Volkskirche: Die Funktionalität einer spezifischen Ekklesiologie in Deutschland nach 1945 9783666623530, 3525623534, 9783525623534

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Volkskirche: Die Funktionalität einer spezifischen Ekklesiologie in Deutschland nach 1945
 9783666623530, 3525623534, 9783525623534

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V&R

Arbeiten zur Pastoraltheologie

Herausgegeben von Peter Cornehl und Friedrich Wintzer

Band 31

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Volkskirche Die Funktionalität einer spezifischen Ekklesiologie in Deutschland nach 1945

Von Andreas Leipold

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsau/nahme

Leipold, Andreas: Volkskirche : die Funktionalität einer spezifischen Ekklesiologie in Deutchland nach 1945 / von Andreas Leipold. - Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1997 (Arbeiten zur Pastoraltheologie ; Bd. 31) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-525-62353-4 kart. © 1997 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Die vorliegende Studie stellt die überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die 1995 von der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen wurde. Sie ist hervorgegangen aus einer längeren Beschäftigung mit ekklesiologischen Grundfragen, bei der mich Herr Prof. Dr. Gerhard Rau ermutigend und verständnisvoll begleitet hat. Dankbar bin ich Herrn Oberlandeskirchenrat Dr. Werner Hassiepen sowie Herrn Prof. Dr. Dr. Michael Welker für manche Anregung. Herr Prof. Dr. Friedrich Wintzer hat sich freundlicherweise für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe eingesetzt. Sehr geholfen hat mir die stetige Aufmunterung durch Imke Schaub sowie die vielfältige Unterstützung seitens meiner Familie und seitens der Familie Schaub. Bad Hersfeld, am Sonntag Laetare 1996

Andreas Leipold

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Inhalt Einleitung I. Zur Herkunft des Begriffs „Volkskirche". Eine theologische Begriffsgeschichte von 1822/23 bis 1945 1. Friedrich Schleiermacher 2. Johann Gottfried Herder 3. Johann Hinrich Wichern 4. Kirchlicher Liberalismus 5. Adolf Stoecker 6. Theodosius Harnack 7. Volkskirchen-ekklesiologische Entwürfe in der Weimarer Republik 7.1. Die religiösen Sozialisten 7.2. Die volkskirchen-ekklesiologischen „Positivisten" 7.3. Die dialektischen Theologen 7.4. Die konfessionellen Volkskirchler 7.5. Die verkündigungsorientierten Volkskirchler 8. Wilhelm Stapel 9. Erich Stange 10. Dietrich Bonhoeffer 11. Resümee 12. Volkskirchen-ekklesiologische Entwürfe von 1933-1945 12.1. Die „Deutschen Christen" 12.2. Die Bekennende Kirche 13. Exkurs: Die Ekklesiologie der Barmer Theologischen Erklärung 14. Fazit: Die Funktionalität des Volkskirchenbegriffs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

II. Volkskirchen-ekklesiologische Entwürfe in Deutschland nach 1945 1. Systematische Vorüberlegungen zum weiteren Vorgehen 2. Volkskirchen-ekklesiologische Entwürfe von 1945-1960: Die unmittelbare Plausibilität einer Volkskirchen-Ekklesiologie 2.1. Edmund Schlink 2.2. Emil Brunner 2.3. Hermann Diem 2.4. Heinz Brunotte

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2.5. Ernst Wolf 2.6. Hans-Otto Wölber 2.7. Erste Bilanz 3. Volkskirchen-ekklesiologische Entwürfe von 1960-1975: Die Legitimationskrise der Volkskirche 3.1. Wolf-Dieter Marsch 3.2. Joachim Matthes 3.3. Werner Jetter 3.4. Werner Simpfendörfer 3.5. Yorick Spiegel 3.6. Trutz Rendtorff 3.7. Niklas Luhmann 3.8. Ernst Lange 3.9. Zwischenbilanz 4. Volkskirchen-ekklesiologische Entwürfe von 1975-1994: Die Volkskirche im Pluralismus 4.1. Peter Krusche 4.2. Rüdiger Schloz 4.3. Johannes Hanselmann 4.4. Jürgen Moltmann 4.5. Theologischer Ausschuß der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands 4.6. Wolfgang Huber 4.7. Gerhard Rau 4.8. Rudolf Weth 4.9. Ellert Herms 4.10. Perspektivkommission der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau 4.11. Herbert Lindner 4.12. Fazit

III. Ergebnis und Ausblick 1. 2. 3. 4.

Volkskirche und Pluralismus Volkskirche als „Mythos" Volkskirche und Öffentlichkeit Aspekte einer gegenwartsbezogenen und zukunftsoffenen Volkskirche

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IV. Literaturverzeichnis

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1. Monographien 2. Zeitschriftenartikel

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Einleitung Mit dem Stichwort „Volkskirche" verbindet sich bei seiner Verwendung in der theologisch-ekklesiologischen Diskussion der Gegenwart zumeist eine gewisse Hemmung oder zumindest eine Unsicherheit. Allgemein kritisiert wird die historische Vieldeutigkeit sowie die systematische Unscharfe des Volkskirchenbegriffs. Suspekt erscheinen volkskirchliche Programme, die scheinbar primär die kirchliche „Bestandserhaltung" im Auge haben. Außerdem fehlt es in manchen Kreisen nicht an der Überzeugung und an Bekundungen für den Wunsch, daß der Volkskirche der Abschied gegeben werden sollte. So schreibt Rudolf Weth in großer Entschiedenheit, daß die Stellungnahme eindeutig sein müsse, „wenn es um die Frage geht, ob ,Volkskirche' auch noch weiterhin als Programmbegriff kirchlichen Handelns vertreten werden kann".1 Weth kommt zu dem Schluß, daß die Volkskirche „kein sinnvolles, theologisch zu rechtfertigendes Ziel kirchlichen Handelns sein" könne: „Es ist höchste Zeit, der ,Volkskirche' als ekklesiologischem Programm für die Zukunft den Abschied zu geben."2 Vorsichtiger stellt Kristian Fechtner in seiner Dissertation über „Konturen volkskirchlichen Christentums" von 1994 die Frage, ob Volkskirche nicht das Synonym für eine Lebensgestalt der Kirche sei, „die einer vergehenden Epoche angehört, in der - und das wohl auch nur auf den ersten Blick - die kirchliche Welt noch intakt gewesen ist"?3 Wenn unter Volkskirche eine das ganze „Volk" umfassende und auf dem Fundament einer allgemein verbindlichen Christlichkeit beruhende Kirche verstanden werde, fänden nach Fechtner selbst kirchensoziologisch ungeübte Betrachter gute Gründe für die These, „daß sich das protestantische Christentum in der Moderne nunmehr in seiner ,nach-volkskirchlichen' Ära befindet".4 Darum soll im folgenden angesichts aller dieser Bedenken, im ständigen Dialog mit den angeführten Kritikpunkten, der Begriff der Volkskirche auf seine geschichtliche und aktuelle Bedeutung hin analysiert werden. Diese Studie möchte sich dabei der Aufgabe stellen, in systematischer Weise den 1 R. Weth, Die Zukunft der Volkskirche und die Kirche der Zukunft, in: ders. (Hg.), Diskussion zur „Theologie des Gemeindeaufbaus", Neukirchen-Vluyn 1986, S.145. 2 R. Weth, Die Zukunft der Volkskirche und die Kirche der Zukunft, a.a.O., S.145. 3 K. Fechtner, Konturen volkskirchlichen Christentums. Das Kirchenverständnis von Ernst Troeltsch und seine Bedeutung für die Ausbildung einer praktisch-theologischen Theorie der Volkskirche, Inauguraldissertation in Marburg 1994, S.l. 4 K. Fechtner, Konturen volkskirchlichen Christentums, a.a.O., S.l.

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Begriff der Volkskirche in seiner Funktion für ekklesiologische Entwürfe nach 1945 zu erörtern, um anschließend eine Hermeneutik der empirischen Kirche zu entwickeln. Eine „praktische" Ekklesiologie sollte hermeneutisch entfaltet werden, da an den vorfindlichen Kirchenkonzeptionen zu prüfen ist, was erhalten, verändert oder weiterentwickelt werden sollte. Die Durchführung des Vorhabens wird sich an der Chronologie der volkskirchen-ekklesiologischen Entwürfe orientieren und dabei in synchronischer Perspektive wichtige Leitworte der Diskussion untersuchen. In einem ersten Teil sollen die Herkunft des Begriffes „Volkskirche" geklärt, seine Begriffsgeschichte bis 1945 nachgezeichnet, seine verschiedenen Wortbedeutungen systematisiert und schließlich wichtige Grundbedeutungen in ihrer theologischen Problematik erörtert werden. Der Hauptteil soll sich den volkskirchen-ekklesiologischen Entwürfen nach 1945 zuwenden und diese in drei gegliederten Zeitabschnitten darstellen und verorten. Dabei werden die jeweils bestimmenden Leitworte ausführlich thematisiert. In einem Schlußteil soll die Frage nach einer theologisch verantwortbaren Zukunftsgestalt der Volkskirche gestellt werden. In den theologischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre, in denen oft die Krise oder das Ende des Volkskirchenmodells diagnostiziert wurde, scheint weithin vergessen, daß „Volkskirche" in den Anfängen einen Reformbegriff darstellte, der ein sehr kritisches Potential beinhaltete. Dieses kritische Potential für die „Kirche auf dem Weg in die Zukunft" fruchtbar zu machen und darüber nicht die gefährliche Mißverständlichkeit des Begriffes „Volkskirche" zu verdrängen, sind Leitgedanken für den folgenden Forschungsbeitrag. Die Frage nach der Zukunftsgestalt der Volkskirche soll am Ende im Hinblick auf den Offentlichkeitsauftrag der Kirche, auf das Verhältnis zwischen Volkskirche und Pluralismus sowie auf ein neues „mythologisches" Verständnis der Volkskirche erörtert werden.

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I. Zur Herkunft des Begriffs „Volkskirche" Eine theologische Begriffsgeschichte von 1822/23 bis 1945 Die zentrale Stellung des Volkskirchenbegriffes im deutschen Protestantismus kennt keine Parallele in außerdeutschen evangelischen Kirchen oder im Katholizismus.1 Vermutlich wurde der Begriff der „Volkskirche" von Friedrich Schleiermacher in seinem erst posthum veröffentlichten Manuskript „Die christliche Sittenlehre" geprägt, das dieser im November 1809 begonnen hatte.2 Der von Schleiermacher verwendete Volksbegriff geht dabei wohl vor allem auf Johann Gottfried Herder zurück und bezeichnet dort nicht mehr eine „soziale Teilgruppe inner- oder unterhalb der Nation", sondern die Nation selbst, deren konstitutive Faktoren für Herder Sprache und Poesie darstellen.3 Zunehmende Wichtigkeit gewann der Volkskirchenbegriff als Zielvorstellung in kirchenreformerischen Diskussionen seit der Mitte des 19.Jahrhunderts aufgrund Johann Hinrich Wicherns Programm der Inneren Mission. Mit dem Begriff der Volkskirche kennzeichnete man dabei seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gewöhnlich jene Arten des Kirchentums, welche sich „durch natürlichen Zuwachs

1 W. Huber, Welche Volkskirche meinen wir?, in LM 14, 1975, S.481; vgl. auch ders., Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, Neukirchen-Vluyn 21985, S.133. Vgl. zur Begriffsgeschichte F. Mahling, Der Wille zur Volkskirche, in: Festschrift für Reinhold Seeberg, Leipzig 1929, Bd.2., S.75ff.; K. Meier, Volkskirche 1918-1945, Ekklesiologie und Zeitgeschichte, München 1982; G. Rau, Volkskirche heute - im Spiegel ihrer theologischen Problematisierung, in: VF 32, 2/1987, S.2-31. 2 W. Huber, a.a.O., S.481 datiert das erste Auftreten des Volkskirchenbegriffes in Schleiermachers Schrift „Die christliche Sitte", hg. v. L. Jonas, Berlin 1843, S.569 in dem Teil über das „darstellende Handeln" (mit H.-J. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, Berlin 1964, S.119) auf die Jahre 1822/23, in welchen Schleiermacher nach den Angaben des Herausgebers Jonas eine Vorlesung über die Christliche Sittenlehre gehalten hatte (H.-J. Birkner, a.a.O., S.15). Vgl. auch das „Deutsche Wörterbuch von J. und W. Grimm", Bd.12, Leipzig 1951, Sp.485, welches ebenfalls F. Schleiermacher, SW I, 12, S.569 als ersten Fundort des Volkskirchenbegriffes bezeichnet. 3 B. Schönemann, Artikel „Volk, Nation VI-XII", in: Otto Brunner (Hg.) u.a., Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1992, S.316.

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ihrer Glieder und Kindertaufe ergänzen" und aus deren Mitgliedschaft man sich erst „seit der Kulturkampfzeit rechtlich lösen konnte".4 Im folgenden sollen nun - beginnend mit Schleiermacher - wichtige volkskirchen-ekklesiologische Entwürfe des 19.Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet und analysiert werden, um so einen Zugang zu der kontextuellen Vielfalt zu gewinnen, in welcher der Begriff Volkskirche nach 1945 verwendet wurde. Dabei ist die Hauptthese dieser Arbeit zu verifizieren oder zu falsifizieren, daß der Volkskirchenbegriff seit dem 19. Jahrhundert einen grundlegenden Bedeutungswandel erfahren hat, ohne dabei dysfunktional zu werden. Gleichzeitig ist die These Trutz Rendtorffs zu überprüfen, daß es zu keinem Zeitpunkt eine einzelne bestimmte Position oder Lehrmeinung vermocht habe, „gleichsam das Kommando zu übernehmen und ihr Kirchenverständnis mit eindeutigem und einseitigem Erfolg der geschichtlichen Realität der Kirche aufzuzwingen", daß vielmehr die „Integrationskraft der Volkskirche ... ihr hervorstechendstes Merkmal" darstellt.5 Vorschnellen Typisierungen scheint sich der Volkskirchenbegriff in seiner wechselvollen Geschichte tatsächlich zu widersetzen. Für Rendtorff besitzt die Volkskirche (in Anlehnung an Artikel 7 der Confessio Augustana) ihren besonderen Charakter darin, daß sie, „theologisch gesprochen", „ihr Subjektsein dem Wort des Evangeliums unterstellt, sich selbst nicht gegenüber den ihr anvertrauten Mitteln von Wort und Sakrament vordrängt, sondern sich als im Bekenntnis gegründet weiß, und daß sie deswegen und mit aller Konsequenz offen ist in der Gestaltung ihres Lebens und ihrer gemeinschaftlichen Realität für die Wirksamkeit Gottes und seiner Welt, von der her sie ihre durch ihren besonderen Auftrag qualifizierte empirische Realität empfängt".6 Von diesem ekklesiologischen Verständnis her sprächen nicht nur historische, sondern vor allem theologische Argumente gegen ein einfach typisierendes Verständnis der Volkskirche. Für eine kritische Uberprüfung der Rendtorffschen These ist die Herausarbeitung wichtiger Strukturelemente des „Problembegriffs Volkskirche" (T. Rendtorff) mittels der Methoden der deskriptiven und der normativen Phänomenologie zunächst unabdingbar. Methodisch folgt die Untersuchung ferner in vielen Abschnitten dem Modus einer „immanenten" Interpretation, die vor allem aus den Primärtexten heraus Paradigmata der volkskirchenekklesiologischen Konzeptionen zu finden versucht.

4 K. Meier, Volkskirche 1918-1945, Ekklesiologie und Zeitgeschichte, München 1982, S. 7. 5 T. Rendtorff, Volkskirche in Deutschland, in: C. Nicolaisen (Hg.), Nordische und Deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert, Göttingen 1982, S.292f. 6 T. Rendtorff, a.a.O., S.295Í.

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1. Friedrich Schleiermacher Der Berliner Theologe verwendet den Begriff „Volkskirche" vor allem als polemischen Kampfbegriff gegen eine obrigkeitlich-konsistoriale Kirche sowie gegen eine königlich oktroyierte Unionsagende in Preußen. Zur Abwehr eines „Zwangsstaatskirchentums" sowie einer „öffentlichkeits-irrelevanten Freikirche"7 beruft Schleiermacher sich auf die Volkskirche als Inbegriff religiöser Gewissensfreiheit, religiöser Selbständigkeit der Gemeinde sowie allgemeinen Priestertums: „Die gegenwärtige Lage der evangelischen Kirche ist überall die, daß sie in ihrer freien Existenz vom Staat beeinträchtigt ist."8 Schleiermacher begründet seine Situationsanalyse mit der geltenden „Zwangsmitgliedschaft" jedes Bürgers in einer Kirchengemeinschaft: „Das Grundübel ist dies, daß in unseren Staaten jeder Bürger gezwungen ist, sich zu einer Kirchengemeinschaft zu halten ... Darum glaubt dann auch der Staat das Richtige in der Lehre der Kirche verschreiben zu müssen. Dies ist ein Zustand völliger Dienstbarkeit und des Mechanismus, und so zerstört der Staat grade was er festhalten will. Die Hauptwirksamkeit muß ausgehen von der öffentlichen Stimme, von den geistigen Autoritäten im Volk und von den Repräsentanten derer, die das religiöse Prinzip anerkannt in sich tragen."9 In seiner Schrift „Die christliche Sitte" geht Schleiermacher auf die zu beobachtende Abhängigkeit der Kirche von der bürgerlichen Gesetzgebung hinsichtlich ihrer äußeren Existenz ein: „Die evangelische Kirche hat den Grundsatz ..., daß jede Landeskirche und jede Volkskirche ein ganzes für sich bilden ... Daß jede Landeskirche und Volkskirche ein ganzes für sich bildet, beweist freilich, eben weil es sich nicht rein an die natürliche Grenze hält, sondern an die politische, eine gewisse Unterordnung der kirchlichen Gemeinschaft unter die bürgerliche·, denn die politischen Grenzen sind an sich der Kirche gleichgültig. "10 Dabei 7 G. Rau, Volkskirche heute - im Spiegel ihrer theologischen Problematisierung, a.a.O., S.23. Nach dem Urteil J. Chr. K. v. Hofmanns ist dabei gerade dies das „größte Verdienst Schleiermachers, daß er „in der Zeit des verlorensten Subjektivismus" herausgestellt habe, welche Bedeutung einer kirchlichen Gemeinschaft zukomme. Ders., Encyklopädie der Theologie, hg. v. H. J. Bestmann, Nördlingen 1879, S.41. 8 F. Schleiermacher, Die praktische Theologie, Berlin 1950, S.672. Dabei ist das Auffällige an Schleiermachers Kirchenbegriff, daß dieser „seinen ursprünglichen Ort gar nicht in der Theologie hat, sondern in der philosophischen Ethik...Die Kirche ist also zunächst gar kein spezifisch christlicher, kein theologischer, sondern ein ethischkulturphilosophisch-soziologischer Begriff." H.-J. Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, Berlin 1964, S.114f. 9 F. Schleiermacher, a.a.O., S. 677. 10 F. Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche, hrsg. aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen von L. Jonas, Berlin 1843, S.569. [Vgl. zur Verwendung des Volkskirchenbegriffs bei Schleiermacher auch: ders., Der christliche Glaube, 2 1831, §151.1 + § 152.1, hrsg. v. M. Redeker, Berlin 'I960, S. 193ff.: „Es ist nun natürlich,... daß die Christen,

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versteht Schleiermacher unter dem bei ihm recht selten vorkommenden Begriff der Volkskirche mit den Worten Ernst Troeltschs „eine möglichst alle Unterschiede in sich ertragende, aufgrund des Gemeingeistes suchende und fortschreitende, synodal verfaßte und vom Staate geschiedene" Kirche. 11

welche einerlei Sprache reden und zu demselben Volk gehören, eine besondere Kirchengemeinschaft bilden; aber solche Volks- und Landeskirchen sind nur die Form, unter welcher allein nach göttlicher Ordnung eine größere Gemeinschaft möglich ist ..." Für Schleiermacher schließen die Volkskirchen also keinesfalls die Gemeinschaft mit anderen Christen aus, „welche nach wie vor stattfindet, sobald die natürlichen Bedingungen dazu gegeben sind" (ebd.).] Nach Y. Spiegel ist Schleiermacher mit seinen Äußerungen zum Staat-Kirche-Verhältnis „in Deutschland der einzige Theologe, der sich bisher ganz der Problematik einer liberal-demokratischen Gesellschaftsform gestellt hat, nachdem die absolutistischen Gesellschaftsordnungen hinfällig geworden waren ... er hat sich ganz der Konsequenz gestellt, daß, wenn die politische Herrschaft nicht mehr auf dem Willen des Monarchen, sondern dem Konsens des Volkes beruht, auch die Herrschaft Gottes nur durch das Medium demokratischer Willensbildung ausgedrückt und verstanden werden kann". Y. Spiegel, Theologie der bürgerlichen Gesellschaft. Sozialphilosophie und Glaubenslehre bei Friedrich Schleiermacher, München 1968, S.257. Bei der Ausübung dieser Herrschaft spielt für Schleiermacher der „Gemeingeist" eine wichtige Rolle, der nicht „der Geist der Freiheit, sondern der Ordnung, der Organisation und der fortschreitenden Aufhebung des Chaos" ist. „Es ist ein Geist, der aus der gegenseitigen Verpflichtung derer erwächst, die das Gemeinwesen bilden." Y. Spiegel, a.a.O., S.244. Dieser Gemeingeist steht schließlich im Zentrum der Kirche, die einen Organismus darstellt, in deren Gliedern der Geist „einend wirkt" (vgl. auch die romantische Organismusidee). M. Jacobs, Die evangelische Lehre von der Kirche, Lüneburg 1962, S.123. 11 E. Troeltsch, Rezension von „E. Förster, Die Entstehung der preußischen Landeskirche unter der Regierung Friedrich Wilhelms III. nach den Quellen erzählt", in: Historische Zeitschrift Bd. 113 Heft 2 September/Oktober 1914, S.375. Troeltsch hat selber keine ausgearbeitete Theorie einer Volkskirche vorgelegt, sondern ist in seinen eigenen ekklesiologischen Überlegungen der Schleiermacherschen Grundorientierung des Volkskirchenbegriffes gefolgt. Volkskirche umschreibt bei ihm einerseits die gegenwärtig notwendige Existenzform von Kirche und andererseits „eine Gestaltungsaufgabe kirchlicher Praxis", indem die Unabhängigkeit vom Staat sowie die „Vielfalt protestantischen Christentums" durch die Volkskirche gestärkt werden soll. K. Fechtner, Konturen volkskirchlichen Christentums. Das Kirchenverständnis von Ernst Troeltsch und seine Bedeutung für die Ausbildung einer praktisch-theologischen Theorie der Volkskirche, Inauguraldissertation in Marburg 1994, S.108. Da nach Troeltsch die sozialethischen Gedanken aus der christlichen Religiosität hervorgehen und für die Erhaltung dieser religiösen Kräfte die Kirche als eigene Organisationsform von großer Wichtigkeit ist, prognostiziert er den Fortbestand der Kirche in der Form, „daß sie die drei Typen von religiöser Sozialität (Kirche, Sekte, Mystik) integriert". G. Rau, Demokratisierung und Bürokratisierung. Zwei konkurrierende Programmbegriffe der Kirchenreform nach 1960, Vorlage für die FEST-Kirchenrechtskommission 1994, S.6. Vgl. E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, S.979ff. Diese Sichtweise Troeltschs steht in direktem Kontrast zu Richard Rothe, der im Staat „die wesentliche Verwirklichungsform der inneren christlichen Gemeinschaft" sah und nicht die Verwandlung der Staatskirchen in Volkskirchen - wie Troeltsch -, 14

Die gänzliche Unterordnung der Kirche unter den Staat, die Schleiermacher zu Beginn des 19. Jahrhunderts konstatiert, ist für ihn deshalb der hauptsächliche Grund für den Verfall des Kirchenwesens: „Der Grund aller dieser Uebel liegt in einigen bei uns seit der Reformation begangenen Fehlern. So wie vorher die Kirche sich zu sehr von dem Staat emancipiert, ja über ihn erhoben hatte, so hat man sie seitdem dem Staate zu sehr untergeordnet und die Ansicht, als ob sie nur ein Institut des Staates zu bestimmten Zwecken wäre, hat seitdem immer mehr überhand genommen."12 Diese Sätze Schleiermachers stammen aus seinem „Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche im preußischen Staat", die Schleiermacher vielleicht bereits während seines Aufenthalts in Königsberg August/September 180813 auf Veranlassung Freiherr vom Steins zu Papier gebracht hat. An konkreten Kritikpunkten zählt Schleiermacher in seiner Einleitung des Verfassungsentwurfes die Besetzung der geistlichen Stellen durch weltliche Staatsbeamte sowie die Art der Zusammensetzung und die Form der Konsistorien auf. „Das Wesentliche der neuen Verfassung würde dann darin bestehen, dass die gesamte Geistlichkeit zweckmäßig in eine Anzahl von Synoden getheilt würde, diese sich zu bestimmten Zeiten versammeln müssten, um über die kirchlichen Angelegenheiten zu beratschlagen."14 Weiter wird in dem Kirchenverfassungsentwurf jegliche Pflicht zur Religionsausübung (Paragraph 1) und aller Parochialzwang (Paragraph 7) aufgehoben. Diese Kirchenordnung hat Schleiermacher nach dem Sturz Freiherr vom Steins bei Friedrich Wilhelm III. eingereicht, der sie nach eigenem Studium an den Minister des Innern, Graf Dohna, weitergab. Sie ist in der Folgezeit jedoch - wie ein zweiter Verfassungsentwurf Schleiermachers - zu keiner Wirkung gekommen.15 Weitere Wege, dem konstatierten Verfall des Kirchenwesens entgegenzuwirken, zeigt Schleiermacher in einem Gutachten „Uber die Mittel, dem Verfall der Religion vorzubeugen" auf: „Allgemein hört man die Bemerkung, die Religion sey im Verfall. Bemerkung, sage ich, weil sie von sehr vielen mit einer Gleichgültigkeit ausgesprochen wird, wie etwa vom Barometerstande nur derjenige redet, der bei der Witterung auch nicht einmal das Interesse eines Spazierganges hat ... Zuerst klagen die Geistlichen ... Was diese eigentlich drückt, ist das Gefühl von dem verringerten Einfluß ihres Standes ... Ferner klagen über den Verfall der Religion auch die sondern den Untergang der Kirche als selbständige Organisationsform von der Zukunft erwartete. R. Rothe, Die Anfänge der christlichen Kirche und ihrer Verfassung, Bd. 1, Wittenberg 1937, S.115. 12 F. Schleiermacher, Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche im preußischen Staat, in: H. Gerdes / E. Hirsch (Hg.), Friedrich Schleiermacher. Kleine Schriften und Predigten, Bd. 2, Berlin 1969, S.119. 13 Vgl. H . Gerdes / E. Hirsch, a.a.O., S. 115. 14 F. Schleiermacher, a.a.O., S.121. 15 Vgl. H . Gerdes / E. Hirsch, a.a.O., S. 115f.

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Weltleute ... nicht in Beziehung auf sich selbst und ihres Gleichen, sondern auf die niedern Ko/feklassen ... Sie haben eine gewisse Erinnerung, daß ehedem als noch mehr äußere Religiosität unter dem Volke herrschte auch manches andere noch anders war und ihnen besser gefiel. Das Volk lebte eingezogener und ehrbarer, es arbeitete wohlfeiler und unermiideter, es zeigte sich unterwürfiger ... Diese herrlichen Eigenschaften sind mit der Religiosität verschwunden ...l