»Hier spricht Lenin«: Das Telefon in der russischen Literatur der 1920er und 30er Jahre 9783412213343, 9783412202606

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»Hier spricht Lenin«: Das Telefon in der russischen Literatur der 1920er und 30er Jahre
 9783412213343, 9783412202606

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osteuropa medial  

Band 2

Herausgegeben von Natascha Drubek-Meyer, Jurij Murašov und Georg Witte

Irina Lazarova

»Hier spricht Lenin« Das Telefon in der russischen Literatur der 1920er und 30er Jahre

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: „Lenin – samyj čelovečnyj čelovek“ 1969 von Viktor Semenovič Ivanov, Verlag „Izobrazitel’noe iskusstvo“, Moskau 1988. © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: General Druckerei GmbH, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-412-20260-6

Inhalt 1. Einleitung ......................................................................................................... 1 1.1. Vorbemerkung .......................................................................................... 1 1.2. Forschungsstand ....................................................................................... 2 1.3. Zielsetzung und Erläuterung zum Gegenstand und zur Methode ......... 4 2. Medientheoretische Problematik .................................................................... 9 2.1. Mündlichkeit und Schriftlichkeit ............................................................ 9 2.2. McLuhans Medientheorie ...................................................................... 10 2.2.1. Medien als Erweiterung der Menschen ...................................... 10 2.2.2. Das Telefon bei McLuhan........................................................... 12 2.2.3. McLuhans Rezeption in der Sowjetunion und in Russland ...... 13 2.3. Spezifik der telefonischen Kommunikation ......................................... 16 2.4. Das Telefon im literarischen Text als intermediale Korrelation ........ 19 3. Kultursozialer Aspekt .................................................................................... 23 3.1. Geschichte des Telefons in Russland .................................................... 23 3.1.1. Von den ersten Telefonaten bis zur Oktober-Revolution ......... 23 3.1.2. Vertrieb des sowjetischen Telefons in den 20er und 30er Jahren ........................................................................................... 39 3.2. Das Telefon im Dienst des Sozialismus. Besonderheiten. Mythen. ... 45 3.2.1. Mängel und Privilegien ............................................................... 52 3.2.2. Vertuška – die staatliche Telefonverbindung ............................ 64 3.2.3. Abhören. Die euphemistische Telefonsprache .......................... 68 3.2.4. Das Telefonbuch .......................................................................... 73 3.2.5. Telefonnoe pravo – das Telefonrecht ......................................... 75 3.2.6. Mythologisierung von Stalins Telefonaten ................................ 82 3.2.7. Die Telefonistin in der Sowjetunion .......................................... 91 4. Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon ............................................. 97 4.1. Klangvolle Unruhe – Das Telefon bei Majakovskij ............................ 97 4.1.1. Darüber – Ein telefonisches Duell ............................................. 97 4.1.2. Symbiose der Medien – Rodčenkos Illustrationen .................. 105 4.1.3. Nach Darüber – das Telefon zwischen Zukunftsutopie und Gegenwartsbürokratie ............................................................... 109

VI

Inhalt

4.2. Telefon und Kindlichkeit ..................................................................... 117 4.2.1. Verbindung mit der Märchenwelt – Kornej Čukovskijs Telefon ........................................................................................ 118 4.2.2. Einsames Telefon – Osip Mandel’štams Primus ..................... 125 4.2.3. Riese am Telefon – Charms Professor Trubočkin .................. 127 4.3. Mandel’štams Telefon-Motivik ........................................................... 131 4.4. Das Telefon in der Prosa der 20er Jahre ............................................. 145 5. Das Telefon im Sozialistischen Realismus ................................................ 149 5.1. Das Schaffen der Post- und Kommunikationsarbeiter ....................... 156 5.2. Das Telefon in den Produktionsromanen ........................................... 162 5.2.1. Die Telefonistin ......................................................................... 165 5.2.2. Das Liebesgefühl ....................................................................... 167 5.2.3. „Transition“ – Die Havarie ....................................................... 169 5.2.4. Die Bürokratie............................................................................ 171 5.2.5. Raum und Zeit ........................................................................... 173 5.3. Revolutionäre Romantik, historisch-revolutionäre Romane und das Telefon............................................................................................ 175 5.4. Kinder und Pioniere am Telefon ......................................................... 186 6. Satirische Telefonate in Zeiten des Terrors ............................................... 195 6.1. Kleinbürgerliche Telefon-Träume und –Traumen: Zoščenkos Erzählungen .......................................................................................... 200 6.2. Jenseits des Telefons – Bulgakovs Leben und Schriften ................... 206 7. Zusammenfassung ....................................................................................... 219 8. Bibliographie................................................................................................ 223 8.1. Primärtexte ............................................................................................ 223 8.2. Sekundärliteratur .................................................................................. 225

„Что за прoклятая вещь – телефон! Он разрушает связь сердец, соединяя голоса.“ Игорь Суицидов.1 „Was für ein verfluchtes Ding – das Telefon! Es zerstört die Verbindung der Herzen, während es die Stimmen verbindet.“ Igor’ Suicidov.

1. Einleitung 1.1. Vorbemerkung Das Motto der vorliegenden Studie entstammt einem Essay, in dem das Telefon, das Schreiben, die Kunst und der Tod in ihrem Gesamtzusammenhang betrachtet werden. Der Vergleich zwischen dem Akt des Schreibens und dem Akt des Telefonierens ist ohne Zweifel spannend, jedoch stellt die Beziehung zwischen den beiden Tätigkeiten, also die Beeinflussung des Schreibens durch das elektrische Medium und dessen Anwendung als Erzählinstrument oder Motiv, ein Thema dar, das reich an Untersuchungsmöglichkeiten und Herausforderungen ist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden die neuen Entwicklungen der Kommunikationstechnologie auch in Russland eine breite Anwendung in allen Bereichen des menschlichen Lebens. Die neuen elektrischen Apparate beeinflussen traditionelle Raum- und Zeitvorstellungen ebenso wie die sozialen Systeme und Kulturprozesse. Die futuristisch-avantgardistische Phase der Literatur der 20er, in der mit neuen literarischen Schreibweisen und ihrer Beziehung zu den neuen Medien experimentiert wird, steht dem Sozialistischen Realismus der 30er Jahre gegenüber, in dem unter Einsatz aller neuen Medien ein Kunstschaffen für die Massen propagiert wird. Die sozialistische Revolution von 1917 wie auch die mediale Revolution der 20er und 30er Jahre tragen entscheidend zur Neudefinition der gesellschaftlichen und ideologischen Funktionen von Literatur bei. Dieser Entwicklungsprozess lässt sich beispielhaft an dem Motiv bzw. Sujet des Telefons in der sowjetischen Literatur der 20er und 30er Jahre verfolgen. Obwohl die literarische Konzeptualisierung des Telefons in der sowjetischen Literatur der 20er und 30er Jahre mit der Konzeptualisierung anderer elektrischer Erfindungen und Kommunikationsmedien, wie z. B. der des Radios, des Kinos, der Straßenbahn usw. vergleichbar ist, wurde dieses Phänomen unberechtigterweise bis heute vernachlässigt und kaum untersucht. 1

Igor’ Suicidov, Pismo i telefon, in: Časy 28/1980, 21-26, hier 21. Die russischen Zitate ohne Angabe zum Übersetzer wurden von Konstantin Kaminskij und Alexander Weber übersetzt.

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Einleitung

1.2. Forschungsstand Bis dato existiert keine vollständige Studie zur Darstellung des Telefons in der sowjetischen Literatur der 20er und 30er Jahre, die das Medium auch in Zusammenhang mit den Besonderheiten der Avantgarde und des Sozialistischen Realismus stellt. Die wissenschaftlichen Quellen für die vorliegende Arbeit lassen sich in zwei Gruppen gliedern: Auf der einen Seite stehen Untersuchungen zum Telefon in der Literatur allgemein oder anhand von Beispielen von englisch-, deutsch- oder französischsprachigen Werken, auf der anderen Seite slavistische Schriften, die nicht nur das Erscheinen des Telefons in der russischsowjetischen Literatur, sondern auch seine Verbreitung und die Merkmale des Telefonierens in der Sowjetunion untersuchen. Während das Interesse der Sozialwissenschaften und der Psychologie am Telefon schon früh einsetzt, wendet die Literaturwissenschaft sich dem Medium erst relativ spät zu. So veröffentlicht Walter Pache2 1970 anlässlich des Erscheinens des Romans Ansichten eines Clowns von Heinrich Böll eine der ersten Untersuchungen, die sich mit dem Telefon als Thema literarischer Texte beschäftigt. 1977 publiziert John Brooks den Artikel The First and Only Century of Telephone Literature3. Obwohl er nicht das Ziel einer umfassenden Struktur- oder Medienanalyse verfolgt, so entgeht ihm doch die Tatsache nicht, dass das Telefon als Thema und Motiv in der amerikanischen Literatur allgegenwärtig ist. Eine allumfassende und tiefgründige Untersuchung präsentiert die in Berlin organisierte Forschungsgruppe Telefonkommunikation von 1989 bis 1991. Diese sammelt in vier Bänden Artikel, die das Telefon aus sprachwissenschaftlicher, soziolinguistischer, soziologischer, psychologischer und literarischer Perspektive behandeln. Von entscheidender Bedeutung für die vorliegende Arbeit sind weiterhin die Artikel Telefon im Theater (Hofmann) und Telephonie und Literatur (Siegert). In der zusammenfassenden Broschüre Literatur und Telefon aus dem Jahr 1994 schildert Franz Josef Görtz die Verhältnisse zwischen den beiden Medien, allerdings liegt der Schwerpunkt hierbei auf einer Motivanalyse. Jürgen Bräunlein4 konzentriert sich auf die Tatsache, dass das Telefon als technischer Apparat räumlich Getrenntes akustisch zusammenführt und dabei eine eigene ästhetische Realität entstehen lässt. Die Möglichkeit zu Verstel2 3 4

Walter Pache, Funktion und Tradition des Ferngesprächs in Bölls „Ansichten eines Clowns“, in: Literatur und Wissenschaft und Unterricht 1970, 151-166. John Brooks, The First and Only Century of Telephone Literature, in: Ithiel de Sola Pool (Hg.), The Social Impact of the Telephone, Cambridge 1977, 208-224. Jürgen Bräunlein, Ästhetik des Telefonierens. Kommunikationstechnik als literarische Form, Berlin 1997.

Forschungsstand

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lung und Lüge wie auch das Spiel mit Fantasien und Projektionen rücken das Telefongespräch in die Nähe der Kunst. Er analysiert zwei zeitgenössische Werke der „Telefonliteratur“, die Novelle Die Sirene von Dieter Wellershoff und Nicholson Bakers Roman Vox. Eine Systematisierung der Darstellung von Telefonaten in Texten leistet Alan Corkhil in dem Artikel Formen des literarischen Telefonats: Eine phänomenologische Untersuchung.5 Als besonders reich an telefon-literarischen Studien erweist sich das Jahr 2000: Bräunlein und Flessner bringen einen Sammelband – Der sprechende Knochen. Perspektiven von Telefonkulturen – heraus, in dem die Grundlagen der Ästhetik des Telefonierens weiterentwickelt werden. Gleichzeitig wird der Sammelband Telefonbuch von Stefan Münker und Alexander Roesler veröffentlicht, in dem „Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons“ zu finden sind. Wichtig zu erwähnen sind weiterhin die Aufsätze Das Telefon als theologisches und erotisches Problem von John Durham Peters sowie Anrufungen oder Was macht das Telefon im Buch von Bettina Bannasch. Auch das Deutsche Postmuseum in Frankfurt am Main bietet eine neue Interpretation der Relationen zwischen Kunst und Kommunikationstechnik in Publikationen und Ausstellungen wie „Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst“ (1990), „Fräulein vom Amt“ (1993) und „Mensch Telefon“ (2000) an. Die mediale Repräsentation und auch die Erzählfunktionen des Telefons wurden in der russischen Forschung bisher kaum eingehend untersucht. Eine nützliche Basis, auf der eine Betrachtung des Telefons in der sowjetischen Literatur aufbauen kann, sind R. Тimenčiks Artikel K simvolike telefona v russkoj poėzii (Zum Symbol des Telefons in der russischen Poesie)6 und die Vorträge O semiotičeskoj tipologii sredstv svjazi i ich konceptualizacii v literature i iskusstve (Semiotische Typologisierung der Kommunikationsmittel und ihre Konzeptualisierung in Literatur und Kunst) von Jerzy Faryno sowie Ludmila Gorelieks Genezis simvola telefona v lirike Mandel’štama (Genese des Symbols des Telefons in Mandelstams Lyrik)7, die in einer kulturanthropologischen und semiotischen Tradition argumentieren, die Bedeutung und den Platz der technischen Kommunikationsmittel in der russischen Kultur aufzeigen sowie auf weiteren Forschungsbedarf verweisen. Das Telefon bei Alexander Grin im Kontext der russischen Historie und der politischen Prozesse untersucht Johanne Villeneuve in dem Aufsatz Le 5 6 7

Alan Corkhill, Formen des literarischen Telefonats: Eine phänomenologische Untersuchung, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies 25(1) Feb./1989, 49-63. R. Тimenčik, K simvolike telefona v russkoj poėzii, in: Trudy po znakovym sistemam ХХІІ, Tartu 1988, 155-163. Konferenz Semiotika sredstv svjazi (Semiotik der Kommunikationsmittel), Polnische Akademie der Wissenschaften, Warschau 2001.

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Einleitung

téléphone d’Alexandre Grine. Fuite et rumeurs dans la Russie révolutionnaire des années vingt.8 Eine wichtige Grundlage für die Untersuchung der Rolle des Telefons in der sowjetischen Gesellschaft ist Lars Klebergs Vortrag K teme „semiotika telefona“ (Zum Thema „Semiotik des Telefons“) sowie sein Resümee Symbol of Power, in dem die konkreten Maßnahmen gegen die Verbreitung des Telefons in der Sowjetunion aufgezeigt werden.9 In einem breiteren Kontext erregten die literarischen Telefonate in der Diskussion über die wissenschaftlich-technische Revolution und den Progress der 70er Jahre ein nur flüchtiges Interesse.10 Weitere Untersuchungen, die nicht das Telefon zum Thema haben, aber rein literaturwissenschaftlich die entsprechenden literarischen Richtungen – also die Avantgarde oder den Sozialistischen Realismus – untersuchen, werden im jeweiligen Kapitel kurz diskutiert. Eine Medien- und Erzählanalyse sowie die Ausarbeitung einer „Phänomenologie“ des Telefons im Kontext sowjetischer Literatur der 20er und 30er Jahre, wurden bislang nicht vorgelegt.

1.3. Zielsetzung und Erläuterung zum Gegenstand und zur Methode Die zentrale Frage der Untersuchung lautet, wie sich die Konzeptualisierung des Mediums Telefon in der sowjetischen Literatur beim Übergang von der Avantgarde der 20er Jahre zum Sozialistischen Realismus der 30er Jahre auf narrativer sowie auf medialer Ebene entwickelt. Anhand literarischer Texte zeige ich in der vorliegenden Studie auf, wie sich der Übergang von der nachrevolutionären Avantgarde zum Sozialistischen Realismus des Stalinismus auf die Telefondarstellung auswirkt. Außerdem möchte ich darauf eingehen, wie das Medium Telefon dargestellt wird und bestimmte Eigenschaften des Telefonats in fiktionalen Texten sowjetischer Autoren funktionieren. Ein weiterer Forschungsaspekt ist der Zusammenprall von Literatur und 8 9

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Johanne Villeneuve, Le téléphone d’Alexandre Grine. Fuite et rumeurs dans la Russie révolutionnaire des années vingt, in: Tangence 55/1997, 40-63. Lars Kleberg, K teme „semiotika telefona“, in: Abstractsammlung der Konferenz Semiotika sredstv svjazi (Semiotik der Kommunikationsmittel), Polnische Akademie der Wissenschaften, Warschau 2001, 59-60; Symbol of Power, in: http://web.forumsyd.se. Anton Hiersche, Sowjetliteratur und wissenschaftlich-technische Revolution, Berlin 1976; V.G. Larzev, Poėzija i nauka, Taškent 1974; V. Ivaševa, Na poroge XXI veka (NTR i literatura), Moskau 1979; B.G. Jakovlev, Literatura v ėpochu NTR, Moskau 1979.

Zielsetzung und Erläuterung zum Gegenstand und zur Methode

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neuen Medien und die daraus folgenden Veränderungen der Schriftkultur durch Elektrizität. Um die breite Palette von Aspekten, Texten und Fragestellungen übersichtlich darzustellen, gehe ich folgendermaßen vor: Die ersten beiden Hauptteile (Kapitel 2 und 3) sollen den weiteren Hauptteilen (Kapitel 4, 5 und 6), in denen die Lektüren in Form eines close reading präsentiert werden, eine stabile Arbeitsbasis bereiten und Hintergrundwissen vermitteln. Die Studie beginnt mit einer medientheoretischen Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Spaltung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wobei im Mittelpunkt McLuhans Medientheorie steht. Abgesehen von seinen Grundthesen über Medien als Erweiterung der Menschen und ihre Systematisierung in „warme“ und „kalte“, diskutiere ich kurz McLuhans Äußerungen über das Telefon als Medium. Im Rahmen dessen werde ich auch die Rezeption McLuhans in der Sowjetunion und in Russland erläutern. Die Spezifik der telefonischen Kommunikation stand bisher im Mittelpunkt einer Reihe von Forschungen der Fachrichtungen Psychologie, Soziologie, Kulturelle Anthropologie und Philosophie. Von diesen werden im Folgenden nur die bedeutsamsten Texte Erwähnung finden, u. a. die von Freud, Flusser, Derrida und Ronell. Innerhalb der medientheoretischen Darstellung, die keine vollständige Erfassung, eher eine Skizzierung anstrebt, werden auch die intermedialen Korrelationen zwischen Telefon und literarischem Text erörtert. Die Verwendung des Begriffs „intermediale Beziehung“ wird für die vorliegende Studie von verschiedenen Typologien abgeleitet. Der nächste Akzent der Untersuchung liegt auf dem soziokulturellen Aspekt der Verbreitung des Telefons in Russland und der Sowjetunion: Wie das neue Medium in Russland gegen Ende des 19. Jahrhunderts Aufnahme findet, wie seine Verbreitung den Alltag der oberen Gesellschaftsschichten verändert, welche Rolle das Telefon bei der Mythologisierung der sozialistischen Revolution spielt – dies sind einige der Fragen, auf die die Fachpresse der 20er und 30er Jahre Antworten findet. Die dokumentarischen Quellen, die im Post- und Kommunikations-Museum in St. Petersburg aufbewahrt werden, fasse ich zusammen und kommentiere sie teilweise, da sie nur die offizielle staatliche Propaganda-Politik darstellen und nicht immer objektiv die Entwicklung des Telefonnetzes in der Sowjetunion zeigen. Das Kapitel Das Telefon im Dienst des Sozialismus, das den Umgang der sowjetischen Macht mit den Beschränkungen des Telefons und die Besonderheiten des russischen Telefonierens untersucht, wird ausgehend von Lars Klebergs Systematisierung aufgebaut.11 Die vier von ihm aufgeführten Punkte, nämlich die Apathie gegenüber dem technischen Makel, die inneren Betriebs- und Organisationsnetze, das Abhörsystem und die Reduzierung der 11

Kleberg, K teme „Semiotika telefona“, 59-60.

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Einleitung

Telefonbücher, ergänze ich um einige weitere Themen: Es handelt sich dabei um das Telefon in der Kommunalwohnung, die Verteilung von Privilegien wie etwa privaten Telefonanschlüssen, das Phänomen des „Telefonrechts“ sowie die Mythologisierung von Stalins Telefonaten. Diese Themen werden ausgearbeitet und mit Beispielen aus verschiedenen Quellen – Memoiren, literarischen Texten, journalistischen Kommentaren u. a. illustriert. Das Ziel ist es, beide Linien – die offizielle Politik zum einen und die verheimlichte Politik zum anderen – zu verfolgen und zu beobachten, wie die Lücke zwischen beiden zu der Kreation einer Alltagsmythologie führt. Der auf diese Weise skizzierte Kontext findet dann im Hinblick auf die konkreten Textanalysen Berücksichtigung, da er die Symbolik des Telefons in der sowjetischen Kultur, besonders als Medium der Macht, zu großen Teilen geprägt hat. In Form eines close reading analysiere ich zunächst Werke, die sich in zwei literarisch-ästethische Gruppen – avantgardistische (Kapitel 4) und sozrealistische (Kapitel 5) – einteilen lassen. Eine weitere Gruppe schließlich bilden satirische Werke, deren Betrachtung außerhalb der etablierten künstlerischen Bewegungen angesiedelt wird (Kapitel 6). Kriterium für die Auswahl der Texte ist nicht nur das Vorhandensein eines Telefonats, sondern auch dessen Beteiligung auf verschiedenen Textebenen, wie z. B. die Einbindung des Telefons in den Plot und dessen Beitrag zur Entwicklung von „sowjetischen“ Geschichten; entscheidend ist aber auch, wie repräsentativ ein Autor für die konkrete ästhetische Richtung ist. Während die Texte des Sozialistischen Realismus sich leicht gruppieren lassen, weil sie sich an bestimmte Modelle und Verfahren anlehnen und damit auch eine zusammenfassende Betrachtung ermöglichen, wird bei den spätavantgardistischen Texten eine breitere Auswahl getroffen, die auch formalistische Werke der 20er Jahre einschließt. Demgemäß wird das Telefonmotiv bei dem Akmeisten Mandel’štam im Kapitel über die Avantgarde untersucht. Wenngleich sich die Einteilung nicht immer aufrechterhalten lässt, so sollen im Folgenden Vergleiche zwischen den 20er und 30er Jahren im Sinne eines Vergleichs zwischen Avantgarde und Sozialistischem Realismus gelten. Die Absonderung einer zusätzlichen Gruppe von satirischen Texten erfolgt aufgrund der Tatsache, dass die Satire als Genre dem Telefon einen besonderen sprachlichen und erzählerischen Raum sichert. Zu dieser Gruppe gehören vor allem die Texte von satirischen Autoren wie Bulgakov, Zoščenko, Petrov und Averčenko, die im Laufe der 20er und 30er Jahre geschaffen wurden. Die Auseinandersetzung mit satirischen Telefonaten wird am Ende der vorliegenden Studie vorgenommen, um zu zeigen, dass das künstlerische Interesse an ihnen und die Lust, mit dem Telefon zu experimentieren, auch in den 30er Jahren nicht abnahmen, wenngleich das Telefon in den Texten des Sozialistischen Realismus entweder unterdrückt oder an

Zielsetzung und Erläuterung zum Gegenstand und zur Methode

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ein bestimmtes Kommunikationsmodell angepasst wurde. Allerdings war seine freie Verwendung als Erzählelement nur außerhalb der kanonischen Literatur möglich, z. B. in verbotenen oder im Ausland veröffentlichten Texten sowie teilweise in der Filmkunst. Die Kreativität und die Originalität in den avantgardistischen Werken erlauben keine pauschalisierende Darstellung der Rolle des Telefons. Das Kapitel beginnt direkt mit der Analyse von Majakovskijs Gedichten, insbesondere mit dem Poem Darüber (Pro ėto, 1923). Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Kindlichkeit im schöpferischen Prozess der Avantgardisten eine besondere Rolle spielt, werden weiterhin die Kindergedichte Telefon (1926) von Čukovskij, Primus (1924) von Mandel’štam und Professor Trubočkin (1933) von Charms betrachtet. Das Kapitel über das Verhältnis von Avantgarde und Telefon endet mit zwei Beispielen aus der Prosa der 20er Jahre – mit Mariengofs Roman Zyniker (Ciniki, 1928) und Grins Erzählung Der Rattenfänger (Krysolov, 1924). Die Darstellung des Telefons im Sozialistischen Realismus soll in einigen Schritten erklärt werden, die gewissermaßen thematisch und durch die ästhetischen Grundlinien vorherbestimmt sind. Die Darstellung der literarisch schaffenden Laien – Post- und Kommunikations-Arbeiter – führt in die Produktions-Thematik ein, die spezifisch ist für die Weltanschauung des Sozialistischen Realismus. Im Anschluss daran folgen Analysen der Telefonate in Produktionsromanen wie Werk im Urwald (Sot’, 1930) von Leonid Leonov, Energie (Ėnergija, 1928-1938) von Fedor Gladkov, Der zweite Tag (Den’ vtoroj, 1932-1933) von Il’ja Ėrenburg, Wasserkraftwerk (Gidrocentral’, 1930-1931) von Mariėtta Šaginjan sowie von Telefonaten in historischrevolutionären Romanen wie Der stille Don (Tichij Don, 1928-1940) von Šolochov, Čapaev (1923) von Furmanov und Der Leidensweg (Choždenie po mukam, 1922-1941) von Aleksej Tolstoj. Die Untersuchung der Rolle des Mediums Telefon in der sozrealistischen Kinderliteratur zieht dann einen direkten Vergleich mit der Avantgarde an Beispielen von Schriftstellern wie Maršak und Arkadij Gajdar nach sich. Der Akzent der Textanalyse liegt dabei zu gleichen Teilen auf der intermedialen Dimension des Telefons zwischen gedruckter, visuell-grafischer Schrift und oral-akustischer Kommunikation wie auf der Frage nach der Einwirkung des Motivs Telefon auf die Erzählstruktur während des Übergangs von der Avantgarde zum Sozialistischen Realismus. Weiterhin zentral ist die Frage nach der Einbindung des Telefons in den Plot und wie dies zur Entwicklung der Geschichte beiträgt, zunächst in den 20er Jahren, dann in den 30er Jahren. In diesem Zusammenhang operiert meine Untersuchung mit verschiedenen Erzähltheorien: U. a. stelle ich zunächst Bachtins Konzept zu Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman sowie zur Polyphonie und zur Dialogizität in literarischen Texten dar. Um das Phänomen der Verwen-

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Einleitung

dung des Telefonmotivs als struktur- und narrrationsbildendes Element in fiktionalen Texten erfassen zu können, konzentriere ich mich auf folgende Fragenkomplexe: Wie wird das Telefon in die Handlung integriert? Auf welche Weise formt das Motiv des Telefons narrative Strukturen im Text und welche Funktionen erfüllt das Motiv? Wie wird die Struktur der literarischen Texte durch das Telefon beeinflusst? Was passiert mit den grundlegenden Orientierungskategorien Raum und Zeit? In welcher Beziehung steht der implizite Autor/Leser zu dem Anrufer/Angerufenen? Welche Position hat das Telefon entsprechend der Dialogizität des Textes?

2. Medientheoretische Problematik 2.1. Mündlichkeit und Schriftlichkeit Die Auseinandersetzung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit findet bereits in Platons Dialog ΦΑΙΔΡOΣ statt: Platon verteidigt die mündliche Rede und kritisiert die Schrift. Als prinzipiellen Nachteil letzterer sieht er, dass das Medium Buch an alle adressiert sei und stets das Gleiche sage. Das Buch könne sich nicht verteidigen, wenn es ungerechterweise gedemütigt werde, es brauche hierfür die Hilfe seines Autors. Außerdem schade die Schrift dem Gedächtnis, da dieses nachlasse, wenn es keine Aufgaben bekomme und sich nicht anstrengen, sondern nur fremde Zeichen, nämlich Buchstaben und Wörter, aufnehmen und verarbeiten müsse. Mit der Verbreitung neuer Technologien für die Übermittlung und Speicherung von Informationen wie Telegraf, Telefon, Radio und Grammofon, wird die platonische Kritik gegen die Schrift erneut aktuell und die Bedeutung der Mündlichkeit reaktiviert. Anfang der 60er Jahre erscheint eine Reihe von Schriften, die die „moderne Erfindung der Mündlichkeit“ (Havelock) und die Korrelation „Sprache vs. Rede“ aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus neu diskutieren: LéviStrauss untersucht den Zusammenhang zwischen Mythos und modernen Sprachen; Goody und Watt übertragen die Erfahrung der antiken Griechen auf die moderne Mündlichkeit; McLuhan betrachtet die Erfindung der Druckpresse als Wendepunkt der Menschheitsgeschichte; Mayr, ausgehend von Darwins Evolutionstheorie, gelangt zu der Ansicht, dass die Sprache der Schlüssel zur Spezifik der menschlichen Art sei, und schließlich fragt Havelock, was genau die Beziehung zwischen der Rede der modernen Welt und der Schrift ausmache und also unsere Gedanken dominiere, „oral state of mind“ oder „literate state of mind“.12 Der Schritt, der mit der Verbreitung der elektrischen Medien nach dem Ersten Weltkrieg gemacht wird, ist unwiderruflich – die neuen Medien können uns nicht zu der ursprünglichen Oralität zurückbringen, weil sie als Grundlage den schriftlichen Text benutzen. Nun beinhaltet der Begriff „Oralität“ einerseits selbst, dass es um Gesellschaftssysteme geht, die ganz ohne Schrift leben, „by definition, deals with societies which do not use any form of phonetic writing“13, andererseits aber wird auch die Schriftlichkeit verändert: „But neither writing nor print are what they used to be before the radio, the telephone, the phonograph and 12 13

Eric Alfred Havelock, The muse learns to write, New Haven and London 1986, 24. Ebd., 65.

Medientheoretische Problematik

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television.“14 Deswegen führt Ong einen neuen Begriff ein, der den medialen Veränderungen entsprechen soll: „We speak of the orality of preliterate man as primary orality and of the orality of our electronic technologized culture as secondary orality.“15 Der Unterschied zwischen den beiden Typen von Oralität besteht hauptsächlich in der Möglichkeit der neuen elektrischen Medien, Informationen auf eine Weise zu verbreiten, die früher undenkbar war: It is by now a commonplace that since the advent of electronic devices, from the telegraph and telephone through the radio and television and beyond, technological man has entered into a new world of sound. Our culture contrasts markedly with that of a hundred years ago, when the dominant form of verbal communication beyond direct person-to-person contact was visual, with words circulated in writing and, more extensively and controllably, in print. Today living and winged words come into our consciousness from across the globe – St. Louisans and Londoners simultaneously hear news reported from Hong Kong. Telephones implement personal vocal contact as letters could not, and rapid transportation multiplies person-to-person confrontation in ways unheard of until the past few decades.16

Insbesondere die Gegensätzlichkeit von elektrischen Medien der Mündlichkeit und dem alten Medium Druck ist es, die uns heute für eine neue Rezeption von Rede und Schrift und ihre Verhältnisse sensibilisiert.

2.2. McLuhans Medientheorie 2.2.1. Medien als Erweiterung der Menschen Der kanadische Literaturwissenschaftler und Medientheoretiker Marshall McLuhan stützt seine in den 60er Jahren publizierte Medientheorie auf drei miteinander verknüpfte Betrachtungen: erstens die Einteilung der Medien in „kalte“ und „heiße“, zweitens die Betrachtung des Mediums als Botschaft und drittens die Darstellung des Mediums als Erweiterung der Menschen. In Anlehnung an die Einteilung von Claude Lévi-Strauss, der archaischschriftlose und zivilisierte Kulturen als „kalte“ und „heiße“ Kulturen bezeichnet, teilt auch McLuhan die Medien in Abhängigkeit von der persönlichen Beteiligung des Rezipienten in „kalte“ und „heiße“ ein. „Heiße“ Medien sind detailreich, verlangen jedoch eine geringere persönliche Beteiligung (gemeint sind z. B. Radio, Fotografie, Kinofilm). Je deutlicher, klarer und definierter ein Medium demnach ist, desto „heißer“ ist es. Dagegen sind „kal14 15 16

Thomas J. Farrell (Hg.), An Interview with Walter Ong, in: An Ong Reader, New Jersey 2002, 84. Walter J. Ong, Rhetoric, Romance, and Technology, Ithaca/London 1971, 285. Ebd., 295.

McLuhans Medientheorie

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te“ Medien wie Karikatur, Telefon oder Sprache detailarm. Sie sind nicht standardisiert und können, je nach Mitwirkung des Rezipienten, ihre Form wie auch ihre Bedeutung wechseln. McLuhan geht es vor allem um die Wirkung des Mediums, nicht um die Wirkung des Inhalts. So fasst sein Slogan „Das Medium ist die Botschaft“ das Wesen seiner Theorie zusammen: Allein das Medium enthält bereits die Botschaft. Seine Wirkung auf das Publikum oder den einzelnen Rezipienten geht auf seine mediale Charakteristik zurück. Die Wirkung wird dadurch bestimmt, dass der Benutzer des Mediums in die Kommunikation einbezogen wird und hängt darüber hinaus von seiner Informationsdichte und nicht von inhaltlichen Aussagen ab. Überdies erweitert McLuhan auch den Begriff „Medium“: Medien sind für ihn nicht nur Informationsvermittler, sondern ein „verlängerter Arm des Menschen“, der seine biologischen und natürlichen Handlungs-, Bewegungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten erweitert. So stellt z. B. das elektrische Licht eine Ausweitung der Sehkraft, das Auto oder der Zug eine Erweiterung der Beine, das Radio eine Erweiterung der Ohren dar. McLuhan vergleicht weiterhin visuelle und akustische Räume. Das visuelle Raummodel ist linear, wichtig ist hier das einzelne Detail, wohingegen Elemente des akustischen Raums gleichzeitig rezipiert werden können. Dieser ist nichtlinear, diskontinuierlich und weist keine bestimmten Grenzen oder Perspektiven auf. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist seine dezentralisierende Wirkung.17 Der visuelle – oder noch euklidische – Raum ist „normal“ und kann als „Raum der gesunden Vernunft“ bezeichnet werden, wohingegen der avantgardistische Raum Einsteins akustisch und simultan ist. Durch das phonetische Alphabet setzen sich die Augen von der Arbeit anderer Sinne ab und können sich zur Gänze auf den visuellen Raum konzentrieren.18 In Anlehnung an die Überlegungen von McLuhan erläutert Jurij Murašov die Entstehung des modernen totalitären Systems: Der Totalitarismus ist möglich in denjenigen Kulturen, in denen die Pragmatik der Schrift nur in geringem Grade mental internalisiert wurde und die kommunikativen Strukturen unter dem Einfluss von neuen technischen Massenkommunikationsmitteln reorganisiert wurden. Auf diese Weise wohnt der totalitären Kultur eine dem Modernismus entgegenwirkende Dynamik inne, die einerseits das Streben nach technischer Entwicklung unterstützt, andererseits aber mündlicharchaische Formen der sozialen und kulturellen Selbstbestimmung einführt.19 Murašov weist darauf hin, dass die sowjetische Kultur der 30er Jahre sich 17 18 19

Marshall McLuhan, Wohin steuert die Welt? Massenmedien und Gesellschaftsstruktur, Wien 1978, 62. Marshall McLuhan/Erik McLuhan, Zakoni na mediite. Novata nauka, Sofia 1995, 20. Übersetzung von Laws of Media, Toronto 1988. Jurij Murašov, Prestuplenie pis’ma i golos nakazanija, in: Hans Günther/Evgenij Dobrenko (Hg.), Socrealističeskij kanon, St. Petersburg 2000, 730-739.

Medientheoretische Problematik

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durch die Wechselwirkung zwischen dem technologischen Prozess der Mechanisierung und Industrialisierung und der Archaisierung in den Formen kultureller Selbstbestimmung charakterisiert.

2.2.2. Das Telefon bei McLuhan Das Telefon nun erweitert gleichzeitig Ohren und Stimme und stellt eine Art außersinnliche Wahrnehmung dar; weil aber nur ein geringes Maß an Informationen übermittelt wird, bestimmt McLuhan es als ein kaltes Medium.20 Wenn Menschen telefonieren, verlieren sie ihre Körperlichkeit und werden durch ein abstraktes Bild ersetzt. Der Telefonierende umgeht sämtliche Formen der räumlichen Beschränkungen und ist gleichzeitig an zwei Orten präsent, obzwar er auch an einem dieser Ort fleischlos ist, gleichsam ein Intellekt ohne Körper:21 Metropolitan space is equally irrelevant for the telephone, the telegraph, the radio, and television. […] Our electric extensions of ourselves simply by-pass space and time, and create problems of human involvement and organisation for which there is no precedent.22

Die Punkte, die McLuhan im Rahmen der Wirkung des Telefons untersucht, sind u. a. die Visualisierung des Gesprächspartners, die Anteilnahme und das Funktionieren von Autorität. Die Stimme reicht nicht aus, um sich den Gesprächspartner vorzustellen, die mangelnde Information kann aber auch nicht durch bildliche Vorstellungen ersetzt werden, weswegen beim Telefon „zum Unterschied von der geschriebenen oder gedruckten Seite volle Anteilnahme“ verlangt wird.23 Diese volle Aufmerksamkeit ist gerade für alphabetisierte Menschen schwer herzustellen, was wiederum Unruhe oder ein Gefühl von Hilflosigkeit verursachen kann. Hierin liegt für McLuhan auch der Grund, warum ein auf der Bühne läutendes Telefon Spannung erzeugt. Relevant für unsere Untersuchung ist weiterhin die dezentralisierende Tendenz des Telefons. Seine elektrische Struktur, die ein Netz darstellt, hat weder Zentrum noch Peripherie, sondern weist eher eine bizentrische Anordnung auf. „Es ist also ein Dialog nur zwischen Zentren und zwischen Gleichberechtigten möglich.“24 Die Überlegungen McLuhans basieren hauptsäch20 21 22 23 24

Marshall McLuhan, Das Telefon, in: Ders., Die magischen Kanäle, Düsseldorf 1968, Übersetzung von Understanding Media 1964, 289-299. McLuhan, Zakoni na mediite, 72. Marshall McLuhan, Understanding Media, London 2001, 114. McLuhan, Die magischen Kanäle, 291. Ebd., 297.

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lich auf der soziokulturellen Tradition Nordamerikas, die sich allerdings von der russischen stark unterscheidet. Während des Kalten Kriegs werden in der Sowjetunion Maßnahmen getroffen, welche die persönliche Mitwirkung der Bürger reduzieren und das „kalte“ Medium Telefon „aufheizen“, d.h. seine demokratisierende Wirkung und die damit verbundene Gefahr für das sozialistische System neutralisieren. „Heiße Medien verlangen [...] nur in geringem Maße persönliche Beteiligung oder Vervollständigung durch das Publikum.“25 Durch die Steuerung elektronischer Medien können ganze Kulturen programmiert werden, nicht nur um ihr emotionales Klima zu stabilisieren, sondern auch, um die regierende Macht zu unterstützen. Die „Erwärmungs-“ Maßnahmen sowie weitere Bemerkungen McLuhans über das Telefon werde ich in Kapitel 3.2 im Detail untersuchen.

2.2.3. McLuhans Rezeption in der Sowjetunion und in Russland Erst im Jahr 2003, fast vierzig Jahre nach Erscheinen der ersten Ausgabe, wird in Russland die vollständige Übersetzung von Understanding Media herausgegeben, wobei die Verleger McLuhans Werk mit den Worten „berühmt und grandios angesichts des Einflusses auf die Geister der sozialen Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“26 würdigen. Um eine solche Einschätzung zu bekommen, musste McLuhans Rezeption in der Sowjetunion durch eine harte Schule gehen, angefangen von der vollständigen Verleugnung seiner Theorie über deren Verschweigen und Hinweisen auf seine westlichen Kritiker bis hin schließlich zu einer heimlichen Mythologisierung durch die inoffizielle Kultur in den 70er Jahren. Im Unterschied zur westlichen Kritik, die einige widersprüchliche und durch Argumente nicht ausreichend gestützte Behauptungen angreift, liegt für die russischen Kritiker (Vertreter der offiziellen Stellung der Macht) im Kalten Krieg ein weiteres Argument, um McLuhans Bücher abzulehnen.27 McLuhan illustriert seine Theorie von „kalten“ und „heißen“ Medien anhand einer Reihe von bipolaren Gegenüberstellungen wie etwa den Folgenden: Europa gegen Nordamerika, das antike Griechenland gegen die moderne Welt, ikonographische Schrift gegen phonetisches Alphabet, analphabeti25 26 27

Ebd., 29. Vgl. url: http://yanko.lib.ru/books/cultur/mcluhan-understanding_media=ann.htm (22.10.2004). N. Kozlov, Makljuėn: konteksty mifa, in: Puškin 5(11)/1998, url: http://www.nethistory.ru/biblio/1043176328.html.; J.N. Davydov, Tri linii – tri ėtapa v razvitii obščej teorii massovych kommunikacij, in: SŠA glazami amerikanskich sociologov. Politika, ideologija, massovoe soznanie Bd. 2, Moskau 1988, 97-129, vgl. url: www.ecsocman.edu.ru/db/msg/59567.html.

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sches Afrika gegen die alphabetisierte Zivilisation und nicht zuletzt UdSSR gegen USA. Seine russischen Beispiele entnimmt McLuhan der amerikanischen Presse aus dem Zeitraum Juni bis September 1963, die zu dieser Zeit keinesfalls weniger manipulativ tätig war als die sowjetische. In diesem oder jenem Kontext kommentiert McLuhan das Twist-Verbot in den russischen Restaurants und Nachtklubs28, die Bekleidung der Ehefrau von Nikita Chruščov29, den Flug der ersten Kosmonautin Valentina Tereškova30, die Arbeit der Regisseure Pudovkin und Ėjzenštejn31 usw. Im Gegensatz zu der amerikanischen Gesellschaft sieht McLuhan Russland als „main an oral, tribal world that is undergoing detribalization“:32 The printed form has quite different implications in Moscow from what it has in Washington. So with the telephone. The Russians’ love of this instrument, so congenial to their oral traditions, is owing to the rich nonvisual involvement it affords. The Russians use the telephone for the sort of effects we associate with the eager conversation of the lapel-gripper whose face is twelve inches away. [...] The Russian bugs rooms and spies by ear, finding this quite natural. He is outraged by our visual spying, however, finding this quite unnatural.33

Obwohl Abhöreinrichtungen in der Sowjetunion kein Geheimnis sind, wie ich im nächsten Kapitel darlegen werde, unterliegt das Thema auch in den 60er Jahren einer Tabuisierung. Für eine negative offizielle Wahrnehmung von Understanding Media reicht ein Kommentar wie der folgende aus: If „The Voice of America“ suddenly switched to jazz, the Kremlin would have reason to crumble. It would be almost as effective as if the Russian citizens had copies of Sears Roebuck catalogues to goggle at, instead of our dreary propaganda for the American way of life.34

N. Kozlov weist darauf hin, dass McLuhan in der Sowjetunion in der Epoche des historischen Materialismus zusammen mit den ersten privaten Fernsehapparaten auftaucht. In der sowjetischen Presse der 70er Jahre wird der „rituell-beleidigte“ Begriff „makljuėnizm“ verbreitet. Die Zensur und die Kritik gegenüber McLuhan tragen zu seiner eigenartigen Mythologisierung bei, obwohl nur wenige Menschen seine Schriften gelesen haben: Die verbotene Frucht war süß. McLuhans Kultur-Typologie war anziehend, da es schien, dass sie die Formationstheorie einem rituellen Umsturz aussetzte. McLuhan hat im Kontext der sowjetischen Aufklärung aufgrund eines fehlenden melancholi28 29 30 31 32 33 34

McLuhan, Understanding Media, 29. Ebd., 130. Ebd., 368. Ebd., 313. Ebd., 260. Ebd., 37. Ebd., 181.

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schen oder gar kummervollen Tons, der so typisch für die traditionalistische sowie die liberale und marxistische Kritik der neuen Kulturtypen war, Neugier hervorgerufen. Ihn beunruhigte der Verlust der Aura und der humanistischen Ideale der aufklärerischen Illusionen ebenso wenig wie das Problem der Entfremdung und der Eindimensionalität der Menschenmasse. Er schrieb über dies alles ohne Trauer über die Verluste. Damals schien er ein neuer Pangloss zu sein, da wir selbst die Illusionen bezüglich einer wahrhaften Kultur nährten. Er trat als Lehrer eines neuen Schreibstils über Alltägliches, Banales und Flaches auf, ohne Dämonisierung und Furcht, jedoch mit Aufmerksamkeit zum Phänomen.35

Auch nach dem Zerfall der Sowjetunion bleiben die Meinungen geteilt: Auf der einen Seite werden McLuhans Ideen durch die rasche Verbreitung von Internet und elektronischer Kommunikation, die teilweise befreiten Massenmedien, die Einführung neuer, auf die neuen Medien bezogener Fächer an den Universitäten, breit popularisiert, auf der anderen Seite aber fordern seine Kommentare über die russische Volkspsychologie immer noch Skepsis und eine negative Wahrnehmung heraus. So vertritt etwa der russische Soziologe Kočetkov die Ansicht, dass die massive informative Aggression gegenüber Russland, die bereits im Kalten Krieg begonnen habe, sich nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ fortsetze und zwar mit dem Ziel, die Konsumgesellschaft zu propagieren. Er beruft sich auf A. Zinov’ev, dem zufolge mehr als 300 Forschungszentren im Westen damit beschäftigt seien, Technologien für die Informations-Diversion gegen die UdSSR und später gegen Russland zu entwerfen: Grundlage war die psychologische Erforschung des russischen nationalen Wesens, Informationswirkung wurde unter Berücksichtigung solcher Schwächen wie niedrige Selbstorganisationsfähigkeit, Pietät vor dem Westen und den Behörden, Mangel an Initiative usw. konstruiert. Als Ergebnis ging der „Kalte Krieg“ in einen „warmen“ über und brachte das russische Volk zur ethnischen Katastrophe.36

In diesen Kontext der „feindlichen“ Ausarbeitungen für das Führen von Informationskriegen stellt Kočetkov auch die Medientheorie McLuhans. Heute ist McLuhan in Russland recht bekannt im Hinblick auf die Massenmedienforschung und findet darüber hinaus langsamen Eingang in die Literaturwissenschaft. Im Jahre 2006 etwa gibt der Tartuer Semiologe Stepanov die Anthologie Semiotika i Avangard (Semiotik und Avantgarde) heraus, in die auch McLuhans Artikel über James Joyce aufgenommen wurde.

35

36

Kozlov, Makljuėn: konteksty mifa, http://www.nethistory.ru/biblio/1043176328.html. Vgl. den 1987 erschienen Artikel McLuhans: Televidenie. Pobkij gigant, in: Televidenie včera, segodnja, zavtra. 7/1987. Die russischen Zitate ohne Angaben zum Übersetzer wurden von Konstantin Kaminskij und Alexander Weber übersetzt. V. V. Kočetkov, Social’no-psichologičeskaja sostavljajuščaja informacionnoj vojny, vgl. url: http://worldspol.socio.msu.ru/pa/koch.doc.

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Medientheoretische Problematik

2.3. Spezifik der telefonischen Kommunikation Die Möglichkeit für wechselseitige verbale Kommunikation zwischen zwei Gesprächspartnern unter Überwindung räumlicher und zeitlicher Grenzen, wie dies das Telefon ermöglicht, findet außerhalb der Geschichte von Postund Nachrichtentechnik ebenso in Psychologie, Soziologie, Kultureller Anthropologie, Philosophie, Sprachwissenschaft und in der relativ neuen Medienwissenschaft Resonanz. Jede einzelne Disziplin präsentiert in Wechselwirkung mit den anderen zahlreiche Versionen über die Wirkung, die Verbreitung und den Effekt von Telefonen. McLuhans Ideen über den Effekt der Medien auf die Gesellschaft und ihren Zusammenhang untereinander finden sich schon bei Freud: In der Zwischenzeit teilen sowohl Freud als auch McLuhan das Projekt, eine techné der Selbstamputation auszuarbeiten. Für Freud involviert dies ein Moment der Anerkennung der Trennung von einem „meiner“ Kinder. Wenn er die Stimme eines abgereisten Kindes hören möchte, kann er sein Ohr mit einem Hörer verbinden; wenn er nach einer gottähnlichen Prothese verlangt, die diejenige verdoppelt, die seine Wunde verdeckt, kann er in ein Mundstück sprechen. Das Telefon belegt einen einzigartigen Platz, um aufzurufen und hinzuhören.37

Für Freud sind die außerordentlichen Errungenschaften und Erfindungen in jeder Sphäre der modernen Welt sowie der Fortschritt und die Konkurrenz „Strapazen für das Nervensystem“, die eine außerordentliche Geistesbemühung erfordern. Das Leben in den großen Städten sei, so Freud, immer raffinierter und unruhiger geworden: ... zugleich sind die Bedürfnisse des Einzelnen, die Ansprüche an Lebensgenuß in allen Kreisen gewachsen, ein unerhörter Luxus hat sich auf Bevölkerungsschichten ausgebreitet, die früher davon ganz unberührt waren; die Religionslosigkeit, die Unzufriedenheit und Begehrlichkeit haben in weiten Volkskreisen zugenommen; durch den ins Ungemessene gesteigerten Verkehr, durch die weltumspannenden Drahtnetze des Telegraphen und Telephons haben sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert.38

Das Leben verändert sich und wird immer komplizierter. Der Mensch versteht nicht mehr, wie die einzelnen Mechanismen funktionieren oder was etwa im Inneren des Telefons vor sich geht. Deswegen vergleicht Flusser das Telefon mit einer schwarzen Kiste und all der schwarzen Magie, die dies impliziert.39 Ronell vergleicht die Gefühle von Angst, Unruhe und Störung, 37 38 39

Avital Ronell, Das Telefonbuch. Technik, Schizophrenie, Elektrische Rede, Berlin 2001, 101. Sigmund Freud, Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908), in: Ders., Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt/M. 1974, 15. Vilém Flusser, Die Geste des Telefonierens, in: Ders., Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf (u. a.) 1991, 236.

Spezifik der telefonischen Kommunikation

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die jedes Klingeln des Telefons begleiten, mit dem Läuten der Totenglocke. Für Lacan hingegen nimmt das Telefon an einer besonderen Dialektik teil, die er mit Liebe assoziiert – zwar erwarte der Mensch die Liebe, wenn sie aber komme, werde er doch von ihr überrascht. Nach Ronell „reödipalisiert“ das Telefon den Menschen – ständig rufe er zu Hause an, zu Hause sei er durch das Telefon festgehalten.40 Die Epoche der Elektrizität interessiert Ronell: Sie nimmt ihren Lauf über das Telefon und den elektrischen Stuhl, über die elektrische Belebung des Toten bis hin zu dem Mythos. Freud behauptet, dass wir, wenn wir auf ein Telefonat antworten, gleichzeitig mit dem Akt der Annahme des Anrufes automatisch „Ja“ sagen. So erfordere die Syntax des Telefons, dass das Abnehmen des Hörers „Ja“ bedeute. Demnach ist es unmöglich, einen Anruf zu empfangen und ihn gleichzeitig zu verneinen.41 In seinem Kommunikationsmodell weist Roman Jakobson dem Kontakt zwischen Sender und Empfänger eine phatische Funktion zu, da der Kontakt der Herstellung, der Aufrechterhaltung und der Kontrolle der Sprachverbindung diene. Nach dem Empfang eines Anrufs erfolgt die Trennung der Stimme vom Körper. Das Fehlen des Körpers ist es, was John Peters das Telefon vor allem als ein theologisches Medium definieren lässt: „Seine Aufgabe besteht darin, abwesende Körper zu manifestieren – als Stimmen.“42 Die Verdoppelung der Stimme, die sowohl zu dem Körper gehört als auch ihn verlässt, treibt ebenso Derrida um: Nowadays, some technical devices offer us the occasion to witness this demonstration: the telephone, the radio, the record, and so forth. In general, telephony is the scene of „detachment“ of which I just spoke with you. A voice may detach itself from the body, from the very first instant it may cease to belong to it. By which it traces, it is a trace, a spacing, writing, but neither a simple presence nor a dispersion of meaning. It is part of the body but because it traverses the body, because it disposes of it, it retains almost nothing of it, it comes from elsewhere and goes elsewhere […].43

Während des Telefongesprächs konstruiert sich ein virtueller akustischer Raum ohne Perspektive und Bilder. Im Gegensatz zum Gesichtssinn, der Distanz und Bilder rezipiert, vermittelt das Gehör akustische Signale, die gar nicht im realen Raum situiert sind. Neben der räumlichen Orientierung verhindert das Telefon auch die sozialen Elemente einer face-to-face-Kommuni40

41 42 43

Gary Wolfs, Interview „Avital Ronell: On Hallucinogenres.“, in: Mondo 4/2000. Russische Übersetzung in: Mitin žurnal 50/1993, 118-131, vlg. url: http://www.vavilon.ru/metatext/mj50/ronell.html#sn2. Ebd. John Durham Peters, Das Telefon als theologisches und erotisches Problem, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Telefonbuch, Frankfurt/M. 2000, 61. Jacques Derrida, Voice II, Dear Verena, 25. December 1982, in: Points... Interviews, 1974-1994, Stanford 1995, 161.

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kation, der potenziellen Berührung oder des Augenkontaktes. Die Stimme ist beauftragt, die fehlenden sozialen Gesten zu kompensieren. Ohne social cues wird cuelessness verursacht und damit eine psychologische Distanz geschaffen, die den depersonalisierten und task-oriented Inhalt provoziert. Kompromisse sind eher möglich bei Verhandlungen, in denen sich die Gesprächspartner von Angesicht zu Angesicht gegenüber sitzen, wohingegen es schwierig ist, am Telefon jemanden von seiner Meinung zu überzeugen.44 Wie Freud erwähnt, verändert das Telefon die Handlungsbeziehungen, aber nicht nur sie: In jeder Gesellschaft fordert das Telefon verschiedene soziale Effekte heraus. In den USA z. B. ist seine Wirkung viel bedeutender als in Großbritannien, wo das Telefon auf die Konkurrenz des Telegraphen trifft.45 In den USA verbreitet sich das Telefon wegen der schnellen wirtschaftlichen Entwicklung und der großen Distanzen rasch. Amerikanische Soziologen sehen hierin den Grund für viele soziale Prozesse wie etwa die Entwicklung von Meinungsfreiheit46 und Demokratie, die Emanzipierung der Hausfrauen47 usw. Eine der wichtigsten Funktionen des Telefons bleibt bis zum heutigen Tag der Notruf. Das Telefon überwindet nicht nur physische, sondern auch soziale Grenzen – diejenigen zwischen öffentlichem und privatem Raum. Die Möglichkeit, Dienstgespräche von zu Hause aus führen zu können und umgekehrt, bestimmt eine Vermischung der beiden Sphären menschlichen Lebens vorher. Über das sogenannte Sternsystem, wie es in der Sowjetunion etabliert wurde, ermöglicht das Medium den Einbruch sozialer Kontrolle in den privaten Kommunikationsbereich. Diesem Sternsystem nach baut der Machthaber direkte Verbindungen zu allen Orten seines Herrschaftsgebietes auf und übt Kommunikationskontrolle durch eine restriktive Vergabepolitik von Telefonanschlüssen aus, was wiederum eine „soziale Kluft zwischen Telefoninhabern und Nichtinhabern“48 hervorruft. Eine weitere Variante liegt darin, dass der Machthaber sich durch Gesprächsüberwachungseinrichtungen dazwischenschaltet und somit Misstrauen gegenüber dem Medium erweckt. Es lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Telefonnetzes 44 45

46 47

48

D. R. Rutter, Communicating by Telephone, Oxford 1989, 38-92. Charles R. Perry, The British Experience 1876-1912: The Impact of the Telephone During the Years of Delay, in: Ithiel de Sola Pool (Hg.), The Social Impact of the Telephone, Cambridge 1977, 69-96. Donald W. Ball, Toward a Sociology of Telephones and Telephoners, in: Marcello Truzzi (Hg.), Sociology and Everyday Life, New Jersey 1968, 59-75. Michéle Martin, Hello, Central? Gender, Technology, and Culture in the Formation of Telephone Systems, Montreal 1991; Ithiel de Sola Pool, Forecasting the Telephone: A Retrospective Technology Assessment of the Telephone, New Jersey 1983. Marec Bela Steffens, Das Telefon in den sozialistischen Ländern, in: Forschungsgruppe Telefonkommunikation (Hg.), Telefon und Gesellschaft Bd. 2, Berlin 1990, 199-211, hier 204.

Das Telefon im literarischen Text als intermediale Korrelation

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und den Bedürfnissen des politischen Systems feststellen: „Die strikt zentralisierte und hierarchisierte wirtschaftliche und politische Struktur wurde das wichtigste Merkmal des entstehenden Machtsystems.“49 Am anderen Ende der Palette sozialer Interaktionen durch das Telefon befinden sich die intimen Telefonate und Gespräche von Verliebten oder die Telefondienste der Sexindustrie. Das Telefon stellt die Möglichkeit bereit, den anderen zu jeder gewünschten Zeit und an jedem telefonisch zugänglichen Ort erreichen zu können, was der Angerufene unter Umständen als eine Art Bedrohung empfinden kann.50 In der Forschung wird das Telefon oft mit anderen Medien verglichen, am häufigsten aber mit dem Radio: Das Massenmedium wird dem individuellen Medium gegenübergestellt. Während nach McLuhan das Radio „polygam“, d.h. also an alle adressiert ist und alle erreicht, was wiederum insbesondere für die Sowjetunion gilt, ist das Telefon „monogam“ – es beschränkt sich zunächst auf nur einen Adressaten.

2.4. Das Telefon im literarischen Text als intermediale Korrelation Die Präsenz des Telefons in literarischen Texten kann als eine intermediale Wechselbeziehung betrachtet werden. Der Begriff der Intermedialität wird hier also im Sinne einer Wechselwirkung zwischen Medien verwendet. Als problematisch erweist sich dabei die Frage nach der Definition des Begriffs Medium und nach der Wechselwirkung zwischen den Medien. Zahlreiche Schriften beschäftigen sich mit dem Thema Medium, im Folgenden werden die für unsere Untersuchung relevanten kurz vorgestellt. Nach McLuhan sind alle Medien „Ausweitungen des Menschen“: im Bereich von Sprache und Schrift, aber etwa auch im Hinblick auf Kleidung, Straßen und Waffen bis hin zu den neuen elektronischen Medien, wobei Medien nicht für sich alleine bestehen, sondern stets in komplexe mediale Beziehungen eingespannt sind. Weil sich für den sowjetischen Kontext von einer starken Beziehung zwischen alten und neuen Medien einerseits und der Macht andererseits ausgehen lässt, bietet die Systemtheorie Luhmanns eine weitere Perspektive an. Luhmann erforscht die Auseinandersetzung zwischen Verbreitungsmedien wie Schrift, Buch und den elektronischen Medien bis 49

50

Zoltán Pap, Das Telefon als Kennziffer der gesellschaftlichen Ungleichheit, in: Forschungsgruppe Telefonkommunikation (Hg.), Telefon und Gesellschaft, Bd. 1, Berlin 1989, 214-224. Gary Gumpert, The Psychology of the Telephone, in: Forschungsgruppe Telefonkommunikation (Hg.), Telefon und Gesellschaft, Bd. 1, Berlin 1989, 239-254.

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hin zu den „symbolisch generalisierten“ Kommunikationsmedien der modernen Gesellschaft wie Geld, Liebe, Macht und Wahrheit.51 In seinem 1983 erschienen Artikel Intermedialität und Intertextualität52 untersucht Aage Hansen-Löve die Relation von Wort- und Bildkunst am Beispiel der russischen Moderne und eröffnet die Diskussion über Wechselwirkungen zwischen den Medien. Er unterscheidet multimediale Präsentationen wie bei Theater, Oper oder Film und monomediale Kommunikationsformen wie beim Tafelbild, dem Stummfilm oder literarischen Texten, darüber hinaus drei Prinzipien der Korrelation Wort-Text/Bild-Zeichen, nämlich die Transposition von narrativen Motiven, die Transfiguration von semantischen Komplexen und die Projektion von schematischen, konzeptuellen Modellen.53 Nach Jens Schröter54 lässt sich die Intermedialität typologisch in vier verschiedene Arten differenzieren: Erstens synthetische Intermedialität – wenn mehrere Medien in einem neuen Medium fusionieren; zweitens formale oder trans-mediale Intermedialität – „die formalen Ebenen sind getrennt von der medialen Basis und relativ autonom ihr gegenüber“; drittens transformationale Intermedialität – ein Medium verweist auf ein anderes und rerepräsentiert es, und viertens ontologische Intermedialität in Bezug auf die transformationale Intermedialität. „Zentral ist, daß sich etwa ,der‘ Film durch transformierende Bezugnahme auf ein anderes Medium wie ,die‘ Malerei selbst bestimmen kann.“ Eine Aufstellung der verschiedenen intermedialen Typologien nimmt Werner Wolf vor.55 Die Möglichkeiten, Wechselwirkungen zwischen den Medien zu analysieren, bestimmen sich u. a. nach der Einbeziehung eines Mediums in ein anderes, wie sich dies beispielsweise bei Film und Literatur feststellen lässt, nach der Dominanzbildung, nach der Quantität der intermedialen Bezugnahmen sowie nach der Genese der Intermedialität. Ein konkreter Fall von Intermedialität ist die Darstellung des Telefons in literarischen Texten. Wir können ihn als transformationale Intermedialität nach Schröter betrachten – ein Medium, die Literatur, verweist auf ein anderes, das Telefon, dabei wirkt das Telefon auf verschiedene Ebenen der Literatur ein, von der rein sprachlichen bis hin zur Bestimmung des Plots. Selbst die Telefonate im Text können nach unterschiedlichen Kriterien systematisiert werden. Anhand von Kurzanalysen von Texten wie etwa Die 51 52 53 54 55

Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1998. Aage Hansen-Löve, Intermedialität und Intertextualität, in: Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien 1983, 291-360. Ebd., 304. Jens Schröter, Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs, in: Montage/av 7(2)/1998, 129-151. Werner Wolf, Intermedialität, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie, Stuttgart 2001, 284.

Das Telefon im literarischen Text als intermediale Korrelation

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Sirene von Dieter Wellershoff, Sprechanlage von Heinrich Böll, Der Telefonist von Walter Jens und Konzert an vier Telefonen von Kay Hoff bietet Alan Corkhill z. B. eine Typologie der Formen literarischer Telefonate nach der Darstellung des Gesprächs als Dialog oder Monolog: 1a. Telefondialoge zwischen einem einzelnen Sender und einem einzelnen Empfänger 1b. Telefondialoge zwischen einem einzelnen Sender und mehreren Angerufenen 1c. Telefondialoge mit wechselnden Gesprächspartnern 2a. Monologische Anrufe zwischen einem einzelnen Sender und einem einzelnen (stummen) Empfänger 2b. Monologische Anrufe zwischen einem einzelnen Sender und mehr als einem (stummen) Empfänger 2c. Die monologisch Telefonierenden rotieren.56

John Brooks verfolgt chronologisch die Erscheinungen des Telefonmotivs in der amerikanischen Literatur, angefangen von Mark Twains Sketch A Telephone Conversation (1880) bis hin zu Carol Emshwills Erzählung Peninsula (1974). Brooks zufolge hat sich das Motiv Telefon als Subjekt und kreative Inspiration nach hundert Jahren Telefonliteratur erschöpft. Trotz der technischen Verbesserungen beim Telefonwesen habe diese Literatur, so Brooks, keine Zukunft.57 Bodo Rollka dagegen sieht das Telefon nicht so sehr als Subjekt der Literatur, sondern vielmehr als ein wichtiges und immer noch produktives dramaturgisches Mittel: „eine Eselsbrücke zur Wiederbelebung kurzatmiger Plots“.58 Eine andere Perspektive bietet Bräunlein an, der die „strukturelle Verwandtschaft von Telefonkommunikation und Literatur“59 auf der Basis von drei kunstästhetischen Kategorien erforscht. Zuerst kommt die Montage, aufgrund derer das Telefonat als „Alltagsmontage“ mit wirkungsästhetischem Potential gesehen werden kann,60 dann folgen die Fiktionalisierung und die Duplizität der Telefonsituation als Kennzeichen struktureller Fiktionalität61 und schließlich die Ambiguität oder die Mehrdeutigkeit als Strukturpotential künstlerischen Darstellens.62 Die Untersuchung des Telefons und der Telefonate in der Literatur kann, ähnlich wie bei Untersuchungen über Kino, Radio oder Fotografie in der 56 57 58 59 60 61 62

Alan Corkhill, Formen des literarischen Telefonats, in: Seminar: A Journal of Germanic Studies, Bd. 25 (1)/1989, 49-63, hier 50. John Brooks, The First and Only Century of Telephone Literature, in: Pool, The Social Impact of the Telephone, 208-224. Bodo Rollka, Das Telefon in der Unterhaltungsliteratur, in: Forschungsgruppe Telefonkommunikation (Hg.), Telefon und Gesellschaft, Bd. 3, Berlin 1990. Jürgen Bräunlein, Ästhetik des Telefonierens, Berlin 1997, 107. Ebd., 115. Ebd., 131. Ebd., 107f.

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Literatur, auf drei Ebenen systematisiert werden. Die erste Ebene stellt die Thematisierung des Mediums dar, bzw. seine Erscheinung als Motiv oder Sujet in narrativer Sicht. Das künstlerische Verfahren und die performative Darstellung bilden die zweite Ebene, dabei benutzt ein Medium die Ausdruckstechnik eines anderen. Auf der dritten Ebene folgt die Poetik – die Beziehung zu akustischer Wirklichkeit, Metapoetik, Rezeption, Textstrukturen, Symbolen usw. Die Wechselwirkungen zwischen diesen drei Ebenen und ihre Verbundenheit konstituieren die Besonderheit der „telefonischen Texte“. Im Folgenden untersuche ich die Telefonate und das Telefon im Text vor allem hinsichtlich der intermedialen Beziehungen zwischen dem Medium der sekundären Mündlichkeit und dem Medium der Schrift. Die Schrift enthebt die Sprache der Körperlichkeit, so wie das Telefon die Stimme der Körperlichkeit enthebt. In einem eigenartigen Zusammenspiel gewinnt die Oberhand entweder die Mündlichkeit oder die Schrift, die die Aktualisierung des Lauts unterdrückt. Der Zusammenstoß der beiden Medien ist vorherbestimmt durch äußere Faktoren wie die sozialpolitische Umgebung oder die Reglementierung der künstlerischen Verfahren von Seiten des Staats u. a. Dabei wird das Telefon als Motiv zu einem strukturbestimmenden Element, das den Leser an „monologischen“ und „dialogischen“ Texten beteiligt.

3. Kultursozialer Aspekt 3.1. Geschichte des Telefons in Russland 3.1.1. Von den ersten Telefonaten bis zur Oktober-Revolution Ein Ingenieur erklärt einer Filmdiva, was technischer Fortschritt ist. – Stellen Sie sich vor, dass vor hundert Jahren die Leute noch nicht das Telefon benutzen konnten! – Es scheint doch so einfach zu sein – den Hörer abnehmen und die Nummer wählen.63

Als der Franziskanermönch Roger Bacon Mitte des 13. Jahrhunderts voraussagte: „Die Menschen werden gehen, ohne sich zu bewegen, sie werden mit Abwesenden sprechen, sie werden die hören, die nicht sprechen“64, wurden seine Worte als eine Metapher für den menschlichen Geist wahrgenommen und kaum jemand vermutete, dass dieser Gedanke Wirklichkeit werden würde. Sieben Jahrhunderte später traten langsam technische Erfindungen wie das Telefon, das Automobil oder der Phonograph in Erscheinung. Bevor sie aber Teil des Alltags werden konnten, musste zunächst die Angst vor dem Neuen und Unbekannten überwunden werden. Auch im Falle des Telefons verging eine relativ lange Zeit, bevor es das Vertrauen der Verbraucher gewinnen und sich später zu einem Medien- und Kulturphänomen entwickeln konnte. Um den elektrischen Apparat populärer zu machen, wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland verschiedene Publikationen über die Funktion und Benutzung des Telefons veröffentlicht: Der Telefonapparat dient zur Übermittlung von Sprache über eine viel größere Entfernung als jene, über die sie geradewegs übermittelt wird. Der Prozess der Übermittlung besteht aus Folgendem: wir sprechen vor dem Gerät, Mikrofon genannt, der Laut unserer Stimme wird vom Mikrofon in Strom umgewandelt. Der Strom wird über einen Draht von dem Ort, an dem wir sprechen, an den Ort, an den unsere Rede gerichtet ist, übermittelt, beispielsweise von Petrograd nach Moskau. In Moskau wirkt dieser Strom auf ein Gerät, das Telefonhörer oder einfach Telefon genannt wird. Das Telefon wandelt den Strom wieder in Laute um, welche der Zuhörer als unsere Rede wahrnimmt.65

Die Idee, Stimme und Rede mit Hilfe von Strom zu transformieren und dadurch über riesenhafte Distanz übertragen zu können, war zunächst nur eine 63 64 65

B. Volgin, Pomоgite telefonu, Moskau 1976, 71. Zitiert nach Lewis Mumford, Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, Wien 1974, 327. Populjarnyj kurs telefonii, in: Technika narodnoj svjazi Nr. 1-2-3/1919, 25.

Kultursozialer Aspekt

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unter den vielen technischen Neuerscheinungen, die von der Elektrizität inspiriert und geprägt wurden. Bald gestaltete sich aber das Telefon als ein Geschäft mit enormem Potenzial, dessen erstaunliche Ausbreitung im Alltag und besondere kommunikative Aufgabe uns heute eine Rezeption des Telefons als kulturelles Artefakt erlauben. Um eine vollständige Vorstellung von der Rolle des Telefons im Kontext der russischen Gesellschaft der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts zu bekommen, verfolge ich kurz auch seine frühere Geschichte. Die Arbeit der drei Pioniere des Telefons Philipp Reis, Alexander Graham Bell und Elisa Gray und die Verbreitung des Mediums in den USA und Westeuropa sind in der Fachliteratur bis ins Detail ausgearbeitet66, deswegen soll hier nur das Schicksal des Telefons in Russland im Mittelpunkt des Interesses stehen. Im weiteren Verlauf erläutere ich die folgenden Hauptpunkte: Erstens die Entstehung der ersten Telefonnetze in Russland, zweitens die Verbreitung des Mediums in den Metropolen Moskau und St. Petersburg, und drittens die Rolle des Telefons während der Revolution und wie es sich in Lenins Telefonaten präsentiert.

a. Die ersten Telefonnetze in Russland Am 7. März 1876, etwa 40 Jahren nach Inbetriebnahme der ersten Telegrafenlinie, bekam Alexander Bell die Patentnummer 174465 für ein Gerät, das Prototyp des heutigen Telefons war. Weniger als ein Jahr danach begannen in Russland die Diskussionen um den Nutzen des neuen Kommunikationsmediums, welches Sprache mit Hilfe von elektrischem Strom in die Ferne übertragen konnte. Ähnlich der Entwicklung der heutigen Kommunikationsmittel wie z. B. des Internets, zog die Erfindung umgehend das Interesse des Militärs auf sich: „Die Telefonmethode für die Übertragung von Botschaften in realer Zeit beginnt sich zu entwickeln, deswegen erachte ich das Testen der Anwendung dieser Methode für militärische Ziele für nützlich.“ – So lautete die Begründung des Vorgesetzten der technischen Abteilung des Militäringenieur-Korps in St. Petersburg.67 Parallel zu den militärischen Prüfungen des Telefons fand es rapide Ausbreitung im Zivilleben. Als Beginn der „Telefonisierung“ Russlands gilt das 66

67

Christel Jörges u. a. (Hg.), Telefone 1863 bis heute: aus den Sammlungen der Museen für Kommunikation, Heidelberg 2001; Michael Reuter, Telekommunikation. Aus der Geschichte in die Zukunft, Heidelberg 1990; Margret Bauman (Hg.), Mensch, Telefon: Aspekte telefonischer Kommunikation, Heidelberg 2000; Michael Giesecke, Die Technisierung der akustischen Medien der Fernkommunikation, in url: http://peterpurg.kdpm.org/kultgesch/Tech_aku.htm; Münker/Roesler, Telefonbuch. G.I. Golovin, Russkie izobretateli v telefonii, Moskau 1949, 10.

Geschichte des Telefons in Russland

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Jahr 1881, als das Innenministerium dem Ingenieur von Barnov die Konzession für den Bau und Betrieb der Telefonnetze in den Städten St. Petersburg, Moskau, Warschau, Odessa und Riga für eine Zeitdauer von 20 Jahren erteilte. Unmittelbar danach verkaufte der Ingenieur die Konzession wieder an die amerikanische Bell-Telefone-Company, die bis 1912 in fast allen größeren Städten ein Netz installierte.68 Weil sich nicht alle Bürger einen Telefonanschluss und -apparat leisten konnten, avancierte das Telefon schnell zu einem luxuriösen Statussymbol in den Häusern der großbürgerlichen oder aristokratischen Familien und wurde zum Prestigeobjekt in den Büros von Behörden und wichtigen öffentlichen Persönlichkeiten. Die ersten Telefone bestanden aus polierten Wandkästen mit zwei Teilen sowie einer metallischen Klingel, unter die ein kleines Bord montiert wurde, welches der Sprechende als Stütze für die Anfertigung von Gesprächsnotizen benutzen konnte. Auf der linken Seite befand sich der Hörer, während das Mikrophon, damals noch von diesem getrennt, auf der Holzfläche der Kiste aufgebaut wurde. Das Signal hörte man erst nach dem Drücken von Taste A oder B und der Meldung der Telefonistin, die mit der gewünschten Nummer verband.69 Im Jahre 1887 wurde als Anrede am Telefon der Vorschlag von Thomas Edison – ein „Hallo“ – angenommen. In Russland setzte sich wegen der phonetischen Besonderheiten der Sprache die Form „Allo“ durch. Heute verwendet man zur Eröffnung des Telefonsgesprächs oft auch „Slušaju!“ (Ich höre). Von 1897 an wurden in St. Petersburg die Wandapparate Ericsson, auch Handapparate genannt, verbreitet. Diese ermöglichten es, Hören und Sprechen „in eine Hand nehmen“. Parallel zu den Handapparaten wurden auch die Tischapparate in der gleichen Weise perfektioniert. Eine Hand wurde damit frei für Gesprächsnotizen am Schreibtisch.70 Um sich ihre Position auf dem russischen Markt zu sichern, schenkte die Ericsson-Gesellschaft Zar Nikolaj II. im Jahr 1903 einen Telefonapparat aus Elfenbein und Edelmetallen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit, in der nur etwa 3% der Bevölkerung in Russland die Postkorrespondenz nach Hause geliefert wurde, organisierte die telegrafische Abteilung ein sogenanntes „kollektives Abonnement“, im Rahmen dessen die Bürger für 25 Kopeken ein fünfminütiges Telefongespräch führen konnten.71 68 69 70 71

V.J. Krasik, Telefon. Spravočnoe izdanie, Moskau 2000, 16. V.N. Suslov, Počta. Telegraf. Telefon, in: J.I. Smirnov (Hg.), Sankt-Peterburg XX vek Čto? Gde? Kogda?, St. Petersburg 2001, 185-200, hier 199. Jörges, Telefone 1863 bis heute, 61. Golovin, Russkie izobretateli v telefonii, 16. Im Vergleich: 1881 kostete ein 5minütiger Fernsprechschein beim Berliner Postamt Unter den Linden 50 Pfennig, Baumann, Mensch, Telefon, 16.

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Bells Original-Apparat wurde immer wieder verbessert und erfuhr einige Neuerungen und Variationen, wie z. B. das Vielpolar-Telefon oder die Mikrophonkapsel – Erfindungen des „Vaters des russischen Telefons“, P.M. Golubickij, der auch das Tischtelefon mit Gabel erschuf. Noch heute wird beim Abnehmen des Hörers die Gabel von ihrer Last befreit und so der Apparat in den Zustand für die Gesprächsführung versetzt. Eine weitere Erfindung Golubickijs ist ein Kopfhörer mit integriertem Hörer und Mikrophon, der die Arbeit der Telefonistinnen beträchtlich erleichterte. In seiner Werkstatt im Familienlandgut erschuf Golubickij im Jahr 1881 mehr als 100 Telefon-Apparate. Diese technische Errungenschaft im Bereich der Telephonie ist im Kontext der Technik-Geschichte bemerkenswert, bedenkt man etwa, dass die erste Radioübertragung in Russland erst 14 Jahre später, im Jahr 1895, realisiert wurde. Am Vorabend der Revolution von 1917 betrug die Anzahl der Abonnenten in Russland 232.000, die Hälfte davon befand sich in Petrograd und Moskau.

b. Die „Telefonisierung“ Moskaus In Moskau befand sich das Postamt von Anfang an im geographischen Zentrum der Stadt. In seinem Hof warteten die Reisenden auf Postkutschen, in den umliegenden Anbauten wurden Ausstellungen und Tagungen der Kunstgesellschaften organisiert und nicht zuletzt wurden Nachrichten ausgetauscht. Im Anschluss an die Entwicklungen des Eisenbahnverkehrs und des Telefons veränderten sich auch die Tätigkeitsbereiche des Moskauer Postamts: Anfang November 1898 wurde die erste Zeitungskorrespondenz telefonisch von Moskau nach St. Petersburg übermittelt, bis zum Ende des Monats der erste peregovornyj punkt (Gesprächsstelle) eröffnet. Die Verbreitung des Telefons in Moskau erfolgte rasch, das bezeugen die statistischen Angaben: Ein Jahr nach Abschluss des Vertrags mit der BellCompany gab es durchschnittlich einen Apparat auf 4.700 Einwohner, im Jahr 1900 schon einen auf 440 Moskauer und gegen Ende der zaristischen Regierungszeit 1917 einen Telefonapparat für 35 Einwohner.72 Die erste Moskauer Telefonzentrale wurde am 13. Juli 1882 im Haus des Teekaufmannes Popov an der Ecke von Kuzneckij most und Roždestvenskaja eröffnet. Sie war für 800 Nummern geeignet, von denen bei der Neueröffnung 2673 bereits an Kunden verkauft wurden. Bis Ende des Jahres bediente die Zentrale schon 24674 Abonnenten. Wie in der restlichen Welt erkannten 72 73 74

V.A. Krestovskij, Problema razvitija Moskovskoj gorodskoj telefonnoj seti, in: Žizn’ i technika svjazi 4/1926, 14-22, hier 17. Andere Quellen nennen 61 Abonnenten, Krasik, Telefon, 13. O. Kozlovskaja, Muzeij istorii Moskovskoj gorodskoj telefonnoj seti: www.mgts.ru.

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auch in Russland zunächst Großunternehmer, Geschäftsinhaber, Banken, Apotheken und die berühmten Theater die Vorteile des Telefons im Zivilleben. Sie waren es auch, die sich diesen Service leisten konnten – gegen Ende des 19. Jahrhunderts kostete ein Telefonanschluss 250 Rubel.75 Die ersten Abonnenten in Moskau benutzten den Bell-Black-Apparat, eine Konstruktion, die das Bell-Telefon mit dem Blacks-Mikrofon vereinigte. Der Apparat wog 8,5 kg und wurde für ein Wunder der Technik gehalten.76 Bis 1895 zählte die Moskauer Zentrale 500 Kunden, von denen acht im Kreml saßen und die übrigen innerhalb der Grenzen von Bul’varnoe kol’co77 (Boulevardring) – auch bekannt als Ring A. Im Jahr 1901 wurde das erste Telefonbuch des Moskauer Netzes veröffentlicht, in dem 2.860 Abonnenten aufgelistet waren.78 Alle Anschlüsse waren durch Luftlinie mit der Zentrale verbunden – auf den Telefonmasten hingen mehr als hundert Kabel. Die hohen Abonnement-Preise und die niedrige Qualität der Verbindungen führten im gleichen Jahr zum Verkauf der Netzkonzession, wobei eine der Bedingungen bei der Ausschreibung der Abbau der Abonnentengebühr war. Den Betrieb des Netzes übernahm die Schwedisch-DänischRussische Aktiengesellschaft, die die Preise für Haushalts-Anschlüsse auf 63 Rubel und 50 Kopeken, d.h. fast auf ein Viertel des vorherigen Preises senkte. Die Gesellschaft kaufte einen Teil des Hauses an der Miljutinskij-Gasse 5 und begann mit dem Bau der mehrstöckigen Gebäude der zentralen Telefonstation (ZTS). Gleichzeitig wurden die oberirdischen Leitungen durch unterirdische Kabel in Betonröhren ersetzt.79 Das Gebäude der ZTS wurde innerhalb von drei Jahre vollendet. Mit der offiziellen Eröffnung im Jahre 1904 wurde Moskau für eine kurze Zeitspanne zu der am besten mit Telefonen versorgten Stadt der Welt und übertraf hierin Stockholm. Die Qualität wurde wesentlich verbessert, es bestand die technische Möglichkeit für die Bedienung von 12.000 Nummern und die Verbindungszeit betrug für die Abonnenten acht Sekunden. In den Straßen Moskaus wurden 70 öffentliche Straßenautomaten installiert.80 1905 formierte sich in der ZTS ein Arbeiterkomitee, das in Streik trat und die Station erobern wollte. Die Regierungsarmee umzingelte die Gebäude, nach der Niederwerfung des Aufstandes wurden die Streikenden entlassen und die Mitglieder des Komitees verhaftet.81 Das Postamt entwickelte sich rasch und in weniger als zehn Jahren wurde das Gebäude zu klein. Also zog das Moskauer Postamt im Jahre 1912 in das 75 76 77 78 79 80 81

Krasik, Telefon, 313. Kozlovskaja, Muzeij istorii Moskovskoj gorodskoj telefonnoj seti. Krasik, Telefon, 13. Kozlovskaja, Muzeij istorii Moskovskoj gorodskoj telefonnoj seti. Krasik, Telefon, 313. Ebd., 14. Vgl. url: http://70.mmtel.ru/book/101.html.

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neue Gebäude an der Mjasnickaja-Straße 26 ein, die Majakovskij in Darüber verewigt hat. Bis 1916 wurden in Moskau 55.088 Telefonanschlüsse in privaten Häusern, Unternehmen und Behörden installiert, d.h. dass 100 Moskauern durchschnittlich 3,7 Apparate zufielen.82

c. Das Telefon in St. Petersburg Im Projektplan des Petersburger Telefonnetzes steht: „In Petersburg ist die Einrichtung einer zentralen Telefonstation im Haus von Gansen am ,Nevskij prospekt‘ gegenüber vom Kazanskij sabor geplant. Von dort sollen strahlenförmig sieben Linien, von denen jede zehn bis 120 Leitungen enthält, in Richtung der Kazanskaja-Straße, der Nikolaevskij-Brücke, der Aleksandrovskij-Brücke, der Vyborgskaja-Seite, des Znamenskij-Platzes und des Innenministeriums ausgehen.“83 Am 30. Oktober 1882 begann die erste manuelle Telefonstation am Nevskij prospekt 26 damit, 259 Abonnenten zu bedienen.84 Anders als in Moskau wurden in Petersburg Apparate installiert, in deren Hörer gleichzeitig auch das Mikrofon eingebaut war. In Folge dessen wurde über dem Telefon ein Schild mit folgender Ermahnung angebracht: „Ne slušajte rtom i ne govorite uchom“ (Hören Sie nicht mit dem Mund und sprechen Sie nicht mit dem Ohr).85 Die regelmäßigen Fahrten der Zarenfamilie zu den Palästen und Residenzen um Petersburg herum erforderten die Einrichtung einer Telefonleitung erst nach Peterhof (1883) und zwei Jahre später auch nach Carskoe selo.86 Im Jahr 1891 stieg die Anzahl der Abonnenten in Petersburg auf 2.00087. So ergab es sich bald, dass das Telefon in der Hauptstadt von allen und überall gefragt war – in Palästen und Herrenhäusern, in Fabriken und Betrieben, in Ministerien und Dienststellen. Der Umzug in ein größeres Gebäude war für das Fernsprechamt deswegen dringend notwendig. Die neue Adresse lautete Bol’šoj Konjušennoj 29.88 Von dort aus wurde am 31. Dezember 1898 das erste Gespräch mit Moskau geführt, wobei die damals fast unglaubliche Distanz von 660 km überwunden wurde. Das System erlaubte lediglich ein

82 83 84 85 86 87 88

Ebd. Golovin, Russkie izobretateli v telefonii, 15. Suslov, Počta. Telegraf. Telefon, 198. Ebd., 199. Golovin, Russkie izobretateli v telefonii, 18. Ebd. Suslov, Počta. Telegraf. Telefon, 199.

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Ferngespräch zwischen den Städten und bevor dieses nicht zu Ende war, konnte kein anderes Telefonat stattfinden.89 Anfang des 20. Jahrhunderts verband sich die Verbreitung des Telefons in Europa mit der Suche nach einer neuen ästhetischen Einheit von Raum, Gegenstand und Mensch sowie mit der Bevölkerungsexplosion, dem rasanten Wachstum der Städte und dem Streben nach einer Abgrenzung von der „Masse“.90 Die folgende Tabelle illustriert diese Entwicklung in den russischen Metropolen Petersburg und Moskau und zeigt an, auf wie viele Bürger ein Apparat entfiel.91 Jahr 1882 1900 1917

Petersburg 4600 400 35

Moskau 4700 440 35

d. Das Telefonamt als Bühne der Revolution Für die bolschewistische Medienpolitik erwiesen sich die Medien der mündlichen Sprache von entscheidender Bedeutung. Im Jahr 1917 verbreitete sich „das elektrifizierte Wort“92 des Radios und des Telefons rasch, geographische, soziale und kulturelle Grenzen, räumliche und zeitliche Hindernisse überwindend. Die lebendige Rede entwickelte sich schnell zum Symbol der ideologischen Macht und gewann die Oberhand über Typographie und Telegraphie. Die revolutionäre Kunde von Lenin erreichte die Massen durch das Radio, seine vertrauten Kameraden durch das Telefon. Die unmittelbare Nähe dieser Medien zum Ideologen der Revolution war es, die ihnen in der Mythologie vom Roten Oktober einen Heiligenschein verlieh. Am 25. Oktober (7. November), nach dem Kampf um die Telefonstation in Petrograd, übernahm die bolschewistische städtische Regierung die Kontrolle über das Telefonnetz.93 In Moskau dauerte die Belagerung der Telefonstation fünf Tage, da die revolutionären Truppen die Zentrale erst am 30. Oktober 1917 an die bolschewistische Regierung übergaben. Die Fräuleins vom Amt wurden durch Nachrichtensoldaten und Telefonisten ersetzt.

89 90 91 92

93

Ebd. Jörges, Telefone 1863 bis heute, 83. Krestovskij, Problema razvitija Moskovskoj gorodskoj telefonnoj seti, 17. Jurij Murašov, Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Literatur und Kultur der 20er und 30er Jahre, in: Ders./Georg Witte (Hg.), Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre, München 2003, 81-112. Žizn i technika svjazi 11/1927.

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Schon bei der Planung und Vorbereitung der Revolution definierte Lenin die Telefonstation in seinen Briefen als Objekt von erstrangiger Bedeutung, auf das die Kräfte sich zuerst konzentrieren sollten: Um den Aufstand marxistisch zu betrachten, d.h. als Kunst, müssen wir gleichzeitig, ohne eine Minute zu verlieren, einen Stab aufständischer Einheiten organisieren, unsere Kräfte verteilen, unsere treusten Regimenter zu den wichtigsten Punkten bewegen, Aleksandrinka umkesseln, Petropavlovka besetzen, den Generalstab und die Regierung verhaften und die Art von Einheiten zu den Junkern und zur wilden Division schicken, welche bereit sind zu sterben, aber nicht zulassen werden, dass sich der Feind zu den Stadtzentren bewegt; wir müssen bewaffnete Arbeiter mobilisieren, sie zum letzten tollkühnen Kampf rufen, sofort den Telegrafen und das Telefon einnehmen, unseren aufständischen Stab in der zentralen Telefonstation unterbringen, telefonisch alle Betriebe, alle Regimenter und alle bewaffneten Kampfgruppen usw. mit ihm verbinden.94 Abb. 1: Die Nachrichtensoldaten in einer ZTS.95

Unsere drei Hauptkräfte – die Flotte, die Arbeiter und die Truppenteile so zu kombinieren, dass Telefon, Telegraf, Eisenbahnstationen, Brücken besetzt und um jeden Preis gehalten werden. Die entschlossensten Elemente (unsere Stoßarbeiter und Arbeiterjugend sowie die besten Matrosen) in kleinen Regimentern aussondern, damit sie die wichtigsten Orte besetzen und überall an allen wichtigen Operationen teilnehmen. Für den Vormarsch und die Einkesselung der „Zentren“ des Feindes (Junkerschulen, Telegrafen- und Telefonstationen) müssen Regimenter mit Gewehren und Bomben der besten Arbeiter gebildet werden. Der Erfolg der russischen und weltweiten Revolution hängt von zwei-drei Kampftagen ab.96

94

95 96

V.I. Lenin, Marksizm i vosstanie (Pis’mo Central’nomu Komitetu RSDRP), 13.-14. (26.-27.) September 1917. Erste Veröffentlichung in Proletarskaja Revoljuzija 1921 Bd. 2, url: http://www.marxists.org/russkij/lenin/works/lenin005.htm. url: http://www.cultinfo.ru/fulltext/1/001/009/001/223382437.jpg. K. Malaparte, Technika gosudarstvennogo perevorota, Moskau 1988, url: http://www.bookap.by.ru/okolopsy/perevorot/oglav.shtm.

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Die Bolschewiken wollten nicht nur die Telefonzentrale erobern, sondern auch den Revolutionsstab dort einrichten, um sich auf diese Weise eine Kommunikationsmöglichkeit mit allen für den Aufstand strategisch wichtigen Punkten zu sichern. Für die Koordination des weiteren Verlaufs der Revolution und für den Sieg spielte ein schneller Informationsaustausch eine entscheidende Rolle. Anlässlich des 15. Jahrestags der Oktoberrevolution wurde das Telefon in der Ausgabe von Arbeiter der Kommunikation (Rabotnik svjazi) gelobt und seine „riesengroße Bedeutung“ nicht nur während der Revolution, sondern auch danach hyperbolisiert: Unter Leitung des Parteikollektivs wird die Moskauer Telefonstation eine echte Magistrale der sozialistischen Verbindung… Am Vorabend der Oktoberrevolution rief Vladimir Il’ič aus der Ferne in seinen berühmten „Briefen“ die revolutionären Arbeiter und Matrosen auf, an erster Stelle die Telegrafen-, die Telefonstationen und die Bahnhöfe zu besetzen. Der große Stratege der Revolution erkannte bestens die enorme Bedeutung des Telefons als Lebensnerv der Stadt und des Landes. Das Proletariat hat im Oktober nicht nur das Telefon unter Kontrolle gebracht. Ebenso wie die anderen Zweige der Volkswirtschaft hat es das Telefon rekonstruiert, es bis auf die höchste technische Stufe gehoben und eine enorme Investitionsbautätigkeit entwickelt. Das Leben der modernen Großstadt, besonders einer wie Moskau, lässt sich nur schwer ohne Telefon vorstellen. Unter unseren Bedingungen dient die Telefonverbindung vollständig den Aufgaben zur Errichtung des Sozialismus.97

e. „Hier spricht Lenin“ In ähnlicher Art und Weise, wie die Jahrestage der Revolution für die Heroisierung bestimmter Industriebereiche benutzt werden, werden auch Geburtstag und Todestag Lenins gebraucht, um fast jeden Industriesektor durch seine Verbindung zu Lenin zu glorifizieren. In Publikationen wie z. B. Wie Lenin die Kommunikationsmittel verwendete98 werden Zitate aus den Memoiren seiner Zeitgenossen gesammelt, die Lenins Beziehung zum Medium Telefon bei der Vorbereitung kämpferischer Aktivitäten wie auch in seinem Alltag beweisen. In diesen Publikationen liegt der Schwerpunkt viel stärker auf den positiven Qualitäten Lenins, die beim Telefonieren zum Ausdruck kommen, als auf dem Medium selbst und dessen Vorteilen – das Telefon ist nur ein Instrument im Dienste des revolutionären Anführers. Die technisch-mediale Unvollkommenheit wird durch außergewöhnliche persönliche Fertigkeiten und zielstrebiges Handeln kompensiert: 97 98

O. Dimin, Na fronte svjazi, Bd. 19/1932, 8-9. Kak Lenin pol’zovalsja svjaz’ju, in: Rabotnik svjazi Bd. 1/1934, 8-10.

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Sogar unter jenen verhältnismäßig beschränkten Möglichkeiten, über die die Telefonverbindung zu jener Zeit verfügte, verwendete Il’ič sie maximal. [...] Das ganze Gespräch des Vorsitzenden der Räte der Volkskommissare hat keinen Befehlscharakter, sondern einen Klarstellungscharakter zur Lage der Genossen, die die Revolution retten… Wie immer hat sich Genosse Lenin nicht nur auf einen einfachen Befehl beschränkt, sondern ist in alle Einzelheiten gegangen, bezog Auskunft über Lebensmittelsituation, Gewehre usw. Das Gespräch war, wie wir wissen, nicht zwecklos. Die Kronstädter haben ihre revolutionäre Pflicht erfüllt. [...] Telefonieren Sie nach Kronstadt, – wendete sich Genosse Lenin erneut an mich, – und erlassen Sie einen Befehl über die unverzügliche Bildung eines weiteren Kronstädter Regiments. Es ist notwendig, alle bis zum letzten Mann zu mobilisieren. Die Revolution befindet sich in Todesgefahr. Wenn wir jetzt keine absolut außergewöhnliche Tatkraft aufbringen, werden uns Kerenskij und seine Banden zerdrücken. Dies war am Abend des 27. Oktobers 1917 in den Räumlichkeiten des Stabs des Petrograder Militärbezirks. [...] Er forderte laufend Überprüfung und Genauigkeit bei jedem Schritt unserer Arbeit. Wenn er auftrug, eilig einen Brief zu verschicken, so musste man zuerst telefonisch denjenigen ausfindig machen, an den der Brief adressiert war, um zu wissen, wo er sich momentan befand (damit der Bote nicht umsonst lief), seine persönliche Unterschrift zu bekommen und sich sogar telefonisch zu erkundigen, wann eine Antwort gegeben würde. [...] Im Laufe einiger Tage, in denen Verlauf und Ausgang des Oktoberumsturzes vom Schicksal der Petersburger Kämpfe abhingen, erlaubte er sich keine Minute der Erholung. Während dieser heißen Tage gelang es ihm gewiss nicht einmal, sich im Smol’ny auf das Sofa zu legen. Er legte den Telefonhörer selten aus den Händen. Seine Befehle waren präzise, kurz und entschieden. Und er erwies sich als Sieger. 99

Der Telefonhörer fließt mit Lenins Hand zusammen und wird zu einer Erweiterung seiner Sprachgeste. Der Sprechakt Lenins, der auf diese Weise während der Revolution den Mythos Lenin – Telefon geprägt hat, gilt im sozialistischen Raum lange nach seinem Tod noch als sein persönliches Merkmal. Denn Lenin nutzte das Telefon optimal aus, er gab präzise Anweisungen, kontrollierte die Arbeit, diskutierte Details ohne Müdigkeit und ohne Pause. Das Telefon erstrahlte im Glanze von Lenins Heiligenschein: Die Tatsache, dass dieser den Hörer kaum aus der Hand legte, transformierte das Medium implizit in eine Waffe der Revolution, die genauso bedeutsam wurde wie die Gewehre. Auch in Friedenszeiten spielte das Telefon eine führende Rolle im Arbeitsalltag Lenins, sogar nach seiner Krankheit im Jahre 1922: Um 11 Uhr begann sein „gesetzlicher“ Arbeitstag, den Vladimir Il’ič mit der ihm eigenen Arbeitsintensität verbrachte: Empfänge, Besprechungen, Sitzungen, Telefon99

Ebd., 8.

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gespräche, die bekannterweise eine große Rolle in der Arbeit von Vl. Il’ič spielten, außerdem das Schreiben von Briefen, Artikeln, Beschlüssen usw.100

Wenn über Lenins Telefongespräche berichtet wird, werden diese als eine harte, zeitaufwendige und erschöpfende Arbeit dargestellt: „Manchmal saß er einige Stunden am Stück am Telefon und führte Gespräche mit Char’kov oder Piter.“101 Um die fast magische Kraft der Telefonate Lenins zu betonen, werden sogar negative Erscheinungen wie die uneffektive Bürokratie zugegeben.102 Das Defizit an Effektivität, das Handlungen aufweisen, die vom Fuße der hierarchischen Pyramide ausgehen und nach oben zielen, kontrastiert mit der sofortigen Wirkung solcher, deren Bewegung in umgekehrter Richtung verläuft. Nach Abschluss der Verhandlungen mit Genosse Lenin wurde unser Regiment von Genosse Cjurupa in die Stadt Kazan’ entsandt. Im Narkomprod sollten wir Vollmachten und Vorschüsse erhalten. Wir versuchten es einen Tag, einen zweiten, doch schien es zwecklos zu sein. Gerettet hat uns erneut Il’ič. Im Gespräch mit Genosse Sverdlov erfuhr er, dass wir immer noch da waren. Genosse Lenin fordete mich und Genosse Čugurin sofort ans Telefon (wir befanden uns zu diesem Moment im Narkomprod) und fragte: – Warum sind Sie nicht abgefahren? – Nun ja, Vladimir Il’ič, wir kommen seit zwei Tagen ins Narkomprod, um Papiere zu holen… bekommen aber nur Versprechungen. – Welche Abteilung ist für eure Anliegen verantwortlich? – Die allgemeine Kanzlei. – Rufen Sie den Leiter der Kanzlei. Wir rufen ihn, er geht ans Telefon. – Der Leiter der Kanzlei am Apparat. – Hier spricht Lenin... – Ich höre Sie, Genosse Lenin…, – antwortete der unglückselige Leiter der Kanzlei mit einer gleich zwei Töne leiseren Stimme. – Wie viel Zeit benötigt Ihre Abteilung für die Registrierung und die Ausstellung der Vollmachten für das Regiment? – So und so viel... – In welcher Abteilung werden die Papiere weiterbearbeitet? – In jener... In den folgenden Abteilungen wurde dieses Gespräch wiederholt. Die Worte von Il’ič zeigten magische Wirkung. Die ganze „komplizierte“ Arbeit zur Ausgabe der Vollmachten und Vorschüsse wurde zu den von Genosse Lenin gesetzten Fristen erfüllt.103

100 101 102 103

L. Fotieva, Gosapparat i V. I. Lenin, in: Rabotnik svjazi, Bd. 1/1934, 10. M. Gljasser, Kak rabotal Vladimir Il’ič, in: Rabotnik svjazi, Bd. 1, 10/1934. Vgl. das Kapitel Das Telefonrecht. V. Kajurov, Moi vstreči i rabota s V. I. Leninym v gody revoljucii, in: Kak Lenin pol’zovalsja svjaz’ju, in: Rabotnik svjazi Bd. 1, 10/1934.

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Kultursozialer Aspekt

Im Prozess des Erzählens wiederholt Kajurov nicht nur das erste Telefonat mit Lenin, an dem er teilnimmt, sondern auch das zweite, bei dem der Leiter des Büros am Telefon ist. Tatsächlich war es Kajurov unmöglich, die Fragen Lenins zu hören, die fehlenden Repliken lassen sich aber anhand der Antworten und Reaktionen des Leiters rekonstruieren. Das zitierte Gespräch kann somit nicht als Grundlage für eine Analyse des tatsächlichen Benehmens von Lenin am Telefon dienen, sehr wohl jedoch als Beispiel dafür, wie er von seiner Umgebung im Kontext seiner Idealisierung wahrgenommen wird. Im Gegensatz zu Stalin, dessen Gespräche mit Bulgakov oder Pasternak in die Literaturgeschichte eingingen, gibt es nur ein bekanntes Beispiel, das den Einfluss von Lenins Telefonaten auf die Literatur zeigt: sein Telefonkontakt zu Vladimir Majakovskij. Nach I. Kondakov, der sich auf die Memoiren Lilja Briks stützt, ist es gerade der Anruf Lenins in der Werkstatt „Okna ROSTA“, der die Auffassungen Majakovskijs nachhaltig beeinflusst und ihm sein künstlerisches Ich zurückbringt.104 Es klingelt: – Wer ist bei Ihnen? [Majakovskij:] – Niemand. – Ist der Leiter da? – Nein. – Und wer vertritt ihn? – Niemand. – Also ist niemand da? Überhaupt niemand? – Überhaupt niemand. – Großartig! – Und wer spricht? – Lenin. Der Hörer wird aufgelegt. Majakovskij konnte sich lange nicht besinnen.105

Weder Lilja Brik noch Kondakov erwähnen, wann genau dieses Gespräch stattgefunden hat. Ausgehend von Majakovskijs Biographie kann man schließen, dass das Telefonat in der Zeit von September 1919 bis Januar 1921 stattgefunden haben muss, als Majakovskij als Grafikdesigner und Werbetexter bei „Okna ROSTA“ (der Russischen Telegrafen-Agentur) arbeitete. Der Dichter sei erschüttert gewesen, dass er unbewusst ein absolut inhaltsleeres Gespräch mit Lenin geführt und sich außerdem als einen „Niemand“ bezeichnet habe. Der Ansicht Kondakovs nach stammen alle Gedichte 104 105

I. Kondakov, Adova past’. Russkaja literatura XX veka kak edinyj tekst, in: Voprosy literatury 1/2002, url: http://magazines.russ.ru/voplit/2002/1/kon.html. Lilja Brik, Iz vospominanij – Imja ėtoj teme: ljubov’! Sovremennizy o Majakovskom, Moskau 1993, 104f. „Dieses Gespräch weiß ich wahrscheinlich deshalb noch Wort für Wort, weil Majakowski es später viele Male zum besten gegeben hat.“ In: Lilja Brik, Schreib Verse für mich. Erinnerungen an Majakowski und Briefe, Berlin 1991, 60-61.

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Majakovskijs über Lenin wie etwa Gespräch mit dem Genossen Lenin (Razgovor s tovariščem Leninym, 1929), aus der Zeit nach diesem Telefonat und sollten dieses kompensieren. Falls man überhaupt von einem solchen Einfluss ausgehen möchte, ist es jedoch wahrscheinlicher, dass das Gespräch auf die Schreiben von „Vladimir Il’ič“ im Jahr 1920 Bezug nimmt, da einerseits Lenin noch am Leben ist und es andererseits vermutlich kurz nach dem Telefonat geschrieben wurde. Die Bedeutung dieses Telefonats ist für Majakovskij größer als für Lenin, der nicht einmal erfährt, dass der Künstler am anderen Ende der Leitung spricht. Trotzdem findet man in Majakovskijs Werken keine expliziten Beweise, die auf Einflüsse genau dieses Telefonats hinweisen könnten. Lenin als Mann des Wortes tritt über das Medium Telefon unerwartet in die Welt des Künstlers ein und verursacht durch die Macht des Wortes eine persönliche Wandlung des Dichters. Das Einbrechen der Politik in Majakovskijs Welt, während dieser sich im schöpferischen Prozess befindet, löst eine innere Entwicklung des Dichters aus und nimmt dabei eine signifikante Rolle im Hinblick auf die Mythologisierung des Mediums ein. Die geringe Zeitdauer des Telefonats und insbesondere auch das Fehlen eines visuellen Kontaktes prägen die Reaktionen des Dichters. Das direkte Einbrechen der Macht von draußen hat langfristige Auswirkungen auf den Künstler: Der unvermutete Kontakt von Macht und Kunst über das Telefon prägt nicht nur die Konzeptualisierung von Lenins Bild, sondern auch die Konzeptualisierung des Telefons in Majakovskijs Werken. Als Botschaft wird der verwirklichte Kontakt zwischen zwei Personen, die sich einander nicht sehen können, dargestellt. Die Telefonate Lenins oder vielmehr ihre Rezeption bilden eine eigenartige Grundlage für die Wahrnehmung und die Darstellung der Telefonate Stalins. Sie werden mythologisiert in der gleichen Art und Weise wie z. B. das Bild Lenins als Basis für Stalins Personenkult in der Propaganda und besonders in der Malerei benutzt wurde. Beim Aufbau einer Telefonmythologie Stalins, die im nächsten Kapitel genauer untersucht wird, werden einige ikonografische Verfahren, die bei Lenin zum ersten Mal Anwendung finden, beibehalten – z. B. die unermüdliche Arbeitsfähigkeit beider, die noch arbeiten und telefonieren, wenn alle längst schlafen. Hingegen nimmt das Nacherzählen neue Formen an. Während bei Lenin viele Erinnerungen von direkten Telefonkontakten mit ihm berichten, wird bei Stalin nur eine sehr begrenzte Anzahl von Telefonaten nacherzählt, und zwar von Menschen, die nicht nur an den Gesprächen nicht teilgenommen haben, sondern die auch während des Telefonats nicht anwesend waren. Die Telefonate Lenins werden generalisiert in eine Verallgemeinerung seines Kommunikationsverhaltens, während bei Stalin verschiedene Versionen von einigen Telefonaten verbreitet werden.

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Wie wird Lenins Verhalten am Telefon mit visuellen Mitteln dargestellt? Daina Teters unterscheidet zwei Phasen bei der Darstellung Lenins in der Malerei – die erste Phase ist demnach diejenige, in der Lenin zu Lebzeiten dargestellt wird, die zweite beginnt mit seinem Tod, zeigt den Mythos des ‚ewig lebenden‘ Lenin und dauert bis in die 80er Jahre hinein an.106 Die Bilder, die Lenin am Telefon zeigen, folgen der gesamten Tradition und schreiben sich leicht in dieses Paradigma ein. Die Fotografie V.I. Lenin im Büro am Telefon (Abb. 4) und die Zeichnung Vladimir Il’ič am Telefon (Abb. 5), die ein Jahr nach seinem Tod veröffentlicht wurden, gehören zu jener ersten Phase, in der noch keine Körpermodifikationen durch ‚lebendige Gestikulationen‘ unternommen wurden, dagegen stehen die anderen beiden Abbildungen in der Tradition der 50er und 60er Jahre – sie zeigen kanonisierte emblematische Gesten, die für Lenin zu seinen Lebzeiten nicht charakteristisch waren.107 Obwohl mittels des Telefons Raum und Zeit überwunden werden, bleibt der Körper beim Telefonieren relativ statisch – das ortsgebundene Telefon steht auf dem Tisch und beim Sitzen an diesem Tisch sind die Körperbewegungen begrenzt. Diese Pose ist für die „postleninsche“ Phase der Verkörperung Lenins nicht mehr produktiv. Deswegen soll er im Stehen telefonieren: mit beweglichem Oberkörper, der die dynamischen Entwicklungsprozesse verallgemeinert.108 Die Zeichnung Žukovs folgt dem Streben nach einer lebendigen Gestalt der Figur. Mit visuellen Mitteln zeigt diese Illustration die Dynamik und die Energie, mit denen Lenin das Telefon benutzt. Zwei Telefonapparate, ungeordnete Blätter auf dem Tisch, ein Stift in der linken Hand, die Bereitschaft, etwas zu notieren – das Bild hält Lenin in einer an den unsichtbaren Gesprächspartner gerichteten, unbeendeten Geste fest. Obwohl er sich in seinem Büro befindet, sitzt er nicht, sondern steht neben dem Tisch – die ausgebreiteten Hände sollen seine lebendige Dynamik illustrieren. Er befindet sich im Moment des Hörens, sein Gesichtsausdruck ist angespannt und gleichzeitig konzentriert – dies ist das bekannte Porträt seines linken Profils, das insbesondere nach seinem Tod häufig multipliziert wurde. Auch Grabar’s Bild (vgl. Abb. 3) hält eine oratorische Gestikulation fest – eine Gleichzeitigkeit von Hören und Reden.

106

107 108

Daina Teters, Lenin. Das Gestenrepertoire eines ,ewig lebenden‘ Körpers, in: Anke Hertling/Winfried Nöth (Hg.), Körper – Verkörperung – Entkörperung, Kassel 2005, 197-226. Ebd., 217. Ebd., 203-215.

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Abb. 2: Lenin am Telefon.109

Abb. 3: V.I. Lenin an der Direktleitung.110

109 110

N. Žukov, Zeichnung, in: Radio 4/1967, Titelblatt. I. Grabar’, V.I. Lenin u prjamogo provoda 1927-1933, in: Istorija russkogo iskusstva, Bd. 11, Moskau 1957, 310.

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Abb. 4: V.I. Lenin im Büro am Telefon.111

Abb. 5: Vladimir Il’ič am Telefon.112

111 112

Fotografie: V.I. Lenin v kabinete u telefona, Central’nyj muzej svjazi imeni A. S. Popova in St. Petersburg N. Al’tman, Vladimir Il’ič u telefona, in: Žizn’ i technika svjazi 1/1925, 4.

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3.1.2. Vertrieb des sowjetischen Telefons in den 20er und 30er Jahren Schon vor der Revolution hatte Lenin ein Programm im Geiste des Marxismus vorbereitet, das die wichtigsten Aufgaben des Proletariats in allen Bereichen des neuen sozialistischen Lebens skizzierte: Die kapitalistische Kultur schuf große Produktionszweige, Fabriken, Eisenbahnen, das Postsystem, Telefone u. a. Auf dieser Grundlage wurde eine Vielzahl von Funktionen der alten „Staatsmacht“ vereinfacht und konnte zu so einfachen Eingriffen wie Registrierung, Aufzeichnung, Prüfung reduziert werden. Diese Funktionen wurden allen sachkundigen Menschen zugänglich gemacht und konnten für ein gewöhnliches Arbeitergehalt erfüllt werden. Dadurch wurde diesen Tätigkeiten sämtlicher Hauch des Priviligierten, „Leitenden“ entzogen.113

Die neuen Machthaber sahen sich zahlreichen Problemen wie beispielsweise der Nationalisierung privaten Eigentums oder der Entwicklung neuer Machtstrukturen gegenüber, die sich aus dem Bemühen ergaben, die Spuren der alten Gesellschaftsordnung zu verwischen und eine neue aufzubauen. Der Bereich der privaten Sphäre wurde durch diese Maßnahme aufgebrochen, während sich Präsenz und Bedeutung der öffentlichen Sphäre rasch ausdehten. Dabei bemühte sich die neue sowjetische Führung, Geschichten zu entwickeln, in denen „Mythos“ und „Realität“ einander gegenübergestellt wurden. Obwohl das Telefon für die Revolution bedeutend war, blieb es danach ein zweitrangiges Thema: „In dieser Hinsicht wurde das Telefon, im Vergleich zu anderen bürgerlichen Kommunikationsmöglichkeiten, in eine besonders schwierige Lage gebracht.“114 Erst am 16. April 1918 wurde ein Dekret der Volkskommissariate unterschrieben, mit dem die Grundlagen jener Behörde festgelegt wurden, der künftig Post und Telegrafen unterstehen sollten. A.M. Ljubovič wurde zum Volkskommissar für das Post- und Telegrafenwesen berufen, seiner Verwaltung wurden alle nationalisierten Kommunikationsmittel zugeordnet. Während des Bürgerkriegs wurde ein großer Teil der Kommunikationsnetze zerstört, infolgedessen funktionierten von 232.000 Telefonanschlüssen im Jahr 1922 nur noch 89.000, davon 10.000 in Moskau.115 Der Mangel an Geldmitteln für die rasche Wiederherstellung der Telefonverbindungen führte dazu, dass Russland allmählich hinter der weltweiten technischen Entwicklung zurückfiel. In diesem Zeitraum kamen auf 100 Menschen der Weltbevölkerung 1,2 Telefone, wobei drei Viertel aller Telefonanschlüsse der Welt in den USA installiert waren und damit die Vertei113 114 115

V.I. Lenin, Gosudarstvo i revoljucija, Sept. 1917. A. Vyšnevskij, Russkij telefon i ego sem’ njanek, in: Proletarij svjazi 21-22/1922, 910. Krasik, Telefon, 314.

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lung 12,4 Apparate für 100 Bürger betrug. In der Schweiz lag dieser Index bei 3,8%, in Deutschland bei 3,0%. Die Konzentration großer Mengen von Menschen auf eine relativ kleine Fläche in den Städten sowie die zahlreichen wirtschaftlichen und politischen Interessen trugen dazu bei, dass sich das Telefonnetz in den Städten schneller entwickelte als auf dem Land. Die Quote betrug für Zürich 9,5%, für Berlin 9,2%116 und für Moskau 2%. Die abrupte Reduzierung der Telefonverbindungen im Vergleich mit der Periode vor 1917 rief in der UdSSR einen sogenannten telefonnyj golod117 (TelefonHunger) hervor. Ein Telefon benötigten vor allem die neuen Institutionen und Behörden, weswegen der Rat der Volkskommissariate das Dekret vom 6. Mai 1920 verabschiedete, mit dem die Distribution der Telefonanschlüsse reglementiert wurde. Die Regelungen dieses Dekrets sahen vor, dass Telefone nur in den sowjetischen Behörden, Betrieben, Parteien, Kooperativen und Gewerkschaftsorganisationen sowie in den Häusern bestimmter leitender Parteifunktionäre installiert, private Telefone von Bürgern hingegen abmontiert werden sollten.118 Dieses Dekret prägte die Wahrnehmung des Mediums Telefon in der sowjetischen Gesellschaft nachhaltig. Mit seinem Abzug aus den Privathäusern und dem offiziellen Eintritt in den Dienst der Partei, entwickelte sich das Telefon zum Symbol des öffentlichen Raumes und der Macht, was besonderes stark in der Bildenden Kunst und der Literatur reflektiert wurde. Der „Telefon-Hunger“ war hauptsächlich in der neuen Hauptstadt Moskau spürbar, wo sich die Oberschicht (verchuška) konzentrierte – eine regierende Klasse von Mitarbeitern der Parteien und Sicherheitsdienste. Da Petrograd von der Umverteilung des Kommunikationsmittels nicht so dramatisch betroffen war, behielt das Telefon in den „Petersburger“ Texten seinen intimen Charakter fast bis Anfang der 30er Jahre. Obwohl die Regierung den Zugang zum Telefon zu begrenzen versuchte, wurde in der Öffentlichkeit der Aufbau der Verbindungen und die Notwendigkeit für ihre Popularisierung unter der Bevölkerung erklärt: Dies erinnert ein weiteres Mal an die Notwendigkeit, das Überleben aller Kommunikationsarten zu sichern, damit nicht nur die sowjetischen Institutionen schnell und gerecht bedient werden, sondern auch das Vertrauen zum Postsystem in privaten Industriekreisen und der breiten Bürgerschicht geweckt wird.119 116 117

118 119

S. Statistika rasprostranenija telefonov na zemnom šare, in: Žizn’ svjazi 12/1923, 8890. Krasik, Telefon, 314: „Die Telefonanlagen sind ausschließlich in sowjetischen Institutionen, Unternehmen, Wirtschaften, Partei-, genossenschaftlichen und Gewerkschaftsorganisationen, bei den jeweiligen verantwortlichen sowjetischen Parteifunktionären zu belassen.“ Krasik, Telefon, 314. A. R. T. Kampanija po vosstanovleniju počty, in: Žizn’ svjazi 4/1922, 14.

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Ähnliche Publikationen, besonders in der Fachperiodik, erschienen im Kontext der proklamierten „technischen Revolution“. Ein weiteres Argument lag in dem Bedürfnis, das Zentrum mit der Peripherie zu verbinden. Ein Vorteil des Telefons im Hinblick auf den Kontakt mit den Dörfern war, dass keine schriftlichen Kommunikationsmittel wie Briefe und Telegramme mehr nötig waren. Im Kontext des Themas Analphabetentum bekam das Medium Telefon somit zusätzliche soziopolitische Aufgaben. Die Bewältigung des schweren Erbes von „Millionen Analphabeten“ wurde eine der Prioritäten der neuen Macht, denn die Beteiligung der Massen am gemeinsamen sowjetischen Leben war von enormer politischer Bedeutung. Mittels des Telefons konnten sich die Analphabeten unter den Einwohnern frei und ohne Begrenzung der schriftlichen Ausdrucksformen äußern, Fragen stellen und sofortige Antworten und Befehle bekommen: „Die Bestimmung des Telefons ist es, den schriftlichen Verkehr durch persönliche Gespräche zu ersetzen.“120 Das optimistische Pathos der Zeitungsberichte lässt den Eindruck entstehen, dass es sich bei der Verbreitung des Telefons um eine zielbewusste Politik der Regierung handelte: Mit tiefer Freude haben wir, die Arbeiter und Arbeiterinnen, uns für die Eröffnung der Internationalen Telefonstation der UdSSR versammelt, die eine enorme Bedeutung für die gesamte Volkswirtschaft unserer Union hat. Für die Telefonverbindung, die die Mehrzahl der Städte unserer Republik fest miteinander verbindet, wurde ein Fundament gelegt. Durch diese Verbindung säen wir Kultur in alle tauben Winkel der Dörfer, das große Vermächtnis Il'ič’ erfüllend – den Zusammenschluss von Stadt und Dorf; wir festigen, wir verbinden unsere staatliche Industrie und die gesamte Union mit dem Proletariat der ganzen Welt, verbinden sie in ihrem gemeinsamen Willen zum Sieg aller Arbeitenden.121

Parallel jedoch zu dieser aktiven Kampagne verlief eine andere in die oppositionelle Richtung, die die Verbreitung potentiell kontrarevolutionärer Ideen verhindern sollte. (Mehr dazu im nächsten Kapitel.) Die erste automatische Telefonstation für Bürger wurde in der von Moskau weit entfernten Stadt Rostov im August 1929 mit einer Kapazität von 6.000 Nummern eröffnet.122 Ende der 20er Jahre wurde die Idee für die Verbindung mit dem Land neu formuliert, da der Förderplan zur Kollektivierung des Landes Priorität erhielt. Im Jahr 1929 wurden Schlussfolgerungen wie diese gezogen: „Die bäuerliche Einzelwirtschaft brauchte das Telefon überhaupt nicht, das Telefon war hier

120 121 122

M. Pavlovskij, Telefon i „smyčka“ goroda s derevnej, in: Žizn’ svjazi 8/1923, 24-28. Okrytie meždugorodnoj telefonnoj stancii v Moskve, in: Žizn’ i technika svjazi 2/1925, 146-151, hier 149. Žizn’ i technika svjazi 7/1929, 30.

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nicht nötig. Ganz anders wird die Frage der Verbindung für die Kollektivwirtschaft aussehen.“123 Unabhängig davon, dass im Jahre 1929 nur 2% aller Siedlungen der UdSSR elektrifiziert waren und auf 100 Menschen 0,16 Telefonanschlüsse kamen, setzte sich der technische Wettbewerb mit der restlichen Welt fort. In dieser Zeit verfügten in den USA bereits 15,5% und in Deutschland 4,3% der Bevölkerung über einen Telefonanschluss. Die Situation in den Städte blieb proportional – Berlin 11%, Leningrad 2,9%, Moskau 2,7%.124 Gegen Ende der 20er Jahre befand sich das Telefonnetz wieder auf dem Stand von vor der Revolution, gleichzeitig aber hatte die Bevölkerungsdichte in den Städten beträchtlich zugenommen.

Abb. 6: Titelblatt der Zeitschrift PostTelegraf-Telefon-Radio.125

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Peresmotr pjatiletki svjazi, in: Žizn’ i technika svjazi 12/1929, 2-3. Ebd. PTR 3/1931, Titelblatt. Central’nyj muzej scjazi imeni A.S. Popova, St. Petersburg.

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Die beginnenden 30er Jahre waren überschrieben mit der Losung: „Jedem Bezirk – Radioempfänger, Telegraph und Telefon. Die Zentren der Bezirke und Verwaltungsgebiete verbinden wir durch tägliche Postverbindungen.“126 Im Jahr 1931 erfüllte die Telefon-Fabrik „Krasnaja zarja“ (Morgenröte) innerhalb von 2,5 Jahren das für fünf Jahre geplante Pensum127, trotzdem war der Bedarf der Bevölkerung weiterhin nicht befriedigt. Die Geschichte des Telefons in der UdSSR der 30er Jahren folgt zwei Grundlinien – zum einen der Automatisierung der Stadtnetze128, zum anderen der Einführung des Telefons für die Dorfräte. 1934, als das Radio und das Telefon zwei „der wichtigsten Helfer des sozialistischen Bauwesens“ waren, hatten mehr als tausend Kolchosen und 5.900 Dorfräte eine Telefonverbindung.129 Bis 1940 verfügten bereits 70% der Dorfräte, 76,3% der Sovchoze (Sowjetwirtschaft) und 9,2% der Kolchosen einen Telefonanschluss.130 In den Städten gestaltete sich die Entwicklung etwas langsamer, so wuchs die Versorgungsrate für private Abonnenten von 0,7% im Jahr 1913 auf 1,5% im Jahr 1927, allerdings fiel in diesen Entwicklungszeitraum der Brand der Leningrader Telefonstation von 1921 hinein, im Zuge dessen alle Verbindungen zerstört wurden.131 Verschiedene technische Neuheiten, die bereits in anderen Ländern Verbreitung gefunden hatten, wurden auch in Leningrad eingeführt. So konnten z. B. im Jahr 1928 die Telefonabonnenten Radiosendungen per Telefon empfangen. Die ursprüngliche Idee, das Telefon als eine Art Massenmedium für größeres Publikum zu benutzen, wurde schon wenige Jahre nach seiner Patentierung erkannt: Am 18.6.1879 berichtet die Zeitschrift „Scientific American“ (S. 403) darüber, dass in Mansfield/Ohio in einer Kirche ein Telephon eingebaut wurde, dessen Verbindungsdrähte zu den Häusern mehrerer betagter und gebrechlicher Personen führen. Es heißt dann weiter: „Das Telephon überragt den Blumenschmuck auf dem Tisch gegenüber der offenen Kanzel so, dass es kaum wahrgenommen wird. Der Prediger achtet überhaupt nicht darauf, trotzdem ist jedes Wort, das in dem Saal geäußert wird, in den Wohnräumen, zu denen die Drähte reichen, ohne Schwierigkeit zu verstehen.“ Einige Jahre später berichtet die gleiche Zeitung (28.2.1891, S. 130) davon, dass in Amerika Orchestermusik nun auch über weite Entfernungen, nämlich über mehr als 460 Meilen, übertragen wird. „Sofern zukünftig ähnliche Fortschritte wie in den letz-

126 127 128 129 130 131

Pis’monosec 15-16/1930, 1. PTR 10/1931, 4. Rabotnik svjazi 5-6/1934, 15. Rabotnik svjazi 21/1934, 9. G. B. Davydov, Telefon, in: Bol’šaja sovetskaja enciklopedija Bd. 42, Moskau 1956. N. Trofimenko, Telefon v Leningradskoj oblasti, in: Žizn’ i technika svjazi 4/1928, 6668.

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ten Monaten erzielt werden“, liest man, „wird das Telephon einen wichtigen Platz in der öffentlichen und privaten Unterhaltung einnehmen.“132

Was später als eine der Funktionen des Radios definiert wurde, war am Anfang Aufgabe des Telefons, nämlich die Verbreitung von Nachrichten: „So gab es ,in mehreren englischen Städten rund um die Uhr Nachrichtendienste per Telephon [...], in London und Paris gab es das Theatrophon, indem man Live-Dialoge von den Theatern hören konnte, Konzerte und Reden wurden über Kabel sowohl in Privathäuser als auch zum Gruppenempfang in öffentliche Hallen übertragen‘.“133 Erst im Jahr 1933 wurden in Leningrad die ersten öffentlichen Münzfernsprecher in den Straßen und Eingängen Leningrads installiert.134 Am 7. November 1937 begann die Arbeit des Telefonservice für telefonische Zeitangaben, die sogenannte govorjaščie časy (sprechende Uhr), für die die Stimme des Radiodirektors Tobiaša aufgenommen wurde.135 Auf diese Weise wurden drei verschiedene Medien – Uhr, Radio und Telefon – zu einer synkretistischen Einheit zusammengesetzt. Dieser Dienst erlangte sehr schnell Popularität, darauf weisen zahlreiche Anekdoten und Sketche hin. Viele andere Erfindungen des Kommunikationswesens aber wurden in der Praxis nie realisiert: Dazu gehörte auch das Projekt aus dem Jahr 1939 für Schwachstromanlagen für den utopischen Palast der Sowjets, in den eine selbständige automatische Telefonzentrale mit 8.000 Nummern eingebaut werden sollte, außerdem war die Ausstattung der Büros mit Anrufbeantwortern und die Installation von Telefonen auf Tischen in innerbetrieblichen Restaurants vorgesehen.136 Ein interessantes Faktum ist, dass schon im Jahr 1918 ein Anrufbeantworter in Moskau installiert wurde. Zapisyvajuščij telefon (aufnehmendes Telefon), eine Erfindung des dänischen Ingenieurs Pulsen, meldete sich mit „Hallo, wer spricht?“ und verkündete kurz darauf: „Der Hausherr ist nicht zu Hause. Ich bin ein aufzeichnendes Telefon. Bitte sprechen Sie, ich gebe es aufs Genaueste weiter.“137 Diese Neuerung war für die damalige Zeit äußerst innovativ, konnte aber keine Verbreitung finden. Die Stachanov-Bewegung für Rekordleistungen und Wettbewerb in der Produktion übertrug sich bald auch auf den Kommunikationsbereich. Die Telefonistin-tysjačnica (Tausend) E. Golovina berichtet 1939 in der Publika132 133 134 135 136 137

Michael Giesecke, Die Technisierung der akustischen Medien der Fernkommunikation, http://peterpurg.kdpm.org/kultgesch/Tech_aku.htm. Ebd. Suslov, Počta. Telegraf. Telefon, 200. Krasik, Telefon, 314. Master svjazi 10/1939, 9. Krasik, Telefon, 15.

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tion Methoden der Stachanov-Arbeit am Kommutator (Metody stachanovskoj raboty za kommutatorom): „Ich schloss mich der Stachanov-,Tausend‘Bewegung, an und erbringe die höchste Leistung bei der Benutzung zwischenstädtischer Verbindungen.“138 Am Vorabend des II. Weltkriegs waren in der UdSSR 1.044.000 Telefonapparate in Betrieb, eine 12-Kanal-Verbindung von Moskau nach Leningrad ermöglichte es, 12 Ferngespräche gleichzeitig zu führen. Bis 1941 wurden in Moskau 16 automatische Telefonzentralen139 gebaut, die 167,8 tausend Abonnenten bedienten, d.h. auf 100 Moskauer kamen durchschnittlich etwa 5,18 Telefonanschlüsse, was der Hauptstadt weltweit somit den 14. Platz sicherte. Ausgehend vom Bevölkerungswachstum und der technischen Entwicklung wurde 1926 geplant, dass etwa 20 Jahre später 3,5 Bürger in Moskau über ein Telefon verfügen sollten. Auf der Basis verschiedener Vergleiche und Berechnungen schien dieses auf den ersten Blick „phantastische und unseriöse“ Ziel für die sowjetischen Ingenieure erreichbar.140 Der Traum – ein Telefon auf 3,5 Bürger – ist allerdings bis heute nicht verwirklicht, selbst wenn die mobilen Telefone sich im modernen Russland einer großen Popularität erfreuen. Ab 2006 sollten die Warteschlangen für Telefonanschlüsse in Moskau aufgelöst sein, proklamierte der Kommunikationsdirektor der Moskauer Abteilung für Transport und Kommunikation, Roman Reznikov – zu Beginn des Jahres 2005 warteten 41.000 Moskauer auf ein Telefon.141

3.2. Das Telefon im Dienst des Sozialismus. Besonderheiten. Mythen. „Lenin war der größere Mann, Stalin ist der stärkere.“ So lautet ein Spruch, den Barbusse in seiner Stalin-Biographie zitiert.142 Die Unterschiede zwischen den beiden Herren werden besonders deutlich, vergleicht man ihren Umgang mit den Medien – der Sprache und der Schrift, dem Radio oder der Presse: Vielleicht können wir sagen, dass Lenin, besonders dank der Umstände, mehr Agitator war. In dem weiter verzweigten, weiter entfalteten, weiter entwickelten System der Leitung des Landes handelt Stalin mehr durch Vermittlung der Partei, vermittels der Organisation. Stalin ist heute nicht ein Mann großer stürmischer Massenver138 139 140 141 142

Master svjazi 11/1939, 12. Krasik, Telefon, 314. Krestovskij, Problema razvitija Moskovskoj gorodskoj telefonnoj seti, 18. url: http://www.rokfeller.ru/home/2005/07/27/195136.html. Henri Barbusse, Stalin. Eine neue Welt, insbesondere Kapitel VIII (In den Schranken der Geschichte). Orginaltitel: Staline, un monde nouveau vu à travers un homme, Paris 1935, hier nach http://www.stalinwerke.de/stalin-eine-neue-welt/senw/senw-013.html.

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sammlungen. Die aufwiegelnde Rethorik, die oft das einzige Verdienst hochgekommener Despoten oder erfolgreicher Apostel ist, war übrigens nie seine Sache: ein Umstand, über den die Geschichtsschreiber, die sein Bild nachzeichnen werden, nachdenken sollen.143

Während Lenin lebendige Reden hielt, die die Massen begeisterten, weil sie entweder direkt auf Versammlungen oder durch das Radio übermittelt wurden, bediente sich Stalin der Schrift und der Schriftkultur. Die spontanen Elemente der politischen Avantgarde wurden durch die disziplinierten der Schrift ersetzt. Andererseits kämpfte Stalin um eine Anerkennung seiner selbst nicht nur als legitimer Nachfolger Lenins, sondern auch als eigenständige Persönlichkeit mit einzigartiger Präsenz: Stalin kann seine Macht nur auf der Basis seines sekundären Status in Bezug auf Lenin aufbauen: die Omnipräsenz Lenins in der medialen Repräsentation Stalins garantiert seine Legitimität als Führer der Sowjetunion. [Ich möchte] die Strategien analysieren, die Stalin zur Überwindung des Sekundären führen und die ihn nicht mehr als Kopie Lenins, sondern als neues, höheres Original erscheinen lassen. Es handelt sich zum einen um Strategien, die rhetorisch gesehen als aemulatio zu bezeichnen sind: Stalin überbietet Lenin, z. B. bei den Erfolgen im Aufbau des Sozialismus. Zum anderen um Strategien der Umschreibung der neueren Geschichte: Stalin wird als der wahre, verborgene Anfang der Revolution dargestellt (in den Filmen über den Oktober, die in der Stalin-Zeit gedreht wurden, ist Stalin der heimliche Motor der Revolution, derjenige, der Lenin handeln lässt). Gegen Ende seiner Herrschaft zeigt sich eine weitere Strategie, die als Überwindung des Sekundären durch eine Art Inflation des Sekundären zu bezeichnen ist und die im Zentrum des Vortrags stehen soll. Stalin selbst macht sich rar auf der politischmedialen Bühne und lässt sich von seinen Abbildungen repräsentieren: in der Malerei, im Film und in der Literatur ist Stalin omnipräsent, aber nur als Kopie eines entrückten Originals. Durch die ständige Reproduktion seines Bildes entsteht die Aura eines Originals, das höher ist als jede Abbildung, einschließlich die Lenins.144

Die Revolution bildete den Höhepunkt von Stalins Kampagne zur Erringung der Macht, die mittels der Kunst die Geschichte neu konstruierte und interpretierte. Auch das Medium Telefon wurde dabei mobilisiert, um das Paradigma Lenin – Stalin – Revolution zu unterstützen: LENIN: […] Das Telefon klingelt (Er nimmt den Hörer ab.) Ja, Genosse Stalin, ich… Gegen die Minderheit des Zentralkomitees müssen wir entschlossene Maßnahmen einleiten, äußerst entschlossene. Wir müssen ihre Drohungen zum Verrat an der Sache des Proletariats erklären. Die Linie unserer Taktik muss ausnahmslos, unbedingt 143 144

Ebd. Riccardo Nicolosi, Lenin-Stalin/Original-Kopie. Die Überwindung des Sekundären in der medialen Repräsentation Stalins, auf der Konferenz des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medien und kulturelle Kommunikation (SFB/FK 247) an der Universität zu Köln, 22. bis 24. Mai 2003.

Das Telefon im Dienst des Sozialismus. Besonderheiten. Mythen.

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für alle Parteimitglieder gelten. Wir müssen kategorisch nach einer Antwort in schriftlicher Form verlangen. Entweder sie oder die Partei… Genau… Genau… Richtig: gnadenlos gegen die Spaltung der Partei kämpfen. Sie wissen, was sie wollen: unsere Köpfe spalten. Aber sie wissen nicht, dass wir es wissen… Ja, ja, Genosse Stalin, es reicht nicht, diese Sachen zu wissen – man muss immer an sie denken.145

Diese Passage kommentiert Ursula Justus in ihrer Dissertation über die sowjetische literarsiche Mythenproduktion: Das in Form eines dialogisierten Monologs dargestellte Telefonat repräsentiert eine einheitliche Figurenperspektive, die ihre Figuren sowohl hinsichtlich ihrer Erkenntnisfähigkeit als auch hinsichtlich ihrer Entscheidungskompetenz aneinander angleicht. Wenn Lenin diese Übereinstimmung immer wieder durch Einschübe wie „richtig“ oder „ja, ja, Genosse Stalin“ bestätigt, wird damit noch einmal der Mythos von den zwei Führern der Revolution institutionalisiert und zum vermeintlich historischen Faktum ausgebaut. Die so konstruierte Figurenperspektive findet ihre formale Entsprechung in einer Dialogstruktur, in der es Stalin gestattet ist, Lenin ins Wort zu fallen. So signalisiert bereits der erste Satz, in dem Lenin von Stalin unterbrochen wird, bevor er seinen Satz beendet, daß ihm das gleiche Recht zu sprechen zukommt, wie Lenin. Damit wird der Mythos von den zwei Führern der Revolution nicht nur durch den Inhalt, sondern auch die Form des Dialogs repräsentiert.146

Auf fast allen Abbildungen ist Stalin von Büchern, Briefen, Zeitungen oder Landkarten umgeben, ungleich geringer ist die Anzahl derer, auf denen er am Telefon oder in der Nähe eines solchen zu sehen ist: zwei sollen im Folgenden vorgestellt werden. Das erste Bild – ein Beispiel der sozrealistischen Malerei von Karp Trochimenko – trägt den Titel Stalin als Organisator der Oktoberrevolution und stellt in stilisierter Form eine Versammlung von 1917 nach. Das Telefon liegt still im Zentrum des Bildes, direkt unter der Lampe neben einem zerknitterten Papier, etwas weiter vorne steht Stalin und erklärt dem Zuhörer etwas. Das zweite Bild von J. Vepchvadze stellt die Sitzung des Parteizentrums mit Lenin und Stalin auf dem XI. Parteitag im Jahre 1922 dar. Auf dem Leinen ist Stalin mit Lenin und den Politbüromitgliedern zusammen abgebildet. Stalin telefoniert und hat seinen Blick auf den Betrachter des Bildes gerichtet. Die zwei Kommunikationslinien Lenin – PolitbüroMitglieder und Stalin – Zuschauer kreuzen sich im Mittelpunkt der Leinwand. Das Telefongespräch, das während der Sitzung geführt wird, isoliert Stalin einerseits von den dort Anwesenden und transformiert andererseits den Betrachter in einen potentiellen Gesprächspartner. Folglich konstruiert es einen besonderen Kommunikationskanal zwischen Bild und Betrachter. 145 146

Konstantin Trenev, Na beregu Nevy, Moskau 1937, 335. Ursula Justus, Literatur als Mythenfabrik: I.V. Stalin in ausgewählten Werken der Stalinzeit, Dissertation. Elektronische Veröffentlichung. Universitäts-Bibliothek Bochum, http://www-brs.ub.ruhr-uni-bochum.de/netahtml/HSS/Diss/JustusUrsula/ 2004, 369.

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Abb.7: Stalin als Organisator der Oktoberrevolution.147

Abb. 8: Sitzung des Parteizentrums mit Lenin und Stalin.148

Das Bild fängt einen historischen Moment ein – den 11. Parteitag (MärzApril 1922). Es ist der letzte, an dem Lenin teilnimmt und zugleich der Parteitag, аuf dem seinem Vorschlag zufolge Stalin in der Plenarsitzung des Zentralkomitees der Partei vom 3. April 1922 zum Generalsekretär des Zentralkomitees gewählt wird. Von diesem Zeitpunkt an ist Stalin ununterbrochen auf diesem Posten tätig. Der Szene lässt sich nicht entnehmen, mit wem Stalin telefoniert, dennoch wird explizit in das Thema der Bedeutung des Telefons für die sowjetische Macht eingeführt: Eine einmalige Symbiose, in der das Telefon zwar seinen demokratischen medialen Charakter verliert, aber auch einen exponierten Platz in der russisch-sowjetischen Kultur und besonders in der Literatur einnimmt. 147 148

Karp Trochimenko, Stalin als Organisator der Oktoberrevolution, in url: http://www.netzwelt.de/lexikon/Sozialistischer_Realismus.html. Peter Noever (Hg.), Katalogheft. Der Georgier Jossif W. Džugašvili. Ausgewählte Objekte aus dem Stalin-Museum in Gori im MAK, Wien 1994, 13.

Das Telefon im Dienst des Sozialismus. Besonderheiten. Mythen.

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Vor allem die technische Entwicklung wird zu einem der wichtigsten messbaren Indikatoren für den Wettkampf zwischen den zwei politischen Systemen. Mithilfe neuer wissenschaftlicher und technischer Erfindungen und der Mechanisierung der Arbeit möchte der Sozialismus seinen Vorrang gegenüber dem Kapitalismus unter Beweis stellen. Gleichzeitig aber befürchten die Politiker, dass der Bevölkerung durch die neuen Technologien mehr Rechte und Möglichkeiten zufallen könnten. Bald nach der Oktoberrevolution lehnt Stalin Trockijs Vorschlag, ein modernes Telefonsystem zu installieren, mit den folgenden Worten ab: „Dies wird unsere ganze Arbeit zunichte machen. Man kann sich in unserer Zeit kaum ein stärkeres Werkzeug für die Konterrevolution vorstellen.“149 Diese Replik verweist bereits auf den Januskopf der Telefonpolitik in der Sowjetunion. Zwei parallele Linien entwickeln sich schnell: Die erste, offizielle, die stolz dem technischen Fortschritt und der Revolution folgt, wird durch Berichte in den Zeitungen, die übererfüllte Pläne und Tausende von neuen Telefonanschlüsse zum Inhalt haben, unterstützt. Die zweite Linie ist die der inoffiziellen Politik, die nur einem engen Kreis der regierenden Oberschicht bekannt ist: Sie zielt darauf ab, konterrevolutionäre Aktionen zu verhindern und die Kontrolle durch Maßnahmen, die die Verbreitung des Telefons stark begrenzen, zu verstärken. McLuhan unterscheidet zwei Arten von Autorität – eine „Autorität des Wissens“ und eine „übertragene Autorität“. „Am Telefon wirkt nur die Autorität des Wissens. Übertragene Autorität ist linear, visuell und hierarchisch. Die Autorität des Wissens ist nicht linear, nicht visuell und umfassend.“150 Bei der Erforschung des Telefonwesens in der Sowjetunion zeigt sich, dass die beiden Arten von Autorität kombiniert werden, um eine hierarchische Autorität zu unterstützen. McLuhans Definition basiert auf dem USamerikanischen Telefonsystem, im Rahmen dessen das Medium zur Entwicklung demokratischer Prozesse beiträgt.151 Dies beweist auch die folgende Behauptung: „In einer elektrischen Struktur gibt es, was Zeit und Raum auf unserem Planeten betrifft, keine Peripherie. Es ist also ein Dialog nur zwischen Zentren und zwischen Gleichberechtigten möglich. Die pyramidenförmig aufgebaute Befehlsgewalt kann von der Technik der Elektrizität keine Unterstützung erwarten.“152 Der Aufbau des sowjetischen Telefonnetzes und die Telefonate – reale wie fiktionale –, die hier analysiert werden, zeigen das 149

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John Newmann, Razvitie sredstv massovoj informacii i gosudarstvennaja politika, in: Global Issues, Bd. 1, Nr.12/1996, url: http://usinfo.state.gov/russki/infousa/information/gjcom4.htm. Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, 297. Mehr zum Telefon in den USA in: Pool, Forecasting the Telephone, insbesondere die Kapitel: „The telephone will democratize hierarchic relations“, 61 und „The telephone will democratize society“, 86. McLuhan, Die magischen Kanäle, 297.

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Kultursozialer Aspekt

genaue Gegenteil. Die spezifisch sowjetische Konzeptualisierung des Telefons ermöglicht es den Machtstrukturen, den privaten Charakter dieser Kommunikationsform zu rauben und in die Privatsphäre einzubrechen. Die Telefonleitungen des Kremls verbreiten sich ähnlich wie Strahlen in der einzig möglichen Richtung, nämlich vom Zentrum hin zur Peripherie. Stalins Sekretariat als Institution neutralisiert die von McLuhan beschriebene Eigenschaft des Telefons als „ein so unwiderstehlicher Eindringling“153, weil nur Stalin bestimmt, wann, mit wem und wo er telefonieren möchte. Ausgehend von McLuhans Text betrachtet Lars Kleberg154 die sowjetische Telefonkommunikation und beleuchtet ihren Platz im kulturellen Kontext sowie das Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Ein charakteristischer Zug der Telefonkommunikation ist ihre prinzipielle Allgemeingültigkeit – dank des Telefons beschleunigt sich der Prozess der Verwischung der Grenze zwischen privatem und öffentlichem Leben in Westeuropa und Nordamerika. Kleberg konfrontiert die westliche Sichtweise, die Telefonkommunikation als „direktes“, „horizontales“ und sogar „dezentralisierendes“ Mittel beschreibt und darüber hinaus auch das „Netz“ als Metapher und Begriff versteht (McLuhan und Pool), mit den verschiedenen Strategien, die diese der Kommunikation immanenten Tendenzen in der Sowjetunion bremsen und so das Telefon bändigen und in ein Instrument der Kontrolle und der Macht verwandeln sollten.155 Einige von diesen Strategien beschreibt Pool schon im Jahr 1983: [...] Soviet Union [...] has a very different phone system. Phone books are not made generally available, so unless one knows a person’s number one can call only by using directory assistance, and many important numbers are not given out. The system, therefore, becomes to a great degree one of group communication within closed circles. That philosophy is further expressed in the existence of several segregated telephone networks for different institutions. The most significant is the „key“ system which links members of the top elite, and which can only be dialled by someone with a key to unlock the instrument. In the Soviet Union the total of phone on the several segregated networks is apparently greater than that of the public network.156

Das Netz für die Oberschicht, über das Pool berichtet, verneint eine Dezentralisierung oder Demokratisierung der hierarchischen Verhältnisse. Das Telefon kann in einer totalitären Gesellschaft – wie der von Stalin geschaffenen – nicht auf gleiche Art und Weise wie in demokratischen Gesellschaften funktionieren. Kleberg vergleicht das Telefonnetz in der Sowjetunion mit einem 153 154 155 156

Ebd., 296. Kleberg, K teme „Semiotika telefona“, 59-60; ders., Symbol of Power, url: http://web.forumsyd.se. Pool, Forecasting the Telephone, 7. Ebd.

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Baum, der die hierarchische Ordnung und die Verbreitung der Information am besten zu illustrieren vermag: Eine solche Baumstruktur bestimmt seiner Meinung nach, dass die Information in Form einer Einbahnstraße verläuft. In diesem Fall können die Vertreter der Macht im Prinzip jedermann zu jeder Zeit anrufen, jedoch ist es umgekehrt kaum möglich, dass sie telefonisch erreicht werden. In dieser Hinsicht können die telefonischen Gewohnheiten Stalins neu rezipiert werden. Klebergs These besagt, dass die Geschichte des Telefons viel über die sowjetische Gesellschaft erzähle und sein besonderer Platz in der Kultur erst durch die Untersuchung seiner sozialen Bedeutung und Entwicklung als Kommunikationsmittel im sowjetischen Kontext erforscht werden könne. Wie im vorigen Kapitel gezeigt, waren die Russen schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts große Verfechter der Telekommunikation und verbreiteten die neue Erfindung rasch in ihrem Land. Sowohl im Westen als auch in Russland etablierte sich das Telefon als obligatorisches Objekt in dem modernen bürgerlichen Haushalt an der Schwelle zwischen zwei Jahrhunderten. Seine bisweilen kitschig-mysteriös-melodramatisch anmutende Aura erhielt das Telefon durch die Telefonistinnen, deren Anonymität hier prägend wirkte. Jedoch entfalteten sich nach der Revolution einige parallele Prozesse, die das Telefon neu situierten und sich seiner dezentralisierenden Fähigkeit entgegen stellten. Lars Kleber systematisiert diese Prozesse in vier Hauptthemen: Erstens technische Mängel und Defizite, zweitens die Innendienst-Telefonnetze, drittens organisiertes Lauschen und viertens die eingeschränkte Auflage der Telefonbücher. Klebergs Thesen werde ich eine weitere hinzufügen und untersuchen, die sich auf ein typisch sowjetisches Phänomen bezieht, nämlich das sogenannte „Telefon-Recht“, das nicht wie andere Maßnahmen die Verbreitung des Telefons unterdrückte, sondern vielmehr zu seiner Etablierung als Instrument der Macht beitrug. Schließlich durchleuchtet Kleberg die Geschichte des Telefons in Bezug auf die russische kulturelle Opposition „wir“ – „sie“, die die Telefonate in den sowjetischen Filmen prägte. Während in diesen Filmen beispielsweise ein Polizeidirektor per Telefon Unheil verbreitet, werden in amerikanischen Filmen Hausfrauen, Liebespaare oder Kinder am Telefon gezeigt. Ähnlich wie in den sowjetischen Filmen wird das Telefon auch in der sowjetische Literatur dargestellt.

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3.2.1. Mängel und Privilegien Einer der Mechanismen für die ‚Zähmung‘ des Telefons in der Sowjetunion war die Apathie des Staates gegenüber den permanenten Mängeln an Apparaten und Anschlüssen, der niedrigen Qualität der Kommutatoren und der Verzögerung des Baus von automatischen Telefonzentralen, besonders für Fern- und Auslandsgespräche. Eigentlich war es keine Apathie, sondern vielmehr eine zielbewusste Inaktivität, die mit zwei anderen Regelungsmechanismus stark verbunden war, nämlich der Schaffung von Defiziten und der Verteilung von Privilegien. Durch einen derartigen Regelungsmechanismus in verschiedenen Lebensbereichen war es möglich, die Treue gegenüber dem System zu fördern. Timothy Colton prüft auf Basis der Wohnungssituation in Moskau die Entstehung einer housing hierarchy157, an deren Spitze sich die Einwohner des Kremls befanden, gefolgt von den Bewohnern der Häuser der Sowjets, dann der mittleren Schicht in den Kommunalwohnungen und zum Schluss den tausenden Arbeitern, die aus den kleinen Dörfern und Städtchen der ganzen Republik nach Moskau gekommen waren und in Baracken untergebracht wurden.158 Die Systematisierung Coltons lässt sich auch auf die Untersuchung der Situation im Bereich des Telefonwesens übertragen: Am Fuße der Telefonpyramide befanden sich die Bürger ohne Zugang zum Telefon, gefolgt von den Bewohnern der Kommunalka, in der sich bestenfalls mehrere Familien einen Anschluss teilten, schließlich die Oberschicht, deren Angehörige in einer eigenen Wohnung oder dem eigenen Kabinett sogar zwei oder drei Apparate zu Verfügung hatten. „Die Russen verwenden das Telefon als Standessymbol, wie den Wecker, mit dem Stammeshäuptlinge in Afrika Staat machen“159, bemerkt McLuhan, ohne die Tatsache zu erläutern, dass das Telefon in der Struktur der Sowjetunion tiefe Wurzeln hat und das Resultat einer beabsichtigten Verknüpfung verschiedener Maßnahmen ist.

a. Leben ohne Telefon zu Hause In den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts entfallen in der Sowjetunion durchschnittlich zwei bis drei Telefonapparate auf 100 Menschen. Ein großer Teil dieser Anschlüsse wird für die öffentlichen Institutionen, für die Partei, für Funktionäre und für die Elite bestimmt. Eine kleine Anzahl an Anschlüssen verbleibt in den Wohnungen der „Ehemaligen“ – der russischen 157 158 159

Timothy J. Colton, Moscow. Governing the Socialist Metropolis, Cambridge (Mass.) 1995, 162. Ebd., 342. McLuhan, Die magischen Kanäle, 233.

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Aristokratie –, die in Kommunalkas umgebaut werden, wo 20 bis 30 Nachbarn einen Apparat benutzen. Maximal zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung, vor allem Parteifunktionäre, Akademiker und Künstler in den großen Metropolen haben Telefonzugang im Alltag. Den restlichen Bürgern bleibt der Gang zu den Telefonzellen auf der Straße oder die Benutzung der öffentlichen Telefonanschlüsse bei den Postämtern. Jedoch reichen diese wenigen öffentlichen Apparate nicht aus, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, weswegen sich oft lange Warteschlangen bilden, die Satirikern und Karikaturisten Material für humoristische Darstellungen bieten. Abb. 9: Schlange vor dem Straßentelefon.160

Von den Arbeitern der Stadtrandgebiete dürfte das Telefon nicht besonders vermisst worden sein, da auch Freunde und Bekannte kein Telefon besaßen. Deshalb stellte man nach der langerwarteten Telefoninstallation oft fest, dass es niemanden gab, den man hätte anrufen können. Ein fiktionales Beispiel für die Übergangszeit zwischen dem Leben ohne Telefon und dem Leben mit Telefon bieten die zwei satirischen Kurzerzählungen von Michail Zoščenko Der Europäer (Evropeec161, 1924) und Telefon162 (1926). Der Protagonist in Der Europäer bestellt ein Telefon, weiß jedoch nach dessen Montage niemanden, den er anrufen könnte. So wendet er sich eben mit einer falschen Mitteilung an die Feuerwehr; die Geschichte endet mit seiner Inhaftierung. Das Sujet von Telefon ist ähnlich – auch hier leistet sich der Ich-Erzähler ein Telefon, das aber lautlos bleibt bis zu dem Moment eines anonymen Anrufes. Am Ende zeigt sich, dass er Opfer eines Diebstahls geworden ist.

b. Gemeinsam benutztes Telefon in der Kommunalwohnung Unmittelbar nach der Revolution von 1917 beginnt die Nationalisierung des privaten Eigentums inklusive der Wohnungen. Der Begriff der sogenannten uplotnenie (Verdichtung) bedeutet einen Prozess der Belegung von Wohnraum 160 161 162

Pis’monosec 7/1930, 15. Michail Zoščenko, Evropeec, in: Ders., Sobranie sočinenij v trech tomach, Bd. 1, Leningrad 1986, 244-246. Michail Zoščenko, Telefon, in: Ebd., 327-329.

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mit einer größeren Anzahl von Bewohnern, der unter der Parole „aus den Hütten in die Paläste“ durchgeführt wird. Diese Art von Wohnungsrevolution strömt von der Peripherie in Richtung Zentrum: „aus unhygienischen und unkomfortablen Wohnungen in die Wohnungen der ,Ehemaligen‘ im Zentrum“163. Dadurch entsteht das gesellschaftliche Phänomen der kommunal’naja kvartira (Kommunalwohnung) oder umgangssprachlich kommunalka, welches eine eigenartige Gemeinschaftswohnung bezeichnet und in letzter Zeit die Aufmerksamkeit von Historikern, Soziologen, Kulturwissenschaftlern und Künstlern auf sich zieht. Hier die Beschreibung Evgenij Kozlovs: Kommunalka, das ist die großzügig geschnittene bürgerliche Wohnung der russischen Metropolen, die zur Sowjetzeit in eine Art Wohnheim umgewandelt wurde: pro Familie ein Zimmer und für alle gemeinsam Küche, Bad, Toilette und Telefon. Einzig sichtbares Zeichen für einen individuellen Wohnraum: die eigene Klingel an der Wohnungstür. Wenn die durchschnittliche Familie aus 3-4 Personen bestand, nicht eingerechnet vorübergehende Gäste, so kommt man je nach Wohnungsgröße durchaus auf eine Belegung von bis zu 30 Personen. Mit Ausnahme einiger privilegierter Familien – Nomenklatura, Akademiker, Künstler – war dies in den Zentren der Großstädte für Generationen von Russen die übliche Wohnform.164

Proportional zur Zunahme der Bevölkerung in den großen Städten reduzierte sich die Wohnfläche pro Person: Während im April 1918 in Moskau 1.716.000 Menschen wohnten, erreichten die Moskauer im Dezember 1941 die Einwohnerzahl von 2.500.500 – dies bedeutete eine Abnahme der Wohnfläche pro Person von 9,5 qm im Jahr 1920 auf 4,1 qm im Jahr 1940, also praktisch eine Halbierung.165 Umgekehrt erhöhte sich die Zahl der Bewohner in einer Kommunalwohnung auf fast das Doppelte. Welchen Einfluss hatte das gemeinsame Wohnen auf die Telefonkommunikation? Viele Wohnungen der „Ehemaligen“ wurden für den Bedarf von neuer Administration und Parteistrukturen nationalisiert, der Rest blieb den Bürgern. Gehörte ein mehrstöckiges Gebäude vor der Revolution lediglich einer Familie, so befand sich dort ein Anschluss mit mehreren internen Apparaten. Beim Umbau zur Kommunalka wurde ein Apparat beim Portier oder im Korridor eingerichtet. In den sogenannten „erbringlichen“ Häusern, in denen die Wohnungen an verschiedene Familien vermietet wurden, befand sich ein Telefonanschluss in jedem Stockwerk. Die repräsentativen Suiten mit Blick zur Straße waren für wohlhabende Bürger bestimmt, während die kleinen dunklen Zimmer auf der Seite der Innenhöfe an die unteren Schichten 163

164 165

Katerina Gerasimova/Sof’ja Čujkina, Ot kapitalističeskogo Peterburga k socialističeskomy Leningradu, in: T. Vichvejnen (Hg.), Normy i cennosti v povsednevnoj žizni, St. Petersburg 2000, 27-74, hier 32. Evgenij Kozlov, Das Leningrader Album: http://www.e-kozlov.com/eros/content.htm. Colton, Moscow, 758/798.

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und die Dienerschaft vermietet wurden. Demzufolge „erbten“ die Bewohner einer Kommunalka das Telefon des ehemaligen Besitzers oder Vermieters, der dieses, falls er noch in einem der Zimmer geblieben war, mit den neuen Nachbarn teilen musste. Auf der Skizze der Kommunalwohnung von Mandel’štams Bruder (Abb. 10) befindet sich der Telefonapparat in der neutralen, niemandem zugeordneten Zone des Korridors. Der Korridor mit dem Wandoder Tischapparat fällt in den „transparenten Lebensraum“ (Schamma Schahadat) hinein, der eine besondere Handlungsform verlangt: Die Etablierung von Räumen geht im Idealfall einher mit der Grundlegung von Ordnung und Gesetz: der Mensch, der sich in diesen Räumen bewegt, ist bereits diszipliniert – er ist abgemessen, eingeordnet, sein Bewegungsradius ist festgelegt.166 Der Neue Mensch war kontrollierbar, transparent und authentisch, und zugleich beherrschte und kontrollierte er sich selbst und seinen Alltag und schaltete den Zufall aus.167

Die Bewohner einer Kommunalka kontrollieren sich gegenseitig nicht nur im Hinblick auf Themen, die die innere Ordnung angehen, sondern auch bei ihren Kontakten mit der restlichen Welt. In der Semiosphäre (Lotman) des Hauses entwickelt sich die Kontrolle auf zwei Ebenen – die erste, die wir als „äußere“ bezeichnen können, betrifft die zeitliche Begrenzung, die zweite, eher „innere“ Ebene betrifft den Inhalt des Gespräches. Ein einzelner Telefonapparat reicht nicht für 30 oder 40 Nachbarn, und so bilden sich ähnlich wie bei anderen gemeinsam genutzten Elementen – z. B. den sanitären Anlagen – Warteschlangen, die sowohl die Dauer des Telefonats als auch seinen intimen Charakter beeinflussen: Die Warteschlange als solche kann überhaupt zur Störung der Privatsphäre führen, zum Beispiel in der Situation, wenn ein Wartender mit einem Notizbuch in der Schlange am Telefon steht, das Gespräch des Nachbarn mithört und seine Unruhe demonstriert.168

Die Kommunalka-Bewohner gehen mit Missständen wie etwa dem Mangel an persönlichem akustischem Raum für Telefonate kreativ um und wissen 166

167 168

Schamma Schahadat, Zusammenleben: Mensch und (Wohn)Raum im Russland der 1920er Jahre, in: Ulrich Bröckling, B. Bühler u.a (Hg.), Disziplinen des Lebens, Tübingen 2004, 149-169, hier 153. Mehr zum Thema auch in: Nähe, Zwang. Projekte kommunalen Wohnens von den Chlysten bis zu Kabakov, in: B. Menzel (Hg.), Kulturelle Konstanten Rußlands im Wandel. Zur Situation der russischen Kultur heute, Bochum 2004, 90-109. Schahadat, Zusammenleben, 160. Il’ja Utechin, Očerki kommunal’nogo byta, Moskau 2004, 108. Die Untersuchung Utechins findet zwischen 1997 und 1998 in 20 Wohnungen in St. Petersburg statt. Auf Russisch werden die Bewohner einer Kommunalka als Nachbarn bezeichnet; das deutsche Wort Mitbewohner hat keine Entsprechung im Russischen, übersetzt wird es mit „Person, mit der man gemeinsam wohnt“.

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die Vorteile dieser Form der Kommunikation für sich zu nutzen: „Das Telefon ist ein weiteres Instrument, mit Hilfe dessen man den Gesprächspartner nicht nur benachrichtigen, sondern sich auch mit den Nachbarn unterhalten kann. Selbstverständlich über die eigenen Erfolge.“169 Am Telefon nämlich lässt sich trefflich auch über seine Erfolge und sein Glück sprechen, mit dem Ziel, dass die Nachbarn, die das Gespräch mithören, die Nachricht rasch weiter verbreiten. Es existieren keine Regeln darüber, wer beim Klingeln des Telefons den Hörer abnehmen soll. Normalerweise tut dies, wer in der Nähe ist, er antwortet und klopft an die Tür des gesuchten Nachbarn. Bei Spannungen zwischen den Bewohnern kann die Antwort durchaus einmal lauten, dass die gesuchte Person nicht zu Hause sei. Der „durchlässige“ akustische Raum in der gemeinsamen Wohnung ermöglicht es, den Inhalt eines Telefonates allen Mitbewohnern zugänglich zu machen, ebenso wie die Gerüchte, die in der Küche umgehen. Deswegen befindet sich das Kommunalka-Telefon an der Grenze zwischen Öffentlichkeit und Intimität; persönliche Gespräche werden der ganzen Mitbewohnerschaft zugänglich gemacht. Obwohl die Telefonate in der Kommunalka eine besondere Kommunikationsform darstellen, finden sie in der Literatur der 20er und 30er Jahre kaum Niederschlag.170 Ein Grund hierfür mag in der Tatsache begründet liegen, dass jene Autoren, die Mitglieder des Schriftstellerverbands sind, eigene Telefonanschlüsse in ihren Wohnungen haben, während die anderen sich in der Hoffnung, ebenfalls einen solchen zu bekommen, nicht trauen, Kritik zu üben. Erstaunlicherweise erwähnt aber auch Osip Mandel’štam, ein Dichter mit klarer Position gegenüber der Macht, im Rahmen derer dem Telefon eine besondere Rolle zukommt, das Medium nie im Zusammenhang mit der Kommunalwohnung, obwohl er den Erinnerungen über sein Leben zufolge viel telefonierte.171 Im Januar 1931 zieht Mandel’štam nach Moskau und kommt bei seinem Bruder Aleksandr am Starosadskij pereulok unter. Aus dieser Zeit stammen die Betrachtungen der Nachbarin Raisa Segal: „Ich erinnere mich an ihn mit der Zigarette in der Hand, im riesigen Korridor stehend, in den alle Nachbarn ständig zum Rauchen hinausgingen, das Telefon klingelte und Kinder spielten […]“, sowie die der Schwägerin Ėleonora: „Osja war sehr nervös, hat ununterbrochen geraucht und gerufen: ,Tee! Tee!‘ und besetzte unter dem Protest der Nachbarn eine lange Zeit das gemeinschaftliche Telefon.“172 169 170 171 172

Ebd., 119. Von dem hier analysierten Textkorpus finden „Kommunalka“-Telefonate nur in Majakovskijs Letajuščij proletarij und in Master i Margarita von Bulgakov Erwähnung. O. Lekmanov, Žizn’ Osipa Mandel’štama. Dokumental’noe povestvovanie, St. Petersburg 2003, 20. Ebd., 145.

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Der Grundriss der Moskauer Wohnung zeigt genau, wo sich das Telefon befindet: Abgesehen von seinem zentralen Platz neben der „Großen Küche“ beeindruckt vor allem, dass das Telefon das einzige markierte Objekt auf der Skizze ist, alle anderen Kennzeichnungen beziehen sich auf die Namen der Mieter oder die Zimmer. Folglich kannte Mandel’stam das Leben in der Kommunalka sowie die Besonderheiten des Telefonierens in solch einer Umgebung gut. Trotzdem findet das Thema keinen Niederschlag in seinen Werken. Erst als er eine eigene Wohnung am Furmanov pereulok bekommt, bedrückt ihn die Stille des Telefons: „Erstarrt dieser Frosch: Telefon“ – in dem Gedicht Die Wohnung: papierene Stille von 1933.173 Abb. 10: Skizze der Kommunalwohnung von Mandel‘štams Bruder.174

173 174

Ossip Mandelstam, Mitternacht in Moskau, Zürich 1986. „Ljaguškoj zastyl telefon“ in: „Kvartira ticha, kak bumaga “, 158-159. L. M. Vidgof, Moskva Mandel’štama, Moskau 1998, 135.

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Ein interessantes Beispiel für den Übergang vom kommunalen hin zum persönlichen Telefonieren liefert uns eine Erinnerungsgeschichte von S.N. Golubov. 1943 schreibt der Professor das Buch Bagration, das, den großen Feldherrn zum Gegenstand habend, zur Zeit des Krieges von besonderer Bedeutung ist und deswegen veröffentlicht wird. Eines Tages nun wird Golubov dringend ins Kabinett des Direktors gerufen, wo auf dem Tisch der Telefonhörer auf ihn wartet: – Genosse Golubov? – Ja? – Seien Sie heute pünktlich um sieben Uhr abends am Telefon. Mit Ihnen wird Genosse Stalin reden! – und der Hörer wurde aufgelegt.175

In der riesigen Kommunalwohnung des Professors, in der fast zwanzig Familien wohnen, gibt es nur ein Telefon, das insbesondere abends gefragt ist. Golubov gelingt es zu arrangieren, dass es um 19.00 Uhr nicht besetzt sei und er den Anruf persönlich entgegen nehmen kann: – Genosse Golubov? – erklingt im Hörer eine dumpfe Stimme mit georgischem Akzent. – Sie haben ein Buch mit dem Titel „Bagration“ geschrieben. Ich habe 14 Fragen an Sie...

Der Schriftsteller antwortet auf die Fragen bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Mitbewohner von ihm verlangen, das Gespräch zu beenden und das Telefon freizumachen. – Genosse Stalin, – sagt endlich Golubov zaghaft. – Ich kann nicht mehr mit Ihnen reden. – Warum? – Nun, sehen Sie, ich lebe in einer Kommunalwohnung und jeder braucht das Telefon. – Dann sagen Sie ihnen, dass Sie mit Genosse Stalin reden.

Die Rechtfertigung ist kaum ausgesprochen, da greifen ihn die Nachbarn an und werfen ihm vor, nicht nur zu lange das Telefon benutzt zu haben, sondern dabei auch noch zu lügen. Der Lärm verstärkt sich, plötzlich unterbricht jemand die Verbindung. Golubov kehrt in sein Zimmer zurück und beginnt in Erwartung der Folgen des unterbrochenen Gesprächs einen kleinen Koffer mit den notwendigsten Sachen zu packen. Etwa eine Stunde später wird er in einem schwarzen Auto weggebracht. Nach einer langen Fahrt hält das Auto in der Gorki-Straße vor einem mehrstöckigen Gebäude; die Sicherheitsbeamten bringen ihn in eine Wohnung, in der Golubov seine eigenen Gegenstände erkennt. Das Telefon klingelt und er hört seinen Gesprächpartner sagen: „Und nun wenden wir uns der vierten Frage zu.“176 175 176

Leonid Prudovskij, Novye rasskazy o gospodach i tovariščach, in: Ogonek 49/1996. http://www.ogoniok.com/win/199649/49-60-60.html. Ebd.

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Diese Erinnerung ist bedeutungsvoll für das Verhältnis zwischen Macht und Medium und die Festigung der Mythologie über Stalins Telefonate. Hinsichtlich der Kommunikationsstrategie können wir drei Teile unterscheiden – erstens das vorbereitende Gespräch am Arbeitsplatz, zweitens das Gespräch in der Kommunalwohnung und schließlich seine Fortsetzung in der eigenständigen Wohnung. Der Übergang vom Öffentlichen hin zum Privaten verläuft parallel zum Kontakt mit Stalin und dessen positiver Beurteilung des Buches. Die Erwähnung der Kommunalka im Telefonat mit Repräsentanten der Macht wird später als Erschwernis für die Wohnungsbedingungen interpretiert. Die Ehefrau Pasternaks, Zinaida, erinnert sich in Bezug auf das Gespräch zwischen Stalin und Pasternak: „In der Wohnung, die Borja und sein Bruder von den Eltern erhielten, bewohnten wir zwei Zimmer. In den übrigen drei wurden fremde Menschen einquartiert. Das Telefon war im gemeinsamen Korridor.“177 Das gemeinsame Telefon stört Pasternak teilweise wegen des Lärms, aber auch wegen der Gefahr des Mithörens durch für die Nachbarn: Pasternak wurde ans Telefon gerufen und benachrichtigt, wer ihn anrief. Mit den ersten Worten fing Pasternak an, sich zu beklagen, dass man schlecht höre, weil er aus einer Kommunalwohnung telefoniere und im Flur Kinder lärmten. In jenen Jahren war diese Klage noch keine Bitte, die Wohnverhältnisse auf wunderliche Weise sofort zu ändern. Boris Leonidovič begann in dieser Periode einfach alle Gespräche mit diesen Klagen. Wenn er uns anrief, fragten ich und Anna Andreevna uns leise gegenseitig: „Ist er fertig damit, über die Kommunalwohnung zu reden?“178 Ihn beunruhigte bloß, dass die Nachbarn das Gespräch hören könnten. Er rief den Sekretär Stalins, Poskrebyšev, an und fragte, ob man dieses Gespräch geheim halten müsse, da er sich im Flur einer Kommunalwohnung befände und hier alles hörbar sei.179

Doch genauso wenig wie Mandel’stam erwähnt Pasternak das Kommunaltelefon in seinen Werken. Die Lebensform der Kommunalwohnung findet so starke Verbreitung, dass 1941 eine besondere Art von Taxephon entwickelt wird, bei dem die Ausgangstelefonate mit Münzen wie bei öffentlichen Apparaten bezahlt werden und die Eingangsanrufe wie bei normalen Telefonen angenommen werden können.180

177 178 179 180

Zinaida Pasternak, Vospominanija, Moskau 2004, 71-72. Nadežda Mandel’štam, Vospominanija, Мoskau 1993. Pasternak, Vospominanija, 72. Krasik, Telefon, 314.

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c. Telefon für die Oberschicht Bei McLuhan heißt es: „The Russians use the telephone for a status symbol, like the alarm clock worn by tribal chiefs as an article of attire in Africa.“181 Das Telefon etablierte sich vor allem durch seine Zugehörigkeit zu dem Leben der Oberschicht als ein Statussymbol, da nach der Revolution nur die sowjetische Elite Zugang zu einem privaten oder im Büro befindlichen Telefon hatte. 1923 wurde die Parteielite in dreizehn Regierungshäusern untergebracht, deren Zahl bis zum Jahr 1930 auf 30 stieg. Der Protagonist von Mandel’stams Gedicht Telefon wohnte im Haus Nummer 2, dem früheren Hotel „Metropol“. Zwischen 1928 und 1931 wurde das Haus der Volkskommissare nach dem Entwurf von Boris M. Iofan in der Vsechsvjatskaja ulica (Allerheiligenstraße) erbaut. Damit wurden die beiden Hotels „Metropol“ und „Nacional“ wieder als Hotels genutzt. Die Bewohner des neuen Hauses, das Generationen von Moskauern als Dom na naberežnoj (Das Haus an der Uferstraße) bekannt sein sollte, waren Militärgeneräle, alte Bolschewiken und ihre Familien, die den Luxus genießen durften: The eleven stories of the lumpish combine had 506 spacious, furnished flats, all with telephones and constant hot water, rarities in those days, and daily garbage pickup.182

Dass dieser Luxus nur einem sehr kleinen Kreis von Privilegierten zugänglich war, wurde von Trockij scharf kritisiert: Die Lage einer Mutter, einer ehrwürdigen Kommunistin, die eine Köchin, ein Telefon für Bestellungen im Laden, ein Automobil zum Herumfahren u. a. hat, hat wenig gemeinsam mit der Lage einer Arbeiterin, die gezwungen ist, zwischen Marktständen herumzurennen, selber Mittagessen zu kochen, die Kinder zu Fuß aus dem Kindergarten zu führen, wenn überhaupt ein solcher existiert. Keine sozialistischen Etiketten werden diesen sozialen Kontrast verbergen, welcher nicht geringer ist als der Kontrast zwischen einer bürgerlichen Dame und einer Proletarierin in jedem beliebigen Land des Westens.183

Zwischen den Beispielen für Verteilung von Vorzugsrechten kommt der Mitteilung des Filmmusikautors Tichon Chrennikov (Svinarka i pastuch/Die Schweinepflegerin und der Hirte) besondere Bedeutung zu: „Ein Leben lang strebte ich nach dem Kommunismus und erst in Moskau lebe ich wie im Kommunismus: als ,Held der Sozialistischen Arbeit‘ zahle ich keine Miete, kein Telefon, keinen Strom.“184 181 182 183 184

McLuhan, Understanding Media, 214. Colton, Moskow, 168. Trockij, Predannaja revoljucija. Čto takoe SSSR i kuda on idet? Vgl. insbesondere Kapitel 7: „Sem’ja, molodež’, kul’tura. Semejnyj termidor“. Vgl. url: http://www.peoples.ru/art/music/composer/hrennikov/.

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Das Telefon wird zusammen mit dem Automobil, den großen Villen und Appartements oft als Attribut des Luxus und jener Privilegien beschrieben, die nicht nur Bolschewiken, sondern auch Ingenieure, Schauspieler, Wissenschaftler, Künstler und Stachanovs Rekordarbeiter genossen. Die sowjetische Elite wurde motiviert, Auszeichnungen und sichtbare Symbole ihres neu eroberten sozialen Status zu gewinnen.185 Das Wohnungsproblem diente lange Zeit als ein Hauptmechanismus der Macht zur Förderung von Systemtreue und Gehorsam bestimmter Bürgergruppen. Hinweis dafür ist die Verabschiedung einer Regelung in Leningrad 1928-1929, die das Recht auf zusätzlichen Wohnraum und damit auch auf verschiedene andere Privilegien reglementierte. Aufgelistet sind „leitende Funktionäre, Helden der Arbeit, verdiente Künstler, Direktoren und Angestellte staatl. Betriebe und Behörden, wissenschaftliche und ,verdiente‘ Angestellte/Mitarbeiter, Kranke, Ingenieure und Techniker, Finanz- und Buchhaltungsbeamte, Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, Künstler, Schauspieler und Helden der Arbeit, Mitglieder des Schriftstellerverbands“.186 In den 20er Jahren wagten sich einige Schriftsteller über literarische Telefonate an die Thematisierung des Wohnungsproblems. Das populärste Beispiel bietet vielleicht Professor Preobraženskijs Telefonat (Michail Bulgakows Hundeherz), das im Folgenden im Kontext von Bulgakovs gesamtem Schaffen analysiert werden soll. Weniger bekannt hingegen ist Boris Pil’njaks Text Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond (Povest’ nepogašennoj luny), der nach der Veröffentlichung 1926 in Neue Welt (Novyj Mir) den ersten politischen Skandal des Autors verursachte. In einer Szene der Novelle werden zwei Nebenprotagonisten in Bezug auf ihre Privilegien mit Hilfe des Mediums Telefon verglichen. Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond187 beschreibt einen mysteriösen Todesfall, der auf den Tod des Oberbefehlshabers der Roten Armee, Michail Vasil’evič Frunse, rekurriert. Frunse wurde auf Stalins Befehl hin einer unnötigen Magenoperation unterzogen, die er nicht überstand.188 In der 185 186 187 188

Jukka Gronow, Caviar with Champagne. Common Luxury and the Ideals of the Good Life in Stalin’s Russia, New York 2003, 13. Julia Obertreis, Tränen des Sozialismus. Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie 1917-1937, Köln 2004, 203. Boris Pilnjak, Mahagoni. Erzählungen, München 1962, 228-256. Stalins Sekräter Boris Bažanov berichtet: „Das Rätsel löste sich erst im Oktober 1925, als sich Frunze nach seiner Krankheitskrise, einem Magengeschwür (unter welchem er bereits in der Zeit der vorrevolutionären Gefängnisse litt) erholt hat. Stalin hat außerordentlich große Sorge um seine Gesundheit gezeigt. ,Wir achten überhaupt nicht auf die kostbare Gesundheit unserer besten Arbeiter.‘ Das Politbüro zwang Frunze beinahe, sich operieren zu lassen, um vom Geschwür befreit zu werden. Darüber hinaus sahen die Ärzte die Operation für Frunze als ungefährlich an.

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Geschichte Pil’njaks kommt der Armeekommandeur Nikolaj Gavrilov, der Hauptprotagonist, wegen einer verdächtigen Operation nach Moskau. Ähnlich wie Frunse wird Gavrilov Opfer einer Verschwörung. Im Kapitel „Der Tod Gawrilows“ konzentriert sich die Erzählung auf den Morgen vor der Operation. Das Telefon klingelt nacheinander in den Wohnungen der beiden dienstleistenden Ärzte. Innerhalb der beiden identischen Telefonate reagieren die Mediziner unterschiedlich und es wird auf ihre unterschiedliche Moral hingewiesen. Der erste Anruf kommt ins Haus des Professor Kokosov: Aber der Verlauf des morgendlichen Teetrinkens wurde durch das Telefon unterbrochen. Der Anruf war zu ungewohnter Stunde. Der Professor blickte streng auf die Tür zum Arbeitszimmer, wo das Telefon klingelte [...] Im Telefon klangen seine Worte, die mit besonders greisenhafter Stimme gesprochen wurden, griesgrämig: „Ja, ja, ich höre Sie. Wer spricht und worum geht es?“ Es wurde gesagt, daß man aus dem Stab anrufe, daß im Stab bekannt sei, daß die Operation auf halb neun festgesetzt sei, daß man aus dem Stab frage, ob noch irgend etwas vonnöten sei, ob nicht ein Wagen geschickt werden solle, um den Professor abzuholen? – Der Professor wurde plötzlich böse, schnaufte in den Hörer, fing an zu murren. „...also ich diene der Gesellschaft und nicht Privatpersonen... ja-ja-ja, wissen Sie, Väterchen – auch in die Klinik fahre ich mit der Straßenbahn, Vä-äterchen. Ich erfülle meine Pflicht, entschuldigen Sie, nach meinem Gewissen. Auch heute sehe ich keine Veranlassung, nicht mit der Straßenbahn zu fahren.“ Der Professor legte laut den Hörer auf, hatte das Gespräch abgebrochen, fauchte, schnaufte, kehrte an den Tisch zurück, zur Frau und zum Tee.189

Die bevorstehende Operation ist für den Professor kein Anlass, seine Alltagsgewohnheiten zu ändern, deswegen erlaubt er die Einmischung außenstehender Kräfte in sein Leben, das auf Ritualen wie z. B. dem Teetrinken basiert, nicht. In dem kurzen Auszug werden drei Privilegien in einem Zusammenhang dargestellt – die eigene Wohnung, das eigene Telefon und das

189

Ich sah dies alles anders, als ich erfuhr, dass die Operation von Kanner und einem Arzt des ZK, Pogosjancev, organisiert wurde. Meine ungewissen Befürchtungen erwiesen sich als vollkommen richtig. Während der Operation wurde auf listige Weise gerade jene Anästhesie durchgeführt, die Frunze nicht überlebte. Er starb auf dem Operationstisch und seine Frau, die überzeugt war, dass er ermordet wurde, nahm sich das Leben. Die ,Geschichte vom nicht ausgelöschten Mond‘, die Pil’njak zu diesem Anlass schrieb, ist allgemein bekannt. Diese Geschichte kam ihn teuer zu stehen. Warum hat Stalin die Ermordung an Frunze organisiert? Bloß um ihn durch einen eigenen Mann, Vorošilov, zu ersetzen? Das denke ich nicht: ein oder zwei Jahre, nachdem er autoritäre Macht erlangte, hätte Stalin diesen Austausch ohne Mühe durchführen könne. Ich denke, dass Stalin meine Vorstellung teilte, dass Frunze in sich die zukünftige Rolle eines Bonapartes sah. Ihn beseitige er sofort und die anderen aus der Gruppe der Militärs (Tuchačevskij und andere) ließ er seinerzeit erschießen.“ Boris Bežanov, Vospominanija byvšego sekretarja Stalina, St. Petersburg 1992, 135-136. Boris Pilnjak, Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond, Frankfurt/M. 1989, 246.

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eigene Automobil. Die Szene ist eher standardisiert denn außergewöhnlich und soll die Veranlagung bestimmter Personen zeigen. Zwei Jahre vor der Veröffentlichung von Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond ironisert Bulgakov das gleiche „einschmeichelnde“ Verhalten der Mächtigen in Die verhängnisvollen Eier (Rokovye jajca) von 1924: Sodann erkundigte sich der Kreml, wie die Dinge stünden, und eine gewichtige Stimme fragte freundlich, ob Persikow nicht ein Automobil benötige. „Nein danke. Ich ziehe es vor, mit der Straßenbahn zu fahren“, erwiderte Persikow. „Aber warum denn?“ fragte die geheimnisvolle Stimme und lachte nachsichtig auf. [...] „Weil sie schneller fährt“, antwortete Persikow.190

Die Moskauer Straßenbahn wird in beiden Beispielen dem Dienstauto gegenübergestellt (vgl. Zoščenkos Gegenüberstellung von Telefon und Straßenbahn). Durch die Benutzung der Straßenbahn, die sie mit den einfachen Bürgern teilen und den Verzicht auf angebotene Privilegien demonstrieren die Wissenschaftler eine gewisse Unabhängigkeit. Im Gegensatz dazu zeigt sich der zweite Arzt, Kokosovs Kollege Losovskij, am Telefon zur Kollaboration bereit. Ein Vergleich von Wohnungen, Ehefrauen und Frühstücksritualen bereitet den Leser auf das unerwartete Telefongespräch vor: In diesem Augenblick läutete das Telefon. Das Telefon hing bei dem Professor über dem Sofa, hinter dem Gobelin. Der Professor nahm den Hörer ab, „ja, ja, ich höre“. Man telefonierte vom Stab, fragte, ob nicht ein Wagen geschickt werden solle, den Professor abzuholen? Der Professor antwortete: „Ja, ja, bitte sehr! Wegen der Operation besteht kein Grund zur Sorge, sie wird hervorragend verlaufen, da bin ich sicher. Wegen des Wagens – bitte sehr, zumal ich noch vor der Operation etwas Dienstliches erledigen muß. Ja, ja, bitte sehr, gegen acht.“191

Aus der gleichen Erzählperspektive werden zwei gegensätzliche Reaktionen auf identische Kommunikationssituationen gezeigt. Losovskij erkennt gleich, dass das Angebot der Autofahrt mit der bevorstehenden Operation zusammenhängt. Deswegen beeilt er sich zu versichern, dass sie ohne Probleme verlaufen wird und erklärt dabei implizit seine widerspruchslose Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Die Anrufe aus dem Hauptquartier verbreiten sich wie Strahlen in verschiedene Richtungen. Als Machtinstrument ist das Telefon gut geeignet für diskrete Missionen: der Vermittler hinterlässt keine Spuren, die übermittelte Information wird schlecht dokumentiert, was eine gewisse Anonymität der Macht ermöglicht. 190 191

Michail Bulgakow, Die verhängnisvollen Eier, Darmstadt/Neuwied 1984, 61. Pilnjak, Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond, 249-250.

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Anrufe, die vom Zentrum in Richtung Peripherie verlaufen, sind nicht an den einfachen Bürger adressiert, für den die Pravda-Ausgaben und die Radiopunkt-Sendungen vorgesehen sind, sondern richten sich an jene bestimmte Schicht von Wissenschaftlern, Künstlern und Redakteuren, die die gleichen Rechte auf größere Wohnfläche haben wie die Mächtigen selbst. Die Angerufenen sollen einerseits für Parteiaufträge benutzt werden, andererseits sind sie aber auch eine Art Medium durch ihre Stellung auf einer zwischen Oberschicht und Arbeiterklasse gelagerten Zwischenebene. Die Arbeiterklasse hat mehr oder weniger Vertrauen in die „Intellektuellen“; der Einfluss, den Künstler, Schauspieler oder Schriftsteller auf die Massen haben, zieht wiederum das Interesse der Machthabenden an. Der einzige Weg, um diesen Einfluss zu dirigieren und auf der „richtigen“ Seite zu halten, ist die Gewährung eines besseren Lebensstandards, dessen unverzichtbarer Bestandteil Telefone sind. Als schwer zugänglicher Luxus und Statussymbol unterstützen sie somit einerseits die Idee, dass die Arbeit dieser Personen anerkannt und bewertet sei und dienen andererseits als ein Kontrollinstrument, mit Hilfe dessen sich schnell Kontakte herstellen oder Personen abhören lassen.

3.2.2. Vertuška – die staatliche Telefonverbindung „Niemand wird wohl genau sagen können, wie und wann in unserem Land das System der staatlichen Telefonverbindung entstand, die im Volksmund als ,Vertuška‘ bekannt ist.“192

An der Spitze des Telefonsystems im sowjetischen Russland befinden sich die vertraulichen inneren Telefonnetze für Partei-, Militär- und Staatsbeamte, deren Original die Kreml-vertuška ist. Wörterbuchdefinitionen geben zwei Bedeutungen an: „Einrichtungen, Mechanismen, Apparate u.ä., die sich drehen oder einen drehenden Bestandteil haben“, und umgangssprachlich: „spezielles Telefonsystem der staatlichen Telefonverbindung“.193 Dieses System erhielt seinen Namen nach der Drehbewegung der Wählscheibe (vertet’sja: sich drehen, wirbeln). Die Wählscheibentelefone, bekannt auch als Apparate für die Automatische Telefonverbindung (ATS), funktionierten ohne die Vermittlung durch Telefonistinnen. Die 1896 erfundene Wählscheibe mit Löchern194 trat in Russland allerdings erst 1921 in Erscheinung, nachdem das erste Wähleramt installiert wurde und Importapparate mit Wählscheibe im Kreml verwendet wurden. 192 193 194

Argumenty i fakty 24/1994. V. V. Chimik, Bol’šoj slovar’ russkoj razgovornoj ėkspresivnoj reči, St. Petersburg 2004, 73. Jörges, Telefone 1863 bis heute, 90.

Das Telefon im Dienst des Sozialismus. Besonderheiten. Mythen.

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1927 produzierte der Betrieb „Krasnaja zarja“ die ersten sowjetischen Apparate mit Nummernscheiben, zwei Jahre später wurde das erste Wähleramt für zivile Bürger gebaut. Dies bedeutet, dass die Telefone mit Wählscheibe acht Jahre lang nur einem sehr kleinen Personenkreis vorbehalten waren. Eine Zeitspanne, die lang genug war, damit sich die Apparate unter dem umgangssprachlichen Namen vertuška etablieren konnten. Hauptquelle für die Geschichte der vertuška sind die Memoiren von Stalins ehemaligem Sekretär Boris Bažanov, der zwischen 1923 und 1928 einer der wenigen Vertrauten des sowjetischen Führers war.195 Bažanovs Erinnerungen zufolge wurden in Stalins Kabinett vier Telefonapparate eingerichtet – die vertuška mit Wählscheibe, ein zweiter Apparat für Telefonate mit dem ZK, die eine Telefonistin (und Mitarbeiterin des Komitees) verband, der dritte war der Apparat des Verchnij Kreml’ (Oberster Kreml) und das vierte Telefon der Apparat des Nižnij Kreml’ (Unterer Kreml), benannt nach den Namen der entsprechenden Kommutatoren. Bei den Kommutatoren Verchnij und Nižnij Kreml’ wurden extra ausgebildete Mitarbeiterinnen der GPU angestellt, die Verbindungen entweder zwischen den Kabinetten der oberen Parteifunktionäre (der Oberen) oder zwischen ihnen und ihren Familien (den Unteren) herstellten. Das vertuška-System war das einzige Selbstwählsystem und für automatische Verbindungen mit anfangs 60 und später bis zu 80 Adressaten vernetzt. Sie wurden eingerichtet auf Befehl von Lenin, der befürchtete, dass Telefonistinnen besonders wichtige und vertrauliche Gespäche abhören könnten. Also wurde eine automatische Vermittlungsstelle für den Wählbetrieb zwischen Regierungsmitgliedern eingebaut, die die Vertraulichkeit der Gespräche, die ohne die Vermittlung dritter Personen stattfanden, garantieren sollte. Aufgrund der Tatsache, dass lediglich die Mitglieder des Zentralkomitees, die Volkskommissariate, ihre Stellvertreter sowie das Politbüro (im Kabinett und auch zu Hause) und dessen Kandidaten ein Recht auf eine vertuška hatten, entwickelte sich dieses Medium zum wichtigsten Zeichen für die Zugehörigkeit zur obersten Schicht. Im Kabinett des ersten Sekretärs befand sich jedoch noch eine zweite, geheime, parallele Vermittlungsstelle, die das Abhören jedes beliebigen Telefonats des Politbüros – auch jener, die über die vertuška liefen – ermöglichte. Auch die Eliminierung der Tefonistin aus dem Kommunikationsprozess reichte also entgegen der allgemeinen Annahme nicht aus, um unbelauschte Gespräche führen zu können. Der Umstände halber deckte Bažanov eines der größten Geheimnisse Stalins auf, nämlich die Möglichkeit, das automatische System abzuhören, während seine Benutzer sich frei genug fühlten, um absolut offen zu reden: 195

Bažanov, Vospominanija byvšego sekretarja Stalina, 53-60.

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Ich komme mit einer eiligen Sache zu Stalin, wie immer ohne Anmeldung. Ich treffe Stalin beim Telefonieren an. Das heißt, nicht sprechend, sondern zuhörend. Er hält den Telefonhörer und horcht. Ich möchte ihn nicht unterbrechen, meine Sache ist eilig, ich warte höflich, bis er fertig ist. Das dauert einige Zeit. Stalin horcht und sagt nichts. Ich stehe und warte. Schließlich bemerke ich mit Erstaunen, dass die Hörer aller vier Apparate, die auf Stalins Tische stehen, aufgelegt sind. Und er hält den Hörer irgendeines unverständlichen und mir unbekannten Telefons ans Ohr, dessen Schnur aus irgendwelchen Gründen in die Schublade von Stalins Tisch führt.196

Von den Mitarbeitern Mechlis und Kanner erfuhr Bažanov die Einzelheiten der Geschichte der vertuška. Nach dem Vorschlag Lenins, ein automatisiertes System zu installieren, engagierte sich Stalin für die Realisierung der Idee. Weil die meisten Apparate im Gebäude der ZK gebraucht wurden, wo drei ZK-Sekretäre, die Sekretäre des Polit- und Organisationsbüros sowie die Leiter einiger ZK-Abteilungen saßen, wurde die Entscheidung getroffen, dass die Vermittlungsstelle für den Wählbetrieb in diesem Gebäude eingebaut werden solle: Zweckmäßig schien es, das Zentrum des Netzes dort zu situieren, wo sich die Zahl der Benutzer konzentriert. Es wurde ein Zimmer im fünften Stock ausgewählt, wo mindestens sieben Anschlüsse benötigt würden, und das nicht weit von Stalins Kabinett lag. Die praktische Arbeit erledigte ein tschechoslowakischer Kommunist, ein Fachmann für automatische Betriebe. Außer allen notwendigen Kabeln und Apparaten wurde auch ein Kontrollposten eingeplant, der im Falle einer Panne für die Untersuchung des Problems benutzt werden sollte. Der Kontrollposten, mit Hilfe dessen jedes Telefonat abgehört werden konnte, wurde in einen Kasten in Stalins Schreibtisch eingebaut. Nachdem das ganze System installiert und bereit war, rief Kanner auf Stalins Befehl hin Jagoda im GPU an und informierte ihn, dass die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei genaue Hinweise darauf habe, dass der Techniker ein Spion sei und daher verhaftet bzw. sofort erschossen werden solle. Stalin bestätigte die Anklage, und der Kommunist wurde ermordet. Das Telefonsystem ermöglichte Stalin stille Partizipation an allen Gesprächen, deren Gegenstand er war. Das Medium wurde im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Instrument der Macht: In Stalins Machtkampf ist dieses Geheimnis eines der bedeutendsten: es gibt Stalin die Möglichkeit, Gespräche aller Trockijs, Zinov’evs und Kamenevs untereinander mitzuhören und immer über alles, was sie aushecken und denken, im Bilde zu sein. Dies ist eine Waffe von kolossaler Wichtigkeit. Stalin ist unter ihnen der einzige Sehende und sie sind alle blind. Sie ahnen nicht und werden jahrelang nicht ahnen, dass er all ihre Gedanken, all ihre Pläne, all ihre Spielzüge, alles was sie über ihn denken und alles, was sie gegen ihn aushecken, kennt. Dies ist eine der wichtigsten Bedingungen für den Sieg im Machtkampf.197

196 197

Ebd. Ebd.

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Laut Bažanov wussten nur Mechlis, Kanner und er von der Existenz der Abhöranlage. Den dreien war klar, dass es sie das Leben kosten würde, falls sie das Geheimnis verrieten; weil sie sich jedoch stets nur in der Nähe von Stalin aufhielten, konnten sie nicht sicher sein, ob nicht andere Regierungsmitglieder über ähnliche Anlagen verfügten. 1924 wird ein Relais ATZ Model OL der Herstellerfirma „L.M. Ericsson“ nun schon mit 200 Exemplaren im Kreml und weiteren 20 Exemplaren in der wissenschaftlich-technischen Abteilung der Ausstellung der Volkswirtschaft installiert, das ebenfalls den Namen vertuška bekommt.198 Mit der Zeit werden in einer Reihe von großen Unternehmen und verschiedenen Institutionen automatische Telefonzentralen eingerichtet, und so verbreitet sich der Begriff vertuška von den ersten Automaten im Kreml bis in die inneren Systeme jeden Betriebs. Insbesondere in den 30er Jahren finden solche Betriebsnetze in den Werken der Sozrealisten Erwähnung, die auf den sozialen Status der Protagonisten – Arbeitshelden oder Parteifunktionäre – hinweisen. Die Telefonwählscheibe, die in anderen Ländern die Demokratisierung der Gesellschaft fördert, wird in Russland zu einem Symbol der omnipräsenten Macht und der Herrschaft des kommunistischen Systems. Eine vergleichbare Schlussfolgerung zieht Giesecke in seiner Forschungsarbeit über die Technikgeschichte und besonders über die Erfindung von Wählscheibe und automatischer Telefonzentrale: Der technische Aufbau des Telephonsystems, zumal nach Einführung des Selbstwählverkehrs, erschwerte die Möglichkeiten einer zentralen Kontrolle. Im Normalfall war keine dritte Person mehr zwischen dem Anrufer und dem Angerufenen zwischengeschaltet, die eine unmittelbare Kontrollfunktion hätte wahrnehmen können. Natürlich besteht die Möglichkeit, Telephone zu überwachen, aber dies ist, genau wie die Zensur der ausgedruckten Bücher, zumeist erst eine Methode, die im Nachhinein einsetzt, um in einzelnen Fällen Grenzen zu setzen. Der Logik des technischen Informationssystems entspricht sie nicht. Überwachung erfordert umständliche Eingriffe von außen. Weil dies so ist, deshalb hat sich Stalin immer vehement gegen einen Ausbau eines öffentlichen Telephonsystems in seinem Land und in seinem Einflussbereich gewendet. Die Rückständigkeit des Telephonsystems in der ehemaligen DDR spricht hier ebenfalls Bände. Man verließ sich lieber auf die Einwegkommunikationsnetze von Rundfunk und Fernsehen sowie auf das Telegraphensystem, in dem die Botschaften immer von Funktionären des Systems in den Maschinenkoden übersetzt werden mussten. In Amerika hielt man demgegenüber das Telephon immer für einen ,Verbündeten demokratischer Gesellschaften‘. Der freien Wahl überhaupt entspricht die freie Wahl des Kommunikationspartners.199

198 199

http://70.mmtel.ru/book/101.html. Giesecke, Die Technisierung der akustischen Medien der Fernkommunikation, http://peterpurg.kdpm.org/kultgesch/Tech_aku.htm.

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Abb. 11: Dzeržinskij in seinem Büro.200

Das Abhören fremder Telefonate beschränkte sich bald nicht mehr nur auf betriebliche Netze, sondern bekam schließlich größere Verbreitung; es wird bis heute praktiziert und mit der Notwendigkeit der Verteidigung von nationalen Interessen gerechtfertigt.

3.2.3. Abhören. Die euphemistische Telefonsprache „Ein Staat, in dem der gesamte Raum aus Glas ist.“ Zamjatin, Wir (1921).

In der gleichen Art und Weise, wie Stalin die Mitglieder des Politbüros belauschte, hörten die Sicherheitsdienste den Bürger der Sowjetunion ab. Nach Kleberg schaffte es die Organisation der Geheimagenten, dass – unabhängig davon, ob abgehört wurde oder nicht – das Telefon als Mittel direkter Kommunikation diskreditiert wurde. Die umgangssprachlich genannte podsluška (Abhöranlage)201 verursachte eine allgemeine Angst vor der Überwachung beim Telefonieren. Nikita Petrov, der Autor des Handbuches über die Struktur von VČK-MGB-KGB, verfolgt die Geschichte der podsluška: Das Abhören telefonischer Gespräche und das Abhören von Räumen wurden von Anbeginn der Tätigkeit sowjetischer Organe der Staatssicherheit als Mittel zur Informationsgewinnung eingesetzt. Natürlich kamen ausreichende technische Mittel zum Abhören von Räumen erst in den 30er Jahren auf. Das Abhören von Telefonen begann praktisch sofort. Dies ist bereits bekannt und in der Literatur gibt es Beschreibungen, wie Stalin es benutzte, um die Pläne und Absichten seiner politischen 200 201

Fotografie F.Ė. Dzeržinskij v rabočem kabinete 1921, Predsedatel VČK 1917-1922 url: http://www.fsb.ru/history/organi.html. D.I. Kveselevič, Tolkovoyj slovar’ nenormativnoj leksiki russkogo jazyka, Moskau 2003, 625.

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Gegner zu erfahren. Eine Abteilung, welche sich mit diesen Dingen befasste, wurde 1937 als selbständige Unterabteilung im Zentralapparat eingerichtet. Sie erhielt den Namen 12. Abteilung der GUGB. Die Abteilung war sowohl für das Abhören von Telefonen als auch von Räumen und für die generelle Techniknutzung zuständig. Später beschäftigte sich eine Spezialabteilung unter der NKVD und nach dem Krieg die Abteilung „B“ MGB der UdSSR damit.202

Das Belauschen von Telefonaten stellt eine Form der Ausübung von Macht durch Kontrolle dar. In seinem Buch Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975) unterscheidet Michel Foucault drei verschiedene Arten von Macht – erstens Ausschließungs-Macht, bei der das Ziel der physischen Vernichtung angestrebt wird; zweitens die Macht der Integration durch Behandlung oder Erziehung, wobei der „Adressat des reformierten Strafrechts nicht mehr der Körper, sondern die Seele ist, die es zu beeinflussen, umzuformen und den normativen Bedingungen sozialer Konformität anzupassen gilt.“203 Die Erziehung des neuen sowjetischen Menschen war ein wichtiger Bestandteil der sozrealistischen Kultur; der Begriff der Erziehung wurde vor allem durch die Arbeit von Anton Makarenko geprägt. Er entwarf – auf Basis seiner pädagogischen Erfahrung aus einer Arbeitskolonie für Kinder – ein sozialpädagogisches Werk über sozialistische Kollektiverziehung. Makarenkos Erziehung zielte auf die Entwicklung der Persönlichkeit, jedoch war das Kollektiv, dem auch der Erzieher angehörte, wichtigstes Erziehungsmittel und -ziel. Es ist geprägt durch Werte wie Autorität und Gehorsam, einen hohen Grad an Selbstverwaltung und die Orientierung an nützlicher Arbeit.204 Für den vorliegenden Rahmen ist in Bezug auf das Telefonnetz der dritte Machttyp von Interesse, nämlich die produktive Disziplin, die durch die hierarchische Überwachung205 erreicht wird. Nach Foucault ist die Möglichkeit zur visuellen Überwachung, bei der der zu Überwachende der Macht des Auges unterworfen und von ihr diszipliniert wird, von größter Bedeutung: „Die Durchsetzung der Disziplin erfordert die Einrichtung des zwingenden Blicks: eine Anlage, in der die Techniken des Sehens Machteffekte herbeiführen und in der umgekehrt die Zwangsmittel die Gezwungenen deutlich sichtbar machen.“206 Ausgehend von dem idealen Muster des Militärlagers, einem „Netz der einander kontrollierenden Blicke“, beschreibt Foucault einen Überwachungsturm in der Mitte eines ringförmigen Gebäudes, das in Zellen unterteilt ist: „Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem 202

203 204 205 206

Radiogespräch mit Vladimit Tol’c in der Sendung „Drei Tagebücher. Auf Steinbecks Route ein halbes Jahrhundert später “; url: http://www.svoboda.org/programs/cicles/Stainbeck/st_03.asp. H. Fink-Eitel, Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 1990, 74. Thomas Fuhr, url: http://www.bautz.de/bbkl/m/makarenko.shtml. Michel Foucault, Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1976, 221-293. Ebd.

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jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar.“ Durch die architektonische Kombination von Fenster und Licht wird ermöglicht, dass der Gefangene gesehen wird, ohne die Wache sehen zu können. Dabei wird er zum Objekt und ist niemals Subjekt in dieser Kommunikation.207 Dadurch, dass der Häftling nicht weiß, ob er gerade beobachtet wird oder nicht, benimmt sich er stets diszipliniert, auch dann, wenn der Turm leer ist. Foucault definiert die Hauptwirkung des Panopticons als „Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt“208. In der Sowjetunion wird die hierarchische Überwachung nicht visuell, sondern akustisch organisiert. Während bei Foucault die Blicke, die Sichtbarkeit und das Licht von Bedeutung sind, spielen in dem totalitären sowjetischen Machtsystem die Akustik, das Abhören und die Sprache eine zentrale Rolle (McLuhan). Aus der visuellen Überwachung entwickelt sich die akustische Überwachung des Bürgers durch Belauschen. Der Bereich der bloßen Handlungen wird überschritten, der Bereich der Sprache in den Überwachungsmechanismus miteinbezogen. Das Wissen, dass das Telefonnetz kontrolliert werden kann, zwingt seine Benutzer dazu, sich vorsichtig und diszipliniert auszudrücken. Gemeinsam ist beiden Situationen, dass der Beobachtete seinen Beobachter nicht sieht. Diese eigenartige ‚Blindheit‘ verursacht bei ihm Hilflosigkeit und Disziplin zugleich. Das Turmmodell ist anwendbar auf ein Krankenhaus, eine Schule oder ein Gefängnis, nicht aber auf eine ganze Stadt, weswegen verstaatlichte Disziplinarmechanismen in Kraft treten, das Abhören wird zentral organisiert. Die ständige Furcht und das Misstrauen gegenüber dem Medium führen zu einer Mutation des Aktes des Telefonierens. Dieser stellt ja an sich schon eine mutierte Form der Kommunikation dar, weil er durch die körperlose Anwesenheit der Stimmen der Intimität direkter Kommunikation beraubt ist. Es entwickelt sich eine spezifische euphemistische Telefonsprache. Brodskij kommentiert diese durch Angst geprägte Kommunikation in seinem Essay In a Room and the Half: Zum Beispiel unsere erste, damals fünfstellige Telefonnummer, die wir kurz nach dem Krieg hatten. Sie war 265-39, und ich vermute, ich erinnere mich noch an sie, weil der Apparat angeschlossen wurde, als ich gerade in der Schule das Einmaleins lernen mußte. Sie nützt mir jetzt nichts mehr: genau wie unsere letzte Nummer, in unseren eineinhalb Zimmern, mir nichts mehr nützt. Ich erinnere mich nicht an sie, an die letzte, obwohl ich sie während der vergangenen zwölf Jahre fast jede Woche gewählt habe. Briefe gingen nicht durch, deshalb begnügten wir uns mit dem Telefon: Es ist offenbar leichter, einen Anruf abzuhören, als einen Brief zu durchleuchten und

207 208

Ebd., 257. Ebd., 258.

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anschließend auszutragen. Ach, jene wöchentlichen Anrufe in die UdSSR! Der ITT ist es noch nie so gut gegangen. Wir konnten bei diesen Gesprächen nicht viel sagen; wir mußten entweder zurückhaltend oder unaufrichtig euphemistisch sein. Es ging meistens um das Wetter oder die Gesundheit, nie um Namen, sehr viel um gesunde Ernährung. Die Hauptsache war, gegenseitig die Stimme des anderen zu hören und uns somit auf animalische Weise unserer Existenz zu versichern. Das meiste war ohne Bedeutung, und es ist kein Wunder, daß ich mich an keine Einzelheiten erinnere, außer an die Antwort meines Vaters am dritten Tag des Krankenhausaufenthalts meiner Mutter. „Wie geht es Masja?“ fragte ich. „Na ja, Masja wird nicht mehr, weißt du“, sagte er. Das „weißt du“ sagte er, weil er selbst bei diesem Anlaß euphemistisch sein wollte.209

Allein schon die Stimme, die von dem sinnlosen Inhalt des Gesprächs getrennt ist, wird zur Botschaft, zu einer Prüfung der gegenseitigen Existenz. Die Verwendung von Euphemismen, der Ausnahmezustand wird zur Norm, was am stärksten bei der Nachricht vom Tod der Mutter Brodskijs spürbar wird. Ein anderes Beispiel für die Angst vor dem Lauschvorgang stellt D. Granin in der Novelle Unser lieber Roman Andreevič (Naš dorogoj Roman Andreevič) von 1990 dar: „Mit dem Auftauchen von Roman Andreevič kam die Befürchtung auf, dass alle Telefonapparate verwanzt wurden.“210 Die Verschlüsselung der Wahrheit am Telefon ist ein Teil des Katz- und Mausspieles, das die sowjetische Gesellschaft in das konkrete „Wir“ und das unbestimmte und unklare „Sie“ spaltet und das Verhalten der Menschen bestimmt. Der Schriftsteller Evgenij Popov untersucht in einem Essay den Ausdruck „Ėto ne telefonnyj razgovor“ (Das ist kein Telefongespräch) und andere telefonische Euphemismen. Einem Gerücht zufolge glaubten die Bürger, dass das Abhörsystem des Sicherheitsdienstes sich aus Sparsamkeitsgründen automatisch nur im Fall von Schlüsselwörtern wie beispielsweise Archipel GULAG, Dollar, Durchsuchung, Menschenrechte usw. einschalte. Demzufolge bekam Popov einmal den folgenden Anruf von einer berühmten Dichterin: „Evgenij, haben Sie meine Beiträge in der Zeitschrift ‚K‘ gelesen? Was sind Sie bloß begriffsstutzig! ‚K‘ – ist etwa wie Festland, die Zeitschrift erscheint in der Stadt ‚P‘. Wo die Stadt ‚P‘ ist? In einem Land, das mit ‚F‘ beginnt.“211 Das Mysterium des Lauschvorgangs, der Schauder vor dem Risiko und die Angst vor der Macht führten zur Erschaffung einer Reihe von Gerüchten und Witzen, von denen viele direkt von den Mächtigen erfunden und verbreitet wurden. Ein Beispiel hierfür ist der technische Ratschlag, dass das Gespräch nicht abgehört werden könne, wenn während eines Telefonats 209 210 211

Joseph Brodsky, In eineinhalb Zimmern, in: Erinnerungen an Leningrad, Frankfurt/M. 1990. D.I. Kveselevič, Tolkovoyj slovar’ nenormativnoj leksiki russkogo jazyka, Moskau 2003, 625. Evgenij Popov, Ėto ne telefonnyj razgovor, in: Ogonek Bd. 24 (4752)/2002, 38-40, hier: 39.

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die Wählscheibe mit einem Bleistift etwas gedreht und dann fixiert werde. Auch die Behauptungen, dass ein elektronisches ‚pi-pi-pi‘-Signal, gemischt mit dem normalen Telefonsignal, ein sicheres Zeichen für eine Abhörtätigkeit sei, und dass eine plötzliche Unterbrechung der Verbindung bedeute, dass das Band gewechselt werde, klingen heute absurd. Dabei wirkt ein großer Teil der Gerüchte naiv, obwohl man persönliche Erfahrungsberichte wie folgenden hört: Einmal rief mich ein Bekannter an, um mir zu sagen, dass dies nicht fürs Telefongespräch sei und lud mich zu einem Treffen ein, wo er mir aufgeregt mitteilte, dass er am Morgen den Telefonhörer abgehoben hatte und statt des Freizeichens einen Teil seines gestrigen Gesprächs hörte.212

Mitteilungen über Skandale in den USA, die von Abhöraktivitäten berichten, so Popov, überraschten die Russen ganz und gar nicht. Im Gegenteil – sowjetische Bürger seien überrascht, dass die Amerikaner mit der Möglichkeit des Abgehörtwerdens gar nicht rechneten. Abhöraktivitäten sind so tief in der Alltagskultur und den Ritualen verankert, dass sie schon für ‚normal‘ gehalten werden. Es ist eine klar Sache, dass sich seit der Erfindung des Telefons alle gegenseitig zu jeder Zeit abhören. Ein derartiges kollektives Bewusstsein wurde selbstverständlich von einem entsprechenden Sein bestimmt, und zwar zu einem Zeitpunkt, als von allen Betrieben im Land nur der KGB gute Arbeit leistete, indem er Tag und Nacht darüber wachte, dass bei uns alles stets beim Alten bleibt und keinesfalls anders.213 Gleichzeitig bestimmte das friedliche Zusammenleben mit dem Abhören bei den Vertretern der sogenannten Intelligencija weitgehend ihre Lebensweise und beschäftigte einen großen Teil der grauen Gehirnsubstanz, und das ganz unabhängig davon, ob man in Beziehung zu den Dissidenten stand oder einfach nur seine von Gott verliehene Lebenszeit fristete, wie etwa im Eisloch schwimmende Gegenstände.214

Im Gegensatz zu den Thesen westlicher Psychologen, die der Meinung sind, dass Aufrichtigkeit am Telefon möglich sei und deswegen Hilfs- und Beratungstelefone einrichten, betrachten die Russen das Telefonieren anders: „Telefonische Kommunikation ist in erster Linie eine unpersönliche Kommunikation, man kann sich in dieser kommunikativen Situation nur schwer psychologisch verwirklichen, deswegen ist die Unehrlichkeit beim Telefonieren eher ein soziales denn ein psychologisches Phänomen.“215 Durchaus vertretbar scheint die Meinung, dass die Zurückhaltung am Telefon zweifellos ein soziales Phänomen ist, das weniger durch die „unpersönliche“ Kommunikation als vielmehr durch die Abhörangst geprägt wird. 212 213 214 215

Ebd. Ebd., 38. Ebd., 39. Marina Borisova, in: Ogonek Bd. 24/2002, 40.

Das Telefon im Dienst des Sozialismus. Besonderheiten. Mythen.

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Der Bevölkerung war bewusst, dass geheime Abhöranlagen existierten, Unsicherheit allerdings herrschte angesichts der Frage, wie weit der Stand der Technik entwickelt sei: Ist es überhaupt möglich herauszubekommen, wer aus einer öffentlichen Telefonzelle angerufen hat? Und wenn man nur russisch spricht? Und wenn man sofort weggeht, ohne sich lange aufzuhalten? Ist es überhaupt möglich, eine verstellte Stimme am Telefon zu identifizieren? So weit kann die Technik nicht sein.216

1955 macht Aleksandr Solženicyn das sowjetische Abhörsystem zum grundlegenden Sujet seines Romans Im ersten Kreis (V kruge pervom). Ein Telefonanruf von einem Straßentelefon in die amerikanische Botschaft, der Bezug auf eine Atombombe nimmt, soll untersucht werden. Um die Telefonstimme der Staatsverräter zu identifizieren, werden die Kräfte von Ingenieuren und Akademikern – Gefangene in dem besonderen Arbeitslager für Wissenschaftler Marfino – mobilisiert. Detailliert schildert Solženicyn die Arbeitsorganisation und die Hierarchiestrukturen Russlands – von der untersten Ebene im MGB bis zur Spitze. An jenem frostfreien nebligen Dezembertag in dem Gebäude der Moskauer Fernsprechvermittlungszentrale, an einem solchen verbotenen Korridor, in einem dieser unbetretbaren Zimmer, das bei der Verwaltung als 149 A und in der Elften Abteilung des sechsten MGB-Bezirks-Verwaltungszentrums als „Posten A/1“ geführt wurde, saßen die zwei diensthabenden Leutnants. Sie trugen allerdings keine Uniformen, sondern Zivil: So konnten sie unauffällig in der Vermitlungszentrale ein und ausgehen. Eine Wand war vollständig von den Leuchtanzeigen einer Signalanlage ausgefüllt, dort sah man auch den schwarzen Kunststoff und das glänzende Metall der Abhörapparatur. An einer anderen Wand hing die Instruktion, auf grauem Papier gedruckt, mit sehr vielen Punkten.217

3.2.4. Das Telefonbuch Als Text, der „die Struktur der Welt charakterisiert“, sieht Lotman das Telefonbuch, das für ihn zusammen mit dem Kalender im Gegenteil zu den sujethaften Büchern ein sujetloser Text ist, der eine bestimmte Welt und deren Organisation bestätigt.218 Die Jahrgänge der Adress- und Telefonbücher in Moskau und St. Petersburg zeigen deutlich, wie sich die Struktur Russlands nach der Revolution veränderte: Während das Adressbuch Vsja Moskva (Ganzes Moskau) vor 1917 bezweckt, „den Einwohnern der emporstrebenden Metropole wie den ortsansässigen Ausländern kurz und prägnant mitzu216 217 218

Alexander Solschenizyn, Im ersten Kreis, Frankfurt/M. 1982, 14. Ebd., 18. Jurij M. Lotman, Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, Kronberg/Ts. 1974, 336-345.

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teilen, wer wo wohnt, wo wann was geschieht, wo was zu haben ist“219 und die Stadt systematisiert: „Vorneweg – hinter den Reklameseiten für Siemens & Halske, Dunlop und andere – präsentiert sich das industrielle und handelnde Moskau: Fabriken und Bankfilialen – streng demokratisch, allein der Reihenfolge des Alphabets gehorchend“220, so bieten die Bücher nach der Revolution ein neues hierarchisches System: Die fettgedruckten Kolonnen der Abkürzungen symbolisieren den Anspruch, daß die Gesellschaft und der politische Überbau von nun an durchschaubar, rational und übersichtlich organisiert sein sollten, angefangen von der Zentrale an der Spitze bis zu den Grundeinheiten an der Basis. Unschwer läßt sich das herrschende Prinzip der politischen Struktur auch an der Hierarchie der Adressen ablesen: es beginnt ganz oben mit dem Zentralen Exekutivkomitee, das nun ins eigentliche Zentrum des Landes zurückgekehrt ist, im Kreml, und läuft aus in gesellschaftlichen und Massenorganisationen. Wo früher Banken und Geschäfte plaziert waren, rangieren nun die Vertretungen der Moskauer Industriebetriebe, die Gewerkschaften der Eisenbahner, Lederarbeiter, Tramschaffner. Zu den schon existierenden Theatern sind neue hinzugekommen: etwa das Proletkulttheater Nr. 1 und die zahlreichen Arbeitsklubs.221

Gleichzeitig mit der neuen inhaltlichen Konzentration von Institutionen in den Telefonbüchern, erscheinen „äußerliche“ Probleme – die Auflagen und die Verbreitung. Anfang der 20er Jahre sind die reduzierten Auflagen der Telefonbücher durch Papiermangel verursacht. Später sind die Bücher Institutionen und Parteifunktionären vorbehalten, also denjenigen, denen ein Telefonanschluss gestattet ist. Kleberg vergleicht die Einschränkung der Auflagen von Telefonbüchern als Mittel der Kontrolle über das Medium mit anderen Maßnahmen, wie dem Abhören und der Einrichtung innerer Netze. Das Problem mit den Telefonbüchern hat zwei Dimensionen bzw. Konsequenzen für „das Lesen“ von selbigen: Ihre Zugänglichkeit ist abhängig von dem Platz in der gesellschaftlichen Pyramide. An der Basis der Pyramide soll die ungenügende Zahl von Telefonbüchern die freie Kommunikation „von jedem mit jedem“ verhindern. Der Besitz einer bestimmten Telefonnummer ist wertvolles Wissen – dies gilt insbesondere für Nummern, die nicht in den Registern stehen.222 In dieser Hinsicht bemerkt McLuhan:

219 220 221 222

Karl Schlögel, Wsja Moskwa, in: Moskau lesen, Berlin 1984, 101-111, hier: 101. Ebd. Ebd, 108. In Nikita Michalkovs Film Utomlennye solncem (1994) wird das Kennen von Telefonnummern in zwei verschiedenen Szenen als Zeichen der Macht dargestellt. Der ganze Film wird im Rahmen des Telefonklingelns strukturiert – der Anruf am Anfang wird angenommen, der am Ende bleibt ohne Antwort. Der Selbstmord des Protagonisten ist der einzige Weg, sich dem System entgegenzusetzen. Vgl. mit Mandel’štams Telefon.

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Die erste Überraschung für Presseleute, die Moskau besuchen, ist das Fehlen von Telefonbüchern. Dann entdecken sie mit Schrecken, daß es in Ministerien keine Telefonzentralen gibt. Man muß eben die Nummer wissen.223

Kleberg führt als Beispiel ein russisches Telefonbuch aus den Anfängen der 90er Jahre an, in dem die Nummern von Institutionen, Unternehmen und Organisationen in 14 Kategorien, wie z. B. Komitees, Partei- und Komsomolorganisationen oder Finanzbehörden geordnet sind. Das Ordnungsprinzip scheint für ihn ohne Logik zu sein, war es doch vorgesehen für jemanden, der zum sowjetischen Machtsystem gehörte und seinen Platz am oberen Ende der Pyramide hatte. Da den Bürgern Telefonbücher kaum zugänglich waren, verbreitete sich die unrichtige Behauptung, dass in der Sowjetunion keine Telefonbücher gedruckt würden. An der Spitze der Gesellschaft konzentrierte sich nicht nur die ganze Macht, sondern auch die ganze Information. Eine Telefonauskunft sollte das Defizit an Telefonbüchern kompensieren. In diesem Kontext stieg der Wert des persönlichen Telefonnotizbuches: Jedes Notizbuch beherbergt den Mikrokosmos der Kontakte eines Subjektes. Für Flusser hat das Telefonbuch eine Stellung zwischen der Mündlichkeit des Mediums und der Schriftlichkeit des Buches inne: Die materiellen oder immateriellen Drähte hinter dem Telefon eröffnen einen Parameter der Wahl. Um unter den abrufbaren Personen auswählen zu können, muß der Anrufer über ein Verzeichnis verfügen, in dem diese Personen mit Ziffernfolgen versehen sind. Dieses Verzeichnis ist in zwei Speichern gelagert: seinem Gehirn und dem Telefonbuch. Das beweist, wie archaisch das Telefon ist: Es wäre wirkungsvoller, die Nummern im Telefon selber zu speichern, wie es allerdings beim Minitel mittlerweile versucht wird.224

Obwohl heute nahezu alle Telefonapparate ein technisches Gedächtnis haben und Nummern speichern können, bleiben Telefonbücher eine wichtige Informationsquelle, die die Telefonkommunikation unterstützt. In Russland boomt in den letzten 10 Jahren der Druck von Telefonbüchern, Gelben Seiten und anderen informativen Handbüchern.

3.2.5. Telefonnoe pravo – das Telefonrecht Die Kombination des Mediums Telefon mit dem Recht als Instrument der Macht führt in der UdSSR zur Neuschaffung einer unikalen Hybride, die den Namen telefonnoe pravo (Telefonrecht) trägt. Im Folgenden wird die Entwicklung dieses Phänomens sowie seine Spiegelung in der sowjetischen

223 224

McLuhan, Die magischen Kanäle, 233. Flusser, Gesten, 235.

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Kultursozialer Aspekt

Kultur am Beispiel von Pasternaks Erzählung Luftwege (Vozdušnye puti, 1924) untersucht. Es lässt sich kaum zurückverfolgen, von wem und wann der Begriff zum ersten Mal benutzt wurde, jedoch kann vermutet werden, dass die Erscheinung, die er beschreibt, schon früher existierte. In den schriftlichen Quellen der 20er und 30er Jahren fehlen jegliche Hinweise in dieser Richtung, in den 60er bis 80er Jahren taucht der Begriff nur in der inoffiziellen mündlichen Sprache auf und erst heute trifft man ihn bisweilen schriftlich fixiert in Memoiren, Wörterbüchern oder journalistischen Publikationen an. Was genau beschreibt diese Wortverbindung? Die Definition von D.I. Kveselevič lautet: „das Gesetz des Telefons umg., iron. Protektionismus, Beziehungen, Druck auf Seite der hohen Obrigkeit“. Dabei illustriert er den Begriff mit einem Zitat aus M. Černenoks Werk Solidarische Bürgschaft (Krugovaja poruka): „/ Birjukov/ legte den Telefonhörer auf und drehte sich um zum Ermittler: – Der Erste Sekretär des Bezirkskomitees lädt ein. – Das war’s, – wir haben gewissenhaft gekämpft, – sagte Limakin resigniert. – Das ‚Telefonrecht‘ tritt in Kraft.“225 Eine andere Definition bietet V.I. Mamsik in Der Ball der Teufel oder Enzyklopädie eines Dummkopfs (Bal besov ili Ėnciklopedija Balbesa) an: „Das Recht auf die Installation eines Telefons – einer Drehscheibe, mit deren Hilfe man das Recht nach links und rechts drehen kann.“226 Was ist dann der Unterschied zwischen anderen Befehlen, die angeordnet werden und der Anwendung des Telefonrechts? Die Antwort finden wir in den Besonderheiten des Mediums Telefon, das erstens einen schnellen, direkten Kontakt sichert und zweitens auf der mündlichen Kommunikation basiert, d.h. die gesprochenen Befehle werden nicht schriftlich fixiert und nur die letzte Instanz, etwa ein Richter, wird das Urteil unterschreiben. Die Einmischung in Gerichtsverfahren wird leichter dank der Anonymität des Telefons, da außer dem Richter niemand von den Anwesenden erfährt, wer angerufen hat. Die Richter erscheinen als eine Art Medium, das das Verbrechen nicht mehr nach geschriebenen Gesetzen beurteilt, sondern Urteile von „oben“ direkt übermitteln muss. […] In der Sowjetunion herrschte das sogenannte „Telefonrecht“, das bedeutet, dass das Urteil nicht vom Können des Verteidigers und nicht von der Überzeugung des Richters abhing, sondern vom Beschluss der Parteiorgane, welcher dem Richter per Telefon mitgeteilt wurde. Dafür verbreiteten sich in verschiedenen, kleineren Fällen statt Advokaten sogenannte „Ablakaten“, Menschen, deren ganzes juristisches Kön-

225 226

Kveselevič, Tolkovyj slovar’ nenormativnoj leksiki russkogo jazyka, 666: „Telefonrecht ugs., ironisch. Protektionismus, Vitamin B, Druck von oben“. V.I. Mamsik, Bal besov ili Ėnciklopedija Balbesa, url: http://www.memorial.krsk.ru/memuar/Mamsik.htm

Das Telefon im Dienst des Sozialismus. Besonderheiten. Mythen.

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nen darin bestand, dass nur von ihnen und von niemand anderem die Richter und Staatsanwälte ihr Bestechungsgeld annahmen.227

Der Jurist A. Tille, der die Präsenz der Mafia in den Machtstrukturen des heutigen Russlands untersucht, behandelt das Telefonrecht als einen Teil des Prozesses der Verbreitung der Ungesetzlichkeit, welcher sich so weit entwickelt habe, dass seine Macht sogar über jener der Verfassung situiert werden könne: „Das Meer der Gesetzlosigkeit“ in unserem Land, von dem Lenin gesprochen hatte, hat sich in einen Ozean der grenzenlosen Rechtlosigkeit verwandelt. Seit langem gehört das Telefonat von „oben“ zum wichtigsten Instrument der Rechtsprechung. „Das Telefonrecht“ steht in unserer Hierarchie der Gesetzgebung über der Verfassung. Das gab es schon während der Sowjetzeit, doch wurde es niemals und nirgends erwähnt.228

Unbemerkt und scheinbar unreglementiert schleicht sich das Telefonrecht nicht nur in die gesamte Telefon-Politik der Regierung, sondern auch in das Rechtswesen ein. Innerhalb der Machtpyramide verortet Zubov die von oben ausgehenden Telefonate auf dem Gipfel und sieht sie damit als identisch mit der unbegrenzten Macht des ersten Sekretärs des Zentralkomitees an: Viel effektiver erwiesen sich außergesetzliche Protokolle, noch stärker waren die amtlichen Anweisungen und letztendlich verfügte über die wahre Macht im Staate nur das „Telefonrecht“, also jene „außergesetzliche Kraft“, die nach Lenin die Basis des neuen Regimes bilden sollte... Die Macht des Ersten Sekretärs des ZK war weder durch die Verfassung noch durch die Gesetzgebung legitimiert. Mehr sogar, der „Erste“ selbst bestimmte, was erlaubt und was verboten war, was wahr und was falsch, nicht etwa in Bezug auf ein absolutes Ideal, sondern in Bezug auf sich selbst. ... Durch kein göttliches oder menschliches Gesetz eingeschränkt, war der Herrscher des Sowjetrusslands sein eigener Gesetzgeber. Er und nur er verfügte über die volle Macht über das außergesetzliche Telefonrecht, über die Macht, die in amtlichen Anweisungen Gestalt annahm, die ihrerseits zu außergesetzlichen Protokollen führte. Die Gesetze bildeten nur die äußere, mehr oder weniger anständige Schicht dieser außergesetzlichen Protokolle und schließlich fungierte als Vorhang all dieser verwunderlichen Rechtsprechung die Verfassung mit aufgemalten Garantien, Rechten und Freiheiten.229

Ein konkretes Beispiel für die Anwendung des Telefonrechts ist der Prozess von 1937 gegen die „Trotzki-Bucharin-Bande“ im Tel’manovski-Bezirk, welchen Ščeglov im Detail beschreibt. NKVD und die Staatsanwaltschaft organisierten einen enorm großen Schauprozess; die Todesurteile wurden in weniger

227 228 229

url: http://www.jewish.ru/994210302.asp A. Tille, Velikaja kriminal’naja revoljucija v Rossii, url: http://www.kulichki.com/moshkow/POLITOLOG/tille.txt. A.B. Zubov, Obraščenie k russkomu nacional’nomu pravoporjadku kak nravstvenaja neobchodimist’ i politicheskaja cel’, url: http://www.netda.ru/newpublicist/zubov/abz-law-or.htm.

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als einer Woche nach dem Beginn des Prozesses vollzogen, und zwar nicht ohne den Beitrag des von Ščeglov so genannten „telefonischen Regierens“: Diesen großen Prozess leitet ein spezielles Kollegium unter dem Vorsitz Radins, des Leiters des Bezirksgerichts. Er ist Mitglied des Gebietskomitees, eine Person, die dem Ersten Sekretär nahesteht, und ein wichtiges Glied in der telefonischen Verwaltung. Das Telefonrecht unter Stalin formierte sich schnell und wurde zum Fundament der Rechtsprechung.230

Der Begriff, der bis vor kurzem nur eine metaphorische oder ironische Verwendung im inoffiziellen Ambiente Russlands erfuhr, beginnt langsam auch das Interesse ausländischer Medienwissenschaftler anzuziehen. So berichtet etwa Deppe in seiner Untersuchung der Entwicklung von freien Massenmedien in Russland über das „Gesetz der Telefone“: Es herrschte das ,Gesetz der Telefone‘, das von den Funktionären und Beamten in jeder wichtigeren Frage verlangte, sich durch einen raschen Telefonanruf beim Vorgesetzten abzusichern. Auf diese Weise waren viele Entscheidungsvorgänge staatlicher Stellen im nach hinein nicht mehr nachvollziehbar.231 Das Prinzip, sich in jeder Frage mit ideologischem oder gesellschaftspolitischem Bezug beim Vorgesetzten abzusichern, verhalf dem ,Gesetz der Telefone‘ auf allen Ebenen der Partei sowie der von ihr abhängigen Staatsverwaltung zu universeller Geltung.232

Es ist wichtig zu erwähnen, dass der Begriff telefonnoe pravo in der modernen russischen Lexik nicht nur als Synonym des totalitären Systems der UdSSR vorkommt, sondern bis heute benutzt wird. Eine aktuelle Besonderheit liegt darin, dass die Entscheidungen nicht nur durch politische Interessen geprägt sind, sondern auch von verschiedenen privaten Unternehmen und Oligarchen vertreten werden. Diesbezüglich verkündet der ehemalige Hauptstaatsanwalt Russlands, Kazannik: Vom ersten Tag an habe ich das Telefonrecht in seiner unansehnlichsten Form zu spüren bekommen. Sogar die Schreiber aus der Mannschaft des Präsidenten hielten es für unerlässlich, sich in die Sachen der Staatsanwaltschaft einzumischen. Einmal klingelte es: „Lassen Sie diesen und jenen frei...“ Ich erkläre, dass dieser Mensch eine Bande gegründet hatte, Banken ausraubte, Menschen tötete. Und als Antwort höre ich ein ruhiges: „Na und?“ Und diese ruhige Frage erschütterte mich mehr als alles andere.233 230 231

232

233

J. Ščeglov, Pred Njurnbergom..., in: Kontinent 2 (Nr. 120)/2004, 227-243, hier 230. J. Deppe, Rußland auf dem Weg zur pluralistischen Gesellschaft. Ein kurzer Überblick über die Entwicklung freier Massenmedien, in: Rundfunk und Fernsehen Bd.1, 1999, 47. J. Deppe, Über Pressefreiheit und Zensurverbot in der Russischen Föderation. Eine Untersuchung über die gesetzliche und tatsächliche Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantie, Rechtswissenschaftliche Dissertation, Hamburg 2000, url: www.russianmedia.de/dissertation.htm. Pravda, 11.02.1997.

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Der Zusammenbruch der zentralisierten Macht bringt Unklarheiten mit sich, die Regeln verändern sich, es ist nicht mehr eindeutig, wer nach welchen Kriterien das Telefonrecht anwenden darf: Russland erhielt ein schwaches Gerichtssystem seit den Zeiten der Sowjetmacht, doch wurde dieses System in den letzten 10 Jahren noch schlechter. Damals herrschte das Telefonrecht, doch damals war klar, wer und weshalb anruft. Das Recht anzurufen besaßen nur wenige, ausgehend von einigen deutlich festgehaltenen formalen und non-formalen Kriterien.234

Der Richter Ernest Ametistov vom Verfassungsgericht der Russischen Föderation hebt die Nachfolgerschaft an den Regierungsstrukturen hervor: One can understand the meaning of this phenomenon if to remember that most of them are still the same people who for decades worked in the conditions of so called ,telephone law‘ when the supreme law for them was not the Constitution and even not the laws of the country but the latest directive of a nearest Party boss or a ministerial instruction.235

Obwohl der Begriff „Telefonrecht“ nicht explizit erwähnt wird, findet der Sachverhalt in literarischen Texten Niederschlag: Einige Beispiele dafür sind Bulgakovs Hundeherz, Il’f und Petrovs Kurzgeschichten sowie Pasternaks Erzählung Luftwege. Schauen wir uns genauer an, wie Pasternak das Telefonrecht und das Telefon selbst in seinem Text Luftwege verwendet. Im Jahr 1924, dem Todesjahr Lenins und ein Jahr nach der Geburt von Pasternaks Sohn Evgenij, veröffentlicht der Künstler in Russkij sovremennik (Russischer Zeitgenosse) die Erzählung Luftwege, einen Text, in dem der kontradiktorische Charakter des Telefons das Sujet bestimmt. Einerseits wird es als Machtinstrument positioniert, andererseits jedoch ist es machtlos, wenn es darum geht, ein Leben zu retten. Die Überzeugung des Protagonisten, dass infolge des Telefonrechts die Entscheidungen der Richter stets beeinflussbar sind, prägt die Tragik der Geschichte. Ein Vater, der sich an der Spitze der Hierarchie befindet, vermag seinen Sohn am Ende nicht zu retten. Die kurze Hoffnung, dass das Medium Telefon sich in ein Rettungsinstrument umwandeln könnte, erweist sich in Konkurrenz mit der verrinnenden Zeit als vergeblich. Der Raum ist überwunden, die Zeit jedoch nicht. Leben und Tod, Macht und Machtlosigkeit, zeitliche und räumliche Dimensionen stellt Pasternak zusammen durch einen besonderen Minimalismus und komplexe stilistische und strukturelle Muster. Larissa Rudova beschreibt die Erzählszenen

234 235

L. Pajdiev, Mafioznaja ėkonomika i polzučaja graždanskaja vojna, 2002, url: http://worldcrisis.ru/crisis/95288. url: http://www.terralegis.org/terra/amet/20eng.html.

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als ideosynkratische Bilder.236 Das Telefon tritt in das letzte Bild ein, wobei es die gesamte emotionale Wucht der Handlung übernimmt und die Lösung der Geschichte übermittelt. Das Thema der Erzählung, das menschliche Schicksal in der Revolutionszeit, wird in drei Teilen entworfen, die einige Episoden aus dem Leben der Protagonisten Lolja und Polivanov abbilden. In den ersten zwei Teilen wird der Sohn von Lolja, Toša, entführt, gesucht und gefunden. An der Suchaktion nimmt außer Loljas Ehemann auch der Militär Polivanov – Loljas Liebhaber und vermutlicher Vater des Kindes – teil. 15 Jahre später erweist sich die Sorge um den Sohn als Anlass für ein erneutes Treffen. Im dritten Teil des Textes bittet die Mutter nach einer chronologischen und räumlichen Ellipse, das Mitglied des Gubispolkom der Roten Armee, Polivanov, ihren Sohn, der politischer Häftling ist, zu retten. Polivanov setzt sich ans Telefon, aber die Exekution hat bereits stattgefunden. Für unseren Zusammenhang ist die ideosynkratische Spezifik des letzten Bildes von Interesse. Ohne Lolja zu erkennen, lädt Polivanov sie in sein Büro ein. Die Erzählung erfolgt aus ihrer Perspektive; die Betrachtung wird plötzlich durch das Telefon grob unterbrochen: Beinahe hätte die Phantasie das Zimmer, das wohl voller Bilder hing und mit Schränken, Palmen und Bronzen vollgestellt war, auf einen der Prospekte des einstigen Petersburg versetzt und hielt schon mit ausgestrecktem Arm die von Lichtern gefüllte Hand hin, um diese in die sich auftuende Perspektive hineinzustreuen, als plötzlich das Telefon anschlug.237

Die akustische Störung der Stille bringt sie gedanklich ins Zimmer zurück. Sie wird Zeugin des Telefonats. „Ja“, antwortete der unzufriedene, ungeduldige und zu Tode erschöpfte Mann, der sich offenbar mit der Hand die Augen zuhielt. „Ja. Ich weiß. Ich weiß. Blödsinn. Prüf das telefonisch. Blödsinn. Ich hab mich mit dem Stab in Verbindung gesetzt. Shmerinka gibt eine Stunde etwa schon Antwort. Und das ist alles? Ja, mach ich und sag Bescheid. Nein doch, in zwanzig Minuten etwa. Das war’s?238

Dieses kurze Telefonat, eine lästige Unterbrechung, das für die Verzögerung des Treffens sorgt, birgt auf den ersten Blick nur geringe Mengen an Informationen. Von Bedeutung ist in diesem Fall jedoch nicht der Inhalt des Telefonats, sondern die Einführung des Telefons als Arbeitsmittel – als Teil von Polivanovs alltäglicher Routine. Erst daraufhin erkennt der Ex-Liebhaber Lolja. Ihre Bitte liegt in Wettstreit mit der Zeit: „Er kannte diesen Fall. Er 236 237 238

Larissa Rudova, Pasternak’s Short Fiction and the Cultural Vanguarg, New York 1994, 123-133, hier 123. Boris Pasternak, Luftwege, in: Luftwege. Ausgewählte Prosa, Frankfurt/M. 1986, 105119, hier 116. Ebd., 116.

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war hoffnungslos für die Beschuldigten, und es war nur eine Frage der Stunde.“239 Seine Gedanken übertönen ihre Worte. Er versucht, die Kraft der Worte mittels des Telefons anzuwenden: Und wieder gingen die Worte an ihm vorbei, als er begriff, daß das Kind dieser Frau sich hinter jedem der Namen verbergen konnte, die ihm aus den Akten bekannt waren, und er stand am Tisch und rief jemanden an und brachte etwas in Erfahrung und geriet von Verbindung zu Verbindung immer tiefer und immer weiter in die Stadt und in die Nacht hinein, bis sich vor ihm der Abgrund der letzten und endgültig richtigen Auskunft auftat.240

Auf das Telefon konzentriert sich die letzte Hoffnung. Jede Telefonverbindung dringt „weiter in die Stadt und in die Nacht hinein“. Und doch erweist sich das Telefon als nutzlos. Es verwandelt sich vom Machtinstrument zu einem Gegenstand, der das Scheitern symbolisiert. Es zeigt sich ein weiterer Widerspruch: die geschriebenen Worte sind falsch, die Wahrheit entspringt der mündlichen Kommunikation. Das Vertrauen in die Schrift geht verloren zugunsten des schnelleren elektrischen Mediums. Die Prozessdokumentation, an der Polivanovs Institution festhält, enthält falsche Informationen, weil der Sohn unter fremdem Name aufgeführt wird. Johanne Villeneuve, die das Telefon bei Grin und Pasternak vergleicht, betont seine mediale Paradoxie: Mais le téléphone va surgir au milieu du dispositif tragique comme l’instrument prenant prosaïquement le relais des voies aériennes, ces voies quadrillant dorénavant l’espace utopique de la Russie. C’est au téléphone qu’en un dernier sursaut de reconnaissance envers son propre passé le révolutionnaire décide de parcourir la ville à la recherche du jeune homme condamné dont il pressent la fin toute proche. Au centre du dispositif tragique; le téléphone est un organe nodal, mais aussi paradoxal: organe de l’efficience révolutionnaire permettant de ratisser la ville et d’obtenir la vérité, il est aussi l’organe de l’impuissance, car prisonnier des détritus, au fond de son obscur cagibi, le révolutionnaire apprend sans recours aucun la mort de son enfant et la vérité sur son propre aveuglement.241

Villeneuve assoziiert die Telefonverbindungen mit den Luftwegen und verleiht damit dem Titel der Erzählung eine neue Bedeutung. Die Forschung schreibt dem Titel in der Regel eine metaphorische Dimension zu, die in Zusammenhang mit der Philosophie des Symbolismus steht: Der Luftweg wird als ein Weg zwischen dem Künstler und seinem Kunstwerk oder als ein Luftweg im Sinne Nietzsches gesehen, mitunter sogar als Symbol für autobiographische Überschreitungen von Grenzen.242 Dagegen kann der Luftweg pragmatisch-realistisch als eine Telefonverbindung betrachtet und der Abschnitt über die Luftwege neu interpretiert werden: 239 240 241 242

Ebd., 118. Ebd. Villeneuve, Le télephone d’Alexandre Grine, 44. L.L. Gorelik, Rannjaja proza Pasternaka: Mif o tvorenii, Smolensk 2000.

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Das waren Gleise in den Lüften, über die, Zügen gleich, täglich die geradlinigen Gedanken Liebknechts, Lenins und einiger weniger Geister ihres Formates verliefen. Das waren Gleise, die hoch genug angelegt waren, um jeglicher Art Grenze, wie sie auch heißen mochte, zu überschreiten. Eine der Linien, noch während des Krieges eingerichtet, bewahrte ihre frühere strategische Höhe, die den Erbauern von der Natur der Fronten, über die man sie gezogen hatte, aufgezwungen war. Diese alte militärische Zweigstrecke, die an ihrem bestimmten Ort und zu ihren bestimmten Stunden die Grenze Polens und dann Deutschlands durchschnitt – hier, ganz an ihrem Beginn, vor aller Augen trat sie aus den Grenzen der Einsicht von Mittelmaß und dessen Duldung heraus. Sie überquerte den Hof, und der war erschrocken über die Entferntheit ihrer Bestimmung und über ihre niederdrückende Wuchtigkeit, wie stets vor dem Schienenstrang die in alle Richtungen fliehende Vorstadt erschrickt. Dies war der Himmel der Dritten Internationale.243

Wenn wir die Luftwege als Telefonverbindungen sehen, dann ist das Telefon in der letzten Szene nicht nur Medium, sondern wird vielmehr zu einem Symbol für den Wandel des revolutionären Russlands der 20er Jahre. Die kommunistische Utopie wird mittels der Medien verbreitet, die bald auch zu einem der Instrumente totalitärer Macht werden.

3.2.6. Mythologisierung von Stalins Telefonaten Elf Uhr abends. Bei Marschall Žukov zu Hause klingelt das Telefon. – Guten Abend, Georgij Konstantinovič. – Guten Abend, Iosif Vissarionovič. – Genosse Žukov! Mich haben Gerüchte erreicht, dass Sie ein Staatsfeind sind! – Das kann nicht sein, Genosse Stalin! Wie?! Das... das ist... ein Missverständnis... Ich habe doch... so viele Jahre... den ganzen Krieg... Sie selbst kennen mich doch schon so lange... Das ist ein Fehler!!! – Ist gut, Genosse Žukov. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde diesen Fall ganz persönlich untersuchen. Gute Nacht. Stalin legt den Hörer auf und denkt nach: „Wem könnte ich noch eine gute Nacht wünschen?“

Parallel zum Aufbau des offiziellen Stalin-Kultes in den 30er und 40er Jahren entwickelt sich eine Gegenmythologie von Witzen und Gerüchten. Einen kleinen, aber besonders ausdrucksvollen Teil dieses Mythologiekomplexes bildet derjenige über Stalins Telefonate. Die Entstehung der sowjetischen Mythen resultiert aus der Undurchsichtigkeit und der Geheimhaltung in der Politik, so Nikolaj Mitrochin.244 Weiterhin erklärt er die Entstehung der Mythen mit der Tatsache, dass die Pro243 244

Pasternak, Luftwege, 114. Nikolaj Mitrochin, Ėtnonacionalističeskaja mifologija v sovetskom partijnogosudarstvennom apparate. In: Otečestvennye zapiski 3/2002, url: http://magazines.russ.ru/oz/2002/3/2002_03_25.html.

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zesse der Entscheidungsfindung innerhalb des parteistaatlichen Apparats in der Sowjetunion stark formal bürokratisiert waren, während aber die Regeln nicht immer respektiert wurden. Zwei Faktoren wirken gleichzeitig: erstens der so wenig transparente Entscheidungsprozess und zweitens das Verbot, die Entscheidungen öffentlich zu diskutieren und dabei eine unwissende Umgebung zu informieren. Jene Personen, die ohne Zugang zu Informationen sind, entwickeln aus dieser Situation heraus eine Mythologie, die ihnen helfen soll zu erklären, was vor sich geht. Und weil sich das, was im sowjetischen Regierungsapparat in Wirklichkeit geschah, von dem, was die offizielle Propaganda in den Massenmedien bekannt gab, so wesentlich unterschied, entstanden doppelte Informationsstandards.245 Roland Barthes betrachtet den Mythos als „gestohlene“ und „fremde Sprache“ mit sekundären Konnotationen, während in ihm selbst ein semiologisches System, ein Mitteilungssystem existiert.246 Er unterscheidet dabei zwei Ebenen: die der Sprache und die des Mythos. Jede Ebene enthält drei Elemente: Die der Sprache sind „Bedeutendes“, „Bedeutetes“ und „Zeichen“ (Sinn), die des Mythos „Form“, „Begriff“ und „Bedeutung“. Der sprachliche Sinn ist gleichzeitig die mythologische Form – dies ist der Punkt, an dem sich beide Ebenen kreuzen: „Der Sinn verliert seinen Wert, aber er bleibt am Leben, und die Form des Mythos nährt sich davon.“247 Der Mythos ist ein semiologisches System, das vorgibt, über sich selbst in einem deformierten Faktensystem hinauszugehen. Im Hinblick auf das Lesen und Entziffern des Mythos unterscheidet Jurij Murašov zwei andere Ebenen – Narration und Diskurs: Die Narration lässt das Einzelne, Konkrete und Besondere zur Darstellung kommen, während der Diskurs, auch wenn er von einem einzelnen Fall handelt, begrifflich auf der Ebene der Verallgemeinerung operiert.248 Was ist die Botschaft des Mythos über Stalins Telefonate und mit welchen Elementen von Narration und Diskurs kann er charakterisiert werden? Die Bauelemente umfassen die ganze Kommunikationssituation des Telefonats: Zeit und Raum, Verhalten der Gesprächspartner, sprachliche Besonderheiten sowie die Korrelation Macht – Kunst bzw. Diktator – Künstler. Im Folgenden biete ich eine Zusammenfassung jener Hauptelemente an, die den Mythos „Stalin am Telefon“ konstruieren.

245 246 247 248

Ebd. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1964, 43. Ebd., 97. Jurij Murašov, Im Zeichen des Dionysos. Zur Mythopoetik in der russischen Moderne am Beispiel von Vjačeslav Ivanov, München 1999, 12.

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Beginn des Telefonats. Stalin ruft an. Nur er kann das Telefonat initiieren, womit er sich die führende Rolle beim Bestimmen der Gesprächsthemen sichert. Zeit und Raum. Spät in der Nacht im Haus des Schriftstellers klingelt plötzlich das Telefon. Die Macht dringt in den privaten, intimen Raum ein. Stalin ruft nicht am Arbeitsplatz des Künstlers an, sondern da, wo auch Ehefrau und Freunde sich aufhalten. Die Nacht ist die Zeit von Schlaf und Traum – für Stalin aber ist die Nacht am produktivsten und er verbringt sie oft in seinem Arbeitszimmer, wo er schreibt, liest, Beamte und Armeeleute trifft und natürlich telefoniert. „Ein einziger Mann findet hinter einem Dutzend Festungsmauern nachts keinen Schlaf – und er hat das ganze diensttuende Moskau darauf abgerichtet, mit ihm bis drei oder vier Uhr morgens zu wachen.“249 Die Nacht ist kein zufälliges Element – zu den tatsächlichen Arbeitsgewohnheiten Stalins kommen ferner noch mystische Assoziationen: die Dunkelheit und die Unsicherheit der Nachtstunden sind universelle Symbole des Jenseits. Auf diese Weise konzentriert sich in diesem Element des Mythos auch die Todesangst. Der Sekretär. Lars Kleberg zufolge bekommen jene, mit denen Stalin zu telefonieren plant, in der Nacht einen Anruf von seinem Sekretariat: Sie erhalten eine Telefonnummer und den Hinweis, diese zu einer bestimmten Zeit zu wählen. Dabei lässt sich die Nummer nur einmal verwenden, nach dem Gespräch existiert sie nicht mehr.250 Der Telefonist tritt als „Diener des Teufels“ auf, der das bereits markierte Opfer auf die Opferung vorbereitet. Stalins Sprache. Bei der Nacherzählung der Telefonate wird stets die Spezifik seiner Rede, etwa der georgische Akzent imitiert, die Repliken sind lapidar und neutral. Er erwartet Antworten und lässt seinem Gesprächspartner Raum zu reden. Durch die kurzen Fragen bekommt der Partner keine zusätzlichen Informationen, die ihm Orientierung bezüglich des Kontexts und der möglichen Folgen des Gesprächs verschaffen könnten. Inhalt des Gesprächs. Der Inhalt der Gespräche variiert je nachdem, wie viele neue Informationen Stalin benötigt. Sie lassen sich jedoch grob in zwei Gruppen einteilen: Gefahr oder Rettung. Das Thema Rettung kontrastiert stark mit der Todesangst, die durch das Gespräch selbst verursacht wird. Stalins Gesprächspartner. Am anderen Ende der Leitung sind die Gesprächspartner oft überascht, unvorbereitet und misstrauisch. Die Künstler antworten den Fragen Stalins vollständig und ehrlich, fühlen sich dabei allerdings der Macht gegenüber grundlos schuldig und verpflichtet. Ende des Gesprächs. Stalin ist derjenige, der entscheidet, wann das Gespräch enden soll. Er unterbricht die Verbindung plötzlich oder nach einer 249 250

Solschenizyn, Im ersten Kreis, 13. Kleberg, K teme ‚semiotika telefona‘.

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kurzen Verabschiedung, die seinen Gesprächspartnern keine Reaktion gestattet und sie hilfslos am Apparat zurücklässt. Nach Timenčik hat das Telefon wegen der Assoziationen mit dem Jenseits in der russischen Kultur noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine mystische Aura. In der sowjetischen Literatur, im Film und in der bildenden Kunst wird das Telefon als „heißes“ Objekt umkreist und stark mythologisiert dargestellt.251 Es ist der Mythos um Stalins Anrufe, der auch dem Telefon eine mystische Aura zukommen lässt. Schließlich wird der Name Stalins – dies gilt besonders in den Zeiten der Repression – ein Bindeglied zwischen Leben und Tod. Die geheimnisvolle Aura Stalins verstärkt sich nach seinem Tod: „Er blieb als Figur der oralen Dimension in apokryphen Übermittlungen, Gerüchten, Anekdoten und Witzen präsent.“252 Stalins Telefonate mit Schriftstellern: Fall 1: Bulgakov Das Telefonat mit dem Generalsekretär der Partei J.V. Stalin, das 1930 stattfand, veränderte das Leben Bulgakovs, da es ihn aus der scheinbar auswegslosen Armut rettete und ihm den Weg zu einer Karriere als Regisseur ebnete. Die Quellen für dieses Telefonat sind Memoiren und Nacherzählungen, die das Gespräch zu rekonstruieren versuchen und die von der Literaturwissenschaft oft als Grundlage für die Interpretation von Bulgakovs Werken herangezogen werden. Aussagen von Historikern, die sich mit Stalin beschäftigen, runden die rekonstruierte Gesprächsszene ab.253 Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Gespräch war der Telefonanschluss in der Wohnung Bulgakovs, was ein der intellektuellen Elite der UdSSR vorbehaltenes Privileg bedeutete.254 Im August 1927 mietete Bulgakov die Wohnung zusammen mit seiner zweiten Frau Ljubov Belozerskaja. 251 252 253

254

Timenčik, K simvolike telefona v russkoj poėzii. Oksana Bulgakova, Ton und Bild. Das Kino als Synkretismus-Utopie, in: Murašov/ Witte, Die Musen der Macht, 174. Die wichtigsten Quellen sind die Memoiren der drei Ehefrauen Bulgakovs: Tatjana Lappa, Ljubov Belozersakja, Elena Bulgakova sowie die von seinen Freunden Charles Bowlen und N.R. Erdmann. In einem Dokument der GPU, unterschrieben von Agranov, wurde von dem Telefonat im Detail berichtet. Mehr dazu in Boris Sokolov, Bulgakov. Ėnziklopedija Moskau 2003, 476-480 und Michail Bulgakov, Sobranie sočinenij v desjati tomach, Bd. 10, Moskau 1995 – 2000, 262-264. Vgl. Sheila Fitzpatrick, The Impact of the Great Purges on Soviet Elites: A Case Study from Moscow and Leningrad Telephone Directories of the 1920s, in: J. Arch Getty/ Roberta T. Manning (Hg.), Stalinist Terror. New Perspectives, Cambridge 1993, 247-260.

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In einem Brief an seine Schwester Nadja Bulgakova-Zemska schreibt er: „Komm bald zu uns, Straßenbahn Nr. 17. Große Pirogovskaja Straße 35A, Whg. 6, tel. 2-03-27 (Bus Nr. 5).“255 Nach der Unterschrift in seinen Briefen setzte Bulgakov oft seine Adresse und Telefonnummer. In einem Schreiben an Stalin, Kalinin, Sviderskij und Gorki vom Juli 1929 aus Anlass der Streichung der Theaterstücke Die Tage der Turbins und Die Purpurinsel vom Spielplan des Moskauer Künstlertheaters, stehen Adresse und Telefonnummer ganz oben.256 In seinem letzten Brief vor dem Telefonat, der verallgemeinernd „an die Regierung der UdSSR“257 adressiert ist, gibt er lediglich seine Anschrift an. Den meisten Forschern gilt dieser Brief vom 28. März 1930 als Grund für Stalins persönlichen Anruf am Nachmittag des 18. April 1930. Zur Beweisführung wird auf Übereinstimmungen bei den Themen des Briefes und des Telefonats verwiesen, so etwa auf die Bitte um eine Auslandsreise und um eine Anstellung in einem Theater. Nach Lev Barsky und Wilfred F. Schoeller258 wurde die Entscheidung Stalins vom Selbstmord Vladimir Majakovskis beeinflusst:259 Vier Tage zuvor hatte sich Wladimir Majakowski, enttäuscht und deprimiert über den Verlauf der Politik und sein eigenes künstlerisches Schicksal, das Leben genommen. Den Eindruck, der sich in der Öffentlichkeit über das Ende des einst hochgemuten Sängers der Revolution ergeben hatte, galt es zu konterkarieren.260

Lev Barsky bearbeitet diese historische Tatsache in fiktionaler Form261: MB: Hallo Ljusja! Anscheinend hat Stalin beschlossen, meinen Selbstmord zu verhindern. Denn, wissen Sie, zwei Selbstmorde von Schriftstellern hintereinander werfen ein schlechtes Licht auf das intellektuelle Leben des Landes. Stalin ist ein weiser Mann und er macht seine Sache richtig.262

Wenn auch die Meldung aus dem Kreml sehr überraschend kam, so sollte Bulgakov doch zu dieser Zeit mit einer Antwort auf seine Briefe gerechnet haben; dennoch wurde seine erste Reaktion im Telefongespräch mit Stalin 255 256 257 258

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260 261

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Zit. nach Bulgakov, Sobranie sočinenij Bd. 10, 204. Ebd., 235. Ebd., 253. Vgl. Lev Barskij, Kabala diktatury proletraiata, ili Žizn’ tovarišča Michaila Bulgakova, www.newcanada.com/112/lit_barsky.html und W. Schoeller, Bulgakow. Bilder und Dokumente, Berlin 1996, 103-105. Mehr zu Thema Selbstmord in der Stalin-Ära in Sheila Fitzpatricks Monographie Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York 1999. Schoeller, Bulgakow, 105. „Kabala diktatury proletariata“ wurde als „Ein Stück in zwei Akten und acht Träumen“ definiert und könnte damit als ein direktes Zitat zu Bulgakovs Beg und dessen Untertitel „Acht Träume“ betrachtet werden. Zit. nach url: http://www.newcanada.com/112/lit_barsky.html.

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von früheren Erfahrungen mit Telefonscherzen, bei denen sich jemand als Generalsekretär ausgab, beeinflusst. Ich nehme den Hörer ab und höre eine Männerstimme: „Genosse Bulgakov?“ – „Bulgakov“, sage ich, „was wünschen Sie?“ – „Wir wollen Sie als ersten erfreuen und beglückwünschen. In Ihrer Straße beginnt ein großes Fest. Wir wissen es aus zuverlässigsten Quellen. Genosse Stalin schreibt einen großen Artikel über den sowjetischen Liberalismus. [...] Eine Gesamtausgabe Ihrer Werke ist in Planung!“ [...] „Und mit wem spreche ich gerade?“, fragte ich. Und nun erscholl aus dem Hörer Gelächter, aus vier Hälsen gleichzeitig. „Michail Afanas’evič, heute ist doch der 1. April! Haben Sie das etwa vergessen? “263 Ljuba: Nein, Oleša hat mit Stalins Stimme vor einer Woche angerufen, noch vor Majakovskijs Tod. Unwahrscheinlich, dass jemand einen Tag nach der Beerdigung solche Späße macht.264

Deswegen rief Bulgakov nach dem Ende des Gesprächs in Stalins Sekretariat an, um die Echtheit des gerade geführten Gesprächs zu überprüfen.265 Das Telefonat vom 18. April 1939 begann mit einem Anruf vom ZK, den zunächst Ljubov Belozerskaja entgegennahm und dann ihrem Ehemann übergab. Den Erinnerungen von Charles Bowlen u. a. zufolge legte Bulgakov den Hörer wieder auf, kurz darauf aber meldete sich die gleiche Stimme erneut: „Ich spreche ganz ernsthaft. Hier ist tatsächlich Genosse Stalin.“266 So wurde der lang erhoffte Kontakt mit der einzigen Person, die die Macht hatte, in das tragische Schicksal des Schriftstellers einzugreifen, zuerst von ihm selbst unterbrochen. Das Gespräch ist kurz und durchgängig unter der Kontrolle Stalins, der Fragen stellt und die Antworten doch bereits kennt. Die Macht verpflichtet auf Gehorsam, wodurch ein Schuldverhältnis entsteht; die Fragen klingen rhetorisch und greifen das Opfer gleichzeitig an. Das mündliche Gespräch setzt eine bereits brieflich begonnene Kommunikation fort: – Michail Afanas’evič Bulgakov? – Ja, ja. – Nun wird Genosse Stalin mit Ihnen sprechen. – Was? Stalin? Stalin? Und nun hörte ich eine Stimme mit deutlichem georgischem Anschlag: – Ja, Stalin am Apparat. Guten Tag, Genosse Bulgakov (oder Michail Afanas’evič – kann mich nicht mehr genau erinnern.) – Guten Tag, Iosif Vissarionovič. – Wir haben Ihren Brief erhalten. Und wir haben ihn zusammen mit den Genossen gelesen. Sie werden darauf eine wohlwollende Antwort erhalten... Vielleicht sollten 263 264 265 266

Sokolov, Bulgakov, enciklopedija, 748. url: http://www.newcanada.com/112/lit_barsky.html. Bulgakov, Sobranie sočinenij Bd. 10, 263. Sokolov, Bulgakov, enciklopedija, 477.

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wir Sie ja wirklich ins Ausland lassen? Haben Sie etwa genug von uns? M.A. sagte, dass er mit dieser Frage überhaupt nicht gerechnet hatte (auch der Anruf selbst kam ziemlich unerwartet) – deswegen war er verwirrt und wusste nicht sofort, was er antworten sollte: – Ich habe in letzter Zeit sehr viel nachgedacht – kann ein russischer Schriftsteller außerhalb seiner Heimat leben? Ich glaube nicht. – Sie haben Recht. Ich denke genauso. Wo würden Sie gerne arbeiten? Wie wäre es mit Theater? – Ja, das würde ich gern. Ich habe das auch schon angesprochen, wurde aber abgelehnt. – Schreiben Sie doch noch mal eine Bewerbung. Ich glaube, man wird Sie nehmen. Wir sollten uns unbedingt treffen, um einige Sachen zu besprechen... – Aber ja! Iosif Vissaronovič, ich muss unbedingt mit Ihnen reden. – Ja, wir sollten uns eine passende Zeit dazu aussuchen und uns unbedingt treffen. Und jetzt wünsche ich Ihnen alles Gute.267

Diese Erinnerungen wurden fast 26 Jahren später schriftlicht fixiert, Abweichungen im Wortlaut können also nicht ausgeschlossen werden. Die Struktur des Gesprächs basiert auf drei Punkten: einer Auslandsreise, einer Anstellung im Theater und einem eventuellen persönlichen Treffen in der Zukunft. Die ersten beiden Punkte waren von Stalin schon vorher beschlossen worden,268 wohingegen seine Idee, „irgendwann Zeit zu finden, um uns zu treffen“ vermutlich eine spontane war. Diese letzte Replik wurde später von Bulgakov als eine Art Versprechen interpretiert. Das Telefonat hat Konsequenzen für das Leben und Schreiben des Schriftstellers: Die Macht durchdringt seine Kunst. Er bekommt eine Stelle als Regisseur im MChAT, viel wichtiger aber sind die Hoffnungen, die dieses Gespräch in ihm weckt. Seine Witwe Elena Bulgakova wendet sich 15 Jahre später an Stalin: „Im März 1930 schrieb Michail Bulgakov einen Brief an die Regierung der UdSSR über seine beschwerliche Lage als Schriftsteller. Sie haben auf diesen Brief mit Ihrem Anruf geantwortet und verlängerten damit das Leben Bulgakovs um 10 Jahre.“269 Obwohl kein weiterer direkter Dialog zwischen den beiden stattfindet, setzt sich die Kommunikation zwischen ihnen auf einer anderen Ebene fort – einerseits durch die Briefe, die Bulgakov weiterhin an Stalin schreibt, andererseits durch die Handlungen und Befehle Stalins, die Bulgakovs Leben betreffen. In seinen Briefen, die oft Bitten enthalten, beruft sich Bulgakov immer wieder auf das Gespräch, z. B. schreibt er am 30. Mai 1931: „Unser Telefonat im April 1930 hat einen bleibenden Eindruck in meinem Gedächt267 268

269

Zit. nach den Memoiren Е. Bulgakovas vom 4. Jan. 1956; Sokolov, Bulgakov, enciklopedija, 476. Vgl. die Begutachtung von G.G. Jagoda, 12. April 1930: „Man sollte ihm die Möglichkeit geben, dort zu arbeiten, wo er möchte“, Sokolov, Bulgakov, enciklopedija, 478. Bulgakov, Sobranie sočinenij, Bd. 10, 607, der Brief ist vom 7. Juli 1946.

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nis hinterlassen.“270 Das Telefonat bindet Bulgakov bis zu seinem Tod an Stalin bzw. an die Macht: Ein Dialog, der nicht besser erfunden sein könnte als Persiflage auf die Spielbedürfnisse eines Diktators, als Parodie eines Gesprächs zwischen Sonnenkönig und Narr. Bulgakow hat an das Unterredungsbedürfnis Stalins ernsthaft geglaubt, kam mehrfach darauf zurück, erinnerte ihn indirekt an das Versprechen, vergeblich. Eine persönliche Antwort Stalins ist nie mehr erfolgt, ein Dialog zwischen dem roten Zaren und dem Schriftstellerkönig fand nicht statt.271

Erst nach dem Tod des Künstlers tätigt Stalin einen Anruf, um den Fall abzuschließen: Am nächsten Morgen, vielleicht aber auch noch am selben Tag, die Zeit ist in meiner Erinnerung verschoben, doch ich glaube, es war erst am nächsten Morgen – klingelte das Telefon. Ich ging heran. Der Anruf kam aus Stalins Sekretariat. Eine Stimme fragte: – Ist es wahr, dass Genosse Bulgakov gestorben ist? – Ja, er ist tot. Mein Gesprächspartner hing den Hörer ein.272

Gerüchte um das Telefonat kursieren schnell in den intellektuellen Kreisen Moskaus. Sheila Fitzpatrick betrachtet diese Situation als einen Modellfall für Stalins Kommunikation, deren Hauptcharakteristika die Übermittlung von Signalen und die Kontrolle ihrer Effekte sind: Some of Stalin’s cultural signals were even more minimalist, involving telephone calls to writers or other cultural figures whose content was then instantly broadcast on the Moscow and Leningrad intelligentsia grapevine. A case in point was his unexpected telephone call to Bulgakov in 1930 in response to Bulgakov’s letter complaining of mistreatment by theatre and censorship officials. The overt message of the call was one of encouragement to Bulgakov. By extension, the „signal“ to the nonCommunist intelligentsia was that it was not Stalin who harassed them but only lower-level officials and militants who did not understand Stalin’s policy. This case is particularly interesting because the security police (GPU, at this date) monitored the effectiveness of the signal. In his report on the impact of Stalin’s call, a GPU agent noted that the literary and artistic intelligentsia had been enormously impressed. „It’s as if a dam had burst and everyone around sew the true face of comrade Stalin.“ People speak of Stalin’s simplicity and accessibility. They „talk of him warmly and with love, retelling in various versions the legendary history with Bulgakov’s letter.“ They say that Stalin is not to blame for the bad things that happen: He follows the right line, but around him are scoundrels. These scoundrels persecuted Bulgakov, one of the most talented Soviet writers. Various literary rascals were making a career out of persecution of Bulgakov, and now Stalin has given them a slap in the face.273 270 271 272 273

Ebd., 277. Schoeller, Bulgakow, 104. Aus der Erinnerungen von Bulgakovs Freund Sergej Ermolinskij: Boris Sokolov, url: http://bulgakov.ru/s/stalin/7/. Sheila Fitzpatrick, Everyday Stalinism, 28.

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Fall 2: Pasternak Die Ereignisse von Stalins Telefonat mit Pasternak lassen sich folgendermaßen rekonstruieren: In der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1934, etwa um ein Uhr, klopfte ein Verhaftungskommando – bestehend aus drei OGPUAgenten – an Mandel’štams Tür. Er wurde im sogenannten „Inneren Gefängnis“ im Hof der Lubljanka wegen eines Anti-Stalin-Gedichts inhaftiert.274 Am 26. Mai 1934 wurde das Urteil verkündet: Drei Jahre Verbannung nach Tscherdyn im Perm-Gebiet. Die Ehefrau Nadežda Mandel’štam sandte mit Hilfe von Anna Achmatova und Boris Pasternak Telegramme an diverse staatliche Institutionen. Eines dieser Telegramme erreichte Bucharin, der einen Brief an Stalin schrieb und dadurch neuerlich dessen Interesse am Mandel’štam-Prozess weckte. Weil in diesem Brief nicht nur Pasternaks Name erwähnt wurde, sondern auch, dass dieser wegen Mandel’štams Arrest völlig außer sich sei, entschied sich Stalin, ihn am 13. Juni 1934 in seiner Kommunalwohnung anzurufen. Am nächsten Tag erreichte ein offizielles Telegramm Tscherdyn: Mandel’štam könne bis auf die zwölf größten Städte der Sowjetunion seinen Verbannungsort selbst bestimmen – die Familie wählte Woronež. Was genau geschah und welche Repliken ausgetauscht wurden, ist schwierig zu rekonstruieren. Zwölf bekannte Zeitzeugenberichte wurden von Benedikt Sarnov untersucht.275 Unterschiedlich wiedergegeben wurden sowohl inhaltliche Details als auch die Umstände des Telefonats, etwa ob es Zeugen des Gesprächs gab: waren da nur Pasternaks Frau oder auch Vil’mont, vielleicht sogar viele andere Gäste? Auch der Beginn des Gesprächs ist ungeklärt: Unterbrach Pasternak zunächst die Verbindung, weil er nicht glauben konnte, dass Stalin ihn anrief (ähnlich wie bei Bulgakov)? Bekam er dann eine Nummer für eine Rückverbindung und kam erst dann das Gespräch zustande oder begann es sofort; wie kommunizierten die beiden? Duzte Stalin den Poeten? Inhaltlich begann Stalin das Gespräch mit den Worten, dass nach einer Wiederaufnahme des Verfahrens von Mandel’štam alles in Ordnung komme. Daraufhin erkundigte er sich, weshalb Pasternak für seinen Freund nicht bei der Schriftstellerorganisation oder sogar bei ihm vorstellig geworden sei. Pasternak antwortete, dass sich die Schriftstellerorganisation seit 1927 nicht mehr mit solchen Problemen beschäftige. Da Stalin keine genaueren Informationen über die Beziehung zwischen den beiden Künstlern bekam, formulierte er seine Frage neu: „Er ist doch ein Meister, nicht wahr?“ Pasternak fühlte sich provoziert und erwiderte: 274 275

Ralph Dutli, Meine Zeit, mein Tier, Zürich 2003, 420. Benedikt Sarnov, Delo obernulos’ ne po trafaretu, in: LEChAIM, März 2004, (www.lechaim.ru). Analysiert werden dort die Versionen von Poskrebyšev, Galina fon Mekk, Sergej Bobrov, Marija Bogoslovskaja, Viktor Šklovskij, Nikolaj Vil’jamVilmont, Zinaida Pasternak, Anna Achmatova, Nadežda Mandel’štam, Isajja Berlin, Olga Ivanskaja und Vladimir Solov’ev.

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– Das bedeutet gar nichts. Warum reden wir dauernd nur über Mandel’štam, ich wollte schon seit sehr langer Zeit mit Ihnen sprechen. – Worüber? – Über Leben und Tod.276

Die Geschichte endete damit, dass Stalin den Hörer aufhängte. Die Sequenz bereits systematisierter Bausteine des Mythos ist auch im Falle Pasternak gegeben: Stalin initiiert das Gespräch; Pasternak ist überrascht und unvorbereitet; Stalin als Retter; intimer Kontakt zwischen Machthaber und Künstler, Mystik – Thematisierung von Leben und Tod; das abrupte Ende des Telefonats durch Stalin. Die zwei untersuchten Telefonate sowie zahlreiche Anekdoten prägen einen Mythos mit tiefen Spuren in der russischen Kultur.

3.2.7. Die Telefonistin in der Sowjetunion Неожиданный и смелый Женский голос в телефоне... Сколько сладостных гармоний В этом голосе без тела!277

Unerwartete und tapfere Frauenstimme am Telefon... So viel süße Harmonie In dieser Stimme ohne Körper!

Marcel Proust nannte sie „Dienerinnen des Mysteriums“278, Vysockij – Madonna279, Dziga Vertov zeigte sie in Der Mann mit der Kamera: Die Telefonistin – eine besondere Symbiose zwischen Frau und Telefon – ist kein russisches Phänomen, da „die Vertreterinnen dieses Berufes fast überall als etwas Besonderes galten“.280 Klischeehafte und symbolische Vorstellungen und Projektionen provozieren die Fantasie der Künstler und inspirieren sie. Für viele steht die Telefonistin in der gleichen semantischen Reihe wie der Briefträger als Liebhaber. Das Übermitteln einer Botschaft und die Herstellung von Kommunikation werden erotisch besetzt. Zunächst stellten in der Telegrafenabteilung beschäftigte Männer die Telefonverbindungen her. Bald jedoch glaubte man, dass Frauen für diese Arbeit besser geeignet seien. Die Kriterien für ihre Rekrutierung wurden mit der Zeit systematisiert und präzisiert, so war es z. B. in Deutschland vor dem Ersten Weltkrig obligatorisch, dass die Kandidatinnen für das Amt der Tele276 277 278 279 280

Anna Achmatova, Listki iz dnevnika. Zit. nach Sarnov. Nikolaj Gumilev, Telefon, in: Klub razbitych seredec. Poetičeskie sborniki, o.J. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Bd. 5, Frankfurt/M. 1984, 1422. Vladimir Vysockij, Nul’ sem’, url: http://www.kulichki.com/vv/pesni/dlya-menya-eta-noch.html. Helmut Gold, Fräulein vom Amt – Eine Einführung zum Thema, in: Helmut Gold/ Annette Koch (Hg.), Fräulein vom Amt, München 1993, 10.

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fonistin zwischen 18 und 30 Jahre alt, schuldenfrei und ohne Vorstrafen, ledig oder kinderlos verwitwet und mindestens 156 cm groß zu sein hatten. Frauen galten im Vergleich zu jungen Männern als disziplinierter, geduldiger und höflicher. Wichtig war außerdem die Tatsache, dass die hohe Stimmlage der Frauen besser zu verstehen war. Relevant war nicht zuletzt auch der wirtschaftliche Faktor: Frauen waren billigere Arbeitskräfte als Männer.281 Die Forderung, unverheiratete Frauen anzustellen, existierte auch in Russland. Der Grund: „Damit überflüssige Gedanken und Sorgen nicht zu überflüssigen Verbindungsfehlern führen“, deswegen sollten sie auch nach der Heirat ihre Stelle aufgeben. Die Arbeit war hart – physisch wie psychisch. Weil es in den Telefonzentralen am Ende des 19. Jahrhunderts sehr laut war, wurden die Telefonistinnen nervös und machten Verbindungsfehler, was oftmals zu Ausfällen der Abonnenten gegenüber den Telefonistinnen führte. Zwei Telefonistinnen teilten sich eine Vermittlungsstelle. Um die Vermittlung herzustellen, mussten sie sich gegenseitig überschreien. Diese harte Arbeit konnte selten dauerhaft ausgeübt werden – Nervenzusammenbrüche, Übermüdungserscheinungen und Stress waren an der Tagesordnung in den Zentralen.282 Doch bot der Beruf der Telefonistin auch eine Chance zur finanziellen Unabhängigkeit der Frau: The use of women operators in manual exchanges significantly increases economic opportunities for women. At the turn of the century, if a young unmarried rural woman moved to the city, as millions did, her options were limited. Prevailing moral concepts made a sharp division between jobs in which she could retain her self-respect and those that forced her to work at a less desirable level. If she were educated she could be a teacher or nurse. If she had no special skills there were few options other than demeaning ones by the standard of the day, such as domestic service, waiting on table, or factory work. The opening up of jobs at telephone switchboards solved the problem for many young women. It was „one of the few trades in which woman workers are constantly… on demand.“ It was work in an all female environment with no requirement to deal face-to-face with strange man.283

Im Jahr 1904 führte die Schwedisch-dänisch-russische Telefongesellschaft zahlreiche technische Verbesserungen ein, jedoch auch stärkere Disziplinanforderungen für die Telefonistinnen. Auch weiterhin durften sie nicht heiraten, lediglich ein Ruhetag im Monat war als Ausgleich für die enorme alltägliche Belastung vorgesehen. In den Vorschriften für die Bedienung der Kunden wurden außerdem alle technischen Aktionen, auch die Kommunikationsregeln, aufgelistet. So sollten sie stets freundlich und mit ausdrucksvoller Intonation sprechen. Im Jahre 1910 musste jede Telefonistin etwa 160-170 281 282 283

Giesecke, Die Technisierung der akustischen Medien der Fernkommunikation, url: http://peterpurg.kdpm.org/kultgesch/Tech_aku.htm. Golovin, Russkie izobretateli v telefonii, 17. Pool, Forecasting the Telephone, 132.

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Verbindungen pro Stunde herstellen,284 mit der Verbesserung der Technik 1923 stieg die Leistungsnorm auf 225 bis 300. Für die Auswahl der Telefonistinnen wurden mit der Zeit neue physische und psychische Kriterien angewendet, wie z. B. Farbtests, Tests für Gehör, Artikulation, Gedächtnis und schnelle, präzise Reaktionen.285 In Russland war zunächst die Anrede baryšnja (Fräulein) verbreitet, auch wegen des allgemein bekannten Fakts, dass in den Zentralen nur unverheiratete Mädchen arbeiteten. Ein typischer Anruf lautete z. B.: „Fräulein, verbinden Sie mich mit sechsundfünfzig!“ Mit der neuen Macht nach der Revolution wurden auch neue Kommunikationsetiketten eingeführt. Während anstelle von „Herr“ die Anreden „Genosse“ oder „Bürger“ durchgesetzt wurden, konnte für die Anrede der Telefonistin lange kein passender Ersatz gefunden werden. Drei Jahre nach der Revolution waren die Telefonistinnen nicht nur Arbeiterinnen in harter Schichtarbeit, sondern dazu noch Vertreterinnen der sowjetischen Macht: Doch am schlimmsten ist, dass nicht einmal die Vertreter der Sowjetmacht, also jene Arbeiter, die Telefonistin als Arbeiterin anerkennen wollten, sondern sie infolge eines Missverständnisses nach wie vor für ein „Fräulein“ hielten.286

Die sozialistische Administration versprach, die Arbeitsbedingungen aller Arbeiter zu verbessern. Einen Teil dieser Aktion stellte die Möglichkeit dar, die Arbeiter ihre Probleme in der Presse diskutieren zu lassen. In der Fachzeitschrift Die Proletarier der Kommunikationstechnik (Proletarij svjazi) wurde eine Seite speziell für Frauen eingerichtet. Auf dieser Die Seite für die Frau (Stranička ženščiny) beschrieben die Telefonistinnen ihren harten Alltag: Wohl einen der schwierigsten Produktionszweige stellt ohne Zweifel die Arbeit der Telefonistin dar. Diese Arbeit schwächt sowohl die Energie als auch die geistigen Fähigkeiten und erzeugt grundsätzlich einen psychischen Druck. Die Arbeit der Telefonistin ist an sich sehr eintönig und erfordert darüber hinaus permanente Aufmerksamkeit und Anstrengung der Augen, weil die Abonnentennummerierung sehr klein ist. Die ständige Kontrolle durch die s.g. „Oberen“ wirkt sich wiederum sehr nervenaufreibend auf die Arbeitnehmer aus.287

Nur vier Jahre später erschien in der gleichen Zeitschrift eine Reportage von konträrer Stimmung und Botschaft: An der Ecke der Miljutinskaja und Mjasnickaja Straßen steht die Kirche – wie ein kleiner roter Punkt, dahinter erhebt sich wie eine graue Wolke das achtstöckige Gebäude der Telefonzentrale. Und wenn man durch die Drehtür das Gebäude betritt, 284 285 286 287

Kozlovskaja, Muzeij istorii Moskovskoj gorodskoj telefonnoj seti. A. Tolčinskij, Psichotechničeskie ispytanija telefonistok, in: Žizn’ svjazi 6/1923, 9799. A. Sevost’jakova, Telefonistki, in: Proletarij svjazi 11-12/1920, 8-9. Vichert, Trud moskovskich telefonistok, 16.

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überschwemmt einen zusammen mit der Wärme der Zentralheizung die Atmosphäre der Arbeit. [...] „Sieg über Raum und Zeit“ – das ist die Formel, die auf den Wänden durchschimmert, in den Gängen glänzt und auf konzentrierten Gesichtern leuchtet. Ich betrete eine große Halle, wo die Telefonistinnen arbeiten. [...] Tatsächlich erinnert das alles an ein Zaubermärchen. [...] Wie soll man da eine Berufsbezeichnung finden? Vielleicht ProduktionsFunktionalistinnen? Wahrscheinlich finden sie in der Qualifizierung der Produktionszweige eine genaue Bezeichnung. Aber bis dahin nennt man sie in der Masse „Fräuleins“. Eine unpassende Bezeichnung, die das Ohr und das Herz verletzt, eine Bezeichnung, die weder der Arbeitszeit noch dem Arbeitsaufwand oder der großen gesellschaftlichen Bedeutung entspricht.288

Die veränderte Stimmung lässt sich auf die neue Technikeuphorie zurückführen, gleichzeitig wird ein klarer Schnitt zwischen der früheren und der gegenwärtigen Situation gezogen. Es werden Versuche gemacht, die Bedingungen in den Vermittlungszentralen zu verbessern, so wird 1926 in der Moskauer Telefonzentrale anlässlich des Frauentags am 8. März ein Zimmer zur Erholung eingerichtet. In diesem Zimmer gibt es keine Agitationsposter, sondern lediglich humoristische Zeitschriften und Zeitungen.289 Im Jahr 1929 werden Zirkel für Weiterbildung gegründet, in denen die Telefonistinnen „die Technik der Rede“ – korrektes Atmen, Rhythmus, Diktion, die Aussprache konkreter Buchstaben und Ziffern sowie ganzer Phrasen – lernen, um sich ihre Arbeit zu erleichtern und die Qualität der Bedienung zu verbessern.290 Parallel dazu werden Aufklärungskampagnen für die Kunden durchgeführt, z. B. wie man eine Nummer anfordern solle usw.291 Der plötzliche Wandel in der Darstellung der Arbeit der Telefonistinnen kann aber wohl auch als ein Resultat der Begrenzung der Pressefreiheit und der „Verstaatlichung“ der Presse betrachtet werden. Einen Hinweis auf die Pressefreiheit Anfang der 20er Jahre gibt der Ausschnitt Aus dem Notizbuch einer Telefonistin (Iz zapisnoj knižki telefonistki, 1920) aus Die Proletarier der Kommunikationstechnik, in dem die Autorin, die Telefonistin A. Slesareva, den Arbeitsalltag im Detail darstellt: Junge Frauen eilen, sie tragen ihren Enthusiasmus und ihren Eifer zur Arbeit. Sie eilen dorthin, wo vor den Telefonapparaten die besten Tage ihrer Jugend verstreichen, wo sie einen großen Teil ihrer Gesundheit lassen und wo sie einen unerlässlichen Teil der gemeinsamen Kollektivarbeit ableisten. Die Telefonzentrale bedeutet für sie alles: Sie versorgt sie mit Arbeit und mit Mitteln für die Existenz. Der Erfolg der Zentrale ist ihr eigener Erfolg.

288 289 290 291

O-v. „Baryšni“, in: Proletarij svjazi 3/1924, 152. M. Konoplev, Komnata otdycha na central’noj telefonnoj stancii v Moskve, in: Žizn’ i technika svjazi 5/1926, 62-63, hier 63. K-v. Obučenie techniki reči telefonistok, in: Žizn’ i technika svjazi 8-9/1929. Večernaja Moskva 12.03.1932.

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Ihre Anrufe beginnen gleichzeitig in Dissonanz zu den Fabrikpfeifen, wenn gut die Hälfte aller Abonnenten vielstimmig beginnt, die Telefonzentrale zu verlangen. Ihr Kopf wird von der Stahlfeder des Mikrophons eng umspannt, das den Lärm, die Störungssignale und die verschiedenen Stimmen in den Gehörgang leitet und schmerzhaft kitzelt die Ohren der Schrei eines vielleicht sogar erbosten Abonnenten, der Forderungen stellt, manchmal ohne die Nummer zu kennen oder genau zu wissen, was er eigentlich will. Die Pflicht der Telefonistin besteht darin, die angeforderte Nummer zu finden und anzurufen, ohne sich darum zu kümmern, welche Nummer zu wem gehört. Manchmal ergibt sich folgendes Bild: Zuerst wird das Ventil geöffnet (die Nummer des Abonnenten). Die Telefonistin dreht den Schlüssel um und sagt „Zentrale“ und ihre Nummer. „Fräulein, verbinden Sie mich mit 3-73“. „3-73“? – wiederholt die Telefonistin. „Ja, ja, ja“, und dann manchmal Schweigen, als ob der Abonnent mit irgendetwas anderem beschäftigt sei und keine Zeit habe zuzuhören, mit seiner Nachlässigkeit verzögert er die Arbeit der Telefonzentrale. Nun ist er mit der Nummer verbunden. Doch plötzlich... Wieder ein Anruf. „Fräulein! Sie haben mir eine falsche Nummer gegeben. Ich brauche GUBLESKOM und Sie haben mich mit GUBTRAMOT verbunden.“ „Verzeihung“, sagt die Telefonistin, „ich wusste nicht, was Sie brauchen. Sie haben 3-73 verlangt und sind korrekt verbunden worden. Sie haben gar nicht gesagt, dass Sie GUBLESKOM brauchen. Sie haben um eine bestimmte Nummer gebeten und die haben Sie bekommen.“ Die Telefonistin erklärt höflich, dass die Nummer von GUBLESKOM 5-91 lautet und das 373 die Nummer von GUBTRAMOT ist, auf diese Weise wird die Frage geregelt: „Ach, liebes Fräulein, ich bitte um Entschuldigung! Tausend Dank für meine Unwissenheit und die Hilfe der Telefonzentrale.“ So läuft es nur im besten Fall ab, und zwar dann, wenn der Abonnent sich darüber im Klaren ist, dass er wirklich nicht wusste, was er will.292 „Zentrale!“, sagt die Telefonistin wie immer. „Sehr gut. Du dumme Nuss warst wohl noch nicht beim ČK“, kommt die Antwort. „Du sollst wissen, dass ich ca. drei Dutzend von euch Saboteuren zum ČK bringe, sonst will ich nicht ... heißen.“ (Uns alle also, denn wir sind insgesamt nur 30). „Dann kriegt ihr schon zu spüren, was ČK und Sowjetmacht bedeuten!“ Mit Blitz und Donner raunt das Wort Čeka im Gehirn der verwirrten Telefonistin. Sie weiß nur allzu gut, was Čeka bedeutet, es gab schon einen Verhaftungsfall in Folge eines Missverständnisses wegen kaputter Leitungen; während der Ermittlungen wurde der Verhaftungsfehler zwar nachgewiesen, doch der Eindruck ist gewaltig und die Telefonistin ist verwirrt, sie ist nervös, sie weint und stellt Fragen: „Was macht man jetzt mit mir? Werde ich verhaftet? Wird man mich im schwarzen Wagen abführen? Gibt es ein Gerichtsverfahren?“ Und sie ist knapp davor, sich auf ihren Tod vorzubereiten. „Aber beruhigen Sie sich doch“, tröstet sie eine ältere Kollegin. „Was ist denn passiert? Alles wird sich klären, wir werden alles überprüfen und die Nummer auch. Haben Sie keine Angst.“ Und bei der Prüfung ergibt sich, dass die Leitungen kaputt waren..!293

Bevor automatische Betriebssysteme die Arbeit der Telefonistinnen übernahmen, stand die Frau im Zentrum des Kommunikationsprozesses, deren 292 293

A. Slesareva, Kusoček žizni. Iz zapisnoj knižki telefonistki, in: Proletarij svjazi 34/1920, 11-13, hier 12. Ebd.

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körperlose Stimme die Fantasie mehr oder weniger begabter Dichter anregte. So wurde die Telefonkommunikation bereits in den 20er Jahren mit Erotik verbunden: 5-03-45!.. 2.07 двадцать три!.. 3-02. тридцать шесть!.. – 50 двадцать пять!.. – Позвонила ли ты?.. Поскорее!.. Смотри: Два-один 35!.. и опять:

5-03-45!.. 2.07 dreiundzwanzig!.. 3-02. sechsunddreißig!.. – 50 fünfundzwanzig!.. – Hast Du angerufen?.. Schneller!.. Sieh: Zwei-Eins 35!.. und wieder:

Один... Ноль!.. 45!..-3-03 двадцать семь!.. 5-02 сорок три!.. Коммутатор восьмой!.. “Позвонила” – скажи поскорее всем, всем... Неустанный прибой и отбой!..

Eins... Null!.. 45!.. -3-03 siebenundzwanzig!.. 5-02 dreiundvierzig!.. Kommutator acht!.. „Angerufen“ – sag’s schnell allen, allen... Unermüdliche Ebbe und Aus!..

Неумолчный прибой, неустанный отбой, Непрерывная цепь голосов... голосов!.. Ах, когда ж здесь на миг, на минуту покой В продолженьи рабочих часов?..

Unstillbare Ebbe, unerschöpfliche Flut, Ununterbrochene Stimmenkette... Stimmen!.. Ach, wann gibt es denn hier nur einen Augenblick Ruhe Während der langen Arbeitsstunden?..

Пред тобой аппарат, аппарат ты сама, – И течет твоя жизнь в море цифр, голосов... 3-07-25–2-06-42! Не дождаться конечных часов!..294

Vor dir der Apparat, der Apparat bist Du selbst, – Und dein Leben verfliegt in einem Meer aus Ziffern und Stimmen... 3-07-25-2-06-42! Wann schlägt die letzte Stunde!

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M. Ljapičev, Telefonistka, in: Svjaz’ 9/1925, 24.

4. Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon 4.1. Klangvolle Unruhe – Das Telefon bei Majakovskij Abb. 12: Vladimir Majakovkij am Telefon295

4.1.1. Darüber – Ein telefonisches Duell Majakovskijs Poem Darüber (Pro ėto, 1923) ist zweifellos eines der bekanntesten Beispiele der Darstellung des Telefons im Kontext der russischen Avantgarde und vielleicht auch in der russischen und sowjetischen Literatur. Das Telefon als Spannungsinstrument im Text oder als Symbol der Bürokratie findet sich bei Majakovskij auch in Gedichten wie Roter Neid (Krasnaja zavist’, 1925), Der fliegende Proletarier (Letajuščij proletarij, 1925), Spa295

Majakovskij am Telefon, Foto in der Komsomolskaja pravda 48/1928, 25. Februar, hier aus: Vladimir Majakovski, Polnoe sobranie sočinenij v trinadcati tomach, Bd. 9, Moskau 1955-1959.

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Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

nien (Ispanija, 1925), Televox? Was ist das? (Televoksy? Čto takoe?, 1928) sowie in einigen seiner Theaterstücke und Kinodrehbücher – Wie geht es Ihnen? (Kak poživaete?,1926), Der Elefant und das Streichhölzchen (Slon i spička, 1926), Genosse Kopytko oder Nieder mit dem Speck! (Tovarišč Kopytko ili Doloj žir!, 1928) und Das Schwitzbad (Banja, 1930). Ähnlich wie das Radio, „das in die Mythen vom Roten Oktober als ein unmittelbar mit der Idee des Bolschewismus verbundenes Medium eingeht“296, bewegt sich das literarische Telefonat im Raum zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Der Hauptunterschied zwischen Radio und Telefon liegt in der Intimität der Kommunikation – das Radio ist bestimmt für die Öffentlichkeit, das Telefon für einen einzigen, konkreten Gesprächspartner. Das Telefonat stellt also eine Situation dar, die aus der revolutionären Thematik und dem revolutionären Pathos ausgeschlossen wird. Deswegen lassen sich die „Telefon“Texte Majakovskijs Mitte der 20er Jahre eher in einen Zusammenhang mit Liebesgefühl bringen, welches aus der Spannung zwischen der Stille der Schrift und der Unruhe lebendiger mündlicher Rede entwickelt wird. Ende der 20er Jahre löst Majakovskij diese Spannung, als er das Telefon direkt auf der Bühne oder auf der Leinwand klingeln lässt und damit die Vermittlerrolle der Schrift in seinen Gedichten überwindet. Doch nicht nur auf medialer Ebene, auch inhaltlich-thematisch ändern sich das literarische Telefon sowie die Telefonate selbst; von einem Medium der Liebe entwickelt es sich zu einem Symbol der Bürokratie und des sozialen Prestiges. Dabei transformiert Majakovskij die poetologische in eine inhaltliche Spannung. Zu Beginn der avantgardistisch-futuristischen Kunstbewegung ist das Telefon verknüpft mit der Begeisterung für die Maschine. Für Majakovskij ist es ein Teil des Diskurses der technischen Revolution und der Urbanisierung der neuen Welt – einer Welt, die bisher unbekannt war: Die futuristische Dichtung – das ist Stadtdichtung, Dichtung einer modernen Stadt. Die Stadt bereicherte unsere Erlebnisse und Eindrücke mit neuen städtischen Elementen, welche den Dichtern der Vergangenheit nicht bekannt waren. Die gesamte moderne Kulturwelt verwandelt sich in eine gigantische Stadt. Die Stadt selbst wird zu einer Naturgewalt und in ihrem Inneren wird der neue städtische Mensch geboren. Telefone, Flugzeuge, Expresszüge, Aufzüge, Rotationsmaschinen, Bürgersteige, Fabrikschornsteine, riesige steinerne Bauten, Ruß und Rauch – das sind die Elemente der Schönheit in der neuen städtischen Natur.297

Die technische Euphorie und die „neue städtische Natur“ – die Metropolen Moskau und Petersburg – erschaffen den Hintergrund für die dynamische Handlung und den Trancezustand des lyrischen Ichs von Darüber. 296 297

Mehr dazu in Murašov, Das elektrifizierte Wort, 81-112. Zit. nach N.I. Chadžiev, Stat’i ob avangarde v dvuch toma Bd. 2, Moskau 1997, 13. Rede am 24.01.1914 in Nikolaev, die Trudovaja gazeta berichtet darüber am 26.01.1914.

Klangvolle Unruhe – Das Telefon bei Majakovskij

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Ende 1922 war es zwischen Majakovski und seiner Geliebten Lilja Brik zu einem Zerwürfnis gekommen, im Rahmen dessen beide beschlossen, sich für zwei Monate zu trennen. Majakovskij zog sich in sein Zimmer in der Lubljanskij-Gasse zurück.298 Dort verbrachte er Weihnachten allein. In Liljas Wohnung stapelten sich Majakovskijs Notizen, Briefe und Gedichte, die durch die Hausgehilfin Anuška übergeben wurden. „Dumm, es zu schreiben, aber vorläufig können wir nicht miteinander sprechen“, schrieb Lilja im Frühjahr 1923 an Majakovskij.299 Am 28. Februar 1923 lief die Frist der Isolation und des Schweigens ab und die beiden trafen sich im Zug nach Petrograd, wo Majakovskij zum ersten Mal sein neues Poem Darüber vorlas. Gerade die Unmöglichkeit, miteinander zu reden, wird im ersten Kapitel des Poems reflektiert, in der Ballade vom Zuchthaus zu Reading300 (Redingskoj tjur’my), benannt nach einem Text von Oscar Wilde, den dieser 1898 im Zuchthaus von Reading schrieb. Es ist naheliegend, anhand dieser intertextuellen Parallele das Zimmer des Dichters, in dem er das Gedicht schrieb, als Gefängnis zu erkennen. Schon in der Überschrift nimmt somit die Motivlinie des geschlossenen Raums, der Isolation und der Einsamkeit ihren Anfang. Auch betont der Untertitel des ersten Abschnitts Über die Ballade und über die Balladen noch einmal die ausgewählte Gattung: das Werk wird auf Basis einer Erzählung ungewöhnlicher Ereignisse entwickelt, bei denen die realistischen Komponenten mit romantisch-fantastischen Elementen verbunden werden. Wichtig in diesem Falle sind aber nicht nur die traumhaften Ereignisse, sondern auch der Verweis auf die orale Tradition durch die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs „Ballade“. Die Trennung der Worte vom Körper des Balladen-Dichters ist schmerzhaft, doch dieses Opfer ist im Namen der Lyrik notwendig. Bereits in der Einführung thematisiert Majakovskij die Verhältnisse von Körper und Schmerz, Schmerz und Rede, Dichter und Rede, Dichter und Schmerz: Немолод очень лад баллад, но если слова болят и слова говорят про то, что болят, молодеет и лад баллад.301

298 299 300 301 302

Die Gattung der Balladen ist uralt, doch wenn Worte schmerzen und die Worte darüber reden, daß sie schmerzen, verjüngt sich auch die Gattung der Balladen.302

Senta Everts-Grigat, V.V. Majakovskij: Pro ėto. Übersetzung und Interpretation, München 1975, 17. Brik, Schreib Verse für mich, 158. Everts-Grigat, V.V. Majakovskij: Pro ėto. Vladimir Majakovskij, Pro ėto, hier zitiert nach: V.V. Majakovskij, Izbrannye sočinenija, Moskau 1949, 349-366. Everts-Grigat, V.V. Majakovskij: Pro ėto, 26.

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Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

Eine zentrifugale Bewegung des Texts geht von dem Zimmer des lyrischen „Majakovskij“ aus: Das Zentrum des poetischen Weltalls ist der Tisch mit dem Telefon. Von diesem Punkt aus entfalten sich nach einem erfolglosen Telefonat die dramatischen Visionen des erzählenden Ichs. Durch riesige, fast halluzinatorische Sprünge durch Zeit und Raum versucht er den Schmerz an der unmöglichen Kommunikation und dem unkontrollierbaren Rausch der Liebesekstase zu überwinden. Лубянский проезд. Водопьяный. Вид вот. Вот фон. В постели она. Она лежит. Он. На столе телефон. „Он“ и „она“ баллада моя. Не страшно нов я. Страшно то, что „он“ – это я и то, что „она“ – моя. При чем тюрьма? Рождество. Кутерьма. Без решеток окошки домика! Это вас не касается. Говорю – тюрьма. Стол. На столе соломинка.

Lubjanskij-Gasse. Vodop’janyj. Das ist die Ansicht. Der Hintergrund ist das. Im Bett ist sie. Sie liegt. Er. Auf dem Tisch das Telephon. „Er“ und „sie“ sind meine Ballade. Nicht schrecklich neu bin ich. Schrecklich ist das, daß „er“ – ich bin, und das, daß „sie“ – die Meine ist. Was hat das mit einem Zuchthaus zu tun? Weihnachten. Wirrwarr. Gitterlos sind die Fenster des Häuschens! Das geht euch nichts an. Ich sage – ein Zuchthaus. Der Tisch. Auf dem Tisch der Strohhalm.

Das Gefängnis-Zimmer isoliert das Ich von der Außenwelt, und kann somit auch als eine Art Körpergefängnis betrachtet werden – der Körper sperrt Geist und Worte des Dichters ein. Mit der Wahl der Telefonnummer wird eine Verbindung durch das Kabel hergestellt und damit der Übergang in eine traumhaft-virtuelle Welt: Nur das Telefon hat die magische Kraft, den Erzähler aus seinem „Gefängnis“ und die Worte aus dem Körper zu befreien, ruft aber zugleich eine Spannung hervor – eine elektrische Spannung, die sowohl auf inhaltlicher als auch auf struktureller und poetischer Ebene des Textes übermittelt wird:

Klangvolle Unruhe – Das Telefon bei Majakovskij Тронул еле – волдырь на теле. Трубку из рук вон. Из фабричной марки – Две стрелки яркие омолниили телефон.

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Ich habe kaum berührt – schon ist eine Blase am Körper. Den Hörer weg aus den Händen. Aus der Fabrikmarke heraus – Zwei grelle Pfeile Haben das Telephon umblitzt.

Die beiden Pfeile auf dem Emblem des Apparats treffen den Hörer wie ein Blitz, der einerseits das Ohr mit dem Mund verbindet und andererseits das Auge aus dem Kommunikationsprozess ausschließt. Die Fusion des Körpers mit dem Telefonapparat ist schmerzhaft. Voller Anspannung muss versucht werden, dem Signal zu folgen, das aus dem Hörer dringt, wobei der Geist gleichzeitig darum ringt, sich aus dem Körper zu befreien. 303 Über den Hörer treten die Geräusche einer Kommunalka und fremde Stimmen, die das Gerücht von der Krankheit der Geliebten übermitteln, in den lyrischen Raum ein. Die psychische Spannung, die dieses Gerücht auslöst, transformiert sich in eine physische, genauer gesagt in elektrische – „eine Million Spannungsvolt“304 fließen während seines Kontakts mit dem Medium durch den Körper des Erzählers. Er wird ein Teil des elektrischen Netzes: „Stieß mich mit der Lippe in die Telephonglut.“305 Die Lippen erscheinen als ein Übergang nicht nur zwischen Körper und Stimme, sondern auch zwischen dem Erzähler und der Welt der Technik. Der Leser verfolgt die Übermittlung der Nummer – die elektrischen Impulse, also eine Botschaft für das Fräulein in der Vermittlungszentrale, werden wie eine Kugel abgeschossen. Diese virtuelle Kugel verwandelt sich nicht in einen Ton, sondern in Licht (die optische Anrufanzeige), welches das Auge der Telefonistin registriert; die mediale Konversion entschärft die Kugelgefahr, die eigentlich nur den Körper bedroht. Majakovskij aktiviert dieses Motiv als eine Bindung der binären Gegensätze von Stimme – Körper, Rede – Text, Hören – Sehen und schließlich Nähe – Ferne. Aufgrund der Geschwindigkeit der Botschaft durch die Leitung überwindet die Handlung den Raum und bringt den Leser zur Mjasnickaja-Straße, in der sich die Telefonzentrale befindet. Die Gefängniszelle wird mithilfe des Telefons verlassen. Dadurch beeinflusst das Medium die Erzählperspektive – an die Stelle des Ich-Erzählers tritt ein Er-Beobachter, der dem Weg der Kugel in die Zentrale folgt. Die rhythmische Dynamik steigt nicht nur zusammen mit der Spannung des Protagonisten, sondern auch mit der technischen Belastung des Netzes.

303 304 305

Vgl. mit den verbrannten Apparaten in Mandel’štams Novelle Ėgipetsakaja marka (Die ägyptische Briefmarke), 1928. Everts-Grigat, V. V. Majakovskij: Pro ėto, 27. Ebd.

Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

102 И вдруг как по лампам пошло куролесить, вся сеть телефонная рвется на нити. – 67 – 10! Соедините! В проулок! Скорей! Водопьяному в тишь!

Und wie plötzlich eine Lampe nach der anderen beginnt, Unsinn zu treiben, reißt das ganze Telephonnetz in Fäden. – 67 – 10! Verbinden Sie! – In die Gasse! Schnell! Der Vodop’janyj in die Stille hinein!

In einem konzentrierten intermedialen Kreis wird zunächst die visuelle Wahrnehmung durch die Lampen sensibilisiert, erst dann folgt ein Versuch, von den Augen auf das Ohr umzuschalten. Liljas reale Nummer wird explizit in den Text integriert, die Ziffern heben sich von den Buchstaben deutlich ab. Diese Ziffern der Nummer stellen einen neuen Code dar, sogar eine neue Verbindung zwischen der Schrift und der technischen Welt des Telefonierens. Die Spannung der Elektrizität steigt weiter: „vor Weihnachten fliegst du in die Luft / mit deiner ganzen Telephonzentrale“.306 Durch einen mithilfe von Montage erzeugten Zeitsprung ändern sich Erzählperspektive und Erzählstruktur erneut, um eine „Explosion“ zu vermeiden und eine kurze „Abkühlung“ (McLuhan) im Text zu bewirken. Wie in einem Märchen wird als fiktiver Erzähler eine unbeteiligte Person – ein über hundert Jahre alter Mann – in das Gedicht eingeführt. Dieser eigenartige Rhapsode erzählt, was vor hundert Jahren geschah: nämlich ein Erdbeben beim Postamt. Das innere Beben des Telefongesprächs wird auf ein äußeres Beben in Form einer Naturkatastrophe übertragen. Die Legende des alten Mannes weist auf eine primäre Mündlichkeit hin, die dem elektrischen Medium direkt gegenübergestellt wird. Das nächste Unterkapitel, Das Telephon stürzt sich auf alle, folgt der logischen Reihenfolge in der Herstellung einer telefonischen Verbindung: Dem Moment des Telefonklingelns geht die Übermittlung der Nummer voraus. Протиснувшись чудом сквозь тоненький шнур, раструба трубки разинув оправу, погромом звонков громя тишину, разверг телефон дребезжащую лаву. Это визжащее, звенящее это пальнуло в стены, старалось взорвать их. Звоночинки 306

Das Telephon drängte sich auf wundersame Weise durch die feine Schnur, riß die Einfassung des Hörerschalltrichters auf, und mit einem Klingelkrawall die Stille zerstörend, entrollte es eine klirrende Lava. Dieses quiekende, klingende Etwas feuerte auf die Wände, bemühte sich, sie zu sprengen. Die Klingeltönchen rollten zu tausend

Majakovskij, Izbrannye sočinenija, 351; Everts-Grigat, V.V. Majakovskij: Pro ėto, 28.

Klangvolle Unruhe – Das Telefon bei Majakovskij тыщей от стен рикошетом под стулья закатывались и под кровати. Об пол с потолка звоночище хлопал. И снова, звенящий мячище точно, взлетал к потолку, ударившись об пол, и сыпало вниз дребезгою звоночной. Стекло за стеклом, вьюшку за вьюшкой тянуло звенеть телефонному в тон. Тряся ручоночкой дом-погремушку, тонул в разливе звонков телефон.307

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als Prallschüsse von den Wänden unter Stühle und Betten. Von der Decke klatschte das Riesengeklingel gegen den Boden. Und wieder, gleich einem klingenden Riesenball, prallte es vom Boden ab, flog zur Decke, und ein Klingelgeklirr prasselte herab. Fensterscheibe um Fensterscheibe, Ofenklappe um Ofenklappe zog es dazu, im Ton, der dem Telephon genehm war, zu klingen. Mit dem Händchen das Haus wie eine Klapper schüttelnd, ertrank das Telephon im Hochwasser des Klingelns.

Das akustische Bild bricht durch die Wiederholung des Wortstammes „kling“ die Stille der Schrift auf der Ebene der Onomatopoesie. Aber auch inhaltlich kämpft der Klang durch seine Visualisierung in Form einer Kugel gegen die Schrift und erobert so den lyrischen Raum mit eskalierender destruktiver Kraft. Einmal durch die Telefonkabel gekrochen, erweitert sich der Klang und verschluckt alles, bis das ganze Haus klingelt und die Stille vertrieben ist. Das Hauptmerkmal des akustischen Raummodells besteht laut McLuhan darin, dass es im Gegensatz zum linearen visuellen Raum keine bestimmten Grenzen gibt.308 Es sind die Besonderheiten der telefonischen Kommunikation, die im hier betrachteten Abschnitt die visuell-lineare Schrift mit dem nicht-simultanen und diskontinuierlichen Ton zusammenstoßen lassen. Den Hörer des klingelnden Apparats nimmt die Hausgehilfin ab. Weil sie den Abstand zwischen dem lyrischen „Majakovskij“ und seiner Geliebten abschreitet, wird sie zur Sekundantin des bevorstehenden Duells. От сна чуть видно – точка глаз иголит щеки жаркие; ленясь, кухарка поднялась, идет, кряхтя и харкая. Моченым яблоком она. 307 308

Vor Schlaf kaum zu sehen – der Punkt der Augen sticht die heißen Wangen. Träge hat sich die Köchin erhoben, sie kommt, ächzend und spuckend. Wie ein eingemachter Apfel sieht sie aus.

Die fett gedruckten Markierungen wurden von mir vorgenommen. McLuhan, Wohin steuert die Welt?, 62.

Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

104 Морщинят мысли лоб ее. – Кого? Владим Владимыч?! А! – Пошла, туфлею шлепая. Идет. Отмеряет шаги секундантом. Шаги отдаляются... Слышатся еле... Весь мир остальной отодвинут куда-то, лишь трубкой в меня неизвестное целит.309

Gedanken runzeln ihre Stirn. – Wer? Vladim Vladimič! Ah! – Sie ist losgegangen, schlurft mit dem Pantoffel. Geht. Mißt als Sekundant die Schritte ab. Die Schritte entfernen sich... Sind kaum zu hören... Die ganze übrige Welt ist irgendwohin weggerückt, nur mit dem Hörer zielt das Unbekannte auf mich.

Der Aufbau dieses Teils wird strukturell durch die Antwort der Gehilfin unterteilt – dies sind die einzigen Worte aus Liljas Haus, die der Leser direkt „hören“ kann. Über die telefonische Verbindung wird der Raum ein zweites Mal durchquert, die Distanz überwunden und die Ferne als Nähe erlebt. Die groben Bewegungen der Dienerin und ihr Äußeres werden durch ihre simple verbale Performanz ergänzt. Ihre Worte werden im Zimmer des Anrufers rezipiert, woraus auch die primäre Erzählperspektive folgt. Durch die Telefonmuschel hört das Ich die sich entfernenden Schritte, die in die Ferne drängen, diesmal jedoch ist die Ferne unerreichbar. Beide Räume sind für das kommende verbale Duell bereits akustisch verbunden. Indes ist die Verbindung von Disbalance gekennzeichnet – auf der einen Seite der Leitung sitzt das Ich allein, während sich am anderen Ende des Kabels die ganze Welt und die Gefahren des Unbekannten befinden. Majakovskij betrachtet das Telefonat als eine Duellsituation, denn auch dort steht ein Individuum einem anderen gegenüber, ganz im Unterschied zum Krieg, den man mit einem Massenmedium vergleichen kann. „Like war, the duel was seen as a last resort, ugly and cruel but sometimes unavoidable.“310 Genauso grausam und unvermeidlich empfindet das lyrische Ich das Telefonat mit seiner Geliebten. Im Kontext des ganzen Poems weist dieses Duell-Motiv auf die späteren Selbstmord-Visionen hin. Für Irina Reyfman sind Duell und Selbstmord gegeneinander austauschbare Ereignisse: „A duel and suicide could substitute for each other, from both cultural and psychological perspectives.“311 Die Erwartung des telefonischen Duells ist ein Moment des Nachdenkens und zugleich der Moment der „Erhellung der Welt“. Zwischen die Zeit 309 310 311

Majakovskij, Izbrannye sočinenija, 351. Irina Reyfman, Ritualized Violence Russian Style: The Duel in Russian Culture and Literature, Stanford 1999, 15. Ebd., 16.

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und den Raum drängt sich das Bild des Todes, das ein semantisches Zentrum bildet. Die Zeit bleibt stehen, während der Raum sich erst stufenweise ausbreitet (Moskau – Meere – Weltall) und dann nach innen, bis auf die Linie des Horizonts, der durch ein Fernrohr (Binokel) gesehen wird, implodiert. Вселенная вся как будто в бинокле, в огромном бинокле (с другой стороны). [...] В Мясницкой деталью искуснейшей выточки кабель тонюсенький – ну, просто нитка! И все вот на этой вот держится ниточке.

Das ganze Weltall wie in einem Binokel, einem riesigen Binokel (von der anderen Seite). [...] In der Mjasnickaja verläuft als Detail einer höchst kunstfertigen Schleifarbeit ein sehr feines Kabel – nun, einfach ein Faden! Und alles hängt nun da an diesem Fädchen.

Die ursprüngliche Hoffnung, die das Paradigma Zimmer – Gefängnis – Telefon – Rettung spendet, erweist sich als unerreichbar. So wird das Telefon, anfangs als Rettungsinstrument dargestellt, zur Waffe, mit der ein Duell vollzogen wird.

4.1.2. Symbiose der Medien – Rodčenkos Illustrationen Das Buchdesign von Darüber wurde dem Künstler Alexander Rodčenko anvertraut. Im Zuge dessen bemühte sich Rodčenko, durch die unikale Verbindung von Fotomontage und konstruktivistischen Techniken einen visuellen Ausdruck für Majakovskijs Verse zu finden. Auf dem Umschlag des Buches (Abb. 15) ist ein Porträt Liljas in Großaufnahme zu sehen, das sich von einem zweigeteilten Hintergrund abzeichnet. Die obere Hälfte ist weiß und steht in starkem Kontrast zur unteren Hälfte, die schwarz ist. Die Grenze zwischen den beiden Farben wird in der Illustration mit dem Telefon und Lilja (vgl. Abb. 16) in Form einer schwarzen Linie beibehalten, die das Bild wieder in zwei Teile spaltet. Rechts unten auf der zweite Montage erkennt man das Gebäude des Moskauer Postamts, das seit Mai 1912 in der Mjasnickaja-Straße untergebracht war. Das Ende des langen Bauwerks verliert sich in der Unendlichkeit des Raums, womit der Aspekt der Ewigkeit im Gedicht visuell transformiert wird. Das lyrische Ich möchte sich durch das Telefon nach dem Gesundheitszustand seiner Geliebten erkundigen. Die in der westlichen Zivilisation übliche automatische Bewegung der Augen von links nach rechts folgt seiner Denk-

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weise – erst das Frauenbild, danach das Instrument, mit dem er sie erreichen kann. Die Ovalform ihres Gesichts und ihrer Möbel kontrastiert mit den scharfen Kanten des Apparats und der Telefonzentrale. Werden alle Elemente in der Ganzheit der Collage beobachtet, formen sie den kyrillischen Buchstaben B (V), das Initial von Majakovskijs Vornamen: Vladimir. Die Illustration mit der Nummer von Lilja (Abb. 13) organisiert Rodčenko mit dem Mittel der Montage um den Vers „Und alles hängt nun da an diesem Fädchen“. Als hauptsächliches Element der Struktur wird das Telefonkabel gewählt. Das ganze Weltall konzentriert sich in einer diagonalen Linie („Weltall wie in einem Binokel“); dementsprechend existiert außer dem Telefon nichts anderes – eben dieses „Nichts“ stellen die weißen Felder auf dem Blatt dar. Visuell-grafisch gesehen bewegen sich die Verse Majakovskijs diagonal von oben links nach unten rechts; bei Rodčenko ist diese Diagonale gespiegelt: die Linie führt von der oberen rechten Ecke (Majakovskijs Bild) nach unten links (Liljas Wohnung), wobei der Telefonapparat mit einem Observatorium an Stelle des Fernrohrs kombiniert wird: zwei mediale Erweiterungen des Menschen, die das Umschalten vom Ohr auf das Auge und umgekehrt aktivieren. In einem einzigartigen Dreieck verbindet das Kabel den Hörer/das Fernrohr mit dem Apparat der Köchin und dem Hörer des Dichters. Die Frage nach der Erzählperspektive im Text beantwortet Rodčenko mit einem Bild von Majakovskij selbst. Ob er der Protagonist, der Erzähler, das lyrische Ich, der implizite oder der explizite Autor sei – der Maler sieht ihn vor allem als Gesprächspartner am Telefon. Das Verhältnis zwischen den Ziffern der Nummer und den Buchstaben des Textes wird in der Collage durch die Farben beibehalten: das Rot gegen die schwarz-weißen Bilder. Nicht zuletzt fällt der Blick auf das Bild des Dinosaurus – sein Kopf neben dem des Dichters scheint ein Hinweis zu sein auf dessen halluzinatorische Herkunft. Rodčenkos Montagen setzen tief liegende Dimensionen des elektrischen Mediums in Szene. Beide Kunstwerke – Text und Bild – bilden hier eine eigenartige Synthese, dabei aber zeigen sich die Begrenzungen und die Möglichkeiten, das Telefon durch verschiedene Kunstmittel darzustellen. Das Telefon beschäftigt Rodčenko auch während der 30er Jahre weiter. Anzuführen ist etwa die Fotografie Am Telefon (Abb. 14), die den neuen ästhetischen Kriterien des sozialistischen Realismus entspricht.

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Abb. 13: Darüber, Illustration312

Abb. 14: Am Telefon313

312 313

A. Rodčenko, http://www.schicklerart.com/auto_exh/VMay_Ex_0001?id=178218. Foto: Am Telefon, in: Alexander Lavrentiev (Hg.), Alexander Rodchenko Photography 1924-1954, Köln 1995, 144.

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Abb. 15: Titelblatt von Darüber314

Abb. 16: Darüber, Illustration315

314 315

Ebd., 44. Ebd.

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4.1.3. Nach Darüber – das Telefon zwischen Zukunftsutopie und Gegenwartsbürokratie Wie entwickelt sich die poetische Darstellung des Telefons bei Majakovskij nach dem Erfolg von Darüber? Bevor er das Medium auf die Bühne bringt, taucht es sporadisch in seinen lyrischen Werken der Jahre 1924 und 1925 auf. Die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen lautet, dass Majakovskij das Telefon nach dem Gedicht Darüber als Symbol oder Vergleichsmotiv im Dienste einer anderen Hauptidee oder eines anderen Themas aktiviert, zunächst im Alltagsbereich, später dann als Kritik der Bürokratie. Gleichzeitig wendet sich Majakovskij anderen Kunstformen wie dem Theaterstück und dem Drehbuch zu, um die mediale Spannung von Schrift und Telefon zu überwinden. Das Telefon ist ein Motiv unter vielen anderen im „Gegenwartsalltag“ sowie im „zukünftigen“ utopischen Leben. Auf der ersten zeitlichen Ebene – Heute (segodnja) – trägt das Telefon zu einem negativen und stark kritischen Bild bei. Der mangelnde Wohnraum im Moskau Mitte der 20er Jahre wird akustisch durch ein klingelndes Telefon in einer Kommunalka dargestellt: Sonntags ist vom Klingeln ein solcher Lärm, Dass selbst der Fröhlichste an Selbstmord denkt.316 Von diesem Lärm geraten auch die Sanftmütigsten in Rage Den ganzen Tag ein Gebimmel wie auf einem Glockenturm.317

Die Probleme des Alltags der 20er Jahre sollen in der Zukunft vergessen sein: Heute „Wir leben wie Radiohasen, / und stehlen Telefonhörer“318, daher morgen „wird der Himmel zu eurer Wohnfläche“319. Im utopischen Poem Der fliegende Proletarier (Letajuščij proletarij) beschreibt Majakovskij das Leben im 30. Jahrhundert, wenn der Alltag der Menschen von Geräten wie beispielsweise sprechenden Weckern, elektrischen Zahnbürsten (ėlektroščetka), elektrischen Rasierern (ėlektrosamobritel’) und Radiophonen erleichtert wird. Alle Bereiche des Lebens sollten fröhlicher als Heute sein: Arbeit, Freizeit, Sozial- und Privatleben. Das Poem ist ein Appell an Arbeiter und Bauern: dieses wunderschöne Leben wäre möglich, wenn nur alle daran glaubten und sich noch heute dafür einsetzten. Auch eine moderne elektrische Kommunikation fehlt in der kommunistischen Zukunft nicht: 316 317 318 319

Vladimir Majakovskij, Die Kleine Elektrifizierung (1924), in: Ders., Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 6, 171. Majakovskij, Der fliegende Proletarier (1925), in: Ebd., 340. Majakovskij, Krasnaja zavist’ (Der rote Neid, 1925), in: Ebd., 121. Ebd.

Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

110 Подносит к уху радиофон. Буркнул, детишек лаская: Дайте Чухломскую! Коммуна Чухломская?.. Прошу – Иванова Десятого! – – Которого? Бритого? – – Нет. – Усатого!... – Как поживаешь? Добрый день. – Да вот – только вылетел за плетень. [...] Звонок. – Алло! Не разбираю имя я... А! Это ты! Привет, любимая! Еду! Немедленно! В пять минут небо перемахну во всю длину. В такую погоду прекрасно едется. Жди у облака – под Большой Медведицей.320

Das Radiophon legt er ans Ohr. Er brummt in den Hörer, sanft: Geben Sie mir Čuchlomskaja! Kommune Čuchlomskaja?.. Ich bitte Sie – Holen Sie Ivan Desjatyj an den Apparat! – – Welchen ? – Den mit der Glatze ? – – Nein. – Den mit dem Schnurrbart!.. – Wie geht’s dir? Guten Tag. – Es geht – nur bin ich grad über den Zaun geflogen. [...] Es klingelt. – Hallo! Ich verstehe den Namen nicht... Ah! Du bist es! Grüß dich, Geliebte! Ich fahre los! Unverzüglich! In fünf Minuten nur werde ich über den Himmel eilen. Bei solchem Wetter fährt es sich gut. Warte auf mich bei der Wolke unter dem Großen Wagen.

Die Funktion dieser Gespräche besteht hauptsächlich darin, eine Möglichkeit darzustellen, weitere futuristische Elemente in den Alltag hineinzubringen, wie z. B. künstliche Wolken, das „Avioball“-Spiel oder Verabredungen im Weltall. Satirische Poetik und umgangssprachliche Elemente betonen den Leichtsinn der kommunistischen Zukunft. Im Optimismus der Fantasie und der Sorglosigkeit des Lebens gibt es keinen Platz für die dramatische Spannung des Telefonats von Darüber, weil die Überwindung und Privatisierung von Zeit und Raum neue, ideologische Dimensionen bekommen hat. Anstelle künstlerischer Experimente arbeitet Majakovskij hier mit der Kraft der Überzeugung. 320

Majakovskij, Der fliegende Proletarier, in: Ebd., 348-353.

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Geprägt vom Prinzip der Akkumulation gleichwertiger Elemente ist auch das Gedicht Spanien (Ispanija). Das Hauptthema – die Enttäuschung des lyrischen Ichs angesichts der Erkenntnis, dass Spanien nicht seinen idealen Vorstellungen entspricht. Eines der Elemente, die verglichen werden, ist das Telefon: „Wird das simple ,Telefon‘ / Zum stolzen ,Telefonos‘“, auf die gleiche Weise wie ,Komrad‘ zu ,Kabale’ro‘ wird.321 Eine Ausnahme des kommunikativen Paradigmas von Majakovskij bietet das Gedicht ,Televox?‘ Was ist das? (,Televoksy‘? Čto takoe?) aus dem Jahre 1928. Eine futuristische Maschine hat keine Augen und Lippen, nur ein riesiges Ohr: „Die eisernen Waldgeister / haben ein einziges riesiges Ohr / Und in dieses eine Ohr kann man alles sagen.“322 Durch das Ohr kann sie Befehle und wenig interessante Referate hören, „über die Abtreibung, und über die Kulturrevolution. / Installiere „Televox“ – und, bei meiner Ehre, / Dass das bürokratische Geschwür verschwindet von allein“323. Die Maschine hat keine eigene Stimme (vox), kann aber als Mülleimer für die Werke von ‚akustischen Graphomanen‘ dienen, um die Bürokratie zu bekämpfen. Die „Einbahnstraße“ in der Kommunikation, die hier skizziert wird, erreicht erst in den 30er Jahren einen Höhepunkt in der sowjetischen Kultur. Mitte der 20er Jahre erhält das Telefon eine kleine Rolle in jener Kampagne, die Majakovskij in seinen Werken gegen die Bürokratisierung der sozialistischen Gesellschaft führt. Nach 1926 wird das Telefonbild in seinen Theaterstücken oder Kinodrehbüchern auf sarkastische Weise als Symbol der Privilegierten und des Missbrauchs der Macht geprägt. Die neuen dramatischen Genreformen bringen auch neue Kunstmittel und technische Möglichkeiten hervor, durch die das geschriebene Wort als lebendige Mündlichkeit wahrgenommen (wie z. B. Zwischentitel im Film) oder auf der Bühne erweckt wird; außerdem werden die räumlichen und zeitlichen Koordinaten neu organisiert und rezipiert. Neben den rein dramatischen Mitteln bieten die Filmdrehbücher die Möglichkeit, Text und Bild zusammen zu schalten. Das Kinoformat der 20er Jahre, das auf der konsequenten Montage von Bildern und Text basiert, ist besonders produktiv für die Darstellung von Telefonaten und Gesprächspartnern: 39. Das lange Gesicht des Trustvorsitzenden verzerrt sich vor Wut. Zuerst legt er die Zeitung auf die Knie, dann reißt er sie in Stücke und greift zum Telefon. 40. Den Hörer nimmt jemand wichtiges ab, von dem allerdings nur der Rücken zu 321

322 323

Majakovskij, Polnoe sobranie sočinenij Bd. 7, 397; Majakovskij teilte seine ReiseEindrücke von 1925 mit: „Man muss schon sagen, dass die spanischen Frauen einen Fächer haben – was auch verständlich ist bei der Hitze. Und sonst nichts besonderes, nur heißt es auf Russisch ,Telefon‘ und auf Spanisch ,Telefonos‘...“, zit. nach den Bemerkungen auf Seite 469. Majakovskij, Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 9, 80-84. Ebd, 83.

112

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sehen ist. 41. Das erwartungsvolle Gesicht des Trustvorsitzenden. 42. „Verzeihung, Genosse, haben Sie meinen Dienstreisenantrag zur Unterschrift bekommen?“ 43. Frau mit Einkaufstüten betritt den „Damenschneider“. 44. Der Rücken des Vorgesetzten zuckt vor Lachen. Er knallt den Telefonhörer auf den Apparat. 45. „Was denn für Dienstreisen? Vergessen Sie alles und achten Sie auf ihre Gesundheit.“ 46. Der Trustvorsitzende lässt sich erschöpft auf den Stuhl fallen, greift wieder zum Telefon, ruft das Fräulein, klopft, pustet, ruft sie wieder und drückt erbost auf die Klingel, weil er nichts erreicht hat.324

Die Reihenfolge von Bildern, die Gesten und den paraverbalen Teil der Kommunikation visuell übermitteln, wird von Text-Bildern unterbrochen, die aber auch eine Verbindung zwischen den räumlich getrennten Telefonierenden bilden. Durch eine syntaktische Ellipse der Montage kann das Gespräch auch ohne Worte erklärt werden: 81. Erschrockene Ehefrau neben Ladentelefon. 82. Ein eiliger Krankenwagen.325

Was die Zuschauer sehen, ist zunächst die Absicht zu telefonieren, direkt im Anschluss dann das Resultat des Telefonats, d.h. die pragmatische Funktion des Telefonats ist stärker als sein Inhalt, der logisch rekonstruiert werden kann. Ähnliche Sequenzen mit einem Krankenwagen zeigt Dziga Vertov in Der Mann mit der Kamera aus dem Jahre 1929. Der Aufbau des fünften (und letzten) Teils des Drehbuchs Wie geht’s Ihnen? (Kak poživaete?) oder Ein Tag in fünf Kino-Details 1926 wird vollständig durch das Medium Telefon geprägt: 19.-27. Das unermeßliche Gebäude der Telefonzentrale. Die unablässige Arbeit der Telefonfräulein. Das Durcheinander der Drahtleitungen im Telefonnetz. Die Schädlinge des Telefonwesens. 28. Eine unansehnliche Familienmutter am Telefonhörer. Hinter der Mutter steht schon Papachen Schlange, sodann eine schon sehr reife Tochter, drei kleine Jungen, zwei Köter. Das Telefongespräch. „Wir kommen nämlich zu Ihnen auf Besuch, aus Anlaß des Vorabends von Robespierres Geburtstag.“ 29. Majakowski am Telefon macht ein liebenswürdiges Gesicht, er spricht: „Kommt nur! Wir stellen gleich den Samowar auf.“326

324 325 326

Majakovskij, Slon i spička. Krymskaja kinokomedija (1926), in: Ders., Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 11, 41. Ebd., 43. Vladimir Majakowski, Werke. Dritter Band. Stücke, Berlin 1968, 378-379.

Klangvolle Unruhe – Das Telefon bei Majakovskij

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Wie in Darüber geht der explizite Autor selbst ans Telefon. Thematisiert werden die telefonische Doppelgesichtigkeit und Heuchelei der räumlich entfernten Protagonisten. Mit dem ironisierten Bild Robespierres, der Leitfigur der Revolution, antwortet Majakovskij in diesem Text auf die Kritik, dass er sich zu wenig für die schreibenden Arbeiter engagiere. Im Unterschied zu dem „unbestechlichen“ Revolutionär ist das Medium sehr schnell korrumpierbar. Es erhält neue Funktionen und damit auch Macht. Die folgenden Szenen von Wie geht’s Ihnen? zeigen den Übergang in den öffentlichen Raum: 36. Das Telefon klingelt. 37. Der Student der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät ruft an. 38. Die zum Hörsaal strömende Menschenmenge. 39. Majakowski ins Telefon. „Ich komme, sobald ich meine Gäste los bin.“ [...] 57. Drei Arbeiter-und-Bauern-Fakultäts-Hörer am Telefon. 58. Majakowski am Telefon. „Ich habe zu Hause eine Sitzung.“ [...] 65. Man drängt sich ums Telefon. 66. Majakowski will das Telefongeklingel gar nicht hören.327

Die Spannung eskaliert durch die Steigerung der Zahl der anrufenden Studenten, die den Referenten erreichen wollen – zuerst versucht es einer, dann drei und am Ende eine Menge. Parallel dazu entwickeln sich die Reaktionen des Protagonisten Majakovskij – während er zunächst ehrlich ist, beginnt er in der Folge zu lügen, um am Ende das Klingeln zu ignorieren. Er ist derjenige, der die Regeln der Kommunikation bestimmt, weil er sich auf einer höheren Ebene der sozialen Hierarchie befindet. Der Hauptprotagonist ist in einer Position, die der von Darüber entgegengesetzt ist – jetzt wird er gesucht und lehnt es ab, ans Telefon zu gehen. Während früher Eros die Handlung organisierte, wirken jetzt Macht und die neue hierarchische Position als motivierende Kraft. Gegen Ende der 20er Jahre verlässt das Telefon den privaten Raum des Heims und wird meist zur Tätigung dienstlicher Telefonate eingesetzt; dadurch wird es zum Symbol der Bürokratie. Anlässlich des 10-jährigen Jubiläums der sowjetischen Revolution schreibt Majakovskij die Kinokomödie Genosse Kopytko oder Nieder mit dem Speck! (Tovarišč Kopytko ili Doloj žir!), in der unter anderem auch mittels des Telefons inhaltlich-komische Momente erreicht werden, die die Fehlerhaftigkeit des sowjetischen Regimes ins Lächerliche ziehen. Die Welt des Ex-Revolutionärs und heutigen Leiters eines fiktionalen Trusts, Kopytko, wird maßgeblich von bürokratischen Ele327

Ebd., 378-380.

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Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

menten wie dem Kugelschreiber, dem Bericht, dem Kabinett und dem Telefon zusammengehalten: Kopytko ist schon lange an diese Bequemlichkeiten einer privilegierten Position gewöhnt. Als plötzlich ein Krieg ausbricht, weiß der Protagonist wie viele andere Ex-Revolutionäre nicht adäquat auf die Gefahr zu reagieren. Die Kulmination – ein Gipfel der Absurdität – ist die Formierung einer Armee von Doppelgängern Kopytkos. Verfolgen wir nun die Erscheinungen des Telefonmotivs, so tritt es zunächst als eine Parodie der Vermischung der privaten und dienstlichen Ebene im Alltag Kopytkos auf: 5. Frauenhände machen Maniküre an einer Männerhand. 6. Telefon. 7. Eine gepflegte Männerhand hebt den Hörer ab. 8. In die Sprechmuschel fliegen von weitem die Worte „Bin beschäftigt“. 9. Die Hand hängt den Hörer ein.328

Kopytko möchte nicht am Telefon sprechen, weil die Maniküre gerade in seinem Büro seine Hände pflegt, ein wenig diszipliniertes Verhalten, das völlig normal zu sein scheint. Als später englische Soldaten die Stadt okkupieren, kann Kopytko dies erst über das Telefon aufnehmen, obwohl seine Frau ihm die Nachricht bereits übermittelt hatte. Die Erregung seiner Frau ist ihm völlig gleichgültig, stattdessen fährt er fort, seine Pantoffeln zu suchen: 113. „Ich kann doch nicht mit zehn Jahren auf dem kalten Fußboden barfuß laufen.“ 114. Als er die Schuhe nicht findet, greift Kopytko zum Telefon (es ist ausgesteckt). 115. Fräulein... 116. Englischer Militärtelefonist mit runzligem Gesicht mit Backenbart. 117. „Wot du ju uant?“ 118. Kopytko schmeißt den Hörer hin, verwirrt setzt er sich aufs Bett und versucht verzweifelt, seine Füße in die Schuhe zu stecken. Vor lauter Aufregung bindet er die Schuhe zusammen. Er springt auf. Fällt. Steht auf und zerzaust die Haare. Dreht sich um, fällt wieder. Zerreißt die Schnürsenkel, rennt davon und tritt dabei auf die Schnürsenkel.329

Für Kopytko verfügen nur die Machtinstrumente seiner bürokratischen Welt über Autorität und Vertrauenswürdigkeit. Der Bedeutung seines Namens („Kopytko“ heißt „kleine Hufe“) wird das Bild des Telefonkabels als „Schwanz“ hinzugefügt, um einen bürokratischen Teufel zu schaffen. Das Telefonkabel verwächst mit dem Körper Kopytkos und wird somit zu einem Detail seiner Identität. In der Kriegszeit versucht der „Held“, seine Welt in dem Militärzelt zu rekonstruieren: 328 329

Majakovski, Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 11, 169. Ebd., 174-175.

Klangvolle Unruhe – Das Telefon bei Majakovskij

115

215. Kopytko versucht, den Telefonstecker ins Segeltuch zu stecken. 216. Auf der anderen Seite des Zeltes kommt der Telefonstecker heraus. 217. Trompeter mit Trompete, daraus kommen die Buchstaben: „M-i-t-t-a-g-e-s-s-e-n!“ 218. Kopytko stürzt aus dem Zelt. Aus seiner Hosentasche schaut die Telefonschnur hervor. 219. Eine Gruppe von Rotarmisten steht um den Gemeinschaftskessel. Sie essen Krautsuppe mit Löffeln, die sie aus ihren Stiefeln hervorholen. 220. Kopytko schaut ihnen mit Appetit zu. 221. Kopytko sucht in seinem Stiefel und da er keinen Löffel findet, nimmt er den Telefonhörer und versucht, damit Suppe zu schöpfen.330

Der Telefonhörer wird durch eine Erweiterung der Sinnesorgane in ein banales Bestеck transformiert. Majakovskij erzeugt diesen komischen Effekt durch eine „Desakralisierung“ des Telefons und dessen Erniedrigung bis auf die Ebene der Körperlichkeit (das Essen). Kopytko ist unfähig, sich in das Armeemilieu zu integrieren (auch wenn er das gerne wollte), weil er nicht die richtigen Attribute besitzt. Anstatt ihn also mit den Menschen zu verbinden, führt das Medium des Telefons zu einer Abgrenzung und Isolierung des Bürokraten von den Soldaten. Auch in Majakovskijs Theaterdrama Das Schwitzbad (Banja, 1930) setzt sich das Motiv des Telefons als Kennzeichen und Instrument der Bürokratie fort. Dabei werden die primären Kommunikationsfunktionen des Mediums um die neuen Qualitäten eines „symbolisch generalisierten“ Mediums (nach Luhmann) erweitert, ähnlich dem Geld. Dem Telefon kommt dadurch Tauschwert zu: Iwan Iwanowitsch [...] Haben Sie ein Telefon? Sie haben kein Telefon? Nun, ich rede nächstens gleich mal mit Nikolai Iwanowitsch, er wird [es] Ihnen nicht abschlagen. Sollte er nein sagen, können wir uns an Wladimir Panfilowitsch persönlich wenden, der kommt Ihnen sicherlich entgegen. [...] Iwan Iwanowitsch [...] Haben Sie ein Telefon? Ach, Sie haben kein Telefon? Kleine Mängel der Mechanik [...] Iwan Iwanowitsch [...] Haben Sie kein Telefon? Nun, macht nichts, ich wende mich bestimmt an Nikander Pyramidonowitsch. [...]331

Für den Protagonisten mit dem banalen Namen Ivan Ivanovič, der zwar nicht über konkrete Macht, dafür aber über Beziehungen zu den richtigen Leuten verfügt, stellt das Anbieten von Gefallen die einzige Möglichkeit dar, in der Hierarchie zu prosperieren. Ein ironischer Hinweis darauf ist der Nachname eines seiner Patrone – Pyramidonovič, der sich weiter oben auf der Pyramide der Hierarchie befindet. Die medialen Transformationen am Ende des ersten Akts schaffen ein intermediales Spiel, in dem der Protagonist Buchstaben und Ziffern zunächst 330 331

Ebd., Bd. 11, 179-180. Majakowski, Werke, Bd. 3, 181, 183, 184.

Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

116

als Telefonnummer rezipiert, diese allerdings erweisen sich dann als eine kodierte Botschaft aus der Zukunft : KÄUZERICH: [...] das ist ein Brief. Geschrieben von heute in fünfzig Jahren. Begreift ihr? Von heute in fünfzig Jahren!!! Welch ungewöhnliches Wort! Da, lest mal! RADLFLITZ: Was ist da viel zu lesen? ... „I – We 24–20“. Was? Vielleicht eine Telefonnummer? Irgendeines Genossen I – We? KÄUZERICH: Nicht I – We, sondern: „Ich werde“. Sie bedienen sich eines Kürzungsverfahrens. Ersparnis von fünfundzwanzig Prozent Buchstabenmaterial. Verstanden? „Vierundzwanzig“ – das ist das morgige Datum. „Zwanzig“ – bedeutet die Stunde. Er-sie-es wird morgen um acht Uhr abends hier sein.332

Erst im zweiten Akt aktiviert Majakovskij die gewohnte Kommunikationsfunktion des Telefons. Im Unterschied zu Kinodrehbüchern oder Lyrik und Prosa, wo es möglich ist, beide Gesprächpartner zu „sehen/hören“, funktioniert das Telefon in dramatischen Werken anders. Durch lebhafte Reaktionen wie Ton-Nuancen, Interjektionen, Fragewörter usw. wird das am anderen Ende der Leitung Geschehene/Gesagte vermittelt: TRUTZWACKERL dreht die Wählscheibe und prustet ins Telefon: Pfui Teufel! Iwan Nikanorowitsch? Guten Tag, Alter! Ich möchte dich um zwei Fahrkarten bitten. Nun ja, Schlafwagen natürlich. Was? Du leitest nicht mehr diesen Dienstbereich? Pfui Teufel! Unter solchen Beschwerlichkeiten verliert man gradezu den Kontakt mit den Massen. Man braucht Fahrkarten – und weiß nicht mehr, wen man darum anzurufen hat. Hallo, hallo! Zu der Schreiberin: Ja, wo sind wir stehengeblieben?333

Der Beamte Pobedonosnikov – ein Nachname, der auf den Heiligen Georg hinweist – diktiert der Schreiberin und telefoniert gleichzeitig; dabei verliert er den Faden und wechselt unbewusst das Thema. Die Telefonate unterbrechen das Diktat eines Vortrags, der anfangs über „das revolutionäre Klingeln der Straßenbahn“ berichten sollte, nach dem ersten Telefonat einen literarischen Schwenk hin zu Lev Tolstoj unternimmt und schließlich bei Puškin endet. In dieser Szene von Das Schwitzbad werden verschiedene Kommunikationsarten betrachtet: Diktieren – ein Monolog, im Rahmen dessen mündliche Rede in Schrift umgestaltet wird; Telefonieren – ein Dialog mit einem nicht vor Ort anwesenden Gesprächspartner; Reden – der direkte mündliche Dialog (face-to-face) zwischen zwei Personen auf der Bühne. Betrachtet man dazu noch das Vorlesen des Briefes aus der vorigen Szene, welches eine Transformation von Schrift in Rede mit sich bringt, dann erhält man eine Vielfalt szenischer Techniken, bei denen das intermediale Spiel Abwechslung und Dynamik bewirkt. Die Evolution in der Darstellung des Telefons bei Majakovskij von Darüber bis Das Schwitzbad lässt sich in einigen parallelen Linien untersuchen: 332 333

Ebd., 186-187. Ebd., 192-193.

Telefon und Kindlichkeit

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Dies sind die Erschöpfung des Spätavantgardismus zusammen mit sozialhistorischen Veränderungen; technische Entwicklung und eine stärkere Verbreitung der Medien, die für den Dichter als poetisches Mittel bald nicht mehr von Interesse sind; der Übergang des Telefons von der poetischen Ebene zur inhaltlichen, als ein Motiv unter vielen anderen; Unterdrückung der Sensibilität für die Möglichkeiten der elektrischen Medien durch das neue Thema der Bürokratie; eine neue Genre-Orientierung in Richtung Drama und Film; begrenzte Freiheit des Experimentierens. In dieser Evolution entfernt sich das Telefon von dem Liebesgefühl und der privaten Sphäre und tritt ein in den öffentlichen sozialistischen Raum.

4.2. Telefon und Kindlichkeit Die russischen Avantgardisten sehen im Kind „vor allem ein noch nicht sozialisiertes Subjekt, dessen Verhaltensweisen frei von Imperativen der Moral und des Interesses sind, dessen Sprache keine Rücksicht auf grammatikalische Regeln nimmt“.334 Einige der wichtigsten Merkmale der Kindlichkeit335 in der Literatur sind nach Benčić das Sammeln und Präsentieren von kindlichem Kunstschaffen, ein theoretisches Interesse für das Verhalten des Kindes, autobiographische Kindheitsbeschreibungen, kindliche Spontaneität als Rezept für die ästhetische Gestaltung und Rezeption ihrer Schöpfungen sowie die Suche nach Strukturmerkmalen in der sprachlichen und visuellkommunikativen Ausdrucksweise des Kindes. Obwohl sich die drei ausgewählten Texte an das typisch kindlich-ästhetische Gestalten anlehnen, bieten sie je unterschiedliche Blickwinkel auf das Telefon bzw. auf die Integration des Telefons in die Struktur des Textes an. Zunächst analysiere ich Čukovskijs Telefon in Bezug auf die Kommunikation zwischen zwei Welten – zwischen jener der Tiere und der menschlichen. In der Folge sollen dann Mandel’štams lebendiger Alltag der Gegenstände (vešči) in Primus und schließlich der technische Einfluss auf die menschliche Rede und die Sprachspiele bei Charms Professor Trubočkin untersucht werden.

334 335

Zit. nach Živa Benčićs Aufsatz Infantilismus, in: A. Falker (Hg.), Glossarium der russischen Avantgarde, Graz 1989, 243-257, hier: 246. S. dazu die Monographie von Thomas Grob, Daniil Charms’ unkindliche Kindlichkeit: Ein literarisches Paradigma der Spätavantgarde im Kontext der russischen Moderne, Bern 1994.

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Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

4.2.1. Verbindung mit der Märchenwelt – Kornej Čukovskijs Telefon „Čukovskij Korn. Iv. Pisat. Kiročnaja, Haus 7, Tel. 194-75” Adress- und Auskunftsbuch. Leningrad 1926 „Čukovskij Korn. Iv. Pisat. Kiročnaja, d. 7, t. 194-75“ Adresnaja i spravočnaja kniga. Leningrad 1926

Bis heute ist das in Versen verfasste Märchen Telefon, das Kornej Čukovskij mit Illustrationen von K. Rudakov 1926 im Leningrader Verlag „Raduga“ (Regenbogen) veröffentlichte, einer der beliebtesten Kindertexte in Russland. Das Stück besteht aus neun Teilen,336 die mitunter semantisch und rhythmisch autonom und bis auf den letzten in Form von Telefonaten aufgebaut sind. Während das lyrische Subjekt kontinuierlich einen der Gesprächpartner gibt, wechseln sich am anderen Ende der Telefonverbindung verschiedene Tiere ab. In einem Zeitraum von drei Tagen erhält das lyrische Ich zahlreiche Anrufe mit Anfragen, Wünschen und Bitten, bis schließlich im vorletzten Teil der dramatische Höhepunkt erreicht wird: ein Notruf informiert über das Unglück des Flusspferdes – es versinkt im Morast. Mit dessen Rettung endet die Erzählung. Čukovskijs Interesse am Kindlichen beginnt etwa 20 Jahre vor Telefon – im Jahr 1909 beschäftigt er sich erstmals mit Kindersprache, zur selben Zeit, als die Futuristen sich zu gruppieren beginnen.337 1913-1914 tritt er in den Kreis der Petersburger Futuristen ein, veröffentlicht Aufsätze und verfasst Referate über die neue literarische Bewegung. In seinen Untersuchungen vergleicht Čukovskij die Wortschöpfungen der futuristischen Dichter mit denen von Kindern; hierzu sammelt er umfangreiche Materialien, die die sprachliche Entwicklung von Kindern zeigen sowie ihre Rezeption der Welt und des Lebens illustrieren. Zweifellos reflektieren seine späteren Werke für Kinder sein pädagogisches Interesse.338 In Telefon finden wir den Einfluss des Kindlichen auf der Ebene des Inhalts – so sind die Protagonisten Tiere oder Gegenstände aus dem Kinderalltag – sowie auf der Ebene der Poetik, wo beispielsweise eine stilisierte kindliche Erzählweise, Alogismen und Kompositionsverfahren wie Wiederholung und Addition Verwendung finden. 336

337 338

In der ersten Publikation; zwischen 1964-69 werden zwei weitere Teile hinzufügt. Zitiert wird hier nach der Ausgabe: Kornej Čukovskij, Sobranie sočinenij v šesti tomach, Bd. 1, Moskva 1964, auf Deutsch nach der Ausgabe: W. Sutejew, Das Krokodil am Telefon, Leipzig 1996, 61-80. S. dazu Thomas Grob, Synkretistisches Ferment Čukovskij und der Mythos des poetischen Kindes, Bern 1994, 355-362. S. dazu Valentin Berestov (Hg.), Žizn’ i tvorčestvo Korneja Čukovskogo, Moskau 1978.

Telefon und Kindlichkeit

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All diese Elemente werden dennoch durch eine klare Telefonatsstruktur geordnet. Die Telefonate der Protagonisten werden mosaikartig zusammengesetzt, gestützt durch das relativ stabile Fundament, das das Medium Telefon mit seinen genauen Kommunikationsregeln bietet. Das Telefon spielt als strukturbildendes Erzählelement und parallel dazu als Instrument der Hilfeleistung und der Kommunikation eine zentrale Rolle in Čukovskijs Märchen. Aus avantgardistischer Perspektive kann der Umgang mit dem Telefon im untersuchten Text als Collage eines außerkünstlerischen Kommunikationsmediums und eines ästhetischen Textes betrachtet werden. Hierzu schreibt Dubravka Oraić-Tolić: „[W]as Tapeten- und Holzstücke in der bildnerischen Collage sind, sind in der literarischen Collage Werbeslogans und abgedroschene Phrasen der sprachlichen Alltagskommunikation.“339 Die Äußerungen des lyrischen Subjekts zitieren ein normales Telefonat: „Wer ist dran? / Was wünschen Sie? / Legen Sie auf!“ (Kto govorit? / Čto vam nado? / Objasnite, čego vy chotite? / Poves’te, požalujsta, trubku!). Die alltäglichen Redewendungen treten in einen Dialog mit der märchenhaften Welt und ihren Bewohnern – den Tieren – ein. Dieser Zitatdialog erweist sich, wie schon im Zuge der Analysen von Majakovskijs Texten gezeigt wurde, als eine dominante Charakteristik der russischen Spätavantgarde der 20er Jahre. Auch liegt dem Text Čukovskijs Verfahren der konstruktiven Montage zugrunde. Ähnlich wie Majakovskij in Darüber verwendet Čukovskij in Telefon das Verfahren des Selbstzitierens: Im zweiten Teil des Märchens ruft das Krokodil an, das Hauptprotagonist in dem gleichnamigen Versmärchen von 1917 ist. In diesem Telefonat wird das Krokodil vom Objekt zum Gesprächspartner des lyrischen Ichs. Auf ein weiteres intertextuelles Element, das Zitat von Texten des gleichen medialen Rangs (Literatur / Literatur), verweist das Motivpaar Bär – Telefon, da Čukovskij mit Majakovskijs avantgardistischem Poem Darüber (1923) vertraut war: Darüber: Медведем, когда он смертельно сердится, на телефон грудь на врага тяну.340

339 340 341

Als Bär, wenn er sich aufs äußerste ärgert, dehne ich über das Telefon die Brust – über den Feind.341

Zit. nach dem Aufsatz Collage, in: Falker, Glossarium der russischen Avantgarde, 152-178, hier: 167. Zit. nach V. Majakovskij, Pro ėto, in: Izbrannye sočinenija, 349-366, hier: 352. Zit. nach Everts-Grigat, V.V. Majakovskij: Pro ėto, 32.

Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

120 Telefon, Teil 4.: А потом позвонил медведь Да как начал, как начал реветь.342

Danach war der Bär am Telefon. Er heulte herum, ich verstand keinen Ton.343

Die Infantilisierung des Telefons ist sowohl durch die Protagonisten aus der Tierwelt als auch durch die deutliche Versstruktur und den Rhythmus, die Čukovskij den Kindergedichten entlehnt, geprägt. Die Idee zu den telefonierenden Tieren teilt Čukovskijs Aufsatz Die neue Epoche und die Kinder (Novaja ėpocha i deti) mit: – Nun Serjoža, erzähl ich dir ein Märchen. Einst rief die Großmutter sieben Geißlein... – Per Telefon?344

Der Verweis auf ein Medium – das „mündliche“ Telefon – durch ein anderes, den gedruckten fixierten Text, kommentiert dadurch das repräsentierte Medium und ermöglicht somit eine neue Sicht auf das repräsentierende Medium. Dies kann man als eine erste Ebene der Intermedialität bei Čukovskij sehen, die explizit und zielgerichtet auf den Gegensatz Schrift/Lesen – Rede/Hören verweist. Als eine zweite Ebene kann die Beziehung Bild – Text angesehen werden: Obwohl die Bilder zusätzlich den Text illustrieren und Werk eines zweiten Künstlers sind, wirken Wort- und Bildkunst als ein Gesamtkunstwerk, was schon am Beispiel von Darüber gezeigt wurde. Im Fall von Telefon aber werden für fast jede neue Ausgabe auch neue Bilder bestellt, weshalb diese intermediale Relation nicht beständig bleibt. Dennoch ist sie von Bedeutung für den nächsten Rezeptionsgegenpol Hören – Sehen, der besonders für die Telefonkommunikation entscheidend ist. Der implizite Leser beobachtet die Ereignisse durch die Erzählerperspektive. Abgesehen von einigen kurzen Kommentaren des lyrischen Ichs wird die Haupthandlung durch telefonische Dialoge übertragen: У меня зазвонил телефон. Кто говорит? Слон. Откуда? От верблюда. Что вам надо? Шоколада. 342 343 344 345

Bei mir klingelte das Telefon.345 „Hallo, wer ist dran?“ „Ich bin’s, der Elefant.“ „Von wo rufen Sie an?“ „Beim Kamel bin ich gerade.“ „Und was wünschen Sie?“ „Viel Schokolade.“

Zit. nach Čukovskij, Sobranie sočinenij v šesti tomach, Bd. 1, 207. Zit. nach Sutejew, Das Krokodil am Telefon, 71. Zit. nach E. Čukovskaja (Hg.), Kornej Čukovskij. Sobranie sočinenij, Bd. 2, M. 2001, 53. Bei Sutejev findet sich diese Zeile in anderer Übersetzung: „Dann schellte es wieder.“, vgl. Sutejew, Das Krokodil am Telefon, 65. Hingegen ist „Bei mir klingelte das Telefon“ meine Übersetzung [I. A.-L.], der Rest ist nach Sutejev zitiert.

Telefon und Kindlichkeit Для кого? Для сына моего.

121 „Für wen? Für Sie?“ „Nein, für den Sohn.“

Hauptmerkmale des Märchens sind die einfache Reimstruktur, die vielen Sprachspiele und die unsinnigen Wortkombinationen. Die paradoxen Situationen in der Kommunikation zwischen Erzähler und Tieren produzieren ständig komische Effekte, jeder Vers bringt unterhaltsame inhaltliche Überraschungen, weil er nur der Reimlogik folgt. Das Telefon verbindet die Protagonisten verbal miteinander. So wird der gedruckte Text von den kleinen Adressaten des Textes nicht direkt wahrgenommen. Ausgehend vom Titel des Essays Von zwei bis fünf (Ot dvuch do pjati), mit dem Čukovskij auf die Kritik an seinen Kinderwerken antwortet,346 kann man annehmen, dass das Märchen Telefon für Kinder zwischen zwei und fünf Jahren geschrieben wurde. Somit benötigen Kinder, die noch nicht über Lesekompetenz verfügen, ein Medium, welches den gedruckten Text in mündliche Rede transformiert. Sie rezipieren den Textinhalt durch die Stimme des Lesenden. Die Kinder können diesen unterbrechen und ihm Fragen über die Geschichte stellen. Dies gibt ihnen die Möglichkeit, die ganze Zeit über aktiv an der Erzählung teilzunehmen. Drei parallele Dialoge: lyrisches Subjekt – Tiere; lyrisches Subjekt – impliziter Leser und realer Leser – Hörer schaffen eine lebendige Kommunikationssituation, die die pragmatischen Zwecke des Textes durch eine permanente aktive Teilnahme des Kindes zu erfüllen versucht. Eine der wichtigsten dieser pragmatischen Funktionen des Textes ist es, das Kind zum Schlafen zu bringen347 – es identifiziert sich leicht mit dem IchErzähler und erlebt dadurch selbst dessen anstrengende Arbeit und Müdigkeit. Zu Beginn des achten Teils findet sich eine Konzentration von Ausdrücken, die die Müdigkeit des Erzählers beschreiben und das Schlafdefizit erklären: Я три ночи не спал, Я устал. Мне бы заснуть, Отдохнуть... Но только я лег – Звонок!

346

347

Nacht für Nacht emporgeschreckt – Wollte schlafen, aber nein, eingeschlummert, aufgeweckt, Telefon, komm ja schon. Wer mag’s diesmal wieder sein?

Am 1. Februar 1928 startet Nadežda Krupskaja mit ihrer Publikation in der Pravda eine Kampagne gegen Čukovskij. Mehr dazu in Čukovskij, Sobranie sočinenii, Bd. 2, Moskau 2002, 609-633. Dies ist auch der ursprüngliche Grund Čukovskijs, für Kinder zu schreiben. Im Vorwort Über die Erzählungen (Ob ėtich skazkach) teilt er mit, dass er – als sein Sohn krank war – etwas brauchte, um ihn zu beruhigen und zum Einschlafen zu bringen. Čukovskij, Sobranie sočinenij v šesti tomach, 163-172.

122

Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

Gewissermaßen wie ein Wecker reißt das Klingeln des Telefons den IchErzähler aus dem Schlummer; der unerwartete Anruf und das Unvorhersehbare halten ihn wach. Zur vollständigen Manipulation des Kinderbewusstseins in Richtung Erschöpfung und Schlaf kommt noch das Herausziehen des Flusspferds aus dem Sumpf hinzu. Die Erklärung „Ach, es ist keine leichte Arbeit – / Das Flusspferd aus dem Sumpf herauszuziehen“348 (Och, nelegkaja ėto rabota – / Iz bolota taščit’ begemota!), weist uns darauf hin, dass die Rettung geglückt ist. Und wieder hängt das groteske Bild mit der Reimstruktur zusammen. Das Sumpf-Abenteuer stellt den schwierigsten Fall und zugleich das Ende des Märchens dar. Das Kind kann nach der harten Arbeit des Ich-Erzählers ruhig einschlafen, wenngleich nicht klar wird, ob mit diesem Auftrag auch die lange Schicht des telefonierenden Märchen-Erzählers endet. Zielbewusst wendet Čukovskij eine ähnliche Methode auch in dem Märchen Dr. Ajbolit und seine Tiere (Ajbolit) aus dem Jahre 1929 an. Dort erfahren wir, dass „Zehn Nächte Ajbolit / isst nicht, trinkt nicht, schläft nicht“ (desjat’ nočej Ajbolit / Ne est, ne p’et i ne spit349). Die Episoden des Märchens kombinieren Kinderlogik, die innere Mechanik des Gedichts, Sprach- und Reimspiele, Motive der Fabelwelt und Nonsens-Szenen. Allen Episoden gemeinsam ist das Telefon, das gleichzeitig eines der Mittel darstellt, solch fantastische Geschichte entwerfen zu können. Havelock geht davon aus, dass der Mensch schon früh gelernt habe, seine Gedanken in rhythmische Rede zu transformieren und durch das Hinzufügen von künstlerischen Formen wie dem Gleichgewicht der Oppositionen und der Parallelität die Möglichkeit hatte, sein Gedächtnis zu trainieren, was es ihm ermöglichte, dieses schon vor Einführung des Alphabets für die Verwahrung von Geschichten nutzen. Die ersten Verse prägen sich am besten ins Gedächtnis ein und da man nur eine begrenzte Textmenge auswendig lernen kann, kommt dem ersten Teil von Telefon eine wichtige Rolle im Hinblick auf das Erlernen des korrekten Verhaltens am Telefon zu. Dem Kind wird dieses Verhalten von beiden Enden der Leitung vermittelt – es weiß schon, was es fragen soll, wenn bei ihm das Telefon klingelt (Wer ruft an? Woher? Was wollen Sie?) bzw. es weiß, welche Fragen es erwarten, wenn es selbst anruft. Unterhaltsam aber ist vor allem, wie sich das wirkliche Modell des Telefonierens der seriösen Erwachsenen-Welt parallel zur lustigen Märchenwelt der Tiere ausbreitet: Das ernsthafte Verhalten des Erzählers trägt zu der komischen Parodie eines Gesprächs bei. In den Teilen, in denen der Bär auftritt, kommen wir zum ersten Kommunikationsproblem: 348 349

Eigene Übersetzung [I. A.-L.]. Zit. nach Čukovskij, Sobranie sočinenij v šesti tomach, 246.

Telefon und Kindlichkeit А потом позвонил медведь Да как начал, как начал реветь. – Погодите, медведь, не ревите, Объясните, чего вы хотите? Но от только „му“ да „му“, А к чему, почему – Не пойму! Повесьте, пожалуйста, трубку!

123 Danach war der Bär am Telefon. Er heulte herum, ich verstand keinen Ton. „Ganz ruhig, Herr Bär, wenn Sie so klagen, kann ich nicht hören, was Sie sagen.“ Doch er jammert und murrt in einem fort: „Brumm, brumm und brumm.“ Ich verstand kein Wort. Wußte auch keine Antwort darauf. „Bitte, Herr Bär, legen Sie auf!“

Geht man mit Jakobson davon aus, dass der Kommunikationscode gemeinsam an Adressaten und Adressanten gerichtet sein muss, damit die Metalingualfunktion der Sprache befriedigt werden kann, so zeigt sich hier, dass der Kommunikationscode unterschiedlich ist, was schließlich ein Missverständnis provoziert.350 Warum ist es gerade der Bär, der das Gespräch nicht führen kann? Er und die Hasen sind die einzigen Protagonisten der Tierwelt dieses Märchens, die wir vom russischen Volksmärchen kennen. Sie sollten die Sprache des Erzählers sprechen können. Der Bär brüllt und schreit noch in Čukovskijs Meister Petz und der Fuchs (Toptun i lisa): „Wie soll ich, Bär / nicht weinen, nicht heulen?“ (Kak že mne, Medvedju, / Ne plakat’, ne revet’?351) Die außerordentliche vokale und physische Macht des Bärs kontrastiert mit seinen schwachen Kommunikationsfertigkeiten. Čukovskijs Bär bleibt unverstanden und muss den Telefonhörer auflegen, obwohl auch er Hilfe benötigt. In den folgenden zwei Teilen wird das Kommunikationsgleichgewicht wiederhergestellt und das Auftauchen der nächsten Schwierigkeit vorbereitet – eine fehlerhafte Telefonnummer. А вчера поутру Кенгуру: – Не это ли квартира Мойдодыра? – Я зассердился да как заору: – Нет! Это чужая квартира!!! – А где Мойдодыр? – Не могу вам сказать... Позвоните по номеру Сто двадцать пять.

350 351

Gestern, auf den Morgen zu, wer ruft an? Ein Känguruh! „Endlich, endlich hab ich Sie, Zaubermeister Susemi!“ Wütend wurde ich und schrie: „Hier gab’s nie ’nen Zauber, nie!“ „Und wo find ich diesen Mann?“ „Rufen Sie die Auskunft an!“

R. Jakobson, Metalanguage as a Linguistic Problem, in: Selected Writings, Bd. 7, Berlin 1985, 115. Zit. nach Čukovskij, Sobranie sočinenij v šesti tomach, 207.

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Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

Das Känguru verwählt sich und ruft nicht Mojdodyr (in der deutschen Übersetzung: Zaubermeister Susemi), sondern den Erzähler an. Obwohl dieser sich über die Störung ärgert, wird der Leser dadurch zum Lachen animiert, dass das Känguru trotzdem mit Mojdodyr sprechen will. Mojdodyr ist Protagonist in dem gleichnamigen Märchen352: ein großes Waschbecken, „Vorgesetzter der Waschbecken / und der Schwämme Kommandeur“, das den Kindern vermitteln soll, sich morgens und abends zu waschen. Es gehört weder der Welt der Menschen noch jener der Tiere an: Es ist ein Gegenstand, genau wie das Telefon. Die Tatsache, dass das Känguru ihn anruft, beweist, dass Mojdodyr auch am Telefon sprechen kann. Das Telefon selbst als Medium für die Übertragung von Sprache soll stumm bleiben. Hätte es eine eigene Stimme, wie würde es die Stimmen der Tiere übermitteln? Dieses Thema werden wir noch einmal im Zuge der Analyse von Mandel’štams Primus aufgreifen, wo das Telefon sprechen und sich sogar beklagen kann. Der Ich-Erzähler äußert sich nicht dazu, ob die Beantwortung der Anrufe seine Aufgabe ist, jedoch steht er immer zur Verfügung, wenn die Tiere seine Hilfe benötigen. Er schaltet das Telefon nicht aus, auch dann nicht, wenn er schlafen will. Damit zeigt er neben seiner Abneigung auch seinen Respekt vor der Autorität des Telefonapparats. Die Kinder werden in die Welt der Erwachsenen auch durch das Motiv des Todes eingeschlossen: So wird der Moment höchster Spannung erreicht, als sich das Flusspferd im Sumpf in tödlicher Gefahr befindet. Die Skala der Not und der Gefälligkeit reicht von Schokolade über Galoschen und Bücher bis hin zum Unfall des Flusspferdes. Dies ist der letzte Notruf und die einzig ausdrücklich erledigte Aufgabe. Čukovskij teilt in Kinder über den Tod (Deti o smerti) mit, dass Kinder im Vor- und Grundschulalter den Tod häufig als Ereignis aufnähmen, an dem sie selbst nicht partizipierten und dass, auch wenn alle anderen sterben sollten, sie am Leben blieben.353 In der so von Čukovskij gebildeten ethischen Hierarchie steht der Tod an der Spitze – als das schrecklichste Ereignis, das eintreten kann. In der russischen avantgardistischen Lyrik wird, wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt wurde, das Telefonmotiv oft mit dem Motiv des Sterbens zusammengebracht. Die ursprüngliche Reinheit der Kindheit, das Experimentieren mit Sprache, die Absurdität und die technische Begeisterung sind einige der Besonderheiten der russischen Avantgarde, die sich unverkennbar auch in Čukovskijs Märchen Telefon niederschlagen. Aus medialer Perspektive wird der Fernsprecher in Telefon eingeführt, um die Stimmlichkeit zu betonen. Der Autor inszeniert die Gespräche und lässt dadurch die Stimmen von Mensch und Tier erklingen. Dem elektrischen Medium kommt die Funktion 352 353

Ebd., 181. So konstatiert ein vierjähriger Junge bei einer Beerdigung: „Alle sterben, aber ich bleibe.“ Čukovskij, Sobranie sočinenij, Bd. 2, 142.

Telefon und Kindlichkeit

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zu, die Welt der Menschen mit jener der Tiere zu verbinden. In diesem virtuellen Raum sind beide Welten gleichgestellt, was absurde und komische Situationen produziert.

4.2.2. Einsames Telefon – Osip Mandel’štams Primus Mandel’štams Gedicht Primus aus dem Jahre 1924 lässt sich sowohl zeitlich und räumlich als auch kulturell dem gleichen Kontext wie Čukovskijs Gedicht Telefon (1926) zuordnen. Mandel’štam hat den starken Einfluss der Märchen von Čukovskij auf die Kinder begriffen und konsequent seine Ratschläge von Gedichte für Kinder (Stichi dlja detej354) entgegengenommen. In Primus wird ein Augenblick aus dem Alltag einer Küche beschrieben, in der das ganze Geschirr belebt ist. Das prosaische, alltägliche Teeaufbrühen wird zum lauten Fest, an dem sich einzig das Telefon nicht beteiligt. Es erscheint als eine dem Trubel entgegengesetzte, außerordentlich traurige und unverstandene Gestalt. Плачет телефон в квартире – Две минуты, три, четыре. Замолчал и очень зол: Ах, никто не подошел.355

Telefon weint in der Wohnung – Zwei und drei und vier Minuten. Es verstummt und ist erbost: Ach, niemand geht heran.

Zu Beginn seiner Einführung ins Gedicht weint das Telefon, nicht wissend, ob jemand auf den Anruf antworten wird. Wird zunächst die Sicht des distanzierten Erzählers eingenommen, so folgt bald die eigene Perspektive des Telefons und dessen Monolog: – Значит, я совсем ненужен: Я обижен, я простужен: Телефоны – старики – Те поймут мои звонки!356

Also werd ich nicht benötigt: Ich bin beleidigt und erkältet: Nur die Telefonengreise Sie verstehen meine Sorgen!

Einige Strophen später dann wird der Grund für diese traurige Situation erläutert: „Schuld dran ist der Wasserhahn – / Er macht Lärm, wie eine Trommel.“ (Vinovat otkrytyj kran – / On šumit, kak baraban.)357 Das Gedicht besteht aus 14 relativ selbständigen Teilen, unterschiedlich sowohl in semantischer als auch in graphischer und rhythmischer Hinsicht. Unregelmäßig reihen sich etwa Zwei-, Drei- und Vierzeiler aneinander – eine solche Vielfalt, für die Čukovskij sich in seinen „Befehlen“ ausspricht, ist 354 355 356 357

Čukovskij, Sobranie sočinenij, Bd. 1, 590-591. O. Mandel’štam, Sočinenija v dvuch tomach, Bd. 1, Moskau 1990, 321. Ebd., 322. Ebd., 323.

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Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

notwendig, um die Aufmerksamkeit des Kindes zu fesseln und die Monotonie, die es ablenken würde, zu vermeiden. Die Telefonstimme ertönt einzig im siebten Teil, während sich im zwölften Teil nur die Stimme des allwissenden Erzählers vernehmen lässt. Dem Leser bleibt verschlossen, wer wen anruft und worum der Angerufene gebeten wird: Vor ihm steht nur das Medium, das sich unnütz fühlt, weil es seiner in der Vermittlung liegenden Bestimmung nicht nachkommen kann. „Telefonengreise“ (Telefony – stariki): laut Timenčik betrifft der Ausdruck die „Annäherung der Kindheit und des Alters, wie auch die Reaktion auf den Verschleiß der Apparate erster Generation, wie des Telefons“.358 Putilov zufolge führt Mandel’štam das Kind in die Welt des konkreten gegenwärtigen Alltags ein, indem er die denkbar prosaischsten Gegenstände wählt – Teekessel, Bügeleisen usw. Der Poet stellt sie als sympathische und gleichberechtigte Teilnehmer am Leben der Menschen dar.359 Wenngleich weniger prosaisch, so ist das Telefon doch auch ein Teil von dieser Welt. Komisch und Mitgefühl heischend, wie es auftritt, leidet es jedoch nicht allein in diesem Gedicht – beispielsweise bitten die Bleistifte den Jungen, der nicht malen kann, sie frei zu lassen: „Lass uns los, spitz uns nicht!“360 In der von Mandel’štam entfalteten Welt der Gegenstände treten verschiedene Wechselbeziehungen auf, es erklingen kleine Dialoge, Stimmen und Intonation sind klar zu vernehmen. Diese dialogische Form ist dem Fehlen eines Gesprächspartners am Telefon entgegengestellt – für den Dichter ein sehr empfindliches Thema, das er ausführlich in dem Essay Über den Gesprächspartner361 von 1913 entwickelt. Obwohl es um einen Dialog zwischen Dichter und Publikum geht, um die Angst vor einem konkreten Adressaten und gleichzeitig um die Notwendigkeit eines Dialogs mit einem „mehr oder minder fernen, unbekannten Adressaten“362, könnten seine Überlegungen auch auf das Kindergedicht projiziert werden. Die Unsicherheit, der implizite Wunsch, aber auch die Angst, dass der konkrete Gesprächspartner seine Worte hören kann, verursachen die Isoliertheit des Telefons – des Mediums, das den Erzähler aus seiner schöpferischen Einsamkeit herausziehen könnte. Der Dichter lehnt den Kontakt mit dem unbekannten Gesprächspartner ab und sucht die Schuld in dem Lärm am Ende der Leitung. Obwohl Primus für Kinder bestimmt ist, wohnt auch diesem Text die Dramatik von Gedichten wie Leningrad (1930), Mir fehlt noch etliches zum Patriarchen (Ešče daleko mne do patriarcha, 1931) und Telefon (1918) inne, 358 359 360 361 362

Timenchik, K simvolike telefona v russkoj poezii, 156. O. Mandel’štam, Sočinenija v dvuch tomach, 591. Ebd., 323. O. Mandel’štam, Über den Gesprächspartner, Zürich 1994. Ebd., 15.

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indem das Telefon-Motiv parallel zu den Ideen von Tod, Einsamkeit und Selbstmord bearbeitet wird. Das Telefon ist ein den übrigen Gegenständen entgegengestellter Protagonist, dessen Klingeln zur Eskalation des Lärmes beiträgt. Im zwölften Teil ist das akustische Bild außerordentlich expressiv, in nahezu jedem Vers lassen sich Lautzeichen entdecken: Erbsen, Klingeln, schlecht hören, taub, laut wie eine Trommel. Durch die Gegenüberstellung der Taubheit, die in der Welt der Stille herrscht, und des Lärmes der Trommel, der am anderen Ende der Lautskala stattfindet, vermeidet der Dichter die Anwendung von lautnachahmenden Ausdrücken. Mandel’štam thematisiert das Telefon aus zwei Blickwinkeln – einmal ist es ein Gegenstand wie alle anderen, zum anderen fällt ihm die Rolle eines Mediums zu. Die mediale Funktion des Fernsprechers bleibt jedoch unrealisiert, wodurch eine trostlose Stimmung geschaffen und das Telefon in die Position eines Außenseiters gerückt wird.

4.2.3. Riese am Telefon – Charms Professor Trubočkin Charms sagte: Ich habe eine sehr einfache Telefonnummer – 32-08. Das lässt sich leicht merken: Zweiunddreißig Zähne und acht Finger.363

1933 wurde die Kindererzählung Professor Trubočkin in vier Ausgaben der Zeitschrift Zeisig (Čiž364) veröffentlicht. Zum einen führt Charms das Telefon auf narrativer Ebene ein, um – ähnlich wie bei Detektiverzählungen – der Handlung eine größere Spannung zu verleihen, andererseits bedient er sich der medialen Besonderheiten des Telefons, um avantgardistische Elemente der „Zaumsprache“ in den Text zu integrieren. Nach der Vernichtung von OBĖRIU365 war das Schreiben von Kindergeschichten und -gedichten die einzige Möglichkeit für Charms, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Kinderliteratur bot ihm Raum für seine 363 364 365

Anekdote. Zit. nach Sergej Dovlatov, Izbrannoe. Čast’ 1, url: http://www.wtr.ru/aphorism/dovlatov1.htm. Nr. 7, 8, 11, 12/1933, zit. nach Daniil Charms, Polnoe sobranie sočinenij Bd. 3, St. Petersburg 1997, 155-166. Am 10. Dezember 1931 wurde Charms verhaftet und zusammen mit Tufanov und Vvedenskij wegen der Organisation einer antisowjetischen illegalen Schriftstellergruppe angeklagt. OGPU stellte den Sammelband Eine Sammlung konterrevolutionärer Werke der illegalen antisowjetischen Gruppe von Kinderschriftstellern. Erste Ausgabe zusammen. Mit der Aktion wurde die Gruppe OBĖRIU – Vereinigung einer realen Kunst – vernichtet. Valerij Sažin, Das Schicksal des literarischen Nachlasses von Charms, in: Charms, Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 1, 13-14.

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Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

berühmten Mystifikationen und burlesken Darstellungen unsinniger Lebenssituationen, wie dies auch der Fall war bei Professor Trubočkin – einem Text, der in äußerster materieller Not geschrieben wurde und an Kinder adressiert war.366 In diesem Text ist das Medium Telefon an den polysemantischen Spielen beteiligt. Die Geschichte erzählt davon, wie der ZeisigMitarbeiter Professor Trubočkin entführt wird und wie seine glückliche Rückkehr in die Redaktion ermöglicht wird. Die reale Alltagswelt im Leningrad der 30er Jahre wird hier mit den für die spätere Prosa von Charms spezifischen Mysterien und Wundern verknüpft. Zu Beginn des zweiten Teils – der Professor wird von allen erwartet – klingelt plötzlich das Telefon. Aus dem Gespräch wird deutlich, dass er vom Riesen Bobov entführt wurde. Während der Redakteur Kolpakov und der Illustrator Tetin einen Rettungsplan diskutieren, ruft Fedja Kočkin an und erklärt sich bereit, den Professor zu befreien. Dieser Teil endet damit, dass die beiden Journalisten die Entwicklung der Ereignisse abwarten. Die Handlung ist äußerst statisch aufgebaut – die beiden Protagonisten verlassen den Raum der Redaktion nicht, außerdem erscheint der Hauptprotagonist im Grunde genommen gar nicht. Nur mittels des Telefons vernehmen die Leser die Stimme des Unbekannten. Auf diese Weise wird die Kommunikation zwischen dem Redakteur und dem Riesen zum zentralen Element der Geschichte, zum einen aufgrund der Nachricht von der Entführung, zum anderen infolge der Kommunikationsprobleme während ihrer Übermittlung: Um halb drei klingelte in der Redaktion das Telefon. Der Redakteur nahm den Anruf an. – Ich höre, – sagte der Redakteur. – Ba-ba-ba-ba-ba, – raunten im Telefon erschreckende Geräusche, die an Kanonenschüsse erinnerten. Der Redakteur schrie auf, ließ den Telefonhörer aus den Händen fallen und griff an sein Ohr. – Was ist passiert? – schrien der Schriftsteller Kolpakov und der Maler Tugin und stürzten zum Redakteur. – Ich bin wie betäubt, – sprach der Redakteur, mit dem Finger das Ohr reinigend und den Kopf schüttelnd. – Bu-bu-bu-bu-bu! – klang es aus dem Hörer. – Was ist denn los? – fragte der Maler Tugin. – Wer weiß das schon! – brüllte der Redakteur, immer noch mit dem Kopf schüttelnd. – Wartet, – sagte der Schriftsteller Kolpakov, – ich glaube, ich erkenne Wörter. Alle hielten still und hörten aufmerksam zu. – Bu-bu-bu… werde… bu-bu… mehr… Schmerz… Walzen Balzen… tu-bu-bu! – dröhnte es aus dem Telefon. – Da spricht doch einer mit so einem fürchterlichen Bass! – schrie der Maler Tugin. 366

Die Kindlichkeit bei Charms wurde von Thomas Grob in Daniil Charms' unkindliche Kindlichkeit untersucht. In den hier analysierten Werken schließt sich der künstlerische Kreis, der 1913 mit der futuristischen Inspiration von der Kindlichkeit begann.

Telefon und Kindlichkeit

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Der Redakteur faltete die Hände vor seinem Mund wie eine Flüstertüte und schrie in den Telefonhörer: – Hallo! Hallo! Wer spricht? – Riese Bohnen-bohn-bohn-bohn! – hörte man aus dem Telefon. – Was? – wunderte sich der Redakteur. – Es gibt doch gar keine Riesen! – Gibt es nicht, und ich bin Riese Bohnen, – antwortete der Hörer mit Rauschen. […] – Ich bin’s! Ich bin’s! – chra!-chra!-chra! Ich habe Professor Hörrrrrrrrer erwischt. Und ich lasse ihn nicht zu euch – eu-eu-eu! – schrie die Stimme aus dem Telefon. – Professorrrrr Hörrrrer ist mein Arzt ratz-ratz-ratz, ryk äryk kykyryk…, – krachte etwas im Telefonhörer und auf einmal war alles still. Aus dem Telefonhörer stieg Rauch empor.367

Die Form trägt zwar noch Merkmale der experimentellen Literatur der 20er Jahre, inhaltlich jedoch entspricht die Gestaltung des Motivs Telefon einer für die 30er Jahre typischen Szenerie. Erstens wird das Telefon als ein Instrument der Macht dargestellt – die in diesem Falle bei dem Riesen liegt –, zweitens zeigt sich die Auflösung von privater Kommunikation und persönlichen Beziehungen. Die Protagonisten werden lediglich mit ihren Berufen idenifiziert: der Redakteur, der Maler, der Professor. In dem Zitat lassen sich zwei parallele Kommunikationslinien unterscheiden: Die eine stellt das Telefonat selbst dar, die andere, als direktes Resultat der ersten, enthält die face-to-face-Repliken der Journalisten. Beide versuchen, die undeutlichen Laute und Worte zu dechiffrieren. Die technische Verbindung, die durch elektrische Impulse menschliche Rede übermittelt, ist defekt. Die unverständliche Sprache zu Beginn und zum Ende des Gesprächs sichert die dramatische Spannung der Erzählung. Die Worte des Riesen können aber auch als Elemente der avantgardistischen Zaum-Lautsprache betrachtet werden. Mit Hilfe dieser Zaumsprache überwinden die avantgardistischen Künstler die literarischen Konventionen und erreichen, dass sie jenseits der Vernunft agieren können. In der Erzählung von Charms ist es die elektrische Störung und nicht der Künstler selbst, der das Wort von seiner Bedeutung befreit. Der Rauch aus dem Telefonhörer nach dem Gespräch kann als eine intertextuelle Parodie auf Majakovskijs Telefonat in Darüber interpretiert werden. In der ersten Hälfte der 30er Jahre tritt das verrückte experimentelle Spiel mit Worten langsam in den Hintergrund. Deswegen überträgt der Erzähler von Professor Trubočkin die „Autorschaft“ der lautmalerischen Sätze auf das Telefon. Obwohl die Mitglieder der OBĖRIU bereits im Jahr 1927 der ZaumSprache entsagen, mischt Charms weiterhin Zaum-Fragmente in seine Kinderprosa ein. Im ersten Teil der Erzählung finden wir Hinweise auf diese Tendenz: 367

Charms, Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 3, 160f. Hier und im Folgenden übersetzt von Konstantin Kaminskij und Alexander Weber,wenn nicht anders angegeben.

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Жик жик жик. Фок фок фок. Рик рик рик. Шук шук шук.368

Žyk žyk žyk Fok fok fok. Rik rik rik. Šuk šuk šuk.

Der Pseudo-Professor Trubočkin behauptet, dieses Gedicht in der niemandem bekannten „fistolischen“ Sprache geschrieben zu haben. Die Akkumulation „falscher“ Behauptungen deckt die Identität auf; die Frage nach der Autorschaft der Zaum-Strophen klingt wie eine selbstironische Verleugnung derselben. Auch auf der Ebene der Protagonisten-Namen finden sich Mystifikationen und Sprachspiele. So ist etwa der Name Trubočkin, der auch den Helden des gleichnamigen Vers-Stücks von 1930 schmückt, vom Substantiv trubka (Hörer) abgeleitet und doppeldeutig: Einerseits steht er für die autobiographische Verbindung mit Charms als leidenschaftlichem Pfeifenraucher, andererseits trägt das Wort die Bedeutung Telefonhörer. Das Telefonat zwischen Kolpakov und Bobov provoziert vor allem Gelächter. Besonders beim lauten Lesen der reichhaltigen Lautassoziationen wird man nicht nur an technische Probleme erinnert, zugleich wird auch die Vorstellungskraft stimuliert: „Und ich lasse ihn nicht zu euch – eu-eu-eu.“ (I ne pušču ego k vam- am-am-am) – das Echo der letzten Silbe ist onomatopoetisch und bildet die Laute beim Essen ab. Damit evoziert das defekte Telefon die zusätzliche Bedrohung, dass der Professor aufgegessen werden könnte. Smirnov beschreibt diese Anzeichen der Zaumsprache als „Kommunikationsakt, der unter Verwendung des unpassenden, unverständlichen, verbotenen, unkorrekten, verbrauchten, […] zitierten und grundsätzlich eines fremden Wortes konstruiert wird“.369 Die Verletzung des primären Modells der Kommunikation im ersten Telefonat wird durch das zweite Gespräch aufgehoben. Das zweite Telefonat löst zwei Elemente der Erzählung auf: Erstens ergibt es sich, dass das Telefon wieder normal funktioniert, und zweitens ist die Lage des Riesen ohne Bedeutung für die Journalisten, weil Fedja die Initiative übernimmt. Diese problemlose Kommunikation stellt die narrative Balance am Ende wieder her. Biografisch gesehen kann dieser avantgardistische Text als eine Allegorie von Charms’ Verhaftung und Verbannung nach Kursk interpretiert werden, wobei der Riese Bobov als implizites Bild Stalins betrachtet werden könnte. Geprägt von der brutalen Absurdität des Stalinismus trifft Charms mit seiner Prosa den Nerv der 30er Jahre. So wird das Telefonat des Riesen mit dem Schriftsteller zu einem Telefonat, welches das Erzähltalent von Charms mit den letzten avantgardistischen Aufwallungen zusammenführt. 368 369

Ebd., 158. Zit. nach Irina Sachno, Russkij avangart, Moskau 1999, 52.

Mandel’štams Telefon-Motivik

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4.3. Mandel’štams Telefon-Motivik Mandel’štam Os. Ėm. Gerzena 49, t. 558-32370 Mandel’štam, Osip Ėmil’evič. Gerzena 49, Tel. 558-32. Твое чудесное произношенье – Горячий посвист хищных птиц; Скажу ль: живое впечатленье Каких-то шелковых зарниц.

Deine wundervolle Aussprache – Heißer Gesang der Raubvögel; Ich könnte sagen: ein lebendiger Eindruck Von einem seidenen Sonnenaufgang.

„Что“ – голова отяжелела. „Цо“ – это я тебя зову! И далеко прошелестело: Я тоже на земле живу.

„Was“ – wird der Kopf mir immer schwerer. „Co“ – so rufe ich nach dir! Und in der Ferne flüstert leise: Ich lebe auch auf der Erde.

Пусть говорят: любовь крылата, Смерть окрыленнее стократ; Еще душа борьбой объята, А наши губы к ней летят.

Lass sie nur sprechen: Liebe beflügelt, Der Tod ist hundertfach beflügelter; Die Seele ist vom Kampf ergriffen, Und unsere Lippen fliegen ihr zu.

И столько воздуха и шелка И ветра в шопоте твоем, И как слепые ночью долгой Мы смесь бессолнечную пьем.371

Und soviel Luft und Seide Und Wind in deinem Flüstern, Und wie Erblindete in einer langen Nacht Wir trinken eine sonnenlose Mischung.

Mit diesem Gedicht aus dem Jahr 1917 beginnt nach Timenčik eine neue Etappe der Darstellung des Telefons in der poetischen Kultur Russlands: „Hierbei erfolgt seine endgültige tiefe Verwurzelung in ihr, die genau dann passiert, wenn das Symbol den hohen Wert des ungesagten Wortes erreicht.“372 Mit Deine wundervolle Aussprache (Tvoe čudesnoe proiznošen’e) beginnt bei Mandel’štam die Entwicklung des Paradigmas Telefon – Tod, wobei der Dichter das Motiv des Telefons eng mit dem der Todesvorahnung verknüpft. Diese Verknüpfung führt er in Werken wie Telefon, Leningrad, Primus und Die ägyptische Briefmarke (Egipetskaja Marka) fort. Timenčik weist darauf hin, dass die Wendung „Deine herrliche Aussprache“ an Achmatova gerichtet war. Schon 1915 stellt Mandel’štam die telefonierende Poetin dar:

370 371 372

Leningrader Telefonbuch, Adresnaja i spravochnaja kniga g., Leningrad 1926. Mandel’štam, Sobranie sočinenij v trech tomach, Bd. 1, 68. Hier und im Folgenden übersetzt von Ralph Dutli, wenn nicht anders angegeben. Timenčik, K simvolike telefona v russkoj poėzii, 160.

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132 Черты лица искажены Какой-то старческой улыбкой. Ужели и гитане гибкой Все муки Данта суждены?373

Die Gesichtszüge sind verzerrt Durch ein greises Lächeln. Sind auch der zierlichen Gitane [Zigeunerin] Die Qualen Dantes vorbestimmt?

Weitere Informationen zu diesen Versen erhalten wir von Achmatova selbst: „[...] der Vierzeiler Deine Gesichtszüge sind verzerrt (Čerty lica iskaženy) war eine Naturskizze. Ich war mit Mandel’štam am Bahnhof in Carskoeselo (in den 10er Jahren). Er beobachtete durch die Glasscheibe der Telefonzelle, wie ich am Telefon sprach. Als ich herauskam, las er mir diese vier Verse vor.“374 Während der Erzähler in Deine Gesichtszüge sind verzerrt den stimmlosen Körper betrachtet, gleichsam eine Artikulation ohne Laut, so ist es der genaue Gegensatz, der ihn 1917 fasziniert – die Stimme ohne Körper. Grundsätzlich lässt sich das Gedicht Deine wundervolle Aussprache als ein Telefonat interpretieren, welches trotz der eingeschränkten Kommunikation und der daraus resultierenden Unzufriedenheit des lyrischen Ichs zumindest die Möglichkeit eines virtuellen Kontakts mit seiner Geliebten bietet. Das Gedicht setzt sich aus vier Vierzeilern im Kreuzreim zusammen, wobei die dialogische Struktur des Telefonats in den lyrischen Monolog des IchErzählers übertragen wird. Mit dem ersten Wort des Gedichts, dem Possessivpronomen „deine“, bestimmt der Ich-Erzähler seine Adressatin bzw. Gesprächspartnerin am Telefon. Der lyrische Monolog schafft eine zweite kommunikative Ebene zwischen denselben Teilnehmern, sofern das Telefongespräch zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Geliebten als erste Ebene betrachtet wird.375 Und ein weiteres gemeinsames Element findet sich bei diesen Kommunikationssituationen, das für alle „Telefon“-Gedichte kennzeichnend ist: indem das von Natur aus mündliche Telefonat mit der mündlichen Gattung der Poesie kombiniert wird, bietet sich die Möglichkeit für ein besonders produktives lyrisches Experiment und eine spezifische Darstellung des elektrischen Mediums Telefon. Der Versuch wird gegen die Schrift und die schriftlich-visuelle Dimension der Lyrik positioniert. 373 374 375

Mandel’štam, Sobranie sočinenij v trech tomach, Bd. 1, 139. Anna Achmatova, Mandel’štam, in: Sočinenija, Bd. 2, München 1967, 173, hier zit. nach Mandel’štam, Sobranie sočinenij v trech tomach, Bd. 1, 481. Vgl. den Essay O sobesednike (Über den Gesprächspartner, 1913), in dem Mandel’štam die Dichter-Zuhörer-Kommunikation auflöst. Nach ihm gibt es keine Lyrik ohne Dialoge, den Schreibprozess vergleicht der Dichter mit dem Schreiben von Briefen: „Die Sache ist sehr einfach: Wenn wir keine Bekannten hätten, würden wir ihnen keine Briefe schreiben und kämen so um den Genuß psychischer Frische und Neuheit, die dieser Beschäftigung eigen ist.“ Zit. nach Osip Mandel’štam, Über den Gesprächspartner. Gesammelte Essays I, Frankfurt/M. 1994, 7-16.

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Deine wundervolle Aussprache richtet sich weniger an das Visuelle als an das Auditive: In der ersten Strophe wird die „herrliche“ Aussprache mit dem Krächzen der Raubvögel verglichen – ein Geräusch, so scharf wie ein Blitz. Für Timenčik sind die „seidigen Blitze“ ein sinnästhetisches Abbild der körperlosen Stimme, ähnlich wie bei A. Lipeckij, der auf einen metaphorischen Zusammenhang zwischen den Paaren Körperlos – Stimmlos und Donner – Blitz376 hinweist. Auch in Majakovskijs Gedicht Darüber377 findet sich das Blitz-Motiv, das im Folgenden noch einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden soll. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Blitz nicht nur als Symbol des mythologischen Himmelfeuers, sondern aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem elektrischen Funken auch für die graphische Abbildung der elektrischen Kommunikationsmittel verwendet (vgl. die folgende Illustration aus den 20er Jahren). Abb. 17: Titelblatt der Zeitschrift Svjaz, Mai 1925.

376

377

A. Lipeckij, Plennaja molnija, in: Tišina 1920, 15: „Im zauberhaften Telefonhörer / Schlangenzunge und Wein-Delirium / Und Flüstern der verliebten Frau / Belebt die Feuer-Saite (V volšebnoj trubke telefona / Uža jazyk, i bred vina / I lepet ženščiny vljublennoj / Životvorit ogon’-struna), zit. nach Timenčik, K simvolike telefona v russkoj poėzii, 159. „Aus der Fabrikmarke – / Zwei grelle Pfeile / Umschlingen ein Telefon mit Blitzen“ (Iz fabričnoj marki – / Dve strelki jarkie / Omolnili telefon), Majakovskij, Izbrannye sočinenija, 350.

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In der zweiten Strophe wird unvermittelt ein Teil des Telefongesprächs zitiert: „,Was‘ – wird der Kopf mir immer schwerer. / ,Co‘ – so rufe ich nach dir!“ („Čto“ – golova otjaželela. / „Cо“ – ėto ja tebja zovu!). Diese zwei Repliken, die sich kaum als Dialog bezeichnen lassen, verdeutlichen die Unvollständigkeit und die daraus resultierende Unzufriedenheit des lyrischen Ichs mit dieser Art der Kommunikation. Das Scheitern von Verständigung interpretiert Timenčik als eine Parallele mit der polnischen Sprache: „Der Klang des Telefonsignals erinnerte Mandel’štam auch später an die polnische Rede.“ Als Beweis seiner These führt er das Gedicht Mir fehlt noch etliches zum Patriarchen (Ešče daleko mne do patriarcha, 1931)378 an. Darüber hinaus könnte man diese zwei Verse dahingehend verstehen, dass sie die Unmöglichkeit einer Dialogführung illustrieren. Die Distanz zwischen den Gesprächspartnern ist so unüberwindlich, weil sie sich quasi in zwei verschiedenen Ländern befinden. Die Frageformen „was“ können wir als Teil der impliziten Äußerungen „Ich kann dich nicht hören“ oder „Ich kann dich nicht verstehen“ erkennen. Das Gefühl der Trennung verstärkt sich für beide im nächsten Vers „Und in der Ferne flüstert leise“ (I daleko prošelestelo), darin versinnbildlicht die abstrakte Distanz die existentielle Einsamkeit des lyrischen Ichs: „Ich lebe auch auf der Erde“ (ja tože na zemle živu). Gleichzeitig erinnert das Rauschen an jenes der Papierblätter des Dichters. Das Alleinsein ist der Grund für das Misstrauen der Behauptung zu Beginn der 3. Strophe, dass die Liebe beflügelt sei. Letztlich kann nur der Tod die Seele vom Körper befreien: „Der Tod ist hundertfach beflügelter“ (smert’ okrylennee stokrat), in der Zwischenzeit können Stimme und Sprache den Abstand überbrücken. Die Lippen als Vermittler zwischen dem Körper und dem artikulierten Laut stehen auch für den Bereich der Intimitäts- und Liebesmotivik. Der fehlende visuelle Kontakt und die Unmöglichkeit, durch das Telefon Bilder zu übertragen, werden durch die Bezeichnungen slepye noč’ju (Erblindete in der Nacht) und bessolneč’nuju (sonnenlos) angezeigt. Die Immaterialität der Stimme: „Und soviel Luft und Seide / Und Wind in deinem Flüstern“ (I stol’ko vozducha i šelka / I vetra v šepote tvoem) wird in Zusammenhang mit der Dunkelheit der Nacht gestellt. Doch trotz der Schwächen der telefonischen Kommunikation wird am Ende des Gedichtes die Vereinigung von „ich“ und „du“ zu einem „wir“ erreicht. Dieser gemeinsame Handlungsakt ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass das Medium Telefon

378

„Wie ein Welpe stürze ich zum Telefon / Zu jedem hysterischen Klingeln, – / In ihm hört man das polnische ,Dziękuję pane!‘, – / Ein sanfter ausländischer Vorwurf / Oder ein unerfülltes Versprechen“ (Ja kak ščenok, brosajus’ k telefonu / Na každyj isteričeskij zvonok, – / V nem slyšno pol’skoe: ,Dzenkue, pane!‘, – / Inogorodnij laskovyj uprek / Il’ neispolnennoe obeščan’e.), t. І, 174.

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synthetische Simultanität ermöglicht und einen gemeinsamen auditiven Raum eröffnet. Deine wundervolle Aussprache bildet zusammen mit Telefon (1918) einen lyrischen Mikrozyklus, den Timenčik als dvoičatka bezeichnet. Er betrachtet das Gedicht Telefon als eine besondere Art des akmeistischen Werks, das die polydenotative Semantik auf das frühere Gedicht retrospektiv projiziert und dort das nicht ausdrückliche „Telefon“ beleuchtet. Während das Hauptthema von Deine wundervolle Aussprache die Liebe ist, steht in Telefon der Tod im Mittelpunkt. Von einem abstrakten Naturbild, in welches das Telefon so tief integriert ist, dass es, um die Naturbalance nicht zu zerstören, nicht erwähnt wird, wechselt Mandel’štam in ein Stadtmilieu, in das sich das Telefon leicht einflechten lässt: На этом диком страшном свете Ты, друг полночный похорон, В высоком строгом кабинете Самоубийцы – телефон!

In dieser Schreckenswelt der Wilden – Du Freund von Nachtbegräbnis, Klageton, Im hohen strengen Arbeitszimmer Des Selbstmörders – das Telefon!

Асфальта черные озера Изрыты яростью копыт И скоро будет солнце: скоро Безумный петел прокричит.

Die schwarzen Seen im Asphalt Zerwühlt von Hufen, schwarzer Brei, Und bald die erste Sonne – bald Der erste irre Hahnenschrei.

А там дубовая Валгалла И старый пиршественный сон; Судьба велела, ночь решала, Когда проснулся телефон.

Doch dort – ein eichenes Walhalla, Ein alter Traum von Fest und Lohn: Die Nacht entschied, das Schicksal waltet Und da erwacht das Telefon.

Весь воздух выпили тяжелые портьеры На театральной площади темно. Звонок – и закружились сферы: Самоубийство решено.

Die Luft ertränkt in Vorhangsschwere, Theaterplatz, ein dunkler Rest. Ein Klingelton – da drehen sich Sphären: Der Selbstmord steht jetzt endlich fest.

Куда бежать от жизни гулкой, От этой каменной уйти? Молчи, проклятая шкатулка! На дне морском цветет: прости!

Wohin man sich noch flüchten müßte Vor diesem Leben, seinem Hieb? So schweig, verfluchte schwarze Kiste! Und tief im Meer erblüht: vergib!

И только голос, голос-птица Летит на пиршественный сон. Ты – избавленье и зарница Самоубийства – телефон!379

Nur sie, ein Vogel, sie – die Stimme Fliegt auf zu Fest und Traum davon. Du bist Erlösung, Lichterschimmer Von einem Selbstmord – Telefon!380

379

Mandel’štam, Sobranie sočinenij v trech tomach, Bd. 1, 143-144. Timenčik zitiert nach der Ausgabe von 1974, Leningrad, in der die zweite Strophe fehlt. Vermutlich handelt sich hier um eine andere Variante des Werkes in der für Mandel’štam typi-

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Zunächst zu den Entstehungsumständen des Gedichts: Nach O.A. Lekmanov handelt es sich bei dem rätselhaften Selbstmord, der den Ausgangspunkt des Werkes darstellt, um den eines Staatsbeamten, dessen Büro sich anscheinend im Hotel Metropole am Theaterplatz befand, d.h. im selben Hotel, in dem Mandel’štam Frühling und Sommer des Jahres 1918 verbrachte.381 Weitere Indizien sind die Entstehungsdaten des Werkes von Mandel’štam, nämlich Juni 1918 und sein Wunsch, das Gedicht in Früher Morgen (Rannee utro) zu veröffentlichen. In der Periode Mai – Juni 1918 ist in Früher Morgen nur eine einzige Notiz über einen Selbstmord eines Staatsbeamten zu finden, nämlich die in der Ausgabe vom 28. Mai: „Im Haus Nummer 8 an der Ermolevska Gasse, nahm sich der Kommissar für Transport der Armee R.L. Čirkunov in seiner Wohnung mit einem Revolver das Leben. Die Motive des Selbstmords sind nicht geklärt.“382 Die Hypothese Lekmanovs lautet, dass Mandel’štam, nachdem er vom Tod seines Nachbarn im Hotel Metropole erfahren hatte, das Gedicht Telefon verfasste und es in Früher Morgen veröffentlichen wollte, was ihm allerdings verwehrt wurde. Das Gedicht besteht aus sechs Vierzeilern: „Die dritte Strophe fällt aus dem Rhythmus des vierfüßigen Jambus, dadurch teilt sich das Gedicht in zwei Teile: im ersten ist die Intonation öde, im zweiten ist sie elegisch, jeder der beiden Teile bildet eine Variation des Sujets.“383 Im ersten Teil steht das Motiv der Unabwendbarkeit des Todes im Vordergrund, im zweiten Teil die Hoffnung auf Erlösung vom Leben. Die beiden Teile werden durch das signifikante semantische Paar Selbstmord – Telefon verbunden. Das Gedicht beginnt mit der Darstellung von Disharmonie und fehlender Ordnung: „In dieser Schreckenswelt der Wilden“ (Na ėtom dikom strašnom svete384). Auf dieses ursprüngliche Chaos folgt das evokative „du“, allerdings ist noch unklar, wer der Adressat ist, dieser „Freund von Nachtbegräb-

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schen Redaktion: wenngleich er die Strophen in der Regel nicht umarbeitete, so nahm er sie doch ständig aus dem Gedicht heraus, um sie später wieder herzustellen. Auf diese Weise verfuhr der Dichter sein Leben lang. 1929 beschreibt Boris Buchstab die Mandel’štam’schen Strophen als autonome. Das vorliegend behandelte Gedicht nun kann mit vier, drei oder zwei Strophen gelesen werden, was zeigt, dass die stofflichlogischen Beziehungen zwischen den Strophen bei Mandel’štam sehr entfernt sind. Boris Buchstab, Poeziata na Mandelstam, in: Petko Troev (Hg.), Ruska literaturna klasika, Sofia 1996, 186-204. Übersetzung von Voprosy literatury, Moskau 1/1989, 125-148. In der Übersetzung von Ralph Dulti aus: Ossip Mandelstam, Mitternacht in Moskau, Zürich 1986, 185. O. Lekmanov, Žizn’ Osipa Mandel’štama. Dokumental’noe povestvovanie, St. Petersburg 2003, 82-85. Rannee utro 4/1918, 34-35. N. Petrova, Semantika čeremuchi v poėzii O. Mandel’štama, in: M. Vorob’eva/I. Delktroskaja (Hg.), Smert i bessmertie poėta, Moskau 2001, 190-196. L. Panova, „Mir“, „Prostranstvo“, „Vremja“ v poėzii Osipa Mandel’štama, Moskau 2003, 116.

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nis“ im Büro des Selbstmörders. Bald wird deutlich: der Adressat ist das Telefon; das lyrische Ich wendet sich an ein technisches Medium, um es im Stil der antiken Poesie zunächst wie eine Muse lobzupreisen und es dann aber für den Selbstmord anzuklagen und zu verfluchen. Der Einführung des Sujets in dieser Strophe folgt ein „Flashback“ -Effekt, der uns zum räumlich-zeitlichen Beginn der Handlung zurückbringt: „Die schwarzen Seen im Asphalt / Zerwühlt von Hufen, schwarzer Brei / Und bald die erste Sonne – bald / Der erste irre Hahnenschrei.“ (Asfal’ta černye ozera / Izryty jarost’ju kopyt / I skoro budet solnce: skoro / Bezumnyj petel prokričit.) Fünf Jahre später skizziert Mandel’štam in dem Essay Kalter Sommer (Cholodnoe leto) eine nahezu identische Szene: Die Quadriga des Bol’šoj-Theaters… Dicke dorische Kolonnen… Der Opernplatz – ein Asphaltsee, mit strohfarbenen Blitzen der Straßenbahn, – schon um drei Uhr früh durch den Trab der bescheidenen Stadtpferde geweckt…385

Der Chronotop wurde eindeutig definiert – die Nacht und das Zentrum Moskaus in unmittelbarer Nähe der Kreml-Mauer. Der Anbruch des Morgens stellt metaphorisch die Hoffnung auf etwas Neues dar. Der Morgen wird von einem irren Hahn angekündigt, einem Verkünder der Sonne, einem Vogel in der Stadt. Es eröffnet sich eine neue semantische Motivkette: Vogel – Stimme – Botschaft. Die dritte Strophe präsentiert im Montage-Schnitt den Übergang zur zweiten parallel verlaufenden Sujet-Linie – der mythologischen Welt, in der die Nacht und das Schicksal ihre Pflicht tun. Beide gehören der fernen Zeit der Wikinger an und herrschen über die Walhalla.386 Während des Traumes von einem Fest, vermutlich einer Totenfeier, klingelt plötzlich das Telefon: Das unerwartete Signal des Mediums Telefon bricht in die stille Ruhe des Jenseits ein. Mit dem Klingeln des Telefons wird das Kulminationsmoment erreicht – der absolute Höhepunkt des Gedichtes sowohl strukturell als auch semantisch-inhaltlich. Das Anthropomorphe des Telefons verwendet Mandel’štam auch in Primus, indem er das Medium, das die Rede übertragen soll, selbst reden lässt. Der syntaktische Parallelismus zwischen „dem ersten irren Hahnenschrei“ in Moskau und dem Wecken durch das Telefon bringt den Rezipienten auf den Theaterplatz zurück. Es handelt sich dabei vor allem um ein Wortspiel, wobei der reale Name des Ortes mit dem theatralisch-dramatischen Charakter des Sujets verbunden wird. Der Theaterplatz wird ebenso zur Kulisse der Szene wie der Palast; beide „Bühnen“ werden durch das Klingeln des Telefons akustisch verbunden, das die Entscheidung für den (Selbst)mord bekannt gibt. Somit ist das Telefon der Botschafter des (Selbst)mords, ebenso wie der 385 386

Mandel’štam, Sobranie socinenij v trech tomach, Bd. 2, 167-170. „Jenseitsvorstellung in Asgard, dem Aufenthaltsort der Einherber. Hier empfing Odin die gefallenen Krieger und hier wurden sie von den Walküren betreut.“ Otto Holzapfel, Lexikon der abendländischen Mythologie, Freiburg 1993, 440.

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Hahnenschrei der Botschafter des neuen Morgens ist. Der Tod parallel zum kommenden Morgen befreit vom Chaos dieser Welt. In der vorletzten Strophe wird die distanzierte Erzähl-Perspektive gewechselt: Die Stimme des Objektes taucht auf und verkündet die Entscheidung des Selbstmörders in Ich-Form: „So schweig, verfluchte schwarze Kiste! / Und tief im Meer erblüht: vergib!“ (Molči, prokljataja škatulka! / Na dne morskom cvetet: prosti!) Zu beachten ist, dass die Worte des Protagonisten zugleich ein Zitat aus Was singt die Grashüpfer-Uhr (Čto pojut časykuznečik) sind: „Aber der Faulbeerbaum vernimmt / Und tief im Meer: vergib“ (No čeremucha uslyšit / I na dne morskom: prosti387). Das Wort erblühten (cvetet) wurde zusätzlich in das Zitat integriert, um den Namen Cvetaeva zu kodieren. Zum Schluss wiederholt die letzte Strophe die erste, wodurch sich der narrative und poetische Kreis schließt: Die Stimme ist nun befreit und kann als Vogel zum dionysischen Traum (piršestvennyj son), dem Palast der Toten fliegen. Im Verlauf des Gedichts entwickelt sich das Telefon von einem „Freund von Nachtbegräbnis“ über die „Erlösung“ zu einem „Lichterschimmer“ und ist ein wichtiger Teil der Erzähllinien Nacht – Licht, Leben – Tod und Körper – Stimme. Das Telefon wird als dem Tode gleichbedeutend, als Medium zwischen zwei Welten dargestellt. Aus allen Phasen des Telefonierens wird das Klingeln ausgewählt, da dieses Tonsignal einer Zusammenfassung des potentiellen Dialoges gleichkommt, wobei die konkrete Botschaft, die konkreten Repliken bedeutungslos sind: Das klingelnde Telefon ist die Botschaft. Der intertextuelle Dialog in Mandel’štams Werken, der die beiden Motive Telefon und Jenseits verknüpft, setzt sich auch in seiner Prosa fort, zum Beispiel im Petersburger Text Die ägyptische Briefmarke (1928):388 Zuerst lief Parnok zu einem Uhrmacher. Der saß da wie ein buckliger Spinoza und betrachtete durch seine kleine jüdische Lupe Uhrfedern, die winzigen Käfern glichen. „Haben Sie Telefon? Ich muss die Miliz anrufen!“ Aber wie kann ein armer jüdischer Uhrmacher in der Gorochowaja Telefon haben? Töchter hat er, traurig wie Marzipanpuppen, und Hämorrhoiden, und Tee mit Zitrone, und Schulden hat er auch, aber kein Telefon.389

Die mosaikähnliche, eklektische Struktur der Novelle Die ägyptische Briefmarke (ein kommunikativ bestimmter Titel) ermöglicht es, eine isolierte TeilAnalyse durchzuführen. In dem angeführten Zitat geht es um Parnok, eine Selbstprojektion des Autors und den imaginären Helden dieser surrealistischen Erzählung. Dieser Träumer und Phantast nun, der seine Umwelt nicht ernst nimmt, gelangt in die Werkstatt eines jüdischen Uhrmachers. Die Szene bringt ein prophetisches Element in den Text: einige Jahren nach der Veröffentli387 388 389

Mandel’štam, Sobranie sočinenij v trech tomach, Bd. 1, 69. Ebd., Bd. 2, 43-79. Osip Mandel’štam, Die ägyptische Briefmarke, Frankfurt/M. 1965, 24.

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chung des Werkes lernt Mandel’štam zufällig einen jüdischen Uhrmacher in Jalta kennen, dessen Frau, die selbst den Namen Mandel’štam trägt, die genealogischen Wurzeln der Familie Mandel’štam beleuchtet.390 Der Grund für Parnok, in die kleine Werkstatt an der Gorochovaja-Straße einzutreten, ist seine Absicht, mit der Miliz zu telefonieren. Eine der seltenen Repliken des Protagonisten in Form der Direktrede schneidet hier die Erzählung ab. Es folgen die Wiedergabe der Antwort des Uhrmachers und ironisch-sarkastische Kommentare des allwissenden Erzählers. Innerhalb einer narrativen Linie werden ohne erkennbare logische Verbindung die Töchter, Hämorrhoiden, Tee mit Zitrone und Schulden genannt. Dem Erzähler gelingt es mit wenigen Worten, die ganze Welt des Uhrmachers abzubilden. Betrachtet werden kann diese Welt als ein Mikrokosmos jener Mechanismen, die die Zeit messen und organisieren. Das Telefon ist von dieser Welt ausgeschlossen. Parnok gibt sein Ziel nicht auf: Was machte das schon? Er telephonierte von einer Apotheke aus, er rief die Polizei an, die Regierung, den Staat, der verschwunden war, eingeschlafen wie ein Dachs. Mit demselben Erfolg hätte er Prosperina oder Persephone anrufen können, zu denen noch keine Telephonleitung gelegt ist. Die Telephone in den Apotheken sind aus dem besten Scharlachholz gemacht. Das Scharlachholz wächst im Klistierspritzenwald und riecht nach Tinte. Telephoniere nie in einer Petersburger Apotheke: der Telephonhörer schält sich und die Stimme erlischt. Denk daran, dass es noch keine Telephonleitung zu Prosperina oder Persephone gibt.391

Die Absurdität und Sinnlosigkeit seiner kommunikativen Handlungen werden verglichen mit dem Versuch, mit Persephone/Prosepina in der Unterwelt zu telefonieren. Mandel’štam baut einen großen Teil seiner Texte auf verschiedenen altgriechischen und römischen Mythen auf; hier bezieht er sich auf die Göttin der Unterwelt.392 Zu beachten ist, dass sie unter zwei verschiedenen Namen (Persephone – griechisch, Proserpina – römisch) und somit als zwei unterschiedliche Personen erwähnt wird. Eine Interpretationsmöglichkeit hierfür ist, dass auf eine institutionelle Einheit von Miliz, Regierung und Staat hingewiesen werden solle. Die Verbindung mit dem Jenseits, die in Telefon möglich war, versagt in Die ägyptische Briefmarke, weil die Göttin kein Telefon besitzt. Ähnlich wie in Telefon aber kommt auch hier dem Medium Bedeutung nur im Sinne eines Kommunikationskanals zu. Da kein

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N. Mandel’štam, Vtoraja kniga. Vospominanija, Moskau 1990, 416-418. Mandel’štam, Die ägyptische Briefmarke, 26-27. Persephone (auch Persephoneia) ist die Toten-, Unterweltgöttin, in die sich Hades ernstlich verliebt und die er aus diesem Grund entführt. Mit schriller Stimme fleht das Mädchen ihren Vater Zeus an, der sie nicht hört, bzw. so tut, als würde er sie nicht hören. Aufgrund der Trauer und des Zorns der Mutter Demeter veranlasst Zeus, dass Persephone die Hälfte oder zwei Drittel des Jahres wieder an die Oberwelt zurückkehren darf. Vgl. Uwe Wiedemann, www.mythologica.de/persepho.htm.

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Gespräch stattfindet, steht der Apparat selbst als Symbol für funktionsuntüchtige Kommunikationssysteme im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Warnung an den impliziten Leser, nicht die Apotheken-Telefone zu benutzen, die im nächsten Paragraf folgt,393 verbindet eine positive Wertung (samogo lučšego [dem besten]) mit der unangenehmen Krankheit Scharlach. In der Folge entfärbt dieses krankhafte Medium die menschliche Stimme, die Kommunikation wird somit von einer Krankheit beeinflusst. Der Assoziationsreihe Apotheke – Krankheit – Tod folgend, kommt die Mitteilung, dass die Göttinnen des Jenseits noch nicht über eine Telefonverbindung verfügen. Wäre das Telefonieren für sie nicht riskant oder weist der Erzähler lediglich darauf hin, dass es für die Lebenden hoffnungslos ist, die Göttinnen erreichen zu wollen? Die dritte Erwähnung des Telefons in Die ägyptische Briefmarke erfolgt nach dem Erwachen aus dem surrealistischen Traum: Er dachte an seine ruhmlosen Siege, an seine schimpflichen Rendezvous, bei denen er umsonst auf der Straße gewartet hatte, an die Telephonapparate in Bierkneipen, die schrecklich sind wie Krebsscheren, und an nicht mehr existierende Telephonnummern….394

Auch in der „Wirklichkeit“ stellen die Telefonhörer für den Erzähler eine Gefahr dar, weil er sie mit Krebsklammern vergleicht. Der Hörer, mit der Hand umfasst, „beißt“ den Menschen und verhindert die Vereisung von dessen Stimme. 1936, acht Jahre nach Die ägyptische Briefmarke, verwendet der surrealistische Maler Salvador Dalí die gleiche Metapher für sein Kunstobjekt „Das Hummer-Telefon“. Abb. 18: Salvador Dali, Das Hummer-Telefon, 1936395

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Leonid Katzis sieht in dem Begriff „Apotheken-Telefone“ die Kodierung des Namens der Apotheken-Inseln in Peterburg, in: Osip Mandel’štam: muskus iudejstva, Moskau 2002. Mandel’štam, Die ägyptische Briefmarke, 33-34. Hier entnommen dem Titelblatt einer Broschüre des Deutsches Postmuseum Frankfurt am Main, Braunschweig 1990.

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Gottfried Korff betrachtet das Telefon als Bedrohungsmetapher bei Salvador Dali: Dali [hatte] schon mit einem surrealistischen verfremdeten Telefon (es gilt als eines seiner wichtigsten Materialobjekte) internationales Aufsehen erregt: mit dem Hummer-Telefon, welches in seinem „Dictionnaire abrégé du Surrealisme“ unter dem Stichwort „Téléphone Aphrodisiaque“ beschrieben ist: „Die Telefonapparate sind durch Hummer ersetzt, deren fortgeschrittenes Stadium durch phosphorisierende Blättchen sichtbar gemacht wird, echten getrüffelten Fliegen-Attrappen“. Auch in der Autobiographie „Das geheime Leben“ findet das Hummer-Telefon von 1936 Erwähnung und sogar Erklärung. Es figuriert dort als Apparat gegen die Normalität, als surrealistisches Manifest gegen das Gewöhnliche und Normierte: „Ich verstehe nicht“, so Dali, „warum Champagner stets eisgekühlt ist, Telefone hingegen, die sich gewöhnlich so schrecklich warm und unangenehm klebrig anfühlen, nicht auch in silberne Kübel mit zerstoßenem Eis gestellt werden. Eisgekühltes Telefon, minzgrünes Telefon, Telefon als Aphrodisiakum, Hummer-Telefon, Edgar-Allen-Poe-Telefone, in deren Inneren sich eine tote Ratte verbirgt, Böcklin-Telefone, die im Inneren einer Zypresse angebracht sind.“ Was Dali bezweckt, ist die Entgewöhnlichung des alltäglichen Gegenstands, die Widerrede zum Gebräuchlichen und Üblichen mit Mitteln des Kunstobjekts, das verwirrende Spiel mit den Selbstverständlichkeiten, die fremd gemacht werden sollen – und dies, um Befremden und Erstaunen zu provozieren.396

Die „unnötige Telefonnummer der gebrannten Apparate“ aus, Die ägyptische Briefmarke transformiert sich in dem Gedicht Leningrad (1930) in eines der Argumente des Protagonists, weiter zu leben. Das Telefon bleibt für Mandel’štam weiterhin das vermittelnde Medium zwischen den Oppositionen Leben – Tod, Zeit – Zeitlosigkeit, Körperhaftigkeit – Körperlosigkeit und Gedächtnis – Gedächtnislosigkeit: Я вернулся в мой город, знакомый до слез, До прожилок, до детских припухлых желез. Ты вернулся сюда – так глотай же скорей Рыбий жир ленинградских речных фонарей! Узнавай же скорее декабрьский денек, Где к зловещему дегтю подмешан желток. Петербург! я еще не хочу умирать: У тебя телефонов моих номера. Петербург! у меня еще есть адреса, По которым найду мертвецов голоса. Я на лестнице черной живу, и в висок Ударяет мне вырванный с мясом звонок, И всю ночь напролет жду гостей дорогих, Шевеля кандалами цепочек дверных.397 396 397

Gottfried Korff, Ikonographische Telefonnotizen, in: Forschungsgruppe Telefonkommunikation (Hg.), Telefon und Gesellschaft. Bd. 2, Berlin 1990, 455-462, 458. Mandel’štam, Sobranie sočinenij v trech tomach, Bd. 1, 158.

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Meine Stadt find ich wieder, mir zum Weinen vertraut Wie ein kindliches Fieber, wie ein Äderchen, Haut. Leningrad siehst du wieder – so schluck schon den Tran! Der den Uferlaternen entströmt wie ein Wahn... Und erkenn ihn, den Tag, wie dezembrig er ist, Wo dem düsteren Teer sich ein Eigelb beimischt. Petersburg! Nein ich will noch nicht sterben, noch nicht! Denn du hast meine Nummern, Telephone, Nachricht. Petersburg! Denn ich hab noch Adressen auf mir, Wo ich Tote noch finde, ihr Stimmengewirr. Und im Hinterhaus wohn ich, an die Schläfe mir springt Eine Klingel, zerrissen, vom Fleisch noch umringt – Ganze Nächte lang wart ich auf Gäste bei mir, Zerr die eisernen Ketten da weg von der Tür.398

Im Dezember 1930 befindet sich die Familie Mandel’štam auf der Suche nach einer Unterkunft in Leningrad.399 Das Gedicht spiegelt die schmerzliche Rückkehr des Poeten in die Stadt seiner Kindheit wider. Nach der Erschießung Gumilėvs im Jahr 1921 verwandelt sich die nördliche Hauptstadt für Osip Mandel’štam in eine Stadt der Toten.400 Das abstrakte Motiv des Sterbens, so Mess-Beier, weist auf die politischen Liquidierungen in Petersburg hin. Die Mythologisierung der früher vom Dichter geschätzten Stadt wird durch den Alptraum der Nachtarreste ersetzt – ein Angsttraum, der nicht nur das lyrische Ich bedroht, sondern die ganze Stalin-Ära bestimmt.401 Das Gedicht besteht aus sieben Zweizeilern in glatter vierfüßiger Anapest.402 Das Sujet verfolgt ein fiktives Gespräch zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Stadt: die in der Kindheit vertraute Stadt erweist sich als feindlich und bedroht das Leben des lyrischen Ichs. In einer eigenartigen Verteidi398 399

400 401 402

Nach der Übersetzung von Ralph Dutli in: Mandelstam, Mitternacht in Moskau, 45. Nadežda Mandel’štam erzählt: „Das passierte nach unserer Rückkehr aus Armenien, wir hatten keinen Platz zum Wohnen und O.M. ersuchte verschiedene Schriftstellerorganisationen, ihm ein frei gewordenes Zimmer im Haus der Literaten zur Verfügung zu stellen. Als ich von der Absage erfuhr, fragte ich Tichonov, ob O.M. eine Erlaubnis von den Schriftstellerorganisationen einholen müsse, um in Leningrad ein Zimmer privat zu mieten. Tichonov wiederholte stur: ,Mandel’štam wird nicht in Leningrad wohnen‘.“ „Der Tod Gumilevs […] verwandelte Petersburg endgültig in eine Stadt der Toten.“ Mandel’štam, Vtoraja kniga: Vospominanija, 63. I. Mess-Beier, Mandel’štam i stalinskaja ėpocha. Ėzopov jazyk v poėzii Mandel’štama 30-ch godov, Helsinki 1997, 26-27. I. Wolf, „Leningrad“ kak prodolženie stichotvornogo dialoga O. Mandel’štam i M. Zvetaevoj, in: Smert’ i bessmertie poėta, Moskau 2001, 43.

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gungsrede erläutert der Erzähler seine Bereitschaft, trotz der schwierigen Lebensbedingungen in der Stadt zu bleiben.403 Der Gedanke an den Tod wird neu rezipiert als Hoffnung auf eine Wiedergeburt in der Frühlingszeit. Ähnlich wie der Morgen in Telefon taucht das Frühlingsbild als Errettung auf, als eine Befreiung vom Leben, das hier durch die Geheimpolizei beherrscht wird. Mithin ist dies der einzige Weg für das lyrische Ich, in seine „Unterweltstadt“404 zurückzukehren, deswegen wendet es sich mit ihrem alten Namen an die Stadt: Petersburg! Zwar trägt das Gedicht den Titel Leningrad, doch Petersburg hieß die Stadt aus Mandel’štams Kindheit, die nun nicht mehr existiert, eine tote Stadt, in der sich die Stimme des Ichs den Stimmen der toten Freunde anschließt. Von großem Interesse sind die vierte und die fünfte Strophe, in denen das lyrische Ich seine Zugehörigkeit zur Stadt prüft: „Denn du hast meine Nummern, Telephone, Nachricht. / Petersburg! Denn ich hab noch Adressen auf mir, / Wo ich Tote noch finde, ihr Stimmengewirr.“ (U tebja telefonov moich nomera und u menja ešče est’ adresa, / po kotorym najdu mertvecov golosa.) Wie lässt sich das Possesivpronomen „meine“ interpretieren? Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Vers zu verstehen: entweder hat die Stadt noch jene Nummern, die dem lyrischen Ich gehören, dann wäre in Anbetracht der Tatsache, dass Mandel’štam nur eine Telefonnummer hatte, die singuläre Form passender – oder die zweite Möglichkeit: die Stadt verfügt noch über die Nummern der Freunde, die der Erzähler in seinem Notizbuch zusammen mit den Adressen notiert hat. Erneut wird das Motiv des Telefons als Verbindungskanal zwischen Lebenden und Toten eingesetzt. Mandel’štam bekommt keine Erlaubnis, in Leningrad zu wohnen und fährt nach Moskau, wo er im Herbst 1933 endlich im Arbatviertel in das Wohnhaus der Schriftsteller-Kooperative einziehen kann. Als Boris Pasternak ihm zur Wohnung gratuliert, bemerkt er, Mandel’štam habe nun einen Ort, wo er Gedichte schreiben könne. Mandel’štam soll daraufhin wütend geworden sein und ausgerufen haben, er brauche dazu keine Wohnung.405 Das Ergebnis des Gesprächs ist das Gedicht Die Wohnung – papierene Stille (Kvartira ticha, kak bumaga). In dem Gebäude für Privilegierte fühlt sich das 403

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„Mit dem ,Hinterhaus‘ war die Wohnung seines Bruders Jevgenij gemeint, auf der Wassilij-Insel, 8. Straßenlinie, Nr. 31. Wer aber die nächtlichen ,Gäste‘ waren und warum sie unmittelbar mit den eisernen Ketten der Sträflinge assoziiert wurden, mußte jedem zeitgenössischen Leser sofort klar sein. Es waren die Verhaftungskommandos der Geheimpolizei OGPU, die meist mit drei Agenten aufkreuzten, und immer nachts, wenn die Menschen schliefen (oder trotz der Angst zu schlafen versuchten). [...] Es gehört zu Mandelstams schärfsten politischen Gedichten: ein Aufschrei gegen die Verhaftungen, gegen das Sterben.“ Dutli, Meine Zeit, mein Tier, 357f. Mehr dazu in: Anna Bonola, Osip Mandel’stams „Egipetskaja marka“. Eine Rekonstruktion der Motivsemantik, München 1995, 261-272. Dutli, Meine Zeit, mein Tier, 402-403.

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lyrische Ich, trotz der vergleichsweise sehr guten Wohnbedingungen unwohl: „Die Besitztümer sind in bester Ordnung, / Das Telefon ist zum Frosch erstarrt“ (Imuščestvo v polnom porjadke, / Ljaguškoj zastyl telefon406). Das Gefühl der Statik in der „Мoskauer Wohnung des Zwangs“ wird verstärkt durch die Kommunikationsarmut – das Telefon ist verstummt. „Doch die verfluchten Wände sind dünn, / Und nirgendwohin kann man mehr fliehen“ (A steny prokljatye tonki, / I nekuda bol’še bežat’) – das lyrische Ich ist in eine Falle mit durchsichtiger Akustik geraten. Der Ich-Erzähler verzichtet darauf, sich in diese verräterische Welt zu integrieren, die durch Elemente wie das ungenutzte Telefon und die gefährliche Kommunikation bestimmt wird. Anstatt eine Zusammenfassung der Entwicklung des Telefonmotivs in Mandel’štams Schaffen zu liefern, erscheint es fruchtbarer, eine Parallele zwischen den Moskauer und den Leningrader „Telefon“-Gedichten zu ziehen. In beiden Topoi funktioniert das Medium als private, intime Verbindung zum Jenseits. Der Hauptunterschied besteht darin, dass sich Leningrad schon in eine Welt des Todes entwickelt hat, wohingegen Moskau noch lebendig ist. In der Darstellung des Telefons bei Mandel’štam lassen sich zwei Perioden unterscheiden: In der Zeit um 1917-18 wird das Telefon als Mittel für den mündlichen Kontakt und zur Realisierung eines Dialogs zwischen zwei Gesprächspartnern in die dialogische Struktur des Werkes eingebettet, zu Beginn der 30er Jahre ist es nur noch ein Symbol oder eine Metapher. In gewisser Weise tragen die „Telefon“-Gedichte Mandel’štams prophetische Züge, da Mitte der 30er Jahre ein Telefonat sein Schicksal entscheidet – nämlich Stalins Anruf bei Pasternak, in dem der Generalsekretär sich nach den schöpferischen Talenten Mandel’štams erkundigt. Dieses Telefonat legte den Grundstein für eine Legende, die, unterstützt durch verschiedene Gerüchte, Varianten und Nacherzählungen, zahlreiche Reflexionen in der russischen Kunst nach sich zog.

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Mandel’štam, Sobranie sočinenij v trech tomach, Bd. 1, 196. November 1933, Furmanov pereulok.

Das Telefon in der Prosa der 20er Jahre

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4.4. Das Telefon in der Prosa der 20er Jahre Zwei Prosatexte aus den 20er Jahren bieten zum Teil unterschiedliche Beispiele für die Verwendung des Telefons. Der erste Text ist Anatolij Mariengofs Roman Zyniker (Ciniki) aus dem Jahre 1928, der zweite Alexander Grins Erzählung Der Rattenfänger (Krysolov, 1924). Im Jahr 1929 wurde Zyniker als „antigesellschaftliches Ereignis im Bereich der Literatur“ kritisiert – die Zeit, in der eine ungewohnte Form, Ironie und Sarkasmus nicht mehr länger akzeptiert wurden, war bereits angebrochen. Allerdings erreichten die Kritiken gegen Grin, der in Richtung Kinderliteratur diskreditiert werden sollte, nicht die Schärfe jener Attacken gegen Mariengof. Im Falle Grins hielt die Kritik die Einflüsse der mysteriösen Schwarzen Romantik in der Tradition von Edgar Alan Poe für gefährlich, während Mariengof der russische Imaginismus angekreidet wurde, den Bettina Althaus als eine Art ,synthetische Avantgarde‘ betrachtet.407 Beide Autoren überschritten durch experimentelle Formen und eine fehlende inhaltliche Eindeutigkeit die Grenzen der sowjetischen Kritiktoleranz. Im Roman Zyniker verbindet Mariengof Bilder aus dem privaten Leben von Olga und Vladimir nach dem Prinzip der Montage mit Bildern des öffentlichen Lebens im Russland der ersten sechs Jahre nach der Revolution: Zitate aus der Presse, Hinweise auf die Absurdität der neuen Ordnung, bittere Ironie gegenüber den Versuchen, bürgerliche Gewohnheiten abzuschaffen, Hunger, Bürgerkrieg. Averin vergleicht die Poetik von Zyniker mit der Filmpoetik Ėjzenštejns: Mariengof hält den Augenblick in Großaufnahme fest, die psychologische Zeit wird über die physische hinaus verlängert, ein Moment absorbiert in sich die Ewigkeit.408 Besonders explizit zeigt sich das durch den subjektiven Blick des Ich-Erzählers Vladimir, wenn er den Selbstmord seiner Frau Olga zu verhindern sucht und nach Hause fährt: Wie lange fahren wir schon?.. Fünf Minuten? Fünf Stunden? Oder fünftausend Jahre.409

Die Entscheidung für den Selbstmord teilt Olga ihm per Telefon mit. Sie befindet sich zu Hause, er an seinem Arbeitsplatz: 407 408 409

Bettina Althaus, Poetik und Poesie des russischen Imaginismus. Anatolij B. Mariengof, Hamburg 1999. B. Averin, Proza Mariengofa, Leningrad 1988. Anatolij Mariengof, Ciniki, 1924, url: http://www.lib.ru/RUSSLIT/MARIENGOF/cynix.txt, Kapitel 23. Hier und im Folgenden übersetzt von Konstantin Kaminskij und Alexander Weber,wenn nicht anders angegeben.

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– Guten Abend Vladimir. – Guten Abend, Olga. – Verzeihen Sie die Störung, aber ich habe eine wichtige Nachricht für Sie. – Ich höre. – In fünf Minuten werde ich mich erschießen. Aus der schwarzen Hörermuschel kommen Lachsalven. – Was ist das für ein dummer Witz, Olga! – Ich mache keine Witze. Meine Finger umfassen krampfhaft den knochigen Hals des lachenden Apparats. – Hören Sie auf zu lachen, Olga! – Aber ich kann doch nicht weinen, wenn mir froh zumute ist. Leben Sie wohl, Vladimir. – Olga!.. – Leben Sie wohl. – Olga!.. – Schreiben Sie mir eine Postkarte ins Jenseits. Alles Gute. Erbost spreche ich in das schwarze Knochenhorn: – Bon voyage! – Genau. Alles Gute.410

Olga wählt das Medium Telefon, um die Nachricht zu übermitteln, womit für Vladimir keine Möglichkeit besteht, zu intervenieren. Durch die Antithese von der Präsenz der Stimmen und der Absenz der Körper wird gleichzeitig auch die Antithese von Tod und Leben eingeführt. Über das Telefon verabschiedet sich Olga persönlich von Vladimir und erhält die Distanz zwischen ihnen aufrecht, wodurch sie ihn daran hindert, die Ausführung des fatalen Schusses aufzuhalten. Mit dem Tod Olgas endet die Erzählung. Im Unterschied zu Mariengof fungiert das Telefon bei Alexander Grin als ein Medium der Rettung, das in narrativer Hinsicht eine besondere Ebene der körperlosen Kommunikation zwischen den beiden Protagonisten schafft, einen virtuellen Raum, der eine eigenartige Fluchtmöglichkeit vor dem gemeinsamen sowjetischen Leben bietet. In Grins Erzählung Der Rattenfänger spielt sich die Geschichte wie bei Mariengof in den Jahren nach der Revolution ab.411 Die Geschichte beginnt am 22. März 1920 in Petrograd mit einer Szene am „Sennoj“-Markt, wo der Ich-Erzähler seine letzten Bücher verkauft, um Brot kaufen zu können. Dort macht er die Bekanntschaft einer sympathischen jungen Frau, ihre Wege trennen sich jedoch bald wieder. Der Ich-Erzähler durchlebt verschiedene Schwierigkeiten – Armut, Typhus, Obdachlosigkeit und Schlaflosigkeit, bis zu dem Moment, als er dank eines Zufalls eine verlassene Bank betritt. In der Bank findet er einen Schrank voll mit Mangelwaren und Lebensmitteln, die er gerne mit dem Mädchen teilen würde. Zwar hat er ihre Telefonnummer 410 411

Ebd. Alexander Grin, Der Rattenfänger, in: Der Fandango, Leipzig/Weimar 1984, 66-111.

Das Telefon in der Prosa der 20er Jahre

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verloren, jedoch gelingt es ihm, sie anzurufen und ihre Adresse zu erfahren. Kurz darauf kommen die Besitzer der Lebensmittel. Er erfährt vom geplanten Mord am Vater des Mädchens. Der Erzähler will den Vater warnen und erreicht nach vielen neuen Schwierigkeiten das Haus des Mädchens. Nach einer Weile klärt der Vater das Geheimnis teilweise auf: Der Protagonist wurde von Ratten umzingelt und hypnotisiert. Die Geschichte endet mit der Heilung des Erzählers, der in ein neues Zuhause aufgenommen wird. Das Telefonmotiv tritt bereits in der ersten Szene in Erscheinung, als das Mädchen dem Ich-Erzähler seine Telefonnummer diktiert. Er notiert die Ziffern in eines der Bücher, welche er später verkauft: Eines dieser Bücher also wird zum privaten Telefonbuch. Jedes Ereignis in der Erzählung wird bereits einige Seiten zuvor antizipiert: Insbesondere im Hinblick auf das Telefonmotiv wird diese Tendenz sehr deutlich. Die Telefonapparate sind zunächst nur ein Teil des Zimmerinventars: „ein Telefonapparat, der sich mitten in der Verwüstung wie ein Briefkasten oder ein Pilz an der Birke ausnahm“412 und „Es dauerte einige Minuten, bis ich auf ein Kabinett mit einer Tür, einem Kamin und einem Telefon stieß“.413 Das Telefon ist mehr als nur das Medium einer möglichen Kontaktaufnahme mit der oder dem abwesenden Geliebten – in Der Rattenfänger ist es vielmehr ein magischer Gegenstand, wie auch das Erlebnis des Telefonierens zu einem besonderen Ereignis zwischen Realität und Mysterium wird. So beginnt der Akt des Telefonierens wie ein Spiel. Der Ich-Erzähler weiß, dass die Mehrzahl der Telefone intakt ist und auch, dass er keine Chance hat, sich an die vergessene Nummer zu erinnern. Zum einen steht also die Lösung eines rein technischen Problems an, zum anderen soll der Protagonist sein Erinnerungsvermögen mobilisieren, um eine Verbindung mit dem Mädchen herzustellen. Ein unerklärlich absurder Zufall belebt die Telefonleitung in der toten Bank: „Im Hörer summte, wie es sein sollte, der unsichtbare Raum in Erwartung eines Kontakts.“414 Durch diese Telefonleitung verlässt der Ich-Erzähler die verzauberte Bank gleichsam virtuell. Nur so kann er die Nummer rekonstruieren, allerdings erfährt der Leser nicht, ob es die richtige Nummer ist. Eine Telefonistin, für den Erzähler keine reale Frau, sondern lediglich „ein müder weiblicher Kontraalt“, meldet sich. Er soll den Knopf der Gruppe A am Telefon drücken, im Zustand steigender Erregung allerdings drückt er auf Knopf B. Dieser Fehler bringt ihn in ein Gesprächsgewirr, das ihm wie „ein Konzert von Saatkrähen“415 erscheint. Das Fehler-Motiv taucht mit einer sehr hohen Häufigkeit in der Telefonliteratur auf, in Der Rattenfänger sogar 412 413 414 415

Ebd., 76. Ebd., 79. Ebd., 87. Ebd., 89.

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Zum Verhältnis von Avantgarde und Telefon

zweimal: Die zweite Telefonistin, deren Stimme als „einschmeichelnd und leise“416 beschrieben wird, wiederholt eine andere Nummer, die nun die Richtige zu sein scheint und den Kontakt zwischen dem Erzähler und dem Mädchen herstellt, sodass der Erzähler endlich mit diesem sprechen kann. Das Telefon befördert ihn in die unsichtbaren kommunikativen Venen der Stadt. Das für Erzählung und Sujet zentrale Telefonat findet zwischen zwei ausgeschalteten Geräten statt. Zu beachten ist, dass dieses Telefonat der einzige Moment ist, in dem beide allein sind. Diese körperlose Intimität ist völlig abhängig vom elektrischen Strom, die technischen Störungen belasten die mündliche Kommunikation. Für den Ich-Erzähler trennt das Telefon nicht nur Stimme und Körper, sondern erschwert die Mitteilung „natürlichster, einfachster Gefühle mit ihren Nuancen“.417 Grin zieht das „monogame“ private Telefon anderen Medien vor. Mitte der 20er Jahre werden die Medien in Russland hauptsächlich in den Dienst der öffentlichen Sphäre gestellt. Grin nun rückt die technischen Medien in den Kontext des Unheimlichen und Mysteriösen, seine Wahl der Mittel und Topoi folgt der Tradition Edgar Alan Poes und E.T.A. Hoffmanns. Obwohl fast alle Elemente der Erzählung in der einen oder anderen Form in den Memoiren der Zeitgenossen Grins vorhanden sind, bilden sie dank ihres narrativen Zusammenhangs eine unikale Atmosphäre. Sogar das zentrale Telefon-Motiv wurde einer wahren Geschichte entlehnt, die Grin von seinem Freund, dem Journalisten Edgar Arnol’di erfahren hatte.418 Im Petrograd des Jahres 1918 benötigt Dimitrij Avrov, der Kommandant der Region, eine Verbindung mit der Wohnung von Jakov Petrovič. Die Nachrichtensoldaten werden mobilisiert, um eine Verbindung herzustellen und sein intaktes Telefon zu aktivieren. Das Klingeln überrascht Petrovič, das Gespräch mit dem Kommandanten findet statt. Grin transformiert das öffentliche in ein persönliches Telefonat. Arnol’di erinnert sich, wie Grin ihm mitteilte: „Mit der Geschichte über das Telefon in der leeren Wohnung ergibt sich etwas anders [...] Trotzdem wird das intakte Telefon sowieso klingeln!“419 Grin bildet eine phantastische Realität um sein Telefon, in der Liebe und familiäre Werte vom nachrevolutionären Chaos unverletzt geblieben sind.

416 417 418 419

Ebd., 90. Ebd., 91. E. Arnol’di, „Belletrist Grin...“, in: Vl. Sandler (Hg.), Vospominanija ob Aleksandre Grine, Leningrad 1972, 278-303, hier 297ff. Ebd.

5. Das Telefon im Sozialistischen Realismus In diesem Kapitel verfolge ich die Entfaltung des Motivs Telefon beim Übergang von der experimentellen Avantgarde hin zum totalitären Sozialistischen Realismus. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Fragen, welche Kennzeichen für die literarischen Telefonate der sozrealistischen Literatur spezifisch sind, und wie das Telefon auf der Ebene der Form und des Inhalts reflektiert wird. Als Lektüre sind vier verschiedene Textsorten zugrunde gelegt: Erstens die literarischen Texte aus der Feder von Laienschriftstellern, die bei einem Postamt arbeiten, zweitens die Produktionsromane, drittens die Kriegs- und Revolutionsromane, und viertens die Kinderliteratur der 30er Jahre. Der konkreten Analyse werden Erläuterungen der neuen Tendenzen in den medienspezifischenen Wechselbeziehungen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit vorangestellt. An dieser Stelle soll zunächst darauf hingewiesen werden, dass der Begriff „Literatur der 30er Jahre“ im Folgenden relativ konditional verwendet wird, weil die literarische Genesis ein Kontinuum darstellt und weil sich literarische Epochen nicht zwischen präzise Daten pressen lassen. Einige der den Sozialistischen Realismus kennzeichnenden intermedialen Besonderheiten erscheinen schon in Texten aus der Mitte der 20er Jahre, also einige Jahre vor der „Verstaatlichung der Literatur“420, deren Ausgangspunkt Hans Günther im Jahr 1929 situiert, andererseits finden sich avantgardistische Nuancen und Sprache-Schrift-Experimente bis zur Mitte der 30er Jahre (z. B. bei Charms) in der Literatur. Der Begriff „Sozialistischer Realismus“ wurde zum ersten Mal am 23. Mai 1932 von I. Gronskij verwendet und im Jahr 1934 offiziell auf dem Gründungskongress des sowjetischen Schriftstellerverbandes „kanonisiert“.421 Als Muster dabei sollte Gor’kijs Roman Die Mutter (Mat’, 1907) dienen. Um zu verfolgen, wie und wann der Übergang von der Avantgarde zum Sozialistischen Realismus in Hinsicht auf die Beziehung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit stattfand, wird der Textkorpus im vorliegenden Kapitel nicht auf das chronologische Dezennium der 30er Jahre begrenzt.

420 421

Hans Günther, Die Verstaatlichung der Literatur: Entstehung und Funktionsweise des sozialist.-realist. Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre, Stuttgart 1984. Im Detail beschreibt Hans Günter den Prozess der „Kanonisierung des sozialistischen Realismus“ in: Die Verstaatlichung der Literatur, 1-18.

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Abb. 19: V štabe kolchoza pered šturmom proryva422 (Im Stab der Kolchose vor dem Sturmangriff)

Der Übergang zum Sozialistischen Realismus findet seinen Ausdruck in allen Bereichen der sowjetischen Kunst, besonders explizit in der bildenden Kunst.423 In Adlivankins Bild Im Stab der Kolchose vor dem Sturmangriff (V štabe kolchoza pered šturmom proryva, 1931), dessen Form dem Sujet noch nicht vollkommen unterstellt ist, wird auf medialer Ebene die neue Auseinandersetzung mit dem Telefon synthetisiert. Diese Auseinandersetzung, die auch für die Literatur des Sozialistischen Realismus charakteristisch ist, lässt sich in drei Punkte gliedern: 1. Die Umgestaltung des Telefons in ein öffentliches Medium: Auf dem Bild ist zu sehen, wie eine Menschenmenge um einen Tisch herum versammelt ist, gespannt das Gespräch verfolgend, das gerade geführt wird. Vom intimen häuslichen Medium in der Kunst der Avantgarde wird das Telefon in den 30er Jahren in ein öffentliches Medium transformiert. Überall, in den Büros der Militärstäbe, der Parteisektionen, der Kolchosen und Fabriken klingelt es fortan. In seinem Bild verbindet Adlivankin die Tatsache, dass Anfang der 30er Jahre – nach der Nationalisierung der Erde – eine Kampagne für Telekommunikation in den Kolchosen beginnt, mit der Tendenz, das Thema Kolchose für jeden Maler obligatorisch werden zu lassen:424 Die Kolchose ist ein Symbol des Sieges des Kollektivs über das Individuum.

422 423

424

Samuil Adlivankin, V štabe kolchoza pered šturmom proryva, in: L.N. Vostrecova (Hg.), Żivopis’ 1920-1930: Gosudarstvennyj Russkij muzej, Moskau 1989, 208. Schon im Jahre 1930 wurde erfolglos die Gründung einer Union sowjetischer Maler versucht, 1932 wurden alle künstlerischen Organisationen aufgelöst, Vil’ Mirimanov, Iskusstvo totalitarnoe, in: Ėnciklopedia Krugosvet. url: http://www.krugosvet.ru/articles/102/1010272/1010272a1.htm (02.09.2005). Mirimanov, Iskusstvo totalitarnoe.

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2. Die zunehmende Konkurrenz zwischen schriftlicher und mündlicher Kommunikation: Das Blatt auf dem Tisch weist auf den schon begonnenen Kampf zwischen der fixierten Schrift und der mündlichen Rede hin, einen Kampf, der bereits verloren ist, wie man an den Gesichtern erkennen kann. Es herrscht Schweigen – sowohl am Telefon als auch im Zimmer. Vom Medium Telefon ist nur der Hörer übrig geblieben. Dort, wo normalerweise ein Telefonapparat liegen sollte, befindet sich ein Blatt Papier. Die Abbildung des Telefonkabels erweckt den Eindruck, als ob dieses eine Erweiterung des Blattes sei, die Hand der Frau verdeckt die Stelle, wo beide Medien aufeinander stoßen. Die alte Frau vernimmt am Telefon vermutlich die letzten Befehle, die Teilnahme an dem Gespräch allerdings ist völlig passiv. Und noch etwas: diese alte Frau in grober schwarzer Kleidung und mit schwarzem Kopftuch – einem Zeichen der Trauer – bildet einen vollkommenen Gegensatz zu den ätherischen Frauenstimmen der Avantgarde, zu ihrer körperlosen Zärtlichkeit („golos ptica“ [Vogelstimme]). Das Bild weist auf die Tendenz des Telefons hin, seine medialen Besonderheiten und seine dialogische Spezifik zu unterdrücken. Das Telefon wird in dunklen Farben dargestellt – ein schwarzer Hörer, schwarz wie das Kopftuch, wird einem weißen Blatt gegenüber gestellt, dessen Farbe sich in dem Hemd des Arbeiters und der Bluse des Bauern wiederholt. 3. Das Verstummen des Dialogs im Monolog: Während die Kunst der Avantgarde dialogisch ist, etabliert sich die des Sozialistischen Realismus als monologisch. Das „Gesamtkunstwerk“ der 30er Jahre kann man als einen Monolog betrachten, der von dem Zentrum zur Peripherie fließt: Die abgebildete Kolchose befindet sich in dieser sozialistischen Peripherie. Die alte Frau am Telefon ist kein gleichberechtigen Partner am Telefon, sondern vielmehr ein Empfänger der Anordnungen des Zentrums. Ähnlich soll auch die akustisch orientierte Literatur sich der positiv belegten visuellen Schriftkultur unterordnen: Während in der Avantgarde das Ringen um die „klingende Literatur“ des „lebendigen Wortes“ unter den permanent reflektierten Bedingungen der visuell-graphischen Fundierung von Literatur und der medialen Spezifika der verschiedenen Künste erfolgt, wird in der Literatur und Kunst der 30er Jahre diese medial-analytische Selbstreflexion der Künste systematisch zurückgenommen und ausgeschaltet.425

Aus welchen Gründen wird das Telefon in den literarischen Texten unterdrückt und sogar „ausgeschaltet“? Einerseits können wir annehmen, dass das Telefon, das zu diesem Zeitpunkt bereits eine 50-jährige Geschichte hat, kein neues Medium mehr ist und sich folglich der Enthusiasmus und die Begeisterung für das Experimentieren mit diesem Medium langsam erschöpfen. Argumente gegen diese Behauptung bietet das Vorhandensein thematischer und narrativer Telefonate in der satirischen Literatur der 30er Jahre oder in Wer425

Murašov, Das elektrifizierte Wort, 96f.

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ken, die entweder nicht veröffentlicht oder im Ausland gedruckt wurden sowie die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit des Sozialistischen Realismus sich auf die Schriftmedien richtet, die deutlich älter sind als die elektrischen Medien der „sekundären“ Mündlichkeit. Bereits Mitte der 20er Jahre, nachdem die anfängliche Euphorie über den Sieg der sozialistischen Revolution verblasst ist, beginnt sich abzuzeichnen, welche Nachteile die unbegrenzte Freiheit der Künstler für den Aufbau des Sozialismus hat. Die Kunstwerke der Formalisten sind den Massen unverständlich, die in die Städte strömen. Die Kunst soll also nicht nur verständlicher und zugänglicher werden, sondern auch erzieherische und bildende Funktionen im Hinblick auf die Massen übernehmen. Auf der Ebene der Ausdrucksmittel, später auch auf der des Inhalts, bleibt dem Experimentieren kein Raum mehr. Die Freiheit der Künstler engt sich nach dem Tod Lenins sukzessiv ein, die Partei bestimmt, was publiziert wird und was nicht: „If a writer wanted his novel to be published, he had to use the proper language (epithets, catch phrases, stock images, etc.) and syntax (conventional ordering of events in accordance with the master plot).“426 Jene Künstler, die sich nicht an die vorgeschriebenen Regeln halten, gehen nicht nur das Risiko ein, unveröffentlicht zu bleiben, sondern entscheiden somit zugleich auch über ihr weiteres menschliches Schicksal. In der Phänomenologie der Entwicklung weg von der avantgardistischrevolutionären mündlichen Rede, die vielstimmig und offen für Interpretationen ist und eine Beteiligung am Schriftkult fördert, der wiederum durch ein autoritäres Verfahren mögliche Reflexionen ausschaltet, ergeben sich eine Reihe von miteinander verbundenen Maßnahmen, wie die Kampagne zur Alphabetisierung der Bevölkerung, die Förderung der Druckindustrie oder die Entstehung einer massenliterarischen Bewegung. Neue Papierfabriken und Druckereien werden gebaut, die den sozialistischen Raum mit ideologischen Texten in Form von Zeitungen, Zeitschriften, Bulletins, Vortragssammlungen von Parteitagungen, Lehrbüchern und nicht zuletzt Kunstbüchern versorgen. Die enorme Quantität bedruckten Papiers wird anschließend in der neuen sozialistischen Literatur thematisiert und den elektrischen Medien gegenübergestellt. Die Elektrizität allein dient als Grundlage der sozialistischen Idee eines Staates der Zukunft. So symbolisiert das elektrische Licht die sozialistische Ordnung und den Fortschritt, das Wissen und die Technologien. Die Elektrizität gilt als jene Macht, die die Überquerung der enormen Distanzen und dadurch die Dezentralisierung unterstützen solle.427 Allerdings wird das elektrische Medium Telefon, welches zur Dezentralisierung hätte beitragen können, wie z. B. im Westen, rechzeitig stark begrenzt. Vertuška und Abhörsysteme, die schlechte Qualität der Ver426 427

Katerina Clark, The Soviet Novel. History as Ritual, Chicago 1981, 13. Ebd., 93.

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bindungen usw. werden rasch zu einem Alltagsproblem, das oft als Vorwand für die Kontrolle über die telefonische Kommunikation verwendet wird. Ähnlich verhält es sich mit dem Radio, dessen mediale Möglichkeiten bis auf eine statische öffentliche Empfangstation, die überall in Wohnheimen und auf den Straßen zu hören ist, reduziert werden. Der Traum eines der Protagonisten in Leonovs Roman Werk im Urwald (Sot’, 1930) lautet: „Die armen Bauern essen kollektiv bei elektrischem Licht ein kalorienreiches Mittagessen und ergötzen sich dankbar an einem Portrait von ihrem Kombinat, während sie dabei Musik im Radio hören.“428 Das Kombinat, das die Männer beobachten, transformiert auf seinem Weg zum Kommunismus die wilde Natur (die Bäume) in Kultur (Papier). Parallel zur Alphabetisierung der Massen und der Entwicklung der Druckindustrie wird die massenliterarische Bewegung gefördert. Sie beginnt in der avantgardistischen „proletkult“-Epoche, setzt sich fort in der Zeit, die unter dem Patronat Gor’kijs steht und dauert schließlich bis zum Ende der sozialistischen Ära. Literarische Zirkel und Zeitschriften für NachwuchsSchriftsteller u. a. werden gegründet, was Svetlana Boym als ein kulturelles Phänomen der Graphomanie beschreibt, das sich in der Literatur sowie im Alltag verbreite: von der massenhaften Praxis des Schreibens, besonders von Amateurpoesie bis hin zum Verfassen von Denunziationen und Briefen an die Verwaltung.429 Der Standpunkt Lenins, „[d]ie Kunst gehört dem Volke. […] Sie muss mit ihren tiefsten Wurzeln in den breitesten Schichten der arbeitenden Massen verankert sein. Sie muss von diesen Massen verstanden und geliebt werden“430, wird doppeldeutig interpretiert. Nicht nur sollen die professionellen Schriftsteller so schreiben, dass ihre Werke den Massen des Volks zugänglich und verständlich werden, sondern auch das Volk selbst soll Kunst schaffen. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre verliert die revolutionäre Laut-Geste der Mündlichkeit ihre Rolle in den literarischen Texten. Das Motiv des Schreibens wird in der neuen Konjunktur des Prosagenres entwickelt. Die erzählerischen Funktionen, die die mündlichen Medien früher inne hatten, werden in der sozrealistischen Literatur von allen möglichen Schriftformen – Briefen, Telegrammen, Plänen, Zeichnungen und Büchern – übernommen. Durch die Verstaatlichung und Professionalisierung des Schriftstellerberufs in den 30er Jahren entsteht eine strenge Kontrolle, die die Einhaltung von Vorschriften überwacht. 428 429 430

Leonid Leonov, Sot’. Sobranie sočinenij v Pjati tomach, Bd. 2, Moskau 1953, 54. Svetlana Boym, Graphomanie. Literarische Praxis und Strategie ihrer Sabotage, in: Murašov/Witte, Die Musen der Macht, 39-58. M. Lifšic, „Leninizm i chudozestvennaja kritika“, zum ersten in: Literaturnaja gazeta, 20. Januar, Nr. 4/1936, 3-4; zit. nach: M. Lifšic, Sobranie sočinenij v trech tomach, Bd. 2, Moskau 1986, 186-196.

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Nach Murašov bietet die neutrale Schrift hermeneutische Möglichkeiten von differenten Interpretationen ein und desselben Textes.431 Um die Entstehung von solchen Interpretationen zu vermeiden, schreibt der Schriftstellerverband genau vor, worüber und wie geschrieben werden solle. Ein weiteres Motiv im Zusammenhang mit der neuen Organisation des Schreibens ist die sogenannte kulturelle Revolution, die Stalin im Jahr 1927 parallel zu der Industrialisierung des Landes vornimmt.432 Die industrielle Utopie ihrerseits, so Katerina Clark, hängt mit der marxistischen Behauptung zusammen, dass die politische Revolution mit der technischen verbunden sei.433 Darüber hinaus werden die politische, die technischindustrielle und die kulturelle Revolution im sowjetischen Kontext der 30er Jahre miteinander verknüpft: „In this atmosphere of fervid industrial utopianism, the machine became the dominant cultural symbol for Soviet society.“434 Die sowjetische Wirtschaft wird ein untrennbares Element der Literatur. So schreibt Lunačarskij in dem Artikel Für die Arbeit! (Za rabotu!) in der Literaturzeitung (Literaturnaja gazeta) vom 29. Mai 1932: „Wir bauten und bauen die größte und im Bezug auf die Technik die am weitesten entwickelte Wirtschaft in der Welt.“435 Diese stolze Konstatierung soll sich nicht nur durch die Zeitschriften, sondern auch über die Literatur, die „den Bau des Kommunismus“ lobt, verbreiten. Die konstante Metapher wird versinnbildlicht mit der Abbildung verschiedener Baustellen – damit soll vermittelt werden, dass auf den riesigen Bauplätzen der Fabriken und Hydrozentralen auch der Sozialismus aufgebaut werde. Das Tempo der Arbeit und die Produktionsrekorde sind für den Aufbau der Fabrik genauso von Bedeutung wie für das größte Projekt. Alle nur erdenkliche Technik wird dafür mobilisiert – Kräne, Traktoren, Lastkraftwagen, elektrische Turbinen und Maschinen, die andere Maschinen herstellen. Die Maßstäbe der Technik sind um ein Vielfaches größer als die Maßstäbe des Menschlichen. Die Betriebe sollen die größten sein, ständig müssen neue Rekorde aufgestellt werden. Vor diesem Hintergrund verliert das Telefon seine Symbolkraft für den technischen Fortschritt und wird nun im Kontext der Trennung von privater und öffentlicher Sphäre entweder mit der Privatheit und dem bourgeoisen Dasein oder der Bürokratisierung, die das Medium aus dem Lebensbereich der

431 432 433 434 435

Jurij Murašov, Fatale Dokumente. Totalitarismus und Schrift bei Solženicyn, Kiš und Sorokin, in: Schreibheft Nr. 46/1995, 84-92, hier 84. Clark, The Soviet Novel, 31. Ebd., 93. Ebd., 94. P.I. Plukš (Hg), Literaturnoe dviženie sovetskoj ėpochi – materialy i dokumenty, Moskau 1986, 153.

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Arbeiter entfernt, verbunden. In beiden Fällen wird das Telefon negativ konnotiert und bleibt nur im Zusammenhang mit Unfallnotrufen ein beliebtes Motiv. Bedeutung hingegen hat das Medium als ein Arbeitsinstrument für die Arbeiter im Postamt. Die Telefonistinnen und Telegraphisten werden allerdings nicht mehr in Symbiose mit der Maschine dargestellt, sondern distanzieren sich von ihr, das Telefon ist dem Menschen nun untergeordnet. In den 30er Jahren steht der menschliche Faktor im Mittelpunkt, ganz im Unterschied zur Avantgarde, im Zuge derer die Künstler in der Begeisterung für die Maschine Inspiration fanden. Jetzt kontrolliert der Mensch die Technik und damit auch die Utopie des Sozialistischen Realismus. Einer der vielen Slogans, geschrieben auf die Fabrikwände in den 30er Jahren, lautet: „Beherrsche die Technik!“ (Ovladet’ technikoj!436). Er stammt aus einer Rede Stalins auf der Konferenz der Arbeiter der sozialistischen Industrie im Februar 1931: „Die Bolschewiki müssen die Technik selbst beherrschen lernen. Es ist an der Zeit, dass Bolschewiki selbst Spezialisten werden. In der Periode der Rekonstruktion entscheidet die Technik alles“.437 Die literarische Kritik schätzt den Kampf um die Beherrschung der Technik und deren Anwendung in der Überwindung der Naturkräfte hoch ein. Als produktives Sujet für die Lobpreisung des Telefons in den Produktionsromanen erweisen sich Katastrophenszenarien – Nachrichten von Unfällen, Brandstätten, Überschwemmungen und Todesfällen erreichen den Hauptingenieur am schnellsten über das Telefon. Auf diese Weise wird das Telefon zu einer Art Medium zwischen der Kultur/Zivilisation und der ungezähmten Natur oder der noch unbeherrschten Technik. Im Rahmen der Aufgabe, mit gemeinsamen Kräften den Sozialismus aufzubauen, soll die private Sphäre verschwinden. So zieht das Telefon aus dem Raum privater Häuslichkeit aus und wird in öffentlichen Räumen von Institutionen, Fabriken und ähnlichen Einrichtungen installiert. Dort verwandeln sich die Menschen (Kinder und Eltern, Geliebte und Liebhaber) in aktive Erbauer einer gemeinsamen Aufgabe. Ždanov definiert die neuen Protagonisten der sowjetischen Literatur als Arbeiter und Arbeiterinnen, Kolchosbauern und Kolchosbäuerinnen, Parteiarbeiter, Ingenieure, Komsomolze und Pioniere. Unter solchen Bedingungen nun wird die Liebe zu einem „Ritualopfer“438. Nach Katerina Clark hat das Liebesleben des Protagonisten keinen Wert an sich, ausgenommen in den Fällen, in denen die Liebe für die Erledigung von Parteiaufträgen benutzt wird. In den Produktionsromanen sind explizite sexuelle Kontakte der positiven Helden ein Tabuthema.439 Clarks These ist, dass die Frau in den sowjetischen Romanen nicht als erotisches Objekt rezi436 437 438 439

Begrüßung in Gazeta Technika 1/1931. M. Gor’kij, Sobranie sočinenij v 30 tomach, Bd. 26, Moskau 1953, 441. Clark, The Soviet Novel, 182. Ebd., 183.

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piert werden könne, sondern vielmehr als geistiger Kamerad und Mitglied der „großen sowjetischen Familie“ gelten müsse. Außerdem ist die Protagonistin des sozrealistischen Romans „often older, but it is not so much her age as her greater political maturity that is important“440. Diese Qualitäten spiegeln sich stark in den literarischen Telefonaten der Produktionsromane wider, wie später gezeigt wird.

5.1. Das Schaffen der Post- und Kommunikationsarbeiter Unmittelbar nach dem Bürgerkrieg werden die Arbeiter dazu ermutigt, selbst dichterisch tätig zu werden. Dadurch entwickelt sich eine neue Poetisierung der Arbeit. In Betrieben und Fabriken werden literarische Gruppen und Zirkel organisiert. In der Fach- und Betriebspresse der einzelnen Wirtschaftsbranchen werden neue literarische Rubriken etabliert, in denen die Arbeiter ihren Arbeitstag in Form von Gedichten oder kurzen Prosatexten beschreiben, kritisieren oder loben können. Auch in den Presseausgaben des Volkskommissariats für Postämter und Telegraphen werden neben den Berichten über neue technische Erfindungen und Partei-Dekrete Amateurtexte von Telegraphisten, Briefträgern und Telefonistinnen veröffentlicht. Anhand der Laientexte von Volkskommunikationstechnik (Technika narodnoj svjazi), Die Proletarier der Volkskommunikation (Proletarij svjazi), Das Leben der Kommunikationstechnik (Žizn’ svjazi), Kommunikationstechnik (Svjaz), Leben und Kommunikationstechnik (Žizn’ i technika svjazi), PTR, Der Briefträger (Pis’monosec), An der Front der Kommunikationstechnik (Na fronte svjazi), Der Kommunikationstechniker (Rabotnik svjazi), und Der Meister der Kommunikationstechnik (Master svjazi) lässt sich der Übergang zum Sozialistischen Realismus in drei Punkte nachvollziehen. Aufzuführen ist zunächst die Distanzierung des lyrischen Ichs oder IchErzählers vom Medium: von der Identifizierung mit der elektrischen Maschine und dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einem großen Mechanismus geht die Tendenz dahin, dass das lyrische Ich zurücktritt und sich zu einem Herren der Maschine entwickelt. Die Maschine ist kein Medium mehr, vielmehr eine „Waffe der Arbeit“. Vladimir Papernyj, der unter dem Begriff „Kul’tura 2“ die Besonderheiten des Sozialistischen Realismus gegenüber „Kul’tura 1“ der Avantgarde untersucht, unterscheidet in der Opposition neživoe – živoe (unbelebt – belebt) bzw. Maschine – Mensch die Merkmale der beiden ästhetischen Verfahren. Nach Papernyj steht in „Kul’tura 2“ der Mensch im Vordergrund: „Das ,Lebendige‘ wird stets positiv verwendet und dabei dem ,Mechanischen‘ der hervorgehenden Kultur gegenübergestellt.“441 Der Mensch wird in der 440 441

Ebd., 184. Vladimir Papernyj, Kul’tura ‚dva‘, Moskau 1996, 160ff.

Das Schaffen der Post- und Kommunikationsarbeiter

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Ästhetik des Sozialistischen Realismus zum Hauptmaßstab, als Hauptwert werden das „Lebendige“ und der Anthropomorphismus angesehen. Das zweite Symptom ist die Veränderung der Verteilung der Textgattungen – zu Beginn der 20er Jahre dominieren lyrische Werke und kurze satirische Stücke, ab der Mitte der 20er Jahre überwiegen hingegen Prosatexte – u. a. Kunstberichte und Memoiren, während satirische Sketche und Feuilletons kaum mehr veröffentlicht werden. Das graphische Design folgt einer parallel dazu verlaufenden Linie – die Zahl der Karikaturen oder graphischen Dekorationsornamente nimmt ab, während die Fotographie zu dominieren beginnt. Dies ist nicht nur auf die Tatsache zurückzuführen, dass der Einfluss der neuen sozialistischen Ästhetik zunimmt, sondern auch darauf, dass die Polygraphie in rascher Entwicklung begriffen ist. Der Fotoapparat wird den Journalisten des ländlichen Raumes zugänglich, was die Möglichkeit bietet, überzeugendes Illustrationsmaterial für Fotoreportagen zu erstellen. Schließlich ist das dritte Symptom der Veränderung zu erwähnen, nämlich die Autorschaft der Texte. Während die Autoren zu Beginn der 20er Jahre häufig einfache Telegraphisten und Postbeamte sind, werden in der zweiten Hälfte der 20er Jahre in den literarischen Rubriken professionelle Schriftsteller publiziert, wie z. B. der sowjetische Phantast Alexandr Beljaev, dessen Novelle Radiopolis in der Zeitschrift Leben und Kommunikationstechnik im Jahre 1927 gedruckt wird.442 Gegen Ende der 30er Jahre werden sowohl die literarischen Rubriken reduziert als auch die Vielfalt an Zeitschriften verringert. Diejenigen, die bleiben, spezialisieren sich stark auf fachtechnische Themen, wie z. B. die neuen Erfindungen sowjetischer Ingenieure. Diese drei skizzierten Merkmale der Laienliteratur zu Beginn der 20er Jahre finden sich in einem Sammelband des Zentral-Komitees Svjazi, der 1922 unter dem Titel Das Werk der Kommunikationstechniker (Tvorčestvo rabotnikov svjazi) veröffentlicht wurde. In der Sammlung sind Texte unterschiedlicher Genres und unterschiedlich begabter Autoren rund um die Themen Arbeit und Kommunikationsprozess vereinigt. Ein Beispiel aus dem Buch ist das Gedicht Der telegrafische Dämon (Telegrafnyj demon), in dem sich die Begeisterung über das elektrische Medium zu einer Identifizierung des lyrischen Ichs mit der Maschine entwickelt: 442

Obwohl das Element der Professionalisierung des Schriftstellerberufs, das charakteristisch für die Periode des Sozialistischen Realismus ist, den Inhalt der Novelle Radiopolis, besonders im Bezug auf die Thematisierung der Medien, ausmacht, lässt sich diese nicht als sozrealistisch definieren: „Es war klar, dass alle großen Radiosender in der Hand der Regierung lagen, und private Kurzwellensender waren verboten.“ Das Zitat betrifft nicht die sowjetische Realität, sondern die feindlichen USA nach dem Sieg der Revolution in Europa und Asien, zit. nach: Žizn’ i technika svjazi 2/1927, 67.

Das Telefon im Sozialistischen Realismus

158 Я электрической волною Связал тьму сел и городов! И видишь, чтоб владеть тобою, Я жалкий раб твой из рабов.443

Ich verband mit elektrischer Welle Städte und Dörfer! Und siehe, um dich zu beherrschen, Bin ich dein niedrigster Diener.

Bevor jene Beherrschung der Technik möglich wird, die als Motto der 30er Jahre gelten kann, wird zu Beginn der 20er Jahre zunächst eine Periode der Unterwerfung unter die Herrschaft der Maschine oder zumindest eines hierarchischen Ausgleichs mit ihr bedeutsam, wie dies in einem anderen Stück des gleichen Dichters ausgedrückt wird: „Ich selbst wurde schon längst zu einem Automaten.“ (Teper’ avtomatom ja stal už davno.)444 Andernfalls wird der Identitätsverlust vom Protagonisten des Essays Die Proletarier der Volkskommunikation rezipiert: Ich bin Proletarier! Mein gebräunter, muskulöser Körper hat sich an Winterkälte und sengende Sommerhitze gewöhnt. […] Ich konnte nicht so leben, wie ich wollte, denn ich bin Proletarier. Ich hatte kein eigenes „Ich“, – es war versklavt von Uniformen; es war verloren inmitten Tausender von Kabeln, die die Welt umspannen; es war verschmolzen mit dem stickigen Zimmer, voll von Apparaten, Kabeln, Kommutatoren… Es war verschmolzen mit dem Knattern der Schlüssel und Schalter, die keine Erholung brauchen, die keine Ruhe kennen… Deswegen konnte ich nicht so leben, wie ich wollte. Ich lebte in einem Keller, nicht weit von dem Gebäude, von dem sich zu allen Seiten lange Fangarme aus Eisendraht erstreckten, die die Gesundheit, die Energie und das gesamte Leben aussaugten… Ich konnte kein Mensch sein.445

Die Zeit, von der der Ich-Erzähler berichtet, ist vergangen und von der Gegenwart isoliert. Der Text verschweigt, welche Art von Wandel eingetreten ist, und ob der Protagonist nun so lebt, wie er möchte. In diesem Kommunikationsakt in Form einer Beichte, die an den fiktiven Leser adressiert ist, wird die Kommunikationstechnik als ein Mechanismus dargestellt, der in seiner Feindlichkeit unermüdlich bleibt. Das gleiche Verhältnis zwischen Mensch und Maschine wird 15 Jahre später in Charlie Chaplins Film Modern Times (1936) dargestellt. Die Gegenüberstellung von elektrischem Medium und Arbeiter wird in den Texten der Arbeiter immer wieder thematisiert. Die Stimmung variiert: Zu finden ist die ganze Skala an Emotionen, von Ekstase über die Identifika443 444 445

P. Koškodaev, Telegrafnyj demon, in: Tvorčestvo rabotnikov svjazi, Moskau 1922, 37-38. P. Koškodaev, Ispoved’ juzista, in: Tvorčestvo rabotnikov svjazi, 36. K. Trušin, Proletarij svjazi, in: Tvorčestvo rabotnikov svjazi, Moskau 1922, 39.

Das Schaffen der Post- und Kommunikationsarbeiter

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tion mit der Maschine bis hin zum Hass gegenüber der mechanischen Sklaverei und dem damit verbundenen Verlust des eigenen „Ich“. Die Distanzierung vom Medium beginnt erst auf der Ebene der Form durch eine Distanzierung zwischen Subjekt und Objekt. Das lyrische Ich wird durch die evokative Form durch die zweite Person, das „Du“ oder die dritte Person „er/sie“ ersetzt: „Es gibt hier keine Menschen – hier sind nur: Te-le-gra-phisten…“ (Čeloveka net – est’: te-le-gra-fist...)446, schreibt A. Nikulin. Ljapičev wendet sich an eine Telefonistin: „Vor dir der Apparat, der Apparat bist Du selbst!“ (Pred toboj apparat, apparat ty sama!..)447 Der Mensch wird mechanisiert, die Kommunikationstechnik (svjaz’) anthropomorphisiert. Drei Jahre früher schon verwandelt sich das lyrische Ich des Poems Fünfte Internationale (Pjatyj international) von Majakovskij in „eine Art riesige Radiostation“: „Das Umschalten vom Auge auf das Ohr vollzieht sich unter den Trägheitsbedingungen der Typographie und stellt kein metaphysisches Ereignis dar, sondern ist Resultat einer technischen Prozedur im Medium Schrift.“448

Die elektrische Spannung wird durch die Symbole und Zeichen, die der Telegraphist oder die Telefonistin benutzen – Punkte, Bindestriche und Ziffern – in den Text integriert. Nikulin verwendet ganze Reihen mit Punkten, um so den Kommunikationscode des Telegraphen in den Schriftcode zu übersetzen. Ljapčev versucht, Telefonnummern zu reimen, um die Arbeit der Telefonistin auszudrücken. Dieses eigenartige, nahezu avantgardistisch anmutende Verfahren verschwindet ab Mitte der 20er Jahre aus der Arbeiterpresse, wohingegen ähnliche Beispiele in der „professionellen“ russisch-sowjetischen Literatur bis zum Beginn der 30er Jahre zu finden sind. Parallel zum Prozess der Distanzierung von der Maschine verläuft ein weiterer, nämlich jener der Wiederentdeckung der Arbeit des Briefträgers und der Presse als Medium: „Salut dem roten Wort Russlands, / Salut ‚Prawda‘ / Salut ‚Bednota‘!“ (Privet Krasnomu slovu Rossii, / Privet ‚Pravde‘, privet ‚Bednote‘!)449 Als ein Grund für die Bevorzugung der Zeitungen vor den elektrischen Medien wird in dem Gedicht Svjaz’ die Notwendigkeit für mehr Information gesehen: Нам связь нужна с печатью – вот что! Смеется солнцем синева... Стучится стойко в двери почта, Несет крылатые слова. Газеты, письма и журналы 446 447 448 449

Wir brauchen Telekommunikation und Presse! Sonnig lacht der blaue Himmel… Die Post klopft hartnäckig an der Türe, Und bringt geflügelte Worte mit. Briefe, Zeitungen, Zeitschriften

A. Nikulin, Kloček žizni, in der Rubrik Literaturnyj otdel der Zeitschrift Proletarij svjazi, Bd. 2/1924, 97-99, hier: 97. M. Ljapičev, Telefonistka, in: Svjaz’ 9/1925, 24. Murašov, Das elektrifizierte Wort, 94ff. M. Ljapičev, Krasnoj pečati, in: Svjaz’ 5/1924, 25.

Das Telefon im Sozialistischen Realismus

160 Передает почталион, – Опять в заботе небывалой Я в строки жадно погружен. Статьи, заметки, фальетоны Стремлюсь я пристально глотать, – По радио, по телефону Всех новостей не услыхать...450

Überbringt der Postbeamte, – Und wieder, sorgenvoll wie immer Bin ich gierig in Zeilen vertieft. Feuilletons, Anzeigen und Artikel Verschlinge ich aufmerksam, – Denn nur über Radio und Telefon Hört man nicht alle Nachrichten…

Im Kontext der gleichnamigen Zeitschrift wird der Begriff „svjaz’“ normalerweise in der Bedeutung von – meist elektrischen – Kommunikationsmitteln verwendet. Bereits in den ersten Zeilen des Gedichtes jedoch findet sich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ‚Verbindung‘. Diese Verbindung soll mit Hilfe der Presse realisiert werden; die gedruckten, fest fixierten Worte bekommen durch den Briefträger sogar Flügel. Es ist die Schrift, die sich als Sieger erweist im Konkurrenzkampf mit der mündlichen Rede des Radios oder Telefons, weil die quantitative Akkumulation schriftlicher Genres und Medien die Verbreitung von Information auf mündlichem Wege bei weitem übertrifft. Besonderes produktiv für die intermedialen Beziehungen gestaltet sich das Telefon in den satirischen Texten sowohl jener „professionellen“ Schriftsteller, die wir später betrachten werden, als auch in denen der Amateure wie etwa (Mit-)Arbeiter der Presse für Post und Kommunikation. Im Zusammenhang mit der Satire der Arbeiter und auch der Lyrik lässt sich Mitte der 20er Jahre der Übergang zu einem ‚Vor-Sozrealismus‘ beobachten. In der ersten Hälfte der 20er Jahre nun existieren in der postalischen Fachpresse Rubriken wie Satire und Humor (Satira i jumor, Zt. Svjaz’), in denen kurze Alltagsgeschichten, Kuriositäten und amüsante Berichte Platz finden. Unter den beliebtesten Themen finden sich das Flirten mit der Telefonistin und die komische Verwechslung der neuen Anrede ‚Genossin‘ mit dem alten Begriff ‚Fräulein‘. Diese unterhaltsamen Texte haben oft die Form des lebendigen Sketches oder eines dynamischen Dialogs. Beispiele hierfür bietet Bednyjs Reihe von Feuilletons, betitelt Am Telefon (Po telefonu), die im Jahr 1924 in der Zeitschrift Svjaz’ veröffentlicht werden.451 Nach dem Jahr 1925 werden die satirischen Materialien drastisch reduziert und verschwinden schließlich in den 30er Jahren endgültig. Dies lässt sich vor allem auf die inhaltliche Umstrukturierung und die neuen Ziele zurückführen, die die Fachpresse sich gesetzt hat. Die technischen Texte, die in Begleitung von Zeichnungen, Tabellen und Schemata auftauchen sowie die Annoncen, in denen die Erfindungen der sowjetischen Wissenschaftler gepriesen werden, zielen nicht auf die Unterhaltung, sondern vielmehr auf die Bildung der Arbeiter ab. Den Kunstwerken der Arbeiter bleiben die Wandzeitungen der Betriebe oder die spezialisierten Ausgaben für Amateurschriftsteller. 450 451

N. Degtjarev, in: Svjaz’ 7/1925/, 12. In Svjaz’, Bd. 1, 2, 3, 5, 9/1924.

Das Schaffen der Post- und Kommunikationsarbeiter

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Das Ausschalten literarischer Texte von Seiten der Fachpresse kündigt sich durch eine kurze Übergangsperiode an, in der zunächst Werke „professioneller“ Autoren wie des schon erwähnten Beljaev – genannt der sowjetische Jules Verne – publiziert werden, später dann Erinnerungen an die Geschichte dieses oder jenes Mediums und seiner Bedeutung in der Revolution sowie journalistische Berichte mit emotionalen Kommentaren der Korrespondenten. Aus dem Jahr 1930 etwa stammt die Reisebeschreibung Hallo! Kolchose am Apparat! (Allo! Kolchoz slušaet!), die sich mit der Installation neuer Telefonzentralen im Choperski-Bezirk beschäftigt: „Die sauberen und hellen (Eine Seltenheit in unseren Behörden!) Räumlichkeiten der Postagentur wurden durch die neuen Telefonapparate noch mehr verschönert.“452 Ein obligatorisches Element derartiger Berichte sind Schilderungen der widrigen Umstände und die heroische Ausführung der Arbeit diesen zum Trotze – in außerordentlich kurzer Zeit nämlich, unter außerordentlich schwierigen Klimabedingungen, aber mit der Hilfe außerordentlich guter Leiter, Ingenieure und Arbeiter. Infolgedessen wird die Telefonversorgung der Bezirke in „herausragendem Tempo“ realisiert. Der Korrespondent deklariert seine wichtige Rolle für die Zukunft als Historiograph des technischen Fortschritts: „Die Geschichte der Telefonisierung ist sehr lehrreich. Das ist eine Lehre für die Zukunft, und ich bemühte mich, alles möglichst genau aufzuzeichnen.“ Die Emotionen der anonymen Mitarbeiter gewinnen die Oberhand in der Schlussfolgerung des Berichtes: Die Kolchose braucht ein Telefon. Das kostet viel. Doch lohnt es sich denn nicht, dafür zu zahlen, einmal am Telefon zu hören: Hallo! Kolchose am Apparat!453

Das Pathos dieser Worte folgt der offiziell verkündeten Politik der Regierung, die dem Leser suggerieren möchte, wie viele Maßnahmen vorgenommen werden, damit das ganze Land mit Telefonanschlüssen ausgestattet wird – jene Maßnahmen, die zur Kontrolle des Telefonverkehrs getroffen werden, bleiben freilich unerwähnt. Obwohl das Telefon ein Medium und keine Maschine im Sinne eines Produktionsmittels ist, wird es in den Texten der Arbeiter als Instrument der Arbeit dargestellt. So findet es sich in den Werken der Postarbeiter oft zusammen mit anderen elektrischen Medien wie dem Telegraphen oder dem Radio. Die Darstellung dieser Medien entwickelt sich in der untersuchten Periode von der avantgardistischen Identifizierung und Fusion mit dem Apparat bis hin zur sozrealistischen Beherrschung der Technik und als Folge davon zur Distanzierung des Arbeiters von der Maschine. 452 453

Allo! Kolchoz slušaet!, in: PTR Bd. 1/1930, 19-20, hier 19. Ebd., 20.

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Das Telefon im Sozialistischen Realismus

5.2. Das Telefon in den Produktionsromanen Mögen Sie Kataevs „Im Sturmschritt vorwärts!“? Mögen Sie Gladkovs „Energie“? Gefällt Ihnen Ėrenburgs „Moskau glaubt den Tränen nicht“? Nikulins „Zeit, Raum, Bewegung“? Šolochovs „Neuland unterm Pflug“? Lapins und Chazrevins „Stalinabader Archiv“? Leonovs „Skutarevskij“? Zozuljas „Eigentum“? Novikov-Pribois „Tsushima“? Fadeevs „Der Letzte der Udege“? Babels „Neue Erzählungen“? Oder gefallen Sie Ihnen etwa nicht? Oder vielleicht gefällt Ihnen das eine, aber das andere nicht? Wenn das so ist, dann erzählen Sie davon möglichst deutlich und ohne Ihre literarischen Vorlieben zu verbergen. Il’ja Il’f, Evgenij Petrov, „Wir sind keine Kinder mehr“ (1932)454

Katerina Clark fasst die sechs Grundelemente des „klassischen“ Produktionsromans in einem sogenannten master plot zusammen, nämlich prologue, setting up the task, transition, climax, incorporation und finale.455 Im Zusammenhang mit den beiden Erzählelementen setting up the task und transition behält das Telefon seine literarisch-mediale Position. Im Folgenden werden diese Position sowie die Konkurrenz zwischen den Faktoren, die auf eine Diskreditierung oder gar Ausschaltung des Telefons abzielen, und jenen, die dem medialen Druck der Schriftlichkeit widerstehen, untersucht. In den Produktionsromanen der 30er Jahre wird das Telefon mittels Motiven, die für die gesamte Ästhetik des Sozialistischen Realismus spezifisch sind, unterdrückt. Die Begeisterung für die überdimensionale Produktionstechnik (z. B. Kräne und Betonmischer), die Thematisierung der Schrift durch Dokumente wie Briefe, Telegramme, Artikel und Berichte und die Hervorhebung der Arbeit der Schrift-„Botschafter“ (Schriftsteller, Journalisten und Ingenieure) drängen das Telefon in den Hintergrund oder sogar komplett aus dem Bild. Auf der Ebene des Plots verändert sich im Bezug auf das Telefon vor allem das Verhältnis von direkter Rede und Erzählerdiskurs. Der Übergang von Dialogizität zu Monologizität wird mittels der Nacherzählung der Telefonate und durch das Verzichten auf ihre direkte Wiedergabe erreicht. Obwohl die ausführlichen face-to-face-Gespräche zwischen den Protagonisten direkt dargestellt sind, unterliegt die distanzierte telefonische Kommunikation zunächst der Kontrolle durch den Erzähler, bevor sie dann den Leser erreicht. 454 455

Il’ja Il’f/Evgenij Petrov: My uže ne deti, in: Literaturnoj gazete 47/1932, unterschrieben mit: Cholodnyj filosof (Kalter Philosoph). Clark, The Soviet Novel, 256-260.

Das Telefon in den Produktionsromanen

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Der Erzähler gibt den Inhalt eines Telefonats in zusammengefasster Form wieder, wobei er die medialen Besonderheiten des Gesprächs verschweigt oder zensiert, da sie als unbedeutend und unproduktiv für den master plot angesehen werden. Zwischen den Telefonhörer und den Leser ist also der Erzähler geschaltet. Seine Aufgabe ist es, mögliche Interpretationen oder auch Anteilnahme des Lesers zu verhindern. Es soll lediglich eine Stimme – nämlich die des Erzählers – übrig bleiben, allwissend und autoritär. Eine Ausnahme von diesem Erzählmodell stellt Kataevs Roman Im Sturmschritt vorwärts! (Vremja, vpered!) dar, welchen wir später im Detail betrachten werden. Trotz der Versuche, das Telefon zu unterdrücken, kann es auch in den Texten des Sozialistischen Realismus nicht vollkommen ausgeschaltet werden. Die Widerstandskräfte des Mediums sind allerdings ausschließlich auf der Ebene der Fabel wirksam, selten hingegen auf der Ebene der Form. In dem Prologteil des master plots des Produktionsromans kommt der Hauptheld in einem Mikrokosmos an, auf einer Baustelle, in einer Fabrik oder Kolchose weit entfernt von der großen Stadt. Dieser Mikrokosmos besitzt oft eine eigene Telefonzentrale, in der eine Telefonistin arbeitet, welche nicht nur über alle Fragen rund um den Bau, sondern auch über die persönlichen und emotionalen Belange der Protagonisten informiert ist. Die Präsenz einer Telefonzentrale auf der Baustelle fordert die Anwendung des Telefons wenigstens in zwei der Komponenten des master plots heraus. Die erste ist die Lösung des Knotens, die im Produktionsroman in Form einer Aufgabenstellung (setting up the task) geschieht. Der Übergang (transition) ist die zweite Komponente, in dem das Telefon eine Rolle spielt. Sobald die Arbeit zur Umsetzung des Plans beginnt, wird er durch technische oder administrative Hindernisse und/oder Naturkatastrophen, Sabotage sowie Probleme im familiären oder emotionalen Bereich gefährdet. Um diese Hindernisse zu überwinden und dafür auf der Suche nach jemandem in höherer hierarchischer Position greifen die Protagonisten zum Telefon: „The hero makes a journey (perhaps only by telephone) seeking help from more authoritative persons than are available in the microcosm; usually he goes either to Moskow or to the local ,center‘.“456 Die Spannung eskaliert dann regelmäßig aufgrund einer unterbrochenen Verbindung, der schlechten Qualität der Verbindung oder auch, weil ein Gesprächspartner fehlt. Neben Hindernissen wie Rohstoffmangel oder Hochwasser wird das Telefon im Produktionsroman auch bei Todesfällen oder im Falle einer Produktionshavarie benutzt. Es wird also ausschließlich in Notfällen telefoniert, kaum jedoch über Themen gesprochen, die für die Arbeit oder den sozialistischen Wettbewerb von nur geringer oder keiner Bedeutung sind.

456

Ebd., 258.

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Das Telefon im Sozialistischen Realismus

Der Korpus der vorliegenden Untersuchung besteht aus fünf Texten, in denen Kräfte „für“ und „gegen“ das Telefon wirksam sind. Dies sind die programmatischen Produktionsromane des ersten Fünfjahresplans Werk im Urwald (1930) von Leonid Leonov,457 Energie (Ėnergija, 1928-1938) von Fedor Gladkov,458 Der zweite Tag (Den’ vtoroj, 1932-1933) von Il’ja Ėrenburg,459 Wasserkraftwerk (Gidrocentral’,1930-1931) von Mariėtta Šaginjan460 und schließlich Im Sturmschritt vorwärts! (1932) von Valentin Kataev.461 Zu den pragmatischen Zielen dieser Romane gehörte neben der Erziehung der Leser im Geiste des Sozialismus auch die stolze und optimistische, fast utopische Darstellung der Industrialisierung des Landes. Im Rahmen dieser sollten alle Beteiligten und Gegebenheiten in den „wirtschaftlichen Kreislauf des Landes“462 einbezogen werden und durch die Beherrschung der Technik die Natur besiegen. Die Schriftsteller wurden beauftragt, die großen Baustellen zu besuchen, um sich dort inspirieren zu lassen und literarische Werke darüber zu erschaffen. Die den Machthabenden nahestehenden Autoren verfügten über speziell eingerichtete luxuriöse Eisenbahnwagen, um sich mit Hilfe dieser die entferntesten Bauobjekte bequem ansehen zu können. Als Gegenleistung diskutierten, kritisierten und korrigierten die Arbeiterkollektive die auf diese Weise entstandenen Texte vor der Veröffentlichung. Schrittweise entwickelte sich so eine künstlich hergestellte Produktionssymbiose zwischen Schriftstellern und Arbeitern: Die sowjetischen Schriftsteller übernahmen zu dieser Zeit „Patenschaft“ für eine Reihe von Großfabriken, das heißt, sie beteiligten sich an ihrem alltäglichen Produktions- und Gesellschaftsleben. Die Arbeitskollektive in den Betrieben ihrerseits übernahmen die „Patenschaft“ für die Künstler des Wortes.463

Nach den Plänen zur Industrialisierung und dem sich formierenden literarischen Kanon sollte die Handlung der Romane im sogenannten „Mikrokosmos“ in maximaler Entfernung von der Haupt- oder Bezirksstadt situiert werden: In unserem unermesslichen Land war es ein winziges und abgelegenes Örtchen, zehn Kilometer von der Eisenbahnstation entfernt; und diese Station, ebenso winzig und 457 458 459 460 461 462 463

Zit. nach Leonov, Sot’, in: Ders., Sobranie sočinenij v pjati tomach, Bd. 2. Zit. nach Fedor Gladkov, Ėnergija, in: Ders., Sobranie sočinenij, Bd. 3/4, Moskau 1958. Zit. nach Ilja Ehrenburg, Der zweite Tag, Berlin, 1958. Zit. nach Mariėtta Šaginjan, Gidrocentral’, in: Dies., Sobranie sočinenij, Bd. 3, Moskau 1956. Zit. nach Valentin Kataev, Vremja, vpered!, in: Ders., Sobranie sočinenij, Bd. 2, Moskau 1983. Leonov, Sobranie sočinenij v pjati tomach, Bd. 2, 50. Anmerkungen in: Valentin Kataev, Sobranie sočinenij v devjati tomach, Bd. 3, Moskau 1969, 436.

Das Telefon in den Produktionsromanen

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abgelegen, war eine Zugtagesreise von der Hauptstadt der Republik entfernt; und diese Hauptstadt wiederum war sieben Reisetage von dem Zentrum des sowjetischen Staates entfernt.464

Dieses Erzählelement wiederholt den Beginn der russischen Volksmärchen: „za tridevjat’ zemel’, v tridesjatom gosudarstve“ („In einem fernen Land…“).

5.2.1. Die Telefonistin Der „Mikrokosmos“ ist mit dem Rest der Welt durch eine Eisenbahn- und eine Telegrafenlinie verbunden, die innere Kommunikation wird mit Hilfe der direkten vertuška oder der Betriebstelefonzentrale organisiert. Während Telegraf und Bahn in der Regel positiv dargestellt werden, werden das Telefonnetz und die Telefonistin hingegen als negativ wahrgenommen. Die Arbeitsbedingungen in der Telefonzentrale einer Baustelle unterscheiden sich von denen in den großen Städten. Dadurch, dass viel weniger Nummern zu bedienen sind und keine Norm für die Zeitdauer der Verbindungen besteht, wird der Stress durch Ruhe und sogar Langeweile, werden Reinheit und Vitalität durch Vulgarität ersetzt. So wird zum Beispiel das Bild der verheirateten Telefonistin in Wasserkraftwerk, die einen Liebhaber hat und damit die sozialistische Moral tief verletzt, auch durch ihre Körperlichkeit bestätigt: „Eine sehr große Frau, in Hundepelz angetan, bewegte sich laut an ihren Arbeitsplatz und verbreitete den Geruch von billigem Parfüm und Achselschweiß um sich die Telefonistin, Markarjans Frau.“465 Im Laufe des Romans bleibt sie ohne einen eigenen Namen. Der Erzähler erwähnt lediglich ihre Berufsbezeichnung oder auch den Namen ihres Ehemannes, damit der Leser an ihre Untreue erinnert wird. Die Telefonistin korrespondiert nicht mit dem verbreiteten Ideal „Gesunder Geist im gesunden Körper“, mit ihrer Unsauberkeit widerspricht sie diesem vielmehr, wie auch ihre Beschäftigungen in der Telefonbaracke dem Arbeitsalltag des Proletariats gegenüberstehen: „Die Telefonistin schminkte sich die Lippen und genoss offenbar den Vorfall“466 oder „Sie unterbrach ihre spannende Beschäftigung – Karten legen – und nahm den Telefonhörer ans Ohr.“467 Sie vertritt ein anderes Medium und gehört nicht der Welt der Schrift an: so schreibt sie mit „winziger, krakeliger Handschrift“468. Das Bild kontrastiert vollkommen mit den sanften körperlosen Stimmen der jungen Fräulein, die in den 20er Jahre die Texte beleben und die Fantasie erregen. 464 465 466 467 468

Šaginjan, Gidrocentral’, 100. Zit. nach Šaginjan, Gidrocentral’, 143. Ebd., 147. Ebd., 182. Ebd., 183.

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Das Telefon im Sozialistischen Realismus

In das kanonische Protagonistenschema des Produktionsromans kann die Telefonistin als ein harmloser „Schädling“ eingeordnet werden, der neugierig die Telefongespräche in der kleinen Station belauscht, um so der Langeweile zu entfliehen; später verbreitet sie dann die auf diese Weise gewonnenen Neuigkeiten, ohne gefragt zu werden. Trotzdem verhindern ihre Handlungen nicht das Wirken tatsächlicher „Schädlinge“ – gemeint sind Saboteure und Spione, die den positiven Helden469 des Romans – Ingenieuren oder Brigadieren – gegenübergestellt werden. Guski beschreibt Protagonisten wie die Telefonistin als Menschen mit einem eingeschränkten negativen Index, „denen der rechte sozialistische Aufbauelan fehlt“.470 Trotz der untergeordneten Rolle für die Konfliktstruktur des Romans ist die Darstellung der Telefonistin ein wichtiges Argument in der Diskussion über das Bild des Telefons in der Literatur des Sozialistischen Realismus. Jemand nieste laut: das war die Telefonistin, die auf alles neugierig war, sogar auf Uvad’evs Schweigen.471 – Ich werde Sie gleich verbinden, – sagte die Telefonistin geschäftig. – Ich glaube, Korneev ist noch da. Gerade eben hat ihn seine Frau dort angerufen. Übrigens, sie fährt heute nach Moskau, zu ihrem dortigen Mann. Armer Korneev! Apropos, wie gefällt Ihnen Charkov? In einer Schicht – dreihundertsechs, das ist einfach phänomenal. Also tschüss, ich stelle Sie auf der sechsten Leitung durch.472 Sie legte den Telefonhörer auf, zog eilig aus einem Loch den elastischen Schlauch des Verbindungskabels und steckte ihn in ein anderes Loch: Die Wohnung des Abteilungsleiters wurde mit dem Umleitungstunnel verbunden. Dann blickte Markarjans Frau um sich und drückte vorsichtig einen Knopf, damit man das Kontrollsignal nicht hörte; sie schnappte wieder den Hörer, faltete ihre Lippen zu einem Herzchen und richtete ihre unruhigen, schmachtenden runden Augen zur Decke – sie hörte das Gespräch in aller Ruhe ab. Der Abteilungsleiter forderte aufgeregt Alexandr Alexandrovič ans Telefon. Der Umleitungstunnel meldete mit frischer und grober Stimme („Wahrscheinlich Fokin“, – die Telefonistin verzog verächtlich die Lippen: sie mochte Fokin nicht), dass Alexandr Alexandrovič vor fünf Minuten zur Brücke geeilt sei.473

Im Moment des Lauschens irren ihre Augen umher, was ein Hauptmerkmal für das Verhalten der Schädlinge ist: Der „unreine Blick“ bildet die Opposition zum „strahlenden“, „reinen Blick“ des positiven Helden.474 Der Leser kann die Gespräche nicht belauschen, weil der Erzähler diese wie in den 469 470 471 472 473 474

Andreas Guski, Literatur und Arbeit. Produktionsskizze und Produktionsroman im Rußland des 1. Fünfjahrplans (1928-1932), Wiesbaden 1995, 304. Ebd. Leonov, Sot’, 208. Kataev, Vremja, vpered!, 247. Šaginjan, Gidrocentral’, 182. Guski, Literatur und Arbeit, 305.

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meisten Telefonaten der Produktionsromane lediglich nacherzählt oder sie in eine Zusammensetzung von direkter und indirekter Rede transformiert.

5.2.2. Das Liebesgefühl Im Roman Wasserkraftwerk findet eine fast erotische Szene statt, die die Telefonistin und ihren Liebhaber zeigt. Das Medium verbindet die beiden Protagonisten in einem gemeinsamen negativen Kontext von Lauschen, Neugier und Ehebruch: Als sie Levon Davydovyč antwortete, schob die Telefonistin mit der Schulter den übermäßig neugierigen Volodja zurück – den Kanzleischreiber, der von Liebe und Neugier gleichermaßen ergriffen war und sich nun Mühe gab, den doppelten Nutzen aus seiner Stellung zu ziehen. Er versuchte an den Hörer ranzukommen, indem er sich auf die stämmigen Schultern von Markarjans Frau stützte und mit Vergnügen den vertrauten Geruch von Hundepelz einatmete. Ihre Romanze begann einst genau hier, am Telefonhörer des Kommutators.475

Wie schon erwähnt, haben eine solche körperlich-intime Beziehung in sozrealistischen Werken nur die Schädlinge, während die Helden Liebe und persönliches Glück dem Gemeinwohl opfern. Zwar dürfen auch die positiven Helden Liebesgefühlen nachhängen, diesen jedoch nicht am Telefon Ausdruck verleihen. Allerdings suchen die verliebten positiven Helden verschiedene Vorwände, die sich auf die Arbeit beziehen, um mit ihren Liebesobjekten telefonieren zu können, wenngleich sie dabei ihre Gefühle nicht erwähnen (vermutlich auch wegen der lauschenden Telefonistin). Er betrat das Zimmer, wo sein Schreibtisch stand und rief Suzanna an; sie ging sofort heran. – … und kann ihn nirgends finden. Ist Burago zufällig bei Ihnen? – Wer spricht? Ach so, Uvad’ev!.. Nein, hier war er nicht. Sie schwieg, und er legte nicht auf. – Was machen Sie gerade, Suzanna? – In diesem Augenblick? – Sie lachte über seine Neugier. – Ich fülle ein Chromgemisch ein, um chemische Geräte zu reinigen. Es verstrich noch eine Minute sehr unsicheren Schweigens. – Ich habe für Sie nochmals diese… wie hieß das? – Abdeckgläser bestellt. – Ausgezeichnet, mein Mikroskop bedankt sich bei Ihnen! Wollen Sie mir noch etwas sagen, Ivan Abramyč? – Ja… – an dieser Stelle des Gesprächs bekam er unwiderstehliche Lust zu rauchen. – Verzeihen Sie meine seltsame Frage! Haben Sie im letzten Monat etwas Außergewöhnliches an mir bemerkt? – Ich glaube, Sie hatten Zahnschmerzen. Richtig? – Nicht ganz. 475

Šaginjan, Gidrocentral’, 182-183.

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– Ganz im Ernst, Sie sind immer so besonnen und auf sich selbst konzentriert… Einmal haben Sie mich an Pečorin erinnert, wissen Sie noch, bei Lermontov? Aber aus einem anderen Jahrhundert und einer anderen Klasse… Sie bewegen auch Ihre Arme nicht beim Gehen, wie er: aus Verschlossenheit. Haben Sie Lermontov gelesen? – Ich werde! Sie hatte schon längst das Gespräch beendet, und er saß immer noch am Tisch und hielt den Hörer fest, als ob es Suzannas Hand wäre.476

In diesem direkten Telefonat wird der Telefonhörer, durch den die Stimme von Suzanna gedrungen ist, zu einer Erweiterung ihres Körpers. Die Unmöglichkeit des körperlichen Kontakts verführt Uvad’ev dazu, zu telefonieren, um so in Kontakt mit ihrer Stimme zu treten: „Den ganzen Abend kämpfte er mit sich selbst, doch in der Dämmerung konnte er der Versuchung nicht widerstehen, ihre Stimme wenigstens am Telefon noch einmal zu hören.“477 Die „guten“ Protagonisten schämen sich ihrer Liebesgefühle, die nicht zum kommunistischen Kodex passen. Schamgefühl und Peinlichkeit können am Telefon durch die Distanz kompensiert werden. Soweit die persönliche Beziehung zwischen zwei Protagonisten offiziell bekannt und geregelt ist, können auch Gefühle am Telefon mitgeteilt werden, doch setzen dann alsbald kontraproduktive Kräfte wie die schlechte Qualität der Verbindung, Lärm oder andere störende Faktoren ein, welche das Funktionieren des Mediums verhindern. Auch dann, wenn sich im Zimmer andere Personen befinden, kann das Gespräch nicht vollwertig sein, weil die Gesprächspartner unter der fremden Beobachtung nicht wirklich ehrlich sein können. Diese Umstände blockieren die telefonische Kommunikation, wie dies z. B. deutlich wird bei dem Telefonat in Im Sturmschritt vorwärts!, das zwischen Klava und Koneev geführt wird. Hier hat die Telefonistin die Nachricht verbreitet, dass Klava ihren Partner verlässt und nach Moskau verreist: Er konnte sie kaum verstehen. Viel eher erriet er alles, ohne es zu verstehen. Sie weinte. Sie schluckte die Wörter wie Tränen hinunter. Sie schwor, dass sie nicht anders handeln könne, versicherte, dass sie ihn liebe und noch verrückt werde mit ihm. Es war ihm peinlich, vor anderen Leuten mit ihr zu reden. In der Zelle arbeiteten Menschen die ganze Nacht. […] Niemand beachtete Koneev aus Feingefühl. Doch seine Ohren waren knallrot. Sinnlos schrie er ins Telefon: – Ich höre nichts! Ich höre gar nichts! Sprich lauter. Verdammt… Lauter sprechen! Was sagst Du? Ich sage dir: hier ist es laut, du musst deutlicher sprechen… Deutlich-er!.. Sie wurden ständig unterbrochen. Fremde Stimmen tauchten in der Leitung auf. Fremde Stimmen verlangten nach Kies, so schnell wie möglich, schimpften, verlangten nach dem Kommutator der Betriebsleitung, verlangten den Steinbruch, forderten Vorarbeiter, diktierten Zahlen… Es war die Hölle. 476 477

Leonov, Sot’, 207. Ebd., 259-260.

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Korneev schrie, dass er jetzt unmöglich kommen könne, flehte sie an, nicht wegzufahren, bat sie, noch ein wenig mit den Tickets zu warten…478

Das persönliche Telefongespräch wird mittels einer Mischung von direkter und indirekter Rede dargestellt. Es ist nicht auf den Inhalt bezogen, sondern setzt sich mit dem Kommunikationskanal selbst auseinander. Als Erzählstrategie verwendet, steigert diese Replik die Spannung und die Dramatik der Situation. In der Unmöglichkeit zu kommunizieren, zeigt sich auch die Unmöglichkeit, zusammen zu leben. Die Unterbrechung der Telefonverbindung stellt somit eine Parallele zu der Unterbrechung ihrer intimen Beziehung dar. Selbst der virtuelle „innere“ Raum ist verletzt. Für die Romanfabel hat dieses Gespräch eine nachrangige Bedeutung: Der Held hat Probleme im familiären Bereich und/oder bei der Kontrolle seiner Gefühle. Die Verbindung zwischen Klava und dem prorab (Arbeitsleiter) Korneev ist vergleichbar mit der Verbindung zwischen Fenja und dem Brigadier Kostja Iščenko (diesem wird per Telefon mitgeteilt, dass Fenja ein Kind zur Welt bringt). Klava verreist mit dem Zug, mit dem Fenja angekommen ist. Die Männer, somit gelöst von ihren Familienverpflichtungen – die eine Ehefrau ist im Krankenhaus, die andere im Zug – können sich völlig auf die Aufstellung neuer Rekorde konzentrieren. Clark ordnet die Familienprobleme nach Art der Hindernisse und unterscheidet zwei Typen von Problemen: prosaische und dramatische.

5.2.3. „Transition“ – Die Havarie Während das Telefon bei den Familienangelegenheiten ein fakultatives Element ist, spielt es bei den entscheidenden Peripetien im Zusammenhang mit Naturkatastrophen479 eine zentrale Rolle. Hier gestattet der Erzähler dem Leser, die Gespräche „direkt“ zu hören: – Geben Sie mir Vatagin. Trennen Sie die Leitung und geben Sie ihn mir sofort. Na also. Hör zu, Miron. Unterbrich mich nicht. Veranlasse sofort, dass Kal’chja mit den Jungs herkommt… Havarie. Und Mirons füllige Stimme antwortete ihr ruhig mit zärtlicher Bevormundung: – Gut. Ich werde mich darum kümmern. – Verstehst du überhaupt, was los ist? Das Wasser vernichtet alles…480 – Waas?.. Welche Türklinken? – schrie er in den Hörer. – Waas? Zum Teufel, Genosse, gehen Sie aus der Leitung! Ja… ich höre, – und fast sofort legte er wieder auf. –

478 479 480

Kataev, Vremja, vpered!, 254. Guski, Literatur und Arbeit, 281. Zit. nach Gladkov, Ėnergija, 88-89.

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Meine Herren, – sprach er nervös, – die mittlere Aufschüttung ist durchbrochen… Ein Mann ist tot.481 Dann sprach Schor mit Moskau. Die Verbindung war schlecht. Schor schrie: „Der Transport. Verstehen Sie? Der Transport. Das sind ja keine Lokomotiven, das ist der Teufel weiß was!“482 Um zwei Uhr nachts wurde Markutow durch den schrillen Ton des Telefons aus dem Schlaf gerissen. Skworzow rief aus Mondy-Basch an. „Das Wasser ist im Steigen. Wir fürchten für den Damm.“483 Kutajsov liegt auf dem Tisch mit dem Gesicht nach unten und schreit in den Telefonhörer: – Hallo! Hallo! Lagerhaus! Hallo! Station? Hallo! Station! Er wirft den Hörer an die Wand. – Funktioniert nicht. Zerrissen, verdammt! Die Leitungen sind kaputt! Korneev und Slobodkin sind dort. […] – Hallo! Station! Hallo! Hallo! Er hämmert mit der Faust auf den Apparat ein: – Notdienst! Notdienst! Hallo! Notdienst!484 – Allo! Wasserwerk! Der Leiter des Krisenstabs der „Komsomol’skaja Prawda“ am Apparat. Warum steht der sechste Sektor ohne Wasser? Was? Es gibt Wasser? Nicht abgestellt? Was heißt „es gibt Wasser“, Genosse, wenn es kein Wasser gibt? Was?..485

Das Telefon als Hilfsmittel für Rettungsaktionen überwindet Barrieren, wie etwa das Fehlen von Zement, Wasser oder Transportmitteln und verbreitet die Nachrichten von dramatischen Zwischenfällen (Gewitter, Hochwasser, Brände). Allein das Telefonat ist der Garant dafür, dass das Problem gelöst wird, weswegen ein durch einen Sturm zerstörtes Telefonnetz oder das Fehlen des Gesprächspartners am anderen Ende der Leitung die dramatische Spannung eskalieren und die Situation als hoffnungslos erscheinen lässt. Das Genre des Produktionsromans allerdings fordert ein Happy End – die Helden erledigen also ihre Aufgabe trotz des hohen Risikos und der Opfer. Für einen kurzen Augenblick wird das Telefon plötzlich zu einem Spannungselement: Die typische Rolle, die das Telefon in den Kriminalromanen innehatte, kommt ihm nun auf der Baustelle zu, wo es zur Steigerung der Spannung eingesetzt wird. In den Anrufen, in denen es um Notfälle geht, tritt außerdem die hierarchische Struktur besonders klar hervor. Von der unteren Ebene der Hierarchie ausgehend, erreichen die Telefonate oben einen Entscheidungsträger, der einen Befehl geben oder Materialien besorgen kann. 481 482 483 484 485

Leonov, Sot’, 177. Ehrenburg, Der zweite Tag, 116. Ebd., 343. Kataev, Vremja, vpered!, 463. Ebd., 481.

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Bei einem in Bezug auf die Machthierarchie horizontal verlaufenden Gespräch wie im letzten Zitat, in dem der Leiter des Krisenstabs mit dem Mitarbeiter der Wasserversorgungsabteilung telefoniert, zeigt sich ein Mangel an Autorität. Um diesen zu kompensieren, versuchen die Protagonisten, das Problem mittels Drohungen zu lösen: „du wirst dich persönlich für deine Worte verantworten“ oder „Bitte. Wenn du willst beim Politbüro... Auf Wiedersehen...“486 Die Androhung einer Beschwerde bei einer höheren Instanz rekonstruiert die Macht und das hierarchische System auf verbale Art. Dadurch allerdings, dass die Partner sich nicht nur auf unterschiedlichen Hierarchie-Ebenen, sondern auch räumlich weit von einander entfernt befinden, verhallen die Drohungen und werden nicht ernst genommen.

5.2.4. Die Bürokratie Die dringende Notwendigkeit, einen Kontakt mit jemandem herzustellen, der mehr Autorität besitzt als die in dem Mikrokosmos anwesenden Personen, beweist, dass die heroischen Initiativen der Massen auf die an der Spitze der Hierarchie stehenden Personen angewiesen sind. Oben befinden sich Partei-, oder Regierungsangehörige, Gosplan, Betriebsdirektoren, Finanzexperten und Chefkonstrukteure.487 Darüber hinaus bildet sich in den sozrealistischen Texten die Darstellung des Telefons bezüglich der Bürokratie ab: Denn im Unterschied zur Satire der 30er Jahre, die das Telefon als Symbol einer parasitären Bürokratie geißelt, fehlen in den Produktionsromanen negative Konnotationen dieser Art. Da die Idealisierung der Arbeit im Zentrum stehen soll, wird auch das Telefonieren als besonders wichtig erachtet: Das Läuten des Telefons machte taub. Ohne von den Papieren aufzublicken, nahm er den Hörer ab und sprach eingehend und leidenschaftslos in kurzen Phrasen, ganz alltäglich und konzentriert. Dann vertiefte er sich wieder in die Arbeit.488

Diese Beschreibung folgt der Tradition der Memoirenliteratur, die die Telefonate Lenins als kurze, sachliche, bei äußerster Konzentration gegebene Anweisungen darstellt. Auch explizite Verbindungen mit dem Ideologen der Revolution werden hergestellt, wie z. B. die Verwendung von Zitaten aus seinen Reden oder Briefen, Erinnerungen an Begegnungen mit ihm oder auch nur an sein Porträt im Büro: Über dem Schreibtisch hing ein in Eichenrahmen gefasstes Foto – Vladimir Il’ič mit der „Prawda“ in der Hand, und über dem Sofa – Stalin am Schreibtisch. Die Regale waren mit Büchern vollgestopft. Auf dem Schreibtisch – zwei Telefonapparate, einer 486 487 488

Ebd., 488. Guski, Literatur und Arbeit, 291. Gladkov, Ėnergija, Bd. 3, 287.

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für das Stadtnetz und ein zweiter für überregionale Anrufe. Die Wände schwiegen, die Bücher schwiegen und die Zeit verdichtete sich streng in Arbeitssekunden.489

Das Telefon in der Präsenz der Schrift wird positiv konnotiert. Beide Medien sind einander gleichgestellt, schließlich erweitert das Telefon die schriftliche Arbeit sogar. Die Konkurrenz der Schriftlichkeit wird im Büro der Machthabenden überwunden, deren telefonische Tätigkeit eine besonders bemerkenswerte Arbeit ist. Das ängstliche Schweigen im Moskauer Kabinett steht im Kontrast zu dem Lärm, den das Telefon im Mikrokosmos der Baustelle auslöst. Mit Ausnahme der Notfallsituationen klingelt das Telefon in aller Regel auf lästige und nervös machende Weise und unterbricht Reden oder Versammlungen: …danach begannen die Telefonanrufe zu stören…490 Favorov griff zum Telefonhörer, doch Renne wartete nicht länger.491 Miron kam zurück ins Zimmer. Das Telefon läutete.492 In diesem Moment klingelte das nervige Telefon im Zimmer des Manuk Pokrikov.493 In jedem Moment klingelte das Telefon. In den schweren Hörer schrien heisere Stimmen.494

So ergibt es sich, dass die Stellung des Telefons im Produktionsroman eine widersprüchliche ist: Einerseits fürchtet der autoritäre Erzähler den distanzierten Dialog und die Notwendigkeit, es dem Leser allein zu überlassen, die Gespräche zu rekonstruieren, weswegen er die Repliken der Protagonisten mit eigener Stimme nacherzählt: Er hob den Telefonhörer ab und ließ sich mit dem Krankenhaus verbinden. Mit verschlafener Stimme meldete die Krankenschwester, dass der Neue, Eleonorov, sich im Delirium befände, und dass keine Vorhersagen über ihn möglich seien; der neue Name Gelasijs fiel ihr leicht, weil sie den alten nicht kannte.495

Andererseits jedoch ist das Telefon ein Arbeitsmittel für jene, die an der Spitze der Machthierarchie stehen, und im Notfall auch eine rettenden Einrichtung. Festhalten lässt sich insofern, dass an dem Medium im Prinzip nicht gezweifelt wird.496 489 490 491 492 493 494 495 496

Gladkov, Ėnergija, Bd. 4, 16. Leonov, Sot’, 66. Ebd., 215. Gladkov, Ėnergija, 212. Šaginjan, Gidrocentral’, 242. Kataev, Vremja vpered!, 336. Leonov, Sot’, 254. Eine Ausnahme stellt die Mutter Suzannas dar, die Angst davor hat, am Telefon über ihren vermissten Ehemann zu reden: „Die Alte traute auch vorher schon dem Telefon nicht.“ (Leonov, Sot’, 188.) Es ist nicht klar, worauf sich das temporale Adverb „vor-

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5.2.5. Raum und Zeit Sogar in der harten Konkurrenz mit der Schrift verteidigt das Telefon seine literarischen Positionen, dies vor allem wegen der Überwindung von Raum und Zeit, wie beispielsweise in den „außerkanonischen“ Kapiteln 17 und 28 des Romans Im Sturmschritt vorwärts!. In beiden Kapiteln telefoniert der Bauabschnittleiter Margulies mit seinem „Sonderkorrespondenten“497, der Schwester in Moskau. Insbesondere das zweite Gespräch ist entscheidend für die Aufstellung des Rekords im Zementrühren und damit für die Lösung der Geschichte. Ohne die wissenschaftlich-technischen Informationen, welche Margulies per Telefon bekommt, könnte er nicht nur die Arbeiter nicht motivieren, sondern sich auch nicht gegen die „Schädlinge“ stellen. Die Problemlösung kommt mittels des Mediums von außen. Valentin Kataev schreibt Im Sturmschritt vorwärts! im Anschluss an seine Reise nach Magnitogorsk, den Titel entlehnt er Majakovskij, die Darstellung dessen, wie die Zeit im Roman voranschreitet, der Relativitätstheorie Einsteins. Margulies betrat eine mit Filz ausgekleidete Telefonzelle und machte die Tür fest hinter sich zu. Im selben Moment ergriff ihn eine derartige Stille, als ob er mit der Tür auch die Zeit abgesperrt hätte. Die Zeit erstarrte um ihn wie feste, unbewegliche Masse. Doch sobald er den Hörer ans Ohr nahm, begann statt der stehengebliebenen Zeit der Raum mit ihm zu sprechen. Er sprach mit den nahen und fernen Stimmen der Telefonistinnen, mit leisem Knistern der atmosphärischen Entladungen, mit dem Sausen der vorbeiziehenden Kilometer, mit dem Mückengesang der Signale, mit ausgerufenen Städten.498 Der Raum blieb in seiner ganzen unbeweglichen Ausdehnung stehen. Doch kaum öffnete er die Tür der Kabine, begann die befreite Zeit sich zu bewegen, zu lärmen und schwappte über ihn statt des stehengebliebenen Raums.499 So sprachen an diesem wunderschönen Sommermorgen, um zehn nach Moskauer Zeit und um zwölf nach der dortigen Zeit Bruder und Schwester miteinander, und ihre Stimmen flogen aus Europa nach Asien und aus Asien nach Europa und überdeckten den sturen Hall der zurückbleibenden Zeit und des bewegungslosen Raums.500

Die Erzählzeit im Roman Kataevs, welche immerfort eilt, stoppt plötzlich. Isoliert in der Telefonzelle stehend, besinnt sich der Held und verlässt virtuell den Raum der Baustelle. Die Bewegung des Raums und der sprachliche

497 498 499 500

her“ bezieht – auf die Zeit vor der Revolution oder vor dem Verschwinden des Mannes? Kataev, Vremja, vpered!, 379. Ebd., 304. Ebd., 309. Ebd., 359.

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Verkehr zwischen zwei Kontinenten erscheinen ihm als Magie. Die Hypnose endet erst, als er die Tür öffnet und die Uhr an der Wand sieht. Mit einer sowjetischen Uhr beginnt die Erzählung – Margulies kann einem so einfachen Mechanismus als Messinstrument für etwas so Wichtiges wie die Zeit nicht vertrauen. Er glaubt nur seinem eigenen Empfinden für die Bewegung der Zeit, es ist seine subjektive Wahrnehmung, dass die Zeit während des Telefonats anhält. Was passiert nun in diesen zwei Telefonaten, wie werden sie dargestellt? Aufgrund ihrer Priorität für die Entwicklung der Romanhandlung lässt der Erzähler die Protagonisten selbst reden. Das erste Gespräch ist ein Anruf aus der Telefonzentrale Magnitogorsks in die Moskauer Kommunalwohnung, während das zweite Gespräch aus der Perspektive der anderen Seite abgebildet wird und zeigt, wie das Gespräch in Moskau entgegengenommen wird. Aus dem ersten Gespräch erfahren wir, wie Margulies Katja um Informationen bittet, dem zweiten ist zu entnehmen, wie sie ihm die gesammelten Informationen am Telefon diktiert. Zwischen den beiden Gesprächen liegen zwei Stunden, die der Leser sowohl auf der Baustelle als auch in Moskau verfolgt. Zwei Stunden beträgt auch der Unterschied zwischen den Zeitzonen der beiden Orte. Katja besorgt den Artikel Die Beschleunigung der Herstellung von Beton in hoher Qualität (Uskorit’ izgotovlenie i dat’ vysokoe kačestvo betona) aus der Zeitung Für die Industrialisierung (Za industrializaciju), die von einer Gruppe Ingenieure des Staatlichen Bauinstituts veröffentlicht wurde. Sie liest ihn vor, gleichzeitig macht Margulies sich Notizen. Die fixierte Schrift wird somit in mündliche Rede transformiert, um danach wieder zu fixierter Schrift zu erstarren. Das Telefongespräch wird zwischen zwei statischen Texten angesiedelt. Nachdem die Information bereits in den Mikrokosmos übermittelt worden ist, können sich auch die Leser damit auseinandersetzen: In Kapitel 29 findet sich der nachgedruckte Artikel mit sämtlichen Kalkulationen und Tabellen. Der Artikel bekommt den Wert eines autoritären Dokuments, das Margulies die Unterstützung zusichert, das Telefon fungiert als Vermittler bei der Beschaffung des Dokuments. Schriftlichkeit und Mündlichkeit stoßen hier aufeinander. Sowohl das eine als auch das andere Medium wird dabei mit unterschiedlichen Hindernissen konfrontiert: Im Hinblick auf die mündliche Kommunikation sind dies etwa die schlechte Qualität des Gesprächs, die unterbrochene Verbindung („Fünf Mal wurden sie von einer leidenschaftslosen und groben Stimme getrennt“) oder der hohe Tarif. Im Falle des schriftlichen Mediums hingegen wirken das Fehlen der Vorlesungsnotizen (sie werden an die Konkurrenz-Brigade in Char’kov gesendet) und der richtigen Adresse des Professors sowie die Reparatur der Straßenbahn in Moskau oder die Tatsache, dass Papier und Bleistift ausgehen, als Hindernisse auf den Kommunikationsprozess ein. Kataev schöpft das Potential des Telefons in diesen zwei Gesprächen in jedem einzelnen Moment ihrer Durchführung vollständig aus. Das gilt auch

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für die kommunikative Dynamik zwischen den Gesprächspartnern: In einem Text wie Im Sturmschritt vorwärts!, der sich den Regeln des Sozialistischen Realismus unterordnet, bekommen beide Telefonate ihren eigenen isolierten Raum außerhalb der Regeln, so wie der Raum in der Telefonzelle mit dem restlichen Raum kaum in Verbindung steht. Die Erzählprinzipien des Sozialistischen Realismus, die im Roman funktionieren, sind während der telefonischen Gespräche suspendiert. In jenem Moment, in dem die Stimme des Protagonisten aus dem Raum des Mikrokosmos heraustritt, verlässt auch der Erzähler den literarischen Raum des Sozialistischen Realismus. In den Romanen des ersten Fünfjahresplans wird dem Telefon trotz der Versuche, es zu unterzudrücken, ein kleinen Platz im master plot zugestanden und ihm also eine Einmischung in den Text garantiert, wenngleich diese auch begrenzt bleiben muss.

5.3. Revolutionäre Romantik, historisch-revolutionäre Romane und das Telefon Unter die ideologischen Postulate des Sozialistischen Realismus subsumiert Hans Günther auch die revolutionäre Romantik: „Die Kanonisierung der revolutionären Romantik ist unmittelbar mit der Entstehung der Losung des sozialistischen Realismus verknüpft“.501 Die Werke von Lebedinskij, Furmanov, Serafimovič, Ivanov, Leonov, Fadeev, Šolochov und A. Tolstoj aus der Mitte der zwanziger Jahre können als ein einheitliches Epos der Revolution und des Bürgerkriegs betrachtet werden, das bereits auf den Grundlagen des Sozialistischen Realismus aufgebaut ist.502 Die historisch-revolutionären Romane entwickeln sich als Genre des Sozialistischen Realismus parallel zu den Produktionsromanen, werden in großen Auflagen veröffentlicht und jahrelang in die Lehrpläne einbezogen, ihre Autoren erhalten die höchsten sowjetischen Preise und Prämien. Im Folgenden soll nicht die permanente Diskussion über die Verbindung zwischen Literatur und Geschichte und die „literarisch richtige“ Spiegelung der „großen sozialistischen Oktoberrevolution“ im Vordergrund stehen – vielmehr soll kurz die Stellung des Telefons und seine Darstellung in der Kriegsliteratur erörtert werden. Ausgehend von der These, dass das Telefon in den Romanen der sozrealistischen Autoren relativ selten auftritt und dabei keine Bedeutung für die Struktur des Textes hat, sondern lediglich kleine Rollen in einzelnen Episoden bekommt, lässt sich in der Tat festhalten, dass das Medium bei den Soz501 502

Günther, Die Verstaatlichung der Literatur, 35. S. Petrov, Vozniknovenie i formirovanie socialističeskogo realizma, Moskau 1970, 467.

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realisten die Erzählung weder auf der Ebene der Form noch auf der des Inhalts beeinflusst, außerdem wird seine Anwesenheit selten thematisiert. Das Besondere in der Kriegsliteratur ist die Einführung des Feldtelefons – des ersten Telefons, das mobil und somit nicht auf einen bestimmten Ort fixiert ist. Somit verändert der Gebrauch von Feldtelefonen die Strategie der Kriegsführung wie auch die Militärstruktur. Eine neue Militärpost entsteht, der Telefonist fungiert nunmehr als Nachrichtensoldat. Im Unterschied zu diesen Texten bildet Bulgakov in seiner historischen Prosa das Telefon lautmalerisch und in besonders sensitiver Weise ab. Im Jahre 1880 installiert die russische Armee in Černigov die erste praktische Telefonverbindung, die fast einen Kilometer lang ist und die Militärbehörde mit dem Stab der 5. Infanteriedivision verbindet.503 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden die ersten Feldtelefone ausprobiert, wobei ein Apparat etwa 15 Kilogramm wiegt.504 Während des Ersten Weltkriegs dann wird die neue Kommunikationstechnik in Realkämpfen erfolgreich getestet. Die bisherigen Techniken der Nachrichtenübermittlung – Post und Telegraf – werden durch das Telefon ersetzt, dessen Vorteile in der schnellen gegenseitigen Kommunikation zwischen der Front und dem Militärstab sowie in der Beschaffung von Informationen über den Gegner mittels Abhörtechniken liegen. Schon zu Beginn des 20. Jahrhundert kommen Telefonsysteme oder Mikrofoneinrichtungen für die Abhörtechnik zur Anwendung, die insbesondere in Gefängnissen verbreitet sind, wo die Gespräche der Gefangenen belauscht werden. Im Jahre 1928 veröffentlicht die Zeitschrift Leben und Verbindungstechnik (Žizn’ i technika svjazi) einen Artikel über die Organisation eines Abhördienstes der deutschen und östereichischen Gegnerseite während des Ersten Weltkriegs. Die Informationen hierfür stammen von Gefangenen – deutschen und österreichischen Soldaten –, unter ihnen auch der Leiter einer österreichischen Abhörstation: Der Abhördienst war selbständig und unabhängig vom Radiodienst und der Drahtkommunikation. Im Stab jeder Armee gab es einen Offizier, der alle Abhörstationen betreute. Der Leiter der Abhörstation einer Division unterstand direkt nur dem Divisionskommandeur der Aufklärungstruppe, auf deren Gebiet die Station sich befand. [...] Der Kommandeur der Fernmeldekompanie befahl, alle Telefonate in allen Schützengräben während der fürs Abhören bestimmten Stunden einzustellen. Ebenfalls stellte er Arbeitskräfte aus der Fernmeldetruppe zur Verfügung, um sogenannte Strahlen (spezielle Kabelleitungen, die an die Abhörgeräte angeschlossen wurden) zu verlegen, und um einen Bunker für die Station zu bauen und verband sie telefonisch mit dem Stab der Division.505

503 504 505

Golovin, Russkie izobretateli v telefonii, 12. Krasik, Telefon, 14. Služba podslušivanija telefonnych razgovorov v vojnu 1914-18 gg, in: Žizn’ i technika svjazi 8-9/1928, 68-69, hier 69.

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Abb. 20: Titelblatt von Fronte svjazi, 1933.

Abb. 21: Soldat am Telefon.

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178

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Abb. 22: Sowjetisches Poster, 1951 („Schwatze nicht am Telefon! Der Schwätzer spielt dem Feind in die Hände “).

Abb. 23: Deutsches Poster.

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Deutsche und österreichische Soldaten machten Aufnahmen von allen russischen Telefonaten und gaben diese weiter, um sie aus dem Russischen ins Deutsche übersetzen zu lassen. Für jede wichtige abgefangene Mitteilung wie u. a. die über die Stationierung einer russischen Division oder die Umgruppierung der Artillerie erhielten die „österreichischen Abhörer“ eine Belohnung in Höhe von 60 Kronen.506 Leider gestaltet es sich schwierig, an Angaben über Abhörstationen der russischen Armee zu gelangen, wenngleich solche zu Beginn des Zweiten Weltkriegs mit Sicherheit existiert haben mögen. Nicht ohne Grund fürchtete Stalin im Jahr 1941, dass der Feind Telefon- und Radioverbindungen abhöre.507 Im Zuge der Vorbereitung der Oktoberrevolution im Jahr 1917 betont Lenin die Schlüsselposition der Telefonzentralen und die Notwendigkeit, zunächst diese einzunehmen, um dann von dort aus weitere Aktionen durchführen zu können. Zwei Jahre nach der Revolution, während des Bürgerkriegs, werden in die Struktur der neugegründeten Rotarmee die Kommunikationsstreitkräfte (vojsk svjazi) eingegliedert. Als ‚Geburtstag‘ der Kommunikationsstreitkräfte gilt der 20. Oktober 1919, als mit Anweisung des revolutionären Militärrats der sowjetischen Republiken die Leitung der Kommunikationsstreitkräfte dem Bestand des Feldstabs zugeordnet wird und seine Vorgesetzten ernannt werden. Mit dem gleichen Dokument wird die Ausgliederung der Kommunikationsstreitkräfte von den Nachrichtenkräften als selbständige Streitkräfte geregelt. Die damals festgelegte Struktur ist bis heute aktuell. Wie das Telefon die Kriegsführung und dadurch auch die optischakustischen Zusammenhänge während einer Schlacht verändert, untersucht Stefan Kaufmann.508 Er systematisiert drei miteinander verknüpfte Veränderungen: Erstens den Austausch optischer und akustischer Netze, zweitens eine breitere räumliche Ausdehnung der hierarchischen Militärstruktur und

506 507

508

Ebd. Stefan Kaufmann berichtet in Kommunikationstechnik und Kriegführung 1815-1945: Stufen telemedialer Rüstung, München 1996, 229, wie sich die informationstechnische Aufklärung entwickelte: „Die Eigenschaft des Funks ohne spezifische Begrenzungen in alle Richtungen abzustrahlen, war im militärischen Nutzungsfall mit einer Vielzahl von Kontingenzen verbunden. Dies brachte der deutschen Seite rasch spektakuläre Erfolge. Für die 8. Armee war es ein Glücksfall, daß ihre Funker im August 1914 aus Langweile hörten, was auf ihren Geräten zu empfangen war. Erstaunt stellten sie fest, daß die russische Gegenpartei Klartext funkte. Die mitgehörten Funksprüche gaben Aufschluß über die geplanten russischen Bewegungen, was der deutschen Führung die Isolierung und Vernichtung einer der beiden russischen Armeen in der Schlacht von Tannenberg ermöglichte.“ Dazu auch: Gazeta UA, url: http://gazeta.ua/gazeta/ru/from/2986/ Генерал Система №22 (354), 06/2005. Kaufmann, Kommunikationstechnik und Kriegführung 1815-1945, insbesondere: Telefonisches Kommunikationsniveau und netzförmige Kriegführung 1918, 170-261.

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drittens die Möglichkeit der Nutzung des Mediums durch Soldaten, die hierfür nicht extra ausgebildet waren. In den einfachen, linear angelegten Gräben existierte die Möglichkeit visuellen Kontakts, dagegen wurde mit dem Telefonnetz ein unsichtbares Netz gesponnen, das akustisch und nicht mehr optisch geknüpft war.509 Die akustisch-fernmündliche Kommunikation verdrängte die optisch-telegrafische.510 Allerdings brachte die neue Technik das Problem einer fehlenden Dokumentation mit sich. Das Fehlen schriftlicher Fixierung wurde zum einen als Kontrollverlust interpretiert, zum anderen galt die akustische Präsenz bei optischer Absenz insbesondere bei der Befehlsgebung als suspekt.511 In Folge dessen traten Veränderungen im Zusammenspiel zwischen hierarchischer und räumlicher Struktur auf: Linien verbanden in hierarchischer Struktur jeweils übergeordnete mit untergeordneten Stellen, in räumlicher Struktur das Hinterland mit der Front. Die Struktur der Verbindung bestimmte damit die Inhalte: Befehle und Meldungen. Netze kennen in hierarchischer Struktur ebenfalls die vertikale Verbindung, aber sie kennen auch horizontale Verbindungen. In räumlicher Struktur laufen sie sowohl vom Hinterland an die Front wie sie auch Verbindungen an der Front und im Hinterland herstellen. Die Form eines Netzes ermöglicht daher zwar auch monolineare Befehlsgebung und Meldungserstattung, aber die horizontale Verbindung ist von ihrer Struktur her auf interaktive Kommunikation angelegt. Netzförmig sollte das Telefon nicht mehr allein Substitut der Telegrafen(linie) werden, sondern in neuer Funktion auftreten.512 Schon allein aus befehlstechnischen Gründen waren Offiziere oberhalb der Kompanieebene als heldenhafte Vorkämpfer verschwunden: Wollten sie den Ansatz der Gruppen regeln, so konnten sie diesen nicht mehr voranstürmen, sondern mußten hinter ihnen bleiben. Diese Distanz zur Front wuchs auf mittleren und höheren Befehlsebenen zunehmend, da spätestens ab der Regimentsebene sämtliche Kommandeure gänzlich an ihre Befehlsstände, an die Schnitt- und Endpunkte der Telefonleitungen, gebunden waren. Ihre Aufgabe, den vorderen Einheiten im Kampf materiellen Nachschub und personelle Verstärkung zukommen zu lassen, band sie an das Kommunikationsnetz. Diese Frontdistanz der Befehlsstellen sollte zum zentralen Problem der taktischen Führung avancieren.513

Auch wegen seiner einfachen Benutzbarkeit hat das Telefon so rasch den Telegrafen ersetzt: Denn während über letzteren nur kürzere und knappe Direktiven in eine Richtung übermittelt werden können, kommunizieren am Telefon beide Seiten unmittelbar über einen offenen und pragmatischen Kommunikationskanal. Dieser Kanal ermöglicht es auch, hierarchischen

509 510 511 512 513

Ebd., 174. Ebd., 199. Ebd., 201. Ebd., 210. Ebd., 257.

Revolutionäre Romantik, historisch-revolutionäre Romane und das Telefon

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Strukturen entgegenzulaufen.514 Im Unterschied zu den Telefonistinnen, die sich zwischen zwei Telefonierenden befinden, arbeiten die Militärtelefonisten am Ende der Telefonverbindung – entweder im Stab oder auf dem Feld, wo sie die Verbindung sichern. Sie sind ein Element des Systems, gleichzeitig jedoch auch selbst Nutzer. Wie wird die Kriegsführung mittels des Telefons in der sowjetischen revolutionär-historischen Prosa abgebildet? Die Telefon-Motive lassen sich in drei Schwerpunkten zusammenfassen: Es handelt sich erstens um den Militärstab als ‚Hauptquartier‘ des Telefons, zweitens um die Arbeit der Telefonisten und drittens um die (De)aktivierung von Autorität am Telefon. Die verwendete Lektüre umfasst einige grundlegende sozrealistische Texte vom Beginn der 20er bis zum Ende der 30er Jahre über die Oktoberrevolution und den Bürgerkrieg – die Romantrilogie Der Leidensweg (Choždenie po mukam,515 1922-1941) von Aleksej Tolstoj, Furmanovs Roman Čapaev516 (1923), Šolochovs Der stille Don (Tichij Don,517 1928-1940) sowie Leonid Leonovs Die Dachse (Barsuki,518 1924). Ähnlich wie schon in den Produktionsromanen entwickelt sich die Darstellung des Telefons auch in den Revolutionstexten während der zwei Dekaden nicht weiter. Oft wiederholen sich in den verschiedenen Werken lediglich klischeehafte Bilder, wie etwa das Klingeln von Telefonen in spannenden Situationen oder die Unterbrechung wichtiger Gespräche durch das Telefon. In diesen zwei Fällen unterscheiden sich also die Klischees der revolutionär-historischen Prosa nicht von denen der Produktionsromane: „Damit war das Gespräch beendet, – Elanja wurde zum Telefon gerufen, irgendwas wurde in dem Regiment verlangt.“519 Ähnlich wie im Falle der Produktionsromane, wo sich Telefonate zwischen Arbeitsplatz und Privathaushalt nur sehr selten finden lassen, werden in den Kriegsromanen lediglich Gespräche geführt, die sich auf Kriegsaktionen beziehen. Dies ist sowohl auf die Sicherheitsvorschriften zurückzuführen als auch auf die Tatsache, dass die militärischen Telefonnetze aus technischen Gründen nicht mit den zivilen Netzen verbunden waren.

514 515 516 517 518 519

Ebd., 192. Aleksej Tolstoj, Choždenie po mukam, in: Ders., Sobranije sočinenij v desjati tomach, Bd. 6, Moskau 1959. Dimitrij Furmanov, Čapaev, in: Ders., Sobranije sočinenij v četyrech tomach, Bd. 1, Moskau 1960. Michail Šolochov, Tichij Don, in: Ders., Sobranije sočinenij v vos’mi tomach, Bd. 2, 3, 4, 5, Moskau 1956-1957. Leonid Leonov, Barsuki, Moskau 1969. Zit. nach Furmanov, Čapaev, Kapitel 11.

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Zentrum des mobilen Militärnetzes war der Stab, eine Art Herz der Kriegsführung – räumlich weit von den Kampfhandlungen entfernt, über Telefonkabel aber mit dem kriegführenden Organismus verbunden: Im Stabsquartier herrschte Stille, wie in allen Stabsquartieren, die weit entfernt von der Frontlinie liegen. Die Schreiber waren über einen großen Tisch gebeugt, am Hörer des Feldtelefons lachte ein betagter Essaul mit unsichtbarem Gesprächspartner. An den Fenstern der geräumigen Hütte summten die Fliegen und wie Mücken heulten entfernte Telefone.520 Čapaev und Fedor, enge Freunde und unzertrennliche Arbeiter, waren selten in ihrem Quartier: das Leben spielte sich im Stab ab. Vom Zentrum trafen dauernd Befehle und Anweisungen ein; von den eigenen Truppen kamen auch verschiedene Meldungen und Anfragen, ständig fanden endlose „Besprechungen“ am Telefon über die direkte Leitung statt…521 Sie fanden eine bessere, geräumigere Hütte; hier wurden der Stab der Brigade und die Operationsabteilung der Division untergebracht – diese begleitet uns unablässig in den letzten Tagen. Die Leitung wurde gelegt, der Apparat lief, das Telefon läutete. Bald kam auch ein Samowar in die Stube.522 An der Flussüberquerung setzte sich Čapaev alle zehn Minuten mit Elan oder mit den Kompaniechefs in Verbindung. Die Kommunikation war großartig organisiert – ohne ein solches Kommunikationsnetz wäre die Operation weniger erfolgreich verlaufen. Čapaev war über die Situation am anderen Flussufer stets bestens informiert. Und wenn man dort begann, sich Sorgen über Granaten oder Munition zu machen, kannte Čapaev diese Sorgen bereits und schickte alles Nötige mit dem ersten Dampfer. Er erkundigte sich ständig über die Stimmung der Männer, über die Feindaktivitäten, über die Stärke seines Widerstands, über die ungefähre Anzahl der Artillerie, darüber, wie viele Offiziere es in der Kompanie gab und über ihre grundsätzliche Zusammensetzung – alles interessierte ihn, alles wurde von ihm erwogen, alles berücksichtigt. Er hatte alle Fäden jederzeit in der Hand und seine kurzen Ratschläge am Telefon, seine Anweisungen, die er mit den Boten abschickte – das alles zeigte, wie deutlich er sich die Situation in jedem Moment vorstellte.523

Das Telefon wird als Teil eines komplizierten Mechanismus abgebildet, der Informationen direkt aus dem Schlachtfeld übermittelt. Die Aufgabe der Heerführer war es, die am Telefon berichtete Situation zu visualisieren, aus der Distanz heraus die notwendigen Entscheidungen zu treffen und sie zurück ins Feld zu senden. Die Lage des Stabes wurde zusammen mit den Änderungen der Feldpositionen neu situiert. Dieser neue Ort – Baracke, Wagen, Haus, Zelt oder Erdhütte musste rasch angepasst und eingerichtet und vor allem schnellstens mit dem Schlachtfeld verbunden werden. Die Installation der Kabel und die 520 521 522 523

Šolochov, Tichij Don, Bd. 2, 343. Furmanov, Čapaev, 156. Furmanov, Čapaev, 197-198. Ebd., 268.

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Besorgung von elektrischem Strom gehörten zu den Aufgaben der Kommunikationsstreitkräfte. In den literarischen Texten wurde der Dienst der Telefonsoldaten mit dem der Artilleristen, Kavalleristen, Infanteristen, Piloten und Aufklärer gleichgestellt – jeder Soldat der roten Armee, unabhängig von seinem Dienstgrad oder Rang trug bei zum Erfolg der konkreten militärischen Missionen: Der Beobachter und ein Oberoffizier stiegen eine halbe Werst von der Batterie von ihren Pferden ab und beobachteten von einem kleinen Hügel aus den Rückzug des Feindes. Die Telefonisten legten eilig die Leitung und verbanden die Batterie mit dem Beobachtungspunkt. Die großen Finger des betagten Batteriekommandeurs drehten nervös am Rädchen des Fernglases.524

Das Telefon als Teil militärischer Ausrüstung ist darüber hinaus gleichwertig auch den Geschützen, Zelten oder sanitären Materialien, selbst jedoch kommt ihm keine aktive Rolle in der Handlung des Romans zu. Es bewegt nichts im Hinblick auf das Sujet, die Schriftsteller interessieren sich kaum für seine medialen Besonderheiten. Einzig in jenen episodischen Momenten, in denen es um Kontakte mit Übergeordneten geht, zeigen sich die Fähigkeiten des Telefons, hierarchische Strukturen zu unterlaufen. Im folgend aufgeführten Zitat telefoniert der Kommandeur einer Division mit dem Hauptkommandeur wegen eines Antrags auf Unterstützung. Nachdem ihm dies versagt und die Leitung plötzlich unterbrochen wird, erscheint er persönlich und hofft, dass ein Treffen von Angesicht zu Angesicht überzeugender wirken mag als das Telefonat, ohne dabei jedoch zu berücksichtigen, dass er damit die Militärordnung nicht respektiert: Er entriss den Hörer – hier erwies sich der Nutzen der georgischen Telefone. – Hier ist der Kommandierende. Er hörte, wie eine Maus im Hörer winselte: – Genosse Kožuch, wir brauchen Verstärkung. Die Kulaken sind hier, und die Offizierskorps… Kožuch sprach versteinert in den Hörer: – Sie kriegen keine Verstärkung. Ich habe niemanden. Halten Sie durch bis zuletzt. Von dort: – Ich kann nicht. Der Angriff ist ganz auf mich gerichtet, wir halt… – Halten Sie durch, sag’ ich Ihnen! Ich habe keinen einzigen Mann in der Reserve. Ich komme jetzt zu euch. Kožuch hört den Fluss nicht mehr: er hört in der Dunkelheit vorne, links und rechts das Donnern der Gewehre. Kožuch befahl… doch er konnte nicht zu Ende sprechen: Ahh!.. Umsonst hatte Kožuch in die Dunkelheit gespäht: Die Kosaken kamen durch und säbelten nach rechts und nach links – Durchbruch der Kavallerie. Kožuch stürmte vor; ihm entgegen lief der Kommandeur, mit dem er gerade gesprochen hatte. 524

Šolochov, Tichij Don, Bd. 4, 82.

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– Genosse Kožuch… – Was machen Sie hier? – Wir können den Ansturm nicht mehr halten… Sie sind durchgebrochen… – Wie konnten Sie ihre Männer verlassen?! – Genosse Kožuch, ich kam, um persönlich um Verstärkung zu bitten. – Festnehmen!525

Bei besonders großer hierarchischer Distanz zwischen den beiden Gesprächspartnern versucht der Erzähler, durch Sprachmittel die Beziehung zwischen Untergeordnetem und Machthabendem zu betonen: Der Artilleriekommandant betrachtete die Ebene, bis die Sonne unterging. Dann rief er den Kriegsrat an und sagte leise und deutlich in den Hörer: – An der Front werden die Soldaten von einer Offiziersbrigade abgelöst, Genosse Stalin. Darauf antwortete man ihm: – Ich weiß. Bald können Sie das Paket erwarten.526

Trotz der namentlichen Anrede („Genosse Stalin“) des Gesprächspartners, erscheint dessen Antwort anonym. Die passive Form („darauf antwortete man ihm“) stellt Abstand zwischen den beiden her. Damit wird die Wirkung des Telefons wieder kompensiert, die – wie bereits oben dargestellt – darin besteht, Hierarchien zu neutralisieren. Obwohl der Bericht des Artilleriekommandeurs rechtzeitig eintrifft, ist die Information Stalin bereits bekannt – ein obligatorisches Erzählverfahren, wenn es darum geht, das Bildnis einer allwissenden, alles hörenden und alles sehenden Person zu erschaffen. Eine andere telefonische Situation, die Spannung in einem Text produziert, ist die Unterbrechung der Leitung oder der Verbindung. In den historisch-revolutionären Romanen wird das Potential dieser Konstellationen nicht voll ausgeschöpft: Die Protagonisten finden sich mit dem fehlenden Kommunikationskanal schnell ab und treffen, ohne sich zu beschweren, Entscheidungen, die das Telefonieren ersetzen. Die vom Telefon verkürzten räumlichen Distanzen müssen nun eben zu Fuß oder reitend überwunden werden: Das Telefon funktionierte nicht, aber im Hörer waren Geräusche, als ob jemand sich an dem anderen Ende der durchgeschnittenen Leitung mokieren würde. Am Abend schnallte Sergej Ostifeič den Gürtel enger um den Mantel und fuhr nach Vory. Zu diesem Zeitpunkt bereits war bei Sergej Ostifeič der Plan herangereift: nach Vory zu fahren, um die Papiere abzuholen und dann mit irgendeinem Auftrag vor den beginnenden Unruhen zu fliehen…527 – In Kazanskaja ist es irgendwie unruhig geworden. Mal brechen die Weißen durch, mal machen die Kosaken einen Aufstand. Gerüchten zufolge gab es dort gestern einen Aufstand. Die Telefonleitungen sind gekappt. 525 526 527

Serafimovič, Železnyj potok, Kapitel 34. Tolstoj, Choždenie po mukam, Chmuroe utro, 73. Leonov, Barsuki, 212.

Revolutionäre Romantik, historisch-revolutionäre Romane und das Telefon

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– Dann sollte man einen Reiter dahin schicken. – Hat man. Er kam nicht wieder. Und neulich ist eine Kompanie nach Elanskaja geschickt worden. Dort ist auch irgendwie nicht alles in Ordnung.528 Die Leitungen, die entlang der Bäume gelegt worden waren, waren durchgeschnitten. Aus den Drähten bastelten sich die Diebe einen Vorrat an Balalaika-Saiten. Und an dem Tag, als Polovinkin ganz verzweifelt nach Čekmasovo aufbrach, erklangen diese sowjetischen Drähte heiter auf neun Balalaikas von Deserteuren.529

Im letzten Beispiel wird den Telefonkabeln eine neue Funktion zugewiesen – diese erschaffen nun Musik. Anstatt Töne lediglich zu übermitteln, spielen sie sie selbst. Im Kontrast zu der Situation klingen die Balalaiken des Deserteurs fröhlich. Außerhalb des militärischen Kontexts werden die Telefonkabel so zu einem kulturellen Artefakt. Die Revolution und der darauf folgende Bürgerkrieg inspirieren auch Autoren wie Bulgakov, der nicht nur für eine andere Perspektive steht, sondern auch Erzählverfahren und Ausdrucksmittel verwendet, die sich von den Normen des Sozialistischen Realismus stark unterscheiden. Im Gegensatz zu den bisher untersuchten Texten erringt das Telefon im Roman Die weiße Garde (Belaja gvardija,530 1924) auf der Ebene des Inhalts sowie auf der Ebene der Form Aufmerksamkeit. Innerhalb der Vielfalt der Klangfiguren Bulgakovs wird das Telefonklingeln z. B. mit Vogelgesang assoziiert: „Ja... ja... sage ich. Ich sage: ja, ja. Ja, sage ich.“ Brrrryn-rrrryn... – machte die Klingel... Pi-u, – sang ein weicher Vogel irgendwo im Loch, und von dort begann ein junger Bass zu brummen:531 Irgendwo klingelte das Telefon, irgendwo sonst sang der Vogel – Piu!532 Und die Vöglein sangen in den gelben Kisten. – Ti-u... pi-u... ti-u... 533 Dort sang bei Ščetkin manchmal der Telefonvogel, doch zum Morgen verstummte er.534 ... Die Stabstelefone klingen und singen.535 Die Vöglein in den Stabstelefonen Hetmans und General Kartuzovs sangen durcheinander und forderten den Start der Maschinen.536

528 529 530 531 532 533 534 535

Šolochov, Tichij Don, Bd. 4, 190. Leonov, Barsuki, 207-208. Michail Bulgakov, Belaja gvardija, in: Sobranie sočinenij v desjati tomach, Bd. 4, 39303. Ebd., 109. Ebd., 136. Ebd., 146. Ebd., 148. Ebd., 149.

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Das Telefon im Sozialistischen Realismus

Die uns bekannte Mandel’štam’sche Metapher „Stimme-Vogel“ wird hier in „Telefon-Vogel“ weiter entfaltet: In der ersten Poetikfigur überwindet die Stimme den Raum wie ein Vogel, in der zweiten singt die elektrische Stimme des Telefons wie ein Vogel. Von einer weiteren Vertiefung in den Text Die weiße Garde soll an dieser Stelle allerdings abgesehen werden, dient er doch lediglich als ein Beispiel dafür, welche Funktionen dem Telefon in Werken mit militärischer Thematik zukommen können.

5.4. Kinder und Pioniere am Telefon Im März 1930 wurde in der Tageszeitung Pravda Maksim Gor’kijs Artikel Über die verantwortungslosen Menschen und über das Kinderbuch unserer Tage veröffentlicht, in dem das Thema der Schädlinge in der sozialistischen Gesellschaft bearbeitet, gleichzeitig aber auch die Richtung, in welche die sowjetische Kinderliteratur sich entwickeln solle, festgesetzt wurde. Gor’kij erachtete darin die sozialistische Erziehung als eine der wichtigsten Aufgaben des Kinderbuches, durch die einerseits „organische Verachtung und Ekel“ gegenüber den Verbrechen der Schädlinge hervorgerufen werden, andererseits die Aufmerksamkeit der Kinder auf das Schaffen und die „revolutionäre Energie der Arbeiterklasse“ konzentriert werden sollte.537 Obwohl auch die Kinderliteratur – so wie die ganze Literatur des Sozialistischen Realismus – die Erziehung zum wichtigsten Ziel hatte, genossen die Kinderbuchautoren eine relativ große Freiheit (im Vergleich mit den Schriftstellern für Erwachsene) und konnten die politisch vorbestimmten Aufträge an die Literatur umgehen.538 Nicht selten handelte es sich bei den Autoren und Künstlern für Kinderbücher um Vertreter der russischen Avantgarde. Die Übergangsphase der Kinderliteratur zwischen Avantgarde und Sozialistischem Realismus spiegelt sich auch in der Thematisierung und Darstellung des Telefons im Text wider. Das spannungsvolle poetische Feld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in den Kinderbüchern der 30er Jahre verließ die monologische autoritäre Schrift als Sieger. Aufgrund der Präsenz der Avantgardisten in den Kinderbuchverlagen aber verschwand das Telefon nicht völlig aus den Werken, blieb aber als ein nachrangiges Element hinter den pragmatischen Erziehungsaufgaben zurück. 536 537

538

Ebd., 162. Maksim Gor’kij, O bezotvetstvennych ljudjach i o detskoj knige našich dnej, in: Pravda 10.03.1930/68, zit. nach: Sobranie sočinenij v 30ti tomach 1949-1956, Bd. 25, Gor’kij Open Source, url: http://home.sinn.ru/~gorky/TEXTS/OCHST/bezotv.txt. Omri Ronen, Detskaja literatura i socrealističeskij realizm, in: Günther/Dobrenko (Hg.), Socrealističeskij kanon, 969-979.

Kinder und Pioniere am Telefon

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Die 30er Jahre dann erwiesen sich als ein Zeitraum, in dem die Kindertexte dem Druck des Sozialistischen Realismus nicht widerstehen konnten. Damit wurde unter anderem auch das Klingeln des Telefons eingeschränkt. Zur Unterstützung dieser These untersuche ich Werke von Autoren wie Samuil Maršak, Sergej Michalkov, Arkadij Gajdar und Nikolaj Nosov. Der ideologische Zwang verwandelte die Kinderliteratur teilweise in ein künstlerisches Instrument verbotener Oppositionspolitik. Jenen Schriftstellern und Künstlern, deren Werke verboten wurden, weil sie den Vorschriften für Form, Stil oder Inhalt der neuen „verstaatlichten“ Literatur nicht hinreichend Rechnung trugen, gelang es, „das politische System subtil zu unterwandern“539. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Kinderliteratur völlig ohne Überwachung geblieben wäre: Nadežda Krupskaja, Lenins Witwe, steuerte persönlich die Entwicklungsrichtung der Kinderliteratur und betonte dabei die Rolle des Kinderbuches als Propagandamittel. Im Jahr 1929 wird sie zur Stellvertreterin des Bildungskommissars ernannt und schafft im Rahmen dieser Position die Grundlagen der marxistischen Pädagogik. Nach Krupskaja sollte die Schule in die Praxis des „Sozialistischen Baus“ und die Arbeitserziehung mit eingebunden werden. Sie beteiligt sich an der Gründung einer kommunistischen Kinderbewegung, genannt Pionierorganisation, und einer kommunistischen Jugendorganisation, genannt Komsomol. Krupskaja ist es auch, die sich dafür einsetzt, verwahrloste Kinder und Waisen in Heimen zu betreuen und dort im Geiste des Sozialismus zu erziehen. Auf der Basis von Lenins Werken verbreitet sie die Idee des vielseitig entwickelten Menschen weiter: Die Erziehung eines Kollektivisten muss mit der Erziehung eines vielseitig entwickelten, innerlich disziplinierten Menschen einhergehen, der in der Lage ist, tief zu empfinden, klar zu denken, organisiert zu handeln.540

Bereits 1927 begann Krupskaja eine Propagandakampagne gegen „ideologisch unzuverlässige“ und „schädliche“ Märchen und Kinderbücher. Als Resultat dieser Kampagne wurde 1928 das Kinderbuch Abenteuer von Krokodil Krokodilowitsch von Kornej Čukovskij verboten. Selbst die Kinderliteratur gewährte also sehr bald keinen Freiraum mehr, allenthalben wurde nach gefährlichen politischen Anspielungen in den Kinderbüchern gesucht. Die Könige, Ritter, Burgfräulein und Zauberer sollten bedingungslos durch neue Identifikationsfiguren ersetzt werden. Die neuen Helden in den Kinderbüchern wurden jene Menschen, die mitten im sowjetischen Alltagsleben stan539 540

Peter Noever, Die russische Avantgarde und ihre Märchen, in: Peter Noever (Hrsg.), Schili-Byli. Russische Kinderbücher 1920-1940, Wien 2004, 7-8. N.K. Krupskaja, Lenin o prosveščenii i narodnom učitele. 1927, in: P.I. Plukš (Hg.), Literaturnoe dviženie sovetskoj ėpochi – materialy i dokumenty, Moskau 1986, 21-24, hier 23.

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den und Teil des Produktionsprozesses waren – Forscher, Arbeiter, Grubenarbeiterinnen und Bauern.541 In den Kinderbüchern der 30er Jahre zielte die Kontrolle vor allem auf den Inhalt ab, die Form sollte „leicht“, die Rezeption mühelos zu vollziehen sein, was den Lautexperimenten der Avantgardisten eine kleine Lücke ließ, wie z. B. in den von Samuel Maršak redigierten Kinderzeitschriften: Samuel Marschak war zu einer Ikone der Kinderliteratur geworden. Er leitete den staatlichen Kinderbuchverlag und hatte auch großen Einfluss bei den Zeitschriften „Der Igel“ und „Der Zeisig“. Hier beschäftigte er viele subversive Autoren. Die Avantgarde-Gruppe „Oberiu“ um Daniil Charms und Alexander Wwedenski überlebte dank ihm die dreißiger Jahre.542

Neben der Unterstützung anderer Schriftsteller schrieb Maršak selbst Werke für Kinder und war besonders produktiv und populär. In zweien seiner Gedichte, nämlich in Mister Tvister543 (1933) und Brand (Požar544, in der Version von 1932) kommt das Telefon zu kurzen Auftritten. Das Buch Brand wurde nach der Veröffentlichung 1924 stark kritisiert. Nach der aggressiven Rezension von A. Grudskij in der Zeitschrift Kinderliteratur veröffentlichte Maršak 1932 die zweite „verbesserte“ Version des Gedichtes, die nun auch ein Telefonat umfasste. Die Kritiker warfen Maršak vor, dass er aus einer vulgär-primitivistischen Position nur über die Brandschäden am gemeinsamen sozialistischen Eigentum erzähle.545 Maršak korrigierte dies und fügte als pragmatisches Thema Anweisungen hinzu, wie die Kinder im Brandfall reagieren sollten, um das sozialistische Eigentum zu retten, ist doch der Telefonanruf bei der Feuerwehr eine Verpflichtung für jeden Bürger. Тепер не надо каланчи, – Звони по телефону И о пожаре сообщи Ближайшему району. Пусть помнит каждый гражданин Пожарный номер: ноль-один!

541 542 543 544 545

Jetzt braucht man den Feuerturm nicht mehr, – Benutz das Telefon Und melde einen Brand sofort In deinem nächsten Umkreis. So denke jeder Bürger dran Der Feuer-Notruf lautet: Null-Eins!

Natalia Stagl, Zur russischen Kinderliteratur der zwanziger und dreißiger Jahre, in: Noever, Schili-Byli, 21. Ebd., 24. Samuil Maršak, Mister Tvister, in: Ders., Sobranie sočinenij v četyrech tomach, Bd. 1, Moskau 1990, 215-230. Samuil Maršak, Požar, in: Ders., Stichotvorenija i poėmy, Leningrad 1973, 291-295. Samuil Maršak, Primečanija, in: Ders., Sobranie sočinenij v četyrech tomach, Bd. 1, 573.

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In dem politisch-satirischen Pamphlet für Kinder, Mister Tvister, wird dem Telefon eine andere Rolle zugewiesen – der Millionär Tvister reserviert per Telefon Kajüten für seine Reise mit der Familie nach Leningrad: Трещит аппарат: – Четыре каюты Нью Йорк – Ленинград, С ванной, Гостиной, Фонтаном И садом. Только смотрите, Чтоб не было Рядом Негров, Малайцев, И прочего Сброда. Твистер Не любит Цветного народа! Кук В телефон Отвечает: – Есть! Будет исполнено, Ваша честь.546

Der Apparat läutet: – Vier Kajüten York – Leningrad, Mit Wanne, Salon, Springbrunnen, Und Garten. Und sehen Sie zu, Dass ich dort Nicht begegne Negern, Malaysiern, Und anderem Abfall. Tvister Mag nicht Das farbige Volk! Cook Spricht Ins Telefon: – Sofort! Das wird erledigt, Euer Ehren.

Durch das Telefongespräch erfährt der Leser von Tvisters Rassenvorurteilen, trotz derer der Millionär am Ende in einem Hotel in Leningrad übernachten muss, in dem Gäste aus aller Welt untergebracht sind. Bei der Buchung der Reise wird auch die kapitalistische soziale Ungleichheit zwischen dem Reichen und dem Reisevermittler Cook thematisiert. Das Telefonat macht nur einen kleinen Teil des gesamten Werks aus, ohne dass es sich von der poetischen Form des Erzählens unterschiede. Da die Poetik des Pamphlets stark durch expressive polyphone Verfahren der Avantgarde geprägt ist, konnte es nur aufgrund seiner politisch-kritischen Thematik und mit der Unterstützung von Gor’kij in Igel (Ež) veröffentlicht werden.547 Das Pamphlet nimmt zwei der zuvor aus Gor’kijs Artikel zitierten Punkte auf: Zum einen sollen „die Kinder das hässlich-lächerliche Leben des Millionärs kennen lernen“, und zum anderen sollen „die sozialen Laster in leichterer Form als widerliche und lächerliche Missbildungen dargestellt

546 547

Maršak:1990, Bd.1, S. 216-217. Maršak, Primečanija, 577.

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werden“548. Der zweiten Zielsetzung nimmt sich auch Arkadij Gajdars Novelle Das Schicksal des Trommlers (Sud’ba barabanščika549) an, die erstmals im Jahr 1938 in Pionerskaja pravda erscheint: Der Ich-Erzähler, der vierzehnjährige Sergej, der in der Schule zum Obertrommler ernannt worden ist, bleibt einen Monat ohne elterliche Aufsicht. Innerhalb dieses Zeitraumes trifft er auf zwei „Schädlinge“, gerät von Moskau nach Kiev, ein Unglück ereilt ihn, zum Schluss jedoch kommt sein aus der sibirischen Arbeitskolonie verfrüht entlassener Vater und holt ihn aus dem Krankenhaus ab, während die „Schädlinge“ verhaftet werden – ein echtes Happy End im sozrealistischen Sinne. Das Telefon-Motiv nun findet sich im Text in Form einer Telefonnummer; es trägt nicht zur Auflösung bei, sondern steigert wie in einer Kriminalerzählung die Spannung bis zum Kulminationspunkt. Sergej begegnet zufällig Nina, der Tochter eines Freundes vom Vater, und schreibt sich ihre Telefonnummer auf. Als er in Kiev die Zeitungsanzeige: „Ein vierzehnjähriger Junge wird gesucht, Sergej Ščerbačov. Brünett. An der Schläfe neben dem linken Auge hat er ein Muttermal. Melden unter: Moskau, Telefon: G 0-48-64.“550 liest, vermutet er, dass die Miliz nach ihm sucht. Diese Telefonnummer ängstigt Sergej deshalb „mehr als der Tod“. Nach dem Vergleich mit seiner Notiz stellt er jedoch fest, dass die Nummer Nina gehört. Just in dem Moment, als der Junge mit Nina zu telefonieren versucht, tauchen die beiden Gangster auf: Ich sprang vom Bett und stürzte zum staubigen Telefon und wählte eine Nummer. – Verbinden Sie mich: Arbat Null-Achtundvierzig-Vierundsechzig – Das ist in Moskau, und wir sind hier in Kiew, – antwortete mir eine verwunderte Stimme. – Ich verbinde Sie weiter. Wieder eine Stimme: – Verbinden Sie mich: Arbat Null-Achtundvierzig-Vierundsechzig, bat ich mit bestimmter und müder Stimme. – Moskau ist besetzt, – antwortete das Telefon melodisch. – Unser Limit beträgt noch dreißig Minuten. Und ich habe drei weitere Gespräche in der Schlange. Wenn noch Zeit bleibt, werde ich Sie anrufen! Wiederholen Sie die Nummer. Ich habe nichts verstanden, wiederholte die Nummer und vergrub mich mit dem Kopf in dem Kissen. [...] Wieder läutete das Telefon. Diesmal sehr lang. Ich kam zu mir und war gleich am Telefon. Stimme: In drei Minuten werden Sie mit Moskau verbunden. Machen Sie nicht zu lange: Ihnen stehen fünf Minuten zur Verfügung. Ich fühlte mich besser.

548 549 550

Gor’kij: Pravda vom 10.03.1930. Arkadij Gajdar, Sobranie sočinenij v četyrech tomach, Bd. 2, Moskau 1981, 227-317. Ebd., 281.

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Und plötzlich – Schritte im Treppenhaus. Es waren zwei. Alles ist verloren. Doch woher kamen nun Kraft und Geschicklichkeit? Ich sprang ans Fensterbrett und drückte mich draußen gegen die Wand, indem ich mich am Sims festhielt. Onkels Stimme: Der Junge ist immer noch nicht da. So ein verdammter Bengel! Jakov: Der Teufel soll ihn holen. Wir müssen uns beeilen. Onkel: (Schimpfwort). Nein, wir warten noch. Ohne den Bengel geht’s nicht. Man wird ihn schnappen, und dann verpfeift er uns noch. Jakov: So ein verdammter Teufel! (Schimpfwort und noch ein Schimpfwort). Das Telefon klingelte. Ich hielt den Atem an. Jakov: Geh nicht heran! Onkel: Aber wieso denn? (Ins Telefon.) Ja! (Verwundert.) Welches Moskau? Sie irren sich, meine Liebe, wir haben Moskau nicht verlangt. (Der Hörer wird eingehängt.) Weiß der Teufel, was das soll: „Gleich wird Moskau mit Ihnen sprechen“! Wieder ein Anruf. Onkel: Nein, wir haben Moskau nicht verlangt! Was heißt hier, Sie irren sich nicht? Mit wem haben Sie überhaupt gesprochen? Was fällt Ihnen ein zu sagen, ich würde Unfug treiben? (Der Hörer wird hingeworfen.) Irgendwas ist hier faul! Das ist doch... Los Jakov, mach dich fertig!551

Die Dramatik eskaliert durch das Telefon und Sergejs Angst, gefunden zu werden. Die Erzählverfahren wechseln: Die Stimmen der beiden Männer werden wie in einem Theaterstück dargestellt, die Gespräche mit der Telefonistin steigern die Spannung. Obwohl Gor’kij zu einer Erziehung auffordert, die den Kindern den Feind als minderwertiges Wesen vorführt, und Angst als kennzeichnend für die vorrevolutionäre sentimentale Kinderliteratur gilt,552 provoziert Gajdar Angst mit dem eigentlich erwarteten Telefonklingeln. Angst vor dem klingelnden Telefon überkommt auch Ženja in Gajdars Buch Timur und sein Trupp (Timur i ego komanda,553 1940): Ženja wischte sich die Stirn mit der staubigen Handfläche ab, und plötzlich klirrte an der Wand das Telefon. Das hatte Ženja nicht erwartet; sie dachte, dass dieses Telefon nur ein Spielzeug sei. Sie fühlte sich auf einmal unwohl. Sie nahm den Hörer ab. Eine schrille und laute Stimme fragte: – Allo! Allo! Antworten Sie. Welcher Esel durchtrennt die Leitungen und sendet dumme und unverständliche Signale? Das ist kein Esel, – murmelte Ženja verwirrt. – Das bin ich – Ženja!554

Das Kinderspiel imitiert das Verhalten von Erwachsenen. Das Überschreiten der Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit, zwischen Spielzeug und Telefonapparat weist implizit auf die in den 30er Jahren herrschende Angst vor unerwarteten Telefonanrufen und die Vorahnungen schrecklicher Mit551 552 553 554

Ebd., 307. Gor’kij, O bezotvetctvennych ljudjach i o detskoj knige našich dnej, in: Pravda 10.03.1930/68. Arkadij Gajdar, Timur i ego komanda, in: Ders., Sobranie sočinenij v četyrech tomach, Bd. 2, 339-402. Ebd., 355.

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teilungen, die in der Zeit der stalinistischen Repressionen mythologisiert wurden, hin. Während dem Telefon in der Literatur, die auf Erziehung im Sinne des Marxismus abzielte, eine nur unbedeutende Rolle für die Handlung zukam, widmete die Kinderliteratur, welche die Kinder mit den wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften bekannt machen sollte, dem Telefon ganze Werke, jedoch galt dies nicht für die 30er Jahre. Erst Mitte der 40er Jahre, als Resultat der beginnenden wissenschaftlich-technischen Diskussion, erschienen Aufklärungstexte in Versen oder in Prosa über die Funktion des Telefons. Dieses Interesse am Medium lässt sich anhand von zwei bekannten Beispielen illustrieren – erstens am Gedicht Telefon von Sergej Michalkov555 (1944) und zweitens an der Erzählung Telefon556 (1946) von Nikolaj Nosov. In Michalkovs Gedicht bekommt der Ich-Erzähler einen neuen Telefonanschluss: Мне поставили сегодня телефон И сказали: “Апарат у вас включен!” Я могу по телефону с этих пор С кем хочу вести из дома разговор.

Heute installierte man bei mir ein Telefon Und man sagte: „Dieser Apparat funktioniert!“ Und ab jetzt kann ich mit diesem Telefon Sprechen von daheim mit wem ich will.

Nach einer Reihe von Gesprächen, die die vielseitigen Nutzungsmöglichkeiten von Telefonen demonstrieren, wie etwa das Sammeln von Informationen zu den Themen Bahnhof, Hotel oder Zirkus, die Durchführung von Ferngesprächen u.ä., bittet der lyrische Erzähler den Leser, ihn anzurufen: Удивительно устроен телефон! Все мне кажется, что это только сон. Чтобы этому скорей поверил я, Позвоните мне, пожалуйска, друзья!

Gar zu seltsam ist das Telefon! Und ich denke stets, das ist ein Traum nur. Und damit ich daran glauben kann, Liebe Freunde, ruft mich bitte an!

Bei Nosov wird die Aufmerksamkeit nicht auf den Nutzen des Telefons, sondern vielmehr auf die Konstruktion des Apparates gerichtet. Zwei Jungen kaufen zusammen ein Spielzeug-Telefon, das sie aus Neugierde in einigen Etappen völlig demontieren. Aus dem zerbrochenen Telefon wird ein Telegraf, bald darauf entsteht eine echte elektronische Klingel. Am Schluss wird die Batterie der Klingel bei der Suche nach den Geheimnissen des Stromes zerbrochen. Die Verwandlungen des Telefons verlaufen in umgekehrt chronologischer Richtung zu den Entwicklungen der Technik, die Zerstörung des Mediums führt zum Wendepunkt: der Entdeckung des Stroms. 555 556

Sergej Michalkov, Stichi i skazki, Moskau 1960, 71-73. Nikolaj Nosov, Telefon, in: Ders., Sobranie sočinenij v trech tomach, Moskau 1968, Bd. 1, 40-50.

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Abb. 24: Sergej Michalkov mit Sohn Nikita.557

557

Dimitrij Bal’termanc, Foto Sergej Michalkov i ego syn Nikita, in: Ogonek 36/2002, 28.

6. Satirische Telefonate in Zeiten des Terrors Der doppelte Charakter und die Genrebesonderheiten der sowjetischen Satire, die als Instrument der politischen Agitation und Propaganda der offiziellen Literatur einerseits und als alternative und oppositionelle Literatur andererseits rezipiert wird, sorgen für eine große Vielfalt in Anwendung, Thematisierung und Nutzung des Telefons. Im vorliegenden Kapitel soll zunächst kurz die Rezeption der sowjetischen Satire verfolgt werden, um dann im Anschluss einige „Telefon“-Texte genauer betrachten, u. a. Unruhige Nacht (Bespokojnaja noč’, 1928) von Evgenij Petrov, Magnet (Magnit, ca. 1925558) von Arkadij Averčenko, Flirt (1930) von Tėffi, Der Europäer (Evropeec, 1924) und Telefon (1926) von Michail Zoščenko, außerdem Michail Bulgakovs Am Telefon (Po Telefonu, 1924), Hundeherz (Sobač’e serdce, 1925) und Der Meister und Margarita (Master i Margarita, 1929-1940). Während der 20er Jahre, in der Zeit von NĖP und der Spät-Avantgarde, erlebten die Satire und der Humor in der Sowjetunion eine Blützeit, die 1924 ihren quantitativen Höhepunkt erreichte.559 Die meistverbreitete Form der Satire war die Kurzgeschichte, die für bestimmte Tageszeitungen oder humoristische Zeitschriften geschrieben wurde. Die Autoren genossen teilweise die Freiheit, die gesellschaftliche Situation, die sich schnell entwickelte, zu belachen und zu kritisieren. Doch dieser künstlerischen Freiheit zum Trotze wurden Werke wie Bulgakovs Hundeherz sofort verboten. Mit dem Problem, wo die Grenze der Duldsamkeit der Macht zu ziehen sei bzw. in welchem Rahmen man die sozialistische Gesellschaft kritisieren dürfe, setzte sich auch Anatolij Lunačarskij, der Volkskommissar für Bildungswesen (1917-1929), auseinander, wie dies etwa seinen 1930 entstandenen Schriften Über die Satire und Was ist Humor? zu entnehmen ist. Nach Birgit Mai „beharrt er auf der Forderung, der Selbstkritik mittels Satire mehr Raum zu geben, obwohl er einräumt, dass Satire zu konterrevolutionären Zwecken mißbraucht werden könnte“560. In den 30er Jahren wurde der Satire kein zusätzlicher Raum mehr zugestanden, stattdessen erfuhr sie starke Einschränkungen. Für die Regierenden waren die agitatorischen Potenzen der Satire schon in den 20er Jahren erschöpft, weswegen sie in den 30er Jahren als gefährliche und konterrevolutionäre antisowjetische Literatur gebrandmarkt wurde. Den satirischen Texten blieb in dieser Zeit vornehmlich die Verbreitung durch Samizdat oder die Veröffentlichung im Ausland. 558 559 560

Eine genaue Datierung der Erzählung gestaltet sich schwierig, doch lässt sich spätestens vom Jahre 1925 ausgehen. Marlene Grau, Untersuchungen zur Entwicklung von Sprache und Text bei M. M. Zoščenko, München 1988, 153. Birgit Mai, Satire im Sowjetsozialismus, Bern 1993, 36.

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Satirische Telefonate in Zeiten des Terrors

Was passiert nun mit dem Telefon in den satirischen Werken? Seine Verwendung in der sowjetischen Satire der 20er und 30er Jahre lässt sich unter Aufgabe der Chronologie in zwei Typen aufteilen:561 Im Zentrum des ersten Typus von „Telefon-Werken“ steht die implizite Kritik an der neuen sozialistischen Gesellschaft, dargestellt durch die Karikierung der unbemerkt vonstatten gehenden Politik der Regierung, die Verbreitung des Telefons zu begrenzen und daraus folgenden sowjetischen Erscheinungen wie telefonnie pravo (Telefonrecht) und vertuška. Dazu gehören vor allem die Texte von Bulgakov und Zoščenko. Die zweite Gruppe umfasst jene Texte, in denen die medialen Besonderheiten des Telefons ein vorwiegendes Strukturelement sind, wobei die sowjetische Realität außerhalb des erzählerischen Interesses bleibt. In diesem Fall vereinigen die Autoren den dialogischen Charakter des Telefons mit dem ebenfalls dialogischen Charakter der Satire einerseits und die spezifischen Relationen von Wirklichkeit und Text sowie Leser und Erzähler andererseits. Zur Lektüre empfehlen sich hier Werke von Evgenij Petrov, Tėffi und Arkadij Averchenko. In beiden Gruppen der satirischen „Telefon-Texte“ zeigt sich das Medium – im Unterschied zu den Texten des Sozialistischen Realismus der 30er Jahre – äußerst aktiv auf der Ebene der Form. Fangen wir mit der Analyse der zweiten Art von satirischen Texten an. In denen wird Situationskomik durch Telefonate erzeugt und dadurch die Motive des Telefonierens mit den Motiven der Liebe und deren Unterarten wie Flirts oder Ehebrüchen zusammengebracht. In Evgenij Petrovs Erzählung Unruhige Nacht562 bereitet sich der Protagonist Davnen’ko Obujalov auf einen Besuch vor. Während er sich aus einem Geschäft heraus per Telefon mit der Gastgeberin unterhält, wird das Geschäft geschlossen und Obujalov somit gezwungen, die ganze Nacht dort zu verbringen, weshalb er dann den Besuch verpasst. Die Erzählstruktur basiert auf zwei in Tonfall, Stimmung und Funktion unterschiedlichen Telefonaten. Das erste Telefongespräch – jenes mit Gastgeberin Mėri Parokonska – ist die Ursache dafür, dass Obujalov eingeschlossen wird, wohingegen das zweite Gespräch – nun mit einer Telefonistin – die Ursache dafür ist, dass er nicht gerettet wird. Die Leser „hören“ von dem Gespräch mit Mėri nur die ungeduldige Stimme Obujalovs, da die Repliken seiner Gesprächspartnerin durch Auslassungspunkte ersetzt werden: – Sie sind hinreißend, Mary, das fühle ich aus der Entfernung… Allo!.. Ja, ja… Was?.. Sie sind schon bereit…? Nicht genug Wein?.. Was Sie nicht sagen…? Ja, ja…

561 562

Einer Analyse unterzogen werden lediglich Texte aus den 30er Jahren, deren Veröffentlichung entweder verboten war oder die im Ausland gedruckt wurden. Evgenij Petrov, Bespokojnaja noč’, in: Ders., Sobranie sočinenij v pjati tomach, Bd. 5, Moskau 1961, 364-368, nach Smechač 1928.

Satirische Telefonate in Zeiten des Terrors

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Gut. […] Tschüss. Spätestens in zwanzig Minuten bin ich mit Nina bei euch. Also, tschüss… Ciao… Ciao…563

Es ergibt sich, dass nach dem ersten Telefonat nur noch eine Münze übrig geblieben ist: Auf diese einzige Münze konzentriert sich die ganze Hoffnung des Mannes, aus dem Geschäft herauszukommen. Im zweiten Gespräch dann eskaliert die Spannung: – Verbinden Sie mich bitte mit der Polizei! – sagte Obujalov schmeichelnd. – Werfen Sie eine Münze ein. – Hören Sie doch! Hören Sie? Das ist mein letzter Groschen. – Werfen Sie eine Münze ein. – Gut, ich werfe sie ein. Aber passen Sie auf. Verwechseln Sie bloß nichts. Ich wurde eingesperrt. Dieser Groschen ist meine letzte Rett… – Werfen Sie nun endlich die Münze ein? Obujalov wirft den Groschen ein. – Schon eingeworfen. – Werfen Sie die Münze ein! – Ich hab doch schon eingeworfen. Hören Sie? Ein-ge-worf-en… Genossin! – Das Freizeichen war weg. – Bei Gott, ich habe schon eingeworfen! Meine Liebe! Verehrteste! Eingeworfen! Zicke..! – Der Telefonautomat ist kaputt, – sagte die Telefonistin. – Hängen Sie den Hörer auf. – Hey! – schrie Obujalov auf. – Wie war der Name! Fräulein! Heeey! Keine Antwort. – Schlampe! – sagte Obujalov. – Dumme Kuh! Keine Antwort. – Hören Sie. Ich schwöre Ihnen, dass ich sterbe. Was haben Sie in der Brust – Herz oder Stein? Obujalov hörte genau hin. Keine Antwort. Niemand hörte ihm zu. Die Frage nach dem Inhalt des Brustkorbs der Telefonistin blieb ungeklärt.564

Der defekte Apparat steigert die Hilflosigkeit des Protagonisten. Ebenso wie die verschiedenen Hilfegesuche an die Telefonistin verändern sich auch seine Gefühle in schneller Folge. Das anonyme Fräulein steht in Distanz zu Obujalovs Schwierigkeit, genauso wie das Telefon, von dessen Netz sie ein Teil ist. Das Telefon ist die einzige Verbindung mit der Außenwelt. Das Geschäft – eine aktualisierte Projektion des mittelalterlichen Markts – fungiert in diesem Fall nicht als öffentlicher Raum. Die Einsamkeit Obujalovs wird explizit spürbar, als er das Telefon noch einmal zu benutzen versucht, im Hörer aber nur eine automatische Radioübermittlung von Evgenij Onegin aus dem Bol’šoj-Theater zu vernehmen ist. Der Dialog mit der Außenwelt wird endgültig unmöglich in dem Moment, als der Dialog zwischen der „hohen“ Literatur und der „niedrigen“ Satire beginnt. Die Ironie setzt in der Situation ein, 563 564

Ebd., 365. Ebd., 367.

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Satirische Telefonate in Zeiten des Terrors

in der ein elektrisches Medium den selbstsicheren Obujalov daran hindert, seine Liebesabsichten zu realisieren. Im Unterschied zu den Katastrophen auf der Baustelle in den sozrealistischen Werken vermag das Telefon in der privaten Katastrophe eines Kleinbürgers nichts auszurichten. Auch in N.A. Tėffis Kurzerzählung Flirt565 lässt das Telefon eine Liebesbeziehung scheitern. Während einer sommerlichen Schiffsreise auf der Wolga flirtet der Hauptprotagonist Platonov mit der Frau des Kapitäns, Marusja. Die Affäre findet ihr Ende im Winter – wegen eines Telefonats. Beim Verlassen des Schiffes verabreden Platonov und Marusja, miteinander zu telefonieren. Er verspricht, dass ihm die Worte „ėto ja“ (ich bin’s) genügten, um ihre Stimme sofort zu erkennen. Einige Monate später überrascht das klingelnde Telefon Platonov in seiner Petersburger Wohnung: – Wer spricht? – Ich bin’s! – sagte fröhlich eine Frauenstimme. – Ich! Ich! – Wer „ich“? – fragte Platonov verärgert. – Verzeihen Sie, ich bin sehr beschäftigt. – Ich. Ich bin’s doch! – antwortete die Stimme wieder, und fügte wie verwundert hinzu: – Erkennen Sie mich denn nicht? Ich bin es. – Ach Fräulein, – sagte Platonov ärgerlich. – Ich versichere Ihnen, dass ich im Moment überhaupt keine Zeit für Rätsel übrig habe. Ich bin sehr beschäftigt. Seien Sie so gut und sprechen Sie gerade heraus. – Also haben Sie meine Stimme nicht erkannt? – antwortete seine Gesprächspartnerin verzweifelt. – Ach! – Platonov ging endlich ein Licht auf. Aber natürlich habe ich Sie erkannt. Wie könnte ich Ihre reizende Stimme nicht erkennen, Vera Petrovna! Schweigen. Und dann sehr traurig: – Vera Petrovna also?.. Wenn das so ist, dann will ich gar nichts von Ihnen… Nun erinnerte er sich plötzlich: Das ist doch die Kleine! Die Kleine von der Wolga! Oh mein Gott, was habe ich getan! Die Kleine derart vor den Kopf zu stoßen! – Ich habe Sie erkannt! Erkannt, – schrie er in den Hörer, und wunderte sich selbst über die Freude und Verzweiflung. – Um Gottes Willen! Um Gottes Willen! Ich habe Sie doch erkannt! Doch niemand antwortete mehr.566

Tėffi benutzt die Trennung von Stimme und Körper sowie die Unmöglichkeit, am Telefon Personen visualisieren zu können, als Grundlage für die Erzählungsintrige. Als Platonov am Ende des Gesprächs bzw. der Erzählung die Frau als seine ehemalige Geliebte erkennt, ist es zu spät, denn die Verbindung zwischen den beiden ist schon unterbrochen – die telefonische wie auch die emotionale. Wie in den meisten satirischen Texten werden auch in Flirt die Namen der Protagonisten semantisch aktiv, so weist etwa der Name Platonov auf die platonische, körperlose Telefonbeziehung hin. Der Protago565 566

N.A. Tėffi, Flirt, in: Vse o ljubvi, Paris 1930, 7-20. Ebd., 19-20.

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nist selbst stellt sich eine „telefonische Falle“ mit dem performativen Versprechen, die Frauenstimme nicht zu vergessen. Das Motiv, einen unverheirateten Mann mit einer großen Anzahl von Liebesbeziehungen mittels des Telefons durcheinander zu bringen, verwendet Arkadij Averčenko in der Kurzgeschichte Magnet. 1912 definiert er die telefonischen Besonderheiten in der Erzählung Allo!567: … Direktes Gespräch von Angesicht zu Angesicht – das ist ein Brief, den man über viele Seiten ausdehnen kann; und ein Telefongespräch – ein Telegramm, das man nur im äußersten Notfall sendet und dabei jedes Wort auf die Goldwaage legt.568

Der Erzähler stellt die mündliche Kommunikation der schriftlichen gegenüber. Bei der Aufteilung in neue (Telegraf, Telefon) und alte Medien (Sprache, Schrift) nimmt der Erzähler die Position der direkten Kommunikation und des Briefeschreibens ein. Die Wechselbeziehung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit entwickelt Averčenko in Magnet weiter: Dort erhält der IchErzähler zum ersten Mal in seinem Leben einen Telefonanschluss. Bevor er das Haus verlässt, trägt er seiner Familie auf, die Telefonate anzunehmen und aufzuschreiben, obwohl noch niemand seine Nummer hat. Als er nach Hause zurückkommt, liest ihm seine Frau einen Notizzettel mit einer Reihe von an ihn adressierten Mitteilungen vor: Nummer 349-27 – „Ich träume davon, dich wenigstens mit einem Auge heute im Theater zu sehen und dir aus der Ferne einen Kuss zuzuschicken.“ Nummer 259-09 – „Liebster, wo hast du den Diamantring, den ich dir geschenkt habe? Du hast doch nicht etwa das Geschenk deiner dich liebenden Dusja Petrova verpfändet?“ Nummer 317-01 – „Ich bin sauer auf dich… Du hast geschworen, dass ich die Einzige bin, und in der Tat hat man dich auf dem Nevskij mit einer fülligen Brünette gesehen. Scherze nicht mit dem Feuer!“ Nummer 102-12 – „Du bist ein Schuft! Ich hoffe, du verstehst.“ Nummer 9-17 – „Halunke – und sonst nichts!“ Nummer 177-02 – „Ruf mich an, sobald du da bist, mein Schatz! Sonst erscheint mein Gemahl, und dann können wir kein Treffen vereinbaren. Liebst du deine Nadja immer noch wie früher?“

Dieses Zitat illustriert nicht nur die vielen Intrigen und Affären eines Mannes, sondern zeigt auch, wie die telefonische Kommunikation in eine neue Kommunikationssituation transformiert wird, wenn eine der Bedingungen nicht erfüllt ist, hier etwa die Anwesenheit des zweiten Gesprächspartners. In der neuen Situation wird die mündliche Rede der Telefonate als schriftlicher Text fixiert, der an den Stil von Telegrammen erinnert. Die Anrufe brechen in den Alltag des Ich-Erzählers ein und verursachen Spannungen und Familienprobleme. Die Lösung kommt zusammen mit dem früheren Besitzer der 567 568

Arkadij Averčenko, Allo!, in: Odinnadcat’ slonov, Moskau 1989, 74-79. Ebd., 74.

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Telefonnummer 300-05, der seine Nummer zurückhaben möchte. Während der Erzähler mit der Zentrale telefoniert, um die Verwirrung zu korrigieren, gelingt es dem Unbekannten, die Frau des Erzählers wie ein Magnet anzuziehen und mit ihr zu flirten. In diesen drei satirischen Erzählungen spielt das Telefon eine entscheidende Rolle für die persönlichen Wechselbeziehungen der Protagonisten und die Entwicklung ihrer Schicksale. Das Medium wird nicht nur thematisiert, sondern als ein die Struktur und die Form bestimmendes Element verwendet. Dies trifft auch auf Zoščenkos Texte zu, in denen zwei weitere literarische Verfahren zur Anwendung kommen – erstens der sogenannte Skaz (in Telefon) und zweitens die Kritik an der sowjetischen Wirklichkeit (in Telefon und Der Europäer).

6.1. Kleinbürgerliche Telefon-Träume und –Traumen: Zoščenkos Erzählungen Nach Hans Günther tritt der Skaz-Effekt umso stärker in Erscheinung, „je ausgeprägter die nicht-schriftlichen Elemente im Erzähltext sind, je größer die Differenz zur Schriftsprache ist“569. Zu diesen nicht-schriftsprachlichen Elementen zählen etwa Dialog, Jargon, Volkssprache, Umgangssprache, zweifellos auch Telefongespräche. Die Mündlichkeit des Erzählers im Skaz konstruiert eine eigenartige Kommunikationssituation des verdoppelten Dialogs zwischen fiktivem Leser bzw. Zuhörer und fiktivem Erzähler einerseits und Anrufendem und Angerufenem andererseits. Dadurch werden zahlreiche neue Möglichkeiten für die Einarbeitung des Telefons in den Text und eine erhöhte Teilnahme des realen Lesers an der Textrezeption geschaffen. Günther bezieht sich auf Bachtins Skaz-These, nach der dieser „in erster Linie durch seine Zweistimmigkeit, durch die in ihm stattfindende Überkreuzung von zwei Stimmen und zwei Akzenten“ gekennzeichnet ist.570 Zoščenko führt gleichzeitig zwei Kommunikationslinien ein: Die erste ist die funktionierende Kommunikation zwischen fiktivem Erzähler und fiktivem Leser, die zweite ist die zwischen fiktivem Erzähler und (fehlendem) TelefonGesprächspartner, die im Gegensatz zur ersten nicht funktioniert. Je aktiver die Beziehung zwischen Erzähler und Leser wird, desto spürbarer wird auch die durch das Telefon erzeugte Einsamkeit.

569 570

Hans Günther, Zur Semantik und Funktion des Skaz bei M. Zoščenko, in: Von der Revolution zum Schriftstellerkongreß, Berlin 1979, 326-353, hier: 327. Ebd., 328.

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Die Themen, die in Zoščenkos Erzählungen verhandelt werden, sind oft alltagsbezogen: Z. B. werden Probleme materiellen Mangels im nachrevolutionären Russland, die Wohnungsfrage und die Elektrifizierung thematisiert. Auch die begrenzte Verbreitung des Telefons und das nur Parteimitgliedern zustehende Privileg, über einen eigenen Anschluss zu verfügen, werden aus der Sicht des Kleinbürgers dargestellt und ironisiert. Diese kleinbürgerlichen Protagonisten Zoščenkos beteiligen sich nicht aktiv am gesellschaftlichen Leben. Obwohl keine Schädlinge im eigentlichen Sinne, schaden sie, so die sowjetische Kritik, der sozialistischen Moral mit ihrer Passivität und ihrem egoistischen Verhalten: „,Kleinbürgerlich‘ – das bedeutete zuerst nichtproletarisch, das heißt nicht klassenbewußt, nicht politisch gebildet, nicht für die Revolution, sondern ideologisch unzuverlässig.“571 Die Sprache der Protagonisten konstruiert sich aus Kleinbürgerjargon, Sowjetismen, „die durch die Sowjetmacht in den russischen Sprachgebrauch eingeführt und verbreitet wurden“, Buchstil (Fremdwörter, „hoher“ Stil) und literarischen Schablonen (Sentimental’nye povesti [Sentimentale Erzählungen]).572 Aus der Peripherie der Literatur parodiert Zoščenko die offizielle Literatur des Zentrums, wobei die sowjetischen Parolen doppeldeutig rezipiert werden. Die Macht kann solche künstlerische Freiheit nicht lange tolerieren: Der Prozeß der Herausbildung des Normensystems des Sozialistischen Realismus Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre brachte tiefgreifende Veränderungen auch für Zoščenkos Schaffen mit sich. Es lag auf der Hand, daß die Postulate des Sozialistischen Realismus – Parteilichkeit, sozialpädagogische Tendenz, Ideenhaftigkeit, positiver Held usw. – im Rahmen des Skaz-Genres, wie es von Zoščenko in den 20er Jahren gehandhabt worden war, nicht ohne Schwierigkeiten zu realisieren sein würden.573

Im Jahr 1946 wird Zoščenko von A. Ždanov wegen bösartiger, rowdyhafter und misslungener Darstellung des Lebens sowjetischer Menschen und antisowjetischer Anschuldigungen angeklagt und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Dadurch ist Zoščenko für die sowjetische Literaturkritik „nicht wie ein Satiriker der negativen Seiten unseres Lebens, sondern wie ein Possenreißer, der die sowjetische Wirklichkeit anschwärzt und versucht, sie ihres großen historischen Sinns zu berauben“574. Die beiden Erzählungen, die ich analysieren werde, entstammen der früheren Periode, als man satirische Parodie noch nicht als ‚Verleumdung‘ betrachtete. Die Texte ergänzen gegenseitig das Bild der telefonischen Situation in Leningrad und thematisieren nicht die Telefongespräche selbst, sondern den Besitz eines Anschlusses und den Übergang vom ‚telefonlosen‘ zum 571 572 573 574

Mai, Satire im Sowjetsozialismus, 68. Günther, Zur Semantik und Funktion des Skaz bei M. Zoščenko, 334-338. Ebd., 351. V. Ivanov, Iz istorii borby za vysokuju idejnost’ sovetskoj literatury 1917-1932, Moskau 1953, 111.

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‚telefonisierten‘ Zustand. In Der Europäer575 korrespondiert die Bestellungsszene in der Telefonzentrale mit jener Szene Gogol’s, in der Akakij Akakievič seinen Mantel bestellt: Zum dritten Mal kam Serjoža Kolpakov zur städtischen Telefonzentrale, fest entschlossen, den Vertrag abzuschließen. Zum dritten Mal ging er zur Auskunft und um sich nicht über den Tisch ziehen zu lassen, fing er an, sich solide über die Tarife zu erkundigen. Außerdem versuchte Serjoža noch, sich über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Telefonie zu unterhalten, doch das Fräulein von der Auskunft, eine trockene und prüde Egoistin, die in ihrem Papierkram versunken war, blieb den wissenschaftlichen Entdeckungen gegenüber kalt und bat ihn sogar in abfälligem Tonfall, nicht die öffentliche Arbeit zu behindern. Dann holte der in seinen besten Ideen enttäuschte Serjoža Kolpakov die Brieftasche heraus, knallte sie auf den Tisch und sagte laut, dass er selber in einer Behörde arbeite und bestens verstehe, was es bedeute, einen Menschen zu stören. Doch leider müsste er sie stören. Nun machte Serjoža Kolpakov eine etwas geringschätzige Miene und sagte, dass er unverzüglich den Vertrag abzuschließen plane.576

Nach Gogol’s Modell stellt die Erzählung einen Kleinbeamten mit lustigem Namen und großem Traum vor, mit dem es ein mehr oder weniger dramatisches Ende nehmen wird. Trotz Sarkasmus und Ironie schlägt sich der Erzähler auf die Seite seines Helden, um ihn beispielsweise vor einer Mitarbeiterin zu schützen. Der Kontakt mit ihr wirkt als Katalysator, das Treffen beider führt die Entscheidung herbei und der Protagonist überquert die Grenze – aus einem Kleinbürger wird nun ein „Europäer“: – Es ist vollbracht, – flüsterte Serjoža Kolpakov. – Der langersehnte Traum ist in Erfüllung gegangen. Endlich besitzt Sergej Ivanovič Kolpakov ein Telefon. Sergej Ivanovič Kolpakov, Beamter des achten Ranges ist nun mit dem gesellschaftlichen Leben vernetzt. Sergej Ivanovič Kolpakov, Angestellter und sowjetischer Bürger, – ein waschechter Europäer mit kulturellen Erfahrungen und Ansprüchen. – Sergej Ivanovič nahm den Hut ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn, und begab sich, über den Nutzen der Telefonsache und den menschlichen Genius nachsinnend, in langsamen Schritten zur Arbeit.

Diese Metamorphose lässt sich auf das Medium zurückführen, das mit der unmöglichen Aufgabe beauftragt ist, Kolpakov in das „gemeinsame Netz des Lebens“ einzuflechten, ganz ähnlich, wie der Mantel Akakij Akakievič in das Miteinander der Kollegen integriert. Die Tage bis zur Installation des Telefons vergehen für Kolpakov „wie im Nebel“, wie auch die Erwartung des Mantels Akakij Akakievič erregt: „Sein Herz, für gewöhnlich überaus ruhig,

575 576

Michail Zoščenko, Evropeec, in: Ders., Sobranie sočinenij, Bd. 1, 244-246. Ebd., 244.

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begann zu schlagen.“577 Mithin markieren die Erzähler den Übergang von einer sozialen Ebene auf eine andere. Die erste Euphorie über den neuen Apparat wird nicht einmal durch die grobe Antwort der Telefonistin getrübt: Serjoža Kolpakov legte sich aufs Bett und schaute mit Begeisterung zum neuen, glänzenden Apparat herüber. Dann setzte er sich auf, nahm den Hörer in die Hand und machte einen Anruf. – Gruppe „A“? Test… Das Telefon-Fräulein brummte etwas, aber Serjoža hörte nicht. Langsam, jede Sekunde den Hörer in der Hand spürend, legte er auf. Und warf sich wieder begeistert aufs Kissen.578

Die Ekstase allerdings vergeht schnell (hier trennt sich die Erzählung von Gogol’s Mantel und schägt eine andere Richtung ein), als Kolpakov begreift, dass er niemanden anrufen kann: In seinen Gedanken begann er langsam, alle seine Bekannten aufzuzählen. Doch es waren nicht viele. Und sie hatten keine Telefone. Dann begann Serjoža Kolpakov sogar mit einiger Besorgnis nachzudenken und nach irgendeiner Nummer zu suchen, irgendeinem Ort, wohin er anrufen könnte. Doch einen solchen Ort gab es nicht. Serjoža sprang vom Bett auf, schnappte sich das Telefonbuch und begann es krampfhaft durchzublättern – es gab keinen Ort, wo er anrufen könnte.579

Der Mangel an Gesprächspartnern macht den Besitz eines Telefons sinnlos, ähnlich wie auch ein Text ohne Leser sinnlos ist; gerade in dieser Hinsicht zeigt sich das Tragikomische der Situation. Die technische Möglichkeit, mit jemandem zu telefonieren, reicht nicht aus, um ein Teil vom „Netz des Lebens“ zu werden. Das Gefühl der Einsamkeit weckt in Kolpakov Rachedurst: Dann rief Serjoža in der Kolomenskaja-Feuerwehrstelle an. – Was? – fragte eine Stimme. – Brennt es? – Es brennt, – sagte Serjoža trist. Er hängte den Hörer ein und legte sich aufs Bett. Am Abend wurde Serjoža Kolpakov wegen groben Unfugs verhaftet.580

Abgesehen von der Tatsache, dass Kolpakov verhaftet wird (und damit von der Welt völlig isoliert ist), hilft ein Anruf bei der Feuerwehr dem Protagonisten, das Medium zu besiegen. Die Unmöglichkeit, die telefonische Einsamkeit zu überwinden, produziert eine tragikomische Stimmung, die die Ironie in den Hintergrund drängt. Jedoch ist die Szene auch eine Projektion 577 578 579 580

N.V. Gogol’, Šinel’, in: Ders., Sobranie sočinenij v devjati tomach, Bd. 3-4, Moskau 1994, 121. Zoščenko, Sobranie sočinenij, Bd. 1, 245. Ebd. Zoščenko, Sobranie sočinenij, Bd. 1, 246.

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der Situation Zoščenkos: der Autor sucht durch das Verfahren des Skaz Kontakt mit Unbekannten, sucht einen Leser, um sich aus der permanenten künstlerischen Einsamkeit zu lösen. Die Entspannung nach dem „Konsumieren“ des Telefons befreit auch den Text von seiner Spannung. Das Telefon ist nicht nur auf der erzählerischen Ebene produktiv, sondern vielmehr auch auf der diskursiven: so überschreitet es die Grenzlinie zwischen Inhalt und Erzählstruktur. In Der Europäer spiegelt sich der für Zoščenko kennzeichnende oxymoronische Effekt wider, verschiedene Zustände entlang der semantischen Linie Ruhe – Unruhe – Beruhigung werden dabei ironisch vermischt.581 Das Dilemma in Telefon582 konzentriert sich nicht auf die Gegenüberstellung von Sozialisierung und Isolierung, sondern auf die pragmatische Frage, ob das Telefon nützlich sei. Auf der einen Seite steht folgendes, vom IchErzähler schon am Anfang der Erzählung zur Sprache gebrachtes Argument: Ich habe vor kurzem bei mir ein Telefon installiert, Genossen. Denn in den heutigen eiligen Zeiten ist man ohne ein Telefon wie ohne Hände. Zum Beispiel, um übers Telefon zu sprechen, oder irgendwo anzurufen. Es ist tatsächlich so, dass man nirgends anrufen kann – das ist schon richtig. Doch von der anderen Seite betrachtet, wenn man materialistisch darüber nachdenkt, ist heute nicht mehr 1919.

Bis zum Ende der Erzählung hin jedoch steigert sich der Zweifel der anderen Seite, ob vom Telefon nicht sogar Gefahr ausgehe. Bereits mit dem ersten Satz wird der fiktive Leser in die Skaz-Situation eingeführt, in der Mündlichkeit und Schriftlichkeit eng miteinander verknüpft sind. Der fiktive Ich-Erzähler spricht den Leser mit der Anrede „graždane“ (Bürger) an, der somit Teil des Publikums wird, das die Telefon-Geschichte hört. In dieser Geschichte verfügt der Protagonist bereits über die technischen Voraussetzungen zum Telefonieren, im Gegensatz zu Kolpakov aber möchte er nicht anrufen, sondern selbst angerufen werden: Doch wissen Sie, nicht nur nachts, auch tagsüber klingelt es nicht. Ich habe natürlich allen Bekannten meine Nummer gegeben mit der Bitte anzurufen. Doch alle haben sich als parteilose Genossen erwiesen und rühren das Telefon nicht an.583

Das Motiv der Parteilichkeit und des Zugangs zum Telefon findet immer wieder einmal Erwähnung, später, zum Ende der 20er Jahre und besonders in den 30er Jahren wird es immer öfter angesprochen und in der Literatur der Peripherie, der weit vom sozrealistischen Zentrum entfernten Satire thematisiert. Trotz seines langen Wartens auf das Telefonklingeln ist der Ich-Erzähler überrascht, als das Telefon schließlich wirklich klingelt: 581 582 583

Vgl. A.K. Žolkovskij, Michail Zoščenko: poėtika nedoverija, Moskau 1999, 145-173. Michail Zoščenko, Telefon, in: Sobranie sočinenij, Bd. 1, 327-329. Zoščenko, Sobranie sočinenij, Bd. 1, 328.

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Und ich sitze, wissen Sie, an der Wand. Sehe, wie schön es hängt. Plötzlich klingelte es. Es hat noch nie geklingelt und nun auf einmal geht es los. Ich habe mich in Wirklichkeit sogar erschrocken.584

Das Telefonat stellt einen absurden Dialog zwischen dem Erzähler und dem Anrufenden dar, der Aufschluss gibt über ein starkes Informationsdefizit: Ich nehme den Hörer vorsichtig ab. – Allo, sage ich, von wo aus ruft man mich denn an? – Man ruft Sie übers Telefon an, – sagt man. – Was ist denn, sage ich, passiert, und wer, Verzeihung, ist am Apparat? – Das ist, – antwortet man mir, – eine Ihnen bekannte Person. Kommen Sie, – sagt man, – in einer dringenden Angelegenheit zur Bierstube an der Ecke Posadskaja. „Nun siehe, denke ich, wie bequem! Wenn ich nun keinen Apparat hätte, was würde diese Person dann machen? Dann müsste diese Person in der Straßenbahn schaukeln.“ – Allo, sage ich, was ist denn das für eine Person, und welche Angelegenheit? Aber man schweigt in dem Apparat und gibt keine Antwort.585

Es ist nicht klar, wer da anruft, und welche dringliche Sache es in der Kneipe zu erledigen gibt. Trotzdem ärgert sich der Erzähler nicht und freut sich im Gegenteil über die Möglichkeit, zu telefonieren. Es ergibt sich aber, dass dem Erzähler ein Streich gespielt wird und in seinem Haus ein Diebstahl stattfindet, während er unterwegs ist. Der komische Effekt der Geschichte wird durch den geringfügigen Wert der gestohlenen Sachen provoziert – es handelt sich dabei lediglich um einen Anzug und zwei Bettlaken. Nach dem erfolglosen Versuch, per Telefon Beschwerde einzulegen, fährt er mit der Straßenbahn. Die Erzählung endet damit, dass niemand mehr anruft und das Telefon wie eine ständige Bedrohung an der Wand hängt. Das Telefon als Auslöser für Angst ist kein unbekanntes Motiv in der sowjetischen Alltagsmythologie, allerdings tritt es hier nicht als anonyme Anekdote auf. Einen spannenden Gegensatz im Text bilden das Telefon und die Straßenbahn: Letztere ist für diejenigen bestimmt, die kein Telefon besitzen. Die Fahrt mit der Straßenbahn zu den Behörden bedeutet für den Protagonisten eine belastende Rückkehr in seinen früheren Zustand als Bürger ohne Telefon. Auf eine ähnliche Konkurrenz zwischen den technischen Neuerungen treffen wir auch bei Bulgakov zu Beginn von Der Meister und Margarita – Berlioz wird von einer Straßenbahn „enthauptet“, als er auf dem Weg zum Telefon ist. Zoščenkos Protagonisten gelingt es nicht, die mediale Grenze zu überqueren. Obwohl ihnen die technische Möglichkeit offensteht, in der eigenen Wohnung zu telefonieren, gestaltet sich ihr Leben wie früher – nämlich als ein Leben ohne Telefon. Die besondere Heroisierung des Telefons ist zweideutig: Auf welcher Seite befindet sich der reale Autor? Auf Seiten der sow584 585

Ebd. Ebd.

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jetischen Macht, die gegen kleinbürgerliche Elemente ankämpft oder vielmehr auf Seiten derer, die das sozialistische System kritisieren und sich darüber lustigmachen? Anstatt dass nun das Telefon das Leben verbessert, bringt es lediglich Ärger und Belästigung mit sich, was das pragmatische Ziel der Erzählungen enthüllt – die Warnung, dass jede dialogische Situation in einer monologischen Gesellschaft gefährlich sein kann. Die assoziative Linie Telefon – Gefahr – Verhaftung verweist explizit auf das Thema des Telefons als Instrument der Macht.

6.2. Jenseits des Telefons – Bulgakovs Leben und Schriften Wenn auch das Telefonat mit Stalin das am meisten kommentierte sein mag, so ist es doch bei weitem nicht das einzige von Relevanz in Bulgakovs Leben; insbesondere in seinem Privatleben ist das Telefon sehr präsent. Aufschluss über die Telefonate Bulgakovs geben lediglich unpräzise Erinnerungen wie die an das Telefonat mit Stalin, an den Anruf vom Theater im Januar 1932 mit der Nachricht, dass das Theaterstück Die Tage der Turbins (Dni Turbinych) auf die Bühne zurückkehren dürfe586 und an die Anrufe der Auslandsabteilung des Moskauer Gouvernement-Exekutivkomitees in der Periode vom 17. Mai bis zum 7. Juni 1934587, außerdem diverse Hinweise in der Korrespondenz Bulgakovs. Anhand seiner Briefe ist es möglich, seine Kommunikationsgewohnheiten teilweise zu rekonstruieren, z. B. wenn er die Nummern erwähnte, unter denen er zu erreichen war – „Meine alte Nummer bleibt – 2-03-27“588, „Meine neue Nummer G-3-58-03“589, „Ich erinnere mich an die Nummer – 58-67“590 – oder wenn er sich über technische Probleme äußerte. So hatte der Apparat Bulgakovs bald nach dem mythologisierten Telefonat eine Störung: „Lieber Vikentij Vikentievič, man hat mich ohne Telefon gelassen, ich bin von der Welt abgeschnitten.“591 Die Verbindung wurde wiederhergestellt; ein Jahr später allerdings findet sich eine Beschwerde in der Korrespondenz mit Zamjatin: „Ich wollte mich gerade be-

586 587 588 589 590 591

Sokolov, Bulgakov, Ėnciklopedija, 479. Die Anrufe beschreibt Bulgakov in einem Brief an Stalin vom 10. Juni 1934, zit. nach Treppe ins Paradies, Berlin 1991, 579-580. Bulgakov, Sobranie sočinenij, Bd. 10, 281. Brief an V.V. Versaev vom 22. Juli 1931, Moskau. Ebd., 297, Brief an Versaev vom 15. März 1932, Moskau. Ebd., 377, Brief an Versaev vom 11. Juli 1934, Leningrad, Hotel Astoria. Ebd., 265, Brief an Versaev vom Juni 1930, Moskau.

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schweren. Das Telefon ist kaputt und wird nicht repariert“592, „weil mein verfluchtes Telefon keine Lebenszeichen von sich gibt“593. Eine Notiz Ende August 1924 setzt das Telefonmotiv mit der jenseitigen Welt in einen Zusammenhang – einige Monate bevor Am Telefon erscheint: „Versaevs Nummer? 2-60-28. Doch die Nummer bringt mir gerade nichts... Nebel... Nebel... Gibt es ein Leben nach dem Tode?“594 Diese Kommentare finden Niederschlag auch in den fiktionalen Werken Bulgakovs, in denen sie durch das Prisma der Satire und der Ironie gebrochen werden. Ein Vergleich der Telefonate in Bulgakovs literarischem Werk vor und nach dem Gespräch mit Stalin zeigt, wie stark sein Schaffen hiervon beeinflusst worden ist, taucht doch das Medium Telefon in den 20er Jahren wesentlich häufiger auf als in den 30er Jahren. Dies ist einerseits auf die Evolution der Kommunikationsverhältnisse und des Medieninteresses in der UdSSR zurückzuführen, andererseits kommen bestimmte Telefonmotive, die zu Bulgakovs persönlichen Erfahrungen zählen, nicht mehr vor, was im Folgenden gezeigt werden soll. Abgesehen von den Telefonaten in mit der Weißen Garde in Verbindung stehenden Texten wie Die weiße Garde595 (1924), Die Tage der Turbins (1926) und Die Flucht (Beg, 1928), lassen sich die anderen Telefondialoge entweder als Teile von Situationskomödien oder Grotesken der sowjetischen Gesellschaft begreifen. In den 20er Jahren finden sich hierzu weitere interessante Beispiele, etwa in den Werken Čičikovs Abenteuer (Pochoždenija Čičikova), Hundeherz, Die verhängnisvollen Eier (Rokovye jaica) und Typage (Tipaž), in den 30er Jahren in Der Meister und Margarita, dem Roman seines Lebens, und in der Komödie Ivan Vasil’evič. Mitunter finden die intermedialen Dialoge der 20er Jahre Anwendung nicht nur als Motiv, sondern auch als kompositorisches Erzählmoment, wie etwa in Am Telefon und Typage. Das Feuilleton-Stück Am Telefon, erschienen erstmals am 30. Dezember 1924 in der Zeitschrift Gudok (Amtszeichen), gehört nicht zu den bekanntesten Werken Bulgakovs,596 zeigt aber ein grundlegendes dramaturgisches Verfah592 593 594 595

596

Ebd., 287, 26. Okt. 1931. Ebd., 290, 31. Okt. 1931. Ebd., 90. Vgl. Margaret Fieselers Monografie Stilistische und motivische Untersuchungen zu Michail Bulgakovs Romanen „Belaja gvardija“ und „Master i Margarita“, Hildesheim 1982. In dem Teil über Die weiße Garde untersucht Fiseler Lautmalerei und Klangfiguren sowie die Belebung von Dingen, wobei das Telefon-Motiv eine zentrale Rolle spielt. Um die finanzielle Situation seiner Familie zu verbessern, begann Bulgakov im Oktober 1923 als Mitarbeiter der Zeitschrift Gudok. Anfang 1925 schreibt er in seinem Tagebuch: „In der Redaktion des ,Gudok‘ habe ich heute das erste Mal mit Erschrecken

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ren, welches später in Theaterstücken wie Glückseligkeit (Blaženstvo), Die Flucht und Die flammendrote Insel (Bagrovy ostrov) wiederzufinden ist. Das Zusammenspiel von komischen Elementen und ironischen Darstellungen des Alltags, das von Chimič als „grotesker Realismus Bulgakovs“597 bezeichnet wurde, bildet eine Kommunikationssituation, durch die das Stück zu einer Satire der modernen Mediengesellschaft der 20er Jahre wird. Der Text, von Bulgakov im Untertitel als Theaterstück bezeichnet, ist in Form eines Telefonats aufgebaut. Es handelt sich dabei um ein Gespräch zwischen einem Beamten, der an dem 30 km von Moskau entfernten Bahnhof Individual’naja arbeitet, und seiner Geliebten in der Hauptstadt. An dem Gespräch nehmen die Telefonistin, die Dienstmädchen, der Ehemann und ein unbekannter Mann – zagrobny golos598 (jenseitige Stimme) – teil, die nicht als handelnde Personen auftreten, sondern nur als „handelnde Stimmen“ zu vernehmen sind. Der eifersüchtige Ehemann möchte den Liebhaber seiner Frau finden, gleichzeitig möchte die „jenseitige Stimme“ dem Bahnhofspersonal eine Nachricht übermitteln. Auf Anregung der unbekannten Stimme versucht die Telefonistin, die Leitung frei zu machen und schaltet in der Eile die Verbindung falsch – anstatt den Unbekannten mit dem Bahnhof zu verbinden, verbindet sie ihn mit dem Haus der Geliebten und er bekommt zu hören, wie der Ehemann den Liebhaber beschimpft. Dieses Missverständnis, Resultat eines Fehlers, bleibt ungeklärt, da die Telefonistin die Verbindung schnell wieder unterbricht. Das konkrete Thema des Feuilletons – die Benutzung des Dienstapparats für private Gespräche – wird schon im Leitsatz, einem Zitat aus dem Bericht eines Korrespondenten, vorgegeben: „Bei uns in Ščelkovo Severnych werden Privatgespräche am Diensttelefon getätigt...“599 Die Auflösung der Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre, eine Entwicklung, die sich nach der Revolution vollzieht, befindet sich noch in einer frühen Phase, die in den 30er Jahren und insbesondere in den Werken des Sozialistischen Realismus auf medialer Ebene weiter vorangetrieben wird.600 Die fiktionale Denunziation eines anonymen Korrespondenten, die das Vertrauen des Lesers durch die für die Satire typische journalistische Form

597 598 599 600

festgestellt, dass ich keine Feuilletons mehr schreiben kann. Rein körperlich nicht. Das ist eine Zumutung für mich und die Physiologie.“ Alle hier angeführten Zitate entstammen, falls nicht anders ausgewiesen: Bulgakov, Sobranie Sočinenij v desjati tomach, Bd. 10, 135. V. Chimič, V mire Michaila Bulgakova, Ekaterinburg 2003. Bulgakov, Sobranie sočinenij, Bd. 2, 248-250. Ebd., 248. Vgl. Verners Film Devuška spešit na svidanie (Das Mädchen eilt zur Verabredung, 1936) und Leonovs Roman Werk im Urwald (1929).

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zu gewinnen versucht, wurde literarisch verarbeitet und als Grundlage der Erzählung verwendet. Als Instrument des kommunikativen Handelns wird neben dem Telefonapparat ein Schild angebracht: „Privatgespräche am Dienst.-Tel. sind verboten“601, das als zweiter Hinweis fungiert und den Leser auf den Verstoß gegen die Regeln vorbereitet. Für den Beamten vom Bahnhof sind das Private und das Berufliche räumlich identisch; im Gegensatz dazu steht das rein private Wohnhaus, von dem aus die Geliebte spricht. Die Kriterien des Dramas – Einheit von Zeit, Ort und Handlung – werden hier nur teilweise erfüllt: Das Stück spielt gleichzeitig an vier verschiedenen Orten. Diese können auf einer Skala der Informationsdichte angeordnet werden, an deren Spitze die informationsreiche Beschreibung des Bahnhofs steht, von dem aus das Telefonat inszeniert wurde. Es folgen das Haus von Marija Nikolavna, von dem nur bekannt ist, dass es sich irgendwo in Moskau befindet, dann die Telefonzentrale, die lediglich als ein virtueller Topos von Bedeutung ist und schließlich jener Ort, von dem aus die mysteriöse Stimme anruft und über den am wenigsten Informationen zur Verfügung stehen.602 Die unterschiedlichen Aufenthaltsorte der Personen und die detailarmen Informationen, die über das Medium Telefon vermittelt werden, lösen Missverständnisse aus und ermöglichen situationskomische Effekte. Zur Erheiterung des Publikums trägt auch die Spaltung der Handlung bei: Während sich Iliuša und Marija Nikolavna in melodramatischer Art und Weise ihre Liebe erklären und die Telefonleitung besetzt halten, bittet die jenseitige Stimme die Telefonistin, sie mit dem Bahnhof zu verbinden. Zufällig kommt gerade der Ehemann der Marija Nikolavna, Pal Fedoryč, nach Hause: Beamtenstimme: Mari! Antworte, liebst du mich? Totenstimme: Verbinden Sie mich mit Individual’naja... Fräulein: Pii-i-i-ie!.. Besetzt... Totenstimme: Teufel noch mal! Wer ist da in die Leitung gekommen? Ich habe ein sehr wichtiges Telefonogramm! Beamtenstimme: Mari, ich habe mich entschlossen, ich kann nicht länger. Antworte mir, oder die Kugel aus meinem Browning wird meine Qualen für immer beenden. Dienstmädchenstimme (erschrocken.): Gehen Sie vom Telefon weg, meine Herrin... der Herr ist grad gekommen... Stimme der fremden Ehefrau (ohne hinzuhören): Il’ja, Sie werden das nicht machen! 601 602

Bulgakov, Sobranie sočinenij, Bd. 2, 248. In dem Aufsatz Telefon im Theater: Kein Anschluß unter dieser Nummer (in: Forschungsgruppe Telefonkommunikation (Hg.), Telefon und Gesellschaft, Bd. 2, 448454) stellt Jürgen Hofman dar, wie das szenische Telefonat mit Hilfe der beiden Transformationstechniken Teichoskopie und Botenbericht aufgelöst wird: Es geht ihm darum, dass „a) sich im Telefonat auf der Bühne im wesentlichen die Funktionen von Mauerschau und Botenbericht verschränken, und daß dabei b) das szenische Telefonat die besondere Qualität des Theaters verfehlt, ja grundsätzlich verfehlen muß“.

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Beamtenstimme: Sag es mir! Totenstimme: Geben sie mir endlich eine getrennte Leitung. Hol’s der Teufel! Stimme der fremden Ehefrau: Na gut, ich liebe... Stimme des Ehemanns: Jetzt habe ich dich endlich! Du liebst also, du Miststück? Antworte! Wen liebst du? Wen? Wen? Schlange! (Man hört Fingerknacken.)603

Nach dem Muster der klassischen Situationskomödie, in der die Komik durch den Identitätstausch, z. B. durch Zwillingspaare oder mit Hilfe von Verkleidung bewerkstelligt wird, werden die Personen in Am Telefon wegen des ungenügenden akustischen Telefonkontakts verwechselt: Stimme des Ehemanns (der den Hörer an sich gerissen hat): Hören Sie? Wenn Sie noch mal... Totenstimme: Geben Sie mir eine getrennte Leitung... Ich habe ein Telefonogramm! Stimme des Fräuleins (müde): Gut, ich verbinde Sie. Totenstimme: Gott sei Dank! Richten Sie aus... Stimme des Ehemanns: Ach, ausrichten? Ich werd’ Ihnen gleich was ausrichten. Wenn... Wenn Sie sich noch einmal erdreisten, diese Nummer anzurufen... (außer Atem) dann werde ich Ihnen die Fresse polieren! Schuft... Totenstimme (sprachlos) Stimme des Ehemanns: Telefonhalunke Totenstimme (besinnt sich): Was?! Was erlauben Sie sich?! Ich bin der Abteilungsleiter!604

Das Stück endet damit, dass die Telefonistin die Verbindung trennt. Zwar erfolgte die Kommunikation zwischen den Protagonisten ausschließlich per Telefon, dennoch wurde diese Telefonsituation – im Unterschied zu den bis dahin analysierten Werken – in Form eines Theaterstücks komponiert. Die Verschriftlichung der Mündlichkeit hat somit eine erneute „Vermündlichung“ zum Ziel, auch wenn vermutet werden darf, dass der Text aufgrund seiner Körperlosigkeit nie auf einer Bühne gespielt werden wird. Indessen stellt Am Telefon den Übergang von Prosa- zu Theater-Telefonaten bei Bulgakov dar. Für Bulgakov sind die Bürokratie und Fürsprache, die Anonymität sowie die unbegrenzte Macht und die GPU-Konspiration Hauptschwächen des Sowjetstaates, die durch das Telefon als „Bürokratie-Instrument“ abgebildet werden. Nach dem Gespräch im April 1930 ändert sich Bulgakovs künstlerisches Verhältnis zum Telefon als Mittel, die Macht zu karikieren, hat doch das Medium für ihn neue Bedeutung erlangt: Es ist sein persönliches Kommunikationsmittel für den Kontakt „nach oben“. In den 30er Jahren schreibt Bulgakov trotz der herrschenden Zensur und den Veröffentlichungsverboten weiterhin kritische Werke, die die Schwächen der Gesellschaft zeigen. Die Telefon-Texte Bulgakovs können aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Eine davon ist die Wahrnehmungsperspektive des Lesers 603 604

Ebd., 249-250. Ebd., 250.

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entsprechend dem Ort, wo die Gespräche stattfinden, etwa ein Privathaus oder eine staatliche Institution (oft das Theatersekretariat). Das Haus gehört in den meisten Fällen entweder einem Vertreter der Wissenschaft, wie z. B. Professor Preobraženskij (Hundeherz), Professor Persikov (Die verhängnisvollen Eier) oder dem Erfinder Timofeev (Ivan Vasil’evič), und ist gleichzeitig Privathaus und Arbeitsplatz. Kommunalwohnungen werden mit Ausnahme des Werkes Der Meister und Margarita, das am Ende dieses Kapitels betrachtet werden soll, kaum dargestellt, allerdings wird die Moskauer Wohnungskrise mit einem Telefonhörer verglichen: Diese drei lebten im Telefonhörer. Stellt es euch vor, ihr, die in Berlin lebt, wie würdet ihr euch fühlen, wenn ihr in einem Hörer leben müsstet. Flüstern, das Geräusch eines Streichholzs, das zu Boden gefallen ist, war durch alle Kartonwände hindurch zu hören, und ihre war in der Mitte. – Manja! (aus der äußersten Kartonzelle) – Was? (aus der äußersten Kartonzelle am anderen Ende) – Hast du Zucker? (aus der äußersten) – Im Lustgarten im Zentrum Berlins haben sich mehrere Tausend Arbeiter mit roten Fahnen zur Demonstration versammelt... (aus der Nachbarzelle rechts)605

In diesem Ausschnitt ist ein Medien-Bewusstsein deutlich erkennbar, das die Alltagsgeräusche der Kommunalwohnung mit dem verknüpft, was bei einem Telefonat zu hören ist. Im letzten Satz dieses Zitats lässt sich anhand der sprachlichen Formulierungen eine Radionachrichtensendung erkennen: So dringen die Lautsprecher des „totalitären“ Radios, denen sich in den sowjetischen Städten niemand zu entziehen vermochte, bis in die Telefonleitungen durch. Die satirischen Telefonate Bulgakovs lassen sich leicht in zwei Hauptmotive aufteilen: а) Gespräche mit einer hochgestellten Persönlichkeit, die um einen Gefallen gebeten wird. b) Notrufe an die Feuerwehr oder die Miliz. In den erstgenannten Fällen hoffen die Anrufenden darauf, dass der Angerufene durch das Telefon eine Lösung für ihr Problem findet. In Hundeherz ist im Laufe des Gesprächs implizit zu erfahren, dass Petr Aleksandrovič von Professor Preobraženskij operiert wurde. Aus persönlichem Interesse missachtet der kommunistische Funktionär Petr Aleksandrovič die Vorschriften für „Wohnungs-Dichtung“ und benutzt seine Macht, um Professor Preobraženskij zu helfen. Die Sicherheit, einen mächtigen Patron über sich zu haben, wird durch die Formulierungen Preobraženskijs demonstriert. Der komische Effekt entsteht im Zusammenhang mit einer dritten Figur – Švonder.

605

Bulgakov, Moskava 20-ch godov, 1924, in: Ders., Sobranie sočinenij, Bd. 2, 93.

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Abb. 25: Der Professor.606

Abb. 26: Petr Aleksandrovyč.

Abb. 27: Švonder.

606

Aufnahmen aus dem Spielfilm Sobač’e serdze (Regisseur Vladimir Bortko, UdSSR 1988).

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Schwonder nahm verwirrt den Hörer und sagte: „Ich höre, ja... Vorsitzender des Hauskomitees... Wir haben doch nach den Vorschriften gehandelt... Der Professor hat sowieso eine Ausnahmestellung... Wir wissen von seinen Arbeiten... Ganze fünf Zimmer wollten wir ihm lassen... Na gut... Wenn’s so ist... Gut...“607

Ähnlich verhält sich am Telefon Professor Persikov in Die verhängnisvollen Eier, der sich bei Libjanka beklagt: „Bei mir laufen hier sehr verdächtige Personen mit Regenschuhen herum“608. Bald kommen die Geheimagenten des GPUs, von denen einer mit einem Engel verglichen wird: Der Engel sprach in das Telefon der Hausverwaltung nur einige Worte: „Die staatliche Politikverwaltung verlangt sofort den Sekretär der Hausverwaltung Kolesov mit Regenschuhen zur Wohnung des Professors Persikov“, und Kolesov erschien sofort darauf, ganz blass im Gesicht und hielt die Regenschuhe in der Hand.609

Die Komik wird hier auf dem Kontrast zwischen der „großen“ Macht und dem in Anspruch genommenen „kleinen“ Hilfsdienst aufgebaut. In diesem Verfahren inkongruenter Komik werden drei Elemente – die biblische Figur des Engels, das GPU als Institution und die primitiven Galoschen – in einund demselben Kontext zueinander in Beziehung gesetzt. Eine andere Rolle kommt dem Telefon im Hinblick auf Notrufe bei Feuerwehr oder Miliz zu: Der Mangel an visuellem Kontakt und die Telefonscherze, die mit den Nummern von Miliz und Feuerwehr getrieben werden, befördern ein Vertrauensdefizit. In Bulgakovs Texten wird das Misstrauen der Telefonierenden durch die Verknüpfung des Telefons mit Faktoren wie Zeit und Ort oder der Präsenz anderer Medien verursacht. Ein Beispiel für den Zeitfaktor ist der Anruf bei der Feuerwehr in dem Text Die goldene Korrespondenz von Ferapont Ferapontovič Kaporcev (Zolotye korrespondencij Feraponta Ferapontoviča Kaporceva) in der Osternacht, wobei der Anrufende Petrov eine Strafe androht: „Sie werden eine Strafe für ihren Scherzanruf und einen schlechten Witz zahlen müssen.“610 Bald funktioniert sein Telefon nicht mehr, die Schnur ist durchgebrannt. Auch der Ort, von dem aus ein Anruf getätigt wird, kann ein Grund für das Misstrauen der Gesprächspartner sein und zugleich zur Situationskomik beitragen: „Ist dort die Miliz?“, schrie Iwan in den Hörer. „Miliz, ja? Genosse Diensthabender, sorgen Sie dafür, dass sofort fünf Motorräder mit Maschinengewehren losfahren, um den ausländischen Konsultanten festzunehmen. Was? Kommen Sie vorbei und holen Sie mich ab, ich fahre selber mit… Hier spricht der Lyriker Besdomny 607 608 609 610

Michail Bulgakow, Hundeherz, in: Ders., Die Treppe ins Paradies, 30-31. Michail Bulgakov, Rokovye jaijca, in: Ders., Sobranie sočinenij, Bd. 2, 329. Ebd., 330. Bulgakov, Sobranie sočinenij, Bd. 3, 391.

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aus dem Irrenhaus… Wie ist Ihre Adresse?“, fragte er flüsternd den Arzt, wobei er die Hand über die Muschel hielt, dann schrie er wieder in den Hörer: „Hören Sie? Hallo! Schweinerei!“ brüllte er plötzlich und warf den Hörer an die Wand. Dann wandte er sich dem Arzt zu, reichte ihm die Hand, sagte trocken „auf Wiedersehen“ und wollte gehen.611

Allein die Tatsache, dass der Mann aus der psychiatrischen Klinik anruft, bietet der Miliz Grund genug, die Verbindung zu unterbrechen. Besonders spannend ist, wie oben schon angedeutet, die Integration des Radios in ein fiktionales Telefonat. Das Zusammenspiel der beiden elektrischen Medien nutzt Bulgakov in der Komödie Ivan Vasil’evič. Die Radiosendung, die durch die Telefonverbindung übermittelt wird, gibt Anlass für Missverständnisse: Špak. ... (Am Telefon.) Polizei! Polizei?! Stimme im Radio: „Nun Genossen, setzen wir unsere Vorlesung über die Schweine fort...“ In der Bannaja Gasse 10 – ein grandioser Diebstahl, Genosse!... Wer das Opfer ist? Ich natürlich, Špak! Špak heiße ich! Die Blonde hat mich ausgeraubt! Stimme im Radio: „Was die Fruchtbarkeit anbelangt, liebe Genossen, so muss man sagen, dass auf diesem Gebiet das Schwein nur dem Kaninchen nachsteht, und auch dies nur unter Vorbehalt. In ihrem zehnten Lebensjahr können zwei Schweine etwa eine Million Schweine erzeugen...!“ Genosse Wachtmeister... Ich sage gar nichts über Schweine! Hören Sie nicht auf das über die Schweine! Das ist das Radio! Niemand hat Schweine geklaut! Einen Mantel und meine Anzüge..! Warum sind Sie verärgert? Stimme im Radio: „Die alten Römer verehrten die Schweine für ihre Fruchtbarkeit...“ Hören Sie? Ich komme selber zu Ihnen! Ach Gottchen!.. (Stürzt heulend aus dem Zimmer) Stimme im Radio, nun von niemandem mehr kontrolliert, schwappt wie eine Welle über: „Viele halten das Schwein für ein grobes, dummes und schmutziges Tier. Das ist furchtbar ungerecht, Genossen! Sollte man nicht die negativen Seiten des Schweins auf die Arthaltung zurückführen…?“612

Der komische Effekt wird durch die räumliche und zeitliche Parallelität der populärwissenschaftlichen Radiosendung über Schweine und des Anrufs bei der Miliz erzielt. Auf Audioebene verknüpft der Milizbeamte beide Motive – die Fruchtbarkeit der Schweine und die Anzeige eines Einbruchs – und reagiert entsprechend negativ, wodurch die Kommunikation uneffektiv wird. Die Radiosendung läuft nach Beendigung des Telefonats weiter und erscheint somit als medialer Sieger. 611 612

Michail Bulgakow, Der Meister und Margarita, Berlin 1968, 114/Bulgakov, Master i Margarita, in: Ebd., Bd. 8, 376-377. Zit. nach Michail Bulgakov, „P’esy 1930-ch godov“, A.A. Ninov (Hg.) St. Petersburg 1994, 148.

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Nach dem Gespräch mit Stalin arbeitet Bulgakov bis zum Ende seines Lebens im Jahr 1940 weiter an dem Roman Der Meister und Margarita.613 Mehr als zehn Jahre lang bearbeitet, redigiert und verändert er den Text. Bereits erwähnt wurde die Szene, in der Berlioz auf dem Weg zum nächsten Straßentelefon, wo er den „Ausländer“ anzeigen möchte, von der Straßenbahn überfahren wird: Dieser Unfall bringt den ersten Beweis für die außerordentlichen Kräfte des „Ausländers“. Die Telefonate in Der Meister und Margarita lassen sich in zwei Gruppen einteilen: In ‚normale‘, also solche ohne die Einmischung Volands und in ‚magische‘ Telefonate. Zu ersteren gehören z. B. der Anruf von Ivan Bezdomnyj aus dem Irrenhaus bei der Miliz,614 oder die anonyme Denunziation des Timofej Kvascov, dass der Hausvorsitzende mit Devisen spekuliere, sowie der Anruf bei der Feuerwehr, dass das Haus an der Sadovaja-Straße brenne. Als ‚magische‘ Telefonate können jene mit Stepan oder Margarita bezeichnet werden. In dem Roman Der Meister und Margarita thematisiert Bulgakov das gnoseologische Problem, was Wahrheit ist, mittels satirischer Bilder. Auf diese Weise wird die Grenze zwischen dem, was normal und dem, was übernatürlich ist, stark ironisiert: Um zehn nahm er mit förmlicher Selbstüberwindung den Hörer ab und stellte fest, dass die Telefonleitung tot war. Ein Bote meldete, auch die übrigen Apparate im Hause seien gestört. Diese zwar ärgerliche, doch nicht übernatürliche Erscheinung gab dem Finanzdirektor den Rest, aber zugleich erfreute sie ihn, denn nun war er des Anrufens enthoben.615

Außerhalb des Rahmens der Diskussion über Atheismus und Religion lässt sich eine implizite Diskussion über die sowjetische Gesellschaft und das, was diese als akzeptabel betrachtet, feststellen: Gerade diese indirekte Kritik sowie die christliche Weltanschauung des Autors sind der Grund, warum der Text einige Jahrzente lang verboten wurde. Bulgakov wendet das elektrische Medium als Mittler zwischen zwei Welten an: Die eine ist jene totalitäre Welt, in welcher der Erzähler selbst lebt und in der autobiographische Ele613 614

615

Bulgakov, Sobranie sočinenij, Bd. 9, 156-522. Bulgakow, Der Meister und Margarita, 114: „Und schon war der verfluchte Dolmetscher im Vorraum, wählte eine Nummer und sprach weinerlich in den Hörer: ,Hallo! Ich halte es für meine Pflicht zu melden, dass der Vorsitzende unserer Hausgemeinschaft in der Sadowaja 302b, Nikanor Iwanowitsch Bossoi, mit Devisen spekuliert. Im Lüftungsschacht der Toilette in seiner Wohnung Nr. 35 hat er vierhundert Dollar versteckt. Sie sind in Zeitungspapier gewickelt. Hier spricht Timofej Kwaszow, Inhaber der Wohnung Nr. 11 im erwähnten Hause. Aber ich bitte inständig, meinen Namen unbedingt geheim zuhalten. Ich fürchte die Rache des obengenannten Vorsitzenden.‘ Und er hängte den Hörer auf, der Schuft!“ Bulgakow, Der Meister und Margarita, 165. Bulgakow, Der Meister und Margarita, 193-194.

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mente aus dem Leben des Schriftstellers durchscheinen, die andere hingegen ist eine Traumwelt des Friedens, in der es möglich ist, dass der Meister mit einem Lächeln im Gesicht einschläft. In Der Meister und Margarita demythologisiert Bulgakov auch sein Gespräch mit Stalin. Trotz der Umarbeitung der Mystifikation lässt sich das Telefonat in jener Szene, in der Arkadij Apollonovič als Zeuge herbeigerufen wird, leicht zuordnen: Das kam so: am Freitag, kurz nach dem Mittagessen, läutete in seiner Wohnung an der Kamenny-Brücke das Telefon, und eine Männerstimme fragte, ob Arkadi Appolonowitsch zu sprechen sei. Seine Gattin antwortete unwirsch, Arkadi Appolonowitsch sei krank, habe sich hingelegt und könne nicht an den Apparat kommen. Aber Arkadi Appolonowitsch musste es dennoch tun. Auf die Frage, wer ihn sprechen wolle, antwortete die Stimme im Telephon, sehr kurz, wer. „Eine Sekunde… sofort… eine Minute…“ stotterte die sonst sehr hochmütige Gattin des Vorsitzenden der Akustischen Kommission und flog wie ein Pfeil ins Schlafzimmer, um Arkadi Appolonowitsch aus dem Bett zu jagen. Er lag da und litt Höllenqualen bei der Erinnerung an die gestrige Varietévorstellung und an den nächtlichen Skandal, der die Vertreibung seiner Saratower Nichte aus der Wohnung begleitet hatte. Arkadi Appolonowitsch war freilich nicht nach einer Sekunde, aber auch nicht erst nach einer Minute, sondern nach einer Viertelminute in Unterwäsche und einem Pantoffel am linken Fuss am Apparat und stammelte: „Ja, ich bin da… bitte… bitte…“ Seine Gattin, die in diesem Augenblick all die abscheulichen Treuebrüche vergessen hatte, deren der unglückliche Arkadi Appolonowitsch geziehen worden war, blickte mit bestürzter Miene durch die Tür zum Korridor, schwenkte den anderen Pantoffel und flüsterte: „Zieh den Pantoffel an… du erkältest dich…“ Arkadi Appolonowitsch trat mit dem rechten bloßen Fuß nach seiner Frau, funkelte sie bitterböse an und murmelte ins Telefon: „Ja, ja, ja, natürlich… ich verstehe… ich komme sofort…“616

Wenngleich Details wie der Ehebruch und der Anlass des Anrufes für die Romanhandlung erfunden sind, so wiederholen doch der Einbruch in die private Familiensphäre des Hauses und dazu der Anruf von den oberen Ebenen der Machtpyramide das Modell von Stalins Telefonaten. In Anlehnung an Bachtins Theorie über die mittelalterliche Lachkultur wird das Lachen ebenso bei Bulgakov als ein Instrument gegen die Angst eingesetzt; somit wird das Telefon gleichzeitig auch als Instrument der Angst bzw. der Macht im sowjetischen mythologischen Paradigma bestätigt. Der Effekt der Komik im zitierten Telefonat wird durch die Reaktionen Arkadij Apolonovičs und seiner Frau erreicht. Erst nach Hinweisen wie z. B. jenem, dass die Frau den Ehebruch vergisst und beginnt, sich um ihren Mann zu kümmern, wird die Position der Anrufenden für den Leser interessant: Der Kontrast zwischen Oben und Unten, der Anruf von der Spitze der Machtpyramide und der Tumult im Reich der Pantoffeln tragen zum Grotesken der Situation bei. 616

Ebd., 545-546.

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Bulgakov macht sich auch über Privilegien wie Dienstwagen-Bestellungen per Telefon lustig. Dieser Luxus, der nur sowjetischen Parteifunktionären und ihren Familien zugänglich war, wird im Roman in folgender Szene mit Voland und Margarita ironisiert: Der Ziegenbeinige fragte Margarita achtungsvoll, wie sie zum Fluss gekommen sei. Als er hörte, sie sei auf einem Besen geritten, sagte er: „Oh, warum denn, das ist doch unbequem!“ Flugs fertigte er aus zwei Ästen ein Hexentelefon und forderte irgendwo einen Wagen an, der auch prompt kam. Ein falbes Cabriolet senkte sich auf die Insel nieder, nur saß am Lenkrad kein gewöhnlicher Fahrer, sondern eine schwarze Krähe mit langem Schnabel, Wachstuchmütze und Stulpenhandschuhen.617

Die sowjetischen Regeln werden in die Welt der Magie projiziert. Im Bild des seltsamen, rasch aus zwei Stöckchen gestalteten Telefons vermag jeder Zeitgenosse Bulgakovs ohne Schwierigkeiten das Vertuška-Telefon erkennen. Wieder ist es das Medium Telefon, auch als Symbol der Bürokratie gekennzeichnet, das im Zentrum des Rätsels steht, wie denn Stepan Lichodeev – der Direktor des Theaters Varieté (Var’ete) – so plötzlich nach Jalta gekommen ist. Eines der Argumente gegen die Möglichkeit, dass er sich dort aufhalten könne, ist für Rimskij sein Telefonat mit dem Direktor, das erst kurz zuvor stattgefunden hat. Nach einer Reihe von Telegrammen ergibt sich, dass Stepan in der Tat in Jalta ist. Die objektiven Auffassungen von Zeit und Raum sowie das Vertrauen in die elektrischen Medien sind die einzigen Instrumente, über die Varenucha und Rimskij verfügen, um das außergewöhnliche Rätsel zu lösen. Obwohl die Kräfte der Dunkelheit Zeit und Raum überwinden können, ohne sich an die klassischen Gesetze der Physik zu halten, benutzen sie das Telefon für ihre Kommunikation mit der Welt der Menschen und imitieren das Verhalten derer. Ihre übernatürlichen Fähigkeiten wie z. B. das Wissen darüber, ob jemand am Telefon lügt, verwirren ihre Gesprächspartner und schmälern das Vertrauen ins Medium. Nun stehen die Telefonate in Der Meister und Margarita zwar keinesfalls im Zentrum des Erzählens, auch sind sie nicht zahlreich, trotzdem ermöglichen sie Einblicke in die Besonderheiten der Telefonverbreitung in der Sowjetunion und werden mit den persönlichen Merkmalen des Protagonisten, den persönlichen Erfahrung Bulgakovs und der Konzeption des Romans vereint. Die Lektüre des Romans Der Meister und Margarita soll unsere Studie über die Rolle des Telefons in der sowjetischen Literatur der 20er und 30er Jahre beschließen, deswegen möchte ich sie mit einem Zitat aus diesem Roman beenden:

617

Ebd., 406.

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„Aber ich interessiere mich weniger für diese Autobusse, Telephone und andere…“ „Apparate“ soufflierte der karierte Gehilfe. „Richtig! Danke!“, sagte der Magier langsam in tiefem Bass. „Mich interessiert eine viel wichtigere Frage: ob sich die Moskauer innerlich verändert haben.“ „Ja, Herr, das ist eine äußerst wichtige Frage.“618

Die Frage Volands lässt sich leicht in der zentralen Frage der vorliegenden Studie paraphrasieren, nämlich: Veränderte diese Apparatur den Text innerlich?

618

Ebd.

7. Zusammenfassung Beim Übergang von der experimentellen Spät-Avantgarde der 20er Jahre zum totalitären Sozialistischen Realismus der 30er Jahre entwickelt und verändert sich die Darstellung des Telefons im Text, seine Konzeptualisierung und Beteiligung an narrativen Strukturen und Kommunikationssituationen. Die vorliegende Studie überprüft diese Entwicklung in drei Richtungen, nämlich: erstens die Spezifik des literarischen Telefonats und des Telefons in der Literatur als ein komplexes System von intermedialen und interdiskursiven Relationen, zweitens die Besonderheiten der Verbreitung des Telefons in der Sowjetunion und deren Reflexion in der sowjetischen Kultur und Alltagsmythologie und schließlich die ästhetischen Unterschiede zwischen Avantgarde und Sozialistischem Realismus. Das Eintreten des Telefons in den Alltag prägt eine besondere Poetik und Rhetorik der telefonischen Gespräche und definiert die Pragmatik des Raums und die logische Beziehung zwischen „hier“ und „da“ neu. Das kommunikative Potential des Mediums Telefon ist charakterisiert durch Reziprozität, Dialogizität und Gleichzeitigkeit; dabei besteht das Gespräch selbst aus konkreten Elementen, deren Reihenfolge unveränderlich ist und die in einem Text entsprechend seiner Ziele vollständig oder teilweise dargestellt werden. Die intermediale Beziehung von Telefon und Literatur im Kontext der Medien Sprache und Schrift kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden: Zum einen ist es die Kollision der akustischen Elektrizität mit der visuellgraphischen Schrift, zum anderen die Sinnesbegrenzung der beiden Medien, die ein Defizit in der innerliterarisch-ästhetischen Wirksamkeit verursacht. Das Telefon ist ein Medium, das eine Sprachwelt konstituiert, die frei von direktem visuellem Kontakt zwischen den Gesprächspartnern ist. Der Augenund Gestenkontakt wird gegen die sprachliche Informationsübertragung und die Überwindung der Raumdistanz eingetauscht. Die Einschränkungen der visuellen Schrift und des akustischen Telefons ergänzen sich nicht gegenseitig, sondern vergrößern das ästhetische Wirksamkeitsdefizit und fordern hohe Konzentration sowohl vom Telefonpartner als auch vom Leser. Den soziokulturellen Aspekt, der die Darstellung des Telefons in der sowjetischen Literatur beeinflusst, kann man in zwei parallelen Linien untersuchen. Die erste, offizielle, die stolz dem technischen Fortschritt und der Revolution folgt, wird durch die übererfüllten Pläne und Berichte in den Zeitungen, die Tausende von neuen Telefonanschlüssen zum Inhalt haben, unterstützt. Die zweite Linie ist die der inoffiziellen Politik, die nur einem engen Kreis der regierenden Oberschicht bekannt ist und die das Ziel verfolgt, konterrevolutionäre Aktionen zu verhindern und die Kontrolle durch eine Reihe von praktischen Maßnahmen, die die Verbreitung des Telefons stark

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begrenzen, zu verstärken. Dazu gehören u. a. technische Mängel und Defizite, das innere Telefonnetz – vertuška –, die Abhöranlagen, die nur geringen Auflagen der Telefonbücher und das sogenannte „Telefon-Recht“, die eine eigenartige sowjetische Telefon-Mythologie reflektieren und zur Etablierung des Telefons als Instrument der Macht beitragen. Die 20er Jahre gestalten sich als eine sehr spannende Zeit für die Kunstentwicklung – die Avantgardisten experimentieren mit den Möglichkeiten der neuen Medien und konzentrieren sich dabei auf die Ebene der Form sowie auf die syntaktischen Strukturen von Bild oder Text. In den 30er Jahren hingegen passen sich die Künstler an die sozrealistischen Direktiven an: Nun dienen die Medien der massenhaften Verbreitung von neuen ästhetischen Normen der totalitären Kunst. Es ist dies ein Realismus, der auch unrealisierbare Zukunftsvisionen zeigt und die Diktatur des Proletariats anpreist. Die mythologisierte Figur der Macht wird zum Mittelpunkt der sowjetischen Kultur. Aufgrund der Analyse von avantgardistischen Werken (u. a. von Majakovskij, Charms und Mariengof) und sozrealistischen Texten (u. a. Leonov, Furmanov und Šaginjan) können folgende Schlussfolgerungen über die Darstellung des Telefons im Text gezogen werden: 1. Die Umgestaltung des Telefons in ein öffentliches Medium: Vom intimen häuslichen Medium in der Kunst der Avantgarde wird das Telefon in den 30er Jahren in ein öffentliches Medium transformiert. So klingelt es fortan überall – in den Büros der Militärstäbe und Parteisektionen, in denen der Kolchosen und Fabriken. Die Generallinie für eine gemeinsame sozialistische Lebensweise kann persönliche und intime Telefonate in der Literatur der 30er Jahre nicht tolerieren. 2. Die zunehmende Konkurrenz zwischen der visuell-grafischen Schrift und der oral-akustischen Kommunikation: In den 30er Jahren entwickelt sich die Tendenz, die medialen Besonderheiten des Telefons und seine dialogische Spezifik zu unterdrücken – die ätherischen Frauenstimmen der Avantgarde und ihre körperlose Zärtlichkeit werden durch Nacherzählungen von Telefonaten, Briefen oder Telegrammen ersetzt. 3. Das Verstummen des Dialogs im Monolog: Während die Kunst der Avantgarde dialogisch ist, etabliert sich die des Sozialistischen Realismus als monologisch. Das „Gesamtkunstwerk“ der 30er Jahre kann somit als ein Monolog betrachtet werden, der vom Zentrum zur Peripherie fließt. Die Protagonisten am Telefon sind keine Gesprächspartner mehr, weil der Begriff „Partner“ eine Gleichheit in der Beziehung impliziert, vielmehr sind sie Sender oder Empfänger der Anordnungen. Eine Ausnahme stellt das satirische Genre dar, in dem sich das Telefon als Medium, Motiv und künstlerische Inspiration besonders produktiv gestaltet für die Kurzerzählungen, Feuilletons und Theaterstücke der 20er, aber

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auch der 30er Jahre. Dadurch, dass die sowjetische Satire als Instrument der politischen Agitation und Propaganda der offiziellen Literatur einerseits und als alternative und oppositionelle Literatur andererseits rezipiert wird, wie auch aufgrund von Genrebesonderheiten – spezifischen Ausdrucksmitteln und Formen –, setzt eine große Vielfalt in der Anwendung, Thematisierung und Nutzung des Telefons ein.

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8. Bibliographie 8.1. Primärtexte BRODSKIJ, Iosif: Sočinenija Iosifa Brodskogo Bd. 5, St. Petersburg 2001. BRODSKIY, Joseph: Erinnerungen an Leningrad, Frankfurt/M. 1990. BULGAKOV, Michail: P’esy 1930-ch godov, St. Petersburg 1994. BULGAKOV, Michail: Sobranie sočinenij v desjati tomach, Moskau 1995 – 2000. BULGAKOV, Michail: Treppe ins Paradies, Berlin 1991. BULGAKOW, Michail: Die verhängnisvollen Eier, Darmstadt Neuwied 1984. CHARMS, Daniil: Polnoe sobranie sočinenij, St. Petersburg 1997. ČUKOVSKIJ, Kornej: Sobranie sočinenij v šesti tomach, Moskau 1964. ČUKOVSKIJ, Kornej: Sobranie sočinenij, Moskau 2001. EHRENBURG, Ilja: Der zweite Tag, Berlin 1958. FURMANOV, Dimitrij: Čapaev, in: Sobranije sočinenij v četyrech tomach Bd. 1, Moskau 1960. GAJDAR, Arkadij: Sobranie sočinenij v četyrech tomach Bd. 2, Moskau 1981. GLADKOV, Fedor: Ėnergija, in: Sobranie sočinenij Bd. 3, 4, Moskau 1958. GOGOL’, N. V.: Šinel’, in: Sobranie sočinenij v devjati tomach Bd. 3, 4, Moskau 1994. GOR’KIJ, M.: Sobranie sočinenij v 30 tomach, Moskau 1953. GRIN, A. S.: Sobranie sočinenij v pjati tomach, Moskau 1991. GRIN, Alexander. Der Rattenfänger, in: Der Fandango, Leipzig Weimar 1984, 66-111. GUMILEV, Nikolaj: Telefon, in: Klub razbitych serdec. Poėtičeskie sborniki, O.J. IL’F, Il’ja u. Evgenij Petrov: Sobranie sočinenij v pjati tomach, Moskau 1961. KATAEV, Valentin: Vremja, vpered!, in: Sobranie sočinenij Bd. 2, Moskau 1983. LEONOV, Leonid: Barsuki, Moskau 1969. LEONOV, Leonid: Sot’ Sobranie sočinenij v pjati tomach Bd. 2, Moskau 1953. LEONOV, Leonid: Sot’, in: Sobranie sočinenij v pjati tomach Bd. 2, Moskau 1953. MAJAKOVSKIJ, Vladimir: Izbrannye sočinenija, Moskau 1949. MAJAKOVSKIJ, Vladimir: Polnoe sobranie sočinenij v trinadcati tomach, Moskau 1955-1959. MAJAKOWSKIJ, W.: Werke, Berlin 1968. MANDEL’ŠTAM, O.: Sobranie sočinenij v trech tomach, München 1967. MANDEL’ŠTAM, O.: Socinenija v dvuch tomach, Moskau 1990. MANDEL’ŠTAM, O.: Über den Gesprächspartner, Zürich, 1994. MANDELSTAM, Osip: Mitternacht in Moskau, Zürich 1986. MARIENGOF, Anatolij: Ciniki. http://www.lib.ru/RUSSLIT/MARIENGOF/cynix.txt MARŠAK, Samuil: Požar, in: Stichotvorenija i poėmy, Leningrad 1973. MARŠAK, Samuil: Sobranie sočinenij v četyrech tomach, Moskau 1990.

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