbeiter- und Soldatenrat mit regierungsbildender Kraft; in einem Staat kam trotz eines Arbeiter- und Soldatenrats eine parteilose Regierung zustande. In zwei Staaten mit aktiven Arbeiter- und Soldatenräten kamen sozialdemokratisch-linksliberale Kabinette zustande, in denen einmal die mehrheitssozialdemokratische Seite, ein anderes Mal die unabhängig-sozialdemokratische Seite eine Koalition mit der DDP einging.17 Im konkreten historischen Fall überlagerten sich unterschiedliche Entwicklungen, so im Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha, wo der USPD-Reichsund Landtagsabgeordnete Wilhelm Bock unter dem 8. November 1918 an den amtierenden Staatsminister mit der Bitte schrieb, sogleich den Gemeinschaftslandtag einzuberufen, um über die Abdankung des Herzogs und den republikanischen Zusammenschluss der Thüringer Staaten zu beraten.18 Am 9. November erklärte er vor Tausenden von Demonstranten auf dem Gothaer Marktplatz den Herzog kurzerhand für abgesetzt und rief die Republik aus. Das Staatsmi15 Vgl. Machtan, Kaisersturz (wie Anm. 14), S. 261 f. 16 Reichs-Gesetzblatt 1918, S. 1303 f. 17 Vgl. Rudolph, Die Thüringer Arbeiterbewegung (wie Anm. 13), S. 68–70. 18 Das Schreiben in: 100 Jahre Novemberrevolution 1918 in Gotha und Erfurt. Quellen zur Geschichte im Staatsarchiv Gotha und im Stadtarchiv Erfurt, hg. v. Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Gotha, Konzeption und Texte von Steffen Arndt, Gotha 2018, S. 62 f.

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nisterium blieb bis auf Weiteres im Amt und berief den Gemeinschaftlichen Landtag für den 14. November ein, der dann auch ungehindert für seine Beratungen entlang der weiteren Forderungen der sozialdemokratischen Landtagsfraktion zusammentrat und wo der amtierende Staatsminister die Abdankung des Fürsten gesichtswahrend verkündete. Danach löste sich der Landtag auf. Schließlich bildete sich eine Regierung aus drei sozialdemokratischen Volksbeauftragten, die die vorerst im Amt belassene Staatsregierung kontrollierte.19 Danach liefen die Entwicklungen in Gotha und Coburg auseinander. Gerade mit Blick auf Thüringen scheint das Urteil des Weimarer Abgeordneten der Fortschrittspartei bzw. DDP Emil Polz zuzutreffen: Das „neue Deutschland“ entstand „mehr durch Umwandlung als durch Sturz“.20 Lässt sich deswegen überhaupt von einer „Revolution“ in der Thüringer Staatenwelt sprechen? Mit „Umwandlung“ meinte Polz offensichtlich einen allmählichen Wandel, mit „Sturz“ einen plötzlichen, radikalen und gewaltsamen Wandel des politischen Systems. Es ist hier kein Raum für einen revolutionshistorischen Exkurs. Mit Rückgriff auf Hannah Arendt lässt sich aber pragmatisch formulieren: In keinem Thüringer Staat kam es zu einem ‚bloßen‘ Regierungswechsel, in allen Staaten jedoch zu einer „revolutionären Veränderung der Regierungsform“.21 Die Fürsten waren weder willens noch imstande, neue Regierungen zu ernennen. Allen Beteiligten war klar, dass ihre Zeit nach dem schmählichen Ende der Hohenzollern abgelaufen war.22 Die alten Landtage verloren rasch ihre Legitimationskraft, nicht etwa, weil sich Arbeiter- und Soldatenräte an ihre Stelle setzen wollten, sondern weil sie nicht nach einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht zusammengesetzt waren und die Frauen von jedem Wahlrecht ausgeschlossen hatten. Es lag auf der Hand, dass die Mandatierung der Übergangsregierungen nicht gegen „das“ Volk erfolgen konnte, ansonsten wäre die Machtfrage auf den Straßen gestellt worden. Den sozialdemokratischen Parteien fiel in diesem Zusammenhang die Schlüsselrolle zu. Sie dominierten die Räte und verlangten rasche Neuwahlen. Ihre Führungsrolle wurde anerkannt, weil allseitig angenommen wurde, sie verträten die Mehrheit des Volkes. Das auffallend schwache Agieren der Räte hing aber auch mit einer gemäßigten, regionalen außerparlamentarischen Friedens- und Demokratiebewegung 19 Siehe Wilhelm Bock, Im Dienste der Freiheit. Freud und Leid aus sechs Jahrzehnten Kampf und Aufstieg, hg. v. Steffen Arndt, Jörg Bischoff und Matthias Wenzel, Gotha 2018, S. 11 und 111 f.; und vgl. 100 Jahre Novemberrevolution (wie Anm. 18), S. 59 f. 20 Zit. nach Beate Häupel, Die Gründung des Staates Thüringen. Staatsbildung und Reformpolitik 1918–1923, Weimar/Köln/Wien 1995, S. 49. Siehe jetzt auch: Martin Platt, Deutschland 1918/19. Die unerklärte Revolution, in: Republikanischer Alltag. Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität, hg. v. Andreas Braune und Michael Dreyer, Stuttgart 2017, S. 3–18. 21 Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, München 2018, S. 7. 22 Vgl. Machtan, Kaisersturz (wie Anm. 14).

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zusammen. Wer also nach den Gründen für die friedliche, nahezu reibungslose revolutionäre Transformation von Fürstentümern des 19. Jahrhunderts zu modernen Volks- und Freistaaten des 20. Jahrhunderts fragt, muss nach den Gründen für die relativ schwach ausgeprägte Rätebewegung fragen. Diese resultierte erstens aus den vergleichsweise ruhigen Zuständen an der Thüringer Heimatfront während des Krieges. Lediglich sanfte Ausläufer der großen Streik- und Anti-Kriegsbewegungen hatten Thüringen im Krieg erreicht; eine breite Massenbewegung konnte sich aus ihnen nicht herausbilden. Es gab kein Momentum, in dem sich eine nachhaltige außerparlamentarische Protestbewegung konstituieren konnte. Kleinere Ansätze verliefen sich im kleinstaatlichen Gewimmel, in dem sich kein richtiger Hebel fand, um einen nennenswerten regionalpolitischen Handlungsraum für revolutionäre Bewegungen zu eröffnen. Begünstigt wurde diese relativ ruhige politische Entwicklung durch die eher leise Spaltung der Sozialdemokratie, die keine so unüberwindlichen Gräben aufriss, welche die Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolutionsphase später überspannen mussten. Die Spaltung verlief in der Regel nicht mitten durch die organisatorischen Einheiten hindurch (es gab auch keinen gefestigten Parteibezirk), sondern entlang der Wahlkreis- oder jeweiligen Landes- und somit Organisationsgrenzen. Deswegen gab es nach der Spaltung fast immer noch (mit Ausnahme Jenas) nur die eine Sozialdemokratische Partei – entweder als MSPD oder als USPD. Zerstörerische Kämpfe um die Ressourcen der Partei oder ihre Mitglieder und Anhänger blieben weitgehend aus. Und nicht zuletzt nahm die innergewerkschaftliche Kritik an der Politik der Gewerkschaftsführungen anders als in den großen Betrieben in den Großstädten keine sezessionistischen Tendenzen an, die auf die Politik durchschlugen. Revolutionäre Obleute, die für den sofortigen Friedensschluss eintraten und die Belegschaften für einen Umsturz mobilisierten, gab es in Thüringen nicht. Zweitens einte alle demokratischen Kräfte das politische Hauptziel, eine parlamentarische Republik zu errichten, und zwar im Reich sowie (vorläufig) in den thüringischen Staaten und sodann in einem thüringischen Staat. Dieses Ziel wurde auch von den Arbeiter- und Soldatenräten geteilt. Drittens kam es zu einer erstaunlichen Wiederauferstehung des Linksliberalismus, bei dem die am 24. November 1918 gegründete „Demokratische Partei Großthüringens“ (im Reich nannte sie sich DDP) wie ein Magnet auf die bürgerlichen Schichten wirkte. Mit einem Mal tauchte die im 19. Jahrhundert fast schon verflogene Hoffnung wieder auf, eine große, geeinte liberale Sammlungspartei schaffen zu können, die einer sozialdemokratischen Übermacht nicht einmal zu trotzen brauchte, da sich die ehemalige „Umsturzpartei“ nunmehr als zurückhaltende und kooperative, republikanische Aufbau- und Reformpartei erwies. Viertens – und dies gehört zur Wahrheit dazu – waren die regionalen politischen Kräfte von einer schmerzhaften Klärung einiger grundsätzlicher Fragen

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entlastet. Weder musste die Regierung in Sachsen-Meiningen ihre Haltung zur Reichswehrführung klären oder die in Sachsen-Altenburg Friedensvertragsverhandlungen in Versailles führen, noch bahnte sich im Volksstaat Reuß die Sozialisierung dazu reifer Großbetriebe an, schon weil es sie dort überhaupt nicht gab. Insgesamt gesehen beruhte die politische Nachkriegsarchitektur in (Klein-) Thüringen auf einem Zusammengehen von Sozialdemokraten (aus MSPD und USPD) mit den Linksliberalen in der DDP, mithin auf einer linksrepublikanischen Konstellation und nicht (wie anfangs im Reich) auf einer fragilen und temporären Kooperation zwischen MSPD und USPD oder (später) auf einer Weimarer Koalition, die von der USPD beständig attackiert wurde. Auch die allgemeine Radikalisierung der Rätebewegung in der zweiten Phase der Revolution vermochte daran nichts zu verändern. Die in dieser Phase in Thüringen auftretende Rätebewegung war wiederum nur schwach ausgeprägt und konzentrierte sich auf sozialpolitische Reformziele wie die Umsetzung des Acht-Stunden-Tages oder die Einführung eines Mindestlohnes. Und nicht zuletzt spielte die KPD trotz einiger lokaler Organisationserfolge keinerlei politische Rolle. Die beiden sozialdemokratischen Parteien bewegten sich zudem in weitgehendem Gleichklang. Zumal sie sich in der konkreten Ausübung der einzelstaatlichen Regierungsgeschäfte nicht voneinander unterscheiden ließen. Eine Initiative, zur Wahl der Nationalversammlung eine gemeinsame sozialdemokratische Liste aufzustellen, scheiterte an einer personellen Nichtigkeit, belegt aber umso mehr, wie hier die Sozialdemokraten entgegen der unterschiedlichen Parteizugehörigkeit miteinander kooperierten, und dass die breite Mehrheit der Thüringer USPD auf die parlamentarische Demokratie setzte. Dies ergab ein komplett anderes Bild als in Berlin. Am 10. Dezember 1918 behandelten die Arbeiter- und Soldatenräte des 36. Wahlkreises die Thüringen-Frage auf einer viel beachteten Konferenz in Erfurt. Doch waren zu der Tagung auch die Gesandten der Einzelstaaten und der preußischen Gebietsteile hinzugezogen worden, und die Einladung war vom Chef der provisorischen Regierung von Sachsen-Weimar-Eisenach ausgegangen, dem Sozialdemokraten August Baudert. Die Konferenz setzte einen „Zwölfer-Ausschuss“ ein, um eine Lösung der thüringischen Frage mit Preußen und dem Reich zu verhandeln, jedoch nahmen das Heft des Handelns anschließend die Politiker in den Landesparlamenten und in den (provisorischen) Landesregierungen in die Hand. Bei den ersten freien Landtagswahlen ging die Sozialdemokratie in allen Staaten, in denen die MSPD oder eine gemeinsame MSPD/USPD-Liste (so in Sondershausen und Reuß j. L.) die absolute Mehrheit errungen hatte, eine sozial-liberale Koalition ein, teilweise unter Beteiligung der USPD (wie in Sondershausen und Reuß j. L., dann auch im Volksstaat Reuß). Dies bot eine wichtige Voraussetzung dafür, um noch intensiver gemeinsam an der Gründung eines neuen

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Landes zu arbeiten. Der Zusammenschluss der Regierungen für die Bildung des neuen Landes, der Thüringer Staatsrat, setzte sich ausschließlich aus Vertretern der MSPD, USPD und DDP zusammen. Im Volksrat besaßen die drei Parteien eine Drei-Viertel-Mehrheit. Damit verlief die zentrale politische Konfliktlinie bis auf Weiteres zwischen den linksrepublikanischen Gründungsparteien Thüringens und einer zusammengerückten DVP/DNVP-Opposition. Bei der äußeren Staatsbildung gaben die Sozialdemokraten das Tempo und die Form des Vorgehens vor, weil sie sich hinter das Konzept des ihnen politisch nahestehenden Ministers Freiherr von Brandenstein stellten, der die beiden reußischen Staaten fusioniert hatte. Aber auch in der konkreten verfassungspolitischen Ausgestaltung der Staatsbildung erreichten sie ihr Ziel. Zwar lag dem Volksrat ein Entwurf des liberalen Staatsrechtlers Eduard Rosenthal vor, doch letztlich setzten sich die Sozialdemokraten darin durch, das Parlament zur „höchsten Instanz im Staate“ zu machen und verschafften ihm (ganz anders als im Reich) ein deutliches Übergewicht gegenüber den anderen Staatsgewalten. Die DDP stimmte – anders als in der Nationalversammlung – einer solchen „Parlamentssouveränität“ zu; und auch die USPD unterstützte – anders als im Reich – den Verfassungsentwurf.23 Das Ergebnis der Wahlen zum I. Landtag am 20. Juni 1920 sorgte jedoch für eine folgenschwere Erschütterung der politischen Verhältnisse: - Thüringen war seitdem keine linksliberale Hochburg mehr; die DDP stürzte von über 20 % bei der Nationalversammlungswahl auf nur noch 7,3 % ab; - damit wuchs die Neigung innerhalb der DDP, die DVP mit in die Koalition zu ziehen; diese ließ sich jedoch nicht nur von der DNVP nicht loseisen; es trat ein geradezu umgekehrter Effekt ein: DVP und DNVP verstärkten den Druck auf die DDP, die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten aufzugeben; - die KPD fand sich allenfalls bereit, eine SPD-Minderheitsregierung zu tolerieren. Nach der Wahl setzte die sozial-liberale Koalition unter dem Vorsitz des DDP-Politikers Arnold Paulssen ihre Arbeit bis in den Herbst 1921 von der USPD unterstützt fort. Unterdessen baute sich eine in den alten Landtagen durchaus vertraute Spannung wieder auf, die unmittelbar mit dem Einzug einer neuen „Partei“ in den Landtag zusammenhing, die keine „reine“ Partei war.24 Der Thüringer Landbund sah in den „städtischen“ Parteien – der SPD und der DDP – seine Hauptgegner, gegen die es das „Landvolk“ zu mobilisieren galt. 23 Der Ratifizierung der Verfassung am 21. März 1921 blieben die vier kommunistischen Abgeordneten fern; sie konnten schlechterdings gegen sie stimmen, weil sie als USPD-Abgeordnete für sie eingetreten waren. 24 Wilhelm Bock, der als erster Sozialdemokrat in den Gothaer Landtag eintrat, schildert, dass dieser zwischen „Agrariern“ und Liberalen gespalten war und er das Zünglein an der Waage gespielt habe. Siehe Bock, Im Dienste der Freiheit (wie Anm. 19), S. 95.

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Auch die NSDAP sollte dieses Mobilisierungspotenzial bald erkennen. Nicht zuletzt wegen ihrer Erfolge auf dem Thüringer Land wurde die Forderung nach einer Bodenreform aus dem 25-Punkte-Programm der Partei 1928 entfernt.25 Dagegen hatte Wilhelm Bock schon in den 1890er Jahren erfolglos für die Verabschiedung eines Agrarprogramms gekämpft, um die sozialdemokratische Wählerbasis durch die Landbevölkerung zu verbreitern.26 Ein starres marxistisches Weltbild und das städtische sozialistische Milieu verbauten der SPD auch in den 1920er Jahren jedwede Organisationserfolge in den deutschen Agrarregionen, was sich insbesondere in einer „Industrie-Agrarregion“ wie Thüringen als nachteilig auswirken sollte.27 Der Thüringer Landbund zählte 1919 über 40.000 Mitglieder in 1.900 Ortsgruppen, die SPD erreichte 1930 mit rund 43.000 Mitgliedern in 564 Ortsvereinen ihre höchste Mitgliederzahl.28 Der rechtspopulistische Landbund – ein Hybrid aus Berufsverband und politischer Partei – war in Thüringen der game changer der Politik.29 Die Jahre zwischen 1921 und 1923/24 stehen zumeist unter der Überschrift der sozialdemokratisch-kommunistischen Zusammenarbeit, die in der Regel als Begründung für die Rechts-links-Polarisierung angegeben wird. Neuere Forschungen zeigen jedoch, dass die Reformpolitik der Landesregierung von der DDP, teilweise von der DVP und dem TLB mitgetragen wurde und ein kommunistischer Einfluss auf die Landespolitik gar nicht festzustellen ist; die KPD verhielt sich landespolitisch vollkommen passiv.30 Wann begann und wo begann dann die Polarisierung? Das Wann lässt sich präzise datieren. Es begann mit den Kreistagswahlen am 20. September 1922; im Wahlkampf hatten TLB, DVP und DNVP gelernt, dass die Feiertagsgesetzgebung und die Territorialreform als erfolgreiche Mobilisierungsthemen taugten, um das Land gegen die Regierung zu sammeln. Das Ergebnis der Kommunalwahlen belegte schlagartig, dass es eine Mehrheitsbildung von rechts geben konnte, und zwar durch eine neue, rechtspopulistische Rechte aus TLB, WP und DVP sowie DNVP. Diese Lagerbildung wurde beschleunigt durch die De-Liberalisierung der städtischen Mittelschichten, die Vertiefung des Stadt-Land-Gegensatzes und das Scheitern des Aufbaus bürgerlicher Parteien

25 Siehe Peter Longerich, Geschichte der SA, München 2003, S. 65. 26 Siehe den Auszug aus dem Protokoll des Breslauer Parteitags (1895), in: Bock, Im Dienste der Freiheit (wie Anm. 19), S. 140 f. 27 Zum Begriff vgl. Anke John, Der Weimarer Bundesstaat. Perspektiven einer föderalen Ordnung (1918–1933), Wien/Köln/Weimar 2012, S. 300 f. 28 Nach Leimbach, Landtag (wie Anm. 9), S. 32. 29 Zum TLB vgl. Guido Dressel, Der Thüringer Landbund – Agrarischer Berufsverband als politische Partei in Thüringen 1919–1933, Weimar 1998. 30 Vgl. Leimbach, Landtag (wie Anm. 9).

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infolge der Inflationskrise, des Ruhrkonflikts und der sukzessiven Aufkündigung des sozialen Friedens in der Reichspolitik.

3. Die Aufgabe des Thüringer Staates (1927–1930) Die Abwendung der linksrepublikanischen Kräfte vom Thüringer Staat fand bereits vor dem Eintritt der Nationalsozialisten in die Landesregierung 1930 statt und sie beruhte auf zwei Entwicklungen. Erstens: In der DDP und der SPD griff seit 1927 die Vorstellung um sich, das Land sei innerhalb weniger Jahre unregierbar geworden. Diese resignative Haltung entsprang einer asymmetrischen Lagerbildung nach 1924. Zwischen der SPD und der KPD war das Tischtuch durch die Art und Weise des Abgangs der KPD-Minister zerschnitten, von denen jeder einzelne nach 1924 einer ultra-linken Politik das Wort redete. Andererseits ließ sich die DVP nicht von der DNVP bzw. dem TLB ablösen. Das republikanische Lager war damit strukturell mehrheitsunfähig. Aus einer formidablen 80-Prozent-Mehrheit, die ohne Wenn und Aber zum demokratischen Rechtsstaat gestanden hatte, war eine 40-Prozent-Minderheit der Verfassungsparteien geworden – ohne konkrete Aussicht auf eine Mehrheitsperspektive. Dagegen etablierte sich ein anti-republikanisches Lager mithilfe des TLB, dessen Grenze zur Völkischen Fraktion bzw. der NSDAP von vornherein fließend war. Zweitens: Als der Landtag endlich sein Königsrecht, das Budgetrecht, ausüben konnte, verbreitete sich die Meinung, das Land könne sich aus eigener Kraft fiskalisch nicht mehr lange halten. Die wachsenden Zweifel am Fortbestand des Landes wurden auch von außen genährt. In der Reichsreformdebatte, die auf der sogenannten Länderkonferenz im Januar 1928 konkretere politische Formen annahm, weil sie zur Lösung des Reich-Länder-Problems einen Verfassungsausschuss einrichtete, gewannen diejenigen Stimmen an Aufmerksamkeit, die die kleineren Länder zusammenlegen wollten. Daneben wirkten erstarkende großpreußische Ambitionen direkt auf Thüringen und nicht zuletzt auf die SPD ein. So war etwa am 1. März 1927 in der sozialdemokratischen „Tribüne Erfurt“ zu lesen, es würde jeden Tag klarer werden, dass „‚Länder‘“ (sic!) wie Thüringen keinerlei geschichtliche Daseinsberechtigung hätten: Anderthalb Millionen Einwohner, wirtschaftlich zerstückelt, verkrüppelt und gelähmt, finanziell von höchster Fragwürdigkeit, aber acht Parteien, ein beängstigender Wirrwarr, großer Regierungsund Parlamentsapparat, in allem Ernste Regierungskrise! Ist das nicht grotesk? Macht ein Ende mit diesem Zustand! Je eher, desto besser! Aus Gründen politischer Vernunft ebenso wie aus Gründen der Sparsamkeit!31

31 Tribüne Erfurt. Organ der Sozialdemokratie für Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt vom 1. März 1927.

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Das im Oktober 1928 veröffentlichte Gutachten des Reichssparkommissars Friedrich Saemisch, in dem von Thüringen die drastische Einsparung von Personalkosten und ein massiver Verwaltungsabbau verlangt wurde, spielte den Skeptikern in die Hände und erhöhte den politischen Erklärungsbedarf über die Zukunft des Landes. Die Landesgründungspartei DDP adressierte alsbald selbst offen die Frage, ob das Land angesichts der strukturellen Überschuldung, der wirtschaftlichen Verflechtungen und der Unregierbarkeit noch selbstständig bleiben könne oder nicht doch besser den Anschluss an Preußen oder Sachsen suchen solle. Und das liberale „Jenaer Volksblatt“ erklärte das Land Thüringen am 13. November 1929 zum Musterbeispiel für einen verfehlten Reichsaufbau und machte dafür auch gleich die Schuldigen aus: Dass überhaupt die Engstirnigkeit und die Selbstsucht der Parteien das Land so tief in die Finanzmisere zu reißen vermochte, dass die Länder,souveränität‘ derart grotesk missbraucht werden konnte, daran sind die falsche „Gewaltenteilung“ und der Länderparlamentarismus schuld!32

Eine solche Anklage, die nichts weniger als den Verfassungskompromiss aufkündigte, war in zweierlei Hinsicht bezeichnend. Zum einen schob sie die Krise des Föderalismus allein dem Souverän zu, nämlich dem Landesparlament und damit auch der Parteiendemokratie. Die linksrepublikanischen Staatsgründer wurden dadurch aus den eigenen Reihen heraus an den Pranger gestellt. Zum anderen unterschätzten die Ankläger das vorhandene Landesbewusstsein völlig, das ausgerechnet dort gewachsen war, wo am lautesten Kritik an den demokratischen Institutionen des Landes geübt worden war – auf dem Land. Allen voran der Landbund, aber auch die NSDAP, gerierten sich plötzlich als Thüringen-Parteien und führten 1929/30 einen populistischen Wahlkampf, in dem sie die Ressentiments gegen das „preußische Berlin“ schürten und die Verfassungsparteien als „Landesverräter“ abstempelten.33 Die Nationalsozialisten wurden nicht müde zu warnen, dass Thüringen eine „Provinz unter der Verwaltung eines marxistischen preußischen Innenministers und […] eine Pfründe eines marxistischen preußischen Oberpräsidenten werden“ könnte.34 Als sich dann 1930 in Thüringen die erste Regierung unter Beteiligung der Nationalsozialisten bildete, bezeichnete sich diese nach außen gern als „Thüringen-Koalition“. Dabei waren die Interessen des TLB und der NSDAP an einem Fortbestand des Landes durchsichtig. Bei einem Anschluss an Sachsen oder Preußen hätte der Landbund seine zentrale politische Stellung sogleich verloren und wäre zu einer regionalen Erscheinung in einigen Kreisräten herabgesunken. Der Zugriff 32 Jenaer Volksblatt vom 13. November 1929. 33 Vgl. Dressel, Der Thüringer Landbund (wie Anm. 29), S. 53. 34 Siehe Fritz Sauckel, Thüringen, in: Der Nationalsozialist vom 3.8.1929, zit. nach Detlev Heiden/Gunther Mai (Hg.), Thüringen auf dem Weg ins „Dritte Reich“, Erfurt 1996, S. 209–212, hier S. 212.

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auf den Landeshaushalt, der ihm die Finanzierung der Bedürfnisse seiner agrarischen Klientel und die staatliche Kofinanzierung seiner berufsverbandlichen Organisation ermöglichte, wäre verloren gewesen. Die NSDAP und nicht zuletzt Hitler selbst drängten in eine Landesregierung, um dem befürchteten Parteiverbot zu entgehen und um eine innerparteiliche Richtungsentscheidung zugunsten einer Koalition mit der politischen Rechten treffen zu können. In Sachsen saßen dagegen die Kritiker eines solchen „kapitalistischen“ Kurses. Die Opposition um Otto Straßer wollte eine Zusammenarbeit mit der Rechten vermeiden, um den „sozialistischen“ Charakter der Bewegung nicht weiter zu gefährden.35 Der NSDAP ging es nicht in erster Linie um das Land Thüringen sondern um reichspolitische Weichenstellungen. Die Liebe zur thüringischen Heimat war rein taktisch motiviert. Für die Gründungs- und Verfassungsparteien, die DDP und die SPD, musste sich die vorschnelle Aufgabe des jungen Landes verheerend auswirken. Denn mit der Aufgabe des Landes Thüringen dementierten sie ihre größte politische Leistung und ließen es leichtfertig zu, dass sich Landbund und NSDAP als Retter des Landes aufspielen konnten, das sie alsbald zerstören sollten.

35 Vgl. Rudolph, Nationalsozialisten in Ministersesseln (wie Anm. 11), S. 251 f.; Reinhard Kühnl, Die nationalsozialistische Linke 1925–1930, Meisenheim am Glan 1966; siehe auch den Aufruf der Strasser-Gruppe vom 4.7.1930, „Die Sozialisten verlassen die NSDAP“, https://www.ns-archiv.de/nsdap/sozialisten/sozialisten-verlassen-nsdap.php (Abruf vom 1.10.2018).

M arco Swiniartzki

Die Industriegewerkschaften in Thüringen bis 1933 Entwicklungslinien, Organisationsbedingungen, Forschungsfragen

1. Einleitung Wenn in Einleitungen gerne der Forschungsstand, einschlägige Publikationen sowie aktuelle Debatten zum Thema umrissen und eingeordnet werden, muss ein Beitrag zur Geschichte der Gewerkschaften in Thüringen in dieser Hinsicht enttäuschen. Denn es existieren keine Veröffentlichungen der Geschichts- oder anderer Wissenschaften, die die Gewerkschaften in ihrer historischen Entwicklung als eigenständige Organisationen im thüringischen Raum behandeln.1 Lediglich einige Arbeiten zur Entwicklung der politischen Arbeiterbewegung sind seit 1990 erschienen,2 während sich die Geschichtsschreibung der DDR zwar breiter mit der Arbeiterbewegung befasste, doch dabei neben ihrer politischen Instrumentalisierung kein Interesse an einer inneren Differenzierung dieser sozialen Bewegung zeigte und die Gewerkschaften den Parteien stets unterordnete.3 Mit Blick auf die westdeutsche Historiografie scheint es, als sei die Geschichte der Gewerkschaften in Thüringen einer Entwicklung in der 1

2

3

Es gehört zu den großen Versäumnissen der Arbeiterbewegungsforschung auch für Thüringen, unter dem Titel „Arbeiterbewegung“ eine Parteiengeschichte zu schreiben und die Gewerkschaften und Genossenschaften zu vernachlässigen. Vgl. Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie in Thüringen. Dokumentation des Kolloquiums der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen und Arbeit und Leben Thüringen e.V. am 13.10.2001 im Kaisersaal, Erfurt, anlässlich des 110-jährigen Jubiläums des Erfurter Parteitages, hg. v. Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen, Erfurt 2002; vgl. auch Karsten Rudolph, Frühgeschichte der Arbeiterbewegung in Thüringen, Erfurt 2011; Ders., Die Thüringer Arbeiterbewegung vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik, Erfurt 2018. Vgl. Franz Walter, Thüringen – Einst Hochburg der sozialistischen Arbeiterbewegung?, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung 28 (1992) 1, S. 21–39; Steffen Kachel, Ein rot-roter Sonderweg? Sozialdemokraten und Kommunisten in Thüringen 1919 bis 1949, Köln 2011. Vgl. etwa Wolfgang Kopitzsch, Beiträge zur Geschichte Jenas und der Jenaer Arbeiterbewegung 1830–1918, Jena 1977.

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Marco Swiniartzki

Sozialgeschichtsschreibung zum Opfer gefallen, die ihr Augenmerk viel stärker den nationalstaatlichen Aspekten der Gewerkschaftsverbände zuwandte, ohne dabei regional unterschiedliche Entwicklungsrichtungen und -geschwindigkeiten gebührend zu berücksichtigen.4 Spielte der Vergleich der Regionen dennoch einmal eine Rolle, wurde Thüringen meistens keine Beachtung geschenkt und dadurch das Bild eines regionalen rückschrittlichen „Ausreißers“ bestärkt, das bereits seitens der Gewerkschafter vor der Zerschlagung 1933 häufig herrschte. Hinsichtlich der Gewerkschaftsgeschichte lag dieser Marginalisierung vor allem ein Vergleich der Mitgliederzahlen zugrunde, der zeigt, dass der thüringische Raum teilweise nicht einmal so viele Mitglieder aufwies wie manche sächsische Großstadt (vgl. Abb. 1). Von diesen Unterschieden jedoch auf eine geringere Bedeutung der Industriegewerkschaften in Thüringen zu schließen, halte ich für unzulässig. Denn einerseits wird man dadurch keineswegs der großen innerthüringischen Differenzierung gerecht, während man andererseits den mikrohistorischen Blick für die Bedeutung gewerkschaftlicher Organisation für jeden einzelnen Arbeiter und jede einzelne Arbeiterin sowie ihr Handeln unterschätzt. Gewerkschaften waren nicht selten auch gerade dort ein wichtiger Faktor für die individuelle und soziale Deutung von Arbeits- und Machtverhältnissen, wo sie sehr wenige Mitglieder besaßen und vom Nimbus des Widerstandes profitierten. Eine Beschäftigung mit der Gewerkschaftsbewegung in Thüringen trägt auch deshalb dazu bei, den geschichtswissenschaftlichen Gewerkschaftsbegriff, der lange von politischen und überbetrieblichen Lesarten dominiert wurde, endscheidend zu erweitern: Gewerkschaften erscheinen dann plötzlich als stark alltags- und betriebsgeschichtlich verankerter Kommunikationszusammenhang, in dem gewerkschaftliche Ideen und gewerkschaftliches Handeln in einer stets wechselnden Mitgliedschaft ständig neu implementiert werden mussten.5 Die Existenz vieler verschiedener Organisationsmilieus in Thüringen – 4

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Vgl. Klaus Schönhoven, Expansion und Konzentration. Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890 bis 1914, Stuttgart 1980; Christiane Eisenberg, Deutsche und englische Gewerkschaften. Entstehung und Entwicklung bis 1878 im Vergleich, Göttingen 1986; Wolfgang J. Mommsen/Hans-Gerhard Husung (Hg.), Auf dem Wege zur Massengewerkschaft. Die Entwicklung der Gewerkschaften in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, Stuttgart 1984. Ausnahmen bilden jene Studien, die sich mit den Gewerkschaften als Teil regionaler Wirtschafts- und Sozialgeschichte befassten, vgl. Michael Grüttner, Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter 1886–1914, Göttingen 1984; Rudolf Boch, Handwerker-Sozialisten gegen Fabrikgesellschaft. Lokale Fachvereine, Massengewerkschaft und industrielle Rationalisierung in Solingen 1870 bis 1914, Göttingen 1985; Thomas Welskopp, Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren, Bonn 1994. Vgl. Marco Swiniartzki, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband 1891–1933. Eine Gewerkschaft im Spannungsfeld von Arbeitern, Betrieb und Politik, Köln/Weimar/Wien

Die Industriegewerkschaften in Thüringen bis 1933

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man denke nur an die Heimarbeit in Scheinselbstständigkeit, das traditionell starke Handwerk oder die entgegen vieler Annahmen zahlreichen Großbetriebe, die alle mit sehr unterschiedlichem Erfolg gewerkschaftlich bearbeitet wurden – lassen Thüringen geradezu eine Paraderolle bei der Erforschung gewerkschaftlicher Methodik und Alltagsarbeit zukommen. Dass es sich trotz dieser Attraktivität, der hervorragenden Quellenlage und zahlreicher lokaler Initiativen bei der Gewerkschaftsgeschichte Thüringens um ein Desiderat handelt, mag daher verwundern, resultiert aber neben der skizzierten Forschungsgeschichte auch aus der mittlerweile regelrechten „Verabschiedung vom 19. Jahrhundert“,6 die auch in der Arbeiterbewegungsgeschichte zu einer deutlichen Fokusverschiebung auf die Entwicklungen der Zeitgeschichte geführt hat.7 Im Folgenden soll sich der thüringischen Gewerkschaftsgeschichte auf verschiedenen Ebenen genähert und auf diese Weise ein potentielles Forschungsfeld umrissen werden. Zunächst werden dazu die Mitgliederentwicklungen des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV), des Deutschen Holzarbeiterverbandes (DHV) sowie des Deutschen Textilarbeiterverbandes (DTV) von ihrer Gründung (DMV und DTV 1891, DHV 1893) bis 1931 rekonstruiert. Darüber hinaus werden bereits weiterführende Aussagen über die berufliche und soziale Zusammensetzung einiger lokaler Mitgliedschaften getroffen (2.). Im Anschluss werden mit dem Spannungsverhältnis zwischen regionaler Integration und ihren Grenzen (3.), der regionalen Binnendifferenzierung (4.) sowie dem Thüringen-Bild der Gewerkschafter (5.) drei zentrale Leitlinien und Entwicklungsmerkmale der drei Industriegewerkschaften vor 1933 skizziert. Es wird versucht, drängende Forschungsfragen in diese Schwerpunktsetzung einzubeziehen, was aufgrund des Raumes und Forschungsstandes jedoch nur begrenzt möglich ist. Dazu zählen sowohl die Problematisierung der Heimarbeit als auch der Widerstand, der den Gewerkschaften von behördlicher, kirchlicher und/oder unternehmerischer Seite entgegenschlug. Darüber hinaus gehören auch die internen Verwaltungs- und Agitationsstrukturen der Gewerkschaften, ihre jeweiligen sozialen „Inklusionsarrangements“, die Migrationsbewegungen auf

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2017; Joachim Häberlen, Vertrauen und Politik im Alltag. Die Arbeiterbewegung in Leipzig und Lyon im Moment der Krise 1929–1933/38, Göttingen 2013. Paul Nolte merkte dazu an: „Es fügt sich nicht gut, dass zumal in der deutschen Geschichtswissenschaft die rasante Hinwendung zum 20. Jahrhundert in Forschung und Lehre der letzten 15 Jahre das 19. Jahrhundert beinahe zur terra incognita werden lässt.“ Paul Nolte, Vom Fortschreiben und Umschreiben der Begriffe. Kommentar zu Christian Geulen, in: Zeithistorische Forschung 1 (2010), S. 98–103, hier S. 101. Sehr eindrücklich wird diese Fokusverschiebung unter anderem dadurch, dass eine große Institution der Forschungsförderung auf diesem Gebiet wie die Hans-Böckler-Stiftung grundsätzlich keine Projekte mehr zur Gewerkschaftsgeschichte vor den 1970er Jahren unterstützt.

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Marco Swiniartzki

der Suche nach Arbeit sowie die Bedeutung politischer Umbrüche und Zäsuren zu den akuten Forschungsfragen.

2. Die Mitgliederentwicklung der Industriegewerkschaften in Thüringen Für weiterführende Aussagen über die Gewerkschaftsentwicklung ist zunächst die Rekonstruktion der Mitgliederzahlen von DMV, DHV und DTV unentbehrlich. Abb. 1: Gewerkschaftsmitglieder in Thüringen 1891–19318 80000 70000 60000 50000 40000 30000 20000 10000

1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931

0

Deutscher Textilarbeiterverband

Deutscher Metallarbeiter-Verband

Deutscher Holzarbeiterverband

Es fällt zunächst auf, dass – anders als etwa in Sachsen9 – der Metallarbeiter-Verband bis auf eine kleine Phase zwischen 1904 und 1908 immer die mitgliederstärkste Gewerkschaft in Thüringen bildete, obwohl die Textilarbeiter in dieser 8

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Die Daten beziehen sich auf das Territorium des heutigen Freistaats Thüringen und folgen den Angaben der Jahr- und Handbücher der drei Verbände sowie (für die 1890er Jahre) den Angaben in den jährlichen Abrechnungen der jeweiligen Gewerkschaftszeitungen. Aus Platzgründen soll auf eine genaue Auflistung hier verzichtet werden. Auf Anfrage liefert der Verfasser diese gerne nach. Vgl. Marco Swiniartzki, Von der Klammer des Milieus zum erstarrten Riesen. Die sächsische Gewerkschaftsbewegung in der Weimarer Republik, in: Konstantin Hermann/ Mike Schmeitzner/Swen Steinberg (Hg.), Der „gespaltene“ Freistaat. Neue Perspektiven auf Sachsen in der Weimarer Republik (1918–1933), Leipzig 2019, S. 173–199.

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Region deutlich in der Mehrzahl gewesen sein dürften.10 Vor allem in der Fläche gesehen spielten die Metallarbeiter in Thüringen eine größere Rolle als die Textilbeschäftigten, die stark geballt besonders in den Räumen Gera-Greiz, Mühlhausen, Apolda sowie Pößneck-Neustadt auftraten. Zum Organisationsgebiet des DMV zählte dagegen beinahe jede Stadt und jedes Dorf, da die Metallgewerbe fast überall anzutreffen waren. Wichtige Schwerpunkte waren dabei vor allem Altenburg, Saalfeld, Erfurt, Jena, Eisenach, Suhl, Mühlhausen, Gera und Gotha.11 Eine ähnlich städtische Mitgliederverteilung wies auch der DHV auf, dessen Organisationszentren sich weitgehend in den Orten der industriellen Weiterverarbeitung von Holzwaren befanden. Laut einer Studie des Verbandes von 1902 gehörten dazu neben Gera (Tischler, Drechsler, Harmonikamacher) und Altenburg (Tischler, Polierer, Harmonikamacher) auch Schmölln (Knopfmacher, Uhrgehäusemacher), Frankenhausen (Knopfmacher), Bürgel (Stockmacher), Mühlhausen (Tischler) und Gotha (Tischler, Stellmacher, Klaviermacher).12 Der Kurvenverlauf war für die jeweiligen Gesamtgewerkschaften durchaus reichstypisch: Auf einen langsamen Anstieg in der Vorkriegszeit, der sich vor allem im DMV seit 1909 noch einmal stark forcierte, folgte ein heftiger Einbruch der Mitgliederzahlen während der ersten Kriegsphase zwischen 1914 und 1916, der fast ausschließlich auf Einberufungen zum Militär zurückzuführen war. Zwischen 1916 und 1918 stiegen die Mitgliederzahlen dann leicht an, um von Ende 1918 bis 1920/22 regelrecht zu explodieren. Die Inflation, gepaart mit der Rücknahme zentraler Errungenschaften der Novemberrevolution und der Restaurierung der Macht der Arbeitgeber ließ die Mitgliederzahlen zwischen 1922 und 1924 wiederum herb einbrechen. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre trat schließlich eine Stabilisierung des Mitgliederstandes in DHV und DTV ein, während der DMV noch einmal kräftig wuchs. Unter einem vergleichenden Blick auf die absoluten Zahlen verdeutlicht das Diagramm vor allem, dass der gesamte Thüringer Raum rein quantitativ kaum am immensen Wachstum der Gewerkschaften nach der Revolution partizipierte und auch vor dem Ersten Weltkrieg nicht zu den Kernregionen der Gewerk10 1911 dürfte die Zahl der Metallarbeiter in Thüringen etwa bei 40.000 gelegen haben, während bereits 1904 etwa 50.000 Textilarbeiter allein im Gera-Greizer-Gebiet beschäftigt waren. Vgl. Angedrohte Aussperrung der Metallarbeiter in Thüringen, in: Metallarbeiter-Zeitung (MAZ) 29 (1911) 28, S. 5; Konferenz des thüringischen Agitationsbezirks, in: Der Textil-Arbeiter 16 (1904) 30, S. 1. 11 Vgl. Marco Swiniartzki, Apolda versus Altenburg. Die thüringische Metallarbeiterbewegung in den 1890er Jahren, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 72 (2018), S. 127– 147. 12 Vgl. Die Lage der Arbeiter in der Holzindustrie. Nach statistischen Erhebungen des Deutschen Holzarbeiter-Verbandes für das Jahr 1902, hg. v. Vorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Stuttgart 1904, S. 39–41, 59, 65, 71–81.

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schaften gehörte. So besaßen die drei Industriegewerkschaften hier 1922 142.000 Mitglieder, während es in Sachsen zur gleichen Zeit fast 600.000 und damit mehr als viermal so viele waren. Allein der DMV in Dresden verfügte im zeitlichen Längsschnitt über eine Mitgliederzahl, die in etwa dem DMV im gesamten thüringischen Gebiet entsprach.13 Natürlich ist dieser Vergleich mit Blick auf die wirtschaftliche Struktur und die Arbeiterzahlen beider Freistaaten ungerechtfertigt. Er spielte aber in den Köpfen der Orts- und Bezirksleiter der Gewerkschaften dennoch eine große Rolle (vgl. 5.) und kann darüber hinaus auch nicht nur auf diese Faktoren zurückgeführt werden – Thüringen wies im Vergleich zu Sachsen konstant einen geringeren Organisationsgrad auf, der erklärungsbedürftig bleibt. Letztlich erweist sich der homogenisierende Regionalfokus für die Frage der Mitgliederentwicklung jedoch als hinderlich, da dem großen innerthüringischen Organisationsgefälle auf diese Weise keine Rechnung getragen wird (vgl. 4.). Sowohl zwischen den Orten als auch zwischen den Industrien, Berufen und Geschlechtern bestanden teilweise erhebliche Unterschiede, die es für gewerkschaftliche Fragestellungen nahelegen, am besten auf der betrieblichen oder mindestens auf der lokalen Ebene anzusetzen. Besonders drastisch gestaltete sich das Organisationsgefälle zwischen ostund westthüringischen Orten: So war es beispielsweise dem DMV in Suhl und Umgebung bis 1910 gelungen, von 5.860 Beschäftigten in 450 Betrieben lediglich 1.600 und damit ca. 27 % zu organisieren14, während die Gewerkschaft in Altenburg 1908 bereits 78,5 % der städtischen Metallarbeiterschaft zum Gewerkschaftsbeitritt bewegt hatte.15 Hatte der Organisationsgrad in den Altenburger Metallfabriken 1894 schon 49,5 % betragen16, lag er fünfzehn Jahre später in Suhl erst bei 15 %.17 Im Organisationsvorsprung von Orten wie Altenburg oder Saalfeld gegenüber westthüringischen Orten wie Eisenach, Mühlhausen, Schmalkalden und Suhl manifestierten sich vor allem unterschiedliche industrielle Entwicklungsgeschwindigkeiten, aber auch Phasenverschiebungen in der gewerkschaftlichen Arbeit selbst: So konnten Gewerkschafter im an Sachsen 13 Von 1903 bis 1906 und von 1912 bis 1916 waren in Dresden sogar mehr Metallarbeiter im DMV organisiert als im gesamten Gebiet des heutigen Freistaats Thüringen. Vgl. die Mitgliederangaben in den Jahr- und Handbüchern des DMV für den vierten Bezirk im Vergleich zu Abb. 1. 14 Vgl. Geschäftsbericht für das Jahr 1910, hg. v. Ortsverwaltung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes für Suhl und Umgegend, Suhl 1911, S. 1164. 15 Vgl. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1908, hg. v. Ortsverwaltung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes Altenburg, Altenburg 1909, S. 677. 16 Vgl. MAZ 12 (1894) 10, S. 4. 17 1909 führte der DMV in Suhl erst 886 Mitglieder und verdoppelte diese Zahl „durch den Massenanschluß der Gewehrarbeiter in Suhl“ im Jahr darauf beinahe auf 1.600. Vgl. Geschäftsbericht 1910 (wie Anm. 14), S. 1165.

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grenzenden Raum sowohl auf eine frühe Industrialisierung als auch auf einen deutlichen „kulturellen Vorlauf“18 bauen und ihre gewerkschaftlichen Methoden bis 1914 unter wesentlich günstigeren Bedingungen weiterentwickeln als ihre Kollegen im Thüringer Wald. Erfolge, die man in Altenburg bereits in den frühen 1890er Jahren gefeiert hatte, verschoben sich in Suhl und Eisenach dadurch in die direkte Vorkriegszeit. Dort, wo, wie in Jena oder Gotha, die gewerkschaftlichen Vorfeldstrukturen durch industrielles Wachstum mit einer „modernen“ Betriebsorganisation der Verbände zusammenfielen, wurden dagegen zwischen 1900 und 1914 die größten Organisationszuwächse verzeichnet. So schufen die Jenaer Stiftungsbetriebe sowie Reichsbahnausbesserungswerk, Turbinenwerk und Waggonfabrik in Gotha erst relativ spät die strukturellen Voraussetzungen für die Bildung einer städtischen Industriearbeiterschaft, die durch ihre großbetriebliche Gliederung, ihr hohes Qualifikationsniveau und große Dispositionsspielräume am Arbeitsplatz einen idealen Nährboden für die Arbeit von Werkstattvertrauensmännern und betrieblicher Agitation durch den DMV bildete.19 Die DMV-Verwaltung in Jena erreichte durch diese Mischung aus Bedingung und Handlung bis 1913 die Spitzenposition der Metallarbeiterorganisation in Thüringen.20 Dass industrielles Wachstum als Bedingung für gewerkschaftlichen Erfolg jedoch nicht ausreichte und es auch jeweils auf die wirtschaftliche Struktur ankam, zeigten dagegen Orte wie Suhl oder Ruhla sehr eindrücklich: Die Auslagerung von Produktionsschritten in die Hausindustrie, die damit häufig verbundene Scheinselbstständigkeit und die Abhängigkeit der Gesellen von tausenden Kleinmeistern erschwerten gewerkschaftliche Organisationsbemühungen erheblich, sodass es bei Firmen wie Simson oder Gebrüder Thiel entsprechend länger dauerte oder gar nicht gelang, Anschluss an die Beschäftigten herzustellen.21 Auf der Ebene der beruflichen Gliederung der DMV-Mitgliedschaft setzte sich dieser Zusammenhang zwischen industriell-betrieblichen Bedingungen und gewerkschaftlichem Vorgehen nahtlos fort (vgl. Abb. 2.): Je nachdem, wie sich die Gewerbestruktur in den Orten gestaltete, ergaben sich teilweise erhebliche Abweichungen in der Berufsstruktur, zu denen die jeweilige berufliche 18 Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 88. 19 Vgl. Tamara Hawich, Manufakturen, Maschinen, Manager. Unternehmer und Unternehmen zwischen Gotha und Eisenach – Geschichte und Geschichten, Erfurt 2002, S. 45– 50; Jekaterina Vogel, Die Gothaer Waggonfabrik. 100 Jahre eines Unternehmens (1898– 1998), in: Gothaer Museumsheft. Beiträge zur Regionalgeschichte (1998), S. 23–37. 20 Für Jena vgl. Marco Swiniartzki, Gewerkschaften in der Stadt des „Musterbetriebes“. Die Metallarbeiterbewegung in Jena 1890–1918, in: Teresa Thieme (Hg.), Der Weg in die Revolution. Soziale Bewegungen in Jena 1869–1918, Jena 2018, S. 236–277. 21 Vgl. Der Kampf in Ruhla, in: MAZ 21 (1903) 34, S. 4 f.; Geschäftsbericht 1910 (wie Anm. 14), S. 1164–1167.

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Fokussierung der Ortsleitung maßgeblich beitrug. Unter der Ebene der Schlosser, die für alle Industriezweige wichtig waren und partiell den Drehern sowie den angelernten Maschinenarbeitern, deren Bedeutung durch den Wandel in der Fertigungstechnik nach 1900 stark zunahm, zeigten sich in der Berufsstruktur der Ortsverwaltungen noch 1910 deutliche Anzeichen für die unterschiedlichen Prägungen, die einzelne Berufsgruppen auf die Entwicklungen der Ortsgewerkschaften ausgeübt hatten. So zeugte der Anteil von 11 %, den die Klempner an der Mitgliedschaft Erfurt ausmachten, von der traditionell starken Organisation dieser Berufsgruppe in der Stadt und der Tatsache, dass die Klempner in Erfurt die erste Metallarbeiter-Gewerkschaftsorganisation gegründet hatten.22 Eine ähnliche hohe Bedeutung nahmen auch die Mechaniker und Optiker für den DMV in Jena nach dessen Etablierung seit Mitte der 1890er Jahre ein,23 während durch die örtliche Nähmaschinenindustrie der Anteil von Schlossern, Maschinenarbeitern und Drehern um 1910 nirgends in Thüringen höher war als in Altenburg. Dadurch, dass sich die Agitation des DMV nach 1900 verstärkt auf die Werkstattsysteme des Maschinen- und Anlagenbaus konzentrierte und Handwerker immer weiter in den Hintergrund gedrängt wurden, erhielten diese lokalen Berufsstrukturen und Berufstraditionen einen großen Einfluss auf die örtliche Gewerkschaftsentwicklung vor 1914: So konnte sich die betriebsorientierte Agitation unter einem dennoch sehr zentralistischen Organisationsmodell des DMV dort am besten durchsetzen, wo – wie in Altenburg, Gotha und Jena – Industriearbeiter in der Mehrheit waren oder sich die Industriearbeiterschaft erst nach 1900 wirklich konstituiert hatte, während handwerkliche Gewerkschaftsprägungen der örtlichen Funktionäre – wie in Erfurt – das berufsübergreifende Prinzip des DMV bremsten und teilweise sogar untergruben. Es erklärt sich dadurch auch, warum die Möglichkeit, im DMV berufliche Fachsektionen zu gründen, bei den Optikern und Mechanikern in Jena zu einem Erfolg wurde, während die Fachsektion der Klempner in Erfurt bis 1907 einen erbitterten Kampf gegen die DMV-Ortsverwaltung führte.24

22 Aus dem 1887 in Erfurt gegründeten Fachverein der Klempner und verwandter Berufsgenossen gingen der berufsübergreifende Fachverein und daraus die DMV-Mitgliedschaft Erfurt hervor. Vgl. MAZ 8 (1890) 42, S. 6. 23 Vgl. Swiniartzki, Stadt des „Musterbetriebes“ (wie Anm. 20), S. 249 f. 24 Vgl. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1905. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, hg. v. Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1906, S. 247.

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Abb. 2: Berufliche Gliederung des DMV in Saalfeld, Altenburg, Erfurt und Jena25

Schlosser Maschinenarbeiter Dreher Former Klempner Gürtler Schmiede Arbeiterinnen Optische Instrumentenarbeiter Mechaniker

Saalfeld (1896) 36,6 % 5,7 % 22 % 16,3 % – – 0,8 % –

Altenburg (1907) 30,6 % 26,1 % 9,3 % 3,1 % 5,4 % 9,4 % – 5,7 %

Erfurt (1910)

Jena (1910)

29,9 % 23,6 % 9,7 % 4,6 % 11 % 2,9 % 5,2 % 3,2 %

24,9 % 6% 11,9 % 1% 2,9 % – 1,6 % 2,3 %







21,7 %







19,2 %

Anders als bei den Unterschieden in der Berufsstruktur konzentrierte sich die Beschäftigung von Arbeiterinnen in Thüringen besonders auf die Textilindustrie und war damit ein Organisationsgebiet des DTV. Zwar hatte auch der Holzarbeiterverband eine bedeutende weibliche Mitgliedschaft zu verzeichnen, die in der Vorkriegszeit maximal 8,7 % betrug und unter den Bedingungen der Kriegsproduktion (vor allem der Geschosskorbfertigung26) bis 1918 auf fast 30 % anstieg, doch sank dieser Anteil bis 1926 wieder auf 13 % und war damit wenig mehr als ein vorübergehendes Phänomen (vgl. Abb. 3). Weitaus geringer war der Anteil der Arbeiterinnen im Metallarbeiter-Verband, der reichsweit von 21,2 % (1917) auf nur noch 6,6 % (1931) sank – Frauen wurden in Metallbetrieben noch weitestgehend als Ausnahmen angesehen und hatten auch seitens der Gewerk25 Für Saalfeld vgl. MAZ 14 (1896) 7, S. 6; für Altenburg: Geschäfts-Bericht für das Jahr 1907, hg. v. Ortsverwaltung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes Altenburg, Altenburg 1908, S. 339; für Erfurt: Geschäfts-Bericht für das Jahr 1910, hg. v. Ortsverwaltung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes Erfurt, Erfurt 1911, S. 999; für Jena: Geschäftsbericht für das Jahr 1910, hg. v. Ortsverwaltung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes Jena, Jena 1911, S. 1675. 26 Zu Kriegsbeginn wechselten tausende Beschäftigte der Textil-, Leder- und Spielzeugindustrie in die Geschosskorbfertigung, wo sie meist mehr verdienten als bei ihrer alten Tätigkeit. Neben Coburg gehörten auch Pößneck, Saalfeld, Apolda, Bürgel und Eisenberg zu den Zentren dieser Branche, in der Thüringen etwa ein Drittel der gesamten Reichsproduktion umfasste. Vgl. Jahrbuch 1916, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1917, S. 233; Jahrbuch 1917, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1918, S. 236 f., 240 f.

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schaften darunter zu leiden, dass sie als solche wahrgenommen und stigmatisiert wurden.27 Abb. 3: Anteil weiblicher Gewerkschaftsmitglieder in Thüringen28 Im DHV 1900 1907 1913 1916 1918 1921 1926

5,7 % 8,7 % 26,9 % 29,8 % 16,1 % 13 %

Im DTV 12 % 46,6 % 47,4 % 67,1 % 70,4 % 63,5 % 58,5 %

Den größten innergewerkschaftlichen Wandel vollzog in dieser Hinsicht der Textilarbeiterverband, dessen Anteil weiblicher Mitglieder bereits vor 1914 auf fast 50 % kletterte, sich während der Kriegsproduktion auf über 70 % steigerte und auch nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr unter 58 % sank. Im Vergleich zu den anderen Gewerkschaften legte der DTV daher nicht nur das größte Engagement bei der Agitation für die Arbeiterinnen an den Tag – der Verband offenbarte auch organisationssoziologisch das größte Innovationspotential, das sich weit von DMV und DHV abhob. So gingen die Sekretäre des DTV vor allem in Ostthüringen schon vor dem Weltkrieg dazu über, Arbeiterinnen Verwaltungsaufgaben zu übertragen, rein weibliche Vertretungsinstitutionen zu schaffen und das Problem ungleicher Behandlung der Geschlechter auf die Tagesordnung zu setzen. 1911 waren im DTV-Gau Gera von 9.748 weiblichen

27 Vgl. Der DMV in Zahlen, hg. v. Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Berlin 1932, S. 122; vgl. weiterführend Beatrix Geisel, Frauen als „Störfaktoren“ roter Patriarchen. Die Rechtsberatungspraxis der freigewerkschaftlichen Arbeitersekretäre (1894–1933), in: IWK 34 (1998) 3–4, S. 343–363; Brigitte Kassel, Der „männliche Familienernährer“. Zur Lohn- und Tarifpolitik des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1891–1933, in: IWK 34 (1998) 3–4, S. 364–380; Dies., Frauen in einer Männerwelt. Frauenerwerbsarbeit in der Metallindustrie und ihre Interessenvertretung durch den Deutschen Metallarbeiter-Verband (1891–1933), Köln 1997; Swiniartzki, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband (wie Anm. 5), S. 395–404. 28 Die Werte sind vom Verfasser aus den lokalen Mitgliederzahlen von DHV und DTV auf dem Gebiet des heutigen Freistaats Thüringen errechnet, wie sie in den Jahr- und Handbüchern sowie den Jahresabrechnungen in den Gewerkschaftszeitungen abgedruckt sind. Aus Platzgründen soll auf eine genaue Auflistung hier verzichtet werden. Auf Anfrage liefert diese der Verfasser gerne nach.

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Mitgliedern bereits 301 direkt für den Verband tätig.29 Bis 1917 stieg dieser Anteil auf 496 von 9.273.30 Da es auch nach dem Krieg bei der Dominanz der weiblichen Mitglieder im Verband blieb (vgl. Abb. 4), wurden diese Angebote und Strukturen auch in der Weimarer Republik konsequent ausgebaut. Abb. 4: Organisation der Geschlechter in der Textilindustrie Thüringens 1900–193031

1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913

männlich 2.395 2.426

weiblich 327 265

5.299 4.680 6.259

1.559 1.812 4.643

6.725 6.871 5.334 5.587 5.930 6.602 6.660

5.866 5.991 4.076 4.124 4.545 5.394 6.009

1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926

männlich 4.846 2.672 1.769 1.579 2.814 9.141 13.239 16.242 17.068 15.441 9.981 9.859 9.624

weiblich 5.536 4.641 3.615 4.283 6.701 13.792 19.928 28.270 33.123 28.777 14.966 14.653 13.553

Dazu zählten vor allem die lokalen Arbeiterinnenkommissionen, von denen im Verband 186 (1926) existierten, und die Organisation von Veranstaltungen für die Arbeiterinnen. Die wichtigsten Themen waren dabei der Schwangeren- und Wöchnerinnenschutz sowie die Durchsetzung des Prinzips gleicher Lohn für gleiche Arbeit.32 Dem Textilarbeiterverband kam dabei eine echte Pionierfunktion zu – besonders wenn man bedenkt, dass die weibliche Erwerbsarbeit in anderen Verbänden und der Gesellschaft als Problem und nicht als Chance 29 Vgl. Jahrbuch 1911, hg. v. Vorstand des Deutschen Textilarbeiterverbandes, Berlin 1912, S. 145. 30 Vgl. Jahrbuch 1917, hg. v. Vorstand des Deutschen Textilarbeiterverbandes, Berlin 1918, S. 75. 31 Errechnet aus den lokalen Mitgliederzahlen des DTV auf dem Territorium des heutigen Freistaats Thüringen. Vgl. Anm. 32. 32 Vgl. Jahrbuch 1925, hg. v. Vorstand des Deutschen Textilarbeiterverbandes, Berlin 1926, S. 187–194; Jahrbuch 1928, hg. v. Vorstand des Deutschen Textilarbeiterverbandes, Berlin 1929, S. 236–238, 240.

302

Marco Swiniartzki

wahrgenommen wurde und es thematisch um Ungleichheiten ging, über die aktuell immer noch debattiert wird.33

3. Zwischen regionaler Integration und sozioökonomischer Heterogenität Die Industriegewerkschaften in Thüringen waren wie in kaum einer anderen Region von einem Spannungsverhältnis zwischen regionaler Integration und innerthüringischen Sonderentwicklungen geprägt. Denn während sich Gewerkschaften wie der DMV, DHV oder der 1891 in Pößneck gegründete DTV als Industrieverbände natürlich zentral und damit für das gesamte Reichsgebiet konstituierten, fragten sich viele Gewerkschafter in Thüringen mindestens bis zur Landesgründung 1920, wie der politische Flickenteppich der Region in den Zentralgewerkschaften zu verorten sei.34 Ihre Position war dabei zwar nie unumstritten, aber zumindest in den 1890er Jahren mehrheitsfähig: Thüringen wurde als geschlossene gewerkschaftliche Region entworfen, in der sich schon früh Bestrebungen zeigten, dezidiert thüringenspezifische Institutionen zu etablieren, um sich als Bezirk oder Gau nach außen abzugrenzen. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Industrieverbände daher auch entscheidend von ihren gewerkschaftlichen Vorgängern in Thüringen, die sich in den 1880er Jahren zwar bis auf wenige Ausnahmen35 berufsübergreifend, aber dennoch durchweg lokal aufgestellt hatten. Wichtige Vertreter waren dabei der Fachverein der Metallarbeiter aller Branchen in Gera (1884), der Verein der Metallarbeiter aller Branchen Gotha’s und Umgegend (1885 gegr., 1888 so umbenannt) sowie die Metallarbeiter-Fachvereine von Erfurt (1888) und Apolda (1889).36 Dass sich trotz dieser lokalgewerkschaftlichen Traditionen bereits in den frühen 1890er Jahren Bestrebungen einer regionalen Integration zeigten, muss vor allem als Folge einer örtlichen Schwäche der Verwaltungen bewertet werden, die man durch eine institutionalisierte Zusammenarbeit zu überwinden hoffte. Bezeichnenderweise waren es daher auch genau jene mitglieder- und finanzstarken Verwaltungen wie Altenburg und Gera, die den größten Widerstand gegen solche

33 Vgl. den Themenschwerpunkt der IG Metall „Faires Entgelt für Frauen“ unter https:// www.igmetall.de/faires-entgelt-fuer-frauen-11300.htm (letzter Zugriff am 24.7.2018). 34 Vgl. zu diesem Komplex Swiniartzki, Apolda versus Altenburg (wie Anm. 11). 35 Dazu zählten etwa die Fachvereine der Klempner in Altenburg und Erfurt sowie partiell der Verein der Eisenarbeiter und verwandter Berufe in Gera. Vgl. MAZ 1 (1883) 6, S. 3; MAZ 7 (1889) 10, S. 3; vgl. Anm. 22. 36 Vgl. MAZ 2 (1884) 5, S. 4; MAZ 3 (1885) 41, S. 3; MAZ 6 (1888) 51, S. 4; MAZ 6 (1888) 52, S. 4; MAZ 7 (1889) 15, S. 3.

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Bestrebungen entfalteten und lange lokalgewerkschaftliche Sonderstellungen behaupten konnten.37 Regionale Integrationsbemühungen wurden in den drei Verbänden vor allem über thüringenweite Agitationskommissionen und regelmäßige Konferenzen organisiert. In keiner der Gewerkschaften bestanden dabei Anzeichen für eine Orientierung an den politischen Grenzen der thüringischen Kleinstaaten. Lediglich im DTV diskutierte man zwischen 1902 und 1904 eine Dreiteilung Thüringens nach Agitationsgebieten, gegen die sich jedoch erfolgreich Widerstand regte38 – Thüringen wurde weitgehend als gewerkschaftliche Einheit interpretiert, die höchstens ausgeweitet, aber nicht weiter zergliedert werden sollte. Am deutlichsten wurde dies im Metallarbeiter-Verband, der wie die anderen Verbände auch bei seiner Gründung noch nicht über eine Bezirksstruktur verfügte. Zwischen den gewerkschaftlichen Strukturen der Orte und der Gewerkschaftsleitung bestanden also noch keine weiteren Vermittlungsinstanzen. In dieser Situation beriefen die thüringischen Metallarbeiter-Orte ihre erste Konferenz ein, die bereits im November 1891, also wenige Monate nach Gewerkschaftsgründung, in Erfurt tagte. Sie schufen dabei das Amt eines Vertrauensmannes, der die thüringischen Orte als Vermittler integrieren und als Sprachrohr gegenüber dem Vorstand vertreten sollte.39 Bis 1903 folgten darauf noch sechs weitere Konferenzen der Metallarbeiter Thüringens, auf denen sich das Konzept eines gewerkschaftlichen Thüringens immer weiter schärfte.40 Maßgeblich dafür verantwortlich war Hermann Leber, der seit 1891 Vorsitzender der Verwaltungsstelle Apolda gewesen war und 1896 nach Jena wechselte, wo er ebenfalls den Vorsitz übernahm und die Verwaltung Jena bis 1913 rasch an die Spitze der Mitgliedertabelle in Thüringen führte.41 Auch wenn Leber der Nachwelt vor allem als SPD-Politiker bekannt ist, liegen viele seiner Leistungen auf gewerkschaftlichem Gebiet. Als überzeugter Verfechter der regionalen Integration vertrat er die thüringischen Orte zwischen 1895 und 1903 als Vertrauensmann und entschärfte dabei vor allem den Widerstand Altenburgs gegen eine stärkere Zusammenarbeit in Thüringen. Eine der wichtigsten Folgen seines Engagements lag dementsprechend in der Überwindung des innergewerkschaftlichen Wettbewerbs zwischen den Ortsverwaltungen, der in den frühen 37 Diese Ortsverwaltungen fürchteten nicht zu Unrecht, beim kostspieligen Aufbau regionaler Institutionen und Ämter die Hauptlast tragen zu müssen, da sich die finanzielle Belastung nach der Mitgliederzahl der Orte richtete. 38 Vgl. Konferenz des thüringischen Agitationsbezirks, in: Der Textil-Arbeiter 16 (1904) 30 (wie Anm. 10), S. 1; Konferenz der Thüringer Textilarbeiter, in: Der Textil-Arbeiter 14 (1902) 29, S. 2. 39 Vgl. MAZ 9 (1891) 47, S. 4 f. 40 Vgl. Swiniartzki, Apolda versus Altenburg (wie Anm. 11), S. 130–138. 41 Vgl. Ders., Stadt des „Musterbetriebes“ (wie Anm. 20), S. 247–260.

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1890er Jahren publizistisch ausgetragen wurde.42 Leber muss darüber hinaus als lokal entscheidender Weichensteller im Übergang in die betriebliche Arbeit des DMV betrachtet werden, indem er in Jena erste Bewegungen initiierte und den DMV mittelfristig an die Organisation der Arbeiterschaft des Unternehmens Carl Zeiss heranführte. Als streitbarer Geist, hervorragender Redner und unermüdlicher Arbeiter verkörperte er gewissermaßen den Prototypen eines Gewerkschaftssekretärs in der Vorkriegszeit.43 Den Höhepunkt erlebten Lebers Wirken und das Drängen nach einem Bezirk Thüringen im März 1903, als er auf der Chemnitzer Konferenz bei den sächsischen Kollegen gegen Widerstände zwei Resolutionen durchsetzte, die zum einen die Zusammenlegung von Sachsen und Thüringen forderten und zum anderen den Sitz des Bezirks nach Gera verlegten.44 Zur Einordnung dieser wenig bekannten Ereignisse sei darauf hingewiesen, dass man zu diesem Zeitpunkt kurz vor einer mitteldeutschen Lösung stand, die die sozioökonomische Landkarte des Reiches entscheidend umgestaltet und besonders Ostthüringen mit seinem Zentrum Gera einen Platz zugewiesen hätte, der seiner wirtschaftlichen Bedeutung gerecht geworden wäre. Hätte sich die größte deutsche Gewerkschaft zu diesem Schritt durchgerungen, hätte dies große Folgen nicht nur für die anderen Gewerkschaften, sondern auch für die soziale Integration des mitteldeutschen Raumes gehabt. Letztlich entschied sich die Generalversammlung jedoch dafür, diese Resolutionen abzulehnen und versagte Thüringen damit eine größere Eigenständigkeit. Mit einem Verweis auf die wirtschaftliche Schwäche Thüringens hängte man die Kleinstaaten sogar noch an den Magdeburger Bezirk an.45 Bis über die Landesgründung von 1920 hinaus wirkte diese Entscheidung lange nach: Sie wies dem thüringischen Raum die Rolle einer bezirklichen Aufteilungsmasse zu, die je nach Lage hier- oder dorthin transferiert werden konnte und weitere regionale Integration verhinderte. Erst 1920 folgte der Landesgrün42 Die Lokalberichte vieler thüringischer Orte, etwa in der MAZ, wiesen in den frühen 1890er Jahren generell den Charakter eines „Entschuldigungsschreibens“ für die örtlich unbefriedigenden Organisationsverhältnisse auf, der sich implizit auch immer mit einem postulierten „Idealtyp“ der Lokalorganisation verglich, mit dem Orte wie Altenburg oder einige sächsische Orte identifiziert wurden. Vgl. MAZ 6 (1888) 38, S. 3; MAZ 8 (1890) 42, S. 6; MAZ 9 (1891) 5, S. 5; MAZ 10 (1892) 15, S. 6. 43 Vgl. etwa Klaus Tenfelde, Arbeitersekretäre, Karrieren in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914, Heidelberg 1993. 44 Vgl. Hermann Leber, Aus den Agitationsbezirken. Thüringen, in: MAZ 21 (1903) 39, S. 5; Aus den Agitationsbezirken. Bezirkskonferenz für Sachsen und Thüringen, in: MAZ 21 (1903) 13, S. 5. 45 Vgl. Die sechste ordentliche General-Versammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes. Abgehalten vom 1. bis 6. Juni 1903 im Saale des Gewerkschaftshauses zu Berlin, hg. v. Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1903.

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dung auch die Einrichtung eines DMV-Bezirks Erfurt, der nun auch die verworrenen Verwaltungsgrenzen zu Sachsen klärte. Dagegen existierte im DHV zwar seit 1893 ein Gau Erfurt – der gut organisierte Ostteil Thüringens gehörte jedoch bis 1909 zum Gau Chemnitz und anschließend bis 1931 zum Gau Leipzig.46 In keinem Verband war jedoch die Trennung der gut- von den schwachorganisierten Gebieten so deutlich wie im Textilarbeiterverband. Denn im Zuge deutlich steigender Mitgliederzahlen trennte die Generalversammlung 1911 den Ostteil Thüringens vom Gau Thüringen ab und schuf den Gau Gera, der bis 1920 auch viele westsächsische Orte umfasste. Das übrige Thüringen von Eisenach bis nach Eisenberg gehörte nun zum DTV-Gau Kassel.47 Gerade weil sich gegen solche Entscheidungen bei den Gewerkschaftern in Thüringen Widerstand regte48, steht die Teilung symbolisch für deren Dilemma: So konnten sie noch so sehr für den regionalen Zusammenschluss und eigene Bezirksstrukturen kämpfen – die Grundlage für die Verwaltungsstruktur bildeten wirtschaftspolitische Notwendigkeiten und Grenzen, von denen im thüringischen Raum zahlreiche vorhanden waren und die mittelfristig zu einer Etablierung und später sogar argwöhnischen Verteidigung teil-thüringischer Lösungen führten. Der Teilung im Textilarbeiterverband lagen beispielsweise der Zuschnitt der westsächsisch-ostthüringischen Arbeitgeberverbände der Webereien und Färbereien sowie die traditionell große Sachsen-Fokussierung der ostthüringischen Industrie zugrunde.49 Die hohe sozioökonomische Differenzierung des thüringischen Raumes verhinderte einmal mehr deren organisatorische Integration und zementierte die Verwaltungsstrukturen bis 1933 sehr erfolgreich. So zelebrierte der Gauleiter von Gera, Alban Bretschneider, in den späten 1920er Jah46 Zum Gau Chemnitz/Leipzig gehörten u. a. Altenburg, Eisenberg, Gera, Greiz, Schleiz, Ronneburg, Schmölln, Triebes und Zeulenroda mit 2.642 Mitgliedern (Stand 1. Quartal 1907), was ca. 38 % aller Mitglieder in Thüringen ausmachte. Vgl. Jahrbuch 1907, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Stuttgart 1908, S. 128–134. 47 Vgl. Jahrbuch 1911, hg. v. Vorstand des Deutschen Textilarbeiterverbandes, Berlin 1912, S. 150–156. 48 Die Gauleitung Gera monierte: „Durch die ‚Gauzentralisation‘ in Sachsen hat der Gau Gera 28832 Mitglieder ‚verloren‘. […] Er stand vor Ausbruch des Krieges mit seinen über 25000 Mitgliedern an erster Stelle und steht jetzt mit seinen über 23000 Mitgliedern ziemlich an letzter Stelle. So ändern sich die Zeiten. […] Die Gauleitung Gera beneidet die ‚Sachsen‘, die für die Bezirksgruppe Sachsen der Reichsarbeitsgemeinschaft eine alleinige zuständige Gauleitung haben. Die Gauleitung in Gera ist ‚bedroht‘ durch die Einwirkungen aus den Arbeitsgemeinschaften Chemnitz, Mühlhausen, Nordhausen und Bleicherode.“ Jahrbuch 1920, hg. v. Vorstand des Deutschen Textilarbeiterverbandes, Berlin 1921, S. 210. 49 Dazu gehörten vor allem die Konvention Sächsisch-Thüringischer Färbereien mit Sitz in Greiz sowie der Verband Sächsisch-Thüringischer Webereien mit Sitz in Gera, die beide sowohl den ostthüringischen als auch den westsächsischen Wirtschaftsraum organisierten. Vgl. ebd., S. 180 f.

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ren nun regelrecht die stolze Sonderrolle des Textilgaus Gera in Thüringen und Deutschland – vor allem, weil ihm 1920 die stark organisierten sächsischen Orte im Zuge der Arrondierung Sachsens entzogen worden waren und an der Gaugrenze ein egoistisches Verwaltungsstellen-Schieben eingesetzt hatte.50 Er notierte 1929: Der Gau Gera ist sowohl in der Zahl der Beschäftigten als auch in räumlicher Beziehung der kleinste. Ein kleiner Gau kann aber doch auch großes leisten. Und so ist zu konstatieren, daß die Textilarbeiterschaft im Gau Gera prozentual freigewerkschaftlich am besten organisiert ist und die Beitragsleistung mit 88 Pfg. Durchschnittswert an erster Stelle steht.51

Geriet eine gewerkschaftliche Integration Thüringens auf diese Weise weiter ins Hintertreffen, wurden aus demselben Grund gleichzeitig mitteldeutsche Lösungen kaum noch diskutiert: Auch gewerkschaftlich war Thüringen nicht Teil eines Mitteldeutschlands, sondern eher eine Sammlung lokaler Sonderentwicklungen, die sich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten und über Landesgrenzen hinweg organisierten und an die sich auch die Gewerkschaften anpassten. Zwar wurde in den 1920er Jahren immer wieder versucht, Tarifverträge für Sachsen und Thüringen abzuschließen – etwa für die Sägewerke52 – doch blieben kleinteiligere und grenzüberschreitende Organisationsformen dominierend und führten dazu, dass sich zahlreiche wirtschaftliche Gebiete an den Rändern Thüringens eher nach Sachsen, Hessen, Bayern und in den niedersächsischen Raum orientierten. Die andauernde Zerschneidung des Landes Thüringen resultierte daher auch aus der Pragmatik der Gewerkschaften, ihre eigenen Verwaltungsstrukturen an gewachsene industrielle Beziehungen anzupassen. Bereits vor 1914 hatte beispielsweise der DMV im ostthüringisch-westsächsischen Raum sogenannte kombinierte Versammlungen von Verwaltungen mehrerer Territorien durchgeführt und soweit es ging Verwaltungsgrenzen an Tarifvertragsgebiete und Arbeitgeberverbandsgrenzen angepasst.53 Gleiches gilt für den DHV, der 1920 weitere thüringische Zahlstellen an den Gau Leipzig über-

50 In der Frage der Zugehörigkeit des sächsischen Ortes Elsterberg zum Ortsgruppenbereich Greiz und des thüringischen Ortes Rußdorf zum Ortsgruppenbereich Chemnitz musste der Vorstand 1925 sogar ermahnen: „Also keine Feindschaft!“ Vgl. Jahrbuch 1925 (wie Anm. 32), S. 234. 51 Jahrbuch 1929, hg. v. Vorstand des Deutschen Textilarbeiterverbandes, Berlin 1930, S. 346. 52 Diese Bestrebungen scheiterten an den unterschiedlichen Lohnauffassungen der Arbeitgeberverbände in Sachsen und Thüringen. Vgl. Jahrbuch 1920, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1921, S. 410. 53 Kombinierte Versammlungen fanden zum Beispiel zwischen den Orten Altenburg, Gößnitz, Schmölln, Meerane, Crimmitschau, Glauchau und Werdau statt. Vgl. MAZ 18 (1900) 7, S. 4; MAZ 19 (1901) 15, S. 5.

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wies, um die Harmonikabranche einheitlich bearbeiten zu können.54 Auch bei grenzüberschreitenden Arbeitskämpfen und uneinheitlichen Grenzziehungen zwischen Gewerkschaften und Tarifvertragsgrenzen arbeiteten die Verwaltungen eng zusammen – etwa, als die Reichsarbeitsgemeinschaft für die Textilindustrie 1920 jene sächsischen Orte, die infolge der gewerkschaftlichen Arrondierung Sachsens vom Gau Gera zum Gau Dresden überwiesen worden waren, dennoch weiterhin der Bezirksgruppe Thüringen zuwies. Die DTV-Gaue Gera und Dresden hatten sich nun mittelfristig bei Verhandlungen der Arbeitsgemeinschaften zu arrangieren, was angesichts antisächsischer Vorbehalte der Gauleitung in Gera mit Hindernissen verbunden war.55 Zusammengefasst ergibt sich in diesem Zusammenhang das Bild einer hinund hergerissenen Gewerkschaftsbewegung, in der die Integration Thüringens für die meisten Gewerkschafter bis 1914 ein Wunsch blieb, für den man sich trotz großer Vorbehalte sogar mit Sachsen zusammengeschlossen hätte, der aber aufgrund des in vielerlei Hinsicht heterogenen Territoriums und den schlichten Notwendigkeiten gewerkschaftlicher Arbeit weitestgehend unerfüllt blieb. Hatten sich die teilthüringischen Verwaltungsstrukturen einmal etabliert, entwickelten ihre Sekretäre schließlich sogar deutliche Bemühungen zu deren Stärkung, wodurch gesamtthüringische Initiativen wie in den 1890er Jahren nach 1918 kaum noch aufkamen. Grundsätzlich gilt daher auch für das „gewerkschaftliche Thüringen“ die Feststellung, dass sich der Einfluss exogener Faktoren auf den Regionaldiskurs stetig verstärkte, während die endogenen Versuche, die polyzentralistische Struktur zu überwinden, deutlich zurückgedrängt wurden.56

4. Thüringen als gewerkschaftlich hochdifferenzierter Raum Als Region mit einer immensen gewerblichen Differenzierung war Thüringen auch eine Region großer gewerkschaftlicher Vielfalt. So existierten etwa 1910 allein im Jenaer Gewerkschaftskartell mehr als 30 Gewerkschaften, die sich um die Organisation der städtischen Arbeiterschaft bemühten.57 Darunter befanden sich neben den Industrieverbänden auch Berufsgewerkschaften und/oder sol54 Vgl. Jahrbuch 1920 (wie Anm. 52), S. 403. 55 Vgl. Anm. 48. 56 Vgl. Jürgen John, „Thüringer Frage“ und „Deutsche Mitte“: Das Land Thüringen im Spannungsfeld endogener und exogener Faktoren, in: Michael Richter/Thomas Saarschmidt/Mike Schmeitzner (Hg.), Länder, Gaue und Bezirke. Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert, Dresden 2007, S. 85–103, hier S. 87. 57 Vgl. Jahres-Bericht für 1911, hg. v. Arbeiter-Sekretariat und Gewerkschaftskartell Jena, Jena, 1912, S. 31 f.

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che, die sich nur lokal konstituierten. Dazu kamen die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine sowie in Teilen Thüringens auch christliche Verbände, die aber keine bedeutende Rolle spielten.58 Die Tatsache, dass es in Thüringen keinen eindeutig führenden, die Industrialisierung anstoßenden Sektor gab, führte dazu, dass sich auch gewerkschaftliche Organisation nur mühevoll oder teilweise gar nicht mehr rekonstruieren lässt. Gering anmutende Mitgliederzahlen sind daher auch immer in Relation zu einer zersplitterten Gewerkschaftslandschaft zu sehen, die sich nicht wie in tendenziell mono- oder biindustriell ausgerichteten Regionen wie dem Ruhrgebiet oder Sachsen homogener gestaltete. Die angebliche Mitgliederschwäche der gesamten Region ist daher auch nur unter einem Quellenvorbehalt zu sehen. Blickt man dagegen ausschließlich auf bestimmte Landesteile des späteren Freistaats, fällt das Urteil sofort ganz anders aus: Sowohl einzelne Städte wie Altenburg, Gera und Jena als auch ganze Subregionen wie Ostthüringen hatten spätestens nach der Jahrhundertwende ein rasantes Mitgliederwachstum zu verzeichnen oder gehörten wie Altenburg schon in den 1890er Jahren zu den reichsweiten Gewerkschaftshochburgen. Es ist dabei zu beobachten, dass bei all diesen gewerkschaftlich erfolgreichen Beispielen eben keine solche industrielle Differenzierung vorherrschte wie für ganz Thüringen. Altenburg organisierte zum überwiegenden Teil Metallarbeiter der örtlichen großbetrieblichen Näh58 Die Mitgliederzahlen der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine (H.-D.) nahmen nach 1900 nicht mehr weiter zu und wurden durch das immense Wachstum der „freien“ Gewerkschaften bis 1914 deutlich in den Schatten gestellt. Für Jena vgl. z. B. Swiniartzki, Stadt des „Musterbetriebes“ (wie Anm. 20), S. 246. Initiativen der christlichen Gewerkschaften lassen sich in Thüringen zwar immer wieder nachweisen, doch ist nicht belegt, dass diese mit Erfolg verbunden gewesen wären. In Greiz besaß der Christliche Textilarbeiterverband am 1.11.1910 344 Mitglieder, während in den umliegenden Orten kaum Wirkungen zu beobachten waren. Die H.-D. hatten im gesamten Gau lediglich 200 Mitglieder zu verzeichnen (v. a. in Apolda). Vgl. Bericht für 1908-09. Für die Delegierten-Gaukonferenz am 16. und 17. April in Gera, hg. v. der Gauleitung des Verbandes Deutscher Textilarbeiter Thüringen, Gera 1909, S. 22 f. Aus dem DHV-Gau Erfurt hieß es zur Methodik der christlichen Gewerkschaften 1907: „Zu bemerken ist noch, daß im letzten Jahre die christlichen Gewerkschaften große Anstrengungen machten, um in Thüringen einzudringen. In Erfurt fand eine Konferenz christlicher Gewerkschaften statt, auf der die Parole ausgegeben wurde, nicht früher weiter nach Osten vorzudringen, bis Thüringen erobert sei. In Erfurt, Gotha und Eisenach sind christliche Gewerkschaftssekretäre angestellt, die Berufsgenossen von uns, Holzarbeiter, sind. Sie werden in Thüringen einen recht steinigen Boden für ihre zersplitternde Tätigkeit finden.“ Jahrbuch 1907 (wie Anm. 46), S. 234. 1913 resümierte die DHV-Gauleitung schließlich: „Die Christen gaben sich wiederum Mühe, in Thüringen Eingang zu finden. Im Vergleich zu der aufgewandten Mühe mit recht wenig Erfolgen. Für eine christliche Organisation ist in Thüringen auch kein Boden.“ Jahrbuch 1913, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1914, S. 301.

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maschinenindustrie und zeigte darin von allen thüringischen Orten das am stärksten an Westsachsen erinnernde Muster.59 Saalfeld gehörte mit seiner Metallindustrie ebenfalls zu diesen frühorganisierten Zentren in Thüringen.60 Jena startete durch die explosionsartige Entwicklung der Stiftungsbetriebe nach der Jahrhundertwende auch gewerkschaftlich erst spät – hatte aber bis 1914 in Mitgliederzahlen alle anderen Orte in Thüringen hinter sich gelassen. Ein anderes Beispiel wäre Gotha, wo sich erst nach 1900 eine Industriearbeiterschaft herausbildete, die ab etwa 1905 durch betriebliche Gewerkschaftsarbeit organisiert werden konnte. In der holzverarbeitenden Industrie lassen sich ähnliche Aussagen treffen: Überall dort, wo sich in und um einzelne Orten herum eine starke industrielle Fokussierung aufbaute, konnte der Holzarbeiterverband schnell Erfolge erzielen – dies trifft für Frankenhausen mit seiner Knopfindustrie genauso zu wie für Schmölln mit seiner industriellen Produktion von Steinnusswaren und Bürgel mit seiner Stockindustrie.61 Auch Thüringens dauerhaft größte Verwaltungsstelle, jene des Textilarbeiterverbandes in Gera, zeugt von diesem Zusammenhang aus gewerkschaftlicher Organisation und einem eindeutigen industriellen Schwerpunkt eines Ortes. Thüringen war eben nicht überall klein- und mischgewerblich – wie Inseln führte an manchen Orten die mittel- und großindustrielle Dominanz auch gewerkschaftlich zu einer Subregionalisierung, die sich in einer extrem ungleichmäßigen Verteilung der Mitglieder niederschlug. Besonders fiel dies in Ostthüringen auf:

59 Zur Industrialisierung im Herzogtum Sachsen-Altenburg vgl. Andreas Wolfrum, Die Sozialdemokratie im Herzogtum Sachsen-Altenburg zwischen 1848 und 1920, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 34–40; Falk Burkhardt, Gewerbe, Industrie und Industrialisierung im 19. Jahrhundert in den thüringischen Residenzen, in: Konrad Scheurmann/Jördis Frank (Hg.), Neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen, Mainz 2004, S. 425–444, hier S. 435. 60 1896 waren in Saalfeld von ca. 1.000 Metallarbeitern 123 organisiert. Vgl. MAZ 14 (1896) 24, S. 5. Bis 1913 stieg die Mitgliederzahl fast konstant und bis zur Aussperrung der Nähmaschinenarbeiter von 1907 waren keine größeren Lohnbewegungen zu verzeichnen, was für eine betriebliche Aushandlungsstärke der Belegschaften und des DMV spricht, die etwa mit Chemnitz oder Altenburg vergleichbar ist. Vgl. MAZ 25 (1907) 33, S. 4. 61 Schmölln bildete seit 1906 die mit Abstand größte Verwaltungsstelle des DHV in Thüringen. 1913 waren hier 1.069 männliche und 536 weibliche Beschäftigte organisiert, was etwa 16 % aller Thüringer Mitglieder entsprach. Bis 1922 stiegen diese Zahlen auf 1.344 männliche und 2.065 weibliche Mitglieder. In Frankenhausen waren es 1913 340 männliche und 66 weibliche Mitglieder, was zwar quantitativ nicht beeindruckte, aber einen hohen Organisationsgrad der Betriebe bedeutete. Gleiches gilt für die 332 männlichen und 12 weiblichen DHV-Mitglieder in Bürgel. Vgl. Jahrbuch 1913 (wie Anm. 58), S. 120–128.

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Abb. 5: Anteil der Mitglieder aus den heutigen Kreisen Gera, Greiz und Altenburger Land an der thüringischen Gesamtmitgliedschaft 1908 und 192662

Im DTV Im DMV Im DHV

1908 79,7 % 32,9 % 36 %

1926 66,6 % 35,9 % 37,4 %

Freilich könnte man argumentieren, dass sich in diesen Kreisen auch die Industrie bündelte. Doch ging der Anteil Ostthüringens an den thüringischen Mitgliedern konstant über seinen industriellen Anteil hinaus – und dies nicht nur in der Textilindustrie, wo der Anteil der Mitglieder 1908 fast 80 % betrug (bei 68,7 % der Beschäftigten) und auch 1926 noch bei zwei Dritteln lag. Auch im Metall- und Holzarbeiterverband bildete Ostthüringen einen konstanten Organisationsschwerpunkt, der weit über der Bedeutung lag, die Ostthüringen für die gesamtthüringische Metall- oder Holzindustrie besaß.63 So zeigte die Dominanz Ostthüringens eben auch, dass zu einer erfolgreichen Gewerkschaftsbewegung mehr gehörte als die geeigneten industriellen Strukturen. Gewerkschaften waren ein bestimmter „way of life“ der Akteure und lebendige Sozialsysteme, die besondere Voraussetzungen an die Arbeiterschaft stellten. Neben dem „kulturellen Vorlauf“ und einer stark individuellen Note durch die örtlichen Gewerkschafter gehörte dazu auch die Möglichkeit, den Nutzen einer Organisation erst einmal anschaulich zu machen, ohne von der lokalen Allmacht einzelner Unternehmen bedroht zu werden. In großen Teilen Ostthüringens und den genannten Städten gestalteten sich diese Voraussetzungen wesentlich günstiger als etwa im Eichsfeld, im Thüringer Wald mit seiner noch dazu ausgedehnten Hausindustrie oder in Orten, die wie Artern von der Kyffhäuserhütte oder Ruhla von Gebrüder Thiel dominiert wurden. Hinzu kam, dass den Gewerkschaften in den Städten und in Ostthüringen die Möglichkeit gegeben wurde, sich im Kontakt mit den Belegschaften weiterzuentwickeln. Dazu zählte etwa die betriebliche Wende der Gewerkschaften nach 1900 mit der Einführung von Werkstattvertrauensleuten und der Professionalisierung ihrer Verwaltungsstruktur, die massiv zum Mitgliedergewinn nach der Jahrhun-

62 Errechnet nach den lokalen Mitgliederzahlen in den Jahrbüchern der drei Verbände für 1908 und 1926. 63 Besonders in der Metallindustrie lagen die Zentren (bis auf Altenburg und Gera) außerhalb Ostthüringens. Anhaltspunkte für die Verteilung bietet Abb. 8. Angaben wie zur Textilindustrie, wo Ostthüringen 1908 63,8 % der Betriebe und 68,7 % der Beschäftigten des Gaus Thüringen umfasste, existierten für die direkte Vorkriegszeit in der Metall- und Holzindustrie jedoch leider nicht. Vgl. Bericht für 1908-09 (wie Anm. 58), S. 4.

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dertwende beitrugen.64 Dieser Wandel der Agitation setzte auch in Thüringen zunächst das Umdenken voraus, dass die Gewerkschaften keine „Kinder der Verhältnisse“ waren, sondern eine aktive Beeinflussung des Organisationsmilieus anstreben mussten, um erfolgreich zu sein. Aus dem DMV in Gößnitz hieß es dazu 1903: Zunächst ist zu konstatieren, daß der Unterschied im Organisationsverhältnis lediglich im Unterschied der Agitationstätigkeit liegt. Wenn den Kollegen bei Kolbe die Agitation so am Herzen läge, wie den Kollegen von Allendorf, wäre noch mancher Kollege für unsere Organisation zu gewinnen.65

Das wichtigste Instrument dieser Neuausrichtung des Verhältnisses zur Arbeiterschaft bildete eine agitatorisch-betriebliche Wende, in deren Folge der Anteil von öffentlichen Versammlungen sowie Mitgliederversammlungen an der Gewerkschaftsarbeit rapide abnahm, während Fabrikbesprechungen, Betriebsversammlungen, Vertrauensleutebesprechungen und die Hausagitation nun je nach Organisationsmilieu und betrieblichen Voraussetzungen an den geeignetsten Stellen eingesetzt wurden. Je nach Region, Industrie und Gewerkschaft zeigten sich in Thüringen dabei große Unterschiede. So antwortete die DMV-Verwaltungsstelle Altenburg auf die Frage nach der Etablierung des Werkstattvertrauensmännersystems bereits 1905: „Für alle Betriebe und alle Berufe sind solche vorhanden.“66 Für die gleiche Zeit existieren ebenfalls Hinweise auf den Ausbau dieses Systems in Jena und Erfurt, wo die Veränderungen wie überall auf den Widerstand der Unternehmensleitungen trafen. In der Erfurter Lokomotivfabrik Hagans streikten beispielsweise 1905 gewerkschaftsübergreifend 120 Arbeiter unter anderem für die Wiedereinstellung ihres Vertrauensmannes.67 Gleichzeitig bedienten sich die Verbände dort, wo die großbetrieblichen Strukturen der Metallindustrie nicht vorhanden waren, anderer Methoden. So resümierte der DHV-Vorstand 1909: Eines aber mußte bei den öffentlichen Versammlungen auffallen, fast nirgends waren unorganisierte Kollegen erschienen. Fest steht, daß wir in den öffentlichen Versammlungen Mitglieder nicht mehr gewinnen werden. Diese Erkenntnis veranlaßte uns ganz besonders, die Hausagitation nicht nur in den Zahlstellen, sondern auch in den umliegenden Orten zu pflegen. Gerade dort, wo größere Betriebe nicht vorhanden sind, mit Werkstattversammlungen nichts anzufangen ist, haben wir mit dieser Agitation Erfolge gehabt. Außer in den Zahlstellen haben wir noch 72mal in anderen Orten Hausagitation veranstaltet.68

64 Vgl. Swiniartzki, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband (wie Anm. 5), S. 177–194. 65 MAZ 21 (1903) 28, S. 6. 66 Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1905. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, hg. v. Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1906, S. 228. 67 Vgl. MAZ 23 (1905) 30, S. 5. 68 Jahrbuch 1909, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1910, S. 270.

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Neben der Hausagitation und den Agitationstouren auswärtiger Redner,69 die besonders vom DHV zur Aktivierung der Arbeiter in den Regionen der Hausindustrie und Heimarbeit eingesetzt wurden, modifizierten die Gewerkschaften aber auch altbekannte Vorgehensweisen zur Erhöhung ihrer Wirkungskraft. In der Textilindustrie des Gaus Gera reaktivierte der DTV dazu nicht nur den Sektionsgedanken, um den einzelnen Berufen (hier vor allem Färber und Teppichweber) das Gefühl einer gewerkschaftlichen Sonderbehandlung zukommen zu lassen – die Sekretäre verlegten die Fabrikbesprechungen im Rahmen von Verhandlungen auch vom Arbeitsschluss auf den Beginn der Nachmittagsschicht, wo man außerhalb der Fabriktore zusammenkam und die Ergebnisse quasi während der Arbeitszeit mitteilte. Die Betriebsleitung wurde lediglich informiert, dass die Belegschaft etwas später mit der Arbeit beginnt.70 Der Umstand, Gewerkschaftsarbeit live zu implementieren und sich gleichzeitig geschlossen einen Teil des Arbeitsprozesses anzueignen, entfaltete laut der Gewerkschafter eine ungeahnte Werbewirkung. All diese Prozesse gewerkschaftlicher Innovation, zu denen auch die Hinwendung zu den Arbeiterinnen und Jugendlichen gehörte, bekräftigten die Gewerkschaften in ihrer betrieblichen und basisnahen Ausrichtung und verliehen ihnen eine wesentlich höhere soziale Schlagkraft als noch im 19. Jahrhundert. Sie konnten erst auf diese Weise eine Machtbeziehung und Aushandlungsstruktur mit den Arbeitgebern etablieren, die einer Anerkennung der Gewerkschaften glich oder diese, wie beim Ende des Arbeitskampfes bei der Waggonfabrik in Gotha 1908, sogar explizit beinhaltete.71 Man schuf durch geschickte Basispolitik schlicht Tatsachen in den industriellen Beziehungen, während die Gewerkschaften an vielen anderen Orten in Thüringen noch immer gegen die gleichen Hürden ankämpften wie noch 1890. Diese Ungleichentwicklung hatte nach 1918 große Folgen: In Orten, die vor dem Ersten Weltkrieg kaum organisiert waren, glichen die Mitgliederentwicklungen zwischen 1914 und 1924 der erwähnten Achterbahnfahrt (vgl. Abb. 7), während sie in den Hochburgen der Vorkriegszeit bei Weitem nicht so stark einbrachen. So weist etwa die Mitgliederentwicklung des DTV in Gera und Greiz zwischen 1918 und 1924 keine solche Spitze auf wie jene des übrigen Thüringens und macht überdies deutlich, dass die traditionellen Organisationszentren nach 1924 schnell wieder die innergewerkschaftliche Oberhand gewannen (vgl. Abb. 6).

69 Für den DHV vgl. Jahrbuch 1912, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1913, S. 290. 70 Vgl. Jahrbuch 1912, hg. v. Vorstand des Deutschen Textilarbeiterverbandes, Berlin 1913, S. 178 f. 71 Vgl. MAZ 26 (1908) 27, S. 5.

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Abb. 6: DTV-Mitglieder in Thüringen, Gera und Greiz 1900–193072 60000

50000

40000

30000

20000

10000

0

TAV Thüringen gesamt

Gera und Greiz

Überall in Thüringen wurde 1918/19 plötzlich das gewerkschaftliche Potential deutlich, das in der Industrie der einzelnen Orte lange versteckt lag und aus vielen lokal unterschiedlichen Gründen nicht genutzt werden konnte. Für eine kurze Zeit kamen industrielles und gewerkschaftliches Potential annähernd zur Deckung. Mit der Enttäuschung vieler politischer und wirtschaftlicher Erwartungen, etwa unter der vornehmlich kommunistischen DMV-Mitgliedschaft in Suhl73, dem Ende der Scheinkonjunktur, das vor allem die Textilindustrie schwer traf, und letztlich mit der Inflation, endeten die Höhenflüge bei den Mitgliedern und verharrten danach mit wenigen Ausnahmen nur noch leicht über dem Vorkriegsniveau. Wie groß dieses Organisationspotential war, an das nach 1924 kein Anschluss mehr hergestellt werden konnte, veranschaulichen die Mitgliederentwicklungen von Verwaltungsstellen wie Eisenach, Suhl, Erfurt, Mühlhausen oder Apolda sehr eindrücklich. Die Zahl jener Beschäftigter, die den Gewerkschaften dauerhaft fernblieben, überstieg die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder hier um ein Vielfaches und führte zu einem massiven Rückgang des gewerkschaftlichen Droh- und Handlungspotentials gegenüber den Arbeitgeberverbänden. Gleichzeitig existierten jedoch auch in Thüringen Verwaltungsstellen, die – vor allem im DMV – keinen schwerwiegenden Einbruch erlebten und/oder nach 1925 72 Errechnet nach den lokalen Mitgliederzahlen, die in den Jahresabrechnungen der Gewerkschaftszeitung sowie in den Jahrbüchern abgedruckt sind. 73 Vgl. zum Übergang der Verwaltung Suhl an kommunistische Mitglieder MAZ 39 (1921) 12, S. 7.

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einen Anstieg der Mitgliederzahlen zu verzeichnen hatten. Wie fundamental gegensätzlich sich die Organisationsgrade an einigen Orten gestalten konnten, veranschaulicht Abb. 8, bei der im Vergleich zu Abb. 7 außerdem deutlich wird, mit welch unterschiedlichen lokalen Geschwindigkeiten der gewerkschaftliche Wandel zwischen 1922 und 1924 ablief. Abb. 7: Mitgliederentwicklung in Eisenach, Erfurt, Suhl (DMV) sowie Mühlhausen und Apolda (DTV) 1917–192474 1917

1918

1919

1920

1921

1922

1923

1924

Eisenach

828

1.308

5.938

5.101

5.000

4.875

3.565

1.824

Erfurt

1.225

2.917

6.380

6.384

6.403

6.856

5.297

2.204

Suhl

907

3.264

8.806

8.225

6.207

5.038

4.021

1.900

Mühlhausen

355

672

1.956

2.855

3.697

4.712

4.691

2.510

Apolda

216

635

1.653

2.256

3.401

4.134

2.731

1.679

Vor allem in Hinblick auf die bisherigen Interpretationsangebote zur Geschichte der „Arbeiterparteien“ in Thüringen in der Weimarer Republik stellen diese Beobachtungen ein klares Korrektiv dar: So diagnostizierte etwa Franz Walter 1992 eine Verschiebung der sozialistischen Hochburgen vom Thüringer Wald auf das ostthüringische Industriegebiet nach 1919 und führte dies besonders auf eine defizitäre Verankerung im Arbeitermilieu zurück.75 Dass dabei die Gewerkschaften in seiner Konzeption der „sozialistischen Arbeiterbewegung“ vollkommen ausgeblendet wurden, entspricht leider weitgehend einer immer noch aktuellen Fokussierung der Forschung, führte aber in diesem speziellen Fall vor allem dazu, die oben skizzierte Phasenverschiebung der gewerkschaftlichen Entwicklung in Thüringen zu übersehen, die zwischen West- und Südthüringen sowie Ostthüringen im späten Kaiserreich zu beobachten war. Die ausschließliche Bewertung von Wahlergebnissen und ihre Interpretation als Akte der politischen „Einstellung“ kratzen höchstens an der Oberfläche eines proletarischen Milieus, in dem die Gewerkschaftsmitgliedschaft als dauerhafte und kostenpflichtige Entscheidung viel tiefere Einblicke gewähren 74 Errechnet aus den lokalen Mitgliederzahlen, die in den Jahresabrechnungen der Gewerkschaftszeitungen sowie den Jahrbüchern abgedruckt sind. 75 Vgl. Walter, Thüringen (wie Anm. 2).

315

Die Industriegewerkschaften in Thüringen bis 1933

kann und für die Erklärung der massiven Wahlverluste der SPD nach 1920 herangezogen werden muss. Abb. 8: Organisationsverhältnisse im Thüringer Bezirkstarif der Metallindustrie 192476

Stadt

Metallbetriebe

Beschäftigte männlich / weiblich

Organisationsgrad der männlichen Beschäftigten

Organisationsgrad der weiblichen Beschäftigten

Eisenach Erfurt Gotha Greiz Jena Mühlhausen Nordhausen Saalfeld Salzungen Sömmerda Suhl Schmalkalden Zeulenroda

76 52 17 9 14 13 19 37 34 2 779 320 33

4.568/2.122 4.341/871 2.230/210 1.260/110 4.036/945 1.750/25 982/– 1.973/402 2.900/1.300 926/231 11.024/2.319 3.400/500 1.834/122

53 % 31 % 21 % 60 % 35 % 80 % 88 % 60 % 96 % 18 % 21 % 59 % 61 %

44 % 60 % 17 % 65 % 35 % 40 % – 56 % 89 % 11 % 8% 56 % 48 %

Bezirk

1.535

47.710/10.588

48 %

47 %

76 Vgl. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband im Jahre 1924. Jahr- und Handbuch für Verbandsmitglieder, hg. v. Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1925, S. 88. Laut dieser Angaben waren im DMV geschlossen organisiert: Die Metallarbeiter von Eisenberg (360), Berka (21), Mellenbach (29), Waltershausen (55) und Ziegenrück (45). Hervorragend organisiert waren weiterhin: Arnstadt (932 von 1207), Bleicherode (167 von 206), Friedrichroda (80 von 100), Ichtershausen (677 von 685), Kahla (17 von 18), Katzhütte (137 von 145), Königsee (93 von 103), Ohrdruf (360 von 406), Pößneck (103 von 112), Stadtilm (51 von 56) und Tambach (568 von 625). Zentren anderer Gewerkschaften waren vor allem für den H.-D. Eisenach mit 230, Erfurt mit 431 und Jena mit 250 Mitgliedern, insgesamt besaß die Gewerkschaft in allen Betrieben aber nur 1.009 Mitglieder. Noch kleiner war der CMV mit 449 Mitgliedern, davon 191 in Erfurt und 165 in Sömmerda. Andere freie Gewerkschaften organisierten 1.959 Arbeiter, davon 400 in Eisenach, 320 in Erfurt, 307 in Saalfeld, 170 in Greiz, 118 in Arnstadt und 114 in Jena. Suhl besaß als einziger Ort eine starke Lokalgewerkschaft mit 1.700 Mitgliedern, Erfurt mit 231 und Gotha mit 123.

316

Marco Swiniartzki

Bei der historischen Analyse und Einordnung der politischen und wirtschaftlichen Umbrüche in Thüringen zwischen 1918 und 1923 sowie ab 1929 besteht noch großer Forschungsbedarf. So bleibt die Frage, wie sich die politische Spaltung in Thüringen auf die Bindung zwischen Gewerkschaften und Arbeiterschaft auswirkte, bisher unbeantwortet, obgleich es vor allem für den DHV erste Ansatzpunkte gibt.77 Gleiches gilt für die Organisation der inner- und außergewerkschaftlichen „Opposition“ sowie für den – organisationssoziologisch extrem bedeutsamen – Übergang der Gewerkschaften aus einer relativ offenen Nachkriegssituation in die vollständige politische und wirtschaftliche Integration der späten 1920er Jahre. Es wäre weiterhin ein lohnendes Unterfangen, die Auswirkungen der sozialistischen Regierungszeit in Thüringen (am besten vergleichend mit Sachsen) auf der betrieblichen und gewerkschaftlichen Ebene zu untersuchen.

5. Gewerkschaftliche Thüringen-Bilder, ihre Ursachen und Folgen Es war ein typisches Kennzeichen der Thüringer Industriegewerkschaften, dass es im Spagat zwischen Gewerkschaftshochburgen und nahezu gewerkschaftsfreien Räumen vor allem die Problembereiche waren, die Einfluss auf die regionale Wahrnehmung der Gewerkschaftssekretäre hatten. Bei den Zeitgenossen kulminierte die Organisationslosigkeit im Thüringer Wald, in einigen Residenzstädten und auf dem Land in einem spezifischen Thüringen-Bild der Gewerkschaften, das sich bis 1933 immer dort zeigte, wo die Gewerkschaften Probleme bei der Organisation hatten. Dieses Muster zeichnete nicht nur Thüringen aus – auch die Arbeiterschaft in Oberschlesien, im Ruhrgebiet oder in „Saarabien“ konnte ein Lied von der teilweise schmählichen und respektlosen Behandlung durch die Gewerkschaftssekretäre singen, die in ihnen die Arbeiter einer selbstverschuldet zurückgebliebenen Region erblickten.78 Es waren vielmehr die Attribute seitens der Gewerkschafter, die den „Thüringer“ auszeichneten. Er 77 So hielt der Vorstand 1923 fest: „Die Auseinandersetzungen mit den kommunistischen Kollegen waren natürlich, der politischen Zusammensetzung Thüringens entsprechend, reichlich vorhanden. Bisher hat die Agitation gegen den Verband allerdings nicht vermocht, unseren Verband zahlenmäßig zu schwächen. Aber es soll dabei nicht vergessen werden, daß ja bisher immer betont wurde, daß sich alle dem Verband anzuschließen hätten. Zunächst also die Spaltungsarbeit sich nicht in dem direkten Sinne auswirkte. Aber das andauernde Betonen, daß die Gewerkschaften nichts sind, daß sie die Arbeiter verraten, daß sie umgestaltet werden müßen und was dergleichen mehr, die planmäßige Hetze gegen die Führer konnte natürlich nicht spurlos vorüber gehen“, Jahrbuch 1922/23, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1924, S. 241. 78 Vgl. Swiniartzki, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband (wie Anm. 5), S. 110–114, 154– 159.

Die Industriegewerkschaften in Thüringen bis 1933

317

galt als übertrieben genügsam, unnötig sesshaft, politisch indifferent, nur an lokalen Verhältnissen interessiert und darüber hinaus nicht selten als zurückgebliebener Waldmensch ohne Kenntnis von der Außenwelt. So hieß es aus der Feder des Gauvorstehers des DHV, Louis Güth, 1908: Die so oft gerühmte Gutmütigkeit des Thüringers ist in sehr vielen Orten schon zur Gleichgültigkeit seinem Arbeitsverhältnis gegenüber geworden. […] Das vielgerühmte kleine Häuschen mit dem Gärtchen dran hilft den Arbeiter noch weiter fesseln. […] Der Thüringer Holzarbeiter ist nicht beweglich. Die Industrie ist in die Dörfer verpflanzt und es werden sehr viele ungelernte Arbeiter beschäftigt. […] Eine gewisse übertriebene Sparsamkeit ist dem Thüringer eigen. Überdies ist er genügsam und arbeitslustig.79

Drei Jahre zuvor schrieb ein DMV-Sekretär aus Ruhla angesichts eines weiteren erfolglosen Organisationsversuchs der Arbeiter der Firma Gebrüder Thiel resignierend: Der ganze Fluch der Seßhaftigkeit des Proletariats zeigt sich in den kleinen Landindustrieorten in sinnenfälliger Weise. Es ist hier zum größten Teil noch die erste Generation, die vom Ackerbau und vom Kleinhandwerk hinein in das Getriebe der Großindustrie versetzt worden ist, der noch alle die Besonderheiten eigen sind, die rückständigen Wirtschaftsformen anhängen. […] Mit der ganzen Zähigkeit, die ihnen eigen, hängen diese armen Teufel an ihrem bißchen, oft nur eingebildeten Eigentum, sie werden unterwürfig und ängstlich, um nur ja nicht die von ihrem eigenen Schweiße gedüngte ‚eigene‘ Scholle eines Tages verlassen zu müssen. Mit solchen Leuten haben die Herren ja etwas leichteres Spiel wie mit den Proletariern der Großstadt.80

Während solche Einschätzungen die Thüringer Arbeiterschaft zwar unnötig homogenisierten (niemandem waren die regionalen Unterschiede so bewusst wie den Gewerkschaftern), interpretierten sie die Beschäftigten doch noch weitestgehend als Opfer struktureller Verhältnisse. Andere Veröffentlichungen von Gewerkschaftern wurden in dieser Hinsicht weitaus persönlicher und machten „die Thüringer“ auch noch nach 1918 selbst für die Organisations- und Arbeitsverhältnisse verantwortlich:
 Aber die Thüringer Unternehmer waren durch die frühere Gleichgültigkeit ihrer Arbeiter der Organisation gegenüber verwöhnt, war doch die Bedürfnislosigkeit der Thüringer Arbeiterschaft in Deutschland vor dem Kriege fast sprichwörtlich geworden. Wenn es uns daher nicht möglich war, die Löhne der schon vor dem Kriege besser organisierten Gebiete zu erreichen, so liegt dieses an den alten Sünden der Thüringer Arbeiterschaft. Wir teilen dieses Schicksal mit anderen zurückgebliebenen Gegenden, deswegen heißt es: fest zusammenhalten.81

Währenddessen legten DMV-Sekretäre den Arbeitern an der Ruhr ganz andere Verfehlungen zur Last: So galten etwa die Hüttenarbeiter den Gewerkschaftern 79 Jahrbuch 1908, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1909, S. 212 f. 80 MAZ 23 (1905) 36, S. 6. 81 Jahrbuch 1920 (wie Anm. 52), S. 409.

318

Marco Swiniartzki

als übertrieben mobil, ökonomisch anmaßend, nur am Betrieb interessiert und aufgrund ihrer oft polnischen Herkunft kulturell fremd.82 Begründungen für die regionale Organisationsproblematik ließen sich anscheinend beliebig finden. Die dabei transportierte Resignation muss jedoch als Folge erfolgloser Organisationsversuche einerseits und als Funktion schlechtpassender und nicht funktionierender außerbetrieblicher Methoden andererseits interpretiert werden. Diese führten dazu, dass Gewerkschafter selten wirklich an die Arbeiterschaft herankamen und beide Gruppen kaum dieselbe Sprache benutzten. Pragmatische Nicht-Organisation der Arbeiter manches Betriebs wurde auf diese Weise allzu schnell als böswillige Organisationsapathie missdeutet und der weiteren Gewerkschaftsarbeit damit große Steine in den Weg gelegt. Betriebe, für die sich solche Muster rekonstruieren lassen, sind etwa Simson bei Suhl oder Gebrüder Thiel in Ruhla.83 Trotz des eindeutigen Befunds, dass sich solche Muster nur in einigen Gebieten Thüringens zeigten, nahmen die Gewerkschafter durch ihr ständiges Herumreiten auf den Charakterschwächen der „Thüringer“ jedoch immer eine gesamte Region in Haftung – und das ohne lange über den eigenen Beitrag an der lokalen Misere nachzudenken. Aufgrund der Stabilität der großen Organisationsunterschiede endeten solche Diffamierungen in Thüringen auch nicht in der Vorkriegszeit – auch nach dem Ersten Weltkrieg lassen sich diese einseitigen Schuldzuweisungen in jenen Landesteilen nachweisen, die den Gewerkschaften verschlossen blieben.84 Im innergewerkschaftlichen Wettbewerb interpretierten Gewerkschafter regionale Abweichungen vom Organisationsmuster gerne als Akte der Zurückgebliebenheit, ohne zu prüfen, ob es überhaupt im pragmatischen Interesse der Arbeiter, etwa in Suhl oder Ruhla, liegen konnte, sich in zentralistischen, berufsübergreifenden und vom Arbeitgeber bekämpften Verbänden zu organisieren. Als ultima ratio verfiel man immer wieder auf den sogenannten Menschenschlag, der die spätere Entfremdung nur noch weiter zementierte. Diese gewerkschaftliche Identifikation Thüringens mit seinen Problemfeldern resultierte besonders aus der an vielen Orten und in vielen Branchen vorhandenen Heimarbeit bzw. Hausindustrie sowie aus der Unfähigkeit vor allem des DMV, in einige lokal dominierende Großbetriebe einzudringen. Während 82 Vgl. Anm. 78. 83 Für Ruhla, wo sich Veränderungen dieser Beziehungen besonders nach dem langen Streik von 1903 nachweisen lassen, vgl. MAZ 21 (1903) 34, S. 4 f.; MAZ 21 (1903) 52, S. 6; MAZ 22 (1904) 8, S. 5. Für Simson vgl. Fritz Ehrler, Korrespondenzen. Aus Thüringen, in: MAZ 19 (1901) 20, S. 7; MAZ 22 (1904) 50, S. 2 f.; MAZ 16 (1898) 25, S. 7; MAZ 23 (1905) 23, S. 6 f.; MAZ 27 (1909) 7, S. 6; MAZ 28 (1910) 22, S. 6. 84 Vgl. Jahrbuch 1919, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1920, S. 257 f.; Jahrbuch 1920 (wie Anm. 52), S. 409; Jahrbuch 1927, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1928, S. 222; Jahrbuch 1924, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1925, S. 197.

Die Industriegewerkschaften in Thüringen bis 1933

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sich jedoch bei Letzteren, zu denen etwa lange die Waggonfabrik in Gotha, die Fahrzeugfabrik in Eisenach, die Kyffhäuserhütte in Artern, die Firma Gebrüder Thiel in Ruhla oder die Simsonwerke in Heinrichs bei Suhl gehörten, vor dem Ersten Weltkrieg ein langsamer Anstieg der Mitgliederzahlen bemerkbar machte,85 blieb Erstere bis 1933 das größte Sorgenkind der Thüringer Gewerkschaftsbewegung. Dafür war zunächst die immense Ausbreitung der Hausindustrie verantwortlich: Im Kleinmetallgewerbe übernahmen tausende Familien rund um Suhl, Schmalkalden oder Ruhla unterschiedliche Produktionsstufen der naheliegenden Großunternehmen oder standen bei Zwischenhändlern und Faktoren unter Vertrag.86 In den Textilgewerben herrschte die Heimarbeit dagegen besonders in der Strickerei und Häkelei vor, etwa in Mühlhausen, Apolda oder Zeulenroda. Noch 1925 waren in und um Apolda 7.000 Heimarbeiterinnen in der Häkelei beschäftigt.87 Den quantitativ bedeutendsten Anteil hatte die Hausindustrie jedoch in den zahlreichen Branchen der Holzindustrie: So waren beispielsweise die Pfeifenproduktion von Schweina und Waltershausen, die Drechslerei im gesamten Westthüringen, die Korkproduktion der Rhön, die Korbmacherei in Südthüringen sowie die Spielzeugherstellung im Sonneberger Gebiet größtenteils in dieser Weise organisiert.88 Allein im Sonneberger Bezirk umfasste die Spielzeugproduktion im Jahr 1913 nach gewerkschaftlicher Schätzung 40.000 Personen in über 30 Ortschaften.89 Während des Ersten Weltkriegs wuchs darüber hinaus die Geschosskorbproduktion zu einem neuen Schwerpunkt der Hausindustrie heran, in dem in Thüringen etwa 10.000 Beschäftigte arbeiteten.90 Für den DHV waren die Voraussetzungen in diesen genannten Gebieten denkbar schlecht: Die Beschäftigten wohnten weit verstreut, führten hochspezialisierte Tätigkeiten aus und trafen – ganz anders als in den Industriebetrieben – auch nicht zusammen, was ihre gewerkschaftliche Erreichbarkeit und auch Kategorisierungsmöglichkeit drastisch minimierte. Die aus diesen Gründen eingesetzte Hausagitation erreichte ihr Ziel nur selten, weil das wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnis (häufig noch von einem Trucksystem gestützt) viele Heimarbeiter in der Scheinselbstständigkeit hielt und die Gewerkschaft außer85 Für all diese Betriebe besteht Forschungsbedarf. Besonders für die Fahrzeugfabrik Eisenach ließen sich bereits hervorragend durch Auswertung der MAZ weiterführende Aussagen treffen. Vgl. dazu die Ausgaben 1897-35, 1897-39, 1898-33, 1901-5, 1904-53, 1905-36, 1905-38, 1907-18, 1918-38, 1921-9. 86 Vgl. Geschäftsbericht 1910 (wie Anm. 14), S. 1164; vgl. Der Kampf in Ruhla (wie Anm. 21). 87 Vgl. Jahrbuch 1925 (wie Anm. 32), S. 196. 88 Vgl. Jahrbuch 1913 (wie Anm. 58), S. 297 f.; Jahrbuch 1910, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1911, S. 274 f. 89 Vgl. Jahrbuch 1913 (wie Anm. 58), S. 298. 90 Vgl. Jahrbuch 1917 (wie Anm. 26), S. 240 f.

320

Marco Swiniartzki

halb der Lohnarbeiterschicht kaum noch als legitime Vertretungsinstanz wahrgenommen wurde. Der Vorstand des DHV hielt dazu 1909 fest: Ebensowenig gelang es in diesem Jahre, Eingang zu finden bei den Drechslern um Schmalkalden herum. Diese Heimarbeiter glauben, wir könnten ihnen mit der Organisation auch nicht helfen, ein Teil hat noch den Meisterdünkel. Glauben, sie seien selbstständige Unternehmer und könnten aus diesem Grunde nicht zu uns kommen.91

Zu den weiteren Hürden für den DHV gehörte es, dass besonders die Spielzeugherstellung häufig noch als Saisonarbeit durchgeführt wurde.92 Die saisonalen Rückwanderungen in die Heimatorte, in denen in der Regel Landwirtschaft betrieben wurde, verhinderten eine weitergehende Beschäftigung dieser Holzarbeiter mit ihrem Arbeitsverhältnis lange Zeit sehr erfolgreich und bremsten die Organisationsmotivation aus. Wie wirksam diese Faktoren als Hemmnisse gewerkschaftlicher Arbeit waren, machte der 1913 für Coburg und Sonneberg eingestellte DHV-Bezirksleiter Axthelm deutlich. Lohnarbeit, industrielle Arbeitsweise und der Stadt-Land-Gegensatz bestimmten weitestgehend über den Organisationserfolg: Im sogenannten Hinterland, auf den Spielwarendörfern, war die Agitation dieses Verbandes bisher vergeblich. […] Für unseren Verband kommen in Sonneberg selbst, in der Spielwarenindustrie, fast nur Kistenschreiner in Frage. Diese sind bis auf wenige Mann organisiert und wir konnten auch im letzten Jahre einen Tarifvertrag abschließen. Aber auf den Dörfern haben wir in der Hausindustrie überall Holzarbeiter. Jeder Ort hat seine Spezialbranche.93

Folglich resümierte er auch 1914 hinsichtlich der Korbmacher in Südthüringen: „Bisher ist es uns nur gelungen, Lohnarbeiter zu organisieren.“94 Den Charakter der Hausindustrie/Heimarbeit als gewerkschaftlichem Alptraum komplettierte schließlich die soziale Zusammensetzung der auf diese Weise Beschäftigten: Denn der qualifizierte und vor allem männliche Lohnarbeiter, der den absoluten Organisationsschwerpunkt von DHV und auch DMV bildete, machte in den genannten Regionen nur einen Bruchteil der Arbeiterschaft aus und wurde in der Regel von seiner Frau, seinen Kindern und Verwandten unterstützt. Der damit einhergehenden Handlungslogik vieler Heimarbeiterfamilien, die mittels täglicher Arbeitszeiten von weit über zwölf Stunden, einer eigenen kleinen Landwirtschaft und der Einbeziehung aller potentiellen Arbeitskräfte ein auskömmliches Leben ermöglichten, hatten die Gewerkschaften quasi nichts entgegenzusetzen. Von außen kommende Gefahren wurden hier familiär und teilweise auch dörflich intern-solidarisch abgefedert, weshalb 91 92 93 94

Jahrbuch 1909 (wie Anm. 68), S. 270. Vgl. Jahrbuch 1913 (wie Anm. 58), S. 300. Ebd., S. 299. Jahrbuch 1914, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1915, S. 293.

Die Industriegewerkschaften in Thüringen bis 1933

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das Sozialsystem Heimarbeit eine ähnlich strukturierte Organisation wie eine Gewerkschaft größtenteils überflüssig machte. Hinzu kam, dass die Industrieverbände in den Heimarbeiterdörfern auch außerhalb des Wirkungskreises christlicher oder liberaler Gewerkschaften mit eingespielten religiösen und kommunalen Vertrauens- und Machtbeziehungen konfrontiert wurden, die schnell zu einer Stigmatisierung nicht nur der „freien Gewerkschaften“, sondern aller Verbände führen konnten.95 Am frappierendsten und konstantesten offenbarte sich dieser Umstand im katholischen Eichsfeld, über das die DTV-Verwaltung Mühlhausen 1911 schrieb: Es ist eine eigentümliche Erscheinung der Eichsfelder Arbeiterschaft: sie schert sich den Teufel darum, wes Geistes Kind der Unternehmer ist, aber der Arbeiterbewegung geht sie in weitem Bogen aus dem Wege. Auch die christliche Organisation kann dort auf keinen grünen Zweig kommen.96

Obwohl Gewerkschaftern wie Axthelm in Sonneberg eine ausgesprochene Methodenvielfalt und Selbstreflexion attestiert werden muss, endeten die Organisationsbemühungen in der Heimarbeit/Hausindustrie daher mit ernüchterter Resignation. So mahnte dieser 1914 an: Wenn Veränderungen in der Struktur eines Wirtschaftsgebietes eintreten, so müssen wir dieselben bei der Agitation berücksichtigen. Die qualifizierten Heimarbeiter, welche es verstehen, sich den veränderten Produktionsverhältnissen anzupassen, sind zweifellos heute bessergestellt wie früher. Wir dürfen nicht immer und immer wieder alle Korbmacher als Elendsarbeiter bezeichnen. Trotzdem können wir ihnen das Verkehrte der langen Arbeitszeit und ihre nur dadurch verursachte Schmutzkonkurrenz vorhalten, dann werden wir sie auch zur Solidarität erziehen.97

Viele Hausagitationen, Flugblätter, Versammlungen und politische Initiativen später konstatierte Axthelm dagegen nur noch den schon erwähnten Menschenschlag, durch den jede gewerkschaftliche Arbeit im Sande zu verlaufen schien: Die Spielwaren-Heimarbeiter glauben alle, Sozialdemokraten zu sein, wählen auch die Arbeitervertreter, aber zahlen wollen sie nichts. Noch viel weniger sind sie, bei den nach ihrer Ansicht hohen Beiträgen, für die Gewerkschaft zu gewinnen. Man muß das Milieu, man muß den Charakter dieser Leute erst genau kennen, um zu diesem Urteil zu gelangen. Eine flüchtige Bekanntschaft wird zweifellos einen anderen Eindruck erwecken, man glaubt da mit den Leuten ein Herz und eine Seele zu sein. In den Versammlungen klatschen sie Beifall bis zu dem Moment, wo zum Beitritt aufgefordert wird, da ist die Begeisterung auf einmal verschwunden, zum Beitritt ist niemand zu bewe-

95 1909 berichtete der DHV aus Schönau über die Korbmacheragitation: „In dem Dorfe Schönau vorm Walde besteht überdies eine solche Genossenschaft unter der Leitung des dortigen Pastors. Welche Wirkung aber die leitende Stellung eines solchen Mannes hat, bewies eine Versammlung, welche wir dort abhielten. Erst als der Pfarrer seine Einwilligung gab, kamen die Leute zur Versammlung. Ein Beweis dafür, wie diese armen Korbmacher denken.“ Jahrbuch 1909 (wie Anm. 68), S. 270. 96 Jahrbuch 1911 (wie Anm. 29), S. 151. 97 Jahrbuch 1914 (wie Anm. 94), S. 293.

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Marco Swiniartzki gen. Vielmals haben wir an den einzelnen Orten den Versuch unternommen, immer mit demselben Resultat. Solidarität kennt der Heimarbeiter nirgends, er sorgt nur für sich.98

6. Fazit: Lokale Arrangements von Arbeit, Lebenswelt und Gewerkschaft Die vorangegangenen Aussagen und Beispiele haben gezeigt, dass es problematisch ist, von den Gewerkschaften in Thüringen als regionale Institutionen zu sprechen. Denn obgleich sich durchaus zahlreiche Bestrebungen zur thüringischen Integration in DMV, DHV und DTV nachweisen lassen, gestaltete sich die Gewerkschaftsbewegung zwischen Altenburg, Artern, Sonneberg und Eisenach konstant uneinheitlich und wies teilweise extreme Unterschiede in allen relevanten Organisationsfaktoren auf. Für kommende Forschungsfragen zur Gewerkschaftsgeschichte bietet es sich daher besonders an, auf den betrieblichen und/oder lokalen Ebenen anzusetzen und nicht Thüringen, sondern jene grenzüberschreitenden Wirtschafts- und sozialen Bezugsräume als Ausgangspunkt zu wählen, die die thüringischen Kleinstaaten bzw. den Freistaat mit den mitteldeutschen Nachbarn verbanden. Es dürfte sich dabei jeweils ein deutlicher Zusammenhang zwischen ökonomischen, technischen, organisatorischen, betriebssozialen, gewerkschaftlichen, und außerbetrieblich-lebensweltlichen Entwicklungen ergeben, der darüber hinaus maßgeblich vom Einfluss und Esprit lokaler Gewerkschaftsfunktionäre geprägt wurde. Bei aller Heterogenität zeichnete die Gewerkschaften im thüringischen Raum jedoch ihre typische Doppelgesichtigkeit aus: Einerseits waren die Verbände entscheidend auf gewerbliche (besonders industrielle) und betriebliche Vorfeldstrukturen angewiesen, ohne die es dem politischen und tendenziell betriebsfernen Gewerkschaftstyp Deutschlands immer schwer fiel, Einfluss auf das Organisationsmilieu zu nehmen oder dieses gar selbst zu gestalten. Andererseits reichten diese Strukturen zum Organisations- und Vertretungserfolg niemals aus und erklären die gewerkschaftlichen Entwicklungen daher auch nur zum Teil. Es wird deshalb umso mehr entscheidend sein, eine soziale Organisationsgeschichte der Gewerkschaften in Thüringen zu schreiben, die sich mit der Genese gewerkschaftlichen Problembewusstseins in seinen lokalen Eigengeschwindigkeiten genauso beschäftigt wie mit der Entwicklung der gewerkschaftlichen Methoden, dem innergewerkschaftlichen Konfliktaustragungsmodell und den unentbehrlichen biographischen Aspekten. Nur auf diese Weise kann es gelingen, die Gewerkschaften regional wie national als Gestalter der Arbeitswelt und Motoren gesellschaftlichen Wandels einzuordnen. Thüringen bietet für dieses Anliegen ein vielfältiges und noch gänzlich unbehandeltes Forschungsgebiet mit großem Erklärungspotential und einer sehr 98 Jahrbuch 1915, hg. v. Verbandsvorstand des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Berlin 1916, S. 286 f.

Die Industriegewerkschaften in Thüringen bis 1933

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günstigen Quellenlage, das sich darüber hinaus hervorragend für vergleichende und auch transferorientierte Ansätze eignet. So wäre es beispielsweise spannend zu sehen, welche Ergebnisse und weiteren Implikationen es für den sozialen Charakter und die historische Wirkungskraft der Gewerkschaften mit sich bringen würde, lokale Gewerkschaftsarrangements in Erfurt, Jena, Eisenach, Altenburg oder Gera-Greiz vergleichend zu untersuchen. Die lokal vollkommen unterschiedlichen Logiken der betrieblich-industriellen Sozial- und Machtbeziehungen, an die sich die Gewerkschaften anzupassen hatten, die sie aber auch in vielerlei Hinsicht mit prägten, könnten vor allem vor dem Hintergrund der gewerkschaftlichen Entwicklung auf dem Land und in den Heimarbeiterregionen dazu beitragen, die Gewerkschaften als lernende Einflussfaktoren auf ein Organisationsmilieu zu beschreiben, das sich kulturell und gesellschaftlich fast nirgends so stark unterschied wie in Thüringen.

Rüdiger Stutz

Im Banne der Zahlen Zwei Umfragen des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes zur „objektiven Lage“ der Arbeiter in der optischen Industrie, 1927 und 1931

In seinen „Geschichtsphilosophischen Thesen“ kritisierte Walter Benjamin nach der NS-Machtübernahme gerade die Arbeits-, Sozial- und Gesellschaftspolitik jener Parteien und Bewegungen in scharfer Form, „auf die die Gegner des Faschismus gehofft hatten“. So versuchte er, die Ursachen für den sang- und klanglosen „Zusammenbruch“ der Sozialdemokratie zu bestimmen. Deren Denk- und Handlungsweisen in den Jahren der Weimarer Republik belegte Benjamin mit negativen Zuschreibungen wie „sturer Fortschrittsglaube“, unerschütterliches Vertrauen in die eigene „Massenbasis“ und „servile Einordnung in einen unkontrollierbaren Apparat“ des Staates. In diesen miteinander zusammenhängenden Grundorientierungen habe sich „der Konformismus“ sozialdemokratischer Partei- und Gewerkschaftsführer offenbart, und zwar sowohl in politisch-taktischer als auch sozioökonomischer Hinsicht. In dieses Verdikt wollte Benjamin „die deutsche Arbeiterschaft“ ausdrücklich eingeschlossen wissen. Nichts habe Letztere in dem Maße korrumpiert wie die Vorstellung, „sie schwimme mit dem Strom [der Konzentration und Rationalisierung in der Industrie – R. S.]. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte.“1 Dem hielt der belgische Sozialpsychologe Hendrik de Man allerdings entgegen, spätestens in der Weltwirtschaftskrise sei „ein fünfter Stand von chronisch Arbeitslosen“ entstanden. Seine Veröffentlichungen wurden in der Weimarer Zeit viel beachtet. Sie beruhten auf zahlreichen Gesprächen und Interviews mit Industriearbeitern aus den 1920er und frühen 1930er Jahren,2 auf die er später in seinen Lebenserinnerungen erneut Bezug nahm. Auf dieser Grundlage erinnerte de Man mit Blick auf die Arbeitslosen, diese „industrielle Reservearmee“ habe resigniert und von den Gewerkschaften ebenso wenig erwartet wie von den Gesetzesinitiativen der 1  2 

Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, in: Ders., Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt am Main 1965, S. 78–94, hier S. 85 f. Vgl. Hendrik de Man, Der Kampf um die Arbeitsfreude. Eine Untersuchung auf Grund der Aussagen von 78 Industriearbeitern und Angestellten, Jena 1927.

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Sozialdemokraten auf parlamentarischer Ebene. Aber auch die weiterhin in Lohn und Brot stehenden Arbeiter trieb seiner Auffassung nach nur noch die Sorge um, wie der eigene Arbeitsplatz erhalten werden könne. Statt der vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) propagierten Solidargemeinschaft hätten Angst, Neid und Misstrauen die betrieblichen Arbeitsbeziehungen vergiftet. Selbst das Vertrauensverhältnis zwischen den Belegschaften und ihren Interessenvertretern in den Betriebsräten sei auf diese Weise untergraben worden.3 Dem widerspricht keineswegs, dass die Betriebsrätepraxis am Arbeitsplatz durchaus auch Erfolge erzielte. Das betraf namentlich den Entlassungsschutz und die Gesundheitsfürsorge in der Metallindustrie. Zudem wirkten Betriebsräte auf eine Verbesserung des Betriebsklimas hin, das unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg vielerorts noch sehr angespannt gewesen war.4 Die Wurzeln der von de Man im Rahmen seiner Befragungen konstatierten Entfremdung zwischen der schmalen Schicht besoldeter Gewerkschaftsführer und den Industriearbeitern bzw. Arbeitslosen reichen bis in die Kriegsjahre zurück. Nach dem Erlass des Hilfsdienstgesetzes 1916 waren zunächst vornehmlich die stark beanspruchten Arbeitskräfte aus den Rüstungs- und Kriegswirtschaftsbetrieben in den Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV) eingetreten. Für sie konnte der DMV nach der Revolution 1918/19 beachtliche Lohnerhöhungen durchsetzen. Als Interessenvertretung genoss er demzufolge unter den Metallarbeitern nach wie vor hohes Ansehen, sogar die kommunistischen Mitglieder blieben bis 1923/24 mehr oder weniger im Verbandsleben integriert. In den Nachkriegsjahren begann sich indes ein neuer Trend im weit gespannten Erwartungshorizont der Mitgliedschaft abzuzeichnen. Die Mehrzahl der ab 1919 in den Verband eingetretenen Mitglieder rekrutierte sich aus „traditionslosen“ Metallarbeitern, d. h. sie verfügten über keine oder nur geringe Gewerkschaftserfahrung. Mitunter handelte es sich um in den Kriegs- und Nachkriegsjahren fanatisierte bzw. frustrierte junge Männer, die den Verband in erster Linie als „Zweckorganisation“ betrachteten, um gegenüber den Unternehmervertretern höhere Lohnforderungen geltend machen zu können. Das verstärkte die Fluktuation an der Mitgliederbasis und die Kluft zwischen den Jüngeren und dem „harten Kern“ der Disziplin und Ordnung erheischenden älteren Gewerkschaftler, die schon vor 1914 dem DMV angehört hatten.5 3  Ders., Gegen den Strom. Memoiren eines europäischen Sozialisten, Stuttgart 1953, S. 172–206, hier S. 198. 4  Benno König, Interessenvertretung am Arbeitsplatz. Betriebsrätepraxis in der Metallindustrie 1920–1933, in: Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 66–90, hier S. 90. 5  Marco Swiniartzki, Der Beginn der gegenseitigen Entfremdung. Arbeiter und Deutscher Metallarbeiter-Verband im Chemnitzer Maschinenbau 1914 bis 1918, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 13 (2014) 2, S. 106–123.

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Gleichzeitig versuchten die Kommunisten in den Freien Gewerkschaften Zellen zu bilden, um Einfluss auf deren Verbandsführungen zu gewinnen. Infolgedessen wurden Funktionäre der KPD und die mit ihnen sympathisierenden „jungen Wilden“ unter den Mitgliedern vom Verband ausgeschlossen – eine zweischneidige Vorgehensweise angesichts des steigenden Altersdurchschnitts unter der alteingesessenen Mitgliedschaft. Die Verbandsführung überalterte ohnehin zusehends. Unter den veränderten Problemlagen der späten 1920er Jahre fiel es den hauptamtlichen DMV-Vertretern daher immer schwerer, mit dem Denken und Fühlen der jüngeren Mitglieder „in engere und fruchtbare Verbindung“ zu treten, wie es Ludwig Preller in seinem Klassiker zur Geschichte der Sozialpolitik in der Weimarer Republik ausdrückte.6 Überdies sahen sich die Funktionäre des DMV mit immer komplexeren Sachlagen in den paritätisch besetzten Sozialverwaltungen konfrontiert, etwa in den Arbeitsämtern, -gerichten und Schlichtungskommissionen. Die Interessenvertretung ihrer Mitgliederbasis in den überbetrieblichen Tarifverhandlungen kostete nicht minder Kraft und Zeit; sie beschleunigte aber auch den Trend zur Bürokratisierung der gewerkschaftlichen Gremien. Die in der Erinnerung nicht selten zu verschworenen „Kampfgemeinschaften“ idealisierten Gewerkschaften der Vorkriegszeit wandelten sich in der demokratisch verfassten Republik zu zweckrational abwägenden Institutionen, d. h. unter volkswirtschaftlichen Zugzwängen agierenden Vertretungskörperschaften. Von ihnen fühlten sich immer weniger Metallarbeiter repräsentiert, wenn auch aus ganz unterschiedlichen, mitunter gegensätzlichen Gründen. 1927 zählte der DMV indes wieder 815.838 Mitglieder. Von diesen waren 89.915, d. h. 11 %, in der Elektroindustrie, Feinmechanik, Optik und Uhrenindustrie beschäftigt, den sogenannten Neuen Industrien.7 Trotz der spürbaren Mitgliederverluste von 1924 hatte sich der Verband im Verlauf der folgenden Jahre zu einer „Riesenorganisation“ entwickelt. Freilich vergrößerte sich demgemäß auch sein administrativer Apparat, sodass sich auf den Führungsetagen in sozialpolitischen Fragen die staatsbürokratische Handlungslogik noch verstärkte. Demgegenüber verlor die betriebszentrierte Problemsicht der Arbeiter in der Gewerkschaftsbürokratie immer mehr an Einfluss. Ein christlicher Gewerkschaftler brachte es 1927 auf den Punkt, was auch für die großen Fachverbände der Freien Gewerkschaften zutraf: „Man denkt zentralgewerkschaftlich und fast behördlich, aber kaum noch betrieblich.“8

6 

Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik. Unveränderter Nachdruck des 1949 erstmals erschienenen Werkes, Düsseldorf 1978, S. 183. 7  Elisabeth Schalldach, Rationalisierungsmaßnahmen der Nachinflationszeit im Urteil der deutschen Gewerkschaften, Jena 1930, S. 126, FN 2. 8  Zit. nach: Preller, Sozialpolitik (wie Anm. 6), S. 186.

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Vor dem skizzierten Hintergrund zunehmender Entfremdung zwischen der Verbandsführung und ihrer Mitgliederbasis in den Betrieben ließ der Vorstand des DMV Anfang 1927 und Mitte 1930 an den Standorten der feinmechanisch-optischen Industrie von seinen örtlichen Verwaltungsstellen9 zwei Befragungen durchführen. Das war insofern bemerkenswert, als nach Max Webers Tod im Jahre 1920 kaum noch theoriegeleitete und sozialpolitisch ausgerichtete Forschungen zu den Arbeits- und Lebensbedingungen des Industrieproletariats angestoßen worden waren. Erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurden wieder entsprechende industriesoziologische Untersuchungen oder statistische Erhebungen publiziert, allerdings nicht im Auftrag akademischer Einrichtungen, sondern fast ausschließlich seitens der Angestelltenverbände. Fußend auf den amtlichen Berufszählungen von 1925 ließen der Allgemeine Freie Angestelltenbund (AfA-Bund) und der Gewerkschaftsbund der Angestellten ab 1928 branchen- bzw. berufsspezifisches Zahlenmaterial über die Einkommensverhältnisse und Lebensbedingungen ihrer Mitglieder zusammenstellen. Diese Studien waren eher beschreibender Natur und rekurrierten auf die soziale und wirtschaftliche „Lage“ der Angestellten, erfassten indes nicht deren individuelle Einstellungslagen und Handlungsorientierungen.10 Auch in den hier ausgewerteten Veröffentlichungen des DMV spielten auf einzelne Akteure bezogene Items wie die Erfahrungsräume und Selbstbilder der Arbeiter keine Rolle. Offensichtlich waren qualitative Interviews an den Optik-Standorten nicht erhoben worden. Einleitend erläuterte der Verbandsvorstand die Ziele seiner Umfragen: Erstens wolle er das empirische Material für eine vergleichende Analyse des Einkommens und der Zusammensetzung der Grund- und Akkordlöhne in der gesamten Branche erheben, um der Arbeiterschaft ihren Anteil an den Rationalisierungsgewinnen der Unternehmen zu sichern; zweitens sollte das Bewusstsein der Mitglieder für die organisatorische und zahlenmäßige Stärkung des Verbandes geschärft werden, um den Arbeitern ihre Mitverantwortung für den Erfolg zukünftiger Lohnkämpfe zu verdeutlichen. In diesem Selbstverständnis sollte die im Juni 1927 in 129 Firmen der optischen Industrie abgeschlossene Umfrage der Arbeiterschaft „wie in einer Sammellinse“ ein Bild ihrer eigenen Lebensverhältnisse und der sich daraus ergebenden Aufgaben vor Augen führen.11 9  Salomon Schwarz, Handbuch der deutschen Gewerkschaftskongresse (Kongresse des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes), Berlin 1930, S. 67 (Stichwort Ortsausschüsse). 10  Wolfgang Bonss, Kritische Theorie und empirische Sozialforschung. Anmerkungen zu einem Fallbeispiel, in: Erich Fromm, Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung, bearb. und hg. von Wolfgang Bonss, Stuttgart 1980, S. 7–46. 11  Die deutsche optische Industrie und ihre Arbeiter, hg. v. Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Stuttgart 1927, S. 3.

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An der im Sommer 1931 veröffentlichten Fragebogen-Aktion beteiligten sich 193 Betriebe, deren Gesamtzahl sich somit gegenüber 1927 um mehr als ein Drittel erhöhte.12

Die weitaus größten Standorte der optischen Industrie konzentrierten sich in Preußen, Sachsen und Thüringen. Damit kontrastierte die Streulage kleinerer und mittlerer Unternehmen in den süd- und südwestdeutschen Ländern des Deutschen Reiches.

12  Die deutsche optische Industrie und ihre Arbeiter, hg. v. Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Berlin [1931], S. 31.

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Die Abgrenzung der Optik-Firmen zur Feinmechanik und Elektrotechnik blieb unscharf und mitunter dem Zufall überlassen. Das war problematisch, weil gerade die Optik und Feinmechanik verfahrenstechnisch zwei Seiten einer Medaille bildeten, die sich gegenseitig bedingten.13 Allerdings wurden reine Handelsgeschäfte ohne eigene Fertigung nicht erfasst. Beide Umfragen intendierten, die „objektive Lage“ der Arbeiter, Arbeiterinnen und Lehrlinge im Industriezweig zu analysieren. Die Begründung lag für den Vorstand des DMV auf der Hand: Er wollte auf breitester Grundlage erstelltes Zahlenmaterial ermitteln lassen, um für die kommenden tarifpolitischen Auseinandersetzungen um die Berechnungsgrundsätze der Lohn- und Akkordsätze und festen Arbeitszeitvereinbarungen gerüstet zu sein. Auf diese Weise blieben jedoch die innerbetrieblichen Konfliktlagen ausgespart, die nicht zuletzt aus den differenzierten Auswirkungen der Rationalisierung auf die Belegschaften vor Ort resultierten. Wenn man so will, hielt die Führung des DMV auch in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre eisern am „Evangelium der Zahl“ fest, wie es Georg Berger in der Metallarbeiter-Zeitung 1924 beschrieben hat.14 Berger ironisierte mit seinem Bonmot, dass der Verband in erster Linie auf eine Steigerung der eigenen Mitgliederzahl fixiert blieb, um einen höheren Organisationsgrad unter den Beschäftigten in der Metallindustrie zu erreichen. Durch „lückenlosen Beitritt“ zum DMV müssten die Arbeiter „ein Gegengewicht“ zu den Unternehmern schaffen, die „aus freiem Entschluss“ weder die Löhne erhöht noch die Arbeitszeit verkürzt hätten. Nur so könnten die Arbeiter auch „an den Vorteilen der Rationalisierung“ teilhaben, hieß es zur Begründung in der Verbandsstudie von 1927.15 Diese Argumentation offenbarte das grundsätzliche Dilemma, in dem sich die Führung des DMV befand. Einerseits blieben die Freien Gewerkschaften in das staatlich vermittelte Schlichtungssystem der Tarifparteien und die korporative Umsetzung des Betriebsrätegesetzes im Rahmen einer kapitalistischen Marktwirtschaft eingebunden; andererseits propagierten sie auf der gesellschaftsprogrammatischen Ebene ab Mitte der 1920er Jahre das evolutionäre Ziel einer zum „Sozialismus“ führenden „Demokratisierung der Wirtschaft“.16 13  Vgl. Hans Funcke, Die deutsche optische und feinmechanische Industrie in der Nachkriegszeit, in: Deutsche Optische Wochenschrift. Zentralblatt für die gesamte Optik/Photobedarf und Beleuchtungstechnik 17 (1931/32) 6, S. 65. 14  Zit. nach: Marco Swiniartzki, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband 1891 bis 1933. Eine Gewerkschaft im Spannungsfeld zwischen Arbeitern, Betrieb und Politik, Köln/Weimar/ Wien 2017, S. 341. 15  Die optische Industrie, 1927 (wie Anm. 11), S. 41. 16  Zit. nach: Preller, Sozialpolitik (wie Anm. 6), S. 184. „Gemeinwirtschaft, Sozialismus ist die Losung.“ So Robert Dissmann, der Vorsitzende des DMV, in seiner Rede auf dem Zwölften Kongress des ADGB im September 1925 in Breslau. Vgl. Die Wirtschaft und die Gewerkschaften. Zwei Vorträge von Professor Dr. Hermberg-Leipzig und H. JäckelBerlin, Berlin 1925, S. 46.

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Über diese Grundsatzforderung referierte der Wirtschaftsstatistiker Paul Hermberg auf dem Kongress der Freien Gewerkschaften in Breslau. Für Ende Oktober 1926 wurde von ihm ein Vortrag zum Thema „Wirtschaftsdemokratie“ in der Volkshochschule Jena angekündigt.17 Aufgrund dieser verqueren Konstellation geriet der DMV in eine auf Dauer gestellte „Zwickmühle“, entweder das eher pragmatisch auf Lohnzuwächse ausgerichtete Gewerkschaftsverständnis unter den Stammbelegschaften sowie jüngeren Arbeitern ohne langjährige Verbandserfahrung zu vertreten, oder aber am überkommenen Ideal einer gerechteren, antikapitalistisch begründeten Sozialordnung festzuhalten. Laut den Ausführungen des Vorstands habe die, Mitte der 1920er Jahre in der feinmechanisch-optischen Industrie einsetzende, horizontale Konzentration den Anstoß für die hier in Rede stehenden Publikationen des DMV gegeben. In der 1927er-Studie hieß es zur Erklärung, dieser Prozess würde zu einer Verschiebung „der sozialen Mächte“ zuungunsten der Arbeiterschaft führen. Infolgedessen seien am 23. Oktober 1926 in Jena jene Betriebsräte zu einer Konferenz zusammengekommen, deren Werke nur wenige Wochen zuvor in der Zeiss Ikon Aktiengesellschaft aufgegangen waren. Auf dieser Tagung seien die Betriebsratsvertreter schließlich übereingekommen, die Erhebungen auf den gesamten Industriezweig auszudehnen. Zu dieser Entscheidung trug sicherlich bei, dass die betriebliche Rationalisierung in der Metallindustrie zu diesem Zeitpunkt ihre „heiße“ Phase durchlief, sodass dieser Problemkreis in den beiden DMV-Studien ebenfalls breiten Raum einnahm. Letztere enthalten aber fast nur quantitative Aussagen über die Frage, wie sich die Umstellung der Betriebsabläufe auf „rationellere“ Arbeitsverfahren für die Beschäftigten auswirkte. Deshalb erscheint in ihnen die Arbeiterschaft als eine Art Kollektivsubjekt, jedoch nach Betriebsgrößen, Statusgruppen und Standorten differenziert. Darüber hinaus markierte der DMV in der Studie von 1927 seinen Hauptkritikpunkt an den Rationalisierungswellen in der optischen Industrie. Beklagt wurde in erster Linie, dass traditionelle Berufsbilder wie Optiker, Uhrmacher und Feinmechaniker aus dem Arbeitsleben verschwinden würden. Generell sei zu befürchten, dass die technische Modernisierung der Unternehmen zur Verdrängung des gestandenen Facharbeiters durch allerlei „Hilfskräfte“ führen würde.18 In diesem Zusammenhang kam der Technikhistoriker Joachim Radkau zum Schluss, dass handwerklich geprägte Berufe wie der des Drehers die Folgen der Rationalisierung in der Tat zu spüren bekamen. So lösten Angelernte an Revolverdrehbänken und Automaten die teure Facharbeit ab. Doch auf die gesamte Industrie bezogen, sollen sich dequalifizierende Effekte der Rationalisierung in Grenzen gehalten haben.19 Die Veränderungen in der beruflichen Zusammensetzung der 17  Das Volk. Landesorgan der Sozialdemokratischen Partei Thüringens, 26. Oktober 1926. 18  Die optische Industrie, 1927 (wie Anm. 11), S. 41. 19  Joachim Radkau, Technik in Deutschland, Frankfurt am Main/New York 2008, S. 299.

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Belegschaften wurden folglich vom DMV dramatisiert, wenn es in der 1927er-Studie hieß, Optiker und Dreher würden nach dem Ende der Rationalisierungsphase in den Werkstätten „überflüssig“ werden. Zumal nur knapp die Hälfte der in diese Umfrage einbezogenen Firmen ausdrücklich bejahte, „moderne Arbeitsmethoden“ eingeführt zu haben, d. h. für insgesamt 11.890 Arbeiter. Von ihnen bestätigten wiederum nur sechs Betriebe mit 3.887 Arbeitern, zur Fließ- und Serienproduktion übergegangen zu sein. Lediglich ein Unternehmen mit 517 Arbeitern meldete die Umstellung des Materialflusses auf Fließ- und Bandarbeit.20 Im Elektrokonzern Bosch ergab sich nach dem Ersten Weltkrieg ein ähnliches Bild. Auch hier kam es weder zur durchgängigen Fließbandarbeit noch zu einer systematischen Mechanisierung der bisherigen Handarbeitsgänge, weil in der Fertigung rasch wechselnde Kleinserien aufgelegt werden mussten.21 Ebenso verhielt es sich in der feinmechanisch-optischen Industrie, wo an eine standardisierte Großserienfertigung à la Ford nicht zu denken war. Jenseits dieser Betriebswirklichkeit führte die Rationalisierungsdebatte22 in der Weimarer Republik allerdings „ein Eigenleben“, wie es Radkau formuliert. Auch in den beiden „Arbeiter“-Studien des DMV artikuliert sich eine gewisse Hybris der Technik. Kategorisch forderte die Verbandsführung das betriebliche Management auf, eine Typisierung der Produktmuster und die Standardisierung der Fertigungsteile noch konsequenter durchzusetzen. So inszenierte sich der Verband auf der einen Seite zum Vorkämpfer des technischen Fortschritts, sofern die Rationalisierung mit Lohnsteigerungen und dem Wegfall schwerer körperlicher Arbeit für Frauen einhergehen würde. Freilich war das seinen Mitgliedern schwer vermittelbar, wenn auf der anderen Seite klare Stellungnahmen ausblieben, wie belastend sich die arbeitsorganisatorischen und technologischen Veränderungen bzw. die Intensivierung des Arbeitstempos auf die Gesundheit und Psyche der Beschäftigten ausgewirkt haben. Verallgemeinernd fasste Elisabeth Schalldach in ihrer Dissertationsstudie 1930 zusammen, die Freien Gewerk20  Die optische Industrie, 1927 (wie Anm. 11), S. 42. 21  Radkau, Technik in Deutschland (wie Anm. 19), S. 293. Carl Köttgen, der Leiter des Elektromotorenwerkes im Siemens-Konzern, schätzte 1927 ein, dass nicht einmal 100 der fast 50.000 Mitarbeiter „im aufgezwungenen Tempo“ am Band arbeiten würden. Demgegenüber entfielen auf die Fließfertigung in „freiwilligem Tempo“ immerhin einige Tausend Arbeitskräfte. Vgl. Hans Wupper-Tewes, Rationalisierung als Normalisierung. Betriebswissenschaft und betriebliche Leistungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1995, S. 228. 22  Vgl. Gunnar Stollberg, Die Rationalisierungsdebatte 1908–1933. Freie Gewerkschaften zwischen Mitwirkung und Gegenwehr, Frankfurt am Main/New York 1981, S. 96–98 und zum Einfluss des Fordismus auf Bauplanung und Social Engineering in Industriebezirken bzw. -städten Deutschlands und der USA vgl. Clemens Zimmermann (Hg.), Industrial Cities. History and Future, Frankfurt am Main/New York 2012, S. 213–234.

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schaften hätten die von ihnen untersuchten Rationalisierungsmaßnahmen bei aller prinzipiellen Zustimmung auch durchaus kritisch beurteilt. Ihre Entgegnungen lauteten demnach, die Verbraucherpreise seien trotz der neuen Betriebstechnologien und niedrigeren Selbstkosten der Unternehmen keineswegs gesunken, ArbeiterInnen seien dennoch entlassen worden und sowohl die Unfallzahlen als auch die Arbeitsintensität gestiegen.23 Seitens des DMV erfolgte indes keine solcherart empirisch untersetzte Rationalisierungskritik. Das die Debatte mitbestimmende Argument zunehmender Monotonie am Arbeitsplatz wurde vom Verband gleichfalls nicht ins Feld geführt. Neben einem Abschnitt über gesundheitsschädliche Arbeitsgänge enthielt die Studie von 1927 lediglich einen kurzen Vermerk über die Zunahme der Unfallzahlen an neu aufgestellten Stanzeinrichtungen, wo ohne Schutzabdeckung gearbeitet worden sei, um die Akkord-Zeiten einhalten zu können. Nur an einer Stelle kam ein Betriebsrat zu Wort, der plastisch beschrieb, wie in den Werkstätten auf willkürliche Berechnungen von Akkordzeiten durch ein Kalkulationsbüro reagiert worden sei. Die meisten Kollegen und Kolleginnen würden es nicht wagen, wegen des drohenden Verlustes der Arbeitsstelle offen dagegen zu opponieren.24 Seine Schilderung bestätigte demzufolge die eingangs vorgestellte Einschätzung de Mans. In seiner Studie über die Geschichte des DMV charakterisiert Swiniartzki ebenfalls die Angst vor Arbeitslosigkeit als die folgenreichste sozialpsychologische Auswirkung der Rationalisierung auf die Beschäftigten in der Metallindustrie.25

1. Zur Ausdifferenzierung der Arbeiterschaft an den Optik-Standorten in Rathenow, Dresden und Jena Vor dem Hintergrund der in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre hohe Wellen schlagenden Rationalisierungsdebatte war es folgerichtig, dass in den beiden Studien des DMV die Abschnitte „Gliederung der Arbeiterschaft“ und gewerkschaftliches „Organisationsverhältnis“ der Beschäftigten in der optischen Industrie einen Schwerpunkt bildeten. Laut der amtlichen Betriebszählung von 1925 gehörten 3.503 Betriebe mit 62.551 Beschäftigten zum gesamten Zweig der Feinmechanik/Optik. Davon wurden in den 1927 erfassten Firmen des Bereiches Optik 16.832 Arbeiter und 4.132 Angestellte beschäftigt. Im Jahre 1930 waren allein in der optischen Industrie reichsweit 58.798 Personen tätig, darunter 45.4227 Arbeiter, die sich in 36.273 Männer und 9.154 Arbeiterinnen unterteilten. Der 1931 publizierten Studie lagen Fragebogen aus Betrieben mit 23.217 Arbeitern zugrunde, von denen 20.239 in ausgesprochen optischen Werkstätten 23  Schalldach, Rationalisierungsmaßnahmen (wie Anm. 7), S. 131–138. 24  Die optische Industrie, 1927 (wie Anm. 11), S. 27, 31–33. 25  Swiniartzki, Metallarbeiter-Verband (wie Anm. 14), S. 357.

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beschäftigt waren.26 Die vom DMV erhobenen Daten geben Aufschluss über die Ausdifferenzierung der Arbeiterschaft nach Alter, Statusgruppen und Geschlecht, wobei Männer und Frauen nach den Kategorien Facharbeiter, Angelernte, Ungelernte und Lehrlinge unterschieden wurden. Des Weiteren lassen sie Aussagen zum Organisationsgrad der Arbeiter und Arbeiterinnen zu, und zwar bezogen auf deren Mitgliedschaft im DMV, in anderen Freien Gewerkschaften, der Freien Arbeiter-Union und den Gewerkvereinen, jeweils aufgeschlüsselt für die Erhebungsgruppen männliche bzw. weibliche Arbeiter, Lehrlinge und Unorganisierte. Insbesondere die 1927er-Studie enthielt eine ganze Reihe von düsteren Vorahnungen und aus trüben Quellen kolportierte Gerüchte, die dem Leser suggerierten, dass der traditionsreiche Facharbeiterstand infolge der Rationalisierungswellen keine Zukunft mehr habe. Die DMV-Führung ging 1927 davon aus, dass Facharbeiter im großen Stil entlassen und durch an- und ungelernte Arbeitskräfte ersetzt werden würden, insbesondere durch Frauen. Außerdem sei aus einzelnen Betrieben gemeldet worden, dass Dreher und Optiker durch die Einführung „rationellerer Arbeitsmethoden“ nur noch Transportarbeiten und Hofdienste verrichten könnten. Paradoxerweise ließ das vom Verband veröffentlichte Zahlenmaterial eine solche Deutung gar nicht zu. Das Zahlenverhältnis der männlichen Facharbeiter zu den an- bzw. ungelernten Männern und Frauen gestaltete sich in den großen Unternehmen der Zeiss Ikon AG lediglich um 1,9 % ungünstiger und in den Jenaer Zeiss-Werken sogar um 4,4 % günstiger als in der gesamten optischen Industrie. Gleichwohl hieß es, der Verdrängungsprozess der Facharbeiter sei hier „wie bei der Frauenarbeit“ noch nicht zum Abschluss gekommen.27

26  Die optische Industrie, 1927 (wie Anm. 11), S. 4; Die optische Industrie, [1931] (wie Anm. 12), S. 15, 22, 24, 30. 27  Die optische Industrie, 1927 (wie Anm. 11), S. 56.

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Doch diese Erwartung der DMV-Funktionäre trog, wie ein Vergleich der Zubzw. Abnahme der Gesamtzahl der Arbeiter von 1927 mit der Zahl der Optik-Arbeiter drei Jahre später in Tabelle 43 veranschaulicht. Demnach konnte um 1930 von einem einheitlich rückläufigen Trend der Facharbeitskräfte an den drei größten Standorten der optischen Industrie keine Rede sein. Vielmehr stellte sich deren Zu- bzw. Abnahme in Rathenow, Dresden und Jena ganz unterschiedlich dar. Die Quersumme ergab unter dem Strich ein Plus von 332 Arbeitern. Um 1900 galt Rathenow als die „Stadt der Optik“ schlechthin, in der 163 Betriebe, Klein- und Kleinstfirmen existierten, 1930 waren es mehr als 200.28 Zudem hatte die spätere Nitsche & Günther, Optische Werke AG um die Jahrhundertwende in der Brillenfertigung die maschinelle Großfabrikation der Fassungen und Gläser eingeführt. Die Fabrik absorbierte eine ganze Reihe kleinerer, eher handwerklich geprägter Firmen. In wenigen Jahren erhöhte sich die Zahl der Arbeiter auf das 7-fache. Nach dem Ersten Weltkrieg ging Nitsche & Günther mit der 1872 in Rathenow gegründeten Emil Busch AG die eng verflochtene Interessengemeinschaft (IG) Busch-Nitsche & Günther ein. Deren Profil bildete Mitte der 1920er Jahre die branchentypische Teilarbeit und Massenfertigung von Brillengläsern, Brillen- und Klemmerfassungen und optischen

28  https://www.rathenow.de/fileadmin/dateien/PDF/Allgemein/Geschichte_der_Optik. pdf (Zugriff am 20. Dezember 2018).

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Spezialmaschinen.29 Noch 1927 repräsentierte Rathenow mit 63 Betrieben in den Größenklassen ab sechs Arbeitskräften und insgesamt 4.060 Arbeitern den größten Standort der optischen Industrie im Deutschen Reich, der einen vergleichsweise hohen Anteil von 29,6  % Frauenarbeit aufwies. Es entfielen 876 Arbeiter auf die Nitsche & Günther AG und 648 auf das Werk der Busch AG.30 Im Verlauf des Jahres 1929 wurden diese beiden bedeutenden Optik-Produzenten im Zuge der „Brillenschlacht von Rathenow“,31 d. h. durch Aktienaufkäufe und vertragsgemäße Absprachen zur Aufteilung des Brillengestell-Marktes in den Gesamtkonzern von Zeiss eingegliedert. Am 4. Juli 1930 informierte Karl Martin, Direktor der Busch AG, das Vorstandsmitglied von Carl Zeiss, Jena, Rudolf Straubel, dass es in Rathenow gelungen sei, die Akkordpreise zu reduzieren. Das wäre indes nicht „auf dem Verhandlungswege“ zu erreichen gewesen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen seien „einfach“ auf Zeitlohn umgestellt worden. So konnte ihnen ein erheblich niedrigerer Stundenlohn aufgezwungen werden, wogegen der DMV vor dem Hintergrund des Einbruchs der Weltwirtschaftskrise mehr oder weniger machtlos war.32 Im September 1930 betrug der Anteil der Frauenarbeit in der gesamten deutschen Brillenindustrie bereits 34,3 %. Bei der Nitsche & Günther AG fiel dieser Anteil mit 40,3 % überdurchschnittlich hoch aus, zumal sich unter den 322 Frauen neben achtzehn weiblichen Lehrlingen zahlreiche Facharbeiterinnen befanden.33 In Dresden hatten sich zum 7. Oktober 1909 mehrere Produzenten fotografischer und kinematografischer Apparate sowie der dazugehörigen Bedarfs- und Serviceartikel zu einem sog. Camera-Trust zusammengeschlossen, der Internationalen Camera Aktiengesellschaft (Ica AG). Die neue Kapitalgesellschaft ging Ende 1925 mit drei weiteren Optik-Unternehmen vertraglich die Interessengemeinschaft Optik ein. Darunter befanden sich die 1917 gegründeten Ernemann-Werke AG Dresden und Carl Zeiss, Jena. Durch diese Fusion sollten die langwierigen, für die C. P. Goerz AG in Berlin-Zehlendorf zunehmend ruinösen Preiskämpfe in der Fotokamera-Branche beendet werden. Die Vereinbarung wurde zwar für die Dauer von 25 Jahren abgeschlossen. Doch nach Lesart des DMV stellte sich bereits nach wenigen Monaten heraus, „dass ohne durchgrei29  60 Jahre N. G., Nitsche & Günther, Optische Werke A. G. Rathenow, in: Industrie und Handel, Bd. 27, Berlin 1926, S. 3–7. 30  Die optische Industrie, 1927 (wie Anm. 11), S. 11 u. 14; vgl. den Abschnitt „Die Arbeiterschaft nach dem Kriege“, in: Karl Albrecht, Die Geschichte der Emil Busch AG. Optische Industrie, Rathenow vom wirtschaftswissenschaftlichen Standpunkt. Ein Beitrag zur Erkenntnis der Struktur des Wirtschaftslebens, MS., rer. pol. Diss., Universität Jena 1923, S. 110–117. 31  So der Titel eines Artikels aus der „Berliner Morgenpost“ vom 25. Juli 1929. 32  Zit. nach: Carl Zeiss Jena – einst und jetzt. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Wolfgang Schumann, Berlin 1962, S. 415. 33  Die optische Industrie, [1931] (wie Anm. 12), S. 24 f. u. 114 f.

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fende Sanierung und straffe Zusammenfassung der Betriebe unter einheitlicher Leitung das gesteckte Ziel nicht erreicht werden konnte“.34 Dem DMV erschien es daher folgerichtig, dass am 15. September 1926 die Zeiss Ikon AG mit Sitz in Dresden gebildet wurde. Der Metallarbeiter-Verband beobachtete die Konzentration des Kapitals in der feinmechanisch-optischen Industrie also wohlwollend, stets auf Lohnsteigerungen durch die erhöhte Produktivität in den neuen Beteiligungsgesellschaften vertrauend. Zuvor hatte das Zeiss-Werk in Jena die Mehrheit an deren Aktienanteilen erworben. Der Zusammenschluss war – wie schon bei der Bildung der IG Optik 1925 – maßgeblich von Straubel forciert worden, der dabei „bis an die Grenzen der Legalität ging“.35 Die Zeiss Ikon AG mechanisierte ihre Betriebsabläufe durch Aufnahme der Fließfertigung mit entsprechend hohen Taktzeiten, wodurch allein bei der Ica AG im Verlauf des Jahres 1926 nach Angaben des DMV etwa 800 Entlassungen erfolgten. Überhaupt führte der Verband die Zeiss Ikon AG in der 1927er-Studie als die Unternehmensgruppe vor, in der „die Facharbeiter mehr und mehr durch Angelernte und weibliche Arbeitskräfte ersetzt werden“. Daneben problematisierte er die „rigorosen Maßnahmen der Werksleitungen“, mit deren Hilfe der Leistungsdruck durch Kürzung der Akkordpreise erheblich gesteigert werden sollte, wie auch die Arbeitsintensität unter den verbliebenen Arbeitskräften. Daran missbilligte der DMV aber lediglich, dass „erst in zweiter Linie die technischen Verbesserungen“ zum Zuge kämen.36 In den Dresdner Betrieben der Zeiss Ikon AG arbeiteten zwischen 81 % und 89 % der männlichen und weiblichen Arbeitskräfte im Akkord. Diese außergewöhnlich hohen Akkordquoten stellten in der optischen Industrie eine Besonderheit dar. Ab Mitte der 1920er Jahre vollzog sich demzufolge in diesem Industriezweig ein tief greifender Strukturumbruch. Gemessen an der Zahl der beschäftigten Arbeiter gehörten von den vierzehn größten Unternehmen der Feinmechanik/ Optik 1923/24 vier zum Gesamtkonzern von Zeiss und 1928/29 bereits acht. Im Vergleich zu 1927 gelang es den Managern der Stiftungsunternehmen in Jena drei Jahre später, Rathenow im Ranking der Optik-Standorte vom ersten Platz zu verdrängen. Mitte September 1930 zählten allein die optischen Werkstätten in der Saalestadt 3.929 Arbeiter, die Zeiss-Werke Ende 1930 insgesamt 5.700 Beschäftigte. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1932 waren es noch 4.460 Personen, wobei sich die Zahl der weiblichen Arbeitskräfte allerdings um

34  Die optische Industrie, 1927 (wie Anm. 11), S. 47 f. 35  Reinhard E. Schielicke, Rudolf Straubel. 16. Juni 1844–2. Dezember 1943, Jena 2017, S. 190. 36  Die optische Industrie, 1927 (wie Anm. 11), S. 62 f. u. S. 190. Vgl. Wilhelm Schumann, Kapitalaufbau und Finanzierungsmethoden der deutschen optischen Industrie, MS., phil. Diss, Uni Gießen 1935, S. 43–55.

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43 % verringerte.37 Kennzeichnend für den Standort Jena blieb bis 1930/31 der überdurchschnittliche Anstieg der männlichen Facharbeiter, trotz oder gerade wegen der Maßnahmen zur arbeitsorganisatorischen, beruflichen und betrieblichen Rationalisierung. Mit dem Namen Zeiss verband sich traditionell ohne Frage Präzisions- und Qualitätsarbeit, die eine mustergültige Ausbildung der Facharbeiter voraussetzte und den Beschäftigten ein Leben lang soziale Anerkennung verhieß. Jüngere, ungelernte oder neu eingestellte Arbeiter verrichteten dagegen in der Regel nur Routinearbeiten. Diese graduellen Abstufungen unter den Zeissianern38 manifestierten sich in einem komplizierten Lohnsystem, das zunächst zwischen Lohn- und Akkordarbeitern, Lohn- und Akkordarbeiterinnen, Notstandsarbeitern und Lehrlingen unterschied. Erstere umfassten wiederum vier gestaffelte Lohngruppen, nämlich die Präzisions-, Fach-, Spezialund Hilfsarbeiter. Währenddessen Frauen einheitlich zur Gruppe der Ungelernten zählten. Jede dieser Gruppen unterteilte sich noch einmal in drei Altersstufen, was ein höchst differenziertes Lohngefüge ergab.39 Angesichts dieser diffizilen, mental verinnerlichten Statusunterschiede glich die Einführung eines Gruppenakkords in der Brillenfertigung einem gewagten Unterfangen. Im Gegensatz zum vertrauten Werkstattprinzip setzte diese Art von Entlohnung eine die verschiedenen Statusgruppen integrierende Zusammenarbeit voraus. Die ersten Überlegungen für den Übergang zu einem Gruppenarbeitssystem hatte der Vorsteher des Zeiss-Brillenbetriebes, Paul Lincke, im Jahre 1921 angestellt. Dessen Pläne konnten aber erst im Zuge des schrittweisen Umzugs der Brillenabteilung in einen großräumigen Neubau zwischen 1924 und 1928 verwirklicht werden. Lincke fasste die vordem getrennten Arbeitsgänge Aufkitten, Fräsen, Schleifen und Polieren der Gläser sowie die Qualitätskontrolle in einem Raum zusammen. Vorbereitend ließ er Arbeitszeitstudien ausführen, die an Frederick Winslow Taylor erinnerten.40 Die Brillenbetriebsleitung bezahlte nur noch die Gutausbringung der Gläser. Das vermittelte allen Beschäftigten in der Gruppe einen starken Anreiz, Glasbruch zu vermeiden, wenn die Gläser von Hand zu Hand wanderten. Überraschenderweise erbrachte dieses Verfahren eine höhere Gutausbeute als der mechanisierte Transport zuvor, der treppauf, treppab von Werkstatt zu Werkstatt verlaufen war.41 Außer37  Carl Zeiss Jena (wie Anm. 32), S. 351 u. 415. 38  Vgl. Wolfgang Wimmer, Die Fundamente eines Leuchtturms. Kurzer Abriss zur Geschichte von Carl Zeiss in Jena, in: Arbeit! Ostdeutsche Arbeitswelt im Wandel 1945– 2015, Begleitband, Dresden 2015, S. 92–101 und Eva-Maria Aymans, Carl Zeiss, JenaZeissianer, in: Rüdiger Stutz/Matias Mieth (Hg.), Jena. Lexikon zur Stadtgeschichte, Berching 2018, S. 125 f. 39  Carl Zeiss Jena (wie Anm. 32), S. 373. 40  Vgl. Peter Hinrichs/Lothar Peter, Industrieller Friede? Arbeitswissenschaft, Rationalisierung und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, Köln 1976, S. 52–59. 41  Frank Markowski, Präzisionsarbeit, Massenproduktion und Gruppensystem. Arbeit und

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dem eröffnete das später von weiteren optischen Werkstätten übernommene Gruppenarbeitssystem den nachrückenden Facharbeiter-Eliten bessere Aufstiegschancen als die Massen- und Teilarbeit. Auch dies habe laut Radkau die Meinungsbildung in den Fachverbänden der Gewerkschaften stark beeinflusst, sodass auch der DMV solche Rationalisierungsvorhaben befürwortete, trotz der erhöhten Arbeitsintensität.42 Die Optik-Standorte Rathenow, Dresden und Jena unterschieden sich ferner im gewerkschaftlichen Organisationsgrad ihrer Belegschaften erheblich. Die DMV-Verwaltungsstelle in Rathenow meldete im September 1930, von insgesamt 3.875 Arbeitskräften in 61 Betrieben gehörten 73,4 % dem Metallarbeiter-Verband an. Nur 17 % der Beschäftigten galten hier als „Unorganisierte“. Am Standort Dresden waren immerhin 64,8 % der 3.238 Beschäftigten in 23 optischen Betrieben Mitglied des DMV, in Jena dagegen lediglich 34,1 % der im Ganzen 3.929 Arbeiter. An diesem Standort gehörten demzufolge 57,6 % aller Arbeitskräfte keinem Gewerkschafts- oder anderen Interessenverband wie den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen oder der Freien Arbeiter-Union Deutschlands an. Nüchtern bilanzierte die 1931er-Studie, der Organisationsgrad des DMV würde in den Unternehmen des Gesamtkonzerns von Zeiss mit 48,6 % hinter dem in den erfassten Betrieben der optischen Industrie (51,3 %) zurückbleiben. Einen Erklärungsansatz, warum sich das Organisationsverhältnis in Rathenow und Jena geradezu gegenläufig darstellte, lieferte sie indes nicht. Umso erfreuter registrierte der DMV seine organisatorische Verankerung im gesamten Industriezweig, da der Prozentanteil der organisierten Arbeiter, Arbeiterinnen und Lehrlinge im Vergleich zu den nicht organisierten zwischen 1927 und 1930 zunahm. Die Verwaltungsstellen Rathenow und Dresden konnten immerhin auf 83 % bzw. 70,9 % Organisierte aller Richtungen verweisen. Zudem erreichte der DMV 1930 unter den genannten drei Statusgruppen einen höheren Organisationsgrad als 1927 und einen Zuwachs von 2.770 Mitgliedern.43

Technik bei Carl Zeiss bis zur Weltwirtschaftskrise, in: Ders. (Hg.), Der letzte Schliff. 150 Jahre Arbeit und Alltag bei Carl Zeiss, Berlin 1997, S. 54–75, hier S. 70–73. 42  Radkau, Technik in Deutschland (wie Anm. 19), S. 299. Zur Haltung der im folgenden Absatz angeführten nichtgewerkschaftlichen Verbände vgl. Karl Vorwerck, Die wirtschaftsfriedliche Arbeitnehmerbewegung Deutschlands in ihrem Werden und in ihrem Kampf um Anerkennung. Eine kritische Untersuchung, Jena 1926 und Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918–1923. Zur Geschichte und Soziologie der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands, Meisenheim am Glan 1969. 43  Die optische Industrie, [1931] (wie Anm. 12), S. 55–57 u. 116–118.

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Doch diese Zahlen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verwaltungsstellen des DMV nur unzureichend mit den angefragten Firmen und Betrieben vernetzt waren. Die 1931er-Studie enthielt zwar einen kurzen Abschnitt „Mängel und Missstände“, der jedoch über belangloses Lamentieren nicht hinausging.44 Offenbar fehlte es den Mitarbeitern an basisnahen Informationen, um dem Verband in der Öffentlichkeit ein glaubwürdiges „Kümmerer“-Image zu vermitteln. Möglicherweise hätte das ein Teil der nicht organisierten Beschäftigten zum Anlass genommen, einer Mitgliedschaft im DMV näher zu treten. Vor allem im Subtext der Abschnitte über die Frauenbeschäftigung vermittelten die DMV-Studien den Eindruck, dass Stereotype und nicht neu gewonnene Einsichten das Verständnis der Vorstandsmitglieder von weiblicher Erwerbsarbeit prägten. Deren Blick auf die neu eingestellten Kolleginnen korrespondierte mit dem seinerzeit vorherrschenden Meinungsbild vom Mann als „Ernährer“ der Familie.45 Aufgrund der Kriegsfolgen und ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart, hieß es, seien Frauen gezwungen, in die Männerdomäne der Optik-Fertigung einzudringen. Obendrein spielte das altbekannte Vorurteil eine Rolle, sie würden wegen ihrer naturgegebenen Neigung zu Ehe und Haushalt das „innere Wesen“ der Gewerkschaft „als Organisation“ nicht so tief empfinden können wie der Mann.46 Wie Karen Hagemann in ihrer Monografie über „Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik“ zeigen konnte, handelte es sich um ausgesprochen ambivalente Redeweisen.47 Offiziell hielt der Vorstand des DMV zwar an den alten Idealen „Gleiches Recht“ und „Gleicher Lohn“ für beschäftigte Frauen fest, aber im gewerkschaftlichen Alltag wurden zuvörderst die vermeintlichen Vorrechte der männlichen Facharbeiter verteidigt. Ein Vergleich zwischen den in den optischen Betrieben am Standort Dresden im Jahre 1930 tatsächlich gezahlten Tariflohn- und Akkordsätzen bestätigt diese Einschätzung. Während die Männer unter den Angelernten zwischen 8 und 34 Pfennig mehr Stundenlohn erhielten als die Frauen, differierte der Akkordverdienst in den einzelnen Firmen zugunsten der männlichen Arbeitskräfte um 10 bis 35 Pfennige.48 Gera44  Ebd., S. 90. 45  Vgl. Brigitte Kassel, Der „männliche Familienernährer“. Zur Lohn- und Tarifpolitik des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes 1891–1933, in: IWK. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (1998) 3–4, S. 364–380. 46  Die optische Industrie, 1927 (wie Anm. 11), S. 14 u. 20; Die optische Industrie, [1931] (wie Anm. 12), S. 57 u. 118. 47  Karen Hagemann, Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 500–507; vgl. Eva V. Chen, Beruf: Frau. Arbeitsbiographien in Jena vom Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Jena 2006, S. 66–85. 48  Die optische Industrie, [1931] (wie Anm. 12), S. 78 f.

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dezu euphorisch kommentierte der DMV den stets überdurchschnittlich hohen Organisationsgrad der Kolleginnen am Standort Rathenow. Bei der Nitsche & Günther AG verfügten 82,8 % der beschäftigten Frauen über ein Mitgliedsbuch des Verbandes und lediglich etwas mehr als 14 % galten als nicht organisiert. Ob ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Beschäftigungs- und Organisationsgrad von Frauen am jeweiligen Standort bestand, lässt sich nicht nachweisen. Sicherlich war in Rathenow von großer Bedeutung gewesen, dass es sich mehrheitlich um Facharbeiterinnen handelte. In Jena hielten sich die Zahl der DMV-Mitglieder unter den weiblichen Beschäftigten und die der „Unorganisierten“ in etwa die Waage.

Dabei hatten 1927 lediglich 9,1 % aller in den Jenaer Optik-Betrieben beschäftigten Frauen dem Metallarbeiter-Verband angehört.49 Vermutlich war eine ganze Reihe von Arbeiterinnen den Gewerkschaften beigetreten, um deren Beratung oder Unterstützung im langjährigen Konflikt um die Einführung des Stücklohnes für Frauen zu erlangen. Bis 1928 lehnten die weiblichen Zeiss-Beschäftigten Arbeit im Akkord wiederholt ab. Erst mit dem Erlass einer neuen Betriebsordnung im Stammwerk mussten sie sich dem fügen.50 Unzufrieden zeigte sich der DMV hingegen mit der Tatsache, dass nur 6,6 % aller in den 49  Die optische Industrie, 1927 (wie Anm. 11), S. 19; Die optische Industrie, [1931] (wie Anm. 12), S. 118. 50  Carl Zeiss Jena (wie Anm. 32), S. 375 u. 382.

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Unternehmungen von Zeiss tätigen Betriebsräte weiblichen Geschlechts waren, also 7 von insgesamt 106 Betriebsräten. Gemäß des Anteils der weiblichen Arbeitskräfte an der Gesamtzahl der im Konzern Beschäftigten hätte jede vierte Frau Betriebsrätin sein müssen. Demzufolge müsse „durch Aufklärung der Frauen noch vieles nachgeholt werden“, lautete die frappierende Schlussfolgerung im Vorstand des DMV.51

2. Der DMV und die „soziale Betriebspolitik“ des Unternehmens Carl Zeiss Der Ausdifferenzierungsprozess der Arbeiter und Arbeiterinnen nach Einkommen, Organisationsgrad und Ausbildungsstatus führte im Unternehmen Carl Zeiss, Jena zu einem deutlich höheren Anteil der Facharbeiter (51,9 %) an der Gesamtbeschäftigtenzahl als in der gesamten optischen Industrie, wo er 46,6 % betrug.52 Einen theoretischen Ansatz, um diese Ausnahmeerscheinung von Zeiss im Industriezweig zu erklären, offeriert uns der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser. Er beruft sich dabei auf Studien der neoinstitutionalistischen Schule um Douglass C. North. Letzterer vertrat Anfang der 1980er Jahre im Kontext der auf lange Sicht zweifellos sinkenden Bedeutung der materiellen Produktionsweise die These, Ende des 19. Jahrhunderts habe eine neue weltwirtschaftliche Epoche begonnen. Zu dieser Zeit seien „im Schatten der Moderne“ die ökonomischen Grundlagen unseres heutigen „nachindustriellen Zeitalters“ vorgeformt worden. Während North diese Zäsur als „Zweite Wirtschaftliche Revolution“ interpretierte, kennzeichnet sie Abelshauser als eine 51  Die optische Industrie, [1931] (wie Anm. 12), S. 120–122. 52  Ebd., S. 116.

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„umwälzend neue, immaterielle Produktionsweise“. Er spricht von der „Neuen Wirtschaft“, die seit den 1990er Jahren mit voller Wucht ins öffentliche Bewusstsein getreten sei.53 Der innovative Kern dieser Produktionsweise, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts in den Neuen Industrien der USA und Deutschlands entstanden und 100 Jahre später dominierend geworden sei, läge in der immateriellen Wertschöpfung. Diese beruhe zwar auf einem Input, der zur Herstellung von Waren diene, ohne jedoch selbst im herkömmlichen Sinne aus materiellen Gütern und Dienstleistungen zu bestehen. Vielmehr resultiere die Wertschöpfung aus neuartigen symbiotischen Beziehungen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, deren typisches Merkmal die „Verwissenschaftlichung“ der Warenproduktion bilden würde. In deren Mittelpunkt stünden nicht mehr Prozesse der Stoffumwandlung wie im Industriezeitalter, sondern integriertes Wissen über die Bedürfnisse des Marktes, über komplexe Problemlösungen in Forschung und Entwicklung sowie über neuartige Technologien, Anwendungsund Verarbeitungsmöglichkeiten. Daneben habe das Deutsche Kaiserreich auf zwei weiteren Gebieten eine Vorreiterrolle gespielt, die ebenfalls für die Emergenz der „Neuen Wirtschaft“ von wesentlicher Bedeutung gewesen seien: Noch vor den USA avancierte das Deutsche Reich zu einem führenden Akteur auf dem Weltmarkt. Außerdem habe es sich bis 1914 zu einem wahren „Treibhaus“ für forschungs- und wissensbasierte Institutionen entwickelt, die seither das Wirtschaftsgeschehen mitbestimmen würden.54 Zu Letzteren zählt fraglos auch die 1889 gegründete Carl-Zeiss-Stiftung. Was auf den ersten Blick als Anlauf zur nachholenden Modernisierung55 in der alten Industrieregion Thüringen erschien, kam gemäß der Interpretation von Abelshauser einem Aufbruch zu neuen Ufern in die Wissensgesellschaft des 20. Jahrhunderts gleich. Denn es handelte sich in zweifacher Hinsicht um ein nachhaltiges Handlungskonzept. Zum einen verfolgte Stiftungsgründer Ernst Abbe mit der „Hebung des Arbeiterstandes“ einen gesellschaftsreformerischen Ansatz zur Stärkung des neuen Mittelstandes, was eine sozialliberale Spitze gegen die Forderungen der Bebelschen Sozialdemokratie nach einem „Volksstaat“ unter Führung der Arbeiterklasse aufwies. Zum anderen garantierte das Stiftungsstatut von 1896 eine rechtsverbindliche Verknüpfung der Forschungs-, Bildungs53 Werner Abelshauser, Von der Industriellen Revolution zur Neuen Wirtschaft. Der Paradigmenwechsel im wirtschaftlichen Weltbild der Gegenwart, in: Jürgen Osterhammel/ Dieter Langewiesche/Paul Nolte (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 202–218, hier S. 203 u. 214. 54  Ebd., S. 216–218. Vgl. Werner Abelshauser, Die Wirtschaft des deutschen Kaiserreichs. Ein Treibhaus nachindustrieller Institutionen, in: Paul Windolf (Hg.), FinanzmarktKapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden 2005, S. 172– 195. 55  Vgl. Horst Moritz, Thüringen im 19. Jahrhundert. Von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Teil II: 1871 bis 1918, Erfurt 2012, S. 84 u. 124.

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und Kulturförderung in der Region Jena, was gemäß § 1, Teil B auch „der arbeitenden Bevölkerung Jenas und seiner nächsten Umgebung“ zugutekommen sollte. Einerseits erforderte die Präzisionsarbeit bei Zeiss hohe Standards in der wissens- und erfahrungsintensiven Entwicklung von weltmarktfähigen Gerätesystemen; andererseits bedurften die Arbeiter für diesen anspruchsvollen Fertigungsprozess einer qualitätsgerechten Aus- und Weiterbildung. Vielleicht erklärt sich die jahrzehntelange Ausnahmestellung dieses Unternehmens auf den in- und ausländischen Märkten zu einem Gutteil aus diesem sich wechselseitig bedingenden Zusammenhang. Aus den bescheidenen Anfängen der Optischen Werkstätte von Carl Zeiß (Zeiss) um die Mitte des 19. Jahrhunderts erwuchs ab den 1880er Jahren sukzessive ein großer Fabrikbezirk am Rande des mittelalterlichen Stadtkerns, den von Alfred Marshall beschriebenen „industrial districts“56 in englischen Städten der frühen Industrialisierung vergleichbar. Auf dieser Grundlage entwickelten sich die Saalestadt und ihr Einzugsgebiet sprunghaft zum Ballungsraum („Agglomeration“) einer regionalen Verbundwirtschaft, die vielfältige Markt- und Lieferverflechtungen aufwies.57 Nach dem Ersten Weltkrieg gelang es, die institutionelle Rahmung der oft beschriebenen engen Verbindung von optischer Industrie, Naturwissenschaft und Technik zu verstetigen und zu erweitern. Neue Institutionen der akademischen Forschung und Lehre sowie außeruniversitären Wissenschaftsförderung entstanden dank der vertraulichen Vermittlung oder Finanzierung durch die Carl-Zeiss-Stiftung. Bis zur Gründung der Universität in Frankfurt am Main sind keiner Hochschule oder Bildungseinrichtung in Deutschland so hohe Summen aus nichtöffentlichen Quellen zugeflossen wie der Thüringischen Landesuniversität aus Mitteln des 1900 von Abbe eingerichteten Universitätsfonds.58 Am Industrie- und Technologiestandort Jena folgten die an der angewandten Forschung und am Export orientierten Unternehmensmanager natürlich auch einem allgemeinen Trend der Zwischenkriegszeit, d. h. dem „innigen Zusammenarbeiten von Wissenschaft und Praxis“. Dabei sei das Hauptaugenmerk auf die Erhaltung und Erschließung des Marktes durch „Qualitätsarbeit“ zu legen, argumentierte exemplarisch der Generaldirektor des Porzellanwerkes Kahla, Heinrich Fillmann, in einem Vortrag vor dem Institut für Weltwirtschaft in 56  Zit. nach: Abelshauser, Von der Industriellen Revolution (wie Anm. 53), S. 218. Zum Begriff „industrieller Distrikt“ vgl. Alfred Marshall, Handbuch der Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, Stuttgart/Berlin 1905, S. 295. 57  Vgl. Joachim H. Schultze, Jena. Werden, Wachstum und Entwicklungsmöglichkeiten der Universitäts- und Industriestadt. Unter Mitarbeit von Paul Hübschmann, Jena 1955, S. 130–142. 58  Ernst Wuttig, Die Carl-Zeiss-Stiftung in Jena und ihre Bedeutung für die Forschung, in: Ludolph Brauer/Albrecht Mendelssohn Bartholdy/Adolf Meyer, Forschungsinstitute, Bd. 1, Hamburg 1930, S. 441–449, hier S. 448.

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Kiel. Dazu müsse sich die industrielle Praxis mit der Technik, Kunst und Wissenschaft verbinden, um die arbeitsorganisatorischen, wirtschafts- und sozialpolitischen Aufgaben der Zukunft lösen zu können.59 Das bedeutete zugleich, dass der Ausbau der Abteilungen für Forschung & Entwicklung in den Neuen Industrien keineswegs das Erfahrungswissen der Facharbeiter entwertete. Im Gegenteil, das in der Jenaer Brillenfertigung eingeführte Gruppensystem verknüpfte Wissenschaft und Praxis beispielhaft, wie die neu zusammengestellten Arbeitsteams aus Wissenschaftlern, Ingenieuren, ArbeiterInnen und Hilfskräften bewiesen. Wissenschaft und Arbeiterschaft würden zusammengehören. Dieser Gedanke habe auch der Carl-Zeiss-Stiftung Abbes zugrunde gelegen, postulierte der DMV im Schlussteil seiner 1931er-Studie. Im Vergleich dazu fiel das Urteil des Verbandes über die soziale Arbeits- und Betriebspolitik der Zeiss Ikon AG bzw. der Jenaer Stiftungsunternehmen sehr distanziert und unterkühlt aus. Die Werkleitungen würden sich in „ihren Methoden“ gegenüber der Arbeiterschaft „keineswegs vorteilhaft“ von anderen Unternehmen unterscheiden, hieß es darin.60 Das klang freilich eher nach dem sprichwörtlichen Pfeifen im Walde als nach einer stichhaltigen und nachvollziehbaren Argumentation. Jedenfalls blieb in beiden Studien des DMV der spätestens in der Rationalisierungskrise von 1926 entbrannte „Kampf um die Seele des Arbeiters“ mehr oder weniger ausgeblendet. Zu diesem viel zitierten Schlagwort hieß es in der 1927er-Umfrage noch, die Betriebsräte müssten dem zunehmenden Werben der Unternehmerverbände „um die Seele des Arbeiters“ weiterhin Beachtung schenken.61 1931 fand es keine Erwähnung mehr, obwohl dem Gesamtkonzern von Zeiss in der zweiten DMV-Studie sogar ein eigenes Kapitel eingeräumt wurde und das Werk in Jena seine sozialpolitischen Angebote einer breiten Öffentlichkeit vorstellte. So gab Goetz Briefs 1930 für das Institut für Betriebssoziologie und Soziale Betriebslehre einen Sammelband unter dem Titel „Probleme der sozialen Betriebspolitik“ heraus.62 In dieser Publikation veröffentlichte neben Roland Brauweiler, geschäftsführendes Präsidialmitglied der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, und Carl Arnhold, dem Direktor des von der Ruhr-Industrie geförderten Deutschen Instituts für technische Arbeitsschulung in Düsseldorf,63 auch Friedrich Schomerus einen Beitrag. Bis zu seinem von der Nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation im Bunde mit dem Thüringischen 59  Zit. nach: Johannes Müller, Der mitteldeutsche Industriebezirk, Jena 1927, Werbeanzeige auf dem Vorsatz hinten. 60  Die optische Industrie, [1931] (wie Anm. 12), S. 64 und 123. 61  Die optische Industrie, 1927 (wie Anm. 11), S. 17. 62  Vgl. Goetz Briefs (Hg.), Probleme der sozialen Betriebspolitik. Vorträge, Berlin 1930. 63  Vgl. Peter Hinrichs, Um die Seele des Arbeiters. Arbeitspsychologie, Industrie- und Betriebssoziologie in Deutschland, 1871–1945, Köln 1981, S. 271–290. Zur Unterscheidung

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Innen- und Volksbildungsminister Fritz Wächtler im Sommer 1933 erzwungenen Rücktritt leitete Schomerus die Personalabteilung von Carl Zeiss. Als langjähriges Mitglied des Jenaer Stadtrats hatte er die nationalliberale Debattenkultur und Kommunalpolitik in der Saalestadt maßgeblich mitgeprägt, nicht zuletzt im Finanzausschuss des Stadtparlaments. Seinem Artikel im genannten Band lag Schomerus' Vortrag vom 11. Februar 1930 an der Technischen Hochschule zu Berlin über soziale Betriebspolitik zugrunde, wo auch das Institut von Briefs angesiedelt war. Eingangs würdigte Schomerus die von Abbe hinterlassene Arbeitsverfassung. Denn sie würde die Persönlichkeit des arbeitenden Menschen in den Mittelpunkt rücken und ein dauerndes Arbeitsverhältnis begründen. Daran geschickt anknüpfend, fragte er rhetorisch, was solle das ganze Gerede von Werksgemeinschaft, wenn der Arbeiter nicht wissen könne, ob er morgen oder übermorgen seinem Betrieb noch angehören würde. Abschließend argumentierte Schomerus zur Frage der Arbeitszufriedenheit unter den Arbeitern, schaute ihnen gewissermaßen „in die Seele“. Die Zustände in Jena seien zwar nicht paradiesisch, aber längst nicht so polarisiert wie in anderen Industriestädten, weil die Einkommensunterschiede nicht so aufreizend groß seien. Zwar zielte die „soziale Betriebspolitik“ des Managements von Carl Zeiss wohl in erster Linie auf Präzisions-, Fach- und Spezialarbeiter, weniger auf Ungelernte, Hilfs- und Notstandsarbeiter, zumal die Letztgenannten keinen Anspruch auf Leistungen der Carl-Zeiss-Stiftung hatten. Doch nahm der von Abbe eingeleitete Wandel der industriellen Arbeitsbeziehungen nach der Revolution durch „eine Art Betriebsdemokratie“ und die „Vergemeinschaftung“ der Belegschaft tatsächlich eine neue Qualität an. 64 Auf diese Weise würden die Arbeiter „aus der Masse des Proletariats herausgehoben und zu Industriebürgern“ werden, bemerkte Schomerus dazu, und verstand darunter aufrechte, selbstbewusste und freie Menschen auf industriellem Boden. 65 von „sozialer Betriebspolitik“ und „betrieblicher Sozialpolitik“ vgl. Preller, Sozialpolitik (wie Anm. 6), S. 220 f. 64  Friedrich Schomerus, Die soziale Betriebspolitik der Zeißwerke mit besonderer Berücksichtigung der Carl-Zeiss-Stiftung, in: Briefs (Hg.), Problem (wie Anm. 62), S. 27– 36, hier S. 27, 33 u. 36. Vgl. zur Frühgeschichte der Arbeiterausschüsse Hans Jürgen Teuteberg, Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland. Ursprung und Entwicklung ihrer Vorläufer im Denken und in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1961, S. 267–271; Karl-Georg Loritz, Mitbestimmung und Betriebsverfassung in Deutschland aus juristischer Sicht, in: Hans Pohl (Hg.), Mitbestimmung und Betriebsverfassung in Deutschland, Frankreich und Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 92), Stuttgart 1996, S. 57– 78, hier S. 58 f. 65  Schomerus griff in Reden oder Publikationen mehrmals auf den Begriff „Industriebürger“ zurück. Vgl. Friedrich Schomerus, Das Zeisswerk in Jena, Ms., [Jena 1931], S. 7.

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Die DMV-Studien von 1927 und 1931 ließen offen, wie die Verbandsführung auf die sich ausdifferenzierenden Unternehmenskulturen in der optischen Industrie reagieren würde. Angemessene Gegenstrategien zu den betriebsgemeinschaftlichen Bestrebungen der Unternehmensmanager in den Zentren der Kamera- bzw. feinmechanisch-optischen Industrie in Dresden und Jena waren nicht zu erkennen. Dabei bot das Ringen um die Seele des Arbeiters durchaus auch Anknüpfungschancen für die Zukunft, wie der Beitrag des Sozialmanagers und Vorstandsmitglieds der Borsig GmbH, Heinz Landmann, im Sammelband von G. Briefs verdeutlichte. Auch dessen Aussagen signalisierten, dass Spitzenmanager aus den Neuen Industrien um 1930 noch an einem grundsätzlich einvernehmlichen Verhältnis zu den Betriebsräten und örtlichen Vertrauensstellen des DMV interessiert waren.66 Hinzu kam, dass neue Massenphänomene wie der Leistungs- und Betriebssport vom DMV pejorativ abgetan wurden. Offensichtlich bestanden im Vorstand starke Vorbehalte gegenüber der modernen Massen- und Freizeitkultur und ihren medialen Ausdrucksformen.67 Dies wurde als bloße Ablenkung vom geforderten gewerkschaftlichen Solidarverhalten gebrandmarkt, obwohl es sich um eine Grundtendenz in den europäischen Gesellschaften der Zwischenkriegszeit handelte. Verallgemeinernd kritisierte de Man in seinen Memoiren die dogmatische Beschränkung der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre auf „die Klasse“ der Industriearbeiter, zumal diese längst nicht mehr alle proletarischen oder proletarisierten Schichten umfasst habe. In Auseinandersetzung mit dem zur Macht strebenden Nationalsozialismus wäre es vielmehr erforderlich gewesen, „den Sozialismus“ zur Sache aller, zumindest der Masse aller Krisenopfer zu machen.68

3. Den Produktionsfaktor „Mensch“ vernachlässigt Der Sozialhistoriker Preller vermerkte urteilssicher, dass die Jahre der Weimarer Republik durch das Aufspüren des „Produktionsfaktors Mensch“ charakterisiert gewesen seien, und nicht etwa durch den technischen Wunderglauben der Unternehmensvorstände in der Vorkriegszeit.69 Doch genau davon blieb das Denken der DMV-Führung in den 1920er Jahren beherrscht, obwohl sich der soziale und technische „Fortschritt“ nur auf einzelnen „Inseln“ der „Neuen Wirtschaft“ wie Jena innovativ entfalten konnte. Während die Rationalisie66  Vgl. Heinz Landmann, Die betriebspolitischen Bestrebungen der Borsig-Werke, in: Briefs (Hg.), Problem (wie Anm. 62), S. 37–57, hier S. 41. 67  Vgl. Swiniartzki, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband (wie Anm. 14), S. 391–394. 68  de Man, Gegen den Strom (wie Anm. 3), S. 201 f. 69  Preller, Sozialpolitik (wie Anm. 6), S. 127.

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rungsdebatte vom Metallarbeiter-Verband engagiert verfolgt wurde, verlor dessen Vorstand den „Produktionsfaktor Mensch“ ausgerechnet zu einem Zeitpunkt aus den Augen, da extrem sozialreaktionäre Kreise um Albert Vögler im Umfeld der Spitzenverbände des Kapitals ihre Angriffe auf das parlamentarische Regierungssystem verschärften. Mikrostudien wie die zu den DMV-Umfragen von 1927 und 1930/31 können daher verdeutlichen, wie es zur faktischen Selbstaufgabe der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung 1933 kommen konnte. Dazu haben innerverbandliche Konflikte und Fehlwahrnehmungen auf der betrieblichen Ebene gewiss beigetragen, und zwar jenseits aller einseitigen Schuldzuweisungen nach der Machtübernahme des Hitler-Papen-Kabinetts. Eine wesentliche Ursache erkannte de Man darüber hinaus im Unvermögen der Verbandssekretäre, sich auf die gegenüber den Vorkriegs- und Kriegsjahren gewandelten Kulturmuster unter den jüngeren und zunehmend weiblichen Beschäftigten einzustellen. Daneben betonte Swiniartzki in seiner Studie über die Geschichte des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes mit Blick auf die Weimarer Jahre, die Gewerkschaften seien in starkem Maße durch den Verhandlungsmarathon in den zentralen Schlichtungskommissionen festgelegt bzw. gebunden worden. Ihre Staatsfixierung entsprach demnach spiegelbildlich der Betriebsferne des DMV-Apparates bzw. der mangelnden Präsenz seiner Funktionäre in den Unternehmen. Das habe aus Vermittlungsproblemen resultiert, die sich zwischen der betrieblichen und verbandlichen Ebene aufgetan und im „Absturz von 1924“ äußerten, d. h. im dramatischen Rückgang der Mitgliederzahlen. Dieser Autor geht bereits für die frühen 1920er Jahre von einem „untergrabenen Inklusionsarrangement“ aus, das sich fortan mit dem Schwinden der Einbeziehung von Gewerkschaftsmitgliedern in die ehrenamtliche Gremienarbeit weiter aushöhlte. Dessen „Neujustierung“ habe der DMV erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre versucht. Generell habe die Verbandsführung aber an ihrem „instrumentellen Gewerkschaftsverständnis als kleinsten gemeinsamen Nenner“ mit den Arbeitern in der Metallindustrie festgehalten.70 Dies kam gewiss vielen nach 1924 in den Verband eingetretenen männlichen Facharbeitern entgegen. Ihnen ging es allerdings vorrangig um eine individuelle Besitzstandswahrung und weniger um die zahlenmäßige Stärkung der eigenen Organisation, wie es vom DMV-Vorstand in seinen beiden Studien wiederholt gefordert wurde. Unter altbewährten Gewerkschaftlern bestanden wiederum „Verdrängungsängste“, d. h. die Befürchtung, im Zuge der Rationalisierung ihre Arbeitsplätze an ungelernte Kollegen oder angelernte Arbeiterinnen zu verlieren. Auf diese Weise verfestigten sich die – trotz aller prosozialistischen Meinungsäußerungen und Decklegenden – auch unter organisierten Arbeitern verbreiteten autoritären Denkmuster, wie sie in der von Erich Fromm initiierten und zwischen 1929 und 1931 von Hilde Weiß durchgeführten qualitativen 70  Swiniartzki, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband (wie Anm. 14), S. 299.

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Umfrage nachgewiesen wurden, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titel „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches“ erscheinen konnte. Demnach war es den als links geltenden Parteien und Gewerkschaften „im großen und ganzen nicht gelungen, die Persönlichkeitsstrukturen ihrer Mitglieder so zu verändern, daß diese in kritischen Situationen verläßlich gewesen wären“.71 So habe ein Großteil der interviewten Arbeiter und Arbeiterinnen nichts gegen die Prügelstrafe einzuwenden gehabt und diese auch gegenüber den eigenen Kindern praktiziert.72 Solche althergebrachten Einstellungen prägten also keineswegs nur die ältere Facharbeiterschaft. Sodann versäumten es die DMV-Sekretäre, gerade den im Vergleich zu den Vorkriegs- und Kriegsjahren gewandelten Erwartungen bzw. sozialen Forderungen der jüngeren Facharbeiter und weiblichen Arbeitskräfte an den größten Standorten der optischen Industrie zu entsprechen. Beide Tendenzen vertieften einen latenten Prozess der Entfremdung und wirkten in die gleiche Richtung: Sie verstärkten noch vor dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise den „Bindungsverlust“73 zwischen der Verbandsführung und den Mitgliedern an der Betriebsbasis. Demzufolge habe der DMV, so Swiniartzki resümierend, schon vor 1933 einen „ohnmächtigen“ und „blutleeren“ Eindruck gemacht.

71  Fromm, Arbeiter und Angestellte (wie Anm. 10), S. 250. 72  Vgl. Malte Meyer, Sozialmilitarismus zwischen den Kriegen. Zur „Verpreußung“ der deutschen Arbeiterbewegung, in: Axel Weipert u. a. (Hg.), „Maschine zur Brutalisierung der Welt“? Der Erste Weltkrieg – Deutungen und Haltungen 1914 bis heute, Münster 2017, S. 298–314, hier S. 311 f.; Thomas Welskopp, Transatlantische Bande. Eine vergleichende Geschichte der Gewerkschaften in Deutschland und den USA im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ursula Bitzegeio/Anja Kruke/Meik Woyke (Hg.), Solidargemeinschaft und Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert. Beiträge zu Gewerkschaften, Nationalsozialismus und Geschichtspolitik, Bonn 2009, S. 29–61, hier S. 47. 73  Swiniartzki, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband (wie Anm. 14), S. 300.

Abbildungsnachweis Für die Rechte zum Abdruck der Abbildungen in den einzelnen Beiträgen zeichnen die jeweiligen Autoren verantwortlich. Beitrag Jens R iederer Abb. 1: StadtAW, 63 4/K. Abb. 2: Kohl , Illustrirter Bericht, S. 133, Stadtmuseum Weimar 53 01. Abb. 3: Kohl , Illustrirter Bericht, S. 107, Stadtmuseum Weimar 53 01. Abb. 4: Kohl , Illustrirter Bericht, S. 56, Stadtmuseum Weimar 53 01. Abb. 5: Kohl , Illustrirter Bericht, S. 57, Stadtmuseum Weimar 53 01. Beitrag Rita Seifert Abb. 1: Wikimedia Commons. Abb. 2: Fritz Hofmann/Ursula Hense, Seidenbau-Ratgeber, Radebeul 31954, S. 7. Abb. 3: Ebd., S. 66. Beitrag Stefan Gerber Abb. 1: Mathilde Lutteroth, Das Geschlecht Lutteroth, Hamburg 1902, nach S. 291. Beitrag Frank Boblenz Abb. 1: LATh – HStA Weimar, Familiennachlass Kronbiegel-Collenbusch Nr. 43 (unfoliiert). Beitrag Steffen Rassloff Abb. 1: Stadtmuseum Erfurt. Abb. 2: Stadtmuseum Erfurt. Abb. 3: Stadtmuseum Erfurt. Abb. 4: Stadtmuseum Erfurt. Beitrag Ronny Schwalbe Abb. 1: Stadtmuseum Gera, Sig. II 9 71, Fischer, Theodor: Färberei Hirsch um 1840. Öl 1904. Abb. 2: Stadtmuseum Gera, ohne Signatur, Festschrift der Firma Hirsch zum 50-jährigen Jubiläum 1887, S. 4r. Abb. 3: Stadtmuseum Gera, ohne Signatur, Festschrift der Firma Hirsch zum 50-jährigen Jubiläum 1887, S. 4v.

Ortsregister Das Register enthält alle im Text- und Fußnotenteil aufgeführten Orte. Geogra­ phische Landschaftsbezeichnungen sowie territoriale Bestandteile in Herrschaftstiteln wurden nicht aufgenommen. Ortsnennungen, die lediglich bibliographischen Angaben zugehören, wurden ebenfalls nicht erfasst. Aberdeen 41 Altenburg 85, 91, 109, 131, 211–215, 217, 249, 295–299, 302–306, 308, 309–311, 322f. Amsterdam 194f., 199 Apolda 10, 16, 29f., 41f., 45, 50–64, 81, 99, 119, 129, 131, 140, 241, 295, 299, 302f., 308, 313f., 319 Arnstadt 132, 154, 195, 315 Artern 310, 319, 322 Auerstedt 53 Augsburg 34, 92, 194 Berlin 10, 58, 91, 114, 124, 128, 130, 158, 165, 170, 172, 176, 197, 220, 230f., 234, 239f., 246, 250, 258, 264, 277, 284, 288, 336, 347 Bielefeld 67, 69, 181f. Bremen 10, 194 Breslau 220, 250, 254, 331 Buckau (Magdeburg) 206 Buckau (Sachsen) 135 Burg 241 Bürgel 161, 295, 299, 309 Celle 170f. Chemnitz 51, 57, 304f., 309 Coburg 31, 112, 126, 131, 156, 282, 299, 320 Crawinkel 227f. Creuzburg 167 Danzig 194, 240 Dermbach 29, 161

Dresden 23, 91, 211–215, 278, 296, 307, 335–341 Duderstadt 190 Düsseldorf 27, 197, 346 Eckartsberga 53 Eisenach 11, 13f., 62, 150, 156, 160, 190, 249, 295–297, 305, 308, 313–315, 319, 322f. Eisenberg 131, 242, 299, 305 Elberfeld-Barmen 250 Erfurt 8, 11–14, 17, 20, 55, 65, 68f., 71–81, 91, 109, 112, 118, 126f., 131f., 138, 140, 142f., 152, 154–156, 158f., 163, 173, 190, 196, 204, 206, 208–212, 220–232, 237–259, 284, 287, 295, 298f., 302f., 305, 308, 311, 313–315, 323 Eschwege 190 Firmelsdorf 131 Florenz 199 Frankenhausen 295, 309 Frankfurt am Main 30, 52f., 67, 69, 154, 181, 194, 196, 239, 345 Genua 194 Gera 10, 12, 20, 99, 118, 128, 131, 133f., 139, 177, 199, 237, 241, 249, 261–276, 295, 300, 302, 304–313 Gotha 10f., 13f., 74, 81, 91, 99, 110–115, 118, 120–123, 126, 131f., 135, 153, 157, 195, 229, 249, 279, 281f., 295, 297f., 302, 308f., 312, 315, 319

354 Göttingen 190 Gratz 225 Greiz 10, 119, 129, 138, 241, 262f., 265, 270f., 273, 295, 305f., 308, 310, 312f., 315, 323 Großburschla 196 Halle/Saale 31, 113f., 212 Hamburg 10, 91, 185, 196f., 200, 224, 229f., 250, 277 Hannover 34 Heinrichs 319 Helmers 195 Ilmenau 126, 131f., 149, 151, 159 Ilversgehofen 240, 242f., 248, 250, 254 Jena 10–13, 19, 52f., 56, 68, 77, 81, 118, 127, 131, 157, 160, 165–180, 183, 205, 209f., 212, 237, 276, 283, 295, 297–299, 303f., 307–311, 315, 323, 331, 333–339, 342–348 Kahla 118, 135, 315, 345 Kassel 34, 195, 305 Kleinneuhausen 126 Kölleda 130, 214f. Königgrätz 211 Königsberg 250 Königsberg (Franken) 241 Königsee 71, 315 Konstantinopel 194, 199 Krefeld 46f., 54 Kupfersuhl 195 Laichingen 47 Langensalza 126, 152, 157, 185, 188–190, 192, 195, 221 Lauchhammer 206 Lauscha 161

Ortsregister

Leipzig 52f., 66, 93, 96, 102, 124, 182, 192, 194, 196, 242, 249, 264 London 90, 99, 135, 194f., 219 Lübeck 91 Magdeburg 187f., 220, 237, 245, 250, 304 Mailand 198 Manchester 42, 129 Meiningen 157 Mellrichstadt 157 Merseburg (Reg.bez.) 112, 138f., 206 Mühlhausen 19, 119, 127, 132, 150, 152, 184–200, 295f., 305, 313–315, 319, 321 München 115, 224, 258 Münchenbernsdorf 10 Naumburg 55, 156, 264 Neapel 194, 196, 199, 215 Neuß 265 Nordhausen 91, 118, 127, 132, 150, 152, 188, 299, 315 Nürnberg 34, 92, 194f. Palermo 199 Paris 134, 185, 196, 198, 211f., 215–220, 224, 230f., 264 Passau 31 Plaue 132 Plauen 171–173, 178f. Pößneck 15, 23, 61, 176, 238, 295, 302, 315 Prag 194 Radebeul 176 Rathenow 23, 333, 335–339, 342 Ronneburg 130, 305 Rotterdam 199 Rudolstadt 71, 127, 129 Ruhla 71, 81, 297, 310, 317–319 Ruhrgebiet 27, 34, 277, 308, 316

Ortsregister

Saalfeld 11, 295f., 299, 309, 315 Saarn 240 Salzungen 196, 315 Schkeuditz 128, 135 Schleiz 118, 265, 305 Schmalkalden 13, 112, 234, 296, 315, 319f. Schmölln 295, 306, 309 Sömmerda 10, 12f., 19, 133, 158, 203–233, 240, 315 Sonneberg 124, 140, 152, 161, 319–322 Steinbach 195 St. Petersburg 166, 194 Suhl 13, 118, 133, 157f., 217, 240, 295–297, 313–315, 318f. Triebes 10 Triest 194, 197f. Turin 194 Venedig 194 Weida 10, 98 Weimar 17f., 51–56, 59, 62, 79, 91, 109f., 113–124, 126–129, 132, 134–138, 140, 142, 145, 150f., 156f., 160–163, 166, 170, 183, 278, 282, 284 Weißenfels 118, 132, 213 Weißensee 204, 211, 221 Wernigerode 188 Wetzlar 191 Wien 194, 196, 221 Zeitz 134, 145 Zeulenroda 57, 99, 305, 315, 319 Zwätzen 165f. Zwötzen 10

355

Personenregister Das Register verzeichnet alle im Text- und Fußnotenteil erwähnten Personen. Jedoch ist darauf verzichtet worden, jene Personennamen aufzunehmen, auf die nur im Kontext der Forschungsdiskussion rekurriert wird und die lediglich in biblio­g raphischen Angaben erscheinen. Abbe, Ernst 77, 160, 162, 344–347 Apell, Franz 253 Arendt, Hannah 282 Arnhold, Carl 346 Arnold, Christian Friedrich 271 Arnold, Ernst 271 Arnold, Ferdinand 271 Arnold, Louise Wilhelmine 271 Arnoldi, Ernst Wilhelm 153 Babbage, Charles 99 Baines, Edward 101 Baudert, August 284 Bebel, August 66, 249, 344 Bechstein, Ludwig 113 Beck, Johann Andreas 213 Benary, Ernst 243f. Benary, Friedrich 244, 253 Benary, John 244 Benary, Levy 152 Bender, Carl 253 Benjamin, Walter 325 Bertuch, Friedrich Justin 183 Beuth, Peter Christian 158 Bismarck, Otto von 74, 156 Bischoff, Berhardine 165 Bischoff, Friedrich 165 Bock, Wilhelm 74, 281, 285f. Bock, Wilhelm Christian Friedrich 115 Brandenstein, Freiherr von 285 Brandt, Willy 217 Braun, Karl 148 Breslau, Richard 254 Bretschneider, Alban 305

Briefs, Goetz 346–348 Brockert, Max 243 Brockhaus, Friedrich Arnold 86, 98 Bugler, J. V. 231 Bülow, Hans von 234 Carl Alexander, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 123, 160f. Carl August, (Groß)Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 123, 151, 190 Carl Friedrich, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 160 Collenbusch, Carl 206, 211, 229, 235 Conrad, Balduin 265 Coudrays, Clemens Wenzeslaus 162 de Man, Hendrik 325f., 333, 348f. de Smit, Antoine 265 de Smit, Nikolaus 264f. Domela, Harry 237 Dreyse, Johann Nikolaus (von) 133, 158, 203–235 passim Dreyse, Johann Nikolaus Franz Wilhelm von 209 Dreyse, Rudolph 211, 299 Ebert, Friedrich 280 Egg, Urs 219 Eichenberg, Adolph 273, 276 Engels, Friedrich 100–103 Ernst I., Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha 156

358 Ferber, Johann Christoph 262, 265 Festge, Carl 257 Feuerbach, Ludwig 102 Fillmann, Heinrich 345 Fischer, Johann Conrad 218 Fleischmann, Adolf 161 Fleischmann, Nikolaus Ludwig 229 Fliedner, Karl August 132 Fontane, Theodor 79 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 197 Franzos, Karl Emil 237 Friedemann, Theodor 253 Friedrich Wilhelm, Kronprinz von Preußen 197 Fröbel, Carl Ferdinand Julius 212 Frommann, Karl jr. 131 Fromm, Erich 349 Georg II., Herzog von Sachsen-Meiningen 74, 161 Gerbing, J. G. 132 Gericke, Gertraud 188 Gericke, Marcus 188 G(u)ericke, Otto (von) 188 Goethe, Johann Wolfgang von 55, 113, 149, 151, 157, 162 Graf, Karl 131 Grellmann, Heinz Moritz Gottlieb 41, 54 Griesinger, Ludwig 176 Großgebauer, Caspar 227f. Güth, Louis 317 Hagans, Christian 240 Hagenbruch, Johann Gottlieb 190 Hagenbruch, Gottlieb 190 Hallier, Ernst 167f. Hardenberg, Carl August von 231 Heilbrunn, Moritz 253 Heilbrunn, Otto 253 Heinemann, Friedrich Carl 243f.

Personenregister

Heinrich XXX., Graf Reuß zu Gera 265, 267 Hense, Ursula 174–176 Hensoldt, Moritz 152 Herloßsohn, Carl 95 Hermberg, Paul 331 Hess, Alfred 242 Hess, Georg 253 Hess, Leo 253 Hess, Maier 253 Hildebrand, Bruno 102 Hill, Renate 171, 174 Hirsch, Carl Louis 266–276 passim Hirsch, Clara Alwine Louise 271 Hirsch, Helene Louise Elisabeth 271 Hirsch, Johann 267 Hirsch, Johann Gottlieb 267 Hirsch, Johann Heinrich Gottlob 267 Hirsch, Johann Karl Georg 271 Hirsch, Marie Ottilie 271 Hitler, Adolf 289, 349 Hofmann, Fritz 171, 173, 176 Jahr, Moritz 134, 146, 263f. Kaestner, Franz 253 Keßler, Georg 135 Klopstock, Friedrich Gottlob 185 Kohl, Ernst Heinrich 110, 116f., 122, 134, 136, 138, 140–143 Kohl, Horst 246 König, Julius 247 Körner, Johann Christian Friedrich 157 Kossenhaschen, Georg 246f. Kronbiegel, Friedrich August Jacob 203–235 passim Kronbiegel, Juliane Christiane Dorothea 211 Kronbiegel-Collenbusch, Ernst August 207

359

Personenregister

Kühn, Alfred 134 Krankenhagen, Amalia 126 Kuhlmeyer, August Heinrich 220

Lutteroth, Johann Christian 186, 192, 194f., 198f. Lutteroth, Ludwig Wilhelm 193

Lamm, Rudolph 253 Landmann, Heinz 348 Langenickel, Friedrich 132 Lassalle, Ferdinand 249 Lauprecht, Johann Gottfried 194 Leber, Hermann 303f. Leonhardi, Friedrich Gottlob 55 Leopold I., Kaiser von Österreich 188 Liebknecht, Wilhelm 249 Lincke, Paul 338 Lingel, Eduard 241f., 245, 247 List, Friedrich 148 Louis Philippe, König von Frankreich 196 Lucius, Ferdinand 245, 253 Lucius, Sebastian 159 Ludwig, Hermann 166 Lungershausen, Johann Jacob 191 Lutteroth, Alphonse 196 Lutteroth, Ascanius I. 188 Lutteroth, Ascanius II. 188 Lutteroth, Ascan 197 Lutteroth, Ascan Eduard 198 Lutteroth, Ascan Otto 199 Lutteroth, Ascan Wilhelm 185f., 190, 193, 196f., 198 Lutteroth, Christian 193 Lutteroth, Christian Friedrich 197 Lutteroth, Christian Gottfried 193, 195 Lutteroth, Christian Karl 186 Lutteroth, Christian Wilhelm 196 Lutteroth, Christina Maria 185 Lutteroth, Gottfried 192, 194 Lutteroth, Gottfried Ascan 197 Lutteroth, Henri 196 Lutteroth, Heinrich 198f.

Maria Pawlowna, Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach 167 Martersteig, Friedrike 127 Martin, Karl 336 Marx, Karl 212 May, Johann Gottfried 220, 230f. Meyer, Carl Joseph 86 Micks, Johann Franz 214 Mirus, Adolph 110, 128 Moos, Wilhelm 245 Morand, Jacob Anton 262, 265 Mühlefeld, Johann Friedrich 212 Müller, Hermann 112 Münch, Johann Christoph 265 Muthreich, Karl Edmund 200 Napoleon Bonaparte 154, 197, 210, 214, 219 North, Ferdinand 242 Papen, Franz von 349 Paulssen, Arnold 285 Pauly, Samuel Johann 218f. Perthes, Justus 126, 132 Pertzel, Karl Friedrich 131 Pierer, Heinrich August 85f., 88 Pflug, August 127 Pflug, Joseph 127 Polz, Emil 282 Poppe, Johann Heinrich Moritz 217 Porath, August 176 Prélat, François 218 Priem, Georg Heinrich (von) 216 Quehl, Emma 126 Ramminger, Max 271 Reißhaus, Paul 65, 250

360 Rosenthal, Eduard 285 Ruckdeschel, Eugen 271 Rüdiger, Gottlob 275 Ruge, Arnold 212 Sachse, Thuiskon Friedrich 117 Schadeberg, Julius 212 Schadewitz, Christian Friedrich 214 Schadewitz, Christian Johann 213 Schadewitz, Marie Dorothea 213 Schäfer, Franz 132 Schafhäutl, Karl 93f. Schafzahl, Franz Xaver 225 Scheibe, Paul 271, 276 Scheidemann, Philipp 280f. Scheitz, Hugo 129 Schmidt, Charlotte 171 Schmidt, Christoph 185 Schmidt, Dorothea Sophia 213 Schmidt, Ferdinand 243 Schmidt, Hermann 248 Schmidt, Johann Christoph 213 Schmidt, Johann Friedrich 130 Schmoller, Gustav 141 Schneider, Paul 253 Schomerus, Friedrich 346f. Schulze, Friedrich Gottlob 165f. Schwade, Otto 77, 241 Simmen, Hermann 243 Spangenberg, Wilhelm Gottlieb 217, 225, 228, 234 Stiebritz, Karl Heinrich 131 Stoph, Willi 247 Straßer, Otto 289 Straubel, Rudolf 336f. Strohmann, Israel 222 Stürcke, Adolph 245 Stürcke, Hermann 245, 253 Stürcke, Max 253 Taschner, Hieronymus Friedrich 238 Taylor, Frederick Winslow 338

Personenregister

Taylor, William Cooke 96 Topf, Ludwig 253 Trentovius, G. von 165f. Ullmann, Heinrich 253 Ure, Andrew 95, 99, 101f. Victoria, Kronprinzessin von Preußen 197 Vögler, Albert 349 Walther, Rudolph 243 Wapler, Carl 211 Weber, Ernst 98, 153, 262 Weber, Max 328 Weiß, Hilde 349 Wender, August 253 Wiedemann, Andreas 65f. Wigand, Otto 96, 102 Wilhelm, Ernst 133 Wolff, Friedrich Ernst 242 Wolff, Friedrich jr. 242, 246 Zeiß (Zeiss), Carl 127, 157 Zimmermann, Christian 57–62 Zimmermann, Samuel 58 Zorn, Julius 167f. Zwanziger, Moritz 135

Verzeichnis der Autoren

Ralf Banken, apl. Prof. Dr. phil. Professor am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Frank Boblenz, Dr. phil. Sömmerda Stefan Gerber, PD Dr. phil. Kommissarischer Leiter des Universitätsarchivs Jena Werner Greiling, apl. Prof. Dr. phil. Professor am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Geschichte der Neuzeit. Medien- und Kommunikationsgeschichte Hans-Werner H ahn, em. Prof. Dr. phil. Professor für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Tobias K aiser, PD Dr. phil. Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Berlin Steffen R assloff, Dr. phil. Freiberuflicher Historiker und Publizist Jens R iederer, Dr. phil. Leiter des Stadtarchivs der Stadt Weimar Karsten Rudolph, apl. Prof. Dr. phil. Professor am Insitut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum, Mitglied des Landtages von Nordrhein-Westfalen Jürgen Schmidt, Dr. phil. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit in Berlin

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Verzeichnis der Autoren

Ronny Schwalbe, M. A. Kulturamtsleiter der Stadt Neustadt an der Orla Rita Seifert, M. A., Dipl.-Archivarin Mitarbeiterin im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena Rüdiger Stutz, Dr. phil. Stadthistoriker der Stadt Jena Marco Swiniartzki, Dr. phil. Forschungsstipendiat der Gerda-Henkel-Stiftung