Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik: Die Reformbewegung in Deutschland 1845-1914 9783666357534, 3525357532, 9783525357538

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Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik: Die Reformbewegung in Deutschland 1845-1914
 9783666357534, 3525357532, 9783525357538

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 90

VÖR

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Bertling, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler

Band 90

Clemens Zimmermann Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik Die Reformbewegung in Deutschland

1845-1914

von

Clemens Zimmermann

Vandenhoeck & Ruprecht in Güttingen

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Zimmermann, Clemens: Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik: die Reformbewegung in Deutschland 1845 - 1914 / von Clemens Zimmermann. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1991 (Kritische Studien zur Geschichtswissenchaft; Bd. 90) Zugl. : Heidelberg, Univ., Habil. -Sehr., 1989/90 ISBN 3-525-35753-2 NE: GT © 1991. Vandenhoeck 8c Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Text 8c Form, Hannover Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen.

Inhalt

Vorwort

9

Einleitung

11

1.

Bürgerliche Wohnreform

21

1.1.

Zur Entwicklung der Wohnraumversorgung von Unterschichten 1840 - 1871

21

Kategorien und Leitbilder der bürgerlichen Sozial- und Wohnreformbewegung

27

1.2.1. Der soziale Ort der Wohnungsfrage in der Literatur der bürgerlichen Sozialreformer 1.2.2. Selbstverschuldung, Familiarität und »Versittlichung« 1.2.3. Gesundheit 1.2.4. Kleinhausideal und Raumprogramm

29 30 36 39

1.3.

47

1.2.

Steuerungsmodelle und Instrumentarien der Wohnreform

1.3.1. Das Marktsteuerungsmodell der liberalen Wohnreformer seit den fünfziger Jahren 1.3.2. Zur Rolle der Architekten in der Wohnreformbewegung 1.3.3. Die praktische Frage: »Selbsthilfe« durch Baugenossenschaften oder »gemeinnützige« Baugesellschaften?

55

1.4.

Zur Praxis der bürgerlichen Wohnreform

60

1.4.1. 1.4.2. 1.4.3. 1.4.4.

Vorortgründungen Baugenossenschaften Gemeinnützige Baugesellschaften Betrieblicher Wohnungsbau

60 62 64 69

1.5.

Zusammenfassung und Ausblick: Scheitern und Wende der bürgerlichen Wohnreform

73

Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik: Die Rolle sozialhygienischer Ansätze nach 1870

79

2.

47 51

5

2.1.

Hygienische Problematik der Arbeiterwohnungen in der Hochurbanisierung

2.1.1. Städtisches Wachstum, Umweltbelastung und Gesundheitsrisiken 2.1.2. Die Entwicklung der hygienischen Wohungsstandards 2.2.

Die Problematisierung der Wohnungsversorgung unter sozialhygienischen Aspekten

2.2.1. Zur Definition und gesellschaftlichen Akzeptanz der Sozialhygiene 2.2.2. Die Assanierung der Städte 2.2.3. Die Identifizierung von >Wohnungskrankheiten« 2.2.4. Hygienische Normierung des Wohnungsbaus 2.2.5. Die Diskussion im Verein fur Öffentliche Gesundheitspflege über Kleinwohnungen in »offener Bauweise« 2.3.

79 79 84 88 88 93 97 106 108

Die Wohnungsinspektion: Möglichkeiten und Grenzen der Durchsetzung gesundheitlicher Normen

112

Zusammenfassung und Ausblick: Von der Assanierung und hygienischen Wohnung zum gesundheitsorienterten Städte- und Wohnungsbau

119

3.

Wohnreform und Wohnungspolitik nach 1890

122

3.1.

Die ungelöste Wohnungsfrage: Wohnraummangel und überhöhte Wohnkosten zwischen 1870 und 1914

122

Der Wiederaufschwung der Wohnreform nach 1890

131

2.4.

3.2.

3.2.1. Zur Debatte um Staatsinterventionismus und »Mietskaserne«.. 131 3.2.2. Der Beitrag der Architekten zur Lösung der Wohnungsfrage .. 138 3.2.3. Die Umorientierung der SPD auf Wohnungspolitik 151 3.3.

Der betriebliche Wohnungsbau

155

3.4.

Die Entfaltung des genossenschaftlichen Wohnungsbaus

160

3.5.

Der Einfluß der Kommunen auf die Entwicklung der Wohnungspolitik

167

3.5.1. Städtische Boden-und Steuerpolitik 3.5.2. Bauordnungen als Steuerungsinstrument der Baudichte 3.5.3. Kommunaler Kleinwohnungsbau und städtische Wohnbauförderung 3.5.4. Städtische Wohnungspolitik und kommunalpolitische Konstellationen 6

167 175 179 187

3.6.

D i e Rolle des Staates

191

3.6.1. Staatlicher Wohnungsbau für Bedienstete 3.6.2. Die Förderung des genossenschaftlichen Wohnungsbaus in Preußen und im Reich 3.6.3. Wohnungsgesetzgebung in Preußen und Sachsen 3.6.4. Das Scheitern des Reichswohnungsgesetzes

191 199 208 217

Rückblick

225

Abkürzungsverzeichnis

230

Anmerkungen

231

Quellen und Literatur 1. Archivalien 2. Gedruckte Quellen 3. Literatur

273 273 274 291

Register 1. Personenregister 2. Geographisches Register 3. Sachregister

308 308 310 311

Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder im Text Tab. 1: Ursachen der Todesfälle in England 1858 in absteigender Reihenfolge 83 Tab. 2: Regelungsbereiche in Wohnungsverordnungen, 1907 114 Tab. 3: Wohnungsversorgung der in privaten Haushalten lebenden Bevölkerung 1871-1910 122 Tab. 4: Nominallohn-, Lebenshaltungs- und Mietindex in Deutschland, 1871-1913 124 Tab. 5: Die wichtigeren Erhebungen von Haushaltsrechnungen vor dem Ersten Weltkrieg: Gesamtausgaben und drei Haupt-Produktgruppen 127 Tab. 6: Versorgungsgrad mit werkseigenen Mietwohnungen im interregionalen Vergleich (in % der Belegschaftsmitglieder) 156 Tab. 7: Gesamtleistung der gemeinnützigen Wohnbauunternehmen bis 1914 ....161 Tab. 8: Soziale Zugehörigkeit der 235 Besitzer städtischer Erwerbshäuser in Ulm, 1913 181 Tab. 9: Kreditnehmer nach sozialen Gruppen, Düsseldorf 1901 - 1913 aus dem Fonds für erste Hypotheken 185 Tab. 10: Bestandsentwicklung im Werks Wohnungsbau und Versorgungsgrad der Belegschaften bzw. aller Arbeitnehmer 261 7

Abb. 1: Veränderungen des Leerwohnungsbestandes und der durchschnittlichen Miete 1848 - 1871 in Berlin Abb. 2: Das Prinz-Albert-Haus auf der Weltausstellung London 1851 Abb. 3: Grundrisse und Ansichten - Mülhausen, Citi ouvrifcre Abb. 4: Vergleich der Sterblichkeit Berlins mit der Gesamtsterblichkeit im Preußischen Staate 1816 - 1900 Abb. 5: Entwicklung der Kellerwohnungen Abb. 6: Investitionen im privaten Wohnungsbau (ohne Landwirtschaft), 1871 - 1913, in Millionen Mark und jeweiligen Preisen Abb. 7: Grundriß des »Muster-Arbeiter-Mietshauses« Abb. 8: Messels Projekt 1892 Abb. 9: Goeckes Blockschema, 1892/93

8

24 41 44 81 86 128 142 144 146

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Juni 1989 abgeschlossen und von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Wintersemester 1989/90 als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurde das Manuskript geringfügig gekürzt und überarbeitet; die bis zum Herbst 1990 erschienene Literatur wurde noch weitgehend eingearbeitet. Die am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Heidelberg entstandene Arbeit ist das Ergebnis von Anregungen, Förderung und Hilfen unterschiedlicher Art: Für vielfältige Unterstützung, kritische Ratschläge und die gründliche Durchsicht des Manuskripts der Habilitationsschrift sei an erster Stelle den Herren Prof. Dr. Eike Wolgast und Prof. Dr. Volker Sellin herzlich gedankt. Sie zeigten in den Jahren der Abfassung der Untersuchung ein großes Maß an persönlichem wie sachlichem Interesse. Für die Lektüre verschiedener Manuskriptteile wie für freundschaftliche Ermunterungen danke ich Dr. Claudia Dutzi, Mia Lindemann, Francisca Loetz, Dr. Sabine Sander, Priv.-Doz. Dr. Rolf-Peter Sieferle, Priv.-Doz. Dr. Otto Ulbricht, Beate Witzler und besonders Dr. Gerd Schwandner. Dank gilt ferner Jochen Friedrich, Birgit Haas, Janine Nuyken, Hartmut Semar und insbesondere Ruth Staiger. Sie haben die Entstehung dieser Arbeit durch technische Hilfen und bibliographische Recherchen unterstützt. Ebenso gebührt Dank Herrn Prof. Dr. Helmut Berding für zahlreiche Hinweise, die der Druckfassung der Arbeit zugute gekommen sind. Ihm, genauso wie Herrn Prof. Dr. Jürgen Kocka und Herrn Prof. Dr. Hans-Ulrich Wehler schulde ich besonderen Dank für die Aufnahme der Arbeit in die »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft«. Bei den Mitarbeitern der Universitätsbibliothek Heidelberg, der Bibliothek des Alfred-Weber-Institutes in Heidelberg, des Generallandesarchives in Karlsruhe und der Zentralen Staatsarchive in Potsdam und Merseburg stieß das Anliegen des Verfassers auf großes Entgegenkommen. Nicht zuletzt wurde die Veröffentlichung dieser Arbeit durch einen großzügigen und unbürokratisch gewährten Druckkostenzuschuß der Leonardo-Stiftung in Basel ermöglicht; auch ihr bin ich zu Dank verpflichtet. Heidelberg, im Oktober 1990

Clemens Zimmermann

9

Einleitung Die folgende Untersuchung geht von der Beobachtung aus, daß die Wohnungsversorgung mit dem Beginn der Urbanisierung (1840er Jahre) in Deutschland als soziales Problem erkannt und in der Folge umfassend thematisiert, aber erst im beginnenden 20. Jahrhundert als öffentliche Aufgabe betrachtet wurde.1 Es gibt kaum ein anderes sozialpolitisches Gebiet, in dem so vielen Überlegungen, Analysen, Darstellungen und Projekten2 so wenige durchgreifende und massenwirksame Erfolge gegenüberstanden wie in der Wohnungsfrage. Dennoch wäre es falsch, das prekäre Verhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit so zu sehen, als könne man bis 1914 die Praxis der Wohnreform vernachlässigen oder als sei das Bau- und Wohnungswesen erst danach zum Gegenstand öffentlicher Aktivitäten geworden. Die Analyse der sich im Zeitverlauf wandelnden Formen der Wahrnehmung und Konzeptualisierung der Wohnungsfrage wird daher tatsächliche soziale Lagen und sozialpolitische Ansätze einbeziehen müssen. Zu einer Unterschätzung der wohnungspolitischen Ansätze vor dem Ersten Weltkrieg ist auch aus einem aktuellen Grund wenig Anlaß: Gerade in der gegenwärtigen politischen Debatte mehrt sich die Kritik an einer verfehlten Wohnbauförderung, die für die Entstehung der sogenannten »Neuen Wohnungsfrage« oder »Neuen Wohnungsnot«3 verantwortlich gemacht wird. In Diskussionsbeiträgen wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, daß die Wohnungspolitik in den vergangenen Jahrzehnten stets ein Provisorium geblieben sei und den Charakter einer Krisenmaßnahme nie verloren habe.4 Wenn das zutrifft, erscheinen die Schwierigkeiten beim Aufbau der Wohnungspolitik vor dem Ersten Weltkrieg, die den hauptsächlichen Gegenstand dieser Untersuchung bilden, in anderem Licht. Das Thema der Wohnreform und der Wohnungspolitik liegt im Schnittpunkt sehr unterschiedlicher wissenschaftlicher Teildisziplinen. Die Architekturgeschichte, die sich für Form und Zuschnitt von Arbeiterhäusern interessiert, folgt anderen Konzepten und Kategorien, als sie den Sozialhistorikern geläufig sind. Fragen der Geistesgeschichte, der allgemeinen politischen Geschichte und Ansätze der Wirtschaftsgeschichte müssen einbezogen, sektorale Begrenztheiten, die bisher die Beschäftigung mit diesem Thema dominierten, überwunden werden. Insbesondere Teilbereiche der Sozialgeschichte wie die historische Familienforschung, die Gesundheitsgeschichte und die Forschungsergebnisse zum Arbeiterwohnen sollen aufgegriffen und 11

möglichst engmaschig miteinander verknüpft werden. Dies ist der bisherigen Forschung nicht in ausreichendem Maße gelungen. Vielfach herrschen sektorale und aspekthafte Zugriffe vor. Es kann nicht genügen, einzelne Positionen von Wohnreformern vorzustellen, ohne danach zu fragen, auf welchen sozialtheoretischen Prämissen sie beruhten, und es reicht nicht aus, über ideale Hausformen zu berichten, ohne zu klären, aufgrund welchen Diskussionsstandes in der Architektur sie formuliert wurden. Die Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Politischen Sozialgeschichte, ausgehend von der Forderung, daß Sozialgeschichte keineswegs als »history with politics left out« betrachtet werden darf. Zu ihrem methodischtheoretischen Grundverständnis gehört, daß die Annäherung an die sozialhistorischen Dimensionen der Wohnreform nicht um den Preis einer Verdrängung des Politischen erfolgen darf, andererseits aber Politische Geschichte die »Vielfalt der Politik-Arenen ausloten« soll.5 Das Problemfeld bei der Geschichte von Wohnreform und Wohnungspolitik ist nicht zuletzt dadurch umrissen, daß man es mit einer Vielzahl von Einzelergebnissen zu tun hat. Dies betrifft nicht nur die zeitgenössische Publizistik zur Wohnungsfrage, sondern auch die zahlreichen neueren Fallstudien zu einzelnen Aspekten und verschiedenen Gebietseinheiten. Insbesondere die Fragmentierung des Wissens um die stadtgeschichtlichen Aspekte der Wohnungsfrage und um die praktischen Ansätze städtischer Wohnungspolitik verweist trotz einiger Bemühungen um eine Teilintegration6 auf ein Forschungsdesiderat. Der Notbehelf, angesichts der Vielzahl lokaler und regionaler Verhältnisse das Beispiel Berlins in den Mittelpunkt zu stellen, erweist sich in dem Maße als problematisch, in dem das Wissen um lokale und regionale Besonderheiten wächst und immer deutlicher wird, daß der - gut erforschte und sicherlich bedeutungsvolle - Berliner Immobilien- und Wohnungsmarkt in Deutschland ein eher untypischer Fall war.7 Aufgrund der systematischen Bedeutung regionalhistorischer Ansätze für den Erkenntnisfortschritt in der modernen Sozialgeschichte8 scheint es sinnvoll, die Verhältnisse in möglichst vielen Bundesstaaten und in verschiedenen Städten, auch den mittleren, in die Untersuchung einzubeziehen. Aufgrund der realen Machtverteilung im politischen System des Kaiserreichs wird hier das Beispiel Preußen im Vordergrund stehen, doch werden andere Bundesstaaten insbesondere dann berücksichtigt, wenn sie vom preußischen Modell abwichen. So ist das sächsische »Allgemeine Baugesetz« von 1900 wegen seiner außergewöhnlich starken interventionistischen Ausrichtung von Interesse. Indem außerdem die Entwicklung in einzelnen, in der Wohnungspolitik aktiven Mittelstädten wie Ulm aufgegriffen wird, können Handlungsspielräume und Entwicklungsmöglichkeiten der Wohnungspolitik vor 1914 verdeutlicht werden.9 Obwohl sich die historische Forschung zum Wohnbereich in den letzten 12

Jahren erheblich weiterentwickelt hat, bleibt sie vielfach denselben Beispielen verhaftet. Sicherlich ist es nicht möglich, über die Wohnungsfrage zu schreiben, ohne auf die Ansätze VA. Hubers einzugehen, und es ist kein Zufall, wenn bei der Erörterung der Architektur von Arbeiterwohnhäusern die Krupp-Siedlungen das bekannteste Beispiel darstellen.10 Doch ist das Untersuchungsthema so vielseitig und sind die zur Verfügung stehenden Quellen so umfangreich, daß die Chance genutzt werden kann, die Wohnreformdebatte, die Reflexion über die Wohnungsfrage, die Suche nach Lösungen, umfassend darzustellen und dabei tatsächliche Politik und reformerische Praxis nachzuzeichnen. Es wird hier versucht, nicht nur einzelne Positionen und den Dialog hervorragender Theoretiker der Darstellung zugrundezulegen, sondern auch den Konsens und Dissens größerer, fur die Meinungsbildung entscheidender Gruppen zu einzelnen Forderungen der Wohnreformer einzubeziehen, etwa die ästhetische und praktische Dimension, die die Architekten in die Wohnreformdebatte einbrachten. Die Arbeit zielt auf die »Durchschnittsideen«11 der Wohnreform und Wohnungspolitik. Erst wenn danach gefragt wird, wie die vorherrschenden Themen der Diskussion lauteten, und der Umfang beteiligter Gruppen geklärt ist, können die Entwicklung und die Konjunktur einzelner Grundkonzepte sinnfällig verfolgt lind die Reformdiskussion als Resultante ganz unterschiedlicher Blickrichtungen erkannt werden. In allgemeinen Darstellungen zur Geschichte der Sozialpolitik nimmt der Wohnbereich nur einen äußerst marginalen Platz ein.12 Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Zur Erklärung soll nur Folgendes angeführt werden: Die Nicht-Thematisierung der Wohnungsfrage in der theoretischen Sozialpolitik begann schon im Kaiserreich, als die Entscheidung fiel, unter Sozialpolitik eben nur den Bereich kollektiver sozialer Sicherung und vor allem industrieller Arbeitsbeziehungen zu verstehen. Die Klassiker des Kathedersozialismus Gustav Schmoller und Lujo Brentano behandelten in ihren wichtigen Werken den Wohnbereich nur nebenbei. Der Gegenstandseinengung der Sozialpolitik ist allerdings damals schon widersprochen worden. So betonte der Theoretiker Otto v.Zwiedineck-Südenhorst in seiner »Sozialpolitik«, daß man alle Initiativen und Maßnahmen zur Sozialpolitik hinzurechnen müsse, welche die »Gesellschaftszwecke« förderten.13 Trotz der Aufnahme von Artikeln zur Wohnungsfrage in viele nationalökonomische Handbücher14 spielte sie keine Rolle für die Diskussion über den Begriff der Sozialpolitik.15 Dazu trug insbesondere bei, daß die entscheidende Herausforderung zur Entwicklung von Sozialpolitik in den Organisationsbestrebungen der Arbeiterschaft und nicht im Reproduktionsbereich der Gesellschaft lag. Diese Einengung von Sozialpolitik auf einen Aspekt des industriekapitalistischen Klassenverhältnisses überzeugt aber seit der Entstehung einer umfassenden kommunalen und staatlichen »Daseinsvorsorge« (E. Forsthoff) nicht mehr. 13

In den letzten Jahren trat in der sozialhistorischen Forschung neben Sozialpolitikanalysen das Interesse an der europäischen Wohlfahrtsstaatentwicklung in Erscheinung. In einer neuen komparativ angelegten Studie von Gerhard A. Ritter zu diesem Thema zeigt sich, daß Wohnreform und Wohnungspolitik am Rande berücksichtigt werden. Allerdings bleibt es bei den Schwierigkeiten der systematischen Einordnung des Wohnbereichs in die Gesamtentwicklung. Ritter weist daraufhin, daß der Begriff des »Wohlfahrtsstaats ... in jedem Fall die Modifizierung der Marktkräfte durch staatliche Förderung der sozialen Sicherheit des einzelnen« beinhalte, daß aber unklar bleibe, inwieweit »etwa auch die Arbeiterschutzgesetzgebung, das Streikund Koalitionsrecht, das Arbeitsrecht, der soziale Wohnungsbau ... als konstituierendes Element des Wohlfahrtstaates aufzufassen sind».16 Relativ gut erforscht ist die Ideengeschichte der Wohnreform, wobei einige Darstellungen die Debatten in der Wohnreformbewegung des Kaiserreichs ausführlich referieren.17 Nicht immer wird aber die Geschichte wohnreformerischer Leitideen mit dem allgemeinen Verlauf der Sozialreform in Zusammenhang gebracht. Dies entspricht aber nicht mehr der Forschung, die inzwischen insbesondere die Eigenständigkeit der bürgerlichen Sozialreform herausgearbeitet hat.18 Durch die Schrift Sylvia Branders19 ist man bereits in den Grundzügen über die Vielzahl wohnungspolitischer Instrumentarien, die im Kaiserreich entwickelt wurden, unterrichtet. Bei Brander geht es allerdings um die Frage der Systematisierung der Wohnungspolitik und nicht um eine differenzierende geschichtliche Analyse. In der heutigen Diskussion weiß man relativ viel über die prinzipiellen Möglichkeiten, die den Städten zur Förderung des Wohnungsbaus zur Verfugung standen, über ihren Vollzug wird jedoch oft pauschal geurteilt. Die weitgehende Blockierung städtischer Wohnungspolitik und die ihr zugrundeliegenden politischen Strukturen sind zwar grundsätzlich bekannt, doch die Konstellationen der jeweiligen soziopolitischen Gruppierungen werden weitgehend ausgeblendet, und die Rolle der Oberbürgermeister im kommunalpolitischen Geflecht wird nur in den Studien ausreichend gewürdigt, die sich generell mit Kommunalpolitik beschäftigen, nicht aber in Beiträgen zur Wohnungspolitik.20 Weitere höchst relevante Bereiche sind bislang praktisch unerforscht. Dazu gehören insbesondere die Entscheidungsprozesse in der preußischen Ministerialbürokratie und die Rolle der Landesversicherungsanstalten für den Aufbau der Wohnungspolitik. Im Kerngebiet der Sozialgeschichte ist besonders die Erforschung der Wöhnverhältnisse in den allerletzten Jahren gut vorangekommen. Neben einer schwer zu übersehenden Anzahl von Einzelstudien liegt neuerdings mit dem Aufsatz von Elisabeth Gransche und Franz Rothenbacher21 eine zusammenfassende Analyse vor, die über die perspektivreiche Studie von Lutz Niethammer und Franz Brüggemeier in den Fragen historischer Statistik 14

hinausgeht. 22 Dennoch erweist es sich als notwendig, eigene Erhebungen zur Entwicklung hygienischer Parameter des Wohnungsstandards vorzunehmen, da dieser Aspekt bei den bislang entwickelten Langzeitreihen nur wenig berücksichtigt wurde. Die Schwierigkeit auf diesem Gebiet besteht u. a. in der ausgeprägten Vielfalt lokaler Daten und beschreibender Enqueten. Das Spektrum bei der Wohnungsversorgung im Kaiserreich reichte von Barackensiedlungen in Berlin 1872 und Obdachlosenasylen23 bis zum Mangel an »gute(n) und preiswerte(n) Wohnung(en) mit 6-8 Zimmern« in gehobenen Wohnlagen Freiburgs(Brsg.) 1880, den man unter dem Stichwort einer »Villenfrage« erörterte. 24 Für den wichtigen Gesichtspunkt der sozialhygienischen Diskussionen über die Wohnungsfrage einschließlich der medizinischen Implikationen der Wohnungsinspektion gibt es so gut wie keine Vorarbeiten. Zwar hat die Forschung häufig darauf hingewiesen, daß man in die Bauordnungen des späten 19. Jahrhunderts allmählich gesundheitsrelevante Normen aufnahm; außerdem wurden Beispiele für solche Normen gegeben, doch für ihre Entstehung bestand bislang kein Interesse. Allerdings liegt mit der Habilitationsschrift von Marianne Rodenstein, »Mehr Licht, mehr Luft«, eine Arbeit über Gesundheitskonzepte in der städtebaulichen Theorie seit 1750 vor, die sich sowohl mit der »bürgerlichen Säuberung der Stadt«, d.h. der Kanalisation, als auch mit den »Forderungen des Städtebaus zwischen 1870 und 1918« beschäftigt. Rodenstein vertritt die Auffassung, daß es sich bei den Gesundheitskonzepten um eine Säuberungsstrategie »des« Bürgertums gehandelt habe. Zunächst sei es noch um die Verbesserung der Hygiene gegangen, zunehmend sei aber Gesundheit als Argument dafür benutzt worden, um ganz andere Ziele durchzusetzen. Gemeint ist vor allem die »räumliche Steuerung der Klassen als Herstellung der zur sozialen Distanz adäquaten räumlichen Distanz«. 25 Städtebau ist nach der Vorstellung Rodensteins offensichtlich ein ausschließlich geplanter Vorgang, bei dem Gesundheitsstrategen sozusagen am Schreibtisch darüber nachdenken, wie sie ihr Klasseninteresse gegen die Unterschichten durchsetzen können. Auch mit der Bedeutung der Bakteriologie für die Entwicklung der Medizin beschäftigt sich M. Rodenstein und versteht sie einseitig als Speerspitze der AntiWohnreformer, um »die rentable Verdichtung der Bebauung auch in der Form der Mietskaserne vom Geruch des Ungesunden« zu befreien.26 Trotz der eher begrenzten Quellenbasis dieser Studie lohnt sich die Auseinandersetzung mit ihr, weil eine generelle Tendenz in der Forschung existiert, den Städte- und Wohnungsbau ausschließlich als einen geplanten, von klassenspezifischen Interessen gesteuerten Prozeß zu verstehen und die verlorenen Kämpfe der Wohnreformer im Kaiserreich gleichsam von aufgeklärteren Positionen aus zu kommentieren.27 Schließlich besteht an planungs- und kunstgeschichtlichen Studien empiri15

scher Natur zwar weiterhin Mangel, doch liegen einige Untersuchungen vor, die es erlauben, sich diesem Aspekt der Wohnungsfrage in generalisierender Absicht zu nähern. Besonders die Arbeiten von Renate Kastorff-Viehmann, Eduard Führ und Daniel Stemmrich, Claudia Dutzi und Stefan Fisch sind erwähnenswert.28 R. Kastorff-Viehmanns Regionalstudie zum Ruhrgebiet ist vorrangig architekturhistorisch orientiert, nähert sich aber einem integrativen Verständnis von Sozialgeschichte an, da die Realität des Arbeiterwohnens kenntnisreich untersucht wird. Die Autorin gelangt zu einer sehr kritischen Beurteilung des betrieblichen Wohnungsbaus, die zur weiteren Urteilsbildung anregt. Die Arbeit von Führ und Stemmrich enthält vor allem eine reichhaltige Dokumentation zur Baugeschichte. In ihrer Analyse vertreten die beiden Autoren die These, daß es sich bei der Entwicklung von Grundrissen durch die Architekten um eine bewußte Verhaltenskonditionierung gehandelt habe. Wenn diese Auffassung auch fragwürdig ist, steht mit ihr das Problem im Raum, wie die ideologischen Komponenten der bürgerlichen Wohnreformvorstellungen und speziell die Zusammenhänge zwischen Baugeschichte und bürgerlichem Familienmodell mit seinen individualisierenden und disziplinierenden Komponenten gesehen werden können. Die Fallstudie von Claudia Dutzi über die von F. Pützer geplante Siedlung Merck verbindet in beispielhafter Weise sozial- und architekturhistorische Betrachtungsweisen und kann dadurch zeigen, daß funktionaüstische Interpretationen der Formensprache solcher Siedlungen unhaltbar sind.29 Ebenso verdient die These von Fisch Aufmerksamkeit, daß sich in München trotz des Fehlens einzelner gesetzlicher Grundlagen für ein Eingreifen in die Bodenordnung eine geordnete städtische Planungspraxis entwickelt habe, die in Ansätzen dem Arbeiterwohnungsbau zugute gekommen sei. Denn empirisch steht sie dem gewöhnlichen Pessimismus in der Planungs- und Architekturgeschichte entgegen,30 und theoretisch-methodisch verweist sie auf die Notwendigkeit, der Relevanz lokaler Kräftekonstellationen nachzugehen. Die folgende Darstellung von Theorie und Praxis der Wohnreform bis 1914 soll klären, wie es zur Entstehung der skizzierten Wohnungspolitik kam. Es wird untersucht, wie der schon von dem zeitgenössischen Theoretiker Carl Johannes Fuchs bemerkte Wettlauf zwischen dem Wachsen der Wohnreform in die »Breite und Tiefe«31 und der politischen Gestaltbarkeit des Wohnungswesens verlief. Eine Orientierung an der bekannten Phasenabfolge der sozialpolitischen Entwicklung ist dabei nicht möglich, da einerseits die sozialprotektionistischen Bestrebungen unter Bismarck kein direktes Äquivalent im Wohnbereich haben, andererseits der von manchen Historikern so gesehene Stillstand der Sozialpolitik vor 1914 auf die Wohnungspolitik nicht zutrifft. Es muß also die für den Wohnbereich charakteristische Phasenfolge gesucht und dazu 16

analysiert werden, wie weit die Wohnreformer jeweils in Richtung einer staatlichen Regulierung des Wohnungssektors gehen wollten und welche Chancen es gegeben hat, Wohnungspolitik zum Erfolg zu fuhren. Als wichtige Fragenkomplexe werden untersucht: 1. Die Leitbilder der bürgerlichen Wohnreform seit den 1850er Jahren, als die Wohnungsfrage im Zuge der verstärkten Urbanisierung als eigenständiges sozialpolitisches Problemfeld erkannt wurde, damit verbunden die Frage nach dem Bauprogramm und den ihm zugrundeliegenden Prämissen und gesellschaftspolitischen Zielen der frühen Wohnreformbestrebungen. Zentrale Bedeutung werden das Ideal der abgeschlossenen Familienwohnung und die Schwierigkeit seiner Verwirklichung haben. 2. Die Schübe der Problematisierung von Wohnungsfrage und Wohnreform. Als wichtige Frage stellt sich hier das Problem der gesellschaftlichen Reichweite der jeweiligen Thematisierung des Wohnbereichs. Gefragt wird - durch die gesamte Untersuchung hindurch - nach den Rückwirkungen wohnreformerischer Praxis auf die Theoriebildung. Generell sollen dabei die Bezüge zwischen den Inhalten der Debatten, die sich in einzelnen beruflichen Gruppierungen abspielten, und dem Professionalisierungsprozeß solcher Gruppen beachtet werden.32 3. Die treibenden und hemmenden Motive und Kräfte für die Entstehung von Wohnungspolitik. Worin liegen die Ursachen der Blockierung einer weitergehenden Wohnungspolitik? In welcher Weise machte sich die Grundposition geltend, daß wohnungspolitische Instrumentarien möglichst marktkonform konstruiert und eingesetzt werden sollten? Dies wird in drei Kapiteln untersucht, die chronologisch und sachlich aufeinander folgen: Die Wohnreformdiskussion bis nach 1870; die Bedeutung sozialhygienischer Konzepte seit den 1870er Jahren, Wohnreform und Wohnungspolitik 1890-1914. Das erste Kapitel beschäftigt sich, außer mit den schon skizzierten Fragestellungen, insbesondere mit dem Verlauf der Urbanisierung, um zu klären, welcher Problemdruck hinter den Diskussionen über die Wohnungsnot stand, denn die Wohnreformer bemühten sich schon zu dieser Zeit um den Nachweis, daß es sich bei der Wohnungsnot um ein strukturelles Problem handele. Gefragt wird nach der Zurechenbarkeit einzelner Leitbilder der Wohnreformbewegung zu generellen sozialpolitischen Strömungen. Wenn es vorrangig um »bürgerliche« Ansätze und Reformkonzepte geht, bedeutet dies im übrigen nicht eine Ausklammerung sozial-ideologisch anders gelagerter Vorstellungen. Bei der Analyse der Projekte und praktischen Bemühungen zur Lösung der Wohnungsfrage, zu denen hier der betriebliche Wohnungsbau mit gezählt wird, stehen die Finanzierung, die Bauträger, die Bauformen und Zielgruppen sowie die Bauleistung und Attraktivität der Vorhaben im Mittelpunkt. 17

Das zweite Kapitel greift die sozialhygienische Problematisierung der Wohnverhältnisse auf. Dazu ist es erforderlich, sich in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive mit den Auswirkungen der Bakteriologie für das Selbstverständnis der bis 1880 entwickelten umweltmedizinischen Ansätze zu beschäftigen. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob sich die Restrukturierung der Wohnumwelt wissenschaftlich begründen ließ, ein Projekt, das die Hygieniker mit Nachdruck betrieben. Außerdem werden die von den Sozialhygienikern entwickelten Normen daraufhin befragt, wie sie sich zu der allgemeinen Standardentwicklung im (privaten) Wohnungsbau verhielten: wie anspruchsvoll waren sie, und auf welche Akzeptanz stießen die gesundheitlich relevanten Maßnahmen bei den Betroffenen? Die Relevanz dieses Fragenkomplexes für das Gesamtthema ergibt sich hauptsächlich aus zwei Gründen: Erstens stellten schon die früh einsetzenden Bemühungen um die Städtehygiene einen Beitrag zur Verbesserung des Wohnungswesens dar, und zweitens erfolgte durch die Sozialhygiene die Weichenstellung für die Entwicklung von Wohnungspolitik. Denn bis etwa zur Jahrhundertwende war es nur durch das Argument der Abwehr von Gesundheitsgefahren möglich, erst Kontrollstrategien, dann das Instrumentarium einer marktintervenierenden Wohnungspolitik zu entwickeln. Insofern war die Entstehung der Wohnungspolitik ursächlich mit der Artikulation von Gesundheitsrisiken verknüpft. Die Phase der bürgerlichen Wohnreform dauerte bis etwa in die 1870er Jahre, der die Periode der erneuten Thematisierung der Wohnungsfrage seit der Mitte der 1880er Jahre zuerst bei den Sozialhygienikern folgte. Nach 1890, deutlicher erst ab 1895 gewann dann die Wohnreformbewegung an gesellschaftlicher und politischer Relevanz, so daß schließlich im Zeitraum von der Jahrhundertwende bis 1914 interventionistische Ansätze Gewicht erhielten. Im letzten Kapitel werden die mit diesen Ansätzen verbundenen Probleme aufgegriffen. Insbesondere der Komplex struktur-, mentalitätsund interessenbedingter Ursachen mangelnder Erfolge städtischer Wohnungspolitik soll differenziert untersucht werden. Für den staatlichen Sektor wird die Frage relevant, warum hier die Ursprünge des späteren sozialen Wohnungsbaus zu suchen sind. Außerdem wird der Frage nachgegangen, welche Möglichkeiten für eine gesetzliche Gesamtregelung bestanden, wobei der Haltung der Parteien allgemein und besonders der SPD als einer potentiellen Interessenvertretung für Mieter besondere Bedeutung zukommen muß. Bei der Analyse der Reformpraxis wird Gewicht auf die Baugenossenschaften gelegt, weil sich bei ihnen die Bereiche von Wohnungsreform und Wohnungspolitik treffen. Eine nur äußerst schwer zu schließende Lücke besteht hinsichtlich der ländlichen Wohnverhältnisse, da das ländliche Wohnungswesen bislang nur punktuell erforscht ist.33 Ein Desiderat bleibt die umfassende Erforschung des 18

privaten Arbeiterwohnungsbaus, was aber erst auf der Grundlage noch ausstehender Fallstudien möglich werden wird.34 Schließlich fällt auf, daß zwischen dem Wunsch nach einer Annäherung an die soziokulturelle Dimension des Arbeiterwohnens und den bisherigen Forschungsergebnissen eine beträchtliche Lücke klafft, die hier nur hinsichtlich einiger Aspekte geschlossen werden kann. Unmittelbare Aussagen von Arbeitern zum Wohnbereich gibt es praktisch nicht, die vorhandenen Autobiographien35 sind für die Masse der Arbeiter nicht repräsentativ. Wenn überhaupt, ließe sich mehr über die Wohnerfahrungen von Arbeiterfamilien nicht durch solche Autobiographien, sondern aufgrund von noch ungehobenem Aktenmaterial aus der Sphäre der ortspolizeilichen Verwaltungspraxis feststellen. Das Spektrum der hier berücksichtigten gedruckten Quellen reicht von Gesetzestexten mit deren Begründungen über parlamentarische Anträge und die ausgedehnte Publizistik zur Wohnreform bis hin zu den Geschäftsberichten einzelner Wohnbaugesellschaften. Besonders die Quellengattung der Fachzeitschriften ist für diese Untersuchung von zentraler Bedeutung, weil dadurch sowohl die Komplexität des Gesamtproblems als die praktische Umsetzung von Reformvorschlägen in ihrer konkreten Zielsetzung und Ausgestaltung verstehbar werden. Einige dieser Zeitschriften sollen genannt werden: Für die Zeit der bürgerlichen Wohnreform bzw. ihre Nachwirkungen sind »Der Arbeiterfreund« des Centraivereins fur das Wohl der arbeitenden Klassen (CVWaK) und die sogenannte alte und die neue »Concordia« wichtig, wobei ersterer als Organ der katholischen Sozialbewegung, die sich primär an sozialpolitisch aufgeschlossene Unternehmer richtete, letzterer durch ihren halbamtlichen Status besondere Bedeutung zukommt.36 Im medizinischen Bereich werden alle Zeitschriften herangezogen, von denen man annehmen kann, daß sie sich mit der öffentlichen Gesundheitspflege und insbesondere mit dem Wohnbereich beschäftigten. Lokale und regionale Mitteilungsblätter werden allerdings wegen deren schlechter Zugänglichkeit nicht berücksichtigt. Die »Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege«, die »Zeitschrift für Tuberkulose und Heilstättenwesen« sowie das »Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege« erweisen sich in dieser Hinsicht als besonders ergiebig.37 Innerhalb der Architektur-Fachpresse ist die 1867 gegründete und weitverbreitete »Deutsche Bauzeitung« als Organ des Verbandes Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine (seit 1872) im Hinblick auf allgemeinere Perspektiven der Wohnreformdebatte bei Architekten und überhaupt als »eine der bedeutendsten Architektur-Zeitschriften des 19. Jahrhunderts«38 relevant. Wichtig war auch das »Centralblatt der Bauverwaltung«, das 1881 aus dem preußischen Ministerium für öffentliche Arbeiten hervorging, somit halbamtlichen Charakter hatte und das sich seit 1885 mit Fragen des Städtebaus beschäftigte.39 Außerdem kamen die beiden Periodika aus dem 19

Umfeld der praktischen Wohnreform nach der Jahrhundertwende in Betracht, die »Zeitschrift für Wohnungswesen« und das den Baugenossenschaften sehr verpflichtete »Westfälische Wohnungsblatt«.40 Schließlich zeigt sich, daß sich die unterschiedliche Haltung der beiden Flügel der SPD zur Wohnungspolitik unmittelbar in der Publizistik spiegelte. Sowohl »Die Neue Zeit« als auch die »Sozialistische (n) Monatshefte« enthalten eine ganze Anzahl von Beiträgen zum Arbeiterwohnen und zur Wohnungspolitik.41 Archivalisches, d.h. ungedrucktes Material wurde in den Staatsarchiven Merseburg und Potsdam sowie im Generallandesarchiv Karlsruhe ausgewertet. Hierbei ging es um die Analyse wohnpolitischer Entscheidungsprozesse, die nicht allein aufgrund gedruckten Materials herausgearbeitet werden können. Hier kommt in erster Linie für die Merseburger Aktengruppe Rep. 120, (preußisches) Ministerium für Handel und Gewerbe, in Frage. Aus ihr läßt sich auch die Haltung anderer Ministerien erschließen und so schien ihre Heranziehung geboten. Das Gleiche gilt für die Potsdamer Bestände Reichskanzlei und Reichsamt des Inneren, wo sich vielfältige Hinweise auf die wechselseitige Blockierung wohnungspolitischer Initiativen zwischen Preußen und dem Reich fanden. Im Generallandesarchiv Karlsruhe schließlich konnte ergänzend v.a. auf Material zu den Entscheidungsprozessen im Bundesrat zurückgegriffen werden, wobei diese nicht mehr vollständig rekonstruiert werden können.

20

1. Bürgerliche Wohnreform 1.1. Zur Entwicklung der Wohnraumversorgung von Unterschichten 1840 -1871 Schon vor der Urbanisierung gab es bei den städtischen und ländlichen Unterschichten enge, niedrige, lichtlose und schmutzige Wohnungen. Ebenso existierte Mangel an Wohnraum, was zeitgenössischen Beobachtern durchaus auffiel.1 Doch traten diese Phänomene bei weitem nicht so konzentriert und verbreitet auf wie zwischen 1840 und 1871, d.h. während der ersten Urbanisierungsphase.2 Nun wurde von der Publizistik der Wohnraummangel in Städten teils mit zivilisationskritischen Intentionen, teils als Illustration und Aspekt der Pauperismusproblematik aufgegriffen. Die anhaltenden Mangelerscheinungen bei der großstädtischen Wohnraumversorgung müssen zunächst einmal als Resultat der das 19. Jahrhundert kennzeichnenden Binnenwanderungsbewegungen betrachtet werden. Die Bevölkerungswanderungen richteten sich nach 1850 verstärkt auf die Städte, wo es zur Zusammenballung industrieller Arbeitermassen kam. Die großen Binnenwanderungen haben die Städte in irreversibler Weise geprägt und führten zur Herausbildung neuer Stadttypen mit mehr oder minder industriellem Charakter sowie zur Entstehung rein industrieller Agglomerationen.3 Die Bevölkerungsentwicklung verlief im ganzen gesehen sehr unterschiedlich: Die agrarisch-ländlichen Kleinstädte des preußischen Ostens gingen in ihrer Einwohnerzahl vielfach zurück, während vor allem im Rheinland zahlreiche Städte ein extremes Bevölkerungswachstum (jährlich über 2,4 % Wachstumsrate) aufwiesen.4 Während dieser ersten Urbanisierungsphase waren traditionelle Gewerbe- und Handelszentren wie Augsburg, Bremen, Düsseldorf oder Mannheim von der Zuwanderung weniger betroffen als die Hauptstädte Berlin, München und Stuttgart und die neuen Textilgewerbestädte und Industriestädte im Westen, in Sachsen oder in Oberschlesien.5 Insgesamt gab es starke Rückwanderungsströme auf das Land und einen stetigen Bevölkerungsaustausch zwischen dem Nahbereich und den Kerngebieten der Städte.6 Letztlich aber wuchsen die Städte sowohl durch Geburtenüberschuß, was gegenüber der Frühen Neuzeit ein neuartiges Phänomen war, als auch durch Zuwanderung, ohne daß es in entsprechendem Maße zur Erstellung von Wohnungen kam. 21

Die Zuwanderer kamen hauptsächlich auf der Suche nach Arbeit in die Städte; saisonale Schwankungen in Industrie und Landwirtschaft wirkten sich beim Wanderungsvolumen aus. Deshalb verlief die Nachfrage nach Wohnraum diskontinuierlich. Die hochmobilen, meist jüngeren und unverheirateten Arbeiter, welche dazu gezwungen, aber auch fähig waren, sich kurzfristig den Schwankungen des Arbeitsmarktes anzupassen, stellten die Hauptmasse der neuen Stadtbewohner dar. Diese Arbeiter, soweit sie heirateten und sich in den Städten niederließen, verstärkten entscheidend die Nachfrage nach Kleinwohnungen. Das Mißverhältnis zwischen Wohnraumangebot und -nachfrage und das für die ländlichen Zuwanderer charakteristische, niedrige Anspruchsniveau an die Qualität der Wohnungen mußte fast zwangsläufig in einer Absenkung der Wohnqualität resultieren. Städtewachstum bedeutete vor dem Hintergrund der Entstehung der Wohnungsfrage zunächst die Ausweitung des Mietwohnbaus auf der Grundlage eines sich rasch entwickelnden Bau- und Wohnungsmarktes. Schon um 1840 bahnte sich der bis in die Gegenwart hinein bemerkbare Rückgang des Anteils der Eigentumswohnungen am Gesamtwohnungsbestand der deutschen Städte an.7 Da die Entwicklung der Gebäudezahlen hinter dem Bevölkerungswachstum zurückblieb, stieg die Βehausungsziffer, d.h. die durchschnittliche Bewohnerzahl pro Wohngebäude.8 Dies bedeutete aber entgegen den Annahmen der meisten Wohnungsstatistiker des 19. Jahrhunderts nicht, daß die Wohnungen tatsächlich stärker belegt waren. Denn die wachsende Behausungsziffer resultierte aus dem Ubergang zum Bau größerer und höherer Gebäude, d.h. zum mehrgeschossigen Mietshausbau.9 Wie vorsichtig man gegenüber pauschalierenden Ansichten10 über die Entwicklung der Wohnraumversorgung sein muß, zeigt Bremen, wo bis zur Jahrhundertwende Mietskasernen und die kleinere Version des städtischen Mietshauses unbekannt blieben.11 Durch die frühen Haushaltsuntersuchungen Le Plays (1853) können die sozialen Charakteristika der Wohnraumversorgung umfassender erschlossen werden.12 Hier zeigt sich zunächst, daß die Wohnungsnot mit all ihren Kennzeichen - hohe Mieten, schlechter Bauzustand, Überfüllung - bei Heimarbeitern in Erscheinung trat, d.h. bei der bekannten Kerngruppe des Pauperismus. Die typische Heimarbeiterfamilie des 19. Jahrhunderts verfügte über zwei Wohnräume, getrennte Schlafräume für Kinder und Eltern fehlten. Auch wenn eine solche Familie in einem eigenen Haus lebte, brachte das nicht unbedingt mehr Platz, da die nicht zwingend benötigten Räume untervermietet wurden. Grund dazu gaben beispielsweise die durch einen vorangegangenen Hauserwerb aufgehäuften Schulden. Die Wöhnverhältnisse von ländlichen Bergarbeitern und von anderen, z.T. noch halbagrarischen Industriearbeitern stellten sich gegenüber den Heimar22

beitern günstiger dar. Ein charakteristisches Beispiel ist die von Le Play untersuchte Bergarbeiterfamilie in Clausthal, bei der fünf Personen über ein Häuschen mit drei Zimmern und einer Küche verfugten. Es gehörte der Grubenverwaltung, sollte allerdings allmählich in das Eigentum der Familie übergehen. Die Sorgfalt, mit welcher diese Bergarbeiterfamilie Renovierungsarbeiten durchführte, weist für bestimmte Arbeitergruppen auf die Anziehungskraft des Eigenheims hin, an welche die betriebliche Wohnungspolitik anknüpfen konnte. Auch eine weitere von Le Play untersuchte Arbeiterfamilie, ein Solinger Zurichterhaushalt mit sechs Personen, verfugte über einen Wohnungsstandard, der kaum als ein Beleg für allgemein verelendete Wohnverhältnisse gelten kann. Allerdings war das Haus dieser Familie nur gemietet, was bedeutete, daß der Wohnraum im Falle ausbleibender Mietzahlungen sofort gekündigt werden konnte. In Kontrast zu einer solchen Wohnweise stand hingegen die Wohnungsnot jugendlicher Fabrikarbeiter beiderlei Geschlechts, die etwa in Schlesien ohne Familienanbindung in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht waren, doch fand typischerweise nur die Wohnraumversorgung von Arbeiterfamilien die Aufmerksamkeit der frühen Wohnreformer. Insgesamt kann man feststellen, daß das Wohnen der Unterschichten mit einem Zustand der Beengtheit gleichzusetzen ist. Um zu exakteren Ergebnissen zu gelangen, soll im folgenden am Beispiel Berlins die Entwicklung der Wohnraumversorgung über einen längeren Zeitraum hinweg untersucht werden. Berlin war zwar weder für Preußen noch für Deutschland repräsentativ, doch man kann annehmen, daß von allen deutschen Großstädten Berlin am stärksten von Zuwanderung und Wohnungsnot betroffen war und sich deshalb hier Prozesse auf dem Wohnungsmarkt hinsichtlich der Mietentwicklung und der Wohnsituation der Armen und der Arbeiter besonders früh abgezeichnet haben.13 Da es vor 1861 in Berlin keine Wohnungsstatistik gab, bietet nur die Auswertung von Bevölkerungszahlen, Wohnungsaufnahmen und Mietsteuerkatastern die Möglichkeit, die Entwicklung der Wohnungsnachfrage mit dem Angebot zu vergleichen.14 Es ergibt sich, daß schon zwischen 1815 und 1830 das Mietniveau stieg und sich Wohnungsmangel bemerkbar machte, vor allem am Anfang der zwanziger Jahre und aufgrund der nach den liberalen Reformen erleichterten Möglichkeit zur »Etablierung«. Der Zuwanderungsgewinn spielte aber als demographische Größe gegenüber dem GeburtenÜberschuß keine wichtige Rolle. Wohnungsnot in ihren eklatantesten Formen trat seit den zwanziger Jahren in den Wülcknitzschen Familienhäusern in der Rosenthaler Vorstadt auf. Hier konzentrierte sich ein Teil der Berliner Armenbevölkerung. In den Familienhäusern lagen die Zimmer entlang von Fluren, d.h. es existierten keine abgeschlossenen Wohneinheiten. Diese Zimmer waren extrem überbelegt, doch insgesamt änderte sich in Berlin die 23

im Durchschnitt auf ein »Quartier«, die zeitgenössische Zähleinheit, die auch Teilwohnungen umfaßte, kommende Personenzahl zwischen 1815 und 1830 praktisch nicht. Danach trat die Zuwanderung immer stärker in Erscheinung und übte Druck auf den Wohnungsmarkt aus. Die durchschnittliche Zahl der Bewohner je bewohntem Quartier stieg von 4,93 (1830) auf 5,44 (1840). 15 Nun kann die Wohnungsfrage nicht einfach als eine Funktion der Bevölkerungsentwicklung betrachtet werden; Eheschließungen, Wanderungsgewinn und Geburten bestimmten die Nachfrage, wobei sich die wirtschaftlichen Schwankungen bei allen Faktoren in starkem Maß auswirkten. Besonders die jeweilige Zahl der Eheschließungen war fur die Wohnungsnachfrage relevant.16 Durch die hohe Zahl der Eheschließungen seit der Mitte der fünfziger Jahre entstand zunächst bis in die frühen sechziger Jahre hinein ein erheblicher Mehrbedarf an Wohnungen, der sich am Indikator des Leerwohnungsbestandes ablesen läßt. Abb. 1: Veränderungen des Leerwohnungsbestandes und der durchschnittlichen Miete 1848-1871 in Berlin % 7

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Quelle: Wietog, S. 122

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Dazu muß bemerkt werden, daß als Richtwert für eine ausreichende Wohnungsversorgung nach der sogenannten Hasseschen Regel ein Leerwohnungsbestand von 3 % der vorhandenen Wohnungen gelten kann. Dieser Wert wurde am Ende der 1840er Jahre (Auswirkungen der Revolution von 1848 durch die Flucht von Mietern aus der Stadt) und zwischen 1865 und 1867 (Folgewirkungen erhöhter Wohnungsproduktion) übertroffen. Hieraus ergibt sich, daß in allen anderen Jahren von einer Unterversorgung mit Wohnraum ausgegangen werden muß. Aber diese Aussage reicht noch nicht aus: Da es um die Wohnraumversorgung der Unterschichten geht, muß insbesondere die Entwicklung der Kleinwohnungsmieten betrachtet werden. Es zeigt sich hier, daß gerade das Angebot an billigen Kleinwohnungen hinter der Nachfrage zurückblieb. Die kleinen Wohnungen waren praktisch immer belegt, so daß ein Druck auf die Bezieher niedriger Einkommen entstand, sich größere und teurere Wohnungen zuzulegen, als sie sich eigentlich leisten konnten. Daraus mußte sich der Zwang ergeben, durch Untervermietung und Vergabe von Schlafstellen einen Teil dieser Mieten wieder einzunehmen. Andererseits zeigt die Abnahme der von der Mietsteuer befreiten Haushalte17 als - wenn auch methodisch problematischer - Indikator, daß der Lebensstandard insgesamt stieg. Man muß also danach fragen, wer am Zuwachs marktbedingter Einkommen am wenigsten partizipieren konnte. Hier erweist sich, daß beispielsweise alleinstehende, ältere Frauen die Verknappung der billigen Wohnungen in hohem Maße spürten. Insgesamt läßt sich sagen, daß Berlin zwischen 1847 und 1871 eine bedeutende Mietsteigerung aufwies. Dies bedeutete allerdings nicht eine wirkliche Verteuerung der Wohnungskosten der Unterschichten insgesamt, da zumindest die industriellen Löhne schneller als die Mieten stiegen.18 Weitere Ergebnisse19 können erzielt werden, wenn man unter »Wohnraumversorgung« ein Umweltproblem versteht, das mit demographischen und baugeschichtlichen Kriterien erfaßt werden kann. Hier zeigt sich zunächst, daß die Bevölkerungsdichte Berlins vom Ende des Jahres 1847 bis Ende 1871 anstieg, so allein von 11 681/km2 im Jahre 1861 auf 13 920/km2 zehn Jahre später. Einzelne Viertel, besonders in der Nähe von Industrieanlagen, entwickelten sich nun zu dichtbesiedelten Arbeiterquartieren. In starkem Umfang nahmen die Hinterhofbebauung und der Hochbau zu. Berlin entwickelte sich nun zur »größten Mietskasernenstadt der Welt« (Hegemann). Der Trend zu einer intensiven Ausnutzung der Grundstücke, einhergehend mit einem Wachsen der Behausungsziffer, spiegelt sich in der in Berlin besonders ausgeprägten Entwicklung zum Mietskasernenbau in neuen Stadtteilen. Uber die Konsequenzen dieser Entwicklung für die Pro-Kopf-Wöhnungsfläche ist allerdings nichts bekannt. Die Zahl der als überfüllt bezeichneten Wohnungen (mehr als fünf Personen auf einen - heizbaren - Raum bzw. mehr als zehn in zwei Räumen) fiel von 15 % aller Wohnungen (1861) auf 10 % 25

(1871). Andererseits lebten 1871 immer noch 20% der Berliner Bevölkerung in »überfüllten«, hauptsächlich Einzimmer-Wohnungen. Läßt dies einerseits auf eine gewisse Besserung des Wohnmilieus der Unterschichten, andererseits auf eine weiterhin stark angespannte Situation in der Wohnraumversorgung schließen, so zeigt der zwischen 1861 und 1871 noch steigende Anteil der Bewohner von Kellerwohnungen, daß sich für einen Teil der Mieter die Wohnsituation noch verschlechterte und daß mit der zwischen 1861 und 1871 praktisch unveränderten Quote der Schlafgänger an der Berliner Wohnbevölkerung mit 8 % von einer durchgängigen Verbesserung der Wohnungssituation nicht die Rede sein konnte. Angesichts einer sehr disparaten Forschungssituation zur Entwicklung der Wohnverhältnisse von 1870 und aufgrund der immer noch nicht befriedigend gelösten Frage nach dem Lebensstandard der Arbeiter in der Industrialisierung fällt ein systematischer Vergleich anderer Städte mit Berlin schwer. Einige Daten zur Situation vor der Jahrhundertmitte liegen für Hamburg vor. Hier sollen die Mieten zwischen 1790 und 1848 kontinuierlich, und zwar um das Dreifache, gestiegen sein, und da dies den Zuwachs bei den Nominallöhnen bei weitem überflügelte, sei der relative Anteil der Mieten an den Haushaltsausgaben der Unterschichtenfamilien von unter 10 % auf 15 % bis 20 % angewachsen.20 Ließe sich dies erhärten, würde das bedeuten, daß die Unterschichtenhaushalte wegen der gestiegenen Mietbelastung andere Lebensbedürfnisse einschränken mußten. Für Barmen/Elberfeld kann man nachweisen,21 daß um 1870 Arbeiter für eine Kleinwohnung mit einem Zimmer und einer Kammer durchschnittlich 35 bis 50 Taler bezahlen mußten, was ungefähr 30 % des Einkommens der jeweiligen Haushaltsvorstände betragen haben soll. In Berlin, Hamburg und im sich früh und rasch industrialisierenden Wuppertal erreichten somit Wohnungsnot und Wohnungsverteuerung nach der Jahrhundertmitte einen historischen Höhepunkt. Im Ruhrgebiet kam es vor allem in den eigentlichen Arbeitervierteln in den sechziger Jahren zu krassen Formen der Wohnungsnot.22 Ebenso ist für Esslingen in den sechziger Jahren eine gespannte Wöhnungsmarktlage belegt, wenn man sie auch nicht mit Berlin oder dem Ruhrgebiet vergleichen kann. Es zeigt sich in dieser mittelgroßen Industriestadt, daß die Belegungsdichte der Häuser in den 1860er Jahren gegenüber 1803 auf das Doppelte anstieg und seitdem »das Zusammenleben mehrerer Mietparteien in einem Gebäude zur prägenden Erfahrung«23 der Bevölkerungsmehrheit wurde, wenn auch immer noch am Stadtrand gute Wohnverhältnisse herrschten und die Häuser im Schnitt größer waren. In Esslingen läßt sich im übrigen ein starker Zusammenhang zwischen der Auftragslage in der örtlichen Maschinenindustrie und der Nachfrageentwicklung auf dem Wohnungssektor nachweisen: was fehlte, »waren kleine, billige Wohnungen für die ortsfremden Arbeiterfamilien, die seit dem Boom der Maschinenfabrik 26

verstärkt in die Stadt zogen«.24 Hier wie in Braunschweig und Kiel wuchs demnach nach 1845/1850 die BehausungszifFer und verringerte sich die ProKopf-Wohnfläche, und zwar, wie für Braunschweig nachgewiesen ist, am stärksten in den einkommensschwachen Quartieren.25 Insgesamt war somit die Wohnraumversorgung während der frühen Urbanisierung in Berlin wie in Gewerbestädten mit raschem industriellem Wachstum oft schon vor der Jahrhundertmitte prekär, wenn man zu dieser Zeit auch nicht einfach von einem allgemeinen Wohnungselend sprechen kann. Zwischen 1850 und 1870 verschlechterten sich die Wohnverhältnisse kaum noch, und die durchschnittliche Mietbelastung der Privathaushalte wuchs im allgemeinen nicht weiter, doch für die ärmere Bevölkerung, vor allem die wachsende heterogene Masse der Ungelernten blieben enge, überfüllte und im Verhältnis zu den Wohnungen der bürgerlichen Mittelschichten überteuerte Wohnungen die Regel.

1.2. Kategorien und Leitbilder der bürgerlichen Sozial- und Wohnreformbewegung Die Kategorien, Perspektiven und Konzepte der frühen wohnreformerischen Anstrengungen, welche die Phase seit der Mitte der 1840er bis zum Ende der sechziger Jahre ausfüllen, lassen sich ohne die Geschichte der bürgerlichen Sozialreform kaum verstehen.26 In den einzelnen Reforminitiativen zeigt sich das ganze soziale Spektrum des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums sowie der Beamtenschaft.27 Die Sozialreformbewegung begann, die historische Dimension von Urbanisierung und Industrialisierung zu erkennen, und damit grenzte sie sich von älteren Konzepten zur Eindämmung des Pauperismus ab. Die Frontstellung gegen den in den sechziger Jahren seinem Höhepunkt entgegenstrebenden Wirtschaftsliberalismus kennzeichnete sie ebenso wie die stellvertretende Artikulation der durch den Systemwandel hervorgerufenen Bedürfnisse der Unterschichten. Einerseits mußten ganz neue Formen der Verteilungsgerechtigkeit gefunden werden, andererseits handelten die Reformer vielfach unter dem Eindruck von Revolutionsfurcht und versuchten, gesellschaftliche Konflikte durch Verdrängung zu harmonisieren. Es ist nicht zu übersehen, daß es innerhalb der bürgerlichen Sozialreform unterschiedliche Integrationsmodelle gab, die teilweise mit Gruppenbildungen einhergingen und die im folgenden idealtypisch beschrieben werden sollen. Einer sozialkonservativen Strömung, die gerade für die wohnreformerischen Intentionen Bedeutung annahm, stand eine liberalsoziale Position gegenüber. Beide Richtungen setzten sich von dem wirtschaftsliberal geprägten Konzept der Marktsteuerung ab, dessen Vertreter sich ebenfalls an der 27

Debatte um die Wohnreform beteiligten, ihr aber nicht zuzurechnen sind, da von ihnen das Bestehen einer »Wohnungsfrage« bestritten wurde. Diese Differenzen fallen ins Gewicht, weil sie sich z.T. über 1870 fortsetzten.28 Gerade die Optionen für bestimmte wohnungspolitische Instrumente erweisen sich als von unterschiedlichen Begründungszusammenhängen geprägt. Für Victor Aime Huber dienten gesellschaftliche Reformen primär der Systemstabilisierung. Der »passiv unbewußte Kern konservativer Gesinnung und Überzeugung in den unteren Volksschichten« sollte durch die Initiierung sozialer Reformprojekte mobilisiert werden.29 Darin traf er sich mit anderen Sozialkonservativen wie Wägener und Meyer ebenso wie in der scharfen Kritik am liberalen Eigentumsbegriff und an der Bodenspekulation sowie im Verlangen nach der Reform der »Gesinnung« durch die Aktivierung »christlicher« Moral.30 Der Vorbehalt gegen jede Art von »Auflösung« des traditionellen Wertesystems stand bei der sozialkonservativen Strömung ganz im Vordergrund. Unterschiede zwischen sozialkonservativen und liberalen Konzepten gab es grundsätzlich hinsichtlich der Rolle der Privatinitiative und der Marktsteuerung. Die Sozialkonservativen setzten sich außerdem durch ihr weitgehendes Festhalten an der Figur der »Selbstverschuldung«31 von den mehr oder minder strikten Ansätzen einer ökonomischen Bedingungsanalyse ab, wie sie für die Liberalen bezeichnend war. Konnten die Sozialkonservativen auf die Forderung nach einer strikten Sozialpflichtigkeit des Eigentums32 nicht verzichten, so widersprachen dieser die Wirtschaftsliberalen durch das Postulat sehr weitgehender Verfügungsgewalt von Eigentümern und einer fast vollständigen Selbststeuerung des Boden- und Baumarkts.33 Wie die Untersuchung der frühen wohnreformerischen Bewegung zeigt, kann die bürgerliche Sozialreform nicht mit der Geschichte des 1844 gegründeten Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen (in Preußen) [CVWaK] identifiziert werden.34 Bereits nach der Jahrhundertmitte verlor der CVWaK an sozialpolitischer Bedeutung, sowohl was seine politischorganisatorische Verankerung als auch was seine Innovationskraft betraf. Zur bürgerlichen Reformbewegung gehörten fortan die liberalen Kräfte auf den Volkswirtschaftlichen Kongressen, die nicht einfach als Verlängerung des Centraivereins zu begreifen sind.35 Ebenso sollten konkrete wohnreformerische Zielsetzungen, die im betrieblichen Wohnungsbau erscheinen, berücksichtigt werden. Welches Gewicht zwischen 1844 und 1870 die konträren Vorstellungen über »Selbsthilfe« und »Staatshilfe« hatten, kann gerade am Beispiel der Wöhnreform geklärt werden. Schließlich fragt es sich, ob die in den sechziger Jahren festgestellte Öffnung der bürgerlichen Sozialreformer für neue Modelle gesellschaftlicher Konfliktregulierung (Schiedsgerichte, Koalitionfreiheit) Entsprechungen auf wohnreformerischem Gebiet fand.36

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1.2.1. Der soziale Ort der Wohnungsfrage in der der bürgerlichen Sozialreformer

Literatur

Schon im Zusammenhang mit dem Pauperismusproblem gab es, wie erwähnt, Hinweise auf beengte, überfüllte und elende Wohnungen. Solche Verhältnisse erschienen als ein Aspekt wachsender Armut. Von einem eigenständigen Problem der Wohnraumversorgung, eben der »Wohnungsfrage«, war erst in den fünfziger Jahren die Rede, begleitet von der Frage der Wohnungsnot als einem Urbanen Phänomen. Erstmals in den vierziger Jahren gab es Stimmen, die stärker auf die Wohnverhältnisse in Städten aufmerksam machten. In Schriften wie der Bettina von Arnims »Dies Buch gehört dem König« (1843) wurde das Berliner Sozialelend am Beispiel qualitativer wie quantitativer Wohnungsnot vor Augen geführt. Das nötige Material hatte sich B. v.Arnim durch Besuchsprotokolle besorgt, die der Schweizer Pädagoge Heinrich Grunholzer in dem Elendsviertel der Wülcknitz'schen Familienhäuser im Berliner Voigtland gesammelt hatte.37 Doch ging es dabei nicht um spezifisch wohnreformerische Konsequenzen, vielmehr blieb in v.Arnims halbdokumentarischer Version das Wohnungsproblem immer noch der allgemeinen Pauperismusdarstellung subsumiert. Erst mit so engagierten und informierten Enqueten wie der des Breslauer Regierungsassessors Alexander Schneer über die »Zustände der arbeitenden Klasse in Breslau« von 1845 trat die empirische Evidenz einer eigenständigen Wohnungsfrage deutlicher in Erscheinung.38 Schneer rechnete gut ein Drittel der Breslauer Bevölkerung zu den »arbeitenden Klassen«, die sich aus Dienstboten, Gesellen, Lehrlingen, Fabrikarbeiter und, als »unterster« Gruppe, aus Tagelöhnern zusammensetzten. Für die zeitgenössische Kenntnis des sozialen Ortes der Wohnungsnot ist in Schneers Arbeit der Hinweis des Armenarztes Blümner typisch, daß von den katastrophalen Wohnverhältnissen in Breslau nicht zuletzt bestimmte Handwerkergruppen (Schuhmacher, Schneider) betroffen seien. Auch ein anderer Gewährsmann Schneers, der Mediziner Kalckstein, begrenzte die Wohnungsnot primär auf die »arbeitenden Klassen«, doch fiel diesem auf, daß »der Ubelstand schlecht gelüfteter Wohnungen... auch bei den meisten wohlhabenden Bürgern« vorkomme. In Schneers Perspektive waren die »arbeitenden Klassen«, d.h. heterogene städtische Unterschichten von Wohnungsnot betroffen, die Industriearbeiter bildeten dabei nur eine Gruppe. Aber ebenso mußten Teile des Kleinbürgertums, teils aufgrund ihrer ökonomischen Lage, teils wegen hygienischer Unaufgeklärtheit zu den Betroffenen gerechnet werden. Fast zwei Jahrzehnte nach Schneer erschien die Untersuchung des Missionsinspektors der Rheinischen Mission in Barmen, Friedrich Fabri, über die Wohnungsnot im Wuppertal (1862) ,39 Daß man die hier beschriebenen Fälle zusammengedrängten Wohnens »in allen Arbeiterquartieren in nicht gerin29

ger Zahl« fand, hatte mit dem Umstand zu tun, daß es sich bei Elberfeld/ Barmen um eine der entwickeltsten frühindustriellen Städte mit zahlreichen Fabrikarbeitern handelte. Unter »Arbeiter« sind hier bereits also Fabrikarbeiter zu verstehen. Fabris Untersuchung entsprach einer generellen Akzentverschiebung der sozialkritischen Literatur, in der die Wohnungsfrage immer stärker als ein Aspekt nicht des Pauperismus, sondern der industriellen Arbeiterschaft erschien.40 Freilich gab es in Preußen noch 1858/61 in der Fabrikindustrie weniger Beschäftigte als im Handwerk.41 Es fällt auf, daß die frühe wohnreformerische Literatur die Wohnungsnot des »Mittelstandes« vor Augen führt. Karl Knies sprach in seinem Diskussionsbeitrag von 1859 zwar vom »Wohnungsnothstand unterer Volksschichten«, da er aber das Problem der Mietentwicklung und deren ökonomische Erklärung in den Vordergrund stellte, schien der »Nothstand« mangelnder Wohnungsproduktion für »ganz kleine Leute« und den »zur Miethe wohnenden Mittelstande« gleichermaßen zu gelten.42 In dieser Sicht wurden gesellschaftliche Unterschiede vermischt, obwohl die besondere Problematik der »Armen« und die Notwendigkeit, durch gemeinnützige Baugesellschaften für sie Wohnungen zu schaffen, prinzipiell von Knies anerkannt wurde. Für Victor Aime Huber machte sich ebenfalls »Wohnungsnot« hauptsächlich in Altstadtquartieren, und zwar primär bei »Arbeitern«, aber auch bei »mittelständischen« Kreisen und allen »kleinen Leuten« bemerkbar. Es fällt auf, daß er sich im Vergleich zur empirischen Wohnungsliteratur kaum für die Wohnverhältnisse der »ärmsten« Klassen interessierte oder auf diese nur einging, um die Notwendigkeit einer allgemeinen Wohnreform zu unterstreichen.43

1.2.2. Selbstverschuldung,

Familiarität und

»Versittlichung«

Huber stellt sich in die Reihe bürgerlicher Publizisten, die sich seit den vierziger Jahren zunehmend vom »Proletariat« distanzierten. Es konnte für ihn als »gefährliche« oder aber zumindest »hülflose« Klasse nicht die Zielgruppe der Wohnreform sein, da mit einer »ganz oder fast ganz für ihren Lebensunterhalt auf Wohltaten anderer angewiesenen Masse«44 keine Verwandlung von Mietern in Hausbesitzern bewerkstelligt werden konnte, wie das nicht nur Huber anstrebte. Die Beseitigung der Wohnungsnot völlig pauperisierter und demoralisierter Unterschichten interessierte nicht, solange die Wohnreform strategisch als Hebel einer viel umfassenderen Sozialreform, eben der »Versittlichung« begriffen wurde. Diese implizierte die Bildung von Eigentum, das Umkehren der Trends wachsender Verarmung, wozu das Hauseigentum aufgrund der starken Motivationen, die es mobilisieren konnte, besonders geeignet erschien. 30

In der Pauperismusliteratur gab es zwei dominante Interpretationsmuster: im ersten erschien die neue Massenarmut als Potential für die unmittelbar drohende Auflehnung der niederen besitzlosen Klassen gegen die Besitzenden. So rückte der »Pauperismus« in das semantische Feld eines politisierten Proletariatsbegriffs, wie er in den vierziger Jahren immer stärker hervortrat.45 Im zweiten Interpretationsmuster wurde Verarmung mit »Entsittlichung« und »Amoralität« konnotiert. Mit beiden Modellen schien in der Sicht der Sozialreformer sowohl eine Zustandsbeschreibung der pauperisierten Schichten geleistet als auf eine langfristig drohende Gefahr für die Stabilität des bestehenden Gesellschaftssystems hingewiesen. Schon Robert Mohl kritisierte in seinem berühmten Aufsatz über die »Nachteile der Fabrikindustrie« nicht die objektive »Schattenseite« des neuen Fabrikwesens, sondern verurteilte dessen sozial-moralische Folgen: »Der gänzliche Mangel einer vernünftigen Hoffnung auf eine wesentliche Verbesserung der Lage nimmt nur zu leicht dem Charakter jede Spannkraft, und wenn mit Aufopferung des augenblicklichen Genusses und mühsamer Uberwindung der Sinnlichkeit so wenig äußerer Vortheil zu gewinnen ist, so gehört mehr sittliche Kraft zum Beharren auf dem Pfade der Tugend und der Anständigkeit, als bei Menschen von schlechter Erziehung und Umgebung oft gefunden werden mag«.46

Die »Demoralisation des Fabrikarbeiters« erschien Mohl also als Hauptproblem des neuen Pauperismus.47 Diese wiederum sei unmittelbar durch die »Zerstörung des Familienlebens«, mittelbar aber durch exzessive Arbeitszeiten, extreme Abhängigkeit vom »Lohnherrn«, durch die Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte, Kinder- und Frauenarbeit und nicht zuletzt durch Alkoholkonsum bedingt. Johann Gottfried Hoffmann, Sachverständiger für Gewerbesachen und Verfechter einer vom Mittelstand dominierten bürgerlichen Gesellschaft, erkannte vergleichsweise früh die zentrale Bedeutung der Fabrikindustrialisierung für die Entwicklung der sozialen Verhältnisse. Er schrieb 1845, die »zum stehenden Artikel der Tagesliteratur gewordenen Klagen über die fortschreitende Verarmung der Völker« seien viel zu allgemein, der Pauperismus beträfe eigentlich »nur eine erst in neueren Zeiten zahlreicher gewordene Klasse der Fabrikarbeiter«.48 Spätestens am Ende der vierziger Jahre erschienen in der bürgerlichen Öffentlichkeit die materielle Verarmung und der befürchtete Identitätsverlust zunächst der Heimarbeiter, nun aber genauso aller städtischen und rasch anwachsenden »handarbeitenden Klassen« als eindeutige Bedrohung der sich gerade etablierenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Insgesamt überwog in den vierziger Jahren im Bürgertum das ungefähr folgendermaßen zu umschreibende sozialpolitische Konzept: Sinnenfreude, Faulheit, Spielsucht und mangelnder Arbeitseinsatz hätten eigentlich die Verarmung herbeigeführt. Immoralität, Schmutz, ausschweifende Sexualität und Armut in ihrem wechselseitigen Wirkungszusammenhang seien insofern Folgen eines individuellen Fehlverhaltens. Die Parole 31

der »Entsittlichung« der Unterschichten in Konnotation mit »Selbstverschuldung« traf auf breite Zustimmung im bürgerlichen Publikum, konnte es doch daraus seine völlige Inaktivität den neuen sozialen Problemlagen gegenüber rechtfertigen. Andererseits kann nicht übersehen werden, daß gleichzeitig ein Konzept existierte, bei dem »Entsittlichung« und »Selbstverschuldung« im Sinne sozialpolitischer Gestaltbarkeit der Verhältnisse aufgefaßt wurde. Die Notwendigkeit einer Erziehung zur Selbstkontrolle, Disziplin und Sauberkeit wurde für akademische Mediziner wichtig. Daneben gab es schon eine Strömung, welche die Verbesserung der Sozialmoral von Unterschichten im Sinne der »Selbsthilfe« anstrebte. Freilich folgte in dieser Perspektive der materiellen Armut notwendig die moralische Gesunkenheit,49 doch aus einer »Charakterdefinition der Armut«50 konnte sowohl eine Strategie der Disziplinierung, als des sozialpolitischen Engagements abgeleitet werden. »Die« sozialpolitische Antwort »des« Bürgertums auf die Herausforderung des Pauperismus blieb also nicht auf Marginalisierung und Disziplinierung beschränkt. Vielmehr mehrten sich gerade in den 1840er Jahren die Stimmen, welche wie Mohl die Entsittlichung prozessual aufFalken und so noch die Möglichkeit sahen, ihre tiefergehenden Ursachen zu bekämpfen. Konsens bestand darin, daß die Zerstörung sozialer Beziehungen in Arbeiterfamilien mit den am englischen Beispiel ersichtlichen Folgen der Industrialisierung und Urbanisierung in Zusammenhang gebracht werden mußte und die Arbeiter somit in Abhängigkeit von Arbeits- und Lebensverhältnissen gerieten, welche als solche offenbar den Sittengesetzen widersprachen. So wandte sich Mohl 1845 gegen sozialpolitischen Quietismus und die einseitige Interpretation des Moralismusproblems: »Eine besondere Abart dieser Spielerei mit den Fragen der Gegenwart ist jener krankhafte Idealismus, der sich träumen läßt, den Pauperismus und die ihn begleitenden Laster und Verbrechen nur mit salbungsvollen Reden zu bekämpfen... Freilich erzeugen Faulheit und Leichtsinn die Liederlichkeit und Armuth; aber auch der dauernde Druck der Armuth fuhrt in sittliche Erniedrigimg und was in der Verkettung der Dinge jetzt als Wirkung erscheint, zeigt sich bald als Ursache«.51

Die so begründete praktisch-empiristische Strömung in der vormärzlichen Publizistik umfaßte liberale und sozialkonservative Ansätze, sie verband sich mit der Tradition des Kameralismus und einem neuen »Sinn für zeitgeschichtliche Realitäten« und zielte darauf, die Beamtenschaft zu einem Eingreifen des Staates zu veranlassen und gesellschaftliche Selbsthilfeinitiativen zu mobilisieren.52 Wie sich an Friedrich Harkort zeigt, spiegelte sich in dieser Strömung sowohl das herkömmliche Konzept einer Marginalisierung einzelner Armengruppen durch die zwangsweise Unterbringung von »Bettler (n) und Müßiggänger(n)« in Arbeitshäusern als auch ein Programm der materiellen Verbesserung von Lebensbedingungen (Arbeitszeitverkürzung, obligatori32

sehe Sozialversicherung, »Verbesserung der Wohnungen«) insbesondere der neuen, zunehmend als Klasse aufgefaßten Fabrikarbeiter.53 In der Zeit nach 1848, einer Periode sozialpolitischer Stagnation, postulierte dann Victor Aime Huber die Möglichkeit, in den Entsittlichungs- und Politisierungsprozeß der »arbeitenden Klassen« einzugreifen. Zweifellos seien »Mangel an Ordnung, an Sparsamkeit, an Reinlichkeit Hauptursachen der Zerrüttung der ökonomischen Verhältnisse«, aber diese Einsicht müsse als Richtschnur für die kommende Sozialreform betrachtet werden, und »materielle Hülfe« sei zu leisten, um »Ordnung, Sparsamkeit, Mäßigkeit, Reinlichkeit« wieder zu rekonstruieren, eine Hilfe, die zuallererst beim verhaltensprägenden Milieu der Wohnungen ansetzen müsse. 54 Die Ärzte, Pfarrer, Armenpfleger und Vertreter der bürgerlichen Selbstverwaltung, die in Breslau Schneer unterstützten, gehörten einer Gruppe sozialpolitisch Interessierter an, die allein aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeiten Kenntnis von der Wohnungsnot der Unterschichten hatten. Zweifellos war eine solche Gruppe nicht repräsentativ für die bürgerlichen Schichten, welche sich auf die Selbstverschuldungsthese zurückzogen und die Existenz der Wohnungsfrage als strukturell angelegtes Problem verdrängten. U m so bedeutungsvoller ist der Ansatz Hubers, welcher als Exponent der frühen Wohnreformbewegung die Existenz einer unabhängig vom Individuum existierenden Wohnungsfrage nachzuweisen suchte.55 Freilich betonte auch er die sozialmoralischen Aspekte der Wöhnreform, doch entscheidend wies er ihr damit ein allgemeines Ziel, die Stabilisierung der Familien in ihrer sozialisatorischen Funktion. 56 Das Leitbild einer intakten Familiarität verband die frühe Wohnreformbewegung mit den Ansätzen der konfessionellen Sozialreformbewegung. Als exemplarisch hierfür kann die Auffassung Kettelers gelten, nur die Familie sei ein Damm gegen die in die Städte hereinbrechende Flut von »Lüderlichkeit und Unsittlichkeit«. 57 Schon in seiner »Denkschrift« von 1849 hatte auf evangelischer Seite Wichern die Rolle der Wohnverhältnisse als Ursache für »Unsittlichkeit« und »Zerspaltung der Stände« betont: 58 Wichern und Huber haben eine Zeitlang in Fragen der Wohnreform zusammengearbeitet. Daß gerade in evangelischen Erweckungskreisen das Idealbild einer regenerierten Familiarität Anklang fand, zeigt eine Rede des publizistisch sehr aktiven Elberfelder Missionsinspektors Fabri: »Der älteste, ursprünglichste und in der Ehe auf unmittelbar göttlicher Einsetzung ruhende, gesellschaftliche Verband ist die Familie. Jede Lockerung dieses Verbandes ... ist eine unseren gesamten sozialen Bestand bedrohende, in Staat und Kirche sich gleicherweise fühlbar machende Calamität... Man muß ja geradezu sagen, die Wohnung ist der äußere Leib der Familie ... Ist aber auch die Wohnung der Leib der Familie und das leibliche Befinden für den Gesamtbestand des Menschen von so hoher Bedeutung, so ist es unvermeidlich, daß jede wirkliche Wohnungsnoth den gesunden Bestand des

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Familienlebens nicht nur stören wird, sondern bei längerer Dauer auf diesen geradezu zerrüttend und auflösend wirken muß«.59

Es ging hier darum, ein sich - gerade im Wuppertal - christlich verstehendes Unternehmerpublikum zu praktischem Engagement in der Wohnungsfrage zu veranlassen. In der frühen Wohnreformbewegung blieb offen, welcher Familientyp gefördert werden sollte. Obwohl Huber bei dieser Frage auf Riehl verwies, wird aus seinem ganzen Argumentationsgang ersichtlich, daß er mit »Familie« nicht die bäuerliche Produktionsgemeinschaft meinte, sondern den neuen Typ der bürgerlichen Familie. Daher führten Huber wie Fabri nicht-religiöse Argumente zur Begründung des Familiaritätsprinzips an. »Ruhe, Erholung und Erheiterung am eigenen Herde und nicht in der Kneipe« solle der Arbeiter finden, so Huber über das Ideal der »Häuslichkeit«, ergänzt durch Fabri, der »gemüthliche« Wohnräume und das für Deutsche und Angelsachsen besonders typische Streben nach einem »eigenen Heerde« für die Wohnreform reklamierte. Dort finde »im Schooß der eigenen Häuslichkeit... die zur Gattin und Mutter gewandelte Jungfrau« ihre Bestimmung und »eigentliche Stätte«, »wo es gilt, ihre Berufstreue und die Tugenden des Weibes leuchten zu lassen«.60 Das Versittüchungsideal entsprach somit nicht einfach einer alten christlichen Verhaltensnorm, sondern griff auch neue bürgerliche Rollenmuster auf.61 Das pragmatische Argument, daß ein Arbeiter durch eine gute Wohnung vom Wirtshausbesuch abgehalten werde, fehlte bis etwa zur Jahrhundertwende in kaum einer wohnreformerischen Publikation. »Familiarität« bezog sich demnach auf den modernen, von Produktionsaufgaben befreiten Familientyp. Die ledigen Schlafgänger mußten von einem solchen Familienleben ausgeschlossen bleiben, was sich bei Huber in ein konkretes Bauprogramm umsetzte, in dem er vorschlug, separate Zimmer für Untermieter neben den Familienwohnungen vorzusehen. In der frühen bürgerlichen Wohnreform ging es zunächst einmal um die Familienwohnung. Vorausgesetzt, dieses Leitbild war akzeptiert, mußten solche Familienwohnungen nicht ausschließlich als Einzelhäuser realisiert werden. Aber Familiarität ließ sich nur in Wohnungen, die einen gewissen Mindeststandard hatten, herstellen: vor allem räumliche Abgeschlossenheit, ein Mindestschutz gegen Lärm und »Unruhe«, der Anspruch, die Wohnung müsse »behaglich« sein, konnten als Kriterien gelten, die sich aus dem Familiaritätskonzept ableiten ließen.62 So besteht die historische Leistung der frühen Wohnreform darin, anstelle der sozialdisziplinierenden Komponenten der Sittlichkeitsdebatte ein praktisch umsetzbares Leitbild entwickelt zu haben, das sich begrifflich als Familiarität fassen läßt. Die normative Kraft des bürgerlichen Familienwohnungsideals und sein Auftreten auf der historischen Bühne sind erklärungsbedürftig. Hierzu gibt es verschiedene Zugänge. Zunächst muß auf die generelle Entwicklung der mittelbürgerlichen Familienstruktur im 19. Jahrhundert hingewiesen wer34

den.63 Diese kennzeichnete ein Prozeß sozialer Separation, der allmählichen Distanzierung der Dienstboten vom Familiengeschehen. Zumindest der Tendenz nach war durch diesen Prozeß ein Freiraum für die Stärkung und Entfaltung innerfamiliärer Binnenbeziehungen eröffnet. In den sich stärker differenzierenden bürgerlichen Schichten gewannen im 19. Jahrhundert Wohnung und Wohnungseinrichtung erheblich an Bedeutung. Aus zahlreichen autobiographischen Zeugnissen läßt sich erschließen, daß, bereits in der Jahrhundertmitte bemerkbar, die Ansprüche an den Wohnkomfort, an Wohnungsgröße und Wohnungsausstattung im Vergleich zum Jahrhundertanfang erheblich gewachsen waren.64 Umso mehr fiel der Kontrast zum praktisch unveränderten Wohnen der Unterschichten auf und provozierte Kritik. Schon während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigte sich, daß die kulturellen Bedürfnisse zumindest bei wohlhabenden Bürgern stiegen: Musik und Literatur spielten eine größere Rolle als zuvor, ein neuer Wohn- und Lebensstil entwickelte sich, der auf gesteigerten geistigen und geselligen Beziehungen innerhalb wie außerhalb der Familie beruhte.65 Mit dem Rückzug der Haushaltsproduktion veränderten sich Frauenrollen in Richtung der Aufwertung emotionaler Komponenten. Je stärker sich im 19. Jahrhundert die Erwerbsarbeit vom Haus räumlich löste, differenzierten sich räumliche Funktionen im bürgerlichen Wohnen. Nicht nur stieg die Bedeutung gesonderter Zimmer. In den Landhäusern der Außenbezirke konstituierte sich ein Bereich »reinen« Wohnens, bei dem berufliche, produktive und z.T. gesellige Funktionen aus dem Haus ausgelagert wurden.66 Dies ist freilich eine idealtypische Beschreibung und galt weniger dort, wo man widrige Lebensbedingungen durchstehen mußte. Etwa in Beamtenhaushalten, die allein auf das Gehalt von Alleinverdienern angewiesen waren, herrschte noch in der Jahrhundertmitte Einfachheit bei der Wohnungsausstattung, verglichen mit der Lebens- und Wohnkultur »gehobener« bürgerlicher Schichten in den führenden Städten. Dem bürgerlichen Prinzip der Familiarität entsprach ein Raumprogramm, das auf die nichtbürgerlichen Schichten übertragen wurde, obwohl sich die Lebenswirklichkeit dieser Schichten dem mehr oder minder stark widersetzte. Bei großen Teilen der Unterschichten fehlten zwar die materiellen Voraussetzungen für räumliche Trennungen gänzlich, es gab jedoch in kleinbürgerlichen Schichten und bei qualifizierten städtischen Arbeiterfamilien eine ausgesprochene Affinität zu bestimmten Kennzeichen bürgerlicher Wohnraumdifferenzierung, etwa zur »guten Stube«.67 Im Laufe des 19. Jahrhunderts drangen bürgerliche Formen der Kommunikation und des Verhaltensstils in andere Schichten ein, ohne daß man daraus aber auf eine generelle »Verbürgerlichung« der gesamten Gesellschaft schließen kann. Die Adaption solcher bürgerlicher Formen ist dadurch zu erklären, daß durch sie Ansprüche an die Wohnqualität verwirklicht werden konnten, mit denen Beengtheit und 35

Armut überwunden werden sollten. Das beim Wohnen sichtbare Streben nach Individualisierung bei den sogenannten kleinen Leuten und die Zunahme repräsentativer Wohnzimmermöbel, auch wenn man diese in beengten Wohnungen nur schwer unterbringen konnte, sollte nicht wie vielfach üblich als eine Anpassung an die kulturellen Muster des Bürgertums abgewertet werden, es entsprach ihrem sozialen Bedarf und signalisierte den Anspruch auf Respektabilität:68 »Setzt man die soziale Herkunft der Arbeiter aus dem handwerklichen oder agrarischen Milieu voraus, dann waren ihnen... Wohnzimmermöbel ... durchaus bekannt und vermutlich liebgewordene Symbole der eigenen Wohlhabenheit«.69 Dieser Wandel der Wohnkultur geschah in sehr langsamem Tempo,und die Verallgemeinerung der Kultur der Privatheit ist ein Phänomen, das sich ganz überwiegend erst in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik vollzogen hat. Die bewußte Orientierung auf bürgerliche Kulturwerte durch die Errungenschaften der Wohnreform konnte im 19. Jahrhundert erst bei sehr kleinen Teilen der Arbeiterschaft gelingen und offensichtlich mußte sie der bürgerlichen Familiaritätsnormen besonders resistenten (Verhaltens-)kultur der unständigen Arbeiter gegenüber scheitern.70 Persönliche Gebrechen und Krankheit, vor allem die Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt zwang diese Arbeiter zum häufigen Wechsel der Wohnungen. Daneben gab es eine Gruppe meist jüngerer, mobiler Arbeiter, die den Arbeitsplatzwechsel als Mittel gesteigerter persönlicher Unabhängigkeit einsetzten. Sie, die als Schlafgänger lebten, lebten einen gegenwartsorientierten Lebensstil in einer halböffentlichen Sphäre. Solange sich der Lebensstandard der Arbeiter nicht generell hob und sich die berufliche Hochmobilität nicht abschwächte, konnte sich die Forderung, Familiarität durch Wohnreform zu erreichen, tatsächlich nur auf ein Segment der Arbeiterschaft beziehen.

1.2.3.

Gesundheit

Schon während der frühen Phase der Urbanisierung fielen die Uberbevölkerung der Altstädte und die zunehmende Belegungsdichte samt ihren sichtbaren Folgen für den hygienischen Standard als offensichtliche Zeichen für die »Wohnungsnot« auf. Gerade Arzte machten zusammen mit den ersten an der Wohnreform interessierten Publizisten auf die neue medizinische Gefahr der »Bevölkerungsdichtigkeit« in Altstadthäusern und der nun entstehenden Massenmietshausquartiere der Großstädte aufmerksam. So wurde etwa bei der schon mehrfach erwähnten Breslauer Enquete Schneers von 1845 über die »Zustände der arbeitenden Klassen in Breslau« von den beiden Armenärzten Blümner und Kalckstein der Ausstattungszustand, die Größe und die Lage der Wohnungen von Industriearbeitern, Gesellen und kleinen Handwerkern untersucht: 36

»Manche Stuben gleichen mehr einem Schweines talle als einer Wohnung für Menschen... Die Stuben... sind klein, so niedrig, daß man kaum aufrecht stehen kann... An den Thüren und Wänden läuft gewöhnlich das Wasser herunter... Sind Kammern daneben, so werden diese wiederum von Aftermiethern bewohnt, welche entweder einzelne Leute sind, wie z.B. Gesellen, oder, was noch häufiger ist, aus ganzen Familien bestehen... Die Wohnungen der arbeitenden Klassen sind meistens in den Höfen gelegen. Die geringe Menge frischer Luft, welche die benachbarten Häuser zulassen, wird dort durch die Ausdünstungen der Ställe und Abtritte verunreinigt. Ferner sind die Leute wegen der hohen Miethspreise genöthigt, ihre Wohnungen mit Schlafgenossen zu theilen und zu Überfullen« (Blümner).71

Kalckstein brachte die Ubermortalität der Unterschichten nicht etwa mit schlechter Ernährung in Zusammenhang, sondern primär mit den widrigen Wohnbedingungen. »Die Ernährungsweise derselben (der arbeitenden Klasse, C.Z.) ist aber keineswegs der Gesundheit so schädlich, daß sie hier in Betracht kommen könnte, Gewerbe, die das Leben besonders gefährdeten, werden hier in keiner großen Ausdehnung getrieben, wir können daher die vorzüglichste Schädlichkeit nur in einer Lebensbedingung finden, von der das Gedeihen der Menschen in seiner ersten Lebenszeit besonders abhängig ist, ich meine die Wohnung.«72 In solchen noch punktuellen Beobachtungen wurde demnach ein Zusammenhang zwischen Überbelegung und hoher Mortalität hergestellt. Von einem bedrängten Wohnen in Mietshäusern zusammen mit allgemeiner Armut und Verelendung mußten Gefahren für die Gesundheit der Menschen ausgehen. Vor allem konnten sich in überbelegten Häusern Infektionskrankheiten rascher ausbreiten, wie etwa in Berlin der Armenarzt und Vorsteher des 12. Medizinalbezirks, Büttner, vermutete: »Aus diesen Notizen (über die Krankheitsstatistik, C.Z.) geht ferner hervor, daß sich die Zahl der Kranken in den v. Wülcknitzschen Häusern von Monat zu Monat vermehrt, ob dies in der fehlerhaften Bauart jener Häuser oder in einer schlechten inneren Ordnung oder in Mangel an Reinlichkeit seinen Grund habe, oder ob das Zusammenpressen der Bewohner in zu enge Räume daran schuld sei...(,) können wir ... nicht untersuchen...«73

Armenärzte wie Büttner machten die Erfahrung, daß sich die Wohnungsinhaber aus materiellen Gründen dazu genötigt sahen, als Untervermieter aufzutreten, was die Belegungsdichte der Wohnungen weiter erhöhte. Doch blieben solche Einsichten zunächst auf einen sehr kleinen Teil der Ärzteschaft beschränkt. Bezeichnend fur die weitere Diskussion über die sozialhygienische Dimension der Wohnungsfrage war nun, daß ökonomischen Gründen für die Überbelegung der Wohnungen im weiteren Diskurs über die gesundheitliche Wohnreform bis in die neunziger Jahre hinein nur wenig Gewicht beigemessen wurde. Der Problembereich Hygiene wurde weitgehend autonom betrachtet und mit immanenten Strategien einzudämmen gesucht. Wo akute gesundheitsgefährdende Zustände bestanden - am augenscheinlichsten in Kellerwohnungen - mußte aber der Staat über polizeiliche Instrumente 37

eingreifen können. Das Leitbild der Gesundheit stand daher in der Wohnreform von Anfang an in Zusammenhang mit der Begründbarkeit staatlicher oder kommunaler Intervention.74 Allerdings handelte es sich primär um eine Assanierung der Städte und erst in zweiter Linie um eine Sanierung des Wohnungswesens. Diese Sicht findet sich, charakteristisch formuliert, in Hermann Wageners, in seinem Conversationslexikon (1866) veröffentlichten, Artikel »Wohnung«: In den Großstädten enthielten Wohnungen »Krankheitsursachen«, die auf »Sümpfe, Canäle ohne frische Wasserströmung und Abzugsgräben in der Nähe der Häuser« zurückgeführt werden könnten.75 Da gerade die Feuchtigkeit von Wohnungen prekär schien, mußte deren Beseitigung ein Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage sein. Daneben gab es aber schon das Bewußtsein für eine engere wohnungshygienische Problematik, das sich in einem Ideal »gesundheitsgemäßer« Wohnungen ausdrückte. Jede Wohnung solle, so ein Artikel in Rentzsch' sozialreformerisch orientiertem »Handwörterbuch der Wolkswirtschaftslehre« von 1866, »aus mindestens zwei Zimmern mit Küche, Speisezimmer und Holzgelaß im Zusammenhang, sowie einem kleinen Vorflur zum ausschließlichen Gebrauch des Miethers bestehen. Die Zimmer müssen hell, womöglich südwärts gelegen und ihre Räumlichkeit der den Haushalt bildenden Personenzahl angemessen sein; für das Schlafzimmer gebührt sich mindestens 500 Kubikfuß (15,45 m3) Luft pro Person. Sie müssen mit Luftzügen versehen, trocken, warm und womöglich durch dem ganzen Haus gemeinsame Heizvorrichtungen heizbar sein«.76 Hier wurden nicht nur anspruchsvolle hygienische Mindestanforderungen formuliert, sondern zugleich ein Zusammenhang zwischen Familienwohnung und Gesundheit hergestellt. Die Zeitgenossen hielten es für evident, daß nur ein »Mehr« an Licht und Luft die Schrecken von »Fäulnis« und »unbewohnbarer Wohnung« beseitigen konnte. Man betrachtete Licht und Luft als »unersetzliche Lebensquelle« mit prophylaktischer Funktion.77 Ein wissenschaftlich gesicherter Zusammenhang zwischen Wohnung und Krankheit konnte damit freilich noch nicht erwiesen werden. Nur die augenscheinlichsten hygienischen Mängel wie durchnäßte Kellerwohnungen mit der Folge skrofulöser und rheumatischer Erkrankungen konnten plausible Argumente für die noch unentfaltete Gesundheitsstrategie im Städte- und Wohnungsbau liefern, die sich erst nach 1870 unter anderen politischen und sozialen Rahmenbedingungen wirklich relevant auf den Wohnungssektor auswirkte.78 Immerhin läßt sich feststellen, daß in der Zeit zwischen 1850 und 1870 zumindest vereinzelt und in der Theorie schon bekannt war, wie eine minimale gesundheitsgemäße Intervention im Wohnungsbau auszusehen habe: In der Entwicklung von Baunormen und Wohnungsstandards, in der Begrenzung von Firsthöhen und Vorschriften über Straßenbreiten.79

38

1.2.4. Kleinhausideal und

Raumprogramm

In seinen nach der Jahrhundertmitte realisierten Bauten für die Berliner Gemeinnützige Baugesellschaft auf der sogenannten »Bremerhöhe« bezog sich der Architekt C.W Hoffmann auf das Vorbild der englischen »cottages«, das nun hier in Berlin verwirklicht werden sollte. Bei der Frage nach dem Bauideal und dem Bauprogramm der frühen Wohnreform greift aber ein enger, architekturhistorisch geprägter Begriff von »cottage« zu kurz.80 Wenn sich die deutsche wohnreformerische Literatur seit den fünfziger und dann wieder ab den neunziger Jahren so viel mit dem »cottage« beschäftigte, so handelt es sich nicht nur um die Übertragung eines bestimmten Grundrisses oder Dekors. Die Rezeption des englischen Cottage hatte sozialpolitische Implikationen insofern, als das Ideal des Kleinhauses sich mit dem Prinzip der abgeschlossenen Familienwohnung verband. Das Cottage-Programm in Deutschland bedeutete also den Bau von Ein- oder Zwei-Familienhäusern, d.h. von Kleinhäusern mit getrennten Familienwohnungen, am besten mit Gärtchen und im Eigenbesitz der Familien. Sicherlich gibt es zunächst einmal eine im engeren Sinne architektonisch geprägte Diskussion, bei der zwei Bauprogramme, nämlich die »Miethskaserne« und das Cottage oder Kleinhaus einander gegenübergestellt werden. Die wohnreformerische Bedeutung des Kleinhauses ist aber umfassender zu verstehen: Es implizierte ein familienpolitisches Leitbild und basierte generell auf dem Verständnis von Wohnreform als Mittel gesellschaftlicher Stabilisierung. Architektonische Formensprache und sozialpolitische Leitbilder standen also in engem wechselseitigem Zusammenhang: »Denn ein mehr oder weniger kasernenartiges Gebäude in der Gemeinschaft des Mieteigenthums mehrerer Familien, allein nach idealen Antheilen getheilt, scheint schon mit dem Begriff des Eigentums nicht vereinbar, wonach die ausschließliche Verfügung über eine individuelle Sache gehört«.81 Mit dieser Kritik an dem Konzept der Berliner Gemeinnützigen Baugesellschaft: (BGB), mehrstöckige Großwohnhäuser zu errichten und die einzelnen Geschoßwohnungen in das Eigentum der Mieter zu überführen, formulierte Adolf Lette als führender Vertreter des CVWaK das Anliegen einer bedeutenden Teilströmung in der bürgerlichen Wohnreformbewegung: Kleinhäuser standen im Mittelpunkt des künftigen Arbeiterwohnungsbaus bzw. des sozialen Wohnbaus für »kleine Leute«, weil mit ihnen konkrete Verbesserungen im gesundheitlichen Standard, vor allem aber die räumliche Abschließung der Wohnungen untereinander erreicht werden konnten. Der Erwerb von Kleinhäusern schien realistischer als der von Eigentumswohnungen. Unter dem »englischen CottageSystem« verstand Lette demnach »kleinere, ein-, höchstens zweistöckige Häuser je für eine Familie, oder wenn unter einem Dache, fur mehrere Familien, doch so, daß sich eine jede Familien-Wohnung vermöge der 39

Absonderung durch Brandmauern usw. als eine fur sich bestehende und selbständige darstellt«.82 Um die Vereinbarkeit dieses Programms mit deutschen Verhältnissen zu beweisen, wies Lette darauf hin, daß es auch in Deutschland Vorbilder für solche Familien-Kleinhäuser gebe, nämlich die preußischen Kolonistenhäuser des 18. Jahrhunderts und bestimmte Bautypen in Westdeutschland. Erst in der späteren Diskussion wurde dann unter einem Cottage ein freistehendes Einfamilienhaus verstanden.83 Wie kam es überhaupt zum Cottage-Ideal? Zunächst ist zu beachten, daß es sich nichtum die Imitation eines regionalen Bautyps handelte. Das Cottage entsprang in England einem vieldiskutierten Bauprogramm, das von agrarromantischen Strömungen im Bildungsbürgertum getragen wurde und sich ästhetisch von einem als monoton verstandenen Städte- und Häuserbau absetzen wollte. Mehr und mehr wurden nach 1800 der Landschaftsgarten und das Landhaus mit seinen Varianten »Villa« und »cottage« für den »gentleman« zum Bauideal. Die Rezeption einer romantisch verstandenen »Gotik« und die Tradition der »villa rustica« spielen hier eine Rolle.84 Fragen einer standesgemäßen Dekoration dieser Häuser beherrschten diese Diskussion. Hier begegnet man dem Leitbild der »privacy«, nach dem jedes Zimmer möglichst gesondert vom Korridor aus zugänglich sein und die Dienerschaft getrennt von der Herrschaft untergebracht werden sollte. Man sagte sich damit vom Ideal der »Herrschaftlichkeit« mit großem »Entree« und überdimensioniertem Salon los. Die funktionelle Anordnung der Räume und geringe Verkehrswege erhielten beim Cottage gegenüber der Villa einen höheren Stellenwert. Seit dem Ende der fünfziger Jahre spielten CottageTypen in der Kunst- und Lebensreformbewegung um William Morris und Philipp Webb eine Rolle. Webbs antiindustrieller Ansatz versuchte ein regional gebundenes, »ehrliches« und handwerkliches Bauen miteinander zu vereinbaren. Abgeschlossenheit der einzelnen Häuser und der Familie spielten in dieser Reformbewegung eine immer größere Rolle. John Ruskins »Religion of the Home« lief in dieselbe Richtung wie das sozialkonservative Integrationskonzept, bei dem die Utopie einer Befriedung durch Familiarität sich mit der Hoffnung auf religiöse Regeneration verband. Auch in England war also die Cottage-Architektur nicht losgelöst von sozialpolitischen Implikationen. Was deren Ubertragbarkeit auf den Arbeiterwohnungsbau anging, so muß zwischen zwei Strömungen unterschieden werden: für die »building societies« stand nur das Kleinhaus im Grünen zur Debatte, nicht so bei den von philantropischen Unternehmern gebauten Arbeitersiedlungen wie in Saltaire und in Halifax und bei den verschiedenen Projekten von »model houses«, soweit diese für die Großstädte gedacht waren.85 So stellte das berühmte, von Prinz Albert auf der ersten Weltausstellung 1851 vorgestellte Arbeiterwohnhaus eigentlich kein »cottage« dar, da es auf zwei Geschossen je zwei Wohnungen vorsah. Wie der Grundriß aber 40

zeigt, wurde bei ihm das Prinzip der Wohnungstrennung konsequent durchgeführt. Vorausschauend sah man eine stabile Konstruktion des Haues vor, um ihm bei hohen Grundstückspreisen noch ein drittes und sogar viertes Stockwerk aufsetzen zu können. Die Anordnung der kleinen Flure, der Waschräume und der Küchen bei diesem Modellhaus muß als zukunftsweisend (vgl. Abb. 2) erscheinen. Die geringe Baumasse und das Familienwohnungsprinzip solcher Projekte beeindruckten in Deutschland. In diesem Zusammenhang soll daraufhingewiesen werden, daß es in Deutschland seit 1850 in der zunehmend an Wirkungsbreite gewinnenden und professioneller geführten architektonischen Debatte zu einer Rezeption des englischen Landhausstils kam, der einer »wohlhabenden Mittelklasse« als Bauideal vorgestellt wurde.86 Dieser Landhausstil hat nach 1900 für die Geschichte des Arbeiterwohnbaus noch einmal hohe Relevanz gewonnen. Das Ideal des kleinen, eigenen Familienhauses mit Garten hat sich also in Deutschland zwischen 1850 und 1860 in deutlicher Abhängigkeit von englischen Vorbildern entwickelt. Das kann bei Hubers Vorstellungen über den Bau von Werkssiedlungen eindeutig gezeigt werden.87 Abb. 2: Das Prinz Albert-Haus auf der Weltausstellung London 1851 a) Ansicht

41

b) Grundriß

A Sink, wlili fotl ||city as

232

Anmerkungen zu S. 15 -18 problem< rather thin the >city as process