Rückkehrerzählungen: Über die (Un-)Möglichkeit nach 1945 als Jude in Deutschland zu leben [1 ed.] 9783737007993, 9783847107996

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Rückkehrerzählungen: Über die (Un-)Möglichkeit nach 1945 als Jude in Deutschland zu leben [1 ed.]
 9783737007993, 9783847107996

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Formen der Erinnerung

Band 66

Herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann

Bettina Bannasch / Michael Rupp (Hg.)

Rückkehrerzählungen Über die (Un-)Möglichkeit nach 1945 als Jude in Deutschland zu leben

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6169 ISBN 978-3-7370-0799-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Franz Rosenzweig Minerva Research Centers (FRMRC), Hebrew University of Jerusalem. © 2018, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: © M. Rupp / M. Langer 2017.

Inhalt

Bettina Bannasch / Michael Rupp Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Kühne Theodor Herzls „Heimkehr“

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Yonatan Shiloh-Dayan On the Point of Return: Heute und Morgen and the German-speaking Left-wing Émigrés in Palestine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Michael Langer „Gestern bleibt das wahre Heute!“ – Heimat in der Welt von Gestern und Morgen bei Rudolf Kayser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Varun F. Ort ‚Ulysses-wanderers‘. Hannah Arendts Rückkehr nach Deutschland . . . .

81

Michael Rupp „Leben unter den Deutschen“ – Hans Mayer als Ethnograph der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Marguerite Markgraf „Bewältigungsversuche eines Überwältigten“ angesichts einer „Logik der Vernichtung“ – Zur existenzphilosophischen Fundierung der Unmöglichkeit von Rückkehr bei Jean Améry . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Gerhild Rochus „Emigration in die Heimat“ – Paradoxale Konstruktionen von Exil und Rückkehr in der Essayistik Margarete Susmans . . . . . . . . . . . . . . . 143

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Inhalt

Sebastian Schirrmeister Von anderen Orten. Rückkehr, Besuch und Heimsuchung bei Amos Oz . 161 Ofer Waldman Deutsche Distanzräume. Christa Wolf, Thomas Brasch und Marcel Reich-Ranicki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Katharina Baur Rückkehrende Komik oder komische Rückkehr? Positionsbestimmungen in der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur am Beispiel Doron Rabinovicis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Anna Zachmann „Ganz Deutschland ist ein Holocaust-Mahnmal“. Remigration in Edgar Hilsenraths Berlin… Endstation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Bettina Bannasch / Michael Rupp

Einleitung

Remigrationsforschung ist Stückwerk. Dieser Eindruck stellt sich zumindest ein bei dem Versuch, einen Forschungsstand zur deutschen Remigration zusammenzutragen, denn annähernd alle Publikationen auf diesem mittlerweile eigenständigen und sehr umfangreichen Feld sind Editionen oder Einzelbeiträge. Dieser Umstand liegt letztlich in der Ambivalenz und Vielschichtigkeit der Materie begründet, welche den wissenschaftlichen Betrachter zwingen, biografisch, schlaglichtartig und interdisziplinär vorzugehen. Einer der ersten wissenschaftlichen Beiträge, der sich explizit des Themas Remigration im Kontext der Exilforschung annahm, entsprang einer soziologischen Kontroverse und war entsprechend fachbezogen und politisiert.1 Michael Neumann beklagte die flächendeckende Marginalisierung remigrierter Soziologen und interpretierte sie als postfaschistische Kontinuität mit dem Ziel der Tilgung marxistischer Kategorien aus der bundesrepublikanischen Soziologie.2 Eine systematische Annäherung an den Themenkomplex bot erst einige Jahre später die Wahl des Rahmenthemas Exil und Remigration des Jahrbuches für Exilforschung 1991.3 Auch hier wurde die Thematisierung des Gegenstandes zugleich als eine zentrale Kontroverse innerhalb des eigenen Forschungsgebiets ausgewiesen, da nun „was in der bisherigen Exilforschung immer nur als diffuser Hintergrund für das eigene Tun auszumachen war“4, zum expliziten Gegenstand werden sollte. Mauerfall und Deutsche Einheit wirkten hier, durch die Überwindung des „ideologischen Schisma“5, als eine wesentliche Zäsur. Schließlich galt es nun, einen Gegenstand zu historisieren und neu zu verhandeln, der bisher „kommunikativ beschwiegen“ wurde (West) oder nur von „selektive[m] Interesse“6 war (Ost). Die Frage des Umgangs mit Remigranten nach 1945 bildete 1 2 3 4 5 6

Neumann 1984/1985, S. 339–357. Ebd., S. 354. Krohn u. a. 1991. Ebd., S. 9. Loewy 1991, S. 208. Krohn 1991, S. 9.

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somit den Umgang mit der NS-Vergangenheit in Ost und West en miniature ab. So war es den Autoren des Jahrbuches ein Anliegen, das Feld der Remigrationsforschung, welches sie als „Forschungsdebet“7 charakterisierten, grundlegend zu erschließen. Neben diesem unmittelbaren Einfluss übte die Zäsur von 1989/90 außerdem noch mittelbare Impulse auf die Remigrationsforschung aus. Das Selbstverständnis der neuen Bundesrepublik, ein westlicher Staat zu sein, brachte die Frage der „Verwestlichung“ von Politik und Kultur der Nachkriegszeit in den Fokus zeitgeschichtlicher Forschung. Unweigerlich rückte damit die Frage ins Zentrum, welchen Beitrag remigrierte Politiker, Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle zu diesem Prozess leisteten.8 Diese Forschung beruht im Regelfall methodisch auf einem biografisch-institutionellen Querschnitt: die Arbeiten gliedern sich hier in der Regel nach einer Analyse der Institutionen und gesellschaftlichen Sphären einerseits – vor allem Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Medien, Forschung, Kunst und Kultur – sowie biografischer Fallbeispiele innerhalb dieser Wirkungsfelder und Strukturbedingungen andererseits. Diese Synthese ergab im Wesentlichen ein gemischtes Bild, demzufolge „die Rückkehrer durch die deutschen Mehrheitsgesellschaften zwar – gelinde ausgedrückt – nicht gerade überschwänglich begrüßt wurden, aber auch nicht von einer völligen Randstellung die Rede sein kann.“9 Diese Forschung blieb nicht auf die Kernbereiche des Politik- und Kulturbetriebes der alten Bundesrepublik beschränkt, sondern erfuhr wertvolle Ergänzungen in den Bereichen Musik10 und Architektur,11 sowie eine Hinwendung zur Remigration in die DDR.12 Einer der wenigen Beiträge, die sich weder auf die Bundesrepublik, noch auf die DDR beziehen, sondern sich der Remigration nach Österreich widmet,13 kommt zu dem Schluss, dass der Mangel an systematischer Remigrationsforschung in Österreich darauf zurückzuführen sei, dass sich in der Frage der Rückkehrer die vergangenheitspolitischen Widersprüche der Zweiten Republik selbst spiegeln.14 Ein deutlicher Fokus der Forschung liegt auf dem Feld der Literatur, wo die Bruchlinien besonders frappant zu Tage traten. Die Gegensätze zwischen „innerer Emigration“ bzw. literarischen Neuanfängen einerseits und Exil andererseits schienen oftmals unversöhnlich.15 Symptomatisch kamen die verhärteten 7 Papke 1991, S. 9–25. 8 Krohn/von zur Mühlen 1997. Krohn/Schildt 2002. Grisko/Walter 2011. Körner 2004, S. 218– 236. Braese 2001, S. 227–253. 9 von der Lühe/Schmidt/Schüler-Springorum 2008, S. 9. 10 Köster/Schmidt 2005. 11 Schätzke 1999. 12 Hartewig 2000. 13 Embacher 2001, S. 187–209. 14 Ebd., S. 207ff. 15 von der Lühe/Krohn 2005.

Einleitung

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Fronten in der „großen Kontroverse“ um die Nicht-Rückkehr Thomas Manns zum Ausdruck.16 Ob die Vertreter der Gruppe 47, allen voran Hans-Werner Richter, tatsächlich eine von Antisemitismus unterfütterte, radikale „Identitätspolitik“17 betrieben, sei dahingestellt. Jedenfalls erschwerten unterschiedliche ästhetische Konzeptionen, sowie der Wunsch der „jungen Literatur“, sich deutlich abzusetzen, für lange Zeit einen fruchtbaren Austausch. Aus der biografischen Herangehensweise ergab sich schließlich eine Art „Subjektivierung“ und somit eine Akzentverschiebung hin zur Erfahrungsperspektive der Exilierten selbst. Die erste umfassende Synthese von Marita Krauss stellt hierbei noch immer ein Referenzwerk dar.18 Sie charakterisiert Remigrationsforschung im Kern als eine „Nach- und Wirkungsgeschichte des Exils“19 und deduziert kollektivbiografische Motive und Zäsuren, die ihre Monografie gliedern. Bearbeitet wird in diesem Kontext auch die Frage nach dem Zusammenhang von Exilierungsgrund und Remigrationsabsichten, wobei als Regel gelten kann: „Je ‚politischer‘ der Emigrationsgrund, desto größer der Rückkehrwunsch.“20 Dabei ist klar, dass die Verfolgung aufgrund von Zugehörigkeit zum Judentum sich von anderen Gründen abhebt, wenngleich sich die Ebenen in vielen Biografien nicht klar trennen lassen. Eine Hinwendung zur speziell jüdischen Remigration ist in jüngerer Zeit deutlich feststellbar.21 Sie steht zweifellos im Kontext von Enttabuisierung und allgemein gestiegenem Forschungsinteresse an der Geschichte deutscher Juden nach der Shoah22 und stellt eine „Zusammenführung der beiden Forschungsstränge der Exil- und Remigrationsgeschichte und der deutsch-jüdischen Zeitgeschichte“ dar.23 In der Forschung zur deutsch-jüdischen Remigration kristallisiert sich aufgrund dieser besonderen Umstände der Themenkomplex Identität und Identitätszuschreibung24 als paradigmatisch heraus. Von der Lühe, Schildt und Schüler-Springorum heben dabei die besondere Bedeutung literaturwissenschaftlicher Fragestellungen und Methoden hervor. Schließlich seien diese in besonderer Weise geeignet, per-

16 Grundlegend hierzu die Arbeiten von Gregor Streim, zuletzt Deutschsprachige Literatur 1933–1945. Eine Einführung. Berlin 2015. Zu begriffs- und diskursgeschichtlichen Aspekten vgl. Bannasch 2013, S. 57–84. 17 Briegleb 2005, S. 95. 18 Krauss 2001. 19 Ebd., S. 14. 20 Ebd., S. 11. 21 Krauss 2004, S. 107–119. von der Lühe/Schmidt/Schüler-Springorum 2008. von der BorchNitzling 2007. 22 Wir folgen hier Aschkenasi 2014, S. 22. Brenner 2012. 23 Vgl. Schüler-Springorum (u. a.) 2008, S. 1. Vgl. hierzu auch Bannasch/Schreckenberger/ Steinweis 2016, S. 9–14. 24 Vgl. Heinsohn 2008, S. 69–85.

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sönliche Haltungen, Bewältigungsstrategien und Ambivalenzen seitens der Remigranten aus persönlichen und literarischen Dokumenten herauszuarbeiten.25 Der vorliegende Band setzt an diesem Punkt an und ist das Produkt einer dreijährigen Zusammenarbeit des Franz-Rosenzweig-Minerva-Zentrums an der Hebräischen Universität Jerusalem und der Universität Augsburg. Im Rahmen eines interdisziplinären Kolloquiums zum Thema Jüdische Kultur und Literatur in Deutschland nach 1945 begleitete das Kolloquium eine Gruppe von israelischen und deutschen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern in der Phase der Erstellung ihrer Abschlussarbeiten und Dissertationen und bot in vier aufeinander aufbauenden, gemeinsam durchgeführten Seminaren die Möglichkeit zu Diskussion, Austausch und gegenseitiger Orientierung. Abgeschlossen wurde das Kolloquium durch eine Tagung zum Thema Rückkehr-Erzählungen. Über die (Un)Möglichkeit nach 1945 in Deutschland als Jude zu leben, die vom 23.–25. 02. 2015 in Augsburg stattfand. Kolloquium und Tagung waren getragen vom Gedanken der Interdisziplinarität, wobei eine enge Verzahnung der am Projekt beteiligten Fächer Geschichtswissenschaft (Prof. Yfaat Weiss, Jerusalem) und Literaturwissenschaft (Prof. Bettina Bannasch, Augsburg) angestrebt wurde. Die Vorträge der Abschlusstagung bildeten die Grundlage der hier publizierten Forschungsbeiträge. Die Vielgestaltigkeit der Forschungsinteressen aller beteiligten Nachwuchswissenschaftler und Nachwuchswissenschaftlerinnen spiegelt sich in der breiten Fächerung der hier behandelten Themen. Allen ist die interdisziplinäre Methode und die Beschäftigung mit literarischen Zeugnissen jüdischer Remigration gemein.26 Eine chronologische Gliederung des Bandes entlang der Zäsuren 1933–1945–1989 schien dabei ebenso einfach wie zielführend zu sein. Mit größter Sorgfalt und freundlichem Langmut besorgte Inge Lev das Lektorat. Unser Dank an sie kommt von Herzen. Eines der studentischen Mitglieder der Arbeitsgruppe, Karin Binder, erkrankte und starb in der Zeit unserer Zusammenarbeit. Der Erinnerung an Karin (1985–2016) ist dieser Band gewidmet. Eingeleitet wird der Band von einer Betrachtung des Topos „Rückkehr“ in der jüdischen Kultur- und Ideengeschichte vor 1933. Jan Kühne geht der Frage nach, welche neuen Perspektiven das schriftstellerische Schaffen Sammy Gronemanns auf den Begründer der zionistischen Bewegung Theodor Herzl wirft. Im Zentrum steht dabei der Text Theodor Herzls Heimkehr von 1904, in dem Gronemann – selbst ein Wegbegleiter Herzls und eine Führungsfigur der zionistischen Bewegung – die Überführung von Herzls natürlichem Körper von Wien nach Palästina antizipiert. Diese zugleich metaphorische und reale Remigration des 25 Schüler-Springorum (u. a.) 2008, S. 14f. 26 Beziehungsweise der Verweigerung von Remigration, wie im Falle von Hannah Arendt oder Jean Améry.

Einleitung

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politischen Körpers der Judenheit nach Erez Israel wird im Kontext bisher unbekannten Archivmaterials gelesen. Yonatan Shiloh-Dayan untersucht anhand der Zeitschrift Heute und Morgen: antifaschistische Revue die gesellschaftliche Stellung und das politische Wirken der mitteleuropäischen linken Emigranten in Palästina während des Zweiten Weltkriegs. Diese Analyse wirft ein Licht auf die lokalen und internationalen Handlungsspielräume dieser meist deutschsprachigen Emigranten in Palästina zwischen Isolation und Vernetzung, unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen ihres Willens zur Rückkehr in ein erhofftes antifaschistisches Nachkriegsdeutschland. Die Frage, weshalb der Berliner Kulturjournalist, Herausgeber und Schriftsteller Rudolf Kayser sich nach 1945 nicht zu einer Rückkehr nach Deutschland entschied, beleuchtet Michael Langer in seinem Beitrag. Er betrachtet dabei Kaysers philosophische und religiöse Entwicklung in den Jahren des Exils und rekonstruiert dessen Erwartungen an ein auf christlich-humanistischen Werten neu zu errichtendes Europa. Erst ein solches sei, so ist Kayser überzeugt, wieder in der Lage, einen sinnvollen Kontakt zum Judentum herzustellen. In der Ferne verharrend und abwartend charakterisiert sich Kayser selbst (in Anlehnung an Max Brod) als „Distanzdeutschen“. Varun F. Ort untersucht in seinem Beitrag Hannah Arendts „Report from Germany“, den Bericht über ihre erstmalige Rückkehr in das Deutschland der Nachkriegszeit. Er legt dabei das Hauptaugenmerk auf Arendts Erzählhaltung, die sich strikt jedweden persönlichen Ausdrucks enthält. Diese Erzählhaltung deutet er als eine textuelle Strategie, die in der Unterdrückung der Remigrationsfrage ein Statement abgibt. Dafür rekontextualisiert er den Text innerhalb von Arendts politischer Philosophie und betrachtet ihn als Fortführung ihrer Beschreibung der entwurzelnden Exil-Erfahrung mit Hilfe des Odysseus-Motivs. Mit Hans Mayers Autobiografie „Deutscher auf Widerruf“, insbesondere mit der Beschreibung von dessen Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1945, beschäftigt sich Michael Rupp. Er zeigt, dass Mayers Remigrationserzählung starke Züge ethnographischer Essayistik aufweist. Rupp argumentiert, dass diese Erzählhaltung von Mayer bewusst gewählt wurde, um seine existenzielle Grundproblematik der Identität im Rahmen von gesellschaftlicher Totalität und „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ darstellbar zu machen. Marguerite Markgraf verortet in ihrem Beitrag die Begründung der Unmöglichkeit von Remigration in der Essayistik Jean Amérys im Rahmen von dessen Existenzphilosophie. Dezidiert benennt Améry mit dem „Ressentiment“ den Grund für die nach 1945 unmögliche Rückkehr in sein Herkunftsland. Lediglich die Rückkehr zum Menschsein und in ein würdevolles Leben strebte Améry mit Hilfe einer „Revolte“ – und kurzzeitig auch durch die von Frantz Fanon propagierte Philosophie der Violenz – an.

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Die Begriffe von Exil und Heimat in den Essays der deutsch-jüdischen Literaturtheoretikerin, Philosophin, Lyrikerin und Essayistin Margarete Susman analysiert Gerhild Rochus. Susman unternimmt in ihren Essays über die Relektüre jüdischer Denkfiguren den Versuch einer Reformulierung jüdischen Selbstverständnisses im Kontext von Exil und Shoah. Im Rekurs auf jüdische Denk- und Traditionshorizonte entwirft Susman eine Poetik des Exils, die die spezifisch jüdische Erfahrung einer diasporischen Existenz mit der conditio humana des modernen Individuums verschränkt. Die Frage der Rückkehr wird somit von einer geograpfisch-politischen zu einer philosophisch-existenziellen. Im Zentrum von Sebastian Schirrmeisters Beitrag steht der erste Roman von Amos Oz aus dem Jahr 1966, dessen Titel Makom Aher – Ein anderer Ort – ˙ unmissverständlich erkennen lässt, dass hier Gegenposition bezogen wird zu dem zionistischen Diktum, es gäbe nach der Shoah keinen anderen Ort als Israel, um als Jude zu leben. Schirrmeister arbeitet dabei die drei eng miteinander verbundenen Bewegungsfiguren Rückkehr, Besuch und Heimsuchung heraus und untersucht, auf welche Weise Deutschland in einem Roman, der vollständig in Israel spielt, dennoch einen zentralen Referenzpunkt bildet. Auch dort, wo sie nicht verwirklicht wird, nimmt die denkbare oder undenkbare Rückkehr nicht nur auf den Verlauf der Romanhandlung Einfluss, sondern noch auf den Modus des Erzählens selbst. Ofer Waldman rekontextualisiert die Wolf-Reich-Ranicki-Debatte der 1990er Jahre im Kontext von Christa Wolfs Laudatio, gehalten anläßlich des KleistPreises 1987 auf den elf Jahre zuvor in die Bundesrepublik emigrierten, deutschjüdischen Dichter und Dramatiker Thomas Brasch. Waldman kritisiert dabei die gängige ahistorische Lesart von Wolfs politischer Selbst-Positionierung, die 1987 lediglich als „Moment vor dem Moment“ begreift. Auf diese Weise legt Waldman den Blick frei auf andere diskursive Parameter, welche den eigentlichen Unterboden dieser Auseinandersetzung bilden, darunter die Implikationen von Braschs familiärer Herkunft als einem Sohn von jüdisch-kommunistischen Remigranten. Katharina Baur untersucht in ihrem Beitrag den Zusammenhang der Begriffe von Heimat und Identität in den Werken von Autorinnen und Autoren der sogenannten Zweiten Generation. Exemplarisch analysiert sie drei Romane des österreichischen Autors Doron Rabinovici – Andernorts, Suche nach M. und Ohnehin – und stellt dabei die narrative Funktion des Humors ins Zentrum ihrer Betrachtungen. Komik, so ihre Beobachtung, stellt in den Werken Rabinovicis und jener Autorinnen und Autoren, die der Zweiten Generation zugerechnet werden, eine Verarbeitungsstrategie dar, die eine Rückkehr möglich macht; das „Lachen, das im Halse stecken bleibt“ markiert dabei just jene Grenze zwischen Verarbeitetem und zu Verarbeitendem.

Einleitung

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Abgeschlossen wird der Band durch einen Beitrag von Anna Zachmann. Sie untersucht die Darstellung von Remigration in Edgar Hilsenraths Roman Berlin… Endstation. Im Zentrum ihrer Betrachtungen steht dabei die Analyse der zahlreichen Ambivalenzen, Stereotype und Klischees, von denen dieser Text, ebenso wie Hilsenraths andere Romane durchzogen ist – um aufgerufen und immer wieder aufs Neue gebrochen zu werden. Die exemplarische Untersuchung von Berlin… Endstation vollzieht nach, wie Hilsenrath gängige Täter-OpferIdentitäten und mit ihnen ein klischiertes Verständnis von Exil und Remigration unterläuft.

Literatur Aschkenasi, Marina: Jüdische Remigration nach 1945. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (2014), Heft 42, S. 22–27. Bannasch, Bettina: Literatur der inneren Emigration. Begriffs- und diskursgeschichtliche Überlegungen. In: Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Hg. v. Bettina Bannasch u. Gerhild Rochus. Berlin, Boston 2013, S. 57– 84. Bannasch, Bettina, Helga Schreckenberger u. Alan E. Steinweis: Exil und Shoah. Zur Einleitung. In: Exil und Shoah. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 34. Hg. v. Bettina Bannasch, Helga Schreckenberger u. Alan Steinweis. München 2016, S. 9–14. Braese, Stephan: Nach Exil. Zu einem Entstehungsort westdeutscher Nachkriegsliteratur. In: Exil und Remigration. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 9. Hg. v. Claus-Dieter Krohn, Erwin Rotermund, Lutz Winckler u. Wulf Köpke. München 1991, S. 227–253. Brenner, Michael: Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. München 2012. Briegleb, Klaus: „Re-Migranten“. Die Gruppe 47 und der Antisemitismus. In: Fremdes Heimatland. Remigration und literarisches Leben nach 1945. Hg. v. Irmela von der Lühe u. Claus-Dieter Krohn. Göttingen 2005, S. 93–118, hier S. 95. Embacher, Helga: Eine Heimkehr gibt es nicht? Remigration nach Österreich. In: Jüdische Emigration. Zwischen Assimilation und Verfolgung, Akkulturation und jüdischer Identität. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 19. Hg. v. Claus-Dieter Krohn, Erwin Rotermund, Lutz Winckler, Irmtrud Wojak u. Wulf Köpke. München 2001, S. 187–209. Grisko, Michael u. Henrike Walter (Hg.): Verfolgt und umstritten! Remigrierte Künstler im Nachkriegsdeutschland. Frankfurt a.M. 2011. Hartewig, Karin: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR. Köln 2000. Heinsohn, Kirsten: „Aber es kommt auch darauf an, wie einen die anderen sehen.“ Jüdische Identifikation und Remigration. In: „Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause“. Jüdische Remigration nach 1945. Hg. v. Irmela von der Lühe, Axel Schmidt u. Stefanie Schüler-Springorum. Göttingen 2008, S. 69–85.

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Körner, Klaus: Fortleben des politischen Exils in der Bundesrepublik. Johann Fladung und der Progress-Verlag 1950–1972. In: Bücher, Verlage, Medien. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 22. Hg. v. Claus-Dieter Krohn, Erwin Rotermund, Lutz Winckler u. Wulf Köpke unter Mitarbeit von Ernst Fischer. München 2004, S. 218–236. Köster, Maren u. Dörte Schmidt: Man kehrt nie zurück, immer geht man nur fort. Musikkultur und Remigration. München 2005. Krauss, Marita: Jewish Remigration: An Overview of an Emerging Discipline. In: Leo Baeck Yearbook XLIX (2004), S. 107–119. Krauss, Marita: Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945. München 2001. Krohn, Claus-Dieter u. Axel Schildt: Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit. Hamburg 2002. Krohn, Claus-Dieter u. Patrik von zur Mühlen (Hg.): Rückkehr und Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands. Marburg 1997. Krohn, Claus-Dieter, Erwin Rotermund, Lutz Winckler u. Wulf Köpke (Hg.): Exil und Remigration. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 9. München 1991. Loewy, Ernst: Zum Paradigmenwechsel in der Exilliteraturforschung. In: Exil und Remigration. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 9. Hg. v. Claus-Dieter Krohn, Erwin Rotermund, Lutz Winckler u. Wulf Köpke. München 1991, S. 208–217. Neumann, Michael: Lektionen ohne Widerhall. Bemerkungen zum Einfluß von Remigranten auf die Entwicklung der westdeutschen Nachkriegssoziologie. In: Erinnerungen ans Exil – kritische Lektüre der Autobiographien nach 1933 und andere Themen. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 2. Hg. v. Thomas Koebner, Wulf Köpke u. Joachim Radkau. München 1984, S. 339–357. Papke, Sven: Exil und Remigration als öffentliches Ärgernis. Zur Soziologie eines Tabus. In: Exil und Remigration. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 9. Hg. v. ClausDieter Krohn, Erwin Rotermund, Lutz Winckler u. Wulf Köpke. München 1991, S. 9–25. Schätzke, Andreas: Rückkehr aus dem Exil. Bildende Künste und Architekten in der SBZ und DDR. Berlin 1999. Streim, Gregor: Deutschsprachige Literatur 1933–1945. Eine Einführung. Berlin 2015. von der Borch-Nitzling, Alexander: (Un)heimliche Heimat. Deutsche Juden nach 1945 zwischen Abkehr und Rückkehr. Oldenburg 2007. von der Lühe, Irmela, Axel Schmidt u. Stefanie Schüler-Springorum (Hg.): „Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause“. Jüdische Remigration nach 1945. Göttingen 2008. von der Lühe, Irmela u. Claus-Dieter Krohn: Fremdes Heimatland. Remigration und literarisches Leben nach 1945. Göttingen 2005.

Jan Kühne

Theodor Herzls „Heimkehr“

Einleitung Kontrastiert man die Überführung von Herzls Leichnam von Wien nach Jerusalem im Jahre 1949 mit der von Sammy Gronemann im Jahre 1904 literarisch antizipierten, worin diese als „Heimkehr“ Herzls gelesen wird, so wird deutlich, dass Gronemann nicht nur die ‚Rückführung‘ von Herzls natürlichem Körper beschreibt, sondern eine metaphorische Remigration des politischen Körpers der Judenheit nach Palästina/Erez Israel. An der institutionellen Leitung dieses Körpers – dem zionistischen Kongress – war der Rabbinersohn Gronemann (1875–1952) als langjähriger oberster Richter des Kongressgerichts (1911–1946) beteiligt gewesen und wurde als „konstitutionelles Gewissen der zionistischen Bewegung“ bezeichnet.1 Martin Buber erkannte früh Gronemanns schriftstellerisches Talent.2 1920 gelang Gronemann sein schriftstellerisches Debut mit dem satirischen Roman Tohuwabohu, dem weitere erfolgreiche Bücher folgten.3 Nach seiner im Anschluss an die Flucht aus Berlin im Jahre 1933 erfolgten Emigration nach Palästina (Tel Aviv) im Jahre 1936 gelang ihm mit Der Weise und der Narr ein bleibender Beitrag zum Repertoire des hebräischen Theaters, das, in der Übersetzung Nathan Altermans, „das erfolgreichste hebräische Stück aller Zeiten“ wurde.4 Gronemann hob sich aus der Generation seiner pathosgeladenen zionistischen Zeitgenossen durch einen satirischen Humor hervor, der ihm u. a. den Titel eines „Schalom Aleichem der Jeckes“5, bzw. eines „Aristophanes der zionisti-

1 Gottesmann 1938. Zu Gronemann siehe Kühne 2015. Mittelmann 2004. 2 Kühne: Die zionistische Komödie, 2016, Kap. 3.2. 3 Gronemann: Hawdoloh und Zapfenstreich [1924], 1984. Gronemann: Schalet [1927], 1998. Gronemann: Erinnerungen, 2002. Gronemann: Erinnerungen an meine Jahre in Berlin 2004. Eine kritische Gesamtausgabe ist in Vorbereitung. 4 Lewy 2016, S. 143. Siehe auch Kühne: Die zionistische Komödie, 2016, Kap. 2.2.5. 5 Weisselberger 1936. Ben-Chorin 1945.

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Jan Kühne

schen Bewegung“ eintrug.6 Aus diesem Grund suchte ihn Herzl im Jahre 1904 als Chefredakteur für die zionistische Satirezeitschrift Schlemiel zu engagieren, was Gronemann aufgrund seiner vielen Verpflichtungen und Tätigkeiten aus Zeitgründen zwar ablehnte; dennoch sind seine Beiträge in fast jeder Ausgabe zu finden.7 Gronemann erfreute sich somit einer, innerhalb der zionistischen Bewegung einzigartigen Narrenfreiheit. Diese Vertrautheit ermöglicht dem Leser Gronemanns eine neue Perspektive auf den Begründer des politischen Zionismus, Theodor Herzl, die im Folgenden, im Moment der literarischen und tatsächlichen posthumen Remigration anhand von drei Aspekten erörtert werden soll: 1. in Bezug auf Gronemanns Kurzgeschichte Theodor Herzls Heimkehr aus dem Jahre 1904, 2. hinsichtlich Gronemanns theatralischer Wahrnehmung von Herzls Stellung im zionistischen Kongress, sowie abschließend und 3. im Vergleich von Gronemanns Hagiografie mit der David Ben-Gurions.

1.

Theodor Herzls „Heimkehr“ Nach einigen Minuten kam meine Frau wieder, setzte sich still an den Tisch und versuchte, im Essen fortzufahren. Dann aber legte sie Messer und Gabel beiseite, legte den Kopf auf den Tisch, brach in Tränen aus und sagte nur: „Das jüdische Volk hat kein Glück.“ Da wußte ich Bescheid. Das verhängnisvolle Telegramm mit der Mitteilung von Herzls Tod war eingetroffen. Am Tage der Beisetzung Theodor Herzls wurde ich vom Präsidenten des Landgerichts Hannover als Anwalt vereidigt.8 Sammy Gronemann

Am 7. Juli 1904, vier Tage nach seinem Erliegen an Herzleiden und Lungenentzündung, wurde Theodor Herzl auf dem Döblinger Friedhof zu Wien nach jüdischem Brauch beigesetzt. Noch vor seinem Tod hatte Herzl die Überführung seines Leichnams nach Palästina verfügt und wiederholt mündlich den Wunsch geäußert, seine endgültige Ruhestätte auf den Anhöhen des Karmel in Haifa zu finden,9 sobald der von ihm visionär propagierte Judenstaat Wirklichkeit werden würde. Am 24. November 1948 befürwortete die Knesset des eben erst gegründeten Staates Israel die Überführung Herzls und gründete zu diesem Zweck ein Untersuchungs- und Aktionskomitee.10 Knapp neun Monate später, am 16. Au-

6 7 8 9

Auerbach 1952, S. 3. Kühne: Die zionistische Komödie, 2016, Kap. 2.1. Gronemann: Erinnerungen, 2002, S. 270. Siehe das Protokoll „Die Frage der Ueberfuehrung der Gebeine Herzl’s nach Erez–Israel“, in: Central Zionist Archives Jerusalem (CZA), Sign. A 135/35, S. 12. 10 Feldstein 2003.

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gust 1949 wurden Herzls Überreste auf eine Anhöhe im Jerusalemer Wald überführt, der seitdem den Namen Har-Herzl trägt: Herzlberg.11 Eine sich über Jahrzehnte erstreckende Debatte war dieser nicht nur den Wunsch des Toten übergehenden Entscheidung vorausgegangen.12 Seit 1925 war der Begräbnisort Herzls kontrovers diskutiert worden, den sich Herzl zwar auf dem Karmel gewünscht, aber nie schriftlich fixiert hatte.13 „Herzl verdient, dass man seinen Willen befolgt,“ so lautete am 27. 6. 1935 der Mehrheitsentscheid des Herzl-Komitees für ein Begräbnis auf dem Karmel, dem neben Gronemann namhafte Zionisten wie Chaim Weizmann und David Ben-Gurion zustimmten.14 „Jerusalem bleibt Jerusalem, auch ohne die Grabstätte Herzls,“ wurde als Schlussargument gegen die Sokolow-Fraktion angeführt, die Jerusalem als Zion und somit als würdigste Begräbnisstätte für denjenigen ansah, der das jüdische Volk dorthin geführt habe.15 Sammy Gronemann wurde nach Herzls Tod einer der Verwalter seines Archivs16 und mitverantwortlich für die Veröffentlichung von Herzls Briefen.17 Zwar hatte er 1935 für Herzls Begräbnis in Jerusalem optiert, doch in einer im August 1904 veröffentlichten Kurzgeschichte Gronemanns, die die Überführung der Gebeine Herzls in den zukünftigen Judenstaat antizipiert, bleibt die Frage des genauen Begräbnisortes im „heiligen Boden des Vaterlandes“ noch offen.18 Im Vordergrund steht die politische Gründungsfigur und nicht dessen politische Agenda, die sich im Laufe seines Lebens entwickelte und wesentlich veränderte. Vor seiner „territorialen Wende“19 war Herzl die geografische Lage des Juden11 Prigl 1999. Herzl Museum: Herzl’s Funerals. Verfügbar unter: http://www.herzl.org/english/ PicturesGallery.aspx?Gallery=12 [26. 6. 2014]. Feldstein 2007. 12 Siehe Briefwechsel Gronemann–Avadio, Jerusalem, CZA A 135/35, S. 1–6, S. 12. 13 Siehe die Zeugenaussagen verschiedener Vertrauter Herzls, darunter sein Nachfolger David Wolffsohn, sein Testamentsvollstrecker Moritz Reichenfeld, die Sekretäre Isidor Schalit und Arie Hirsch Reich sowie der enge Mitarbeiter Johann Kremenezky und anderer. 1933 wurde von Nachum Sokolow ein Komitee in Wien einberufen, dessen Entschluss, Herzl in Jerusalem zu begraben, wiederum von einem Herzl-Komitee unter der Leitung von Menachem Ussishkin im Jahre 1935 revidiert wurde. Hintergrund der Debatte war auch die Konkurrenz zwischen den Städten Haifa, Jerusalem und Tel Aviv. Ebd., A 135/35, S. 12. Insbesondere Nachum Sokolow versuchte die Entscheidung der Exekutive zugunsten Jerusalems zu beeinflussen. Dies stellte eine Gefahr für jene Komiteemitglieder dar, die – darunter Gronemann – versuchten, „den reinen Willen Herzls [zu] ergründen“. Siehe Protokoll 1. Sitzung, 4. 9. 1935. Ebd., A 135/35, S. 7f., 11. 14 Ebd., A 135/35, S. 26. 15 Ebd., A 135/35. Siehe auch: Mittelmann: Gronemann 2004, 120f. 16 CZA A 135/35. Vgl. Merchán-Hamann 2002, S. 79. 17 CZA A 135/35. Siehe auch Merchán-Hamann 2002, S. 100. 18 Gronemann: Theodor Herzls Heimkehr 1904. 19 Bodenheimer 2002, S. 54f. Für die Errichtung eines Judenstaats schlägt Herzl u. a. Palästina und Argentinien vor, und zehn Jahre später, auf ein britisches Angebot hin, auch Uganda. Herzl: „Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen“ 1985. Der Orientierung Herzls liegt nicht primär Jerusalem, Zion und das historische Gebiet Erez-Israels zugrunde, sondern eine pragmatische

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staates zweitrangig gewesen,20 solange dort nur jene Bildungstradition der Aufklärung verwirklicht werden würde, der die Juden in Deutschland seiner Auffassung nach ihre Emanzipation verdankten:21 „Und darum sage ich [Herzl] euch, daß ihr daran festhalten sollt, was uns großgemacht hat, am Freisinn, an der Duldung, an der Menschenliebe. Zion ist nur dann Zion!“22 Diese biblisches Pathos und politische Rhetorik vermischende Aussage definiert den Ursprung des jüdischen Volks und das Ziel ihrer modernen Nationsbildung weniger unter territorialen Aspekten, als vielmehr unter dem Aspekt der kollektiven Verkörperung moralisch-ethischer Werte. Der Zionismus Herzls stellt sich zunächst als jüdische Aufklärungsbewegung dar, dem die „Verehrung der Scholle“ fernlag; Herzl konzentrierte sich mehr auf die „Wanderung“ als auf das Ankommen.23 Wichtig war ihm anfangs vor allem die „Heimkehr“ des von seiner Tradition entfremdeten Juden in die Bejahung der eigenen Herkunft sowie die Wiedererlangung eines Selbstwertgefühls durch den Volksgedanken. Dieser kulminierte in der jüdischen Nationalbewegung, die zu einer kulturellen Neuschöpfung jüdischer Tradition in der „jüdischen Renaissance“ deutschsprachiger Länder führte.24 Herzl war zu Beginn seiner zionistischen Arbeit mit christlichen Kulturpraktiken und Ritualen vertrauter als mit jüdischen; er hatte keine Scheu, beide synkretistisch zu vereinen.25 Auch wenn Herzls Lösungsansatz im Laufe seiner politischen Arbeit zunehmend in das Flußbett der archetypischen Exodus-Erinnerungsfigur26 geriet, floß darin zunächst anderes Wasser: Er hatte unter anderem über die Lösung der „Judenfrage“ mittels einer kollektiven Massentaufe im Wiener Stephansdom nachgedacht.27 Er ging ähnlich dem Apostel Lukas

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Ausrichtung an den bestmöglichen Gegebenheiten. Vgl. Herzl: Tagebücher 1895–1904 (I.), 1922, S. 149. Bodenheimer 2002. Avineri 2013, S. 97, 156, 198. Mosse 1985, Kap. 1. Herzl: Altneuland 1902, S. 67. Bodenheimer 2002, S. 54f. Brenner 1996. Gelber 2009. Vgl. die Anekdote um den Chanukkahbaum in: Herzl: Tagebücher 1895–1904 (I.), 1922, S. 328. Persico 2014. Persico appliziert Jungs Begriff des Archetypus auf die von Assmann beschrieben Exodus-Erinnerungsfigur im Kontext der Geschichte des Zionismus. Vgl. Jung [1936], 1946. „Die Herausführung des Volkes aus Ägpyten ist der Gründungsakt schlechthin, der nicht nur die Identität des Volkes, sondern vor allem auch des Gottes begründet.“ Vom Anfang her wird das Volk durch Auswanderung, Ausgrenzung [und Verfolgung] bestimmt, dabei ging der Bundessschluß der Landesnahme voraus: „Er ist extraterritorial und daher von keinem Territorium abhängig. In diesem Bund kann man überall verbleiben, wohin auch immer auf der Welt es einen verschlägt.“ Assmann 1997, S. 200f. Für eine ausführliche, aktualisierte Darstellung der der Exodus-Heilsgeschichte zugrundeliegenden historischen und kulturellen Konstruktionen s. Assmann 2015, insb. Kap. 2 und 3. Herzl: Tagebücher 1895–1904 (I.), 1922, S. 8. In Northrop Fryes Vergleich ist auch die

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davon aus, dass das gelobte Land „in uns selbst!“ sei.28 Ein Jahr vor der Veröffentlichung seiner Programmschrift Der Judenstaat notierte Herzl,29 dass jeder Jude „ein Stück vom Gelobten Land hinüber[trägt]“, – wo auch immer der Judenstaat gegründet werden würde.30 Nur jene Juden, die dieses „Land“ in sich erkannt hatten und ihre Herkunft in sich selbst wertschätzten, würden durch ihre Gegenwart am jeweiligen Boden den künftigen Judenstaat in ein „gelobtes Land“ verwandeln. Das geografische Terrritorium des biblischen Landes Israel enthalte also keineswegs Spuren inhärenter Heiligkeit, vielmehr werde die Lebensqualität im Land durch die Taten seiner darauf wandelnden Bewohner und die ihnen zugrundeliegende ethische Basis des Zusammenlebens bestimmt – eine Auffassung, die in der rabbinischen Auslegungstradition verankert ist, der eine dem Lande innewohnende Heiligkeit ferne liegt.31 Gronemann spricht dieses Motiv in seiner Kurzgeschichte Theodor Herzls Heimkehr (1904) an.32 Weniger als einen Monat nach Herzls Beisetzung beschreibt er die vom jüdischen Volk des sich erst noch verwirklichenden Judenstaats sehnsüchtig erwartete Ankunft des ecce homo, des Messias. Zwar wird Herzl, derart transfiguriert, in seinem Sarg auf einem Schiff namens „Kongress“ überführt, aber erst durch die Ankunft seines Leichnams wird das „gelobte Land“ zum Judenstaat. Diese Ankunft bewirkt eine Verwandlung, die Gronemann in seiner Kurzgeschichte folgendermaßen inszeniert: Empfangen von Rufen des versammelten Volkes („Er kommt. Er ist’s!“), ankert das Schiff im Hafen. Metaphorisch wird dies in das Bild eines Sonnenaufgangs über dem Mittelmeer gefasst, der die fast zweitausendjährige Nacht des jüdischen Exils beschließt. Es ist zugleich das Erwachen des Volkes nach seinem „[zwei]tausendjährigem Schlummer“. Unter den Anwesenden und Delegierten, die in Gronemanns Kurzgeschichte das Schiff in Empfang nehmen, befinden sich „alte graue Männer in langen schwarzen Röcken, eingehüllt in den Gebetmantel, im Arm die Gesetzesrolle.“ Diese orthodoxen Juden waren „aus mittelalterlichem Dunkel […] ans blendende Licht des Tages gezogen und schauten sich noch scheu und ängstlich um, als könnten sie diese grosse Veränderung nicht fassen“. Sie betraten das Schiff und verschwanden wiederum in einem Dunkel, aus dem sie, anstatt mit Torahrollen, mit dem Sarg Herzls erschienen:

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Heilsgeschichte der Evangelien als individualisierte und universalisierte Version der ExodusNarrative erkennbar. Frye/Macpherson 2004, Kap. 9. Das Neue Testament, Lukas 17,21. Herzl: Zionistisches Tagebuch, 1984, S. 792, fn. 342 (Notizen zum 17. 6. 1895). Herzl: Der Judenstaat, 2010. Erst die Ausübung der für das Land Israel relevanten Gebote hebe es aus allen Ländern hervor und heilige es. Leibowitz 2002, S. 158. Gilt für alle entspr. Verweise: Gronemann: Theodor Herzls Heimkehr, 1904.

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Die Thoraträger waren hinter dem dunklen Vorhange verschwunden, der das Schiffsinnere abschloss. Nun kehrten sie wieder, und in ihrer Mitte kehrte THEODOR HERZL heim; er kehrte heim auf den Schultern seiner treuesten persönlichen Freunde, heimgeführt von der Liebe seines Volkes. Er kehrte heim – zwar tot und zwischen den letzten Brettern gebettet, aber so wie er heimkehrte, schien er noch einmal durch sein Erscheinen schon dem Volke sein Sicherheitsgefühl zu verleihen; als Herrscher trat er unter sein Volk, und unter seinem gegenwärtigen Schutze schwand alle Besorgnis. – Wie jetzt der Sarg auf dem Stege niedergestellt war, trat der Statthalter vor und legte ein Dokument mit grossem herabhängendem Siegel mitten auf den Sarg: den Freibrief des jüdischen Volkes auf das jüdische Land! – Die Träger erhoben aufs neue den Sarg und trugen THEODOR HERZL, dem das kostbare Dokument auf der Brust ruhte, hinüber zu dem heiligen Boden des Vaterlandes. Und in diesem Augenblick erkannten alle die Tausenden, dass in Wahrheit der Tag der Erlösung gekommen, dass für alle Zeiten das Exil beendet sei, – in diesem Augenblick löste sich die Erstarrung des Volkes, und in einem donnerartigen Getose rief es immer wieder und wieder den einen Namen, in den es alle seine Hoffnung und Liebe, all seine Dankbarkeit und seine Schwüre zusammenfasste, den Namen THEODOR HERZL.33

In der Darstellung des Rabbinersohns Sammy Gronemann findet die Apotheose Herzls in einem liminalen Zwischenraum statt – weder in der Diaspora, noch in Erez Israel, sondern hinter den Kulissen einer beweglichen Bühne auf dem Meer – vor der Küste des „Vaterlandes“. Gleich einer black box wird die dort stattfindende Verwandlung unserem Auge entzogen, doch erkennbar wird eine Substitution: Torahrollen werden in die Tiefen des Schiffes hineingetragen, aus denen der tote Körper Herzls herausgetragen wird. Dieser wird nun, durch die von ihm zu Lebzeiten nie erreichte Charter („der Freibrief des jüdischen Volkes auf das jüdische Land“), mit lebendigem Herrschergeist animiert. Doch die Animierung des Toten, die hier metonymisch für die Wiederbelebung des jüdischen Volkes und seines Staates steht, hat einen Preis: Das jüdische Gesetz. Die auf gegerbten Tierhäuten inskribierten Torahrollen substituieren den toten Körper des als Messias dargestellten Herzl, im Schiffsinneren, „hinter dem dunklen Vorhange.“ „Das Schiff der Särge!“ hatte Herzl 1895 beim Fantasieren über den Exodus ins ‚gelobte Land‘ mit dem Pathos des biblischen Josef beschworen: „Wir nehmen auch unsere Toten mit.“34 Doch was auf dem Schiff tot oder lebendig ist, ist für außenstehende Betrachter kaum zu unterscheiden. In diesem Zwischenbereich wird das religiöse Ritualgesetz durch eine politisch-zionistische Magna Charta für Palästina ausgetauscht – die Charter, als deren Verwirklichung die Balfour33 (Herv. i. O.). Ebd. „Theodor“ ist ein adoptierter Vorname, Herzl jüdischer Geburtsname war Benjamin Se’ev, unter dem Herzl primär in die israelische Geschichtsschreibung einging. 34 Herzl: Tagebücher 1895–1904 (I.), 1922, S. 84. Vgl. Josephgeschichte in Genesis 37–50, insb. Gen. 50,25: „Und Josef beschwor die Söhne Israels, sprechend: Ordnen, zuordnen wirds euch Gott, bringt dann meine Gebeine von hier hinauf!“ Buber/Rosenzweig 1930, S. 168.

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Deklaration angesehen werden kann. Im Inneren des „Kongress“ genannten Schiffes verwandelt Gronemann den natürlichen Körper Herzls in einen politischen, der den jüdischen Anspruch auf den „heiligen Boden des Vaterlandes“ durch seine physische Präsenz noch als Toter besiegelt und eine eschatologische Ära einleitet: das Ende der Diaspora, die durch eine Substitution transformiert wird.35 In Gronemanns Kurzgeschichte werden die ‚portativen‘ Torahrollen, die einst den Verlust des versprochenen Landes sublimiert und kompensiert hatten, gegen die wiederholte Einlösung des Landversprechens zurückgetauscht: Text für Land. Dadurch wird das Schiff, eine Metapher für den zionistischen Kongress, um die Person Herzls erleichtert und um die jüdische Tradition erschwert.36 1946 schreibt Gronemann rückblickend in seinen Erinnerungen: Ein Kongreß ohne Herzl – fast undenkbar für uns, ohne jene überragende Gestalt, zu der aufblickend in den schlimmsten Momenten, in den größten Tumulten, während unentwirrbar scheinender Komplikationen, jeder von uns alle Unruhe verlor. Er wird’s schon machen, sagte man sich.37

Die Persönlichkeit Herzls verwandelte sich in den Archetyp des Zionismus. Vielen Zionisten gelang es nur unter Schwierigkeiten und selten zu Lebzeiten Herzls, sich von jener Vaterfigur zu lösen, die er für die noch in ihren Kinderschuhen steckende zionistische Bewegung darstellte. Zahlreiche mythologisierende Konstruktionen zeugen davon.38 Ähnlich vielen zionistischen Zeitgenossen hatte Gronemann in Herzls „wunderbarer Schönheit“39 nicht nur eine „königliche Gestalt“40 erblickt, sondern auch den archetypischen Messias und Erlöser des jüdischen Volkes, dessen Ähnlichkeit mit dem biblischen Moses er emphatisch betonte:41 „Man muß sich vorstellen, von welcher Begeisterung wir jungen Zionisten erfüllt waren“, erklärt er als 71-jähriger rückblickend jenen 35 Die Unterscheidung zwischen einem natürlichen und einem politischen Körper geht zurück auf den Historiker Ernst Kantorowicz, der die juristische Fiktion eines politischen Körpers des Königs in der mittelalterlichen englischen Gesetzgebung untersuchte. Kantorowicz 1997. 36 Herzl beschreibt im Altneuland ein „Schiff der Weisen“, das eine Umkehrung des Narrenschifftropus erkennen lässt. Dieses auf den Namen Futuro getaufte Schiff kann als Metapher für Herzls eigenes utopisch-literarisches Projekt verstanden werden. Herzls „Futuro“ und Gronemanns „Kongress“ sind gleichermaßen Schiffsmetaphern für den zionistischen Kongress. Doch während der Autor der „Futuro“ – Herzl – seine eigene Metapher nicht verlassen kann, wird dies in Gronemanns Schiffsgeschichte möglich – als Toter. Vgl. hierzu auch Shumsky 2014. 37 Gronemann: Erinnerungen, 2002, S. 286. 38 Gelber 2007. 39 Gronemann: Erinnerungen, 2002, S. 243. 40 Ebd., S. 164. 41 Ebd., S. 122. In einem Telegramm an Herzl vom 30. 10. 1902, schreibt Gronemann: „dem bewaehrten fuehrer treue gefolgschaft versichernd wuenscht den beratungen guten erfolg“. CZA Z1/338/2, 1958.

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liebevollen Enthusiasmus, den er als 29-jähriger empfunden hatte: „Herzl war unser Abgott,“ schreibt er und lässt eine in der Zwischenzeit stattgefundene ironische Distanzierung erkennen. Gronemann hatte sein Bekenntnis zum Zionismus in einem Schlüsselmoment nach der Lektüre des Judenstaates und kurz vor dem ersten Kongress als zwingende logische Konsequenz seines Judentums erkannt:42 „Es ist doch eigentlich verflucht schwer, nicht Zionist zu sein.“43 Gronemann teilte mit Herzl den Bildungsgedanken des deutsch säkularisierten Judentums,44 der auch in der von ihm benutzten Lichtmetaphorik erkennbar wird, bei der die orthodoxen Torahträger „aus mittelalterlichem Dunkel […] ans blendende Licht des Tages gezogen“ werden. Gronemann lernte „die Lichtgestalt Theodor Herzls kennen“45, wenn auch mit einem klaren hierarchischen Gefälle: Herzls Freund zu sein war schwer.46

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Das Kongressgericht

Von Anfang an war der zionistische Kongress eine wohlorchestrierte Inszenierung von Herzls Vision gewesen; dramaturgische Überlegungen spielten bei der Vorbereitung der einzelnen Kongress-Sitzungen eine wesentliche Rolle. So schreibt Herzl in einem berühmten Eintrag vom 30. 8. 1897, er habe in Basel den Judenstaat gegründet, und fährt fort: Einer meiner ersten Ausführungsgedanken schon vor Monaten war es, daß man im Frack und weißer Halsbinde zur Eröffnungssitzung kommen müsse. Das bewährte sich ausgezeichnet. Die Feiertagskleider machen die meisten Menschen steif. Aus dieser Steifheit entstand sofort ein gemessener Ton – den sie in hellen Sommer- und Reisekleidern vielleicht nicht gehabt hätten – und ich ermangelte nicht, diesen Ton noch ins Feierliche zu steigern.47 42 Gronemann: Erinnerungen, 2002, S. 148. Mittelmann 1986, S. 231. 43 Gronemann: Erinnerungen, 2002, S. 148. 44 Deutsche Juden hatten das Ideal der Bildung als neuen Glauben akzeptiert, so Mosse 1985, S. 4. Zur Diskussion über Herzls aufklärerisches Ideal siehe Beller 1992, S. 46 und Bunzl 1996, S. 282. Zu Gronemann in diesem Kontext vgl. Kühne: Sammy Gronemann’s Lessing, 2011. 45 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des VII. Zionisten-Kongresses in Basel 1905, S. 176. 46 Noch über vierzig Jahre später legt Gronemanns Schilderung seiner letzten persönlichen Begegnung mit Herzl Wert auf das apotheotische Detail einer narrativ ausgeleuchteten Szene: „Er [Herzl] beugte sich von dem Treppenpodest herab und gab mir – der ich von unten zu ihm aufsah…“ (Gronemann: Erinnerungen, 2002, S. 253). „…sein treuer, aufrichtiger Freund zu sein ist schwer“, schrieb Leon Kellner über Herzl, der ihn seinen besten Freund nannte (Herzl: Tagebücher 1895–1904 (II.), 1923, S. 70). Elon zufolge waren Herzl „Jasager“ lieber (Elon 1974, S. 248–249). 47 Herzl: Tagebücher 1895–1904 (II.), 1923, S. 24.

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Auch auf Gronemann verfehlten die Kongressinszenierungen nicht ihre Wirkung. Für ihn war das jüdische Volk mit dem ersten Kongress „erwacht“ und hatte „seine Sprache wiedergefunden“: „Es gab eine jüdische Tribüne. – […] Und in dem Augenblick, da Herzl die Tribüne bestieg und das Präsidium übernahm, trat der Zionismus ins Leben.“48 Der politische Körper des Zionismus wurde durch den natürlichen Körper Herzls animiert und erschien als dessen Ausdehnung und Erweiterung. Für Gronemann war Herzl gleichzeitig Regisseur und erster Schauspieler in seinem eigenen Stück, dessen dramatischer Schlussmonolog auf dem V. Kongress folgenden Eindruck hinterlassen hatte: Ja, diese Schlußrede! Sie mußte jedem, der sie anzuhören gewürdigt war, unvergeßlich bleiben. Es war das letzte Wort des großen Führers an sein Volk. Als er die Hand erhob, „Wenn ich Dein vergesse, Jerusalem…“, riß er alle im Saale, welche Stellung sie auch sonst einnehmen mochten, hin. Noch einmal umtoste ihn der Jubel des Volkes, und er konnte glauben, daß das blinde Vertrauen, das er sich errungen hatte, ihm treu geblieben war. Freilich, dann kamen bittere Stunden, die ihm schwere Zweifel brachten und den todkranken Mann schwer verbitterten. Aber in jenem Moment fühlte er sich noch einmal als Herr des Kongresses.49

Auf dem letzten Kongress vor seinem Tod hatte Herzl das Ostafrikaprojekt präsentiert; es drohte, die zionistische Bewegung zu spalten. „Blinden Vertrauens“ konnte er sich bereits nicht mehr versichern, jedoch, mit der hebräisch rezitierten, traditionellen Ritualformel aus Psalm 137: „Wenn ich vergesse Dein Jerushalayim…“ [‫]ִאם ֶא ְשׁ ָכֵּחְך יְרוּ ָשָׁל ִם‬, ein letztes Mal eine demonstrative Einheit der Kongreßmitglieder erzeugen. Die Idee der Rückkehr nach Jerusalem und der Auszug aus der Diaspora erscheint hier als einziger gemeinsamer Nenner in der Exodus-Politik der zionistischen Bewegung. Mit seinem letzten Auftritt im Kongress überliess Herzl seine Rolle als moderner Moses der kollektiven Körperschaft des Kongresses. Für Gronemann und andere Zionisten, wie Wolffsohn und Nordau, war jedoch bereits Herzls todkranker natürlicher Körper hinter seinem politischen Schauspiel sichtbar: […] entsetzt und erstaunt hörten wir, wie er auf dem letzten Kongreß seinen Zustand zu kaschieren gewußt und uns vor allem eine Komödie des starken und lebensstrotzenden Mannes vorgespielt hatte. So fuhren wir recht bedrückt nach Hause.50

Gronemann hatte bei seinen ersten beiden Kongresserfahrungen die zionistische Dramaturgie unter der Regie Herzls kennengelernt. Er hatte dessen persönliches Drama hinter den Kulissen des kollektiven, sozial-politischen Dramas des jüdischen Volkes erkannt, dessen heroisches Auftreten sich nun im Nachhinein als 48 Gronemann: Erinnerungen, 2002, S. 149f. 49 Ebd., S. 253. 50 Ebd., S. 269.

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„Kaschierung“ und als „Komödie“ entpuppte. Plötzlich, „entsetzt und erstaunt“, nahm er den Menschen Herzl hinter seiner politischen Rolle wahr. Als sein Eindruck sich zu revidieren begann, verblassten Kongresseuphorie und – vor dem Hintergrund der Uganda-Kontroverse über die Möglichkeit eines jüdischen Staates nicht in Palästina, sondern Afrika – auch die Zuversicht, schon bald eine rechtlich gesicherte Heimstätte in Palästina gründen zu können. Die Delegation fuhr im Bewusstsein vom Joch der Diaspora „bedrückt nach Hause“, das hier noch unhinterfragt im deutschen Reich verortet wird. Gronemanns Ernüchterung und Distanz ist abzulesen an der eingangs zitierten Anekdote aus Gronemanns Erinnerungen, wenn er nach der Erwähnung von Herzls Tod scheinbar unsentimental, zumindest bruchlos fortfährt: „Am Tage der Beisetzung Theodor Herzls wurde ich vom Präsidenten des Landgerichts Hannover als Anwalt vereidigt.“51 Eine kalendarische Zufälligkeit wird in dieser Darstellung zu einer bedeutsamen Synchronizität; eine Selbstdeutung, die ihren Anfang in den vierziger Jahren in Tel Aviv hat. Nicht nur Trauer und Freude vereinigen sich am Tag des Begräbnisses. Der Abschied vom Religionsstifter des zionistischen Glaubenssystems markiert auch Gronemanns neue, stolze Selbstständigkeit; ein Übergang der doppelt erinnerungswürdig ist und eine Nachfolge andeutet: just als Herzl, Doktor der Jurisprudenz und Anwalt für das jüdische Volk, begraben wird, wird der Jurastudent Gronemann als Anwalt vereidigt. So erhält Gronemanns Leben eine retroaktive Weihe. Während Gronemann beim Schreiben seiner Erinnerungen seine Biografie rückblickend auf Zion hin deutet, nimmt er sie beim Schreiben der Kurzgeschichte über Theodor Herzls Heimkehr im Jahre 1904 vorweg. Vermutlich waren nur wenige Tage nach der Beerdigung Herzls vergangen, bis er den Toten literarisch aus der Wiener Erde hob und begann, seine posthume „Heimkehr“ nach Palästina zu beschreiben. Bereits fünfundvierzig Jahre vor Herzls tatsächlicher Umsetzung befreit ihn Gronemann posthum aus der Diaspora und setzt ihn über den mediterranen Styx, ins ‚Versprochene Land‘; hierbei gleichzeitig symbolisch seinen Glauben an die Verwirklichbarkeit von „Herzl’s Märchen“ über den jüdischen Staat stärkend. Seine Kurzgeschichte literarisiert die Fiktion des auch das Fundament des jüdischen Staates bildenden politischen Körpers,52 exhumiert dabei symbolisch die Diaspora, und überführt sie mittels Herzls natürlichem Körper in den zukünftigen Judenstaat: Die Gründung der in der Diaspora geborenen Polit-Religion erfolgt nach dem Tod ihres Gründers ein zweites Mal im Land Israel, wiederum vermittels eines literarischen Textes.

51 Ebd., S. 270. 52 Kantorowicz 1997, S. 12f., fn. 35.

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Was Gronemanns Kurzgeschichte nicht erzählt, ist, was geschah, nachdem das Schiff „Kongress“ wieder ablegte und das Land mit den im Austausch für Herzls Leichnam erhaltenen Torahrollen verliess. „Wohin das zionistische Schiff steuert“ bleibt ungewiss, meinte Gronemann bspw. in einer Rede vor dem zionistischen Kongress.53 Sieben Jahre nach Herzls Tod erhielt Gronemann, aufgrund seiner innenpolitisch neutralen Haltung,54 im Jahre 1921 die Präsidentschaft des von ihm 1911 gegründeten zionistischen Ehrengerichts. Er hatte sie bis 1933 inne55 und übernahm 1921 auch die Präsidentschaft des zionistischen Kongressgerichts, das er bis 1947 leitete.56 Beide Institutionen nahmen als judikative Körperschaften die Funktion einer innerzionistischen Kontrollinstanz wahr. In Gronemanns Arbeitsfeld fiel somit „vor allem die Überprüfung der Kongresswahlen auf ihre Rechtmäßigkeit“57, die Überprüfung von Einwanderungszertifikaten58 und die „Überbrückung unvermeidlicher Gegensätze“ sowie Schaffung eines „Ausgleichs zwischen den Parteien.“59 Als Präsident des Ehrengerichts war er unter anderem für die Ahndung von Disziplinwidrigkeiten verantwortlich, wobei die Rechtsprechung dieser Institution mitunter auch Nichtzionisten und sogar Nichtjuden betraf, „wenn nur die Angelegenheit selbst in den Interessenkreis der zionistischen Organisation fiel,“ so Gronemann.60 Er hatte Einfluss auf den ideologischen Kurs, den der Kongress nahm;61 man könnte im Kontext der Schiffsmetapher davon sprechen, dass er für die Nivellierung des moralischen Sextanten zuständig war. Aaron Barth zufolge, der Gronemanns Nachfolger im Kongressgericht wurde, war es Gronemann, der praktisch unsere Rechtsinstitute, das Kongressgericht und das Ehrengericht geschaffen hat und der verstanden hat, es aus dem Strudel der Parteipolitik herauszuziehen und ihm den unantastbaren Ruf objektiver Gerechtigkeit zu verschaffen.62

53 Gronemann auf dem XVI. Kongress: „Ich habe Ihnen Zahlen zu geben. Zahlen sind langweilig, aber bedenken Sie, dass diese Zahlen erkennen lassen, wohin das zionistische Schiff steuert.“ Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XVI. Zionisten-Kongresses in Zürich 1929, S. 32f. 54 Gronemann: Erinnerungen, 2002, S. 292. 55 Gronemann/Margulies-Leitmeritz 1912. Merchán-Hamann 2002, S. 55f. 56 Gronemanns Nachfolger Aron Barth zufolge war Gronemann auch für die Gründung des Kongreßgerichts verantwortlich. Ebd., S. 56. 57 Weisselberger 1936. Gronemann: Kongressadresse zum 22. Kongress 1946 in Basel. 58 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XVI. Zionisten-Kongresses in Zürich 1929, S. 32. 59 Gronemann: Rede über Palästina-Aufbau in Budapest 1936. 60 Gronemann erinnert sich „einmal einem Verfahren präsidiert zu haben, in dem der Deutsche Vaterländische Frauenverein gegen einen zionistischen Publizisten wegen Beleidigung klagte.“ Gronemann: Erinnerungen an meine Jahre in Berlin, 2004, S. 96. 61 Gottesmann 1938. 62 Barth 1950.

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Gronemann kann somit zu Recht als (ein) Begründer „der Tradition der zionistischen Justiz“63 bezeichnet werden. 1933 gab er den Vorsitz über das Ehrengericht jedoch ab, da die eigene Emigration nach Paris wenig Zeit ließ und die Flüchtlingsarbeit sowie die Neuorganisierung der zionistischen Bewegung nach der Machtergreifung der Nazis sich ihm als vordringlichere Arbeiten darstellten. Die Präsidentschaft des Kongressgerichts hatte er jedoch weiterhin ohne parteiliche Affiliation inne, bis er 1947, trotz seiner Wiederwahl, von diesem Posten zurücktrat.64 Neben dieser Tatsache der Wiederwahl ist zu fragen, ob der mittlerweile 72-jährige Gronemann die nötige Gesundheit und Klarheit besessen hätte, um dieses Amt weiterzuführen, und ob die „„Altersgründe““ (ironisierende Anführungszeichen im Original) nur eine Ausrede darstellten.65 In einem nach Gronemanns Tod veröffentlichten Nachruf schreibt ein anonymer Journalist, Gronemann wirkte unbestechlich und autoritativ, bis er seinem Gewissen (und, heute sei es gesagt, auch seinem keineswegs glänzenden Einkommensstand) zu Beginn des Jahres 1947 das Opfer brachte, auf dieses Amt zu verzichten, als parteipolitische Einflüsse ihn nach seiner Meinung in der Objektivität der Kongress-Rechtsprechung zu behindern drohten.66

Unterstützt wird diese Darstellung durch Gronemanns letzte Kongressrede, in der er unter anderem mangelndes Demokratieverständnis, Wahlfälschungen, Skrupellosigkeit, Parteifanatismus und „Terror“ kritisiert hatte.67 Wiederholt wusste er während seiner Amtszeit von Unregelmäßigkeiten bei Kongresswahlen zu berichten und klagte: „An allem ist der Idealismus Schuld! Wenn Menschen Idealisten werden, das ist das Furchtbarste, dann lassen Sie sich zu allem hinreißen;“68 und in einer Filmaufzeichnung fügt er dieser Kritik hinzu: „wie man das bei allen Wahlen auf der ganzen Welt sieht.“69 Zur Wahrung des moralischen Gewissens der zionistischen Bewegung – eine Verantwortung, der Gronemann sich bewusst war –, schien ihm der Idealismus der schlimmste Feind. Ihm wusste er humorvoll zu begegnen; ein Verfahren, das er unter anderem bereits in seinem Buch Schalet anekdotisch illustriert hatte. Seiner darin anekdotisch dargelegten „Philosophie des ‚Wenn Schon‘“ zufolge,70 war Gronemanns erster Grundsatz: „Grundsätze muß der Mensch haben – aber

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Anonym: Gronemann nimmt Abschied, 1947. Dr. A. L. Lauterbach (‫ לויטרבך‬.‫ל‬.‫)א‬: Brief an Gronemann, 1947. Anonym: Sammy Gronemann s.A., 1952. Ebd. Gronemann: Kongressadresse zum 22. Kongress 1946 in Basel. Siehe auch: Gronemann: Zu meiner Entlastung, 1953, S. 13. 68 E.P.: Sammy Gronemann, 1950. 69 The Spielberg Jewish Film Archive (1935). 70 Vgl. Gronemann: Der Witz und Humor des Juden, 1945.

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er darf sich nicht danach richten!“71 Auch in diesem Sinne kann Gronemann als selbstironischer Pragmatiker verstanden werden, der die Anforderungen der Gegenwart dringlicher bewertete als ideologische Ansprüche – eine Auffassung, die sich auch in seiner Unterstützung des Uganda-Projektes äußerte.72 Gronemanns Worte bildeten daher „in der hitzigen politischen Atmosphäre der Kongresse immer eine Erholungspause,“ bemerkte ein Journalist, „denn sein Bericht war immer von wirksamen humoristischen Bemerkungen durchwürzt.“73 Als oberster zionistischer Richter war Gronemann, über drei Jahrzehnte hinweg, einer der wichtigsten leitenden Delegierten auf den zionistischen Kongressen. Seine über Jahrzehnte hinweg ununterbrochene Wiederwahl zum obersten zionistischen Richter stellt eine außergewöhnliche Kontinuität in den Kongressabfolgen dar, insbesondere wenn man sie vor dem Hintergrund der wechselnden Präsidenten Max Nordau, David Wolffssohn, Nachum Sokolow sowie Chaim Weizmann betrachtet. Der erste Kongress, der ohne Gronemanns Vorsitz 1951 im Kongressgericht stattfand, war gleichzeitig der erste Kongress des jungen jüdischen Staates, der noch zu Lebzeiten Gronemanns unter der Präsidentschaft David Ben-Gurions stattfand. Der Erfolg der Staatsgründung wurde somit auch durch die Arbeit Gronemanns ermöglicht, der die Verantwortung für das Gewissen der zionistischen Bewegung übernommen hatte und es durch seine konstitutiven Entscheidungen prägte; eine Arbeit, zu der er sich – seiner retrospektiven Selbstdeutung nach – kurz nach Herzls Tod berufen gefühlt hatte, und mit der er seinem Willen Genüge tun wollte. Er setzte die Tradition innerzionistischer Justiz fort und trug zu deren Innovation bei. Im Jahre 1960, achtzehn Jahre nach Gronemanns Tod, wurde das von ihm gegründete zionistische Ehrengericht mit dem von ihm über drei Jahrzehnte hinweg geleiteten Kongressgericht zum zionistischen Gerichtstribunal zusammengeschlossen und 1979 in den obersten zionistischen Gerichtshof Israels aufgelöst.74

71 Gronemann: Schalet [1927], 1998, S. 31. Siehe auch Gronemann: Der Prozess um des Esels Schatten, 1945, S. 11. 72 Mittelmann bezeichnet Gronemann als Pragmatiker, weil er den Standpunkt vertrat, „dass die Religion nicht das einzige Element jüdischer Identität sei, sondern dass es neben der religiösen noch eine säkular-nationale Dimension gab, der der politische Zionismus Rechnung trug.“ Mittelmann 2004, S. 36. Siehe auch Mittelmann 1998, S. 273f. 73 E. P.: Sammy Gronemann, 1950. 74 Medoff /Waxman 2009, S. 229. Bisher existieren noch keine Studien zur Geschichte dieser inner-zionistischen Institutionen.

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3.

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Ben-Gurions Grabrede

Mit der Gründung des Staates Israel beginnt eine neue Ära im Zionismus, die oft als pünktliches Eintreffen einer prophetischen Bemerkung Herzls gedeutet wird.75 Eine der ersten Tätigkeiten David Ben-Gurions, des ersten israelischen Präsidenten, war die Überführung der Gebeine Herzls von Wien nach Israel und – entgegen seiner früheren Meinung und trotz seiner Kenntnis des eigentlichen Willens Herzls76 – dessen Bestattung in Jerusalem. Kurz zuvor war Ben-Gurions Vorschlag, Jerusalem entgegen der UN-Deklaration vom 29. November 1947 zum Regierungssitz und so zur Hauptstadt Israels zu machen, vom Kongress angenommen worden. Sollte Herzls ‚Prophetengrab‘ diesen Anspruch stärken und den territorialen Anspruch durch die in der Person Herzl zentrierte nationale Mythologie untermauern? Sollte Herzls Körper den Grundstein für das Heiligtum des neuen Staats bilden, um ein alternatives Gravitationszentrum politischer Kultstätte in Jerusalem zu schaffen? 77 Tatsächlich wurde der Jerusalemer Herzlberg im Staat Israel zu einer Stätte von zentraler Bedeutung: alljährlich beginnen dort die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag, vor dem Hintergrund des Zentralen Militärfriedhofs und der Shoa-Gedenkstätte Yad Vashem. Neben den Grabstätten bedeutender Persönlichkeiten, wie beispielsweise Herzls Nachfolger David Wolffsohn, ruhen dort auch drei ehemalige Regierungschefs: Levi Eschkol, Golda Meir und Jitzchak Rabin. Durch ihre Nähe zu Herzl sind sie damit zugleich auch in die biblische Geschichtsschreibung eingeschrieben, denn Ben-Gurions Grabrede bettet Herzl vor allem in die Tradition der Erzväter ein: Nur zwei Menschen war es in Israels Geschichte vergönnt – beide aus dem Hause Jakobs – dass ihre Gebeine von ihrem befreiten Volk mit ins Land genommen [‫]יעלה‬ wurden. Eine Spanne von fast 3300 Jahren liegt zwischen ihnen, vom Auszug aus Ägypten, als die Gebeine Josef ben Jaakovs mitgenommen wurden [‫]העלו‬, bis auf den heutigen Tag.78

Diesem für die Exodus-Politik des Zionismus charakteristischen Vergleich nach wurde Herzl eine noch größere Ehre als Moses zuteil, dem es nicht vergönnt gewesen war, im Lande Israel begraben zu werden.79 Herzl, so Ben-Gurion, sei bei 75 Während des ersten Zionistenkongresses 1897 schrieb Herzl: „in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.“ Herzl: Tagebücher 1895–1904 (II.), 1923, S. 24. 76 Vgl. CZA A 135/35. 77 Vgl. DeKoven-Ezrahi 2007, S. 220–234. 78 Ben-Gurion 1951, S. 247. ‫ שעמם המשוחרר‬,‫"רק שני אישים בתולדות ישראל – ושניהם בני־יעקב – זכו לכך‬ ‫ כשהעלו עצמות‬,‫ מאז יציאת־מצרים‬,‫ רווח של כשלושת אלפים ושלוש מאות שנה עומד ביניהם‬.‫יעלה עצמותיהם ארצה‬ ".‫ ועד היום הזה‬,‫יוסף בן־יעקב‬ 79 Ebd., S. 248.

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seinem Besuch in Palästina von der Schechinah berührt worden – die mythologisch-mystische, weiblich personifizierte und als beflügelt imaginierte Volksseele Israels –, die in dieser Vorstellung als von Erez Israel untrennbar dargestellt wird.80 Jene Berührung habe Herzl letztendlich dazu inspiriert, die alte Idee des Auszugs aus Ägypten zu erneuern,81 obwohl er von den „Massen Israels entfremdet“ gewesen sei sowie „fern jüdischer Kultur“.82 Die Erinnerungsfigur des Exodus erhält somit eine konkrete Gestalt in einer als ununterbrochen dargestellten Traditionslinie, die, durch die Mediation der Schechinah, Herzl als Nachfolger Moses einschreibt. Ben-Gurion beschreibt die Verschmelzung von Herzls natürlichem Körper in den politischen Körper der biblischen Königstradition, der mystifiziert wird, „in the likeness of holy spirits and angels […] the Immutable within Time.“83 Gleichzeitig schreibt Ben-Gurion eine Apologetik der nicht-halachischen jüdischen Ritualpraxis Herzls, die ein irritierendes Detail in der assimilierten Gründungsgestalt des Zionismus sowie in seinen Nachkommen darstellt. Diese hatten sich – weiter noch als ihr Vater – vom Judentum (weg zum Christentum) entfernt. Aus diesem Grund wurde ihnen über fünfzig Jahre lang ein weiterer letzter Wunsch Herzls verwehrt: ihr Grab neben dem seinen zu wissen.84 Erst als der Historiker Ariel Feldstein seine Recherchen zu Herzls Testament im Jahre 2003 veröffentlichte,85 wurden drei Jahre später auch die Überreste von Herzls Kindern auf den Herzlberg überführt.86 Feldstein zufolge war diese Vernachlässigung eine Folge der Mythologisierung Herzls, die im Laufe der Jahre die Wahrnehmung der Wirklichkeit überlagert habe.87 In diesem Sinne wurde Herzl von seiner eigenen Vision heimgeholt, deren Wesen er so beschrieb: Glauben Sie mir, die Politik eines ganzen Volkes – besonders, wenn es in aller Welt zerstreut ist – macht man nur mit Imponderabilien, die hoch in der Luft schweben. Wissen Sie, woraus das Deutsche Reich entstanden ist? Aus Träumereien, Liedern, Phantasien und schwarzrotgoldenen Bändern […] Wie? Sie verstehen das Imponderabile nicht? Und was ist die Religion? Denken Sie doch, was die Juden seit zweitausend Jahren für diese Phantasie ausstehen. Ja, nur das Phantastische ergreift die Menschen. Und wer damit nichts anzufangen weiß, der mag ein vortrefflicher, braver und nüch-

80 Scholem 1977, S. 143. 81 Ben-Gurion 1951, S. 248. Ben-Gurion zitiert Herzl nur in Bezug auf „Ich bringe keinerlei neue Ideen“, doch aus Herzls Texten wird deutlich, dass er mit der „alten Sache“ den Auszug aus Ägypten meint. Vgl. Herzl: Tagebücher 1895–1904 (I.), 1922, S. 48. 82 Ben-Gurion 1951, S. 249. 83 Kantorowicz 1997, S. 8. 84 Vgl. Struminski 2006. Müller 2010. 85 Feldstein 2003. 86 Feldstein 2007. 87 Ebd., S. 3.

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terner Mann sein, und selbst ein Wohltäter in großem Stil: führen wird er die Menschen nicht, und es wird keine Spur von ihm bleiben.88

In Folge seiner Mythologisierung wurde Herzl zu einer Ikone, die für die Potenz der Willenskraft und der Fantasie steht. Vor allem aber wurde er zu einer Erinnerungsfigur der Exodus-Heilsgeschichte, die sich seiner in Form des biblischen Moses schon zu Lebzeiten bemächtigt hatte.89 Unter dieser Ikone liegt aber nicht nur Herzls natürlicher Körper begraben, sondern auch sein [eingangs beschriebener] letzter Wille. In diesem Sinne steht sie nicht nur für die Kraft der Idee, den Menschen zu erheben und zu befreien, sondern auch für die Kraft des Idealismus, Menschen unter sich zu begraben. Es ist eine Geschichte von der grundsätzlichen Wirkkraft von Geschichten in der Geschichte. Seit der kopernikanischen Wende, die die Freud’sche Psychoanalyse im Menschenbild des frühen zwanzigsten Jahrhunderts darstellt, muss die bestimmende Rolle des Unbewussten anerkannt werden, d. h. dass der Mensch „nicht mehr Herr im eigenen Hause sei.“90 Nicht Herzl bediente sich der Exodus-Erinnerungsfigur, sondern diese bediente sich seiner. Herzl war in den Sog eines überlieferten, biblischen Bewusstseinsstroms geraten, der sich stärker als er selbst erwies – eine kollektive Fantasie, deren Vermittler in Folge Gronemann wird, wenn er in seiner Kurzgeschichte den aus Wien stammenden Herzl nach Palästina „heimkehren“ lässt. Eingeschrieben in dieser „Heimkehr“ ist eine doppelte Wiederkehr des Verdrängten:91 der unter deutschen Juden seinerzeit zunehmend verdrängte jüdische Ursprung in der verlorenen Heimat des zugesprochenen Landes, sowie der unter Zionisten verdrängte jüdische Ursprung im überlieferten, der Diaspora geschuldeten Text. Nicht nur dadurch, dass Gronemann die Ankunft von Herzls Sarg auf dem „heiligen Boden des Vaterlandes“ beschreibt (der, obwohl unausgesprochen, Erez Israel als selbstverständlich bezeichnet), sondern auch indem er den Platz, den Herzl im Schiff namens „Kongress“ hinterlässt, mit Torahrollen füllen lässt, „hinter dem dunklen Vorhange […], der das Schiffsinnere abschloss.“ Besagter Vorhang aber öffnet sich dem Leser wieder in Gronemanns Theaterstücken.92 Sie dramatisieren die Beziehung zwischen den Heilsgeschichten von Exodus und Esther vermittels ihrer Pessach- und Purimmotive, stellvertretend für

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Herzl: Tagebücher 1895–1904 (I.), 1922, S. 33. Brief an Baron de Hirsch, 3. 6. 1895. Bodenheimer 2002. Brumlik 2006, S. 22. Vgl. Hessing, 2011, S. 12. Gronemann: Gesammelte Dramen [in Erscheinung].

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das politisch polarisierte Spannungsfeld zwischen den national-territorialen und diasporisch-globalen Paradigmata jüdischer Geschichten.93

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On the Point of Return: Heute und Morgen and the German-speaking Left-wing Émigrés in Palestine

Introduction Heute und Morgen: antifaschistische Revue was an independent monthly journal in the German language, appearing in Mandate Palestine from 1943 to 1945. It identified primarily with a community of left-wing émigrés from Central Europe, for whom Palestine was more a temporary shelter than a place to settle for good. Distinguished members of the group invested significant efforts in maintaining this establishment, as a means of preserving their distinct interests as a community of exiles. This paper offers a close examination of the conditions which led to the establishment of the journal, as well as of the interactions between the leading figures behind it. It will demonstrate how a press initiative, designed according to parallel models shaped in central German exile loci abroad, not only contributed to the formation of a social sub-group, but also enabled the maintenance of a social network, which served, among other ends, as a platform for circulating preliminary thoughts on the question of return (Rückkehr). At the time, the notion of “Return” marked an uncommon (and socially unacceptable) prospect of remigration to the former homelands. In addition, through an inquiry into the journal’s contents, this paper will shed light on both the local and the international contexts conditioning the émigrés’ scope of action, and on their interaction with an old/new surrounding habitat, and with their ideological counterparts from around the globe. If one was to find oneself in the spring of 1943 wandering about Maze Street, located in a calm residential area in Tel-Aviv–Jaffa, pondering the redeeming message echoed by the strikingly modern facades of the Hebrew town, while passing the Haaretz print house, one would hear the repetitive noise of the printing machines duplicating the early stencil issues of the journal. This perpetual, hammer-like print noise was perhaps onomatopoetic to the ideological tones floating beneath this exile-based journalistic endeavor. The first of twelve issues, printed irregularly until June 1945, appeared in April 1943. It was only two months after its predecessor, Orient, was closed down, after an explosion de-

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molished the fourth consecutive print house and forced it to stop printing the weekly issues.1 The chief editors were the Berliner art historian, actor and stage director Arnold Czempin, and a professed intellectual and proud Austrian named Ludwig Biro. The editor in practice was the journalist and librarian Ernst Loewy, who later became a distinguished scholar of exile literature in West Germany. Also involved was the novelist Arnold Zweig, former chief-editor of the Orient and perhaps the uppermost intellectual authority among the German speaking émigrés in Palestine.2 The journal managed to evade the hostilities which were frequently directed against the Orient by radical members of the revisionist movement. Although the use of the German language in the Yishuv was officially banned at the time, printing continued uninterrupted, owing most likely to two related factors: the rather limited scope of the journal’s criticism towards the Yishuv and its leadership, and correspondingly, an apparent shift of interests among the fighting wings of the Yishuv. Faced with the influx of information on the disaster affecting the European Jewry, their mental as well as physical resources were diverted elsewhere. Parallel to that, political tensions accompanying the struggle against the public use of the German language and against the German press in Palestine were gradually dissolving.3 Unlike the Orient, Heute und Morgen’s end seems to have come rather unexpectedly; readers of the June 1945 issue were promised a celebratory issue the following month, dedicated to Thomas Mann on the occasion of his seventieth birthday. The issue was never printed.

1 The Orient (short for Orient: Unabhängige Wochenschrift – Zeitfragen, Kultur, Wirtschaft) was an independent weekly in German, which had appeared in Mandate Palestine since April 1942. It was a pro-Soviet, left-wing oriented journal edited by Dr. Wolfgang Yourgrau and Arnold Zweig. Due to its bold critique of the society of the Yishuv and its leadership, and as part of the envy directed at the time against anything linked to the German language, the journal faced harsh opposition from its very beginning. See Gordon 2004, pp. 43–52. 2 Heute und Morgen: antifaschistische Revue has thus far not received much attention from scholars. Brief references appear in the following publications: Maas 1978, pp. 310–327; Hirsch/Behse 1980, pp. 584–587; Gordon 2004, pp. 52–54; Schlör/Iwrit 1998, pp. 251–252. 3 An ordinance published by the “Committee for the Imposition of the Hebrew Language in Palestine” (Ha’vaad le’hashlatat ha’Safa ha’Ivrit) in the mid-1930s prohibited the production and dissemination of newspapers in foreign languages. While the committee’s formal policy was directed at preventing the establishment of separatist fractions within the Yishuv, with time it became clear that the struggle against the use of the German language was also directed against the political views represented in some of the German journals and newspapers. See Gordon 2004, p. 39.

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German-speaking Aliens: A Challenge of Definition Miriam Getter differentiates between three parties among German-Jewish immigrants in Palestine: senior Zionists, new Zionists (Neuzionisten) and forced emigrants. The arrival of forced emigrants to Palestine was not considered to be a preconditioned practice of any ideology; they were refugees, and Erez-Israel was their current shelter.4 While Getter focuses solely on German-Jewish immigrants, our concern here is with a group comprised of exiles from Germany, Austria and Czechoslovakia. Without disregarding the differences, Getter’s proposition is useful in distinguishing Palestinian exiles from other members of the diverse collective of Central-European immigrants (Olim). While scholarship on the fifth Aliyah is proliferate,5 hardly any attention was given to the distinct group of German-speaking émigrés who found shelter in Palestine as refugees, and even less is given to those who nurtured a discrete will to re-establish their lives in Europe once the fires had abated. Due to their world beliefs, a retained affinity to their homelands’ cultures, their political tendencies, and lack of will to fully acculturate into the environmental surroundings, they found themselves in a marginal position in society. They became displaced persons in the sense that they neither belonged to their homelands nor to their new host society, whose language they did not master, whose national aspirations they negated, and whose allegedly Eastern European politics they treated with disdain. They conceived of themselves as a distinctive cohort sharing both objectives and means with the broader community of German political exiles, and wished to be recognized as such by their counterparts in Moscow, London, New York, New Mexico and elsewhere. As a community, their case was unique. Only in Palestine did Jews live and act as aliens among other Jews; in no other place were émigrés driven into a struggle to defend their cultural heritage and political identities under the governance of an imperial power and in the midst of decisive times in the history of the Zionist movement, as Zionist leaders and supporters demanded complete solidarity among the Jewish population. It was during the timespan stretching between the first issue of Heute und Morgen and its last that their relationship with the Jewish Yishuv and its cultural and political leadership relapsed, and an embryonic idea of return (Rückkehr) became ever more concrete. From the very early stages of the fifth Aliyah, Zionist institutions were troubled by the challenge posed by various groups which refused to comply with the all-embracing effort directed towards the Jewish national interest. Zionist institutions occupied with immigration to Erez-Israel applied a policy of selective 4 Getter 1978, p. 126. 5 See for example Beling 1967; Timm 1995; Wormann 1970, pp. 73–103; Stechel 1995; Gelber 1990; Volkmann 1992.

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immigration, especially the Jewish Agency through its European branches.6 From the limited quota provided by the British government, licenses were distributed according to a qualitative principle, meaning to those who were considered most likely to contribute to the establishment of a Jewish national home; that is, to Zionists.7 Zionist activists expected that an affiliation to the German cultural heritage, common among Central-European émigrés, would bring about difficulties in the process of assimilation. As this paper demonstrates, their reservations were not completely out of bounds. Central-European émigrés settled in designated neighborhoods and invested considerable efforts in maintaining former customs and cultural traditions, including among others, the establishment of German-speaking adult education programs, the founding of independent cultural groups and book clubs, as well as the distribution of independent German-written daily newspapers and periodicals. If the general population of German-speaking immigrants was regarded with a certain amount of wariness, then members of the left-wing circles were treated as strangers among strangers. At no point in time did their political convictions risk the stability of the Zionist leadership in Palestine. Nor did it pose any concrete threat to institutions of the Hebrew culture. On the contrary – they never had such an intention. Most of them refrained from politics and avoided advocating a coherent political program. As years went by and war broke out, their interest in what was happening in their immediate surroundings decreased gradually, and so did their formerly voiced criticism towards the Yishuv. At a time when representatives of the Yishuv and keen guardians of the Hebrew language turned their troubled eyes away from these “weary figures” to fully devote themselves to the pressing task of nation building, the émigrés were turning their eyes back to the sinking continent which Europe had become. They were present in body while absent in spiritus.

6 Relaying on the assumption that German immigrants had a better chance of a successful economic integration than their East-European counterparts, the British government in Palestine preferred the former, though it remains questionable whether such preference was also shared by leading figures within the Zionist organizations responsible for carrying out immigration policies. See Weiss 2000, p. 181. 7 The selective policy was thought up as an instrument for establishing an exemplary society in Palestine. As such, it continued to serve as a myth well after a quantitative policy had been adopted by Zionist institutions who recognized the need for presenting demographic facts in Palestine. See Halamish 2000, pp. 185–202.

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Inside the Left-wing Circles: the Establishment of Lepac and Heute und Morgen: antifaschistische Revue The most extensive assessment concerning the number of people who fled the German-speaking regions during the years of the Nazi regime arrives at a figure of half a million. This total includes both Jews and non-Jews from Germany, Austria and Czechoslovakia.8 Estimated figures concerning the number of Jews who were forced to leave Germany between the years 1933–1938 range from 140,000 to 170,000, with the higher figures, relaying on Jewish sources, including the great Jewish refuge following the “Kristallnacht”.9 German-Jews chose between two major destinations: countries within Europe, and those across the seas; in the latter, Palestine stood out, gaining gradual importance, second in popularity only to the United States.10 From the entire social groups which were expelled from Nazi occupied territories, some 5500 were formerly associated with fields of science and culture. Among them were some 1600 writers and publicists.11 From this group, a sub-group of German-speaking intellectuals arrived in Palestine. For some, as was mentioned before, Palestine was a compromise; Jerusalem, Tel-Aviv and Haifa were perceived first and foremost as asylum cities, with the majority of members of the left-wing circles choosing to settle in large towns.12 It is possible that it was the frequent frictions with the urban societies which accelerated the group’s gradual process of detachment.13 Perhaps the deepest sense of isolation was experienced by declared communists. The envy expressed towards them by Zionists continued long after activities of the communist party in Palestine had become legal. Of course, this was a case of mutual animosity: Communists saw the establishment of a Jewish national state in Palestine as contradictory to Marxist-Leninist thought and stood against the prospect of turning the Hebrew language into the national language of Palestine.14 8 9 10 11 12

Krohn 1998, p. 349. Niederland 1996, pp. 30–32. Ibid., pp. 39–41. Müller 1984, p. 38. Towns offered the émigrés a certain degree of continuity with regards to occupation and habitus. See Reinhertz 1988, p. 179. 13 Few members chose to account for the separatist characteristics of migrant circles within their autobiographical writings. See for example Czempin 1969, pp. 165–166. Czempin recalls rare contacts with other groups, and points to the language barrier as a central cause for social isolation. See also Ernst Loewy’s account as described in an interview published in August 1989. Loewy 1989, pp. 714–721. 14 Historian Helmut Eschwege, a member of the Palestine Communist Party (PCP) and a close friend of Arnold Zweig, describes his grim experiences as a communist in Palestine in his autobiographical work. Eschwege 1991, pp. 36–48.

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Cultural and socio-political organs associated with the network of CentralEuropean left-wing émigrés were mainly voluntary initiatives, grounded upon personal bonds between their members, some of whom maintained close ties with the Palestine Communist Party (PCP).15 In fact, members differed from one another to enough of an extent that would have turned them into political rivals back in their homelands. Disagreements as such were, however, overshadowed by common sympathies to the German language and culture at large, and a joint commitment to the antifascist battle. Reviewing a few collections of correspondence between members of the circles reveals the breathing heart of the network and the fruits it bore throughout the period of exile and the immediate post-war period, during which some of them gradually left Palestine in order to reintegrate into their former societies.16 An equally significant link connecting the émigrés to one another was the fact that even at the beginning of the 1940s, after spending a few years in exile, culturally isolated and imbued with experiences of estrangement, their determination to re-emigrate had become one of the most consistent common ground shared by many of them. Heute und Morgen was the product of a collaboration between the Kreis der Bücherfreunde – an independent organization founded by a group of engaged German speakers from Tel-Aviv and Haifa – and a cooperative organization which emerged from its core named Lepac (Levant Publishing Co.), importing subsidized politically imprinted journals and fine literature (mostly from the Soviet Union) and operating a small-scale publishing house. The most vigorous branch of the Kreis der Bücherfreunde was the Jerusalem Book Club founded and headed by Louis Fürnberg and his colleague Dr. Wolfgang Ehrlich. The club was a Marxist-Leninist oriented establishment which hosted weekly events dedicated 15 The German Communist Party (KPD) was not formally represented in Mandate Palestine. Elsewhere, where it was allowed and possible, representatives of the party had a significant impact on the dynamics of local politics. Werner Mittenzwei presents such an example in his description of the role played by KPD representatives in Switzerland during the mid-1930s, in turning places of refuge into the stomping grounds of the antifascist movement. See Mittenzwei 1979, pp. 50–60. 16 The following are several examples of mutual gestures linking members of the circles to one another. As part of their friendly bonds, Ernst Loewy helped Louis Fürnberg to establish contacts with cultural institutions who were willing to invite him for lectures. Fürnberg, who was eager to promote Loewy’s career as a literary critic, frequently reviewed Loewy’s manuscripts. See Fürnberg’s letter to Loewy, December 1945. Arnold Zweig and Louis Fürnberg frequently assisted one another during exile. Zweig used to lecture in the Jerusalem Book Club, and wrote a preface to Fürnberg’s collection of poems published in 1943, while Fürnberg and his spouse proofread Zweig’s Grischa cycle, and were busy sending Zweig’s manuscripts to publishers in Moscow and London. Wenzel 1978, pp. 79–80, 82–83, 91–92, 98. While Czempin provided Zweig with financial support, Zweig remunerated him by offering a revised script of his theater play Boneparte in Jaffa planned to be performed by a roof-theater group co-operated by Czempin and Stella Kadmon. See Zweig: Letters to Czempin, July 22 and 29, 1945, August 9 and 14, 1945.

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to culture and world literature. Special curricular events such as May 1st, the “October Revolution Day”, and the “Red Army Day”, were marked festively. Although stark opponents to Zionism, Fürnberg and Ehrlich avoided voicing anti-Zionist opinions during club events. Furthermore, prominent figures within the Zionist German-speaking society such as Shalom Ben-Chorin and Martin Buber are known to have attended some of the events. Neither Fürnberg and Ehrlich nor Czempin and Biro, as directors of both establishments, mobilized the public theaters which they created as a means to promote anti-Zionist stances; when expressing themselves in public, their critical opinions were rendered moderately, compared to those they exchanged in private. They favored instead the praising of Soviet policy and war efforts, the promotion of antifascist cultural trends and the revival of liberal icons of the German-speaking world. Lepac’s founders enjoyed the support of what presumably functioned as a local “cell” of the National Committee “Freies Deutschland”, operating in secrecy and comprised mostly of former members of KPD and SAP as well as supporters and members of PCP, with Arnold Zweig casted as president of honor. The following paragraph written by Zweig was meant to portray Lepac’s goals after it had been established: Wenn sich unsere Landsleute prüfen, was für politische Methoden sie für erlaubt halten, werden die ehrlichen unter ihnen erschrecken und feststellen, dass sie in ihren Vorstellungen auch die Gewaltanwendung für eine erlaubte politische Methode halten. Das ist die Folge der faschistischen Luft, die sie seit zwanzig Jahren eingeatmet haben – in den Ländern, aus denen sie stammen, wie hier im Mittelmeerraum, wo der Faschismus seine Triumphe feiern durfte. Als einige Intellektuelle in Haifa und Tel-Aviv diese Gefahr erkannt hatten, gründeten Sie die LEPAC. Innerhalb ihrer Mittel bestrebt sich diese Gesellschaft, eine lebendige Verbindung herzustellen zwischen progressiven demokratischen Strömungen in der Welt und in unserem Lande. […] Da der grösste Teil des Jischuw aus Russland stammt, und die SW unsere kulturellen Bemühungen sofort verstand und würdigte, werden wir auch zum Dolmetsch zwischen dem lebendigen Kulturschaffen in den USSR und unserm Lande. […] Alle wahren Demokraten, in dieser Zone wie in Europa, sind unsere Freunde; mit ihnen zusammen möchten wir gern das Haus der Zukunft in Palästina errichten.17

The vacuum created by the flames which consumed the inner walls of Lichenheim Publishing House, where the Orient was printed, remained for no longer than two months. In April 1943 Lepac began distributing two journals, both in German (Chug: Kreis der Bücherfreunde) and in Hebrew (Chug). Some of the writers who frequently contributed to the Orient (e. g. Ernst Loewy, Louis Fürnberg, Willy Verkauf and Arnold Zweig) continued doing so for Heute und Morgen. It seems probable that such an overlap also existed among the readers. 17 Das Archiv der Akademie der Künste, Arnold Zweig Archiv, 1407.

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The journal’s issues, appearing in numbers ranging somewhere between a few hundred to thousands, were offered to members of the book clubs in return for subscription fees. From March 1944 the issues were extended to include translated articles originally published in the official journal of the Russian professional unions – Krieg und Arbeiterklasse. In addition, the journal’s title was changed from Chug: Kreis der Bücherfreunde to Heute und Morgen: antifaschistische Revue, reflecting the editors’ revised understanding of their subject matter. Members of the editorial board who had conceived of their local initiative as an integral organ of the antifascist front were now looking to tighten the bonds with the Jewish Antifascist Committee in Moscow as well as with other antifascist organizations abroad.18 Encouraged by a growing public interest, Lepac increased its import and distribution rates, and established an “antifascist reading hall” in Haifa in May 1944. However, the origin of Lepac’s financial means remained rather obscure. Some recall support was provided by members of the PCP.19 However, we assume that Czempin, who was considered to be prosperous and had provided financial support for the Orient, covered a substantial amount of the expenses.

Between German Culture and Class Struggle In the following passages I will characterize the journals’ stance with regards to its major fields of concern, and extract from its contents the essential discursive elements and epistemologies adopted by members of the leftist circles as a means of interpreting their present, and for foreseeing contingent futures for themselves. An editorial statement in the first issue of Heute und Morgen (originally named Chug: Kreis der Bücherfreunde) introduced the reader to the declared goals of the journal. It stressed the importance of “a global movement united in battle”: “Durch die Herstellung einer geistigen Verbindung mit den anglo-amerikanischen und soviet-russischen Kulturzentren glaubt die Levant Publishing Company Ltd. ihren Teil zum Kampfe gegen den Faschismus beizutragen.”20 From the editors’ perspective, this task was to be fulfilled through a balanced ensemble of journalistic articles, excerpts from Western classic and contemporary literary works, critical reviews on culture and literature and pro-Soviet inclined essayistic 18 An unsere alten und neuen Leser, 1945, p. 2. 19 See Hirsch 1980, p. 582; Loewy 1995, p. 56. Since PCP at the time faced the financial burdens of printing its own periodical – Kol Ha’am – it seems unlikely that the party provided for the routine production and printing costs of Heute und Morgen. It may however made a contribution to the establishment of Lepac as part of a larger strategy to win peripheral support. 20 Kreis der Bücherfreunde, April 1943, p. 24.

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writing. With respect to two of its major fields of interest – culture and politics – Heute und Morgen was working according to familiar journalistic models shaped abroad. This approach was chosen apparently in order to win recognition for its acting as a legitimate player in the international antifascist front. For some of the German-speaking émigrés, this was a matter of bare necessity. Before delving into the contents, it seems appropriate to direct attention to another non-declarative goal of the journal, folded within the very acts of writing, translating and circulating, as printing a journal in German was a goal in its own right. Shalom Ben-Chorin, a German-Jewish writer residing in Jerusalem stressed that “Im Exil wird die Muttersprache zum Schutzwall”.21 For intellectuals and cultural figures among the German-speaking community in Palestine, the German language was an indispensable component of their own self-understanding. To lose touch with the mother-tongue meant an entire collapse of the edifice in which the Jewish Central-European intellectual identity once resided. In the introduction to his volumes on the German exiled press, Hans Albert Walter numbers among its essential goals the aim of creating an environment which would attend to the needs of the community of exiles. Newspapers and journals, he claims, functioned as solid ground, as spiritual foundations and at times even as “imagined” exile centers.22 Considering the size and relative political impact of the Palestinian group, an “imagined center” is an attribute which appears to serve us well. Allowing for this possibility, we may identify several roles ascribed to the German language within the communal life of the left-wing circles and its activities, including the production of Heute und Morgen. The prime role was to define a certain field of belonging within the foreign cultural topography of ErezIsrael. Another was to fulfil the expectation to act as an extra-historical component linking the émigrés to “uncontaminated” German idealist cultural assets and to the breeding ground of contemporary exile German literature. Given the framework of the journal’s extensive concern with German culture, the German language was also meant to reflect the essential purpose of distinguishing between Germanness (Deutschtum) and Nazism. This purpose was also evident in its predecessor, Orient, and was indeed common among leading exiled intellectuals, Jews and Gentiles alike, who stood behind exile press organs around the globe, such as Freies Deutschland – the official newspaper of the Mexican based Die Bewegung Freies Deutschland which appeared from 1941 to 1946.23 These establishments echoed the voices of “another Germany” (Das an21 Ben-Chorin 1982, p. 51. 22 Walter 1978, pp. 1–2. 23 The movement was subjugated to the National Committee “Freies Deutschland” and adopted its propaganda methods. This was manifested in its official bulletin, which was entirely devoted to antifascist resistance and also conceived of the task of clarifying the distinction between Nazism and Germany as one of its major roles. See Huß-Michel 1987, pp. 52–57.

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dere Deutschland) – pertaining to the idea that there existed an unpolluted German culture, a core representing moral values that ought to be looked after in order to remain intact. Heute und Morgen followed their footsteps. In a lecture on Romain Roland given by Arnold Zweig on 6 December 1943, in one of Lepac’s lecture series, later appearing in print in the January issue of 1944, the writer praised his admired colleague Roland for his ability to tell Germans from Nazis, as he did, according to Zweig, with regards to the French nation and its militants.24 For Zweig, the rising fascism in Germany stood in complete contradiction to the “German essence”, which was mediated by the German language and culture. Zweig and his fellow men conceived of the assault on the German language as an utter dismissal of the entire body of culture, attesting to this very essence.25 Thus, one may understand the fury expressed in Czempin’s article, protesting against the decision of the Hebrew University in January 1945 to hinder translations of German works from being nominated for the Tschernichovsky prize for translation.26 Heute und Morgen offered extensive coverage of German culture, classic as well as contemporary, whether created and recreated by artists and cultural figures operating outside the borders of the Third Reich, or by members of the German-speaking cultural circles in Palestine. Excerpts from literary works published at the time in major exile loci were frequent, as well as essays and radio plays written by prominent figures among the exiled German intellectuals. Aside from those, prose texts, poetry and theoretical essays published abroad were carefully covered in Loewy’s book review section. Loewy particularly favored books appearing in first editions from the leading publishing house of the German exile community in Mexico City – El Libro Libre.27

24 F.M.: Gedenkstunde für Romain Rolland, Januar 1944, pp. 22–23. Zweig adhered to this mode of thought and expressed it wherever he could. In an article published in July that year, written on the occasion of Lion Feuchtwanger’s sixtieth birthday, Zweig praised his close colleague’s persistence in his battle to preserve the honor of European literature by means of recognizing “the true German essence”. Zweig: Dem sechzigjähriger Lion Feuchtwanger, July/ August 1944, pp. 19–20. 25 Zweig had a first-hand experience of such acts of dismissal, as his anti-Nazi novel Das Beil von Wandsbek was hindered from being published in its original form. Frustrated by the decision, he wrote to Nachum Goldmann on 12 January 1943: “Though all conditions for the printing of my new novel ‘das Beil’ here would be favorable […] the narrow minded opposition of the nationalists is successful in hindering publication here.” Zweig, 12 January 1943. This was the reason behind the decision to publish excerpts from Zweig’s novel in the issue of January 1944, parallel to its appearance in Hebrew. In that, the periodical adhered to a common costume among organs of the exiled-press – that of printing excerpts from literary works written by German writers, which would otherwise not be published. See Weiskopf 1981, p. 67. 26 Czempin: Goethes ‘Faust’ derzeit nicht erwünscht, Januar 1945, p. 14. 27 On “El Libro Libre” see Kießling 1974, pp. 220–242.

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The discussion of contemporary literature was predominately Marxist. For prominent Marxist intellectuals of the time, the press organs of exiled communities were seen as a means of distributing their methods and propagating a doctrine. They were hoping to attract the attention of leading literary critics residing outside of Germany. Above all, it was Loewy who dictated the conceptual framework and corresponding vocabulary dominating the journal’s coverage on culture and literature. Young Loewy absorbed these modes of analysis through his devoted reading of exile periodicals which hosted broad discussions on such matters as “Aufbau”, “Die neue Weltbühne”, “Internationale Literatur” and “Das Wort”. Loewy’s reviews on literature and cinema, some rather raw, were clearly marked by the influence of George Lukács.28 Looking beyond the cultural discourse dominating his present-day Palestine, Loewy realized that in order to promote an ideal type of total art – realistic, comprehensive and bound to a socialist political vision – he had to exceed the limits of the literary discourse, and Heute und Morgen was a most suitable setting to do just that. The coverage of local culture in German included a wide range of activities taking place in Hebrew towns, despite strong opposition to the use of the German language in public. In Jerusalem, members of the circle would gather on a weekly basis either in meetings of the book club or in events hosted by yet another cultural establishment known as Der Kraal, founded in 1942 by Else LaskerSchüler. In Haifa, a cadet of German-speaking intellectuals took part in cultural events held both in Lepac’s antifascist library and in an antiquarian bookstore owned by the German-Jewish writer Friedrich-Sally Grosshut. Other institutions cultivating local German culture at the time, all associated in one way or the other with left-wing circles, were the Kreis für Fortschrittliche Kultur, the Kreis der Bücherfreunde and the theater company led by Arnold Czempin and Stella Kadmon, offering productions of plays by Franz Werfel, Berthold Brecht and Arnold Zweig. In considering the political aspects reflected in the journal, the following considerations need to taken into account. First, the writers and editors of the journal did not adhere to any specific party or political institution in Palestine; their political engagement was restricted by and large to local pro-Soviet initiatives. Second, the fact that the journal was not subjugated to any political institution, at least not formally, may provide the answer to the journal’s lack of coherence in its general approach towards discursive concepts common then, such as “World Communism” and “Zionist Politics”. Third, while the decision to add the “antifascist” attribute to the journal’s title on the occasion of its re28 Loewy himself admitted being deeply influenced by the Hungarian thinker. Loewy 1995, p. 31. The matter is also addressed in a letter to Dr. Werner from the National Library in Frankfurt a.M., 7 January 1977.

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appearance in January 1945 was meant to better define the political character of the journal, the function of this frequently abused term remained ambiguous, as “antifascism” was as prolific in meaning as its antonym – fascism. Yet, a certain ambiguity with regards to the term appears rather useful for discussing the journal’s politics. In its frequent use both within the issues and in private exchanges, the term “antifascism” pertains to different sets of meanings. This diversity in meaning will serve us here as a means of dividing and interpreting the circle’s politics, as manifested in the issues of Heute und Morgen. One common use of the term by exiles referred to its symbolic dimension. The “Antifascist Movement”, as it was referred to by a few, was merely a conglomeration of local, mainly pro-Soviet initiatives, in which people possessing varied ideological convictions cooperated with one another.29 Thus the “exchange value” of the term was not to be measured against its capacity to demarcate a distinguished political stance within the Yishuv, but rather on the basis of its symbolic dimension, attesting mostly to the obligation to withstand. Another dimension which bore an impact on the journal was rooted in the traditional communist interpretation of the essence of European fascism, according to which fascism was first and foremost a reactionary movement of bourgeois industrialists and capital investors. Indeed, an abundance of articles and excerpts from literary works published in the journal demonstrate a commitment to a Marxist interpretation of world and local politics. Editorial choices did however demonstrate a slight deviation from classical Marxist political thought. The editors denied a narrow understanding of fascism, according to which anti-Semitic ideology and subsequent policies were mere by-products of Nazism, whose sole purpose was to serve the necessities of a dictatorial regime. Such setbacks were manifested primarily in pieces published during the months preceding and shortly following the end of the war.30 A third dimension which left its mark in almost every issue was based on an identification between antifascism and proSovietism, which relied in turn on a one-dimensional opposition between 29 For instance, the letter of establishment of the “League for Victory” (known as “Liga V”) – an antifascist organization for the aid of the Red Army – was signed both by declared communists such as the poet Mordechai Avi-Shaul, as well as by active Zionists such as the actress Hanna Rovina, Max Brod, and Martin Buber. Hirsch 1980, p. 577. 30 In a telegram from the secretary of “The Jewish Antifascist Committee” in Moscow, Shachno Epstein, which was sent to Lepac and published in January 1945, Epstein admitted that Antisemitism was a central element within the core of Nazi ideology. Epstein 1945, pp. 4–5. Due to certain characteristics attributed to Soviet Jews, which were used to distinguish them from other local minorities, and owing to the fact that they survived the Stalinist purges of 1938 almost unharmed, Jewish Soviet intellectuals were considerably late in recognizing the existence and scale of Antisemitism as a social phenomenon. For an illuminating discussion of the Jewish Soviet elite during the first half of the twentieth century, see Slezskine 2004, chap. 4.

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communism and fascism. This mode of thought pumped a stream of information within a central artery in the journal’s body: its consistent propaganda in favor of the Soviet regime. This inclination was characteristic of the Orient as well, but to a lesser degree. It should be noted that during this period, pro-Soviet inclinations were not exclusive to leftist circles in Mandate Palestine; the Yishuv and its Zionist leadership acknowledged Soviet exhaustive war efforts, and the leading figures behind Heute und Morgen: antifaschistische Revue must have been aware of this fact. Therefore the question of why the editors chose to further extend the proSoviet stance represented by the Orient remains to be answered. Few suggestions seem reasonable. First, members of the left-wing circles perceived the pro-Soviet trend as an integral part of their self-understanding as comrades in the antifascist battle, and as such, they were looking to address a matter in consensus in order to attract empathy for their causes. Second, the journal kept contact with nonZionist Jewish organizations which were subordinate to the Soviet ministry of propaganda; fearing Soviet isolation, the editors were obliged to pay constant tribute to Soviet propaganda mechanisms. The third suggestion, the most speculative yet central to the broader scope of our discussion here, explores the possibility according to which some members of the circle acted under the impression that their envisioned journey back to Europe would inevitably pass through Soviet bureaucracy. They may have been concerned that their Jewish origins could turn out to be working against them. Although early indications to the inter-bloc struggle did not appear before late 1947, and the “Cosmopolitan Purge” which bore an explicit anti-Jewish sentiment began only in January 1948, anti-Semitic sentiments were common during this period in the Soviet world, owing at least partly to the national anti-Bourgeois campaign led by Stalin with its embedded anti-Jewish element commencing years before.31 In order to be considered qualified, at least in the political sense, they had to mold their own past – today, in exile. In this respect, Lepac was designed to function as an institutional counterpart to Soviet authorities. The varied use of the term “Antifascism” as described in the above demonstrates its function as a signified element in an identity structure of left-wing exiles in Palestine. The term itself, along with its manifold connotations and meanings, provided them with a prospect which exceeded far beyond the boundaries of local politics and the “identity politics” dominating it from within. The attempt to grant the journal an antifascist character was intended, among 31 On the Soviet anti-Jewish campaign of the late 1930s, see Chur 1995, chap. 1; Vaksberg 1994, chap. 5; Blank 1995, pp. 56–59. On Stalin’s anti-Western and in time anti-Semitic post-war policy and the “Cosmopolitan” persecution, see Azadovski/Egorov 2002, pp. 66–80; Herf 1997, pp. 106–161.

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other things, to meet the standards presented by the leading cultural and political institutions of the German political exile. The exemplified adoption of varied interpretational approaches attest to the resolve to follow this cause.

Left-wing émigrés and the Jewish predicate Examined in retrospect, it is difficult to determine exactly how the émigrés would have ranked the various components of their identities. Would they identify themselves first as Germans, Austrian or Czechs, and only then as antifascists with a Jewish origin trailing somewhere behind? Or was it rather that the experience of expulsion brought about an unexpected intensifying of a Jewish element? Leaving aside differences in origin and social belonging, all Central-European émigrés had to face the burden of the “Jewish problem” at a certain stage, as the introduction of the Nation State turned their parents and grandparents into members of a minority group within the European collective. In Germany, Jews were demanded to renounce the particularity of a collective form of living in return for the right to integrate into the general society as equals. As has been emphasized by Shulamit Volkov, this meant a concession of a collective-self, not a private one.32 However, the adoption of the concept of Bildung, along with core principles of the Enlightenment by the Jewish intellectual elite, as a means of integrating into the surrounding environment, did not necessarily entail the relinquishing of a Jewish identity altogether. The same goes for the adoption of left-wing values.33 There is no doubt that the acculturation processes which took place in Palestine were accompanied by a transformation in the relation of émigrés towards their Jewish identity. A crossroad experience as such resonates in the first letter sent by Arnold Zweig to his admired friend Sigmund Freud after Zweig had settled in Haifa in 1934. As Zweig describes a state of sobriety, the tone is unmistakable: “Ich mache mir nichts mehr aus der ‘Lande der Väter’. Ich habe keinerlei zionistische Illusionen mehr. Ich betrachte die Notwendigkeit, hier unter Juden zu leben, ohne Enthusiasmus, ohne Verschönerungen und selbst ohne Spott.”34 Surely an encounter with a Middle-Eastern reality and its consequences was not exclusive to non-Zionists, but a common experience among the community of Central-European immigrants in Mandate Palestine. To suggest that the journal reflected such transformations manifestly would be inaccurate, but it 32 Volkov 2002, pp. 155–161. 33 According to historian George L. Mosse, the German-Jewish tradition reached its climax with a left-wing identity. Mosse 1985, p. 55. 34 Freud/Zweig 1984, pp. 66–69.

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does however shed light on the intricate stance of left-wing émigrés toward their Jewish identity. Acknowledging the uniqueness of the “Jewish Problem” compared to other large-scale social conflicts was regarded by members of the universal socialist movement as problematic if not even harmful to the general cause. To depict oneself as protector of the Jewish cause meant facing the risk of being perceived as a representative of a narrow interest group among the larger population of victims. Left-wing émigrés in Palestine were familiar with this imperative. The very existence of such a conflict provided the cause for claims held against them by Central-European Zionists. The former were accused of alienation from their ethnic origins, indifference concerning the faith of the European Jewry, and an alleged ignorance toward the challenges and decisive predicaments faced by the Jewish community in Palestine. In order to examine whether such claims were justified with regards to Heute und Morgen: antifaschistische Revue as a case representative of the community as a whole, it needs to be pared down to its basic elements. Concerning the supposed expression of estrangement toward their Jewish origins, judging by the contents of the journal only, this accusation seems to be resting on shallow ground. Items demonstrating a declarative affinity to the Jewish collective appeared in many issues. Facing a dilemma, the editors had to find a path which would enable them, on the one hand, to address Jewish matters as distinguished from other social conflicts discussed within the issues, and on the other hand to come to terms with the outcomes of the entanglement described above. The chosen path demanded continuous shifts between a tendency to manifest a matchless urgency concerning the faith of European Jewry and a constant effort to apply the use of supposedly universal socialist paradigms. In order to balance out the equation, the editors often turned to a summoned solution, according to which the Jewish question was implemented in a larger normative discourse and examined through the eyes of a so-called impartial Marxist observer.35 Addressing the claim against the émigrés’ supposed lack of interest in pressing matters occupying the Yishuv, it should be noted that exiles were often seen as advocators of political agendas which undermined Zionism by their very substance. Often enough this was not the case. Czempin, Biro and Loewy had no Zionist backgrounds whatsoever, but nonetheless their outspoken skepticism never turned into hostility. The exception was Fürnberg, a sworn anti-Zionist who signaled the radical end of the circle. Furthermore, so far as Heute und Morgen provided a stage for presenting claims directed against Zionist institutions and the Zionist leadership, such a critique was neither coherent nor consistent enough to define the journal as anti-Zionist. The journal certainly did 35 See for example Gallacher 1944, pp. 10–12.

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not refute Zionism as a legitimate solution to the “Jewish problem”, but rather regarded it as a partial and limited one. Finally, let us attend to an alleged indifference on behalf of the circles’ members with regards to Jewish suffering. Apart from published items refereeing directly to severe criminal acts committed against Jews across the continent, other references to the subject were linked to another sensitive topic which the journal addressed: the question of collective guilt. The discussion evolving around the theme of German guilt had occupied exiled intellectuals much earlier than its appearance in the German public. For instance, German exiles in Mexico were already engaged in a heated debate over the Vansittartian approach (“Vansittartismus”) in 1942. KPD activist Paul Merker was speaking in the name of many antifascist exiles in Latin America when arguing that the monopole industrialists, capitalists, army generals and high ranking clerks who had elevated Hitler should also be held responsible for the crimes committed by his regime.36 David Bankier has divided the dispute over German collective guilt into two opposing camps. The first camp, represented by figures such as Lord Robert Vansittart, Ilja Ehrenburg and Henry Morgenthau, accused the German public of being collectively guilty for Nazi crimes. Among those in the opposing camp, Bankier numbers mostly British left-wing liberals, and advocates for the concept of “the other Germany” such as Harold Laski and Victor Gollancz.37 In her book Luther? Friedrich “der Große”? Wagner? Nietzsche?…?…? – Wer war an Hitler Schuld? which offers a broad perspective on the debates regarding the question of German guilt, Barbro Eberan argues for a decisive role played by different social and cultural surroundings in shaping the opinions of exiled German intellectuals with regards to Germany, the German people and the question of guilt. Eberan’s argument is demonstrated in an analysis of various positions represented in exile journals.38 For those residing in Palestine while retaining an affiliation to their homelands, for whom the question of return was as lucid as it was concrete, the concern with Jewish suffering inevitably brought about the topic of collective guilt. One could trace references, mostly indirect, to this topic within the journal’s issues. In September 1944 Loewy reviewed Emil Ludwig’s How to Treat the Germans?, published in New York only a few months before. Loewy accused Ludwig of 36 See Kießling 1974, pp. 126–149. 37 Bankier 2007, pp. 311–312. Sir Robert Vansittart was a central figure in the British Foreign Office during WWII, eager to promote a hard line policy against Germany after the war. In early 1941 he gathered his thoughts, convictions and proposed solutions in a lengthy report in which he examined the German past and present while making generalized claims on behalf of “Germans in the plural”. Vansittart 1941. 38 Eberan 1983, pp. 26–34.

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advocating the Vansittartian doctrine and rejected the steps presented by the latter as necessary in order to dismantle the German fascist-militarist illusion.39 Two months later, Loewy wrote a favorable review of Paul Merker’s Deutschland – Sein oder nicht Sein?. The book offers an historical account of the material conditions leading to the collapse of the Weimar Republic and the Nazis’ rise to power. For Loewy, this was another opportunity to articulate his conviction in the centrality of economic structures in facilitating the rise of fascism.40 Bearing this in mind, a contemporary reader might be surprised to come across the following quote by Ilja Ehrenburg, linked to a poem by the Jewish German-Czech poet Peter Pont, appearing in the issue of March 1945: Wir gehen nicht darauf aus, alle Deutschen physisch zu vernichten, denn wir sind keine Menschenfresser. Wir vernichten nur Verbrechen. […] Kinder haben das Recht, in eine Welt einzutreten. Sie sind nicht für die Sünden ihrer Eltern verantwortlich. […] wir führen die Sünden dieses Volkes nicht auf sein Blut zurück, aber wir wollen die Welt von diesem Übel befreien. Zu diesem Zwecke sind wir im Begriffe, nicht nur die Völker von den Deutschen, sondern auch die Deutschen von der widerlichen Niedrigkeit, die sie selbst in sich entwickelt hatten, zu befreien.41

Ehrenburg’s statement represents the voices of the opposing camp within the polemic over collective guilt. In the attempt to work through what appears to be an area of indistinctness or even contradiction in the journal’s ideological framework, we should take a closer look at Loewy’s critique on Emil Ludwig’s text. Ludwig’s voice signified a distinct approach within the developing polemic, and the opinions he published in Aufbau were followed by fierce objections. As other exile journals were also engaged in the discussion, Loewy’s critique reads as a resonance of a broader debate. When jointly considering the sensitivity of the subject and Loewy’s clear-cut judgement, it seems likely that his opinion reflected the journal’s position at large. Bearing in mind the editorial decision to quote Ehrenburg’s moderate statements, we may arrive at the conclusion that the journal tended towards the opposing side of the polemic. Denying the accusation of collective guilt was particularly recognized by socialist intellectual exiles residing in Western countries. Compared to other exiled communities, such as the German communists in Moscow, the former were far less assimilated in their host societies and therefore expressed less empathy, if any, to the dominant political consensus.42 According to Eberan’s model, the journal’s tendency to distance 39 Loewy May/June 1944, pp. 19–20. 40 Loewy Sep.–Oct. 1944, p. 14. Merker’s book was embraced by leading exiled German intellectuals such as Thomas Mann, Heinrich Mann and Ernst Bloch, and attracted considerable attention during the post-war years. See Herf 1997, p. 58. 41 Ehrenburg March 1945, S. 14. 42 Eberan 1983, pp. 26–27. In his famous book from 1946, Karl Jaspers, who argued that collective guilt was inevitable, introduced a decent solution to disentangle this imminent tension

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itself from claims of collective guilt, correlates both with a common set of cultural affinities and a commitment to the act of distinction between German-ness and Nazism, as well as with the émigrés’ withdrawal from the dominant political sphere in Mandate Palestine.

Heute und Morgen, Here and There The contribution of the leading figures behind Lepac and Heute und Morgen: antifaschistische Revue to the consolidation of a socially independent sub-group in Palestine cannot be ignored. Nevertheless, they did not succeed in creating a truly polemic organ, one that would reflect the prospering diversity among the circle’s members at the time. On a scale ranging between the rigidity of the Moscovian International Literatur and the pluralism of the New Yorker Aufbau, Heute und Morgen was closer in character to the former. This was partly due to the editor’s adherence to pro-Soviet guidelines. Indeed, some of the articles and reviews which appeared in the issues resemble both in content and in form the publications of antifascist committees which operated under the supervision of Soviet propaganda institutions. Combined with the multitude of humanist contents, one is reminded of a particular fusion characteristic to the days of the “Popular Front”, as the Soviet Union was looking to win sympathy in Western countries. In fact, the sustained relationship between Lepac and The Antifascist Committee, as reflected within the journal, was the result of a Soviet mechanism which supported pro-Soviet organizations lacking a solid political stance and operating outside the Soviet Union, such as Lepac. As a journal designated for a community of Central-European émigrés inclined to leftist convictions, its major added value for scholarship lies in its capacity to contribute to a historical evaluation of the conduct of left-wing circles in Palestine. For some, this conduct was driven by a discreet wish to return to their homelands. In this sense, the journal, as well as other cultural and political establishments, served to negotiate an inner call under the disguise of a hypothetical discussion on the fate of the continent and the future of the German people during the immediate post-war period. Some of the prominent figures within the circles, including Arnold Zweig, Louis Fürnberg, Ernst Loewy and Rudolf Hirsch, did in fact return. Their gradually decreasing interest in their immediate surroundings was bound to their conception of time. Issues of the by stressing that “To hold liable does not mean to hold morally guilty”. Jaspers 2001, p. 55. According to Jaspers, there existed no conflict between accepting the notion of collective guilt and the will to partake in the creation of a new human existence in Germany; rather, he felt that the contrary was the case.

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journal were filled with traces of a Marxist principal, according to which the present owes its very existence to the future. And what was this image of a future, which the left-wing exiles clung to, comprised of ? First, it was founded on a utopian concept of a future adhering to the paths of history as prescribed by Marxist theorists. Second, it was dependent on the promise concealed within the phrase “Das andere Deutschland”, frequently used by antifascist exiles who perceived themselves as the guardians of German culture, or as Heinrich Mann put it in 1933: “Stimme ihres stumm gewordenen Volkes”.43 Torn out of their pasts, and without a real place to call their own, the Palestinian émigrés wandered about the streets of Tel-Aviv, Haifa and Jerusalem, with grim faces and clinging on to the prospects of a future, perhaps that future.

Sources and Literature An unsere alten und neuen Leser, in: Heute und Morgen: antifaschistische Revue 9, January 1945, p. 2. Azadovski, Konstantin and Boris Egorov: From Anti-Westernism to Antisemitism: Stalin and the Impact of the ‘Anti-Cosmopolitan Campaigns’ on Soviet Culture. In: Journal of Cold War Studies 4/1 (2002), pp. 66–80. Bankier, David: Hitler, the Holocaust and German Society (Hebr.). Jerusalem 2007. Beling, Eva: Die gesellschaftliche Eingliederung der deutschen Einwanderer in Israel: Eine soziologische Untersuchung der Einwanderung aus Deutschland zwischen 1933 und 1945. Frankfurt a.M. 1967. Ben-Chorin, Shalom: Im Exil wird die Muttersprache zum Schutzwall. In: Germania Hebraica (1982), p. 51. Blank, Naomi: Redefining the Jewish Question from Lenin to Gorbachev: Terminology or Ideology? In: Jews and Jewish Life in Russia and the Soviet Union. Ed. by Yaacov Roi. Portland 1995, pp. 56–59. Czempin, Arnold: Mein Repertoire. New York 1969. Czempin, Arnold: Goethes ‘Faust’ derzeit nicht erwünscht, in: Heute und Morgen: antifaschistische Revue 9, Januar 1945, p. 14. Eberan, Barbro: Luther? Friedrich “der Große”? Wagner? Nietzsche?…?…? – Wer war an Hitler Schuld? Die Debatte um die Schuldfrage, 1945–1949. München 1983. Ehrenburg, Ilja: Ohne Titel, in: Heute und Morgen: antifaschistische Revue, March 1945, S. 14. Epstein, Schachno: Renaissance eines Volkes, in: Heute und Morgen: antifaschistische Revue 9 Januar 1945, pp. 4–5. Eschwege, Helmut: Fremd unter meinesgleichen: Erinnerungen eines Dresdner Juden. Berlin 1991. F.M: Gedenkstunde für Romain Rolland, in: Chug: Kreis der Bücherfreunde 3, January 1944, pp. 22–23. 43 Mann 1971, p. 16.

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Michael Langer

„Gestern bleibt das wahre Heute!“ – Heimat in der Welt von Gestern und Morgen bei Rudolf Kayser

1.

Einleitung

Die Medien- und Literaturlandschaft der Weimarer Republik wurde maßgeblich geprägt durch Zeitschriften wie Die Weltbühne, Die Tat oder Das Tage-Buch. Diese große Anzahl qualitativ hochwertiger Periodika zeugt vom kulturellen Reichtum der ‚goldenen Zwanziger Jahre‘. Ein zentrales Organ, in dem sich die literarischen Entwicklungen in der Weimarer Republik spiegeln, war die vom Berliner S.-Fischer-Verlag herausgegebene, aus der Freien Bühne hervorgegangene Neue Rundschau. Ihr Chefredakteur war in den Jahren von 1922 bis 1932 Rudolf Kayser, ein jüdischer Schriftsteller und zentraler Akteur der deutschen Kulturszene. Auch nach seiner Flucht vor den Nationalsozialisten publizierte Kayser zeitlebens in deutscher Sprache, er kehrte nach 1945 jedoch nicht mehr nach Deutschland zurück. Seine Beweggründe für die nicht erfolgte Rückkehr nach Deutschland sollen im Folgenden Gegenstand der Untersuchungen sein. Kayser selbst hat keine ausdrückliche Erklärung für seine Nicht-Remigration gegeben. Um möglichen Gründen dafür nachgehen zu können, werden im Folgenden Kaysers Verständnis von Identität und Heimat wie auch seine Vorstellungen von Kultur, Nation und sein Begriff von Religiosität zu untersuchen sein. Anhand dieser Betrachtungen lassen sich Hinweise auf sein Zugehörigkeitsgefühl ermitteln und Rückschlüsse bezüglich seiner ausgebliebenen Remigration ziehen. Der bewusste Verzicht auf eine Rückkehr nach Deutschland ist zugleich eine Begründung, weshalb seine Schriften nicht mehr rezipiert und seine Vita unbekannt geblieben ist. Im Jahr 1889 geboren, erregte Rudolf Kayser erstmals 1920 größeres Interesse durch seinen Essay Das Ende des Expressionismus, in dem er die Erschöpfung dieser kulturellen Strömung früh und ungewöhnlich deutlich analysierte.1 Die Zeit des Expressionismus als ein Übergangsphänomen bezeichnend, bemerkte er, dass „der Schlagwortinhalt abgewirtschaftet hat, Kämpfertum zu einer Kon1 Kayser: Das Ende des Expressionismus, 1961, S. 318–324.

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vention geworden und revolutionäre Terminologie allzu konservativ geworden ist.“2 In der Folge bedürfe es einer neuen Form; die Entwicklung, die zu nehmen sei, sei etwa vergleichbar der Entwicklung von der Klassik zum Sturm und Drang. Bedeutend ist an dieser Darstellung nicht allein die Rolle von Kunst und Literatur als dem avantgardistischen Korrektiv einer sich in beständigem Wandel befindlichen Gesellschaft, sondern die Verbindung der Analyse mit dem Aufruf zu einer neuen Form. Richtungsweisend sollte laut Kayser dabei weder die individuelle Suche nach mystischer Erfahrung sein, noch die Flucht der Literatur in ideologische Programme. Seinem Abgesang auf den Expressionismus folgte jedoch noch im selben Jahr ein von Kayser selbst herausgegebener lyrischer Sammelband mit dem Titel Verkündigung3, der zahlreiche Autorinnen und Autoren vereinte, deren Werke eben dieser literarischen Strömung zugerechnet wurden. Im Vorwort formulierte Kayser allerdings seine Einschätzung, dass diese Strömung bald als abgeschlossen betrachtet werden könne.4 Die Zeichen des Untergangs sah Kayser im Symptom des Zerstörerischen und dem zum Allgemeingut herabgesunkenen nihilistischen Gedanken. Die Sammlung, die Kayser solchermaßen als eine zeitgeschichtlich aussagekräftige Momentaufnahme verstand, wurde zunächst nur in einer sehr kleinen Auflage von hundert Stück für Liebhaber herausgegeben, ein Jahr später allerdings wurde sie im Roland-Verlag in einer höheren Auflage ein zweites Mal wieder aufgelegt. Eine Gegenüberstellung mit der kanonisch gewordenen Sammlung expressionistischer Lyrik Menschheitsdämmerung: Symphonie jüngster Dichtung5 von Kurt Pinthus, die Ende 1919 in einem Kleinverlag und dann ab 1920 bei Rowohlt erschien, soll nicht der Frage nach dem Stellenwert der beiden Werke nachgehen. Sie fragt nach den Auffassungen, welche die Herausgeber über ihre Arbeit formulieren, um so Aufschluss über das Denken Rudolf Kaysers zu gewinnen. Im Unterschied zu Pinthus neigte er dazu, Gemeinsamkeiten statt trennender Elemente hervorzuheben und auch in divergierenden Entwicklungen nach Kontinuitätslinien mit gemeinsamem Ursprung zu suchen. Kaysers Verkündigung ist nicht nur eine zahlenmäßig doppelt so viele Autoren und Autorinnen umfassende, sondern auch deutlich zurückhaltendere Anthologie. Während Pinthus mit der thematischen Anordnung der Gedichte zugleich eine Interpretation vorgab, ging es Kayser vor allem darum, einen Moment des Wandels zu kartografieren, der den Weg für eine zukünftige Lyrik bereiten sollte. Auf eine Kategorisierung der Gedichte verzichtete Kayser ausdrücklich. Wo 2 3 4 5

Ebd., S. 324. Kayser: Verkündigung, 1921. Vgl. ebd., S. XI. Pinthus 1955.

„Gestern bleibt das wahre Heute!“

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Kayser eine Zeit ohne „programmatische Gemeinschaft“6 im „Unter- und Übergang“7 sah, stellte Pinthus in der ersten Ausgabe klar, dass eine alphabetische oder chronologische Betrachtung der Epoche nicht möglich sei, da sie „das dröhnende Unisono der Herzen und Gehirne“8 zerschneiden würde. Umso schwerer wiegt deshalb der Eingriff, den Pinthus in seinem als Nachklang betitelten Vorwort ab den im Jahr 1922 gedruckten Ausgaben vornahm: Er stilisierte seine Symphonie als ein „geschlossenes […] [und] abschließendes Dokument dieser Epoche“.9 Während also Pinthus seine ursprüngliche Sammlung immer fester zu einem Kanon ‚der‘ expressionistischen Dichtung mit homogenem Ausdruck formte, verstand Kayser seine Anthologie als eine Momentaufnahme, die das Vergängliche in der festen Form einer Anthologie darreicht. Die Epoche charakterisierte er anhand ihrer einzelnen Vertreter, die zwar in übergreifende Entwicklungslinien eingebettet wurden, dennoch aber als Einzelne Vorrang vor programmatischen Aussagen oder Einordnungen der expressionistischen Lyrik hatten. Die scheinbare Widersprüchlichkeit in der Darstellung Kaysers – das Ende einer Kulturepoche vorwegzunehmen und dennoch den Aufbruch zu einer neuen Epoche mit eben jenen zeitgenössischen Autoren beginnen zu lassen – erscheint dabei nicht als das unreflektierte Ausspielen zweier gegenläufiger kultureller Strömungen, sondern als eine dezidiert undogmatische Sammlung mit dem Ziel, durch eine kontemplative Lektüre der neuen Form auf die Spur zu kommen.

2.

Heimatbegriff und Zeitlichkeit

Die Qualität der Anthologie expressionistischer Lyrik, seine Arbeit als Herausgeber im Dreiländerverlag, sowie die Qualität seiner schriftstellerischen und essayistischen Arbeit dürften schließlich den Ausschlag gegeben haben, dass Kayser ab 1919 als Lektor und ab 1921 als Assistent von Oskar Bie vom S.-FischerVerlag angeworben wurde.10 Bereits 1922 war er dann leitender Redakteur der Neuen Rundschau und prägte über zehn Jahre hinweg eine der wichtigsten Kulturzeitschriften der Weimarer Republik. Beendet wurde diese Karriere im Dezember 1932 durch eine vom S.-Fischer-Verlag als einvernehmlich verkündete Absetzung Rudolf Kaysers von der Redaktion der Neuen Rundschau.11 Als Anlass dürfen die zunehmenden Repressalien der Nationalsozialisten gegen jüdische 6 7 8 9 10 11

Kayser: Verkündigung, 1921, S. IX. Ebd., S. V. Pinthus 1955, S. 22. Ebd., S. 33. Vgl. Heuer 2005, S. 324. Vgl. Fischer 19. 12. 1932.

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Intellektuelle gelten, allen voran gegen Albert Einstein, dessen Schwiegersohn Kayser gewesen ist, wie auch der sich abzeichnende Generationenwechsel in der Leitung des Verlages von Samuel Fischer hin zu Bermann Fischer.12 Seine Entlassung bezeichnete Kayser selbst später als Beginn eines „Passionsweges“13. Ein Jahr nach der Trennung vom Verlagshaus folgte Kayser den Ratschlägen der Freunde und siedelte mit finanzieller Unterstützung seines Schwiegervaters Albert Einstein ins Ausland über.14 Mit seiner Frau Ilse zog er 1933 nach Haarlem, eine Stadt nahe Amsterdam. Für regelmäßige Besuche bei seinem Vater kehrte er immer wieder nach Berlin zurück. Dabei versuchte er verzweifelt, erneut in Deutschland Fuß zu fassen. Von Zeitgenossen, gerade von guten Freunden wie beispielsweise Oskar Loerke, wurde Kayser während dieser Phase beschrieben als einer, der nur „nervös leidensfähig ist“15, „sich krank durch Heimweh“ macht, jedoch auch „Gefallen am eingebildeten Unglück“16 findet. Diese Charaktereigenschaften hatten möglicherweise zur Folge, dass Kayser den Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland falsch einschätzte, dass er sie als politische Kraft nicht ernst genug nahm und in dem wachsenden Antisemitismus nicht die Gefahr erkannte, die er war. Mit den zunehmenden existenziellen und psychischen Problemen wurde Kaysers Sehnsucht nach dem gut situierten Leben im Dienste des Verlagshauses S. Fischer, das er einst hatte führen können, immer größer. Während der vergeblichen Versuche wieder zu publizieren – Kayser erwog auch Veröffentlichungen unter falschem Namen – erhielt Kayser einen Brief von Thomas Mann, der eine Formulierung enthielt, die richtungsweisend für Kaysers spätere Konstruktion von Heimat werden sollte. Mann schreibt: „dieses ‚unbändige Heimweh‘, das Sie immer wieder dorthin treibt, wo wir nichts zu suchen haben. Es ist ja ein Heimweh in der Zeit, nicht im Raum, und also recht unvernünftig, denn das, um was Sie Weh tragen, ist nicht mehr, es ist vorbei.“17 Diese fürsorgliche Mahnung aus dem Jahre 1933 lässt erkennen, dass Heimat nicht nur geografisch sondern auch temporal bestimmt werden kann und muss. Entsprechend schließt Thomas Mann in diesem Brief an Kayser auch für sich selbst eine Rückkehr nach München zwar nicht gänzlich aus, bringt aber die Vorstellung, unter den derzeitigen Verhältnissen – also den Verhältnissen des Jahres 1933 – in München leben zu müssen, als alles überragendes Argument gegen ein Leben in Deutschland vor.18 Im Folgenden wendet sich 12 13 14 15 16 17 18

Vgl. Kayser, Eva 15. 01. 1974. Kayser 12. 02. 1935, Brief an Gerhard Hauptmann. Einstein 27. 01. 1933, Brief an Rudolf Kayser. Kasack 1986, S. 292. Ebd., S. 308. Mann 1961, S. 351f. Ebd., S. 352.

„Gestern bleibt das wahre Heute!“

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Mann in seinem Brief an Kayser dem literarischen Schaffen der beiden Autoren zu, das aus Sicht Manns nicht schlechter als zuvor vorangehe. Den gutgemeinten Ratschlag des berühmten Autors, mit der Vergangenheit abzuschließen, konnte Kayser für sich zu diesem Zeitpunkt und auch später nie vollständig umsetzen. Erst mit dem Tod seiner Frau Ilse wird es ihm gelingen, den Blick wieder in die Zukunft zu richten und nach neuen Perspektiven Ausschau zu halten. Bis es so weit war beschrieb Kayser in Anlehnung an Marcel Proust seine ungewisse Situation in Holland als eine „Suche nach der verlorenen Zeit“19. Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass er sich zwar sehr wohl der Tatsache bewusst war, dass mit dem Verlust der geografischen Heimat auch eine zeitliche Entwurzelung einhergegangen war. Dennoch wehrte er sich noch gegen die Einsicht, dass dieser Lebensabschnitt unwiederbringlich abgeschlossen sein sollte. Vergleichbar mit der Formulierung Thomas Manns aus dem Jahr 1933, die sich Rudolf Kayser zu eigen macht, vermittelt 1966 – also nach der Erfahrung der Shoah – Jean Améry in seinem Essay Wie viel Heimat braucht der Mensch?20 jenes Phänomen des Heimatverlusts in der Kategorie der verlorenen Zeit. Améry beschreibt den Erkenntnisprozess, der mit diesem neuen Verständnis von Heimat einhergeht, in einer Metapher, in der das alte Leben von dem Exilanten von einst nun bei seiner Rückkehr in die alte heimatliche Landschaft wie eine äußerlich gewordene Hülle von ihm abfällt.21 Bei Kayser waren es in den Jahren 1933 und 1934 zwei Komponenten, die eine solche Distanznahme vom alten Leben zunächst verhinderten: Erstens war dies die Hoffnung darauf, dass eine Rückkehr in das alte Leben noch möglich sei. Und zweitens war dies der Versuch, seine schwerkranke Frau vor einschneidenden Veränderungen zu bewahren und alles ihrer Genesung unterzuordnen. In einem Sanatorium in Saint-Cloud in der Nähe von Paris starb Ilse Kayser jedoch nach längerem Leiden schließlich in der Nacht vom 8. auf den 9. Juli 1934.22 Der Nachruf, den Rudolf Kayser auf seine Frau zu ihrem einjährigen Todestag verfasste, lässt gut erkennen, wie sehr ihn dieser Verlust prägte und inwiefern er mit seiner Entscheidung, Europa zu verlassen, unmittelbar verknüpft war. Der als Requiem betitelte, überaus emotionale Text beschreibt Kaysers Situation auf einem Ozeandampfer, der in „Einsamkeit zwischen dem Gestern und Morgen“23 treibt. Er zeigt Kayser in einem transitären Zustand, ohne zeitliche und räumliche Bindung. In dieser haltlosen Einsamkeit träumt er sich in die Vergangenheit 19 20 21 22 23

Kayser 12. 01. 1935, Brief an Gerhard Hauptmann. Améry 1966, S. 71–100. Vgl. ebd., S. 72. Vgl. Kayser: Ilse. Ein Requiem, 1936, S. 53. Ebd., S. 7.

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mit seiner Frau zurück. Doch schlägt der zunächst schöne Traum mit ihrem Tod in einen Albtraum um. Dieser hinterlässt ein Gefühl, als habe er sich „verirrt in einen fremden Raum und in eine fremde Zeit.“24 Sein bisheriges Leben gehört nun ganz und unwiderruflich der Vergangenheit an. Ein neues Leben in Deutschland zu etablieren ist unmöglich geworden – umso größer ist die Sehnsucht nach dem einst in der Zeit der Weimarer Republik geführten Leben. Während die wirtschaftliche Notlage auch nach dem Tod Ilses durch die monetären Zuwendungen des Schwiegervaters Albert Einstein aus Amerika gemildert wurde, bedeutete der Tod Ilses ansonsten eine einschneidende Zäsur. Der Tod seiner Frau veränderte Kaysers Sicht auf die eigene Situation grundlegend und führte zu einem Bruch mit seinem bisherigen Leben. Kayser gab die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Deutschland auf. Dass damit die Einsicht in die Notwendigkeit eines Neubeginns einherging, wird deutlich durch die Wahl eines Zitates aus Goethes Paria, das Rudolf Kayser in einem Brief an Gerhard Hauptmann verwendete: „Uns, die tief Herabgesetzten / Alle hast du neu geboren.“25 Kayser bekräftigte damit nach der dreifachen Verlusterfahrung – Vertreibung aus Deutschland, Ende der beruflichen Karriere, Tod der geliebten Frau – seinen Entschluss zum Neuanfang. Rudolf Kayser nahm noch im Herbst des Jahres 1935 das Angebot von Freunden und Verwandten an, nach Amerika überzusetzen. Zunächst reiste er für eine Vortragsreihe über den Atlantik, ließ sich in New York nieder und lernte schließlich die jüdische Berliner Emigrantin Eva Urgis kennen, die er 1936 heiratete. Im Januar 1941 erwarb er noch vor der Zwangsausbürgerung durch die Nationalsozialisten die amerikanische Staatsbürgerschaft. Bis zu seinem Tod ist er noch mehrmals nach Europa, aber nie mehr nach Deutschland zurückgekehrt.

3.

Neuanfang im Exil

Mit dem Verlassen des europäischen Kontinents stellte Kayser zwar seine Bemühungen ein, nach Deutschland zurückzukehren, konnte sich aber dennoch von den Erinnerungen an die Weimarer Zeit nicht lösen. So schrieb er 1938 aus New York an Gerhard Hauptmann: „das Gestern bleibt das wahre Heute!“26 – eine Formulierung, die Kaysers starke Vergangenheitsorientierung auch noch nach seinem Neubeginn in Amerika zum Ausdruck bringt. Weder die zweite Ehe noch der große berufliche Erfolg, den Rudolf Kayser in Amerika als Lehrer, Lektor und später dann Professor an der Brandeis University hatte, konnten 24 Ebd., S. 55. 25 Kayser 24. 05. 1935, Brief an Gerhard Hauptmann. 26 Kayser 04. 02. 1938, Brief an Gerhard Hauptmann.

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seine Verbundenheit mit Europa beenden. Die Benennung des Lehrstuhls für die eigens für ihn geschaffene Professur als Lehrstuhl für Deutsche und Vergleichende europäische Literaturgeschichte und Philosophie bezeugt, dass Kayser sich auch in Amerika mit der Kultur und Literatur des Landes auseinandersetzte, das er hatte verlassen müssen und in das er nie mehr wieder zurückkehrte. Für Kaysers Neubeginn in Amerika waren mehrere sich einander bedingende Faktoren konstitutiv. Einer davon war die Erlangung der finanziellen Unabhängigkeit. Durch seine Tätigkeit als Pädagoge konnte Kayser bald auf die Zuwendungen seines Schwiegervaters verzichten. Wie sehr die finanzielle Abhängigkeit ihn belastet hatte und welch überragende Bedeutung die nun erlangte finanzielle Unabhängigkeit für Kayser hatte, wird in einem Brief an einen alten Freund deutlich, der in Deutschland zurückgeblieben war. Kayser schreibt: „die neue materielle Existenz selbst im Ausland: sie kann ein Stück Vaterland sein.“27 Mit dem gesicherten Einkommen war nicht nur der erste Schritt zu einem Neuanfang getan. Einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen entsprach auch Kaysers dringendem Wunsch, eine Aufgabe in der Neuen Welt zu haben und zugleich die Interaktion mit der Literatur fortzuführen. Sicherlich folgte die Entscheidung Kaysers für den Lehrberuf seinen Fähigkeiten und den Möglichkeiten, seine Expertise einzubringen. Es war aber auch eine Wahl, die er im Bewusstsein traf, „der Welt, in der ich lebe und zu der ich immer gehören werde, Ausdruck und Wirkung zu geben“28 – so formuliert er es nach der Ankunft in New York 1935. Diesen Satz schrieb Kayser zunächst, so wie hier zitiert, im Präsens. Die Bewohner dieser Welt, auf die er sich bezog, sind allerdings längst ins Exil getrieben worden. So definierte sich Kayser in seinem Brief ganz in Sinne des ‚anderen Deutschland‘. Durch das Präsens drückte er klar aus, dass er sich von dieser von Thomas Mann als unwiederbringlich verlorenen dargelegten, vergangenen Zeit nicht lösen kann. Bezeichnend ist jedoch die Korrektur, die Kayser in diesem Brief vornimmt: er ersetzt die Präsensform durch die Vergangenheitsform und macht aus dem „lebe“ ein „lebte“.29 Durch diese Korrektur verändert Kayser den Sinn seiner Aussage grundlegend. Die Erinnerung an das Leben in der Weimarer Zeit blieb zwar zentraler Bezugs- und Vergleichspunkt, doch gehört diese Zeit der Vergangenheit an. Der Fokus aber lag nun auf dem eigenen aktuellen Schaffen und den gegenwärtigen Möglichkeiten, die sich boten. Der Lehrberuf ermöglichte es Kayser auch in Amerika, den Aufbau einer neuen Existenz mit seinem vergangenen Leben und mit dem zurückgelassenen europäischen Kulturkreis zu verbinden.

27 Kayser 21. 12. 1933, Brief an Gerhard Hauptmann. 28 Kayser 12. 11. 1935, Brief an Gerhard Hauptmann. 29 Vgl. ebd.

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Kayser, der bereits zur Zeit der Weimarer Republik nicht nur als Literaturvermittler sondern auch als Autor historischer Romane in Erscheinung getreten war – in Anspielung auf den erfolgreichsten seiner Romane hatte man ihm den Namen ‚Spinoza-Kayser‘ verliehen – knüpfte im Exil zum einen an seine Arbeit als Schriftsteller an und setzte zum anderen die intensive Auseinandersetzung mit den Werken zeitgenössischer Autorinnen und Autoren fort, nun allerdings nicht mehr als Lektor sondern als Lehrer und Wissenschaftler. Kayser versuchte, aus der alten Lebenswelt so viel wie möglich mitzunehmen und aus ihr Anknüpfungspunkte für seine neue Existenz in Amerika zu schaffen. Kayser kann als ein Privilegierter unter den Exilanten gelten. Finanzielle und diplomatische Unterstützung hatten seine Flucht ermöglicht, im Exil gelang ihm ein erfolgreicher beruflicher Neuanfang und Aufstieg an der Seite seiner zweiten Frau. In seinem Essay aus dem Jahr 1966 beschreibt Jean Améry diese kleine Gruppe der Privilegierten aus der Sicht des Außenseiters: [Sie] trafen einander in Paris, Amsterdam, Zürich, Sanary-sur-mer, New York. Auch sie hatten Sorgen und redeten über Visum, Aufenthaltserlaubnis, Hotelrechnung. Aber in ihren Gesprächen ging es auch um die Kritik eines jüngst erschienenen Buches, eine Sitzung des Schutzverbandes der Schriftsteller, einen internationalen antifaschistischen Kongreß.30

Améry verweist hier auf Gespräche über literarische Produktivität und Gegenstände jenseits der drängenden alltäglichen Sorgen eines Lebens im Exil, wie sie auch in Rudolf Kaysers Briefwechsel mit Thomas Mann oder Gerhard Hauptmann zu finden sind. Améry betont dabei die divergierenden Lebenswelten, wenn er davon berichtet, wie die privilegierten Exilanten aufgrund ihres Ruhms, ihrer persönlichen Beziehungen und finanziellen Verhältnisse Deutschland und Europa verlassen konnten, während andere, unbekannt und mittellos, verfolgt und ermordet wurden. Für Améry, den nichtprivilegierten verfolgten Juden, eröffnete sich die Möglichkeit des Neuanfangs im Exil nicht. Seine Wiederbegegnung mit der österreichischen Heimat, die er in seinem Essay von 1966 beschreibt, erklärt das einst empfundene Heimatgefühl zur Täuschung, als Illusion angesichts der nicht vorhandenen Solidarität gegenüber den verfolgten Juden von „den Kameraden von der Schulbank, den Nachbarn, den Lehrer[n].“31 Für Améry gibt es keinen Ersatz dafür – anders als für andere, die eine Art Heimatersatz in der Religion, in Reichtum oder Ruhm gefunden haben mögen.32 Sowohl der Rückschau Jean Amérys wie auch der Rückschau Rudolf Kaysers wohnt die Gewissheit inne, dass die Heimat unwiederbringlich verloren ist. Doch hat sich für Améry die Heimat, der er einst meinte zuzugehören, als Illusion 30 Améry 1966, S. 77. 31 Ebd., S. 88. 32 Vgl. ebd., 76f.

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herausgestellt, so dass er sich selbst als „gelernter Heimatloser“33 klassifiziert. Ein Neuanfang ist nur mit der Einsicht in diese Täuschung und in der klaren Abgrenzung davon möglich. Kaysers Konzeption von Heimat steht der Amérys insofern entgegen, als sich für ihn eine neue Existenz, eine neue Identität nur in enger Verbindung mit der bisherigen Vergangenheit und Heimat konstituiert. Während Améry an einem Konzept von Heimat festhält, das sie primär als „Vaterland“34 und „Kindheits- und Jugendland“35 deutet, kann sich Heimat bei Kayser verändern. Es ist für ihn ein Begriff für eine Gemeinsamkeit von prägenden Erfahrungen, die keinen persistenten Bestand haben muss. Für Kayser haben aber die Erfahrungen in der nun nicht mehr existierenden Heimat – sei sie geografisch oder temporär unerreichbar – eine hohen Wert, weshalb er sich bewusst entscheidet, eine Brücke zwischen seiner Konstruktion von Heimat und dem Neuanfang zu schlagen: Für Améry markiert der Nationalsozialismus einen eindeutigen Bruch, da er konstatiert, dass sich für die jüdischen Opfer das Gefühl von Heimatzugehörigkeit als „Lebensmißverständnis“36 herausgestellt hat, während Kayser eine Entwicklung zu konstruieren versucht, erkennt Kayser eine Entwicklung an. Améry betont somit den Bruch, Kayser hingegen setzt auf Kontinuität.

4.

Identitätsbegriff und Literatursprache

Für Kayser besteht das Ich eines jeden Individuums, wie er es in seinem Essay Der jüdische Schriftsteller37 von 1950 darlegt, aus seiner Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gemeinschaften. Sie unterscheiden sich in Gruppierungen, die sich um Ideen von „Zeit und Raum […], Blut, von der Landschaft, der Geschichte, der Idee, oder vom Glauben“38 zentrieren. Sie üben bedeutenden Einfluss auf das Ich aus, insofern sie einen jeweils nicht aus dem Gesamtzusammenhang der Identität des Einzelnen extrahierbaren Einzelaspekt abbilden. Beispielsweise kann die Zugehörigkeit zu einer Nation oder auch einer Religion, ‚das Jüdische‘, ‚das Deutsche‘ oder ‚die Literatur‘ als eine solche Gemeinschaft gesehen werden.39 33 34 35 36 37 38 39

Ebd., S. 107. Ebd. Ebd., S. 97. Ebd., S. 100. Kayser: Der jüdische Schriftsteller, 1950. Ebd., S. 1. Man kann hier mit Blick auf Robert Ezra Park von Kayser sicherlich als marginal man, zu Deutsch Randseiter, sprechen, wenn er an verschiedenen Kulturen teil hat, ohne von einer genau geklärten Zugehörigkeit zu sprechen. Die dadurch für die eigene Identität entstehende Krise eröffnet Chancen auf einen weiteren Horizont durch eine aufgrund von geografischen, sozialen und kulturellen Veränderungen erfolgte Auseinandersetzung mit anderen Räumen,

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Den Wandel dieser einzelnen, möglicherweise antinomen Gemeinschaften über die Zeit hinweg schließt Kayser dabei nicht aus. Es war für ihn weder möglich, eine Grenze zwischen diesen Gemeinschaften zu ziehen, noch den Einfluss der Gemeinschaften von der individuellen Persönlichkeit klar abzugrenzen. Gerade die Frage nach der Identität eines Schriftstellers, an der Kayser in besonderem Maße interessiert ist, muss auch den Aspekt der (Literatur-)Sprache einbeziehen. Kayser äußert sich in seinem Essay zum Verhältnis von literarischen Texten und Sprachgemeinschaften folgendermaßen: „da sie [ jede Dichtung, M.L.] in einer bestimmten Sprache verfasst ist, gehört sie auch zur Nation, die in dieser Sprache spricht.“40 Kayser geht dabei nicht darauf ein, ob signifikante Unterschiede zwischen Nationen vorliegen, welche dieselbe Sprache sprechen. Es geht ihm vielmehr um die Zugehörigkeit zu einer der Nation übergeordneten Sprachgemeinschaft, aus der die Literatursprache erwächst. Für den Schriftsteller Kayser blieb die Zugehörigkeit zur deutschen Literatur so lange bestehen, wie er in deutscher Sprache schrieb. Für den besonderen Fall der deutsch-jüdischen Literatur spezifizierte Kayser noch einmal genauer, dass „die Form [dieser, M.L.] eigentlich ein Suchen ist, nach dem Ort des jüdischen Geistes im Raume der deutschen Kultur.“41 Kayser verfasste seine Monografien auch in Amerika weiterhin in deutscher Sprache und zog für eine Publikation auf dem englischsprachigen Markt eine Übersetzung seiner Werke vor. Für die Arbeiten, die er als nichtliterarische verstand, für seine Essays und für seine wissenschaftlichen Arbeiten, bediente er sich dagegen häufig der englischen Sprache. Die noch erhaltenen zahlreichen Vorträge, Vorlesungen und Radiobeiträge belegen, dass sich Kayser keineswegs der Sprache und Kultur des Exillandes verweigerte. Gerade in seinen Sendungen für das Radio, einem Medium, dem er bereits in den 20er Jahren in Deutschland sehr aufgeschlossen gegenübergestanden hatte, sprach er nicht nur über die – als geistige Heimat bezeichnete – Literatur der Weimarer Republik, sondern auch über amerikanische Autoren und Neuerscheinungen. Die Exilsituation begriff Kayser als Herausforderung, als die Notwendigkeit zu einer Öffnung gegenüber neuen, bisher wenig bekannten Gemeinschaften. Er unterschied sich darin von vielen anderen Exilanten, deren prekäre Situation Oskar Maria Graf einmal so charakterisierte, dass das, was „als scheinbar Fremdes in diesen seelischen Bezirk einströmte […] in jedem von uns oft weit gefährlichere Krisen als der tägliche, harte materielle Existenzkampf“42 auslöse. soziokulturellen Strukturen oder auch – wenn wir uns an die Begrifflichkeit bei Kayser erinnern – mit anderen Gemeinschaften. 40 Kayser: Der jüdische Schriftsteller 1950, S. 1. Hier ist jeweils vom authentischen Originalwerk auszugehen, nicht von den Übersetzungen. 41 Ebd., S. 1. 42 Graf 1961, S. 30.

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Von diesem materiellen Existenzkampf weitestgehend verschont, setzte sich Kayser intensiv mit den neuen Einflüssen auseinander und konnte relativ schnell ein neues Leben aufbauen, ohne sich jedoch seiner Sehnsucht nach der Vergangenheit entledigen zu können. Kayser vertrat die These, dass beim Verlust der alten Identität die Auseinandersetzung mit neuen Kulturen eine Notwendigkeit ist. Die Empfindung für diese Notwendigkeit führte Kayser auf das Wesen des Jüdischem zurück – eine Vereinzelung des Schriftstellers durch den Rückzug auf sich selbst schloss er für Angehörige der jüdischen Gemeinschaft aus.43 Selbst noch aus der Verweigerung des Einzelnen gegenüber der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft resultierte nach Kayser eine neue Zugehörigkeit, nämlich die zu einer Gruppe von einzelnen Individuen mit einem ähnlichen Wunsch nach Distanzierung. Die möglichen Kombinationen von Gemeinschaften, denen eine Person angehören kann, verstand Kayser als unzählbar, die Zahl der Variationen als endlos – dies lässt sich lesen als ein klares Bekenntnis zum Individuum, das jedoch gemeinschaftlichen Zusammenhängen bedarf. Letztlich bedingen sich Individuum und Gemeinschaften, da sich das Individuum erst durch die Zugehörigkeit zu vielen Gemeinschaften definiert, diese sich aber durch die Bündelung einzelner Individuen auszeichnen. Es wurde bereits deutlich, dass die Aussichtslosigkeit in beruflicher und ökonomischer Hinsicht sowie der Tod seiner ersten Frau einen essentiellen Bruch im Leben Rudolf Kaysers darstellten. Das Verlassen des europäischen Kontinents ist als ein zentraler Wendepunkt zu verstehen, an dem sich seine Haltung gegenüber Deutschland veränderte. Der Kulminationspunkt dieses Trennungsprozesses war der Tod von Ilse Kayser, der zugleich als Impuls für die Auswanderung Kaysers gesehen werden kann. Zugleich war es für Kayser von identitätsstiftender Bedeutung, das Andenken an das Herkunftsland zu wahren und seine geistige Heimat in der Literatur zu sehen. Auf diese Weise gelang es Kayser, das alte Leben mit dem neuen zu verbinden, ohne – wie viele andere Exilanten in seiner Situation – am endgültigen Verlust der zurückgelassenen Heimat zu verzweifeln. Die fluiden Übergänge zwischen den Gemeinschaften und die mannigfaltigen Facetten seiner Persönlichkeit machten es Kayser möglich, in neue Gemeinschaften einzutreten, ohne damit zugleich die Teilhabe an den alten zu verlieren. Dies bewies Kayser gerade durch seine Entscheidung, in seinen literarischen Werken an der deutschen Schriftsprache trotz des englischsprachigen Umfelds festzuhalten. Für dieses verfasste er seine englischsprachigen literaturkritischen und wissenschaftlichen Arbeiten. Der Übergang vom Alten zum Neuen gestaltete sich dabei durchaus als ein schwieriger Prozess,

43 Vgl. Kayser: Der jüdische Schriftsteller, 1950, S. 2.

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als ein Kampf um die eigene Identität, der schließlich jedoch zu privatem Glück und beruflichem Erfolg, zu einer soliden Etablierung44 in Amerika führte.

5.

Europa und die Rolle der Juden nach 1945

Kaysers Beweggründe für das Verlassen seiner ursprünglichen Heimat waren nicht identisch mit denen für seine Entscheidung gegen eine Remigration. So ist die Rekonstruktion der Ursachen für seine Abwendung von Europa zwar notwendig, aber nicht ausreichend, um seine Weigerung zur Remigration ermessen zu können. Im holländischen Exil hatte Kayser für die Beschreibung seiner Situation Begriffe wie „Passionsweg“ und Wiedergeburt45 (in der Bedeutung von Auferstehung) verwendet, zwei nichtjüdische, auf die christliche Religion verweisende Termini. Wie für zahlreiche liberale Juden bedeutete das Judentum für Kayser nicht nur ein Religionsbekenntnis, sondern auch – vielleicht sogar vor allem – eine ethisch-moralische Verpflichtung.46 Obwohl Gegner der Assimilation, tat er sich zugleich als überzeugter Antizionist hervor, wenn er 1919 in einer Kritik an Theodor Herzls Der Judenstaats in der Neuen Rundschau erklärt: „Palästina wird aber nie die jüdische Heimat sein; denn diese ist die Menschheit.“47 Er sah die Pflicht der Juden darin, als eine von universellen, nationenübergreifenden Werten überzeugte Gemeinschaft auf eine europäische Idee hinzuwirken. Kayser war Befürworter der Paneuropabewegung und glaubte in der Stellung der Juden als Bürger einer Nation und zugehörig zu einer transnationalen jüdischen Gemeinschaft einen notwendigen Baustein für eine europäische Mission zu sehen: „Juden und Europäer ergänzen sich […] bei jenem der religiöse Geist, […] bei diesem das Leben, die Natur“.48 Es müsse, so seine Überzeugung, einen neuen Bund der europäischen Juden geben, welche in einen Austausch mit den Christen innerhalb ihren jeweiligen Nationen treten und so zu einem gemeinsamen Entstehen Europas beitragen sollten. Kayser verfolgte die Idee einer gleichberechtigten Beteiligung zweier Gemeinschaften, der jüdischen und der christlichen, an einem sozialen Europa, welches die Menschen über die Nationalstaaten hinaus verbinden konnte, in letzter Konsequenz sogar Nationalstaaten überflüssig werden lassen könne. Kayser entwickelte diese für seine Zeit keineswegs ungewöhnlichen Ideen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, und er hielt bis zu seinem Bruch mit Europa, den er endgültig erst im Wissen um die Shoah vollzog, an ihnen fest. 44 45 46 47 48

Näheres zum Begriff der Etablierung bei Fleck 2015, S. 401–425. Wörtlich „neu geboren“; Zitat aus Goethes Paria. Vgl. Kayser: Wiedersehen mit Berlin, 1933, S. 2. Kayser: Der Judenstaat, 1919, S. 687. Kayser: Der neue Bund, 1918, S. 525f.

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In gewandelter Form findet sich die Idee einer geistigen Gemeinschaft auch in späteren literarischen Werken und Briefen wieder. Nach 1945 sah Kayser in der Etablierung einer „neuen Religiosität“49 die einzig erstrebenswerte Möglichkeit einer in die Zukunft weisenden Entwicklung Europas und Deutschlands. In seinem 1952 in der Neuen Schweizer Rundschau erschienenen Essay Kultur und Nationalismus50 beschreibt Kayser die „nihilistische Krise“51 der Deutschen, die in seinen Augen den nationalsozialistischen Terror und die Shoah überhaupt erst ermöglicht hatte. Diese Krise, so Kayser, bestimme auch noch die Zeit nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes. Drei Möglichkeiten seien nun denkbar: Erstens könne es zu einer Hinwendung zu einer neuen Form von Religiosität kommen; auf diese Entwicklung hoffte Kayser. Zweitens bestehe die Gefahr, dass auf der Grundlage romantischer Vorstellungen erneut der Versuch unternommen würde, nationale Gemeinschaften zu bilden. Drittens könne die Entwicklung auf eine Abkehr des Einzelnen von jeder Form von Gemeinschaft hinauslaufen. Dies würde den Menschen, und vor allem den künstlerischen Menschen, vereinzelt als einen „Höhlenbewohner“52 zurücklassen. In dieser zuletzt skizzierten Variante schließt Kayser erkennbar an frühere eigene Überlegungen zur expressionistischen Kunst an. Er nimmt damit zugleich Argumente auf, die in der erbitterten Debatte um den Expressionismus und seine Nähe zum Faschismus in der Exilzeitschrift Das Wort angeführt worden waren.53 Es liegt auf der Hand, dass Kayser aufgrund seines Verständnisses von ( jüdischer) Identität, die nicht jenseits von Gemeinschaften zu denken ist, die letzte Variante als eine nicht erstrebenswerte und zudem kaum wahrscheinliche Option ausschloss. Die von ihm propagierte Entwicklung, die Entstehung einer Gemeinschaft auf der Basis einer neuen Religiosität, ist jener ähnlich, die er bereits in den 1920er Jahren als paneuropäische Idee jüdischer Prägung propagierte. Nun allerdings, nach der Erfahrung der Shoah, aber war ihm „der Inhalt des Glaubens […] weniger wichtig als sein Vorhandensein, als die Glaubenstat.“54 Der Wille zu einer neuen ethisch-religiösen Gemeinschaft in Europa müsse entstehen, das Handeln auf dieses Ziel hin sichtbar werden.

49 50 51 52 53

Kayser: Kultur und Nationalismus, 1952, S. 540. Ebd., S. 531–541. Ebd., S. 540. Ebd., S. 541. Die Debatte richtete sich zunächst in persönlichen Anwürfen gegen Gottfried Benn, dem Klaus Mann 1937 im September-Heft des Wort vorwarf, sich den nationalsozialistischen Machthabern und ihrer Kulturpolitik anzudienen. Noch im selben Heft weitete Alfred Kurella unter dem Pseudonym Bernhard Ziegler diese Kritik an der Person Gottfried Benns aus und formulierte eine allgemeine Kritik an der Kunst des Expressionismus, die gewissermaßen zwangsläufig in den Faschismus münde. 54 Kayser: Kultur und Nationalismus, 1952, S. 541.

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Zur Verwirklichung der idealen Gemeinschaft im Zeichen einer neuen Religiosität konkretisierte Kayser, es solle sich um einen „europäische[n] Geist außerhalb von Zeit und Raum […] schöpferisch durch Bindung an die überwirklichen, ewigen Werte“55 handeln. In den Katastrophen des 20. Jahrhunderts sieht Kayser den Beleg dafür, dass die Aufklärung gescheitert ist. Nicht eine Befreiung der Kultur, sondern den Aufbruch in den Nihilismus habe sie zur Folge gehabt. Mit der Abwendung von einer religiös-ethischen Kultur begründet Kayser schließlich den Zivilisationsbruch (Dan Diner) der Shoah. Dementsprechend forderte Kayser eine Rückbesinnung auf ethisch-religiöse Werte, die für ihn das Zentrum der Religion schlechthin ausmachten. Diese Forderung stellte Kayser an das europäische, insbesondere an das deutsche Christentum. Erst nachdem sich in Europa eine religiös-ethische Gemeinschaft der Christen wieder neu konstituiert habe, könnten die verschiedenen Religionen wieder miteinander ins Gespräch kommen und in einen Austausch treten. Durch die Shoa änderte sich allerdings Kaysers Auffassung von der Teilhabe der jüdischen Gemeinschaft am Wiederaufbau des neuen Europa und der Entstehung der neuen Religiosität. So ging Kayser noch 1933 davon aus, dass die jüdischen Jugendlichen „im neuen Palästina oder im alten Deutschland den Boden bebauen oder in der Werkstatt sitzen [werden]“.56 1952 sah er die Zukunft der Schicksalsgemeinschaft der Juden in Europa nur mehr im „Wachsein und [der] Bereitschaft“57, nicht mehr in der Tat. Damit skizzierte er die Rolle der europäischen Juden als abwartende, nicht mehr als agierende Gemeinschaft. Eine interreligiöse und damit paneuropäische Interaktion könne erst wieder fruchtbar sein, wenn sich die christliche Kulturgemeinschaft in Europa selbstständig erneuert habe.

6.

Neue Religiosität und Staatsbildung

Was unter Religiosität verstanden werden kann, beschreibt Kayser in seinem Essay Kultur und Nationalismus in Abgrenzung zum Begriff des Staates. Eine nationale Gemeinschaft im „Verbundensein von Menschen durch Herkunft, Landschaft und Sprache“58 bewertet er als natürlichen Zustand. Ein Problem sieht er jedoch in der zweckhaften Anwendung dieser Attribute. Die ideale Verwirklichung der Idee einer Nation ist für Kayser eine Gemeinschaft, die staatsfern und ohne Machtverhältnis existiert. Diese bezeichnet er als Genossenschaft, und er billigte ihr in seinem 1919 veröffentlichten Aufsatz Der neue 55 56 57 58

Ebd. Kayser: Wiedersehen mit Berlin, 1933, S. 2. Kayser: Kultur und Nationalismus, 1952, S. 541. Ebd., S. 531.

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Bund zu: „der Staat kann und soll wohl Mittel des Geistes sein, sich die Herrschaft auf Erden zu sichern; er bedarf aber der Macht, der Trennung der Gemeinschaft […]. Deshalb kann der Staat wohl Objekt einer Gemeinschaft sein, nie aber ihr Subjekt.“59 Als gelungene Gemeinschaft bewertet Kayser demnach eine Nation, die frei von einem einengenden Staatengebilde existiert. Eine Organisation einer Gemeinschaft in einem Staat ist nach Kayser eine christlich-europäische Tradition und ein „Zweckverband“60. Aufgrund der durch Nationalismus hervorgerufenen, sich bereits im Ersten Weltkrieg entladenen Konflikte, ist diese Variante aus Kaysers Sicht im Jahre 1919 allerdings keine wünschenswerte Organisationsform für eine jüdische Gemeinschaft. Kayser ging zwar davon aus, dass ein jüdischer Staat kommen würde, warnte aber gut 30 Jahre vor der Staatsgründung Israels vor der zerstörerischen Kraft des zionistischen Nationalismus.61 Den Nationalismus an sich beschreibt er als ein Krisenprodukt, als den Gegenentwurf zu einem natürlichen Gemeinschaftsgefühl. Kayser legt dar, dass der Begriff der „Fremde“ „die eigentliche Gegenposition des nationalen Charakters dar[stellt]. Er bezeichnet das Fehlen all jener Eigenschaften, die das Erlebnis der Gemeinschaft ermöglichen.“62 Es ist also der Mensch, von dem er ausgeht und an dem zu erkennen sei, welche Gemeinschaften als gelungen angesehen werden könnten, nicht die Organisationsform der Gemeinschaft. Er fordert als Gegenentwurf in seinem 1923 erschienen Buch Zeit ohne Mythos: „[So] entsteht die neue Welt, die keinen Namen und keine Formel noch hat […] indem man den Glauben an den Menschen bewahrt.“63 Für eine ideale Gemeinschaft verlangte Kayser das Vorhandensein von sozialen Fähigkeiten und Mobilität sowohl innerhalb der Gemeinschaft als auch gegenüber anderen Gruppen. Kayser dachte die Verbundenheit des Individuums mit einer Gemeinschaft stärke es gegenüber dem Fremden; zugleich sollte aus dieser gestärkten Position heraus ein Austausch mit dem Fremden möglich werden. Den umgekehrten Weg zu beschreiten – anhand von Kriterien eine Auswahl an Menschen zu bestimmen, die eine Gemeinschaft ausmachen und sich deshalb von allen anderen abgrenzte – begriff Kayser als einen Irrweg, der in der Katastrophe des Faschismus mündete. Er erwähnt bei seinen Überlegungen über die Ursachen des Zweiten Weltkrieges 1954 die Shoa nicht explizit, sondern spricht von einer „geistig-politischen Krise“64 und mit Blick auf Deutschland von „nationalistischem Krampf“65. 59 60 61 62 63 64 65

Kayser: Der neue Bund, 1918, S. 523f. Kayser: Der Judenstaat, 1919, S. 673. Vgl. ebd., S. 687. Kayser: Kultur und Nationalismus, 1952, S. 531. Kayser: Die Zeit ohne Mythos, 1923, S. 108. Kayser: Kultur und Nationalismus, 1952, S. 533. Ebd., S. 540.

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Den Beginn dieser Entwicklung hin zur Katastrophe, die Kayser keineswegs als unabwendbar auffasst, sieht er in der aufkommenden „Sehnsucht nach Nationalität…, Sehnsucht nach Verbindung und Wechselwirkung unter den Menschen“66 was er als ein romantisches, auch soziales, aber kein rein deutsches Phänomen einstufte. Jedoch traf es in Deutschland auf ungünstige Vorzeichen: eine starke Heterogenität der deutschen Nation und einer damit einhergehenden Widersprüchlichkeit des Nationalgefühls: „Die Franzosen sind ein Volk, das die Zweideutigkeit haßt [sic!]. Die Deutschen lieben die Vieldeutigkeit ihres Wesens und sind unsicher gegenüber sich selbst.“67 Der kritische Punkt war jedoch überschritten, als die Sehnsucht nach Nationalismus in Deutschland nicht auf die Literatur beschränkt blieb. Mit Nietzsches These, Gott sei tot, war zudem die Kirche als christliche Institution ihrer ideellen Wirkungsmacht beraubt.68 Die freigewordenen Kräfte wurden in den Dienst des Staates gestellt und mit rassischen Ideen untermauert. Nicht mehr der Geist, sondern „die sichtbare Tat […] wurde […] im faschistischen Zeitalter verlangt und bewundert.“69 Deshalb begann man, laut Kayser, in Deutschland alle technischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Errungenschaften als rassische Überlegenheit zu begreifen und zum „Ausdruck […] der germanischen Seele“70 zu stilisieren. So wie Kayser also die Besonderheiten der Entstehung des Faschismus in Deutschland beschreibt und die dadurch in Europa entstandene Katastrophe des Zweiten Weltkriegs begründet, bleibt er doch mit seiner Betrachtung auf einer Ebene, die das gesamte Europa im Blick behält. Seine ursprüngliche Idee der Verbindung von Juden und Christen in diesem gemeinsamen Europa sah Kayser durch den Bruch, den diese Katastrophe ausgelöst hatte, in weite Ferne gerückt. Dabei ging es ihm nicht um das Ideal einer europäischen Utopie. Aber mit der expliziten Aussparung der Beteiligung der Juden zur Schaffung der neuen Religiosität in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg machte Kayser deutlich, dass nicht nahtlos an die Zeit vor 1933 angeknüpft werden könne. Zunächst, so argumentierte er, müsste wieder eine Gemeinschaft in Europa entstehen, die kulturell belebte und humane, vom Menschen ausgehende Strukturen wachsen lasse und zu einer Genossenschaft hinstrebe. Die Rolle, die Kayser in diesem Entwicklungsprozess dem jüdischen Volk zuwies, ist eine abwartende, aber nicht eine abgewandte. Kayser hegte mit seiner Vorstellung von einer neuen Religiosität also noch die Hoffnung auf die (Wieder)Entstehung einer wertebasierten Kulturgemeinschaft in Deutschland und in Europa. Im Blick auf seine Überzeugung, dass nur aus 66 67 68 69 70

Ebd., S. 535. Kayser zitiert hier Adam Heinrich Müller. Müller 1809, S. 253. Ebd., S. 532. Vgl. ebd., S. 537–540. Ebd., S. 539. Ebd., S. 540.

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dem Innersten des einzelnen Menschen heraus ein neues, besseres Sozialgefüge entstehen kann, ist eine Übereinstimmung des Denkens von Kayser, dem im amerikanischen Exil lebenden Juden, mit Eugen Kogon, dem bekennenden Katholiken und KZ-Überlebenden auszumachen. Bei Kogon allerdings ist der Europa-Gedanke sehr viel weniger stark ausgeprägt als bei Kayser. Kogon sieht in seinem Glauben an das Gute die „hohen deutschen Qualitäten“71, die in den Tiefen eines jeden Deutschen schlummerten. Er proklamiert die Notwendigkeit einer inneren Reue, die zu einer Katharsis mit der Rückbesinnung auf die mit der Aufklärung verloren gegangenen religiösen Bezüge führen sollte. Diesen Reinigungsprozess begreift Kogon als notwendige Voraussetzung für einen Neuanfang in Deutschland. Mit Kayser stimmt er darin überein, dass diese Entwicklung noch lange Zeit in Anspruch nehmen wird – Kogon spricht von einigen Generationen, Kayser macht keine Zeitangaben, sondern verweist auf das Wächterlied des Jesaja. Für Kogon sind es die Bibel und die Zehn Gebote, die Grundlage des menschlichen Handelns sein sollten, einen „sittlichen Kodex“72 bilden und die „wahre Pflicht“73 beschreiben, nach der jeder Einzelne sein Handeln nach bestem Wissen und Gewissen auszurichten habe. Die letzte Entscheidung über Recht und Unrecht träfe ein ‚höherer Richter‘. Dagegen fasst Kayser diese Werte als einen auf Bildung basierenden Humanismus auf.

7.

Verweigerte Remigration und Diaspora

Die bisherigen Überlegungen zu der Entwicklung von Kaysers paneuropäischen Ideen vor und nach der Erfahrung von Exil und Shoah betrafen ethisch-moralische und religiöse Aspekte in Europa. Im Zentrum stand dabei die von Kayser propagierte Idee einer europäischen Konstellation, bei der Christen und Juden zusammenwirken. Spätestens nach 1945 überführt Kayser diese Utopie in die Vorstellung einer wiederzubelebenden christlichen Religiosität, die in Europa zunächst ohne jüdische Beteiligung zu leisten sei. Diese Verschiebung gibt nicht nur Anstoß, die christliche Perspektive zu untersuchen, sondern auch und gerade die jüdische Perspektive neu zu bestimmen. Auch dazu gibt es bereits Vorüberlegungen aus den zwanziger Jahren, in denen sich Kayser zu der zionistischen Idee eines jüdischen Staates äußert. In seinem Essay Der neue Bund aus dem Jahr 1919 hält er daran fest, dass für ihn „[d]ie Genossenschaft der Juden, die praktische Durchführung und Betätigung ihrer geistigen Gemeinschaft […] nicht der 71 Kogon 1946, S. 363. 72 Ebd., S. 375. 73 Ebd.

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Staat [ist].“74 Kaysers Überzeugung widersprach der vieler Zionisten. In den zwanziger Jahren vertrat Kayser in Hinblick auf eine Staatsgründung in Palästina die Ansicht, dieser müsse in einem ersten Schritt mit Ideen belebt und erst im zweiten Schritt durch Institutionen realisiert werden. Ein Staatsgebilde nach europäischem Vorbild lehnte Kayser als seelen- und ideenlos ab. Es war für ihn eine Organisationsform einer Gemeinschaft, die einen starken Hang zum Nationalismus hatte und daher in seinen Augen keine Grundlage für die Organisation einer jüdischen Gemeinschaft sein konnte. Nach 1945 verschiebt sich Kaysers Position. Verbunden mit seiner Auffassung, dass Juden in Europa vorläufig keine aktive Rolle mehr spielen sollten, wandelte sich auch seine Haltung gegenüber dem Staat Israel. Seine Erwartungen an diesen Staat formulierte Kayser anlässlich eines Besuchs in Israel 1961, also zwölf Jahre nach der Staatsgründung in Worten, die jedoch erkennbar an seine alten Überzeugungen anschließen. Er nennt „Tatkraft, Enthusiasmus und Herzenswärme“ als Bedingung für die Gründung und Existenz des Staates Israel und die „Auferstehung des israelitischen Volkes“.75 Kaysers Israelbesuch bestätigte ihn in seiner durchweg positiven Wahrnehmung des neu gegründeten Staates. Die Vokabeln, die er verwendet, um seine Eindrücke zu beschreiben, belegen auch hier wieder, wie stark er sich dabei auf seine in den zwanziger Jahren formulierten Vorstellungen einer idealen Gemeinschaft bezieht. In Israel nahm Kayser nicht nur eine besondere „Verehrung des Geistes“76 wahr, sondern auch ein „wahrhaft humanes Gemeinschaftsgefühl.“77 Die Bewohner Israels beschrieb er als Mitglieder einer Genossenschaft. Der Eichmann-Prozess 1961, auf den Kayser zwar nur mit einer Nebenbemerkung einging, diente ihm immerhin als ein schlagender Beweis dafür, dass diese Gemeinschaft nicht durch die negativen Züge entstellt wurde, die er einst an nationalen Ideologien als gefährlich kritisiert hatte: „Selbst unter der Wucht des Eichmann-Prozesses“, hebt Kayser eigens hervor, „findet man keine nationale Feindseligkeit.“78 Der Wunsch nach einer Rückkehr beschließt Kaysers Reisebericht: „Wir werden wiederkehren in dieses Wunderland.“79 Der Plural, den Kayser hier verwendet, bezog sich dabei nicht nur auf die Reisegruppe, mit der er Israel erkundet hatte, sondern auf die gesamte Gemeinschaft der Juden. So erschließt sich auch der dem Bericht vorangestellte Vers Jeremia 31,16: „Wehre deiner Stimme das Weinen / und deinen Augen die Tränen, / denn es gibt einen Lohn 74 75 76 77 78 79

Kayser: Der neue Bund 1918, S. 524. Kayser: Tage im Lande Israel 1961, S. 1. Ebd., S. 4. Ebd., S. 7. Ebd., S. 3. Ebd., S. 14.

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deiner Mühsal / sie kehren heim aus Feindesland.“80 Nicht zufällig verwendet Kayser als biblischen Beleg einen Vers aus Kapitel Jeremia 31, der die Wiederkehr Israels ankündigt, eben jenes Kapitel, aus dem er gut 40 Jahre zuvor mit einem anderen Vers auch seinen Aufsatz Der neue Bund einleitet. In diesem 1919 erschienenen Aufsatz plädiert er allerdings noch dafür, dass „Europäische Politik […] auch jede wirklich jüdische Politik“81 ist. Anfang der sechziger Jahre ist es nun die „Heimkehr aus Feindesland“ mit der Kayser letztlich seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass mit dem Staat Israel die alte, angestammte Heimat der Juden als eine neue Heimat wiedergewonnen werden könne. Eine ‚Rückkehr‘ in diese Heimat, in der die noch vor der Shoah formulierten Idealvorstellungen von Gemeinschaft Wirklichkeit geworden waren, war möglich. Unmöglich war dagegen eine Rückkehr nach Europa und Deutschland. Für die Gesamtheit der Juden war somit eine Rückkehr aus der Diaspora nach Eretz Israel denkbar – gleichzeitig begrub er damit – zumindest vorläufig – die Hoffnung auf eine europäische Gemeinschaft. An der Vollendung dieses idealen israelischen Kulturstaates war Kayser nicht mehr unmittelbar beteiligt. Als Pädagoge und Hochschullehrer konnte er der jungen Generation in Form von kultureller und geistiger Erziehung jedoch Anleitung geben. Nicht zuletzt die Erkenntnis dieser Verantwortung machte ihn, wie er Max Brod in Israel anvertraute, in seiner Position als Lehrender sehr glücklich.82 Kayser war der Überzeugung, dass es nun an der jungen Generation sei, einen Neuanfang zu gestalten. Seine eigene Rolle sah er in der des unterstützenden Ratgebers, die Notwendigkeit zu handeln bei einer neuen Generation. „Diese Jugend hat es besser als wir. […] [Sie] braucht kein Mitleid. Aber sie braucht Hilfe und Rat.“83 Als Pädagoge war Kayser auch Teil jener Exilanten, die er selbst einmal als „Pioniere“ beschrieben hatte. Als jüdische Wissenschaftler aller Fachrichtungen Deutschland nach 1933 verließen, bezeichnete Kayser den Zug der Exilantinnen und Exilanten als eine unfreiwillige Entsendung der „deutsche[n] Wissenschaft […] [von] Pioniere[n] ins Ausland“84. Ein solcher „Pionier“ ist auch er geworden, auch wenn er sich nicht mehr als Teil jenes Deutschlands verstand, das er nach seiner Abkehr von Europa 1935 hinter sich ließ. Wie viele ins Exil geflohene Deutsche begriff auch Kayser sich als Teil des „anderen Deutschland“. Kayser verwendete diese – nach 1933 so häufig in Anspruch genommene85 – Formulierung erstmals 1923 in seinem Vorwort an die Leser der Neuen Rundschau: 80 81 82 83 84 85

Ebd., Titelblatt. Kayser: Der neue Bund, 1918, S. 528. Vgl. Kayser: Tage im Lande Israel, 1961, S. 5. Kayser: Wiedersehen mit Berlin, 1933, S. 2. Ebd., S. 5. Vgl. Bahr 1989, S. 1493–1513.

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„Hinter all den Schrecknissen des Tages, […] die Stunde um Stunde uns quälen und uns zu vernichten drohen, verbirgt sich das andere, das eigentliche Deutschland, verbirgt sich und – schweigt.“86 Dass Kayser bei Rekonstruktionen des Diskurses um das „andere Deutschland“ bisher übersehen wurde, lässt sich auf den Umstand zurückführen, dass er den Begriff zu einer Zeit prägte, zu der das „andere Deutschland“ noch ausschließlich als ein geistiges, und nicht auch als ein geografisches – als ein außerhalb des ‚uneigentlichen‘ Deutschland liegendes – gefasst werden konnte. Es lässt sich zeigen, dass Kayser den Begriff in der dezidierten Absicht prägte, die Differenz zwischen einer kulturellen und sprachlichen Gemeinschaft und einem falschen und gefährlichen Verständnis von nationaler Gemeinschaft zu markieren. In der Gegenüberstellung profiliert er sein Verständnis von der deutschen „Kulturnation“87 unmissverständlich als ein nicht nationalistisches. Sich selbst, den in Amerika lebenden deutschen Juden, bezeichnete Rudolf Kayser mit den Worten Max Brods als „Distanzdeutscher“88. Diese Bezeichnung drückt eben jene widersprüchliche Verbundenheit aus, die Kayser zu Deutschland entwickelt hatte. So war zwar die sprachliche Verbundenheit mit der deutschen Sprache und Kultur auch nach 1935 noch ungebrochen, doch war das Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft der deutschen Nation nicht mehr vorhanden. Kaysers Distanzierung von Deutschland ging einher mit seiner Hinwendung zum eigenen Jüdischsein und zur Gemeinschaft der Juden. An die Stelle der Verbundenheit mit Deutschland, wo Kayser vor der Shoa noch „nach dem Ort des jüdischen Geistes im Raume der deutschen Kultur“89 gesucht hatte, trat in den späteren Jahren das leidenschaftliche Bekenntnis zum Staat Israel. In ihm fand Kayser die ideale Gemeinschaft, die „Genossenschaft“ der Juden.

86 Kayser: An die Leser, 1923 I, S. 194. Kayser bezieht sich in dieser Passage nicht auf ein konkretes Ereignis, sondern beklagt vielmehr die wirtschaftliche Not und die damit einhergehende grassierende Ausländerfeindlichkeit, die die Verwirklichung der paneuropäischen Idee unmöglich macht. 87 Hier sei auf die Parallele zu Eugen Kogon hingewiesen, der nach 1945 von einem Gold in jedem Deutschen spricht, das behütet die Gräuel überstanden hat. 88 Kayser: Tage im Lande Israel, 1961, S. 5. Das Judentum, so argumentiert Brod, ermöglicht den Rückzug auf eine distanzierte Position gegenüber der deutschen Nation und ein reflektiertes Verhältnis zum Nationalgedanken überhaupt; Brods Überlegungen zur „Distanzliebe“ speisen sich dabei nicht zuletzt aus den eigenen Erfahrungen eines aus dem ganz überwiegend tschechischsprachigen Prag geflohenen deutschsprachigen Juden, der nicht den Deutschen, sondern den Juden zugerechnet wurde. Bei Heinrich Heine etwa kritisiert Brod das Fehlen der „gesunden“ Distanz, der „richtige[n] Haltung des jüdischen Dichters deutscher Zunge zur deutschen Kultur“ (Brod [1934] 2015, S. 307). Diese Formulierung zeigt, dass Brod hier – ebenso wie Kayser nach 1933 – eine Distanz nicht nur zur deutschen Nation, sondern auch zur deutschen Kultur einfordert. 89 Kayser: Der jüdische Schriftsteller, 1950, S. 1.

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Fazit

Für den Wiederaufbau einer funktionierenden Gemeinschaft in dem nicht nur physisch zerstörten Europa nach 1945 sei, so die Überzeugung des im amerikanischen Exil lebenden Schriftstellers und Hochschullehrers Rudolf Kayser, die Rückbesinnung auf die eigene Religion nötig. An diesem Prozess der religiösen Erneuerung sei jedoch – anders als dies noch in den 1920er Jahren der Fall hätte sein können – die jüdische Gemeinschaft nicht mehr beteiligt. Vielmehr entdeckte er seine Begeisterung für die Staatsbildung Israels. Wo sich vor dem Krieg noch „Leben und […] Natur“ der Christen und „religiöse[r] Geist [und] Gemeinschaft“ der Juden wechselseitig hätten bedingen können, war nun nach der Überzeugung Kaysers durch die Shoa eine Trennung vollzogen.90 Jede der beiden Gemeinschaften müsse sich nun, so Kayser, ausgehend von ihren eigenen Qualitäten entwickeln und stabilisieren. Ob und wann beide Gemeinschaften wieder miteinander in ein fruchtbares Verhältnis treten sollten, lässt Kayser offen. Kayser selbst kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück, auch erwog er zu keinem Zeitpunkt eine mögliche Rückkehr. Nach dem Tod seiner ersten Frau, die im Exil in Saint-Cloud gestorben war, hatte er sich in Amerika ein zweites Mal verheiratet. Mit Deutschland verbanden ihn keine verwandtschaftlichen Beziehungen mehr, seine Existenz war gesichert, in Amerika genoss er gesellschaftliche Anerkennung. Auch gab es keine Bemühungen auf deutscher Seite, weder von Ost noch von West, Kayser zurückzuholen; keine der Universitäten erteilte einen Ruf, so dass er seine wissenschaftliche Karriere hätte fortsetzen können. Nicht vergessen waren sicherlich auch die unschönen Umstände, die noch vor der Emigration den Fischerverlag dazu bewogen hatten, sich von seinem erfolgreichen Redakteur zu distanzieren. Im Exil gewann das Judentum und die eigene Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Juden für Kayser ein neues Gewicht. Bereits in Amsterdam, der ersten Station seines Exils, begann er sich mit steigender Faszination wieder mit Glaubensfragen zu befassen. Die intensive Beschäftigung Kaysers mit seinem Glauben schlug sich auch in seinen literarischen Arbeiten nieder. Die sehr viel später in Amerika verfassten Erzählungen Die Heiligen von Qumran und Hier bin ich (1961)91 dokumentieren Kaysers lebenslange Beschäftigung mit Fragen des jüdischen Glaubens. In den letzten Jahren seines Lebens erschien ihm Israel als das Land, in dem sich seine Vorstellungen von einer idealen Gemeinschaft verwirklichten. Kayser sah Israel als einen Staat, der auf die Zukunft ausgerichtet war und der vor allem jüdischen Jugendlichen eine gute Heimat werde sein können. Er selbst verlagerte jedoch mit über 70 Jahren seinen Lebensmittelpunkt 90 Vgl. Kayser: Der neue Bund, 1918, S. 525. 91 Kayser: Die Heiligen von Qumran, 1964.

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nicht mehr dorthin. Die ihm verbliebenen Jahre verbrachte er mit seiner zweiten Frau in Amerika, bevor er am 6. Februar 1964 verstarb und in New York beigesetzt wurde. Seinen Nachlass jedoch, sein geistiges Vermächtnis, überantwortete er der Nationalbibliothek in Jerusalem.

Literatur und Quellen Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. In: Ders.: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München 1966. Bahr, Ehrhard: Die Kontroverse um ‚das andere Deutschland‘. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2: New York. Hg. v. John M. Spalek u. Joseph Strelka. Teil 2. Bern 1989, S. 1493–1513. Brod, Max: Heinrich Heine. Biografie [1934]. Göttingen 2015. Einstein, Albert: 27. 01. 1933. Brief an Rudolf Kayser [Typoskript]. Rudolf Kayser Archiv. The National Library of Israel. Jerusalem. Fischer, Samuel: 19. 12. 1932. Brief an Gerhard Hauptmann [maschinengeschriebener Brief mit eigenhändigen Zeilen]. Nachlass Gerhard Hauptmann. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Berlin. Fleck, Christian: Etablierung in der Fremde. Vertriebene Wissenschaftler in den USA nach 1933. Frankfurt a.M. 2015. Graf, Oskar Maria: An manchen Tagen, Reden, Gedanken und Zeitbetrachtungen. Frankfurt a.M. 1961. Heuer, Renate (Hg.): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Bd. 13. München 2005. Kasack, Hermann (Hg.): Oskar Loerke Tagebücher. 1903–1939. Ulm 1986. Kayser, Eva: 15. 01. 1974. Brief an Wolfgang Grothe [Typoskript]. Rudolf Kayser Archiv. The National Library of Israel. Jerusalem. Kayser, Rudolf: Die Heiligen von Qumran. Hier bin ich! Rothenburg ob der Tauber 1964. Kayser, Rudolf: 1961. Tage im Lande Israel [Typoskript mit eigenhändigen Notizen]. Rudolf Kayser Archiv. The National Library of Israel. Jerusalem. Kayser, Rudolf: Das Ende des Expressionismus. In: Paul Pörtner: Literatur-Revolution 1910–1925. Dokumente – Manifeste – Programme. Bd. II. Berlin 1961, S. 318–324. Kayser, Rudolf: Kultur und Nationalismus. In: Walther Meier: Neue Schweizer Rundschau XIX/9. Zürich 1952, S. 531–541. Kayser, Rudolf: 1950. Der jüdische Schriftsteller [Typoskript mit eigenhändigen Notizen]. Rudolf Kayser Archiv. The National Library of Israel. Jerusalem. Kayser, Rudolf: 04. 02. 1938. Brief an Gerhard Hauptmann [Manuskript]. Nachlass Gerhard Hauptmann. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Berlin. Kayser, Rudolf: Ilse. Ein Requiem. Privatdruck. Ort unbekannt 1936. Kayser, Rudolf: 12. 11. 1935. Brief an Gerhard Hauptmann [Manuskript]. Nachlass Gerhard Hauptmann. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Berlin. Kayser, Rudolf: 24. 05. 1935. Brief an Gerhard Hauptmann [Manuskript]. Nachlass Gerhard Hauptmann. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Berlin. Kayser, Rudolf: 12. 02. 1935. Brief an Gerhard Hauptmann [Manuskript]. Nachlass Gerhard Hauptmann. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Berlin.

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Kayser, Rudolf: 12. 01. 1935. Brief an Gerhard Hauptmann [Manuskript]. Nachlass Gerhard Hauptmann. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Berlin. Kayser, Rudolf: 1933. Wiedersehen mit Berlin [Typoskript mit eigenhändigen Notizen]. Rudolf Kayser Archiv. The National Library of Israel. Jerusalem. Kayser, Rudolf: 21. 12. 1933. Brief an Gerhard Hauptmann [Manuskript]. Nachlass Gerhard Hauptmann. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Berlin. Kayser, Rudolf: An die Leser. In: Samuel Fischer, Oskar Bie u. Samuel Saenger: Die Neue Rundschau XXXIV/1, Berlin 1923 I, S. 193–194. Kayser, Rudolf: Die Zeit ohne Mythos. Berlin 1923. Kayser, Rudolf: Verkündigung. Anthologie junger Lyrik. München 1921. Kayser, Rudolf: Der Judenstaat. In: Samuel Fischer, Oskar Bie u. Samuel Saenger: Die Neue Rundschau XXX/1, Berlin 1919, I, S. 672–687. Kayser, Rudolf: Der neue Bund. In: Martin Buber (Hg.): Der Jude. Eine Monatsschrift 11 (1918), S. 523–529. Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der Deutschen Konzentrationslager. Berlin 1946. Mann, Erika: Thomas Mann. Briefe 1889–1936. Frankfurt a.M. 1961. Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Öffentliche Vorlesungen von Sr. Durchlaucht dem Prinzen Bernhard von Sachsen-Weimar und einer Versammlung von Staatsmännern und Diplomaten, im Winter von 1808 auf 1809, zu Dresden gehalten. Bd. 3. Berlin 1809. Pinthus, Kurt: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Hamburg 1955.

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‚Ulysses-wanderers‘. Hannah Arendts Rückkehr nach Deutschland

Der Lyriker Erich Arendt, der als politischer Flüchtling siebzehn Jahre im Exil verbracht hatte, publizierte seinen ersten Gedichtband 1951, ein Jahr nach seiner Remigration in die DDR. Das Eröffnungssonett Ulysses’ weite Fahrt1 ist gezeichnet von einem allestrotzenden Optimismus: Es lässt den „[n]icht von ungefähr getrieben[en] und verschlagen[en]“(V. 1) Ulysses nicht nur seine Fahrt vollenden, sondern auch „sein Lächeln“ ins Unbekannte tragen, „wo nur Menschenblut den Tag bestimmt“ (V. 3f.). Von diesen Versen aus wird das Lächeln, das Odysseus sich trotz der Erfahrungen von Krieg, Grausamkeit und Heimatverlust bewahrt, zum Leitmotiv des Gedichtbandes, zum Bollwerk gegen Tod und Erstarrung.2 Bereits während der Exilzeit wird der homerische Irrfahrer, der erst nach zwanzig Jahren in seine Heimat Ithaka zurückfindet, zu einer Identifikationsfigur für die deutschen Emigranten.3 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno erklären ihn in der Dialektik der Aufklärung (1944) sogar zum „Urbild […] des bürgerlichen Individuums“4, da er seine List dazu nutzt, „sich wegzuwerfen, um sich [selbst] zu behalten“.5 Es mutet seltsam an, dass eben dieselbe Eigenschaft des Odysseus eine so entschiedene Adorno-Gegnerin wie Hannah Arendt zur Aufnahme dieser Figur motiviert hat: In ihrem ein Jahr zuvor im jüdischen Menorah Journal abgedruckten Essay We Refugees (1943) apostrophiert sie die jüdischen Flüchtlinge als „Ulysses-wanderers“.6 Anders als Erich Arendt, Horkheimer oder Adorno ist Hannah Arendt nicht nach Deutschland remigriert. Ihre doppelte Ablehnung sowohl einer Rückkehr nach Deutschland als auch einer Übersiedelung nach Israel mag mitunter ein Grund dafür sein, dass ihre Tätigkeit nach 1945, etwa im Vergleich zu Gershom

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Vgl. Arendt, Erich 1951, S. 9. Vgl. Schlenstedt 1991, S. 81; Andress 2001, S. 129. Vgl. Hartmann 2006, S. 760. Horkheimer/Adorno [1944], 2003, S. 61. Ebd., S. 66. Arendt: We Refugees [1943], 1994, S. 118.

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Scholem, in der Forschung nur selten eingehender untersucht wird.7 Das Hauptmotiv für Arendts Entscheidung gegen eine Remigration geht aus einem Brief an Gertrud Jaspers aus dem Jahr 1946 hervor: Wie man es aber aushält, dort [in Deutschland] als Jude zu leben in einer Umwelt, die über „unser“ Problem, und das sind ja heute unsere Toten, nicht einmal zu sprechen geruht, weiß ich auch nicht. Außer daß ich weiß, daß es gut wäre, wenn man es könnte.8

Arendt ändert ihre Meinung auch nicht, als sie von November 1949 bis März 1950 nach Deutschland reist. Kein Wort des wertschätzenden Andenkens findet sich in dem noch im selben Jahr erscheinenden Essay The Aftermath of Nazi Rule. Report from Germany, der in scharfer Prosa sowohl mit der Besatzungspolitik der Alliierten als auch mit der Verdrängungsmentalität der Deutschen abrechnet. Erst nach 36 Jahren ist dieser in seinen Prognosen in vielfacher Hinsicht hellsichtige Wurf unter dem verharmlosenden Titel Besuch in Deutschland ins Deutsche übersetzt worden.9 Bedenkt man die Betroffenheit, die im oben zitierten Brief mitschwingt, so muss man sich darüber wundern, dass im Report from Germany nahezu jede persönliche Note getilgt ist. Dies gilt umso mehr, als Arendt bei ihrem Aufenthalt in Deutschland Martin Heidegger, ihrem ehemaligen Geliebten und Lehrer, wiederbegegnet. Der folgende Beitrag versucht, Arendts Weigerung, sich in Form einer Selbstnarrativierung in dieses zentrale Zeugnis ihrer Rückkehr nach Deutschland einzubringen, als textuelle Strategie zu deuten, die gerade in der Unterdrückung der Remigrationsfrage ein Statement abgibt. Einen Ansatzpunkt für eine Erklärung, was dieses Statement beinhaltet und weswegen eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Thema ausbleibt, liefert der Essay We Refugees, von dem die Interpretation ihren Ausgang nimmt.

1.

Das Lächeln des Odysseus – We Refugees

Als Hannah Arendt We Refugees verfasst, befindet sie sich bereits eine Dekade im Exil und ist seit der Ausbürgerung durch das NS-Regime 1937 eine Staatenlose. Aus dem französischen Internierungslager Gurs nach Lissabon geflohen, gelingt ihr gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihrer Mutter 1941 die Emigration in die USA, wo die Familie, auf finanzielle Unterstützung angewiesen, in Hotels wohnt. Direkt im ersten Satz von We Refugees denunziert Arendt die in der Überschrift vorgenommene Selbstetikettierung als irreführende und stigmatisierende 7 Eine eingehende Würdigung erfährt Arendt in Sznaider: Hannah Arendt in München 2008. 8 Brief vom 30. Mai 1946. In: Arendt/Jaspers 1985, S. 77. 9 Vgl. Söllner 1991, S. 164; Vowinckel 2014, S. 79.

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Fremdbezeichnung und plädiert stattdessen für ‚newcomers‘ oder ‚immigrants‘. Hierfür werden sachliche Gründe angeführt, denn Flüchtlinge hätten in der Regel irgendeine Tat begangen oder eine radikale Ansicht vertreten; beides treffe auf die jüdischen Einwanderer nicht zu. Damit ist eine Grenze zu den politischen Emigranten gezogen, die ihren Aufenthalt tatsächlich meist als vorübergehendes Exil betrachteten. Jüdische Emigranten zeigten hingegen ein stärkeres Bemühen, sich zu akkulturieren und eine Existenz aufzubauen, weswegen sie sich nicht als Exilanten, sondern tatsächlich als Auswanderer betrachteten.10 Entsprechend ist bei Arendt zu lesen: „We wanted to rebuild our lives, that was all. In order to rebuild one’s life one has to be strong and an optimist. So we were very optimistic.“11 Die hörbare Ironie steigert sich im Folgenden zu beißendem Sarkasmus. Rückhaltlos wird die Diskriminierung der jüdischen Flüchtlinge in den Gastländern angeprangert, die in keinem Verhältnis zum Anpassungswillen der – wie Arendt sie spöttisch betitelt – „assimilationists“ an die neue Umwelt steht: „We adjust in principle to everything and everybody.“12 Mit der den ‚refugees‘ nichtsdestoweniger entgegenschlagenden Diskriminierung ist nicht nur die Geringschätzung und Ausgrenzung seitens der Nichtjuden gemeint; Arendt erzählt etwa davon, dass die Franzosen die jüdischen Immigranten mit Namen wie ‚boches‘ – als diffamierende Bezeichnung für die Deutschen – oder ‚Schnorrer‘ belegt haben. Darüber hinaus lehnen auch die assimilierten einheimischen Juden die Neuankömmlinge ab, in denen sie lediglich ‚Jäckes‘ und ‚Polaken‘ sehen.13 Was Arendt offen anspricht, ist das Auseinanderklaffen zwischen offiziell verlautbarter Gastfreundschaft und öffentlicher Meinung, dessen Wurzel in der Recht- und damit Statuslosigkeit der Flüchtlinge ausgemacht wird.14 Letzteres ist gleichzeitig die Grundlage dafür, den Flüchtlingen Assimilation aufzuoktroyieren. Die zynischste Form hiervon ist der Zwang zu vergessen, und Arendt zählt auf, was unter der Decke des Optimismus vergessen werden soll: We lost our home, which means the familiarity of daily life. We lost our occupation, which means the confidence that we are of some use in this world. We lost our language, which means the naturalness of reactions, the simplicity of gestures, the unaffected expression of feelings. We left our relatives in the Polish ghettos and our best friends have been killed in concentration camps, and that means the rupture of our private lives.15

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Vgl. Pankau 1995, S. 9. Arendt: We Refugees [1943], 1994, S. 110. Ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 114ff. Vgl. ebd., S. 116 u. 119. Ebd., S. 110.

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Es ist das Versprechen, dass das heutige Asyl die morgige Heimat sein könne, das viele Flüchtlinge dazu bringt, sich in kürzester Zeit zu Patrioten des jeweiligen Gastlandes zu entwickeln, bis sie von dort weitergetrieben werden, um das nächste Refugium aufzusuchen, wo sich das Schauspiel wiederholt.16 Aufgrund dieses unausgesetzten Umhergetriebenwerdens spricht Arendt von den „Ulysseswanderers who, unlike their great prototype, don’t know who they are“17, die sich – in Abwandlung des Horkheimer/Adorno-Zitats – wegwerfen, in der irrigen Ansicht, sich selbst dadurch zu behalten. An der Aneignung dieser Identifikationsfigur der deutschen Emigranten erkennt man die Radikalität von Arendts Ansatz: Während der Ulysses Erich Arendts nach langer Irrfahrt die Heimat erreicht, scheint die Schar von Irrfahrern, die Hannah Arendt imaginiert, die Fahrt niemals beenden zu können. Mit dieser Deutung des Odysseus-Motivs, die geradezu wie eine apokryphe Umschrift des Ewigen Juden wirkt, steht sie in ihrer Zeit alleine. Erst die Desillusionierung der deutschen Remigranten verwandelt den hoffnungsvollen Heimkehrer in einen rastlosen ‚Ulysses-wanderer‘.18 Auch im Essay We Refugees begegnet das Lächeln des Odysseus wieder, doch ist es weder das sardonische Lächeln des Listenreichen (Horkheimer/Adorno) noch das zukunftsgewisse des Heimkehrers (E. Arendt). Wenn nämlich die ‚Ulysses-wanderers‘ lächeln, dann ist ihre „proclaimed cheerfulness […] based on a dangerous readiness for death“, ihr Lächeln ist Ausdruck eines „insane optimism which is next door to despair.“19 Die schizophrenen Zustände, unter denen sie zu leben gezwungen sind, treiben viele Flüchtlinge in den Selbstmord.20 Welchen Ausweg sieht aber Arendt, wenn erstens zwar Assimilation verlangt wird, diese allerdings keine Aufnahme in die Gesellschaft des Gastlandes verspricht, und wenn zweitens diese Aufnahme allein die Teilhabe am Rechtssystem ermöglicht? Angesichts dieser Pattsituation liegt für Arendt die Chance einer Partizipation in dem Seitentrieb jüdischer Tradition, der sich vom Reüssieren als Parvenü distanziert und stattdessen die soziale Außenseiterrolle des Paria be16 Vgl. ebd., S. 116f. Als Illustration wird die Geschichte eines Mr. Cohn entworfen, der als 150prozentiger Deutscher in Berlin gelebt hat, bis er nach der Machtergreifung Hitlers nach Prag emigriert, wo er ein ebenso überzeugter tschechischer Patriot wird. Als die dortige Regierung 1937 unter dem Druck der Nazis beginnt, Juden zu vertreiben, flieht er nach Wien und macht sich den von ihm verlangten Österreich-Patriotismus zu eigen. Nach der Invasion der Deutschen in Österreich rettet er sich nach Paris, wo er sich, in der Hoffnung, dort eine Heimat zu finden, mit Vercingetorix identifiziert, der nun auch ihm, wie jedem anderen Franzosen, als Vorfahr gilt. 17 Ebd., S. 118. 18 Vgl. Hartmann 2006, S. 760f. 19 Arendt: We Refugees [1943], 1994, S. 112 u. 113. 20 Vgl. ebd., S. 113. Arendt selbst mag noch unter dem Eindruck des Selbstmordes von Walter Benjamin stehen, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis aus Frankreich im spanischen Portbou das Leben nahm. Trotz gelungener Grenzpassierung befürchtete er noch immer die Auslieferung.

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wusst angenommen hat – „the tradition of Heine, Rahel Varnhagen, Sholom Aleichem, of Bernard Lazare, Franz Kafka, or even Charlie Chaplin.“21 Kompromisslos die Wahrheit auszusprechen eröffnet dem Paria die Möglichkeit politischen Handelns, das, wie Arendt pointiert, bislang ein Privileg der Nichtjuden gewesen sei. Dabei bildet das Pariatum geradezu eine Grundbedingung, Wahrheit aussprechen zu können, denn „Fremdheit und Bodenlosigkeit“ sind, wie es in einem Brief an Jaspers heißt, „wie eine Haut, die einem von außen zuwächst.“22 In den von Land zu Land weitergetriebenen Flüchtlingen erblickt Arendt darum the vanguard of their peoples – if they keep their identity. For the first time Jewish history is not separate but tied up with that of all other nations. The comity of European peoples went to pieces when, and because, it allowed its weakest members to be excluded and persecuted.23

Dass sie sich selbst in dieser Tradition verortet, macht eine Äußerung in der Mitte des Essays unmissverständlich klar: „I speak of unpopular facts […]“.24 Diese Bemerkung ist eine unter vielen, in denen Arendt sich zur faktentreuen Dokumentaristin stilisiert, diese Rolle aber zugleich an ihre Außenseiterposition bindet. In den rhetorischen Strategien des Report from Germany lässt sich eine analoge Modellierung der Erzählhaltung nachzeichnen.

2.

Die Rückkehr nach Deutschland – Report from Germany

Der Report from Germany hängt eng mit Arendts Arbeit für die Commission on European Jewish Cultural Reconstruction (JCR) zusammen. Diese Institution hatte ihren Ursprung in der 1936 in New York von dem Historiker Salo Baron initiierten Conference on Jewish Relations. Schon vor Kriegsende widmete sich dieser Verband der Frage, was mit den erblosen jüdischen Kulturschätzen – Bücher, Archivalia, Kult- und Kunstgegenstände u. a. – geschehen solle, die die Nazis zu vorgeblichen Forschungszwecken geplündert hatten. Zwischen 1946 und 1948 erstellte man ein vorläufiges Inventar über zu rettende Dokumente und Artefakte in den von den Achsenmächten besetzten Gebieten. Die JCR wollte verhindern, dass diese Kulturobjekte in die Ursprungsländer zurückgegeben werden, wo – z. B. in Osteuropa – vitale jüdische Gemeinden nicht mehr existierten. Verhandlungen über besitzloses Kulturgut konnten allerdings nach dem damaligen Völkerrecht nur zwischen souveränen Territorialstaaten stattfinden, 21 22 23 24

Ebd., S. 119. Brief vom 16. November 1958. In: Arendt/Jaspers 1985, S. 393. Arendt: We Refugees [1943], 1994, S. 119. Ebd., S. 113.

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so dass für das jüdische – staatenlose – Volk eine neue Rechtslage geschaffen werden musste. Über den Juraprofessor Jerome Michael, einen Freund Barons, setzten 1946 langwierige Verhandlungen mit den amerikanischen Behörden ein, die 1947 die Gründung der JCR als legaler Körperschaft ermöglichten. Die neue Rechtslage des jüdischen Kulturbesitzes wurde allerdings erst 1949 anerkannt und die JCR – als Treuhänderin für das jüdische Volk – mit dessen Verwaltung betraut. Es bestand jedoch die Auflage, dass die Arbeit auf die amerikanische Besatzungszone beschränkt blieb.25 Arendt, die von 1949 bis 1952 das Amt der Geschäftsführerin der JCR innehat, reist im Winter 1949/50 im Auftrag der Organisation nach Deutschland, um der Zerstörung entgangene jüdische Kulturgüter für deren Bewahrung zu listen. Sie lebt zu diesem Zeitpunkt seit fast zehn Jahren in den USA, ist aber noch immer eine Staatenlose. Zwar hat sie sich als Publizistin in verschiedenen akademischen Zeitschriften und als Kolumnistin der deutschsprachigen Emigrantenzeitschrift Aufbau einen Ruf erarbeitet; doch erst im Folgejahr, in dem ihr auch die amerikanische Staatsbürgerschaft zuerkannt wird, veröffentlicht sie ihren Bestseller The Origins of Totalitarianism26, der sie schlagartig berühmt macht. Infolge des Renommees, welches das monolithische Werk ihr als politischer Intellektueller einbringt, setzt ihre Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten ein. Eine feste Stellung erhält sie jedoch erst 1963 als Professorin an der University of Chicago, von wo sie 1967 an die New School for Social Research in New York wechselt. Wenn man, eingedenk der Hauptbeschäftigung Arendts als freie Journalistin, die objektiven Gründe betrachtet, die gegen eine Remigration sprechen, springen zwei Aspekte ins Auge. Erstens wurden im akademischen und öffentlichen Dienst Frauen vor 1933 genauso wie in Nachkriegsdeutschland strukturell benachteiligt. Aufstiegschancen in hochrangige Positionen bestanden eigentlich nicht, es sei denn man war in westalliierte bzw. SED-parteiliche Netzwerke eingebunden. Während Schauspielerinnen und Schriftstellerinnen, teils auch Politikerinnen, in einem nicht unbeträchtlichen Maß wieder einwanderten, fand eine Rückkehr von Wissenschaftlerinnen kaum statt.27 Zweitens hegte man in Deutschland gegenüber den Emigranten aufgrund ihrer Unkenntnis der Nöte der ‚Daheimgebliebenen‘ starke Ressentiments, die erst im Laufe der 60er Jahre allmählich abklangen. Gleichzeitig machten die Daheimgebliebenen die „eigene ‚Amnesie‘ öffentlich zur moralischen Grundlage

25 Vgl. Sznaider: Gedächtnisraum Europa, 2008, S. 45f. u. 54–57; zu Arendts Arbeit für die JCR vgl. Sznaider: Hannah Arendt in München, 2008. 26 Arendt legte 1955 eine teils umgearbeitete deutsche Fassung unter dem Titel Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft vor; das Werk wurde bis zur dritten Auflage von 1966 weiterhin überarbeitet. 27 Vgl. Krauss 2001, S. 112, 114, 118 u. 122f.

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ihres politischen Handelns“.28 In der Wahrnehmung der Alliierten waren die Remigranten die Hoffnungsträger des demokratischen Neubeginns, man versprach sich von ihnen die Rehabilitation der Deutschen.29 Diese Wahrnehmungsschichtung führte zu einem doppelten Vorurteil, denn einerseits irritierten die Remigranten die Verdrängungskultur der Daheimgebliebenen, andererseits konnten sie als „‚exil-approbierte‘ Demokraten“30, die auf Mitbestimmung pochten, zu Störfaktoren für die Autoritäten in den Besatzungszonen werden. Für emigrierte Politikwissenschaftler wie Arendt stellte das Exil nicht nur ein existenzielles Widerfahrnis, sondern auch ein politisches Faktum dar, das in seiner Genese durchdrungen werden musste. Als in den 1940er Jahren die Allianz gegen Hitler-Deutschland geschlossen wurde, avancierten diese Emigranten durch ihr professionalisiertes Interesse an deutscher Zeitgeschichte zu gefragten Deutschland- und Europa-Experten. Hannah Arendt zählt unter den über sechzig deutschstämmigen Politikwissenschaftlern der ersten Generation, deren themenspezifische Publikationen in die Hunderte gehen, nicht nur zur Prominenz, sondern ist auch eine – wie die Retrospektive verrät – für ihre Zeit repräsentative Denkerin.31 Innerhalb dieses Schrifttums lassen sich typologisch drei Textsorten unterscheiden: a) Faschismus- und Totalitarismustheorien, b) konkrete Beobachtungen zur Übergangsperiode nach 1945, häufig Erfahrungsberichte sowie c) politische Theorien, die von der deutschen Entwicklung abstrahieren.32 Am ehesten lässt sich der Report from Germany als Erfahrungsbericht rubrizieren; gerade dann aber irritiert, dass Arendt die eigene Person fast vollständig aus dem Text herausnimmt. An keiner Stelle wird der konkrete Anlass für den Aufenthalt erwähnt, ebenso wenig fällt ein Wort darüber, dass Deutschland die ehemalige Heimat der Autorin ist. So wie Arendt, ihrem Auftrag der JCR gemäß, eine Bestandsaufnahme derjenigen jüdischen Kulturgüter betrieben hat, die der Zerstörung durch die Nazis entgangen waren, so scheint der DeutschlandReport ebenfalls eine nüchterne Bestandsaufnahme zu sein: Im ersten Teil werden diejenigen deutschen Kulturgüter gesichtet, die das NS-Regime überstanden haben, im zweiten Teil wird über die Resultate des Wiederaufbaus befunden. Zunächst ist Arendts Leistung auf dem Feld politischer Kritik33 zu würdigen, die den Hauptgegenstand des zweiten Teils ausmacht. Dabei greift sie mit 28 29 30 31 32 33

Foitzik 1991, S. 105. Vgl. ebd., S. 113. Ebd., S. 111. Vgl. Söllner 1991, S. 146ff. Vgl. ebd., S. 168. Bollenbeck (2005, S. 26f.) nennt vier typische Kritikpunkte in der Re- und EmigrantenLiteratur: (a) die Wiedereinführung der alten Eliten, (b) die Amnesie der Deutschen, (c) das Bildungsphilistertum, d. h. Amalgamierung von Kunstemphase und Verdrängung, und

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Scharfblick drei Aspekte der Besatzungspolitik heraus: Erstens stellt sie fest, dass die Entnazifizierung gescheitert ist, weil sie im Glauben, es gäbe objektive und gradierbare Kriterien zur Unterscheidung von Nazis und Nicht-Nazis, zu einer ungerechten Gleichbehandlung von Nazis und Nazi-Gegnern geführt hat.34 Zweitens klagt sie an, dass die Einführung der freien Marktwirtschaft den alten Eliten, nämlich den regimetreuen Kapitalisten, erneut zur Macht verholfen hat, während die Arbeiterklasse, „die nie voll und ganz nazistisch war“35, in die alte Abhängigkeit zurückgedrängt worden ist. In diesem Rahmen spricht Arendt in bündiger Form das Flüchtlingsproblem an, das zwar den größten soziopolitischen und ökonomischen Gefahrenherd darstellt, jedoch durch gezielte Wirtschaftsmaßnahmen eingedämmt werden könnte.36 Drittens konstatiert sie, dass das Föderalisierungsprogramm, der Aufbau von Länderregierungen, gescheitert ist, weil einerseits die Bismarcksche Zentralisierung das Streben nach lokaler Autonomie von Grund auf zerstört und weil andererseits die Restitution der Vorkriegs-Parteien, die mit ihren alten Ideologien besonders Karrieristen anziehen, ein „politisches Vakuum“ erzeugt hat.37 Die Bestandsaufnahme der Resultate des (Wieder-)Aufbaus unter Führung der Westalliierten sieht sich mit wenig durchdachten und steckengebliebenen Versuchen konfrontiert, die Arendt auf eine völlige Fehleinschätzung der Folgen von totalitärer Herrschaft zurückführt, denn: „Der Totalitarismus vergiftet die Gesellschaft bis ins Mark.“38 Was dieser Satz bedeutet, exponiert der erste Teil des Essays; er nimmt seinen Ausgang von einer Bestandsaufnahme der nachkriegsdeutschen materiellen Kultur. Am Anfang steht der lakonische Bericht, dass die Siegermächte „die sichtbaren Zeugnisse einer über tausendjährigen deutschen Geschichte in Schutt und Asche“ gelegt hätten, während nun aus den Ostgebieten zahlreiche Flüchtlinge in das Land strömten. Heimatverlust, soziale Entwurzelung und politische Rechtlosigkeit – Kennzeichen der ‚Ulysses-wanderers‘ – bezeichnet Arendt dabei als „spezifisch moderne Züge“39 dieses Katastrophenbildes und erinnert damit indirekt an die Exemplarität der jüdischen Existenz. An die Erlebnishaftigkeit von Arendts Deutschlandreise erinnern nur noch zwei anekdotenhafte Beobachtungen, die jedoch, direkt am Textanfang platziert,

34 35 36 37 38 39

(d) das Scheitern der Entnazifizierung. Nimmt man den ersten Teil des Essays hinzu, so durchleuchtet Arendt alle wesentlichen Bereiche der politischen Kultur der Nachkriegszeit, ignoriert aber die Unterhaltungsindustrie, die von Adorno mit Kritik überzogen wurde. Vgl. Arendt: Besuch in Deutschland [1950], 1993, S. 40f. Vgl. ebd., S. 52. Vgl. ebd., S. 53f. Vgl. ebd., S. 61 u. 63. Auf S. 63 findet sich auch das Zitat. Ebd., S. 65. Im Original: „Totalitarianism kills the roots.“ (Arendt: The Aftermath, 1950, S. 353). Arendt: Besuch in Deutschland [1950], 1993, S. 23.

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eher expositorischen Charakter für die generelle Abrechnung besitzen und in hohem Maße von allem Individuellen gereinigt sind. Die erste Episode illustriert auf eindrückliche Weise den deutschen Willen zur Verdrängung, zur Leugnung des Wirklichen. Während nämlich „über Europa ein Schatten tiefer Trauer liegt“, herrscht in Deutschland Schweigen über die Misere: Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtskarten von Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch ihre Trümmer bewegen, findet ihre Entsprechung darin, daß niemand um die Toten trauert; sie spiegelt sich in der Apathie wieder, mit der sie auf das Schicksal der Flüchtlinge in ihrer Mitte reagieren oder vielmehr nicht reagieren.40

Durch die Juxtaposition von realer Zerstörung und dem Umgang der Deutschen damit leitet Arendt von der materiellen zur immateriellen mentalen Kultur über, die sie weitaus stärker interessiert. In diesem Bereich ist die zweite Anekdote angesiedelt, die das erzählende Ich zwar involviert, aber durch eine bestimmte Beobachtungshaltung die gefährlichen emotionalen Folgen von ihm abwendet: Diese Gleichgültigkeit und Irritation, die sich einstellt, wenn man dieses [wirklichkeitsverleugnende] Verhalten kritisiert, kann an Personen mit unterschiedlicher Bildung überprüft werden. Das einfachste Experiment besteht darin, expressis verbis festzustellen, was der Gesprächspartner schon von Beginn der Unterhaltung an bemerkt hat, nämlich daß man Jude sei. Hierauf folgt in der Regel eine kurze Verlegenheitspause; und danach kommt – keine persönliche Frage, […] kein Anzeichen von Mitleid […] – sondern es folgt eine Flut von Geschichten, wie die Deutschen gelitten hätten […].41

Diese Aufzählung, an deren existenziellem Gehalt Arendt nicht zweifelt, verfolgt das Ziel zu suggerieren, „daß die Leidensbilanz ausgeglichen sei“.42 Als taktisches Manöver einer Realitätsflucht weicht sie einer emotionalen ebenso wie einer intellektuellen Konfrontation mit den Verbrechen der NS-Zeit aus. Sie ist Ausdruck eines „allgemeine[n] Gefühlsmangel[s]“43, der den Deutschen bescheinigt und der von Arendt beanstandet wird. Im Rahmen dieser Apathie-Kritik muten zwei Aspekte geradezu bizarr an: Zum einen vermeidet Arendt es, auf die in Trümmern liegende tausendjährige Geschichte als auf ihre eigene Geschichte zu blicken. Zum anderen verweigert sie sich einer weniger technischen Betrachtung des Flüchtlingsschicksals, dessen Nöte sie aus eigener Erfahrung kennt. Interessant ist in diesem Zusammenhang Arendts Kontroverse mit Gershom Scholem über die umstrittene Schrift Eichmann in Jerusalem (1963), der ihr den 40 41 42 43

Ebd., S. 24f. Ebd., S. 25. Ebd. Ebd.

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für ihre Prosa typischen „herzlose[n], ja oft geradezu hämische[n] Ton“ vorwirft, der nichts von der „Ahabath Israel […], der Liebe zu den Juden“ spüren lasse. Diese Haltung sei ihrer Sozialisation als Intellektuelle der deutschen Linken geschuldet, dem Gegenstand aber – „in diesem Fall der Ermordung eines Drittel unseres Volkes – und ich betrachte Sie durchaus als Angehörige dieses Volkes“ – sei sie aber unangemessen. Dem „englische[n] flippancy“, das Arendts Stil treffend beschreibe, setzt Scholem das „deutsche[ ] Wort Herzenstakt“ entgegen.44 In ihrem Antwortschreiben konzediert Arendt, nicht ohne Einschränkung, ihre Herkunft „aus der deutschen Philosophie“45 und begründet ihre mangelnde Liebe zum jüdischen Volk mit ihrer Unzugehörigkeit zu welcher Volksgruppe auch immer, obwohl sie ihr Judesein ähnlich wie das biologische Geschlecht als etwas empfunden habe, das „gegeben und nicht gemacht, physei und nicht nomo“ und damit „präpolitisch“ sei:46 „Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig.“47 Den von Scholem geforderten Herzenstakt verweist sie als etwas Fragwürdiges aus der Domäne der Politik und konstatiert, dass ein Mangel daran vor allem denen vorgeworfen worden sei, „die Tatsachen berichteten“.48 Dieser Satz, der genauestens mit Arendts Bekenntnis: „I speak of unpopular facts“49, aus We Refugees übereinstimmt, charakterisiert gleichermaßen die Haltung des erzählenden Ich in der oben zitierten Anekdote im Report from Germany. Dieses Ich übernimmt in Arendts Essay die Rolle eines Experimentators, der sich einer „Versuchsperson“50 – im englischen Original: „object“51 – gegenübersieht. Das individuelle Erlebnis, das ein narrativer Duktus hätte einfangen können, wird in eine Anleitung aufgelöst, die es erlaubt, das Experiment identisch zu wiederholen. Die wissenschaftliche Unbeteiligtheit scheint das Komplement der deutschen Apathie zu sein, der Wissensdrang das Gegenstück zur deutschen Amnesie. 44 45 46 47 48

Alle Zitate: Brief vom 23. Juni 1963. In: Arendt/Scholem 1989, S. 65. Brief vom 20. Juli 1963. In: Arendt/Scholem 1989, S. 71. Ebd., S. 72. Ebd., S. 73. Ebd., S. 74. Als Korrektur des eigenen Denkens gibt sie Scholem zu, dass die Formel von der Banalität des Bösen die Sache verfehle, da das Böse „immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute.“ (Ebd., S. 78.) Es ist bemerkenswert, dass Arendt trotz des scharfen und grundsätzlichen Angriffs durch Scholem einer Veröffentlichung seines Briefes zustimmt, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ihr Antwortschreiben angehängt werde; die Kontroverse nämlich habe auf dem Boden der gemeinsamen Freundschaft stattgefunden. (Vgl. ebd., S. 78f.) Der Briefwechsel hält diese Dialogizität, die Notwendigkeit des Miteinanderredens, präsent. 49 Arendt: We Refugees [1943], 1994, S. 113. 50 Arendt: Besuch in Deutschland [1950], 1993, S. 25. 51 Arendt: The Aftermath, 1950, S. 342.

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Gerade die Rede vom Experiment – man wird genauer sagen dürfen: vom Humanexperiment – entbehrt nicht eines gewissen Zynismus, da Arendt im selben Jahr die Konzentrationslager als „Laboratorien für das Experiment der totalen Beherrschung [des Menschen]“ deutet.52 Der Vergleich zwischen der Gesprächs- und der Experimentalsituation erfüllt jedoch eine spezifische Funktion. Arendt vertritt die bemerkenswerte These, dass das Auftreten der Konzentrations- und Vernichtungslager als unvorhergesehenes Phänomen das Begriffssystem der Sozialwissenschaften überfordert, mehr noch, dass es ihre Axiomatik habe zusammenbrechen lassen.53 Diese Argumentation läuft parallel zu der antihistoristischen Behauptung, dass der Nazismus keinesfalls aus den europäischen Traditionen ableitbar, sondern vielmehr etwas Neues sei, das aus sich selbst heraus verstanden werden müsse.54 Wenn man als Prämisse setzt, dass das Böse quasi als Seitentrieb aus dem angeborenen utilitaristischen Egoismus des Menschen hervorgeht, sind die „Tötungsfabriken“55 der Nazis schlicht unbegreiflich. Hingegen besitzt, wie Arendt ausführt, die Ausrottungspolitik allein im Hinblick auf die logische Geschlossenheit des Rassismus „fast allzu viel Sinn“: Dem von ihnen [den Nazis] angerichteten Grauen liegt die unbeugsame Logik zugrunde, welche auch die Sichtweise von Paranoikern regiert, in deren Systemen alles mit absoluter Notwendigkeit folgert, wenn einmal die erste verrückte Prämisse akzeptiert worden ist. Der Wahnwitz solcher Systeme besteht natürlich nicht nur in ihrer Ausgangsprämisse, sondern vor allem in der ehernen Logik, die sich durchsetzt, und zwar ohne Rücksicht auf Tatsachen und ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit – einer [!] Wirklichkeit, die uns lehrt, daß es in der Praxis keine absolute Vollkommenheit geben kann.56

Dieser ideologischen Geschlossenheit entspricht der in sich geschlossene Mechanismus der Konzentrationslager. Doch diesen fehlt, wie Arendt feststellt, im Gegensatz zu Angriffskriegen, Massakern in der Zivilbevölkerung, der Ausrottung indigener Stämme im Kolonisationsprozess, der Sklaverei und dem Weltherrschaftsstreben, das „Nützlichkeitskriterium“57 im Hinblick auf die ZweckMittel-Relation, oder psychologisch ausgedrückt, das nachvollziehbare Motiv. 52 53 54 55 56

Arendt: Sinnlosigkeit [1950], 1989, S. 24. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 13f. Arendt: Sinnlosigkeit [1950] 1989, S. 8. Eine dem Paranoiker-Vergleich ähnelnde Analogie findet sich auch im Report from Germany (vgl. Arendt: Besuch in Deutschland [1950], 1993, S. 45): Die Situation eines Nazigegners wird der eines geistig Gesunden gleichgesetzt, der zufällig in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wird, deren Insassen alle an derselben Wahnvorstellung leiden. Er muss sich nach den Regeln seiner kranken Umgebung verhalten, da diese die einzig greifbare Realität ist; demnach ist er gezwungen, nicht in automatische Reaktionen zurückzufallen. Er verlernt dadurch, den eigenen Sinnen zu trauen. 57 Arendt: Sinnlosigkeit [1950], 1989, S. 10.

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Gerade darum eignen sich Konzentrationslager als Experimentalanstalten für die totale Beherrschung des Menschen. Die totale Beherrschung ist dann erreicht, wenn die menschliche Person, die immer eine ganz eigene Mischung aus spontanem und bedingtem Verhalten darstellt, in ein völlig konditioniertes Wesen transformiert worden ist, dessen Verhaltensweisen selbst dann genau vorausberechnet werden können, wenn es in den sicheren Tod geführt wird.58

Das ganze Procedere der Internierung ist darauf ausgerichtet, die Persönlichkeit zu desintegrieren: So zerstört die nicht nur ungerechte, sondern willkürliche Verhaftung die Sinnrelation zwischen Verbrechen und Strafe. Die hermetische Isolation von der Außenwelt zersetzt sukzessive die Moralität. Und die systematisch organisierte Folter vernichtet das Individuum.59 Auf diese Weise werden Menschen zu „Reaktionsbündel[n]“60, so dass letztlich Häftlingen im Bereich der Binnenverwaltung des Lagers übertragen werden konnte, ihre Mithäftlinge genauso zu misshandeln wie die SS.61 Notwendigerweise nähern sich Arendts Überlegungen in diesem Punkt behavioristischen Modellen, die intentionalistische Erklärungsansätze aus der Psychologie ausklammern; zum Verständnis der Handlungen eines KZ-Aufsehers erweisen sich diese auch als unzureichend. Jene Form der „Abrichtung“62 (im Original: „conditioning“63) ist nicht nur etwas, was Deutsche den Juden angetan haben, sondern sie ist das Siegel, welches das Naziregime der deutschen Psyche aufgeprägt hat: Die Nazis haben das Bewußtsein der Deutschen vor allem dadurch geprägt, daß sie es darauf getrimmt haben, die Realität nicht mehr als Gesamtsumme harter, unausweichlicher Fakten wahrzunehmen, sondern als Konglomerat ständig wechselnder Ereignisse und Parolen, wobei heute wahr sein kann, was morgen schon falsch ist.64

Für Arendt bildet diese Konditionierung das Hauptmerkmal der deutschen Realitätsflucht, die es der Nachkriegsbevölkerung erlaubt, „mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen.“65 Diese Atmosphäre einer permanenten „Verwandlung von Realität in bloße Möglichkeit“66 – eine ständige Derealisierung – kennzeichnet den Wiederaufbau, der weniger Neubeginn ist als vielmehr der Versuch, die Vorkriegsverhältnisse zu restaurieren. So dienen die 58 59 60 61 62 63 64 65 66

Ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 24f. Ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 21. Arendt: Besuch in Deutschland [1950], 1993, S. 31. Arendt: The Aftermath, 1950, S. 344. Arendt: Besuch in Deutschland [1950], 1993, S. 30f. Ebd., S. 29. Ebd., S. 29.

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Bauprojekte der Regierung nicht etwa der notwendigen Verbesserung der Wohnungslage, sondern man investiert vornehmlich in die Wiedererrichtung der Wirtschaft, indem eine Kulisse von Geschäfts- und Bürogebäuden hochgezogen wird.67 Auch die sprichwörtliche Betriebsamkeit der Deutschen ist zu einem Automatismus herabgesunken, zur „Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit“.68 Was in Nachkriegsdeutschland als Stumpfsinnigkeit begegnet, rubriziert Arendt als das Neue und Andersartige des Nationalsozialismus, nämlich den „ideologische[n] Unsinn, die Mechanisierung der Vernichtung und die sorgfältige und kalkulierte Errichtung einer Welt, in der nur noch gestorben wurde, in der es keinen, aber auch gar keinen Sinn mehr gab.“69 Gegen Ende des ersten Teils gelangt Arendt darum zu dem Urteil, dass die Deutschen – sie nimmt von dieser Pauschalisierung die Berliner aus – „lebende Gespenster [sind], die man mit den Worten, mit Argumenten, mit dem Blick menschlicher Augen und der Trauer menschlicher Herzen nicht mehr rühren kann.“70 Von dieser Warte aus erscheint die narrative Kontraktion einer Vielzahl von Begegnungen Arendts mit verschiedenen Nachkriegsdeutschen in eine Experimentalsituation als eine Strategie, welche die Konditionierung der ‚Daheimgebliebenen‘ durch das Naziregime pointierend offenlegt. Die Unbeteiligtheit des erzählenden Ich lässt sich dabei als ein angenommenes Rollenverhalten verstehen, das aus der Unzugehörigkeit des Außenseiters resultiert. Diese im Grunde negative Selbstbestimmung lässt Arendt erst in den folgenden Jahren hinter sich, indem sie die Figur des zwischen den Partikularismen stehenden Paria zugunsten des überparteilichen Kosmopoliten überschreitet. Wie im abschließenden Kapitel gezeigt werden soll, ist diese Tendenz keimhaft bereits im Rückgriff auf die Odysseusfigur angelegt. Zu diesem Zweck muss Arendts Report from Germany im Kontext ihrer – wie zu betonen ist – späteren politischen Theorie gesehen werden.

67 Vgl. ebd., S. 34. 68 Ebd., S. 35. In diesen Überlegungen sind Konvergenzen zu Brochs Untersuchung der ‚fröhlichen Apokalypse‘ in Hofmannsthal und seine Zeit festzustellen: So verkommt am Ende des 19. Jahrhunderts „[d]as monarchisch-höfische Element […] zum leeren Schema“ (Broch [1947/8], 1964, S. 56); es ist eine der Traditionen, die jeden Regierungs- und Machtwechsel unbeschadet überleben und für eine oberflächliche Kontinuität sorgen. Das rege Kulturleben dieser Zeit – Wiener Moderne und Jugendstil – erscheint Broch nur als die „Scheinblüte“ eines „abstrakten [d. h. eines von der Wirklichkeit losgelösten] Gebildes“ (ebd., S. 70). Weiter unten wird auf die Parallelen zu Brochs historischer Modellierung nochmals eingegangen. 69 Arendt: Sinnlosigkeit [1950], 1989, S. 30. 70 Arendt: Besuch in Deutschland [1950], 1993, S. 35f.

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Die europäische Perspektive

In der Konditionierung menschlichen Handelns sieht Hannah Arendt den diametralen Gegenpart zum politischen Handeln, dessen Signum die Spontaneität ist. Diesen Gedanken entfaltet Arendt anhand der Unterscheidung zwischen poiesis und praxis, ergebnisorientiertem Herstellen und ergebnisoffenem, selbstzweckhaften Handeln, die sie der Nikomachischen Ethik des Aristoteles entnimmt. Politisches Handeln ist dabei immer praxis, die an den öffentlichpolitischen Raum gebunden ist und in Anwesenheit anderer stattfindet, die sich zwar als existenziell Unterschiedliche, aber als politisch Gleiche begegnen. Die Ursituation einer solchen Begegnung, in der Kontrahenten als öffentlich Handelnde auftreten, entdeckt Arendt im Kampf auf Leben und Tod zwischen Achill und Hektor in der homerischen Ilias.71 In der Polis „verschiebt sich die für das Frei-Sein wichtigste Tätigkeit vom Handeln auf das Reden, von der freien Tat auf das freie Wort“.72 Die ursprüngliche Erfahrung des Politischen entspringt demzufolge dem Zusammenleben in der Polis. Hierauf bezogen liegt die Differenz zwischen Handeln und Herstellen darin, dass der Prozess zwischen Debatte und Entscheidungsfindung ergebnisoffen ist, während beim Herstellen das zuvor ideell konzipierte Resultat realisiert wird.73 Auf dieser Basis ist eine Grenzziehung zwischen Politik als praxis und Herrschaft als poiesis möglich. Politische Freiheit umfasst in diesem Sinne sowohl die gleichberechtigte Teilhabe als auch das politische Handeln. Als zweiten historischen Bezugspunkt wählt Arendt die amerikanische Revolution, in der ein initiativer Akt der Gründung (politisches Handeln) unter diskursiver Aufnahme von differenten Perspektiven (gleichberechtigte Teilhabe) vollzogen wurde.74 Den Nazismus als totalitäres Herrschaftssystem bezeichnet sie hingegen als den zur Ideologie gewordenen „Wahn von der Herstellung des Nichts“75, der durch die Herstellung herrschaftskompatibler, d. h. vollständig konditionierter und berechenbarer Menschen die politische Freiheit zu eliminieren suchte. Vor diesem Hintergrund wird Arendts Rede vom politischen Vakuum in Deutschland, vielmehr im Zentrum Europas, in ihrem umfassenden Sinn verständlich. Sie greift dabei eine Begriffsprägung aus Hermann Brochs Studie Hofmannsthal und seine Zeit (1947/48) auf, in der das Österreich der Jahrhundertwende als „politische[s] Vakuum“ bezeichnet wird, was sich an der Neigung der habsburgischen Politik zu „dem Lavierenden wie dem Abstrakten“ ablesen

71 72 73 74 75

Vgl. Straßenberger 2006, S. 166f. Arendt: Was ist Politik? 1993, S. 47. Vgl. Straßenberger 2006, S. 165. Vgl. ebd., S. 166f. Arendt: Sinnlosigkeit [1950], 1989, S. 28.

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lässt.76 Dieses Vakuum hat, Brochs Überzeugung zufolge, den Verfall nicht nur der europäischen Werte, sondern auch der europäischen Zivilisation befördert. Den Ursprung des Nazismus, den Arendt als politischen Nihilismus, als den – wie oben zitiert – „Wahn von der Herstellung des Nichts“77 auffasst, sieht sie in dem „Vakuum […], das vom fast gleichzeitigen Zusammenbruch der sozialen und politischen Strukturen Europas herrührte.“78 Daher verbindet sich die Diagnose des politischen Vakuums in Deutschland mit der Diagnose eines „europäischen Problem[s], [das] erst in einem föderativen Europa gelöst werden [kann]“.79 Dass Arendt, die doch auf der einen Seite beharrlich die Warnung ausspricht, man müsse die „allzu verständliche[ ] Neigung des Historikers, Analogien zu ziehen“80, unterdrücken, um zu einem adäquaten Verständnis der jüngsten Geschichte vorzudringen, auf der anderen Seite extensiv aus dem Traditionsbestand der griechischen Antike schöpft, erscheint auf den ersten Blick wie ein Widerspruch. Bedenkt man das europäische Panorama, in das sie das ‚jüdische‘ (We Refugees) und das ‚deutsche‘ Problem (Report from Germany) einbettet, begreift man auch diesen Rückgriff als – wenn auch problematische – Strategie. Arendt ist in den modernen Neoaristotelismus einzuordnen. Ursprünglich wurde diese Kategorie von Jürgen Habermas geprägt, um damit gegen die Reaktivierung aristotelischer Philosophie bei Hans-Georg Gadamer und Joachim Ritter zu polemisieren; ihm haftet also der Beigeschmack des Neokonservativen an. Habermas bestand darauf, dass die Moderne ihre Maßstäbe nicht mehr anderen Epochen entlehnen könne, sondern ihre Normativität aus sich selber schöpfen müsse. Der Rückgriff auf den Dichter Homer und den Philosophen Aristoteles ist aber nicht notwendigerweise Kennzeichen eines unreflektierten Traditionalismus, sondern womöglich Ausdruck eines begründeten Zweifels daran, dass die Moderne ihre Begründung aus sich selbst zu leisten vermag.81 Entsprechend äußert sich Arendt in einem Interview von 1970, dass die Gegenwart noch immer von den geistigen Errungenschaften des klassischen Griechenland zehre.82 Diese Aussage steht nicht in direkter Kontinuität zu der bisweilen deutschtümelnden Antikeverehrung des 19. Jahrhunderts; sie fußt auf 76 77 78 79

Broch [1947/8], 1964, S. 59 u. 63. Arendt: Sinnlosigkeit [1950], 1989, S. 28. Ebd., S. 29. Arendt: Besuch in Deutschland [1950] 1993, S. 65. Die föderalistische Konzeption entstammt eigentlich Arendts Überlegungen zum Zionismus, dessen nationalistische Tendenzen ihrer Ansicht nach nur durch eine arabisch-jüdische Föderation eingedämmt werden können. In analoger Weise steht ihr menschen- und verfassungsrechtliches Denken in Zusammenhang mit den Überlegungen zu den Hitler-Flüchtlingen, so z. B. in We Refugees. (Vgl. Söllner 1991, S. 162) 80 Arendt: Sinnlosigkeit [1950], 1989, S. 30. 81 Vgl. Straßenberger 2006, S. 158. 82 Vgl. Reif 1970, S. 109.

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einer nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Wiederaneignung der griechischen Antike, die in ihrem Erbe das kulturelle Substrat und den Formator der europäischen Diversität erblickt. Das Wissen der griechischen Antike, schreibt Hugo von Hofmannsthal, sei „kein angehäufter Vorrat, der veralten könnte, sondern eine mit Leben trächtige Geisteswelt in uns selber: […] tragender Strom zugleich und jungfräulicher Quell, der immer rein hervorbricht.“83 In diesem Sinn geht von der Klarheit des griechischen Geistes die „Einheit der Geschichte“ aus.84 Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich ein Geschichtsbild durch, das die Formationsphasen der europäischen Kultur von der römischen Antike bis in die Gegenwart als Renaissancen eines „griechischen Kern[s]“ auffasst.85 In diesem Kontext erscheint es nachvollziehbar, dass Arendt die homerischen Epen und aristotelischen Abhandlungen als Speicher authentischer Erfahrung auffasst. Dabei wird Erfahrung als Wissen verstanden, das sich auf Partikulares bezieht, aber durch das Erzählen von beispielhaften Geschichten, das immer ein interpretierendes Wiedererinnern darstellt, generalisiert werden kann.86 Dergestalt sind die antiken Texte in der Lage, in Zeiten von Umbrüchen Orientierungen zu liefern. Die maßgeblichen Orientierungen, die im beginnenden 20. Jahrhundert unwiederherstellbar wegbrechen, sind der Nationalstaat und die Nation. Arendt reflektiert die Unsinnigkeit einer Essentialisierung von Nationalzugehörigkeiten bereits 1947 in einem Brief an Jaspers: Unter freien Umständen sollte eigentlich jeder einzelne entscheiden dürfen, was er nun gerne sein möchte, Deutscher oder Jude oder was immer […]. Woran mir liegen würde, und was man heute nicht erreichen kann, wäre eigentlich nur eine solche Änderung der Zustände, daß jeder frei wählen kann, wo er seine politischen Verantwortlichkeiten auszuüben gedenkt und in welcher kulturellen Tradition er sich am wohlsten fühlt.87

Dieses Zitat führt nochmals vor Augen, dass das Thema Rückkehr in Arendts Denken keine besondere Rolle spielen kann. Denn die Idee einer Remigration in die Heimat hat nur dann Sinn, wenn man den Heimatbegriff an die Vorstellung der Autochthonie koppelt. Vor diesem Hintergrund kann der Rückgriff auf das antike Kulturgut als Ausprägung eines entschiedenen Kosmopolitismus ver83 Hofmannsthal [1926], 1955, S. 317. 84 Hofmannsthal [1922], 1955, S. 154. 85 Gigon 1962, S. 577. Gigon (ebd., S. 576) setzt vier Phasen der Antikerezeption an, deren vorerst letzte Stufe – nach der hellenistischen Latinisierung griechischer Kultur, der spätantiken Synthese mit dem Christentum sowie der kulturellen Rezeption in der Renaissance – die politische Aneignung der Antike seit der Französischen Revolution bildet. 86 Vgl. Straßenberger 2006, S. 162. 87 Brief vom 30. Juli 1947. In: Arendt/Jaspers 1985, S. 127. Ähnlich klar lehnt Arendt schon 1933 eine autochthone Heimatbindung ab. An Jaspers schreibt sie in Bezug auf dessen Bestimmung des deutschen Wesens: „Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung. Für all das kann und muß ich einstehen.“ (Brief vom 1. Januar 1933. In: Arendt/Jaspers 1985, S. 52)

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standen werden. Schließlich handelt es sich um eine Überlieferung, welche die Bewohner Europas, Amerikas und des Nahen Ostens gleichermaßen teilen. Das antike Wissen bildet damit eine Brücke zwischen den Kontinenten und Kulturen. Die Besinnung auf die griechische Überlieferung, die nicht nur das geteilte Fundament der demokratischen Kulturen des Westens, sondern auch deren gemeinsame Sprache bildet, ist dieser Lesart zufolge das Komplement der PariaExistenz. Zugleich ist sie aber auch dasjenige Element, das die Isolation des Parias aufbricht und in eine kosmopolitische Existenz verwandelt. Ein derartiges, dialektisches Verständnis des Außenseitertums scheint Arendt im Juli 1950, vier Monate nach ihrem Deutschlandaufenthalt, entwickelt zu haben. Unter diesem Datum notiert sie in ihr Denktagebuch ein Gedicht, dessen letzte Verse lauten: Wie die Brücke sich schwingt über Ströme von Unrast, von Ufer zu Ufer, Sicher verbunden, festes Gebild, Freiheit und Heimat in eins.88

In einer eigentümlichen Ambiguität, mit der Arendt auch den Flüchtlingsstatus, die Staatenlosigkeit, das Außenseitertum bewertet hat, wird die schwingende Brücke nicht allein zur Metapher für die entwurzelnde Unzugehörigkeit und den labilen Zustand des Parias, sie ist gleichermaßen ein ‚festes Gebild‘, das die gegenüberliegenden Ufer, die Heimaten der anderen, verbindet. Dass für jemanden, der – ob als ‚Ulysses-wanderer‘, ob als Paria – eine transitorische Existenz führt, auch Heimat sich nicht anders als transitorisch darstellt, mag zunächst verwundern. Doch wenn man der Liebe zu einer Nation eine so konsequente Absage erteilt wie Arendt und diese durch die Liebe zu den Freunden ersetzt, dann ist Heimat nicht länger lokalisierbar, sondern stellt sich im Dazwischen her.

Literatur Andress, Reinhard: ‚Der Inselgarten‘ – das Exil deutschsprachiger Schriftsteller auf Mallorca, 1931–1936. Amsterdam 2001. Arendt, Erich: Trug doch die Nacht den Albatros. Gedichte. Berlin 1951. Arendt, Hannah: Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte. München, Berlin, Zürich 2015. Arendt, Hannah: We Refugees [1943]. In: Altogether Elsewhere. Writers on Exile. Hg. v. Marc Robinson. Boston, London 1994, S. 110–119. Arendt, Hannah: Besuch in Deutschland [1950]. Aus dem Amerikanischen v. Eike Geisel. Mit einem Vorwort v. Henryk M. Broder u. einem Portrait v. Ingeborg Nordmann. Nördlingen 1993.

88 Arendt: Ich selbst, 2015, S. 46.

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Varun F. Ort

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‚Ulysses-wanderers‘. Hannah Arendts Rückkehr nach Deutschland

99

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Michael Rupp

„Leben unter den Deutschen“ – Hans Mayer als Ethnograph der Bundesrepublik „Ich durfte mich als kleinstes Teilchen einer ‚konkreten Totalität‘ verstehen.“ Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf

1.

Gegenstand und Problemstellung

Hans Mayer war einer der bedeutendsten Literaturkritiker und Literatur- und Kulturwissenschaftler der deutschen Nachkriegsgeschichte1 und eine ihrer wenigen Persönlichkeiten, die in beiden deutschen Staaten zu höchsten Bürgerehren2 gelangten. Seine erzählte Remigration, enthalten in seiner zweibändigen Biographie Ein Deutscher auf Widerruf 3, die Gegenstand der folgenden Ausführungen sein wird, ist von besonderer Aussagekraft, da er wie kaum ein zweiter Remigrant das Thema der Identität zu seinem Gegenstand machte und intellektuell durchdrang. Mayers Biographie im Allgemeinen, sowie seine Remigrationserzählung im Besonderen weisen, so die hier vertretene These, starke Züge einer ethnographischen Essayistik auf. Dieser Darstellungsform kommt, so wird zu zeigen sein, über das Stilistische hinaus eine inhaltliche Funktion zu. Zunächst wird Mayers gesellschaftliche, philosophische und politische Sozialisation nachgezeichnet werden, die seine existentielle und literarische Grundproblematik verständlich 1 Erst allmählich wird Mayer von einem Teil der Literatur- und Kulturwissenschenschaft zum Gegenstand der Forschung gemacht. Eine Sammlung zeitgenössischer Rezensionen von Mayers Thesen liefern Jens 1977 sowie Ueding 1978. Auf Mayers Verfolgung in der DDR liegt ein wichtiger Forschungsschwerpunkt. Vgl. Lehmstedt: Dokumente, 2007. Lehmstedt: Briefe, 2007. Klein 1997. Eine Reihe an Publikationen trägt Memoiren-artigen Charakter, wie etwa Sandig 2002, Berger 2003, Kersting 2007. Die soziologischen Forschungen Mayers im Rahmen des Collège de Sociologie werden beleuchtet in Moebius 2006. Den Versuch, Mayers literatursoziologischen Ansatz zur Grundlage einer auf gesellschaftliche Bildung zielenden Theorie der Literatur heranzuziehen, unternimmt Ladenthin 1991, S. 136–162. Im Kontext der Remigrationsforschung bisher: Peitsch, Helmut: Hans Mayers und Stephan Hermlins Blick von Osten auf die Gruppe 47. In: von der Lühe 2005, S. 119–136. 2 Mayer war Träger des ‚Nationalpreises der DDR III. Klasse für Wissenschaft und Technik‘, wie auch Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband. 3 Mayer: Ein Deutscher, 1982/84.

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machen soll. Es folgt ein Aufriss seiner Geschichtsphilosophie, der intellektuellen Grundlage seines Denkens und Schaffens, die anschließend im Kontext ihrer philosophischen Traditionslinien und unter besonderer Beobachtung ihrer inneren Spannungen betrachtet wird. Anhand der Untersuchung von vier ausgewählten Szenen seiner Autobiographie werden zuletzt Form und Wirkung von Mayers Essayistik unter diesen Gesichtspunkten analysiert.

2.

Mayers Sozialisation im Kontext möglicher und unmöglicher deutsch-jüdischer Symbiosen

2.1

Das Bürgertum als unmögliche Symbiose

In Mayers Heimatstadt Köln hätten die Juden stets bestenfalls auf Duldung hoffen können, keinesfalls auf Assimilation oder gar Emanzipation: „Heute weiß ich, dass man es schon immer gewusst hat. Alles war auf Widerruf angelegt.“4 Diese Aussage, mit der Mayer das Kapitel „Deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“ einleitet, stellt einen paradoxen Erkenntnisprozess dar: im Nachhinein erst feststellen zu können, was stets feststand. In diesem Eingangssatz – „Heute weiß ich, dass man es schon immer gewusst hat“ – ist zugleich die zeitliche Spannung der Erzählperspektive von Mayers Memoiren angelegt. Kreisend um die zentrale Frage der Identität, spaltet Mayer sich in ein erzählendes und ein erzähltes Ich.5 Durch dieses autodiegetische Erzählen verbindet er individuelle Erinnerungen mit gesamtgesellschaftlichen und philosophischen Reflexionen. Mayers autobiographische Erzählung durchzieht das Motiv einer auf unsicherem Fundament errichteten und schließlich gebrochenen Identität wie ein roter Faden. Als Bürger der Bundesrepublik gehörte er nach eigenem Bekunden zwar dem deutschen Staat an, die Frage eines Gefühls der Zugehörigkeit zu den Deutschen stellte sich jedoch weiterhin.6 Der Titel seiner Autobiographie Ein Deutscher auf Widerruf ist daher programmatisch zu verstehen, als Definition der eigenen Identität im Jahre 1984: „Was in meiner Jugend, in allen Ausdrucksformen der Opposition zur Weimarer Republik, niemals in Frage stand: ob man dazugehöre, bleibt heute für mich ohne Antwort.“7 Erst gegen Ende seines 4 Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 53. 5 Das Muster früheres Ich / heute schreibendes Ich ist seit Augustinus Strukturmerkmal autobiografischen Schreibens. Vgl. etwa Wagner-Engelhaaf 2005, S. 118ff. 6 Mayer: Ein Deutscher Bd. 2, S. 397f. Dabei schloss er an Thomas Mann an, der seinen Vortragstitel Deutschland und die Deutschen als Antithese verstand. 7 Ebd.

„Leben unter den Deutschen“

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Lebens schien Mayer diese Frage für sich entschieden zu haben: „Deutscher bin ich nicht und kann es auch nie wieder sein“.8 In seinem Kapitel über die „deutschen Staatsbürger“ zeichnet Mayer eine fein ziselierte Milieustudie der Lebenswelt der Kölner Oberschicht und der Rolle der Juden in ihr. Diese, so Mayer, waren in der Bischofsstadt trotz ihrer ‚Lessing’schen Symbiosebereitschaft‘ von „unsichtbare[n] Gettomauern“9 umgeben, also stets sozial distinguiert, wenngleich sie in ihrer Binnenzusammensetzung dem katholischen Patriziat glichen: einerseits bestehend aus Angehörigen des Bildungsbürgertums, den „priviligierte[n], staatsnahe[n] Berufsgruppen“,10 andererseits aus Angehörigen der Klasse von Besitz an Produktiv- und Handelskapital. Innerhalb des jüdischen Bürgertums bestand zwischen beiden Elementen ein reger Austausch – und doch eine feine Trennung. Wenngleich Mayers Vater als Frontsoldat politisch mit den Friedensbemühungen der Sozialdemokraten sympathisierte, war das Milieu im Kern nationalliberal gesinnt: Mayer beschreibt seinen „Onkel Ludwig“, den Patriarchen der Familie, als Inkarnation eines preußischen Schulmeisters,11 der seine nationalen Impulse an Stammtischen, seine liberalen Impulse im Kreise der Familie herausstellte und sich dabei keines Widerspruchs bewusst war. Aufgrund solcher Halbheiten bespöttelte Mayer den Herkunftskreis seiner Familie, in Anlehnung an Kurt Tucholsky als „Deutsche Staatsjuden bürgerlichen Glaubens“.12 Innerhalb des Judentums distinguierte man sich in drei Richtungen: von der jüdischen Orthodoxie, von den zum Katholizismus Konvertierten und besonders von den verachteten „Ostjuden“ und ihrem Zionismus. Zurück blieb eine „liberale[…] jüdische[…] Schrumpfreligion, die aus Trotz, aus Pietät, aus einem unterschwelligen Sicherungsbedürfnis“13 beibehalten wurde. Mayer beschreibt seine Schulzeit, die sich über Kaiserreich, Weltkrieg und Weimarer Republik erstreckte, allerdings durchaus nicht als die eines Außenseiters. Eine systematische Marginalisierung der jüdischen Schüler, so urteilt Mayer, fand am Schiller-Gymnasium in KölnEhrenfeld nicht statt. Die Jugendlichen entstammten, wie Mayer es beschreibt, guten, aber nicht den besten Familien: „aus dem mittleren Bürgertum, obere Randzone“.14 Aus diesem Umstand erklärt sich, weshalb die Hyperinflation des Jahres 1923 solch drastische Auswirkungen auf das soziale Gefüge dieser Schicht hatte. Durch die Geldentwertung „wurde ein Abgrund geöffnet, der sich nie wieder schließen sollte. Die Inflation zerstörte das deutsche Bürgertum in seiner 8 9 10 11 12 13 14

Mayer: Der Widerruf, 1994, S. 445. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 57. Wehler 2007, S. 731. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 15. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 70. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 60. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 33.

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Substanz.“15 Knaben, deren Familien im Außenhandel tätig waren, stiegen binnen kurzer Zeit in bisher unbekannte Sphären des Reichtums auf, da deren Wohlstand auf harten Devisen beruhte und sich nun stark vermehrte. Sie benahmen sich, so beschreibt es Mayer, anmaßend, machten auf Schulausflügen großspurig Zeche und fuhren Motorrad. Auch Mayer selbst war, ohne dies damals so recht begriffen zu haben, „mitgelaufen im Häuflein der neuen Bourgeois“.16 Im Unterschied zu diesen Mitschülern erfuhren alle Bürgersöhne, die den Familien der Funktionseliten entstammten, nun einen raschen Wohlstandsverlust, da die in Reichsmark ausgezahlten Gehälter im Laufe eines einzigen Tages an Wert verlieren konnten: „man sah es an den Frühstücksbroten der Söhne“.17 Diese relative Deprivation, so urteilte Mayer, war der Nährboden, auf dem sich der Antirepublikanismus schlagartig im Bürgertum ausbreitete – und mit ihm der Antisemitismus, denn der Kampf gegen die verhasste Republik war zugleich die Absage an die Emanzipation der deutschen Juden auf der Grundlage bürgerlicher Gleichberechtigung. Mayer beschreibt ein Fest mit Schulkameraden im Hinterzimmer einer Kölner Kneipe als den Moment, in dem diese Entwicklungen in seine Lebenswelt eindrangen. Klassenkameraden unterbrachen plötzlich am Klavier die modernen Klänge der zwanziger Jahre und schlugen den Marschrhythmus einer Freikorpshymne „Hakenkreuz am Stahlhelm“ an, den „Erlösungsmarsch der Hungrigen und Gekränkten“.18 Es kehrt in Mayers Betrachtungen hier das Motiv wieder, ob es sich um einen akuten Bruch handelte oder nur um das Sichtbarwerden eines Bruches der immer schon vorhanden gewesen war: „Nun aber hatte sich die wohlbekannte Umwelt jäh verändert. Zur Kenntlichkeit oder zur Unkenntlichkeit?“19 Die säkulare Staatsbürgerschaft als Integrationsgrundlage einer bourgeoisen deutsch-jüdischen Symbiose war damit gescheitert, so urteilt Mayer im Nachhinein: An jenem Kneipenabend war ich aus einer Gemeinschaft ausgetreten, oder auch entlassen worden, je nachdem. Das hing mit meinem Judentum zusammen, ohne Frage. Ich empfand anders, als jene inbrünstigen Sänger. Als wir, drei Jahre später, das Reifezeugnis erhalten hatten, muss es wohl auch, wie üblich, einen Abiturientenkommers gegeben haben, ich weiss es nicht mehr. Jedenfalls bin ich nicht hingegangen.20

15 16 17 18 19 20

Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 35. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 36. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 35. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 37. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 38. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 39.

„Leben unter den Deutschen“

2.2

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Die Möglichkeit einer emanzipatorischen Symbiose mit der Arbeiterbewegung – und ihr Ende

Während das deutsche Bürgertum um ihn herum erodierte, zeigte der Abiturient Mayer wenig Ambitionen, nun auch selbst eine geordnete bürgerliche Laufbahn einzuschlagen. Sich dem Künstlertum, für das er stets eine Vorliebe gehabt hatte, zuzuwenden, konnte er sich nicht entschließen. Auch von anderen Studienfächern versprach er sich nicht allzu viel: Ich wußte nicht, was aus mir werden könnte, wußte nicht einmal, was ich wollte. Ach ja, nicht Medizin, und nicht Naturwissenschaft. […] Wirtschaftswissenschaft hätte mich den Kaufleuten ausgesetzt. Die Finger waren zu kurz für einen Pianisten, auch übte ich nicht allzugern. Philologie bedeutete: Studienrat.21

Das Studium der Rechtswissenschaften taugte als Kompromiss, da es eine relative Vielzahl an anschließenden Entwicklungsmöglichkeiten bereithielt, wurde von Mayer aber ansonsten „lustlos und lethargisch“22 betrieben, geprägt von einer „geistigen Lähmung“.23 Auch der Wechsel des Studienortes nach Berlin änderte daran im Wesentlichen nichts. Erst dieses Klima der existentiellen Langeweile, so beschreibt es Mayer später, war die geistige Grundlage für seine Hinwendung zum Marxismus.24 Mit der Möglichkeit der historischen Interpretation der Gegenwart eröffnete sich schließlich gleichzeitig ein neuer Zugang zu ihr. Dem literarisch vorgebildeten Mayer diente die Frühschrift von Georg Lukács „Geschichte und Klassenbewusstsein“25 als Einstieg in seinen Prozess der politischen Bewusstwerdung. Er lernte sie kennen, als sich im Wintersemester 1927/28 an der Universität Köln eine Arbeitsgemeinschaft zu „jene[m] X mit dem Namen Historischer Materialismus“26 konstituierte, deren Aushang am Schwarzen Brett auf den philosophisch Suchenden große Anziehung hatte. Den doktrinären Mitgliedern der Kommunistischen Partei, die sich hinter dem Arbeitskreis verbargen, war der vielseitig interessierte Mayer kaum geheuer, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte: „Natürlich gab man sich proletarisch in Kleidung und Benehmen. Bürgerlich jedoch war in fast allen Fällen die Herkunft der marxistischen Studenten.“27 Zu diesem Zeitpunkt war die Arbeiterbewegung, unter dem Einfluss der auf Konfrontation zielenden stalinistischen „Sozialfaschismusthese“, im Prozess tiefer Spaltung begriffen; das Jahr 1929 tat mit der

21 22 23 24 25 26 27

Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 65. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 93. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 65. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 70. Lukásc 1923. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 98. Ebd.

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Weltwirtschaftskrise sein Übriges dazu. Mayer war in der Zwischenzeit in der „Sozialistischen Studentengruppe“ heimisch geworden, stand also der Sozialdemokratie nahe: Bei den sozialistischen Studenten gaben die Arbeiterkinder den Ton an […] Sie hatten alles, was mir abging: Lebenserfahrung, Zutrauen zu sich selbst, Solidarität. Doch waren sie freundlich. Man hatte es ihnen schwer gemacht, woraus sie nicht folgerten, man müsse es nun auch ‚den anderen zeigen‘. Das eben unterschied sie vom Kleinbürger. Einige sind im Krieg gefallen, andere erschlagen worden als Staatsfeinde. Ich wüsste aber nicht, dass sich einer gleichgeschaltet hätte im Dritten Reich.28

Mayers vielgestaltiges aber zielloses Interesse an Kultur und Literatur fand nun eine bildungshungrige Zuhörerschaft und somit Sinn und Zweck. Dieses Aufeinandertreffen sollte sich für Mayer als das lange erhoffte Finden einer stabilen und sinnvollen Identität erweisen, also eines Selbstbildes, welches kohärent ist zur sozialen Rückmeldung einer Bezugsgruppe.29 Mayer formuliert diesen Gedanken so: an die Künstlerlosung „Einsam, aber frei“ habe er nie geglaubt, da er schon damals geahnt hatte, dass Identität überhaupt nur durch Bindung und Spiegelung an einem Gegenüber zu erreichen war.30 Im Gegensatz zur orthodoxen Parteilinie bei den Kommunisten, herrschte bei den „Sozialistischen Studenten“ ein Klima des „fröhlichen Eklektizismus“31, der seine Ursache hatte im ehrlichen und umfassenden Interesse der studierenden Arbeiterkinder; sie „wollten […] alles kennenlernen, alle Wasser probieren, die trüben wie die abgekochten“.32 Die Verbindung zwischen jüdischem Bürgertum und organisierter Arbeiterschaft, die sich hier abzeichnete, hatte eine lange Tradition, seit den Tagen Heines und Marx’ im Pariser Exil und ihren Kontakten zu den demokratischen Gesellenverbänden. Karl Marx, Ferdinand Lasalle, Eduard Bernstein, Rudolf Hilferding oder auch Hans Mayers Doktorvater, der Staatsrechtler Hermann Heller: sie alle entsprachen dem Typus des jüdischen Intellektuellen in der Partei der Facharbeiter.33 Diese Form der Symbiose war stets geprägt vom gemeinsamen Emanzipationsbestreben und der Suche nach einem intellektuellen, gesellschaftlichen Wirkungsraum. Für Mayer ergab sich jedoch nicht mehr die Gelegenheit, diesen Weg zu beschreiten. Die Hoffnung auf eine antifaschistische Sammlungsbewegung in der „Sozialistischen Arbeiterpartei“, angesiedelt zwischen SPD und KPD, erwies sich als Trugschluss. Mit der Machtübernahme der Nazis endete auch diese Form deutsch-jüdischer Symbiose.

28 29 30 31 32 33

Mayer: Ein Deutscher, S. 116f. Vgl. Schwietring 2011. S. 275. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 114. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 118. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 118. Walter/Marg 2013. S. 69.

„Leben unter den Deutschen“

3.

Aufklärung, Marxismus und das Scheitern der Deutschen Geschichte: Traditionslinien in Mayers geschichtsphilosophischem Denken

3.1

Der Zusammenhang von Marxismus und Aufklärung

107

„Das Buch geht von der Behauptung aus, daß die bürgerliche Aufklärung gescheitert ist.“34 Diesen Satz stellt Mayer seinem Werk über die Außenseiter apodiktisch voran. Damit negiert er zwar nicht den Sinngehalt aufklärerischen Gedankengutes, jedoch die Möglichkeit ihrer historischen Verwirklichung, gebunden an den politischen Aufstieg des Bürgertums.35 Ein zentraler Schlüssel zu Mayers Werk liegt in der Frage, weshalb er als Marxist mit der bürgerlichen Aufklärung und ihrem Scheitern in dieser Weise befasst war. War die Idee der bürgerlichen Aufklärung nicht von vornherein Ausdruck eines falschen Klassenbewusstseins und somit Ideologie einer herrschenden Klasse zu einem bestimmten Zeitpunkt, in diesem Fall der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts? Waren Bourgeoisie und Proletariat nicht unversöhnliche Widersacher? Um dieser Frage nachzugehen, bedarf es einer kurzen ideengeschichtlichen Betrachtung der Genese sozialistischen Denkens. Marx’ Werk war in seinen Anfängen geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Scheitern der Französischen Revolution, abgehalten im Duktus Hegel’scher Dialektik, dem herrschenden Diskurs deutscher Philosophie der 1830er und 40er Jahre. Unter dem geistigen Einfluss des französischen Sozialismus und der englischen Nationalökonomie vollzog Marx jene materialistische Wende in seiner Geschichtsphilosophie, die Iring Fetscher treffend umreißt: Warum sah das Resultat der bürgerlichen Französischen Revolution so ganz anders aus als die hochfliegenden Ziele der Revolutionäre? Weil die Menschen für solche hohen Ideale zu klein waren, weil jedem großen sittlichen Aufschwung immer wieder der Katzenjammer folgt – so oder ähnlich hatte man bisher geantwortet. Marx erklärt: weil der objektive geschichtliche Sinn dieser Revolution allein in der Durchsetzung geeigneter rechtlicher und politischer Bedingungen für die Entfaltung der kapitalistischen Gesellschaft lag und nicht in der Errichtung eines idealen republikanischen Tugendstaates.36

Jene mit der französischen Revolution ins Werk gesetzte aufklärerische Agenda, die Ernst Bloch als „Programm Citoyen“ bezeichnet hatte, verwickelte sich, so Mayer, in den Widerspruch von „Citoyen“ und „Bourgeois“, also dem Staatsbürger einerseits und dem Besitzbürger andererseits. Denn die formale Gleich34 Mayer: Außenseiter, 1977, S. 9. 35 Ebd. 36 Fetscher 1982, S. 99.

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heit, die in der Französischen Revolution an die Stelle der feudalen Ungleichheit trat, barg automatisch eine neue, materiale Ungleichheit in sich, den Kapitalismus.37 Somit wird deutlich, dass es noch immer der aufklärerische Anspruch der égalité war, der auf seine historische Verwirklichung drang. Marx hatte lediglich mit Lösungsansätzen seiner Zeit – namentlich dem Kontraktualismus – gebrochen und diese als Ideologien zu dekonstruieren versucht. Der Blick auf diese aufklärerische Wurzel marxistischen Denkens wird in späteren Beurteilungen zumeist verstellt durch den geifernden Hass auf alles „Bürgerliche“ in den Schriften des sogenannten „Marxismus-Leninismus“. Als Eduard Bernstein im Jahre 1898 erneut darauf hinwies, dass man ja nicht alle Bürger zu Proletariern, sondern umgekehrt alle Proletarier zu Bürgern machen wolle,38 galt dies den Leninisten nur als abermaliger Ausweis seines Verrates. Der ursprüngliche marxistische Sozialismus jedoch empfand sich selbst als Fortführung der Aufklärung mit anderen Mitteln. Im Kern blieben die Auseinandersetzungen im marxistischen Lager der nächsten hundert Jahre doch eher Debatten um die Frage des „Wie?“, nicht um die Frage des „Ob?“. Dass die Geschichte einen objektiven Entwicklungsgang und einen inhärenten Sinn habe, dass man selbst Zeitzeuge dieses Umbruchspektakels war, dessen Ausgang doch letztlich feststand, schien unhinterfragte Gewissheit zu sein. Jene Gewissheit etwa, mit der noch Brecht die Nachgeborenen um ein mildes Urteil anrief, ob der finsteren Zeiten – also der Jahre des Übergangs – in denen er lebte. Auch der von Mayer viel zitierte Text Helmuth Plessners – Die verspätete Nation39 – war im Jahre 1935 noch unter dem Titel „Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang [Herv., M.R.] seiner Bürgerlichen Epoche“ erschienen.

3.2

Shoah, Historischer Materialismus und die Rolle der Kultur in der Gesellschaft – ein Paradigma der kritischen Theorie

In diesem Zusammenhang wird unter anderem deutlich, welche Rolle der Shoa beim Bruch der kritischen Theorie mit ihren doktrinären Wurzeln zukommt. Die Erfahrung der Shoa sperrte sich gegen eine Einebnung in ein großes Narrativ, eine Meistererzählung vom Fortgang der Produktivkräfte und Kampf der Klassen. Als Akt der Barbarei ragte sie weit hinaus über das erwartbare Maß an Unmenschlichkeit im Rahmen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Der Versuch der Deutung des Nationalsozialismus, wie sie noch Dimitroff auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale vom 2. August 37 Mayer: Außenseiter, 1981, S. 29. 38 Bernstein 1921, S. 183. 39 Plessner 1998.

„Leben unter den Deutschen“

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1935 versucht hatte, als „offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“, schien als Erklärung kaum hinreichend.40 Dass man es mit einem Zivilisationsbruch zu tun hatte, also einem Ereignis, welches „Schichten zivilisatorischer Gewissheit, die zu den Grundvoraussetzungen zwischenmenschlichen Verhaltens gehören“41 erschütterte, war im Rahmen eines herkömmlichen historischen Materialismus kognitiv kaum zu bewältigen. Eben diesen Bruch in seinen Ursachen zu beschreiben, war das Anliegen der Dialektik der Aufklärung und eines daran anschließenden ästhetischen und erzieherischen Programms. Für Adorno bildeten alle Gesellschaftsbereiche – die Produktion und Konsumtion, die Kultur, Religion und Philosophie – eine gesamtgesellschaftliche „Totalität“. Dabei, so beschreibt es Habermas, entsteht eine „konzentrische Abhängigkeit aller gesellschaftlichen Erscheinungen von der ökonomischen Struktur […], wobei diese dialektisch als das Wesen begriffen wird, das in beobachtbaren Erscheinungen zur Existenz gelangt“.42 Folglich waren hier Gesellschaftsanalyse und die Verortung kultureller Produktion in der Gesellschaft bei Adorno und Horkheimer zwei voneinander untrennbare Gegenstände, gerade in Hinsicht auf jenen Bruch. Die Geschichte der Debatte um Adornos Diktum,43 demzufolge ein Gedicht nach Auschwitz zu schreiben, barbarisch sei, ist – aufgrund der Vernachlässigung dieses geschichtsphilosophischen Rahmens – vor allem die Geschichte des Missverständnisses eben jenes Diktums. Weder war damit ein Ende aller Lyrik, noch ein Verbot von Lyrik über Auschwitz gemeint. Der Kontext dieser Aussage war eine Erörterung der Rolle des Kulturkritikers innerhalb gesellschaftlicher Totalität: noch in der anklagenden Gebärde hält er die Idee von Kultur isoliert, unbefragt, dogmatisch fest. […] Wo Verzweiflung und unmäßiges Leiden ist, soll darin bloß Geistiges, der Bewußtseinszustand der Menschheit, der Verfall der Norm sich anzeigen.44

Die Kultur als abgeschlossene, eigengesetzliche gesellschaftliche Sphäre zu betrachten war Adornos Sozialphilosophie nach grundlegend falsch; angesichts der offenkundig erlebten Barbarei wurde eine solche Betrachtungsweise zum Ver40 Dass in Peter Weiss’ Ermittlung die Ikone Auschwitz gezeichnet wird als Anhang eines ausbeuterischen Fabriksystems, aber in keinem Wort Erwähnung findet, wer die Opfer waren, scheint aus heutiger Sicht ebenso kaum nachvollziehbar. Es entsprach dabei jedoch nur der hegemonialen „marxistischen“ Interpretation, die in dieser Hinsicht auch als Verdrängungsstrategie der „Neuen Linken“ interpretiert werden muss. Vgl. dazu Kundnani 2009. 41 Vgl. Diner, Dan: Vorwort. In: Ders. 1988, S. 7. 42 Man spricht deshalb bei Lukacs und Adorno auch von „Hegelmarxisten“. Vgl. Habermas 1967, S. 158. 43 Alle wesentlichen Positionen sind gesammelt bei Kiedaisc 1995. Siehe dazu auch Hofmann 2005, S. 182–194. Kleine 2012. 44 Adorno 1977, S. 11.

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brechen. Die Sphäre der kulturellen Produktion hatte also nur zwei Möglichkeiten: den Verblendungszusammenhang zu thematisieren oder ihn zu verstärken. Aus der gesellschaftlichen Totalität gab es also kein Entrinnen, auch nicht für einen wohlmeinenden Dichter, sofern er romantisierende und harmonisierende Absichten hatte. Adorno fordert deshalb von Kulturproduktion und -kritik, an der Gesellschaft zugleich teilzunehmen und nicht teilzunehmen.45 Die barbarische Latenz der umfassenden Rationalisierung aller Lebensbereiche war für Adorno allen modernen Industriegesellschaften inhärent, womit er, dies sei hervorgehoben, einen universalistischen Erklärungsansatz der gesellschaftlichen Bedingungen der Shoa verfolgte. Die Frage „Warum Deutschland?“ lässt sich, zumindest auf der Grundlage der Geschichtsphilosophie Adornos nicht beantworten. Hier wird die andere Akzentuierung im Werk Hans Mayers deutlich, der im eigenen Selbstverständnis ein Kommentator deutscher Zustände war. Der Weg, der die Geschichte an die Tore von Auschwitz führen sollte, war für Mayer in erster Linie ein Irrweg der deutschen Geschichte. Die Shoa und – ihr vorausgegangen – die Katastrophe des deutschen Geistes, wurde für Mayer nur verständlich vor den Hintergrund des Misslingens der nationalstaatlichen Entwicklung der Deutschen. Auch für Mayer gab es gesellschaftliche Totalität, also den Zusammenhang von Produktionsregime, kulturellem und politischem Leben: im deutschen Falle typischerweise bestehend aus anachronistisch nebeneinanderliegenden Phasenverschiebungen, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wie Ernst Bloch es genannt hatte.46 Vom Werdegang westlicher Nationalstaaten unterschied die deutsche Geschichte, so ließe es sich ausdrücken, ein Herzrhythmusfehler der schließlich zum Infarkt führte. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bedeutete: ein Auseinanderdriften realer sozio-ökonomischer Entwicklung einerseits und politischer und kultureller Repräsentation im nationalen und schichtspezifischen Bewusstsein andererseits, mangels eines vollendeten Bruches mit der obrigkeitsstaatlichen Tradition in Form einer deutschen Revolution – man erkennt hier das marxistische Schema von Basis und Überbau. Mayers Blick auf die daraus resultierenden Deformationen des politischen Bewusstseins entspringt jedoch den Analysen seines Lehrers Helmuth Plessner, der auf die Gleichzeitigkeit von europäischer Aufklärung und politischer Ohnmacht des deutschen Bürgertums im 18. Jahrhundert hingewiesen hatte und darin den Grund erkannte, weshalb die Gedanken von Humanität und Demokratie im deutschen Bürgertum kaum Wurzeln schlugen.47 Den Beginn der deutschen Katastrophe erkennt Mayer im Dreißigjährigen Krieg, welcher die Reichsstädte 45 Adorno 1977, S. 29. 46 Bloch 1962, S. 113ff. 47 Plessner 1998, S. 32–42.

„Leben unter den Deutschen“

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verwüstet und entmachtet zurückließ und in deutscher Kleinstaaterei und Möchtegernabsolutismus endete.48 Im dahinsiechenden Heiligen Römischen Reich gab es keine politische und kulturelle Hauptstadt, die für eine im Werden begriffene deutsche Bourgeoisie stilbildend und als revolutionäres Zentrum hätte wirken können. Ein aufgeklärtes Bewusstsein blieb, so Mayer, im 18. und 19. Jahrhundert also stets ein „unglückliches Bewusstsein“. In Anlehnung an Hegel war dies ein Bewusstsein das zu sich selbst gekommen war, zugleich aber gesellschaftlich impotent blieb. Ein solches Bewusstsein war unglücklich, da es die eigene Anachronizität miterleben musste,49 gespalten von eben jener Phasenverschiebung. Damit kam dem deutschen Idealismus der zivilisatorische Fortschrittsoptimismus und das Vertrauen in die Notwendigkeit und Richtigkeit von Aufklärung und Humanismus abhanden.50 Mayers Zugang zur Literaturwissenschaft kreiste nicht zuletzt um die Frage, inwiefern diese sozialen Prozesse ihren Abdruck in der deutschen Literatur hinterlassen hatten. Literatur war für Mayer ein soziologischer Sedimentquerschnitt, in dem sozioökonomische Schichtungen sichtbar und zu ‚Bewusstsein‘ ausgeformt wurden. Dabei war Mayer kein kruder Trivialmarxist, für den Literatur ein reines Phänomen von gesellschaftlichem „Überbau“ dargestellt hätte. Vielmehr war literarische Produktion und Konsumtion als ein Medium der Bewusstwerdung von Verhältnissen für Mayer ein zentraler Ausgangspunkt emanzipatorischen Strebens.

4.

Remigration, gebrochene Identität und ethnographische Essayistik

4.1

Remigrationserzählung in „Der Jeep“

Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie Mayer in seiner Biographie, insbesondere in der Erzählung seiner Remigration, alle diese Aspekte zusammenführt und erzählerisch gestaltet: sein Gesellschafts- und Geschichtsverständnis, die Frage seiner eigenen Identität, sowie des Grundes seines literarischen Forschens und Schaffens. Der erste Kontakt mit der alten Heimat nach Kriegsende erweist sich in der Erzählung dabei als Schlüsselerlebnis. In dem Kapitel „Der Jeep“ beschreibt Mayer seine erstmalige Einreise ins besetzte Deutschland im Oktober 1945. Sie erfolgte von Basel aus, den Rhein aufwärts durch Frankreich und französisches Besatzungsgebiet bis nach Frankfurt. Die Erzählung erinnert damit in ihrer Anlage an die Reise-Essays 48 Mayer: Ein Deutscher Bd. 2, S. 397. 49 Mayer: Bewußtsein, 1990. 50 Ebd.

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Michel de Montaignes, auf den sich Mayer als wichtige Quelle von Erkenntnis und Inspiration beruft.51 Diesen Texten ist das Gestaltungsmittel der stationären Reise zur skizzenhaften Zeichnung ganzer Kulturen gemein und die regelmäßige Verdichtung dieser Beobachtungen zu Aphorismen. Clifford Geertz nennt diese Vorgehensweise die „dichte Beschreibung“52 und weist sie als zentrales Charakteristikum ethnographischer Essayistik aus. Bereits mit der Exposition der Erzählung gibt Mayer einen wichtigen Hinweis auf sein Leitmotiv: An dem Morgen nach dem amerikanischen Frühstück wurden wir als Amerikaner eingekleidet. Nun sah ich aus wie ein GI. Wenn ich später davon berichtete, wurde immer gegrinst. Sicher sah ich absonderlich aus als Ami, doch es gab andere, richtige Soldaten aus Brooklyn oder Miami, die auch nicht eindrucksvoller wirkten. Eine Photographie jedenfalls gibt es nicht von meiner Nachkriegsmaskerade.53

Diese „Nachkriegsmaskerade“ hat vordergründig einen pragmatischen Anlass. Nur als GI verkleidet war es möglich, durch französisches und französisch besetztes Gebiet ohne Papiere zu fahren. Mayers Staatsbürgerschaft war durch einen Verwaltungsakt des ‚Dritten Reiches‘ widerrufen worden. Doch liegt auch einige Symbolik in der Szene. Der Ethnograph verkleidet sich für gewöhnlich, um unter den Einheimischen (den „Eingeborenen von Bizonesien“54, wie Mayer ein zeitgenössisches Karnevalslied zitiert) nicht aufzufallen. Der ausgebürgerte deutsche Jude Mayer verkleidet sich jedoch, um nicht als Einheimischer aufzufallen, er verkleidet also seine eigene gebrochene, widerrufene Zugehörigkeit. Aus dieser paradoxen ethnographischen Erzählsituation heraus beschreibt Mayer in dieser Szene eindringlich das Rhein-Neckar-Gebiet. Sein oben dargestelltes Verständnis der deutschen Geschichte liefert den Schlüssel zur Interpretation der Szenerie. Er bezieht sich dabei auf einen Gedanken Ernst Blochs, der über seine Vaterstadt Ludwigshafen geschrieben hatte: „Selten hatte man die Wirklichkeiten und Ideale des Industriezeitalters so nahe beisammen, den Schmutz und das residenzhaft eingebaute Geld“.55 Die Antithetik „Mannheim– Ludwigshafen“ konstituiert sich einerseits durch den barocken Grundriss Mannheims, der kurpfälzischen Residenzstadt: zentralistisch zwar und eine der weitläufigsten Schlossanlagen Europas, aber doch nur auf den Hof eines Provinzfürsten zuführend, erscheint Mannheim als ein Symbol des deutschen Provinzialismus und anachronistischen Überhangs feudaler Regierungsgewalt bis in die jüngste Geschichte hinein. Gegenüber, dialektisch wie geographisch (nämlich auf der anderen Rheinseite), liegt Ludwigshafen, ein Produkt der schlagartigen 51 52 53 54 55

Mayer: Ein Deutscher Bd. 2, S. 381f. Geertz 1973. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 314. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 360. Bloch 1962, S. 210.

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Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Jedoch gab es in Ludwigshafen keinen bourgeoisen Stolz, der sich je vom „Mannheimer“ Obrigkeitsstaat emanzipiert hätte. Der beschriebene Pomp des Kaiserreiches ist Sinnbild jenes übersteigerten Nationalismus, der letztlich nur ein schlechtes Substitut für mangelndes politisches Selbstbewusstsein war. Die Topographie wird so durch Mayers essayistische Interpretation zur ethnographischen Miniatur der ‚verspäteten Nation‘. Der montagehafte Essay Blochs aus den zwanziger Jahren, welcher die rauhe aber ehrliche Wirklichkeit Ludwighafens als historische Möglichkeit einer zukünftigen Gesellschaft beschreibt, findet in Mayers Essayistik seinen ernüchterten Wiederhall: „Der Schmutz der Industrie von Ludwigshafen. Er wurde tödlich für die Stadt. Mit der Industrie wurde hier das Gemeinwesen aus der Luft getroffen. Hier sahen wir zum ersten Mal was geschehen war, bevor das Ende kam.“56 Um die Diskursivität der hier angeschnittenen Thematik zu verstehen, muss deren politische Brisanz beim Erscheinen von Mayers Autobiographie, also zu Beginn der 1980er Jahre, in Erinnerung gerufen werden: das strategische Flächenbombardement deutscher Ballungsräume durch alliierte Luftstreitkräfte. In der Bundesrepublik der so genannten „geistig-moralischen Wende“ und des „Historikerstreits“ waren Fragen von Schuld und Unschuld, Täterschaft und Opferschaft, von Niederlage und Befreiung in höchstem Maße politisiert. Eine Hoheit über die moralische Deutung der deutschen Geschichte zu erringen, hieß die diskursive Hoheit über Gesellschafts- und Außenpolitik innezuhaben.57 Mayer nutzt diese Szenerie um über seine Emotionen zu sinnieren, verortet diese angesichts des zerstörten Landes nicht eindeutig, sondern bewusst im Niemandsland: Plötzlich war ich wieder Gymnasiast im Lateinunterricht, das weiß ich genau. Die Vokabel drang ins Bewußtsein, wir hatten darüber gelacht in Köln, weil sie albern klang. Julius Caesar hatte es so formuliert, wenn er Siedlungen der Gallier zerstörte. Solo aquere. Dem Erdboden gleichmachen. Hier war es erfolgt und jetzt war es deutsche Wirklichkeit allenthalben, nicht mehr eine Vokabel aus der Penne. […] Es war kein Zufall, dass ich nicht weinte oder empört war, oder gar Freude empfand bei einer solchen Vergeltung.58

Die Charakterisierung der Bombardierungen als „Vergeltung“ impliziert eine moralische Legitimation des alliierten Luftkrieges. Mayer empfand weder Mitleid oder Selbstmitleid, also Gefühle eines Zugehörigen, noch die Genugtuung eines Siegers über den Besiegten. Es ist als feine Spitze im Hinblick auf die damalige Erinnerungspolitik zu lesen, dass Mayer just in diesem Zusammenhang 56 Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 315. 57 Schildt/Siegfried 2009, S. 435. 58 Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 315f.

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zum Thema machte, was er „deutsches Selbstempfinden“59 nannte, die Szene also mit der Frage der eigenen Identität verknüpft. Weiter heißt es: Die lateinische Vokabel, das war plötzlich wieder meine deutsche Kindheit, ein Damals, was immer ich jetzt sah oder sehen würde: es war ganz fremd, natürlich, aber es war auch, in sonderbarer Verstörung, so etwas wie ein Wiedersehen. Heimkehr, doch in die Fremde.60

Die paradoxe Empfindung einer „Heimkehr in die Fremde“ wirkt identitätskonstituierend, denn sie bildet den Kontext, in dem eine Selbstcharakterisierung als Deutscher „auf Widerruf“ erst sinnvoll wird. Der deutsche Jude Mayer, dem die Möglichkeit geraubt war, ein solcher zu sein, wird damit selbst – spiegelbildlich zu jenem anachronistischen Deutschland, das nicht in der Lage ist, ihm Heimat zu bieten – ein Anachronismus, nämlich ein permanentes Damals und Heute in einer Person. Solange diese Verhältnisse bestehen wird seine Reise andauern: „der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch ist gestaute Wut, der objektiv ungleichzeitige [ist] unerledigte Vergangenheit“.61 Im Bezug auf die ethnographische Essayistik Mayers hat dieser Umstand eine weitere Implikation, denn gewöhnlich kennzeichnet die ethnographische Beschreibung des Fremden „die kontrastive Grundorientierung am Eigenen und das Ziel der bilanzierenden Rückkehr“.62 Da die Beschriebenen jedoch zugleich die Adressaten sind, erfolgt die Grundorientierung des Eigenen hier erst im Kontrast zum Fremdgewordenen. Der weitere Weg nach Frankfurt ist von Stationen gekennzeichnet, welche die Motive Blochs und Plessners, der ‚unvollkommenen Revolution‘ und der ‚verspäteten Nation‘, wiederholen und weiter versinnbildlichen. Im weitgehend verschonten Heidelberg, wo „Reste vom friedlichen Alltag eines Großdeutschen Reiches“63 zu sehen waren, bildet die allgegenwärtige, mittelalterlich anmutende Frakturschrift einen lebendigen Anachronismus. In Heidelberg trifft Mayer auch den Regisseur Gustav Hartung, der bereits in den 1920er Jahren aufgrund seiner progressiven Stoffe beim Kölner Oberbürgermeister in Ungnade fiel: bei Konrad Adenauer, dem Kanzler der konservativen Restauration. Der Arzt, der die Emigranten verpflegt, ist der Psychiater Alexander Mitscherlich,64 dessen spätere sozialpsychologische Untersuchungen die Verdrängungsmechanismen der bundesrepublikanischen Gesellschaft sezierten. Und als der Weg über Darmstadt fortgesetzt wird, ragt aus seinen Trümmern unversehrt nur noch ihr Wahrzei-

59 60 61 62

Mayer: Ein Deutscher Bd. 2, S. 400. Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 316. Bloch 1962, S. 122. Honold, Alexander: Ethnologie und Literatur. In: Burdorf/Fasbender/Moenninghoff 2007, S. 212f. 63 Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 316ff. 64 Ebd.

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chen heraus, das Ludwigsmonument. Es erinnert – Ironie der Geschichte – just an jenen Fürsten, dessen Palast Georg Büchner einst den Krieg erklärt hatte.65 Durch dieses Gestaltungprinzip der stationären Reise gelingt es Mayer, das in Trümmern liegende Nachkriegsdeutschland als ein topographisches Gedächtnis seiner eigenen Geschichte zu beschreiben: Anachronismus, unvollendete Revolution, Verdrängung. Beobachteten Einzelheiten führt er seine Lesart zu und führt sie zurück auf den immer wiederkehrenden Aphorismus: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als „dichter Text“ der ethnograhischen Beschreibung.

4.2

Das Pendeln zwischen deutsch-deutschen Verhältnissen in „Am Vorabend eines Kalten Krieges“

Mayers Hoffnung, als Rückkehrer am Aufbau eines neuen Deutschlands mitzuwirken, geriet bald unter das Räderwerk des Kalten Krieges. Einen Posten als Redakteur bei der „dena“ (später „dpa“) in Frankfurt an der Seite von Golo Mann verliert Mayer bald, da er kritische Töne an der amerikanischen Außenpolitik anschlägt. Mayer beschreibt die ideologische Spaltung Deutschlands und die Schwierigkeiten, in die „sowjetisch besetzte Zone (SBZ)“, die spätere DDR, zu gelangen: Im Übrigen erhielt ich wirklich gute Ratschläge für mein Verhalten am nächsten Tag. Man soll nicht zu früh am Bahnsteig sein um auf den Interzonen-Zug zu warten. Dann gelangt man zwar rasch in den Zug, vielleicht auf einen Sitzplatz, muss aber hinter Helmstedt als letzter hinaus zur Kontrolle. Dann sind alle anderen schon abgefertigt und sitzen auf den Plätzen. Dann muss man stehen bis Berlin. Kommt man jedoch zu spät zum Bahnsteig trotz Zulassungskarte, dann kommt man nicht mehr mit, und alles fängt von neuem an.66

Das angeratene pragmatische Verhalten in einer scheinbar unwichtigen Angelegenheit ist bei genauerer Betrachtung eine Allegorie für das große Ganze: „Am besten ist auch hier der goldene Mittelweg. Dann steht man zwar bis Helmstedt, kommt jedoch rasch wieder in den Zug und findet einen Sitzplatz auf der Rumpelfahrt durch die östliche Besatzungszone.“67 Den entscheidenden Hinweis gibt Mayer durch die Formulierung „auch hier“ den goldenen Mittelweg zu wählen: Am Grenzübergang vom Westen in den Osten werden die Ersten die Letzten sein. Eine nicht allzu exponierte Haltung ist also ratsam, quasi als „dritter Weg“ ex negativo. Mayers frühere ideologische Heimatlosigkeit zwischen KPD und SPD findet hier in der deutschen Spaltung ihre 65 Mayer: Ein Deutscher, Bd. 1, S. 316ff. 66 Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 383. 67 Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 383.

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Entsprechung. Mayer beschließt die Episode also nicht zufällig mit Reflexionen über den Zusammenhang von Individuum, Kollektiv und dem Ringen um Identität, das seinen Lebensweg bisher bestimmte: In jener Nacht wusste ich es plötzlich wieder. Gescheitert auch diesmal und hier. Was war ich denn? Ein ehemaliger Bürger und vormals ein roter Kämpfer; ein Ex-Emigrant und ein Ex-Redakteur; ein Kommunist ohne Parteibuch und Parteibindung, eine windige Sache.68

Hier zeichnet sich Mayers Grundmotiv ab, nämlich das Individuum als solches, Unteilbares, in einer von Rissen durchzogenen Welt, in der stets an den Bruchkanten etablierter Kollektive die Außenseiter stehen. Zugleich wird deutlich, dass sein eigenes Denken somit latent im Widerspruch steht zu den Kategorien eines kollektiven Emanzipationsbestrebens. Wie sollte das weitergehen? Sicher ist, dass ich in jener Nacht Abschied von der Politik nahm. Ich habe später alle Versuchungen abgewiesen irgendetwas anderes zu repräsentieren, eine Idee, eine Partei, einen Staat: etwas anderes darstellen zu wollen als mich selbst.69

Hier kommt eine andere Grundfunktion des Essays zum Tragen, nämlich der Versuch, durch umfassende Skepsis die Dogmen des Denkens zu überwinden, Komplexität darzustellen und eine ergebnisoffene Suche zu begründen.70 Die Gattung des Essays ist in Mayers autobiographischer Erzählung die adäquate Form, um den Prozess des Ringens mit sich Selbst darzustellen. Mittelfristig musste diese Veränderung in Mayers Denken als offene Frage auf Beantwortung im eigenen literarischen Schaffen drängen. Mayer berichtet davon, wie ihm das Erlebnis der Begegnung mit Ureinwohnern auf einer Reise durch Australien im Jahr 1966 zum Ausgangspunkt für sein Hauptwerk Außenseiter wurde. Er verlagert damit die Perspektive des Ethnographischen zurück an ihren Ausgangspunkt: in den Bereich des Kolonialen. Plötzlich sah ich ihn in einer Geschäftsstraße in Melbourne. Er kaufte ein, war bürgerlich gut angezogen, sprach wie alle Australier als ich ein bisschen zuhörte […]. Schön war er nicht, in der Tat, nach meinen herkömmlichen Begriffen, aber das wollte nichts heißen. […] Dem Mann in Melbourne jedoch war mit Begriffen wie hässlich oder schön nicht beizukommen. Diese Kategorien passten nicht.71

68 Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 384. 69 Mayer: Ein Deutscher Bd. 1, S. 384f. 70 Auf den Begriff gebracht als „grundsätzlich unbestimmte Schreibweise“ durch Schärf 1999, S. 13. Eine Konzeptionalisierung und Kategorisierung essayistischer Erzählweisen liefert aktuell Göschl 2016, S. 217ff. 71 Mayer: Ein Deutscher Bd. 2, 380f.

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Mayer thematisiert hier en passant und implizit seine eigene Homosexualität. Er stellt jedoch fest, dass nicht ein erotisches Interesse der Grund dafür ist, dass er von der beobachteten Szene in Bann geschlagen ist. Es ist das unmittelbare Erleben von ‚otherness‘ welches die mentalen Kategorien seiner eigenen Beobachtung transzendiert. Damit wirft er den Blick des Ethnographen auf die eigene Betrachtungsweise zurück: Das Erschrecken blieb. Was war das? Widerstreit der Vernunft und des Gefühls? Allein das Gefühl hieß nicht Widerwillen. Trotzdem stimmte sie offenbar nicht, die aufgeklärte Gleichung: Menschen wie andere auch! Natürlich stimmte sie, und die immer weiter praktizierten Gesetze aus der Kolonialzeit waren ein Skandal der Vernunft. Der Fall lag seit geraumer Zeit bei den Vereinten Nationen. Allein sie waren doch ersichtlich anders als alle, die ich bisher gesehen hatte: diese Aborigines.72

Mayer wird hier klar, dass der Kontakt mit dem Ungewohnten, dem Devianten, der „Ernstfall“73 aller Humanität war. Existiert sie hier nicht, so existiert sie überhaupt nicht. Wirksame Aufklärung kann also nie an etwas Regelhaftes wie etwa den abstrakten Typus ‚des‘ Bürgers gebunden sein. In seinen „Außenseitern“ untersucht Mayer nun die europäische Literatur auf Gestalten hin, die in dieser Art ‚anders‘ waren: Juden, Homosexuelle und Frauen, die von ihrer sozialen Rolle abweichend, als Verführerinnen auftraten. Unter Rückgriff auf den Humanismus Michel de Montaignes kritisiert Mayer nun das kollektivistische Denken seiner marxistischen Lehrer, denn bei diesen würde stets „Natur gleichgesetzt mit dem Normalverhalten: Dem Juden Ernst Bloch wurde sein Judentum nie zum Denkanstoß. Darin sah er, wie Karl Marx und Leo Trotzki, höchstens ein akzidentelles Moment der Herkunft.“74 Für Mayer war es allerdings kein Zufall, dass ausgerechnet Juden es waren, die eine außenstehende Perspektive einnahmen, um die Gesellschaft zu untersuchen, unter dem Aspekt der Kollektive, in die sie zerfallen war, und der möglichen Aufhebung ihrer Ungleichheiten: „Alles gehört zum Prinzip: die Nichtbeachtung der außenseiterischen Subjektivität; die ungeduldige Verlegenheit vor Einsamkeiten, welche nicht durch ein Kollektiv geteilt werden.“75

72 73 74 75

Mayer: Ein Deutscher Bd. 2, S. 381. Ebd. Mayer: Außenseiter, 1977, S. 10f. Ebd. S. 11.

118 4.3

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Der Ethnograph beobachtet die Lebensweise seines fremden Volkes

Den Hinweis auf die ethnographische Arbeitsweise gibt Mayer selbst, als er von seinem „Leben unter den Deutschen“76 spricht. An der Gesellschaft der Bundesrepublik erkennt Mayer wörtlich „anthropologische Folgen“,77 die, in Anlehnung an Plessner, das Dasein als verspätete Nation hinterlassen habe: „Aus all diesen historischen Kausalitäten geht ein Menschentyp hervor, der spezifische Merkmale entwickeln sollte im Laufe der Jahrhunderte“.78 Dieser Menschentyp war für Mayer ein deformierter Bürger, ein Untertan, der die Macht verehrte und sich sadistisch verhielt, wenn er selbst zur Macht gelangte. Diese obrigkeitsstaatliche Mentalität war für ihn in der Bundesrepublik keineswegs überwunden: Die Rückkehr in den Westen bedeutete […] für mich […] die Begegnung mit einem Anachronismus. Eine Ungleichzeitigkeit. Der Rechtsstaat, freilich. Allein dieser Rechtsstaat war zugleich ein Juristenstaat. Kaum etwas war übrig von den einstigen deutschen Kulturtraditionen: von der Adelskultur; vom bürgerlichen Patriziat; vom jüdisch-bürgerlichen Avantgardismus; von den Kulturtraditionen der Arbeiterbewegung. Gesellschaftliche Integration auf Grundlage des universellen Kleinbürgertums: mit großen Einkommensspannen.79

Diese Beobachtung ist insofern provokant, als das das hier beschriebene (und nie ganz erreichte) Ideal einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft samt ihrer pragmatischen Grundorientierung als Erringung der Bundesrepublik im allgemeinen Bewusstsein verankert ist: als soziologische Überwindung der von Hannah Ahrendt als unrepublikanisch kritisierten „Weltanschauungen“,80 als eine Errungenschaft des – wie Martin Broszat es genannt hat – „zivilisatorische[n] Wohlgefühl[s]“.81 Mayer dagegen erkennt hier einen Mangel an kulturellem Selbstbewusstsein, einen Ausdruck fehlenden Klassenbewusstseins, welchen er auf die geistige Einebnung durch die Vorstellung von einer „Volksgemeinschaft“ zurückführt, in letzter Konsequenz widerum die Folge verborgener und unausgegorener Klassenverhältnisse.82 Der bundesrepublikanische Rechtsstaat, der für Mayer ein bloßer Verwaltungszusammenhang ohne Substanz politischer Kultur ist, vermag die Brüche und Verwerfungen höchstens notdürftig zu vertuschen und zu überdecken.

76 77 78 79 80

Mayer: Ein Deutscher Bd. 2, S. 398. Mayer: Ein Deutscher Bd. 2, S. 397. Mayer: Ein Deutscher Bd. 2, S. 397. Mayer: Ein Deutscher Bd. 2, S. 399. Arendt 1993, S. 63. Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich hingewiesen auf Varun F. Orts Beitrag in diesem Band. 81 Broszat 1986. 82 Mayer: Bewußtsein, 1990, S. 17.

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Ich entdeckte für mich den Intercity-Menschen. Erste Klasse, Großraumwagen. Nur einzeln oder in Rudeln auftretend. Erkennbar an der Kombination des Groschenblattes mit der feinen Zeitung. Undenkbar dort wo man „The Times“ liest oder „Le Figaro“ oder auch „The New York Times“. Kleinbürgerliche Ästhetik.83

So treffend diese Charakterisierung auch sein mag, so offenbart sie doch einen inneren Widerspruch Mayers. Denn es ist die Beobachtung von einem, der selbst in der ersten Klasse sitzt. Mayer mahnt an dieser Stelle einen Mangel an bourgeoisem Habitus an. Die politische Kultur der alten Bundesrepublik, so defizitär sie gewesen sein mag, brachte zumindest die Überwindung des exklusiven Begriffes von „Bürger“, im Sinne von „bourgeois“, hin zu einer universellen Bedeutung im Sinne von „citoyen“. Just den Verlust dieser Nuance beklagt Mayer hier. Er steht in dieser Hinsicht exponierten Vertretern der kritischen Theorie nahe. Schildt und Siegfried84 beklagen etwa in Bezug auf Horkheimers und Marcuses „Dialektik der Aufklärung“ zu recht die strukturelle Nähe des Entfremdungsbegriffes der kritischen Theorie zu den reaktionären Diskursen über die vermeintliche „Vermassung“ des modernen Individuums. Bei beiden schwingt, so der Einwand, implizit ein eigener Exzellenzdünkel mit. Die rigorose Verachtung des „Kleinbürgerlichen“ ist auch hier Teil einer Dichotomie, die nur die Antithese „Bourgeoisie – Proletariat“ anerkennt. Die neue soziokulturelle Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten am öffentlichen Leben erscheint dann aber als qualitativer Verlust und einzig als Ausdruck eines ökonomisierten Bewusstseins.

5.

Fazit

Wie gezeigt werden konnte, trägt Mayers Autobiographie – und hier vor allem die Erzählung seiner Remigration – Züge einer ethnographischen Essayistik. Diese literarische Form erfüllt, so wurde des Weiteren dargelegt, mehrere inhaltliche Funktionen. Zunächst dient die ethnographische Essayistik als ein inszenierter Verfremdungseffekt, durch den Mayer in der Lage ist, seine gebrochene Identität zwischen Zugehörigkeit und Außenseitertum zu erzählen. Die ethnographische Technik der dichten Beschreibung macht es für Mayer möglich, die eigene philosophische Weltsicht darzulegen und zugleich die Motivation des eigenen Wirkens zu begründen, als Versuch (frz. essay) des produktiven Umgangs mit der eigenen existentiellen Grundproblematik. In einem nicht-individuellen, abstrakteren Sinne erfüllt die ethnographische Grundhaltung der „teilnehmenden 83 Mayer: Ein Deutscher Bd. 2, S. 399f. 84 Schildt/Siegfried 2009, S. 161.

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Beobachtung“ auch das Postulat Adornos, demzufolge der Kulturkritiker an der Gesellschaft teilnehmen und zugleich nicht teilnehmen muss. Die essayistische Darstellungsform zollt also dem Umstand gesellschaftlicher Totalität Tribut, wobei jener überzeitliche Referenzpunkt der „Ungleichzeitigkeit“ als archimedischer Punkt dient, um die Totalität – im Mayerschen Sinne – im Konkreten sichtbar zu machen. Die Essayistik, insbesondere die ethnographische, das Fremde beobachtende, ist gekennzeichnet durch einen institutionalisierten Selbstzweifel: Diese Reflexion des eigenen Standpunktes der Beobachtung (eine Luhmannsche „Beobachtung zweiter Ordnung“, wenn man so will) wird bei Mayer dann in seinem Hauptwerk Außenseiter zum Ausgangspunkt seiner Kritik an Aufklärung und Marxismus und hat programmatischen Charakter. Mayers Remigrationserzählung kann dabei als ein Prisma zur Beobachtung dienen, wie die Erfahrung von Shoa und Exil in diesem Forschungsprogramm ihre Fernwirkung entfaltete.

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„Leben unter den Deutschen“

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Marguerite Markgraf

„Bewältigungsversuche eines Überwältigten“ angesichts einer „Logik der Vernichtung“ – Zur existenzphilosophischen Fundierung der Unmöglichkeit von Rückkehr bei Jean Améry

Die Problematik der Rückkehr, die sich für Jean Améry sowohl in territorialer Hinsicht als auch in Bezug auf ein würdevolles Leben stellt, ist maßgeblich beeinflusst von seiner Prägung durch die französische Existenzphilosophie, die sich auch im folgenden Zitat widerspiegelt: Er, Sartre, war ein Philosoph, wie in einem entschieden geringerem Grad auch Camus und Merleau-Ponty. Das waren die Philosophen, die von den Dingen sprachen, die mich jetzt betrafen.1

Die Existenzphilosophie konstituiert den theoretischen Rahmen für die Améry’sche Essayistik, was in einer ersten grundlegenden philosophischen und poetologischen Standortbestimmung näher konturiert werden wird. Nach Darlegung der Unmöglichkeit einer territorialen Remigration Amérys folgt die Analyse seiner von ihm als moralische Reaktion beschriebenen Ressentiments gegen die Deutschen und Österreicher aufgrund der dort kaum vorhandenen Vergangenheitsbewältigung, die er dezidiert als Grund nennt, warum er eine Rückkehr ausschließt. Lediglich die Rückkehr zum Menschsein und in ein würdevolles Leben2 strebt Améry mit Hilfe der Revolte und kurzzeitig auch durch die von Frantz Fanon propagierte Philosophie der Violenz3 an. Diese ist als eine Umkehrung des Prozesses der Entwürdigung konzipiert, die aber ohne die Unterstützung der Gesellschaft nicht zu realisieren ist. 1 Hermann 2008, S. 113. 2 Zur Bedeutung der Würde bei Jean Améry vgl. Chaumont 1990, S. 29–47. Vgl. Michaelis 2013, hier S. 153–162. Beide Autoren negieren jedoch den Essay Die Geburt des Menschen aus dem Geiste der Violenz. Der Revolutionär Frantz Fanon, welcher jedoch, wie Stephan Steiner zurecht bemerkt, für die Problematik des Wiedergewinns von Würde zentral ist. Vgl. Steiner 1996, S. 103. 3 Améry verwendet bewusst den latinisierten, international bekannten Terminus der Violenz, da er argumentiert, dass dieser im Kontrast zum Begriff der Gewalt, die ganze Bandbreite von „anthropologischen, phänomenologischen, geschichtsphilosophischen“ Aspekten bei Fanon beinhaltet und damit zur „existentielle[n] und historische[n] Kategorie“ mit „ausgesprochen messianisch-chiliastische[n] Akzente[n]“ avanciert. Améry: Die Geburt der Menschen aus dem Geiste der Violenz [1968], 2005, S. 436f.

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1.

Marguerite Markgraf

Grundlegende philosophische und poetologische Standortbestimmung

Der im Titel des Aufsatzes zitierte Untertitel von Amérys berühmter Essaysammlung Jenseits von Schuld und Sühne suggeriert bereits die existenzphilosophische Programmatik der Améry’schen Essayistik, die „über das Dokumentarische hinaus in den Bereich der grundsätzlichen Analyse und der existentiellen Problematik vorstoßen möchte.“4 Die paradoxe Formulierung „Bewältigungsversuche eines Überwältigten“ lässt sich innerhalb der Betrachtungen des Absurden von Camus verorten, der in Der Mythos des Sisyphos korrespondierend mit dem alltäglichen Sprachgebrauch das Absurde als „Widerspruch in sich“5 definitorisch zu erfassen sucht.6 Der Untertitel Bewältigungsversuche eines Überwältigten impliziert das Bewusstsein eines eigentlich von vornherein zum Scheitern verurteilten Projekts, das durch die Existenz der Essays, auf deren Gattung der Untertitel „Versuche“ ebenfalls rekurriert, gleichwohl zumindest partiell konterkariert wird. Damit wird jedoch keine gelungene Bewältigung im Sinne eines therapeutischen Schreibens insinuiert. Das Absurde von Camus als integraler Bestandteil der „conditio humana“ dient bei Améry als eine Charakterisierung der Konsequenzen für das Opfer des Nationalsozialismus angesichts einer das Dasein lebenslang dominierenden – von Améry in An den Grenzen des Geistes konstatierten – „Logik der Vernichtung“7, deren detailreiche Analyse einen Konnex zwischen den Essays innerhalb des Bandes konstituiert.8 Die „Logik der Vernichtung“ korreliert auf poetologischer Ebene mit einem nüchternen Sprachstil, der sich kaum der Metaphorisierung bedient, selbst wenn er den Schmerz der Folter deskriptiv zu erfassen sucht.9 Eine solche Sprache spiegelt die Realität des Lagers wider, in dem keinerlei Transzendierung der Wirklichkeit möglich war, auch nicht durch die Rezitation von Gedichten oder die Auseinandersetzung mit Philosophie, z. B. mit Heideggers Fundamentalontologie.10 4 Améry: An Helmut Heißenbüttel, 2007, S. 107. 5 Camus 2000, S. 42 (franz. Original „contradictoire“ Camus 1942, S. 49). 6 Analog zu Kierkegaard differenziert Camus in Le mythe de Sisyphe nicht zwischen dem Absurden und dem Paradox, so dass der vorliegende Aufsatz beide Worte synonym verwendet und das Paradox primär als rhetorische Figur interpretiert, die dem Absurden Ausdruck verleiht. Vgl. Schröer 1989, Sp. 91. 7 Améry: An den Grenzen des Geistes [1966], 2002, S. 37. 8 Vgl. Scheit 2012, S. 14. 9 Vgl. Améry: Die Tortur [1966], 2002, S. 73f. 10 Gegen Jean Amérys Konstatierung der Sinnlosigkeit von Literatur im KZ stehen exemplarisch Primo Levi und Ruth Klüger. In Levis autobiographischem Bericht Se questo è un uomo (dt. Übers. Ist das ein Mensch?) schildert der Ich-Erzähler wie er für den Jüngsten des Kommandos, der Pikkolo genannt wird, aus Dantes Divina Commedia rezitiert, als er mit ihm

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Im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit Heideggers Fundamentalontologie artikuliert Améry eine Metaphysikkritik, indem er die vollkommene Irrelevanz der von Heidegger beklagten ontologischen Problematik der „Seinsvergessenheit“ für die KZ-Häftlinge schildert11 und sie „zu einem wertlosen und luxuriös-unerlaubten“12 und „zu einem höhnischen und bösen Spiel“13 degradiert. Darin demonstriert sich eine weitere Parallele zu Camus, der ebenso erst einmal keine Amalgamierung des Absurden mit der Metaphysik anstrebt.14 Deswegen konzipiert Améry dezidiert eine Existenzphilosophie ohne ontologische Grundlegung und konzediert im Zuge dessen seine Untauglichkeit „zu tiefsinniger und hochfliegender Spekulation“15 aufgrund seiner Erfahrung. An Stelle der Heidegger’schen Frage nach dem Sinn von Sein plädiert Améry für den Schnitzler’schen „Klarsinn“16, was formal dem durch das Absurde evozierten Denken entspricht. Parallel dazu stellt Camus sein Denken metaphorisch als „Nacht der Verzweiflung […], die hell bleibt, Polarnacht, Nachtwache des Geistes“17 dar, „aus der sich vielleicht die weiße und unberührte Klarheit erhebt, die jeden Gegenstand im Licht der Klugheit zeichnet“18 in Gestalt eines im positiven Sinne ent-täuschten, d. h. illusionslosen Denkens. Ein solches Denken schreibt sich bei Améry von der Erfahrung eines anonymen Opfers des Nationalsozialismus her, womit er „eine gründlichere Erkenntnis der Wirklichkeit“19 des Nationalsozialismus beansprucht, die jedoch im Kontrast zum Camus’schen Absurden aus Zwang resultiert und sich „alltäglicher und schrecklicher“20 auswirkt. Darin manifestiert sich die Differenz zu Camus, bei dem das Absurde als

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Suppe holen geht. Nach einem Vers äußert er:„Come se anch’io lo sentissi per la prima volta: come uno squillo di tromba, come la voce di Dio. Per un momento, ho dimenticato chi sono e dove sono.“ Levi 1987, S. 117. Dt. Übersetzung: „Als hörte ich das selber zum erstenmal: wie ein Posaunenstoß, wie Gottes Stimme. Einen Augenblick lang vergesse ich, wer ich bin und wo ich mich befinde.“ Levi 1992, S. 137. Bei Ruth Klüger heißt es analog dazu: „Viele KZ-Insassen haben Trost in den Versen gefunden, die sie auswendig wußten. […] Die Schillerschen Balladen wurden dann auch meine Appellgedichte, mit denen konnte ich stundenlang in der Sonne stehen und nicht umfallen […].“ Klüger 1993, S. 122f. Vgl. Améry: An den Grenzen des Geistes [1966], 2002, S. 50. Ebd., S. 51. Ebd., S. 51. Vgl. Camus 1942, S. 16. Améry: Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein [1966], 2002, S. 177. Ebd., S. 53. Das vollständige Schnitzlerzitat lautet: „Tiefsinn hat nie die Welt erhellt, Klarsinn schaut tiefer in die Welt.“ Camus: Der Mythos des Sisyphos, 2000, S. 78 (franz. Original „nuit, que ce soit plutôt celle du désespoir qui reste lucide, nuit polaire, veille de l’esprit“, Camus 1942, S. 91). Ebd., S. 78 (franz. Original „d’où se lèvera peut-être cette clarté blanche et intacte qui dessine chaque objet dans la lumière de l’intelligence“, ebd., S. 91). Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? [1966], 2002, S. 93. Améry: V. Der Weg ins Freie [1976], 2005, S. 333.

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völlig willkürliches Phänomen in den Alltag einbricht und aufgrund seiner Leidenschaftlichkeit durchaus positiv konnotiert ist im Kontrast zu Améry. Die Poetik, die einer solchen Erkenntnis entspricht, ist primär einer „littérature engagée“ im Sartre’schen Sinne verpflichtet, die sich durch Zeitbezogenheit21 auszeichnet und einen dezidiert subjektiven Realismus22 mit stark autobiographischer Prägung propagiert.23 Ferner fokussiert sich die „littérature engagée“ in ihrer Konzeptualisierung in Qu’est-ce que la littérature? explizit nur auf die unterschiedlichen Prosagattungen inklusive des Essays,24 während die Lyrik noch ausdrücklich exkludiert wird.25 Der poetische Stil steht im Kontrast zum utilitären Sprachverständnis, das dem Inhalt eine eindeutige Priorität gegenüber der Form gewährt,26 um eine reibungslose Kommunikation zwischen Autor und Leser zu ermöglichen.27 Améry bekennt sich ebenfalls zu Realismus28 und Autobiographie, wenn er über den Intellektuellen in Auschwitz schreibt: Damit aber stelle ich natürlich mich selbst. Ich habe mich, in doppelter Eigenschaft, als Jude und Angehöriger der belgischen Résistance, außer in Buchenwald, Bergen-Belsen und noch anderen Konzentrationslagern auch ein Jahr lang in Auschwitz, genauer: im Nebenlager Auschwitz-Monowitz aufgehalten. Es wird darum wohl hier das Wörtchen „ich“ öfter vorkommen müssen, als mir lieb ist, überall dort nämlich, wo ich das persönliche Erlebnis nicht ohne weiteres auch andern unterstellen kann.29

Améry insistiert im Vorwort zur Neuausgabe von Jenseits von Schuld und Sühne im Jahre 1977 auf der ungebrochenen Aktualität seiner Essays angesichts des wieder virulent werdenden Antisemitismus auch im linken Milieu.30 Darüber hinaus etabliert Améry analog zur Priorität der Prosa innerhalb der engagierten Literatur eine Privilegierung des „analytische[n] Denken[s]“31 gegenüber der „ästhetische[n] Vorstellung“32 im „Haushalt des geistigen Menschen“,33 was sich in einem betont nüchternen Sprachstil widerspiegelt. Nicht zuletzt sucht Améry insbesondere im Essay Ressentiments immer wieder die Kommunikation mit 21 22 23 24 25 26 27 28

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Vgl. Sartre 1970, S. 673f. Vgl. Sartre 1948, S. 305. Vgl. Sartre 1972, S. 101. Vgl. Sartre 1948, S. 70. Vgl. ebd., S. 25. Vgl. ebd. Vgl. Verstraeten 1972, S. 61. Vgl. Améry: An Hanjo Kesting, 2007, S. 567. Améry steht dabei in der Tradition von Sartres Konzept eines subjektiven, autobiographisch grundierten Realismus, der die eigene Einbindung in eine spezifische soziale und individuelle Situation in ihrer Widersprüchlichkeit stets bei der Darstellung mit reflektiert. Sartre 1948, S. 224 u. 305. Améry: An den Grenzen des Geistes [1966], 2002, S. 25. Vgl. Améry: Vorwort zur Neuausgabe 1977, 2002, S. 16. Améry: An den Grenzen des Geistes [1966], 2002, S. 36. Ebd. Ebd.

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dem Leser im Sinne einer „captatio benevolentiae“, um den Leser zum Weiterlesen zu animieren, indem er sich permanent für seine Taktlosigkeit entschuldigt,34 sie aber mit der intendierten Aufrichtigkeit35 rechtfertigt. Als bedeutsame Differenz zu Sartre schreibt Améry nicht auf eine Utopie36 hin, die bei Sartre als Konglomerat des Kant’schen „Reichs der Zwecke“ und des Marx’schen „Reichs der Freiheit“ konzipiert ist. Stattdessen distanziert sich Améry explizit vom dogmatischen Marxismus im Rahmen seines Selbstverständnisses als Zugehörigkeit zu den „skeptisch-humanistischen Intellektuellen“37 und verortet sich in der Tradition der Aufklärung.38 Darin manifestiert sich ein Konnex zu Montaigne als einer der Begründer der Gattung, welcher ebenso als Sukzessor der antiken Skepsis klassifiziert werden kann.39 In der konsequenten Orientierung an der „Konkretheit der Lebenserfahrung“40 konturiert sich bereits bei Montaigne und später auch bei Améry eine essayspezifische Phänomenologie,41 deren Akzent auf dem Exempel und nicht auf dem System liegt.42 Darüber hinaus steht die in den Essays erfolgende Kommunikation mit dem Leser ebenfalls in der Tradition Montaignes, der die Gattung aus den Platonischen Dialogen deriviert.43 In Anlehnung an das phänomenologische Diktum von Husserl, „Wir wollen auf die ‚Sachen selbst‘ zurückgehen“,44 postuliert Améry in einem Brief an Sebastian Haffner, dass man lediglich „an den Sachen“45 bleiben könne, „sofern wir uns ans Erlebte klammern“46 und fügt hinzu: „Dies versuchte und versuche weiterhin ich, nicht weil ich nicht anders könnte, sondern weil ich nicht anders will.“47 Darin manifestiert sich noch einmal der Anspruch auf eine freie poetologische Programmatik, die keinem vom Trauma determinierten Schreiben entspricht. Die generelle philosophische und poetologische Standortbestimmung von Amérys Essayistik in der Existenzphilosophie bekundet sich ebenfalls beim Thema der Rückkehr, die sich in Jenseits von Schuld und Sühne primär als Un34 35 36 37 38

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Vgl. Améry: Ressentiments [1966], 2002, S. 120. Vgl. ebd. Vgl. Améry: An den Grenzen des Geistes [1966], 2002, S. 42. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 18. Im Kontrast zur ambivalent-kritischen Sichtweise von Max Horkheimer und Th. W. Adorno, deren „Spekulationen über die Dialektik der Aufklärung“ Améry keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn gewährt haben, ist Aufklärung in Jenseits von Schuld und Sühne genuin positiv konnotiert. Vgl. Jean Améry: Vorwort zur Neuausgabe 1977, S. 14. Vgl. Horkheimer 1988, S. 236–294. ˇ zerný 1972, Sp. 746. C Vgl. ebd., Sp. 748. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Sp. 746. Husserl 1984, S. 10. Améry: An Sebastian Haffner, 2007, S. 588. Ebd., S. 588. Ebd.

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möglichkeit artikuliert, sei es im Sinne einer territorialen Remigration nach Österreich oder als Rückkehr in ein „normales“ Leben aufgrund der „Logik der Vernichtung“ und letztendlich lediglich in der Hoffnung auf Rückkehr in ein würdevolles Leben besteht.

2.

„Vergangenheit und Herkunft konfisziert“48 – Zur Unmöglichkeit der Remigration

In dem Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch? etabliert Améry eine Typologie von Charakteristika, mit denen er die Bedeutung der für ihn essentiellen Heimat deskriptiv zu erfassen strebt. Trotz seiner demonstrativen Distanzierung, als „Nachzügler der ‚Blut-und-Boden-Armee‘“49 wahrgenommen zu werden, und seinem Eingeständnis „eine[r] tiefe[n] Abneigung gegen Schützen-, Sanges-, und Trachtenfeste“50 konzediert Améry im Laufe des Essays im Rekurs auf romantische Märchenklischees den „Wirkungsanspruch“51 von „Heimatkunst, Heimatdichtung, Heimat-Alberei jeder Art“52. Aufgrund dessen konzentriert sich der Heimatbegriff Amérys auf das „Vaterland“53 und das „Kindheits- und Jugendland“54 als essentielle Referenzpunkte. Als Kristallisationszentren von Amérys Heimatverständnis fungieren jedoch Sicherheit und Solidarität. Die Sicherheit vollzieht sich für Améry in der „Dialektik von Kennen-Erkennen, von Trauen-Vertrauen: Da wir sie kennen, erkennen wir sie und getrauen uns zu sprechen und zu handeln, weil wir in unsere Kenntnis-Erkenntnis begründetes Vertrauen haben dürfen.“55 Ferner lokalisiert Améry die Sicherheit der Heimat „dort, wo nichts Ungefähres zu erwarten, nichts ganz und gar Fremdes zu fürchten ist.“56 Neben der Sicherheit assoziiert Améry Heimat implizit mit Solidarität, was offenkundig wird, wenn er das Schicksal des 48 49 50 51 52 53

Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? [1966], 2002, S. 112. Ebd., S. 93. Ebd., S. 107. Ebd., S. 97. Ebd. Ebd., S. 107. Im Kontrast zu Améry definiert sich der vom Exilland Palästina in die DDR remigrierte Arnold Zweig lediglich in Bezug auf den Marxismus als „deutsch“, während er sich ansonsten mit seinem Bekenntnis zu Europa jeglicher nationaler Heimatzuschreibung entzieht. Vgl. Poschmann/Wolf 1978, S. 162. 54 Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? [1966], 2002, S. 97. Analog zur Bedeutung der Heimat als „Kindheits- und Jugendland“ formuliert Adorno als Hauptmotiv für seine Rückkehr nach Deutschland: „Ich wollte einfach dorthin zurück, wo ich meine Kindheit hatte, am Ende aus dem Gefühl, daß, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist, als der Versuch, Kindheit verwandelnd einzuholen.“ Adorno 1986, S. 395. 55 Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? [1966], 2002, S. 95f. 56 Ebd., S. 96.

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romantischen Dichters Alfred Mombert schildert und am Ende resigniert konstatiert: „Mombert war kein deutscher Dichter in der Baracke von Gurs: So hatte es die Hand gewollt, die sich nicht regte, als man ihn abführte.“57 Die fehlende Solidarität im Camus’schen Denken als „Revolte, […] die beim bloßen Anblick der Unterdrückung eines andern ausbrechen kann“58 und als „Identifikation mit dem Schicksal und Parteiergreifung“59 definiert, stellt für Améry eine wichtige Grundlage für sein Verständnis von Heimat dar.60 Trotz einer von ihm skizzierten generellen Entfremdung vom nationalsozialistisch gewordenen Österreich des Jahres 193861 steht der Verlust der Menschen für Améry im Vordergrund. Im Zuge dessen verleiht er einem Gefühl von Unerträglichkeit Ausdruck angesichts der Tatsache, dass „sogar aus den Fenstern entlegener Bauernhöfe das blutrote Tuch mit der schwarzen Spinne auf weißem Grund geweht hatte.“62 Er konstatiert ferner den Verlust der Menschen als größtes zusätzliches Übel und grundlegende Differenz zwischen den vom Dritten Reich Zwangsexilierten und den deutschen Flüchtlingen aus den Ostgebieten: „[…] den Kameraden von der Schulbank, den Nachbarn, den Lehrer. Die waren Denunzianten oder Schläger geworden, bestenfalls verlegene Abwarter.“63 Darin manifestiert sich das von Améry beklagte Ausbleiben der „deutsche[n] Revolution“64 gegen den Nationalsozialismus und „mit ihr das kraftvoll sich ausdrückende Verlangen der Heimat nach unserer Wiederkehr“65 anstelle der „Verlegenheit“66 der Heimat gegenüber den Exilierten. Mit seiner Forderung nach Revolution überschreitet Améry den Camus’schen Revoltebegriff, der Mord lediglich als äußerste Ausnahme und im

57 Ebd., S. 116. 58 Camus 2011, S. 31. (franz. Original „révolte, […] qu’elle peut naître aussi au spectacle de l’oppression dont un autre est victime“ Camus 1951, S. 31.) 59 Ebd., S. 31. (franz. Original „identification de destinées et prise de parti“, ebd., S. 31.) 60 Ohne den Rekurs auf Camus erwähnt auch Karin Lorenz-Lindemann die Bedeutung der Solidarität für Améry. Vgl. Lorenz-Lindemann 1989, S. 98. 61 Vgl. Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? [1966], 2002, S. 108. Im Essay Verfemt und verbannt. Vor dreißig Jahren – Erinnerungen an die Emigration formuliert er pointiert: „Ein Österreicher starb im Dezember 1938. Er mag ruhen in seinem Unfrieden.“ Améry: Verfemt und verbannt [1968/1969], 2002, S. 814. 62 Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? [1966], 2002, S. 90. 63 Ebd., S. 88. 64 Ebd., S. 102. Darin stimmt Améry mit Thomas Mann überein, der in seinem Brief an Walter von Molo unter dem Titel Warum ich nicht zurückkehre ebenso den nicht erfolgten Widerstand in Form von Generalstreik oder Exil der „Ärzte, Musiker, Lehrer, Schriftsteller, Künstler“ gegen die „Schande“ verantwortlich macht für den zwölf Jahre andauernden Nationalsozialsozialismus. Mann 1963, S. 28. Die Deklarierung des Nationalsozialismus als „Schande“ findet sich auch bei Améry im Essay Ressentiments. Améry: Ressentiments [1966], 2002, S. 143. 65 Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? [1966], 2002, S. 102. 66 Ebd., S. 102.

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Konnex mit der gleichzeitigen Bereitwilligkeit zum eigenen Tod akzeptiert.67 Amérys Bekenntnis zum Bellizismus zur Bekämpfung von Hitler68 korreliert mit seiner Gewalt nicht grundsätzlich ausschließenden Haltung, die zeitweise in eine Verteidigung der von Fanon propagierten Philosophie der Violenz mündet. Für die generell mangelnde Solidarität gegenüber den Juden entwirft Améry im Einklang mit der im Rahmen der essayspezifischen Phänomenologie genannten Bildhaftigkeit69 ein absurd anmutendes Bild, wenn er bezüglich der plötzlich zu Emigranten degradierten jüdischen Kaufleute aus Deutschland schreibt: Erstaunlich schnell begriffen sie, daß die Kunden in Dortmund und Bonn 1933 alle Käufe wieder rückgängig gemacht hatten. Ihre Vergangenheit als soziales Phänomen war von der Gesellschaft zurückgenommen worden: da war es unmöglich, sie noch als subjektiv psychologischen Besitz zu bewahren. Und je älter sie wurden, desto härter wurde ihnen der Verlust, auch dann, wenn sie längst in New York oder Tel Aviv wieder mit Kleidern und Geschirr lukrativen Handel trieben, was, beiläufig, nur einer vergleichsweise geringen Zahl von ihnen gelang.70

Die von Améry als „konfisziert“ klassifizierte Vergangenheit bildet eine Erklärung für den am Anfang des Essays geäußerten Satz, „daß es keine Rückkehr gibt, weil niemals der Wiedereintritt in einen Raum auch ein Wiedergewinn der verlorenen Zeit ist.“71 Daraus resultiert im Rahmen der „Logik der Vernichtung“ ein gänzlicher Verlust der Heimat als Kindheits- und Jugendland und als Vaterland, da sie zum „Feindesland“72 degeneriert ist. Améry radikalisiert diese These sogar noch, indem er postuliert: „Wir aber hatten nicht das Land verloren, sondern mußten erkennen, daß es niemals unser Besitz gewesen war. Für uns war, was mit diesem Land und seinen Menschen zusammenhing, ein Lebensmißverständnis.“73 Heimat und Vergangenheit werden durch Améry somit nicht mehr nur als rein individuelle, sondern primär als soziale, von der Anerkennung durch die Gesellschaft abhängige Phänomene konzipiert.74 Die im Titel des Kapitels angesprochene Unmöglichkeit der Remigration wird demnach durch einen irreversiblen Heimatverlust evoziert und mündet in ein Selbstverständnis des Exilanten als „gelernter Heimatloser“75.

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Vgl. Camus 1951, S. 352. Vgl. Améry: Verfemt und verbannt [1968/1969], 2002, S. 808. ˇ zerný 1972, S. 748. Vgl. C Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? [1966], 2002, S. 114. Ebd., S. 87. Ebd., S. 99. Ebd., S. 100. Jürgen Doll benennt dies ebenfalls als den „springende[n] Punkt von Amérys Analyse“. Doll 2008, S. 186. 74 Vgl. Brudholm 2005, S. 13f. 75 Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? [1966], 2002, S. 107.

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„Ressentiments statt Remigration“76

In seinem Essay Verfemt und verbannt. Vor dreißig Jahren – Erinnerungen an die Emigration nähert sich Améry der Frage, warum er nicht zurückgekehrt ist in ein deutschsprachiges Land, vorsichtig an wenn er schreibt: „Vielleicht aus dem, was man so geschwind ‚Ressentiments‘ nennt: auch über diese hat er in einem Buche ausführlich gehandelt.“77 Améry rekurriert damit auf den Essay Ressentiments, der ursprünglich als Haupttitel für den ganzen Essayband vorgesehen war,78 in dem er seine Ressentiments „als existentielle Dominante“79 und als „das Ergebnis einer langen persönlichen und historischen Entwicklung“80 betrachtet. Generell betreibt Améry in seinem Essay die Rehabilitation des von Friedrich Nietzsche und Max Scheler verfemten Ressentiments. Für Nietzsche markiert das Ressentiment, wenn es „selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert“81 den Beginn des „Sklavenaufstand[s] in der Moral“82 und steht als „imaginäre Rache“83 im Kontrast zur privilegierten „eigentliche[n] Reaktion, die der That“84. Bei Scheler generiert sich das Ressentiment im Anschluss an Nietzsche ebenfalls aus der „Rachsucht“85 und er schreibt ihm zu, als „seelische[s] Gift“86 fungieren zu können. Die Genese des Ressentiments verdankt sich bei Améry einem moralischen Impetus, der dezidiert eine als notwendig empfundene, aber kaum noch vorhandene „Zerknirschung“87 Deutschlands in Bezug auf seine nationalsozialistische Vergangenheit fordert. In dieser Haltung wird Deutschland darüber hinaus jedoch noch von der internationalen Gemeinschaft maßgeblich unterstützt wie Améry moniert: „Der Paria Deutschland wurde erst aufgenommen in die Gemeinschaft der Völker, danach hofierte man ihn, schließlich mußte man ganz emotionsfrei im Mächtespiel mit ihm rechnen.“88 Améry versteht seine Ressentiments dezidiert als „Protest […] wider das moralfeindliche natürliche Zeitverwachsen“89 und transformiert sie somit zur „Revolte gegen das Wirkliche,

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Scheit 2006, S. 322. Améry: Verfemt und verbannt [1968/1969], 2002, S. 813. Vgl. Scheit 2012, S. 14. Améry: Ressentiments [1966], 2002, S. 121. Ebd., S. 121. Nietzsche 1999, S. 270. Ebd., S. 270. Ebd. Ebd. Scheler 1915, S. 56. Ebd., S. 55. Améry: Ressentiments [1966], 2002, S. 124. Ebd. Ebd., S. 141. Analog zu Benjamins „dialektischem Bild“ des „Engels der Geschichte“ propagiert Améry eine kritische Sicht auf eine der Fortschrittsideologie verpflichteten Gesell-

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das nur vernünftig ist, solange es moralisch ist“90. Dabei befindet er sich im Einklang mit Camus, der die Entstehung der Revolte „beim Anblick der Unvernunft, vor einem ungerechten und unverständlichen Leben“91 lokalisiert und damit ebenso eine Identität zwischen mit Moral verbundener Gerechtigkeit und Vernunft postuliert. Améry plädiert anstelle des maßgeblich an der Zukunft orientierten Fortschrittsglaubens, der zwangsläufig auf die Neutralisierung und Objektivierung des Nationalsozialismus’ hinausläuft92 dafür, dass im Anschluss an Hans Magnus Enzensberger „Auschwitz Deutschlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist.“93 Dies bedeutet konkret, dass Deutschland die zwölf Jahre unter Hitler nicht mehr zu verdrängen sucht, sondern sie „als seine verwirklichte Welt- und Selbstverneinung, als sein negatives Eigentum“94 anerkennt. Dadurch wird nach Améry wieder eine Begegnung zwischen dem Täter- und dem Opfervolk ermöglicht im absurden, aber ihm zufolge notwendigen Streben nach „Zeitumkehrung“95 verbunden mit dem Wunsch „das Geschehen […] ungeschehen machen [zu] wollen“96 als „Moralisierung der Geschichte“97 durch die „geistige Einstampfung […] alles dessen, was man in den zwölf Jahren veranstaltete.“98 Die „Einstampfung“ ist im Sinne einer „Negation der Negation“99 zu

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schaft, die das Leiden der Vergangenheit systematisch ausblendet. Weigel 2011. Zum „Engel der Geschichte“ Vgl. Benjamin 1974, S. 698 (These IX) (im Original kursiv). Améry: Ressentiments [1966], 2002, S. 133. Camus 2011, S. 22 (franz. Original „spectacle de la déraison, devant une condition injuste et incompréhensible“ Camus 1951, S. 23.) Analog zu Améry betrachtet auch Camus das Ressentiment als einen möglichen Ursprung der Revolte. Vgl. Camus 1951, S. 34. Vgl. Améry: Ressentiments [1966], 2002, S. 142. Damit antizipiert Améry die Kontroverse des erst in den 80er Jahren stattfindenden Historikerstreits und kritisiert darüber hinaus die bereits zu seiner Zeit vorgenommene Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Bolschewismus. Vgl. ebd., S. 145. Ebd., S. 142. Ebd., S. 143. Ebd. David Heyd fasst Amérys Position folgendermaßen zusammen: „Das Ressentiment ist der Inbegriff der Zeitumkehrung. Es ist eine ausschließlich rückwärtsgewandte Haltung, die zukunftsorientierte Erwägungen nicht nur ignoriert, sondern mit Misstrauen beäugt und als Hindernis für das ansieht, was man als ‚moralische Reinigung‘ eines Verbrechens bezeichnen könnte.“ Heyd 2014, S. 15 (im Original kursiv). Améry: Ressentiments [1966], 2002, S. 131. Darin expliziert sich wiederum eine Parallele zu Benjamins „Engel der Geschichte“, über den es heißt: „Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.“ Benjamin 1974, S. 697. Auf diesen Konnex weist auch Brudholm in seiner Studie Resentment’s Virtue Jean Améry and the refusal to forgive hin. Vgl. Brudholm 2008, S. 109. Améry: Ressentiments [1966], 2002, S. 143. Ebd., S. 144. Damit radikalisiert Améry das Postulat von Thomas Mann in einem Brief an Walter von Molo, der die Vernichtung aller zwischen 1933 und 1945 gedruckten Bücher fordert, da er sie „weniger als wertlos“ erachtet und ihnen seiner Ansicht nach „ein Geruch von Blut und Schande“ eigen ist. Mann 1963, S. 31. Améry: Ressentiments [1966], 2002, S. 144.

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verstehen, die Améry äquivalent setzt mit einer nachträglichen deutschen Revolution gegen Hitler.100 Was Améry auf kollektiver Ebene etablieren möchte, gilt für ihn ebenso auf individueller Basis. Exemplarisch dafür steht der als „Mörder […] und Folterknecht“101 titulierte SS-Mann Wajs, der ihm zufolge erst kurz vor der Exekution „die moralische Wahrheit seiner Untaten“102 als die von Améry geforderte „Zerknirschung“ erfahren hat. Aufgrund dieser Erfahrung hat er die Transformation vom „Gegen-“ zum „Mitmenschen“103 vollzogen und das Opfer aus seiner Einsamkeit gewissermaßen erlöst.104 Dennoch bleibt Améry geprägt vom Pessimismus angesichts der großen Zahl an gewalttätigen SS-Männern, denen diese moralische Einsicht lebenslang nicht zuteilwerden wird, und prophezeit am Ende den Sieg des anti-moralischen Zeitempfindens, dass schließlich bereits die vollständige Rehabilitation Deutschlands erreicht hat, was Améry jegliche Rückkehr unmöglich macht. Zusammenfassend lässt sich Amérys Ressentimentkonzeption im gleichnamigen Essay dezidiert nicht als Rache deuten, sondern im Montaigne’schen Sinne als „nachhaltige Empfindung“105, die durch das Stilmittel des Pathos „im Sinne von Leiden, Nach-Leiden des unzumutbar Erlittenen“106 evoziert werden soll. Améry weist in seinem Essay Ressentiments in Jenseits von Schuld und Sühne dezidiert jegliches Rache- und Sühneverlangen zurück und postuliert: „Aber es handelt sich, wenn ich mich recht erforscht habe, nicht um Rache, auch nicht um Sühne.“107 Darin konstituiert sich eine Kontinuität zu dem wohl bereits 1945 verfassten Essay Zur Psychologie des deutschen Volkes, in dem Améry sich sowohl von „racheschreiendem Masseninstinkt“108 als auch von „friedeflötender Realpolitik“109 gleichermaßen explizit distanziert. Dagegen artikuliert er im Essay Die Geburt des Menschen aus dem Geiste der Violenz. Der Revolutionär Frantz Fanon, in dem er eine partielle Vergleichbarkeit der Situation zwischen dem Kolonisierten und dem KZ-Häftling konstatiert,110 eine Apologie der mit Rache assoziierten Gewaltanwendung und proklamiert: Die Freiheit, die Würde, müssen über den Weg der Violenz erkämpft werden, um Freiheit und Würde zu sein. […] Ich habe keine Scheu, hier den unberührbaren und perhorreszierten Begriff der Rache einzuführen, den Fanon vermeidet. Die rächende 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110

Vgl. ebd., S. 143. Ebd., S. 131. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Probst 1992, Sp. 921. Améry: Im Warteraum des Todes [1969], 2005, S. 472. Améry: Ressentiments [1966], 2002, S. 131. Mayer [Jean Améry]: Zur Psychologie des deutschen Volkes [1945], 2002, S. 501. Ebd., S. 501. Vgl. Améry: Die Geburt des Menschen aus dem Geiste der Violenz [1968], 2005, S. 440.

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Violenz, im Widerspruch zur unterdrückenden, stellt die Egalität im Negativen her: im Leiden.111

Damit überschreitet Améry das Camus’sche Konzept der Revolte auf das von Fanon propagierte Konzept der Violenz hin. Im Essay Im Warteraum des Todes differenziert er wiederum zwischen dem Kolonisierten und dem KZ-Häftling, da ersterer Befreiung erwarten konnte, während letzterer lediglich über die „Freiheit des Zum-Tode-Seins“112 verfügte, „die dem Tod als Urteilsspruch des anderen entgegengesetzt und verwirklicht wurde.“113 Améry bedient sich hier zwar der Heidegger’schen Formulierung des „Seins-zum Tode“, das in Sein und Zeit als Teil des „In-der-Welt-seins“ analysiert wird, um von ihm aus „das mögliche Ganzsein des Daseins“114 in den Blick zu nehmen.115 Er vollzieht jedoch mit der „Freiheit des Zum-Tode-Seins“ eine Pragmatisierung des fundamentalontologischen Konzepts durch die Legitimierung des Selbstmords als Akt der Freiheit gegen den erzwungenen Tod durch die Nationalsozialisten und eine Spezifizierung, da er die partikulare Situation des KZ-Häftlings zu beschreiben sucht entgegen einer universalen von Heidegger praktizierten Ontologisierung. Mit der Transformation des Selbstmordes in den positiv konnotierten Freitod antizipiert Améry bereits das zentrale Plädoyer aus dem später erschienenen Essayzyklus Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod. Ferner unternimmt er analog zu Sartre eine Re-Anthropologisierung der Heideggerschen Fundamentalontologie. Darüber hinaus relativiert Améry im Sinne seiner essayistischen Programmatik einer „Revision in Permanenz“116 in Im Warteraum des Todes sein Postulat aus dem Fanon-Essay, demzufolge durch die Violenz für den KZ-Häftling ein „Wiedergewinn an Würde“ möglich geworden sei und spricht stattdessen von „redemptorischer Gewaltanwendung“117 als „Abwaschen der Schmach durch Blut“118 in Gestalt eines Ausbruchs aus der Isolierung, eines nur passiv den Tod erleidenden Opfers.119 Die sich darin explizierende, nur für die von Améry als singulär charakterisierte Situation des KZ-Häftlings gültige Ethik integriert die Rache als einzig probates Mittel, um „überhaupt Moral wiederher[zu]stellen.“120 Im gewaltsamen Aufstand manifestiert sich für Améry

111 112 113 114 115 116 117 118 119 120

Ebd., S. 441. Améry: Im Warteraum des Todes [1969], 2005, S. 461. Ebd., S. 461. Heidegger 2006, S. 235. Vgl. Probst 1992, Sp. 256. Améry: Revision in Permanenz [1977], 2005, S. 569. Améry: Im Warteraum des Todes [1969], 2005, S. 461. Ebd., S. 462. Vgl. ebd., S. 461. Ebd., S. 469. Damit unterminiert Améry nach Nancy Wood die im Essay Ressentiments erfolgte Differenzierung zwischen Ressentiment und Rache. Vgl. Wood 1998, S. 263.

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die Verneinung der Ghetto-Kondition, die Auslöschung von zweitausend Jahren falscher Leidens-Solidarität, die Wiederherstellung nicht der „Würde“, sondern des Menschentums schlechthin, die rächende Stiftung der Gerechtigkeit, die Chance zur Errichtung eines neuen Reiches des Menschen auf Erden.121

Damit betreibt Améry nicht nur eine Rehabilitation des Ressentiments, sondern auch der Rache, die als Violenz z. B. im Warschauer Ghettoaufstand eine Rückkehr zum Menschsein ermöglichte, das mit dem Widerstand und nicht mit dem Opferdasein identifiziert wird, womit die Konzeption des von Sartre in Überlegungen zur Judenfrage konturierten „juif authentique“122 (dt. authentischer Jude) zum Ideal stilisiert wird.123 Die Idealisierung kulminiert in einer von Améry etablierten Hierarchie, in welcher der Aufständische im Ghetto den höchsten Rang einnimmt gegenüber dem Helfer und dem „Haken schlagenden Vorsitzenden irgendeines Judenrates“.124 Mit der Priorität der Tat in Form des Aufstands gegenüber dem Ressentiment unternimmt Améry eine Wiederannährung an die nietzscheanische Ethik. Améry konzipiert damit nicht nur eine „Phänomenologie“125 der „Grundkondition des Opferseins“126, sondern er strebt darüber hinaus eine Überwindung der Opferexistenz an mit Hilfe der Revolte und zeitweise auch in der Folge von Sartre durch die radikalere Philosophie der Violenz von Fanon. Dies wird evident in Konter-Violenz als Not-Wehr. Randbemerkungen zur Phänomenologie der Gewalt (1971), wenn Améry äußert: „Die Phänomenologie des Opfer-Menschen ist erst noch zu schreiben und mit ihr die durch revolutionäre Gegengewalt sein Opfersein aufhebende Existenz des Rebellen.“127 In engem Zusammenhang zu seinen Ressentiments rehabilitiert Améry den Rachebegriff, welchen er jedoch 1978 in einem Essay unter dem Titel Das Unverjährbare wieder zurückweist,128 worin wiederum die programmatische Revision in Permanenz evident wird. Darin zeigt sich eine Bedeutungsverschiebung 121 Améry: Im Warteraum des Todes [1969], 2005, S. 472. Die fiktionale Darstellung von Rachefantasien als Möglichkeiten für Gerechtigkeit, aber auch deren gleichzeitige Zurückweisung als Absurdität wird nach Dania Hückmann ebenso im 1974 erschienenen partiell autobiographischen Essayroman Lefeu oder Der Abbruch evident, der jedoch mit der Reflexion der Rache als eine „form of counter-violence, a mode of subjective justice“ nicht wie Hückmann es deutet, einen Bruch mit dem genuin essayistischen Werk darstellt, sondern damit gerade an die Überlegungen aus Die Geburt des Menschen aus dem Geiste der Violenz. Der Revolutionär Frantz Fanon und Im Warteraum des Todes anschließt sowie gleichzeitig einen Übergang zur erneuten dezidierten Negierung der Rache im Essay Das Unverjährbare aus dem Jahre 1978 bildet. Hückmann 2014, S. 237. 122 Sartre 1954. S. 133. 123 Vgl. Scheit 2012, S. 15. 124 Améry: Im Warteraum des Todes [1969], 2005, S. 457. 125 Chaumont 1992, S. 30. 126 Améry 2002, S. 177. 127 Améry: Konter-Violenz als Not-Wehr [1971], 2005, S. 490. 128 Vgl. Améry: Das Unverjährbare [1978], S. 127.

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von in der Ethik traditionell negativ besetzten Begriffen wie dem des Ressentiments und der Rache, die nun mit einem utopischen Potential versehen werden. So evoziert bereits der Titel des Essays Die Geburt des Menschen aus dem Geiste der Violenz die Konzeption des auch vom real existierenden Sozialismus propagierten sogenannten „Neuen Menschen“. Diese Konzeption korreliert mit der potentiellen Verwirklichung eines durch Humanität geprägten „neuen Reiches des Menschen auf Erden“ womit dem jüdischen Widerstand ein universelles utopisches Potential zugeschrieben wird. Jedoch erfolgt auch in dieser Hinsicht wiederum eine Desillusionierung, da sich die Hoffnung auf die „freie, brüderliche Gesellschaft“129 nicht realisiert hat, so dass auch die generelle Legitimität von Gegengewalt wieder beschränkt wird, z. B. auf den Warschauer Ghettoaufstand.

4.

Zur „Logik der Vernichtung“ oder Revolte für ein würdevolles Dasein

Améry verwendet den Begriff der „Logik der Vernichtung“ erstmals im Essay An den Grenzen des Geistes, indem er die vordergründige Absurdität des Lagerlebens, dass dem Häftling z. B. alles genommen wird und er im Anschluss daran wegen seiner Besitzlosigkeit systematisch verhöhnt wird,130 als Strategie einer „Logik der Vernichtung“ kennzeichnet. Die „Logik der Vernichtung“ bildet auch über das KZ hinaus eine Kontinuität im Verlust des „Weltvertrauens“131 als gänzliche Desillusionierung durch die Erfahrung der Transformation des Mitmenschen in einen „Gegenmenschen“.132 Die Desillusionierung erfasst das Leben als Ganzes im Sinne einer Selbstentfremdung und korreliert so mit der von Camus beschriebenen irreversiblen „Entzweiung zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Handelnden und seinem Rahmen“133, die auch eine Konsequenz des Heimat-, Sprach- und Vergangenheitsverlusts darstellt. Insofern kann bei Améry, da er seinen Zustand nicht als Heimatverlust, sondern als Heimatlosigkeit klassifiziert und die daraus resultierende Empfindung des Absurden bei Camus als Exil gedeutet wird,134 von einem potenzierten Exil im territorialen und exterritorialen Sinne gesprochen werden. Die „Logik der Vernichtung“ erfährt sogar in der Empfindung des Heimwehs eine Internalisierung, die Améry wie folgt beschreibt: 129 130 131 132 133

Hermann 2008, S. 54. Vgl. Améry: An den Grenzen des Geistes [1966], 2002, S. 37. Améry: Die Tortur [1966], 2002, S. 66. Ebd. Camus 2000, S. 18. (franz. Original „divorce entre l’homme de sa vie, l’acteur et son décor“, Camus 1942, S. 20.) 134 Vgl. ebd., S. 20.

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Das echte Heimweh war nicht Selbstmitleid, sondern Selbstzerstörung. Es bestand in der stückweisen Dementierung unserer Vergangenheit, was nicht abgehen konnte ohne Selbstverachtung und Haß gegen das verlorene Ich. Die Feindheimat wurde von uns vernichtet, und zugleich tilgten wir das Stück eigenen Lebens aus, das mit ihr verbunden war. Der mit Selbsthaß gekoppelte Heimathaß tat wehe, und der Schmerz steigerte sich aufs unerträglichste, wenn mitten in der angestrengten Arbeit der Selbstvernichtung dann und wann auch das traditionelle Heimweh aufwallte und Platz verlangte. Was zu hassen unser dringender Wunsch und unsere soziale Pflicht war, stand plötzlich vor uns und wollte ersehnt werden: ein ganz unmöglicher, neurotischer Zustand, gegen den kein psychoanalytisches Kraut gewachsen ist.135

Die Deskription einer absurden Gefühlswelt mit autodestruktiver Tendenz macht nochmals das Leiden an den Konsequenzen der „Logik der Vernichtung“ offenkundig, so dass das Absurde bei Améry im Kontrast zu Camus durchgängig als negativ konnotierter Zustand des nationalsozialistischen Opfers erscheint und aufgrund seiner Irreversibilität keinerlei Rückkehr in ein „normales“ Leben ermöglicht. Amérys Bewältigungsversuche stellen einen Prozess zur Wiederherstellung eines zumindest würdevollen Daseins als Recht auf Leben und Geliebtwerden dar. Sie sind konzipiert als Inversion der systematischen Entwürdigung der Juden, die bereits lange vor Auschwitz mit der Veröffentlichung der Nürnberger Gesetze begonnen hatte.136 Dieser Prozess ist für Améry unabschließbar und besteht im Wesentlichen darin, dass er – hier im Einklang mit Camus137 – „sein Schicksal auf sich nimmt und sich zugleich in der Revolte dagegen erhebt.“138 Deswegen nimmt er das für ihn bereits den „Nürnberger Gesetzen“ inhärente „Todesurteil“139 an und intendiert jedoch gleichzeitig durch Überzeugung und Zwang eine Revision der Entwürdigung zu erlangen,140 was ihm nach eigener Aussage „jenseits des physischen Überlebens eine Minimalchance eröffnet, das Ungeheure auch moralisch zu überstehen.“141 Neben der „moralischen[n] Widerstandskraft“142 insistiert Améry dabei auch im Rekurs auf Frantz Fanon auf der Notwendigkeit der physischen Gewalt zur Wiederherstellung einer „physisch-metaphysische[n] Würde“143, die er selbst gegen den sich gegenüber den Juden brutal verhaltenden Vorarbeiter Juszek praktizierte.144 Diesen Schlag in135 136 137 138 139 140 141 142 143 144

Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? [1966], 2002, S. 102. Vgl. Améry: Über Zwang und Unmöglichkeit [1966], S. 155. Vgl. Camus 1942, S. 78. Améry: Über Zwang und Unmöglichkeit [1966], 2002, S. 159. Ebd., S. 154. Vgl. ebd., S. 161. Ebd., S. 161. Ebd., S. 161. Ebd., S. 162. Vgl. ebd., S. 161f.

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terpretiert Améry als Etappe in seinem „langandauernden Berufungsprozeß gegen die Gesellschaft“145, der aufgrund der Ressentiments noch kein Ende gefunden hat. Darin korrespondiert er nach Scheit mit der ethischen Konzeption des Sartre’schen „juif authentique“, der durch seinen Widerstand gegen den Antisemitismus sein Judentum nicht verleugnet.146 Amérys Essays bilden eine Etappe innerhalb des Prozesses, bei dessen Erstellung der Leser als Begleiter dienen soll,147 da die Würde nicht allein individuell wiederhergestellt werden kann, sondern es dazu der Gesellschaft bedarf, von der auch der Leser ein Teil ist. Diese Auffassung entspricht wiederum Sartres Überlegungen zur Judenfrage, der die Konzeption des „juif authentique“ lediglich als eine Lösung im Sinne der Ethik betrachtet, „[…] der dem Juden Gewißheit auf ethischer Ebene gibt, doch in keiner Weise eine Lösung auf sozialer und politischer Ebene darstellt […]“.148 Die bereits angesprochene Unabschließbarkeit des Prozesses lässt diesen implizit als eine Sisyphosarbeit erscheinen, anders als bei Camus allerdings keine Glück verheißende. Sie stellt bei Améry aber auch kein Sinnbild für die zu akzeptierende Sinnlosigkeit des Daseins dar, sondern hat die Rückkehr in ein würdevolles Leben zum Ziel. Darin manifestiert sich ebenfalls eine Abkehr von der revolutionären Violenz aufgrund der nicht erfolgten Verwirklichung der damit assoziierten Utopie und eine Rückkehr zur Revolte, die nicht allein auf die Exekution von Gewalt als Mittel fokussiert ist.149 So äußert sich Améry zu Camus und dem Sisyphosmythos im Interview mit Ingo Hermann: Sicher gibt es zwischen mir und Camus eine innere Verwandtschaft. Als einen glücklichen Menschen kann ich mir freilich den Sisyphus nicht vorstellen, aber als einen würdigen Menschen. Ich hätte an dieser Stelle, hätte ich dieses Werk geschrieben und beendet, geschrieben, man soll sich Sisyphus als einen Menschen mit Würde vorstellen, nicht als einen glücklichen Menschen.150

Die Nähe Amérys zu Camus wird nicht nur in der metaphysikkritischen Ausrichtung seiner Essayistik deutlich, sondern auch in der Empfindung des Absurden, die aus der Situation des nationalsozialistischen Opfers resultiert, und der essentiellen Bedeutung der Revolte gegen die erlittene Entwürdigung, die das Schreiben von Améry maßgeblich prägt.

145 146 147 148

Ebd., S. 162. Vgl. Scheit 2012, S. 15. Vgl. Améry: Über Zwang und Unmöglichkeit [1966], 2002, S. 158. Sartre 2010, S. 85 (franz. Original: „apportant au Juif une certitude sur le plan éthique, mais il ne saurait aucunement servir de solution sur le plan social et politique.“ Sartre 1954, S. 175). 149 Vgl. Hermann 2008, S. 54f. 150 Ebd., S. 119f.

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Gerhild Rochus

„Emigration in die Heimat“1 – Paradoxale Konstruktionen von Exil und Rückkehr in der Essayistik Margarete Susmans

Die deutsch-jüdische Literaturtheoretikerin, Philosophin, Lyrikerin und Essayistin Margarete Susman2 unternimmt in ihren Essays den Versuch einer Reformulierung jüdischen Selbstverständnisses im Kontext von Exil und Shoah. Im Rekurs auf jüdische Denk- und Traditionshorizonte entwirft sie eine Poetik des Exils3, welche die spezifisch jüdische Erfahrung einer diasporischen Existenz mit der conditio humana des modernen Individuums verschränkt. In der generischen Form des Essays und der sprachlichen Form des Pathos entwickelt Susman so bereits vor 1933 die Vorstellung des Exils als einer Denkfigur, an der sie auch nach 1933 festhält, und die nach 1945 eine Aktualisierung erfährt.4 Die Fortsetzung des Exils nach 1945 geht in Susmans Essays einher mit der Auffassung des Exils als einer universell-menschlichen Erfahrung, die auch auf der sprachlichen Ebene, im gesteigerten Einsatz von Pathosformeln5, eine Potenzierung erfährt – eine Konstruktion, wie sie auch Susmans bekanntester und zugleich kontrovers diskutierter Text, der 1946 erschienene religionsphilosophische Essay Das Buch Hiob und Das Schicksal des jüdischen Volkes, aufweist. Insbesondere in Bezug auf diesen Essay sind sich Zeitgenossen wie die spätere Forschung weitgehend einig: Susmans Verschränkung von Essayismus, Pathos 1 Das Zitat ist der gleichnamigen Kapitelüberschrift in Susmans Autobiographie entnommen. Susman: Ich habe viele Leben gelebt, 1964, S. 140. 2 Margarete Susman ist am 14. Oktober 1872 in Hamburg geboren und ist am 16. Januar 1966 in Zürich verstorben. Susmans Œuvre umfasst einen (literar-)historischen Zeitraum von mehr als 60 Jahren. Ihre Essays sind im Zentrum der literarischen und philosophischen Avantgarde entstanden. Zu den zahlreichen Dialogpartnern Susmans gehörten u. a. Georg Simmel, Georg Lukács, Ernst Bloch, Karl Wolfskehl, Martin Buber, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem und Paul Celan. Vgl. dazu Susmans Erinnerungen in ihrer Autobiographie Ich habe viele Leben gelebt. 3 Der vorliegende Beitrag ist Teil meines Dissertationsprojektes „Poetik des Exils – Die Essayistik Margarete Susmans im Kontext der Moderne“ (AT). 4 Zum Paradigmenwechsel innerhalb der Exilliteraturforschung und der damit einhergehenden Öffnung des Exilbegriffs vgl. Bannasch/Rochus 2013. Vgl. außerdem Bischoff/Komfort-Hein 2013. 5 Zum Begriff der Pathosformel vgl. Warburg 2000, S. 3–6.

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und Diasporaexistenz, die zudem mit einer Restitution metaphysischer Begriffe einhergeht, erscheint vielen gerade im Kontext des Exils und der Shoah als problematisch und unangemessen.6 Der vorliegende Beitrag verfolgt eine andere Lesart der Essays von Margarete Susman. Die Rückbindung an jüdische Denk- und Erfahrungshorizonte und deren aktualisierende Relektüre versteht er als den Versuch, die existentiellen Grenzerfahrungen von Exil und Shoah zu verstehen und zu versprachlichen. Dabei werden die Grenzen dieses Versuchs in den Essays stets mitreflektiert und als solche auch markiert.7 Die traumatische Erfahrung der Shoah wird als Bruch und zugleich als Referenzpunkt des Schreibens markiert, der auch auf der sprachlichen Ebene, in Form eines bewusst eingesetzten Pathos, Ausdruck verliehen wird.8 So verneint der Essay vehement die Möglichkeit einer Rückkehr in einen Zustand davor ebenso wie die Rückkehr nach Deutschland und somit die Rückkehr zu einem deutschen Judentum nach 1945: „Zweierlei scheidet damit für uns aus: Gericht und Vergebung. […] [U]nser ist nur die grenzenlose, unauslöschliche Trauer. Aber nur als wirklich unauslöschliche ist diese Trauer eine wahrhaftige Antwort auf das Ungeheure des Geschehenen.“9 Der so formulierten Unmöglichkeit einer Rückkehr stellt Susman den Begriff der ‚Umkehr‘ entgegen, den sie als eine Möglichkeit der Rückkehr des Menschen in seine ‚echte Heimat‘, das göttliche Gesetz, deutet. Mit diesem deterritorialen Heimatbegriff, dem göttlichen Gesetz als Heimat des Menschen, geht die Vorstellung einer Heimatlosigkeit des Menschen im Irdischen einher. Diese Möglichkeit der Rückkehr im deterritorialen Sinne, der die Unmöglichkeit einer Rückkehr im territorialen Sinne kontrastiert, weist Susman als Akt der Freiheit des Menschen aus, einer Freiheit, die an die Entscheidungs- und Verantwortungsfähigkeit jedes Einzelnen appelliert. Die folgenden Überlegungen zu paradoxalen Konstruktionen von Exil und Rückkehr in der Essayistik Margarete Susmans gliedern sich in vier Schritte. Der erste Teil gibt zunächst einen skizzenhaften Überblick über Susmans Entwurf des Exils als einer Denkfigur. Anschließend wird im zweiten Teil die für Susmans Schreiben charakteristische Verschränkung von Essayismus, Pathos und Diasporaexistenz aufgezeigt. Der dritte Teil legt das zwischen „Wirklichkeit und 6 Zu den immer wieder in der Forschung erhobenen Vorwürfen vgl. bspw. den Beitrag von Gesine Palmer. Palmer 2012, S. 196–219. Zu einer konträren Lektüre von Susmans Verschränkung von Essayismus, Pathos und Diasporaexistenz im Kontext von Exil und Shoah vgl. Rochus 2016, S. 54–72. 7 Vgl. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 28f. 8 Auch Ingeborg Bachmann weist das Pathos als adäquate Ausdrucksform dichterischen Sprechens nach der Shoah aus. Vgl. Bachmann 1978, S. 365–368. Vgl. dazu den Beitrag von Bettina Bannasch 2002, S. 191–203, hier S. 203. 9 Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 160f.

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Symbol“10 oszillierende Paradigma von Exil und Rückkehr dar. Der vierte abschließende Teil erläutert den mit diesem Paradigma einhergehenden Begriff der Umkehr als einer Möglichkeit der Rückkehr, wie er v. a. für Susmans Essayistik nach 1933 und in gesteigerter Form nach 1945 zentral ist.

1.

Exil als Denkfigur

Margarete Susman setzt die figurative Bezugnahme auf die jüdische Geschichte des Exils, d. h. die Metaphorisierung des Exils als universelle conditio humana, und die Vorstellung einer permanenten jüdischen Exilexistenz mit der konkreten historischen Situation des Individuums in der Moderne in Beziehung.11 Aus dieser Verschränkung von Universalisierung und gleichzeitiger Bewahrung der Singularität der exilischen Erfahrung entwickelt Susman die Vorstellung eines jüdischen Exils als einer Denkfigur, die sich einer territorialen Verwurzelung entzieht und für eine „Einwurzelung“ in der Schrift, im göttlichen Gesetz, plädiert.12 Mit der Denkfigur des Exils geht, wie Jacques Derrida es nach 1945 formuliert, das ‚Paradoxon der Exemplarität‘ einher, das in der Verschränkung der singulären historischen Erfahrung der jüdischen Diaspora und der universell menschlichen Erfahrung des Exils besteht.13 Susman weist mit der Aktualisierung des jüdischen Gründungsmythos vom Bundesschluss die diasporische Existenz als einzigartige Daseinsform der jüdischen Existenz vor und nach 1933 aus, in der der Sinn der jüdischen und somit universell menschlichen Geschichte einmalig und unwiderruflich formuliert ist.14 Aus dieser transhistorischen Perspektive betrachtet, weist das jüdische Exil über seine historische Bedeutung hinaus und avanciert zu einer Denkfigur, mit deren Hilfe Susman die historische Situation des modernen Individuums zu deuten versucht. Susmans Essayistik lässt sich als religions- und sprachphilosophische, erinnerungskulturelle und historische Reflexion der Grenzerfahrung der diasporischen Existenz in der generischen Form des Essays und der sprachlichen Form des Pathos beschreiben. Die Erfahrung der diasporischen Existenz bestimmt Susman als Erfahrung einer mehrfachen Exterritorialität und Marginalisierung, die die ‚transzendentale Heimatlosigkeit‘ im Kontext der Moderne, das Moment jüdischer Fremdheit und die konkrete Erfahrung der Fremdheit als Folge der 10 Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 61–95, hier S. 60. 11 Zur Problematisierung dieser Verschränkung und zum Exil als Denkfigur in der jüdischen Philosophie nach 1945 vgl. Liska 2013, S. 239–255. 12 Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 63. 13 Vgl. Derrida 1994, S. 65. 14 Vgl. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 24f. Zu Susmans Essays im Kontext des Exils vgl. Körte 2015, S. 174–198. Vgl. hierzu auch Rochus 2013, S. 541–548.

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realen Exilierung umfasst. In dieser Perspektive stellt auch das historische Exil 1933–1945 keine Zäsur in der jüdischen Geschichte dar, sondern eine Potenzierung der diasporischen jüdischen Existenz, insofern Susman die historische Existenz im Rekurs auf Franz Rosenzweig zugleich als transhistorische ausweist.15 Dies bedeutet jedoch nicht eine Universalisierung und somit Infragestellung der Singularität der Shoah, sondern lässt sich vielmehr als eine Warnung vor einer potentiellen Wiederholung lesen. So mahnt Susman in Das Buch Hiob und Das Schicksal des jüdischen Volkes: „Wo einmal das Äußerste wirklich war, ist fortan alles möglich.“16 Auch Susman begreift die Shoah in der jüdischen Geschichte des Leids und der Katastrophen als die „schwerste[]“ aller bisherigen Katastrophen, die zum Zusammenbruch „alles Menschlichen und Menschheitlichen“ geführt hat.17 Den Versuch der Zerstörung der jüdischen Existenz deutet Susman als Versuch der Zerstörung der menschlichen Existenz überhaupt und bindet die Selbstbehauptung im Jüdischen an die Selbstbehauptung im Menschlichen: Der Aufruf zur Auferstehung aus dem Leid ergeht somit nicht nur an das jüdische Volk, sondern an die gesamte Menschheit.18 In diesem Aufruf ist die prophetische Forderung der ‚Umkehr‘ als einer Möglichkeit des Menschen zur Rückkehr in seine ‚echte Heimat‘, das göttliche Gesetz, enthalten, als ein Akt der Freiheit, der die Verantwortung jedes Einzelnen für die Existenz der Menschheit einfordert.

2.

Essayismus, Pathos und Diasporaexistenz

Margarete Susmans Essays zeigen sich sowohl der erkenntnisorientierten und prozessualen Geisteshaltung des essayistischen Schreibens und Denkens in der Tradition von Michel de Montaignes Essais als auch der jüdischen Tradition der Tradier- und Kommentierbarkeit der Thora als einer ‚Bewegung ohne Ankunft‘19 verpflichtet. Der Zwischenraum zwischen Literatur und Philosophie, wie er für die Transgenerik des essayistischen Schreibens charakteristisch ist, manifestiert sich bei Susman zudem in einem Spannungsverhältnis zwischen poetischer Sprache und philosophischer Reflexion. Als literarische Gattung avanciert der Essay, der eine strukturelle Analogie zum nichtkonzeptuellen, am Gestus des 15 16 17 18 19

Vgl. Rosenzweig [1919], 1984, S. 527–538. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 149. Ebd., S. 23f. Vgl. ebd., S. 155. Dem zunächst mündlich überlieferten heiligen Text ist die Notwendigkeit seiner Tradier- und Kommentierbarkeit, d. h. auch seiner Neu- und Umdeutungen, immanent. Vgl. hierzu Scholem 1970, S. 90–120. Die „Notwendigkeit des Kommentars“ weist Derrida als „die Form der Rede im Exil“ aus. Derrida 1976, S. 102–120, hier S. 105.

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Fragens orientierten talmudischen Denken aufweist, zum Reflexionsmedium und Synonym für die deutsch-jüdische Existenz im 20. Jahrhundert.20 Als Charakteristikum der deutsch-jüdischen Essayistik lässt sich der Versuch einer Neuformulierung des jüdischen Selbstverständnisses über den Rückbezug auf die jüdische Diasporaexistenz, auf das Exil als Denkfigur, feststellen: Die negativ konnotierte, antisemitische Fremdzuschreibung einer ‚jüdischen Wurzellosigkeit‘ erfährt eine positive Umkodierung als Selbstbeschreibung einer ‚geistigen Wurzellosigkeit‘, eines exterritorialen Ortes des Denkens, der zugleich als Signum der modernen conditio humana gelesen werden kann. In der jüdischen Geschichte findet Susman Denkfiguren und Bilder, die ihrer Suche nach einer Sprache entgegenkommen, die dazu bestimmt ist, zu fragen und nicht zu antworten.21 Diese Suchbewegung hat auch poetologische Konsequenzen, insofern die Suche nach der „verschütteten Wahrheit“ der menschlichen Existenz nur als Annäherung möglich scheint, der ein Moment der Verunsicherung eingeschrieben ist.22 Das Ethos des Fragens, das sich in Analogie zum Anruf „Höre Israel“23, einem Anruf ohne Gewissheit auf Antwort, lesen lässt, korrespondiert mit einem dialogischen Denken und Schreiben.24 Der Dialog mit dem Anderen wird als Ort der Transzendenzerfahrung aufgefasst, in der die Beziehung zwischen Mensch und Gott durch die Beziehung zwischen Mensch und Mensch verwirklicht ist.25 In der Tradition von Martin Bubers Philosophie des Dialogs26 wird der Sprache ein dialogischer Charakter zugewiesen: Die Sprache ist ein „Zeugnis für das Prinzip des Menschseins.“27 Diese Dialogfähigkeit des Menschen wird als menschliche Erfahrung par excellence verstanden, da ihr zugleich ein ethisches Verständnis zugrunde liegt: Erst in der Verantwortung für den Anderen konstituiert sich das Ich. Somit geht die Verantwortung für den Anderen der Autonomie des Selbst voraus: „In Israel […] ruht die Verwirklichung Gottes nicht auf der Selbstrealisierung des Volkes, sondern auf seiner Selbstaufgabe.“28 Susmans Begriff der Selbstaufgabe ist das Primat der Forderung inne, dem Gegenüber Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Zugleich steht diese Vorstellung eines der Gerechtigkeit verpflichteten Ichs im Widerspruch zu jeder Form von Selbstermächtigung, wie sie auch dem kabbalistischen Theorem des Zimzum, der Selbstbeschränkung Gottes, immanent ist. Diese Vorstellung ver20 21 22 23 24 25 26 27 28

Vgl. hierzu Hoffmann 2002, S. 299–320, hier S. 302f. Vgl. hierzu Nordmann 1993, S. 203–218. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 29. Susman: Das Judentum als Weltreligion [1932], 1994, S. 105–121, hier S. 107f. Zum dialogischen Denken vgl. Hahn 1994, S. 81–95. Vgl. Susman: Vom Sinn unserer Zeit [1931], 1994, S. 3–14, hier S. 8. Vgl. hierzu auch Nordmann 2012, S. 62–88. Buber 1978, S. 28. Susman: Die messianische Idee [1929], 1994, S. 56–67, hier S. 57. Kursivierung im Original.

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weist auf die Idee eines radikalen Humanismus: Ein Humanismus, der sich dem anderen Menschen verpflichtet weiß.29 Mit dem Ethos des Fragens geht ein Pathos in der Sprache einher, das aus dem Versuch resultiert, existentielle Grenzerfahrungen in Sprache zu übersetzen. Doch erscheint Pathos als „dargestellte Emotion“ und „emotives Prinzip“30 gerade im Kontext des Exils und der Shoah als unangemessen: Susmans pathetischer Ton kontrastiert so einerseits dem sachlich-nüchternen Gestus der Gattung des Essays sowie andererseits dem für die Literatur nach 1945 postulierten Nüchternheitsgebot.31 Gerade der pathetische Ton, den Susman in ihren Essays wählt, gibt sich jedoch als der Versuch zu erkennen, auf die leidvolle Erfahrung des Exils und der Shoah sprachlich zu reagieren. In der als existentiell ausgewiesenen Rückbindung an die jüdische Geschichte als einer Geschichte des Leids wird der Versuch einer Versprachlichung dieses Leids in Form eines aktualisierenden Sprechens unternommen.32 Dem Entwurf eines Sprachraums, der die Verletzungen erinnernd bewahrt, ist auch ein widerständiges Moment inne: das in der jüdischen Tradition zentrale Moment der Hoffnung als „Vermögen“, wie Theodor W. Adorno schreibt, „noch dem Äußersten standzuhalten, indem es Sprache wird.“33 In der messianischen Hoffnung als Offenbarung eines „ewigen Dennoch“ im Abgrund des Leids selbst sieht Susman das „Urpathos des jüdischen Daseins“ begründet.34 Das Festhalten am Begriff der messianischen Hoffnung als „eine[r] vollkommen paradoxe[n]“, weist sie als unbedingte Forderung aus, als „Prüfstein für die Erlösbarkeit des Menschen“.35 Dem Verlust der menschlichen Gestalt korrespondiert der Verlust der menschlichen Sprache. Er verweist auf eine enge Interrelation von Sprache und Existenz im dichterischen Sprechen nach der Shoah.36 Für Susmans essayistisches Schreiben ist diese Verschränkung von poetogener und existentieller Dimension grundlegend: Die Suche nach einer neuen Sprache soll ein authentisches Sprechen ermöglichen,37 das im Celanschen Sinne seiner „Daten eingedenk“38 29 Dieses kabbalistische Konzept des Zimzum, wie es für Susmans Denken konstitutiv ist, weist Levinas nach 1945 als einen ‚extremen Humanismus Gottes‘ aus. Vgl. Levinas 2005. Vgl. hierzu auch Sandherr 2000, S. 148–161, hier S. 156f. 30 Zumbusch 2010, S. 7–24, hier S. 9. 31 Joachim Jacob zeigt, dass die sog. ‚Kahlschlag-Literatur‘ zwar als „Inbegriff eines nüchternen, pathosfernen“ Schreibens, jedoch nicht als „pathosfreie[s] Schreiben[]“ zu verstehen ist. Vgl. Jacob 2012, S. 243–262, hier S. 244. Kursivierung im Original. 32 Vgl. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 29. 33 Adorno 1977, S. 9–287, hier S. 266. 34 Susman: Das Judentum als Weltreligion [1932], 1994, S. 121. Zum Pathos der jüdischen Existenz nach der Shoah vgl. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 77. 35 Susman: Die messianische Idee [1929], 1994, S. 59. 36 Vgl. hierzu Susman: Ich habe viele Leben gelebt, 1964, S. 12. 37 Vgl. Bachmann: [Über Gedichte], 1978, S. 200–216, hier S. 209. 38 Celan 1983, S. 187–202, hier S. 196.

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bleibt: „Wohl ist diesem Geschehen gegenüber jedes Wort ein Zuwenig und ein Zuviel; seine Wahrheit ist allein der Schrei aus den wortlosen Tiefen der menschlichen Existenz.“39 Der Schrei und das Verstummen deuten, als zwei diametral entgegengesetzte Formen der Artikulation von Leid, auf den Bruch hin, den das Exil und die Shoah verursacht haben, und den es gilt, „als grenzenlose, unauslöschliche Trauer“40, erinnernd zu bewahren.

3.

Exil und Rückkehr zwischen ‚Wirklichkeit und Symbol‘

In Susmans Essays stehen divergierende Exilvorstellungen, wie sie sich in Form von Neu- und Umschriften in der jüdischen Tradition manifestieren – von der Vorstellung des Exils als Strafe und Sühne über die Vorstellung, dass das Exil und die Zerstreuung des jüdischen Volkes die Voraussetzung für die messianische Erlösung bilden, bis hin zu der Idee einer permanenten Exilexistenz,41 – als paradoxale Denkfiguren nebeneinander und akzentuieren die diasporische Existenz des Judentums als einzigartiger Daseinsform vor und nach 1933 sowie nach 1945. So wird die Frage nach „Sinn und Wahrheit des jüdischen Schicksals“ als eine Doppelfrage formuliert, welche die historischen Transformationsprozesse ebenso berücksichtigt wie die gegenwärtige Situation, um davon ausgehend die Frage nach der Möglichkeit einer jüdischen und somit universell menschlichen Existenz zu stellen.42 In Anlehnung an Franz Rosenzweig verbindet auch Susman die Idee einer permanenten Exilexistenz mit der Idee der Ewigkeit jenseits des historischen Zeitablaufs,43 so dass „die geschichtliche Fragestellung immer schon die nach einer übergeschichtlichen Sphäre in sich schließt.“44 Diese paradoxale Zeitkonstruktion von historischer und transhistorischer Existenz des jüdischen Volkes korrespondiert mit einer paradoxalen räumlichen Konstruktion von nationaler und übernationaler jüdischer Existenz, aufgrund derer Susman die jüdische Existenz als eine „menschheitliche“ versteht.45 Der Vorstellung der jüdischen Geschichte als einer Geschichte zwischen „Wirklichkeit und Symbol“46 entspricht ein gleitender Exilbegriff.47 Susman de39 Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 23. 40 Ebd., S. 161. 41 Zu den Neu- und Umschriften divergierender Exilkonzepte in der jüdischen Tradition vgl. Shedletzky 2013, S. 27–47. 42 Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 28. 43 Vgl. hierzu Rosenzweig [1919], 1984, S. 537. 44 Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 26. 45 Susman: Die Revolution und die Juden [1919], 1994, S. 122–143, hier S. 140. Zur paradoxalen Raum- und Zeitkonstruktion vgl. auch Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 85f. 46 Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 60. 47 Vgl. Bronfen 1993, S. 167–183.

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finiert das Symbol als „die Brechung des Verhältnisses zum Ganzen in einem Einzelnen.“48 Als Symbol des Ganzen bestimmt Susman Gott bzw. das göttliche Gesetz, das die „eigentliche Menschenheimat“ darstellt.49 Mit diesem deterritorialen Heimatbegriff geht die Vorstellung einer Heimatlosigkeit des Menschen im Irdischen einher.50 Susman deutet damit das Exil als „Ausdruck des Menschenschicksals überhaupt.“51 Seit der Vertreibung aus dem Paradies lebt der Mensch im Exil.52 Das Urexil des Menschen verweist zudem auf die Vorstellung einer unerlösten Schöpfung, die Susman mit einer ethischen Vorstellung verschränkt:53 Der Mensch trägt die Verantwortung für die Wiederherstellung der Schöpfungsordnung und somit auch für die Rückkehr in seine „eigentliche Menschenheimat“.54 In diesem Paradigma von Exil und Rückkehr fungiert das jüdische Exil als Exempel der Menschheit. In der Vorstellung der messianischen Erlösung ist nicht nur die Rückkehr des Volkes Israel aus dem Exil enthalten, sondern die Rückkehr und somit die Erlösung der Menschheit aus ihrem exilischen Dasein.55 Das Paradigma von Exil und Rückkehr deutet Susman zudem als Ausdruck der Beziehung des Menschen zu Gott und somit des Menschen zum Menschen: Diese Beziehung zum Anderen bezeichnet sie als den „unverlierbare[n] Sinn“56 des Judentums. Die Vorstellung einer exilischen Existenz des Menschen bedeutet für die jüdische diasporische Existenz eine Potenzierung als Exil innerhalb des Exils: Denn das jüdische Exil bildet ein zweites Exil im Exil des Menschlichen überhaupt. Aber es bildet dieses Exil nur, weil es sich als solches selbst angenommen und erwählt hat. Während die Menschheit um das jüdische Volk her das ursprüngliche menschliche Exil verneint, sich – der menschlichen Heimatlosigkeit zum Trotz – im doppelten Sinne eine Heimat auf Erden geschaffen hat, hat der Jude im doppelten Sinne seine Heimatlosigkeit auf Erden auf sich genommen.57

Mit der transzendentalen Heimatlosigkeit des modernen Individuums erfährt das jüdische Exil eine weitere Potenzierung, da der Verlust der Beziehung zu Gott einen existentiellen Verlust für das jüdische Selbstverständnis bedeutet, den Zustand absoluter Exilierung: „Wir sind absolut und ganz im Exil.“58 Der 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Susman: Vom Sinn der Liebe [1912], 1922, S. 47. Ebd., S. 1. Vgl. Susman: Die biblische Mosesgestalt [1956], 1960, S. 9–59; hier S. 48. Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 81. Kursivierung im Original. Vgl. Susman: Das Judentum als Weltreligion [1932], S. 105. Vgl. Margarete Susman: Saul und David. Zwei ewige Gestalten [1930]. In: Dies.: Deutung biblischer Gestalten [1956]. Konstanz, Stuttgart 1960, S. 96–144, hier S. 124. Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 75. Vgl. ebd., S. 95. Vgl. Susman: Vom Sinn unserer Zeit [1931], 1994, S. 8. Susman: Das Judentum als Weltreligion [1932], 1994, S. 114. Susman: Der jüdische Geist [1933], 1992, S. 209–223, hier S. 221.

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Transzendenzverlust führt zu einer existentiellen Einsamkeit des modernen Individuums, in der „Gott ganz verstummt [ist und] der Mensch alleine redet“, indem „er aber, auch wenn er Gottes Namen verschweigt, immer nur mit Gott redet.“59 Diese Verborgenheit Gottes in der Moderne bedeutet für das jüdische Selbstverständnis einen existentiellen Verlust, da sich die absolute Transzendenz Gottes zu einer absoluten Entfremdung wandelt: „[W]enn der Jude seinen Gott verloren hat, hat er alles verloren.“60 Für das jüdische Volk als Volk des Exils ist somit nicht der Verlust der „irdischen Heimat“, sondern der Verlust der „metaphysischen“ zentral.61 Die „jüdische Seele“, schreibt Susman in Bezug auf Rahel Varnhagen, bleibt „im Irdischen heimatlos […]. Sie lebt […] in der unendlichen Hoffnung – ist reine Sehnsucht […].“62 Auf diese Heimatlosigkeit im Irdischen verweist auch der paradoxal anmutende Titel „Emigration in die Heimat“, mit dem Susman das Kapitel ihrer Emigration in die Schweiz in ihrer 1964 erschienenen Autobiographie Ich habe viele Leben gelebt, überschreibt.63 Diese ‚Emigration in die Heimat‘ ist zugleich die Rückkehr an den Ort ihrer Kindheit, der ihre Exil-Heimat bis zu ihrem Tod 1966 bleiben wird. Als Deutsche und nicht als Jüdin, konstatiert Susman, habe sie Deutschland verlassen, als Deutsche, die „dieses neue Deutschland nicht mehr ertragen konnte.“64 Susman, die sich in ihrer Autobiographie selbst in Bildern der im Irdischen heimatlos Gebliebenen darstellt, schließt nach 1945 eine Rückkehr nach Deutschland als Jüdin aus und damit einhergehend auch eine Rückkehr zu einem deutschen Judentum. In ihrem Essay Die Brücke zwischen Judentum und Christentum von 1925 erscheint eine Begegnung zwischen Juden und Deutschen im jüdisch-christlichen Dialog noch möglich. Im Bild der Brücke wird ein Ort der Begegnung entworfen, der die Bedeutung des Anderen für das Eigene anerkennt, ohne jedoch das dem Dialog eingeschriebene Moment der bleibenden Fremdheit aufzuheben, und der ein transkonfessionelles Gespräch ermöglicht.65 Die deutschjüdische Begegnung in Form eines christlich-jüdischen Dialogs, der die Anerkennung des Anderen einfordert, erklärt Susman nach 1933 und in potenzierter Form nach 1945 für irreversibel gescheitert.66 Dieses Scheitern akzentuiert, als 59 60 61 62 63 64 65 66

Susman: Das Hiob-Problem bei Franz Kafka [1929], 1992, S. 183–203, hier S. 189. Susman: Der jüdische Geist [1933], 1992, S. 219. Susman: Spinoza und das jüdische Weltgefühl [1913], 1994, S. 85–104, hier S. 86. Susman: Frauen der Romantik [1929], 1995, S. 121. Vgl. Susman: Ich habe viele Leben gelebt, 1964, S. 140. Ebd., S. 137. Susman: Die Bru¨ cke [1925 u. 1964], 1994, S. 15–26, hier S. 23. Zum Ende des deutschen Judentums vgl. Susman: Die Brücke [1925 u. 1964], 1994, S. 24. Zum gescheiterten deutsch-jüdischen Dialog vgl. auch Gershom Scholem, der das deutsch-jüdische Gespräch als einen „Schrei ins Leere“ bezeichnet. Scholem 1964, S. 229–232, hier S. 232. Auch Susman kritisiert nach 1945 das deutsche Judentum als die „eigentümliche Wirklich-

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tragisches Symbol, die Unlösbarkeit der symbiotischen Verknüpfung, die „so tief und unauflöslich geworden [ist], daß Unausdenkbares geschehen mußte, um sie auseinanderzureißen.“67 Dem Moment einer Unmöglichkeit der Rückkehr zu einem deutschen Judentum kontrastiert der Begriff der „Umkehr“, als einer Möglichkeit des Menschen, sich zu „wandeln“ und ein „neuer Mensch“ zu werden.68 Im Fokus von Susmans Essays nach 1933 und insbesondere nach 1945 steht dieser zentrale prophetische Begriff als ein Aufruf an die Menschheit umzukehren und in die ‚echte Heimat‘, das göttliche Gesetz, heimzukehren. Diese Möglichkeit der Umkehr ist auch den Deutschen gegeben, die Voraussetzung dafür ist eine Sühnebereitschaft69, die Susman zum Zeitpunkt der Entstehung ihres Essays Das Buch Hiob und Das Schicksal des jüdischen Volkes im Jahre 1946 noch nicht realisiert sieht: „[…] die deutsche Erde ist noch nicht gereinigt, sie muß erst sich selber reinigen – und sie ist nach den Äußerungen, die uns von dort erreichen, noch weit von solcher Selbstreinigung entfernt […].“70 Nur unter der Voraussetzung dieser Forderung sowie dem zentralen Gebot des Erinnerns und dem damit einhergehenden Verbot des Vergessens,71 ist ein erneutes jüdisch-christliches Gespräch und ein Leben als Jude in Deutschland nach 1945 eventuell wieder möglich, jedoch keine Rückkehr zu einem deutschen Judentum: „Für uns aber, denen die Wirklichkeit Volk in doppeltem Sinne zum Schicksal geworden ist, ist die alte Form der Verschmelzung in einem großen Sterben zerbrochen, und wir sehen in einer neuen noch keine Wahrheit.“72 Mit dem proklamierten Ende des deutschen Judentums geht auch eine Verschiebung der Perspektive bzw. Adressierung von Susmans Essays nach 1933 bzw. 1945 einher: Das deutsch-jüdische Gespräch wird zu einem innerjüdischen, zu einem Gespräch, das sich auch als ein Selbstgespräch im Sinne einer Selbstbegegnung herauskristallisiert und als ein Akt der Selbstbehauptung im Jüdischen lesbar wird, den Susman immer auch als einen Akt der Selbstbehauptung im Menschlichen versteht.73

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keitsblindheit der deutschen Juden, ihre restlose Selbstidentifizierung mit einem Lande, das sie in Wirklichkeit nie vorbehaltlos aufgenommen hatte.“ Susman: Moses Mendelssohn [1946], 1954, S. 259–286, hier S. 260. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 107. Vgl. hierzu auch Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 72. Zum jüdischen Konzept der Sühne, der Teschuwa, vgl. Klapheck 2014, insb. Kap. 5: Umkehr – Teschuwa – Revolution, S. 114–151. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 161. Vgl. ebd. Ebd., S. 161. So verweist auch Susmans „Bild des jüdischen Menschen“ als „Bild des Menschen“ auf die existentielle Dimension dieser Engführung von jüdischer und menschlicher Existenz nach der Shoah. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 121.

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Von der Möglichkeit der ‚Umkehr‘ als Rückkehr in die ‚echte Heimat‘

Margarete Susman hält auch nach 1933 bzw. nach 1945 an der Diaspora als einzigartiger Daseinsform der jüdischen Existenz fest und bestimmt diese als ihr „innerstes Daseinsgesetz“.74 Zugleich wird die fremdbestimmte Exilierung in eine selbstbestimmte diasporische Existenz überführt, die Vertreibung in Ausgesandtsein übersetzt. Susman markiert ihre Essays als ein „jüdisches Bekenntnis“, ein Bekenntnis zur Heiligen Schrift als Offenbarung Gottes vom ewigen Wahrheitsgehalt des jüdischen Volkes.75 Dieses steht einem Bekenntnis zu einer jüdischen Nation diametral entgegen; der Nationalgedanke widerspricht nach Susmans Auffassung dem „Grundsinn des Judentums.“76 In Susmans Essayistik wandelt sich der jüdische Gründungsmythos vom Bundesschluss zum Paradigma einer deterritorialen Vorstellung kollektiver und individueller Identitätskonstitution, die jenseits territorialer Verwurzelung im Wort und im Versprechen von Gerechtigkeit gründet.77 Der Verlust der Heimat bedeutet für das jüdische Volk weit mehr als der Verlust einer „bestimmten irdischen Heimat“, es bedeutet das Herausgerissenwerden aus der räumlichen und zeitlichen Ordnung, aus der Schöpfung, und die Überführung in eine raum- und zeitlose Existenz, in die göttliche Offenbarung.78 Im Bild der Wurzellosigkeit des Baumes wird der gewaltsame Prozess dieser ‚Entwurzelung‘ als einer ‚Einwurzelung‘ im Gesetz beschrieben, als Aufruf zur Umkehr, die zugleich eine Rückkehr des Menschen zu seiner „echten Heimat“ darstellt.79 Susmans Auseinandersetzung mit jüdischer „Existenz und Tradition“80 über die alttestamentarischen ‚Schmerzensfiguren‘ – Hiob, Ezechiel und Moses – die sie in ihrer Relektüre als „Propheten des Exils“ ausweist, dient dem Versuch einer Neuformulierung des jüdischen Selbstverständnisses.81 So weist Susman das Exil als Bestimmung und Aufgabe des jüdischen Volkes aus.82 Der damit einhergehende zentrale Begriff der „Umkehr“ impliziert sowohl die Vorstellung des Exils als Sühneleistung für die zerrissene Beziehung zwischen Mensch und Gott als auch die Möglichkeit der Rückkehr im Sinne einer Wiederherstellung dieser verlorenen

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Ebd., S. 79. Ebd., S. 25. Ebd. Vgl. ebd., S. 79. Ebd., S. 60. Vgl. Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 63 u. 95. Vgl. auch Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 60. 80 Vgl. hierzu Shedletzky 1993, S. 3–14. 81 Vgl. Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 61. 82 Das Exil ist „zum Sinn des Volkes selbst geworden“. Ebd., S. 80.

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Beziehung zu Gott. Diese Möglichkeit der Rückkehr, die dem Menschen von Gott gegeben ist, stellt zugleich die Rückkehr des Menschen zu sich selbst dar.83 In der Thora wird dieser Prozess der Umkehr in das ursprüngliche Verhältnis des Menschen zu Gott als Akt der Freiheit des Menschen aufgefasst.84 An diese Freiheit des Menschen, sich zu wandeln, und ein „neuer Mensch“85 zu werden, appellieren auch Susmans Essays nach 1933 und in potenzierter Form nach 1945. Den Aufruf zur Umkehr, der zuerst an das jüdische Volk ergangen ist, sieht Susman als Aufgabe an, die zukünftig und gegenwärtig zugleich ist, als eine „immerwährend[e] Gegenwart des göttlichen Anspruchs“.86 Die Umkehr des Menschen beginnt am „letzten“ und „einsamsten Punkt des Ich“87, der Nächstenliebe. Susman versteht sie als Aufruf zur Rückkehr in die „echte Heimat“, zum Menschsein unter dem Einen Gott.88 Die besondere Stellung des jüdischen Volkes zwischen „Verbundensein und Ausgesondertsein“, zwischen Erwähltheit und Differenz, prädestiniert dieses dazu, als „Sinnbild“ und „Vertretung“ der Menschheit, als Exempel, zu fungieren:89 Indem an dies Volk, anders als an jedes andere, der Ruf ergangen ist, Volk zu sein und nicht Staat: Volk, das Gott gründet, nicht Staat, den der Mensch baut, reiner Auftrag ohne Gestalt und Grenze, ist es ausgesondert, in seinem Volksein selbst die Menschheit zu vertreten. Dies ist vom Ursprung bis zur Endzeit sein unaufhebbarer Sinn. Adam ist nicht der erste Jude, er ist der erste Mensch; das messianische Endziel ist nicht die Erlösung des jüdischen Volkes; es ist die Erlösung des Menschengeschlechts.90

Im Schicksal Hiobs sieht Susman die Geschichte und das Schicksal des jüdischen Volkes im Exil vorgezeichnet.91 Ihre Essays versuchen Hiobs Fragen an Gott, die alle als existentiell menschliche Fragen verstanden werden, in der Gegenwart neu zu stellen.92 Die in Hiob personifizierte Denk- und Erfahrungsfigur der Urbeziehung des Judentums zu Gott avanciert zum Paradigma des Versuchs, die Theodizee, die Frage nach der Existenz und der Gerechtigkeit Gottes sowie den Sinn des Leidens, in der Gegenwart zu aktualisieren.93 Das Leiden lässt sich aus 83 Zum Begriff der Umkehr und zur Möglichkeit der Rückkehr vgl. bspw. Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 72f. 84 Zum Paradigma von Exil und Rückkehr in Susmans Essayistik sowie dem damit einhergehenden Gedanken der ‚Umkehr‘ in jüdischer Tradition vgl. Klapheck 2014, S. 249–258. 85 Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 72. 86 Ebd., S. 92. 87 Ebd., S. 91f. 88 Ebd., S. 95. 89 Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 50. Zum jüdischen Selbstverständnis zwischen Einzigartigkeitsbewusstsein und Differenzerfahrung vgl. Hammer 2004, S. 21. 90 Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 79. 91 Ebd., S. 56. 92 Vgl. ebd., S. 33. 93 Vgl. hierzu Delf 1993, S. 248–265. Vgl. außerdem Goetschel 2013, insb. das Kapitel zu Margarete Susman: Jewish Thought in the Wake of Auschwitz: Margarete Susman’s The Book of Job and the Destiny of the Jewish People. S. 97–113.

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dieser Perspektive als Ausdruck der menschlichen Existenz und zugleich als Aufforderung zur Auferstehung aus dem Abgrund des Leidens selbst lesen und verweist zudem auf die jüdische Vorstellung der Offenbarung Gottes im Leid.94 So erfahren die Semantiken der Erniedrigung eine Transformation in Semantiken der Erhöhung: Dem nietzscheanischen Willen zu Macht und Stärke setzt Susman die Bereitschaft zur Machtlosigkeit und die Fähigkeit des Leidens entgegen. Leid lässt sich so als Zeichen der Erwählung deuten und wird mit dem Gedanken der stellvertretenden Sühne verknüpft: Der von Gott Auserwählte sühnt stellvertretend für die ganze Menschheit.95 Im paradoxen Bild des „schuldlos[] Schuld[igen]“ symbolisiert die Figur Hiob das Leiden des Gerechten ebenso wie die Möglichkeit der Umkehr aus dem Leid selbst.96 Diese Umkehr Hiobs versteht Susman als Heimkehr des gewandelten Menschen und zugleich als Rückkehr in die „echte Heimat“ des Menschen, in das göttliche Gesetz.97 In dieser Deutung des göttlichen Gesetzes als Heimat des Menschen ist die Vorstellung einer humanen Verpflichtung auf Gerechtigkeit und Solidarität enthalten.98 In der Tradition der prophetischen Forderung deutet Susman die Existenz des jüdischen Volkes in der Gegenwart als bewusste Entscheidung: „[…] [F]ür das jüdische Volk gibt es kein Fatum. Jude sein, heißt sich entscheiden. Denn jeder Einzelne des Volkes wird zwar als Jude geboren; aber er wird erst Jude durch die Entscheidung für dies Sein.“99 Essentialistischen Konzepten individueller und kollektiver Identität widerspricht somit das Moment der Entscheidung, die eine neu aufgerufene Verantwortung für die Idee der Menschheit und des Menschlichen einfordert.100 Der Begriff des Volkes erfährt in Susmans Essays eine Umsemantisierung: Er wird aus seinen territorialen, nationalen und machtpolitischen Daseinsbedingungen und -formen gelöst und in die Vorstellung einer Solidargemeinschaft überführt.101 Anlässlich der Staatsgründung Israels 1948 versieht Susman die Neuauflage ihres Essays Das Buch Hiob und Das Schicksal des jüdischen Volkes mit einem neuen Vorwort, in dem sie die Staatsgründung als politische Notwendigkeit akzeptiert, zugleich jedoch vor einem jüdischen Nationalismus warnt und an der Vorstellung der diasporischen Existenz des jüdischen Volkes festhält.102 Für Susman bleibt die deterritoriale Vorstellung Zions

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Vgl. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 24f. Vgl. dazu Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 64. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 83. Vgl. hierzu auch Goldschmidt 1997, S. 87–96. Vgl. ebd., S. 142. Dazu auch Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 95. Vgl. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 80. Ebd., S. 24. Kursivierung im Original. Zu einem als ‚radikal‘ ausgewiesenen Volksbegriff als ‚Verkörperung des Menschlichen‘ vgl. Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 89. 101 Vgl. ebd., S. 76. 102 Vgl. hierzu auch Brumlik 2007, S. 116–120.

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als die „unverlöschbare Sehnsucht der Verbannten“103, als das „heimatlose Sinngebilde Israel“104, auch nach 1945 zentral: „[…] Zion bleibt Galuth bis zur Endzeit. Auch Zion ist nicht Ziel, sondern Weg, nicht Antwort, sondern Frage, eine offene Zukunftsfrage an das Volk“.105 In der Botschaft der Propheten manifestiert sich Susmans ethische Prämisse, die ihrem Schreiben inhärent ist. Die Propheten verkünden nicht die Zukunft, sondern proklamieren die Gegenwart des Dennoch, das die Ausweglosigkeit unterbricht und die Zeit des Anfangs wiederherstellt.106 Diese Möglichkeit zur Umkehr ist jedem Individuum gegeben und an den Begriff der Verantwortung gebunden.107 Im Bild des Tores der Vergangenheit, das nicht endgültig verschlossen ist, sondern von der Zukunft her aufgeschlossen werden kann,108 manifestiert sich der Gedanke der messianischen Jetztzeit, wie er sich auch bei Walter Benjamin im Bild von der kleinen Pforte findet, durch die der Messias eintreten kann.109 Dieses Verständnis einer messianischen Hoffnung, das jedem teleologischen Geschichtsverständnis widerspricht, impliziert die Möglichkeit der Restitution und ‚Heilung des Zerschlagenen‘ und wird im Rekurs auf die talmudische Frage – „Hast du gehofft auf das Heil?“ – als Ur- und Kernfrage des Judentums ausgewiesen.110 Im Angesicht der Katastrophe, an den „äußersten Grenzen des Lebens und Lebenkönnens“, muss „die Entscheidung für das Leben“, das Weiterleben, getroffen werden.111 Dem „Ausharren in der Hoffnung“112 als einem Gestus der Verweigerung gegenüber jeder Form vorzeitiger Erlösung ist ein Moment des Widerstands, das „ewige Dennoch der Welterlösung“113 ebenso eingeschrieben wie die Verpflichtung jedes Einzelnen, die Verantwortung für die unerlöste Menschheit zu übernehmen: „Die Verwaltung der messianischen Hoffnung ist also die in der Gegenwart verantwortete Zukunft der Gemeinschaft und damit Verantwortung schlechthin.“114 In der Idee der messianischen Hoffnung wird somit ein Ethos des Stehens und Widerstehens formuliert, wie es für Susmans Denken und Schreiben zentral ist.115

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Susman: Die Revolution und die Juden [1919], 1994, S. 132. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 115. Ebd., S. 118. Vgl. hierzu Nordmann 1992, S. 229–267, hier S. 238. Vgl. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 162. Vgl. Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 72. Vgl. Benjamin [1940], 1974, S. 691–704, hier S. 704. Vgl. Susman: Ezechiel [1942], 1960, S. 72f. Susman: Das Buch Hiob [1946], 1996, S. 25. Ebd., S. 91. Ebd., S. 168. Ebd., S. 90. Zur Öffnung eines schmalen Spalts der Hoffnung vgl. ebd., S. 168.

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Susman hat mit der Vorstellung des Exils als einer Denkfigur nicht nur den Diskurs der Zeit entscheidend mitgeprägt, sondern sie hat zudem Tendenzen vorweggenommen, wie sie für die Literatur und Philosophie nach 1945 kennzeichnend sind – dennoch werden ihre Schriften in diesem Kontext kaum rezipiert. Bezug genommen wird nach 1945 auf Schriften von Franz Rosenzweig, Walter Benjamin und Martin Buber. Diese verweigerte Rezeptionsgeschichte eines jüdisch-weiblichen Denkens, die Susman bereits von ihren männlichen Zeitgenossen erfahren hat, die sie als Dialogpartnerin und Ideengeberin würdigten, jedoch kaum als eigenständige Denkerin wahrnahmen, schreibt sich somit nach 1945 fort. Mögliche Gründe für die verweigerte Rezeption von Susmans Essays im Diskurs ihrer Zeit ebenso wie in der Philosophie nach 1945 liegen einerseits an der Komplexität und Heterogenität ihres Werkes, andererseits an ihrem bewusst eingesetzten pathetischen Ton. Die Diskreditierung des Pathos, insbesondere nach 1945, hat eine intensive Rezeption von Susmans Schriften möglicherweise ebenso erschwert wie eine Anerkennung der spezifischen Modernität und Aktualität dieses Denkens.

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Sebastian Schirrmeister

Von anderen Orten. Rückkehr, Besuch und Heimsuchung bei Amos Oz

Erzähltexte der modernen hebräischen Literatur in Israel, die sich mit jüdischem Leben in Deutschland nach 1945 befassen und die Möglichkeit einer Rückkehr dorthin in Betracht ziehen, stehen zwangsläufig in einem problematischen Verhältnis zur übergeordneten zionistischen Erzählung von der endgültigen Rückkehr des Volkes Israel ins Gelobte Land. Ausgehend von Gershon Shakeds These, angesichts der Shoah gäbe es „kein[en] andere[n] Ort als hier“, untersucht der Beitrag Amos Oz Roman Ein anderer Ort von 1966. Mit einem Fokus auf Figurationen von ‚Rückkehr‘, ‚Besuch‘ und ‚Heimsuchung‘ wird anhand der komplexen Figurenkonstellationen und intertextuellen Verweisstrukturen gezeigt, inwiefern der Text nicht nur das zionistische Master-Narrativ fragwürdig erscheinen lässt, sondern auch die zugrundeliegenden Dichotomien von hier und dort, wir und sie, Gut und Böse unwiderruflich destabilisiert.

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Kein anderer Ort

Möchte man die gesamte Geschichte der modernen hebräischen Literatur seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner bringen, so braucht es dafür nicht viele Worte. Das jedenfalls ist die Quintessenz von Gershon Shakeds im Verlauf von mehr als zwanzig Jahren entstandenem, fünfbändigem Monumentalwerk zur Geschichte der modernen hebräischen Prosa zwischen 1880 und 1980.1 Auf vielfältige, formal sehr unterschiedliche Weise hätten Generationen von Schriftstellern – mal affirmativ, mal kritisch, mal desillusioniert, mal restaurativ – stets die Auseinandersetzung mit einer großen Erzählung gesucht, die Shaked als alilat ha-al ha-tsiyonit bezeichnet – das zio1 Shaked: Ha-Siporet Ha-Ivrit [1880–1980], 1977–1998. Von Shakeds umfangreicher Studie existieren zudem eine englische und eine deutsche Kurzfassung. Siehe Gershon Shaked: Modern Hebrew Fiction. Bloomington 2000 und Gershon Shaked: Geschichte der modernen hebräischen Literatur. Prosa von 1880 bis 1980. Frankfurt a.M. 1996.

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nistische Master-Narrativ. Bei diesem Narrativ handelt es sich zugleich um eine großangelegte Rückkehrerzählung und um eine Heilsgeschichte. „The basic Zionist myth about the return to Eretz Israel as a redeeming process, bringing mental, social, and national salvation to the Jews.“2 – so fasst es Avner Holtzman zusammen, der Shakeds Literaturgeschichte selbst als großangelegtes zionistisches Projekt versteht. Eine derart verabsolutierende Aussage führt zwangsläufig dazu, dass bestimmte Texte, die zwar der Sprache nach der hebräischen Literatur, von ihrer thematisch-motivischen Ausrichtung her jedoch nicht dem besagten Narrativ angehören, als randständig bzw. als Ausnahmefälle erscheinen. Dazu gehören etwa die in den letzten Jahren wieder intensiv diskutierte Prosa von David Fogl, die sich in keiner Weise um die Frage der Rückkehr nach Eretz Israel bekümmert, oder auch die Prosatexte Lea Goldbergs, die sichtlich in die europäische und russische Literatur eingebunden sind.3 Shaked hat zugestanden, dass weitere Narrative existieren, sieht jene aber vordergründig durch ihr Verhältnis zum übergeordneten Mythos bestimmt. I accept the supposition, that although different narratives exist synchronically side by side, there is a dominant narrative that has its own pattern, and the other narratives refer to it, try to cope with it or to undermine it. Very frequently the subversive narratives […] could not be understood without taking into account their competitive relations with the narrative that occupies the top of the hierarchy.4

Für diese große Erzählung von der Rückkehr und der Erlösung des jüdischen Volkes, die in der Hierarchie ganz oben steht und den jüngsten Abschnitt einer langen Tradition jüdischen Schreibens bildet,5 sind zwei räumliche Aspekte strukturell konstitutiv. Erstens basiert die Erzählung auf der binären Opposition zwischen dem Land Israel und dem Rest der Welt (der Diaspora) und zweitens kennt sie nur die Bewegung in eine Richtung: aus der Zerstreuung in der Welt zurück in das Land. Seit den Anfängen der modernen hebräischen Literatur Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Art und Weise, wie das Verhältnis dieser beiden Pole bewertet und literarisch verarbeitet wurde, immer wieder gewandelt. Eine entscheidende Zäsur im 20. Jahrhundert bilden dabei ohne Zweifel die Shoah und die kurz darauf erfolgte Gründung des Staates Israel. Der historisch einmalige Versuch der vollständigen Vernichtung der europäischen Juden erforderte eine radikale Neubewertung der Möglichkeiten und Denkbarkeiten jüdischen Lebens außerhalb des nunmehr eigenen, souveränen Territoriums. Mit Blick auf die 2 Holtzman 2008, S. 283. 3 Vgl. den Abschnitt: Am Rande der hebräischen Prosa in Shaked 1996, S. 194–201. 4 So Shaked in seinem Aufsatz Ist Literaturgeschichte möglich? [2001], S. 8–10, zitiert bei Holtzman 2008, S. 286. 5 Vgl. DeKoven Ezrahi 2000.

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Literatur hat Sidra DeKoven Ezrahi in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Staatsgründung 1948 – sofern sie als ‚Ankunft‘ und Erfüllung der Jahrtausende währenden jüdischen Sehnsucht nach Rückkehr ins Gelobte Land verstanden wird – zugleich das Ende des Erzählens und der von dieser Sehnsucht gespeisten literarischen Produktivität bedeute. Die Heimat im Text werde ersetzt durch den „territorialen Imperativ“ des jüdischen Staates.6 Shaked, der selbst 1939 als Kind aus Österreich nach Palästina geflohen war, brachte diesen Imperativ Mitte der 1980er Jahre auf die Formel eyn makom aher, ˙ „es gibt keinen anderen Ort“. In einem Essay mit diesem Titel, das auf die israelkritische Autobiografie des aus Frankreich stammenden Historikers Saul Friedländer reagierte, erteilte Shaked jeglichem Gedanken an eine (geistige) Rückkehr nach Europa oder an einen doppelten geografischen Bezug eine klare Absage. Friedländer deutet an, daß es möglich sein könnte, zum Grund der Vergangenheit zurückzukehren, an die Wurzeln zu gelangen, auch wenn diese zerstört worden sind, daß es möglich sein könnte, wie eine Amphibie eine duale Existenz zu führen. Ich halte dagegen, daß es keine Rückkehr zu den einmal zerstörten Grundlagen gibt. […] Natürlich ist eine zweideutige Unentschlossenheit interessanter und komplexer als Engagement […]. Aber in dem Maße, wie Identität auch eine bewußte Entscheidung ist […], in diesem Maße muß ein Mensch sich entscheiden. Und wenn einer aus den Ruinen Sodoms entflohen ist, dann ist da kein anderer Ort als hier.7

Das vehemente Verneinen einer möglichen Rückkehr nach Europa und das Beharren auf der Formulierung „kein anderer Ort“ ist eine geradezu dogmatische Deutung des zionistischen Narrativs. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass „der Ort“ (ha-makom) eine in der jüdischen Tradition fest verankerte Bezeichnung des einen Gottes ist, der keine anderen Götter neben sich duldet, ließe sich diese Haltung gewissermaßen als territorialer Monotheismus bezeichnen.8 Zudem kann die behauptete Setzung, da sei „kein anderer Ort“, das ihr selbst innewohnende Paradox nicht verbergen. Schließlich bleibt eben jener „andere Ort“, dessen Existenz verdrängt und in Abrede gestellt werden soll, in der Formulierung sprachlich erhalten und tritt mit jeder Wiederholung phantasmatisch 6 Vgl. DeKoven-Ezrahi 2000, S. 11. 7 Shaked: Kein anderer Ort, 1986, S. 190f. Auf Hebräisch erschienen die gesammelten Essays bereits 1983 unter dem gemeinsamen Titel Eyn Makom Aher. ˙ 8 Seine populärkulturelle Entsprechung findet dieser Standpunkt etwa in der intensiven Rezeption von Ehud Manors Lied eyn li erets aheret, „Ich habe kein anderes Land“, das seit Mitte ˙ Spektrum Israels in unterschiedlichen Zusamder 1980er Jahre über das gesamte politische menhängen (und auf der Grundlage von teils gegensätzlichen Interpretationen) zitiert und instrumentalisiert wurde. Ebenso lässt sich die wiederkehrende Aufforderung zur Einwanderung nach Israel als dem einzigen sicheren Ort, die israelische Regierungsvertreterinnen und -vertreter nach anti-jüdischen oder allgemein bedrohlichen Ereignissen in Europa an die jüdischen Bürger des jeweils betroffenen Landes richten, als tagespolitischer Ausdruck dieses territorialen Imperativs verstehen.

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zutage. Die Ambivalenz der scheinbar eindeutigen Aussage wird umso greifbarer, wenn man die Quelle berücksichtigt, aus der Shaked hier schöpft. In Yosef Haym Brenners 1911 erschienenem Roman Von hier und von dort kommt die Hauptfigur mit dem sprechenden Namen David Diasporin, die weder in der Welt noch im Land Israel Glück und Erlösung finden kann, eher resigniert als euphorisch zu dem Schluss: „Es ist möglich, gut möglich, dass es unmöglich ist, hier [in Palästina] zu leben, aber man muss hier bleiben, man muss hier sterben, schlafen… Es gibt keinen anderen Ort.“9 Auch mehr als hundert Jahre nach Brenner scheint die Frage nach der (Un)Möglichkeit eines „anderen Ortes“ nichts an ihrer Relevanz eingebüßt zu haben und immer neue literarisch-künstlerische Auseinandersetzungen zu provozieren. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang etwa auf die sehr explizite Bearbeitung des Themas in Doron Rabinovicis Roman Andernorts (2010) oder im Spielfilm Anderswo (D 2014) der israelischen Regisseurin Ester Amrami.

2.

Ein anderer Ort (1966)

Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht der erste Roman von Amos Oz aus dem Jahr 1966, dessen Titel Makom Aher, also Ein anderer Ort10 bereits ˙ unmissverständlich erkennen lässt, dass hier Gegenposition bezogen wird zu der These, es gäbe keinen anderen Ort, bzw. dass zumindest die explizite Auseinandersetzung mit den damit einhergehenden Setzungen gesucht wird. Diesem streitbaren Gestus entsprechend, dem neben dem Titel auch die umfangreiche und komplexe Handlung des Romans folgt, gilt der Text für Shaked als ein herausragendes Beispiel für die sogenannte „Neue Welle“ in der hebräischen Literatur Mitte der 1960er Jahre. In dieser Welle finde die Krise des zionistischen Master-Narrativs ihren literarischen Ausdruck und es entstehe ein Raum, um Gegenmodelle jenseits der herrschenden Ideologie zu erproben, so Shaked.11 Bei Oz kommt die Infragestellung des dominierenden Modells der ‚Erlösung durch Rückkehr‘ vor allem in Form von erzählerischen Gegen-Bewegungen zum Tragen. Diese sollen hier anhand der drei eng miteinander verbundenen Bewe9 Brenner 1911, sechstes Heft, zweiter Teil [Hebr.]. Übersetzung durch den Verfasser. 10 Vgl. Oz. 2001. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle EaO und Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. Der Roman wurde zuvor bereits unter dem Titel Keiner bleibt allein in einer ersten deutschen Übersetzung von Nilly Mirsky und Jörg Trobitius veröffentlicht (Düsseldorf 1976). Abgesehen von der durch die Wahl des Titels erfolgten Eliminierung des ‚anderen Ortes‘ und der Verlagerung des Schwerpunkts auf das ‚Happy End‘ sowie einer Reihe von Fußnoten zur Erläuterung von literarischen Anspielungen und hebräischen Begriffen in der älteren Fassung wiesen die beiden Übersetzungen bei einem kursorischen Vergleich keine grundlegenden Unterschiede auf. 11 Vgl. Shaked: Geschichte der modernen hebräischen Literatur, 1996, S. 349–353.

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gungsfiguren Rückkehr, Besuch und Heimsuchung genauer in den Blick genommen werden. Oz’ Roman ist – wie nicht wenige seiner späteren Texte auch – ein KibbuzRoman. Diesem Genre ist Ein anderer Ort mit seinem Schauplatz so konsequent verhaftet, dass nur ein verschwindend geringer Teil der Handlung überhaupt an anderen Orten spielt. Nahezu kammerspielartig konzentriert sich das Geschehen auf den fiktiven Kibbuz Mezudat Ram (deutsch: Hohe Festung), der von deutschen und russischen Einwanderern gegründet wurde und im Norden des Landes direkt an der Grenze zu Syrien am Fuße der Golanhöhen liegt. Wie im klassischen Drama gelangen Nachrichten und Informationen von außerhalb fast ausschließlich über Botenfiguren oder Briefe in den Kibbuz. Es wird im Text relativ schnell klar, dass es sich bei dem titelgebenden „anderen Ort“ nicht um den Kibbuz selbst handelt, auch wenn das Motto explizit besagt: „Seine Einwohner sind nicht von hier“ (EaO 7).12 Im Gegenteil, mit der Formulierung „anderer Ort“ werden ganz verschiedene tatsächliche und imaginäre, konkrete und abstrakte Orte jenseits der Umzäunung der Gemeinschaftssiedlung bzw. jenseits der Grenzen des Landes markiert. Da die Erzählung jedoch nicht an diesen Orten spielt, sind sie lediglich latent präsent, etwa in Erinnerungen und Alpträumen, kurzen Binnenerzählungen, besagten Briefen oder in Gesprächen zwischen den Figuren. Der prominenteste und symbolisch am stärksten aufgeladene unter diesen „anderen Orten“ ist zugleich mit Blick auf das Thema dieses Bandes der relevanteste: Deutschland. Es wird also zu untersuchen sein, auf welche Weise Deutschland in einem Roman, der vollständig in Israel spielt, dennoch eine zentrale Rolle einnimmt, und wie sich diese zur Behauptung von der Nicht-Existenz eines ‚anderen Ortes‘ verhält. Der Romantitel Ein anderer Ort verweist nicht nur auf ideologische Konstellationen des 20. Jahrhunderts, sondern greift zugleich auf Motive und Assoziationen aus der jüdischen Schrifttradition zurück. So erhält etwa der biblische Prophet Yehezkel (Ezechiel) den Auftrag, seine Sachen zu packen, als wäre ˙ er verbannt worden, und vor den Augen des Volkes Israel „von deinem Ort zu einem anderen Ort in die Verbannung auszuziehen“ (Ez 12,3). Mit dieser symbolisch-demonstrativen Handlung kündigt er das babylonische Exil als Strafe Gottes für das ungehorsame Volk Israel an. Der dann über das babylonische Exil reflektierende berühmte Psalm 137 lenkt mit seiner verdoppelten Ortsangabe 12 Abgesehen von der Herkunft der Einwohner von einem „anderen Ort“ als dem, an dem der Roman spielt, trägt Mezudat Ram in auffälliger Weise Züge eines Raumes, den Michel Foucault als Heterotopie bezeichnet hat. (Vgl. Foucault 1998, S. 34–46). Dazu gehört u. a. die Bühnenhaftigkeit des Raums, die durch zahlreiche Theatermetaphern und Dramentechniken unterstützt wird. Ebenso verfügt das Kibbuz über sein eigenes „System von Öffnungen und Schließungen“ (ebd., S. 44) und man lebt dort sogar „nach einer anderen Schwerkraft“ (EaO 26).

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„An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten“ die Aufmerksamkeit darauf, dass Exil sich eben durch das Dasein an einem anderen Ort bestimmt.13 Im babylonischen Talmud dagegen wird das Konzept vom „anderen Ort“ unter anderem mit dem Ausleben nicht unterdrückbarer Triebe in Verbindung gebracht. Rabbi Ilai sagt: Wenn ein Mann bemerkt, dass er seiner Triebe nicht Herr wird, so gehe er an einen Ort, wo man ihn nicht kennt, und er kleide sich schwarz und umwickle sich schwarz und tue, was sein Herz begehrt und er entweihe den Namen des Himmels nicht in der Öffentlichkeit.14

Nicht von ungefähr gehören Verbannung und ununterdrückbare menschliche Triebe zu den zentralen Handlungselementen in Ein anderer Ort. Die mit Blick auf die räumliche und moralische Grundkonstellation des Romans aufschlussreichste Vorstellung von einem ‚anderen Ort‘ im jüdischen Denken findet sich in den Schriften der Kabbala. Ausgehend von der ewigen Frage nach der Herkunft des Bösen in der Welt wird im Buch Zohar die Vorstellung der sitra ahra, der „anderen Seite“ etabliert. Diese habe sich durch ein ˙ vorübergehendes Ungleichgewicht während des Schöpfungsprozesses gebildet und stehe nun der sitra de-kedusha, der „heiligen Seite“ gegenüber, imitiere diese in ihrer Struktur und bilde „eine Gegenwelt des Satans“.15 Die Beschreibung jener anderen Seite, von der das Böse in der Welt seinen Ausgang nimmt, ist überaus detailliert. „Die ‚Andere Seite‘ stellt sich als eine weit aufgefächerte Hierarchie aus Strafengeln, Dämonen und Geistern dar, die ihr Werk in der Welt […] vollbringen.“16 Menschliche Auseinandersetzungen zwischen Gut und Böse werden als Projektionen des Kampfes ihrer transzendenten Entsprechungen gedeutet. Obwohl auf den ersten Blick streng dualistisch und durch die Opposition von Licht und Finsternis gekennzeichnet, bleibt das Konzept der sitra ahra in den ˙ kabbalistischen Texten doch in ein monotheistisches Gesamtsystem eingebunden. Gerschom Scholem schreibt hierzu: Auch im Bösen leuchtet ein Funke des göttlichen Lichtes. Es gibt keine vollständige Trennung der Bereiche, derart, daß das Böse rein in sich selber verharrt und das Gute ihm völlig eindeutig gegenüberstünde; vielmehr sind beide – und dies wird gerade bei den Betrachtungen über das Böse schärfer betont – ineinander verschränkt.17

Inbegriff jener „Welt des Luziferischen“, in der trotz allem „die Sphären von Gut und Böse […] auf unheimliche Weise vermischt erscheinen“, ist klipat ha-noga, 13 Vgl. hierzu DeKoven Ezrahi 2000, S. 9. 14 Talmud Bavli, Masekhet Mo’ed Katan 17a. Übersetzung durch den Verfasser. Ich danke Giddon Ticotsky für den Hinweis auf diese Textstelle. 15 Scholem 1977, S. 67. 16 Grözinger 2005, S. 577. 17 Scholem 1977, S. 70.

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die sogenannte „Schale des Glanzes“ und derjenige Teil des Bösen, der zwar Finsternis ist, sich aber in unmittelbarer Nähe zum Göttlichen befindet und daher heilige Funken enthält.18 Es mag kein Zufall sein, dass die weibliche Hauptfigur in Ein anderer Ort, einem Roman, der die binäre Sichtweise des zionistischen Master-Narrativs mithilfe der von Shaked kritisierten „zweideutigen Unentschlossenheit“ herausfordern will, ausgerechnet den Namen Noga trägt und so als Symbol der Vermischung zwischen den Sphären bzw. Orten aufgefasst werden kann. Wie Dani Shoham in einem kurzen, überblicksartigen Beitrag gezeigt hat, ist gerade eine solche nicht enden wollende Dialektik und die Bewahrung von Widersprüchlichkeiten, wie es hier anhand der kabbalistischen Antwort auf den Ursprung des Bösen skizziert wurde, für das gesamte literarische Schreiben von Amos Oz charakteristisch.19 Von der zeitgenössischen Kritik musste sich Ein anderer Ort, in dem Oz diese Schreibweise zum ersten Mal erprobte, u. a. den Vorwurf gefallen lassen, im Vergleich zu Oz’ zuvor veröffentlichten Kurzgeschichten sei die Handlung zu kompliziert und konstruiert, während die Figuren keine Tiefe hätten und sich nicht natürlich entwickeln würden.20 Diesem Vorwurf kann man einige wiederkehrende poetologische Reflexionen aus dem Text selbst entgegenstellen. Im Kibbuz Mezudat Ram existieren nämlich zwei entgegengesetzte Auffassungen von Literatur. Der Kibbuzsekretär Herbert Segal, „ist der festen Überzeugung, daß eine Geschichte, die keine Botschaft enthält, lieber nicht so hätte geschrieben werden sollen.“ (EaO 219) Dagegen bevorzugt der örtliche Dichter und Lehrer Ruven Charisch Geschichten, die zu seiner Überzeugung passen, „daß das Leben vielgestaltig ist und daher einfache Formeln sprengt.“ (EaO 206). Es muss nicht betont werden, dass sich der Roman mit all seinen Möglichkeiten auf die Seite der komplexen Sprengkraft schlägt und das Formulieren einer ‚Botschaft‘ konsequent vermeidet. Die poetische Umsetzung der Vielgestaltigkeit des Lebens zeigt sich von Anfang an in der bemerkenswerten Erzählerposition, die einer narrativen Auslegung der Wortbedeutung von ‚Kibbuz‘ gleichkommt: Versammlung oder Sammlung. Der Roman wird in der ersten Person Plural erzählt und die Erzählstimme speist sich aus dem gesammelten Klatsch der Kibbuz-Bewohner. Wie Gershon Shaked bemerkt hat, entspricht diese Technik dem Chor im antiken Drama, der das Geschehen kommentiert und deutet21 – wodurch der Eindruck, der Roman basiere auf bestimmten Prinzipien des Theaters, noch weiter verstärkt wird. Die Polyphonie der in unterschiedlichem Maße unzuverlässigen Erzählstimmen ermöglicht es zudem, einander 18 19 20 21

Ebd., S. 73. Vgl. außerdem Grözinger 2005, S. 579. Vgl. Shoham 1991. Vgl. die Rezension von Cohen 25. 11. 1966. Vgl. Shaked: Ha-Siporet Ha-Ivrit, 1998, S. 211.

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widersprechende Meinungen gleichberechtigt nebeneinander zu stellen, sodass sich eben keine Botschaft, sondern nur ein vielfältiges Angebot möglicher Deutungen der Ereignisse und handelnden Personen ergibt.

3.

Rückkehrvariationen

Zu den zeitgeschichtlichen Hintergründen des Romans gehört der in Israel nach der Staatsgründung de facto über Deutschland verhängte herem (Bann). Wie Dan ˙ Diner in seiner Untersuchung des deutsch-israelischen Verhältnisses gezeigt hat, lag dem Bann keine bindende rabbinische Entscheidung zugrunde, Verhalten und Rhetorik der israelischen Politik und Gesellschaft folgten aber dennoch „der eingeübten Liturgie eines zwar allgegenwärtigen, jedoch von niemandem rituell verfügten Banns.“22 Diner zufolge entsprach die Haltung gegenüber Deutschland derjenigen gegenüber den Gebieten Spaniens nach der Vertreibung der Juden Ende des 15. Jahrhunderts. Als terras de idolatria (Länder des Götzendienstes) waren diese nunmehr als Reiseziele für Juden tabu. Ähnlich wie im Fall Spaniens wirkte der Bann gegen Deutschland nach 1945 zum einen nach außen in Form „einer durch kollektives Empfinden sanktionierten Distanznahme, […] einer im täglichen Handeln sich niederschlagenden Übereinkunft, beruhend auf demonstrativer Abscheu und Verachtung.“23 Zum anderen aber richtete sich der Bann auch dezidiert nach innen, gegen diejenigen Juden, die eine Reise oder gar dauerhafte Rückkehr nach Deutschland in Erwägung zogen. Im Einklang mit der hier eingangs angeführten Charakterisierung des zionistischen Master-Narrativs betont Diner die in diesem Zusammenhang deutlich zutage tretende binäre Opposition zwischen „dem Land“ und „außerhalb des Landes“ und verweist auf die Parallele zur sakralen Konstellation von heilig und profan.24 Auf eben dieser Opposition von „heiliger“ und „anderer Seite“ baut Ein anderer Ort auf. Die kritische Haltung gegenüber den Juden, die das Land Israel verlassen, um im schlimmsten Fall nach Deutschland zu gehen, wird im Roman explizit formuliert und eng an den Konsens des zionistischen Geschichtsbildes geknüpft. Im Verlaufe einer Geschichtsstunde unter freiem Himmel, in der Ruven Charisch seiner Klasse die jüdische Geschichte aus zionistischer Sicht darlegt, von Verfolgung und Pogromen über die Shoah bis zum heldenhaften Aufstand im Warschauer Ghetto und dem Kampf der Pioniere im Land Israel, heißt es auch:

22 Diner 2015, S. 45. 23 Ebd. 24 Vgl. ebd., S. 60.

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Ruven macht nebenbei eine verächtliche Bemerkung über geldgierige Juden – ein unwürdiges, verlorenes Volk –, die trotz allem jetzt nach Deutschland auswandern, um sich zu bereichern. Einige Kinder folgen seinem Gedankengang und verstehen, worauf die Bemerkung gemünzt ist. (EaO 91)

Ruvens Bemerkung zielt auf seine eigene Frau Eva, die bereits einige Jahre vor dem Beginn der Romanhandlung nach Deutschland zurückgekehrt ist und mit dieser Entscheidung den Kibbuz erschüttert hat. Die Folgen dieser Rückkehr prägen den ersten Teil des Romans und bilden die Hintergrundfolie für die im Text verhandelten Verwicklungen und zwischenmenschlichen Konflikte. Eva Hamburger, die gegen den Willen ihrer in Deutschland assimilierten Eltern nach Palästina in den Kibbuz gegangen war und dort den einfachen Pionier Ruven Charisch geheiratet hat, war eine beliebte Genossin und treue Ehefrau, „[b]is der Teufel in sie fuhr“ (EaO 18). Ende der 1950er Jahre ist sie plötzlich nach Deutschland zurückgekehrt und hat ihren Mann und ihre beiden Kinder Noga und Gai zurückgelassen. Auslöser für diese Rückkehr war ein dreiwöchiger Besuch ihres in Deutschland lebenden Cousins Isaak Hamburger im Kibbuz. Sie ist also kausal mit der zweiten oben genannten Bewegungsfigur verbunden. Vor dem Krieg war Eva mit Isaak verlobt gewesen und führt nun in der Gegenwart der Romanhandlung mit ihm einen erfolgreichen Nachtclub in München. Erklärt wird diese von vielen Stimmen als Verrat an der Familie und am Kollektiv gewertete Entscheidung zur Rückkehr nach Deutschland einerseits mit Evas nicht zu überwindender Sehnsucht nach dem Ort ihrer Kindheit. Andererseits erweist sich ihre Rückkehr auch als Versuch, das durch Krieg und Shoah verursachte Leid beispielhaft am eigenen Cousin ungeschehen zu machen, indem sie die unterbrochene Beziehung wieder aufnimmt. Ruven Charisch beschreibt das seiner Tochter Noga mit folgenden Worten: Nach einem Monat hat sie mir einen langen Brief aus Europa geschrieben, mir ihr Herz ausgeschüttet. Ihr Isaak sei einmal ein Engel gewesen. Als Kinder hätten sie vierhändig Klavier gespielt, Gedichte gelesen, geschrieben, gemalt. Aber das Leid habe ihn zerrüttet, und sie, sie persönlich, sei verantwortlich für ihn und verpflichtet, ihn zu läutern. So haben wir deine Mutter verloren. (EaO 174)

Evas Rückkehr wird als innerjüdisches Bemühen um Wiedergutmachung perspektiviert, die auf individueller statt auf kollektiver Ebene Erlösung verspricht und so die Abwesenheit der Mutter zwar nicht legitimiert, aber doch erklärt. Diese abwesende Mutter gehört zu den interessantesten Figuren des Romans. Sie tritt selbst nie in Erscheinung, kommuniziert aber durch kurze Botschaften, die sie am Rand von Briefen platziert, die ihr Geschäftspartner Sacharja Berger an seinen im Kibbuz lebenden Bruder, den Lastwagenfahrer Esra Berger schickt. Gerade für die Tochter Noga ist die abwesende Mutter die Verkörperung jenes finsteren „anderen Ortes“, den die im Land geborene Tochter nie gesehen hat. Sie

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ist von „fieberhafter Reiselust“ erfüllt und wünscht sich gelegentlich „zu anderen Orten, weit, weit, weg, zu ihrer Mutter, ins Dunkel, in deine schwarzen Wälder“ (EaO 390). Ausgerechnet das Bewusstsein der Ächtung jenes unbekannten Ortes weckt ihre Neugier: „Was ist ein Land von Mördern? Ich würde gern mal ins Land der Mörder fahren und nachsehen.“ (EaO 224) Auch ihren Vater Ruven Charisch, der ebenfalls aus Deutschland stammt, fragt sie über den Ort aus. Statt verbotene terra de idolatria gilt ihr Deutschland als terra incognita – und als solche verlockend. Evas Rückkehr nach Deutschland hat aber nicht nur Auswirkungen auf ihre unmittelbare Familie, sondern erweist sich als Riss und Gefährdung der moralischen Integrität des Kibbuz in seiner Gesamtheit (und damit zugleich als treibende Kraft der Romanhandlung). Knapp ein Jahr nach Evas Verschwinden hat Ruven eine Affäre mit Bronka Berger begonnen, der Frau des Lastwagenfahrers Esra Berger. Dieser Ehebruch wird von den wachsamen Augen der Kibbuz-Genossen ebenso intensiv beobachtet wie die Annäherung von Ruvens Tochter Noga an den betrogenen Esra Berger, die zuletzt in einer Schwangerschaft mündet, mit der sich das Beziehungsgeflecht jenseits gesellschaftlicher Normen endgültig materialisiert. Den Auslöser und die ursprüngliche Schuld für diese moralischen Verwerfungen sieht die Gemeinschaft einhellig bei Nogas Mutter und ihrer Rückkehr nach Deutschland. Die zweite wichtige Rückkehrer-Figur ist Sacharja Berger, Isaak Hamburgers Geschäftspartner in München und der Bruder des Lastwagenfahrers Esra aus dem Kibbuz. Auch von ihm hat man in Mezudat Ram eine klare Meinung: „Überhaupt, diese jüdischen Typen, die nach dem Krieg nach Deutschland zurückgegangen sind, um schmutzige Geschäfte zu machen. Alle möglichen Unterweltexistenzen.“ (EaO 311) Sacharjas ‚Rückkehr‘ nach Deutschland ist das Ende einer regelrechten Odyssee und nur einer von drei verschiedenen Wegen, welche die drei Söhne des Kantors Naftali Hirsch Berger aus Kowel (Ukraine) mit den symbolträchtigen Namen Esra, Nechemja und Sacharja25 eingeschlagen haben. Während Esra zu den Kibbuzgründern gehört, ist Nechemja als Gelehrter nach Jerusalem gegangen, um dort seine Studien zum jüdischen Sozialismus zu betreiben. Sacharja dagegen wurde bereits als Jugendlicher von seinem Vater verstoßen. Er geht zunächst nach Rowno, dann nach Warschau, kommt dort ins Ghetto, flieht nach Russland, dann nach Schweden, ist bei Kriegsende in Italien, gelangt nach Atlit, wird nach Zypern deportiert, kommt 1948 wieder nach Atlit, geht nach Ramla und nach Jaffa, wo er ein Jahr lang Handel treibt. Ende 1949 25 Bei Esra, Nechemja und Sacharja handelt es sich um Propheten aus der hebräischen Bibel. Den historischen Hintergrund für alle drei Prophetenbücher bildet die Rückkehr aus dem babylonischen Exil und die Neukonstitution des jüdischen Gemeinwesens im Land Israel ab 539 v. d.Z.

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verlässt er Israel und bleibt auf dem Weg zu seiner Heimatstadt Kowel in Deutschland hängen. Genau betrachtet handelt es sich also nicht um eine Rückkehr im individuell-biografischen Sinne. Dennoch gehört Sacharja zu eben jenen Juden, „die nach Deutschland auswandern, um sich zu bereichern.“ Er beantragt Wiedergutmachung und führt mit diesem Geld seitdem in München besagten Nachtclub mit Isaak Hamburger. In Deutschland nennt er sich Siegfried. Aus dem biblischen Propheten wird so ein Held der germanischen Mythologie, ein Drachentöter. Und entsprechend zu diesem selbstgewählten Namen unterscheidet sich die Motivation für seine Rückkehr nach Deutschland deutlich von Evas Beweggründen. Nicht Sehnsucht und Nostalgie oder der Wunsch nach Wiedergutmachung treiben ihn an. Er betrachtet die Rückkehr nach Deutschland ausdrücklich als einen Akt der Rache. Esra erinnert sich an ein Streitgespräch zwischen den Brüdern, in dem Sacharja in drastischen Worten seine Argumente dargelegt hat: Ich werde dorthin fahren und ein Saujude sein, hat er gesagt. Ein Juuude. Ein dreckiger Jidd. So hat er gesprochen. Ich habe ihm gesagt, ja richtig, Menschen sind nicht aus Weihrauch und Myrrhe, aber du bist mein Bruder und nicht dazu geboren, ein Halunke zu werden. Nechemja hatte ein anderes Argument: Bleib in Israel, zeuge viele Kinder, das ist unsere Rache. Sacharja lachte und redete im Singsang, einen alten Spruch abwandelnd: Auf drei Dingen steht die Welt: auf Mord, Hurerei und Geld. Das sind drei Beine. Ein oder zwei davon möchte ich ihnen schnellstens abbrechen, genau wie sie mich gebrochen haben. Korrekt? Genau wie unser toter Vater gesagt hat: Hasse das Herrschen, hasse die Arbeit, hasse deine Hasser – dann wirst du wie gutes Öl auf der Kloake schwimmen. Und auch das hat unser Bruder Sacharja an jenem Tag gesagt: Ein wahrer Jude, meine Herrschaften, muß die Finsternis durchbrechen und die morschen Festen der Erde vertilgen, wie es bei Bialik steht. Sie werden uns den Kopf zermalmen, und wir werden sie in die Ferse stechen, und ihre Fersen sind Mord, Habgier und Unzucht. Mord ist von der Tora aus verboten, aber selbst der Teufel kann mir nicht verbieten, sie zu prostituieren und ihnen das Geld auszusaugen. (EaO 194f.)

In München beschäftigt Sacharja einen ehemaligen Gestapo-Beamten als Türsteher in seinem Nachtclub und genießt dessen Unterwürfigkeit. Er reizt das deutsche Publikum mit israelischen Künstlern, mit lebenden Juden auf der Bühne und erklärt: Der Sohn eines ermordeten jüdischen Kantors schlägt München, […] du kannst gar nicht ermessen, welche metaphysische Gerechtigkeit sich darin verbirgt. […] Einen Reiz, der sie bis auf den Grund ihrer Seele aufwühlt, verkaufe ich ihnen. Und sie geben mir ihr Geld, ja geben mir mehr in die Hand als ihr Geld, mit ihren innersten Empfindungen sind sie mir ausgeliefert, und das ist meiner Mühe Lohn. (EaO 317f.)

Mit dieser Strategie gelingt es Sacharja auf paradoxe Weise, die von Diner beschriebene Distanznahme zu Deutschland und den Deutschen nicht nur mit

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einer Rückkehr nach Deutschland zu verbinden, sondern Abscheu und Verachtung durch die bewusst gesuchte Nähe performativ umzusetzen. Die dritte Rückkehr-Erzählung in Ein anderer Ort ist eigentlich keine. Sie verharrt in der Potentialität und steht zudem in direkter Abhängigkeit von der zweiten Bewegungsfigur: dem Besuch von Sacharja/Siegfried Berger in Mezudat Ram, der den zweiten Teil des Romans dominiert. Er bezeichnet sich selbst wiederholt als „Spion im Auftrag einer feindlichen Macht“ (EaO 302f.), dessen Mission darin besteht, die schwangere Noga Charisch zur Reise nach Deutschland zu überreden und sie zu ihrer Mutter nach München zu bringen. Zunächst kommt dieses Vorhaben durchaus den Ansichten im Kibbuz entgegen und offenbart neben Wiedergutmachung und Rache eine dritte, bislang wenig berücksichtigte Deutung der Rückkehr nach Deutschland. Die Genossen und Genossinnen mögen Noga Charisch nicht. Wir fürchten den wilden Geist, den sie in unser Leben hineingetragen hat. Im Innern wünschen wir, daß sie von hier wegginge. Daß wir sie nicht mehr sähen. Daß sie für ihren Stolz bestraft würde. Nicht ihre Schwangerschaft empört uns. Ihre Sturheit und Arroganz sind uns fremd. […] Am liebsten wäre uns, sie verschwindet. (EaO 343)

Eine Zeitlang erscheint Nogas Abwanderung also durchaus als kathartisches Versprechen für den Kibbuz, als ein Weg, durch Absonderung der „bösen“ Schlacken den moralischen Verfall aufzuhalten und die Ordnung wiederherzustellen. Doch es entspinnt sich ein regelrechter Kampf um die Seele des Mädchens zwischen Sacharja und der Kibbuz-Gemeinschaft. Natürlich wäre der Weggang eines Mädchens, das im Land geboren wurde, keine „Rückkehr“ im eigentlichen Sinne. Dennoch verwendet Sacharja Argumente von übergeordneter Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit, die das kollektive Selbstverständnis in Frage stellen. Er bietet eine alternatives „wir“ an und sagt zu Noga: Die Hauptsache ist, daß du mit mir fährst, ja, mit dem lieben Onkel Sacharja, zu deiner Mutter. Zu deiner Mutter nach Hause. Dort gibt es Wälder und Seen, goldenes Herbstlaub, niedrige dunkle Wolken, verträumte grüne Hügel. Dort lebt der stille Tod, und wir sind in seinem Schoß. Dort wird dein Kind zur Welt kommen. Dort bist du am richtigen Ort. Du, meine Süße, gehörst nicht hierher. Du wirst mit mir zu deiner Mutter fahren. Du bist nicht von hier. Du bist eine von uns. Eine der unseren bist du. (EaO 316)

Diese Argumentation weitet den von Oz bereits im Motto des Romans dargelegten Befund, die Einwohner von Mezudat Ram seien „nicht von hier“, auch auf die bereits im Land geborene Generation aus und eröffnet so die Perspektive einer Art „transgenerationellen Rückkehr“ auch für Noga. Inspiriert durch eine orthografische Spitzfindigkeit in der hebräischen Schreibweise von ‚Wiege‘ fragt sie sich, ob man zwei Wiegen, zwei Herkunftsorte – und damit letztlich auch zwei Orte für eine Rückkehr – haben kann (vgl. EaO 70). Diese Idee einer doppelten

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Herkunft weitet sich später zu einer regelrechten Doppelgängerfantasie: „Ein seltsamer, wilder Gedanke: Wenn ich nur zwei sein, mich verdoppeln könnte. Eine führe und eine bliebe. Dort und hier sein.“ (EaO 356)26 Nogas ‚Rückkehr‘ nach Deutschland findet am Ende nicht statt. Der verbitterte und mit allen Regeln der Manipulation und List geführte Kampf um sie und um das uneheliche Kind kann zuletzt nur entschieden werden kann, indem Sacharja von der Gemeinschaft aus dem Kibbuz verbannt und die hochschwangere Noga mit ihrem Jugendfreund Rami verheiratet wird. Zudem haben Ruven und Bronka ihre Affäre beendet und letztere ist noch vor Ruvens Tod zu Esra zurückgekehrt, sodass die soziale und moralische Ordnung im letzten Kapitel des Romans wiederhergestellt und in einem Maße gefestigt erscheint, dass sie zu einem „letzten Bild“ gerinnt. Bevor jedoch dieses letzte, von jeder Bewegung befreite Bild mit dem Titel „Liebe“ genauer betrachtet und auf seine Widersprüchlichkeit hin untersucht wird, soll der Blick noch einmal auf den Besuch Sacharjas im Kibbuz gerichtet werden, also auf die temporäre Rückkehr des Rückkehrers, die den zweiten Teil des Romans bestimmt.

4.

Der Besucher als Heimsuchung

Die vorübergehende Anwesenheit des Verwandten, der die von Noga erträumte Doppelexistenz in seinen zwei Namen bereits verwirklicht hat, bringt die seit Evas Weggang fragil gewordene Ordnung des Kibbuz endgültig in Gefahr. Mit ihm dringt die Möglichkeit des „anderen Ortes“ offen in das Kibbuzleben ein und droht, eine erneute Abwanderung auszulösen – ganz ähnlich wie sechs Jahre zuvor der Besuch von Isaak Hamburger die Rückkehr von Eva zur Folge hatte. Das wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis ein solcher Besucher vom „anderen Ort“ zur Gemeinschaft vor Ort steht und weshalb er – anders als die Touristengruppen, die zu Beginn des Romans durch den Kibbuz geführt werden – eine derartige Bedrohung darstellt. Das erzählende Kollektiv bezeichnet Sacharja abwechselnd als Besucher, Fremden, Tourist und Gast. Es ist dieses unbestimmte Außerhalb seiner Position gegenüber der Gemeinschaft, von dem die Gefährdung der inneren Ordnung ausgeht. Im Gegensatz zu den Angekommenen, den Ansässigen von Mezudat Ram ist er der „potenziell Wandern26 In seinem Aufsatz über das Unheimliche bestimmt Sigmund Freud den Doppelgänger gerade dadurch, dass ihm „alle unterbliebene Möglichkeiten der Geschicksgestaltung, an denen die Phantasie noch festhalten will, […] sowie all die unterdrückten Willensentscheidungen, die die Illusion des freien Willens ergeben haben“ einverleibt werden. Freud [1919], 1970, S. 259. Genau diese Idee des Doppelgängers, der gleichzeitig bleibt und geht, hat Yehuda Amichai zum Strukturprinzip seines Romans Nicht von jetzt, nicht von hier (1963) gemacht, der ebenfalls die Frage einer besuchsweisen Rückkehr nach Deutschland behandelt.

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de“, jener prototypische Fremde, von dem Georg Simmel sagt, er zeichne sich dadurch aus, dass er Qualitäten in ein Umfeld hineinträgt, die nicht aus diesem Umfeld stammen.27 Anders jedoch als Simmels Fremder ist Sacharja als Bruder eines der Gründer des Kibbuz zumindest in verwandtschaftlicher Hinsicht „organisch verbunden“ und kann somit nicht die von Simmel angeführte „Objektivität des Fremden“ für sich in Anspruch nehmen.28 Sacharja ist der Vertraute, der als Fremder zurückkehrt, und mithin eine Verkörperung dessen, was Freud als das Wesen des Unheimlichen bestimmt hat. Sein Besuch lässt sich als Heimsuchung des Kollektivs durch die eigenen, verdrängten Erinnerungen lesen. Er repräsentiert den Verlust der Genossin Eva Hamburger und ist Beweis für die Existenz jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945, also an einem „anderen Ort“. Sein Besuch schiebt sich als Keil zwischen die Kibbuz-Bewohner und das Land, auf bzw. in dem sie leben. Für diese Heimsuchung hat Oz ein eindrückliches sprachliches Bild gefunden. Zu den großzügigen Geschenken, die Sacharja im Widerspruch zu den Kibbuz-Prinzipien und zum allgemeinen Boykott deutscher Produkte aus Deutschland mitgebracht hat, gehört eine Modelleisenbahn. Diese funktioniert „nach dem Prinzip des geschlossenen Stromkreises, genau wie das vielgerühmte europäische Eisenbahnnetz.“ (EaO 289) Gemeinsam mit seinem Neffen Oren erobert er den verborgenen Raum zwischen den Stützpfeilern des Hauses auf dem modrigen Grund unter der Bergerschen Wohnung und Veranda. Siegfried verlegte dort ein kompliziertes Schienennetz, dessen Stränge sich über Berge und Täler, durch Tunnels und über Brücken wanden. Dazu gab es Kreuzungen und Bahnhöfe, kühne Steilhänge und irre Verzweigungen, dem Geist stürmischer Phantasie entwachsen. (EaO 395f.)

Unvermittelt materialisiert sich so im ‚Verborgenen‘, im Unbewussten unter einem Haus im Kibbuz ein Abbild des kollektiven Traumas von der Deportation und Vernichtung der europäischen Juden und ein im Land Israel geborener Junge provoziert Zugunglücke und berauscht sich an der „Lust völliger Herrschaft […], wenn die Finger flink über die Kontrolltafel gleiten und mit federleichtem Druck viele Schicksale entscheiden.“ (EaO 398) Die Heimsuchung als Wiederkehr eines verdrängten Anderen durchzieht den Roman auch in Form intertextueller Verweise. Unter einer Textoberfläche, die von Bibelversen und Passagen aus der jüdischen Schrifttradition durchsetzt und mit Gedichtzeilen von kanonischen Vertretern der modernen hebräischen Literatur wie Chaim Nahman Bialik, Shaul Tschernichowski und Nathan Alterman geschmückt ist, drängt das kulturelles Erbe des gebannten anderen Ortes an die Oberfläche: Der doppelgesichtige Sacharja/Siegfried lässt hinter dem biblischen

27 Vgl. Simmel 1992, S. 764f. 28 Vgl. ebd., S. 766.

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Propheten den Drachentöter der germanischen Mythologie aufscheinen. Die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm mit ihren dunklen Wäldern und grausamen Geschichten werden als Repräsentanten des „anderen Ortes“ benannt und sogar zur Erklärung der Herkunft des Bösen herangezogen: „Wer Grimms Märchen aufmerksam lese, werde begreifen, wieso dort ein Volk von Mördern und Werwölfen herangewachsen sei“ (EaO 42), erklärt Ruven Charisch. Noga verwendet bekannte narrative Muster von Prinz und Prinzessin, um die Beziehung zwischen ihrer Mutter, Isaak und ihrem Vater zu begreifen, und sucht dann „eine Lücke im Märchen, um reinzuschlüpfen“ (EaO 225). Auch Sacharja sieht in den alten deutschen Märchen den Ausdruck einer typisch deutschen Philosophie, die den Tod in den Mittelpunkt des menschlichen Lebens stellt. Und er sagt auch: „Das deutsche Genie Goethe deutet im wundersamen zweiten Teil des göttlichen ‚Faust‘ darauf hin.“ (EaO 326) Durch diese Bemerkung öffnet sich ein ganz neues Feld intertextueller Bezüge, das eine eigene Untersuchung rechtfertigen würde. In der Tat scheinen beide Teile von Goethes Faust eine Art Blaupause für den Plot und die Konfliktlinien des Romans zu sein: der Kampf zweier Mächte um eine reine Seele, die Schwangerschaft einer jungen Frau, die Verlockung, die ganze Welt zu sehen, die Urbarmachung eines Landes – und schließlich im letzten Kapitel ein Augenblick, der verweilt. In eigentümlicher Engführung von sitra ahra und Goethes Faust steht an der ˙ Spitze der diabolischen ‚anderen Seite‘ nicht der Todesengel Sama’el, sondern Sacharja/Siegfried in der Rolle des Mephisto, der mit dem „guten Engel“ Herbert Segal „über eine unschuldige Seele streite[t]“ (EaO 393). Inmitten einer Häufung von Theatermetaphern wird Sacharja von Ruven Charisch kurz vor dessen Tod auch direkt als „Papierteufel“, als „Teufel aus Pappmaché“ (EaO 435) beschimpft. Allerdings wird er vom Erzähler zu keinem Zeitpunkt für sein Tun verurteilt. Vielmehr wird ihm Verständnis entgegengebracht. „Sacharja Siegfried könnte einem auf den ersten Blick tatsächlich wie ein Schuft vorkommen, kennte man seine Vergangenheit, seine Auffassungen und seinen Familiensinn nicht.“ (EaO 336) Und an anderer Stelle heißt es „Wir werden keinen Stein auf ihn werfen.“ (EaO 364) In der unauflösbaren Durchdringung von Gut und Böse ist auch er in der Lage, Mitleid zu erregen. Gershon Shaked kommt aufgrund dieser ambivalenten Haltung und des beständigen Relativierens der Urteile durch den Erzähler zu dem Schluss: Im Roman Makom Aher zeigt der Verfasser Sympathien für die Abwandernden, die in Deutschland ihre Erlösung suchen […]; dagegen wecken diejenigen wie Ruven Charisch […], die dem Land treu bleiben, keine Zuneigung beim Leser und es scheint, als enthülle der Verfasser die teuflische Seite. Oz zufolge ist die satanische Sprengkraft im zionistischen Master-Narrativ selbst verborgen.29 29 Shaked: Ha-Siporet Ha-Ivrit, 1998, S. 93.

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5.

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Das letzte Bild

Mit Blick auf die hier diskutierten Rückkehr-Erzählungen geht der Roman über die bloße Infragestellung des zionistischen Master-Narrativs, den Verweis auf Gegenmodelle und das Insistieren auf der Existenz eines anderen Ortes weit hinaus. Er durchkreuzt die Dichotomie von Einwanderung und Abwanderung, von Aufstieg und Abstieg, von Land Israel und Welt, von Gut und Böse durch eine differenzierte, vielfältige und in sich durchaus widersprüchliche Erörterung der Beweg-Gründe für diese oder jene Entscheidung. Oz zeigt nicht nur das Teuflische im Zionismus, sondern umgekehrt auch das Gute bzw. Göttliche in den Rückkehrern, den Repräsentanten des „anderen Ortes“ und überwindet jeglichen Dualismus letztlich, ebenso wie das kabbalistische Modell, mit dem Argument von einem in der anderen Seite enthaltenen Funken. Die unauflösbare Dialektik der Darstellung folgt dabei der bereits eingangs zitierten Auffassung von Ruven Charisch, „daß das Leben vielgestaltig ist und einfache Formeln sprengt“. Dass aber diese auf mehr als vierhundert Seiten in alle Richtungen entfaltete Komplexität zuletzt recht unvermittelt in einem einzigen, als „Letztes Bild“ bezeichneten Figuren-Tableau mündet, bedarf einer Erklärung. Gershon Shaked meint hierzu: Ein großer Teil der Auflösung der Handlung, der Lösungen am Ende von Makom Aher ˙ […] ist eine Art zionistisches ‚Happy End‘, eine Art Bereitschaft, die eretz-israelische Realität als etwas anzuerkennen, mit dem man sich zwar auseinandersetzen, aber am Ende arrangieren muss.30

Gerade unter Berücksichtigung der erwähnten Bezüge zu Goethes Faust ist dieser letzte Augenblick, den der Erzähler verweilen lässt, ein überaus zweischneidiges ‚Happy End‘. Bei Goethe ist es der letzte Moment vor dem Tod der Hauptfigur, das Ende seines Strebens nach Erkenntnis. Bei Oz beschreibt der scheidende Erzähler einen Freitagabend im Haus der Familie Berger, eine Art harmonisches Familienportrait und wechselt dann mit direkter Apostrophe an den Leser in den Imperativ: Auf den weggerückten Sessel wird ein Lichtkegel fallen. Kein Mensch sitzt darin. Sieh dort keine Männer und Frauen, die an einen anderen Ort gehören. Du mußt den Regen an die Fenster klatschen hören. Mußt nur die anblicken, die hier im warmen Zimmer zusammen sind. Mußt jeden störenden Schleier von den Augen wischen. Mußt klar sein. Laß die einzelnen Stimmen dieser großen Familie in dein Innerstes eindringen. Du mußt dich sammeln. Mußt Kräfte sammeln. Entspannt durchatmen. Vielleicht die Augen schließen. Dann gib diesem letzten Bild den Namen Liebe. (EaO 444)

30 Ebd., S. 223.

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Nimmt man diese Anweisungen ernst, so sind sie eine Aufforderung, wegzuschauen, den eigenen Blick zu beschränken. Das letzte Bild von Ein anderer Ort ist das Ergebnis einer gewaltsamen Stillstellung, der Beseitigung jeglicher Bewegung zwischen Orten und der Verbannung des „störenden“ Gastes Sacharja Berger an einen Ort jenseits des Blickfeldes. Wie verschiedentlich bei Untersuchungen zur Figur des Gastes festgestellt wurde, stellt dessen „räumliche und zeitliche Unfixierbarkeit“ früher oder später eine Bedrohung dar, die den Gast selbst „dem Versuch seiner Tilgung“ aussetzt, entweder durch Assimilation oder – wie in diesem Fall – durch Ausschluss.31 Indem der Blick auf die Anwesenden beschränkt wird, kann die Voraussetzung der wiederhergestellten Ordnung ausgeblendet werden. Mit seiner Negation jeglicher Bewegung wirft das Ende des Romans aber auch die von DeKoven Ezrahi ins Spiel gebrachte Frage nach dem Moment der Ankunft und dem damit einhergehenden Ende des Erzählens und der Literatur überhaupt auf. Hier werden nicht nur die Konflikte der Romanhandlung gelöst; Handlung selbst kommt zum Erliegen und geht in den Zustand eines erstarrten Stilllebens über, das nicht mehr erzählt, sondern nur noch beschrieben werden kann. Mit Lessing könnte man argumentieren, dass sich Oz’ Roman in seinem letzten Kapitel radikal vom „eigentliche[n] Gegenstand der Poesie“ verabschiedet. An die Stelle von Handlungen treten „Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften“ – diese jedoch sind „die eigentlichen Gegenstände der Malerei.“32 Die Literatur als konsekutive Kunst im Sinne Lessings scheint in diesem letzten ‚Bild‘ an ihr Ende gelangt zu sein. Und so wie der leere Sessel des nunmehr überflüssigen Erzählers trägt auch der Modus der letzten Zeilen dieser Verschiebung Rechnung: Der narrative Indikativ wird ersetzt durch einen Imperativ des Blickes.

Literatur Brenner, Yosef Haym: Mi-Kan U-Mi-Kan [Von hier und von dort]. Warschau 1911 [Hebr.]. Cohen, Adir: Makom Aher [Ein anderer Ort]. In: Davar, 25. 11. 1966, S. 9 [Hebr.]. DeKoven Ezrahi, Sidra: Booking Passage. Exile and Homecoming in the Modern Jewish Imagination. Berkeley u. a. 2000. Diner, Dan: Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage. München 2015. Foucault, Michel: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. Hg. v. Karlheinz Barck, Peter Gente u. Heidi Paris. Leipzig 1998, S. 34–46. 31 Fountoulakis/Previsˇic´ 2011, S. 12. 32 Lessing [1766], 1990, S. 116.

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Fountoulakis Evi u. Brois Previsˇic´: Gesetz, Politik und Erzählung der Gastlichkeit. In: Dies. (Hg.): Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur. Bielefeld 2011, S. 7–27. Freud, Sigmund: Das Unheimliche [1919]. In: Ders.: Studienausgabe Band IV: Psychologische Schriften. Frankfurt a.M. 1970, S. 241–274. Grözinger, Karl Erich: Jüdisches Denken. Band 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus. Frankfurt a.M. 2005. Holtzman, Avner: Gershon Shaked’s history of Hebrew narrative fiction. A Zionist enterprise. In: Hebrew Studies 49 (2008), S. 281–289. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie [1766]. In: Ders.: Werke und Briefe. Band 5,2: Werke 1766–1769. Frankfurt a.M. 1990, S. 11–206. Oz, Amos: Ein anderer Ort. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Frankfurt a.M. 2001. Oz, Amos: Keiner bleibt allein. Aus dem Hebräischen von Nilly Mirsky u. Jörg Trobitius. Düsseldorf 1976. Scholem, Gershom: Sitra achra; Gut und Böse in der Kabbala. In: Ders.: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Frankfurt a.M. 1977, S. 49– 82. Shaked, Gershon: Ha’im Historiya Shel Ha-Sifrut Efsharit? [Ist Literaturgeschichte möglich?] In: Iggeret 20 (2001), S. 8–10 [Hebr.]. Shaked, Gershon: Modern Hebrew Fiction. Bloomington 2000. Shaked, Gershon: Ha-Siporet Ha-Ivrit 1880–1980, Kerekh He. [Die hebräische Prosa 1880– 1980, Band 5]. Jerusalem 1998 [Hebr.]. Shaked, Gershon: Geschichte der modernen hebräischen Literatur. Prosa von 1880 bis 1980. Frankfurt a.M. 1996. Shaked, Gershon: Kein anderer Ort. Über Saul Friedländer. In: Die Macht der Identität. Essays über jüdische Schriftsteller. Königstein/Ts. 1986, S. 181–191. Shoham, Dani: Di’alektika. Di’alektika. Di’alektika. Mizug Shel Stirot Be-Yetsirot Amos Oz [Dialektik. Dialektik. Dialektik. Die Vermischung von Widersprüchen in den Werken von Amos Oz]. In: Moznaim 75,4 (1991), S. 26–28 [Hebr.]. Simmel, Georg: Exkurs über den Fremden. In: Ders.: Gesamtausgabe Band 11: Soziologie. Frankfurt a.M. 1992, S. 764–771.

Ofer Waldman

Deutsche Distanzräume. Christa Wolf, Thomas Brasch und Marcel Reich-Ranicki1 Das andere Wort hinter dem Wort Der andere Tod hinter dem Mord Das Unvereinbare in ein Gedicht: Die Ordnung. Und der Riß, der sie zerbricht (Thomas Brasch)2

Im Jahre 1987 wurde die ostdeutsche Schriftstellerin Christa Wolf gebeten, den Träger des Heinrich von Kleist-Preises zu bestimmen und ihre Entscheidung öffentlich zu begründen. Ihre Wahl fiel auf den Dichter und Bühnen-Autor Thomas Brasch. So stand Wolf im Dezember desselben Jahres in einem Frankfurter Konferenzsaal, um ihre Entscheidung zu erklären – in Form einer Laudatio für Brasch. Es war eine bemerkenswerte Konstellation, in der eine ostdeutsche Autorin einen elf Jahre zuvor in den Westen gezogenen ostdeutschen Autor auf westdeutschem Boden ehrt. Der damalige politische Hintergrund verstärkte indes die Komplexität jener Konstellation: Michail Gorbatschows Politik begann die Fundamente des Ostblocks zu erschüttern, darunter auch die der DDR; Untergrundgruppierungen, überwiegend unter dem Schutz der Kirche, gewannen zunehmend an Stärke in der ganzen Republik, deren damaliger fragiler Zustand rückblickend ihren Kollaps erklärt.3 Jedoch sollte man nicht der Versuchung eines teleologischen Rückblickens erliegen, das 1987 als den Moment vor dem Moment begreift und die Kontingenz der politischen Entwicklungen im Angesicht der dramatischen Ereignisse der zwei Jahre später vollzogenen Wende nivelliert. Wolfs Rede und den darauf folgenden Reaktionen – vor allem denen des einflussreichen Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki – sind die hier angestellten Überlegungen gewidmet, die auf diesem Moment kurz verweilen möchten, auf dessen Geltung wie auch auf die in ihm enthaltenen Zeichen und Indikatoren jener Epoche. Dabei wird in einer produktiven literaturgeschichtlichen Spurensuche aus Prosatexten geschöpft, ohne die hermeneutischen Fallen zu missachten, die in einer geschichtswissenschaftlichen Betrachtung fiktionaler 1 Für ihre wertvollen Bemerkungen bei der Entstehung dieses Texts bedanke ich mich bei Yfaat Weiss, Galili Shahar und Karin Neuburger. 2 Brasch [1980], 2004. 3 Judt 2005, S. 675ff.

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oder autofiktionaler4 Texte lauern – also ohne in eine „vulgärpolitische Lesart poetischer Texte“ zu verfallen.5 Wolfs, Braschs und Reich-Ranickis Texte stellen die Frage nach der Verortung ihrer Verfasser – der geografischen und politischen, absoluten und relativen – in einem diskursiven Feld, das durch chronologische, politische und kulturelle Achsen vermessen wird. Die Frage der Verortung schließt auch die Frage nach Distanz ein: zwischen zwei deutschen Staaten, und auch zwischen jenen in ihnen lebenden Menschen. Das Verweben historischer in literarische Texte gibt, wenn auch implizit, einen Leitfaden, der wiederum die folgenden Erörterungen mit dem Thema des Sammelbands verbindet. Die soziokulturellen Umstände Reich-Ranickis und Braschs innerhalb beider deutschen Gesellschaften sind ebenfalls durch eine Distanz geprägt, die wiederum biografisch bedingt ist; dabei sind ihre Biografien, so unterschiedlich wie sie auch zu sein scheinen, genuine jüdische Biografien des 20. Jahrhunderts. Dabei ist die Existenz einer Distanz – welcher Art auch immer – der Frage des Rückkehrens, die diesem Sammelband zugrunde liegt, selbstredend immanent. Methodisch ergänzend wird im Folgenden der Fokalisierungsbegriff herangezogen, der im literarischen Kontext über den bloßen Distanzbegriff hinausgeht und die Verortung des Erzählers oder erzählenden Charakters innerhalb unterschiedlicher Erzählungen und Narrative beschreibt, und dadurch auch deren Positionierung und relative Distanz zu anderen Figuren.6 Der Verlagerung des Ironie-Begriffs vom gesellschaftspolitischen in den literarischen Kontext wird also das Augenmerk gelten, denn sie dient als Indikator für Restriktionen, die in einem Bereich gültig sind, im anderen aber umgangen werden können. Es wird danach gefragt, in welchem Themenbereich der „ironische Imperativ“7 als eine Kritik ermöglichende, der Reflexion wegen bewusst eingenommene Distanz eingesetzt wird.

1.

Christa Wolf – zwischen Identifikation und Entfernung

Im Vorwort seines Buches Die ironische Nation stellt Heinz Bude eine einschlägige Dichotomie zwischen dem vormaligen Osten und dem Westen Deutschlands vor.8 In seinem Versuch, die Zustände des geteilten Deutschland zu 4 Zum Begriff der Autofiktion, vor allem in jüdischer Literatur aus der DDR, siehe zum Beispiel: Balint 2013, S. 44ff. 5 Braun 1991, S. 32. Zitiert in: Emmerich 2009, S. 18. Emmerich bezieht diese hermeneutische Warnung explizit auf die Forschung der DDR-Literatur. 6 Rimmon-Kenan 2003. 7 Santner 1990, S. 18. 8 Bude 1999, S. 7–15.

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beschreiben, bezeichnet Bude die BRD als ironisch, während die DDR von ihm als tragisch beschrieben wird; die post-faschistische westdeutsche Ironie siegte, Bude zufolge, über den tragischen ostdeutschen Antifaschismus. Budes Verwendung des Ironiebegriffs beruht auf ihrem Verständnis als einer Strategie der Distanzierung,9 die gleichsam notwendig scheint bei der Behandlung empfindlicher Themen – beispielsweise bei Fragen der individuellen und kollektiven Identität oder der gesellschaftlichen Kritik innerhalb autoritärer politischer Systeme. In solchen Fällen vermag die sichere Distanz der ironischen Sprache einen Diskurs- und Ausdrucksraum zu eröffnen oder gar erst zu ermöglichen; Bude zufolge ist die „Ironie… die höchste Form der Reflexivität.“10 Er betont, dass die westdeutsche Distanzierung von der faschistischen Vergangenheit – dem Begriff des Post-Faschismus zu entnehmen – deren kritische Betrachtung erst ermöglichte, im Gegensatz zum ostdeutschen Anti-Faschismus, der die Vergangenheit durch Negation stets vergegenwärtigte.11 Ein der kritischen Distanz intrinsisches, sie voraussetzendes Moment ist die Entfernung, die sich durch das induktive Nebeneinanderstellen unterschiedlicher Zeitpunkte ausnehmen lässt. Um Christa Wolfs Wahl nachvollziehen zu können, einem Regimekritiker wie Thomas Brasch einen Preis zu verleihen – die durchaus als eine kritische Distanznahme von der offiziellen Politik der DDR interpretiert werden könnte – sollen die Spuren dieses Distanzierungsprozesses erkundet werden. So sollte die 1987 vorgetragene Laudatio anderen Zeitpunkten entgegengesetzt werden, wobei die Veränderung entlang der Zeitachse eine Änderung in der Positionierung der Autorin anderen Personen, Ereignissen und Kontexten gegenüber bedingt. Christa Wolf wurde 1929 im preußischen Landsberg an der Warthe als Christa Ihlenfeld geboren. Vor der roten Armee fliehend ließ sich die Familie im dem sowjetischen Einflussbereich unterliegenden Mecklenburg nieder, wo Wolf 1949 ihr Abitur bestand. Im gleichen Jahr trat sie in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ein – eine Mitgliedschaft, die bis Juni 1989 halten sollte. Ihr erstes Werk, die 1961 erschienene Moskauer Novelle12, bescherte ihr die Auszeichnung der Stadt Halle; zwei Jahre später schrieb sie jenen ihr zum Ruhm verhelfenden Roman Der geteilte Himmel.13 Dieses Werk, das durch die DEFA verfilmt wurde,14 behandelte die deutsche Teilung und den Bau der Berliner 9 Lapp 1992. 10 Bude 1999, S. 25. 11 Budes Schreiben ist ebenfalls nicht bar jeder Ironie: die westdeutsche Skepsis nennt er „Das Erfolgsgeheimnis des westdeutschen Aufstiegs aus Ruinen“, in einer direkten Anspielung auf die Nationalhymne der DDR. Bude 1999, S. 13. 12 Wolf: Moskauer Novelle, 1961. 13 Wolf: Der geteilte Himmel, 1963. 14 Wolf, Konrad, 1964.

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Mauer in der in diesem Zeitraum situierten Geschichte einer Liebesbeziehung. Es folgte der ebenfalls erfolgreiche Roman Nachdenken über Christa T.15, der die ostdeutschen gesellschaftlichen Entwicklungen streckenweise kritisch betrachtet, jedoch freilich ohne an den Grundüberzeugungen des herrschenden Systems – allen voran der Notwendigkeit der deutschen Teilung – zu rütteln. Zwischen diesen beiden Ereignissen zählte Wolf zur engeren Kandidatenliste für das Zentralkomitee der SED; ihre Kandidatur wurde jedoch aufgrund der von ihr erhobenen Kritik an der SED-Kulturpolitik abgewiesen. Nichtsdestotrotz genoss Wolf, die zeitweise zum Vorstand des DDR-Schriftstellerverbands gehörte, über Jahre hinweg eine fast unbeschränkte Reisefreiheit, um in literarischen und literaturpolitischen Angelegenheiten, wie auch zu Lesereisen in den Westen zu fahren. Sie wurde in Ost- und Westdeutschland mit mehreren Preisen, wie dem Büchner- und dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet, und war Mitglied der europäischen Akademie der Künste und Wissenschaften in Paris.16 Im Jahr 1976 unterschrieb Wolf zusammen mit einer Reihe ostdeutscher Intellektueller und Künstler eine Petition gegen die von der SED beschlossene Ausbürgerung Wolf Biermanns. 1976 ist auch der erste Zeitpunkt, den Wolf in ihrer Laudatio nennt: „Eine Szene [war mir] gegenwärtig, die vor elf Jahren in unserer Berliner Wohnung stattfand. Thomas Brasch sagte, er wolle weggehen. Er war nicht der erste, der da saß, aber er war der erste, dem ich nicht mehr abraten konnte.“17 Brasch verließ die DDR kurz nach dieser Begegnung; für Wolf markierte dies einen „Einschnitt“ in ihrem Leben, der für die Autorin die Frage evozierte: „Warum bleiben?“ Die Antwort auf die aufkeimenden ersten Zweifel dem Staat gegenüber, mit dem sich die Autorin bisher identifiziert hatte, lag für Wolf im Fortsetzen ihrer literarischen Arbeit. Drei Jahre später schreibt sie die Erzählung Was bleibt. In der festen Überzeugung, dass das Manuskript von sämtlichen DDR-Verlagen abgelehnt werden würde,18 veröffentlicht Wolf den Text jedoch erst 1990 in überarbeiteter Form.19 Die Erzählung beschreibt die Bespitzelung einer Frau, die starke autobiografische Züge Wolfs trägt, durch den ostdeutschen Staatssicherheitsdienst Ende der Siebziger Jahre. Die Erzählung berichtet davon, wie in ihre Privatsphäre eingedrungen wird, wie Gespräche abgehört werden, wie 15 16 17 18 19

Wolf: Nachdenken, 1968. Hilzinger 2007. Wolf: Laudatio für Thomas Brasch, 1988, S. 55. Bark/Langermann/Lokatis 1998. Wolf: Was bleibt 1990. Dieser Text stellt ein geschichtsdisziplinäres Problem dar, denn die Autorin legt freilich nicht offen, welche Teile aus dem Jahre 1979 stammen und welche von 1990. Über den Verdacht, ihr eigenes Tun durch diesen Text apologetisch und rechtfertigend darzustellen und die daraus zu schließenden emblematischen Merkmale für den ostdeutschen Literaturbetrieb nach der Wende siehe: Wittek 1997.

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Freunde und Kollegen ihr aus dem Weg gehen, um nicht ebenfalls bei den Herrschenden in Misskredit zu geraten. Andere Freunde wiederum bespitzeln sie im Dienste der Herrschenden. Die Erzählung beschreibt die Versuche der Frau, die sich als mit dem ostdeutschen Staat im Einklang stehend betrachtet, die so entstandene Kluft zu überbrücken20 – wobei diese Kluft damit erst recht bestätigt wird. Nach der Wende hat Christa Wolf auf diese Erzählung und auf ihre Veröffentlichungsgeschichte verwiesen, um die Kluft zu belegen, die lange schon zwischen dem Staat und ihr entstanden war; aufgrund der zeitlich aufgeschobenen Veröffentlichung scheint es allerdings geboten, diese Hinweise mit Skepsis zu betrachten. 1983 veröffentlicht Wolf ihre Erzählung Kassandra.21 Während es sich bei Was bleibt. unverkennbar um einen stark autobiografisch geprägten Text handelt, wird Kassandra als Fiktion ausgewiesen; die allegorische Hülle ist jedoch so dünn, dass man sich über die ostdeutsche Zensur wundert, die dieses Buch genehmigte.22 Kassandra – jene Figur aus der griechischen Mythologie, die die Gabe der Vorhersehung besaß, mit dem Fluch des Nicht-Gehört-Werdens belegt, hält in Wolfs Erzählung einen langen, atemlosen Monolog. Unmittelbar darauf wird sie, Tochter des Königs im besiegten Troja, durch die siegreichen Griechen hingerichtet.23 Die Gleichsetzung der Autorin Christa Wolf mit der von ihr entworfenen Figur der Prophetin, die den nahen Kollaps ihres Staats prophezeit, lag nahe. Diese Gleichsetzung muss jedoch kritisch kontextualisiert werden, geht sie doch von der Annahme aus, dass das autoritäre System Schriftstellerinnen und Schriftsteller dazu bringt, die Grenzen zwischen journalistischem, poetischem und politischem Schreiben gleichsam zu überschreiten und zu verwischen. Wolf selbst sprach in ihrer Laudatio diese Frage an, indem sie die Fähigkeit des westdeutschen Lesepublikums anzweifelte, Literatur „aus dem anderen deutschen Staat [zu verstehen], so, als mache der andere Hintergrund ihre scharfen Konturen unsichtbar.“24 Hier ist eben jene Verlagerung der kritischen Distanz vom Politischen ins Literarische angesprochen, wie sie aufgrund der Restrik20 In einem Absatz beschreibt Wolf wie sie, aus einem Impuls heraus, den sie beobachtenden Agenten vor aus dem Fenster zuwinkt, und wie diese ihr per Lichthupe antworten. Darauf schreibt sie: „Empfanden nicht Kinder so, wenn der erzürnte Vater ihnen durch ein kurz angebundenes ‚gute Nacht!‘ bedeutet hat, daß er nicht unversöhnlich ist?“ Wolf: Was bleibt, 1990, S. 20. 21 Wolf: Kassandra, 1983. 22 Jene Zensur wird von Wolf angespielt: „Seit wann entschied ein Offizier über den Gebrauch von Wörtern?“ Ebd., S. 77. 23 „Für alles auf der Welt nur noch die Vergangenheitssprache […] Die Zukunftssprache hat für mich nur diesen einen Satz: Ich werde heute noch erschlagen werden.“ Ebd., S. 23. 24 Wolf: Laudatio für Thomas Brasch, 1988, S. 57. Im Echo dieser Kritik des Westens steht der folgende Satz aus „Kassandra“: die Griechen „[bezögen] die eisernen Begriffe Gut und Böse nicht nur auf sich […] Sondern zum Beispiel auch auf uns.“ Wolf: Kassandra, 1983, S. 144.

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tionen in einem totalitären Staat in den Werken vieler Autorinnen und Autoren der DDR zu beobachten ist. Die Allegorie von der düsteren trojanischen Realität, so wie Wolf sie in Kassandra beschreibt, soll indes bei gebotener Vorsicht im Kontext der DDR im Jahre 1983 gelesen werden. So terrorisiert die Geheimpolizei die Bürger Trojas; Kassandra selbst wird von Vertrauten des Königs Priamos ständig beobachtet,25 während Trojas Kampf mit den Griechen seinem unaufschiebbaren Ende naht, dessen sicheres Resultat die Niederlage, die Destruktion, den Tod bedeutet. Durch Kassandra signalisiert Christa Wolf ihre Distanzierung vom Staatsapparat – vom erzählerischen „Palast“. Der Begriff der Fokalisierung bindet hier eine Verkettung von Distanz: Die Erzählinstanz, die in der ersten Person Präteritum als die Autorin Christa Wolf schreibt, fügt in der Erzählung einen zweiten Distanzbezugspunkt hinzu: sie beschreibt die spätere, vor der Hinrichtung stehende Kassandra, die wiederum über die frühere Kassandra berichtet. Diese erlebt in einer erzählten Gegenwart den Prozess, in dem sie ihren Glauben an die Götter Trojas verliert, während sie dem Volk weiterhin als Prophetin und Traumdeuterin gilt, und – ebenso wie die Autorin Christa Wolf mit dem ostdeutschen Staat bis zu seinem Ende identifiziert wurde.26 Diese Spannung besteht ebenfalls zwischen beiden Titeln Kassandras: zu Beginn der Erzählung wird sie als „Königstochter“ bezeichnet, allmählich weicht aber diese Bezeichnung dem Titel „Die Seherin“. Versuchte Wolf in früheren Texten ihre Zweifel an dem Staat DDR noch zu überwinden, so lässt sie in Kassandra die aussichtlose Realität, in der sie lebt, und ihre eigene Ohnmacht wiederhallen.27 Mit hermeneutischer Vorsicht lässt sich freilich folgendes vermuten: Wolfs Troja kann durchaus als ein Abbild der DDR gelten, die intrigante königliche Familie als die paraphrasierten Führungskräfte der SED, die die Erkennung des herannahenden Endes verweigern, trotz der Warnungen der Seherin, der Königstochter – der möglichen literarischen Analogie der Autorin selber.28 Die literarische Ironie, die doppelte Distanz zwischen Christa Wolf und der Erzählinstanz, zwischen gegenwärtiger und früherer Kassandra, wird zum zentralen Instrument in diesem Text, um die politische Distanznahme darzulegen. 25 „Bewacher? Fragt König Priamos, Beschützer seien die jungen Burschen […] wer nichts zu verbergen habe, braucht das Auge des Königs nicht zu scheuen.“ Ebd., S. 68. 26 Ebd., S. 128–133. 27 Unterfüttert wird dies durch die begleitenden, gleichsam „kassandra’schen“ Texte die am Ende des Buches abgedruckt sind: diese beschreiben die Sinnlosigkeit und Bedrohung des atomaren Rüstungswettlaufs zwischen Ost und West: „Voraussetzung einer Erzählung: Kassandra.“ 28 „Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein anderes Ziel geführt.“ Ebd., 5. Vgl. auch: Schirrmacher 1995, S. 84.

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Kassandra lässt sich als ein Indiz für den Distanzierungs- und Ironisierungsprozess lesen, in dem sich Christa Wolf im Jahr 1983 gegenüber dem SED-Regime befand. Auch in der Laudatio für Thomas Brasch gibt Christa Wolf diese Entfernung zu erkennen. Jedoch muss vor zu schnell gezogenen Dichotomien ironischer Prozesse gewarnt werden; eine Kritik am SED-Regime impliziert daher nicht zwingend eine Bevorzugung des westdeutschen Staates – der Griechen im kassandra’schen Erzähluniversum. So rief Wolf die Demonstranten am Berliner Alexanderplatz im Jahre 1989, kurz vor der Öffnung der Mauer auf, in der DDR zu bleiben und sie neu aufzubauen, ohne sich von einer deutschen Einheit verführen zu lassen.29 Jedoch wird damit das Spätere dem Früheren vorgezogen.

2.

Polemische Momente

1987 erfolgte die Verleihung des Kleistpreises an Thomas Brasch, bei der Christa Wolf die Laudatio hielt. Brasch, der Sohn kommunistischer Eltern jüdischer Herkunft, wurde im Londoner Exil geboren und zog nach dem Krieg mit seiner Familie in die Sowjetisch besetzte Zone (SBZ). Er schrieb Gedichte, Theaterstücke und Kurzgeschichten, jedoch wurden die meisten seiner Texte nicht zur Veröffentlichung freigegeben, da sie, so die Kritik, eine „grobe Verzerrung der DDRArbeitswelt“ darstellten.30 Eine von ihm mitgetragene Protestaktion gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings auf den Straßen Berlins brachte Thomas Brasch für lange Monate ins Zuchthaus. 1976 verließ er, von der Unmöglichkeit eines öffentlichen literarischen Schaffens ernüchtert, die DDR und ging in den Westen.31 Was ist eine Laudatio? Der Begriff leitet sich vom lateinischen „Laudare“ her. Es ist also eine Lobrede, zumeist vorgetragen anlässlich der Auszeichnung einer Person. Hannah Arendt verweist auf die Problematik, dass zwischen der gelobten Person und dem gelobten Werk zu unterscheiden sei; nur Letzteres gehöre in die Welt der Geisteswissenschaften.32 Arendt zufolge bezieht sich die Laudatio jedoch nicht so sehr auf das Werk des Gelobten, sondern vielmehr auf seine Person selbst, auf seinen „ungewissen, immer auch abenteuerlichen Gang durch die Geschichte.“33 Die Laudatio wird in der Öffentlichkeit vorgetragen, und es ist jene Öffentlichkeit, die sowohl dem Werk der Person, wie auch jener zu ihren Ehren vorgetragenen Laudatio die nötige Bedeutung verleiht. Arendt trennt indes nicht so sehr zwischen Subjekt und Objekt, sondern zwischen dem Subjekt und dem, 29 30 31 32 33

Wolf 1994, S. 11. Brasch 1977, S. 79–81. Wilke 2010, S. 19ff. Arendt 1958. Ebd., S. 2.

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was in der Öffentlichkeit erscheint – dem Personenhaften.34 Jenes Personenhafte kann wiederum nur in der Öffentlichkeit erscheinen, es bedarf dieser Öffentlichkeit gar zu seinem Hervortreten. So ist die Laudatio grundlegend der Inbegriff einer kritischen Reflexion, einer durch jenen öffentlichen Raum geschaffenen Distanz. Die von Wolf zu Ehren Braschs vorgetragene Laudatio sollte demnach jenes „Personenhafte in einem Menschen“ wiedergeben. Wolf versuchte demzufolge mithilfe von Ausschnitten aus Braschs Arbeit – und den Werken Kleists, nach dem der Preis benannt wurde – Braschs Abbild im Spiegel der Öffentlichkeit zu beschreiben. Jedoch wird die These vorangestellt, dass hier wieder eine Distanzverkettung vorliegt: Wolf gedenkt Brasch zu beschreiben, beschreibt jedoch die Landschaft des innerdeutschen Bruches, in dem sie selber agiert, den sie beeinflusst und von dem sie beeinflusst wird. Durch die Widerspiegelung des Personenhaften bei Brasch, das „über die Schultern guckt, so daß [es] von allen, die einem Menschen begegnen eher gekannt werden kann als von ihm selbst“,35 gibt Wolf ihr eigenes durch die Öffentlichkeit hergestelltes (und von jener Öffentlichkeit kritisiertes) Spiegelbild wieder. Wolf stellt zu Beginn ihrer Rede eine zentrale Relationsachse zwischen ihr und Brasch her und behauptet, ihre Wahl fiele auf Brasch aufgrund der „spannungsreichen Entwicklung der Literatur in der DDR, mit den Widersprüchen, der Fremdheit, der Neugier, dem Neid zwischen den Generationen, der Neigung zu Schuldgefühlen Älterer gegenüber Jüngeren.“36 Braschs Vorstellung als Repräsentant der jüngeren DDR-Generation37 korrespondiert mit der zentralen Stellung des Generationsbegriffs im Werke Wolfs.38 Wie Frank Schirrmacher bemerkt, gehört Wolf einer Generation an, die die aus dem zweiten Weltkrieg resultierende Schuld und Verantwortung ihrer Eltern erkannt und sich deshalb von jener Kriegsgeneration distanziert hat – ein Vorgang, der sich in beiden deutschen Staaten vollzog, wenn auch auf unterschiedliche Art.39 In der BRD erschuf diese Entwicklung jene sogenannte skeptische Generation, die prominent durch Günther Grass vertreten wurde.40 In der DDR begriff Wolfs Generation den ostdeutschen Staat als Gegenreaktion zum NS-Staat und zur Elterngeneration, die diesen verantwortete; dies führte zur Verfestigung ihrer politischen Identi34 35 36 37 38

Ebd., S. 3. Ebd. Wolf: Laudatio für Thomas Brasch, 1988, S. 55. Ebd., S. 57. Zur kritischen Diskussion des „Generations“begriffs als Indikator gesellschaftlicher Periodisierungsräume siehe: Weissbrod 2005. 39 Schirrmacher 1995, S. 84. 40 Bude 1999, S. 13. Grass beteuert explizit, dass er und Wolf zu ein und derselben Generation gehören: Grass 1990, S. 138.

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fikation mit dem SED-Regime, insofern sie den NS-Staat verurteilten.41 Schirrmacher erweitert diese Argumentation und behauptet gar, Wolfs Generation hätte die von den Nazi-Verbrechern belasteten Eltern gegen die Gründer des sozialistischen Staates getauscht, die glorreich und unbefleckt aus dem Exil zurückgekehrt waren. Wolfs politische Ansichten werden demnach als familiäre Angelegenheit bezeichnet.42 Jene Argumentation Schirrmachers trifft die Identifikation Wolfs mit der DDR im Kern, verfehlt aber das Moment ihrer Entfernung: dies mag, wie bei jener Generation oft anzutreffen ist, ebenfalls biografisch bedingt sein.43 In ihrer Rede sagte Wolf, dass „weil in der deutschen Geschichte nichts human zu Ende geführt wurde, müssen immer die Jüngeren sich gegen ihre Väter, Mütter erheben.“44 Dieser intergenerationelle Konflikt, von Bude als „Ironisierung der Sozialverhältnisse“ beschrieben,45 existierte demnach zwischen jenen, die den ostdeutschen Staat als moralisches Bedürfnis begriffen, und jenen, die in die später sich etablierende ostdeutsche Realität geboren wurden und diese als feindselig erlebten.46 Thomas Brasch, Jahrgang 1945, gehört zu den Letzteren, wobei hier ein grundlegender Unterschied besteht: Die intergenerationelle Konstellation der Familie Brasch unterliegt, aufgrund ihrer jüdischen Herkunft, keinem Kriegsschuldkomplex wie es bei Christa Wolf und den meisten ihrer Generationsangehörigen der Fall ist. Das von Schirrmacher als familiärbedingt beschriebene politische Imperativ Christa Wolfs in ihrer Hinwendung zum Kommunismus existiert in der Familie Brasch gar nicht. Bei dieser besteht die intergenerationelle Spannung eher in der Auseinandersetzung mit dem von der Elterngeneration befolgten politischen Ziel, ein egalitäres, weil sozialistisches Deutschland zu erschaffen, in dem die jüdische Herkunft keine Rolle mehr zu spielen hätte.47 In dieser Verlagerung der intergenerationellen Auseinandersetzung, die Braschs literarisches Schaffen mitprägte, liegt womöglich das grundsätzlich Jüdische in Braschs biografischer Konstellation.48 41 „Der Prozess, in dem Schuldgefühle wie Erlösungshoffnungen sich mischen, hat einer ratlosen Generation Erlösung, moralische Kompensation, neue Väter verschafft, mit deren Hilfe man die verlorene Integrität zurückzugewinnen hoffte.“ Schirrmacher 1995, S. 84. 42 Ebd., S. 82–83. Wolf selber schreibt in Kassandra: „so drohte mich der Schmerz um den Verlust all dessen, was ich ‚Vater‘ nannte, zu erdrücken“. Wolf: Kassandra, 1983, S. 173. 43 Dies wird offensichtlich durch Schirrmachers Fokussierung generationeller Zugehörigkeiten, beispielsweise bei seiner 1998 vorgetragenen Laudatio zu Ehren von Martin Walser: Schirrmacher 1998. Vgl. auch: Eshel 2000, S. 342f. 44 Wolf: Laudatio für Thomas Brasch, 1988, S. 64. 45 Bude 1999, S. 14. 46 Ebd., S. 69. 47 Vgl. Hartewig 2000. In diesem Standardwerk beschreibt Hartewig anhand unterschiedlicher Biografien jene hier beschriebene sozialistische Assimilation. 48 Zu diesem Thema entsteht zurzeit eine Dissertation an der Hebräischen Universität Jerusalem wie auch an der Freien Universität Berlin (O.W.).

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Als Angehöriger einer zum Topos gewordenen Kindergeneration von jüdischkommunistischen Remigranten – wie Barbara Honigmann und Jurek Becker – verkörpert Brasch demnach zweierlei Konflikte: einen implizierten, jüdischen Konflikt, zwischen dem Glauben an ein mögliches egalitäres Deutschland – der DDR, also – und der Realität einer von Brasch genannten gesamtdeutschen Tragödie;49 wie auch dem von Wolf beschriebenen intergenerationellen Konflikt: Sein Vater, ein jüdischer Remigrant, SED-Mitglied und Stellvertreter Kulturminister in der DDR, verlor seinen Posten, nachdem sein Sohn Flugblätter gegen den Überfall des Warschauer Paktes auf Prag verteilte.50 Für Brasch war es ein Anliegen, sein erstes Buch in der DDR zu veröffentlichen; als dies sogar bei dem relativ freizügigen Hinstorff Verlag in Rostock51 nicht zu gelingen vermochte, verließ er das Land mitsamt seinem Werk, das er im Westen unter dem signifikanten Titel Vor den Vätern sterben die Söhne veröffentlichte.52 Jene doppelte biografische Verschränkung, die Wechselwirkung von Anziehung und Abstoßung, wird ein Jahr nach seiner Übersiedlung in einem seiner bekanntesten Gedichte, die in Wolfs Rede ebenfalls vorkommt, festgehalten: Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber / wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber / die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber / die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber / wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber / wo ich sterbe, da will ich nicht hin: / Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.53

Wolf, die laut Schirrmacher selbst in einem semi-familiären, ambivalenten Verhältnis zwischen Distanz und Nähe zur Gründergeneration der DDR stand, folgt jenem generationellen Paradigma und verortet Braschs Widerstand gegen die DDR, den sie „Kindlich wie plebejisch“ nennt,54 in einem familiären Rahmen. Dabei klammert sie seine andere, weil jüdische, intergenerationelle Konstellation vollkommen aus; dies ist ein weiterer Hinweis, dass es ihr eher um ihre eigene politische Auseinandersetzung ging, als um jene von Brasch. Vor dem Hintergrund ihrer Verschränkung familiärer und politischer Räume interpretiert sie seinen Weggang als „Flucht von Zuhause“. Der Generationsbegriff bedingt hier daher leitend einen, sämtliche Distanzverhältnisse heraushebenden Fokalisierungspunkt; gleichzeitig verwischt die generationelle Äquivalenz zwischen beiden deutschen Staaten deren trennende

49 Wilke 2010, S. 22: Im Gespräch mit der Deutschen Zeitung sagte Brasch, dass „Deutschland eine Tragödie hat, und sie ist geteilt.“ (Hervorhebungen im Original). 50 Baumgartner/Hebig 1996. 51 Bark/Langermann/Lokatis 1998. 52 Brasch 1977; siehe: Wilke 2010, S. 12. 53 Brasch 1977, zitiert in: Wolf: Laudatio für Thomas Brasch 1988, S. 58. 54 Wolf: Laudatio für Thomas Brasch, 1988, S. 61.

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Grenze. So genoss Wolfs 1976 veröffentlichtes Werk Kindheitsmuster, das über Kindheitserfahrungen in Zeiten des „dritten Reiches“ reflektiert, hohe Resonanz auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze; die gemeinsame Vergangenheit, die den Buchseiten innewohnte, überwand die geteilte Gegenwart.55 Wolfs Rede erstreckt sich also zwischen Verwischung und Verifizierung von deutschen Grenzen: die häufige Verwendung von Kleist-Zitaten und die Erwähnung, dass der nach ihm genannte Preis eine Tradition aus den Zwanziger Jahren sei,56 bestärken das gesamtdeutsche Fundament ihrer Rede. Gleichzeitig fordert Wolf jenes Fundament heraus durch die Behauptung, es gäbe zwei „deutsche Literaturen“, und bezweifelt, ob das westdeutsche Publikum gar imstande sei, die Literatur „aus dem anderen deutschen Staat“ richtig zu kontextualisieren und zu verstehen.57 Dies sei insofern wichtig, da dieser andere deutsche Staat, so Wolf, Braschs Kreativität begründete, „sei es durch Engagement, Übereinstimmung, Mitarbeit, Anstrengung, Reibung, Widerspruch, Widerstand“.58 Die Preisverleihung, die die innerdeutsche Grenze zeitgleich betont und konterkariert, stellte Wolf vor eine politisch nicht unheikle Herausforderung: ihre vorsichtige Wortwahl wird demnach von dem Umstand bedingt, auf beiden Seiten der Mauer gelesen zu werden. Indes verzichtet sie nicht ganz auf jenen, durch den „ironischen Imperativ“ bestimmten, aus der Distanz ausnehmenden kritischen Blick auf die DDR. Diese Kritik wird eingebettet, paraphrasiert, in die Beschreibung Braschs. Letzterer, so behauptet sie, stand „Zwischen zwei Wertesystemen […], die ihn beide vor falsche Alternativen stellen“ und weiter: „Vor die Wahl zwischen zwei Übeln gestellt, wählt er eines der Übel, hört nicht auf, es als Übel zu sehen“.59 In diesem Sinne zitiert sie auch die Werke Kleists, durch den, wie durch Brasch, „der Riß der Zeit“ führt.60 Das Anklingen der kleistschen Verse in der Laudatio exponiert indes den Standpunkt Wolfs. Kleist bereicherte den deutschen Literaturkanon mit einigen ikonischen Figuren, die gleichsam zum Synonym idealtypischer gesellschaftlicher Konstellationen wurden. So ist beispielsweise die Figur des Michael Kohlhaas, der auf einen blutigen Rachezug zieht auf der Suche nach idealer Gerechtigkeit im Angesicht willkürlicher Gewaltausübung vonseiten der Herrschenden.61 Eine andere, ikonische Figur ist jene des 55 Wolf: Kindheitsmuster, 1976. 56 „Ich wollte versuchen, der Tradition gerecht zu werden, in der dieser Preis seit den zwanziger Jahren steht“, Wolf: Laudatio für Thomas Brasch, 1988, S. 55. 57 Ebd., S. 57. Die Wortwahl Wolfs hier ist interessant wie schwierig; es gibt ja mehr als nur zwei „deutsche Literaturen“, beispielsweise im Hinblick auf Österreich oder die Schweiz. 58 Ebd., S. 64f. 59 Ebd., S. 64, 68. 60 Ebd., S. 56. 61 Kleist 1810.

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Prinzen von Homburg, der wegen einer aus Liebe verschuldeten Unaufmerksamkeit dazu verleitet wird, die Befehle seines Fürsten zu missachten. Das Urteil für eine solche Tat ist der Tod; der Prinz, der zu Beginn um sein Leben fleht, entscheidet sich um und weist die ihm angebotene Amnestie ab, mit der Begründung, das Gesetz und die Ordnung seien wichtiger als sein Leben.62 Die durch diese Figuren dargestellten Ideale – absolute Gerechtigkeit, absolute Folgsamkeit – werden durch die von Kleist offensichtlich ins Extreme und damit Lächerliche fortgeführt, sodass ihre allegorische Verwendung gleichzeitig eine destabilisierende, ironische Dimension birgt. Der „Prinz von Homburg“ wird an mehreren Stellen in Wolfs Laudatio zitiert; „Michael Kohlhaas“ jedoch, der Verfolger absoluter Gerechtigkeit – und als solcher ein zu erwartender Gast in jeder Kleist’schen Diskussion auf der Achse zwischen Ost- und Westdeutschland – sucht man in ihrem Text vergebens. Ironisch betrachtet, d. h. zwischen Identifikation und Distanz dem ostdeutschen Staate gegenüber, deutet diese Wahl Wolfs auf ihre argumentative Ausrichtung. So zitiert die Autorin die Geliebte des Prinzen von Homburg, Natalie: „Das Kriegsgesetz, das weiß ich wohl, soll herrschen, jedoch die lieblichen Gefühle auch.“63 Kleist dreht die Geschichte vielschichtig um, wenn sich am Ende des Stücks herausstellt, dass die meisten darin beschriebenen Ereignisse – wie der vermeintliche, liebesbegründete Ungehorsam – geträumt wurden: „Ein Traum, was sonst?“64 Wolf paraphrasiert diesen Satz, und fragt: „Ein Vaterland […] Das die geheiligte, wenn auch unnatürliche Ordnung zugunsten einer menschenfreundlichen Unordnung aufgibt?“, um mit den Worten Kleists zu antworten: „Ein Traum, was sonst.“65 Kleist entkoppelt Homburgs absolutes Pflichtgefühl von seiner Schicksalshaftigkeit durch dessen Projektion in einen Traum – oder mit der hier oft erwähnten Gegenüberstellung, er hebt seinen Text vom Tragischen ins Ironische. Wolfs Verwendung dieses Zitats gibt ihren eigenen Standpunkt nicht preis, weder zugunsten jener „geheiligten“ dogmatisch-sozialistischen Ordnung noch der „menschenfreundlichen Unordnung“ einer Reform der DDR: weder des „Kriegsgesetzes“ noch der „lieblichen Gefühle“. Die Frage, ob der „Traum“ in Wolfs Laudatio auf einen Reformwillen hindeutet oder eher auf die Zwecklosigkeit jeglichen Veränderungsimpulses, soll unbeantwortet bleiben: Stattdessen beharrt sie auf ihrer diffusen Haltung und beschreibt weiter den Fortgang von Braschs Verhältnis zum ostdeutschen Staat mithilfe seiner eigenen Worte: „Die Ordnung. Und der Riss, der sie zerbricht.“66 62 63 64 65 66

Kleist 1821. Kleist 1821, 4. Akt, 1. Bild, Zeile 1129. Zitiert in: Wolf: Laudatio für Thomas Brasch, 1988, S. 59. Kleist 1821, 5. Akt, 11. Bild, Zeile 1859. Wolf: Laudatio für Thomas Brasch 1988, S. 59. Brasch 1977. Zitiert in: Wolf: Laudatio für Thomas Brasch 1988, S. 59.

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Der Vergleich zwischen Kleist und Brasch entspringt, so Wolf, dem Umstand, dass beide ihre Arbeiten aus „gegensätzliche[n] […], beinah gleich starke[n] Bedürfnisse[n]“67 schöpfen; jedoch gibt indes die Schriftstellerin durch ihre Worte die Wirkung solcher gegensätzlichen Bedürfnisse auf sich selbst preis, zwischen auf familiärer Identifikation ruhender Rechtfertigung des ostdeutschen Staates und einer durch Einsicht in die Realität entstandenen, gleichsam kassandra’schen Kritik. Jedoch bedeutet jene Kritik keineswegs eine Bevorzugung des westdeutschen Staates. Kassandras Kritik der trojanischen Zustände nimmt keineswegs etwas von der Schärfe ihrer Verneinung des aggressiven, bedrohlichen griechischen Feindes. Wolf selber ließ wenig Zweifel daran, dass sie nicht zu den Befürwortern der Überwindung der deutschen Teilung zählt,68 die ja nach Wolf gar eine literarische Qualität besitzt. Aufgrund ihrer deutsch-deutschen Rezeption sieht sich Wolf als befähigt, die Linien gen Westen zu durchqueren,69 um Brasch jenen gesamtdeutsch legitimierten Preis zu verleihen; Brasch – und damit beendet Wolf ihre Rede – könne sich vorstellen, wieder im Osten präsent zu sein.70 Wolf, jene in dichotomen, familiären Kategorien denkende Autorin, macht von ihrem gesamtdeutschen Status Gebrauch und rettet vereinnahmend den verlorenen Sohn nach Hause, in die DDR. Jene Vereinnahmung, gebündelt mit der Behauptung Wolfs, die ostdeutsche Realität bedingte Braschs Kreativität, mitsamt der Mutmaßung, man könne die Literatur Braschs nur gegen den Hintergrund der DDR begreifen, entfachten die Kritik des damaligen FAZ-Literaturredakteurs Marcel Reich-Ranicki, die unter dem Titel Macht Verfolgung kreativ? Polemische Anmerkungen aus aktuellem Anlaß erschien.71 Wolfs knapper, kritikloser Beschreibung der Inhaftierungsumstände Braschs, die sogar die Unterstellung impliziert, Brasch hätte bewusst seine Verfolgung provoziert,72 setzt Reich-Ranicki eine ausführliche Biografie des Leidenswegs Braschs in der DDR entgegen. Diese ignoriert freilich ebenfalls instrumentalisierend den Umstand, dass Braschs Sohn hochrangiges Parteimitglied ist, und tritt Wolfs Haltung Brasch gegenüber mit scharfen Worten entgegen: „Wie soll man das nennen: Zynismus, Heuchelei oder ganz einfach Unverfrorenheit?“73 67 Wolf: Laudatio für Thomas Brasch, 1988, S. 56. 68 Wolf 1994. 69 1979 noch schrieb Wolf, „[…] daß Grenzverletzungen aller Art geahndet werden“; dies zeigt ebenfalls die von ihr zurückgelegte Identitätsstrecke der DDR gegenüber: Wolf: Was bleibt, 1990, S. 22. 70 Wolf: Laudatio für Thomas Brasch, 1988, S. 69. 71 Reich-Ranicki 1995, S. 37. 72 Wolf fragt quasi in Braschs Namen: „Baue ich in die Dinge kleine Spitzen ein, um weiter die Dornenkrone des Verbots tragen zu dürfen?“ Wolf: Laudatio für Thomas Brasch, 1988, S. 67. 73 Reich-Ranicki 1995, S. 39.

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Reich-Ranicki kritisiert Wolf schonungslos: sie sei seiner Ansicht nach die „humorloseste“ Autorin Deutschlands, geschwätzig, mut- und charakterlos, die der deutschen Literatur, bis auf den Roman Nachdenken über Christa T., nichts Bedeutungsvolles beigetragen habe. Der Kritiker unterstellt Wolfs Schreibstil, den er als „provinziell“ bezeichnet,74 Ironielosigkeit und das Fehlen jeglicher urbaneren Dimension: „Mut und Charakterfestigkeit gehören nicht zu den hervorstechenden Tugenden der geschätzten Autorin Christa Wolf […]. Den Ruf, Deutschlands humorloseste Schriftstellerin zu sein, kann ihr niemand streitig machen.“75 Reich-Ranicki, der als polnischer Jude erst in Berlin lebte, dann nach Polen ausgewiesen wurde, verbrachte den Zweiten Weltkrieg zuerst im Ghetto und dann, versteckt, in einem polnischen Bauernhof. Er diente dem polnischen Geheimdienst als Offizier in London, um dann in die BRD zu immigrieren,76 deren Blickparadigmen auf die DDR er gleichsam verinnerlicht hatte. So vermeidet er, die DDR bei Namen zu nennen und verwendet polemisch den Ausdruck „realexistierender Sozialismus zwischen Oder und Elbe“.77 Wolf gilt für ihn als die Staatsdichterin jenes abstrusen Staates, er identifiziert sie demnach mit dem repressiven System, dem Brasch vermeintlich seinen Rücken zu kehren gedachte, und beschuldigte sie der Missachtung jenes ironischen Imperativs der DDR gegenüber, einer Distanzlosigkeit also, die die Blindheit für die Untaten jenes Systems bedingte. Jedoch muss hier gefragt werden: wieso trommelt der Kritiker seine ganze Zungenschärfe zusammen, um eine von ihm als marginal bezeichnete Autorin schonungslos zu kritisieren – noch dazu durch Missachtung der Komplexität des Standpunkts Wolfs den ostdeutschen Institutionen gegenüber? Der Lebensabschnitt, in dem er dem polnischen Geheimdienst diente, dürfte doch nahelegen, dass die Komplexität des Lebens in einer osteuropäischen, kommunistischen Diktatur ihm biografisch wohl bekannt war; sein skeptischer Standpunkt gegenüber politischen Protestaktionen innerhalb solcher Systeme ist ebenfalls aus erster Hand dokumentiert.78 Günther Grass vermochte einige Jahre später den Grund für des Kritikers Schärfe im Umgang mit Wolf in seinem biografischen Hintergrund enthüllen, und warf Reich-Ranicki – bedenklich doppeldeutig – die „Unbarmherzigkeit des Konvertiten“ vor.79 Eine etwas weniger ethnisch begründete, mögliche Antwort liegt beim „aktuellen Anlaß“ aus dem Titel seines polemischen Artikels: auf den ersten Blick dient Wolfs Laudatio als Anlass, die breitverfasste Kritik Reich-Ranickis der 74 75 76 77 78 79

Ebd., S. 36. Ebd., S. 35–36. Reich-Ranicki 1999. Reich-Ranicki 1995, S. 37. Reich-Ranicki 1999, S. 87. Grass 1990.

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Autorin gegenüber zu äußern.80 So mag hier jedoch vorgeschlagen werden, dass jener Anlass nicht zwingend Braschs Rezeption durch Wolf gilt, sondern, aus des Kritikers Ironie herleitend, der Rezeption der Autorin selbst durch die westdeutsche Gesellschaft. Er eröffnet seine Kritik mit den folgenden Worten: Daß die in Ost-Berlin lebende Autorin Christa Wolf in der DDR ein hohes Ansehen genießt und auch viel Zulauf hat, ist nicht verwunderlich: Wo es an Wolle und Seide fehlt, da lassen sich auch mit Baumwolle und Kunstseide gute Geschäfte machen. Daß aber diese Schriftstellerin, deren künstlerische und intellektuelle Möglichkeiten eher bescheiden sind, im Westen ebenfalls nicht ohne Andacht behandelt wird, ja mittlerweile sogar als gesamtdeutsche Mahnerin vom Dienst gilt, ist schon weniger verständlich.81

Die Unterscheidung zwischen Spott und Kritik in diesem Absatz gibt den Leitfaden des Artikels Reich-Ranickis wieder. Während er für seine geringe Achtung Wolf gegenüber, vorgetragen in der Sprache des ostdeutschen Mangels, nur Spott übrig hat, deutet der Übergang zum kritischen Ton auf das wesentliche Objekt seiner Worte: die Rezeption Wolfs in Westdeutschland. Die Umkehrung der gewohnten Satzform – der Text beginnt zweimal mit einem Nebensatz – klingt die Umkehrung der logischen Ordnung nach Reich-Ranicki an, in der Wolf in der BRD eben nicht „ohne Andacht behandelt“ werden dürfte. Anders als Schirrmacher, weigert sich Reich-Ranicki, diese positive Rezeption gesamtdeutscher generationeller Ähnlichkeiten wegen zu verzeihen. Wenn er Wolf als die „geschätzte Autorin“82 anspricht, gilt sein Sarkasmus nicht der Autorin – sondern jenen, die sie schätzen. Ihm zufolge ist dies eine moralische Fehlleistung. Er erwähnt Wolfs Kritik am westdeutschen Lesepublikum, das sich unbedient [sieht], das sich die Kompromisse die es nach steckengebliebenen Revolutionen eingeht, die Restaurationen in die es sich nach unverstandenen Katastrophen rettet, mit seinen heroischen oder banalen Illusionen verdrängen oder erklären muß […] Brasch [kritisiert diese] verkommenen nachbürgerlichen Beziehungen und Pseudo-Werte83

Darauf bemerkt er durch ironische Verwendung religiöser Begriffe: Denn immer noch ist man in Deutschland bereit, den Mangel an Charme und Scharfsinn zu verzeihen, wenn man genießen (um nicht zu sagen: konsumieren) darf, wonach sich viele sehnen […]: das Getragene und das Weihvolle, elegisches Pathos und priesterlicher Ernst, erhabene Klischees und erbauliche Banalitäten. So hat Christa Wolf auch in der Bundesrepublik eine ansehnliche Gemeinde gefunden, sie ist längst eine Kult-

80 81 82 83

So sieht es ebenfalls Wolf selbst. Siehe: Wolf 1994. Reich-Ranicki 1995, S. 35. Ebd. Wolf: Laudatio für Thomas Brasch, 1988, S. 67.

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figur, verehrt von Feministinnen und DDR-Anhängern, von Linken ohne Heimat und Kritikern ohne Geschmack.84

Welche Ironie: trotz seiner vernichtenden Kritik teilt Reich-Ranicki mit Wolf – um Arendt wieder zu zitieren – jene Öffentlichkeit, in der seine eigene Person erkennbar wird. Mehr noch; Reich-Ranicki, Wolf und Brasch unterhalten zu jener westdeutschen Öffentlichkeit eine Beziehung aus Distanz, ob der Herkunft oder des Daseins. Brasch, der in dieser Auseinandersetzung die eher mindere Rolle einer Projektionsfläche spielte und über dessen gegenläufige, weil jüdisch bedingte, biografische Konstellation gleich zweimal hinweggesehen wurde, eröffnete eins seiner Gedichte (das Wolf ebenfalls zitiert, wie auch der vorliegende Beitrag) mit dem Vers: „Das andere Wort hinter dem Wort“.85 Dies gilt für Wolf, die, in Form einer Laudatio für einen Autoren, der die DDR verließ, gehüllt, einen Einblick in die eigene, innere identitätsstiftende und generationsbedingte Pendelbewegung zwischen Identifikation und Distanz dem ostdeutschen Staate gegenüber gewährt. Dies gilt ebenfalls für Reich-Ranicki, der aus jenem, Wolf gewidmeten kritischen „Anlaß“ mit der ihn umgebenden westdeutschen Gesellschaft scharf ins Gericht geht. Der Ton seiner Worte und ihre textuellen Gestaltungsstrategien deuten auf die in seinen Zeilen zu findende Botschaft, nach der es weniger die Ironielosigkeit Wolfs im Umgang mit der DDR, sondern vielmehr die westdeutsche Ironielosigkeit Wolf gegenüber ist, der seine Kritik gilt. In jeder Position in der Konstellation dieser Auseinandersetzung lässt sich demnach „ein anderes Wort hinter dem Wort“ finden, Distanzverkettungen, in denen jede Figur andere Figuren – lebender oder literarischer Natur – verwendet, um den politischen, kulturellen und sozialen Moment aus der eigenen Sicht zu umreißen.

Zusammenfassung Wolfs Laudatio und die darüber entfachte Kontroverse lassen den kritischen Blick auf einem distinkten Moment verweilen, dessen Dimensionen durch Darstellung seines mit geografischen, kulturellen und generationellen Achsen gemessenen diskursiven Entwicklungshintergrunds an Schärfe gewinnen. Jene Hin-und-Her-Bewegung zwischen Distanz und Nähe, Entfremdung und Identifikation, Kritik und Apologetik, zeichnet ein komplexes Bild sowohl der Autorin Christa Wolf wie auch jener, dem ostdeutschen Narrativ inhärenten Auseinandersetzungen, die zum Teil ungelöst blieben. Reich-Ranicki stellt in seinem Text 84 Reich-Ranicki 1995, S. 36. 85 Brasch 2004 (1980). Zitiert in: Wolf: Laudatio für Thomas Brasch, 1988, S. 59.

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die Frage, weshalb Wolf zu jenem Zeitpunkt eine wenn auch zögerliche Kritik der DDR wagte, und antwortete: „Gorbatschow und die Folgen.“86 Jedoch sollte das, was der Kritiker 1987 meinte, nicht mit der Wende von 1989 verwechselt werden. Die implodierte innerdeutsche Grenze stellte demnach ab 1990 einen neuen Periodisierungsgrenzpunkt des sich paradigmatisch veränderten deutschen Diskurses dar. Der Anfang der 1990er entbrannte Literaturstreit, in dessen Mitte Wolfs Veröffentlichung „Was bleibt“ wie auch ihre an die Öffentlichkeit geratene marginale Mitarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst in den Jahren 1959–1962 standen, ereignete sich vor dem Hintergrund jenes neuen deutschen Diskurses samt seinen neuen Grenzen.87 Wolf, die sich prompt in einem irreversiblen chronologischen Exil von ihrer Heimat befand, wurde als Paradebeispiel der Verstrickung deutscher Intellektueller mit totalitären Systemen im 20sten Jahrhundert angeführt;88 Kritikformen, wie jene von Reich-Ranicki, verloren desweitern ihr außenstehendes Feindbild und sind zur gesellschaftlich-internen Diskussion geworden. Die „deutsche Tragödie“,89 um Brasch weiterzuführen, explizit deutsch-jüdisch in ihrem Ursprung, implizit deutsch-jüdisch in der hier vorgetragenen literarischbiografischen Konstellation, wurde gleichsam wiedervereint. Die zur Historie gewordene Geschichte der DDR wurde dabei in den altbekannten, dafür zweckentfremdeten deutschen Begriff der Vergangenheitsaufarbeitung, der seinen Ursprung in der NS-Vergangenheit hat, eingewoben. Die Betrachtung von Wolfs Laudatio als ersten Akt jenes Literaturstreits missachtet jedoch jenen Periodisierungsgrenzpunkt, denn die Laudatio gehört keiner Vergangenheits-, sondern einer Gegenwartsaufarbeitung, keiner geschichtlichen, sondern einer aktuell-politischen Diskussion an. So stellt die Wolf-Reich-Ranicki-Kontroverse die Herausforderung dar, historische Momente, die sich vor einer dramatischen Schwelle zugetragen haben, zu beschreiben, ohne einer deterministischen Versuchung zu verfallen und deren Geltung als den Moment vor dem Moment zu mindern, daher ohne jene Schwelle zu überschreiten. Wolf selber, die bis zum offiziellen Fall der DDR für deren Fortbestehen zu plädieren versuchte,90 erhaschte die einbrechende Objektverlagerung des internen deutschen Post-Wende-Diskurses in einem Brief an ihren Freund Efim Etkind:

86 Reich-Ranicki 1995, S. 37. 87 Wittek 1997; Thomas Anz schreibt im Vorwort seines Buches über jenen Literaturstreit, „Ob Abrechnung oder Selbstfindung – im geeinten Deutschland zeichnen sich neue Grenzverläufe ab“ In: Anz 1995. 88 Schirrmacher 1995, S. 89. 89 Wilke 2010, S. 22. 90 Wolf: Sprache der Wende, 1994, S. 11.

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Es hatte und hat keinen Sinn, differenzierte Erfahrungen in diesen Hexenkessel zu werfen, der sich auch auf kulturellem Gebiet ‚deutsche Vereinigung‘ nennt und in dem massive Interessen (auch solche psychologischer Art natürlich) die nie wiederkehrende Gelegenheit nutzen, endlich einmal zum Zuge zu kommen… [es ist bemerkenswert] wie sich in diesem Prozess extreme Gegensätze berühren, ‚rechts‘ und ‚links‘ nicht mehr gelten angesichts des überwältigenden Wunsches… bei der strengen Trennung in ‚Opfer‘ und ‚Täter‘ der richtigen Seite zugeschlagen zu werden.91

Literatur Anz, Thomas: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Es geht nicht um Christa Wolf. Frankfurt a.M. 1995. Arendt, Hannah: Laudatio. Humanitas: Karl Jaspers. Frankfurt a.M. 1958. Balint, Lila: Weder Fakt noch Fiktion: Eine Grauzone. Zur Epistemologie des Erinnerns bei Barbara Honigmann. In: Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge. Zum Werk Barbara Honigmanns. Hg. v. Amir Eshel u. Yfaat Weiss. München 2013, S. 29–48. Barck, Simone, Langermann, Martina u. Lokatis, Siegfried (Hg.): „Jedes Buch ein Abenteuer“: Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Oldenburg 1998. Baumgartner, Gabriele u. Hebig, Dieter: Biographisches Handbuch der SBZ/DDR 1945– 1990. München 1996. Brasch, Thomas: Der schöne 27. September [1980]. Frankfurt a.M. 2004. Brasch, Thomas: Ich stehe für niemand anders als für mich. Schriftsteller Thomas Brasch über seine Emigration aus der DDR, in: Der Spiegel 1/1977, 3. 1. 1977, S. 79–81. Brasch, Thomas: Kargo 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen. Frankfurt a.M. 1977. Brasch, Thomas: Vor den Vätern sterben die Söhne. Berlin 1977. Braun, Michael: Jenseits der „Gesinnungsästhetik“. Was bleibt von der Literatur aus der DDR? In: Das Parlament – Beilage: Aus Politik und Zeitgeschichte 10/1991. Bude, Heinz: Die Ironische Nation. Hamburg 1999. Emmerich, Wolfgang: Eine kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin 2009. Eshel, Amir: Vom eigenen Gewissen: Die Walser-Bubis Debatte und der Ort des Nationalsozialismus im Selbstbild der Bundesrepublik. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (2000), S. 333–360. Grass, Günter: Nötige Kritik oder Hinrichtung? Spiegel-Gespräch mit Günter Grass über die Debatte um Christa Wolf und die DDR-Literatur, in: Der Spiegel, 16. 7. 1990, S. 138– 144. Hartewig, Karin: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR. Köln 2000. Hilzinger, Sonja: Christa Wolf. Leben, Werk, Wirkung. Frankfurt a.M. 2007. Judt, Tony: Postwar: A History of Europe Since 1945. New York 2005. Kleist, Heinrich von: Prinz Friedrich von Homburg. Berlin 1821. Kleist, Heinrich von: Michael Kohlhaas. Berlin 1810. 91 Wolf: Briefwechsel mit Efim Etkind, 1994, S. 194.

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Lapp, Edgar: Linguistik der Ironie. Tübingen 1992. Reich-Ranicki, Marcel: Mein Leben. München 1999. Reich-Ranicki, Marcel: Macht Verfolgung kreativ? Polemische Anmerkungen aus aktuellem Anlaß. In: Es geht nicht um Christa Wolf. Hg. v. Thomas Anz. Frankfurt a.M. 1995, S. 37. Rimmon-Kenan, Shlomith: Narrative Fiction: Contemporary Poetics. New York 2003. Santner, Eric: Stranded Objects. Mourning, Memory, and Film in Postwar Germany. New York 1990. Schirrmacher, Frank: Sein Anteil. Laudatio für Martin Walser. Frankfurt a.M. 1998. Schirrmacher, Frank: Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten. In: Es geht nicht um Christa Wolf. Hg. v. Anz, Thomas. Frankfurt a.M. 1995, S. 84. Weissbrod, Bernd: Generation und Generationalität in der neuen Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8/2005. Wilke, Insa: Ist das ein Leben: Der Dichter Thomas Brasch. Berlin 2010. Wittek, Bernd: Der Literaturstreit im sich vereinigenden Deutschland. Marburg 1997. Wolf, Christa: Briefwechsel mit Efim Etkind. In: Dies.: Auf dem Weg nach Tabou. Köln 1994, S. 194–201. Wolf, Christa: Sprache der Wende. In: Dies.: Auf dem Weg nach Tabou. Köln 1994, S. 11. Wolf, Christa: Was bleibt. Darmstadt 1990. Wolf, Christa: Laudatio für Thomas Brasch. In: Dies.: Ansprachen. Darmstadt 1988. Wolf, Christa: Kassandra. Darmstadt 1983. Wolf, Christa: Kindheitsmuster. Berlin, Weimar 1976. Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T. Halle 1968. Wolf, Christa: Der geteilte Himmel. München 1963. Wolf, Christa: Moskauer Novelle. Halle 1961. Wolf, Konrad: Der Geteilte Himmel. DEFA, Ost-Berlin 1964.

Katharina Baur

Rückkehrende Komik oder komische Rückkehr? Positionsbestimmungen in der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur am Beispiel Doron Rabinovicis

„Heimweh oder Reisefieber, was war es, das ihn überfiel?“ (A 10) Diese Frage stellt sich Ethan Rosen, der Protagonist des Romans Andernorts im Flieger von Tel Aviv nach Wien. Sie bringt die zentrale Bedeutung der Suche nach Heimat und nach der eigenen Identität in den Werken der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur auf den Punkt. In einem Interview zu seinem Roman erläutert der Autor des Romans Doron Rabinovici: Klingt diese Frage, was ein Jude ist, was ihn bestimmt, denn nicht irgendwie anders in Tel Aviv als in Wien? Es ist, als wäre das Judentum ein Kaleidoskop, dessen Glassplitter und Spiegelwände bei jeder Drehung ein überraschendes Bild, ein einmaliges Mosaik entstehen lassen, eine Anordnung, die so noch nie gesehen wurde und nie mehr so gesehen werden wird.1

Zentrales Thema in diesem und auch in anderen Werken des 1961 in Tel Aviv geborenen, seit seinem vierten Lebensjahr in Österreich aufgewachsenen Doron Rabinovici stellt die Auseinandersetzung mit Zuschreibungen von Identität dar. Jüdische Protagonisten stehen zumeist im Zentrum seiner Romane. Sie sehen sich zum einen dazu gezwungen, auf Zuschreibungen jüdischer Identität nach 1945 und auf den fortwirkenden Antisemitismus in der österreichischen Gesellschaft zu reagieren. Zum anderen ist das Verhältnis der Protagonisten zu ihrer Elterngeneration, Überlebende der Shoah, durch Projektionen und durch die Weitergabe von Traumatisierungen besonders schwierig. Die Protagonisten sind auf der Suche nach ihrer Heimat, die sie zum Teil in Israel, zum Teil in Österreich suchen. In diesem Beitrag geht es um die Rückkehr-Thematik aus dem Blickwinkel der sogenannten Zweiten Generation, deren Angehörige sich die Fragen stellen: Geht es um bzw. gibt es eine Rückkehr in die Heimat oder in die Fremde? Sind sie Etablierte oder Außenseiter? Der Beitrag ist in drei Teile gegliedert: Im Zentrum des ersten Abschnittes stehen erzählerische Verfahren des Komischen in der 1 http://www.hagalil.com/archiv/2005/01/rabinovici.htm [14. 06. 2017].

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Zweiten Generation. Deren Funktionen in Verbindung mit den Begriffen Identität und Heimat werden im zweiten Teil anhand von drei ausgewählten Romanen Doron Rabinovicis Suche nach M., Ohnehin und Andernorts erläutert. Der dritte zusammenfassende Abschnitt fügt die erarbeiteten Ergebnisse zusammen.

1.

Erzählerische Verfahren von Komik in der Zweiten Generation

Doron Rabinovici beschreibt in seinen Romanen Suche nach M. (1991), Ohnehin (2005) und Andernorts (2012) das komplexe Verhältnis von Juden und Nichtjuden nach 1945, das Zusammenleben von Juden miteinander und die Probleme, die sich im Umgang mit der Erinnerung an die Shoah darin zeigen. Rabinovici konzentriert sich dabei auf die Kinder von Überlebenden, auf die zwischen Mitte der 40er und Mitte der 60er Jahre Geborenen, die Zweite Generation, der auch er selbst angehört.2 Zusammen mit Robert Schindel und Robert Menasse gilt er als einer der bedeutendsten Vertreter der Autoren der Zweiten Generation in der österreichischen Literatur.3 Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer literarischen Werke lässt sich verallgemeinernd für die Autorinnen und Autoren der Zweiten Generation sagen, dass herkömmliche und bisher gültige Definitionen von Heimat und Fremde grundsätzlich in Frage gestellt werden: Beide Begriffe werden nicht mehr als Gegensatzpaar gefasst, vielmehr werden in der Gegenüberstellung ergänzende Faktoren betont. Die Trennschärfe zwischen Heimat und Fremde, zwischen Eigenem und Anderem verblasst zunehmend.4 Die Gemengelage an Themen, die daraus resultierenden Probleme und damit einhergehend die Ratlosigkeit, von der die Protagonisten als Träger einer Bikultur bisweilen befallen sind, gestalten die Autoren der Zweiten Generation immer wieder mit Mitteln der literarischen Komik und Groteske. Erreicht wird damit eine ambivalente Wirkung bei den Rezipienten, denen das Lachen förm2 Wichtige Autorinnen und Autoren der Zweiten Generation außerhalb Österreichs, wie etwa Barbara Honigmann (geb. 1949), Esther Dischereit (geb. 1952), Maxim Biller (geb. 1960) u. a. unterscheiden sich von den österreichischen Autorinnen und Autoren insofern, als diese politisch durch die Waldheim-Affäre 1986 in besonderer Weise politisch geprägt wurden. 3 Die „Zweite Generation“ ist bei Juden die „Generation nach der Shoah“ – dieselbe Generation wird bei anderen Deutschen und Österreichern „Nachkriegsgeneration“ genannt. Siehe Steinecke 2006, S. 135. Die Zweite Generation umfasst die Personen, „die als Kinder von Überlebenden geboren wurden, so dass […] eine Spanne von siebzehn Jahren innerhalb einer Generation liegen kann.“ Siehe Schruff: Wechselwirkungen, 2000, S. 13. Für die Literaturwissenschaft ist relevant, dass der Bezug zwischen dem Autor und der Figur hinsichtlich der Zweiten Generation gegeben ist, der oftmals in Paratexten betont wird. Jedoch ist es vorzuziehen, die Generationenfrage auf Bücher zu beziehen und nicht auf Biografien. In den neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen wird die Personengruppe auch als „Third Generation“, als „Dritte Generation“ bezeichnet. Siehe hierzu Remmler 1997, S. 796–804. 4 Siehe hierzu ausführlicher Steinecke 2006, S. 135–153.

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lich im Halse steckenbleibt. Was in der Ersten Generation von literarischen Texten über die Shoah eine seltene Ausnahme darstellt – die Wahl komischer und grotesker Schreibweisen –, wird zum Charakteristikum des Schreibens in der Zweiten Generation. Für sie gilt, was bereits die Werke Edgar Hilsenraths auszeichnete: „Es ist weniger ein Lachen über das Furchtbare als vielmehr ein verzweifeltes Dagegen-Anlachen.“5 Die Literatur in Österreich kann für sich eine „Komik-Kultur“ in Anspruch nehmen, an die man insbesondere nach der Waldheim-Affäre anknüpfen kann und die im deutschen Sprachraum und in der deutsch-jüdischen Literatur eine Sonderposition einnimmt.6 So reiht sich etwa ein Autor wie Doron Rabinovici explizit in die Tradition österreichischer Kabarettisten und Komiker ein – von Helmut Qualtinger über Georg Kreisler bis hin zu Josef Hader.7 Diese Tradition, in die sich Rabinovici einschreibt, ist vor allem gekennzeichnet durch einen stark satirisch-sarkastischen Bezug auf die Politik und Gesellschaft Österreichs, in dem die aktuelle Politik und gesellschaftliche Entwicklungen subversiv unter die Lupe genommen und damit zugleich kritisch zur Disposition gestellt werden. Auf den Grundlagen des satirischen Kabaretts in Österreich aufbauend stehen somit den Autoren ‚spezifisch österreichische‘ Gestaltungstechniken zur Verfügung. Dass diese Kategorie nicht minder schwer zu fassen ist wie die des ‚typisch jüdischen‘ Humors wird dabei in Essays und Paratexten immer wieder thematisiert und reflektiert.8 Die „Melange“ von Jüdischem und Österreichischem beschreibt Doron Rabinovici in seinem Essay Hundertundsiebzehn. Oder eine kurze Anleitung zum jüdischen Witz9. Besonderes Merkmal des jüdischen Witzes sei neben einer besonderen Sensibilität, einem scharfen Tonfall und einer großen Intelligenz die Selbstverspottung: „Jüdischer Humor ist das Lachen über sich selbst und nicht der Spott über die anderen.“ Doch am Ende wird keiner verschont: „Nichts und niemand bleibt im jüdischen Humor tabu.“10 Die literarischen Themen der Zweiten Generation stellen die eigene Situation und die Erlebnisse der Elterngeneration dar. Während jedoch die überwältigende Mehrzahl der Autoren der Ersten Generation ihre persönlichen Erlebnisse ‚unmittelbar‘ niederschrieb, kann die Zweite Generation sehr viel freier schrei5 Dopheide 2000, S. 15. 6 Vgl. hierzu Benay/Stieg 2002. Dabei kommt dem Witz jedoch eine Doppelfunktion zu, insofern er zum einen Verbotenes benennt, zugleich aber für Entspannung sorgt. Er ist einerseits revolutionär, indem er Ablehnung und Missbehagen ausdrückt, lähmt jedoch andererseits den revolutionären Elan im Lachen. 7 Maurer/Neumann-Rieser 2012, S. 56. 8 „Was Humor ist, entzieht sich der Definition und was jüdisch ist, auch. Misslicher könnte es nicht sein, wenn es […] auf Definierbarkeit ankäme.“ (BenGershom 2000, S. 2). Vgl. hierzu auch Rabinovici: Hundertundsiebzehn, 2001, S. 61–66. 9 Rabinovici: Hundertundsiebzehn, 2001, S. 61–66. 10 Ebd., S. 61 und S. 64.

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ben.11 Diese Freiheit charakterisiert auch, so sieht es Rabinovici, ihren Rückgriff auf den jüdischen Humor und Witz. Letztlich aber beschäftige ich mich genau mit der Tatsache, dass diese Generation uns ja auch eine Tradition des Witzes mitgegeben hat, und wir aber damit jetzt neu umgehen können. Die Generation, die Opfer war, die hat zwar diesen Witz, aber es verschlägt ihr die Stimme und die Sprache.12

Die Einschreibung in die Tradition eines als spezifisch jüdisch markierten Witzes und seine Neuinterpretation kennzeichnen das Erzählen Rabinovicis, dessen besondere Strukturmerkmale schnelle Veränderungen und plötzliche Figurenentwicklungen sind. Häufig kommt es daher in den Werken Rabinovicis zu paradoxen Konstellationen: „Paradox heißt aber vor allem humorvoll und das meint insbesondere satirisch übertreibend.“13 Das paradoxe Erzählen schließt alle Ebenen des Erzählens ein, Handlung und Sprache, einzelne Wörter und ihre Semantik. In welcher Weise sich Rabinovici in die Tradition des jüdischen Witzes einschreibt und diese weiterentwickelt, soll im Folgenden unter Bezug auf Michail M. Bachtins Theorie der karnevalistischen Weltanschauung sowie der Karnevalisierung der Literatur14 entwickelt werden. Komik betrifft dabei die Handlung und das Figurenensemble, das zuweilen groteske Züge trägt, und die sinnwidrige akausale Verknüpfung von Sinnelementen.15 Anhand von jungen, intellektuellen und viel reisenden Figuren wird in den Romanen Doron Rabinovicis ein Netz zwischen Österreich und Israel gesponnen. Auffallend sind dabei in allen Romanen Verfahren der Nachahmung und Doppelung: Protagonisten werden antagonistisch einander entgegengesetzt, zugleich wird mit einer Übereinstimmung ihrer Denkweisen und Charaktere gespielt und so Identitäten verdoppelt und vertauscht.16 Aus diesem Prinzip des Rollentauschs resultiert eine Ambiguität in dem Verhältnis von Opfer- und Tä11 12 13 14 15

Schruff: Doron Rabinovici, 2000, S. 478. Rabinovici/Jürgens 1997, S. 932. Hermann 2012, S. 28. Bachtin 1990. Bei dem Begriff der Komik handelt es sich um einen unbestimmten qualitativen bzw. klassifikatorischen Begriff, der durch Übernahme aus der Alltagssprache in die Sprache der Geisteswissenschaften, speziell im Bereich der Literaturwissenschaft, integriert wurde. Der Inhalt wird dort je nach Konzeption individuell bestimmt. Um das Komische und die Komik definieren zu können, ist ein Bezug auf Kommunikationspartner und Situationen nötig, so dass von einer „kontextualistischen Position“ gesprochen wird: Komik entsteht im Auge des Betrachters und entzieht sich deshalb einer Bestimmung mit allgemeinem Anspruch. Komik ist abhängig von Werthaltungen und Lebensauffassungen einer Gesellschaft und eines Volkes, dem Humor des Einzelnen und der damit verbundenen Interpretation. Die unter dem Begriff der Komik vereinten Formen (Parodie, etc.) zeigen in ihrer Heterogenität, dass diese literarästhetischen Begriffe nicht operationalisierbar sind. Somit kann es keine verbindliche Definition geben, die alle inhaltlichen Merkmale vereint. 16 Düwell 2013, S. 281.

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terfiguren. Im Sinne Bachtins vereinigen sich beide Möglichkeiten zu einer:17 Die eng aufeinander bezogenen Figuren sind sowohl Antipode als auch Doppelgänger, sie ähneln einander, ergänzen sich und stoßen sich ab. Diese Schreibweise hat zwei Dinge zur Konsequenz: Zum einen verweist sie auf die Fragwürdigkeit einer vereinfachenden Gegenüberstellung von Opfer- und Täterperspektive, zum anderen macht sie auf den Projektionscharakter des Antisemitismus aufmerksam, der in Österreich und Deutschland bis in die Gegenwart zu spüren ist.18 Im Folgenden sollen für die drei genannten Romane Doron Rabinovicis beispielhaft zwei Figuren herausgegriffen werden, anhand derer nicht nur das Konzept des „evil twin“, sondern auch Verfahren erzählerischer Komik unter dem Aspekt der Rückkehr in die Heimat betrachtet werden sollen. Alle Romane weisen trotz unterschiedlicher Facetten eine gemeinsame inhaltliche Entwicklungslinie auf: In Suche nach M. (SnM) wird die Geschichte von Dani Morgenthau und Arieh Scheinowitz erzählt, die als Söhne jüdischer Überlebender aus Krakau bemüht sind, ihren Platz innerhalb der Familie und innerhalb der Gesellschaft Wiens und Israels im Zeitraum der späten 60er Jahre bis zum Golfkrieg zu finden. Ohnehin (O) widmet sich mit dem Schauplatz Wien und insbesondere des Naschmarkts neben dem Thema des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft vor allem der Frage nach Schuld und Vergessen, unter anderem anhand des ehemaligen SS-Untersturmführer Herbert Kerber und seiner Tochter Bärbel, aber auch anhand des österreichischen Arztes Stefan Sandtner und seines jüdischen Freundes Lew Feininger. Andernorts (A) erzählt die Familiengeschichte des Kulturwissenschaftlers Ethan Rosen, der auf der Suche nach einem passenden Lebensentwurf die Geheimnisse seiner jüdischen Familie kennenlernt und sich so den Fragen nach Herkunft, Identität und Zugehörigkeit – zwischen Österreich und Israel pendelnd – stellen muss. Anhand der Figurengestaltungen der Romane werden die Länder Israel und Österreich als geografische Heimat in den Blick genommen und die Fragen nach einer möglichen „Rückkehr“ gestellt.

17 Siehe hierzu Bachtin 1990, S. 53. 18 Es ist vielmehr ein zentrales Motiv (deutsch-)jüdischer Literatur, mit dem Fragen der Identität – im Kontext von Shoah und Antisemitismus – reflektiert werden. Die Doppelgänger-Figuren werden oftmals als Versuch gelesen, stereotype Repräsentationsformen innerhalb der Shoah-Literatur aufzubrechen und Verbindungen von Opfer und Täter zu provozieren.

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Identität, Heimat und Komik in den Romanen Suche nach M., Ohnehin, Andernorts

In dem Roman Suche nach M. steht zu Beginn ihrer Identitätssuche für Arieh Scheinowitz und Dani Morgenthau die Konfrontation mit sogenannten „Dunkelstellen“: „Die Vergangenheit des Vaters lag im Dunkel seines Schweigens.“ (SnM 29) Das Schweigen der Überlebenden hat das Fortwirken der NS-Verbrechen in der nächsten Generation zur Folge, auch führt die Elterngeneration die Nachkommen nicht in die jüdische Tradition ein. So müssen sich die Kinder mit etwas auseinandersetzen, was ihren Eltern Angst und Scham und zudem auch ein Schuldgefühl eingeflößt hat und das sie bis heute nicht vergessen haben: „Woran seine Eltern sich nicht erinnern wollten, wovon zu reden sie mieden, konnten sie in aller Deutlichkeit nicht vergessen.“ (SnM 30) Das Schweigen der Eltern richtet sich schließlich gegen die Überlebenden und deren Kinder; die ursprüngliche Intention der Eltern, ihre Kinder zu schützen, greift nicht. Der parallel zur Adoleszenz einsetzende Prozess der Identitätssuche geht zumeist mit dem völligen Unverständnis der Eltern einher. In Suche nach M. knüpft der Sohn Arieh, da er sich mit dem negativen Bild, das sein Vater vom Judentum hat, nicht abfinden möchte, Kontakte zu einer jüdischen Studentenorganisation: Obschon seine Familie nicht Mitglied der Gemeinde war, suchte Arieh – zum Missfallen seines Vaters – den Kontakt zur jüdischen Hochschülerschaft, um zu finden, was zu Hause ihm vorenthalten worden war, um jene Chiffren und Kennworte des Codes zu erlernen, in dessen Geheimnis er daheim nicht eingeweiht wurde. (SnM 45)

Da er zu keiner positiven Selbstdefinition und zu keiner Verbindung mit dem Judentum gelangt, nähert er sich dem vermeintlichen Gegenteil. Er versucht sich – in seinem Erscheinungsbild mit Lederjacke, Stiefel und Bürstenschnitt dem äußerlichen Klischee eines Rechtsextremen angepasst – im Kampf gegen Antisemiten, indem er Mitglied einer neonationalistischen Gruppe wird. Um seine Herkunft kennenzulernen, hatte er sich der Clique angeschlossen, an diesem Abend aber erwachte in ihm zum ersten Mal der Wunsch, auf seine Wurzeln zu stoßen. Er wollte die Erbfeinde seiner Abkunft bekämpfen. (SnM 48)

Ariehs alter Schulfreund Dani, in dem Roman als Gegen- und Parallelfigur zu Arieh konstruiert, reagiert auf diese Entwicklung. Bereits als Kind nahm Dani immer und unter allen Umständen Schuld auf sich, gleichgültig, ob er tatsächlich etwas zu verantworten hatte oder nicht. Inzwischen ist Danis ganzer Körper mit Ekzemen überzogen. In ihnen zeigt sich seine Überempfindlichkeit für die Verbrechen, zu denen er sich als vermeintlicher Täter zwanghaft bekennt. In Mullbinden gehüllt wird er zur fantastischen Gestalt „Mullemann“, die als un-

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kenntlich gewordene Verkörperung eines kollektiven schlechten Gewissens durch die Stadt geistert.19 Beide Freunde, Arieh und Dani, besitzen eine übernatürliche Fähigkeit der Nachahmung, die von den politischen Einrichtungen ihrer jeweiligen Länder genutzt wird: Die Fähigkeit Danis, in der Gestalt von „Mullemann“ einen Serienmord in Wien aufzudecken, wird von den österreichischen Ermittlungsbehörden ebenso genutzt, wie sich der israelische Geheimdienst seines Freundes Arieh bedient. Diese Funktionalisierung kommt sowohl Arieh wie Dani, so verschieden sie auch sein mögen, entgegen. Sie erlaubt es ihnen, die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie zu umgehen und anstelle dessen in das Leben anderer einzutauchen. Komik in Suche nach M. findet sich vor allem in dieser Ausgestaltung des komplementären Freundespaares. Beide Figuren verkörpern mehrere Identitäten in einer Person. Dies stiftet zuweilen Verwirrung, zumal dann, wenn sich dies in einer Namensänderung niederschlägt, in der sich Unterscheidungsmerkmale von Jüdischsein und Nichtjüdischsein verwischen und vermischen: Aus Dani Morgenthau wird Mullemann, aus Arieh Fandler wird Arthur Bein. Dabei wird Arieh bereits als Kleinkind mit zwei Namen ausgestattet, die es ihm dem Wunsch seiner Eltern gemäß ermöglichen sollen, später einmal zwischen zwei Identitäten – einer jüdischen und einer christlichen – wählen zu können: Mit Bedacht war der Junge Arieh Arthur geheißen worden. Auf diese Weise sollte er weder unter Christen noch unter Juden ein Ausgestoßener sein, die Wahl zwischen beiden Welten haben. (SnM 139)

Auch Dani wird mit der zusätzlichen Identität Mullemann eine Wahlmöglichkeit zwischen zwei Identitäten gegeben. Steht Einbandagieren in dem Roman als ein Synonym für Verstecken, so kann Mullemann als eine Verkörperung der Tabuisierung und des Löschens von Erinnerung gelesen werden.20 Darüber hinaus kann Mullemann auch als eine Chiffre des deutsch-jüdischen Verhältnisses gelesen werden: Den Fremdzuschreibungen, die ihm von außen – parallel zu dem am ganzen Körper angelegten Verbandsmaterial Mull – auferlegt werden, begegnet er mit einem freiwillig gewählten Rückzug in sein pathologisiertes Außenseitertum. Mullemann ist eine neurotische, zwanghaft schuldbewusste Figur, die sich zu jeder Schuld – ob eigene oder fremde – bekennt. Stets beteuert er: „Ich war’s. Ich bin schuld. Ich hab’s getan.“ (SnM 37) Das Komische der Figur Mullemanns liegt neben der Inkongruenz von körperlicher Schwäche und geistiger Stärke vor allem in dem veränderten Aussehen Danis, der durch die Mullbinden bis zur 19 Ebd., S. 291. 20 Benay 2003, S. 461.

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Unkenntlichkeit entstellt ist; nach Bachtin ist die körperliche Deformation ein wesentliches Moment komischer Verfremdungen.21 Dani und Arieh werden in Suche nach M. als Figurationen Ahasvers und des Golem gezeichnet. Im Konstatieren und Beschreiben ihrer rastlosen Lebenswege kommt die verzweifelte Suche nach Schuld und Verbrechen zum Ausdruck. Dabei ist zentral für die Ausgestaltung der beiden Protagonisten und ihrer Lebenswege, dass es nicht ihre eigene Schuld ist, auf die sie sich jeweils beziehen, sondern die der anderen.22 Die Mullbinden, mit denen Danis Körper umwickelt ist, erhalten im Laufe des Romans eine sexuelle Konnotation, sie werden zum Fetisch. Unmittelbar an diesen Fetischcharakter gebunden ist die groteske Verbindung zwischen der Shoah-Erfahrung der Eltern und dem gesamten Bereich des Sexuellen: Dies [die Zeit des Holocausts] war ihm ein Rätsel, das nicht unähnlich den vielen sexuellen Geheimnissen schien. […] Sooft er seine Mutter nach der Geographie des weiblichen Körpers, nach der Anatomie ihres Leidensweges, nach den Namen der Konzentrationslager und denjenigen der Geschlechtsorgane befragte, vergaß er alles bald wieder, musste er sich begierig und schamvoll Gewissheit verschaffen, bis sie ihn endgültig verwies und sich jede weitere Nachforschung verbat. (SnM 32)

Die kindliche Neugier ist geweckt, wird jedoch von den Eltern zurückgewiesen. Folglich steigert sich das Interesse an den „Geheimnissen“ (SnM 32), so dass es zu einem Zusammenspiel aus Faszination und Schuldbewusstsein kommt. Der Zugang zu beiden Erfahrungsbereichen, zu Shoah und erwachsener Sexualität, ist durch das Schweigen der Eltern für die Kinder nicht möglich. Mit dem Freundespaar werden in Suche nach M. zwei mögliche Positionen einer jüdischen Identität in komischer und grotesker Überzeichnung konstruiert. Dani, alias Mullemann fungiert als verzerrtes Bild eines Juden der Diaspora: Er ist vergangenheitsfixiert, krank, undefinierbar und rastlos. Arieh dagegen, der Zukunft zugewandt, gesund und anpassungsfähig, ist eingebunden in ein Kollektiv. Durch seine ‚Rückkehr‘ nach Israel ist er fähig, sein Land und sich zu verteidigen.23 Dabei wird Wien als der Vergangenheit verhaftet, Tel Aviv als der Zukunft zugewandt gezeichnet. Die gegensätzliche Entwicklung der Protagonisten verdeutlicht zunächst, welch zukunftsfähige Alternative das Leben in Israel bietet – im Gegensatz zu einem Leben in den Täterländern. In der diametral angelegten Figurengestaltung werden unterschiedliche Formen einer „Rückkehr“ angesprochen.

21 Das Verlachen von eigentlich furchteinflößenden Verformungen spiegelt sich nach Bachtin in der ursprünglichen Karnevalskultur. Dort werde der Körper mit seiner Verfremdung und Verunstaltung zum Anlass ausgelassener Freude. Durch das Lachen werde die Angst überwunden und die eigentliche Wahrheit aufgedeckt. Bachtin 1990, S. 35. 22 Benay 2003, S. 292. 23 Ebd., S. 284.

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In Rabinovicis zweitem Roman Ohnehin wird die Zeit des Nationalsozialismus aus Tätersicht anhand der Figur des Doktor Kerber und der Umgang damit in der Zweiten Generation anhand seiner Tochter Bärbel geschildert. Rückkehr bedeutet hier die zeitliche Rückblende und damit verbunden auch die rückgekehrten Emotionen innerhalb der Familie. In der Figur Kerber verknüpft Rabinovici das Thema der Vergangenheitsaufarbeitung mit einer Gedächtniserkrankung: Kerber kann sich aufgrund seiner Korsakow-Erkrankung nicht mehr an die Gegenwart erinnern, er ist ganz in der Vergangenheit verhaftet. Die Zeit, an die er sich noch erinnern kann, stellt die Phase kurz nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Kerber war damals ein ehemaliges Mitglied der SS, das den Krieg überlebt hatte, 27 Jahre alt und noch ohne Familie, an die er jede Erinnerung verloren hat: Bärbel sah, dass er längst vergessen hatte, wer sie war, wer sie zu sein vorgegeben hatte. Ihr wurde übel vor Angst. Sie schrie: „Vati“, doch er bloß: „Der kann dir auch nicht mehr helfen…“ (O 129)

Um ihren Vater zu einem Eingeständnis seiner Täterschaft als SS-Mann und einem Bekenntnis seiner Schuld zu bewegen, greift Bärbel zu Verkleidungen und schlüpft in die Rolle anderer. Sie gibt sich als Cousine ihrer Mutter, als Agentin einer Partei, als Mitarbeiterin der alliierten Militärbehörden aus, mit Hilfe einer Kurzhaarfrisur stellt sie sich sogar als Hauptmann dar. Durch Annahme dieser verschiedenen Persönlichkeiten verkörpert die Tochter so unterschiedliche Instanzen der Schuldzuweisung. Die Gespräche mit dem Vater, der vergessen hat, dass Bärbel seine Tochter ist, geraten so zu immer ausgeklügelteren Verhörszenen. Verkleiden zählt nach Bachtin in den karnevalistischen Bereich, der sich gegen Autoritäten, Obrigkeiten und Macht wendet und als Reduzierung des Äußeren auf das Wesentliche in den Bereich der Verwandlungskomik gehört.24 Bei Rabinovici wird das Stilmittel der Groteske vor allem dann verwendet, wenn es um Verkleidungen und Rückblicke in die Zeit des Nationalsozialismus geht. Dabei werden Symbole der (Staats-)Macht, wie etwa die Uniform, ins Lächerliche gezogen. Es gelingt Bärbel dennoch nicht, die unausgesprochene Erinnerung und das damit verbundene Schuldeingeständnis zu provozieren. In den Gesprächen zwischen Vater und Tochter vertauschen sich die Opferund Täterrollen: Im Laufe der Verhörszenen wird der Täter Kerber zum der töchterlichen Befragung ausgesetzten Opfer. Und auch Bärbel schlüpft aus ihrer Rolle als mächtige Vergangenheitsaufarbeiterin in die des hilflosen Opfers: „Ich stelle hier die Fragen“, sagte sie, frohlockte aber, fühlte sich mit einem Mal wie ein Jude, der vertrieben worden war und nun mit der amerikanischen Armee nach Europa heimkehrte, fühlte sich wie einer, der gegen Nazis gekämpft, wie einer, der sie besiegt hatte, und fühlte sich sehr wohl dabei. (O 133) 24 „Alles Bedrohliche wird ins Komische gezogen“. Bachtin 1990, S. 35.

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Die Nachstellung eines Verhörs und der damit verbundene Geschlechter- und Statustausch führen zur Aufarbeitung alter Konflikte: Zum einen klärt sich die Vater-Tochter-Konstellation und damit verbunden das Verhältnis der beiden Generationen zueinander, zum anderen kommt es so schließlich zu einer Aufarbeitung der eigenen Gefühlsanteile. Bärbel wird nicht nur ihrem Vater gegenübergestellt. Mit Lew Feininger wird ihr eine Spiegelfigur zur Seite gegeben, so dass eine Konstellation entsteht, in welcher der Roman eine Begegnung zwischen den Kindern von Überlebenden und Nazis zeigen kann. Lew Feininger ist Kind jüdischer Überlebender. In einem Gespräch mit ihm formuliert Bärbel ihre Auffassung, dass auch sie, Kind eines Täters, ein Opfer sei. Sie beide, so erläutert sie Lew Feininger gegenüber, hätten als Angehörige der Zweiten Generation dasselbe Problem. Sie beide kämen aus Familien, wo über die Vergangenheit und das Schicksal der Eltern geschwiegen wurde: Sie sagte, sie verspüre diese Nähe auch ihm, Lew, gegenüber, weil doch in den Familien der Überlebenden ebenfalls nicht geredet worden sei. […] Die Kinder von Tätern und Opfern haben ja viele Gemeinsamkeiten. (O 117)

Obwohl Lew Feininger die Verwischung der Grenzen zwischen Opfer- und Täterfamilien entschieden zurückweist, entwirft der Roman – auch in weiteren Figurenkonstellationen – die Möglichkeit einer Neubegegnung der Angehörigen der Kindergeneration. In Ohnehin ist nicht nur die Auseinandersetzung zwischen Juden und NichtJuden, Kindern und Eltern, Opfern und Tätern ein zentrales Thema. Rabinovici macht in diesem Roman Wien zu einem Schauplatz multikulturellen Zusammenlebens. Vor allem der Wiener Naschmarkt wird zum globalen Mikrokosmos, der durch einen überstaatlichen Charakter ausgezeichnet ist:25 Im Fenster eines orientalischen Händlers sah er hunderte Gewürzsäckchen […]. Er ging vorbei an japanischen Sushibuden, an chinesischen Delis, an einem marokkanischen Restaurant, einem indischen, einem persischen, türkischen, an einem Espresso und einer italienischen Pizzeria. (O 17)

Hier ist jeder jedem fremd, ein Nicht-Fremd gibt es nicht. Der Naschmarkt wird so zum Sinnbild des gesamten Romans. Die Stadt Wien mit dem Naschmarkt in ihrem Zentrum wird zum Inbegriff des Heimisch-Seins im Fremden, das in Wien auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Denn schon seit Jahrhunderten setzt sich der Naschmarkt aus den Angehörigen vieler Nationen zusammen.

25 Beilein: Auf diesem Markt, 2008, S. 95.

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In dieser Gegend war bereits seit Jahrhunderten nicht bloß deutsch, sondern ebenso italienisch, jiddisch, griechisch, türkisch, tschechisch, serbisch oder polnisch gesprochen worden […]. (O 178)

Doch „Rabinovicis Naschmarkt in ‚Ohnehin‘ ist nur scheinbar ein Locus amoenus des kulturellen Pluralismus“26. Wie ein Sammelbecken bündeln sich in ihm aktuelle soziale und politische Konflikte. Im Mikrokosmos des Naschmarkts verhandelt der Roman die Frage, was geschieht, wenn sich nationale und kulturelle Identitäten berühren, miteinander in Kontakt treten, vermischen und auflösen. Sichtbar werden dabei auch die Gefahren, die in einer solchen Utopie für kulturelle Minderheiten liegen, die Hindernisse, die sich der Ausbildung hybrider Identitätsentwürfe in den Weg stellen, die Schwierigkeiten, einen multikulturellen Pluralismus im Alltag zu leben. Mit einem griechisch-türkischen Liebespaar der Zweiten Generation von Einwanderern wird jedoch gezeigt, dass eine multikulturelle Gesellschaft, die sich ihrer Herkünfte bewusst ist, nicht nur im utopischen und zugleich sehr alltäglichen Mikrokosmos des Wiener Nachmarkts möglich ist. In Rabinovicis Roman ist der Naschmarkt ein moderner Ort der Diaspora, in der sich alle Menschen – Juden, Türken, Griechen, Österreicher – nicht erst im Zeitalter der Globalisierung, sondern immer schon befinden. Auch in seinem dritten Roman Andernorts zielt Rabinovici auf eine kritische und komische Zerlegung und Neuzusammensetzung identitärer Mythen. Die jüdischen Protagonisten dieses Romans werden in dem Bemühen, ihre Identität neu zu (er-)finden, von ihren Herkünften eingeholt. Kern des Romans sind verwirrende und verworrene, und gerade in ihrer Verworrenheit außerordentlich komische Herkunftsgeschichten. Erzählt wird von der Suche des an der Wiener Universität lehrenden jüdischen Soziologen Ethan Rosen, der sich durch seinen Gegenspieler, den österreichischen Ethnologen Rudi Klausinger, zunehmend mit seiner jüdischen Herkunft konfrontiert sieht. Diese Begegnungen und die Fragen, die sie im Blick auf seine Identität nach sich ziehen, lösen eine narzisstische und intellektuelle Krise aus. In der paarweisen Anordnung der in vielen Aspekten gegensätzlich konzipierten Figuren Ethan Rosen und Rudi Klausinger findet sich erneut das Konzept der „evil twins“ umgesetzt, deren Dualität bereits in der deutsch-jüdischen Namensgebung verankert ist. Trotz ihrer Gegensätze spielt Rabinovici mit einer gewissen Übereinstimmung ihrer Denkweisen und Charaktere. Er vereinigt die beiden Möglichkeiten der gedoppelten Figur – Kontrastpaar und Doppelgänger – im Sinne Bachtins, wenn sich die diametrale Identität der beiden Wissenschaftler, die sich zu Beginn des Romans als eine große Differenz zeigt, im Laufe 26 Ebd., S. 97.

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der Handlung mehr und mehr verringert. Im Kontrast der beiden Charaktere entfaltet die satirische und groteske Darstellung in diesem Roman Rabinovicis ihre volle Dynamik. Wien ist der Ort, der für den Juden Ethan die Möglichkeit bietet, ein nichtjüdisches Leben zu führen, oder genauer: ein Leben jenseits der Kategorien jüdisch und nicht-jüdisch. In Wien bezeichnet sein Jüdisch-Sein lediglich eine Leerstelle, eine grundsätzliche Andersheit, die nicht mit konkreten Vorstellungen belegt ist. In Israel dagegen wird Ethans Jüdisch-Sein semantisch besetzt und definiert; Ethan zieht daher Wien als Stadt und Österreich als Lebensort vor. Die disparaten Elemente seiner österreichisch-jüdischen Identität sind nicht immer miteinander in Einklang zu bringen, sie schließen sich mitunter sogar aus. In Israel gilt Ethan Rosen als Deutscher, in Österreich als Jude. Auf die Frage seines Sitznachbarns, ob er sich noch als Israeli empfinde, antwortet Ethan: „Ich bin Staatsbürger. Willst du den Pass sehen? Was bedeutet denn, sich als Israeli zu fühlen?“ Darauf entgegnet der andere: „Das ist eine typisch jüdische, eine typisch wienerisch-jüdische Frage“. (A 20)

Ethan verkörpert eine moderne Umsetzung des Ahasver-Motivs, eine zwar nicht wandernde, aber vielfliegende Figur, die auf der ganzen Welt und nirgendwo zuhause ist. In Ethans Interpretation des populären, traditionell negativ besetzten Stereotyps wird das positive Bild eines Judentums gezeichnet, das vor allem in der Diaspora gelebt wird und das zugleich ganz den Vorstellungen einer modernen Existenz in der globalisierten Welt von heute entspricht:27 Rosen war dafür bekannt, Deutsch, Hebräisch, Englisch und Französisch geschliffen zu formulieren. Nicht wenige waren beeindruckt, dass er Italienisch und Spanisch las und Arabisch verstand. […] Ethans Misstrauen galt den Zivilisationen und Ideologien. Er schrieb an den Bruchlinien entlang. (A 11)

Ethan Rosen ist als typischer Repräsentant einer hybriden Identität konzipiert. In seiner Rolle als Außenseiter, die ihm in dem Roman zugewiesen wird, ist er nicht nur als Privatperson in diesem Zwischenraum beheimatet, auch als Wissenschaftler bewegt er sich im Dazwischen: Er hat sich der Erforschung von „Transkulturalität“ (A 10) und den Konstruktionen von Erinnerung verschrieben. Andernorts bringt Motive zum Einsatz, die bei Bachtin typische Elemente des Karnevals bezeichnen und somit in den Bereich der Verwandlungskomik gehören. Ein groteskes Gestaltungselement manifestiert sich in der semantischen Verknüpfung miteinander unvereinbarer Sinngehalte. In Andernorts ist dies etwa die Verbindung von Sexualität und religiöser Tradition.28 27 Vgl. hierzu Hermann 2012, S. 431–444, vor allem S. 440. 28 „Es ist unerlässlich eigens auf die ambivalente Natur der karnevalistischen Gestalten einzu-

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[…] er habe die Gebetsriemen an diesem Morgen nicht umgebunden, ebenso wenig wie am gestrigen, und er werde sich auch in den nächsten Tagen keine umschnallen. Er stehe nicht auf Leder. (A 18)

Komik realisiert sich hier unter anderem in der grotesken Verknüpfung religiöser Vorschriften, wie dem Anlegen der Tefillin, mit sexuellen Vorlieben aus dem Bereich des Sadomasochismus, in dem ihnen eine sexuelle Konnotation als Fetisch-Objekt zugewiesen wird. In der Unangemessenheit der grotesken Verbindung entsteht die eigene Komik des Romans. Auch auf der Handlungsebene konstruiert der Roman eine verkehrte Logik. Vor allem im Zusammenhang mit der Nebenfigur des Rabbiners Berkowitsch entstehen immer wieder unüberschaubare, sich beständig steigernde Verwicklungen: Der Vater von Ethan, Felix Rosen soll Berechnungen des Rabbiners zufolge ein Vorfahre des Messias gewesen sein. Aus einem DNA-Pool, zu dem nun sein Sohn Ethan aufgefordert wird, seinen Beitrag zu leisten, ist nach den Berechnungen des Rabbiners die Identität des Messias zu rekonstruieren. Aus dem passenden Genpool soll der neue Messias hervorgehen. Sie sind einer der Angehörigen und jung genug, um ein Samenspender im großen Experiment zu sein. Sie mögen kein Tefillin legen, nicht koscher essen, den Schabbath nicht halten und die hohen Feiertage nicht begehen, aber Sie können uns Ihr Sperma geben und sich unserem Projekt verschreiben. Es geht um das Vermächtnis, um das Erbe, um eine Hypothek aus der Vergangenheit. (A 178)

Hier wird Komik durch das Aufeinanderprallen von religiöser Tradition und moderner Genforschung erzeugt. Der Rabbi wird als Vertreter eines modernen und korrupten Gesellschaftssystems präsentiert, der sein Vorhaben geradezu fanatisch verfolgt. Immer wieder kommt es in Andernorts zu ähnlichen Verbindungen von scheinbar Unvereinbarem. Komik entsteht dabei nicht nur durch eine normative Inkongruenz, sondern auch durch die außerordentliche Unwahrscheinlichkeit der geschilderten Ereignisse. Am Ende des Romans ist es Rudi Klausinger, der Deutsche, der als einziger die Grabrede für den verstorbenen Vater von Ethan, für Felix Rosen halten kann – selbst der Kosmopolit Ethan ist dazu nicht in der Lage. Denn im Gegensatz zu Ethan besitzt Rudi die Fähigkeit, sich an seine Umgebung anzupassen und sich auf sie einzulassen. Im Laufe der Handlung findet er sich nach und nach in diese Rolle ein. So ist er am Ende des Romans der Einzige, der bei all den unglaublichen Verwicklungen und Enthüllungen in Ethans Familie eine klare Sicht auf die Dinge hat. gehen. Sie vereinigen in sich alle Polaritäten des Wechsels und der Krise: Geburt und Tod (in der Gestalt des schwangeren Todes), [sowie] Segnung und Verfluchung (man denke dabei an die segnenden Karnevalsflüche, die Tod und Wiedergeburt zugleich wünschen.“ Bachtin 1990, S. 53.

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In dieser unerwarteten Schlusswendung erweist sich eine besondere Qualität des Erzählens, die Rabinovicis Romane auszeichnet und als Grund für seine herausgehobene Stellung in der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur benannt werden kann: Rabinovici löst sich in seinen Romanen von stereotypen Festschreibungen des jüdischen Witzes, indem er mit ihnen spielt, sie ständig neu konstruiert und sich von der starren Grenze zwischen Eigenem und Fremdem verabschiedet. In Andernorts bleibt die Referenz auf einen utopischen Ort zwar bestehen. Doch anders als in Ohnehin, wo dieser Ort noch die konkreten Konturen des Wiener Naschmarkts trägt, verschieben sich nun die Koordinaten dieses Ortes immer wieder. Seine Lokalisierung ist letztlich unmöglich, das Subjekt kann ihn nicht einholen. „Heimat als Utopie meint hier im wörtlichen Sinne einen NichtOrt, eine Imagination, die in Wirklichkeit nicht ist.“29 Zentrale Figuren sind im Roman nicht einem Ort, einer Sprache, einer Kultur oder einer Identität verhaftet, vielmehr bewegen sie sich im Dazwischen, an „Bruchlinien“30 entlang. (A 11) Sie sind als Träger hybrider Identitäten immer wieder neu damit konfrontiert, Zugehörigkeiten in Frage zu stellen und Grenzüberschreitungen zu verarbeiten.

3.

Zusammenfassung

Identitätssuche stellt in den Romanen Doron Rabinovicis einen Prozess dar, in dem versucht wird, sich selbst in Bezug auf Gesellschaft zu definieren. Dieser Prozess wird durch den sozialen, historischen und politischen Kontext beeinflusst, in dem die Protagonisten leben. Die Suche nach dem Herkunftsort, der Identität und Identitätsvorstellungen prägt, steht so in konkretem Zusammenhang mit einer Rückkehr zu den Wurzeln. Die Werte und Normen, die dem eigenen Verhalten zugrunde liegen, sind ausschlaggebend für die Konstruktion und das Verständnis der eigenen Identität. Rabinovici zeigt in seinen Romanen, dass die Suche nach Heimat und damit verbunden nach der eigenen Identität nicht nur ein Phänomen der Adoleszenz darstellt und auch nicht im Generationenkonflikt ‚aufgehoben‘ ist. Während die Romane Suche nach M. und Andernorts primär jüdische Identitätssuchen und Rückkehrerzählungen nachzeichnen, öffnet Ohnehin das Thema jüdischer Identität im Land der Täter – im Fall Rabinovicis: in Österreich – für eine Auseinandersetzung mit dem Heimatund Identitätsbegriff anderer Nationen, die nach 1945 in Österreich leben. In die 29 Molnár 2009, S. 312. 30 „Bruchlinien“ verweist explizit und wortwörtlich auf den Titel eines einschlägigen Sammelbandes, der Vergangenheitspolitik und Repräsentationen der Shoah zitiert. Koch 1999.

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Überlegungen eingeschlossen wird in Ohnehin schließlich auch eine Täterfigur, die an Gedächtnisverlust leidet. Der Roman stellt die Frage: Wie ist mit diesem Täter, der keine Erinnerung und kein Geschichtsbewusstsein mehr hat, angemessen umzugehen? Und an welchen Kategorien würde sich diese Kategorie der ‚Angemessenheit‘ ausrichten? In den Texten der Zweiten Generation wird die Katastrophe der Shoah in ihrer grotesken Nachgeschichte sichtbar, in Formen einer zurückgekehrten Komik. Auf der Handlungsebene sind Dualismen und Spiegelungen für die Figurenkonstruktionen der Romane nicht nur bei Doron Rabinovici, sondern auch bei weiteren Autorinnen und Autoren der Zweiten Generation zentral.31 In den Romanen Rabinovicis generieren sich Konstruktionen von Identität stets durch die Auseinandersetzung mit anderen Identitäten. Nur in einem ständigen, prozessualen Abgleich mit anderen Identitäten kann die eigene Identität verortet werden. Dabei werden Identität und Heimat als komplex miteinander verschränkte Konstruktionen dargestellt, die sich auf divergente soziale und zeitliche Räume beziehen. In diesen Räumen und mit diesen Räumen machen die Protagonisten in den Romanen der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur ihre Erfahrungen und positionieren sich. Die Protagonisten in den Romanen Doron Rabinovicis sind Angehörige einer modernen, sich ständig verändernden Welt. Geschlossene Identitäten werden als Konstruktionen erkannt, die es zu demontieren gilt, um in einem ständigen Prozess der Aushandlung immer wieder neue und andere Identitäten auszubilden.32 Die Frage der eigenen Identität wird dabei immer weniger durch religiöse und nationale Zugehörigkeiten begründet – wie noch bei der Elterngeneration –, als vielmehr durch kulturelle Traditionen, literarische Bezugssysteme und – besonders ausgeprägt im Falle der jüdischen Identität, aber auch in anderen Zugehörigkeiten – durch die Selbstwahrnehmung, einer „Schicksalsgemeinschaft“ anzugehören. Bei Rabinovici sind Identität und Heimat unauflöslich miteinander verbunden, sein Heimatverständnis ist ein kosmopolitisches. Heimat in den Romanen Doron Rabinovicis ist mobil, transportabel, plural – und utopisch: „Andern-Orts“.33 Sie ist aus nationalstaatlichen und geografischen Fesseln befreit34 und verbindet Länder und Menschen miteinander. Sie liegt im Dazwischen und im Zusammen. Diese Heimat als Nicht-Ort, als Utopie verstanden, schafft keine spezifische Identität und keine spezifische Relation zwischen Einzelnen, sondern Einsam31 Düwell 2013, S. 283. 32 Hermann 2012, S. 440. 33 Die Handlungszentren der österreichischen Autoren der Zweiten Generation sind vorwiegend transitorische Orte als für eine kurze Zeitdauer bestimmte Plätze einer vorübergehenden Heimat. Mehr dazu in Beilein: 86 und die Folgen, 2008. 34 Molnár 2009, S. 319.

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keit und Ähnlichkeit.35 Wenn also Heimat als eine zeitgebundene, ständig im Wandel begriffene, flüchtige Vorstellung Einzelner verstanden wird, deren Beziehungen, Erfahrungen und Ausprägungen von Selbstverständnis mit ihr verbunden sind, ist eine Rückkehr, ein Zurückkommen nicht möglich: Denn inzwischen ist Zeit vergangen, haben sich ‚Heimat‘ und ‚Identität‘ gewandelt. Eine Rückkehr in eine solchermaßen konzipierte Heimat kann es nicht geben. Die Romane Doron Rabinovicis schreiben sich – ebenso wie die Mehrzahl der deutsch-jüdischen Romane der Gegenwartsliteratur seit den 1990er Jahren – unmissverständlich von dieser Erfahrung her. Sie sind jedoch, anders als die Romane und Essays der Ersten Generation, in denen sich diese Einsicht mit Trauer und Verzweiflung verbindet, nun auch ausgerichtet auf das utopische Potential, das diese Einsicht birgt.

Abkürzungen A: H: O: SnM:

Rabinovici, Doron: Andernorts. Berlin 2010. Rabinovici, Doron: Hundertundsiebzehn. Oder eine kurze Einleitung zum jüdischen Witz. In: Credo und Credit: Einmischungen. Frankfurt a.M. 2001, S. 61–66. Rabinovici, Doron: Ohnehin. Frankfurt a.M. 2004. Rabinovici, Doron: Suche nach M. Frankfurt a.M. 1997.

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„Ganz Deutschland ist ein Holocaust-Mahnmal“. Remigration in Edgar Hilsenraths Berlin… Endstation

In seinem bisher letzten Roman Berlin… Endstation (2006) thematisiert Edgar Hilsenrath die Frage nach den Möglichkeiten, Grenzen und Konsequenzen jüdischer Remigration in Deutschland nach 1945. Dabei begreift der Protagonist seines Romans ‚Rückkehr‘ als einen progressiven Akt, der sich von dem ohnmächtigen Ausharren jüdischer EmigrantInnen und ExilantInnen abgrenzt, die jenseits des Landes leben, in dem ihre identitätsstiftende und -sichernde Sprache gesprochen wird. Der Rechtfertigungsdruck, welchem sich ins „Land der Täter“ remigrierende Juden ausgesetzt sehen, wird in Berlin… Endstation genauso zur Sprache gebracht wie die Konfrontation der in Deutschland lebenden Juden mit Altnazis, Mitläufern und jungen Rechtsextremen. So beschreibt Hilsenrath jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 als im Spannungsfeld zwischen dem Streben nach Integration und dem Verharren in kritischem Dissens. Die aus der Shoahliteratur bekannte, in Exil- und Remigrationsromanen hingegen ungewöhnliche Einbindung literarischer Verfahren der Komik und Groteske erlaubt dem Autor die polemische Zuspitzung von Positionen und Zuständen. Zugleich werden durch individuelle Figurenzeichnungen klischeehafte SchwarzWeiß-Schemata so unterlaufen, dass die Frage nach der (Un)Möglichkeit von jüdischem Leben in Deutschland in dem Roman, der sich dezidiert an ein nichtjüdisches, deutsches Publikum richtet, nicht gelöst werden kann. Die Argumentation entwickelt ihre Überlegungen in drei Schritten: Nach einigen einleitenden Bemerkungen zu Handlung und zentralen Fragestellungen des Romans soll zunächst die von Hilsenrath in Berlin… Endstation entworfene Denkfigur von Remigration als progressivem Ausbruch aus der isolierten Exilgemeinschaft beleuchtet werden. In einem zweiten Schritt wird aufgezeigt, inwiefern die Remigration des Protagonisten Lesche nach Deutschland durch die Rückkehr zur Sprachheimat motiviert ist, bevor die von Hilsenrath in Berlin… Endstation erneut vorgenommene Einbindung grotesker Stilprinzipien erörtert wird; damit verknüpft soll auch der Frage nach potentiellen Gründen für die mangelnde Rezeption des Werks nachgegangen werden. Abschließend wird die im Roman geschilderte Darstellung von jüdischem Leben in Deutschland nach

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1945 als permanente Konfrontation mit Angehörigen der ersten, zweiten und dritten Generation der Täter betrachtet, bevor die gewonnenen Erkenntnisse in einem Fazit kumulieren. [der jüdische Emigrant Singer:] „Der Holocaust wird Sie überall in Deutschland verfolgen. Jedes Haus, jede Straße wird sie daran erinnern. Und die alten Leute. Es gibt kein Entrinnen. Glauben Sie’s mir.“ [Lesche:] „Man muss es auf einen Versuch ankommen lassen. […] Ich habe unlängst in einer jüdischen Zeitung gelesen […] dass die Deutschen in der Hauptstadt ein Holocaustmahnmal errichten wollen. Was halten Sie davon?“ „Das ist ein schlechter Witz“, sagte Singer. „Wozu brauchen die Deutschen ein Mahnmal? Ganz Deutschland ist ein Holocaustmahnmal.“ „Ganz Deutschland?“ „Ja. Ganz Deutschland.“1

Mit diesem Dialog zwischen den beiden jüdischen Emigranten Singer und Lesche leitet Edgar Hilsenrath in seinem Roman Berlin… Endstation die Remigration Lesches nach Deutschland ein. Der jüdische Shoah-Überlebende Joseph Leschinsky, genannt Lesche, blickt mit Resignation auf sein Leben zurück und muss konstatieren, sich auch nach 36 Jahren im amerikanischen Exil keine Existenz aufgebaut, weder Freunde, Frauen noch Erfolg gewonnen zu haben. Seine spärlichen sexuellen Kontakte beschränken sich auf einige wenige Prostituierte, sein sozialer Umgang auf gelegentlichen Austausch mit jüdischen Emigranten, die genau wie Lesche jeden Abend seit mehr als dreißig Jahren in derselben Emigrantencafeteria sitzen und deren Gedanken und Gespräche ausschließlich auf ihr in der Erinnerung stark verklärtes Leben in Deutschland vor dem Einbruch des Nationalsozialismus fokussiert sind. Berlin… Endstation ist Edgar Hilsenraths bisher letzter Roman.2 Hatte sich der Autor in seinem 1980 erschienenen Roman Bronskys Geständnis, der später programmatisch in Fuck America umbenannt wurde, kritisch mit der Frage nach deutsch-jüdischem Leben in den Vereinigten Staaten auseinandergesetzt, so erzählt er nun die Geschichte des mit starken autobiografischen Reminiszenzen ausgestatteten Schriftstellers Lesche, der sich zu einer Remigration ins Berlin der 1980er Jahre entschließt.3 Episodenhaft und in lakonischen Dialogen werden die 1 Hilsenrath. Edgar: Berlin… Endstation, 2006, S. 9. Im Folgenden werden Referenzen auf diesen Roman mit (BE Seitenzahl) abgekürzt. 2 Vgl. Seidler 27. 02. 2010. 3 Wie in zahlreichen Werken Hilsenraths verschwimmen durch die massive Einarbeitung autobiographischer Elemente die Grenzen zwischen Fiktionalität und Faktualität stark. Es versteht sich von selbst, dass Hilsenrath keinesfalls mit seinem Protagonisten Lesche gleichzusetzen ist – allein die oberflächliche Beobachtung, dass der Roman mit der Ermordung Lesches durch einen Schlägertrupp junger Neonazi endet, schließt eine gemeinsame Identität von Autor und Protagonist klar aus. Dennoch ist die biografische Ausstattung Lesches mit Hilsenrathschen Zügen augenscheinlich: Lesches Vita – Überleben der Shoah durch Flucht aus

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Bemühungen Lesches um ein erneutes Heimisch-Werden in der deutschen Gesellschaft der Wendezeit, seine literarischen Schaffensprozesse und seine Beziehungen zu Frauen geschildert – stets vor dem Hintergrund der alltäglichen Begegnungen mit Angehörigen der ersten, zweiten und dritten Täter-Generation. Dabei nimmt der Roman vor allem die neofaschistischen Tendenzen der jungen Deutschen scharf in den Blick: Nach zahlreichen antisemitisch motivierten Terroranrufen und Hakenkreuzschmierereien an Lesches Haustür endet der Roman schließlich mit seiner gewaltsamen Ermordung durch eine Gruppe junger Neonazis. Sowohl die Fokussierung auf Fragen nach der Verstrickung insbesondere der ‚nachgeborenen‘ deutschen Generationen in Schuld- und Verdrängung als auch die zwischen Groteske und Satire changierende Sprache weisen den ShoahÜberlebenden Edgar Hilsenrath einmal mehr als einen Autor aus, der als ein Vordenker der sogenannten zweiten Generation angesehen werden darf; ihr werden Autorinnen und Autoren wie Esther Dischereit, Robert Schindel, Doron Rabinovici, Barbara Honigmann u. a. zugerechnet, zumeist Kinder jüdischer Shoah-Überlebender, die mit ihren Werken seit Beginn der 1990er Jahre zunehmend an die Öffentlichkeit treten. Bereits in seinem 1983 herausgegebenen satirischen Erzählband Zibulsky oder Antenne im Bauch4 stellt Edgar Hilsenrath nicht mehr nur die Frage nach dem Umgang der jüdischen Hauptfigur mit dem Erlebten ins Zentrum seiner Erzählungen. Er erweitert vielmehr den Fokus auf die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien der nachfolgenden Generationen; ein in der Literatur der zweiten Generation häufig anzutreffender Topos. In ihr kommt zwar innerjüdischen Diskursen und Spannungen ein großes Gewicht zu,5 das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf der Auseinandersetzung mit dem nichtjüdischen Umfeld. Auch Hilsenrath konzentriert sich in Berlin… Endstation auf die deutschen Nachkriegsgenerationen und führt ihre Verhaltensweisen gegen-

dem Ghetto in die polnischen Wälder, Reunion mit der Familie in Frankreich, Emigration nach Amerika, Remigration nach Deutschland – ist mit der des Autors identisch, auch die Werke Lesches konvergieren – nicht nur was die Planungen für seinen großen Armenienroman betreffen – auffällig mit denen Hilsenraths. Am deutlichsten offenbaren sich die Parallelen zwischen dem Autor Hilsenrath und seiner fiktiven Schriftstellerfigur Lesche jedoch in der Gleichsetzung ihrer Texte: Mehrmals finden sich in Berlin… Endstation Abdrucke seitenlanger Passagen, welche Lesche unter dem Eindruck seiner Erlebnisse als Artikel für Zeitungen verfasst haben soll – die identischen Texte wurden allerdings unter Hilsenraths eigenem Namen bereits früher abgedruckt – etwa in Zeitungen wie die Kurzgeschichte Dichterlesung (in Die Zeit, 17. 03. 1978) oder in Anthologien wie beispielsweise die 1990 von Karlheinz Deschner herausgegebene mit dem Titel Woran ich glaube: Hilsenrath, Edgar: Ich bin von Natur aus ein Einzelgänger und singe nicht gerne im Chor. In: Woran ich glaube. Hg. v. Karlheinz Deschner. Gütersloh 1990, S. 111–114. 4 Hilsenrath: Zibulsky 2007. 5 Vgl. Oberwalleney 2001, S. 82.

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über dem Hauptprotagonisten vor, der die einzige bedeutende jüdische Figur des Romans darstellt.6 „Wie kann man als Jude in Deutschland leben?“7 Diese von Rafael Seligmann aufgeworfene Frage, um die Hilsenraths Remigrationsroman Berlin… Endstation zirkuliert, ist für die Autorinnen und Autoren der zweiten Generation der zentrale, letztlich alle Aspekte jüdischer Identität in Deutschland nach 1945 tangierende Referenzpunkt. Trotz der Wahrnehmung antisemitischer Kontinuität setzen sich die Autorinnen und Autoren der zweiten Generation in ihren Texten mit der Tätergesellschaft auseinander, anstelle sich auf Hass- und Rachegefühle zurückzuziehen. Auch rückt Hilsenrath in Berlin… Endstation den noch in seinem fünften Roman Fuck America selbstbewusst herausgestellten Habitus des selbsttherapeutischen Schreibens als Motivation für den ShoahÜberlebenden in den Hintergrund und richtet seinen Blick auf aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen. Das von Seligmann angesprochene Spannungsfeld von Integration und kritischem Dissens, dem sich jüdische Identität in Deutschland und Österreich ausgesetzt sieht, wird auch in Hilsenraths Remigrationsroman thematisiert. In Berlin… Endstation führt der Autor an der Figur Lesches eine als jüdisch markierte Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit und ihrer Medien- und Gedächtniskultur vor Augen. Insgesamt stellt Hilsenrath in Berlin… Endstation die potentielle Kontinuität jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945 einer vergangenheitsbezogenen, würdelosen Außenseiter-Existenz in einer als erfolgsorientiert und skrupellos charakterisierten amerikanischen Gesellschaft gegenüber, wie sie in Fuck America entworfen wurde. Die für antisemitische und rassistische Entwicklungen besonders sensiblen Beobachtungen des Remigranten führen zur Formulierung einer überaus kritischen Position Deutschland gegenüber und münden am Ende des Romans in die Frage nach der Möglichkeit jüdischen Lebens im „Land der Täter“.

Remigration als progressiver Ausbruch aus der isolierten Exilgemeinschaft Hilsenraths Berlin… Endstation charakterisiert Lesches Remigration als Ausbruch aus der zu Beginn des Romans geschilderten isolierten, leblosen Welt, in der die in den USA verbleibenden deutsch-jüdischen Exilanten und Exilantinnen in stumpfsinniger Versunkenheit in Sentimentalitäten gezeigt werden; ihre 6 Zwar werden einige wenige ebenfalls in Deutschland lebende jüdische Figuren am Rande eingeführt, jedoch ausschließlich im Rahmen der Synagogengemeinde. 7 Seligmann 1991, S. 58.

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Existenzen verkörpern einen absoluten Stillstand. Die Welt, die Hilsenrath hier zeichnet, erinnert an die „ewig diskutierenden Emigrantenzirkel“8 und deren „großes Geschwätz“9, wie sie Oskar Maria Graf oder auch Hilde Spiel in ihren Romanen über die europäische Exil- und Nachexilgemeinschaft beschreiben, deren Gespräche im Aufnahmeland USA ausschließlich um ihren „Liebeshaß auf Europa und ihre Haßliebe zu Amerika“10 kreisen. In diesen beiden Romanen steht, genau wie zu Beginn des Romans Berlin… Endstation, die Beschreibung eines „prekäre[n] Zustand[es] eines zeitlich entkoppelten, prinzipiell endlos fortwährenden Exils“11 sinnbildlich für die Unvereinbarkeit von Heimat und Exil. Während Hilde Spiel an den Figuren Lisa und Lele die unvermeidliche Fügung in zwei extreme Möglichkeiten des Umgangs mit dem Exil – entweder die Abkapselung in ein eurozentriertes Exterritorium oder die vollständige Assimilation an die amerikanische Gesellschaft – vorschreibt, bieten Graf und Hilsenrath mit der Option der Remigration einen ‚dritten Weg‘ an, welcher allerdings in beiden Romanen nicht als gelungene Rückkehr in die Heimat geschildert wird. Hilsenraths Protagonist Lesche schreibt seinen Bekannten in Amerika ausschließlich den Status von Emigranten zu. Während die Angehörigen dieses Zirkels – im Gegensatz zu Lesche – bereits vor 1945 aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA geflohen waren und so in Abgrenzung zur Bezeichnung Emigranten die Bezeichnung Exilanten durchaus auf sie zuträfe, wird dieser Begriff in dem Roman strikt vermieden. Lesche, der seit der Vertreibung aus Deutschland 1938 auch nach Kriegsende deutschen Boden nicht mehr betreten hatte, setzte erst Anfang der 50er Jahre von Frankreich aus gemeinsam mit der Familie nach Amerika über; die Kosten für die Überfahrt auf einem französischen Luxusdampfer hatte ein jüdischer Hilfsfonds für Displaced Persons übernommen (vgl. BE 228). Seine Entscheidung gegen eine Rückkehr auf die „blutbefleckte Erde“ ins „Land der Täter“ fällt mit der vorläufig endgültigen Trennung von der geliebten Literatursprache Deutsch zusammen; somit kann auch Lesches Emigration in die USA nicht als eine freiwillige gelten. Lesches Weigerung, den Begriff Exilant zu verwenden, im eigenen Fall gar der Verzicht darauf, sich auch nur als Emigrant zu bezeichnen, verweist auf das Leiden an der Ungewissheit seines transitären Zustandes und ist zugleich Ausdruck seines Unwillens, die eigene Existenz in schematische Kategorien wie Exil oder Emigration zu verorten. 8 Bauer/Pfanner 1984, S. 168. 9 „Das große Geschwätz“ war genau wie „Der misslungene Roman oder die Heimkehr ins Mittelmäßige“ Arbeitstitel der Romanentwürfe – diese angedachten Titel verweisen bereits auf die zentralen Leitthemen (Geschwätz/Literatur, Heimat/Exil) des endgültigen Werks. Vgl. Leine 2013, S. 315. 10 Spiel 1965, S. 123. 11 Leine, S. 314.

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Der (nichtjüdische) Protagonist Martin Ling in Oskar Maria Grafs Flucht ins Mittelmäßige zieht anstelle der Selbstbezeichnung als Exilant oder Emigrant den jüdischen Schlüsselbegriff des „Diasporiten“ vor. Die bewusste und polemische Entscheidung für diesen Begriff markiert in Grafs Roman die Einsicht seines Protagonisten in die Nicht-Restituierbarkeit von ‚Heimat‘: In der Konsequenz ist den Diasporiten nicht nur die Integration in die amerikanische Gesellschaft und die Möglichkeit zur Partizipation an deren Entwicklung verwehrt, sondern auch der Weg zurück nach Deutschland.12 Als Martin Ling schließlich dennoch resigniert New York den Rücken kehrt, erweist sich für ihn die Remigration nach Deutschland nach gewonnener Einsicht der Unmöglichkeit eines erneuten Heimisch-Werdens als „planlose Flucht in eine neue Diaspora“13. Kehrt in Oskar Maria Grafs Roman Die Flucht ins Mittelmäßige der Protagonist als ein gescheiterter Schriftsteller nach Deutschland zurück, um dort ein einfaches Leben ohne Absicht auf Ruhm zu führen, so erfolgt die Remigration des Hilsenrathschen Protagonisten unter umgekehrten Vorzeichen. Lesches Motivation zur Rückkehr liegt in erster Linie in der von ihm immer wieder aufs Neue formulierten Notwendigkeit begründet, als Schriftsteller in der eigenen Sprachheimat zu leben: „‚Ich habe mir dir Sache gründlich überlegt‘, sagte Lesche. ‚Ich bin deutscher Schriftsteller und brauche die deutsche Sprache. Ich muss sie hören, immer und immer wieder.‘“ (BE 9)

Rückkehr in die Sprachheimat – und zur literarischen Groteske Mit dem dezidierten Hinweis auf das sich im Konnex von Exil und Sprache eröffnende Spannungsfeld bezieht sich Hilsenrath auf einen traditionellen Topos, der in nahezu alle exilliterarischen Werke Eingang findet. Genau wie zahlreiche andere Autorinnen und Autoren hat auch Hilsenrath mehrfach auf die Schwierigkeiten literarischen Schaffens für Schriftsteller und Schriftstellerinnen im Exil und in der Emigration hingewiesen und dabei die Notwendigkeit, in einem deutschsprachigen Umfeld zu leben, für sich selbst wiederholt formuliert. In Berlin… Endstation verdeutlicht sein Protagonist Lesche diese Auffassung von einer zutiefst identitätsstiftenden Verwurzelung in der deutschen Sprache und Kultur mit der Metapher der deutschen Sprache als seiner „Geliebten“: „Ich will zu meiner Geliebten […]. Ich bin verliebt in die deutsche Sprache.“ (BE 16f.) Die Metapher der „Geliebten“ verwendet auch Maxim Biller. Anders als Hilsenrath führt er diese jedoch bezeichnenderweise nicht mit dem Äquivalent

12 Vgl. ebd., S. 316. 13 Graf 1959, S. 497.

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„deutsche Sprache“, sondern mit „Deutschland“ zusammen, wenn es in seiner Erzählung Ein perfekter Roman heißt: Ja, der Jude Geherman hatte Deutschland so geliebt wie nur Juden Deutschland lieben können, Deutschland war sein Zuhause gewesen, es war seine Mutter, sein Vater, seine Geliebte, und weil er nach allem, was geschehen war, niemals dorthin zurückkehren würde, klammerte er sich nun um so verbissener, verzweifelter an die deutsche Sprache und Literatur.14

Die Figur in Maxim Billers Erzählung lehnt trotz ihres ironisch auf Deutschland verweisenden sprechenden Namens eine Remigration radikal ab. Für Geherman steht die deutsche Sprache für eine zwar bedeutende, tragischer Weise zugleich aber ewig unzureichende Restitution, die das geliebte Heimatland niemals in befriedigender Weise ersetzen kann. Umgekehrt sieht Edgar Hilsenraths Figur Lesche die Rückkehr auf deutschen Boden zwar als einen riskanten, doch notwendigen Schritt an, um sein eigentliches Ziel – das Leben in der Sprachheimat – realisieren zu können. Dem Autor Edgar Hilsenrath gelang es, die Exilsprache Englisch fließend zu erlernen. Wie zahlreiche andere Autoren verweigerte er sich jedoch konsequent der Umstellung seiner Literatursprache Deutsch, auch wenn sich die Einarbeitung von Amerikanismen in seine Texte beobachten lässt.15 Wenn die mit stark autobiografischen Zügen ausgestattete Figur des Lesche davon spricht, die „deutsche Sprache wie einen Schatz gehütet und durch vieles Lesen bereichert“ (BE 14) zu haben, so wird darin zugleich auch die Überzeugung des Autors sichtbar, dass für den Schriftsteller Sprache nicht nur einen Zugang zum sozialen Leben darstellt und alltägliche Kommunikation ermöglicht, sondern zugleich und in besonderem Maße als Träger von Bildung und Kultur, als Speicher von Erinnerungen und Erfahrungen fungiert. Das Aufgeben der Muttersprache Deutsch als Literatursprache wäre für den Schriftsteller – und auch für den Autor Hilsenrath, so legt es Lesches Äußerung nahe – gleichzusetzen mit einem tiefgreifenden Identitätsverlust. „Mein größtes Problem in Amerika war das Sprachproblem, obwohl ich gut englisch spreche.“ (BE 16): Mit diesen Worten verleiht Lesche seiner Angst vor 14 Biller 2010, S. 234. 15 In den Dialogen zwischen den Protagonisten Lesche aus Berlin… Endstation bzw. Bronsky aus Fuck America und den amerikanischen Nebenfiguren dominiert eine sich „am amerikanischen Slang der fünfziger Jahre“ (Dopheide 2000, S. 146) orientierende Sprache, wobei diese durch die Ausdrucksweise der sozial deklassierten Dialogpartner – etwa Prostituierte oder Obdachlose – häufig obszönen Charakter erhält; so bezeichnen die amerikanischen Prostituierten den Protagonisten zumeist als „Mutterficker“ (beispielsweise BE 8); eine eindeutige Anlehnung an den englischen Vulgärbegriff „motherfucker“. Die Männer hingegen sprechen sich untereinander mit der Anrede „Mac“ oder „buddy“ (Fuck America, S. 29) an.

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einer Verarmung der Sprache durch die jahrelange Entfernung von der deutschen Sprachheimat Ausdruck. Berlin… Endstation zeichnet sich durch eine einfache, realitätsnahe und von knappen repetitiven Dialogen durchsetzte Sprache aus. Wenn der Roman auch zeitweise über lange Passagen hinweg keinerlei komische Elemente aufzuweisen hat und die Gattungszugehörigkeit bei Weitem nicht so präzise zu beurteilen ist wie etwa bei Hilsenraths bekanntestem Werk Der Nazi & der Friseur, so ist doch – mit starken Einschränkungen – auch Hilsenraths Altersroman im Bereich der literarischen Groteske zu verorten. Im Vergleich zu seinen frühesten Romanen in stark abgeschwächter Form, lässt sich doch auch hier die für die groteske Rhetorik typische übersteigerte Herausstellung extremer Körperlichkeit und Sexualität finden. Auf Dialog- und Sachebene manifestiert sich in Berlin… Endstation ein weiteres Spezifikum der Groteske, nämlich die akausale Verknüpfung zweier miteinander unvereinbarer Sinnebenen. Gerade wenn die Handlung des Romans zugunsten von Einschüben – entweder Lesches Erinnerungen an die traumatische Vergangenheit oder seine surrealen Wahnvorstellungen – unterbrochen wird, zeigt sich in der Zusammenführung antonymer Sinnelemente immer wieder die ambivalente Wirkung des Grotesken, die sich als unaufgelöste Spannung von Lachen und Grauen äußert. In Berlin… Endstation besucht etwa der Shoah-Überlebende Lesche am 20. April, dem Geburtstag von „Onkel Adolf“, das „Museum der unbewältigten Vergangenheit“. Plötzlich findet er sich dort in der Position des Angeklagten in einem fiktiven Gerichtssaal wieder, wo er vom Kollektiv des deutschen Volkes beschuldigt wird, sechs Millionen Mal geschrien und so das „verführte Volk“ erschreckt zu haben (vgl. BE 58–63). Die „überraschende Zusammenführung des Heterogenen“16 als charakteristisches Gattungsprinzip der Groteske manifestiert sich im Textbeispiel in der Umkehrung der zugeschriebenen Täter-Opfer-Identität. Damit schlägt Hilsenrath mit seinem vorläufig letzten Roman Berlin… Endstation den Bogen zurück zur literarischen Groteske: Nachdem der Autor mit seinen ersten beiden Romanen Nacht und Nazi & Friseur das Wirkungspotential von schwarzem Humor und Groteske voll ausgeschöpft hatte, tendierten die folgenden Werke Moskauer Orgasmus und Fuck America eher zu einer satirischen Darstellungsweise, wobei im Hinblick auf das Gesamtwerk des Autors der Rückgriff auf Gestaltungsmittel aus dem Bereich der Komik insgesamt spärlicher wurde. Auf die spezifisch humoristische Darstellungsweise, welche Hilsenraths früheren Romane geprägt hatte, verzichtet der Autor schließlich in seinem vorletzten, als autobiografisch beworbenen Roman Die Abenteuer des Ruben Ja-

16 Heselhaus 1961, S. 287.

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blonski gänzlich: Groteske, Satire oder schwarzer Humor sind in diesem Werk „als Stilprinzipien der Narration nicht mehr präsent.“17 Während die Handlung der Abenteuer des Ruben Jablonski zudem linear, also „von A nach B erzählt“18 wird, findet Hilsenrath im Roman Berlin… Endstation, der zahlreiche Einschübe sowie Pro- und Analepsen aufweist, nicht nur zum „konstruktiven […] Erzählen“19 zurück. Der Autor bindet, wie aufgezeigt wurde, darüber hinaus erneut komische und groteske Stilprinzipien in Narration und Handlungsebene ein: Damit fällt die Erzählung von der Rückkehr des Protagonisten zusammen mit der Rückkehr des Autors zu ehemals verwendeten literarischen Gestaltungsmitteln; mit dem letzten Roman der Gesamtausgabe seiner Werke schließt Hilsenrath den Kreis. Unter den Autorinnen und Autoren der ersten Generation stellt Edgar Hilsenrath in dem Versuch, die Shoah mittels Elementen von schwarzem Humor und Groteske literarisch zu fiktionalisieren, zwar eine Ausnahme dar, steht jedoch nicht allein: Neben den Dramen George Taboris seien hier Autoren wie Tadeusz Borowski, Jakov Lind, Jurek Becker oder Johannes Bobrowski zu nennen. Doch erst seit den 90er Jahren wird der Einsatz komischer und grotesker Mittel zu einem gebräuchlichen literarischen Verfahren – die Werke von Autorinnen und Autoren wie Maxim Biller, Robert Schindel, Rafael Seligmann oder Eva Menasse legen Zeugnis von diesem tiefgreifenden Paradigmenwechsel in der Shoahliteratur ab. Im Hinblick auf die Einbindung von Elementen aus dem Bereich der Komik und Groteske kann Hilsenrath mit Berlin… Endstation somit zwar an eine Tradition grotesker shoahliterarischer Werke anknüpfen; die Verschränkung der Motive von jüdischem Exil und Remigration bei gleichzeitiger Verknüpfung mit humoristischen Verfahren, wie Hilsenrath sie in diesem Werk vornimmt, ist jedoch neu. Indem Hilsenrath realistische und bisweilen sentimentale Darstellungen mit grotesken Stilprinzipien verschränkt und auf die deutsch-jüdische Exil- und Remigrations-Literatur überträgt, setzt Berlin… Endstation im Kontext der Remigrationsliteratur ganz neue Akzente. Hilsenraths Opus wurde längst die Aufnahme in den literarischen Kanon zuteil; darüber hinaus geriet der Autor des Märchen[s] vom letzten Gedanken anlässlich des 100jährigen Gedenkens an den armenischen Völkermord, wenige Jahre zuvor aber auch aufgrund von Rechtsstreitigkeiten in den Fokus medialer Aufmerk17 Dopheide 2000, S. 169. Dopheide sieht die Entscheidung des Autors für den Verzicht auf humoristische Gestaltungsmittel in der autobiografischen Erzählintention begründet und dementsprechend die „erzählerische Vermittlung individuell erlebter Realität an einen objektiven Erlebnisstil gebunden […], damit die eigene Lebensbeschreibung den Anspruch auf Authentizität des Erlebten nicht verliert.“ Ebd., S. 170. 18 Der Literaturagent Uwe Heldt im Interview vom 05. 03. 2002 mit Patricia Vahsen. Vahsen 2008, S. 334. 19 Ebd.

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samkeit.20 Angesichts dessen muss es verwundern, dass die Reaktionen innerhalb des deutschen Kulturbetriebs auf seinen vorläufig letzten Roman Berlin… Endstation eher spärlich ausfielen; es ist fraglich, ob die verhaltene Rezeption des Werks nur auf einige sprachliche und kompositorische Schwächen des Romans zurückzuführen ist.21 Da das vor mehr als zehn Jahren erschienene Werk auch in der wissenschaftlichen Forschung bis heute vollständig übergangen wurde,22 liegt vielmehr die Vermutung nahe, dass Hilsenraths literarische Herangehensweise an den Topos jüdische Remigration nach Deutschland als unangemessen empfunden wurde, gerade weil sich der Roman eindeutigen Zuordnungen entzieht. Damit eröffnet sich eine Parallele zur Rezeptionsgeschichte seiner frühen Werke:23 Dem tabubehafteten Diskurs über Juden in Deutschland nach 1945 fielen Hilsenraths ersten beiden Romane Nacht und Der Nazi & der Friseur zum Opfer24 – sein konsequentes Anschreiben gegen den philosemitischen Zeitgeist der Nachkriegsjahre, der schockierende Rückgriff auf Groteske und schwarzer Humor sowie die prominente Einbindung sexueller Motive waren dem Autor lange nicht verziehen worden. Die „späte Anerkennung für Edgar Hilsenrath“25 ging erst mit der seit Ende der 70er Jahre entstandenen neuen Bereitschaft einher, sich verstärkt mit der Shoah auseinanderzusetzen, bis schließlich in den 90er Jahren – auch „im Wissen um ähnliche Erzählformen von Imre Kertész […] bis Robert Benigni“26 – die Erkenntnis des innovativen Potentials fiktionalisierter und humoristischer Shoah-Darstellungen erfolgte.27

20 Am 23. 07. 2012 erschien etwa im Spiegel ein zweiseitiger Artikel zu Hilsenraths Streit mit seinem ehemaligen Verleger Volker Dittrich. Hage 2012, S. 116f. 21 So häufen sich in Berlin… Endstation gerade gegen Ende hin wenig sorgfältig formulierte, allzu gefühlvolle Passagen, sexistische Ausfälle sind keine Seltenheit. Die Komplexität eines Märchen[s] vom letzten Gedanken, die groteske, schwarzhumorige Schärfe eines Nazi & Friseur oder die tragikomische Sprachbrillanz von Jossel Wassermanns Heimkehr werden in diesem Roman nicht mehr erreicht. So konstatiert Sundermeier in seiner in der Berliner Zeitung erschienenen Rezension von Berlin… Endstation denn auch: „Hilsenrath selbst weiß, dass dieser Roman nicht sein bestes Buch ist. Auch muss man bemängeln, dass es nicht sehr aufmerksam lektoriert worden ist. Allerdings hat das Buch beeindruckende Stellen, die den unbeirrt Lesenden reichlich entlohnen.“ Sundermeier 2006. 22 Zu Berlin… Endstation existiert keine einzige wissenschaftliche Publikation, was auch darauf zurückzuführen ist, dass die einzigen beiden Sammelbände zum Autor vor dem Erscheinen von Berlin… Endstation (2006) herausgegeben wurden. Braun 2005, Kraft 1996. Gleiches gilt für die Monografien zum Werk des Autors – mit zwei Ausnahmen, welche sich allerdings weniger mit Hilsenraths Werk als vielmehr mit seiner Biographie beschäftigen. Braun 2006, Dittrich 2012. 23 Zur Rezeptionsgeschichte der Hilsenrathschen Romane siehe Vahsen 2008, Möller 1991. 24 Bomsdorff 2015, S. 274. 25 Ebd., S. 272. 26 Ebd., S. 274. 27 Vgl. ebd.

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Im Gegensatz zu seinen frühen Shoahromanen, welche Rezipienten und Kulturbetrieb schockierten, scheint Hilsenrath mit Berlin… Endstation an keine eindeutig bestehenden Tabus mehr zu rühren. Gleichzeitig entzieht sich der Roman jedoch eindeutigen Kategorisierungen, wenn Hilsenrath die unmissverständliche Kritik an deutschen Verhältnissen mit Zugeständnissen verbindet und die Frage nach der potentiellen Kontinuität jüdischen Lebens in Deutschland bewusst offenlässt. Auch in der sprachlichen Gestaltung des Romans vermeidet der Autor Festlegungen, wenn realistische Schilderungen, groteske Einschübe und sentimentale Passagen unvermittelt nebeneinanderstehen. Der Schlüssel für die mangelnde Bereitschaft zur Auseinandersetzung und Akzeptanz von Berlin… Endstation scheint letztlich darin zu liegen, dass Hilsenraths Roman eben nicht greif- und fassbar ist und Eindeutigkeiten demonstrativ vermeidet. Gerade darum zeigt sich Dieter Hildebrandt in seiner in der Zeit erschienenen ambivalenten Rezeption des Werks ratlos angesichts des angeblich von Hilsenrath betriebenen „Versteckspiel[s]“ und der „Irrlichterei“, welche man nicht „als narrative Marotte oder artistische Spielerei abtun“28 kann, denn: Bei Hilsenrath hat man immer den Eindruck, als handele es sich um traumatische Tarnungen, existenzielle Passfälschungen, als wolle er lieber auf dem falschen Fuß als auf dem richtigen Ich ertappt werden. Da ist ein transitorisches Selbst am Werk, das sich, in jedem Sinn des Worts, nicht greifen lassen will.29

Damit gibt die von Hildebrandt geäußerte Kritik letztlich die Antwort auf die Frage, warum Hilsenrath, dessen Werk nur zögerlich und verspätet Anerkennung gefunden hat, nun einmal mehr übergangen wird: Der Autor verwehrt sich gegen alle Vereinnahmungen, gleich von welcher Seite. Die einfache, scheinbar anspruchslose Sprache täuscht leicht darüber hinweg, dass Hilsenrath, indem er gegen binäre Kategorisierungen anschreibt, Zuschreibungen von Eigenem und Fremdem, von Heimat und Exil radikal in Frage stellt. Denn für den ShoahÜberlebenden muss die Welt als ein grotesker Ort erscheinen, in dem es – wie Lesches Außenseiter-Existenz in den USA und die Ermordung in Deutschland beweisen – letztlich keinen Platz für ihn gibt.

28 Hildebrandt 07. 12. 2006. 29 Ebd.

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Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 als Konfrontation mit der ersten, zweiten und dritten Generation der Täter Zwar beschäftigt die Auseinandersetzung mit dem Judentum alle Romane Hilsenraths, gerade in den späteren Werken des Autors tritt jedoch immer klarer hervor, dass das Festhalten seiner Protagonisten an ihrer Religionszugehörigkeit in erster Linie als Solidarisierung mit der jüdischen Schicksalsgemeinschaft zu begreifen ist. In Berlin… Endstation zeigt uns der Autor mit Lesche einen Juden, der sich seiner Zugehörigkeit zum Judentum erst durch rassistische Zuschreibungen der Nationalsozialisten bewusstgeworden war. Hatte in Amerika das Attribut der Erfolglosigkeit das der Religionszugehörigkeit überwogen, so kehrt sich dies im Moment der Remigration nach Deutschland wieder um und bringt den religiös indifferenten Lesche zur Reflexion über sein individuelles Verhältnis zu Deutschund Judentum.30 Die seit seiner Rückkehr nach Deutschland permanente Erinnerung an sein Anderssein bewirkt bei Lesche die Besinnung auf das Gefühl untrennbarer und inniger Verbundenheit mit der jüdischen Schicksalsgemeinschaft (vgl. BE 195). Hilsenrath lässt keinen Zweifel daran, dass von einer reibungslosen Eingliederung Lesches in die deutsche Gesellschaft keine Rede sein kann. Dass ihm im öffentlichen Leben entweder übermäßige Freundlichkeit oder Gehässigkeiten entgegenschlagen zeigt deutlich, dass ein Jude in Deutschland immer noch als der genuin Andere wahrgenommen wird, als Attraktion gilt und keineswegs auf Normalität hoffen darf. So wird Lesche immer wieder der eingangs zitierte, beinahe prophetisch anmutende Satz des Emigranten Singer in Erinnerung gerufen: „Ganz Deutschland ist ein Holocaust-Mahnmal.“ (BE 8). Auch wenn die Emigranten ihm dringend von einer Remigration nach Deutschland abraten, formuliert Lesche in seinem letzten Gespräch in New York überaus optimistisch seine Erwartungen folgendermaßen: „Ich habe mir die Sache gründlich überlegt […]. Außerdem ist Deutschland heute ein demokratisches Land. Der Hitlerspuk ist längst vorüber, und inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen.“ (BE 9) Diese Antwort lässt einerseits – wie es der Handlungsverlauf zeigen wird – auf eine gewisse Naivität Lesches schließen. Andererseits thematisiert sie den Rechtfertigungsdruck, dem sich Juden nach der Entscheidung für eine Wahl Deutschlands als Lebensort ausgesetzt sahen. Lesches Gespräch mit den Emi30 Obwohl Lesche beispielsweise mehrmals detailliertes Wissen um jüdische Riten und Bräuche unter Beweis stellt, bekennt er sich offen zu seinem typisch deutschen Lieblingsgericht Schweinshaxe; auch nimmt er, obwohl die Berliner Synagoge seine erste Anlaufstelle zur Wohnungsvermittlung ist, keinen Anteil an der jüdischen Gemeinde.

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granten kann als eine Anspielung auf die Tatsache gelesen werden, dass jüdische Remigration auch noch lange nach 1945 einem Tabubruch glich und für viele Juden insbesondere in Israel, aber auch in der Diaspora eine Provokation bedeutete.31 Diese Kritik an in Deutschland lebenden Juden wurde bereits literarisch verarbeitet, insbesondere in der Literatur der zweiten Generation. Rafael Seligmann formuliert in seinem Essay „Mit beschränkter Hoffnung“ die provokative These, dass jüdisches Leben in Deutschland aufgrund der Tatsache, dass man stets als „Jude in Deutschland, nicht [als] deutscher Jude“ wahrgenommen werde, eine „freiwillige Rückkehr ins Ghetto“32 bedeute. Während in der sogenannten ersten Phase direkt im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg eine starke, vor allem politisch motivierte Remigration nach Deutschland zu verzeichnen war, kehrten in der zweiten Phase in den 1950er und 1960er Jahren neben Intellektuellen und Künstlern hauptsächlich Juden zurück in ihr Heimatland. In Berlin… Endstation lässt Edgar Hilsenrath, der 1975 Amerika den Rücken kehrte, seinen Protagonisten Lesche ebenfalls Anfang der 1980er Jahre nach Deutschland remigrieren. Sowohl die reale Rückkehr des Autors als auch die imaginierte Remigration seines Protagonisten Lesche stellen also aufgrund des späten Zeitpunktes eine Besonderheit dar. Sie gewinnen dadurch an Brisanz, als in den 1960er Jahren der bis dato vorherrschende philosemitische Zeitgeist vom wieder aufbrechenden Antisemitismus abgelöst wurde.33 Hilsenrath zeichnet in seinen Werken diesen Prozess literarisch nach: Hatte der Autor in seinen früheren Satiren, Kurzgeschichten und Romanen den Fortbestand rassistischer Ressentiments noch mit hintergründiger Ironie und satirischen Anspielungen entlarvt, so verzichtet er am Schluss von Berlin… Endstation auf jede Komik und stellt die der zukunftsoptimistischen Hoffnung geschuldete Leichtgläubigkeit Lesches als tödlichen Trugschluss heraus. Singers Prophezeiung, Lesche werde „als Jude in Deutschland nicht lange leben können“ (BE 9), erweist sich durch seine Ermordung als sehr real. Mit Lesches Ermordung haben, wie eine Freundin Lesches resümierend auf der letzten Seite des Romans konstatiert, „die Enkel der alten Nazis vollbracht […] was den alten Nazis nie gelungen ist“ (BE 236). In seinem Gesamtwerk zeichnet Edgar Hilsenrath – vom grotesken, schwarzen Humor seiner frühen Werke bis hin zum ernsten Ende seines letzten Romans – die erschreckende Radikalisierung neoantisemitischer Kreise literarisch nach. Dabei konstruiert Hilsenrath einen dezidierten Konnex zwischen der ersten und der dritten Generation deutscher Täter, der im Laufe des Romans durch zahl31 Vgl. Brenner, Michael u. Norbert Frei: Zweiter Teil: 1950–1967. Konsolidierung. In: Brenner 2012, S. 213. 32 Seligmann 1991, S. 80. 33 Vgl. Brenner 2012, S. 264–280.

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reiche Parallelkonstruktionen nahegelegt wird. Die zweite Generation fällt aus diesem Zusammenhang heraus, wenn auch auf eine widersprüchliche und damit letztlich verhängnisvolle Weise. Denn während die zweite Generation zwar ironisch als eine charakterisiert wird, deren Angehörige sich in den Medien durch zahllose Berichte über den Massenmord gegenseitig zu übertrumpfen versuchen, um die Schuldlosigkeit ihrer Generation unter Beweis zu stellen (vgl. BE 109), so ist sich diese Generation dennoch zugleich ihrer Verantwortung und ihrer Verpflichtung zu Erinnerung und Mahnung bewusst. Bei der ersten und dritten Generation dagegen erfolgt eine Selbststilisierung unter umgekehrten Vorzeichen: Ihre Verdrängung und Verharmlosung der Vergangenheit geht einher mit einem unverhohlenen, aggressiven Antisemitismus. Diesen stellt Lesche in eine Linie mit der um sich greifenden Ausländerfeindlichkeit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Die gesellschaftliche Situation der Weimarer Jahre mit den Entwicklungen in der Wendezeit vergleichend, erkennt Lesche in der hohen Arbeits- und Perspektivlosigkeit der deutschen Jugend einen gefährlichen politischen Zündstoff (vgl. BE 67). Als eine Verkörperung der so dezidiert negativ charakterisierten ersten Generation erscheint zunächst Lesches ehemaliger Peiniger Fritz Tischler, der ihm damals mit Schlägen und antisemitischen Diffamierungen die Schulzeit zur Hölle gemacht hatte. In zahlreichen Wahnvorstellungen halluziniert Lesche – eine intertextuelle Anleihe aus Erich Maria Remarques Arc de Triomphe34 – verschiedene Variationen eines befriedigenden Rachemordes an Tischler, um letztlich jedoch eine versöhnliche Entdeckung zu machen: der verhasste Erzfeind zeigt sich bei der Wiederbegegnung als ein „geläuterter Nazi“ (BE 191), der aufrichtig seine Worte und Taten bereut. Die literarische Darstellung solch einer Wandlung, auf deren Authentizität und Glaubwürdigkeit insistiert wird, gibt es im Hilsenrathschen Werk kein zweites Mal. Im Gegenteil kontrastiert dieses Zugeständnis an die menschliche Fähigkeit zu Umkehr und Reue in Hilsenraths Alterswerk mit seinen frühen Werken, insbesondere mit seinem Zweitroman Der Nazi & der 34 In seinem Essay Lesen Sie mal den Arc de Triomphe charakterisiert Hilsenrath die Lektüre von Remarques Arc de Triomphe als ein ihn prägendes und zum Schreiben animierendes Erweckungserlebnis. Im ersten Satz seines Essays bezeichnet Hilsenrath Remarque als seinen „geistige[n] Vater und großes Vorbild“ und verweist im Folgenden auf die Analogien zwischen seinem ersten Roman Nacht und dem Arc de Triomphe. Dass die in Berlin… Endstation detailreich fantasierte Rache an Tischler eine intertextuelle Anspielung auf Remarques Roman und zugleich eine Modifikation des darin beschriebenen Mordes des Protagonisten Ravic an dem ehemaligen Gestapoagenten Haake darstellt, beweist eine Passage aus Berlin… Endstation, in welcher sich Lesche die Handlung von Arc de Triomphe vor dem Treffen mit Tischler vergegenwärtigt und resümiert: „In Remarques Roman wird der Akt der Rache als ein Akt der Gerechtigkeit dargestellt. Sein Romanheld hat keinerlei Skrupel. Haake, der hundertfache Mörder, hatte den Tod verdient. Auch Fritz Tischler, der Lesches Kindheit zerstört hatte, hatte den Tod verdient.“ (BE 171). Hilsenrath: Arc de Triomphe, 2008, S. 50–56.

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Friseur, in welchem der Autor vermeintliche Gesinnungsänderungen als Farce herausstellt und entlarvender Lächerlichkeit preisgibt.35 Dass jedoch die moralische Wandlung an einer Figur der ersten Generation vorgeführt wird, beleuchtet die Kritik und akzentuiert den Kontrast zur dritten Generation der Enkel, die sich im Gegenzug politisch gewalttätig radikalisiert. Im Gesamtwerk Hilsenraths lässt sich in diesem Sinne eine Verschiebung ausmachen, wenn die Bedrohung durch Nationalsozialisten der ersten Generation an der exemplarischen Entwicklung Tischlers abgeschwächt, zugleich jedoch durch den Verweis auf die wachsende Gefahr durch junge Neonazis erneuert wird. Diese Entwicklung wird vom Autor bewusst reflektiert und durch intratextuelle Verweise kommentiert, wenn er in einer ironischen Selbstreferenz den Mann mit dem Namen Tischler den Beruf eines Friseurs ausüben lässt – ausgerechnet jenen Beruf also, den der Protagonist seines bekanntesten Romans Der Nazi & der Friseur innehat, ein Protagonist, der äußerlich zwar überaus anpassungsfähig ist, innerlich jedoch keine Entwicklung durchmacht.36 Die in Berlin… Endstation vorsichtig formulierte zukunftsoptimistische Bejahung der menschlichen Fähigkeit zur Wandlung wird folglich mit dem Verweis auf die in antisemitischen, rechtsextremen Ressentiments verhafteten Nachgeborenen antithetisch parallelisiert. Hilsenraths Berlin… Endstation ist damit auch „ein satirisches Testament voller Tiefschläge gegen das ‚unverkrampfte‘ neue Nationalgefühl der Deutschen.“37 Zugleich aber verweigert Hilsenrath auch in diesem Roman allzu schematische Rollenzuweisungen. Mit der Figur einer jungen Frau konstruiert er eine zwar recht blasse, doch überwiegend positiv besetzte Angehörige der dritten Generation: Sabine ist das jüngste Mitglied der Familie Lehrscher, die beispielhaft drei Generationen repräsentiert. Sabines Großmutter steht, dem philosemitischen Zeitgeist folgend, für den Prototyp des kleinbürgerlichen NS-Mitläufers, wenn sie sich als verführte Unwissende geriert und nun zum Zeichen ihrer Reue einen riesigen Davidstern „wie eine Provokation“ (BE 26) um den Hals trägt.38 Ihre 35 Gleichzeitig nimmt Hilsenrath die angeblich verführte „Flakhelfergeneration“ aufs Korn, wenn sich Tischler dazu bekennt, gegen Kriegsende Flakhelfer gewesen, heute Mitglied der SPD und Unterstützer von Amnesty International zu sein – ein spöttischer Seitenhieb gegen Schriftstellerkollegen wie Martin Walser, Günter Grass oder Siegfried Lenz. Vgl. Süselbeck 02. 01. 2015. 36 Genau wie Tischler ist auch Protagonist Max Schulz aus Der Nazi & der Friseur von Beruf Friseur; beide Protagonisten, nationalsozialistische Mitläufer, gestehen als alte Männer gegenüber einem Juden ihre Schuld ein. Während Lesche die Schuldeinsicht Tischlers anerkennt, wird den Geständnissen des Massenmörders Schulz, der von seinem jüdischen Gegenüber eine Absolution erwünscht, kein Glauben geschenkt. 37 Süselbeck. 38 Dieses Attribut ist eine deutliche Parallele zur Figur der Frau Schmulevitch aus Hilsenraths Der Nazi & der Friseur.

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Tochter Elfriede wird als eine typische Vertreterin der zweiten Generation gezeichnet, wenn sie ihre Abneigung gegen jedwede Art von Faschismus artikuliert, dem Judentum jedoch ahnungslos gegenübersteht (vgl. BE 47). Während sich Lesche von der greisen Frau Lehrscher unangenehm beobachtet und sexuell belästigt fühlt,39 verbindet ihn sowohl mit Elfriede als auch – ohne Wissen der Mutter – mit Sabine eine sexuelle Beziehung. Der Konnex zwischen dem 58jährigen Lesche und der sechzehnjährigen Sabine erstreckt sich zwar neben der rein sexuellen Komponente auch auf eine geistige Ebene, da Sabines Wunsch, Lyrikerin zu werden, sie mit der Schriftstellerexistenz Lesches auf eine besondere Weise verbindet. Dennoch scheint zwischen dem jüdischen Remigranten und der jungen Deutschen keine tragfähige gemeinsame Basis zu entstehen, so dass Lesche, als Sabine schließlich schwanger wird, dies ungeniert als „Betriebsunfall“ (BE 191) abtut. Wenn das gemeinsame Kind, für dessen Abtreibung Lesche zunächst plädiert, das aber schließlich ausgetragen wird und auf seinen Wunsch den hebräischen Namen Miriam erhält, als eine literarische Ausformulierung deutsch-jüdischer Symbiose verstanden werden sollte, so wäre diese mit äußerster Zurückhaltung und in mehrfacher Brechung konstruiert: Zum Zeitpunkt der Geburt ist Lesche bereits mit der Armenierin Anahid liiert, während er mit Sabine kaum mehr Kontakt unterhält und mit deren Mutter Elfriede nur noch auf rein freundschaftlicher Basis verkehrt. Während in Berlin… Endstation die Vereinigung zwischen deutschen Frauen und dem jüdischen Protagonisten Lesche auf sexueller Ebene gelingt, tritt in ihren Gesprächen wechselseitig empfundene Distanz ins Bewusstsein, welche sich aus dem Bewusstsein einer unüberwindbaren Schuld speist. Erst vor diesem Hintergrund wird plausibel, warum Lesches Kontakte mit deutschen Frauen misslingen, die Liebesbeziehung zu Anahid, einer 28-jährigen Armenierin, jedoch auf allen Ebenen glückt: Verbindend ist das Bewusstsein des Lebens in der Diaspora und der gleichzeitige Stolz auf den jeweils eigenen kleinen Staat Israel bzw. Armenien. Untermauert wird die enge Beziehung durch intensive Gespräche, in welchen Schuldfragen nicht ausgeklammert und stets die Einsicht in eine unabänderliche Verhaftung der Vergangenheit in der Gegenwart deutlich wird. Die wichtigste gemeinsame Basis der Beziehung zwischen Lesche und Anahid ist 39 Erneut lassen sich hier Selbstreferenzen Hilsenraths entdecken: Die Traumsequenz – die alte Frau Lehrscher besucht Lesche nachts im Zimmer und nötigt ihn, sein beschnittenes Glied oral befriedigen zu dürfen (vgl. BE 32) – erinnert an die traumatische Erfahrung des jungen Lesche mit Dorota (vgl. BE 213ff.) eine Figur, welche wiederum deutliche Züge der Hexe Veronja aus Hilsenraths Der Nazi & der Friseur trägt. Damit entsprechen die drei Figuren dem Bild der vetula: Laut Menninghaus weisen nahezu alle Ekel-Diskurse die Merkmale von hohem Alter und Weiblichkeit auf; die vetula, die ekelhafte alte Frau, ist schon seit der Antike eine traditionsmächtige Chiffre und „Inbegriff alles Tabuisierten: abstoßender Haut- und Formdefekte, ekelhafter Ausscheidungen und sogar sexueller Praktiken – ein obszöner, verwesender Leichnam schon zu Lebzeiten.“ Menninghaus 1999, S. 16.

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die Zugehörigkeit beider zu einer ehemals verfolgten Minderheit und das Wissen um das erlittene Schicksal ihrer Völker; die Solidarisierung nicht nur mit der eigenen, sondern auch mit anderen Schicksalsgemeinschaften schafft zwischen ihnen ein Gefühl kollektiver wie individueller Verbundenheit. Ihren höchsten Ausdruck findet die Solidarisierung mit anderen Opfergruppen40 in Lesches Planungen für seinen großen „Armenienroman“, in welchem er der armenischen Passion die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes einschreibt. In dem neuen Werk verbindet er die beiden Genozide, die Shoah und den armenischen Völkermord von 1915, zu einem gemeinsamen Narrativ. In Lesches Recherchen zu diesem Romanprojekt sind unübersehbar selbstreferentielle Anspielungen des Autors enthalten; so führt Hilsenrath in Berlin… Endstation rückblickend seine Bemühungen für die Entstehung seines großen Romans Das Märchen vom letzten Gedanken vor, einer Art „Kaddisch für die Armenier“.41

Fazit Resümierend gilt festzuhalten, dass Hilsenrath in seinem Remigrationsroman Berlin… Endstation, dem ersten Anschein zum Trotz, auf schematische SchwarzWeiß-Zeichnungen letztlich verzichtet. Zwar konstruiert der Roman eine Abfolge von erster, zweiter und dritter Generation, in der die einzelnen Generationen klischeehaft überzeichnet werden: Die erste Generation knüpft entweder ideologisch ungebrochen an ihre Tätervergangenheit an oder gefällt sich in wohlfeilem Philosemitismus. Die zweite Generation ringt mit der auf sie gekommenen Schuld, versucht sich zum einen ihrer Verantwortung zu stellen, funktionalisiert diese Auseinandersetzung immer aber zugleich auf zu ihrer eigenen Entschuldung. Die dritte Generation schließlich bringt in zwangsläufiger Konsequenz dieser fortgesetzten Täterschaft und dieser paradoxen „Vergangenheitsbewältigung“ (wieder) junge Nazis hervor. Doch schafft Hilsenrath mit der Figur des Fritz Tischler einen individuellen Charakter, der in diesem Schema nicht aufgeht. Offen bleibt auch, wie sich das – wenn auch von Lesche nicht angenommene, so doch mit einem hebräischen Namen versehene – Kind Miriam entwickeln wird. 40 Die Solidarisierung Lesches mit anderen Opfergruppen erfolgt nicht nur mit Blick auf die Leiden des armenischen Volkes: In Berlin… Endstation wird an mehreren Stellen Bezug auf solche Gruppen genommen, die am Rande der deutschen Gesellschaft stehen: Kritisch verweist Lesche auf die prekären Lebensumstände der türkischen Gastarbeiterfamilien und der Obdachlosen. Während Lesche aber einerseits ein Buch über die Situation der Obdachlosen plant und aus Recherchegründen in einer Obdachlosenunterkunft übernachtet, nutzt er andererseits die Situation der bettelnden Romafrauen schamlos aus, lockt sogar eine Roma in seine Wohnung und schreckt vor ihrer sexuellen Ausbeutung nur aus Angst, sie könnte seine Wohnung verlausen, zurück (vgl. BE 198–201). 41 Süselbeck.

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Hilsenraths Remigrationsroman zerstört, wie etwa auch die Romane Robert Schindels, in denen interreligiöse (Liebes)Paare ebenfalls schematische Zuordnungen durchkreuzen – klare Opfer-Täter-Identitäten und stellt durch ambivalente, vielschichtige Figuren Klischees und Stereotype in Frage. Dies bedeutet nicht, dass wesentliche Punkte der Kritik an einem deutschjüdischen Zusammenleben nach 1945 in dem versöhnenden Modell einer Symbiose aufgegeben würden: Hilsenraths Roman schreibt unmissverständlich gegen einen dem Exkulpierungsbedürfnis der Deutschen entspringenden Philosemitismus an, er verwahrt sich gegen die Vorstellung eines genuin moralisch integren Opfers und parodiert das von den Nationalsozialisten propagierte Bild des schamlosen und lüsternen Juden. Es bleibt schließlich den Rezipientinnen und Rezipienten selbst überlassen, ob Berlin… Endstation als unmissverständliche Einsicht in die Unmöglichkeit jüdischen Lebens in Deutschland auch nach 1945 zu lesen ist oder doch vielmehr verstanden werden will als Plädoyer für die konsequente Selbstverwirklichung eines jüdischen Emigranten, der beschließt, sich von rechtsextremen Rassenideologen nicht ein zweites Mal das Recht auf ein Leben in Deutschland absprechen zu lassen. Die doppelte Sinnebene des Romantitels Berlin… Endstation lässt beide Lesarten gleichermaßen gelten, bleibt doch neben dem mahnenden Fingerzeig auf Lesches gewaltsame Ende auch Raum für die Hoffnung, dass Lesche seinen Frieden mit Deutschland gemacht hat – eine überaus positive Deutung, die aber nicht zuletzt durch das Motiv des „geläuterten“ Tischler und die letzten Worte des Romans – „Feierliche Stille. Sabbatfrieden.“ (BE 236) – seine Berechtigung erhält. Berlin… Endstation kann demnach trotz oder gerade aufgrund des tragischen Endes als Fürsprache Hilsenraths für eine Kontinuität – oder vielmehr eine Wiederaufnahme – jüdischen Leben in Deutschland gelesen werden, wobei die dramatische Wendung der Handlung zur Katastrophe paradoxerweise diesen Aufruf unterstreicht: Erst aus dem unerbittlichen Aufzeigen der gesellschaftlichen Realität nämlich, welche den Mord am Juden Lesche überhaupt ermöglicht, kann die Abschaffung gesellschaftlicher Missstände wie Fortbestehen und Renaissance antisemitischer und rechtsextremistischer Strukturen resultieren. Aus dieser engagierten Position und dem Bewusstsein des Autors heraus, explizit für deutsche Nichtjuden zu schreiben, von diesen gelesen und rezipiert zu werden, ist der mahnende und aufklärerische Impetus Hilsenraths wahrnehmbar. Der Autor benennt klar die Gefahren, welcher sich die deutsche Gesellschaft der Jahrtausendwende zu stellen hat: Diese Gesellschaft, so die Analyse, die der Roman vorlegt, ist durch ihren widersprüchlichen Umgang mit ihrer Vergangenheit und das Dilemma der Schuld gespalten, ihre Jugend setzt nicht zuletzt aufgrund dieses Versagens auf neofaschistische Vereinfachungsstrategien. Nach den beiden vergangenheitsorientierten, diesem bisher letzten Roman vorausgegangenen

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Werken Jossel Wassermanns Heimkehr und Die Abenteuer des Ruben Jablonski zeigt sich Hilsenrath in Berlin… Endstation noch einmal engagiert aktuellen gesellschaftlichen Problemen zugewandt. Das Fazit, das der Roman zieht, fällt bei aller anfänglichen Hoffnung, die der Protagonist in Deutschland legt, nüchtern aus. Am Ende scheint Lesche der Figur Emanuel Katz aus Robert Schindels Roman Gebürtig recht zu geben, die resigniert konstatiert: „Es gibt keine Normalität. Bloß Schuld und Unschuld.“42

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