Kunst als Sprache - Sprachen der Kunst: Russische Ästhetik und Kunsttheorie der 1920er Jahre in der europäischen Diskussion 9783787324101, 9783787324118

Der Band präsentiert das breite Spektrum an Positionen in der west- und osteuropäischen Kunstphilosophie im Zusammenhang

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Kunst als Sprache - Sprachen der Kunst: Russische Ästhetik und Kunsttheorie der 1920er Jahre in der europäischen Diskussion
 9783787324101, 9783787324118

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Kunst als Sprache – Sprachen der Kunst. Russische Ästhetik und Kunsttheorie der 1920er Jahre in der europäischen Diskussion

Sonderheft 12 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Herausgegeben von nikolaj plotnikov

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bislang erschienen im Felix Meiner Verlag folgende Sonderhefte der »ZÄK«: 1· 2· 3· 4· 5· 6· 7· 8· 9· 10 · 11 ·

Ursula Franke (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks (Jg. 2000) Rudolf Behrens (Hg.): Ordnungen des Imaginären (Jg. 2002) Ursula Franke / Josef Früchtl (Hg.): Kunst und Demokratie (Jg. 2003) Gert Mattenklott (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste (Jg. 2004) Ursula Franke / A. Gethmann-Siefert (Hg.): Kulturpolitik und Kunstgeschichte (Jg. 2005) Georg Braungart / Bernhard Greiner (Hg.): Schillers Natur (Jg. 2005) Wolfgang Krohn (Hg.): Ästhetik in der Wissenschaft J. Früchtl / M. Moog-Grünewald (Hg.): Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten Gerhard Gamm / Alfred Nordmann / Eva Schürmann (Hg.): Philosophie im Spiegel der Literatur Marion Lauschke: Ästhetik im Zeichen des Menschen Matthias Buschmeier / Espen Hammer (Hg.): Pragmatismus und Hermeneutik

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Volkswagenstift ung im Rahmen des Projekts »Die Sprache der Dinge. Philosophie und Kulturwissenschaften im deutsch-russischen Ideentransfer der 1920er Jahre«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft 12 · ISBN 978-3-7873-2410-1 · ISSN 1439-5886

© Felix Meiner Verlag 2014. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: work:at:book/Martin Eberhardt, Berlin. Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT

Nikolaj Plotnikov Einleitung: Die Staatliche Akademie der Kunstwissenschaften in der europäischen ästhetischen Diskussion der 1920er Jahre ...................................

7

Kunst und Sprache. Kunstphilosophische Positionen Reinold Schmücker »Kunst ist wie Sprache und Kunst ist nicht wie Sprache«. Versuch über eine kunstphilosophische These ...................................................

31

Christian Möckel Kunst und Sprache als zwei symbolische Formen in den nachgelassenen Schriften Ernst Cassirers ................................................

46

Karlheinz Lüdeking Kunst und Sprache aus der Sicht von Erwin Panofsky ........................................

61

Meike Siegfried Das Kunstwerk in Heideggers Denken der zwanziger Jahre. Versuch einer Ortsbestimmung ............................................................................

71

Bernadette Collenberg-Plotnikov »Das Auge liest anders, wenn der Gedanke es lenkt.« Zur Bestimmung des Verhältnisses von Sehen und Wissen bei Edgar Wind ........................................................................................................

92

Lorenzo Vinciguerra »A suggestive indefiniteness of vague«. Peirce und die sinnliche Empfindung ...................................................................

111

Die Sprachlichkeit der Kunst als Thema der Ästhetik in Russland und Osteuropa Rainer Grübel Kunst der Sprache, Kunst als Sprache, Sprache(n) der Kunst. Überlegungen im Ausgang von Diskussionen über das Verhältnis von Sprache und Kunst in den 1920er Jahren bei Gustav Špet und an der GAChN ........... 125

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

4

Inhalt

Aage A. Hansen-Löve Vom Paradigma zur Serie: Zwischen früher und später Avantgarde ..............

147

Nadia Podzemskaia Die Kunsttheorie Wassily Kandinskys und die Anfänge der GAChN ........................................................................................

179

Herta Schmid Jan Mukařovský und Michail Bachtin .................................................................

199

Theoriedebatten an der GAChN im Kontext des deutsch-russischen Ideentransfers Aleksandr Dobrochotov Die Rezeption der klassischen deutschen Ästhetik in den Arbeiten und Diskussionen der GAChN .................................................

225

Nikolaj Plotnikov Kunst als Wissen. Zu Gustav Špets Auseinandersetzung mit Konrad Fiedler ...................................................................................................

247

Maria Candida Ghidini Struktur und Persönlichkeit. Die Lebensphilosophie G. Simmels und die GAChN ........................................

266

Igor’ Čubarov Die Eigen- und Fremdbedeutung der Produktionskunst in der kunstwissenschaft lichen Diskussion unter den Abwesenden: Pavel Popov, Richard Hamann und Lev Trockij ................................................

281

Die Sprachen der Künste in den Diskussionen der GAChN Olesja Bobrik Von der Empirik der angewandten Musikforschung zur Musikwissenschaft: Die Formierung der ersten russischen musiktheoretischen Konzeptionen in den Arbeiten der Musikalischen Sektion der GAChN .................................................................................................

299

Violetta Gudkova Die Semantik der Theaterauff ührung: Die Theatertheorie an der GAChN ..........................................................................................................

309

Inhalt

5

Anke Hennig Das Ding ist ein Wort. Positionen der GAChN im Kontext des avantgardistischen Reismus ............................................................................

322

Matthias Aumüller Russische Formalismen – OPOJAZ-Formalismus und Kompositionstheorie (Zur Verwendung wissenschaftshistorischer Ordnungsbegriffe) ....................

337

Michela Venditti Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie an der GAChN ..........................................................................................................

349

Anhang Gustav Špet Probleme der modernen Ästhetik .........................................................................

371

Gustav Špet Zur Frage nach der Organisation der wissenschaft lichen Arbeit auf dem Gebiet der Kunstforschung .........................................................

402

Aleksej Losev Artikel: ›Kunst‹ ......................................................................................................... Diskussion des Artikels »Kunst« von A. Losev ...................................................

416 421

Aleksandr Gabričevskij Philosophie und Kunsttheorie ...............................................................................

423

Abkürzungsverzeichnis ..........................................................................................

431

Über die Autorinnen und Autoren .......................................................................

433

Personenregister .......................................................................................................

441

Einleitung: Die Staatliche Akademie der Kunstwissenschaften in der europäischen ästhetischen Diskussion der 1920er Jahre Nikolaj Plotnikov

In der gegenwärtigen kulturwissenschaft lichen Diskussion steht das theoretische Nachdenken über die Bestimmung und Funktion der Kunst gleichsam unter einem doppelten Legitimationsdruck. Denn einerseits verabschiedet man sich auf der konzeptionellen Ebene infolge der schnell sich gegenseitig ablösenden Endzeiterwartungen nach und nach von einem fest bestimmten Begriff von Kunst, der nicht nur der wissenschaft lichen Reflexion, sondern auch dem praktischen (u. a. rechtlichen, politischen, wirtschaft lichen, verwaltungstechnischen usw.) Umgang mit der Kunst zugrunde liegt. Nach den Verkündungen vom ›Ende der großen Erzählungen‹, vom ›Ende der Geschichte‹, vom ›Ende der Kunstgeschichte‹ und immer wieder vom ›Ende der Kunst‹ scheint die Vorstellung von der Kunst als einem historisch entwikkelten Kultursystem hinter der Behauptung einer uneingeschränkten Pluralität visueller, sprachlicher, akustischer und sonstiger medialer Praktiken zurückzutreten, für deren Explikation dann eher Konzepte wie ›visuelle‹ oder ›mediale‹ Erfahrung geeigneter sind als das der ›Kunst‹. Auf der anderen Seite erlebt der Kunstbegriff gegenwärtig geradezu eine Hochkonjunktur, die sich nicht allein der Ausbreitung eines globalen Kunsttourismus und einer internationalen Vermarktung der Kunst verdankt. Zu einer Steigerung der gesellschaft lichen Bedeutung der Kunst und der Entfaltung der öffentlichen Kunstdiskurse tragen auch weltweit stattfindende Konflikte bei, in denen die Kunst politische, antiklerikale und emanzipatorische Kraft entfaltet. Schließlich führt der Umstand, dass etliche neue mediale Praktiken die Bezeichnung ›Kunst‹ für sich in Anspruch nehmen, zu einer Erweiterung des Kunstbegriffs, und diese wirft erneut Fragen seiner theoretischen Bestimmung auf, zumal diese ›Medienkünste‹, die als solche in Bildung und Forschung institutionalisiert werden, durch ihren integrativen und intermedialen Charakter die Vorstellung von einer ›Synthese der Künste‹ nahelegen. Diese Entwicklungen, obwohl sie vom Bewusstsein ihrer historischen Einmaligkeit und Niedagewesenheit begleitet werden, lassen deutliche Parallelen zu früheren Umbruchsituationen in der Kunst erkennen, insbesondere zu derjenigen, die in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts entsteht. Vor allem im mittel- und osteuropäischen Raum zwischen Berlin, Moskau, Prag und Wien lösen in der Zwischenkriegszeit diese Prozesse eine Theoriearbeit aus, deren Leistungen und Ergebnisse zum Teil, wie im Falle der Avantgardeströmungen und ihrer kunsttheoretischen Reflexion, unser Verständnis von der modernen Kunst kategorial geprägt haben, zum Teil aber durch das Hereinbrechen der totalitären Diktaturen verhindert

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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und verschüttet geblieben sind. Sie werden in ihrem Ausmaß und ihrem theoretischen Ertrag erst durch die neuere Forschung freigelegt und gewürdigt. Der vorliegende Band ist der Rekonstruktion einer solchen kulturtheoretischen Diskussion der 1920er Jahre gewidmet, deren historische Verankerung die Staatliche Akademie der Kunstwissenschaften (GAChN)1 bildet, die ihre Wirkung in Moskau zwischen 1921 und 1931 entfaltet. Die GAChN sollte nach dem Plan ihrer Gründer, zu denen sowohl Künstler wie Wassily Kandinsky als auch Philosophen wie Gustav Špet, Semen Frank sowie Vertreter aller Wissenschaften, die sich mit Kunst beschäft igen, gehörten, zu einer neuen Institution der interdisziplinären Kunstforschung werden, die jenseits der Universität neue Formen der Erkenntnis der Kunst (Kunstwissenschaften), der Kunstpädagogik und die Präsentation der Kunst zu schaffen und zu verbinden hat. Dieser institutionelle Innovationsschub geht Hand in Hand mit einer intensiven Theoriearbeit, deren Aufgabe es ist, neue Koordinatensysteme für Wissen und Sprechen über Kunst zu entwickeln, um den sich formierenden Kunst- und Kulturwissenschaften eine begrifflich-methodische Legitimation zu verschaffen. Es geht dabei um nichts weniger als um die Überprüfung des bisherigen Bestandes an kunstwissenschaft lichen Begriffen sowie um die Ausarbeitung neuer methodischer Prinzipien, die eine Reflexion über die Forschungsverfahren in den neuen Kunstwissenschaften ermöglichen sollen. Durch die Umstände der ›Säuberungen‹ an der Akademie Ende der 1920er Jahre sowie der sie begleitenden öffentlichen Diffamierungskampagne2 und der anschließenden Repressionen gegen ihre führenden Mitglieder bleiben die Tragweite und die Ergebnisse ihrer wissenschaft lichen Leistung während der gesamten Sowjetzeit verschwiegen und verkannt. Mit Ausnahme weniger Pionierleistungen in der westlichen Forschung 3 beginnt die Erschließung des wissenschaft lichen Erbes der GAChN auf der Basis des umfangreichen Nachlasses der Akademie im Staatlichen Archiv für Literatur und Kunst (RGALI, Moskau, Fond Nr. 941) erst in der postsowjetischen Zeit4 und nimmt in den letzten Jahren systematische Gestalt an. Zum Gegenstand der Forschung werden spezielle kunstwissenschaft liche Felder, die an der Akademie besondere Bearbeitung erfahren haben, wie die Theorie der Raumkünste5 oder die choreologische Forschung6 . Darüber hinaus wird die Verbindung 1 Staatliche (zunächst: Russische) Akademie der Kunstwissenschaften (Gosudarstvennaja [bis Juni 1925: Rossijskaja] Akademija chudožestvennych nauk; russ. Abkürzung GAChN bzw. RAChN). 2 J. Jakimenko: Iz istorii chistok apparata. 3 Dazu gehören vor allem Studien von Aage Hansen-Löve im Umfeld seines Buchs Der russische Formalismus. Vgl. jetzt: A. Hansen-Löve: Die ›formal-philosophische Schule‹ in der russischen Kunsttheorie der zwanziger Jahre. 4 Vgl. N. Misler (Hg.): RAKhN – The Russian Academy of Artistic Sciences. 5 Vgl. N. Podzemskaia (Hg.): Art et abstraction. 6 N. Misler: Vnačale bylo telo.

Einleitung

9

von Theorie und experimenteller Kunstforschung zum Gegenstand detaillierter Analysen7. In Weiterführung dieser Untersuchungen stellt der vorliegende Band erstmals die kunsttheoretische Dimension der wissenschaft lichen Leitung der GAChN heraus und behandelt sie im Kontext der europäischen Theoriedebatten über die Kunst. Dabei bildet der deutsch-russische Ideenaustausch den Kern dieses Diskussionszusammenhanges. Die Orientierung der Theoretiker und Organisatoren der GAChN an der Entwicklung der Ästhetik und Kunstwissenschaft in Deutschland wird in den 1920er Jahren geradezu als ein Markenzeichen der Akademie angesehen (und spielt als ideologischer Vorwand bei der Zerschlagung der Akademie eine nicht unwesentliche Rolle). Zum einen betrifft diese Orientierung die Theoriedebatte an der GAChN, in der die Rezeption und Weiterführung der deutschen Diskussionen um den Status der Geisteswissenschaften und insbesondere der Kunstwissenschaften stattfindet. Zu den Schwerpunkten dieser Rezeption gehören in erster Linie die Kunsttheorie Konrad Fiedlers, die daran anschließenden Theorien der allgemeinen Kunstwissenschaft (von M. Dessoir, E. Utitz, R. Hamann und E. Wind) sowie Konzeptionen, die auf andere Art versuchen, die Legitimation einer autonomen Kunstforschung zu entwickeln (B. Christiansen, H. Wölfflin, E. Panofsky, G. Simmel). Die Deutlichkeit, mit der diese Ausrichtung auf die Auseinandersetzung mit der deutschen Kunsttheorie an der GAChN betrieben wird, lässt sich schon daraus entnehmen, dass sich ihre Mitglieder bei den Darstellungen des aktuellen Forschungsstandes in der Kunstwissenschaft ausschließlich auf deutschsprachige Werke beziehen.8 Zum anderen vollzieht sich der deutsch-russische Transfer auf der Ebene der Wissenschaftsorganisation. Für die russische Wissenschaftslandschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts ist es insgesamt charakteristisch, dass ihr institutionelles Design nach deutschen akademischen Vorbildern gestaltet wird. Insbesondere im Bereich der Geisteswissenschaften führt dies zu einigen akademischen Neugründungen, die für die weitere Entwicklung der russischen Wissenschaft Maßstäbe setzen. So wird bspw. 1912 das erste psychologische Institut an der Moskauer Universität unter der Leitung von Prof. Georgij Čelpanov (und der Mitwirkung seines Schülers Gustav Špet) in Orientierung an dem Leipziger Institut von W. Wundt gegründet. In St. Petersburg wird ebenfalls 1912 das erste kunsthistorische Institut (Institut istorii iskusstv) in Russland nach dem Vorbild des deutschen kunsthistorischen Instituts in Florenz gegründet, das als eine außeruniversitäre Einrichtung aus den Mitteln eines russischen Mäzens, des Grafen Valentin Zubov, finanziert wird. In Fortsetzung dieser Tendenz greifen die Gründer und die Leiter der GAChN (vor allem W. Kandinsky und G. Špet) in ihren Vorschlägen zur Organisation der A. Hansen-Löve / B. Obermayr / G. Witte (Hgg.): Form und Wirkung. Vgl. G. Špet: K voprosu o postanovke naučnoj raboty … (dt. in diesem Band), Dmitrij Nedovič: Zadači iskusstvovedenija. 7 8

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Akademie auf ihre Kenntnisse der Institutionalisierung der Kunstforschung in Deutschland zurück. Dabei wird die fortschreitende Spezialisierung der Forschung nicht nur positiv als Prozess der Befreiung der Geisteswissenschaften von der Herrschaft der Metaphysik angesehen, sondern es wird angesichts der Zersplitterungstendenzen des Wissens nach neuen Integrationskonzepten und -formen gesucht, die den theoretischen Horizont dieser Wissenschaften als Wissenschaften von ›der Kunst‹ zu explizieren und zu organisieren imstande wären. Die Bewegung zur Institutionalisierung einer ›allgemeinen Kunstwissenschaft‹ in Deutschland wird daher an der GAChN mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Schließlich bilden direkte Kontakte mit deutschen Wissenschaft lern einen bedeutenden Aspekt des deutsch-russischen Wissens- und Ideentransfers an der GAChN. Sie umfassen sowohl Einladungen von Kulturwissenschaft lern aus Deutschland nach Moskau, wie z. B. des Germanisten Oskar Walzel, der 1928 nach Moskau reist und zum Ehrenmitglied der GAChN ernannt wird9, als auch Reisen der GAChNMitglieder nach Deutschland, wie etwa die Reise der Kunstsoziologin Lija Zivel’činskaja zum Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 1927 in Halle10, oder Bemühungen, eine deutsche Filiale der GAChN in Berlin zu organisieren, die Kandinsky bei seiner Reise nach Deutschland 1921 unternimmt. Wenn diese Initiativen sich auch mit zunehmenden Abschottung des Sowjetregimes als nicht realisierbar erweisen müssen, so zeugen sie von der Forschungskonzeption der Akademie, die von vornherein auf eine interkulturelle Analyse der Kunst angelegt war und sie auch zumindest in Ansätzen verwirklichen kann.

Kunst und Wissenschaft an der GAChN Ihre Entstehung und ihre wissenschaft liche sowie öffentliche Wirkung verdankt die GAChN der Begegnung von drei Kräften kultureller Erneuerung, die sich in dem Bestreben treffen, eine Institution »mit dem Zweck der allseitigen Erforschung aller Arten der Kunst und der künstlerischen Kultur« (§ 1 der Statuten der GAChN)11 zu schaffen: der Wissenschaft , der Kunst und der Kulturpolitik. Denn erstens wird die Akademie als ein neuer Typus wissenschaft licher Organisation konzipiert, die über die traditionelle Kunstgeschichte hinaus eine wissenschaft liche Auseinandersetzung mit der aktuellen Kunst einschließlich der angewandten Künste ermöglichen soll, wobei die Fragen einer engen Zusammenwirkung oder gar ›Synthese‹ Vgl. dazu speziell: Alexander Nebrig: Künstlerische Form. Oskar Walzel und die Staatliche Akademie der Kunstwissenschaften in Moskau, in: A. Hansen-Löve / B. Obermayr / G. Witte (Hgg.): Form und Wirkung, 93–110. 10 Vgl. den Kongressbericht: Lija Zivel’činskaja: Kongress po ėstetike i iskusstvoznaniju. (In Kongressakten als Lia Ziweltschinsky erwähnt, vgl. Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 21 [1927], 114). 11 Ustav Gosudarstvennoj Akademii Chudožestvennych nauk [Die Statuten der GAChN], 78. 9

Einleitung

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aller Forschung zu verschiedenen Künsten im Vordergrund stehen (das Wort ›interdisziplinär‹ ist ja damals noch unbekannt). Die theoretische Arbeit der Akademie gilt dementsprechend der Konzipierung eines methodischen und wissenschaftstheoretischen Rahmens, der diese Zusammenwirkung empirischer und auch experimenteller Studien zu den einzelnen Künsten ermöglichen soll. Zum anderen gehört es zum Aufgabenkreis der Akademie, die Koordination der Künste bzw. der Kunstinstitutionen zu gewährleisten. Dies soll nicht nur mithilfe der Organisation von großen nationalen und internationalen Kunstausstellungen und sonstigen Veranstaltungen im Bereich der Künste erreicht werden. Die Ziele der Akademie sehen außerdem vor, auch eine Systematisierung der kunstkritischen Reflexion in Bezug auf die einzelnen Künste, die durch ihre Verbindung mit der wissenschaft lichen Forschung auf eine neue Basis gestellt werden soll, durchzuführen.12 Schließlich wird die Akademie auch in kulturpolitischer Absicht gegründet, um der Sowjetmacht, die die Bildung eines ›neuen Menschen‹ explizit als eines ihrer Hauptziele proklamiert13, als eine Experteninstanz in Sachen Kunst und Kultur zur Verfügung zu stehen. Bei diesem Bildungsziel sollen dem Präsidenten der GAChN, dem Literaturwissenschaft ler Petr Kogan, zufolge vor allem zwei Kräfte eine fundamentale Rolle spielen: der wissenschaft liche Begriff und das künstlerische Bild, wobei nur »das letztere, wie die Geschichte aller Revolutionen bezeugt, […] eine unmittelbare Wirkung auf die Massen entfaltet« und daher die zentrale Bedeutung bei der Erreichung einer »Umgestaltung der Sittlichkeit« hat.14 Die Entwicklung der Kunst als kulturpolitische Aufgabe erfordert jedoch, wie der Volkskommissar für Bildung Anatolij Lunačarskij bei einer der Gründungssitzungen der GAChN ausführt, eine wissenschaft liche Ästhetik, die zu begründen hat, dass »die dargebotene Kunst eine echte Kunst ist und kein Surrogat und dabei die Kunst, die die Massen benötigen«15. In den Sitzungen der Wissenschaft lich-künstlerischen Kommission beim Volkskommissariat für Bildung im Sommer-Herbst 1921 wird dieses Profi l der künft igen GAChN als einer Institution bestimmt, die die Koordination der wissenschaft lichen Forschung auf dem Gebiet der Kunst mit der Organisation der Kunstproduktion und -präsentation sowie mit der kulturpolitischen Expertise zu verbinden hat. Aus dieser Verbindung sollen neue Formen der Kommunikation zwischen Künstlern 12 Beispiele solcher Aktivitäten fi nden sich etwa in der Theatersektion der GAChN, in der nicht nur das Programm der Moskauer Theater, sondern in Zusammenarbeit mit Theaterregisseuren auch einzelne Theaterauff ührungen diskutiert werden (vgl. den Beitrag von V. Gudkova in diesem Band). Zu ähnlichen Aktivitäten des choreologischen Laboratoriums im Bereich der Tanzkunst vgl. N. Misler: Vnačale bylo telo. 13 Vgl. St. Plaggenborg: Revolutionskultur. 14 P. Kogan: O zavoevanii chudožnikov. 15 Anatolij V. Lunačarskij: O zadačach Akademii [Über die Aufgaben der Akademie] (Vortrag in der Wissenschaft lich-künstlerischen Kommission am 16. Juni 1921) zit. nach dem Protokoll, aufbewahrt im Staatlichen Archiv für Literatur und Kunst in Moskau (RGALI. F.[Fond] 941, Op. [Aktenverzeichnis] 1, Ed. chr. [Akte] 4, L. [Blatt] 3verso–4).

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und Wissenschaft lern entstehen, die die überlieferte Trennung zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen der Akademie der Künste und der der Wissenschaften zu überwinden imstande sind. Es geht letztendlich um die Schaff ung eines neuen Typs von Wissen, das nicht nur eine Integration der Kultur-, Sozial- und Naturwissenschaften vom Menschen, sondern die Verbindung der Kunsttheorie mit dem künstlerischen Experiment ermöglichen würde. In das organisatorische Konzept der Akademie gehen dabei hauptsächlich drei Entwürfe ein, die eine Integration der Forschung auf dem Gebiet der Kunst und Kultur vorsehen. Dies sind zum einen die Vorstellungen des Präsidenten der GAChN, des Literaturwissenschaft lers Petr Kogan, der eine marxistische Kunstwissenschaft fordert, die den historischen Zusammenhang der alten und der revolutionären Kultur soziologisch sowie geistesgeschichtlich untermauern und zur Grundlage des Verständnisses und der kritischen Beurteilung der Kunst machen soll.16 Als zweiter Entwurf können die Überlegungen von Kandinsky zur Verbindung einer wissenschaft lichen Erforschung der ›Elemente der Kunst‹ und der künstlerischen Praxis gelten.17 Das Konzept von Kandinsky sieht die Wissenschaft in den Dienst der Kunst gestellt, der sie mit ihren naturwissenschaft lichen und wahrnehmungspsychologischen Analysen zuarbeiten soll. Mitarbeiter der von ihm gegründeten physikalisch-psychologischen Abteilung der GAChN erkennen zwar die selbständige Bedeutung der Wissenschaft von der Kunst an, behandeln jedoch die Kunstwissenschaft als einen Zweig der Psychologie und sehen das psychologische Experiment als Hauptmittel, Erkenntnisse über die Kunst zu gewinnen. Der andere Strang der Reflexionen Kandinskys, der der künstlerischen Formanalyse gilt, wird von den Kunsttheoretikern der philosophischen Abteilung aufgegriffen.18 Schließlich sind die Vorschläge von Gustav Špet zur Ausarbeitung eines philosophisch-methodischen Rahmens der Kulturwissenschaften zu nennen, der eine kontinuierliche Zusammenarbeit aller mit der Kunst befassten Disziplinen gewährleisten soll.19 Seine Vorstellungen von dieser Organisation bewegen sich allerdings nicht in Richtung einer ›Synthese‹ von Kunst und Wissenschaft, die er als ›romantisch‹ zurückweist, sondern in Richtung einer philosophisch-hermeneutischen Auffassung der Kunst, die im Gegenteil eine Differenzierung der wissenschaft lichen sowie der künstlerischen Zugangsweisen zur Kunst begründet. Anstatt einer Einheit des Wissens bzw. einer Einheitswissenschaft soll ein Kontinuum des Wissens in den Kunstwissenschaften entfaltet werden.20 In diesem Sinne gelten die Bemühungen der von Gustav Špet konzipierten und organisierten Philosophischen Abteilung der GAChN insbesondere dem Versuch, einem für die Kunstforschung fatalen Reduktionismus naturwissenschaft lich-psychologischer sowie soziologischer Provenienz entgegenzusteuern. 16 17 18 19 20

P. Kogan: O zadačach Akademii i ee žurnala. W. Kandinsky: Tezisy k dokladu »Plan rabot sekcii izobrazitel’nych iskusstv«. Vgl. den Beitrag von Nadia Podzemskaia in diesem Band. Vgl. dazu: G. Špet:. K voprosu o postanovke naučnoj raboty …. Vgl. Verf.: Kunstwissenschaft als Thema der philosophischen Reflexion.

Einleitung

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Bei allen Differenzen ist diesen drei Konzepten jedoch gemeinsam, dass sie sich gegen die Bestrebungen der linken Kunsttheoretiker und -praktiker wenden, die so genannte ›proletarische Kultur‹ (Proletkult) als einen radikalen Bruch mit der bisherigen Kultur zu interpretieren und sie als leitende Ideologie der Kulturpolitik zu installieren. Der in der Gründungskommission Ende 1921–Anfang 1922 verabschiedete Plan sieht schließlich die Organisation von drei Abteilungen vor – einer physikalischpsychologischen, einer soziologischen und einer philosophischen. Die erste Abteilung soll »die inneren positiven Gesetze erforschen, nach denen die Kunstwerke in jedem einzelnen Kunstbereich hervorgebracht werden«21. Die Leitung übernimmt Kandinsky selbst. Nach seiner Abreise nach Deutschland Ende 1921 wird der Kunsthistoriker und Psychologe Anatolij Bakušinskij sein Nachfolger, der an der Abteilung ein breites Spektrum experimenteller psychologischer Forschung der Kunstproduktion und -rezeption organisiert, das bis hin zur Analyse der kunstrelevanten psychischen Prozesse bei Kindern, Geisteskranken und ›primitiven Völkern‹ reicht. Die Soziologische Abteilung, deren Leiter der marxistische Kunstsoziologe Vladimir Friče wird, hat zum Ziel, »die Kunst vom Standpunkt ihrer sozialen Genese und Bedeutung zu untersuchen«22 , wobei diese Untersuchung im Wesentlichen eine Übertragung der marxistischen Klassenanalyse auf die Kunstgeschichte darstellt. Das Konzept von Vladimir Friče sieht vor, die Funktion der Kunst aus soziologischen Gesetzen zu erklären und sie auf diese Weise als Mittel im gesellschaft lichen Kampf ums Dasein zu bestimmen. Doch auch hier ist die angestrebte Soziologie der Kunst nach dem Modell der exakten nomothetischen Wissenschaften konstituiert. »Wenn es gelingt«, schreibt Friče im Vorwort zur russischen Übersetzung der Abhandlung des Kunstsoziologen Wilhelm Hausenstein »Versuch einer Soziologie der bildenden Kunst«23, »eine Soziologie der Kunst zu entwickeln, dann wird sie eine genauso exakte Wissenschaft sein wie die Chemie oder Physik. Sie wird imstande sein, die Geschichte der Kunst auf eine Reihe ›mathematisch‹ exakter Gesetze zurückzuführen, die die Kunst in ihrer Statik und Dynamik regeln«.24 Die Philosophische Abteilung, deren Leitung seit Februar 1922 Gustav Špet innehat, soll »die Prinzipienfragen sowie die methodischen Fragen der Kunstwissenschaft überhaupt«25 analysieren, d. h. Fragen der Philosophie der Kunst und Ästhetik einerseits, die Problematik einer ›allgemeinen Kunstwissenschaft‹ als Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften andererseits. Diese beiden Schwerpunkte – der philosophische und der wissenschaftstheoretische – werden sowohl in systematischer als auch in historischer Hinsicht behandelt. 21 22 23 24 25

A. Kondrat’ev: Rossijskaja Akademija Chudožestvennych nauk, 415. Ebd., 417. Dt. Original in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 36 (1913), 758–794. V. Friče: Vil’gel’m Gausenstejn, 4. A. Kondrat’ev: Rossijskaja Akademija Chudožestvennych nauk, 419.

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Hinter dieser Kombination von institutionellen Einheiten der GAChN und der darin angesiedelten Forschungsrichtungen steht die Idee, eine ›Synthese‹ (nach der Lesart Špets: eine ›Synechologie‹26) von theoretischen Disziplinen, der Reflexion auf die Kunstpraxis sowie der Kunstpädagogik und Kunstpräsentation zu erreichen. Nach dem Vorbild der ›Synthese der Künste‹ subsumiert das Konzept der Akademie unter den Begriff ›Kunst‹ nicht allein die bildenden Künste, sondern das gesamte Museion der Künste, einschließlich Literatur, Theater, Musik, Film, aber auch Tanz, Industriedesign und Buchkunst. Dabei soll die Zusammenarbeit sowohl ›horizontal‹, also nach der Art der Erforschung der Künste in den drei Abteilungen (Psychologie und Physiologie, Philosophie, Soziologie) als auch ›vertikal‹, d. h. nach der jeweiligen Kunstart in verschiedenen Sektionen, gestaltet werden. Somit ist hier ein Interdisziplinaritätskonzept entwickelt, das nicht nur das gesamte Spektrum der Kulturwissenschaften umfasst, sondern auch die Psychologie, Soziologie und die Naturwissenschaften in die Erforschung der Künste einbezieht.27

Die Sprachlichkeit der Kunst als Thema der GAChN und der europäischen Diskussion Das zentrale Verbindungsglied, das bei diesen verschiedenen Forschungsrichtungen und -ansätzen einen Zusammenhang stiftet und den synthetischen Anspruch des Gründungskonzepts der Akademie fundiert, bildet die Idee der Sprache als Medium aller Künste und Wissenschaften. In deren Perspektive werden Kunst, Wissenschaft und Philosophie als unterschiedliche Formen der Sprache mit einer jeweils spezifischen ›Grammatik‹ aufgefasst: Die Sprache der Wissenschaft, die ihre Terminologie durch eine kritische Sichtung der Geschichte und der Systematik ästhetischer und kunsttheoretischer Begriffe gewinnt, korreliert mit der Sprache der Kunst, die durch die konstruktive Verbindung der ›Elemente der Kunst‹ die Sinnartikulation im künstlerischen Ausdruck ermöglicht. Und schließlich stehen beide – die Sprache der Wissenschaft und der Kunst – mit der ›Sprache der Dinge‹28 in Korrelation. Denn auch die Dinge sind in ihrer primären Gegebenheit keine toten physischen Objekte, sondern Werkzeuge und Zeichen der sozialen und kulturellen Verhältnisse, die den umfassenden Horizont jeder Dingwahrnehmung konstituieren. Die Reflexion auf diese Konstitutionsvorgänge bildet die Aufgabe einer Philosophie der Kultur, die die philosophische Legitimation der Kunstwissenschaften als Wissenschaften von der kulturellen Wirklichkeit leistet. Die Idee der Sprache als Bindeglied zwischen der Kunst, den Kunstwissenschaften und der Philosophie findet ihre organisatorische Umsetzung im zentralen Anliegen 26 G. Špet: K voprosu o postanovke naučnoj raboty …, 11. Dazu Verf.: Kunstwissenschaft als Thema der philosophischen Reflexion. 27 Zur Struktur der Akademie siehe die Abbildung auf S. 27. 28 Vgl. A. Gabričevskij: Die Sprache der Dinge.

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der Akademie, eine terminologische Enzyklopädie der Kunstwissenschaft (Ėnciklopedija iskusstvovedenija)29 bzw. ein Lexikon der Kunstterminologie (Slovar’ chudožestvennoj terminologii)30 auszuarbeiten, das den gesamten Bestand der überlieferten Begrifflichkeit der Diskurse über die Kunst kritisch überprüfen und neu systematisieren soll, um den revolutionären Entwicklungen in Kunst, Wissenschaft und Philosophie Rechnung zu tragen. Bereits die ursprüngliche Konzeption der Akademie, die W. Kandinsky entwickelt, sieht als zentrale Aufgabe »die Überprüfung der existierenden Terminologie und die Festlegung neuer bestimmter Termini«31 vor. Aus dieser Aufgabe geht dann das enzyklopädische Projekt der Akademie hervor, den überlieferten Begriffsapparat auf allen Gebieten der Kunstforschung einer kritischen Sichtung und Neubestimmung zu unterziehen. Das Projekt, das im Laufe der Arbeit erheblich an Differenzierung gewinnt und immer mehr Forschungskräfte an sich bindet, wird wegen der Zerschlagung der Akademie nicht zu Ende geführt und verbleibt im Stadium der Vorarbeiten.32 Dieses enzyklopädische Vorhaben, das den gesamteuropäischen Kunstdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt und zugleich ein Vorgänger der großen begriffsgeschichtlichen Lexika der Nachkriegszeit 33 ist, bedeutet jedoch nicht allein die Erweiterung des terminologischen Feldes in der analytischen Betrachtung kunstwissenschaft licher Begriffe durch die Einbeziehung philosophischer Begriffe sowie der Fachsprache der Kunsttechnik. Dieses Vorhaben stößt eine breite Theoriedebatte an der GAChN um die kunstwissenschaft liche Begriffsbildung und damit um die epistemologische Funktion der Kulturwissenschaften überhaupt an, die die Arbeiten an dem Lexikon begleitet und bis jetzt nur fragmentarisch erschlossen ist. Einen der Hauptschwerpunkte dieser Debatte bildet aber die Frage nach dem Sinn der ›Sprachlichkeit‹ der Kunst. Die unterschiedlichen Interpretationen dessen, was Kunst als Sprache bedeutet sowie welche Spezifizierungen die Idee der Sprachlichkeit in verschiedenen Künsten aufweist, machen das Spektrum der europäischen Diskussion aus, die lange vor dem ›linguistic turn‹ und dem Einzug der analytischen Philosophie in die Ästhetik die sprachliche Verfasstheit aller kulturellen Leistungen des Menschen in den Blick nimmt.34 Dabei wird die Idee der Sprachlichkeit in Bezug auf die Kunst, je nach der Deutung dessen, was das Sprachphänomen primär konstituiert, sehr unterschiedlich konnotiert. Das erste Konstitutionsmerkmal bildet die Sprachsyntax. Aus dieser Vgl. G. Špet: K voprosu o postanovke naučnoj raboty …, 18. Bjulleteni GAChN, 1925, 29. 31 W. Kandinsky: Tezisy k dokladu, 73. 32 Fragmente des Lexikons wurden 2005 von Igor’ Čubarov aus dem Nachlass der GAChN herausgegeben: I. Čubarov (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov. 33 V.a. das Historische Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter u. a., 12 Bde., Basel 1971–2007 sowie Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck, 7 Bde., Stuttgart u. a. 2000– 2005. Zu einem dem GAChN-Vorhaben verwandten Plan Erich Rothackers Ende der 1920er Jahre, ein Kulturphilosophisches Wörterbuch zu schreiben, vgl. R. Stöwer: Erich Rothacker, 97 ff. 34 In den folgenden Unterscheidungen wird auf die in den Beiträgen dieses Bandes analysierten kunsttheoretischen Positionen Bezug genommen. 29

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Perspektive werden auch in der Kunst einige Grundelemente oder atomare Bausteine differenziert, die nach bestimmten Verknüpfungsregeln zu einem Zusammenhang der künstlerischen Formensprache verbunden werden. Die in diesem Sinne artikulierbare Idee einer allgemeinen ›Grammatik der Kunst‹ betont das Verständnis der Sprache als eines Regelsystems, das es im Prozess der Hervorbringung von Kunstwerken zu erkennen und zu rekonstruieren gilt. Die andere Auffassung der Sprachlichkeit der Kunst wird von solchen Positionen vertreten, die den semantischen Aspekt im Sprachverständnis herausstellen. Hier wird die Sprache als Sinnausdruck apostrophiert, wobei zwischen dem Sinn als einer subjektiven Intention und dem als einer objektiven bzw. objektivierten Sinnstruktur zu unterscheiden ist. In dieser Gruppe der Positionen finden sich dann insbesondere diejenigen, die der Kunst eine eigenständige epistemische Funktion zuweisen, ohne sie jedoch als eine bloße Unterstufe oder eine Veranschaulichung des Begriffs zu interpretieren. Schließlich lässt sich eine dritte Gruppe von Positionen differenzieren, die die Sprachlichkeit an der kommunikativen Dimension der Kunst festmachen. Diese wird dann in der Auffassung der Kunst als einer Mitteilung bzw. einer Weise der intersubjektiven Verständigung artikuliert oder aber in der Bestimmung der Kunst als eines Aktes der Gemeinschaftsstiftung, der die kulturelle Existenz des Menschen nicht bloß sichtbar macht, sondern auch hervorbringt. Die Unterscheidung dieser drei Deutungen der Sprachlichkeit der Kunst ist allerdings nicht disjunkt. Nicht nur weisen sie in den konkreten Positionen der fraglichen Diskussion zahlreiche Interferenzen auf, sondern auch konzeptionell lassen sich unterschiedliche Aspekte der Sprachlichkeit bei der Deutung der Kunst verbinden bis hin zu den Versuchen, alle unterschiedenen Dimensionen der Sprache als für das Kunstphänomen insgesamt relevant darzustellen.35 Hinter diesem Anliegen, die Kunst als eine eigenständige Sprache zu interpretieren und die Spezifi ka der unterschiedlichen Sprachen der Künste in den Blick zu nehmen, steht das Bemühen um eine Neubegründung der Autonomie der Kunst, die die Kunsterfahrung kategorial von dem Kontinuum psychischer Reize und Erlebnisse zu unterscheiden imstande wäre, ohne sie dem wissenschaft lichen Diskurs als bloße Vorstufe zu unterstellen. Der Rückgriff auf die Sprache als Paradigma aller kulturellen Leistungen soll dabei helfen, die dem Kunstphänomen eigene Sinnstruktur herauszuarbeiten und damit den eigenständigen kulturellen Ort der Kunst angesichts der Verwissenschaft lichungs- und Politisierungstendenzen der Zeit zu legitimieren. Darüber hinaus ist die Ausrichtung am Paradigma der Sprache dazu bestimmt, die Analyse und das Verständnis der Kunst von allen wertenden Aspekten lösen zu helfen. Dieser Pathos der axiologischen Neutralität und der strengen 35 Ein Beispiel für eine solche Konzeption wäre G. Špets ›Philosophie des Wortes‹. Solche integrativen Ansätze greifen in der Diskussion des frühen 20. Jahrhunderts auf die Sprachphilosophie W. v. Humboldts zurück und machen sie für den kunstwissenschaft lichen Diskurs fruchtbar.

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Wissenschaft lichkeit vereint viele Positionen in den 1920er Jahren, von den Fiedlerianern über die russischen Formalisten bis hin zu den Vertretern einer hegelianisch inspirierten Ästhetik oder einer phänomenologischen Ontologie der Kunst. Die Ablösung der Kunstinterpretation von den Wertungskategorien des ›Schönen‹ und ›Hässlichen‹ sowie die Umstellung auf die Analyse von Formen, Funktionen und Strukturen in der Kunst bringen aber auch Probleme der Abgrenzung der Sprache der Kunst von der Alltagssprache sowie der Sprache der Wissenschaften mit sich, mit denen sich die Kunsttheorie der 1920er Jahre konfrontiert sieht und die sie zu lösen versucht, um das Postulat der Autonomie der Kunst aufrechtzuerhalten. Diese Abgrenzungsprobleme werden dann auch von den frühen Formalisten und den GAChN-Theoretikern über den Prager Strukturalismus und die Tartuer Semiotik 36 bis hin zur Hermeneutik und zur sprachanalytischen Ästhetik 37 weiter gereicht, bis sie schließlich im Poststrukturalismus zu Scheinproblemen erklärt werden. Dadurch wird auch die Idee der Kunst als einer Sprache sui generis mit eigener Form- und Sinnstruktur schrittweise durch das allgemeine Paradigma des Textes bzw. des Diskurses sowie das der Medialität abgelöst.38 Und noch ein weiteres Thema durchzieht die Diskussion um die Ausrichtung der Kunsttheorie am Paradigma der Sprache – das Problem der Individualität. Dieses von der Romantik der späteren Kunstwissenschaft aufgegebene Problem, das in Gestalt einer Spannung zwischen dem Verstehen der individuellen künstlerischen Leistung und dem Erschließen des historischen Zusammenhangs der Kunstentwicklung auftritt, wird in der Diskussion der 1920er Jahre zwar in vielerlei Hinsicht als eine Denkhypothek der metaphysischen Ästhetik angesehen. Der Ansatz bei der Sprache soll schließlich gerade dazu dienen, in der Analyse der Kunst invariante Elemente herauszuarbeiten, deren Erkenntnis den wissenschaft lichen Anspruch der Kunstwissenschaften legitimieren könnte. Aber mitten in der Thematisierung der Sprachlichkeit der Kunst bricht das Problem erneut auf, wenn es um die Identifizierung dieser invarianten Elemente in der Vielfalt ihrer individuellen Gestaltung in der Kunst geht.39 Zur Verschärfung des Problems trägt auch die – sonst dezidiert antiindividualistisch eingestellte – Praxis der Avantgarde bei, die mit dem Innovationspostulat auftritt, die bisherigen Sprachen der Kunst durch neue abzulösen. Doch wie lässt sich diese Sprache als eine künstlerische Leistung und damit auch als eine neue Sprache erkennen, wenn sie sich nur als Negation und als Sprengung bisheriger Sprachregeln, d. h. als Sprachlosigkeit behauptet? Sprachphilosophisch hat dieser Dialektik des Individuellen und Allgemeinen bereits Wilhelm von Humboldt vorgearbeitet. Seine Anhänger in der Diskussion der 1920er Jahre machen seine Deutung der Sprache als energeia für die Charakterisierung der Kunst insgesamt in der Pluralität der individuellen künstlerischen Leistungen fruchtbar. 36 37 38 39

Vgl. J. Lotman: Kunst als Sprache. Vgl. N. Goodman: Sprachen der Kunst. Vgl. K. Städtke: Sprache der Kunst/Kunst als Sprache. Vgl. R. Hamann: Individualismus und Ästhetik.

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Dabei gilt in dieser Diskussion – lange vor Wittgensteins Kritik an der Idee einer Privatsprache – als Konsens, dass die Sprache der Kunst kein Produkt der subjektiven Innerlichkeit des Künstlers bedeutet, sondern eine sichtbare Form ist, die ihre eigenen Regeln impliziert. Das Individuelle liegt dabei nicht als mentale Blackbox hinter diesen Formen, sondern konstituiert sich inmitten dieser Formen als Art und Weise ihres Vollzugs bzw. ihre Verkörperung. Die Suche nach einem ›Algorithmus‹ dieser Verkörperung, die die Forscher an der GAChN in ihren Studien zur ›inneren Form des Wortes‹ als dem Paradigma der Kunst beschäft igt, bildet eine für die Diskussion der 1920er Jahre durchaus charakteristische Ausrichtung auf die Konzipierung einer ›Logik des Individuellen‹ bzw. des ›Konkreten‹, die diese Dialektik des Individuellen und Allgemeinen in dem gesamten Bereich kultureller Leistungen explizieren soll.

Zur Struktur des Bandes Auf diesen Differenzierungen in der Bestimmung der Sprachlichkeit der Kunst basiert die Konzeption des Bandes, der den kunsttheoretischen Ertrag der Forschungen an der GAChN vor dem Hintergrund der mittel- und osteuropäischen Debatte historisch und theoretisch rekonstruiert. So rückt er zentrale Themen dieser Diskussion in eine neue Perspektive, indem er interkulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Behandlung dieser Themen sichtbar werden lässt. Im ersten Teil werden anhand der Analyse einiger philosophischer und kunsttheoretischer Positionen aus der vor allem in Deutschland geführten Debatte der 1920er Jahre Zugänge zum Verhältnis von Kunst und Sprache sowie zur Bestimmung der epistemischen und kommunikativen Funktion der Kunst herausgearbeitet. Die Argumente pro et contra die These von der Sprachlichkeit der Kunst arbeitet Reinold Schmücker anhand der Konzeption von Broder Christiansen heraus, dessen Philosophie der Kunst (1909) in Russland eine große Wirkung entfaltet und insbesondere im Kreis der russischen Formalisten intensiv rezipiert wird. Gegen die Auffassung der Kunst, die sich am Paradigma der Sprache orientiert, führt Christiansen die Offenheit der Mitteilung ins Feld, die das Kunstwerk enthält. Ein nicht eindeutig festlegbarer Sinngehalt sowie das Fehlen des Sprechers sind weitere Gründe gegen diese These. Darüber hinaus ist die Vollzugsgebundenheit (sowohl in Produktions- als auch in Rezeptionshinsicht) der Kunst ein deutliches Anzeichen dessen, dass hier keine sprachähnliche Struktur vorliegt, die irgendwelche Invarianzen aufweisen würde. Auf der anderen Seite erweist die Kunst jedoch eine Verwandtschaft mit der Sprache, da sie ebenfalls ›etwas zu verstehen gibt‹. Dieses ›Zu-verstehen-Geben‹ der Kunst hebt Schmücker, über Christiansen hinausgehend, hervor, indem er es als eine kommunikative Dimension der Kunst fasst, die nicht mehr nach dem Habermas’schen Modell der sprachlich geregelten Kommunikation konzipiert wird.

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Von der Differenz von Kunst und Sprache geht auch Ernst Cassirer aus, indem er sie als unterschiedliche symbolische Formen der Weltkonstitution begreift. Wie indes Christian Möckel in seinem Beitrag über das Nachlasswerk Cassirers zeigt, thematisiert er auch die Gemeinsamkeiten dieser beiden symbolischen Formen. Sie liegen einerseits in der gemeinsamen Genese begründet, die sich im Prozess der Rationalisierung des Weltverhältnisses aus dem Mythos herauskristallisieren. Andererseits bestehen sie in einem verwandten Wertebezug dieser symbolischen Formen, die sich beide durch eine spezifische ›Prägnanz‹ charakterisieren lassen. Auch in der epistemischen Funktion sind beide Formen verwandt. Für Cassirer bildet die Sprache eine primäre Form des Wissens, denn durch sie wird die Welt für das Subjekt überhaupt erst konstituiert. Aber auch die Kunst, wie Cassirer im Anschluss an Fiedler ausführt, leistet eine Welterschließung vermittels ästhetischer Formen des Sichtbaren, die ihren eigenen Erkenntnisanspruch rechtfertigt. Zwar macht Erwin Panofsky sich in seinen Frühschriften die These von der epistemischen Funktion der Kunst ebenfalls zu eigen und geht so weit, dass er die Kant’schen Wissenskriterien – Allgemeingültigkeit und Objektivität – auch für die Kunst in Anspruch nimmt. Aber er geht, wie Karlheinz Lüdeking in seinem Beitrag zeigt, über die Postulierung einer Analogie zwischen dem Kunstphänomen und dem Sprachurteil letztlich nicht hinaus. Im Gegensatz zu seinem Schüler Edgar Wind betrachtet Panofsky die These von der Sprachlichkeit der Kunst lediglich als eine Metapher, der keine konstitutive Bedeutung bei der Bestimmung der Kunst zukommt. Mit dem Verhältnis von Sehen und Wissen in der Konzeption von Edgar Wind setzt sich Bernadette Collenberg-Plotnikov auseinander. Dieses Verhältnis betrachtet Wind als Grundlage für eine wissenschaft liche Beschäftigung mit der Kunst. Bei dessen Explikation geht es ihm zunächst darum, eine Wissenschaft von der Kunst zu begründen, die sich vom Kennertum abgrenzt. Mit seinem dezidierten Festhalten am rationalen Verstehen von Kunst, das er sogar zur Basis der Kunsterfahrung überhaupt macht, setzt sich Wind zugleich von den verbreiteten Vorstellungen von der ästhetischen Erfahrung als reinem Erlebnis ab. Die Deutung der künstlerischen Leistung als einer ›Problemlösung‹ bildet dabei den Ansatzpunkt einer rationalen Auseinandersetzung mit dem Kunstphänomen. Darüber hinaus verbindet Wind diese wissenschaftstheoretischen Überlegungen mit der These von der Sprachlichkeit der Kunst, die er in seiner Konzeption einer ›Grammatik der Kunst‹ entfaltet. Dabei geht Wind über den Kantianismus des frühen Panofsky hinaus, indem er die Sprachlichkeit nicht allein an die Verknüpfungsregeln von Formelementen bindet, sondern das Werk als einen Sinnausdruck interpretiert. Damit rückt die kulturhistorische Dimension der Kunst in den Mittelpunkt seines Interesses, wie seine späteren Arbeiten belegen. Die Vorstellung von einer ›Grammatik der Kunst‹ ist bei Wind durch seinen Lehrer Peirce und dessen semiotischen Ansatz inspiriert. In seinem Beitrag geht Lorenzo Vinciguerra Peirces früher Kritik an der Konzeption einer intuitiven Erkenntnis nach, die erhebliche Zweifel an der verbreiteten Deutung der Kunst als einer

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sinnlichen Erkenntnis begründet. Die Einfachheit der Wahrnehmung, die als Grundlage dieser intuitionistischen These fungiert, erweist sich bei einer näheren Analyse als durch vorhergehende Schlussfolgerungen vermittelt. Diese Relationalität der elementaren Wahrnehmung findet auch in die Reflexion der modernen Kunst Eingang, wie Vinciguerra anhand der Äußerungen von Künstlern sowie der Problematik der Abstraktion in der Kunst verdeutlicht. Von einem ursprünglichen Interpretiertsein der Welt geht auch Heidegger in seiner frühen Konzeption aus. Meike Siegfried setzt sich in ihrem Beitrag mit der Frage auseinander, ob sich in dieser frühen ›pragmatistischen‹ Position Heideggers, der bei der praktischen Erfahrung mit der Welt ansetzt, die Besonderheit der Erfahrung von Kunstwerken ausmachen lässt. Für Heidegger bildet auch die Kunst eine Weise der Selbstauslegung des Lebens, wie er anhand der literarischen Narrative demonstriert. Aber die Frage nach einer spezifischen Seinsweise des Kunstwerks lässt sich im Horizont des ursprünglichen Begegnens mit den Dingen, in dem sie als funktionales ›Um-zu‹ ausgelegt werden, nicht beantworten. Die Erfahrung des Kunstwerks als eines Gebrauchsgegenstandes muss scheitern. Diese Erfahrung lässt sich jedoch nicht allein negativ als eine umweltliche Störung charakterisieren, wie Siegfried gegen die Engführung der Frage nach der Kunst beim frühen Heidegger erläutert. Vielmehr bedeutet sie eine Distanznahme zu der Welt der Dinge, die als Initiierung eines Gesprächs und damit als Eröffnung eines kommunikativen Raumes fungiert. Von hier aus wird die Brücke zum späteren Kunstverständnis Heideggers geschlagen, wobei der Gesprächscharakter des Verständigungsprozesses über die Kunst den Leitfaden der Interpretation bildet. Der zweite Teil des Bandes zeigt Erweiterungen dieser Diskussion nach Osteuropa und Russland. Er wird von Rainer Grübel mit einer detaillierten Analyse der verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks ›Sprache‹ in den Schriften der GAChNMitarbeiter um Gustav Špet eröff net. Grübel hebt die Fragwürdigkeit des Versuchs hervor, diesen Ausdruck auch auf die nicht-verbalen Künste anzuwenden und damit die Kunst insgesamt als eine Art von Sprache zu interpretieren. Daraus entsteht ein doppelter Begriffsgebrauch, bei dem einmal der Ausdruck im übertragenen Sinne als eine Metapher und zugleich im direkten Sinne (in Bezug auf die verbalen Künste) verwendet wird. Dies ist eine quaternio terminorum, die zur Quelle vieler Missverständnisse wird. Angesichts dessen plädiert Grübel für einen eingeschränkten Gebrauch des Sprachbegriffs und für die Verwendung des Begriffs der ›Semiose‹ als eines Oberbegriffs zur Charakterisierung sowohl der verbalen als auch der nichtverbalen Künste, wobei dieser Vorschlag einige Überlegungen im Špet-Kreis über den Zeichenbegriff aufgreift. Dass die Strukturalität der Sprache auch dort zu Tage kommt, wo alle Form- und Sinnelemente reduziert zu sein scheinen, zeigt Aage Hansen-Löve in seinem Beitrag über die Absurde Lyrik von Daniil Charms und deren Parallelen im Werk des Biologen Paul Kammerer über das Gesetz der Serie. Im Gegensatz zur futuristischen Lyrik, in der ein poetischer Text sein eigenes Paradigma präsentiert und damit zum Code eines Weltentwurfes wird, wird in der Lyrik Charms’ und seines Freundes-

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kreises eine Regularität jenseits alles Paradigmatischen herausgestellt, die bei aller Sinnreduktion und unterhalb einer Logik der Sprache sichtbar wird. Diese Regularität der Serie zufälliger ›Fälle‹ bleibt allerdings lokal und partiell, was die Skepsis der Lyriker gegenüber jeder allgemeinen Sinnstift ung deutlich manifestiert. Dabei geht es jedoch nicht um die Regelhaftigkeit einer privaten Wahrnehmung, die die Zufälle durch den Bezug auf den gleichen Beobachter hin organisiert. Überhaupt entzieht sich diese Regularität einem explizierbaren Ordnungsprinzip, sondern tritt allein durch ihre serielle Reproduktion in einer Erzählung in Erscheinung, die sich in ihrer Struktur gleichsam selbst aufhebt. Dabei handelt es sich keineswegs um pure Irrationalität. Vielmehr wird in der Erzählung eine Regularität akzentuiert, die sich selbst wegen ihrer Beliebigkeit geradezu ins Lächerliche katapultiert. Im Gegensatz dazu ist Paul Kammerer in seinen Versuchen, ein ›Gesetz der Serie‹ zu eruieren, ernsthaft bemüht um eine naturwissenschaft liche Rekonstruktion solcher alternativen Regularitäten der Welt. Als eines der zentralen Verbindungsglieder zwischen der deutschen und der russischen Diskussion gilt das kunsttheoretische Werk von Wassily Kandinsky. Dessen Bedeutung bei der Gründung der GAChN rekonstruiert Nadia Podzemskaia in ihrem Beitrag. Kandinsky ist auch einer der zentralen Protagonisten der These von der Verwandtschaft von Kunst und Sprache, die er zur Grundlage seines Akademieplans macht. Diese These ist durch seine Auseinandersetzung mit den Ideen des FiedlerKreises und insbesondere mit dem theoretischen Werk Adolfs von Hildebrand inspiriert. Gegen den Impressionismus und seine These von der Reproduktion der Weltwahrnehmung betont Kandinsky das Moment der Sinngebung in der Kunst, das sich in den Gestaltungsprinzipien des Kunstwerks als dessen ›innerer Klang‹ manifestiert. Den metaphorischen Ausdruck ›Farbensprache‹ nimmt er dabei durchaus wörtlich, indem er ein mit bestimmten Farben verbundenes Netz von psychischen Assoziationen, die kulturgeschichtlich geprägt sind, zu analysieren vorschlägt. Die Forschungen dazu werden an der GAChN durch die Mitglieder der philosophischen Abteilung der GAChN Aleksandr Gabričevskij und Vasilij Zubov fortgesetzt, die die Ansichten Kandinskys mit denen des Phänomenologen-Kreises um Gustav Špet verbinden. Das Verhältnis von Kunst und Sprache ist auch ein wichtiges Thema der ästhetischen Theorie sowohl im tschechischen Strukturalismus als auch bei Michail Bachtin. Einer vergleichenden Analyse der Deutung der Sprache und der Kunst bei Jan Mukařovský und Bachtin widmet sich der Beitrag von Herta Schmid. Sie betrifft zum einen die ästhetische Funktion des Zeichens, die Mukařovský nicht nur semiotisch, sondern auch anthropologisch als selbstreferentielle ›Einstellung‹ des Bewusstseins begründet. Damit wird die Kunst im Schiller’schen Sinne zum Ursprung und Modell einer freien Menschlichkeit erklärt. Dagegen wird bei Bachtin die anthropologische Dimension der Kunst an der Dialogizität festgemacht und letztendlich im Außerästhetischen, nämlich in der ethisch-praktischen Vernunft fundiert. Die Hermeneutik Bachtins und die semiotische Dialektik Mukařovskýs sieht Schmid jedoch nicht in einem Ausschließungs-, sondern vielmehr in einem Ergänzungsverhältnis zueinander.

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Das Thema des dritten Teils bildet die Problematik des deutsch-russischen Ideentransfers, der an der GAChN stattfindet und in der russischen Diskussion geradezu als Markenzeichen der Forschungen der Akademie angesehen wird. Dabei sind es nicht allein die zeitgenössischen Theorieentwürfe in der deutschen Kulturwissenschaft, die zum Sujet dieses Ideentransfers werden. Aleksandr Dobrochotov zeigt in seinem Beitrag, wie die Überlegungen zur Synthese von Kunst und Wissenschaft sowie zur Neubegründung der Kunstwissenschaften an der GAChN zu einer weitreichenden Auseinandersetzung mit der klassischen deutschen Ästhetik führen. Dabei lässt sich an den spezifischen Rezeptionslinien auch das Spektrum der theoretischen Diskussion an der Akademie ablesen. Dobrochtov rekonstruiert Aleksej Losevs an Schelling orientiertes metaphysisches Kunstverständnis, die Aufnahme von Herders Reflexionen zur funktionalen Differenz der Künste bei Aleksandr Gabričevskij, das von der Romantik inspirierte Projekt von Vasilij Zubov, eine ›Charakterologie‹ zu entwickeln, die eine Verbindung von ästhetischer und psychologischer Analyse der Kunst ermöglicht, sowie Gustav Špets Konzeption einer Ontologie der Kunst, die nicht in der Phänomenologie, sondern vielmehr in der Konzeption einer ›ästhetischen Vernunft‹ im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus von Hegel und Hölderlin ihre Parallelen hat. Die epistemische Funktion der Kunst sowie die mit ihr verbundene These von der Sprachlichkeit der Kunst werden erneut im Beitrag von Nikolaj Plotnikov thematisiert, der sich einer intensiven Auseinandersetzung von Gustav Špet mit der Kunsttheorie Konrad Fiedlers widmet. Die Gemeinsamkeit in der Bestimmung der Kunst als einer Wissensart mündet jedoch bei den beiden in einer Differenz der Deutung dieses Wissens: Für Špet erweist sich die Kunst nicht als eine Weise der Welterkenntnis, sondern als eine Form des Selbstbewusstseins, die das kulturelle Dasein des Menschen konstituiert. Von einer anderen Seite nähert sich Maria Candida Ghidini der Frage nach der Erkenntnis der Kunst und in der Kunst, indem sie das thematische Spektrum der Rezeption der ästhetischen Theorie Georg Simmels in Russland und speziell an der GAChN rekonstruiert. Die von Simmel stets hervorgehobene Spannung zwischen dem Leben und der Form finden ihre (partielle) Auflösung im Kunstwerk, dessen sichtbare individuelle Gestalt sich nur als ein Lebensausdruck angemessen interpretieren lässt. Die Analyse der Strukturen dieser Sichtbarkeit (Porträt, Bilderrahmen usw.), die Simmels Konzeption eines ›individuellen Gesetzes‹ untermauern soll, legt die Deutung der Kunst als einer spezifischen ›Formensprache‹ nahe, die von GAChNTheoretikern aufgegriffen und weiterentwickelt wird. Eine Durchdringung von Kunst und wissenschaft licher Erkenntnis sowie eine Demokratisierung der Kunst sind die charakteristischen Entwicklungen der 1920er Jahre, die in die Debatten an der GAChN über die zeitgenössische Kunst Eingang fi nden. Anhand der Auseinandersetzung des Philosophen Pavel Popov mit der Kunsttheorie Richard Hamanns zeigt Igor’ Čubarov, wie sich diese Entwicklungen in der konzeptionellen Ausrichtung der Kunst am Modell der Produktion manifestieren und damit auch die traditionellen Grenzziehungen zwischen Kunst und tech-

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nischem Handeln verändern. Am deutlichsten schlägt sich dies in der veränderten Auffassung der Autonomie des ästhetischen Gegenstandes nieder, die von nun an mit der gesellschaft lichen Emanzipation der Produktionsprozesse verbunden wird. Schließlich werden im vierten Teil des Buches einige Ausschnitte aus dem breiten Spektrum der Diskussion über die Anwendbarkeit der These von der Sprachlichkeit der Kunst bei der Erforschung der einzelnen Künste behandelt. Diese Diskussion, in die beinahe alle Sektionen der GAChN involviert sind, fördert eine ganze Reihe neuer Problemlösungen, aber auch neuer Fragen zu Tage, die sich aus dieser These für die Kunstwissenschaften sowie für die Kunstphilosophie ergeben. Für die russische Musikwissenschaft bedeutet diese Diskussion an der GAChN, wie Olesja Bobrik in ihrem Beitrag zeigt, ihre Konstituierung als selbständige Disziplin, die über einen eigenen Gegenstand, eigene Methoden und theoretische Grundlagen verfügt. In dieser Phase ist die Zusammenarbeit von bildenden Künstlern (Kandinsky) und Musikern (Georgij Konjus) für die musikwissenschaft liche Reflexion bedeutsam, da in ihr ein Feld des Experiments entsteht, musikalische Terminologie für das Verständnis der Malerei einzusetzen und umgekehrt. Die Bemühungen um die Ausarbeitung einer selbständigen Musiktheorie, die sich von den psychologischen und physiologischen Mustern absetzt, findet auch im Einsatz der Analogien mit der Sprache eine wichtige Unterstützung. Dabei steht bei der Herausstellung von Gemeinsamkeiten zwischen Sprache und Musik und der zu Sprachmetaphern greifenden Formanalyse der musikalischen Werke das morphologische Modell des organischen Körpers im Hintergrund, das Konjus zufolge in allen Bereichen der menschlichen Kreativität Anwendung fi ndet. Auch das musikphilosophische Werk von Aleksej Losev folgt diesem Modell, wobei Losev sich nicht so sehr der Analogien mit der Sprache bedient, sondern die Konstruktion des musikalischen Werks mathematisch interpretiert, um die Zergliederung des Zeitflusses in der Musik zu verdeutlichen. Die Ambivalenz der Sprachlichkeitsthese tritt sehr deutlich in der Konstituierungsphase der Theaterwissenschaft hervor, deren Anfänge in Russland ebenfalls durch die Wirkung der Theatersektion der GAChN gelegt werden und durch die Rezeption der zeitgenössischen deutschen Theorie des Theaters geprägt sind. Denn einerseits konstituiert sich die Theaterwissenschaft als eine selbständige Disziplin gerade durch die Emanzipation von der Vorherrschaft des Wortes (der Literatur) im Theater. Andererseits aber erfolgt die Erarbeitung der Grundlagen dieser selbständigen Disziplin durch den Rückgriff auf die These von der Sprachlichkeit der Kunst. Der Theaterwissenschaft ler Pavel Jakobson greift, wie Violetta Gudkova in ihrem Beitrag demonstriert, zu den Begriffen der ›Grammatik‹ und der ›Semantik‹ des Schauspiels, um sich von der Vorstellung vom Theater als einer ›Erlebniskunst‹ abzusetzen. Auch die im Dialog der Wissenschaft ler mit den Theaterregisseuren an der GAChN stattfindende Umorientierung des Theaters vom Wort auf das Bühnenbild oder die Gebärde als Grundelement des Schauspiels erfolgt unter dem Stichwort einer ›Grammatik der Bühnenkunst‹.

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Die theoretische Tragweite der Metapher der ›Sprache der Dinge‹ von Aleksandr Gabričevskij behandelt Anke Hennig vor dem Hintergrund der Avantgarde-Diskussion der 1920er Jahre um die Dinghaft igkeit der Artefakte. Diese im Kreis der Phänomenologen um Špet entstandene Metapher, die den Zeichencharakter von Dingen als Gegenständen in ihrem kulturellen Dasein hervorhebt, bildet die Signatur für die kulturphilosophische und ontologische Konzeption dieses Kreises, nach der die ontologischen Differenzen in der Welt der Dinge sprachlich vermittelt sind. Für Gabričevskij enthält diese Metapher darüber hinaus die Bedeutung der ›Eigenständigkeit‹, die den ihre ›eigene Sprache‹ sprechenden Dingen zukommt und damit die Eigenständigkeit der Raumkünste gegenüber den verbalen Künsten begründet. Mit den Letzteren beschäft igen sich die beiden abschließenden Beiträge des Bandes: Matthias Aumüller stellt die unterschiedlichen Bedeutungen vor, die in der Diskussion mit dem Ausdruck ›Formalismus‹ verknüpft werden, und analysiert die Kompositionslehre des Literaturwissenschaft lers Michail Petrovskij als eine ›spezifische‹ Art von Formalismus, der in den literatur- und kunstwissenschaftlichen Studien der GAChN entfaltet wird. Und Michela Venditti rekonstruiert detailliert die Tätigkeit der Literatursektion der GAChN in ihrer Verbindung zum sprachphänomenologischen Ansatz des Špet-Kreises an der Philosophischen Abteilung. Ihr Überblick über die Hauptthemen der literaturwissenschaft lichen Studien und die Diskussionen an der Sektion zeigt noch einmal deutlich, dass die These von der Sprachlichkeit der Kunst in der Vielfalt ihrer Deutungen zum Mittelpunkt der Debatte um die Bestimmung des Wissenschaft lichkeit der sich mit Kunst und Literatur befassenden Wissenschaften wird.

*** Die Beiträge des Bandes gehen auf die Tagung zum Thema »Kunst als Sprache« zurück, die im Herbst 2010 an der Forschungsstelle »Russische Philosophie und Ideengeschichte« an der Ruhr-Universität Bochum veranstaltet wurde. Die Tagung sowie die Drucklegung des Bandes wurden von der Volkswagenstiftung im Rahmen des Projekts »Die Sprache der Dinge. Philosophie und Kulturwissenschaften im deutsch-russischen Ideentransfer der 1920er Jahre« (Az. 83 352/-1) unterstützt, wofür sich der Herausgeber an dieser Stelle bei der Stiftung nachdrücklich bedankt. Mein Dank gilt ferner Frau Shirin Sariya Schnier, M.A., für die Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts. Im Anhang zu diesem Band werden zwei Aufsätze von Gustav Špet aus der Zeit seiner Wirkung an der GAChN erstmals in deutscher Übersetzung publiziert. Sie geben einen detaillierten Einblick in den Stand der kunstphilosophischen Diskussion sowie Auskunft über die institutionelle Umsetzung der interdisziplinären Kunstforschung der Akademie, um die sich Špet als ihr Vize-Präsident bemühte. Zudem wird in den Beiträgen des Bandes in historischer und systematischer Hinsicht auf diese Aufsätze vielfach Bezug genommen.

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Die beiden anderen Texte – der Artikel »Kunst« von Aleksej Losev für das geplante Lexikon der Kunstterminologie sowie die Thesen von Aleksandr Gabričevskij zu seinem Vortrag »Philosophie und Theorie der Kunst« – stellen nicht nur eine konzise Darstellung der kunstphilosophischen Positionen der beiden wichtigen Protagonisten der GAChN dar, sondern geben außerdem Einblick in das work in progress der Kunsttheorie an der Akademie. Aus den Beiträgen des Bandes sowie aus den Texten im Anhang wird deutlich, welch prominente Bedeutung die Rezeption und Diskussion der Theorien der ›allgemeinen Kunstwissenschaft‹ von M. Dessoir, E. Utitz u. a. für russische Kunsttheoretiker hatten. Dass dieser Band nun als Sonderheft der »Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« erscheint, hat daher Symbolcharakter. Für die Aufnahme des Bandes in diese Reihe möchte der Herausgeber Herrn Josef Früchtl und Frau Maria Moog-Grünewald, den heutigen Herausgebern der Zeitschrift, herzlich danken.

Literatur Bjulleteni GAChN [Bulletins der GAChN]. Moskau 1925, H. 2–3 Čubarov, Igor’ (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov GAChN [Lexikon der Kunstterminologie der GAChN], Moskau 2005 Friče, Vladimir M.: Vil’gel’m Gausenstejn [Wilhelm Hausenstein], in: V. Gausenstejn: Opyt sociologii izobrazitel’nogo iskusstva [Der Versuch einer Soziologie der bildenden Kunst], Moskau 1924, 3–24 Gabričevskij, Aleksandr: Die Sprache der Dinge, in: A. Hennig (Hg.): Über die Dinge. Texte der russischen Avantgarde, Hamburg 2010, 567–579 Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst, Frankfurt a. M. 1995 Hamann, Richard: Individualismus und Ästhetik, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1 (1906), 312–322 Hansen-Löve, Aage: Die ›formal-philosophische Schule‹ in der russischen Kunsttheorie der zwanziger Jahre. Ein Überblick, in: N. Plotnikov/ M. Siegfried/ J. Bonnemann (Hgg.): Zwischen den Lebenswelten. Interkulturelle Profile der Phänomenologie, Berlin 2012, 205–257 Hansen-Löve, Aage/ Obermayr, Brigitte/ Witte, Georg (Hgg.): Form und Wirkung. Phänomenologische und empirische Kunstwissenschaft in der Sowjetunion der 1920er Jahre, München 2013 Jakimenko, Julia: Iz istorii čistok apparata: Akademija chudožestvennych nauk v 19291932gg. [Aus der Geschichte der Säuberungen des Apparats: die Akademie der Kunstwissenschaften in den Jahren 1929-32], in: Novyj istoričeskij vestnik. Moskau, 2005, H. 1 (12), 150–161 Kandinsky, Wassily [Kandinskij, Vasilij]: Tezisy k dokladu »Plan rabot sekcii izobrazitel’nych iskusstv« [Thesen zum Vortrag »Der Arbeitsplan der Sektion der bildenden Künste«], in ders.: Izbrannye trudy po teorii iskusstva [Ausgewählte Schriften zur Theorie der Kunst], Bd. II, Moskau 2001, 70–75

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Nikolaj Plotnikov

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Wissenschaft liche Struktur der Akademie. Aus: Gosudarstvennaja Akademija Chudožestvennych/Académie d'État des sciences de l'art, Moskau [1925], 18.

Kunst und Sprache Kunstphilosophische Positionen

»Kunst ist wie Sprache und Kunst ist nicht wie Sprache«. Versuch über eine kunstphilosophische These Reinold Schmücker

Wolfgang Bartuschat zum 75. Geburtstag

»Kunst ist wie Sprache und Kunst ist nicht wie Sprache«1: Präziser lässt sich der eigentümlich sprachähnliche Charakter der Kunst kaum auf eine kurze Formel bringen. Die ungeachtet ihrer Kürze umständlich genaue Wendung findet sich in einem wenig bekannten philosophischen Buch mit dem ebenso schlichten wie anspruchsvollen Titel Die Kunst, das im Jahr 1930 in einem kleinen, vom Verfasser, Broder Christiansen, selbst betriebenen Verlag in dem bei Freiburg gelegenen BreisgauDorf Buchenbach erschienen ist. Broder Christiansen fasst darin seine kunstphilosophische Position zusammen, die nach dem Urteil Aage Hansen-Löves in ihrer frühen, zwei Jahrzehnte älteren Ausprägung aus dem Jahre 1909 »alle Formalisten – stärker als alle anderen Arbeiten der deutschen Kunstphilosophie – beeinflußt hat«2 . Ich möchte im Folgenden zunächst an die Rezeption Broder Christiansens durch den russischen Formalismus erinnern und einige Grundzüge von Christiansens Kunstphilosophie vorstellen (I). In einem zweiten Schritt erläutere ich dann, in welchem Sinn sich für Broder Christiansen die kunstphilosophische These »Kunst ist wie Sprache und Kunst ist nicht wie Sprache« ergibt, und lege dar, in welchen Hinsichten ein solches Verständnis meines Erachtens unzulänglich ist (II). Schließlich schlage ich eine Deutung der im Titel zitierten These vor, die sich zwar von Broder Christiansen und vom russischen Formalismus entfernt, mir jedoch geeignet erscheint, einen zentralen Aspekt der Eigentümlichkeit von Kunst zu erfassen (III).

I Broder Christiansen, 1869 im nordfriesischen Klixbüll geboren, wurde 1902 in Freiburg von Heinrich Rickert mit einer Arbeit über Das Urteil bei Descartes zum Doktor der Philosophie promoviert. In den folgenden zehn Jahren schrieb er vier weitere philosophische Bücher, unter denen die 1909 in erster, 1912 in zweiter Auflage erschienene Philosophie der Kunst als das umfangreichste und gewichtigste heraus-

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B. Christiansen: Die Kunst, 17. A.A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus, 216, Fn. 392.

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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ragt.3 In der akademischen Philosophie hat Broder Christiansen jedoch nicht Fuß fassen können. Er selbst führte das später darauf zurück, dass er »[k]urz vor der Habilitation […] an einer schweren Herzangina« erkrankte, »die ihn 20 Jahre ans Haus band und die akademische Laufbahn unmöglich machte«.4 Man kann sich allerdings gut vorstellen, dass dieser vielleicht eigenwilligste Rickert-Schüler, dessen kunstphilosophische Werke ganz ohne Fußnoten auskommen 5 , sich ohnehin schwergetan hätte, sich im akademischen Betrieb die für die Erlangung einer Professur nötige Akzeptanz zu erwerben. Christiansen war es nämlich stets um Klarheit und Prägnanz der Formulierung zu tun – diplomatische Umschweife und Konzessionen an den neukantianistischen oder empiristischen Zeitgeist sind seinen Texten fremd. So liest man etwa in einer an die Gemeinde der »Kantbekenner«6 gerichteten, erklärtermaßen konstruktiv gemeinten Kantkritik aus dem Jahr 1912, die »philosophische Arbeit der letzten Jahrzehnte« sei durch das »Merkzeichen einer freiwilligen Dürft igkeit« charakterisiert, bescheide sich die zeitgenössische Philosophie doch damit, »Erkenntnistheorie zu sein«, anstatt »das positive Vermögen zur Metaphysik im Subjekt aufzudecken und die völlige Gleichberechtigung einer metaphysischen Empirie mit der physischen nachzuweisen«.7 Sein Auskommen fand Broder Christiansen, der zeitweise auch SchreibseminarFernkurse gab und graphologische Gutachten erstellte 8 , als freier Schriftsteller.9 Zahlreiche Auflagen erlebten Bücher und Druckschriften, die der Ratgeberliteratur

Broder Christiansen verfasste insgesamt acht im engeren Sinn philosophische Monographien: Das Urteil bei Descartes. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Erkenntnistheorie, Hanau 1902 (ohne den Untertitel auch als gedruckte Diss. phil., Freiburg i. Br. 1902); Erkenntnistheorie und Psychologie des Erkennens, Hanau 1902; Philosophie der Kunst, Hanau 1909, Berlin-Steglitz 21912; russ. Übers.: Filosofija iskusstva, Sankt Petersburg 1911; Kritik der Kantischen Erkenntnislehre (Kantkritik. Erster Teil), Hanau 1911, Berlin-Steglitz 21912; Vom Selbstbewußtsein (Von der Seele. Erster Teil), Berlin 1912; Die Kunst, Buchenbach 1930; Der neue Gott, München 1934; Willensfreiheit, Stuttgart 1947. 4 B. Christiansen: Willensfreiheit, 64. Später, wenn es gilt, sich den Lesern des Ratgebers Plane und lebe erfolgreich (München 1954) vorzustellen, setzt Christiansens Selbstdarstellung einen anderen Akzent: »Ich war ohne Unterlaß Denker, aber zwanzig Jahre lang leitete ich einen selbstgegründeten Buchverlag.« (Ebd., 2.) 5 Fußnoten weist allerdings die Dissertation auf: B. Christiansen: Das Urteil bei Descartes. 6 B. Christiansen: Kritik der Kantischen Erkenntnislehre, Vorwort. 7 Ebd., 177. 8 Eines der von Christiansen erstellten graphologischen Gutachten (über die Weißenhorner Schulleiterin Dr. Mathilde Höchstätter) fi ndet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach im Nachlass von Gertrud von le Fort. Im Marbacher Archiv sind außerdem zwei Briefe erhalten, die Christiansen am 7. Juni 1921 an Wilhelm Schneider und am 30. August 1946 an Paul Rose schrieb. 9 Dass Christiansen als Schrift steller keine Reichtümer erwerben konnte, belegen die Honorarabrechnungen, die – neben Christiansens handschrift lichem Testament – in der Nachlassakte »Christiansen, Broder, Schrift steller« (VI 294/58) enthalten sind, in die mir das Amtsgericht Starnberg im Einvernehmen mit dem Testamentsvollstrecker am 19. Mai 1994 Einsicht gewährte. 3

»Kunst ist wie Sprache und Kunst ist nicht wie Sprache«

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zuzurechnen sind10 und die Christiansen teilweise pseudonym veröffentlichte.11 Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Elisabeth Carnap erweiterte Broder Christiansen darüber hinaus 1947 seine Neue Grundlegung der Graphologie aus dem Jahr 1933 zu einem Lehrbuch der Handschriftendeutung (2. Auflage 1948), das ab 1955 unter dem Titel Lehrbuch der Graphologie weitere Nachauflagen erfuhr. Christiansens Philosophie der Kunst – eines der typographisch schönsten kunstphilosophischen Bücher des Kaiserreichs – weist den Autor indes als einen höchst eigenständigen Philosophen aus, der das tut, was man heute gemeinhin »systematisches Philosophieren« nennt und mitunter zu Unrecht als eine Errungenschaft feiert, die wir der analytischen Philosophie verdanken.12 Dass dieser kunstphilosophische Entwurf in Originalität und argumentativer Stringenz manchen kunstphilosophischen Werken etablierter Zeitgenossen, Johannes Volkelts etwa oder Max Dessoirs, überlegen ist, hat man, als er am Ende des ersten Jahrzehnts des vergangenen Jahrhunderts erschien, zwar nicht im deutschen akademischen Betrieb, aber in Russland erkannt. Schon im Jahr 1911, noch vor dem Erscheinen der zweiten deutschen Auflage, erschien in Sankt Petersburg eine russische Übersetzung. In seiner Studie über den »Zusammenhang zwischen den Verfahren des Handlungsaufbaus und den allgemeinen stilistischen Verfahren« weist Viktor Šklovskij 1916 auf dieses Buch hin und zitiert zustimmend Christiansens Auffassung, dass es bei der Konstitution des ästhetischen Objektes, das für Christiansen aus der Gesamtheit der Ich will! – Ich kann! Eine Schule des Willens und der Persönlichkeit (1918, 81939), Lebenskunst (1918, 101949), Die Kunst des Schreibens. Eine Prosa-Schule (1918, 121941; Neuausgabe 1949 unter dem Titel Eine Prosaschule. Die Kunst des Schreibens, 49. Tsd. 1958), Die Redeschule (1920, 51939), Das Büchlein zum guten Schlaf (1920, pseudonym), Gedächtnisschule (1920, pseudonym), Der Kruse-Tag. Tägliche Körper- und Seelenpflege für jedermann (1921, pseudonym), Das Gesicht unserer Zeit (1929), Die kleine Prosaschule (1933, zahlreiche, zum Teil veränderte Neuauflagen und Nachdrucke bis 1971), Die Technik des Erfolgs (1931, pseudonym; 2., umgearbeitete Auflage unter dem Titel Wege zum Erfolg 1941; 4. Auflage als Ausgabe für die Schweiz 1943; niederländische Ausgabe 1953), Das Lebensbuch oder Von den Wegen der Persönlichkeit (1935, 5. Auflage 1944 als Frontbuchausgabe), Plane und lebe erfolgreich (1954). – In der unter dem Titel Das Lebensbuch oder Von den Wegen der Persönlichkeit vorgelegten Sammlung von Lesefrüchten, die einerseits den Geist des George-Kreises atmet, andererseits die hohe Anpassungsfähigkeit einer sich auf die individuelle Lebensführung konzentrierenden Ratgeberliteratur dokumentiert, findet man neben vielen anderen Aussprüchen auch Worte von Adolf Hitler und Selbstzitate des Autors, deren Quelle er jeweils durch ein Pseudonym verschleiert. Eine modifizierte Sammlung von Lebensweisheiten erschien dann 1954 unter dem Titel Lebendige Weisheit alter und neuer Zeit. 11 Broder Christiansen benutzte mehrere Pseudonyme. Eindeutig ihm zuordenbar sind die Pseudonyme Uve Jens Kruse und Hans Tor Straaten. Demgegenüber halte ich es für denkbar, dass Christiansen die Druckschriften Der Kopfarbeiter (1921, 21922) und Ein Kompaß zur Menschenerkenntnis (1922) tatsächlich gemeinsam mit den als Koautoren Genannten, Kurt Kauff mann bzw. Herbert von Bomsdorff-Bergen, verfasst hat. 12 Vgl. die Angaben zur Vita in den Reclam-Büchern: »Als 11-jähriger Dorfbub wurde er von einer heft igen Leidenschaft für Mathematik gepackt, mit dem Ehrgeiz, sich selber den Weg zu bahnen, nach Möglichkeit selber die Sätze und ihre Beweise zu fi nden. In der Folge studierte er gleichen Sinnes Philosophie, Psychologie, Literatur und Kunst.« (B. Christiansen: Willensfreiheit, 64.) 10

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Stimmungsempfi ndungen besteht, die ein Subjekt bei der Wahrnehmung eines »äußere[n] Kunstwerks«13 hat, insbesondere auf die »Differenzempfindungen«, auf die Empfindungen der »Abweichung von einem Gewohnten, von einem Normalen, von einem irgendwie geltenden Kanon«14 ankomme.15 Es waren denn auch die Begriffe der »Differenzqualität«16 und der »Dominante«17, die die russischen Formalisten von Christiansen übernahmen. Horst-Jürgen Gerigk hat in einem informativen Aufsatz, der am einfachsten über die Webseite des Verfassers zugänglich ist, die Spuren und Erwähnungen Christiansens in den Schriften der Formalisten und in der ihnen gewidmeten literaturtheoretischen Forschung zusammengetragen und den Gebrauch, den der russische Formalismus von den von Broder Christiansen entwickelten Kategorien gemacht hat, mit deren Bedeutung innerhalb der Christiansen’schen Kunstphilosophie verglichen.18 Dabei zeigt sich, dass die russischen Formalisten einen durchaus freien Gebrauch von Christiansens Philosophemen gemacht haben. Sie haben sich, wie Gerigk, dessen Sympathie vor allem Christiansens eigener Kunstphilosophie gilt, betont, »bei Broder Christiansen nur das geholt, was sie gebrauchen konnten, und dann die Leiter, auf der sie zu sich selbst hinaufgestiegen sind, weggeworfen«.19 Am konsequentesten so verfahren ist wohl Roman Jakobson, der 1935 über »Die Dominante« schreibt, ohne die Entlehnung des Begriffs bei Christiansen zu erwähnen.20 Wie legitim auch immer solch ahnenvergessener Eklektizismus ist: Gerigk hebt, wie vor ihm schon Aage Hansen-Löve21, die Differenz zwischen Christiansens Kunstphilosophie und der formalistischen Literaturtheorie hervor. Sie besteht, zugespitzt, darin, dass Broder Christiansens Kunstphilosophie zutiefst nichtavantgardistisch ist. B. Christiansen: Philosophie der Kunst, 50. Ebd., 118. 15 Vgl. V.B. Šklovskij: O teorii prozy, 27; ders.: Zusammenhang zwischen den Verfahren, 51 f. 16 Vgl. B. Christiansen: Philosophie der Kunst, 121–123. 17 Ebd., 241. 18 H.-J. Gerigk: Wer ist Broder Christiansen?; ich zitiere den Beitrag im Folgenden nach der aktualisierten, unpaginierten Fassung, die online zugänglich ist unter: www.horst-juergen-gerigk. de/app/download/5783800791/Gerigk-Wer-ist-Broder-Christiansen.pdf [Zugriff am 12.07.2013]. Eine dem Anlass eines dörfl ichen Festaktes geschuldete knappere Darstellung bietet ders.: Zur internationalen Bedeutung Broder Christiansens. 19 Ebd. 20 Vgl. R. Jakobson: Die Dominante (1935). Die Nichterwähnung der Übernahme des Begriffs von Christiansen moniert u. a. René Wellek: A History of Modern Criticism: 1750–1950, Bd. VII, 374. Das Monitum ist freilich durchaus beckmesserisch; denn es handelt sich bei Jakobsons Text um einen Vortrag, der ohne jeden wissenschaft lichen Apparat auskommt – ganz davon abgesehen, dass Hansen-Löve (Der russische Formalismus, 12) zu Recht geltend macht, dass sich die ideengeschichtliche Entwicklung in aller Regel durch Übernahme und Abweichung vollzieht: ein Umstand, den im zwanzigsten Jahrhundert namentlich Broder Christiansen und der russische Formalismus besonders betonen, indem sie die Differenzempfindungen auf die »Abhebung« der Form eines Kunstwerks von einem Hintergrund zurückführen (vgl. dazu wiederum A.A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus, 223 und 375). 21 A.A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus, 317 f. 13 14

»Kunst ist wie Sprache und Kunst ist nicht wie Sprache«

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Im Mittelpunkt von Christiansens Kunstphilosophie steht die Frage, wie sich im Vollzug der Wahrnehmung eines »äußere[n] Kunstwerks« im wahrnehmenden Subjekt jenes ästhetische Objekt konstituiert, in dessen Verstehen das Wahrnehmungserlebnis desjenigen, der mit Kunstverständnis begabt ist, kulminiert.22 Zum »äußere[n] Kunstwerk« gehört dabei für Christiansen nicht nur das »Material«, aus dem der unserer sinnlichen Wahrnehmung sich darbietende Kunstgegenstand besteht 23; zu ihm gehören vielmehr auch der von diesem »dargestellte Inhalt«24 und dessen »Form«25. Sie alle drei – Material, Inhalt, Form – sind Elemente des äußeren Kunstwerks, »sinnliche Gegebenheiten«26 desselben, die die Konstitution des ästhetischen Objekts beeinflussen. Ästhetisches Objekt aber nennt Christiansen denjenigen das Werturteil des rezipierenden Subjekts herausfordernden »Gehalt«27, den das äußere Kunstwerk im wahrnehmenden Subjekt entstehen lässt: Das Objekt der ästhetischen Beurteilung, oder wie wir abkürzend sagen: das ästhetische Objekt, kommt erst zustande durch eine Synthese, die jedenfalls nicht ganz zusammenfällt mit der sinnlichen Rezeption, wenn sie auch diese voraussetzt. […] Denn wie einer das Kunstwerk versteht und auffasst, das ist es, worauf sein Urteil reagiert. Das ästhetische Objekt ist ein Gebilde im Subjekt; das äußere Kunstwerk gibt nur Material und Anweisung zum Aufbau, ist aber noch nicht selbst das fertige Urteilsobjekt.28

Das ästhetische Objekt, jenes »Gebilde im Subjekt«, wird von Christiansen auch als die Gesamtheit derjenigen »Stimmungsimpressionen«29 charakterisiert, die das äußere Kunstwerk hervorzurufen vermag und die den ästhetischen Wert des Objekts mitbestimmen.30 Den Prozess, der im Vollzug der Wahrnehmung eines äußeren Kunstwerks ein ästhetisches Objekt entstehen lässt, indem er die verschiedenen Stimmungsimpressionen, die durch die Elemente des äußeren Kunstwerks hervorgerufen werden, zueinander in Beziehung setzt 31, ja, sie sukzessive miteinander

22 Christiansen teilt diese Kernfrage mit einer Reihe anderer Kunstphilosophen seiner Zeit. Besonders deutlich formuliert wird sie noch vor Christiansens Philosophie der Kunst von Johannes Volkelt: System der Ästhetik, Bd. I, 11 f. Auch Volkelt wurde, wie Hansen-Löve (Der russische Formalismus, 335) jedenfalls für Bernštejn zeigen kann, von den russischen Formalisten rezipiert, und er teilt mit Christiansen auch die Tendenz, die Bedeutung der »autonomen Strukturiertheit des Objekts« (A.A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus, 191) innerhalb einer wahrnehmungspsychologisch ansetzenden Kunsttheorie zur Geltung zu bringen. 23 B. Christiansen: Philosophie der Kunst, 57–60. 24 Ebd., 60. 25 Ebd., 73 und zuvor. 26 Ebd., 73. 27 Ebd., 125. 28 Ebd., 50. 29 Ebd., 127. 30 Ebd., 56 f. 31 Ebd., 75.

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verschmelzen lässt32 , bezeichnet Christiansen als »Objektsynthese«33. Dieser Prozess ist in seinen Augen allerdings »kein freies Erleben, sondern ein Geführtwerden zu einem Ziele hin«.34 Jedes Kunstwerk verlangt nämlich nach Christiansens Meinung jeweils »seine besondere Art der Synthese«35. Kunstwahrnehmung ist deshalb für Broder Christiansen ein Prozess, der jedenfalls im Idealfall im richtigen Verständnis eines Kunstwerks besteht: »Ein Kunstwerk richtig verstehen, heißt: der Anregung und Anweisung des Werkes gemäß die Objektsynthese vollziehen. Das gelingt nicht einem Jede[n]; es gehört dazu eine besondere synthetische Fähigkeit: Kunstverständnis.«36 Ebd., 127. Ebd., 41 et passim. 34 Ebd., 79. 35 Ebd., 41. 36 Ebd. – Es scheint mir die Schwäche der Darstellung von Broder Christiansens Kunstphilosophie zu sein, die Peter Maerker in seiner Untersuchung über Die Ästhetik der südwestdeutschen Schule (75–82) gibt, dass sie die Bedeutung, die Christiansen dem Kunstverstehen zumisst, verkennt. Maerker lässt es so erscheinen, als betone Christiansen vor allem die bloße Individualgültigkeit des ästhetischen Urteils und der ästhetischen Werte und weise dem Allgemeinverbindlichkeitsanspruch, den ästhetisch Urteilende jedenfalls nach der Auffassung der Kant’schen Tradition mit ihren Urteilen verbinden, einen gleichsam randständigen, »nur […] die Norm der Objektsynthese« betreffenden Ort zu (vgl. ebd., 77 f.). Tatsächlich scheint mir Christiansen die Gewichte jedoch genau andersherum zu verteilen: Wohl nimmt er – in der Tradition Rickerts – an, dass »die ästhetischen Werte autonome Werte sind«, die »individualgültig, nicht allgemeingültig« sind, so dass es »für die ästhetischen Werte keinen intersubjektiv gemeinsamen Maßstab geben« könne (B. Christiansen: Philosophie der Kunst, 30). Indem er diese Frage – in bester Kant’scher Tradition – mit der Beobachtung konfrontiert, dass ich, wenn ich meine ästhetischen Urteile ausspreche, dies in der Erwartung der Zustimmung der anderen tue, ergibt sich ihm das Problem, wie sich dieser Umstand mit der Annahme der Autonomie der ästhetischen Werte vereinbaren lässt. Christiansens Lösung beruht auf der prinzipiellen Unterscheidung zwischen der Beurteilung des Werts eines Kunstwerks und dem Verstehen eines Kunstwerks. Während es hinsichtlich der Beurteilung des Werts eines Kunstwerks nur eine individuelle Richtigkeit des Urteilens geben könne, bestehe das Verstehen eines Kunstwerks in der »nachschaffenden Synthese«, welche »die Elemente, die uns durch seine [des Kunstwerks, R. S.] sinnlichen Qualitäten direkt oder indirekt gegeben werden, so und in der besondern Weise zusammen[nimmt], wie das Kunstwerk es gerade fordert«, d. h. im Befolgen einer »Anweisung des Werkes«, die ihrer Art nach nicht subjektiv und nur den Kunstverständigen zugänglich ist (ebd., 40 f.). Die Pointe von Christiansens Position, die Maerker abblendet, besteht nun darin, dass er im Verstehen, d. h. in der nachschaffenden Objektsynthese, die zentrale »Voraussetzung des Urteilens« (ebd., 40, Herv. R. S.) erblickt. Die vermeintliche Aporie, die sich aus der unhintergehbaren Subjektivität des ästhetischen Urteils einerseits und dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, den wir mit ihm gemeinhin verbinden, andererseits ergibt, löst sich deshalb für Christiansen auf: Unhintergehbar subjektiv ist allein das autonome Bewerten des Kunstwerks, der Allgemeingültigkeitsanspruch hingegen bezieht sich auf dessen Verständnis. Da aber dieses die Grundlage aller Bewertung ist, lässt sich der empirische Dissens in Fragen der Kunstbewertung in Christiansens Augen meistens darauf zurückführen, dass nicht jedem Urteil das richtige Verständnis des Werks zugrunde liegt: »Jedes Kunstwerk verlangt also seine besondere Art der Synthese, die nicht jeder zu vollziehen imstande ist. Wenn nun unsere Urteile auseinander gehen, so kann es daran liegen, daß einer von uns das Werk nicht richtig erfaßt: dann ist der Wertungsgegensatz nur ein scheinbarer, denn direkt beziehen die Urteile sich ja auf das 32 33

»Kunst ist wie Sprache und Kunst ist nicht wie Sprache«

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Für die werkgemäße Objektsynthese sind in Christiansens Augen solche Stimmungsimpressionen von besonderer Bedeutung, die aus der Erfassung von »Differenzqualitäten« resultieren: daraus, dass etwas »als Abweichung von einem Gewohnten, von einem Normalen, von einem irgendwie geltenden Kanon«37 empfunden wird. Ästhetische Geltung besitzen für ihn dabei gerade diejenigen Kunstwerke, deren wesentliche Differenzqualitäten eine Abweichung von einem »unverlierbaren« Vergleichsgrund darstellen, d. h. in einer Abweichung von einer Norm bestehen, die nicht dem historischen Wandel unterliegt und deshalb zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten identische Objektsynthesen ermöglicht: Nur wenn die Differenzqualitäten ihren Vergleichsgrund im Werke selbst haben oder sich ergeben aus Abweichungen vom allgemein Menschlichen, vom allgemein Natürlichen oder von festgewurzelten Institutionen, sind sie unverlierbar. 38

Es ist zum einen diese wert- bzw. geltungstheoretische Privilegierung solcher Kunstwerke, deren wesentliche Differenzqualitäten kein Verfallsdatum tragen, in der sich der nichtavantgardistische Zug der Christiansen’schen Kunstphilosophie manifestiert. Sichtbar wird er aber auch in Christiansens Wertung ästhetischer Neuheit als solcher. Sie verbindet sich mit dem zweiten Begriff, den die Formalisten – neben der Kategorie der Differenzqualität – von Christiansen übernommen haben: dem Begriff der Dominante.39 Christiansen sucht mit diesem Begriff dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die »Stimmungsfaktoren eines ästhetischen Objekts« nur selten »an der Gesamtleistung zu gleichen Teilen mitwirken«, sondern vielmehr »ein einzelner Faktor oder die Verknüpfung mehrerer sich in den Vordergrund schiebt und die Führung übernimmt«40. Diese »Dominante« müsse man, wenn es ein Kunstwerk zu verstehen gelte, herausfühlen und sich von ihr tragen lassen.41 Was das bedeutet, sucht Christiansen am Beispiel von Radierungen Rembrandts zu illustrieren. In ihnen bilde der Rhythmus von Licht und Schatten das Hauptthema, so dass »der Weg zum Verstehen […] demjenigen erschwert [sei], der eingewöhnt ist auf eine zentrale Bedeutung der Umrißlinie«42 . Während sich aber für Christiansen einerseits aus der

Produkt der nachschaffenden Synthese; es fehlt mithin die Bedingung der Vergleichbarkeit, die Bezogenheit auf das gleiche Urteilsobjekt. Die Wertungsdifferenz beweist dann nicht eine Verschiedenheit des Geschmacks. Und ich bin überzeugt, daß sehr viele Wertungsdifferenzen sich in solcher Weise als scheinbare auflösen müssen. Ich will durchaus nicht leugnen, daß wirkliche Geschmacksunterschiede vorkommen; aber ich vermute, daß die Unterschiede des Verstehens häufiger sind.« (Ebd., 43 f.) 37 B. Christiansen: Philosophie der Kunst, 118. 38 Ebd., 123. 39 Tatsächlich deckt sich, wie Hansen-Löve betont (Der russische Formalismus, 316 f. m. w. N., auch für andere Formalisten), »Tynjanovs und Ėjchenbaums Definition der Dominante […] wörtlich und inhaltlich mit Christiansens gestalttheoretischer Dominanten-Theorie«. 40 B. Christiansen: Philosophie der Kunst, 241. 41 Ebd., 242. 42 Ebd.

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»Möglichkeit, eine ungewohnte Dominante einzuführen«43, die Möglichkeit von Neuheit in der Kunst ergibt, erkennt er andererseits dem Schaffen von Neuem als solchem keinen besonderen Wert zu: Weil a priori kein Faktor an sich bevorrechtet und es also belanglos ist, was im Kunstwerk zur Dominante erhoben wird, so kann auch die Einführung einer ungewohnten Dominante, also die Qualität der Neuheit keinen Wert repräsentieren.44

An dieser Stelle scheiden sich die Geister: Christiansens Absage an die Idee eines Fortschritts der Kunst und an jedwede Avantgarde-Ideologie wird von den russischen Formalisten bekanntlich nicht übernommen.45

II Am Anfang seiner zweiten kunstphilosophischen Monographie, des 1930 erschienenen Buches Die Kunst, lotet Broder Christiansen die Tragweite der Analogie von Kunst und Sprache aus. Die Analogie dient ihm zunächst dazu, die Voraussetzungsgebundenheit des Kunstverstehens deutlich zu machen. Wie eine Sprache ist Kunst nach Broder Christiansens Meinung insofern, als die Objektsynthese, in der sich das richtige Verstehen eines Werkes manifestiert, die Vertrautheit mit Konventionen voraussetzt, die der Beherrschung des Vokabulars und der Grammatik einer natürlichen Sprache gleichen.46 Christiansen vergleicht die Wahrnehmung eines Kunstwerks deshalb mit dem Hören eines fremdsprachigen, beispielsweise chinesischen Satzes: »[D]a genügt nicht das helle Aufmerken der Ohren, ich muß dazu noch Chinesisch verstehen, sonst entgeht mir der Sinn.«47 Derart als Sprache verstanden, ist ein Kunstwerk »Träger eines Sinnes nur für musische Menschen«48 , d. h. für diejenigen, die, um im Christiansen’schen Bilde zu bleiben, Chinesisch können. Christiansen verwahrt sich allerdings gegen eine Auslegung der Analogie, die Kunst als eine Sprache begreift, die der Künstler spreche. »Wenn Kunst wie eine Sprache ist, darf man doch nicht sagen: Der Künstler spricht – sondern: Es spricht. Der Künstler ist wie ein Gärtner wohl der Pflegende, nicht aber eigentlich der Schaffende, sondern der erste Empfänger.«49 Andererseits erkennt Christiansen jedoch an, »daß die Vokabeln der Kunst sehr oft mehrdeutig sind, wie es ja auch in gewöhnlichen Sprachen vorkommt, daß ein Wort mehrfachen Sinn haben kann«, und folgert daraus, dass der Künstler unter Umständen »besondere Mittel anwenden muß, gerade den VoEbd. Ebd., 243. 45 Auf diese kardinale Differenz weist bereits Horst-Jürgen Gerigk hin: Wer ist Broder Christiansen? 46 Vgl. B. Christiansen: Die Kunst, 10 f. 47 Ebd., 7. 48 Ebd. 49 Ebd., 9. 43

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kabelsinn, den er für sein Werk braucht, festzulegen«.50 In dieser Forderung liegt allerdings ein Widerspruch zu der Annahme, dass der Künstler kein Schaffender, sondern das Organ eines Sprechens ist, das – um im Bild zu bleiben – durch des Künstlers Mund laut wird. Denn es fragt sich, wie eine derartige Festlegung einem Künstler möglich sein kann, der lediglich der »erste Empfänger« eines Sprechens ist, das nicht von ihm seinen Ausgang nimmt. Christiansen gelingt es insofern nicht, die Sprachähnlichkeit der Kunst widerspruchsfrei zu erläutern. Der Widerspruch löst sich allerdings auf, wenn man – pace Christiansen – annimmt, dass sich im Kunstwerk ein Sprechen: ein Artikulationsbegehren manifestiert, das dem Künstler zurechenbar ist. Auch dann stellt sich jedoch die Frage, wie sich Christiansens Begründung der Sprachähnlichkeit der Kunst mit dem von vielen Kunsttheoretikern konstatierten Umstand vereinbaren lässt, dass sich ein Kunstwerk offenbar nicht in derselben, einen mehr oder weniger eindeutigen Sinngehalt rekonstruierenden Weise verstehen lässt wie die meisten Sprechakte, durch die wir im Alltag unser Handeln koordinieren. Wenn diese Beobachtung zutreffend ist, kann das Kunstverstehen offenbar nicht in der Weise gelingen, dass ein Kunstwerk ein für allemal verstanden ist. Geht es aber der nachschaffenden Objektsynthese vor allem um das Aufspüren eines vom Künstler festgelegten ›Vokabelsinns‹, dann lässt sich schwerlich erklären, warum es selbst dem mit Kunstverstand begabten musischen Rezipienten – von dem man doch annehmen darf, dass er das Künstler-Chinesisch beherrscht – offensichtlich nicht zu gelingen vermag, den Sinn eines Kunstwerks so zu ermitteln, dass sich weitere Verstehensbemühungen erübrigen. Dass sich Broder Christiansen dieses Erklärungsproblem nicht stellt, liegt daran, dass er das Kunstverstehen als ein Erlebnis auffasst, das den Moment, in dem es uns widerfährt, prinzipiell nicht zu überdauern vermag: Jedes ästhetische Objekt, das in einem äußeren Kunstwerk seine physische Grundlage hat, wird in ebendemselben Moment konstituiert, in dem die nachschaffende Objektsynthese es versteht, und es hat keine von jenem Verstehenserlebnis ablösbare Existenz. Dass uns das Kunstverstehen nicht in der Weise zu gelingen vermag, dass ein Kunstwerk ein für allemal verstanden wäre, hat also seinen Grund darin, dass das Verstehen selbst ein Vollzugserlebnis ist, das als solches weder ein Ergebnis zeitigt noch auch nur konserviert werden kann. Broder Christiansen betont deshalb nicht nur die Sprachähnlichkeit der Kunst, sondern ebenso ihre Sprachunähnlichkeit: [D]er Sinngehalt der Kunst ist vom Sinn gewöhnlicher Sprache so sehr verschieden, daß man gerade das Wesentliche verfehlen würde, wollte man […] den Vergleich übersteigern und die Kunst wirklich als Sprache defi nieren. Wir haben schon als Einschränkung gefunden, daß in der Kunst eigentlich der Sprechende fehlt; jedenfalls ist es nicht der Künstler, der spricht. Wichtiger: was der musische Mensch aus dem Kunstwerk empfängt, ist keine Mitteilung und legt sich nicht in seinen Besitz. Das Kunstwerk übermittelt keine Erkenntnis. Der Sinngehalt hat wohl etwas wie für ein 50

Ebd., 16.

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Schauen, aber als Hauptsache etwas, was gelebt wird; und er überdauert nicht den Augenblick seines Lebens. […] Der Sinngehalt wird liebesähnlich empfangen als ein kurzes, starkes und in seiner Eigenheit unwiederholbares Stück Leben. Der musische Mensch erlebt ein Gedicht oder sonst ein Werk wie eine Umarmung; und den Begriff des Amusischen können wir dem Begriff der Frigidität nahe stellen.51

Sprachunähnlich ist die Kunst in Christiansens Augen also auf Grund der Vollzugsgebundenheit ihres Sinns: Dieser ist für ihn von dem Vollzug des Kunstverstehens im Moment der Kunsterfahrung nicht ablösbar. Was hier Sinngehalt heißt, ist freilich die spezifische Qualität eines Erlebnisses, das derjenige hat, der ein Kunstwerk versteht, d. h. sich erfolgreich um eine nachschaffende Objektsynthese bemüht. Mit der These von der Vollzugsgebundenheit des Sinngehalts künstlerischer Werke legt sich Christiansen daher auf die Annahme fest, dass die werkgemäße Zusammenschau der Elemente, die uns durch die sinnlichen Qualitäten eines Kunstwerks gegeben werden, kein Ergebnis zeitigen kann, das den synoptischen Augenblick zu überdauern vermöchte. Es ist klar, dass sich diese Annahme für Christiansen aus der Subjektgebundenheit des ästhetischen Objekts ergibt, das allein den Gegenstand der Objektsynthese und damit des Kunstverstehens bilde. Ein solcher kunstontologischer Mentalismus ist jedoch einer Reihe von Einwänden ausgesetzt, die ich anderenorts ausführlich dargestellt habe.52 Und es scheint mir wenig plausibel zu sein, das Kunstverstehen derart mit dem Kunsterleben geradezu zu identifizieren, dass sich die vielfältigen Bemühungen der hermeneutischen Kunstwissenschaften nicht mehr als Bemühungen, Kunst zu verstehen, verständlich machen lassen. Die Sprachunähnlichkeit der Kunst bleibt deshalb, wie mir scheint, bei Broder Christiansen unterbestimmt. Im Übrigen bleibt es unklar, wie es der nachschaffenden Objektsynthese einerseits um das Aufspüren eines vom Künstler festgelegten ›Vokabelsinns‹ gehen kann, wenn sie andererseits auf den synoptischen Augenblick begrenzt bleibt. Denn ein auf sprachanalogen Konventionen beruhender ›Vokabelsinn‹, der nur erlebt, aber prinzipiell nicht so ermittelt werden kann, dass er sich auch noch nach dem Augenblick seiner Ermittlung angeben ließe, wäre kein sprachanaloger Vokabelsinn mehr.53 »Kunst ist wie Sprache und Kunst ist nicht wie Sprache«: Für Broder Christiansen ist dies die paradoxe Formulierung eines durchaus nicht paradoxen Sachverhalts. Denn der Kunstbegriff findet hier in doppelter Bedeutung Verwendung. Er bezeichnet zum einen das äußere Kunstwerk, das die sinnliche Grundlage der je subjektiven Konstitution des ästhetischen Objekts bildet; und er bezeichnet zum anderen ebenEbd., 18 f. Vgl. Vf.: Was ist Kunst?, 207–238. 53 Auch in Christiansens zweiter kunstphilosophischer Monographie lässt sich insofern der Grundwiderspruch seines kunstphilosophischen Denkens erkennen: Christiansen definiert das ästhetische Objekt letztlich »durch einen klaren Rückgriff auf eine normative, ontologisch basierte Ästhetik, die er ja eben in seiner Philosophie der Kunst zu überwinden trachtet« (A.A. HansenLöve: Der russische Formalismus, 336). 51

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dieses ästhetische Objekt selbst. Kunst ist für Christiansen wie Sprache nur insoweit, als es sich um das äußere Kunstwerk handelt, das sich den Sinnen darbietet – Kunst ist hingegen für ihn nicht wie Sprache, insofern es sich um das handelt, was die Philosophie der Kunst als ästhetisches Objekt bezeichnet: um jenen Sinn nämlich, den der Kunstverständige erlebend aufzunehmen vermag, ohne dass sich dieser Sinn in einer Weise fassen ließe, die von dem Vollzug solchen Kunsterlebens ablösbar wäre. III »Kunst ist wie Sprache und Kunst ist nicht wie Sprache«: Mir scheint, dass Broder Christiansen die Tragweite dieser kunstphilosophischen These unterschätzt, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen reduziert er Sprache auf ein bloßes Instrument der Repräsentation logischer Gefüge von Sinnelementen. Zum anderen überschätzt er die Kraft sinnlicher Gegebenheiten, gleichsam von sich aus denjenigen, der sie wahrnimmt, in seiner Objektsynthese festzulegen. Gewiss hat Christiansen recht, dass sich einem Kunstwerk keine bestimmte Mitteilung entnehmen lässt, die sich sodann im Besitz des Rezipienten befände. Aber folgt daraus bereits die Unangemessenheit eines jeden Versuchs, ein Kunstwerk als ein sprachähnliches Medium zu begreifen und in ihm ein Vehikel eines Gesprächs zu erkennen, das Künstler und Kunstrezipient miteinander zu führen suchen? Adorno hat es so gesehen: »[…] kein Kunstwerk ist in Kategorien der Kommunikation zu beschreiben und zu erklären«, hält die Ästhetische Theorie apodiktisch fest.54 Und ein einflussreicher Enkelschüler sekundiert, es sei »aussichtslos, Adornos Begriff des ästhetischen Gegenstands kommunikationstheoretisch zu korrigieren«55. Unstrittig dürfte heute indessen sein, dass die Wahrnehmung eines Kunstwerks in einen Verstehensversuch zwar nicht einmünden muss, aber einmünden kann. In dem Bemühen, ein Werk, dessen Manifestation uns sinnlich gegeben ist 56 , zu verstehen, drückt sich aber die Unterstellung einer Bedeutung aus. Die Bedeutung, die wir einem Kunstwerk unterstellen können, ist jedoch eine andere als die jener Cumulonimbuswolke, die ein nahendes Gewitter ankündigt. Und sie ist auch keine absolute Bedeutung, wie sie die Wahrheitsästhetiker von Hegel bis zu Adorno der Kunst zuschreiben.57 Gäbe es nämlich jene eine Wahrheit der Kunst, die die metaphysischen Wahrheitsästhetiker annehmen, forderten uns Kunstwerke nicht immer wieder neu zu Verstehensversuchen heraus, und es wäre auch schwer zu erklären, Th.W. Adorno: Ästhetische Theorie, 167. M. Seel: Die Kunst der Entzweiung, 291. 56 Zur Begründung dieser Redeweise, die der Annahme geschuldet ist, dass Kunstwerke intersubjektiv-instantiale Entitäten sind, die ästhetisch erfahren werden können, insofern sie sich in physischen Objekten manifestieren, vgl. Vf.: Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten. 57 Zur Kritik der Wahrheitsästhetik vgl. K. Hamburger: Wahrheit und Ästhetische Wahrheit; Vf.: Was ist Kunst?. 54 55

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dass die meisten von uns mehr als nur ein einziges Kunstwerk interessiert. Die Bedeutung, die wir einem Kunstwerk unterstellen, ist allerdings auch nicht allein in das Belieben des Rezipienten gestellt. Denn jede Deutung eines Kunstwerks muss sich mit den wahrnehmbaren Eigenschaften seiner Manifestation(en) vermitteln lassen. Divergierende Interpretationen können deshalb unterschiedlich plausibel sein. Wir können also festhalten, dass Kunstwerke etwas bedeuten, ohne dass ihre Bedeutung objektiv im Sinne eines Anzeichens, absolut im Sinne einer metaphysischen Wahrheit oder subjektiv im Sinne beliebiger Projektionen des Rezipienten genannt werden kann. Dieser Befund legt es nahe, ein Kunstwerk in einem bestimmten Sinn als Medium eines kommunikativen Prozesses zu verstehen: Indem wir versuchen, ein Kunstwerk zu verstehen, unterstellen wir, in dem betreffenden Werk manifestiere sich eine Mitteilung, die an keinen bestimmten Adressaten, sondern an jeden gerichtet ist, der ihm als Rezipient seine Aufmerksamkeit schenkt. Eine solche Auffassung interpretiert alle – auch die nicht-verbalen – Kunstwerke als Zeichenkomplexe, die sich von nicht-künstlerischen Zeichen in zweifacher Weise unterscheiden: einmal durch eine besondere Geformtheit, die der Ausdrucksebene Eigenwert verleiht, andererseits durch eine Variation oder Verletzung der semantischen Regeln ihres jeweiligen Mediums – der Sprache etwa oder der Tonalität –, die zur Ausbildung eines ›Idiolekts‹, eines »private[n] und individuelle[n] Code[s]«58 , führt und zugleich das Zeichen als solches und damit den Symbolisierungsprozess selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Rezipienten rückt.59 Im Unterschied zur Alltagssprache lassen sich Kunstwerke aber nicht als Medien begreifen, die zwischen Mitteilendem und Empfänger eine intersubjektive Verständigung erlauben. Ausschlaggebend sind dafür zwei Gründe. Zum einen kann ein Kunstwerk nicht als ein Medium verstanden werden, das wie die Alltagssprache quasi automatisch zur Verfügung steht. Wir können es nur als ein singuläres Zeichen auffassen. Ein solches Zeichen kann aber keine Bedeutung besitzen, die zu dem in einer Sprechsituation nur intern aufzurufenden Hintergrundwissen gehört, das von allen Angehörigen einer Sprachgemeinschaft geteilt wird. Der Einfluss des Kunstproduzenten auf das, was sein Werk ›sagt‹, ist deshalb durch zwei Faktoren begrenzt: durch die Materialität der Manifestationen, aus der die Möglichkeit einer Veränderung des Werks folgt, die nicht in der Absicht des Produzenten liegt60, und durch die »zuschießende Imagination«61 des Rezipienten, ohne die diesem kein Verstehen möglich ist. Ein zweiter Grund ergibt sich aus der Einsicht in den unvermeidlich tentativen Charakter des Kunstverstehens. Nicht nur bleibt das Kunstverstehen meist ein as-

U. Eco: Einführung in die Semiotik, 151. Den zuletzt genannten Aspekt betont vor allem Jan Mukařovský, der dadurch eine besondere »ästhetische Funktion« ästhetischer Zeichen konstituiert sieht (J. Mukařovský: Kunst, Poetik, Semiotik, 63 u.ö.). 60 Vgl. Vf.: Was ist Kunst?, 253 f. 61 H.R. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, 241. 58 59

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pekthaftes und hypothetisches Verstehen.62 Vielmehr fehlt es auch an einer Instanz, die ein bestimmtes Verständnis als richtig auszuweisen vermöchte, und es lassen sich keine Kriterien ausmachen, denen ein bestimmtes Verständnis genügen müsste, um Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen zu können. Der Versuch, ein Kunstwerk zu deuten, kann deshalb nicht in dem Sinn abschließend gelingen, dass sich jeder weitere Verstehensversuch erübrigte. Wenn aber das Verstehen von Kunstwerken in diesem Sinn niemals endgültig abgeschlossen sein kann, lässt sich die Vorstellung, Kunstwerke seien Medien, die Verständigung ermöglichen, nicht aufrechterhalten. Kunstwerke lassen sich allerdings als Medien eines kommunikativen Prozesses sui generis begreifen. Fasst man nämlich den Kommunikationsbegriff weiter als etwa Jürgen Habermas63 und versteht man unter Kommunikation jeden Verweisungszusammenhang eines Zu-verstehen-Gebens und eines Zu-verstehen-Suchens, dann lassen sich Kunstwerke als Medien eines diskontinuierlichen Kommunikationsgeschehens auffassen, und mir scheint es plausibel zu sein, dass unser Urteil darüber, ob ein Artefakt ein Kunstwerk ist, zum Ausdruck bringt, ob wir in ihm ein potentielles Medium eines diskontinuierlichen Kommunikationsprozesses zu erkennen vermögen. Unter diskontinuierlicher Kommunikation wird dabei eine Form medialer Interaktion verstanden, die strukturell nicht auf eine Verständigung der Interaktanten angelegt ist. Bei dieser Kommunikationsform separiert das Medium der Kommunikation vielmehr die Kommunikanten. Die für das Gelingen der Verständigung in alltagssprachlichen Kommunikationsprozessen so notwendige Verbindung zwischen ihnen ist aber unterbrochen, ohne dass dies der Ausdruck eines zu vermeidenden Defekts des kommunikativen Prozesses wäre. Auch in diesem Fall von Kommunikation zu sprechen ist sinnvoll. Denn so lässt sich einerseits der Verweisungszusammenhang von Kunstproduktion und Kunstrezeption sichtbar machen, der sich allein aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive nicht erschließt, weil aus ihr nicht erklärlich wird, was zur Produktion von Kunstwerken motiviert. Andererseits lässt sich so die unplausible Assimilierung von Kunstwerken an alltagssprachliche Sprechakte vermeiden. Denn die Interpretation eines Kunstwerks als Medium einer diskontinuierlichen Kommunikation impliziert nur, dass ein Kunstwerk insofern Zeichencharakter besitzt, als es das Resultat eines Zu-verstehen-Gebens – der künstlerischen Produktionstätigkeit – und zugleich der Gegenstand eines Zu-verstehens-Suchens – der kunstspezifischen ästhetischen Erfahrung – ist. Kunstwerke sind demnach kommunikative Zeichen in einem ganz bestimmten Sinn: Sie repräsentieren nicht, sondern teilen etwas Bestimmtes in der eigentümlichen Weise mit, dass der, dem die Mitteilung gilt, weil er ein Werk ästhetisch erfährt, lediglich mitgeteilt bekommt, dass ihm eine bestimmte Mitteilung gilt, ohne dass er deren Inhalt definitiv zu bestimmen vermöchte. Kunst ist also wie Sprache – denn sie ist das Medium eines Mitteilens, das durch ein Artikulationsbe62 63

Vgl. dazu R. Bubner: Ästhetische Erfahrung, 41 ff. Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns.

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gehren ausgelöst wird und auf Grund der Singularität ebenjenes Mediums, dessen es sich bedient, die Neugier eines Publikums weckt. Und Kunst ist zugleich nicht wie Sprache – denn sie ist ein singuläres Medium, das den Gehalt, um dessen Mitteilung willen es hervorgebracht wurde, nicht preisgibt, so dass das Kunstpublikum über ihn nur Mutmaßungen anstellen kann. Eine materiale Philosophie der Kunst, die diese Bestimmung näher zu entfalten suchte, hätte zu prüfen, ob sich Indizien ausmachen lassen, an denen sich unser Urteil zumindest meistens orientiert, wenn wir darüber befinden, ob ein bestimmtes Artefakt ein Medium einer solchen diskontinuierlichen Kommunikation und also ein Kunstwerk ist. An dieser Stelle hätte, wie mir scheint, auch die Analyse von Differenzqualitäten ihren Ort, und es steht zu vermuten, dass eine solche materiale Philosophie der Kunst aus Einsichten Broder Christiansens und des russischen Formalismus Gewinn ziehen könnte.

Literatur Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, hg. von G. Adorno und R. Tiedemann (Gesammelte Schriften, Bd. VII), Frankfurt a. M. 21972 Bubner, Rüdiger: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989 Christiansen, Broder: Die Kunst, Buchenbach 1930 – Kritik der Kantischen Erkenntnislehre (Kantkritik. Erster Teil), Hanau 1911, Berlin-Steglitz 2 1912 – Philosophie der Kunst, Hanau 1909, Berlin-Steglitz 21912 [russ.: Filosofija iskusstva, Sankt Petersburg 1911] – Plane und lebe erfolgreich, München 1954 – Willensfreiheit, Stuttgart 1947 Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, München 61988 Gerigk, Horst-Jürgen: Wer ist Broder Christiansen? Differenzqualität, Dominante und Objektsynthese: drei Schlüsselbegriffe seiner »Philosophie der Kunst« (1909), in: C. Dutt/ R. Luckscheiter (Hgg.): Figurationen der literarischen Moderne. Helmuth Kiesel zum 60. Geburtstag, Heidelberg 2007, 85–105. URL: www.horst-juergen-gerigk.de/aufsätze/wer-istbroder-christiansen/ [Zugriff am 12.07.2013] – Zur internationalen Bedeutung Broder Christiansens in der Literaturwissenschaft , in: A. Thomsen (Hg.): Wer war Dr. Broder Christiansen? Ein Dorf entdeckt und ehrt seinen vergessenen Sohn. Leben und Wirkung eines deutschen Philosophen, Neukirchen 2008, 48–63 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1981 Hamburger, Käte: Wahrheit und Ästhetische Wahrheit, Stuttgart 1979 Hansen-Löve, Aage A.: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1978 Jakobson, Roman: Die Dominante (1935), in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, hg. von E. Holenstein und T. Schelbert, Frankfurt a. M. 31993, 212–219 Jauß, Hans R.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970 Maerker, Peter: Die Ästhetik der südwestdeutschen Schule, Bonn 1973 Mukařovský, Jan: Kunst, Poetik, Semiotik, hg. von K. Chvatík, Frankfurt a. M. 1989

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Schmücker, Reinold: Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten, in: ders. (Hg.): Identität und Existenz. Studien zur Ontologie der Kunst, Paderborn 32009, 151–179 – Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998 Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt a. M. 1985 Šklovskij, Viktor: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren, in: J. Striedter (Hg.): Russischer Formalismus, München 51994, 38–121 – O teorii prozy [Über die Theorie der Prosa], Moskau 1925 Volkelt, Johannes: System der Ästhetik, Bd. I, München 1905 Wellek, René: A History of Modern Criticism: 1750–1950, Bd. VII: German, Russian, and Eastern European Criticism, 1900–1950, New Haven, Conn./London 1991

Kunst und Sprache als zwei symbolische Formen in den nachgelassenen Schriften Ernst Cassirers Christian Möckel

I. Einleitendes Es mag auf den ersten Blick etwas verwunderlich erscheinen, auf einer Konferenz zur russischen Ästhetik und Sprachtheorie während der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts die Sprach- und Kunstphilosophie des deutschen Symbolphilosophen Ernst Cassirer zu thematisieren. Zumal die beiden, dem russischen Leser jener Zeit bekannten, ins Russische übertragenen Werke selbst wenig, oder besser gar nichts, mit Sprache und Ästhetik bzw. ihrem zu vermutendem strukturellen Zusammenhang zu tun haben.1 Dennoch ist das philosophische Werk Cassirers in Russland nicht nur einfach aufmerksam verfolgt und rezipiert worden, sondern war selbst mehrfach Gegenstand von Vorträgen und Diskussionen an der GAChN. So hielt Aleksej Losev am 15. November 1926 in deren philosophischer Abteilung den Vortrag »Filosofia simvoličeskich form u Kassirera«.2 Zur selben Zeit setzte sich Losev mit Cassirers Philosophie des Mythischen, d. h. dem 1925 erschienenen Band Das mythische Denken, auseinander.3 Später, im November 1927 und im März 1928, hielt auch Boris Focht an der GAChN zwei Vorträge über die Philosophie Cassirers.4 Die überaus große Bedeutung der Cassirer’schen Philosophie der symbolischen Kulturformen für die an der GAChN laufenden Debatten wird umrissartig fassbar in den Forschungen Nina Dmitrievas (Moskau)5 und Roman Mnichs (Siedlce);6 die deutsche Cassirerforschung hat davon im Grunde noch keine oder kaum Kenntnis genommen. Der nachstehende Beitrag stellt sich eine spezielle und bescheidene Aufgabe: er bietet keine grundsätzliche Abhandlung über das Verhältnis von Sprache und Kunst in der Philosophie Ernst Cassirers, auch die beiden kulturellen Medien Kunst und Sprache sollen nicht als solche, wie sie in seiner Symbolphilosophie konzipiert sind, zur Darstellung kommen, sondern es wird allein um diejenigen ihnen gewidmeten Es handelt sich um die beiden in Deutschland durchaus recht bekannten Bücher Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntnis (1910), erschienen 1912 als Poznanie i dejstvitel’nost’. Ponjatie substancii i ponjatie funkcii (Übersetzung von B. Stolpner und P. Juškevič), und Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1920), erschienen 1922 als Teorija otnositel’nosti Ėjnstejna (Übersetzung von E. Barlovič und I. Kolubovskij). 2 Vgl. V.P. Troickij: Kommentarij, 758. 3 Vgl. A.F. Losev: Teorija mifičeskogo myšlenija u Ė. Kassirera (1926/27), veröffentlicht u. a. in: Ė. Kassirer: Izbrannoe. Opyt o čeloveke, Moskau 1998, 730–760. 4 Vgl. V.P. Troickij: Kommentarij, 759. Dazu auch: B.A. Focht: Ponjatie simvoličeskich form. 5 Vgl. N.A. Dmitrieva: Russkoe neokantianstvo, 159–207, 279–314, 348–369, 383–392. 6 Vgl. R. Mnich: Ėrnst Kassirer v Rossii. 1

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

Kunst und Sprache in den nachgelassenen Schriften Ernst Cassirers

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Bemerkungen gehen, die sich im nachgelassenen Werk Cassirers finden. Dabei stehen die Texte im Mittelpunkt des Interesses, die ich in den vergangenen Jahren für die Veröffentlichung als ECN4 im Felix Meiner Verlag vorbereitet habe.7 Dieser Nachlassband enthält die beiden Ausarbeitungen »Praesentation und Repraesentation« und »Praegnanz, symbolische Ideation«, die 1926/27 im Zusammenhang mit der Arbeit am 3. Teil der Philosophie der symbolischen Formen (1929)8 – sowie am nachgelassenen 4. Teil9 – entstanden sind. Er umfasst außerdem die Vortragsmanuskripte »Der Begriff der Form als Problem der Philosophie« (1924), »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung« (1927), »Vortrag: Symbolproblem« (1932) und »Vom Einfluss der Sprache auf die naturwissenschaft liche Begriffsbildung« (1936), die Ausarbeitung »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1936), die der Vorbereitung der Göteborger Vorlesung über »Probleme der Kulturphilosophie«10 diente, und schließlich die einzig bekannte Vorlesungsmitschrift aus dem Hamburger Sommersemester 1922: »Grundprobleme der Sprachphilosophie«. In den nachgelassenen Texten Cassirers, die seit 1995 bis voraussichtlich 2015/16 Band für Band erscheinen, tritt uns zwar kein völlig anderer Cassirer entgegen als der, den wir aus seinen Veröffentlichungen zu Lebzeiten kennen. Aber wir erleben in ihnen einen Cassirer, der sich weit mehr als aus letzteren ersichtlich für neue Entwicklungen in der zeitgenössischen Philosophie interessiert, sich mit ihnen auseinandersetzt und sich in ihnen zu positionieren sucht, so in den neuen Disziplinen Philosophische Anthropologie und Kulturphilosophie, oder in den Strömungen der Lebensphilosophie, des logischen Positivismus und des Linguistischen Strukturalismus. Außerdem treffen wir in den Nachlassbänden auf einen Cassirer, der insbesondere in den 30er Jahren außerordentlich produktiv nach neuen Ansätzen für eine ›Tieferlegung der Fundamente‹ (Kant) seiner Philosophie sucht und dafür eine Theorie der ›Basisphänomene‹, eine ›Metaphysik der symbolischen Formen‹ und eine Theorie der Ausdrucksphänomene entwirft. Und schließlich sind es die nachgelassenen Texte, in denen er große Anstrengungen wissenschaftsphilosophischer Art unternimmt, die Kulturwissenschaft und die Historie als eigenständige Typen von Wissenschaft grundzulegen, so dass sie mit der Naturwissenschaft auf gleicher Augenhöhe stehen können, ohne aber ihrer Spezifi k verlustig zu gehen. Den Ausführungen in der Sache sollen noch zwei Bemerkungen und eine Erklärung vorangeschickt werden. Zum einen hat Cassirer, wie bekannt, der Sprache als

E. Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte [im Folg. zit. als ECN und mit der jeweiligen Bandnummer versehen], Bd. IV: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und »Wiener Kreis«. 8 E. Cassirer: Gesammelte Werke [im Folg. zit. als ECW und mit der jeweiligen Bandnummer versehen], Bd. XIII: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis. 9 E. Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. I: Zur Metaphysik der symbolischen Formen (ECN1). 10 E. Cassirer: Probleme der Kulturphilosophie (ECN5). 7

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symbolischer Form nicht nur die Vorlesung im Sommersemester 192211 und den 1. Teil: Die Sprache der Philosophie der symbolischen Formen (1923), sondern auch eine ganze Reihe von Aufsätzen und Vorträgen gewidmet. Der Kunst (bzw. der ästhetischen Theorie), die ebenfalls von Anfang an als wichtige symbolische Form galt, hat er keine solche systematische Bearbeitung angedeihen lassen. Die systematischste Behandlung erfährt sie noch 1944 im Essay on Man Kapitel IX.12 Zum anderen hält sich Cassirer nicht mit der Frage auf, ›was‹ Sprache und Kunst ihrem Wesen nach sind, sondern ihn beschäftigt grundsätzlich, welche Funktion, welche sinngestaltende und objektivierende Rolle sie im ›Aufbau‹ der Welt der Kultur, zu der auch die Naturwissenschaften gehören, spielen. Dabei fragt er sowohl nach ihrer allgemeinen, gemeinsamen Funktion als symbolische Formen, als Medien, mit deren Hilfe sich der Mensch Schritt für Schritt aus der ursprünglichen Unmittelbarkeit des Lebens herausarbeitet, als auch nach ihrer spezifischen Funktion als sprachlicher bzw. ästhetischer Mediation. Dies wird an den anschließend zu referierenden Texten deutlich. Bevor wir uns diesen und den in ihnen enthaltenen Aussagen zu Sprache und Kunst zuwenden, soll noch kurz der zentrale philosophische Begriff der symbolischen ›Form‹ erläutert werden, auf den Cassirer seit seiner Hamburger Zeit (1919– 1933) seine gesamte Philosophie baut, die er auch als Formenlehre, als ›Morphologie‹ der Kultur versteht.13 Zunächst haben wir unter einer Form ein bestimmtes Sinnund Ordnungsgefüge der Kulturwelt zu verstehen, innerhalb dessen bestimmte einzelne kulturelle Phänomene (z. B. sprachliche) ihren verstehbaren, entschlüsselbaren Sinn erfahren. Gleichzeitig repräsentieren die einzelnen Sinn-Phänomene, die immer auch eine sinnliche Dimension aufweisen, dieses jeweilige geistige und kulturelle Ordnungsgefüge (System, Struktur) und damit die Bedeutung, die sich in ihm verkörpert. Dies nennt Cassirer auch symbolische ›Prägnanz‹.14 In dem Tatbestand, dass alle kulturellen Phänomene eine repräsentative Funktion erfüllen, erweist sich nicht zuletzt ihr symbolischer, vermittelnder Charakter.15 Jedem Gefüge, jeder Form eignet zudem ein eigentümliches Struktur- oder Formgesetz, ein besonderes inneres Prinzip, das die ›Richtung‹ – d. h. den jeweiligen besonderen Sinn – ihrer Wirkung, ihrer Repräsentation und Symbolisierung im und durch das konkrete Werk der KulDie Vorlesung über Grundprobleme der Sprachphilosophie hatte Cassirer 1922 mit der systematischen Aufgabe verbunden, die »Eigentümlichkeit der Sprache im Ganzen der geistigen Formen [zu] betrachten. Die Form der Sprache [müsse] als solche bestimmt und von anderen geistigen Formen geschieden werden«. – E. Cassirer: Grundprobleme der Sprachphilosophie (ECN4), 238. 12 Allerdings betrachtet Cassirer bereits in der Vorlesung zur Sprachphilosophie Sprache und Kunst als zwei entscheidende Hauptgebiete der Kultur, der geistigen Gestaltung, die auf verschiedene Weise die drei »Phasen des Ausdrucks: sinnlicher, anschaulicher, begriffsmäßiger Ausdruck« durchlaufen, ebenso wie die des mimischen, analogischen und symbolischen Ausdrucks. – E. Cassirer: Grundprobleme der Sprachphilosophie (ECN4), 239, 241 ff. Vgl. auch den nachgelassenen Text »Language and Art« (ECN7). 13 Vgl. dazu auch Ch. Möckel: Formenschau, Formenwandel und Formenlehre, 64-73. 14 E. Cassirer: Praegnanz, symbolische Ideation (ECN4), 59. 15 Ders.: Praesentation und Repraesentation (ECN4), 38. 11

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tur vorgibt. Gleichzeitig erfüllen alle geistigen und Kulturformen eine einheitliche, universale Funktion des sinnhaften Kulturweltaufbaus, des Aufbaus des Bewusstseins von einer Kulturwelt. In diesen Gefügen, die auf ›Funktionen‹ oder ›Energien‹ (Humboldt) des menschlichen Geistes zurückgehen, schafft und gestaltet der Mensch und wird dabei von ihnen jeweils motiviert, die Welt so oder so – als Sprachwelt, als ästhetische oder technische Welt – zu ›sehen‹ und an ihr weiter zu ›bilden‹. Die Formen der Kultur müssen vom Menschen, damit sie ihm während seiner bildenden Tätigkeit zur Verfügungen stehen können, ›entdeckt‹ oder ›erfunden‹ werden, müssen sich in seinen Werken und Lebensverhältnissen ›verkörpern‹, ›objektivieren‹, um danach als ›bleibende‹ nicht mehr aus der Welt zu verschwinden. Als – symbolische – Medien bezeichnet Cassirer die Formen der Kultur, d. h. die entsprechenden Sinngebilde, die kulturelles Tun und kulturelle Werke motivieren und mit Sinn versehen, auch deshalb, weil sie als eine Art Zwischenwelt sich zwischen das organisch-vitale Dasein (Lebensunmittelbarkeit) und die Ideenwelt (geistige Funktionen) setzen und so die eigentlich menschliche Welt der Kultur stiften.16 Die Formen fasst Cassirer zudem als ›lebendige‹ Formen auf, was u. a. das paradoxe Verhältnis von Bestand, Beharrendem, ›Starrheit‹, ›Ewigkeit‹ (Identität) der Form und ihrer ›Beweglichkeit‹, Veränderlichkeit, Wandlungsfähigkeit meint. Die »gewissen, relativ-gleichbleibenden Formen« gebären sich in immerzu neuer Gestalt, durchlaufen also eine Metamorphose. Cassirer gebraucht einen ›dynamischen Formbegriff‹, wonach die Formen »in keinem Moment sich selbst gleichen«, sondern ›flüssig‹ werden, »ohne in dieser Flüssigkeit zu ›verschwimmen‹«.17 ›Lebendige‹ Form steht aber auch – im Anschluss an Goethe und Hegel – für den Tatbestand einer ideellen Genesis, die die strukturimmanenten Stufen Ausdruck/ Wahrnehmung – Darstellung/ Anschauung – Bedeutung/ Denken durchläuft, was ebenfalls gleichzeitig einen Formwandel (Metamorphose) bedeutet. Sowohl die Stufen der Formen als auch die vielfältigen Formen unterschiedlichster Sinngefüge bilden eine Totalität von Formen, die die Philosophie kontemplativ-analytisch und kontemplativ-historisch (d. h. ideell-genetisch) zu erfassen hat.

II. Sprache, Kunst und Wahrnehmung Ein immer wiederkehrendes Thema in den uns interessierenden nachgelassenen Texten bildet das Nachdenken Cassirers über den Anteil, den die Sprache an der Sinnbestimmtheit der sinnlichen Wahrnehmung hat. Den sensualistischen und positivistischen Theorien setzt er – so in den nachgelassenen Texten von 1926/27 – seine

16 Ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIII: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (ECW13), 319. 17 Ders.: Beilage »Form« (ECN3), 223 f.

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Theorie vom ›Symbolwert der sinnlichen Wahrnehmung‹18 entgegen, wobei er sich u. a. von Husserl bestätigt sieht. Nach dieser Auffassung erfüllt sich die Wahrnehmung »mehr und mehr mit bedeutungsmäßigem Gehalt« bzw. mit »Bedeutungsnuancen«, d. h. »sie besagt etwas«. In diesem Zusammenhang ist sogar von der »Sprache und […] ›Grammatik‹«, vom »Logos der Wahrnehmungswelt selbst« die Rede. In solch einem weiten oder metaphorischen Sinne spricht Cassirer gern davon, dass auch die einzelnen Wissenschaften jeweils ihre eigentümliche ›Sprache‹ hätten und lehnt deshalb die Rede von einer ›Universalsprache‹ der Wissenschaft (Leibniz, Carnap) kategorisch ab.19 Mit dem Terminus ›bedeutungsmäßiger Gehalt‹ der Wahrnehmung will er zum Ausdruck bringen, dass deren ›Zeichenwert‹ gegenüber dem bloßen ›Inhaltswert‹ immer mehr anwächst und diesen zuletzt hinter sich lässt. Damit entstehe für uns »erst die bewußte Wahrnehmungswelt«.20 In ihr lasse sich bereits das »Urphänomen der Repräsentation« aufweisen, d. h. schon beim Wahrnehmen lesen und erschauen wir einen »Bedeutungs- oder Sinnzusammenhang«.21 An dieser Form der »(Sinn-)Bestimmtheit der Wahrnehmung« habe »auch die Sprache […] entscheidenden Anteil – wir können sie eigentlich bei der ›Deutung‹ der Wahrnehmungen (ihrer Fixierung, Unterscheidung als ›diese‹ und ›andere‹) gar nicht wegdenken«.22 Wie in seinem Londoner Vortrag über den Zusammenhang von Sprache, Denken und Wahrnehmung (1927)23 kommt Cassirer auch in seinem Lunder Vortrag über den Einfluss der Sprache auf die naturwissenschaft liche Begriffsbildung (1936) auf seine These von den »engen Beziehungen […], die zwischen der Struktur der Sprachwelt und der der Wahrnehmungswelt« bestehen, zurück.24 Dabei betont er wiederum die »ständige Wechselbeziehung zwischen Sprachstruktur und Wahrnehmungsstruktur«.25 Durch die »engen funktionellen Beziehungen«, die »zwischen Sprache und Wahrnehmungswelt« bestehen, erfahre letztere »Strukturveränderungen […] durch die Sprache«, insbesondere wenn das sprachliche »Symbolbewußtsein« entsteht und wirksam wird.26 Diese Abhängigkeit bestehe aber auch umgekehrt: wie »die Form der Sprache […] sich als eine wichtige und wesentliche Bedingung für den Aufbau des Wahrnehmungsbewußtseins« erweist, so ist es »die Art der Wahrnehmung […], die ihrerseits wieder auf den Sprachakt zurückwirkt und die den Gebrauch, die Ausbildung und Entwicklung der Sprache bestimmt.« Als Beleg für diese engen funktionellen Beziehungen verweist Cassirer auf Erkenntnisse der Sprachpathologie, wonach »pathologische Veränderungen oder der vollständige Verlust der 18 19 20 21 22 23 24

Ders.: Praesentation und Repraesentation (ECN4), 3. Ders.: [Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹] (ECN4), 154, 157, 186, 205. Ders.: Praesentation und Repraesentation (ECN4), 3. Ebd., 5. Ebd., 6. Ders.: [Über Sprache, Denken und Wahrnehmung] (ECN4), 287 f. Ders.: Vom Einfluss der Sprache auf die naturwissenschaft liche Begriffsbildung (ECN4),

110. 25 26

Ebd., 112. Ebd., 122.

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Sprache niemals allein stehen, sondern […] die gesamte Vorstellungs- und Wahrnehmungswelt entscheidend beeinflussen und umgestalten«.27 Bereits in seinem Londoner Vortrag (1927) hatte er darauf hingewiesen, dass die Sprachpathologie den klarsten »Einblick in die innere Abhängigkeit der Wahrnehmungswelt von der Form und Struktur der Sprachwelt« biete. Es scheint, so hieß es hier, daß der innere Konnex beider Welten erst dort in voller Klarheit und mit besonderem Nachdruck zu Tage tritt, wo, durch besondere krankhafte Bedingungen, das Band zwischen beiden sich zu lockern beginnt. Erst dann wird ganz deutlich, wie viel die Welt der Perzeption selbst dem Medium der Sprache verdankt – wie sehr jede Störung oder Beeinträchtigung der geistigen Vermittlung, die die Sprache darstellt und herstellt, die ›unmittelbare‹ Gestalt unserer Wirklichkeit, der theoretischen sowohl wie der praktischen, angreift.28

Der ›Symbolwert‹ der Wahrnehmung kommt nach Cassirer auch darin zum Ausdruck, dass sie vom Urphänomen der Prägnanz gekennzeichnet, bestimmt ist. Bezieht sich doch die Wahrnehmung, die durch ihr »Hinauswachsen, Hinausweisen […] über sich selbst« einen ›Ausdruckswert‹ besitzt, auf eine bestimmte Sinntotalität, die sich in ihr darstellt und die von ihr repräsentiert wird.29 Auf diese Weise gibt sich die Wahrnehmung, d. h. jeder Wahrnehmungsvollzug, als ›symbolisch geformt‹, ohne selbst schon eine symbolische Form zu sein bzw. sein zu können. Eben dieses symbolische Geformtsein der Wahrnehmung, und damit ihren ›Symbolwert‹, bezeichnet Cassirer als Urphänomen der Sinnprägnanz.30 Prägnanz steht hier für die »Einheit der Gestalt, des synthetischen Prinzips, die alles Einzelne durchdringt«, so dass das Einzelne nicht nur ›für‹ das Ganze steht, sondern bedeutungsmäßig geradezu das Ganze ›ist‹.31 Die jeweilige Prägnanz ermöglicht und erzwingt eine je spezifische ›Hinsicht‹, unter der die konkrete Formung steht, ein je spezifisches Zusammenschauen aller Momente zu einem Ganzen. Diese symbolische Prägnanz der Wahrnehmung werde nun am deutlichsten an den ästhetischen Phaenomena, ist aber von ihnen auf das Ganze des Sinnes [d. h. auf jegliche Sinnordnung – C.M.] zu übertragen./ Wie jeder [wahrgenommene – C.M.] Ton einer Melodie im Ganzen eben dieser Melodie ›steht‹, nur in diesem Ganzen ›ist‹, wie er nicht nur als einzelner Klang von dieser oder jener Intensität und Qualität ›da ist‹, physisch existiert, sondern eine ›Atmosphäre um sich her hat‹ (Goethe) – wie er eingebettet, eingetaucht ist in das Meer der Melodie, ihre Dynamik, ihre Rhythmik, ihr unendliches Wogen – so gilt dies von allen ›sinngebenden‹ Momenten, selbst innerhalb des rein theoretischen Sinnes.32 27 28 29 30 31 32

Ebd., 112. Ders.: [Über Sprache, Denken und Wahrnehmung] (ECN4), 291 f. Ders.: Praesentation und Repraesentation (ECN4), 7. Ders.: Praegnanz, symbolische Ideation (ECN4), 51 f. Ebd., 78. Ders.: Praesentation und Repraesentation (ECN4), 8.

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Der Prägnanz auf ästhetischem Gebiet als einer eigenen »Art der Verkettung, Verklammerung«, als einer »eigentümlichen, individuellen Stimmungs-Prägnanz«, geht Cassirer im Text »Prägnanz, symbolische Ideation« noch einmal gesondert nach, um sie von der Prägnanz des Mythischen und der theoretischen Naturerkenntnis abzuheben. »Wir haben den Eindruck«, so heißt es hier, daß wir aus einem echten Kunstwerk kein Moment ›herausnehmen‹ können, ohne das Ganze zu zerstören – / Das Einzelne ist hier der Träger jener Einheit der ›Stimmung‹, die durch das Ganze geht – / jede Änderung irgend eines Einzelzugs eines Gemäldes, oder einer Symphonie, vermag diese Einheit der ›Stimmung‹, der spezifisch ästhetischen ›Sicht‹, aus der gerade dieses Kunstwerk geboren wurde, zu vernichten.33

Im Kunstwerk bzw. der ästhetischen Sicht habe sich die »Welt der Töne, Farben, Gestalten […] loslöst von dieser ganzen ›wirklichen‹ und ›wirkenden‹ Welt, um nur noch in ihrer eigenen Ebene zu schwingen, in ihrer eigentümlichen ›Stimmung‹ erfaßt zu werden«.34 Denn im echten Kunstwerk herrscht eben jene ›Determination‹ alles Besonderen, Einzelnen durch die Einheit des ästhetischen ›Sinnes‹ des Ganzen – / hier soll schlechthin nichts ›zufällig‹ sein, sondern irgendwie mit dem Ganzen ›verwoben‹ sein – / insbesondere auch die ›Erlebnismomente‹, die in das Kunstwerk eingehen – […] das Verwobensein – / oder in einem lyrischen, einem musikalischen Kunstwerk –/ alles ist wie ›eingetaucht‹ in die Einheit des Sinnes, der spezifischen, ganz-individuellen Stimmung, die über dem Ganzen liegt. 35

In diesem prägnanten Stimmungsganzen lässt sich eben nichts herauslösen, ohne diese Einheit der Stimmung zu gefährden, unter Umständen ganz zu zerstören – […]/ und andrerseits genügt jedes noch so flüchtige Element, jeder Worthauch, jeder Klang, jedes flüchtige Licht, um das Ganze dieser Stimmung wieder in uns hervorzuzaubern – / eben darin besteht ja die eigentümliche Magie des Kunstwerks.36

Auch das Urphänomen ästhetischer Prägnanz bzw. Relevanz, wie es Cassirer gelegentlich umschreibt, werde besonders fasslich, wenn es zu ihrem Verlust durch pathologische Störungen (Amusie) kommt, wenn »Töne gehört, aber keine Melodie mehr ›gehört‹, d. h. zur intuitiven Einheit zusammengeschlossen werden kann.«37 Dann ist die Prägnanz als die »symbolisch-intuitive Zusammenfassung« aufgehoben. Bei all diesen Überlegungen Cassirers gilt die Kunst, das Ästhetische vor allem als eine Form, als ein Sinngefüge unter anderen, und nicht spezifisch als Kunstform. In diesem Sinne wird in den ausgewerteten nachgelassenen Texten häufig Bezug auf 33 34 35 36 37

Ders.: Praegnanz, symbolische Ideation (ECN4), 79. Ebd., 79. Ebd., 82. Ebd., 82 f. Ebd., 71.

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die Kunst genommen. In dem Vortragsmanuskript »Symbolproblem« beigelegten Notizen sieht Cassirer demgegenüber den eigentümlichen »Charakter der künstlerischen Form«, die »Eigentümlichkeit des Ästhetischen«, das »Eigentümliche der ästhetischen ›Reflexion‹« darin, dass sich die Kunst in der »reinen Gegenwart« bewege, z. B. indem sie »Vergangenes in ein Bild […] verwandelt«.38 Goethe zitierend heißt es hier: »Man weicht der Welt nicht sicherer aus ›als durch die Kunst und man/ verknüpft sich mit ihr nicht sicherer als durch die Kunst‹/ das ›reine Beruhen im Gegenstand‹«.39 Der Vollständigkeit der Cassirer’schen Argumentation halber soll nicht unerwähnt bleiben, dass er – auch – in den ausgewerteten nachgelassenen Texten vehement dagegen polemisiert, die Prägnanz in der Wahrnehmung bzw. die Leistungen symbolischer Formung wie Intentionalität, Bedeutungsgebung, Auffassungsweise auf bloße Akte des Verstandes, des logischen Denkens zu reduzieren, wie es der Philosoph Hans Cornelius40 tue, und so das Eigentümliche der sprachlichen oder ästhetischen Formung bzw. Prägnanz als völlig eigenständiger »noologischer Formen«, oder Formen von Prägnanz, zu übersehen und damit zu verlieren.41 Nach Cassirers Überzeugung trägt jegliche Form den Charakter von Prägnanz, nicht nur die symbolischen Formen der Kultur; so kennt er neben der »künstlerischen« bzw. »ästhetischen« Prägnanz auch jeweils eine räumliche, zeitliche und geometrische Prägnanz 42 , wie schließlich das »Erlebnis der Wahrnehmungsprägnanz«.43 Cassirer fügt seiner Analyse des Symbolcharakters der Wahrnehmung noch einen wichtigen philosophischen Gedanken hinzu, wenn er erklärt, dass die durch ihn vollzogene strukturelle »Einordnung der Wahrnehmung« in den ›Bedeutungskreis‹ des Ästhetischen, wie übrigens auch »in die Sphäre des […] mythischen, theoretischen oder religiösen ›Sinnes‹«, bereits das »Produkt einer Abstraktion« sei, da »ursprünglich all diese Kreise in ihr selbst noch ganz undifferenziert ineinanderliegen. Jede Wahrnehmung hat [ursprünglich – C.M.] zugleich theoretischen, religiösen, mythischen, ästhetischen ›Charakter‹«.44 Um uns den »eigentlichen Sinn« der Wahrnehmung, das »Urphänomen der symbolischen Bedeutung deutlich zu machen, müssen wir all diese nachträglichen Scheidungen wieder aufheben.«45 Dabei gilt Cassirer die ästhetische Wahrnehmung als »Offenbarung eines Lebenszusammenhangs und eines Lebensganzen«.46 Der Künstler handhabe Farben und Töne als Manifestation eines inneren Lebens, »er lebt in ihnen«, er lebt »in der Ders.: Vortrag: Symbolproblem (ECN4), 105. Ebd., 105. 40 Vgl. H. Cornelius: Transcendentale Systematik. 41 E. Cassirer: Praesentation und Repraesentation (ECN4), 14; Ders.: Praegnanz, symbolische Ideation (ECN4), 51 f. 42 Ders.: Praegnanz, symbolische Ideation (ECN4), 70 f. 43 Ebd., 79. 44 Ders.: Praesentation und Repraesentation (ECN4), 8. 45 Ebd. 46 Ebd., 9. 38 39

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›Atmosphäre‹ von Lebendigkeit, die der Wahrnehmung eignet«. Wegen des ursprünglich bedeutungs- bzw. sinnmäßig ›integralen‹, ›vollen‹, noch ungeschiedenen Charakters der Wahrnehmung sind wir in jedem noch nicht der abstraktiven Scheidung unterzogenen Wahrnehmungsvollzug »zugleich Künstler«, d. h. agieren wir unmittelbar als Künstler, wie eben auch als mythische oder sprachliche Weltschöpfer. Darauf anspielend spricht Cassirer von der »Unzerstörlichkeit des Ästhetischen«, ebenso, wie er von der »Unzerstörlichkeit des Mythischen« spricht.47 Beides, das Mythische und das Ästhetische, seien »nicht nur irgendwelche willkürlichen Haltungen, von denen aus wir die Welt nachträglich ›deuten‹, – sondern es sind bleibende Charaktere jeder Voll-Wahrnehmung, Integralwahrnehmung selbst«.48 Damit wird durch Cassirer, was bislang in der Cassirerforschung wenig Beachtung findet, das Ästhetische, neben dem Mythisch-Magischen-Religiösen, nicht nur zur ursprünglichen, sondern auch zur unausrottbaren Sinn-Richtung menschlicher Welt- und Selbstwahrnehmung überhaupt erklärt.49 Der Verweis auf die – etwa zur selben Zeit niedergeschriebene – Rede von der ›großen geistigen Trias‹, die durch Mythos, Sprache und Kunst gebildet wird, 50 führt uns nun auf ein weiteres und letztes Thema: Sprache und Kunst als symbolische Formen.

III. Sprache und Kunst als symbolische Formen In jeder sinnlichen Wahrnehmungsleistung waltet nach Cassirer also bereits die Urfunktion des Hinweisens und ›Bedeutens‹, weshalb auch sie einen Symbol-, Ausdrucks- und Funktionswert besitzt. Auf diese Urfunktion stütze sich letztlich »alle [eigentliche – C.M.] symbolische Gestaltung (in Sprache, Kunst, Mythos, Theorie)«.51 Cassirer unterscheidet folglich zwischen der »untersten Stufe der Gestaltbildung (Symbolbildung)«, die vom »wahrnehmenden Bewußtsein« gebildet wird, und den »höheren geistigen Formen des Symbols (Sprache, Mythos [etc.])«.52 Unter den immer wieder bemühten »Formen der Sinngebung« taucht die ästhetische Form nicht nur mehrfach auf, sondern sie erfährt auch – gemeinsam mit der Sprache – eine besondere Auszeichnung, was die 1927/28 im nachgelassenen Ms. für den 4. Band der Philosophie der symbolischen Formen niedergelegte Rede von der ›großen geistigen Trias‹ Mythos, Kunst und Sprache ebenfalls andeutet. Damit haben wir auch schon den Eindruck angedeutet, dass in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen im Grunde einige Formen privilegiert werden: der Mythos als erste, ursprüngliche Welt- und Kulturform und als Quellgebiet aller anderen, und dann in Bezug zum Mythos einmal Kunst und Sprache, ein andermal die 47 48 49 50 51 52

Ebd. Ebd. Ebd., 10. Ders.: Zur Metaphysik der symbolischen Formen (ECN1), 87 f. Ders.: Praesentation und Repraesentation (ECN4), 11. Ebd., 45.

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Technik (Werkzeug). Auch wenn der Zusammenhang der beiden grundsätzlichen Sinn- und Formenübergänge nicht immer klar entwickelt wird, verfolgt Cassirer doch in beiden Argumentationsrichtungen das Sichherausarbeiten des Menschen aus mythisch-magischen, unmittelbar-praktischen oder gar aus rein organisch-vitalen Lebensbezügen. Deshalb hat er hier, in Anlehnung gewissermaßen an Georg Simmels »große Achsendrehung des Lebens«, die eine »Wendung zur Idee« bedeutet,53 überall die sogenannte »ideelle Sinnwendung« im Blick,54 die den Menschen erst zum Menschen der Kultur macht. So sieht er in dem scheinbar der bloßen Nutzbarkeit verhafteten »›technische Wirken‹ […] das Grundmittel, kraft dessen sich der Mensch in der Technik mit dem Sein der Natur verbindet und kraft dessen er sich an dasselbe zu binden scheint«, was wiederum den »eigentlichen Anfang zur Selbstbefreiung des Geistes« ausmacht: »Denn im Werkzeug ist an die Stelle des unmittelbaren Ergreifens der Objekte ein mittelbarer Bezug auf sie getreten.«55 Uns interessiert hier aber allein die erwähnte ›Trias‹, die suggeriert, dass in Kunst und Sprache die ersten beiden eigentlichen geistigen Formen als solche zu sehen sind, die zudem durch ein enges Band umschlungen werden. So bleibe die »bildnerische Gestaltung« auch nach ihrer Befreiung aus dem Wort- und Bildzauber der magischen Weltsicht, nachdem sie sich »in ihrer völligen Unabhängigkeit und Autarkie erkannt hat«, weiterhin »mit der Welt der Sprache noch wie durch geheime und zarte Fäden verbunden.«56 Mit der Sprachwelt sei sie nach wie vor durch den Hinblick auf ein übergreifendes geistiges Ziel verknüpft. In der Sprache wie in der bildenden Kunst findet erst die Erhebung des Menschen von der Stufe der sinnlichen ›Wahrnehmung‹ zur Stufe des eigentlichen [ideellen – C.M.] ›Sehens‹ statt. Sie sind die beiden, in ihrem Gebrauch zusammengehörigen und zusammenwirkenden Organe für die Gewinnung eines anschaulichen Weltbildes.57

Das ›anschauliche‹ empirische Weltbild basiert, im Unterschied zum lediglich ›wahrnehmungsmäßigen‹ Weltbild und seiner Ausdrucksfunktion, was sehr wohl, wie wir wissen, Symbol- und Ausdruckswerte einschließt, bereits auf der geistigen Repräsentations- bzw. Darstellungsfunktion. Im Züricher Vortrag über das Symbolproblem (1932), in dem Cassirer den Symbolbegriff als einen so weiten Begriff nimmt, dass er keinem einzelnen Gebiet des Geistigen angehört, – sondern daß er vielmehr zu einer Grundfunktion des Geistigen wird: einer Funktion, die überall wirksam ist, wo es überhaupt so etwas wie ein geistiges ›Verstehen‹ und wie den Aufbau einer geistigen ›Welt‹ gibt,58 53 54 55 56 57 58

G. Simmel: Die Wendung zur Idee, 38. E. Cassirer: Form und Technik (1930) (ECW17), 151. Ders.: Zur Metaphysik der symbolischen Formen (ECN1), 39 f. Ebd., 78. Ebd. Ders.: Vortrag: Symbolproblem (ECN4), 85.

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zeichnet er ebenfalls die beiden symbolischen Formen Sprache und Kunst aus, hier aber aus philosophisch-anthropologischem Blickwinkel. »Der Mensch wird zum Menschen durch das Symbol, durch die Sprache, durch die Kunst, durch die Religion«. Er scheine aber auch »an die Funktion des symbolischen Ausdrucks gebunden zu sein: und er scheint sofort den sicheren Boden unter den Füssen zu verlieren, wenn er versucht, sich von ihm loszulösen und den Flug ins Absolute, ins Bildlose zu wagen.«59 Als entscheidende geistige Welten, in denen sich der Mensch als ›Schöpfer‹ bewährt, gelten erneut die Welten »der Sprache, der Kunst, des Mythos«. Ganz in diesem Sinne demonstriert Cassirer im Weiteren die Eigentümlichkeit des Schöpfens und Gestaltens von Kultur anhand der Sprache und der Kunst als »zwei Grundrichtungen der symbolischen Formung«, als zwei Grundgebieten der geistigen Kultur.60 Ein in dem Zusammenhang formuliertes Fazit, das wir schon kennen, lautet: Ohne Sprache keine empirische Anschauung von der Welt, keine Gegenstandswelt, in der sich das Alltagsleben abspielt. Zum Beleg dieser seiner These, die ganz offensichtlich eine Auszeichnung der Sprache als Kulturform impliziert, greift Cassirer erneut auf die moderne Sprachpathologie zurück. Wir lesen ein weiteres Mal, dass die sprachliche Vermittlung, die »Verbundenheit und die Verschmolzenheit mit der Sprache« selbst in die »Schicht der Wahrnehmung und Anschauung, ja bis in die Tiefe des Gefühls« hineinreiche.61 Den »wesentlichen und notwendigen Zusammenhang zwischen der Grundfunktion der Sprache und der Funktion des gegenständlichen Vorstellens« sieht Cassirer nicht zuletzt darin, dass ›gegenständliches‹ Vorstellen »nicht der Anfang [ist], von dem der Prozeß der Sprachbildung ausgeht, sondern das Ziel, zu dem dieser Prozeß hinführt«.62 Die Sprache bzw. die Sprachform erweist sich demnach selbst als ein »Mittel der Gegenstandsbildung, ja sie ist im gewissen Sinne das Mittel, das wichtigste und vorzüglichste Instrument für die Gewinnung und den Aufbau einer reinen ›Gegenstandswelt‹«.63 Mit anderen Worten, die Sprache ist, wie Cassirer anhand vielfältiger Erkenntnisse zur Kindersprache und aus der Sprachpathologie illustriert, an der Ermöglichung der »Form der Darstellung« und damit der »primären Form des Wissens« wesentlich beteiligt.64 Es seien die pathologischen Sprachstörungen, die, so seine Einsicht aufgrund der Arbeiten der beiden Ärzte Kurt Goldstein und Adhémar Gelb,65 indirekt die innere Verwandtschaft [belegen], die zwischen einer bestimmten Form und Grundrichtung des sprachlichen Verhaltens und gewissen Formen der gegenständlichen Auffassung besteht: die Abwandlung des einen Moments schließt die des anderen in sich.66 59 60 61 62 63 64 65 66

Ebd., 88. Ebd., 92. Ebd., 94. Ebd., 94 f. Ebd., 95. Ebd., 96. Ders.: Ernst Cassirer an Kurt Goldstein, 5. Januar 1925 (ECN18). Ders.: Vortrag: Symbolproblem (ECN4), 98 f.

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Anders gesagt, »Störungen der Sprache« greifen auf Gebiete über, »in denen das Wort als solches nicht beteiligt ist«, z. B. auf andere mittelbare und symbolische Operationen.67 Das Beteiligtsein der Sprache an der synthetischen Leistung der Bildung einer anschaulichen Gegenstandswelt kommt nach Cassirer auch darin zum Ausdruck, dass dabei die Einheit des Namens […] zum Kristallisationspunkt für die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen [dient]: die an sich heterogenen Phänomene werden dadurch homogen und gleichartig, daß sie sich auf einen gemeinsamen Mittelpunkt beziehen. Und kraft dieser Beziehung erst werden sie nun auch als Erscheinungen ein und desselben ›Gegenstandes‹ und als seine ›Abschattungen‹ gedeutet. Wo die Kraft der ›Nennfunktion‹, auf Grund pathologischer Störungen, erlahmt – da scheint alsbald auch das Band der gegenständlichen Einheit sich wieder zu lockern. An Stelle dieser Einheit tritt die Vereinzelung; an Stelle der kategorialen Ordnung und Geschlossenheit tritt die bunte, aber beziehungslose Fülle.68

Eine der Sprachform analoge Rolle bei der Weltbildung lasse sich auch für die »künstlerische Gestaltung«, d. h. die ästhetische Form aufweisen, fungiere doch z. B. die Dichtung – zumindest in Goethes Überlegungen – wie bzw. als eine symbolische Form, erweist sie sich als ein symbolisches Medium, dessen »symbolische ›Brechung‹« des Lichtstrahls die »einzige Weise [ist], in der dem Menschen das Sein der Dinge und sein eigenes Sein überhaupt sichtbar gemacht werden kann.«69 Damit legt Cassirer in die ästhetische Form einen eigenen Erkenntnisanspruch. Zum Beleg verweist er auf den zentralen ästhetischen Begriff der Mimesis (Aristoteles). Deren wahre Bedeutung, deren echt produktive Funktion – neben der reproduktiven – werde passender durch »den Terminus der ›Darstellung‹ als durch den der Nachahmung« bezeichnet.70 Dies fasse sich im Begriff des ›künstlerischen Stils‹ als höchster »Form der künstlerischen Auffassung und der künstlerischen Darstellung« (Goethe), bei der Objektivität und Subjektivität sich in einer »wahren geistigen Synthese« begegnen und sich »einander das reine Gleichgewicht halten« sollen, zusammen.71 Nach Cassirers Überzeugung führt die künstlerische Gestaltung deshalb nicht nur nicht »von der Wahrheit und vom Wesen« weg, sondern schließt uns diese Wahrheit erst auf und läßt sie für unseren inneren Blick verstehen. In diesem Zuge offenbart sich uns […] die tiefe Verwandtschaft, die zwischen der Welt der Kunst und der Welt der Sprache besteht. Jedes große Kunstwerk begnügt sich in der Tat nicht, ein einfach-vorhandenes, ein zuvor-bekanntes Sein auszusprechen, sondern es gibt der Welt als Ganzem ein neues Gesicht.72 67 68 69 70 71 72

Ders.: Praegnanz, symbolische Ideation (ECN4), 68. Ders.: Vortrag: Symbolproblem (ECN4), 98. Ebd., 102. Ebd., 99 f. Ebd., 100 f. Ebd., 101 f.

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Cassirer ist sich zudem bewusst, dass er mit seinen Einsichten über die enge strukturelle Abhängigkeit zwischen den symbolischen Formen der Sprache und der Kunst philosophisches Neuland betritt, sei doch der »innere systematische Zusammenhang, der sich von hier aus zwischen dem Grundproblem der Ästhetik und den Problemen der Sprachphilosophie ergibt, […] kaum jemals mit wirklicher Schärfe erfaßt worden«73. Eine Ausnahme bilde der bekannte Ästhetiker Konrad Fiedler,74 der sich bemüht habe, Kants ›Copernikanische Drehung‹, d. h. die für die theoretische Formwelt geltende Überlegung, dass der »Gegenstand der Erkenntnis erst konstruiert wird«, auf die »Welt der künstlerischen Gestaltung« zu übertragen, auf die künstlerische Formenwelt anzuwenden. »Und auf diesem Wege begegnete er der Sprache, die sich gleichsam als ein Mittleres zwischen theoretischer und ästhetischer Form darstellt.«75 Allein Fiedler erfasst und benennt das »geistige Band […], das die Sprache mit der bildenden Kunst verknüpft und das zwischen ihnen eine Art ›Union‹ stiftet.« Allerdings werde bei ihm diese ›Union‹ nur unvollkommen erkannt, weil er lediglich von der Ausdrucksfunktion ausgeht und nicht bereits die höhere Darstellungsfunktion einbezieht. Diese Union findet ihre eigentliche Begründung, ihre Legitimation [aber – C.M.] erst dadurch, daß man die Sprache wie die Kunst als Grundmittel der Objektivation, der Erhebung des Bewußtseins zur Stufe der gegenständlichen Anschauung versteht. Diese Erhebung ist zuletzt nur dadurch möglich, daß das ›diskursive‹ sprachliche Denken und die ›intuitive‹ Tätigkeit des künstlerischen Schauens und Gestaltens in einander greifen und daß sie vereint am Kleid der Wirklichkeit weben.76

Es scheint also so, als ob Cassirer – wie schon der Form des Mythos und der ästhetischen Form – letztlich auch der Sprachform eine besondere, herausgehobene Stellung bzw. Funktion in der Totalität der symbolischen Formen zuweist. So hatte er bereits in seiner Vorlesung über Sprachphilosophie im Sommersemester 1922 darauf hingewiesen, dass der Mensch in der »logischen, mythischen, künstlerischen oder sprachlichen Sphäre« je an einer bzw. in einer »Form der Welt« gestalte, wobei ausschließlich die sprachliche Form »an allen […] teilnehmen« kann.77 Das Medium der Sprache vermag »auf der Grenze zwischen [der] Welt des Mythos und des Logos« zu agieren, besitzt aber auch die Fähigkeit, »zwischen mythischer und theoretischer Weltansicht, auch zwischen ästhetischer und theoretischer« Weltsicht zu vermitteln.78 In seinem 1927 in London gehaltenen Vortrag über das Verhältnis von Sprache, Denken und Wahrnehmung kommt Cassirer abschließend auf die Alternative zu sprechen, wonach entweder »sich eine gemeinsame Grundfunktion des Geistes aus73 74 75 76 77 78

Ders.: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, 78. Vgl. K. Fiedler: Schriften über Kunst. E. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen (ECN1), 79. Ebd., 81. Ders.: Grundprobleme der Sprachphilosophie (ECN4), 262. Ebd., 265.

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zeichnen [lässt], die wir als die Symbolfunktion schlechthin bezeichnen können und von der die Sprache selbst nur eine besondere spezifische Ausprägung ist«, oder dass »vielmehr alles symbolische Verhalten auf die Sprache als Urgrund, als ›Bedingung seiner Möglichkeit‹ zurückgeht«.79 Mit anderen Worten, er stellt sich die Frage, »wie weit die Sprache hierbei das Erste oder das Zweite, wie weit sie Grund oder Folge« ist. Obwohl die Frage an dieser Stelle von Cassirer nicht beantwortet wird, dürfte eine Antwort wohl mehr die erste Variante, weniger die zweite favorisieren. Allerdings scheint auch die zweite mögliche Antwort nicht völlig außerhalb seines Denkansatzes zu liegen. Das Ästhetische seinerseits hatte, wie oben ausgeführt, seine Auszeichnung als besondere symbolische Form, ähnlich wie das Mythische, in den hier ausgewerteten nachgelassenen Texten darin gefunden, dass es als unzerstörbarer Charakter einer jeglichen Wahrnehmung, also der Weltkonstitution, zu gelten habe.

Literatur Cassirer, Ernst [Kassirer, Ėrnst]: [Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹], in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von K.Ch. Köhnke, J.M. Krois und O. Schwemmer, Bd. IV: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und »Wiener Kreis«, hg. von Ch. Mökkel, Hamburg 2011, 151–215 (ECN4) – Beilage »Form«, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von K.Ch. Köhnke, J.M. Krois und O. Schwemmer, Bd. III: Geschichte. Mythos, hg. von K.Ch. Köhnke, H. Kopp-Oberstebrink und R. Kramme, Hamburg 2002, 202–236 (ECN3) – Ernst Cassirer an Kurt Goldstein, 5. Januar 1925, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von K.Ch. Köhnke, J.M. Krois und O. Schwemmer, Bd. XVIII: Ausgewählter wissenschaftlicher Briefwechsel, hg. von J.M. Krois unter Mitarbeit von M. Lauschke, C. Rosenkranz und M. Simon-Gadhof, Hamburg 2008, 69–72 (ECN18) – Form und Technik (1930), in: ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von B. Recki, Bd. XVII: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Hamburg 2004, 139–183 (ECW17) – Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von B. Recki, Bd. XIII: Philosophie der symbolischen Formen, Hamburg 2002 (ECW13) – Grundprobleme der Sprachphilosophie, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. IV, 219–269 (ECN4) – Izbrannoe. Opyt o čeloveke [Ausgewähltes. Versuch über den Menschen], Moskau 1998 – Language and Art, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von K.Ch. Köhnke, J.M. Krois und O. Schwemmer, Bd. VII: Mythos, Sprache und Kunst, hg. von J. Bohr und G. Hartung, Hamburg 2011, 141-158 (ECN7) – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von K.Ch. Köhnke, J.M. Krois und O. Schwemmer, Bd. I: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von J.M. Krois, Hamburg 1995 (ECN1)

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Ders.: [Über Sprache, Denken und Wahrnehmung] (ECN4), 310.

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– Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von K.Ch. Köhnke, J.M. Krois und O. Schwemmer, Bd. IV: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und »Wiener Kreis«, hg. von Ch. Möckel, Hamburg 2011, (ECN4) – Probleme der Kulturphilosophie. Zur Objektivität der Ausdruckdsfunktion, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von K.Ch. Köhnke, J.M. Krois und O. Schwemmer, Bd. V: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, hg. von R. Kramme† unter Mitarbeit von J. Fingerhut, Hamburg 2004, 29–200 (ECN5) – Praegnanz, symbolische Ideation, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. IV, 51–84 (ECN4) – Praesentation und Repraesentation, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. IV, 3–50 (ECN4) – Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntnis, Berlin 1910 [russ.: Poznanie i dejstvitel’nost’. Ponjatie substancii i ponjatie funkcii, Sankt Petersburg 1912] – [Über Sprache, Denken und Wahrnehmung], in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. IV, 287–311 (ECN4) – Vom Einfluss der Sprache auf die naturwissenschaft liche Begriffsbildung, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. IV, 107–149 (ECN4) – Vortrag: Symbolproblem, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. IV, 85–106 (ECN4) – Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1920 [russ.: Teorija otnositel’nosti Ėjnstejna, Petrograd 1922] Cornelius, Hans: Transcendentale Systematik. Untersuchungen zur Begründung der Erkenntnistheorie, München 1916 Dmitrieva, Nina A.: Russkoe neokantianstvo: Marburg v Rossii. Istoriko-filosofskie očerki [Der russische Neukantianismus: Marburg in Russland. Historisch-philosophische Skizzen], Moskau 2007 Fiedler, Konrad: Schriften über Kunst, 2 Bde., hg. v. H. Konnerth, München 1913/14 Focht, Boris A.: Ponjatie simvoličeskich form i problema značenija v fi losofii jazyka Ė. Kassirera [Der Begriff der symbolischen Form und das Problem der Bedeutung in der Sprachphilosophie E. Cassirers], in: Ė. Kassirer [E. Cassirer]: Izbrannoe, 761–764 Losev, Aleksej F.: Teorija mifičeskogo myšlenija u Ė. Kassirera [Die Theorie des mythischen Denkens bei E. Cassirer] (1926/27), in: Ė. Kassirer [E. Cassirer]: Izbrannoe, 730–760 Mnich, Roman: Ėrnst Kassirer v Rossii (konspekt) [Ernst Cassirer in Russland (Konspekt)], in: Issledovanija po istorii russkoj mysli. Ježegodnik 2008/2009 [9], pod redakcijej M.A. Kolerova i N.S. Plotnikova [Forschungen zur Geschichte des russischen Denkens. Jahrbuch 2008/2009, hg. von M.A. Kolerov und N.S. Plotnikov] Moskau 2012, 81–132 Möckel, Christian: Formenschau, Formenwandel und Formenlehre. Zu Goethes Morphologie- und Metamorphosenlehre, in: Goethe-Jahrbuch. Tokyo, 52 (2010), 45–73 Simmel, Georg: Die Wendung zur Idee, in: ders.: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München/ Leipzig 1918, 28–98 Troickij, Viktor P.: Kommentarij [Kommentar], in: Ė. Kassirer [E. Cassirer]: Izbrannoe, 758– 760

Kunst und Sprache aus der Sicht von Erwin Panofsky Karlheinz Lüdeking

Die Frage, ob die Kunst – genauer gesagt: die bildende Kunst – als eine Sprache aufzufassen ist, hat sich Erwin Panofsky in dieser Ausdrücklichkeit nie gestellt. Sein Denken entwickelte sich weitgehend unberührt von den Einflüssen jener großen ›Wende der Philosophie‹, die Moritz Schlick 1930 diagnostizierte, indem er feststellte, mittlerweile sei aufgrund des Wirkens von Frege, Russell und vor allem Wittgenstein endgültig klar geworden, dass alle Probleme der Philosophie nur als Probleme der Sprache behandelt werden können.1 Panofsky orientierte sich methodisch an anderen Denkern, wie zum Beispiel Ernst Cassirer, und bekannte sich, vor allem in den Zwanzigerjahren, insbesondere zu den Lehren von Immanuel Kant, für den nicht die Sprache, sondern das Denken im Mittelpunkt des Interesses stand. Dementsprechend ist die Kunst, aus der Sicht von Panofsky, nicht so sehr als eine Sprache zu betrachten, sondern zunächst einmal als eine besondere Art und Weise, in welcher der menschliche Geist dem sinnlich Gegebenen seine Gesetze auferlegt. Dass die Kunst überdies auch als ein Mittel der intersubjektiven Verständigung untersucht werden kann, ist zwar unbestreitbar, doch eine solche Untersuchung erscheint weit weniger wichtig als eine Analyse der mentalen Prozesse, durch die Kunstwerke überhaupt erst hervorgebracht werden. Hierbei erweist sich, dass die Bedingung der Möglichkeit der Kunst, genau wie die der theoretischen Erkenntnis, allein darin bestehen kann, dass es gelingt, »den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke« zu einer durch den Geist bestimmten Synthese zu verarbeiten.2 Aus dieser kantianischen Auffassung folgt zunächst einmal, dass jeder Versuch, die Kunst vor allem in der sinnlichen Anschauung zu begründen oder sie gar als Kultivierung einer ›reinen Sichtbarkeit‹ zu verstehen, falsch sein muss. Wer sich bei einem Werk der bildenden Kunst vornehmlich oder sogar ausschließlich auf dessen visuelle Erscheinung konzentriert, ist dazu verurteilt, das Wichtigste zu übersehen. Aus dieser Überzeugung heraus attackiert Panofsky bereits 1915, nachdem er soeben promoviert worden war, den damals hochberühmten Heinrich Wölfflin. Dieser hatte im selben Jahr sein Hauptwerk Kunstgeschichtliche Grundbegriffe veröffentlicht, in dem er anhand einer Fülle von anschaulichen Gegenüberstellungen zeigt, wie die Kunst der Renaissance immer wieder das ›Lineare‹ gesucht hat, wohingegen sich die Kunst des Barock eher auf das ›Malerische‹ ausrichtete. Zur Erklärung dieser Unterschiede stellt Wölfflin die Behauptung auf, zwischen 1500 und 1600 habe eine »einschneidende Umgewöhnung des Auges« stattgefunden, durch die sich »zwei von Grund auf verschiedene Arten des Sehens« herausbilden konnten.3 Diese Erklärung 1 2 3

M. Schlick: Die Wende der Philosophie, 4–11. Vgl. I. Kant: Critik der reinen Vernunft, 1. H. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 20.

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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hält Panofsky für nichtssagend, aber auch irreführend, denn nach seiner Überzeugung geht es in der Kunst gerade nicht um das »Verhältnis des Auges zur Welt«, sondern nur um das »Verhältnis der Seele zur Welt des Auges«.4 Schließlich hat ja schon Kant nachgewiesen, dass bereits in der einfachen Anschauung die mentalen Ordnungsprinzipien des räumlichen Nebeneinanders und des zeitlichen Nacheinanders in Anspruch genommen werden. Umso abwegiger wäre es also zu glauben, man könne sogar noch die komplexe Gestalt eines Kunstwerkes allein in der bloßen Wahrnehmung der sichtbaren Welt vorfinden. Nein, um ein Kunstwerk hervorzubringen, ist in jedem Fall ein »tätiges Eingreifen des Geistes« vonnöten, denn nur dadurch lässt sich »ein Gesehenes auf eine Form bringen.«5 Dass die Kunst weit mehr voraussetzt als nur die Fähigkeiten der sinnlichen Anschauung, war schon die Überzeugung von Albrecht Dürer, mit dessen Kunsttheorie sich Panofsky in seiner Dissertation beschäftigt hat. Bekanntlich folgte Dürer seinen italienischen Vorgängern aus dem Quattrocento in der intellektuellen Bemühung um eine »exakte Fundierung der Kunst« und besonders der Malerei.6 Malerei ist für ihn eine »vernunftmäßig begründete Wissenschaft von der Darstellung der sichtbaren Dinge.«7 Sie erfordert keineswegs nur eine gute Beobachtungsgabe und eine geübte Hand, sondern vor allem solide Kenntnisse der perspektivischen Darstellungsmethoden sowie eine weitreichende Vertrautheit mit der Proportionslehre, der Anatomie, der Bewegungslehre, der Physiognomie, Zoologie, Botanik und noch manch anderer Wissensgebiete. In der Renaissance ist der Künstler nicht mehr, wie im Mittelalter, ein mehr oder weniger virtuoser Handwerker. Er ist aber auch noch nicht, wie in der Moderne, ein Individuum, das vor allem seine eigene Subjektivität zum Ausdruck bringt.8 Der Künstler der Renaissance ist Naturforscher. Er muss nicht nur die Gesetze kennen, nach denen dreidimensionale Dinge auf die Bildfläche projiziert werden, er muss auch wissen, was es mit den darzustellenden Dingen selbst auf sich hat und sich deshalb »eine naturwissenschaft liche Kenntnis davon aneignen, wie die Dinge sind oder sein können.«9 »Dies«, so muss Panofsky allerdings zugeben, »ist natürlich eine Forderung, auf die von allen Renaissancetheoretikern nur Lionardo ernsthaft eingehen konnte.«10 Dennoch bleibt die prinzipielle Identität von Kunst und Naturwissenschaft, wie sie später auch wieder von Goethe behauptet wurde, das Ideal, an dem Panofsky selbst noch unter den Bedingungen der Moderne festhält. Einen Versuch, hierfür eine transzendental-philosophische Begründung zu geben, unternimmt Panofsky in seinem Aufsatz »Der Begriff des Kunstwollens« von 1920.11 Darin beruft er sich auf Kants Grundlegung der Naturwissenschaft in seinen 4 5 6 7 8 9 10 11

E. Panofsky: Das Problem des Stils in der bildenden Kunst, 463. Ebd. Ders.: Dürers Kunsttheorie, 5. Ebd., 164. Vgl. ebd., 171. Ebd., 78. Ebd., 8. Ders.: Der Begriff des Kunstwollens.

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Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Besonders wichtig erscheint ihm dabei Kants Unterscheidung zwischen ›Wahrnehmungsurteilen‹, die lediglich subjektive Eindrücke kundtun, und ›Erfahrungsurteilen‹, die objektive Gesetzmäßigkeiten formulieren. Kant selbst verdeutlicht diese Unterscheidung anhand zweier Sätze. Der eine lautet ›Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm‹, und dazu gibt er folgenden Kommentar: »Dieses Urteil ist ein bloßes Wahrnehmungsurteil, und enthält keine Notwendigkeit, ich mag dieses noch so oft und andere auch noch so oft wahrgenommen haben; die Wahrnehmungen finden sich nur gewöhnlich so verbunden.« Ganz anders verhält es sich mit dem Satz ›Die Sonne erwärmt den Stein‹. Hier, so erläutert Kant, »kommt über die Wahrnehmung noch der Verstandesbegriff der Ursache hinzu, der mit dem Begriff des Sonnenscheins den der Wärme notwendig verknüpft, und das synthetische Urteil wird notwendig allgemeingültig, folglich objektiv und aus einer Wahrnehmung in Erfahrung verwandelt.«12 Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Sätzen besteht also darin, dass nur der zweite eine Kausalbeziehung behauptet. Kant zufolge kann eine Beziehung von Ursache und Wirkung jedoch niemals aus der bloßen Wahrnehmung abgeleitet, sondern nur a priori postuliert werden. Deshalb enthält der zweite Satz einen ganz anderen, viel weiter gehenden Geltungsanspruch als der erste. Panofsky möchte nun nachweisen, dass eine analoge Unterscheidung auch auf Kunstwerke anwendbar ist. Hierzu beruft er sich auf Alois Riegl und »das von ihm entwickelte Begriffspaar ›objektivistisch‹ und ›subjektivistisch‹ als Ausdruck für die mögliche geistige Einstellung des künstlerischen Ich dem künstlerischen Gegenstand gegenüber.«13 Dementsprechend meint er, es gebe einerseits Kunstwerke, die auf eine objektive Erkenntnis der Welt zielen, und andererseits Werke, die lediglich subjektive Ansichten wiedergeben. In Abwandlung der Begriffe von Kant könnte man sagen, dass Panofsky einen Gegensatz von ›Wahrnehmungskunst‹ und ›Erfahrungskunst‹ konstruieren möchte. Auf welcher Seite seine Sympathien dabei liegen, steht außer Zweifel: Gute Kunst ist für ihn nur eine Kunst, deren geistiger Gehalt dieselbe Objektivität und Allgemeingültigkeit besitzt wie der von wissenschaft lichen Sätzen. Panofsky behauptet sogar, dass nur solche Kunst wirklich Kunst ist. »Die Kunst«, so lässt er uns wissen, ist nicht, wie eine den Widerspruch gegen die Imitationstheorie überspannende Ansicht heute vielfach glauben machen will, eine subjektive Gefühlsäußerung oder Daseinsbetätigung bestimmter Individuen, sondern die auf gültige Ergebnisse abzielende, verwirklichende und objektivierende Auseinandersetzung einer formenden Kraft mit einem zu bewältigenden Stoff.14

12 13 14

I. Kant: Prolegomena, 83. E. Panofsky: Der Begriff des Kunstwollens, 334. Ebd., 339.

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Nun stellt sich natürlich die Frage, woran man erkennen kann, ob die »formende Kraft« eines Künstlers tatsächlich zu einem »gültigen Ergebnis« geführt hat oder nicht. Die Antwort lässt sich anscheinend ganz einfach aus dem Beispiel von Kant ableiten. So wie sich der unterschiedliche Sinn der beiden von ihm verglichenen Sätze über den von der Sonne beschienenen Stein allein aus ihrer jeweiligen Formulierung ergibt, so kann sich auch der unterschiedliche Gehalt verschiedener Kunstwerke nur aus ihrer jeweils besonderen Gestaltung ergeben. Daher scheint es ratsam, Kunstwerke nach dem Modell von sprachlichen Propositionen zu analysieren, um herauszufinden, was ein jeweils gegebenes Werk eigentlich zu sagen hat und welchen logischen Status man der betreffenden Aussage beimessen kann. Dabei ist vor allem zu beachten, ob in einer künstlerischen ›Aussage‹ auf ein a priori geltendes Prinzip – wie das der Kausalität – Bezug genommen wird, denn nur dann, wenn das geschieht, darf auch die Kunst jene Objektivität und Allgemeingültigkeit beanspruchen, die Panofsky ihr so gerne zusprechen möchte. In diesem Sinne stellt er fest, es müsse die Aufgabe der Kunstwissenschaft sein, a priori geltende Kategorien zu schaffen, die, wie die der Kausalität an das sprachliche Urteil als Bestimmungsmaßstab seines erkenntnistheoretischen Wesens, so an das zu untersuchende künstlerische Phänomen als Bestimmungsmaßstab seines immanenten Sinnes gewissermaßen angelegt werden können – Kategorien nun aber, die nicht wie jene die Form des erfahrungsschaffenden Denkens, sondern die Form der künstlerischen Anschauung würden bezeichnen müssen.15

Welche Kategorien das sind, vermag Panofsky in seinem Aufsatz von 1920 noch nicht zu sagen, doch aus der soeben zitierten Passage geht hervor, dass jede Bemühung um eine Antwort von einer Untersuchung der Analogien zwischen »künstlerischem Phänomen« und »sprachlichem Urteil« auszugehen hat. Eine solche Untersuchung musste Panofsky dann aber gar nicht selbst durchführen, da sich sein Doktorant Edgar Wind in seiner Dissertation eingehend mit dem Thema auseinandergesetzt hat.16 Wind versucht darin zu zeigen, dass Kunstwerke im Prinzip genauso aufgebaut sind wie Sätze einer Sprache. Zu diesem Zweck unterscheidet er drei ›Regionen‹: In der ersten Region wird eine Artikulation der einzelnen Elemente vorgenommen, in der zweiten deren Zusammensetzung zu erkennbaren Figuren und in der dritten deren Kombination zu bedeutungsvollen Ganzheiten. So wie sich in der Sprache einzelne Buchstaben zu Wörtern und schließlich zu ganzen Sätzen zusammenfügen, bilden sich in der Malerei aus einzelnen Markierungen zunächst erkennbare Gestalten und dann vollständige Bilder. Hierbei lassen sich, wie Wind glaubt, die Gestaltungsmöglichkeiten der Malerei in jeder der drei Ebd., 332. Wind reichte seine Dissertation 1922 ein, publizierte daraus jedoch nur einen Auszug: E. Wind: Zur Systematik der künstlerischen Probleme. Die gesamte Dissertation wurde erst 2011 publiziert: E. Wind: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. 15 16

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genannten Regionen jeweils nur in Form einer ›Antithetik‹ von polaren Gegensätzen beschreiben: Die elementaren Markierungen der Malerei bewegen sich in einer Polarität von ›Haptischem‹ und ›Optischem‹, die einzelnen Figuren werden stärker räumlich oder stärker flächig ausgebildet, und die Komposition des ganzen Bildes neigt entweder zur Zerteilung oder zur Verschmelzung aller Einzelelemente.17 Wind versucht die Gestaltung von Kunstwerken also auf Prozesse der Selektion und der Kombination zurückzuführen, wie man sie in ähnlicher Weise auch in der Sprache findet. Damit entwirft er, wie man in der Terminologie von Noam Chomsky sagen könnte, eine ›generative Grammatik‹ der visuellen Gestaltung.18 Und auf ebendiese ›Grammatik‹ beruft sich Panofsky dann in seinem 1925 veröffentlichten Aufsatz »Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie. Ein Beitrag zu der Erörterung über die Möglichkeit ›kunstwissenschaft licher Grundbegriffe‹.«19 Hier nähert sich der überzeugte Kantianer also stärker als jemals zuvor der Auffassung, die Kunst sei als eine Sprache zu betrachten. Letztendlich mag er sich dann aber doch nicht zu dieser Auffassung bekennen. Das liegt zunächst daran, dass die Frage, ob die bildende Kunst als eine Sprache aufzufassen ist, für ihn gar nicht im Zentrum des Interesses steht. Seine erklärte Absicht zielt vielmehr weiterhin auf den Nachweis, dass Kunstwerke dieselbe objektive Gültigkeit beanspruchen können wie Sätze der Naturwissenschaft, da sie, genau wie jene, Kategorien in Anspruch nehmen müssen, die nur a priori gelten können. Deshalb entscheidet sich Panofsky dafür, Winds Überlegungen zur Analogie von Kunst und Sprache einfach zu ignorieren. Er übernimmt von ihm lediglich die Charakterisierung der drei Grundprobleme, die in jeder künstlerischen Gestaltung auf die eine oder andere Weise gelöst werden müssen, um mit ihrer Hilfe eine eigene ›Tafel der künstlerischen Grundprobleme‹ zu erstellen. In dieser »Tafel« stehen sich dann, genau wie bei Wind, die »optischen Werte« und die »haptischen Werte«, die »Tiefenwerte« und die »Flächenwerte« sowie die »Werte des Ineinander« und die »Werte des Nebeneinander« gegenüber.20 Diese drei Paare von gegensätzlichen Begriffen bezeichnen, wie Panofsky nachdrücklich betont, jeweils nur die abstrakten Endpunkte des betreffenden Spektrums von Gestaltungsmöglichkeiten, die als solche nur rein ideell, also a priori gegeben sind, so dass jede praktische Lösung der damit bezeichneten Gestaltungsprobleme immer nur »auf einer gleitenden Skala« zwischen zwei rein theoretisch festgelegten Polen lokalisiert werden kann.21 Da nun aber bei der Gestaltung von konkreten Kunstwerken nicht nur diese Grundprobleme, sondern zudem noch unzählige Einzelprobleme zu lösen sind, fordert Panofsky, die Kunstwissenschaft müsse auch diese begrifflich erfassen und in einer lückenlosen Ableitung miteinVgl. ebd., 447–455 und 461–464. Wind selbst spricht von einer ›Grammatik‹ der bildenden Kunst in seinem Aufsatz »Theory of Art versus Aesthetics«, 359. 19 E. Panofsky: Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie. 20 Ebd., 132. 21 Ebd., 136. 17 18

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ander verbinden. So soll sich am Ende eine umfassende Theorie der künstlerischen Gestaltung ergeben, in der »alle künstlerischen Einzelprobleme in systematischer Weise miteinander verbunden und schließlich, mögen sie an und für sich auch noch so spezieller, ja vielleicht geradezu singulärer Natur sein, auf die Grundprobleme zurückgeführt werden, womit sich denn aus der ›Tafel der kunstwissenschaft lichen Grundbegriffe‹ jenes in sinnvoller Weise zusammenhängende kunstwissenschaftliche Begriffssystem entwickelt hätte, das sich bis in die feinsten Spezialbegriffe verästeln kann.«22 Offenkundig wurde ein solches Begriffssystem jedoch weder von Panofsky selbst, noch von irgendjemandem sonst jemals erarbeitet, und das wäre ja auch nur denkbar, wenn jede mögliche Form der künstlerischen Gestaltung bereits vor ihrer Realisierung immer schon virtuell vorgezeichnet wäre. Doch genau das setzt Panofsky voraus: Das vollständige Spektrum sämtlicher Möglichkeiten, die der Kunst überhaupt offenstehen, muss schon a priori gegeben sein, denn andernfalls hätte sie ihren Anspruch auf eine transzendentalphilosophische Legitimation verwirkt. Ob diese strenge Prämisse ihrerseits transzendentalphilosophisch zu rechtfertigen ist, muss hier nicht entschieden werden. Klar ist jedenfalls, dass hier eine fundamentale Differenz gegenüber der Sprache deutlich wird. Eine Sprache erlaubt es, mit einem begrenzten Repertoire von Zeichen und einer ebenfalls begrenzten Anzahl von Regeln eine unbegrenzte Menge von möglichen Sätzen zu erzeugen. Deshalb ist es in einer Sprache – wie zum Beispiel der deutschen – unverzichtbar, bei jeder einzelnen Markierung feststellen zu können, ob diese als ein Buchstabe gelten kann – und wenn ja, als welcher Buchstabe. Zudem muss klar sein, welche Buchstabenkombinationen sinnvolle Wörter ergeben und welche nicht. Etwas Entsprechendes gibt es in der Kunst jedoch nicht. Ihre Markierungen sind niemals eindeutig abgrenzbaren Zeichentypen zuzuordnen, und ihre Figuren lassen sich auch nicht in sinnvolle und sinnlose einteilen. Hieraus folgt, dass man die Kunst bestenfalls in einem metaphorischen Sinne als eine Sprache bezeichnen kann. Diesen Befund spricht Panofsky zwar nicht eigens aus, faktisch aber teilt er offenbar die Ansicht seines von ihm hochgeschätzten Hamburger Kollegen Ernst Cassirer, der in seiner Philosophie der symbolischen Formen die Kunst ebenfalls nicht nach dem Modell der Sprache verstehen will, sondern immer wieder betont, die Sprache sei ebenso wie die Kunst und der Mythos und die Wissenschaft nur eine besondere ›symbolische Form‹ neben anderen, also nur eine von mehreren Möglichkeiten des menschlichen Geistes, dem Chaos der Erscheinungen durch die Hervorbringung spezifischer Zeichensysteme eine sinnvolle Ordnung aufzuprägen.23 Die Sprache ist demnach zwar mit der Kunst verwandt, aber dennoch in ihrer Struktur von ihr sehr verschieden. Und nur deshalb, weil die Kunst eben nicht genau so strukturiert ist wie eine Sprache, sieht sich Panofsky ja überEbd., 141. E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, 9–26 und 41–51. Der Kunst hat Cassirer bekanntlich keinen eigenen Band gewidmet. 22 23

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haupt genötigt, seine seltsame Metaphysik ihrer gestalterischen Möglichkeiten zu entwickeln. Dabei ergibt sich allerdings eine Konsequenz, die für Panofsky eigentlich höchst unerfreulich sein müsste. Wenn man nämlich, wie er selbst bemerkt, über »schlechthin jedes bildkünstlerische oder architektonische Kunstwerk«24 sagen kann, seine Gestaltung verdanke sich der Lösung einer Reihe von Problemen, die allesamt schon a priori vorgegeben sind, dann kann es keinerlei Unterschiede in ihrem jeweiligen Geltungsanspruch mehr geben. Alle Kunstwerke – und, was Panofsky wohl gar nicht erst bedacht hat, auch ganz banale Skizzen und Kritzeleien – haben dann per se die gleiche ›Gültigkeit‹, und damit entfällt auch die – ursprünglich so vehement behauptete – Differenz zwischen Werken, die objektive Erkenntnisse anstreben, und denen, die nur subjektive Gefühlsäußerungen sein wollen. Mehr noch: Panofskys Konzeption macht es nicht nur unmöglich, Kunstwerke nach ihrem kognitiven Gehalt zu unterscheiden, sie erlaubt es noch nicht einmal, auf der von ihm selbst gewählten ›grammatischen‹ Ebene der formalen Gestaltung zwischen gültigen und ungültigen ›Ergebnissen‹ zu unterscheiden. In einer Sprache gibt es nicht nur isolierbare Elemente wie Buchstaben und Wörter, sondern auch eindeutige Regeln, anhand derer man entscheiden kann, ob ein Satz korrekt aus diesen Elementen zusammengesetzt ist. Wenn man sich aber in der Kunst, wie Panofsky behauptet, bei der Lösung aller Gestaltungsprobleme tatsächlich immer nur auf jeweils ›gleitenden Skalen‹ zwischen verschiedenen Polen bewegen kann, dann gibt es auch keine Kriterien um festzustellen, ob eingegebenes Werk ›wohlgeformt‹ ist oder nicht, denn jede Lösung, wie immer sie auch aussehen mag, muss ja irgendwo zwischen solchen Polen liegen. Nun gibt es allerdings ein Verfahren der künstlerischen Gestaltung, bei dem man sehr wohl zwischen richtigen und falschen Ergebnissen unterscheiden kann: die Perspektivkonstruktion. Es ist daher höchst merkwürdig, dass Panofsky sie in seiner Systematik der künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten überhaupt nicht erwähnt. Das erstaunt um so mehr, als sich ihm hier doch eine naheliegende Möglichkeit geboten hätte zu zeigen, dass Kunstwerke in ihrer Form sehr wohl auf a priori geltende Naturgesetze Bezug nehmen können. Schließlich betont Panofsky schon in seiner Dissertation, die Perspektive mache sich »eine ›wahre‹, das heißt für jeden Menschen in schlechthin gleicher Weise gültige Erkenntnis der Naturdinge und ihrer sichtbaren Erscheinung«25 zunutze, um daraus Prinzipien abzuleiten, »die für alle Objekte, ohne Rücksicht auf ihre individuelle Beschaffenheit, die Form feststellen, in die sie innerhalb der Darstellung eingehen müssen, damit diese ›richtig‹ sei«. Richtig sei diese aber selbstverständlich nur dann, »wenn sie dem Sehbild adäquat ist«.26 Diese Auffassung revidiert Panofsky in seinem 1927 erschienenen Aufsatz »Die Perspektive als ›symbolische Form‹«, in dem er gleich zu Beginn (unter Berufung auf Cassirer) die fundamentale Diskrepanz zwischen einem perspektivischen Bild 24 25 26

E. Panofsky: Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie, 140. Ders.: Dürers Kunsttheorie, 124. Ebd., 9 und 10.

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und dem »tatsächlichen, subjektiven Seheindruck« der darin dargestellten Szene hervorhebt.27 Außerdem weist er nun nach, dass sich im Verlauf der Geschichte ganz verschiedene Varianten der Perspektivkonstruktion ausgebildet haben. Wer sich um eine perspektivische Raumdarstellung bemüht, entscheidet sich demnach immer nur für eine von mehreren Optionen in Panofskys Hierarchie der gestalterischen Probleme, in der, wie bereits erwähnt wurde, schon eines der ›Grundprobleme‹ durch die ›Antithetik‹ von ›Flächenwerten‹ und ›Tiefenwerten‹ charakterisiert wird.28 Dabei kann man sich allerdings, wie es etwa die moderne Kunst bis in die Zwanzigerjahre immer wieder demonstriert hat, auch von vornherein gegen jede perspektivische Darstellungsform entscheiden. Wer sich jedoch für sie entscheidet, muss nur noch bestimmen, wie die Projektionsfläche aussehen soll und in welchem Verhältnis sie zum Zentrum der Projektion steht, um dann mit zwingender Notwendigkeit eindeutig bestimmte Resultate zu erhalten. Jede Abweichung ist dann nur noch damit zu erklären, dass bei der Anwendung des Verfahrens ein Fehler unterlaufen ist. Ein solcher Fehler wäre jedoch kein sprachlicher Fehler, sondern die Folge der Missachtung irgendeiner Vorschrift eines geometrischen Algorithmus. Und wenn dieser zu den ›richtigen‹ Ergebnissen führt, dann sind sie dennoch nicht in demselben Sinne ›richtig‹ wie grammatisch korrekte Sätze. Das sieht Panofsky nicht anders. Auch aus seiner Sicht kann die Perspektive keinesfalls als eine besondere künstlerische ›Sprache‹ aufgefasst werden, aber sie darf, um Ernst Cassirers glücklich geprägten Terminus auch für die Kunstgeschichte nutzbar zu machen, als eine jener ›symbolischen Formen‹ bezeichnet werden, durch die ›ein geistiger Bedeutungsinhalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird‹; und es ist in diesem Sinne für die einzelnen Kunstepochen und Kunstgebiete wesensbedeutsam, nicht nur ob sie Perspektive haben, sondern auch welche Perspektive sie haben,

denn darin offenbart sich ihre jeweilige »Raumanschauung«, die wiederum nur der Ausdruck einer noch umfassenderen allgemeinen »Weltvorstellung« ist.29 Hier wird deutlich, dass Panofsky nicht länger – im Sinne eines orthodoxen Kantianismus – versucht, die Kunst auf die »Erlebnisbedingung des Menschen schlechthin« zurückzuführen, so wie er selbst es noch 1920 sehr rigoros gefordert hatte.30 Er sieht in der Kunst nunmehr vor allem den Ausdruck von jeweils begrenzten ›Weltanschauungen‹, die sich im Verlauf der Geschichte fundamental verändern können. Damit ergibt sich das Problem, wie es überhaupt möglich ist, mit den Denkformen der eigenen Gegenwart Kunstwerke aus vergangenen Zeiten zu verstehen, in denen sich ganz andere Einstellungen zur Welt dokumentieren. Eine ausführliche ErläuteE. Panofsky: Die Perspektive als »symbolische Form«, 260, vgl. ders.: Dürers Kunsttheorie, 21 Fn 1. 28 Auch Wind erwähnt die Perspektive in demselben Zusammenhang nur ganz kurz, vgl. E. Wind: Zur Systematik der künstlerischen Probleme, 452. 29 E. Panofsky: Die Perspektive als »symbolische Form«, 268 und 270. 30 Ders.: Der Begriff des Kunstwollens, 329. 27

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rung dieses Problems gibt Panofsky erstmals in seinem 1932 publizierten Aufsatz »Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst«.31 Darin betont er, dass sich verschiedene Weltanschauungen nicht nur in der verschiedenartigen formalen Gestaltung von Kunstwerken manifestieren, sondern ebenso auch in den Inhalten, die darin aufgegriffen werden. So entsteht zum Beispiel in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts plötzlich ein ausgeprägtes Interesse an Darstellungen des Hercules am Scheidewege, das nur zu erklären ist, wenn man auch Texte aus dieser Zeit heranzieht.32 Der Aufgabe, diejenigen Texte ausfindig zu machen, aus denen sich sowohl die speziellen Themen als auch die generellen Konzeptionen der Kunst vergangener Zeiten erschließen lassen, hat sich Panofsky bekanntlich zeit seines Lebens mit besonderer Hingabe gewidmet. Doch gerade diese Begeisterung für die philologische Forschung dürfte ihn auch vor der Versuchung bewahrt haben, die bildende Kunst ebenfalls wie einen Text zu betrachten. Wenn man den in einem Bild dargestellten Dingen eine bestimmte ›ikonographisch‹ feststellbare Bedeutung beimessen kann, dann ist zu deren Aufschlüsselung zwar stets ›literarisches Wissen‹ unerlässlich, aber daraus folgt keineswegs, dass man dann auch das Bild selbst als Medium einer sprachlichen Aussage betrachten muss. Im Gegenteil. Das Bild ist gerade dann von der Zumutung, eine Aussage machen zu müssen, befreit, wenn diese Aufgabe bereits von einem externen Text übernommen wurde. Auch aus Panofskys späterem Werk, das sich vornehmlich auf die ikonographische Deutung von Kunstwerken konzentriert, ergibt sich für die Frage, ob die bildende Kunst als eine Sprache aufzufassen ist, demnach nicht Neues. Hätte sich Panofsky diese Frage also wirklich einmal ausdrücklich gestellt, so hätte seine Antwort in jedem Fall nur lauten können: Nein.

31 Ders.: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst. 32 Ders.: Hercules am Scheidewege.

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Literatur Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, Berlin 1923 Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft, Königsberg 21787 – Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Riga 1783 Panofsky, Erwin: Das Problem des Stils in der bildenden Kunst, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 10 (1915), 460–467 – Der Begriff des Kunstwollens, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 14 (1920), 321–339 – Die Perspektive als »symbolische Form«, in: F. Saxl (Hg.): Vorträge der Bibliothek Warburg 1924–1931, Bd. I: Vorträge 1924–1925, Leipzig/ Berlin 1927, 258–330 – Dürers Kunsttheorie, vornehmlich in ihrem Verhältnis zur Kunsttheorie der Italiener, Berlin 1915 – Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst, Leipzig 1930 – Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie. Ein Beitrag zu der Erörterung über die Möglichkeit »kunstwissenschaft licher Grundbegriffe«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 18 (1925), 129–161 – Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst, in: Logos 21 (1932), 103–119 Schlick, Moritz: Die Wende der Philosophie, in: Erkenntnis 1 (1930–31), 4–11 Wind, Edgar: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Ein Beitrag zur Methodologie der Kunstgeschichte [Diss. Hamburg 1922], hg. von P. Schneider, Hamburg 2011 – Theory of Art versus Aesthetics, in: The Philosophical Review 34 (1925), 350–359 – Zur Systematik der künstlerischen Probleme, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 18 (1925), 438–486 Wölfflin, Heinrich: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1915

Das Kunstwerk in Heideggers Denken der zwanziger Jahre. Versuch einer Ortsbestimmung Meike Siegfried Hinführung zum Thema Wenn man bedenkt, welch eine herausragende Bedeutung der Kunst, vor allem der Dichtung Friedrich Hölderlins, in Heideggers Denken ab Beginn der dreißiger Jahre zugesprochen wird, dann verwundert es, welch verschwindend geringe Rolle dieses bestimmte Seiende in Heideggers philosophischen Entwürfen der zwanziger Jahre spielt. Zwar wird vor allem in den frühen Freiburger Vorlesungen immer wieder einmal punktuell auf das ›Erleben‹ konkreter Kunstwerke rekurriert, doch eine eingehende Betrachtung des Phänomens ›Kunst‹ bleibt aus. Dass jedoch Heideggers phänomenologisch-hermeneutischer Grundansatz, nach der Weise des Begegnens unterschiedlicher ›Dinge‹ im Horizont des Bezugsgeflechtes von Umwelt, Mitwelt und Selbstwelt zu fragen, besonders qualifiziert erscheint, sich auch dem spezifischen Sich-Zeigen eines Kunstwerkes zu widmen, ist offensichtlich. Geht man mit Günter Figal davon aus, dass Kunstwerke als »wesentlich phänomenale Dinge oder umgekehrt: Phänomene, die wesentlich dinglich sind«1, begriffen werden können, erweist sich die phänomenologische Herangehensweise als vielversprechende Methode, der Besonderheit der ›Erfahrung‹ des Kunstwerkes nachzugehen. Wenn hier im Ausgang von dieser Grundüberzeugung hinsichtlich des Potentials von Heideggers phänomenologisch-hermeneutischem Vorgehen der zwanziger Jahre für kunstphilosophische Überlegungen versucht werden soll, nach dem möglichen Ort des Kunstwerkes in dieser Phase seines Denkens – von der frühesten erhaltenen Freiburger Vorlesung bis hin zu Sein und Zeit2 – zu fragen, dann geht diese Untersuchung jedoch nicht von der Erwartung aus, es ließe sich im Zuge dieses Fragens einfach eine Komplettierung von Heideggers eigenen Analysen vornehmen. Vielmehr erscheint die geplante Ortsbestimmung im Hinblick auf eine Auseinandersetzung mit Heideggers Denken erst dann als besonders lohnenswert, wenn sich die Entdeckung machen ließe, dass die hier vorgenommene Hinwendung zur Kunst

G. Figal: Erscheinungsdinge, 4. Dinglichkeit kann hier freilich nicht ›Materialität‹ im vordergründigen Sinne meinen – das Schauspiel und den Tanz als ›Dinge‹ zu fassen, schiene dann höchst zweifelhaft; zu Figals näherer Auslegung der spezifischen ›Dinglichkeit‹ von Kunstwerken, die er betont weit fasst, vgl. ebd., 97. Während hier vor allem auf die Fixiertheit von Kunstwerken abgehoben wird, erscheint es jedoch vor dem Hintergrund des Heidegger’schen Ansatzes als naheliegend, die ›Dinglichkeit‹ des Werkes vornehmlich an seinem innerweltlichen Begegnen als abgehobener Gegenstand oder eigenständig erfahrene Darstellung festzumachen. 2 Im Folg. zit. als SZ mit Seitenzahl. 1

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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im Ausgang von Heideggers eigenem Grundansatz sowie seinen verstreuten Bemerkungen zum Kunstphänomen neue, über seine tatsächlich geleisteten Auslegungen hinausgehende Perspektiven auf das Begegnen von innerweltlichen Dingen in einer von gemeinsam handelnden Menschen geteilten Welt zu erschließen vermag. Der geplante Versuch der genannten ›Ortbestimmung‹ soll nun in folgenden Schritten realisiert werden: Zunächst wird im Anschluss an Heideggers eigene Hinweise zum Phänomen der Kunst in den frühen Freiburger Vorlesungen die Kunst als eine Weise der Selbstverständigung des Lebens an sich vorgestellt. Das Ausbleiben einer tatsächlichen Betrachtung der Kunst in ihrer Eigenständigkeit neben anderen Artikulationsformen des Lebens motiviert anschließend zur Konfrontation von Heideggers eigenen Umweltanalysen der zwanziger Jahre mit dem sich einer fraglos gelingenden Welteinordnung verweigernden ›Kunstding‹. Um dessen spezifische ›Sperrigkeit‹ im Sinne einer Spannung zwischen Sinnhaftigkeit und Sinnentzug prägnanter fassen zu können, wird das Begegnen des Kunstwerkes schließlich in einem Interpretationsversuch mit Heidegger gegen Heidegger als Initiierung eines Gesprächs gedeutet. Diese Auslegung wird zuletzt selbst als Eröff nung eines Dialogs verstanden, konkreter: als Formulierung ausgewählter Fragen an Heideggers eigene Hinwendung zum Ursprungs des Kunstwerkes3 ab Beginn der dreißiger Jahre. Kunst in den frühen Freiburger Vorlesungen, erster Bestimmungsversuch: Kunst als Selbstauslegung des faktischen Lebens Ein Blick auf die Thematisierung von Kunstwerken in den frühen Freiburger Vorlesungen ergibt zunächst folgendes Bild: Um 1920 ist die Einbeziehung von Kunst, meist unter Nennung bestimmter Kunstwerke, in Heideggers Ausführungen noch präsenter als später, wie etwa die Vorlesung »Grundprobleme der Phänomenologie« vom WS 1919/20 zeigt. Neben Religion und Wissenschaft nennt Heidegger bei seiner Hinwendung zum faktischen Leben auch die Kunst als eine Weise dieses Lebens, eine Auslegung seiner selbst vorzunehmen.4 In der Kunst, dies lässt sich aus Heideggers Hinweisen entnehmen, wird sich das Leben also auf eine bestimmte Weise verständlich.5

Im Folg. zit. als UK mit Seitenzahl. Vgl. vor allem M. Heidegger: Grundprobleme, § 9 und § 11. 5 Bemerkenswerterweise beschreibt Heidegger die Selbstartikulation des Lebens in ›Institutionen‹ wie Kunst oder Wissenschaft in den frühen Freiburger Vorlesungen auch wiederholt als eine Art Selbstgespräch: Es sei offenkundig, »daß das Leben immer in seiner eigenen Sprache sich anspricht und sich antwortet« (M. Heidegger: Grundprobleme, 42). Trotz der Knappheit von Heideggers Bemerkungen zur Kunst als Selbstverständigung des Lebens wäre die Herausarbeitung konkreter Rezeptionsspuren mit Blick auf einschlägige lebensphilosophische Kunstauffassungen von Dilthey bis Simmel eine lohnenswerte Aufgabe, die hier jedoch nicht unternommen werden kann. 3 4

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Im Fokus steht diese spezifische Weise der Selbstauslegung jedoch nicht; vielmehr ist es im Besonderen die das faktische Erleben ent-lebende6 Einstellung der Wissenschaften, die Heidegger beschäft igt – die traditionelle Vorrangstellung des Theoretischen, die er als eine Verzerrung wirklichen Erlebens aufweisen möchte. Denn indem die einzelnen Wissenschaften auf bestimmte ›Weltstücke‹ zugreifen, zerlegen sie laut Heidegger das ganzheitliche Erleben in einzelne ›Teile‹ oder ›Vorgänge‹. Besonders nachdrücklich realisiere sich diese ›Vergegenständlichung‹ in den modernen Naturwissenschaften: Während der wandernde ›Naturfreund‹ im Durchqueren der Felder Düfte, Farben und Vogelgezwitscher unmittelbar auf sich wirken lässt, präsentiert sich die Umwelt für den Naturwissenschaft ler laut Heidegger als »farbige, tönende, warme, kalte Dingwelt«.7 Die Abkünft igkeit der theoretischen als einer auf die Bestimmung der Eigenschaften der Dinge abzielenden Einstellung sucht Heidegger bereits mit der berühmten Schilderung der ›Kathederszene‹ in seiner Vorlesung Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem aus dem Kriegsnotsemester 1919 aufzuweisen: 8 Ich komme in den Hörsaal und sehe vorne nicht ein braunes, eckiges, rechtwinklig zusammengeschraubtes Ding aus Holz stehen, sondern das Katheder, an dem der Lehrende gleich seine Vorlesung halten wird. Ich sehe grundsätzlich nicht zunächst neutrale Dinge, denen ich nachträglich eine Bedeutung überstülpe, sondern das Bedeutungshafte erweist sich als das Vorgängige. Heidegger selbst: In dem Erlebnis des Kathedersehens gibt sich mir etwas aus einer unmittelbaren Umwelt. Dieses Umweltliche (Katheder, Buch, Tafel, Kollegheft , Füllfeder, Pedell, Korpsstudent, Straßenbahn, Automobil usf. usf.) sind nicht Sachen mit einem bestimmten Bedeutungscharakter, Gegenstände, und dazu noch aufgefasst als das und das bedeutend, sondern das Bedeutsame ist das Primäre, gibt sich mir unmittelbar, ohne jeden gedanklichen Umweg über ein Sacherfassen. In einer Umwelt lebend, bedeutet es mir überall und immer, es ist alles welthaft, ›es weltet‹.9

Als eine Kernfrage Heideggers in dieser Zeit präsentiert sich somit diejenige nach der Ursprünglichkeit des Erlebens bzw. der jeweiligen Manifestationen einer Selbstauslegung des faktischen Lebens. Die Wissenschaften stehen dabei offenkundig am Ende eines vielstufigen Ent-lebungsprozesses, die Philosophie im Sinne einer ›vortheoretischen Urwissenschaft‹ hingegen soll das ganze Leben an sich in seiner Komplexität und Ursprünglichkeit in die Sicht bringen.10 Dazwischen, dies macht Heidegger deutlich, liegen zahlreiche Abstufungen einer Zergliederung und Verdinglichung des faktischen Erlebens und er legt zugleich nahe, dass sich die Kunst Zum ›Ent-leben‹ vgl. M. Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie, 73 f. sowie § 17, und ders.: Grundprobleme, 77 f. 7 M. Heidegger: Grundprobleme, 52. 8 Vgl. ders.: Zur Bestimmung der Philosophie, § 14. 9 Ebd., 72 f. 10 Vgl. zur Philosophie als »Ursprungswissenschaft vom Leben an sich« exemplarisch Grundprobleme, § 18. 6

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als eine Selbstauslegung des Lebens begreifen lässt, welche eine solche Mittelstellung zwischen Philosophie und Wissenschaft einnimmt. So verweist Heidegger mehrmals auf die spezifische Entlebung eines Kunsterlebnisses, z. B. des »ästhetischen Genusses« von Rembrandt-Bildern sowie des Hörens einer Choralmesse, sofern diese Gegenstand kunstgeschichtlicher sowie theologischer Abhandlungen würden.11 Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang Heideggers ausführlichere Thematisierung des Phänomens des Erzählens in der schon genannten Vorlesung »Grundprobleme der Phänomenologie« vom WS 1919/20.12 Heidegger schreibt dieser Weise der Kenntnisnahme zu, dem ursprünglichen Erleben eine erste Struktur zu geben, ihm aber noch direkt verhaftet zu sein. Im Erzählen, so heißt es, »werden faktisch erlebte Bedeutsamkeitszusammenhänge zwar expliziert, aber doch in ihrer lebendigen Faktizität dabei belassen. Die Explikation ist die kenntnisnehmend erzählende, aber im Grundstil des faktischen Erfahrens«13. Die erzählende Kenntnisnahme leistet somit durchaus eine »ausdrückliche Gestaltgebung. Sie expliziert einen Zusammenhang, den das faktische Erfahren selbst nicht kennt, für den es gar kein Organ hat.«14 Vollbracht wird also eine erste Objektivierung, doch es handelt sich dabei nach Heidegger um eine »nicht theoretisch-wissenschaft liche Gegenständlichung«15. So ließe sich die Frage aufwerfen, ob vor diesem Hintergrund nicht die Literatur, speziell vielleicht der Roman, als besonders hervorragende Artikulation des ursprünglichen ›Weltens‹, also eines ursprünglichen Erschließens der Bedeutsamkeit von Welt, begriffen werden könnte. In der sehr viel späteren Vorlesung »Die Grundprobleme der Phänomenologie« aus dem SS 1927 äußert sich Heidegger zu einer Passage aus Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge folgendermaßen: Diese Stelle – die eindringliche Beschreibung einer Mauer, eines Häuserrestes, welche die gesamte Szenerie des ehemaligen ärmlichen Wohnhauses wieder aufleben lässt – zeige, wie das »In-der-Welt-sein […] aus den Dingen uns entgegenspringt«16 . Andererseits steht bei Heideggers Thematisierung des Erzählens in der genannten frühen Freiburger Vorlesung vor allem das spontane, nicht-literarische Alltagserzählen im Fokus – dem spezifischen Kunstcharakter des Kunstwerkes, in diesem Fall der Dichtung, wird hier von Heidegger nicht explizit nachgefragt und ein solches Fragen Vgl. Grundprobleme, 76. Eine mögliche Binnendifferenzierung bezüglich der ›Lebensnähe‹ von Kunst bietet sich an: Das Kunsterleben selbst ließe sich als ursprünglicherer Lebensvollzug begreifen als das theoretische Erkennen, doch auch bezüglich der Gestaltung des Kunstwerkes als Selbstartikulation des Lebens ließen sich lebensnähere und weniger lebensnahe Formen unterscheiden; verwiesen werden kann hier auf Georg Simmels Rembrandt-Buch, wo Rembrandts Werk als gelungene Überwindung einer Zerstückelung der Lebenstotalität interpretiert wird; vgl. G. Simmel: Rembrandt. 12 Vgl. dazu M. Heidegger: Grundprobleme, § 25. 13 Ebd., 111. 14 Ebd., 118. 15 Ebd., 112. 16 Ders.: Die Grundprobleme der Phänomenologie, 246. 11

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bleibt letztlich insgesamt aus, da Heidegger auch die Beispiele des Erlebens der Rembrandt-Bilder oder der Choralmesse nicht als Ausgangspunkt einer tatsächlichen Annäherung an das spezifische Sein des Kunstwerkes nutzt. Möchte man dieses ›Versäumnis‹ versuchen nachzuholen und im Horizont von Heideggers Ansatz der frühen zwanziger Jahre nach dem Kunsthaften des Kunstwerkes fragen, dann bietet sich vor dem Hintergrund seiner phänomenologischhermeneutischen Ausrichtung ein Zugang an, den er ca. zehn Jahre später bei der Hinwendung zum »Ursprung des Kunstwerkes« selbst als Ausgangspunkt seiner Analysen wählt: Die Frage nach dem spezifischen Begegnen des Werkes als eines ganz besonderen ›Dinges‹ unter anderen. Der nun folgende Versuch, ein solches Fragen im Rahmen der Konzeption um 1920 gleichsam nachzuholen, wird jedoch – darauf sei schon hingewiesen – eine Perspektive auf das Kunstwerk eröffnen, welche über eine Einordnung seines Sich-Zeigens in eine Abstufungsordnung mehr oder weniger ursprünglicher Artikulationen faktischen Erlebens hinausweist und die Idee der Verständigung des Lebens über sich selbst in einer ganz bestimmten Weise fruchtbar zu machen sucht.

Kunst in den frühen Freiburger Vorlesungen, zweiter Bestimmungsversuch: Das Kunstwerk als ›fremdes Zeug‹ Wenn also nun nach dem spezifischen Begegnen des Kunstwerkes innerhalb der komplexen Lebenswelt gefragt werden soll, dann ließe sich als Ort eines solchen Begegnens durchaus auch der Hörsaal aus Heideggers eigenem Szenenentwurf aus der Vorlesung Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem von 1919 denken. Analog zu Heideggers Analyse der ›Wahrnehmung‹ der Ausstattung des den Eintretenden vertrauten Hörsaals ließe sich danach fragen, wie oder als was z. B. eine dort aufgestellte Plastik – denken wir uns die Nachbildung einer griechischen Statue – begegnete. Da dem Personal der Universität dieser Anblick grundsätzlich als nicht unvertraut erscheinen dürfte, stellten sich mit der Räumlichkeit vertraute Personen vermutlich eher die Frage, warum man dieses Objekt hier aufgestellt habe – möglicherweise als reine Dekoration, vielleicht auch als Demonstration der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tradition. Lässt man jedoch, wie es Heidegger bei seiner Schilderung der fi ktiven Hörsaalszene schließlich selbst tut, Personen in den Raum eintreten, die mit der Szenerie nicht vertraut sind, tritt die Eigentümlichkeit des Begegnens eines Kunstwerkes im Gegensatz zum pragmatischen Verstehen der Gegenstände Katheder, Tafel, Landkarte deutlich hervor: Im Hinblick auf das Katheder behauptet Heidegger, der Fremde – in seinem Beispiel zunächst ein Schwarzwaldbauer und schließlich ein Senegalese – wisse zwar nicht, was dies sei, er nähme diesen ›Kasten‹ aber als ein Ding wahr, mit dem man irgendetwas anfangen könnte, das sich prinzipiell herausfinden ließe; der Schwarzwaldbauer ahnte dabei wohl schon den Platz des Lehrers, der Senegalese sei sicherlich ratloser, aber allein mit der Frage nach dem Wozu, die

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Heidegger ihm in den Mund legt, grundsätzlich auf der richtigen Spur.17 Das Fremdsein eines Objektes wird hier offensichtlich vollkommen mit der vorläufigen Unbekanntheit von spezifischen Um-zu-Bezügen identifiziert.18 Wie steht es nun mit der Plastik – vor allem, wenn man dabei an ein abstrakteres Gebilde und nicht mehr an einen griechischen Jüngling denkt, um die mögliche ›Befremdlichkeit‹ des Gegenstandes im Hörsaal stärker zu akzentuieren?19 Sicherlich lässt sich auch hier die Frage nach dem Wozu stellen – es ließen sich ja, wie vorhin schon deutlich wurde, durchaus Zwecke nennen, die mit dem Aufstellen von Kunstwerken an dem Ort der Universität, wie generell im öffentlichen Raum, verbunden worden sind.20 Doch es lassen sich ebenso gute Gründe dafür angeben, dass der Kunstcharakter des Werkes sich in einem solchen Befragtsein – »Was ist das? […] Wozu wird das gebraucht? Was macht man damit?«21 – gerade nicht zeigt. Vielmehr scheint sich das ›Wesen‹ der Plastik als eines Kunstwerkes darin zu offenbaren, dass das Fragen nach einem schlichten Wozu im Sinne der Verwendbarkeit oder Zweckgebundenheit, wie sie dem Zuhandenen eigen ist, scheitert.22 So eröff net Heideggers Analyse des bedeutungshaften Begegnens von ›Gegenständen‹ zu Beginn der zwanziger Jahre durchaus einen Weg zur Frage nach dem spezifischen Sein des Kunstwerkes, beschreitet diesen aber selbst nicht. Vielmehr deutet sich schon in der Schilderung des Kathedererlebnisses in der Vorlesung im Kriegsnotsemester 1919 die Ausrichtung von Heideggers späteren Analysen in den Vgl. M. Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie, 72. Vgl. zur Reduzierung des Fremdseins von Objekten auf ›zeugliches Fremdsein‹ auch M. Heidegger: Der Begriff der Zeit, 32 sowie ders.: Ontologie, 100 und ders.: Prolegomena, 334. 19 Eine sehr informative Übersicht über das Projekt ›Kunst am Bau‹ auf dem Gelände einer Universität bietet die Ruhr-Universität Bochum (vgl. die entsprechende Website www.ruhr-unibochum.de/kuba; aufgerufen am 23.07.2013). Die Röhrenplastik »Tor und Doppelwinkel« (1972/86) von Friedrich Gräsel auf dem Westforum, die Betonplastik von Hanns Holtwiesche (Ohne Titel, 1969) beim NA-Gebäude (Zwischenhof) sowie die Neoninstallationen von Ferdinand Kriwet und Axel Offergeld (beide Ohne Titel, beide 1971) im Mensa-/Cafeteria-Bereich ließen sich als ausgewählte Beispiele für ein konkretes Fragen nach dem spezifischen Begegnen dieser ›Objekte‹ im ansonsten zweckmäßig ausgestatteten Raum der Universität nennen. 20 Entsprechend muss mir das Werk als solches auch gar nicht auffallen; so wie ich jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit an denselben Bäumen und Straßenschildern entlanggehe, kann ich ein Kunstwerk im öffentlichen Raum als bloßes Zubehör zur vertrauten Umwelt wahrnehmen, habe mich von ihm dann jedoch nicht in seiner Eigenart ansprechen lassen. 21 M. Heidegger: Ontologie, 95. 22 Was, wie sich im Folgenden zeigen wird, nicht bedeuten soll, das Werk falle komplett aus der ›Welt‹ heraus, stehe also unzugänglich und rein für sich einfach ›da‹. Wird die oft behauptete ›Autonomie‹ der Kunst in dieser Weise gefasst, werden tatsächlich die mannigfachen Bezüge, in denen das Werk steht, ignoriert. Um die möglichen Funktionen, welche Kunst erfüllen kann, herauszustellen, greift Reinold Schmücker gar bewusst provokativ auf Heideggers Begriff des ›Zeugs‹ zurück und spricht dem Kunstwerk dezidiert einen spezifischen ›Zeugcharakter‹ zu; vgl. R. Schmücker: Lob der Kunst als Zeug. Dass jedes Kunstwerk auch als Zeug begegnen kann, sollte jedoch nicht dazu verleiten, es grundsätzlich als ›Zeug‹ zu fassen, weil die Unterscheidbarkeit vom Hammer oder Schuh – beliebte Gebrauchsgegenstände bei Heidegger – so konsequent verwischt wird. 17

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Marburger Vorlesungen sowie in Sein und Zeit klar an: Der Fokus liegt auf dem Begegnen bestimmter Gebrauchsgegenstände in ihrer jeweils spezifischen Umwelt, die sich vornehmlich als in sich reich gegliederte Werkwelt präsentiert.

Die Frage nach dem Ort der Kunst in Heideggers Existenzialanalyse: Eine Leerstelle im doppelten Sinne Im Rahmen der Erschließung der Weltlichkeit der Welt, die Heideggers Hinwendung zum Zuhandenen als dem im alltäglichen Umgang zunächst Begegnenden leitet, wird jedoch schließlich eine Weise des Daseins von ›Dingen‹ entdeckt, welche bestimmte Merkmale mit dem Begegnen des Kunstwerkes zu teilen scheint: Das sog. bloß Vorhandene hat sich bereits aus den ursprünglich ganz unthematischen Verweisungen des im Hantieren gegenwärtigen Zeugs herausgelöst. Die Schilderung der Phänomene des Ausfallens, der Störung, kurz: der ›Leerstelle‹ im Bezugsgeflecht, die Heidegger hier vornimmt, ermöglicht es, das Begegnen von Gegenständen zu denken, die aus den in ihrer Vielgestaltigkeit zwar quantitativ unüberschaubaren, aber doch stets nachvollziehbaren Verweisungen der Werkwelt in gewisser Weise herausfallen.23 Indem Heidegger jedoch in seinen eigenen Analysen lediglich der Möglichkeit einer nunmehr rein theoretisch interessierten Betrachtung des zum Vorhandenen gewordenen Dinges nachgeht, erweist sich das Kunstwerk als eine doppelte Leerstelle: Die eben genannten Phänomene, welche ein Entgleiten des Zeugs als eines Zuhandenen markieren, werden von Heidegger durchweg gerade als ein Aufleuchten der immer schon vertrauten Welt in ihrer Horizonthaftigkeit gedeutet.24 Eine Auslegung solcher Leerstellen, die auf einen breiteren Reichtum an Gegenständen neben den pragmatisch und den theoretisch erschlossenen hindeutet, wird in Heideggers Analysen ebenso wenig in Angriff genommen wie die Frage nach einer anderen Weise des Offenbarseins von Weltlichkeit denn das bloße Aufscheinen der »Weltmäßigkeit des Innerweltlichen« (SZ, 73) im Sinne einer jedem konkreten Zeug vorgängigen ›Bewandtnisganzheit‹. Im Rückgang auf die vorher vorgenommene imaginäre Aufstellung der Plastik im Hörsaal ließe sich nun folgender Versuch einer Hinwendung zum Kunstwerk als solchem vor dem Hintergrund der Heidegger’schen phänomenologisch-hermeneutischen Konzeption unternehmen: Anders als der Gebrauchsgegenstand begegnet das Kunstwerk zunächst als etwas, das sich gerade nicht auf die Struktur des etwas als etwas im Sinne des eindeutig Zweckhaften, zu diesem oder jenem Gebrauch Tauglichen reduzieren lässt. Diese Nicht-Verortbarkeit im Verweisungsganzen der 23 Die drei Störungstypen, die Heidegger thematisiert, sind die Auff älligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit von Zuhandenem, an welchem sich in diesen Modi des Begegnens bereits die Kategorie der bloßen Vorhandenheit ›meldet‹; vgl. SZ, 74. 24 Vgl. SZ, 75 f.

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Um-zu-Bezüge isoliert das Kunstwerk aber offensichtlich nicht vollkommen aus sämtlichen weltlich-bedeutungshaften Bezügen. Es wurde vorhin betont, dass die schlichte Frage »Was kann man damit anfangen?« sich hier nicht analog zur Beantwortung dieser Frage im Hinblick auf eine Tafel oder ein Stück Kreide behandeln lässt, d. h. ich werde auf diese Weise nicht fertig mit dem ›Gegenstand‹. Und doch ist ein Fragegeschehen angestoßen: Das ›Ding‹ mir gegenüber sagt mir etwas und verweigert sich doch zugleich.25 Um diese Spannung zwischen Zu-Verstehen-Geben und Sich-Entziehen konkreter zu fassen, soll im Folgenden das Begegnen eines Kunstwerkes als Initiierung eines Gesprächs, oder genauer: mannigfaltiger Gespräche, in einer ganz besonderen Hinsicht gedeutet werden.

Ein Versuch mit Heidegger gegen Heidegger: Kunst als Initiierung eines Gesprächs Wenn nun versucht wird, im Ausgang von Heideggers Analysen des Begegnens von ›Dingen‹ aus einer stets schon bedeutungshaften Welt heraus eine Bestimmung der eigentümlichen Gesprächsbezogenheit des Kunstwerkes vorzunehmen, dann gelangen dabei neben der Kunst selbst noch andere Phänomene in den Blick, die in Heideggers Konzeption von Sein und Zeit eine eher unscheinbare Rolle spielen. Ihre ›Hebung‹ ins Offene soll jedoch eher als Freilegung eines Potentials denn als Herantragen vollkommen fremder Motive an Heideggers Denken begriffen werden. Im nächsten Abschnitt soll zudem abschließend gezeigt werden, dass sich in Heideggers eigenen Überlegungen zum »Ursprung des Kunstwerkes« in den dreißiger Jahren direkte Anknüpfungspunkte zu der hier vorgenommenen Interpretation ausmachen lassen, so dass es sich insgesamt bei der im Folgenden vorgenommenen Deutung in zentralen Punkten um eine Auslegung gegen Heidegger mit Heidegger selbst handelt. Wenn das Kunstwerk, wie eben dargelegt, durchaus ein Fragegeschehen in Gang bringt, ja selbst – anders als das im Gebrauch zugängliche Zeug wie der Hammer etwa – geradezu eine Aufforderung zur Auslegung darstellt, dann handelt es sich Das bedeutet, dass die Möglichkeit, im bloßen Anblick eines offenkundig zwecklosen ›Dinges‹ zu verharren, nur eine Möglichkeit der ›Wahrnehmung‹ dieses Gegenstandes ist. Es handelt sich schließlich dabei um eine Weise des Begegnens, in der z. B. auch ein Werkzeug erscheinen kann, wenn man plötzlich auf eine bestimmte Verzierung seines Griffes achtet oder auf seine schwungvolle Form aufmerksam wird. Es bietet sich daher an, hier ganz grundlegend von einem ästhetischen Erleben zu sprechen, das in Heideggers Konzeption von Sein und Zeit ebenfalls keinen eigenen Platz eingeräumt bekommt und dessen Thematisierung auch im Hinblick auf andere, bei Heidegger in den zwanziger Jahren unterbestimmte Phänomene lohnenswert sein könnte – zu denken wäre etwa an die Natur; vgl. zur Frage nach dem Ort von Natur und Kunst in Sein und Zeit auch M. Siegfried: Abkehr vom Subjekt, Teil I/Abschnitt II/Kapitel 2.2.2: Die ›Ökonomie‹ des In-Seins und die Frage nach deren Irritation durch Natur, Kunst und Leib, sowie zur in dieser Fußnote vorausgesetzten Differenzierung zwischen ästhetischem Erleben und Kunsterfahrung R. Schmücker: Was ist Kunst?, 55 ff. 25

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hier um die Initiierung eines Gesprächs in zweifacher Hinsicht: Das Begegnen des Werkes selbst lässt sich durchaus als Situation einer Anrede beschreiben, die zur Antwortfindung motiviert; da der Prozess der Deutung jedoch nicht in der Weise abschließbar ist wie dies beim Fragegeschehen der Fall ist, welches das unvertraute Zeug anzustoßen vermag, eröffnet das Sich-vom-Kunstwerk-Ansprechen-Lassen ein Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Auslegungen. Anders als ein bestimmtes Werkzeug oder eine Maschine, die ich notfalls auch durch einsame, stumme Versuche des Hantierens in ihrer Dienlichkeit erschließen kann, verweist das Kunstwerk auf die Sphäre der Intersubjektivität, der Öffentlichkeit als eines Raumes der gemeinsamen Sinnproduktion, zu der auch der Dissens konkurrierender Interpretationen gehört – obgleich es nicht zwangsläufig zu einem erbitterten Streit der Deutungen kommen muss. Doch auch ein erzielter Konsens ist erstens Ergebnis eines Durchgesprochenseins verschiedener Auslegungsmöglichkeiten und steht zweitens mit Blick auf die Dimension der Geschichtlichkeit immer wieder auf dem Prüfstand.26 Eine Identifizierung des Seins eines bestimmten Kunstwerkes mit dem, was man über es spricht,27 entpuppt sich so gerade nicht zwangsläufig als Horrorszenario einer ungehemmten »Diktatur« des Man;28 vielmehr wird unterstellt, dass dieses Sprechen-über eine innere Dynamik entfalten kann und sich als Ausdruck einer echten Pluralität zu erweisen vermag. Somit lässt sich der Auffassung der Kunst als Selbstverständigung des Lebens, die Heideggers frühe Freiburger Vorlesungen andeuteten, eine ganz bestimmte Wendung geben: Indem das Werk sich nicht einfach der stets vertrauten Umwelt einordnen lässt, andererseits aber auch nicht komplett aus der Welt herausfällt, weil es uns sonst gar nicht in der Weise angehen könnte, eröffnet es die Chance, zu den vertrauten Bezügen in eine Distanz zu gehen, welche jedoch nicht die Einnahme eines selbst vollkommen weltlosen Standpunktes meint. In dieser Abstandnahme, die sich in der eigentümlichen Spannung zwischen Weltabgewandtheit und Weltzugewandtheit Damit soll nicht behauptet werden, die Deutungsprozesse müssten sich stets in der Öffentlichkeit für jedermann einsichtig als dezidierte Kunstkritik-Debatten vollziehen; nicht weniger deutlich als ein tatsächlicher Streit über das Verständnis und die Gelungenheit bestimmter Werke vermag das fraglose Akzeptieren eines Werkes als Kunst oder einer bestimmten Interpretationsrichtung hinsichtlich seiner Deutung die Bedeutung der intersubjektiven Verständigung über das präsentierte Objekt offenbar zu machen. Besonders geeignete Beispiele für die Verdeutlichung einer Gesprächsstift ung durch Kunst in Abgrenzung vom zum Gebrauch einladenden Zeug sind sicherlich Marcel Duchamps ready-mades, die sich vom mitunter identisch aussehenden Zeug eben dadurch unterscheiden, einen anderen Verstehens- und Auslegungsprozess in Gang zu setzen, als wenn wir diese ›Objekte‹, das Urinal etwa, als Elemente einer umweltlich-funktionalen Bewandtnisganzheit wahrnähmen. Verwiesen werden kann hier zudem auf den Aspekt der »aboutness«, die Arthur Danto herausstellt, um den Kunstcharakter dieser Werke zu fassen. So deutet sich auch ein weiteres Kommunikationsgeschehen an, welches im Werk eröff net wird: die Zugehörigkeit des Werkes zum großen Gespräch der Kunst selbst, zum eigenen ›Kosmos‹ der Kunstproduktion und -rezeption, der eine eigene ›Welt‹ darstellt. 27 Vgl. Heideggers Feststellung aus den Prolegomena: »[…] wir sehen, was man über die Sache spricht« (M. Heidegger: Prolegomena, 75). 28 Zu Heideggers Rede von der »Diktatur« des Man vgl. SZ, 126. 26

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hält, vermag die stets zugängliche, durch bestimmte Praktiken strukturierte Umwelt des Schwarzwaldbauern, des Universitätsdozenten, des Handwerkers etc. sich selbst als frag-würdig zu erweisen, d. h. als auf seine Sinnhaftigkeit hin grundsätzlich befragbarer Möglichkeitsspielraum. Die Stellungnahme des Lebens zu sich selbst im Kunstwerk trägt somit das Potential einer Selbstverständigung in sich, die neue Möglichkeiten konkreter Weltgestaltung zu erschließen vermag. Welt zeigt sich hier also nicht einfach als Horizont des vertrauten Hantierens mit den Dingen oder des alltäglichen Umgangs mit anderen Menschen, sondern konkrete Umwelt wird in ihrer Offenheit selbst offenbar.29 In gewisser Weise begegnete somit dem Dasein aus Heideggers Existenzialanalyse hier ›etwas‹ in der Welt, in dem es sich in einer Weise wiederfinden könnte, die sein eigenes Selbstverständnis gerade nicht auf eine subtile ›Verdinglichung‹ reduzierte wie die von Heidegger unterstellte Orientierung am Vorhandenen: Dasein als das letzte »Worumwillen«, welches den die konkrete Umwelt transzendierenden ›Grund‹ der Kette der Verweisungen der Um-zu-Bezüge darstellen soll, lässt sich von den in diesen Bezügen bedeutungshaft begegnenden ›Dingen‹ aus nicht erschließen. Entsprechend wird in der Angst als ausgezeichneter Gestimmtheit, welche das Dasein vor sich selbst bringen soll, alles Innerweltliche bedeutungslos.30 Heidegger zur Angst: »Die innerweltlich entdeckte Bewandtnisganzheit des Zuhandenen und Vorhandenen ist als solche überhaupt ohne Belang. Sie sinkt in sich zusammen. Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit.« (SZ, 186) Das Kunstwerk hingegen eröffnet mit seiner Offenheit und Unabschließbarkeit hinsichtlich möglicher, nicht auf ein Wozu reduzierbarer Bedeutungen die Chance, das eigene Dasein als zugleich be-dingtes, in die Welt geworfenes, und dennoch zur stets neuen Antwort aufgefordertes, d. h. zugleich weltgestaltendes zu begreifen, oder noch genauer: Anders als Zu- und Vorhandenes ermöglichte es das Kunstwerk dem Heidegger’schen Dasein der Existenzialanalyse, dies tatsächlich im Kontakt mit einem innerweltlichen ›Gegenstand‹ zu erfahren. Insofern ließe sich die Erfahrung mit Kunstwerken als eine Erfahrung auch der eigenen Freiheit – der spezifischen Offenheit und Nicht-Festgelegtheit des Daseins – deuten.31 Dies mag ebenso bestätigenden Charakter haben, doch setzt jede Bestätigung wiederum eine Stellungnahme ermöglichende Distanz voraus, auch wenn diese nicht eigens reflektiert wird. 30 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der knappe Hinweis von Ruth Sonderegger zur Nähe von Heideggers Angsterfahrung zu bestimmten Dimensionen ästhetischer Erfahrung; vgl. R. Sonderegger: Wie subversiv ist die Konfrontation mit Kunst?, 188. 31 Der Bezug auf die Freiheitsthematik wirft nun unwillkürlich die Frage nach einer möglichen Thematisierung eines spezifischen Spielcharakters des Daseins auf, welche Heidegger in den zwanziger Jahren in der Tat unternimmt. Im WS 1928/29 interpretiert Heidegger das Dasein als spielendes, d. h. hier: Transzendenz eröff nendes, Da-sein. Als charakteristisch am Spiel hebt Heidegger die Ausbildung von Regelhaft igkeit im Spiel selbst hervor: »Die Spielregel ist keine feste, irgendwoher bezogene Norm, sondern ist wandelbar im Spielen und durch das Spielen. Dieses schafft sich selbst jedesmal gleichsam den Raum, innerhalb dessen es sich bilden und d. h. zugleich umbilden kann.« (M. Heidegger: Einleitung in die Philosophie, 312.) Das In-der-Welt-sein entpuppt 29

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Selbstverständigung vs. Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit? – Versuch eines Brückenschlags zu Heideggers Fragen nach dem »Ursprung des Kunstwerkes« Wenn nun in Verbindung mit einer möglichst prägnanten Herausstellung der Ergebnisse der unternommenen ›Ortsbestimmung‹ nach Übereinstimmungen und Abweichungen mit Blick auf Heideggers eigene Hinwendung zur Kunst in den dreißiger Jahren gefragt werden soll, muss die Unzulänglichkeit dieses Fragens hinsichtlich einer tatsächlichen Annäherung an Heideggers Denken zur Kunst nach der existenzialontologischen Phase ausdrücklich hervorgehoben werden. Es kann im Folgenden nicht darum gehen, eine eigenständige Interpretation sämtlicher Facetten des Kunstwerkaufsatzes zu entwickeln, ebenso wenig kann das für Heideggers Denken der dreißiger Jahre so wichtige ›Ereignis‹ der ›Kehre‹ thematisiert werden. Auch die, in anderer Hinsicht, bezüglich dieser Denkphase zentrale Frage nach Heideggers zeitweiligem Engagement für den Nationalsozialismus muss ausgeblendet werden, obgleich die genannten Entwicklungen in einem direkten Zusammenhang mit bestimmten Akzentsetzungen von Heideggers Kunstdenken dieser Zeit stehen.32 Was vielmehr unternommen werden soll, ist eine gezielte Befragung des Kunstwerkaufsatzes auf bestimmte Aspekte hin, welche sich im Zuge der eben vorgenommenen Interpretationen als besonders zentral erwiesen haben: die Thematisierung der konkreten Ausgestaltung einer bestimmten Form der ›Selbstverständigung‹ oder Wahrheitsfindung in der Kunst in Abgrenzung von anderen Weisen eines Verstehensoder Wahrheitsereignisses sowie die Art und Weise eines spezifischen Offenbarseins von Welt und möglicher aus diesem erwachsender Deutungsspielräume. Es wurde bereits hervorgehoben, dass die vor dem Hintergrund von Heideggers Umweltanalysen vorgenommene Auslegung des Begegnens des Kunstwerkes als Initiierung eines Gesprächs in eine andere Richtung weist als Heideggers um 1920 sich dann als Spielen eines Spiels, in dem das Dasein als raumschaffend und als sich einspielend auf die Welt zugleich existiert. Brigitte Hilmer bezieht sich in ihrem Beitrag »Wer sieht die Welt?« produktiv auf diese Heidegger-Vorlesung und die dort vorgenommene Bestimmung des »Spiels« des Welthabens. Heideggers Begriff der »Haltung« für eine Deutung des Verhältnisses von Kunst und Weltvermittlung im weitesten Sinne aufnehmend resümiert sie: »Kunst braucht sich nicht als Sprachrohr bestimmter Weltsichten, nicht als deren Reflexionsinstanz […] zu begreifen; sie sollte sich aber von Weltsicht überhaupt her verstehen, d. h. von der Bereitschaft, alle Voreingenommenheiten und Festlegungen, Orientierungs- und Sinnbedürfnisse zu relativieren.« (B. Hilmer: Wer sieht die Welt?, 101.) 32 Heidegger selbst im der Reclam-Ausgabe des Kunstwerkaufsatzes beigefügten »Zusatz« von 1956: »Die ganze Abhandlung ›Der Ursprung des Kunstwerkes‹ bewegt sich wissentlich und doch unausgesprochen auf dem Weg der Frage nach dem Wesen des Seins. Die Besinnung darauf, was die Kunst sei, ist ganz und entschieden nur aus der Frage nach dem Sein bestimmt.« (UK, 90 f.) Vgl. zu den prägenden Einflüssen auf die Ausgestaltung von Heideggers Denken der Kunst in den dreißiger Jahren O. Pöggeler: Bild und Technik, Abschnitt II/Kapitel 2: Natur – Kunst – Mythos, sowie zu Heideggers Hinwendung zur Kunst vor dem Hintergrund der Entwicklung seines Denkens ab Beginn der dreißiger Jahre M. Siegfried: Abkehr vom Subjekt, Teil II/Abschnitt III: Die Entdeckung Hölderlins und der Kunst.

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nahegelegte Einordnung des Kunsterlebens in eine Stufenordnung mehr oder weniger ursprünglicher Annäherungen an das faktische Erleben. Durch eine solche Einordnung wäre die ›Leistung‹ der Kunst immer bloß bestimmbar mit Hinblick auf die ›Leistung‹ von Philosophie und Wissenschaft. Letztlich würde sie – und hier bewegte sich Heidegger in traditionellen Bahnen33 – gemessen an den Möglichkeiten der Philosophie, welche nach Heideggers Ansatz um 1920 einen privilegierten Zugang zum faktischen Leben an sich hat.34 Wenn Heidegger nun im Kunstwerkaufsatz dem Kunstwerk zuspricht, das »Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit« (UK, 30) zu sein, bleibt das Wahrheitsgeschehen in der Philosophie offenkundig ein zentraler Bezugspunkt. Was das Kunstwerk nun konkret vollbringt, d. h. wie sich dieses Sichins-Werk-Setzen von Wahrheit vollzieht, kann mit Heidegger folgendermaßen beschrieben werden: Das Werk stellt »ursprünglich die Erde als sichverschließende in den Streit zur entworfenen Welt«35 – das Werk »entfacht« und »bewahrt« den »Streit« (vgl. ebd. 12) zwischen Welt und Erde. Als Austrag dieses spezifischen Streites, so Heidegger außerdem, sei die Kunst – alle Kunst – wesentlich Dichtung in einem weiten Sinne, d. h. Dichtung als »Aufschlagen jenes Offenen, in dem Alles anders ist wie sonst« (ebd. 17). Diese knappe Präsentation der zentralen Wesenszüge des Kunstwerkes nach Heideggers Ansatz in den dreißiger Jahren liefert nun – so unzugänglich und dunkel diese bloße Aufzählung von Bestimmungen an jetziger Stelle noch scheinen mag – die Stichworte, welche zu einem Rückbezug auf die vorherigen Überlegungen in diesem Beitrag einladen: Angesprochen wird das Verhältnis des Kunstwerkes zu anderen ›Erkenntnisweisen‹ in einem weiten Sinne, hervorgehoben wird ein spezifischer Bezug des Werkes zur ›Welt‹ und zugleich wird auf einen bestimmten ›Sprachcharakter‹ der Kunst abgehoben. Diese drei Themenkomplexe geben die Ausrichtung und Struktur der folgenden Interpretation vor. Zunächst stellt sich die Frage nach einer Untergeordnetheit oder Ausgezeichnetheit der Kunst gegenüber anderen Weisen eines Sich-Ereignens von Wahrheit. Wenn Heidegger in seinen 1989 in den Heidegger Studies veröffentlichten Ausarbeitungen zum Kunstwerkaufsatz36 bzw. den ihm zugrunde liegenden Vorträgen von 1935/36 Vgl. Reinold Schmückers philosophiehistorische, an Hegel und Schelling exemplifi zierte, Unterscheidung einer Unterbietungstheorie, welche Kunst als der Philosophie unterlegen betrachtet, und einer Überbietungstheorie, welche Kunst als der Philosophie übergeordnet begreift; vgl. R. Schmücker: Was ist Kunst?, 27 ff. 34 Auch bei der erwähnten Deutung der Mauerschilderung in Rilkes Malte Laurids Brigge im SS 1927 wird die Begutachtung des Gedichteten mit ›philosophischem Blick‹ deutlich: Dem Dichter wird philosophisches Gespür unterstellt, weil sich in der Schilderung der Mauer eben In-derWelt-sein überhaupt zeige; vgl. M. Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie, 246 f. 35 M. Heidegger: Vom Ursprung des Kunstwerks, 21. 36 Die Datierung dieser Ausarbeitungen auf 1931–32 ist sehr fragwürdig; vgl. dazu Pöggelers berechtigten Einwand, Heideggers Bemerkung gegenüber Elisabeth Blochmann zur Herkunft des ihr am 20.12.1935 geschickten Vortrags aus der »glücklichen Arbeitszeit der Jahre 1931 und 32« sei keine Datierung des Vortragstextes selbst, sondern lediglich eine zeitliche Angabe zur Fassung der Grundgedanken. Die Ausarbeitung eines Vortrags Jahre vor seiner Präsentation wäre tatsäch33

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betont, die Kunst habe »ihr Wesen darin, die Wahrheit nicht denkerisch im Begriff zu sagen, nicht in der wesentlichen Tat zur Handlung und Haltung zu bringen, sondern ins Werk zu setzen«37, dann scheint er gleichberechtigte Weisen des Geschehens von ›Wahrheit‹ anzusetzen;38 kurz darauf jedoch hebt er den Bezug der Kunst zur Wahrheit als einen ganz ausgezeichneten hervor: Nur das Kunstwerk allein sei »notwendig im Geschehen der Wahrheit« (ebd. 21) – Philosophie scheint sich von nun an am spezifischen Wesen der Kunst messen lassen zu müssen, nicht umgekehrt. Dabei kehrt in gewissem Sinne das Bestreben eines Aufweisens mehr oder weniger ursprünglicher Realisationen – jetzt: eines Sich-Ereignens von Wahrheit – wieder: So spricht Heidegger der Wissenschaft zu, »kein ursprüngliches Geschehen der Wahrheit« zu sein, sondern »jeweils der Ausbau eines schon offenen Wahrheitsbereiches, und zwar durch das Auffassen und Begründen dessen, was in seinem Umkreis sich an möglichem und notwendigem Richtigen zeigt« (UK, 62). Wenn nun aber »eine Wissenschaft über das Richtige hinaus zu einer Wahrheit und d. h. zur wesentlichen Enthüllung des Seienden als solchen kommt, ist sie Philosophie« (ebd.). Wenn Heidegger nun das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit im Kunstwerk als Stiftung und Bewahrung eines spezifischen Streits zwischen Welt und Erde sieht, dann kann nur die nähere Bestimmung dieses Streits Aufschluss über die behauptete Ausgezeichnetheit der ›Leistung‹ des Kunstwerkes im Rahmen der schon früher thematisierten Trias Kunst – Wissenschaft – Philosophie geben. Der Gang von Heideggers Untersuchungen zum Ursprung des Kunstwerkes nimmt dabei seinen Ausgang bei der Frage nach dem spezifischen Erscheinen des Kunstwerkes an den Orten, an denen es üblicherweise begegnet, also im Museum, an öffentlichen Plätzen, in Wohnhäusern und Kirchen. Heidegger konstatiert: »Die Werke sind so natürlich vorhanden wie Dinge sonst auch.« (UK, 9) Bei den anderen Arten von ›Dingen‹ neben dem ›Kunstding‹, die Heidegger nun thematisiert, ist das zu diesem oder jenem Gebrauch dienliche Zeug bereits aus den Umweltanalysen der zwanziger Jahre her bekannt. Heideggers Abgrenzung des Kunstwerkes vom Zeug eröffnet jedoch die Perspektive auf ein spezifisches Sein von ›Dingen‹, welches nun eine verstärkte Aufmerksamkeit erhält: Heidegger betont zunächst eine Nähe zwischen Zeug und Kunstwerk, welche im Hergestelltsein beider gründe. Zudem eröff ne sich jedoch eine Nähe zwischen dem Kunstwerk und einem ›bloßen‹ Ding, wie etwa einem einfach dastehenden Granitblock: beide seien gleichsam ›eigenwüchsig‹ und zu nichts gedrängt.39 lich, wie Pöggeler anmerkt, sehr ungewöhnlich (vgl. O. Pöggeler: Bild und Technik, 78). Zudem fällt in dem in den Heidegger Studies veröffentlichten Text die noch nicht systematische, parallele Benutzung der Schreibweisen ›Seyn‹ und ›Sein‹ auf, welche charakteristisch erst für Heideggers Hölderlin-Vorlesung aus dem WS 1934/35 ist. 37 M. Heidegger: Vom Ursprung des Kunstwerks, 20. 38 Im Kunstwerkaufsatz heißt es schließlich, Wahrheit ›wese‹ auch in der »staatgründenden Tat«, im »wesentlichen Opfer« sowie im »Fragen des Denkers«; vgl. UK, 62. 39 Vgl. ebd., 20 f. Heideggers Auslegung des Dinghaften des Dinges ist hier insgesamt durchzogen von einer kritischen Auseinandersetzung mit Schlüsselbegriffen der griechisch geprägten

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Wenn Heidegger sich schließlich, zunächst zur näheren Entdeckung des spezifischen Seins des Zeugs, dem Bild der Schuhe von van Gogh – bzw. einer Version der Bauernschuhe des Malers – zuwendet, wird das spezifische ›Wesen‹ von Wahrheit im Kunstwerk deutlich:40 Das Werk selbst ist nicht dienlich zu etwas wie die abgebildeten Schuhe, sondern das Kunstwerk gibt »zu wissen, was das Schuhzeug in Wahrheit ist« (UK, 29 f.). Das heiße jedoch gerade nicht, es zeichne möglichst wirklichkeitsgetreu nach, wie echte Schuhe aussähen.41 Vielmehr eröffnet sich laut Heidegger im Aufscheinen der Verlässlichkeit des Zeugs zugleich Welt als Horizont des Wesens dieses spezifischen Zuhandenen. Wie in den Umweltanalysen der zwanziger Jahre wird Welt hier konsequenterweise von Heidegger nicht als bloße Ansammlung von Dingen verstanden, sondern vielmehr als Eröff nung eines ›Raumes‹, der die konkrete Versammlung von etwas als etwas überhaupt erst möglich macht: »Indem eine Welt sich öff net, bekommen alle Dinge ihre Weile und Eile, ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge« (UK, 41).42 Anders als in Sein und Zeit bezieht Heidegger nun jedoch explizit auch das Begegnen von ›etwas‹ ein, das sich in seinem Offenbarsein gerade als etwas Unverfügbares – eben etwas ›Eigenwüchsiges‹ zeigt: Ebenso wie es Welt eröff net, macht das Kunstwerk den »schweigenden Zuruf der Erde« (UK, 28) ›hörbar‹. Die Schilderung der Ackerarbeit der schuhetragenden Bäuerin legt nahe, dass hier vornehmlich ›naturhaft‹ Seiendes im engen Sinne angesproabendländischen Metaphysik, die Heidegger bekanntlich als eine Vorhandenheitsmetaphysik deutet, also eine Auslegung des Seins des Seienden in Orientierung an den Dingen als einem hergestellten ›Etwas‹ mit bestimmten Eigenschaften; vgl. etwa zur Auseinandersetzung mit den Begriffen Substanz und Akzidenz ebd., 14 f. sowie zur Thematisierung der auch für die traditionelle Ästhetik so zentralen Stoff-Form-Unterscheidung ebd., 18 ff. Zu Heideggers Abgrenzung von der traditionellen Ästhetik im Horizont einer Überwindung der abendländischen Metaphysik vgl. auch P. Trawny: Über die ontologische Differenz in der Kunst. Zur Begriffskonstellation »Ding«, »Zeug«, »Werk« im Kunstwerkaufsatz und Sein und Zeit siehe zudem die Analysen in F. de Lara: Kunstwerke und Gebrauchsgegenstände. 40 Indem Heidegger sich dem Bild von van Gogh zunächst zuwendet, um mehr über das Sein des Zeugs zu erfahren – indem er also eine »bildliche Darstellung« als ›Erleichterung‹ der Veranschaulichung eines alltäglich vertrauten Zeugs wählt (vgl. UK, 26) – bleibt eine unmittelbare Befragung des Kunstcharakters von Kunst letztlich aus. Dass die Annäherung an diesen sich jedoch immer über die Hinwendung zu konkreten Werken, also über ein bestimmtes Vorverständnis von Kunst, vollziehen muss, macht Heidegger selbst auch deutlich; vgl. ebd., 8. Die Auswahl der von ihm in den dreißiger Jahren einbezogenen Beispielwerke hat nun vermehrt zu der Ansicht geführt, er stünde der modernen Kunst weitgehend negativ gegenüber; vgl. zur Diskussion dieser These vor dem Hintergrund von Heideggers Beziehung zum Werk Paul Cézannes G. Seubold: Der Pfad ins Selbe. 41 Hier zeigt sich Heideggers Ablehnung der Auffassung von Kunst als Darstellung ebenso wie seine Abkehr vom traditionellen Wahrheitsbegriff im Sinne der Entsprechung oder Richtigkeit. Heidegger: »[…] das Wesen der Wahrheit besteht nicht in der Übereinstimmung eines Satzes mit einer Sache, sondern Wahrheit ist dieses Grundgeschehen der Eröff nung der Offenheit des Seienden als solchen.« (M. Heidegger: Vom Ursprung des Kunstwerks, 16.) 42 Zur Stellung des Weltbegriffs des Kunstwerkaufsatzes zwischen Sein und Zeit und den späteren Texten zum ›Geviert‹ vgl. K. Harries: »Das Ding«, »Bauen Wohnen Denken«, »›…dichterisch wohnet der Mensch…‹« und andere Texte aus dem Umfeld, 292 ff.

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chen ist, doch Heideggers Identifizierung von ›Erde‹ und φύσις deutet vielmehr auf die Herausstellung der Dimension des Sich-Verweigerns im Begegnen eines jeden ›Dinges‹ hin, sollte es in »rechnerische[r] Zudringlichkeit« (UK, 43) als restlos fassbares ›Etwas‹ begriffen werden.43 Die Auslegung des Kunstwerkes als Anstoß eines Fragegeschehens in den vorherigen Abschnitten dieses Aufsatzes hob im Zuge einer Verortung des Werkes im Spannungsgeschehen zwischen Weltzugehörigkeit und Weltjenseitigkeit die Chance hervor, ein distanziertes Verhältnis zur je schon erschlossenen bedeutungshaften Umwelt erlangen zu können, d. h. bestimmte ›Welten‹ als in sich (be)frag-würdige zu erschließen. Wenn das Kunstwerk nun von Heidegger selbst als Welt aufstellend und Erde herstellend, d. h. heraus-stellend, gedeutet wird, eröffnet sich vor dem Hintergrund des Interesses dieses Beitrags die Frage, inwieweit sich auch das Wissen um das Zeug in seiner eigenen, ›welthabenden‹ und ›erdzugehörigen‹ Offenbarkeit als Ermöglichung einer – wie auch immer konkretisierten – ›Haltung‹ gegenüber der uns alltäglich-vertrauten Welt bzw. den unterschiedlichen ›Umwelten‹, z. B. auch derjenigen der Bäuerin, lesen ließe. Dass diese Problemstellung keine lediglich im Rahmen der zuvor unternommenen ›Ortsbestimmung‹ sich ergebende und somit gewissermaßen von ›außen‹ an Heideggers Kunstwerkaufsatz herangetragene Frage darstellt, wird deutlich in den Einschätzungen in der Forschung bezüglich der Eröff nung einer rein ›affirmativen‹ oder ›kritischen‹ Stellungnahme zur Welt durch das Kunstwerk bei Heidegger. Dabei werden mitunter vollkommen entgegengesetzte Auffassungen vertreten. So urteilt Hauskeller kategorisch: »Heidegger läßt […] keinen Zweifel daran, daß es eine nichtauratische und damit zur kritischen Distanz einladende Kunst seines Erachtens nicht gibt (und schon gar nicht zu geben braucht).«44 Anders Bertram: Heidegger zeige, dass »Kunst immer ein Moment von Infragestellung enthält. Das ästhetische Verstehen erweitert die Option sonstigen Verstehens, indem es zugleich eine Krise dieses Verstehens darstellt.«45 43 Vgl. zur Identifi kation von Erde und φύσις im Kunstwerkaufsatz UK, 38. Zwar nennt Heidegger in diesem Text als konkrete Realisationen des Erdhaften zumeist ›Natur‹ im engen Sinne – Pflanzen und Tiere – oder traditionell ›Stoffl iches‹ oder ›Materielles‹ wie den Ton, das Holz etc., doch bereits 1929/30 begreift er die φύσις in einem weiten Sinne als das »sich selbst bildende Walten des Seienden im Ganzen« (M. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, 38 f.) und diese Tendenz, die Erde grundsätzlich gegen den »Überfall« auf die Dinge überhaupt in Stellung zu bringen, wird auch im Kunstwerkaufsatz deutlich; vgl. etwa UK, 17 f., 38 und 42. Entsprechend auch Andrea Kern in ihren Ausführungen zum Kunstwerkaufsatz: »Heideggers Begriff der Erde ist […] eine Metapher für etwas, für das man keine Beispiele geben kann; sie bezeichnet nicht ein bestimmtes Seiendes, […], sondern ist das Phänomen des bedeutungshaft Seienden selbst.« (A. Kern: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 169.) 44 M. Hauskeller: Was ist Kunst?, 80. 45 G. Bertram: Kunst, 154. Bertram verortet Heideggers Ansatz zwischen Hegels und Adornos Kunstauffassungen. Die Negativität der Kunstauffassung Adornos sei hier zur Verständniserweiterung abgemildert, die Deutung der Selbstverständigung in der Kunst als reine Selbstbestätigung werde wiederum bei Heidegger durch die weltdistanzierende Kraft der Kunst kritisch hinterfragt.

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Betrachtet man Heideggers durchaus eindringliche Schilderung der Welt der Bäuerin, welche er in der wiederum imaginären Ansicht des Gemäldes der Bauernschuhe von van Gogh aufleben lässt, erscheint diese Welt in ihrer Verlässlichkeit und Abgeschlossenheit als Horizont eines Daseins, welches seine Erfüllung geradezu in der eigens beschworenen »harten, aber gesunden Müdigkeit« (UK, 28) findet, welche die in dieser Welt Existierenden nach getanem Tagwerk befällt. Wird die »Wahrheit« des Schuhzeugs nicht sogleich auf das Offenbarsein seines Zeugcharakters generell reduziert,46 sondern wird vielmehr auf die ›Eigenheit‹ der eröffneten Welt als Horizont des ›Wesens‹ des Schuhzeugs abgehoben, dann ergibt sich tatsächlich der Eindruck, mit dem Aufscheinenlassen dieser Welt sei alles Sagbare über die Existenzmöglichkeiten der Schuhträgerin erschöpft . In die Richtung der Deutung des ›Sich-ins-Werk-Setzens‹ der Wahrheit im Sinne einer rein bestätigenden Offenlegung von Welt weist auch Heideggers offenkundige Melancholie angesichts des beständigen »Weltentzugs« und »Weltzerfalls« (UK, 36), welcher die Kunstwerke bedroht. Eine eingehendere Betrachtung sowohl des von Heidegger herausgestellten Streites zwischen Welt und Erde im Werk sowie der von Heidegger thematisierten Stellung des Werkes zur immer schon verstandenen Umwelt als ›Ort‹ seines Begegnens zeigt jedoch, dass das Zu-Wissen-Geben in der Kunst das Potential einer Hinterfragung des Vertrauten im Kern einschließt. So begreift Heidegger den bislang noch nicht näher erläuterten Streit zwischen Erde und Welt schließlich nicht als Ausdruck eines bloßen Gegeneinanders unterschiedlicher Aspekte der Welterfahrung, etwa nach dem Motto: Es gibt den Horizont der Welt und in dieser begegnen dann hin und wieder auch Dinge, die wir nicht selbst gemacht haben, die von sich aus da sind. Vielmehr liegt die Pointe bei Heidegger gerade in einem unhintergehbaren Aufeinanderbezogensein von Welt und Erde – die Herkunft des Wesens beider gründet nach Heidegger gleichsam in diesem Streit:47 Welt lässt Erde als Sich-Verschließendes sehen und Welt selbst zeigt sich als ›gegründet‹ oder ›geborgen‹ im Sich-Verschließenden, der Erde.48 Im Werk ist »Erde welthaft verschlossen und die Welt erdhaft offen«49. Das Kunstwerk macht somit immer auch einen Entzug erfahrbar, denn Weltlichkeit als Bedingung für konkretes Sinngeschehen erweist sich hier als ›grundlos‹ oder ›abgründig‹, als in seiner Geschichtlichkeit je endlich. In der Dichtung etwa wird somit nicht primär etwas ausgesagt über Innerweltliches, sondern im Sagen der Worte wird hier deren eigene »Nennkraft« ›hörbar‹ – und zwar als

Eine Lesart, die auch möglich wäre, welche die Kunsterfahrung aber so gleich wieder auf eine am philosophischen Interesse gemessene ›Leistung‹ reduzierte. 47 Somit deutet der »Streit« voraus auf spätere Begriffe Heideggers , mit denen er ein spezifisches Zueinandergehören Wesensverschiedener anzeigen möchte, wie das »Gegen-einander-über« und der »Brauch«; vgl. zur Eigenart dieser Figuren M. Siegfried: Abkehr vom Subjekt, 460, 462 und 492 f. 48 Vgl. UK, 44 und 46 f. 49 M. Heidegger: Vom Ursprung des Kunstwerks, 12. 46

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›etwas‹, über das sich mit der gebrauchten Sprache selbst wiederum nichts mehr aussagen lässt, weil alles konkrete Sagen in dieser ›Nennkraft‹ ruht.50 Es ließe sich nun argumentieren, dass eben diese spezifische Entzugserfahrung im Kunstwerk als Irritation oder Erschütterung vertrauter Sinnbezüge begriffen werden kann, was nicht heißen soll, sie eröffne die Möglichkeit eines tatsächlichen Heraustretens aus den vorgängigen Bedeutsamkeitsbezügen, aus denen heraus sich unser Verstehen vollzieht, oder die Stiftung vollkommen neuer ›Welten‹ als ›Gegenentwürfe‹ zum Bestehenden.51 Heidegger selbst spricht der Bezugslosigkeit des Kunstwerkes hinsichtlich der Welt der alltäglich von uns gebrauchten ›Zeugdinge‹ zu, gerade in der Herausgelöstheit doch die vertraute Dingwelt zu ›verwandeln‹: Zwar gehöre das Kunstwerk »als Werk einzig in den Bereich, der durch es selbst eröffnet wird« (UK, 37), doch sei das Werk andererseits nicht »aus der gemeinen Wirklichkeit herausgenommen«, denn dies sei »unmöglich, weil es gerade in diese vorgerückt ist als ihre Erschütterung und Widerlegung«.52 An anderer Stelle betont er: je reiner das Werk selbst in die durch es selbst eröff nete Offenheit des Seienden entrückt ist, um so einfacher rückt es uns in diese Offenheit ein und so zugleich aus dem Gewöhnlichen heraus. Dieser Verrückung folgen, heißt: die gewohnten Bezüge zur Welt und zur Erde verwandeln und fortan mit allem geläufigen Tun und Schätzen, Kennen und Blicken ansichhalten, um in der im Werk geschehenden Wahrheit zu verweilen. (UK, 67)53

Heidegger eröff net somit durchaus die Perspektive, das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit in der Kunst als Anstoß zu einer kritischen Selbstverständigung im Sinne der Distanznahme zur alltäglich-vertrauten Welt-Habe zu verstehen – oder, wie Zur »Nennkraft des Wortes«, die Heidegger hier jedoch beispielhaft anführt, ohne sie eingehender zu interpretieren, vgl. UK, 42. 51 Das Stiften neuer Welten hieße zugleich das Stiften ganz neuer Bedeutsamkeitszusammenhänge, in letzter Konsequenz – dies zeigt sich im Folgenden – das Stiften ganz neuer ›Sprachen‹; vgl. zur Deutung von Heideggers Kunstwerkaufsatz in solch einer ›revolutionären Lesart‹ A. Kern: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 171 f. Eine solche Betonung des Schöpferisch-Erfi nderischen im Kunstschaffen übersähe allerdings das bei Heidegger so bedeutsame Ineinander von Verfügbarkeit und Entzug des ›Grundes‹ jeglicher konkreter Bedeutsamkeit, wie Kern in ihrer Auseinandersetzung ebenfalls hervorhebt. 52 M. Heidegger: Vom Ursprung des Kunstwerks, 15. Schneider verweist angesichts dieser und ähnlicher Hinweise bei Heidegger auf eine Nähe zum Prinzip der »Verfremdung« im russischen Formalismus und bei Brecht; vgl. N. Schneider: Geschichte der Ästhetik, 164. Er sieht jedoch bei Heidegger gerade nicht das Potential einer tatsächlich kritischen Distanzierung zur Welt angelegt. 53 Diese Schilderung einer spezifischen »Verrückung« wirft freilich erneut die Frage auf, ob hier dem Kunstwerk nicht ein traditionell in der Philosophie angestrebtes Zu-Wissen-Geben zugesprochen wird: Soll im Absehen vom Bekannten das Potential einer Wandlung des Blicks auf die konkrete Umwelt aufgewiesen werden, oder geht es vielmehr um ein an die Angsterfahrung aus Sein und Zeit erinnerndes Absehen vom Bekannten, um den Grund jeglichen Vertrautseins und Unvertrautseins mit… – Wahrheit als »Urstreit« zwischen Offenbarkeit und Verweigerung (vgl. UK, 53) – zu erfahren? 50

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Bertram dies fasst, als Ermöglichung einer »Erweiterung des Verstehens«, durch welche »mit den Formen des Verstehens auch die Perspektiven des Verstehens erweitert« werden.54 Die im Zuge des Fragens nach dem möglichen Ort des Kunstwerkes in Heideggers Denken der zwanziger Jahre thematisierte Form einer Selbstverständigung hob nun besonders auf den Gesprächscharakter dieses Verständigungsprozesses ab – betont wurde eine kommunikative Dimension des Kunsterlebnisses, die sich im Ansprachecharakter des Werkes selbst sowie in der Initiierung vielstimmiger Auslegungsprozesse manifestierte. In den Blick rückte so die performative Dimension der Sprache im Sinne ihres Sich-Ereignens in einem Ansprache-Antwort-Geschehen, welches sich in seiner Bezugnahme auf ›Welt‹ nicht als Erfassung und ›Abschilderung‹ von Vorhandenem zeigte, sondern vielmehr als Entwurf des In-der-Welt-seins im Spannungsfeld zwischen Selbstvergewisserung und Neustiftung. Wenn Heidegger nun alle Kunst als »Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden« (UK, 73) als Dichtung in einem ursprünglichen Sinne begreift, dann hebt er weder auf eine bestimmte ›Formensprache‹ des Werkes ab, noch fasst er die spezifisch ›sprachliche‹ Dimension des Kunstwerkes als ›Ausdruck‹.55 Sprache, so Heidegger im Kunstwerkaufsatz, ist nicht nur und nicht erstlich ein lautlicher und schrift licher Ausdruck dessen, was mitgeteilt werden soll. Sie befördert das Offenbare und Verdeckte als so Gemeintes nicht nur erst in Wörtern und Sätzen weiter, sondern die Sprache bringt das Seiende als ein Seiendes allererst ins Offene. Wo keine Sprache west, wie im Sein von Stein, Pflanze und Tier, da ist auch keine Offenheit des Seienden und demzufolge auch keine solche des Nichtseienden und des Leeren. (UK, 75)

Als Entwerfen des »Lichten, darin angesagt wird, als was das Seiende ins Offene kommt« (UK, 75), ist die Sprache nach Heidegger selbst »Dichtung im wesentlichen Sinne« und die Poesie, als Dichtung im engeren Verständnis, entpuppt sich in ihrem Sehen- oder vielmehr Hören-lassen des Offenbarseins des Seienden im Sagen selbst als »ursprünglichste Dichtung im wesentlichen Sinne« (UK, 76). Doch nicht allein das Schaffen des Kunstwerkes ist nach Heidegger ein Dichten,56 sondern dichterisch in einer ganz eigenen Weise sei auch das »Bewahren des Werkes« (UK, 77). Denn »wirklich« sei ein Werk allein dann, »wenn wir uns selbst unserer Gewöhnlichkeit entrücken und so in das vom Werk Eröff nete einrücken, um so unser Wesen selbst in der Wahrheit des Seienden zum Stehen zu bringen« (ebd.). G. Bertram: Kunst, 155. Vgl. zur Abwehr dieser Deutungen M. Heidegger: Vom Ursprung des Kunstwerks, 17. 56 Dieses Schaffen nicht als subjektive Leistung eines Schöpfergenies zu betrachten, gehört zu den Kernmotiven von Heideggers Kunstdenken ab Beginn der dreißiger Jahre. Zentral ist hier die Gegenüberstellung von Kunstwerk und Kunststück sowie die Differenzierung zwischen Dichter und ›bloßem‹ Schriftsteller; vgl. exemplarisch M. Heidegger: Vom Ursprung des Kunstwerks, 6 und M. Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit, 64 sowie M. Heidegger: Hölderlins Hymne »Andenken«, 7, 13 und 37. 54 55

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Diese ›Entrückung‹, dies hebt Heidegger ebenfalls hervor, vollzögen wir jedoch nicht als einzelne Individuen, sondern: »Die Wahrheit wird im Werk […] den kommenden Bewahrenden, d. h. einem geschichtlichen Menschentum zugeworfen.« (Ebd.) Indem Heidegger jedoch die Offenbarkeit des Werkes strikt von seinem Aufgenommenwerden in der Öffentlichkeit – des Kunstbetriebs wie der Kunstkritik – abgrenzt,57 stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die in diesem Aufsatz stark gemachten Momente der Diskursivität und inneren Vielstimmigkeit der Verständigung über das Werk mit Heideggers Deutung des »Bewahrens« in Einklang zu bringen sind. Das Offenbarsein von Seiendem wurde in der Deutung der Kunst als Initiierung eines letztlich unendlichen Gesprächs schließlich in einer Weise interpretiert, die ein Begreifen dieses Offenbarmachens als eines monologischen Erschließens von Seiendem abweist. Wenn Heidegger selbst im Kunstwerkaufsatz die Geschichtlichkeit des »Bewahrens« eigens hervorhebt, wird nahegelegt, dass das Werk seine Stoßkraft gegenüber dem Alltäglich-Vertrauten auch je geschichtlich erneuern muss, möglicherweise auch verlieren kann. Die gewählten Begriffe der »Einrückung«, des »Zugeworfenseins« sowie des »Ansagens« suggerieren jedoch eher die Vorstellung eines gemeinschaft lichen, geradezu kontemplativen Erharrens des Sich-ins-WerkSetzens der Wahrheit im Kunstwerk.58 Deutete man das »Bewahren« des Kunstwerkes jedoch vor dem Hintergrund der zuvor unternommenen Deutung von Kunst als Eröff nung mannigfacher Gespräche, ließe es sich schließlich als ein Bewahren der Offenheit eines Sich-immer-wiederneu-Ansprechen-Lassens begreifen. Heideggers frühe Diagnose, wir sähen stets, was man über die Sache spricht, 59 erwiese sich dann in Bezug auf das Kunstwerk als treffend und nicht treffend zugleich und ließe sich mit Blick auf die in diesem Beitrag insgesamt herausgestellte Dimension der Selbstverständigung in der Kunst folgendermaßen ›übersetzen‹: Wir sähen in der Tat hier gar nichts, wenn uns das Werk nicht innerhalb unseres jeweiligen Verstehenshorizontes etwas zusprechen würde, das uns an unserem Standort im Vertraut-Sinnhaften trifft, wir nähmen es aber ebenso wenig überhaupt noch als Kunstwerk wahr, wenn es an ihm nicht etwas zu entdecken gäbe, was jenseits des Immer-schon-Besprochenseins der alltäglich begegnenden Sachen und Sachverhalte läge. Vgl. M. Heidegger: Vom Ursprung des Kunstwerks, 9. Hier sind mit der Weise des Gemeinschaft lichen bei Heidegger sowie der Frage nach den spezifischen Akzentsetzungen von Heideggers Sprachdenken zwei Themenfelder angesprochen, deren angemessene Behandlung sich nur mit Rückgriff auf weitere Texte Heideggers aus dem Umfeld des Kunstwerkaufsatzes sowie späterer Phasen seines Denkens leisten lässt: Eine eingehende Untersuchung der Bestimmung der geschichtlichen Gemeinschaft als Volk zu dieser Zeit zeigt, dass hier bei Heidegger keine echte Pluralität gedacht ist; vgl. vor allem die Logik-Vorlesung aus dem SS 1934 sowie dazu M. Siegfried: Abkehr vom Subjekt, 410–421; unterstellt wird zudem eine Favorisierung des Wortes – greifbar in den Wendungen vom »Nennen«, »Winken« und »Sagen« sowie in der Bezugnahme auf den »Namen« – gegenüber dem Satz und dem prozesshaften Durchsprechen von etwas; vgl. zu dieser Thematik D. Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, 659 ff. sowie M. Siegfried: Abkehr vom Subjekt, 457 ff. 59 Vgl. M. Heidegger: Prolegomena, 75. 57

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Literatur Bertram, Georg: Kunst. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2007 de Lara, Francisco: Kunstwerke und Gebrauchsgegenstände. Ding, Zeug und Werk in ihrer Widerspiegelung, in: D. Espinet/ T. Keiling (Hgg.): Heideggers »Ursprung des Kunstwerks«. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M. 2011, 19–32 Figal, Günter: Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie, Tübingen 2010 Harries, Karsten: »Das Ding«, »Bauen Wohnen Denken«, »›…dichterisch wohnet der Mensch…‹« und andere Texte aus dem Umfeld. Unterwegs zum Geviert, in: D. Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2003, 290–302 Hauskeller, Michael: Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto, München 6 2002 Heidegger, Martin: Der Begriff der Zeit, hg. von F.-W. v. Herrmann, in: ders.: GA, Bd. 64, Frankfurt a. M. 2004 – Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 2001 (UK) – Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, hg. von F.-W. v. Herrmann, in: ders.: GA, Bd. 29/30, Frankfurt a. M. 32004 – Die Grundprobleme der Phänomenologie, hg. von F.-W. v. Herrmann, in: ders.: GA, Bd. 24, Frankfurt a. M. 32005 – Einleitung in die Philosophie, hg. von O. Saame und I. Saame-Speidel, in: ders.: GA, Bd. 27, Frankfurt a. M. 1996 – Gesamtausgabe (GA), 80 Bde., Frankfurt a. M. 1975 ff. – Grundprobleme der Phänomenologie, hg. von H.-H. Gander, in: ders.: GA, Bd. 58, Frankfurt a. M. 1992 – Hölderlins Hymne »Andenken«, hg. von C. Ochwadt, in: ders.: GA, Bd. 52, Frankfurt a. M. 1982 – Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, hg. von K. Bröcker-Oltmanns, in: ders.: GA, Bd. 63, Frankfurt a. M. 1988 – Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, hg. von P. Jaeger, in: ders.: GA, Bd. 20, Frankfurt a. M. 31994 – Sein und Zeit, Tübingen 182001 (SZ) – Vom Ursprung des Kunstwerks. Erste Ausarbeitung, hg. von H. Heidegger, in: Heidegger Studies 5 (1989), 5–22 – Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, hg. von H. Mörchen, in: ders.: GA, Bd. 34, Frankfurt a. M. 1988 – Zur Bestimmung der Philosophie, hg. von B. Heimbüchel, in: ders.: GA, Bd. 56/57, Frankfurt a. M. 1987 Hilmer, Brigitte: Wer sieht die Welt? Zur heutigen Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Kunst, in: B. Kleimann/ R. Schmücker (Hgg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt 2001, 88–103 Kern, Andrea: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit, in: D. Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2003, 162–174 Pöggeler, Otto: Bild und Technik. Heidegger, Klee und die moderne Kunst, München 2002 Schmücker, Reinold: Lob der Kunst als Zeug, in: D.M. Feige/ T. Köppe u. a. (Hgg.): Funktionen von Kunst, Frankfurt a. M./ Berlin 2009, 17–30

Das Kunstwerk in Heideggers Denken der zwanziger Jahre

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– Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998 Schneider, Norbert: Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne. Eine paradigmatische Einführung, Stuttgart 42005 Seubold, Günter: Der Pfad ins Selbe. Zur Cézanne-Interpretation Martin Heideggers, in: Philosophisches Jahrbuch 94 (1987), 62–78 Siegfried, Meike: Abkehr vom Subjekt. Zum Sprachdenken bei Heidegger und Buber, Freiburg i. Br. 2010 Simmel, Georg: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, Leipzig 1916 Sonderegger, Ruth: Wie subversiv ist die Konfrontation mit Kunst?, in: B. Kleimann/ R. Schmücker (Hgg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt 2001, 176– 193 Thomä, Dieter: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910–1976, Frankfurt a. M. 1990 Trawny, Peter: Über die ontologische Differenz in der Kunst. Ein Rekonstruktionsversuch der »Überwindung der Aesthetik« bei Martin Heidegger, in: Heidegger Studies 10 (1994), 207–221

»Das Auge liest anders, wenn der Gedanke es lenkt.« Zur Bestimmung des Verhältnisses von Sehen und Wissen bei Edgar Wind Bernadette Collenberg-Plotnikov

1. Wind und die Allgemeine Kunstwissenschaft In einem 1926 entstandenen Essay, der »Zur Frage nach der Organisation der wissenschaft lichen Arbeit auf dem Gebiet der Kunstforschung« Stellung bezieht, verweist der russische Phänomenologe Gustav Špet auf einen »sehr interessante[n] und aufschlussreiche[n] Artikel, in dem der Autor versucht, den eigentlichen Gegenstand der Kunstwissenschaft zu bestimmen«.1 Es handelt sich dabei um einen Beitrag von Edgar Wind, der im Vorjahr unter dem Titel »Theory of Art versus Aesthetics« in den USA erschienen war. Das in diesem Titel benannte Thema von Winds Aufsatz – die strenge Abgrenzung der Kunsttheorie von der Ästhetik – mag aus heutiger Perspektive eher befremdlich wirken. Allerdings greift Wind, der hier eine knappe Skizze des systematischen Rahmens seiner Dissertation 2 vorlegt, mit dieser Differenzierung einen charakteristischen Aspekt der zeitgenössischen Kunstreflexion auf, wie er besonders in Deutschland entwickelt wird. Das prominenteste Zeugnis dieser Bestrebungen ist nämlich die federführend von Max Dessoir und Emil Utitz verfolgte Initiative zur Entwicklung einer Allgemeinen Kunstwissenschaft, die ausdrücklich von der Ästhetik unterschieden wird. So war diese Differenzierung, die Dessoir bereits 1906 in seinem Werk Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft programmatisch herausgestellt hatte, unter seiner Leitung bis in die 1930er Jahre zur Grundlage einer regelrechten kunstwissenschaftlichen »Bewegung«3 geworden. Die Basis dieser Differenzierung bildet dabei die Überzeugung, dass letztlich, so Dessoir, »alle Kunstwerke mehr sein wollen als bloße Behälter für ästhetische Reize«4 – nämlich Vergegenwärtigungen von ›Sinn‹ im Medium der Anschauung. Wind hat in der von Dessoir herausgegebenen Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft in den ersten Jahren seiner Forschungstätigkeit und vor seiner Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland drei Aufsätze publiziert: 1925, im selben Jahr wie der von Špet erwähnte Aufsatz »Theory of Art 1 G.G. Špet: K voprosu o postanovke naučnoj raboty v oblasti iskusstvovedenija, 7 f. (dt. Übersetzung vgl. im Anhang zu diesem Band). 2 E. Wind: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. 3 Max Dessoir in: Vossische Zeitung (10.10.1913). 4 Ders.: Sinn und Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft , 151.

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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versus Aesthetics«, erscheint hier unter dem Titel »Zur Systematik der künstlerischen Probleme« ein umfangreicher Beitrag, in dem Wind einen weiteren Einblick in Kernthesen seiner Dissertation bietet. Es folgt der Abdruck eines Vortrags, in dem er 1930 »Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik« vorstellt, sowie schließlich 1932 die Publikation seines Habilitationsvortrags »Θεῖος Φόβος. Untersuchungen über die Platonische Kunstphilosophie«. Dabei spitzt Wind die in dieser Zeit allenthalben formulierte Forderung nach einer Kunstwissenschaft dahingehend zu, dass er von Anfang an die Überzeugung, Kunstwerke ließen sich nur mit kognitiven Mitteln angemessen erschließen, zum markantesten Motiv seines Denkens macht.5 In diesem Zusammenhang wird nun für Wind bereits frühzeitig die Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Sprache zentral. Und so mündet Winds lebenslange Abrechung mit der »Furcht vor dem Wissen«6 in Fragen der Kunst 1960 in die These: »Das Auge liest anders, wenn der Gedanke es lenkt«, denn, so Wind weiter, »unser Auge sieht, wie unser Geist liest«.7 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Wind bereits in seinen drei frühen, in Dessoirs Zeitschrift publizierten Aufsätzen grundsätzliche Aspekte des Verhältnisses von Sehen und Wissen thematisiert, die für sein Kunstverständnis generell charakteristisch sind. Dabei werden drei Gesichtspunkte in den Blick genommen: Erstens wird im Ausgang von der Position, die Wind in seiner Dissertation und deren Umfeld bezieht, seine Abgrenzung der Kunstwissenschaft vom Kennertum und der ›Geschichte des Sehens‹ thematisiert. Zweitens wird im Ausgang von Winds Warburg-Aufsatz seine Bestimmung der Kunstwissenschaft als Kulturwissenschaft reflektiert. Wind konzentriert sich mit seinen Überlegungen zu diesen Fragen dezidiert auf die »visuelle Sphäre«8 , d. h. insbesondere die Malerei. Er entwickelt dabei ein Verständnis der Ikonologie, das sich von dem seiner Lehrer Aby Warburg und Erwin Panofsky gleichermaßen unterscheidet. Daher kann gezeigt werden, dass seine Position – vorderhand im Widerspruch zu seinem erklärten Anliegen der Grundlegung einer Wissenschaft der Kunst –, nicht nur kunst-, sondern auch bildtheoretisch relevant ist. Als dritter Aspekt sollen näherhin im Ausgang von Winds Platon-Aufsatz mögliche Thesen Winds zur Bestimmung des Verhältnisses von Wissen in der Kunst und Wissen im Bild entwickelt werden.

Vgl. B. Buschendorf: Das Prinzip der inneren Grenzsetzung, 276. E. Wind: Kunst und Anarchie, 56. 7 Ders.: Kunst und Anarchie, 66. 8 Ders.: Zur Systematik der künstlerischen Probleme, 462. – S.a. ders.: Theory of Art versus Aesthetics, 358. 5 6

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2. Zu Winds wissenschaftlicher Biographie Da die Entwicklung von Winds kunsttheoretischer Position eng mit seiner wissenschaft lichen Biographie verknüpft ist, sollen vorab seine Tätigkeiten in ihren einschlägigen Momenten umrissen werden.9 Betreuer der wissenschaftstheoretischen Arbeit über den ›ästhetischen und kunstwissenschaft lichen Gegenstand‹10, mit der Wind (1900–1971) 1922 in Hamburg promoviert wird, sind der Kunsthistoriker Panofsky und der Philosoph Ernst Cassirer. Nach der Promotion arbeitet Wind, der polyglott erzogen ist und mehrere Sprachen, darunter Englisch, beherrscht, ab 1924 in den USA, wo vor allem den Pragmatismus von Charles Sanders Peirce kennen lernt. 1927 kehrt Wind nach Deutschland zurück und ist in der Folge an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, die Warburg in Hamburg eingerichtet hatte, als Assistent tätig. Hier tritt er mit Warburg in engen persönlichen Kontakt und wird stark von dessen kulturwissenschaft licher Methode beeinflusst. Ende 1930 habilitiert sich Wind wiederum in Hamburg mit einer naturphilosophischen Studie über Das Experiment und die Metaphysik im Fach Philosophie. In der Kommission sitzen auch diesmal u. a. Panofsky und Cassirer. Wind ist also Kunsthistoriker und Philosoph gleichermaßen und macht – ganz im Sinne Warburgs – die akademische Disziplinen übergreifende Auseinandersetzung mit der Sache zum charakteristischen Prinzip seiner Arbeit. 1933 zur Emigration gezwungen wandert Wind nach England aus und trägt wesentlich zum erfolgreichen Transfer der Kulturwissenschaft lichen Bibliothek Warburg nach London bei.11 Als stellvertretender Direktor des dort neu gegründeten Warburg Institute leistet Wind einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Anerkennung des bis dahin noch stark vom Prinzip der Kennerschaft geprägten Fachs Kunstgeschichte in England. Dabei präsentiert er das Fach dezidiert auf Warburg’scher – d. h. kulturwissenschaft licher – Basis.12 Zwischen 1942 und 1955 lehrt Wind an verschienen Hochschulen in den USA. Bis zu seiner Emeritierung 1967 ist Wind dann wieder in England, nun an der University of Oxford, tätig. Wie Warburg, den Wind neben Panofsky, Peirce und Cassirer als seinen wichtigsten Lehrer betrachtet, widmet er sich in seinen kunsthistorischen Studien vor allem der Kunst der italienischen Renaissance und ihrem neuplatonisch inspirierten Bilddenken. Hiervon handelt sein kunst- und kulturgeschichtliches Hauptwerk Heidnische Mysterien in der Renaissance, das Wind neben Panofsky als einen der bedeutendsten Vertreter der von Warburg begründeten Tradition der Ikonologie ausweist. Eine Summe seiner kunsttheoretischen Position bilden sechs 1960 von der BBC gesendete Vorlesungen, die später unter dem Titel Kunst und Anarchie publiziert werden.

Zu Winds Biographie vgl. bes.: H. Lloyd-Jones: A Biographical Memoir. S.a. B. Buschendorf: Das Prinzip der inneren Grenzsetzung, 272–276; N. Schneider: Kunst zwischen Magie und Logos; J.M. Krois: Einleitung, 11 f. 10 Vgl. E. Wind: Aesthetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. 11 Vgl. bes.: B. Buschendorf: Auf dem Weg nach England; s.a. J.M. Krois: Einleitung, 12. 12 Vgl. bes.: R. Klibansky: Erinnerung an ein Jahrhundert, 98. 9

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Špet gehört mit seiner kurzen Notiz zu den ersten Rezipienten dieses – zumal in seinem Heimatland Deutschland – kaum beachteten Kunstforschers, der hier erst seit rund zehn Jahren intensiver wahrgenommen wird.13 Dabei hat die Tatsache, dass Winds Forschungen in Deutschland lange eher unbekannt waren, vermutlich gleich mehrere Ursachen. Zum einen war ein dezidiert kulturwissenschaft liches Verständnis der Kunst, wie es nicht nur für Winds Arbeit, sondern die des Warburg-Umkreises allgemein charakteristisch ist, in der Bundesrepublik lange nicht gefragt. Man verlegte sich stattdessen auf kunstimmanente Formanalysen oder Fragen der kunsthistorischen Empirie. Die Ikonologie war dagegen, nachdem die Vertreter der Warburg-Schule in den 1930er Jahre fast allesamt hatten emigrieren müssen, entweder vergessen oder wurde als Überfremdung des Kunstphänomens betrachtet. Dass Wind als einer der engsten Mitarbeiter Warburgs und engagierten Verfechter seines Forschungsansatzes dann auch im Zuge der Warburg-Renaissance in Deutschland seit den 1970er Jahren – anders als Panofk sy – kaum berücksichtigt wurde, ist offenbar nicht zuletzt ein Ergebnis seiner Reaktion auf die Warburg-Biographie, die Ernst H. Gombrich, seinerzeit Direktor des Warburg Institute, 1970 vorgelegt hatte:14 Winds Rezension, die nur als schonungsloser Verriss bezeichnet werden kann, hat dazu geführt, dass er postum – Wind starb 1972 – im Warburg Institute lange totgeschwiegen wurde.15 Erschwert wurde die Wind-Rezeption aber sicher nicht zuletzt durch die von Wind konsequent umgesetzte Interdisziplinarität seiner Kunstforschung, die den akademischen Gepflogenheiten widersprach und so dazu geführt hat, dass seine Arbeiten für Philosophen und Kunsthistoriker gleichermaßen als abseitig galten. Und schließlich lagen selbst seine größeren Arbeiten lange entweder gar nicht oder nicht in deutscher Übersetzung vor: Die zuerst 1958 in London erschienene Schrift Heidnische Mysterien in der Renaissance wurde erstmals 1982 in deutscher Übersetzung publiziert, die Übersetzung der 1963 ebenfalls erstmals in London erschienenen Vortragssammlung Kunst und Anarchie kam 1994 heraus, Winds noch auf deutsch verfasste Habilitationsschrift Das Experiment und die Metaphysik, die 1934 zwar bereits publiziert, aber aufgrund der Zeitumstände und Winds Emigration unbeachtet geblieben war, wurde 2001 neu herausgebracht, und die bisher lediglich an der Hamburger Universitätsbibliothek als Manuskript lagernde Dissertation Aesthetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Ein Beitrag zur Methodologie der Kunstgeschichte ist kürzlich erstmals veröffentlicht worden. 2009 ist eine Zur frühen Wind-Rezeption vgl. H. Sedlmayr: Einleitung, XVI, XVII und XXIX; W. Passarge: Die Philosophie der Kunstgeschichte in der Gegenwart, 36. 14 E.H. Gombrich: Aby Warburg. 15 Vgl. R. Ohrt: … ein Umweg [Nachwort], 396. – Winds Rezension, die 1971 unter dem Titel »Unfi nished Business. Aby Warburg and his Work« im Times Literary Supplement erschienen ist, liegt inzwischen in deutscher Übersetzung vor: Offene Rechnungen. Aby Warburg und sein Werk, in: E. Wind: Heilige Furcht, 374–394. 13

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Anthologie mit Texten Winds zum Verhältnis von Kunst und Philosophie erschienen.16 Die inhaltliche Erschließung der Kunsttheorie Winds geht vor allem auf den Germanisten Bernhard Buschendorf zurück, der sich bereits seit der Mitte der 1980er Jahre mit den historischen und systematischen Aspekten dieses Ansatzes befasst.17 Weitere Studien sind vor allem in den letzten Jahren, nachdem 1996 am Potsdamer Einstein Forum unter dem Titel Edgar Wind (1900–1971). Kunsthistoriker und Philosoph ein internationales Symposium stattgefunden hatte18 , entstanden. Dabei beginnt man, nicht allein Winds Anliegen, Kunstgeschichte und Philosophie zu verbinden, rückblickend als »wegweisend«19 zu erkennen, sondern man geht inzwischen auch dazu über, Wind explizit als Bildwissenschaft ler zu würdigen20 und so in neuere Debatten einzubeziehen.

3. Kunstwissenschaft statt Kennertum und ›Geschichte des Sehens‹ 3.1 Die Kunst als Gegenstand des Wissens Bereits im Rahmen seiner Dissertation versucht Wind, das seit der Romantik geläufige Dogma von der »›Kunstfeindlichkeit‹ der Kunstwissenschaft«21 zu widerlegen und greift damit ein Thema auf, das ihn noch in seinen späten Forschungen beschäftigt 22 . So mag seiner Überzeugung nach ein Verhalten, das ausschließlich oder auch nur vordringlich die ästhetischen Qualitäten in den Blick nimmt, zwar Gegenständen der Natur gegenüber angemessen sein, wo der Vollzug – mit Kant gesprochen – ›interesselos‹ verfahren kann. In der Kunst ist der Vollzug dagegen – wie bereits etwa Dessoir hervorgehoben hatte23 – nicht bzw. nicht allein oder auch nur vordringlich frei und interesselos. Kunstrezeption hat vielmehr auch Winds Auffassung nach ein sehr bestimmtes Interesse: Sie ist nämlich maßgeblich Rekonstruktion eines vom Künstler in das Werk gelegten, also vorgegebenen Sinns.24 Ders.: Heilige Furcht. Vgl. B. Buschendorf: Enthusiasmus und Erinnerung; ders.: »War ein sehr tüchtiges gegenseitiges Fördern«; ders.: Auf dem Weg nach England; ders.: Einige Motive im Denken Edgar Winds [Nachwort]; ders.: Zur Begründung der Kulturwissenschaft; ders.: Das Prinzip der inneren Grenzsetzung. 18 Bredekamp, Horst / Buschendorf, Bernhard u. a. (Hgg.): Edgar Wind. 19 J.M. Krois: Einleitung, 29. 20 Vgl. bes. P. Schneider: Begriffl iches Denken – verkörpertes Sehen. 21 Vgl. den Abschnitt »Die Lehre von der ›Kunstfeindlichkeit‹ der Kunstwissenschaft und ihre dogmatische Grundlage«, in: E. Wind: Aesthetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand, 10–13. 22 Vgl. z. B. E. Wind: Kunst und Anarchie, 56. 23 Vgl. z. B. M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 2. 24 Vgl. E. Wind: Aesthetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand, 87. – Vgl. B. Buschendorf: »War ein sehr tüchtiges gegenseitiges Fördern«, 169 f.; P. Griener: Edgar Wind, 87. 16

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Die rein ästhetische Anschauung erfasst in ihrer Subjektivität ihren Gegenstand zwar unmittelbar, sie bleibt aber im strengen Sinne irrational, weil die »ästhetische Synthesis jenseits aller Begriffe liegt«.25 Dagegen kann die kunstwissenschaft liche Rekonstruktion den Sinn des Kunstwerks nur auf dem verschlungenen Weg begrifflich geleiteter Forschung erfassen. Sie ist dafür aber rational kontrollierbar und insofern Sache des Wissens.26 Mit dieser Abgrenzung einer Theorie der Kunst von der Ästhetik, die Wind auch im Kreis um Dessoir wieder findet, setzt er sich auf seinem vordringlichen Interessengebiet, der Malerei, von anerkannten Kunstgelehrten seiner Zeit wie vor allem Max Friedländer ab. Nicht ohne Geringschätzung akademischer Gelehrsamkeit wird nämlich von Friedländer »die Identifizierungsprozedur zu einem mystischen Ritual [stilisiert], das bei den großen Kunstkennern zwar unfehlbar, jedoch immer irrational« ist. Er verwirft zudem »die Interpretation des Kunstwerks, weil sie den ästhetischen Genuß zerstöre«.27 Wind will dagegen mit seiner Dissertation und den diese flankierenden Arbeiten zeigen, dass die rationale Analyse nicht nur diejenige Herangehensweise ist, die Kunstwerken als Trägern einer Bedeutung, die verstanden werden kann und soll, eigentlich angemessen ist. Er vertritt zudem die These, dass eine rationale Analyse gerade nicht die Frische und Fülle der ästhetischen Erfahrung von Kunstwerken zerstört. Sie bildet vielmehr in Wahrheit die Grundlage nicht nur ihrer geschichtlichen Erforschung, sondern gerade auch einer gelungenen, d. h. dem jeweiligen Kunstwerk angemessenen ästhetischen Erfahrung.28 Zwar erwecken Kenner wie Friedländer bei Wind den Eindruck, die Kunstgeschichtsforschung befi nde sich in einer Krise, und noch in seinem späten Werk Kunst und Anarchie setzt er sich in einem eigens der »Kritik des Kennertums« gewidmeten Kapitel u. a. mit diesem Autor auseinander.29 Kein anderer Kunstwissenschaft ler scheint ihn aber gerade in dieser frühen Zeit mehr zum Widerspruch gereizt zu haben als der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin.30 Wohl kommt Wölfflin, wie Wind in seiner in Dessoirs Zeitschrift erschienenen Studie »Zur Systematik der künstlerischen Probleme« hervorhebt, das Verdienst zu, E. Wind: Aesthetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand, 133. Vgl. E. Wind: Theory of Art versus Aesthetics, bes. 350–354. – S.a. B. Buschendorf: Das Prinzip der inneren Grenzsetzung, 276; ders.: »War ein sehr tüchtiges gegenseitiges Fördern«, 170.– Der erste, der diese Differenzierung konsequent zur Grundlage seiner kunstwissenschaft lichen Arbeit gemacht hat, ist nach Wind der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl, von dem Max Dvořák den Ausspruch überliefert hat, der beste Kunsthistoriker sei der, der keinen persönlichen Geschmack besitze. (Vgl. E. Wind: Theory of Art versus Aesthetics, 354. Zu Winds Bezugsstelle vgl. M. Dvořák: Alois Riegl [1905], 285.) 27 P. Griener: Edgar Wind, 84. 28 Vgl. E. Wind: Theory of Art versus Aesthetics, 358 f. – Vgl. auch z. B.: E. Wind: Kunst und Anarchie, 69. 29 Vgl. E. Wind: Kunst und Anarchie, 38–55. 30 Allerdings geht Wind auf Wölffl in auch noch in seinem Spätwerk Kunst und Anarchie wiederholt ein. 25

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die Kunst aus den metaphysisch-ästhetischen und geschichtsphilosophischen Verstrickungen der traditionellen Kunstreflexion herausgeführt und sie endlich als ›autonomes‹ Phänomen behandelt zu haben. Allerdings unterläuft ihm dabei ein doppelter Fehler. Zum einen betrachtet Wölfflin die Kunst als rein formales Ereignis, das völlig unabhängig von jedem dargestellten Inhalt zu analysieren ist. Zum anderen geht er davon aus, dass die Entwicklung dieser Formen einer rein immanenten Gesetzmäßigkeit gehorcht, die unterschiedliche, einander nach einem bestimmten Schema geschichtlich ablösende Formen des Sehens reflektiert. Dagegen stellt Wind seine Auffassung, dass die Form der Kunst als Träger einer Bedeutung in den Blick zu nehmen ist. Und er wendet sich gegen Wölfflins Bezugnahme auf psychologische Prozesse. Eine psychologische Gesetzmäßigkeit ist nämlich, wie Wind bemerkt, »notwendig außerkünstlerisch«, denn »alles Psychologische liegt ja diesseits der besonderen Gegenstandsgebiete« und ist insofern für die Analyse der Kunst als ›autonomes‹ Phänomen ungeeignet.31 Mit diesem Widerspruch schließt Wind sich der Kritik an, die Panofsky bereits zuvor in zwei ebenfalls in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft erschienenen Artikeln an Wölfflin geübt hatte.32 Allerdings ist Panofsky seinerseits so beeindruckt von den Thesen seines Schülers, dass er selbst noch einmal und mit ausdrücklichem Verweis auf Winds Studie unter dem Titel »Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie. Ein Beitrag zu der Erörterung über die Möglichkeit ›kunstwissenschaft licher Grundbegriffe‹«33 auf diesen Themenkreis zurückkommt. Und so schickt sich Panofsky in seinem Beitrag – wie er erklärt – an, anders als Wölfflin, nun tatsächlich apriorisch fundierte ›Grundbegriffe‹ der Kunstwissenschaft nach erkenntnistheoretischem Modell systematisch auszuarbeiten und in einer ›Tafel‹ zu organisieren. Wind verfährt ebenso mit den ›künstlerischen Problemen‹, d. h. grundlegenden, in jedem Kunstwerk zu entscheidenden Fragen der Gestaltung.34 Was Wind näherhin unter diesen ›Problemen‹ versteht, kann an dieser Stelle außer Acht bleiben. Im gegebenen Zusammenhang sind vor allem drei Punkte von Interesse, die für Winds weiteres Denken prägend werden: Erstens arbeitet Wind bereits hier im Anschluss an Alois Riegl und Wölfflin mit polaren Begriffen. Dabei geht auch Wind von der grundlegenden Polarität des ›Haptischen‹ und ›Optischen‹ aus. Denn, so seine Begründung, »[u]m etwas als ›künstlerische Leistung‹ zu begreifen, muß ich es als Lösung eines vorher Ungelösten ansehen, d. h. ich muß einen Konflikt setzen, der sich in der künstlerischen Leistung als ›versöhnt‹ darstellt«.35 Zweitens vertritt Wind die Auffassung, dass in der angemessenen Erfassung der 31 32

E. Wind: Zur Systematik der künstlerischen Probleme, 443. E. Panofsky: Das Problem des Stils in der bildenden Kunst; ders.: Der Begriff des Kunstwol-

lens. Ders.: Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie. Zum Verhältnis von ›Grundbegriffen‹ und ›künstlerischen Problemen‹ vgl. E. Panofsky: Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie, bes. 130 und 157. 35 E. Wind: Zur Systematik der künstlerischen Probleme, 440. 33

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künstlerischen Leistung Anschauung und Denken miteinander vereint sind, weil der künstlerischen Leistung selbst rationale Strukturen zugrunde liegen.36 Und drittens betrachtet Wind bereits hier die Kunst als Sprache, deren ›Grammatik‹ er mit seinem Schema der ›künstlerischen Probleme‹ formuliert zu haben meint.

3.2 Die ›Grammatik‹ der Kunst Indem die Kunsttheorie die ›Grammatik‹ der künstlerischen Sprache erfasst, wird sie zur Grundlage aller weiteren Deutungen.37 Oder anders gesagt: Kunstgeschichte und Kunstkritik bedürfen, wenn sie nicht leer laufen sollen, des rationalen Fundaments der Kunst-Grammatik, das eben die Kunsttheorie legt. Wind geht dabei – wie Panofsky – von einer Analogie zwischen Kunstwerken und Aussagesätzen aus. Karlheinz Lüdeking hat dies hervorgehoben und notiert, dass auch Winds Auffassung nach diejenigen, die ihre Wahrnehmungen und Vorstellungen in Bilder fassen, und diejenigen, die sie in Worte fassen, vor demselben Problem stehen: »Sie müssen aus an und für sich sinnlosen Elementen ein jeweils in sich artikuliertes und sinnvolles Ganzes bilden.«38 Es geht daher, so Wind, in beiden Fällen darum, die ›systematischen Regeln des Zusammenhangs‹ (systematic rules of coherence)39 ausfindig zu machen, aufgrund derer sich die jeweiligen Elemente zu einem sinnvollen Ganzen fügen.40 So dürfen die »Prinzipien«, die Winds Auffassung nach hier »miteinander im Widerstreit liegen […] keine logisch-begrifflichen sein«, weil schließlich »alles Künstlerische […] der konkretanschaulichen Region angehört«. »Umgekehrt kann aber der Widerstreit selbst nicht anders als logisch verstanden werden; wie auch seine Aufdeckung rein aus begrifflichen Motiven erfolgt. Im Denken muß also das Problem gesetzt sein, dessen Lösung nur im Anschaulichen zu fi nden ist.« Hiermit ist, so Wind weiter, »die Eigentümlichkeit der ›künstlerischen Probleme‹ gekennzeichnet: sie schließen eine vom Denken gesetzte Antithetik in sich, die dennoch keine Antithetik für das Denken ist.« (E. Wind: Zur Systematik der künstlerischen Probleme, 440 [Hervorhebung im Orig.].) 37 »The question of liking should be eliminated altogether. We must fi rst teach grammar. We must show why in this picture this special kind of line or spot involves this special kind of space and grouping, and how all this together corresponds to the representation of things and the expression of life. With these means, and with no others, can we develop a feeling for art which is based on solid knowledge and reasonable understanding, not on mere talk and uncontrolled emotions.« (E. Wind: Theory of Art versus Aesthetics, 359. – Zur ›Grammatik‹ der ›künstlerischen Probleme‹ vgl. auch ebd., 356.) 38 K. Lüdeking: Panofskys Umweg zur Ikonographie, 213. Vgl. hierzu auch bes. den Beitrag von Lüdeking im vorliegenden Band. 39 E. Wind: Theory of Art versus Aesthetics, 357; vgl. K. Lüdeking: Panofskys Umweg zur Ikonographie, 213 f. 40 Konkret führt Wind aus: »Wie auf sprachlichem Gebiet die sinnlichen Laute sich für die Darstellung von Worten erst dadurch als geeignet erweisen, daß sie sich bestimmten Gegenständen (den Begriffssymbolen) zuordnen lassen, diese Zuordnung aber ihrerseits zur Voraussetzung hat, daß die Laute unter sich in einer geregelten Beziehung stehen, – genau so hängt auch auf visuellem Gebiet das geregelte Erfassen von Gegenständen mit einer Regelung des Sinnlichen als solchem zusammen. Diese rein sinnliche Ordnung aber, zu deren Bezeichnung wir der Lautlehre 36

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Dabei erhellt der gesuchte ›Sinn‹ dieser Sprache für Wind allerdings nicht, wie Panofsky es zu diesem Zeitpunkt noch (vergeblich) nachweisen will, bereits aus der Analyse der ganz elementaren formalen Ebene der Bildgestaltung, wo er sich als ihr »immanenter Sinn« zeigen soll.41 Der Sinn der Kunst erschließt sich vielmehr erst, wenn neben der formalen Gestaltung zweitens auch das, was das Werk darstellt, und drittens die »Lebensäußerung«, die in dem, was dargestellt ist, zum ›Ausdruck‹ kommt, berücksichtigt wird.42 D. h. ganz wie sich in der Sprache einzelne Buchstaben zu Wörtern und schließlich zu Sätzen fügen, werden in der Malerei aus einzelnen Formelementen zunächst erkennbare Gestalten und schließlich ausdrucksvolle Bildkomplexe aufgebaut.43 In dieser Dreiteilung Winds klingt bereits jene kunst- und bildwissenschaft liche Arbeitsform an, die gemeinhin vor allem mit dem Namen Panofskys verbunden ist: die von diesem seit 1930 betriebene ›Ikonographie‹ und ›Ikonologie‹, mit der er seine frühe, formalistisch und neukantianisch geprägte Weise der Kunstreflexion hinter sich lässt.44 Aber auch Wind selbst verfolgt seinen frühen methodologischen Vorstoß zu einer Analyse der Sprache der Kunst auf Kant’scher Basis nicht weiter. Vielmehr geht er in seiner naturphilosophischen Studie über Das Experiment und die Metaphysik, mit der er sich ebenfalls 1930 habilitiert, zu einer offenen Kant-Kritik über. Wind wendet sich hier nämlich gegen Kants These, dass die sinngebenden Prinzipien der Erfahrung durch Erfahrung nicht widerlegt werden können. 45 Der Kant’schen ›reinen‹ Vernunft stellt er nun die ›verkörperte Vernunft‹ entgegen, die ihre Ideen in einem ›experimentum crucis‹ direkt anschaubar machen können muss.46 Wind beruft sich dabei auf die Thesen der Vertreter des Pragmatismus, vor den Ausdruck ›Artikulation‹ entlehnen, beruht innerhalb des Visuellen auf der Durchführung eines bestimmten Ausgleichs zwischen optischen und haptischen Werten.« (E. Wind: Zur Systematik der künstlerischen Probleme, 462 f. [Hervorhebung im Orig.].) 41 E. Panofsky: Der Begriff des Kunstwollens, 332 u.ö. – Zum Status dieser These und ihrem Verhältnis zu der später von Panofsky entwickelten Ikonologie vgl. K. Lüdeking: Panofskys Umweg zur Ikonographie, bes. 215–218 und 221–224; zum ›immanenten Sinn‹ der Kunst bei Panofsky vgl. ebd., 206 und 210–213. 42 E. Wind: Zur Systematik der künstlerischen Probleme, 469 (»Lebensäußerung«), vgl. 473 f. (»Ausdruck«). – Vgl. hierzu auch: W. Passarge: Die Philosophie der Kunstgeschichte in der Gegenwart, 36. 43 Dabei erklärt Wind ausdrücklich, dass diese systematische Ableitung der Kunst, die er am Beispiel der Malerei ausführt, grundsätzlich für alle Künste gilt. (Vgl. E. Wind: Theory of Art versus Aesthetics, 358; s.a. ders.: Zur Systematik der künstlerischen Probleme, 462.) D. h. jede Kunst ist, so verstanden, eine Sprache. 44 Panofsky legt 1930 mit Herkules am Scheideweg seine erste ikonographische Arbeit vor. 1932 erscheint dann Panofskys Studie »Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst«. Dieser Aufsatz wird in seiner erweiterten Fassung, die Panofsky seinem Sammelband Studies in Iconology als Einleitung und dann wieder in Meaning in the Visual Art gegeben hat, als programmatische methodische Grundlegung der Ikonographie und Ikonologie rezipiert. 45 Vgl. E. Wind: Das Experiment und die Metaphysik, 116. 46 Seine Kritik an Kant hätte Wind beinahe seine Venia gekostet. Neben Panofsky ist es vor allem Cassirer, der die Situation rettet, indem er Wind in einem Sondergutachten bescheinigt, es

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allem Peirce. Aus Peirces Theorie der Bedeutung von Begriffen wird bei Wind eine Theorie der Bedeutung von Instrumenten und Dokumenten.47 Dabei wird die Kunst ausdrücklich einbezogen.48 Im Pragmatismus findet Wind so eine wissenschaftstheoretische Antwort auf eine Forderung, die er selbst bereits in seinen Ausführungen »Zur Systematik der künstlerischen Probleme« aufgestellt hatte. Hier hatte er nämlich notiert: »Im Denken muß [ein] Problem gesetzt sein, dessen Lösung nur im Anschaulichen zu finden ist.«49 Allerdings sucht auch Wind die Antwort auf diese Herausforderung im Bereich der Kunst nun nicht länger in der Kunst selbst, sondern, wie Panofsky, in deren kultureller Funktion. D. h. die Kunst wird auch im Rahmen der von Wind nun betriebenen Version der Ikonologie als eine Sprache angesehen, die nur im Kontext der Sprache der Kultur verstanden werden kann. Dabei blendet Panofsky, wie immer wieder kritisiert wurde, in seinen ikonologischen Studien die formale Seite der Kunst zugunsten inhaltlicher Fragen aus.50 Eine solche Vernachlässigung der formalen und ästhetischen Seite der Kunst zugunsten inhaltlicher Fragen hat Wind dagegen stets aus prinzipiellen Gründen mit Verweis auf die konstitutive Bedeutung der »sinnlichen Sphäre«51 bzw. der ›Verkörperung‹ strikt verurteilt – auch wenn seinen ikonologischen Studien durchaus ähnliche Vorwürfe wie denen Panofskys gemacht worden sind.52 sei ihm gelungen, Kants »Antinomien den Charakter der prinzipiellen Unentscheidbarkeit zu nehmen und die theoretische Möglichkeit ihrer experimentellen Entscheidbarkeit aufzuzeigen« (Gutachten zu Winds Habilitationsschrift, in: E. Wind: Das Experiment und die Metaphysik, 223. – Vgl. J.M. Krois: Kunst und Wissenschaft in Edgar Winds Philosophie der Verkörperung, 190 f.; ders.: Einleitung, 20). Allerdings fordert Cassirer selbst die von Wind reklamierte Beobachtbarkeit nicht. Und er bleibt skeptisch, ob wir auf dem Weg des experimentum crucis etwas über das von ihm so genannte ›freie Denken‹ aussagen können. In einer persönlichen Äußerung nennt er Wind so einen ›geläuterten Empiristen‹. (Vgl. B. Buschendorf: Auf dem Weg nach England, 89; s.a. ders.: Das Prinzip der inneren Grenzsetzung, bes. 276–278.) 47 Vgl. J.M. Krois: Einleitung, 20 f. 48 Vgl. E. Wind: Das Experiment und die Metaphysik, 108. – Vgl. bes. B. Buschendorf: »War ein sehr tüchtiges gegenseitiges Fördern«, 172 f.; ders.: Das Prinzip der inneren Grenzsetzung, bes. 276–278; J.M. Krois: Kunst und Wissenschaft. 49 Vgl. Anm. 36. S.a. E. Wind: Das Experiment und die Metaphysik, 99 und 117. 50 Vgl. hierzu bes.: K. Lüdeking: Panofskys Umweg zur Ikonographie, bes. 223 f. – Eine in den neueren Diskussionen um das Bild oft mals zu fi ndende Zuspitzung dieses Vorwurfs an Panofsky hat William J. Thomas Mitchell vorgegeben, wenn er dessen Ikonologie vorwirft, diese unterwerfe das Bild dem Beherrschungswillen des außerbildlichen Logos. (Vgl. W.J.Th. Mitchell: Der Pictorial Turn.) 51 E. Wind: Zur Systematik der künstlerischen Probleme, 462. 52 So wirft Robert Klein Wind unter Bezug auf dessen Werk Heidnische Mysterien in der Renaissance vor, die Kunstwerke dienten ihm nur als Schlüssel zur Rekonstruktion der Denkweisen der Renaissance. (Vgl. R. Klein: Edgar Wind, Pagan Mysteries in the Renaissance [Rez.], 284.) Ähnlich hat sich Otto Pächt geäußert. (O. Pächt: Kritik der Ikonologie, 235.) Und ebenfalls Werner Busch erklärt, Winds früher Aufsatz über »Humanitätsidee und heroisiertes Porträt in der englischen Kultur des 18. Jahrhunderts« könnte zumindest Anlass zu diesem Verdacht geben. (Vgl. W. Busch: Heroisierte Porträts?, 35 f.)

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4. Kunstwissenschaft als Kulturwissenschaft Von entscheidender Bedeutung für Winds Ausbildung eines kulturalistischen Kunstverständnisses und seiner eigenen Version der Ikonologie ist Aby Warburg. Und so ist es auch Wind, dem als anerkanntem Kenner von Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft nach dessen Tod unter den Mitarbeitern der Kulturwissenschaft lichen Bibliothek die Aufgabe zufällt, diesen Begriff 1930 im Rahmen des Vierten Kongresses für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft in Hamburg vorzustellen. In diesem Vortrag präsentiert Wind unter dem Titel »Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik« Warburgs Konzeption unter drei zentralen Aspekten, die zu diesem Zeitpunkt auch bereits für sein eigenes Verständnis der Kunst grundlegend geworden sind: »Warburgs Begriff des Bildes, seine Theorie des Symbols und seine Psychologie des mimischen und hantierenden Ausdrucks«.53

4.1 Der Begriff des Bildes Hinsichtlich der Charakteristik des Bildbegriffs kann Wind bei seiner früheren Kritik an Wölfflins Psychologismus anknüpfen. Er ergänzt seine Einwände jetzt aber um den Hinweis, Wölfflin habe bei seinem verdienstvollen Kampf um die »Autonomie der Kunstgeschichte« den kapitalen Fehler begangen, die Kunst »von der Kulturgeschichte loszulösen«. Er komme daher zu völlig unangemessenen Generalisierungen und fasse das Heterogenste unter dieselbe »allgemeine Formel«: Dem »Spitzschuh« etwa liegt so nach Wölffl in das gleiche »spezifische Formempfi nden des gotischen Stils« zugrunde wie der »Kathedrale«.54 Gegen solche formalistischen Verallgemeinerungen wendet Wind unter Berufung auf Warburg ein, hier würden die »Unterschiede des gerätmäßigen Gebrauchs mit Bezug auf den hantierenden Menschen« ignoriert.55 D. h. die Kunst ist zwar als eine eigenbedeutsame Sphäre innerhalb der Kultur anzuerkennen, ihre Autonomie ist aber, anders als die Formalisten dies behaupten, keine absolute, sondern eine relative.56 So stellt Wind mit Warburg Wölfflins »Begriff des reinen künstlerischen Sehens« den »Begriff der Gesamtkultur entgegen, in der das künstlerische Sehen eine notwendige Funktion erfüllt«.57 Diese ›Grundüberzeugung Warburgs‹ hat Implikationen für die historische Rekonstruktion des Sinns von Bildern. Sie gelingt nämlich nicht durch »einfaches Anschauen« und »unmittelbares Sicheinfühlen«. Sie muss vielmehr, wie Wind bereits in seiner Dissertation unter Verweis auf die grundlegende Bedeutung der Kunsttheorie 53 54 55 56 57

E. Wind: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft, 163. Ebd., 163–166. Ebd., 166. Vgl. B. Buschendorf: Das Prinzip der inneren Grenzsetzung, 310 f. E. Wind: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft, 167.

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erklärt hatte, den indirekten Weg wählen. Nun verweist er hier allerdings mit Warburg auf die Bedeutung von kunstwerk-externen Texten. So muss der Kunstforscher durch das Studium aller Arten von Urkunden, die sich mit diesem Bild nach historisch-kritischer Methode in Verbindung bringen lassen, einen Indizienbeweis führen für die Tatsache, daß ein im einzelnen aufzuweisender Vorstellungskomplex an der Gestaltung des Bildes mitgewirkt hat.58

Hierzu führt Wind in einer späteren Arbeit näher aus, es sei allerdings ein fundamentaler Fehler anzunehmen, ein Bild sei verstanden, wenn es »in Wörtern verdoppelt« wird. Umgekehrt kann ein Bild auch nie als »buchstäbliche Illustration« eines Textes gelesen werden. Das spricht aber nach Wind nicht gegen die Deutung der Bilder mit Hilfe von Texten. Nur gilt es, sich bei der Suche nach den Bildsinn erschließenden Texten von der Vorstellung zu lösen, hier könne es sich um »Eins-zueins-Beziehungen« handeln. Vielmehr geht es darum, auf einer möglichst breiten Quellenbasis das »intellektuelle Umfeld eines Malers zu rekonstruieren«. Mit Peirce: Unser Gedankengang darf keine »Kette« bilden, »die nicht stärker ist als ihr schwächstes Glied, sondern ein Tau, dessen Fasern noch so schwach sein mögen, wenn sie nur zahlreich genug und eng miteinander verknüpft sind«.59 D. h. Deutungen von Kunstwerken können nicht im strengen Sinne bewiesen, sondern nur aus einer Konfiguration von historischen Zeugnissen plausibel gemacht werden. Eine solche Rekonstruktion der Denkbedingungen eines Werks ist nun allerdings für Verständnis und Genuss gleichermaßen unerlässlich.60 Denn: »Das Auge liest anders, wenn der Gedanke es lenkt.«61

4.2 Symbol und Ausdruck Schon in seiner Dissertation hatte Wind sich in Auseinandersetzung mit Wölfflin und Riegl ein Denken in Polaritäten zu Eigen gemacht. Dieses Polaritätsdenken wird unter Warburgs Einfluss entscheidend für Winds Symboltheorie, die er als von Warburg stammend in seinem Vortrag über »Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft« vorstellt. 62 Dabei bezieht sich dieser vor allem auf Überlegungen von Friedrich Theodor Vischer in dessen Aufsatz über »Das Symbol« von 1887.63 Ebd., 168. E. Wind: Bild und Text (um 1958), 262. – Wind zitiert hier aus: Ch.S. Peirce: Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen (1868), 186. 60 Vgl. z. B. E. Wind: Heidnische Mysterien in der Renaissance, 26; ders.: Kunst und Anarchie, 68. – S.a. B. Buschendorf: Das Prinzip der inneren Grenzsetzung, 306. 61 E. Wind: Kunst und Anarchie, 66. 62 Vgl. auch E. Wind: Einleitung, 241–244. – Zur Deutung von Winds Symboltheorie und ihrem Verhältnis zu den Konzeptionen von Vischer und Warburg vgl. bes.: B. Buschendorf: Zur Begründung der Kulturwissenschaft; s.a. ders.: »War ein sehr tüchtiges gegenseitiges Fördern«, 185–187. 63 Vgl. Friedrich Th. Vischer: Das Symbol (1887). 58 59

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So unterscheidet Wind in Anlehnung an Vischer und Warburg drei besondere Symbolbegriffe, die – hier wird Vischer zitiert – dazu dienen, die »Hauptarten der Verbindung zwischen Bild und Sinn auseinanderzuhalten«. Auf der ersten Stufe, die Vischer als die »dunkel-verwechselnde«, Warburg als die »magisch-verknüpfende« bezeichnet, werden »Bild und Bedeutung in eins gesetzt«. Hier handelt es sich um »Symbole der Aneignung«, die man sich typischerweise durch »Essen und Trinken«, also physisch, einverleibt.64 Den Gegenpol dieser archaischen, »magisch-bindende[n]« Symboldeutung bildet die »logisch-sondernde«, wo die Bedeutungsträger »nicht als Kräfte, die geheimnisvoll wirken«, sondern »als Zeichen, die intellektuell zu verstehen sind«, zu uns sprechen.65 Auf dieser historisch späten, logisch oder rein begrifflich orientierten Stufe ist das Symbol dagegen frei von jeder affektiven Färbung und wird so an ein lebloses, ganz abstraktes Zeichen geheftet. Der kulturwissenschaft lich relevante Symbolbegriff bezieht sich dagegen auf eine mittlere, zwischen leiblicher Aneignung und intellektuellem Verstehen angesiedelte Stufe, die in diesem Modell den Bereich der Kultur im engen und eigentlichen Sinn bildet. Hierzu erklärt Wind: Die kritische Phase aber liegt in der Mitte, dort, wo das Symbol als Zeichen verstanden wird und dennoch als Bild lebendig bleibt, wo die seelische Erregung, zwischen diesen Polen in Spannung gehalten, weder durch die bindende Kraft der Metapher so sehr konzentriert wird, daß sie sich in Handlung entlädt, noch durch die zerlegte Ordnung des Gedankens so sehr gelöst wird, daß sie sich in Begriffe verflüchtigt. Und eben hier hat das ›Bild‹ (im Sinne des künstlerischen Scheinbildes) seine Stelle. 66

Zwar wird im symbolischen Verhalten ständig ein Ausgleich zwischen den Polen gesucht. Von Warburg lernt Wind allerdings, dass bei diesem Ausgleich die beiden Pole stets in einem labilen Gleichgewicht erhalten bleiben: Logos steht weiterhin gegen Mythos, Rationalität gegen Expression. Im Symbol finden so die gegensätzlichen Kräfte einer Epoche zusammen und kommen hier, im Bild verkörpert, zur Anschauung. Durch die Polarität des kulturellen Symbols wird nun – im Gegensatz zur Eindeutigkeit des magischen und des zeichenhaften Symbols – ein Deutungsspielraum eröffnet. Die kulturwissenschaft liche Aufgabe besteht daher darin, in einem (von Warburg so genannten) ›Denkraum der Besonnenheit‹ – auf der Basis eines fortgesetzten Quellenstudiums – die Pole des Symbols und die Form ihrer Zusammenführung am konkreten Werk zu beschreiben.67 Der Wind-Forscher Bernhard Buschendorf betont dabei, dass Warburg, fasziniert von dem ›bewegten Leben‹ und dem ›Nachleben‹ der noch rituell eingebundenen Formen, sich mehr für das beunruhigende 64 65 66 67

E. Wind: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft, 170. Ebd., 171. Ebd., 172. Vgl. W. Busch: Heroisierte Porträts?, 36.

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Ausdruckspotential des Werkes interessiert und in seinen Forschungen eine psychohistorische Ausrichtung verfolgt. Wind fokussiert dagegen mehr den rationalen Pol und treibt dementsprechend Ideengeschichte.68 Paradoxerweise führt aber in beiden Fällen der zumindest von Wind so energisch unternommene Versuch, eine Wissenschaft von der Kunst als Phänomen sui generis zu betreiben, gerade zu jener Öffnung des Phänomenbereichs der Kunstforschung, wie sie heute im Zeichen des ›iconic‹ oder ›visual turn‹ propagiert wird.69

5. Wissen in der Kunst und Wissen im Bild Mit dieser Erweiterung des Gegenstandsfeldes der Bildreflexion ist es auf den ersten Blick nur schwer zu vereinbaren, dass Wind zeitlebens einen geradezu »klassizistischen, auf einer ganzheitlichen Humanitätsidee basierenden Kunstbegriff« vertreten hat.70 Vermutlich ist Wind selbst dieser Widerspruch – im Vorfeld der medialen ›Bilderflut‹, die heute zahlreiche Forscher beschäftigt – überhaupt nicht als solcher bewusst gewesen. Sein Interesse galt vielmehr – hierin eins nicht nur mit Warburg, sondern auch mit den Protagonisten Allgemeinen Kunstwissenschaft – dem Ziel, die Kunst aus der traditionalistischen Fixierung auf die ›Schönheit‹ bzw. das ›Ästhetische‹ zu lösen und deutlich zu machen, dass die Grenzen zum Nicht-Künstlerischen keinen »Bruch«, sondern einen »kontinuierlichen Übergang« bilden.71 Allerdings lassen sich in seinen Texten doch Hinweise finden, wie Wind das Verhältnis von künstlerischem und nicht-künstlerischem Bild näherhin bestimmt haben könnte. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei seinem Hamburger Habilitationsvortrag »Θεῖος Φόβος. Untersuchungen über die Platonische Kunstphilosophie« zu.72 In diesem 1932, einige Monate vor Winds Emigration, in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft erschienen Beitrag spricht er erstmals viele Themen an, auf die er wiederum noch 1960 in seinen unter dem Titel Kunst und Anarchie erschienenen Radiovorträgen zurückkommt.73 Gerade die heute so fremdartig wirkende These Platons von der Gefahr, die die Kunst im Staat darstelle, greift Wind auf. Zwar mögen die Vorschläge, die Platon zur Eindämmung dieser Gefahr macht, zeitgebunden sein. Ebenso zeitgebunden ist aber zugleich das Unverständnis, das in unseren Tagen Platons Warnung vor der Kunst entgegengebracht wird. Sie verkennt nämlich jene von Platon erkannte Vgl. z. B. B. Buschendorf: Einige Motive im Denken Edgar Winds, 406; ders.: Zur Begründung der Kulturwissenschaft, 238. 69 Vgl. P. Schneider: Begriffl iches Denken – verkörpertes Sehen. 70 B. Buschendorf: Das Prinzip der inneren Grenzsetzung, 275. 71 E. Wind: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft , 178 f. und 174, vgl. 176. 72 Vgl. hierzu bes.: Ch. Buschendorf: Kunst als Kritik, bes. 123–126; J.M. Krois: Kunst und Wissenschaft, 195–199. 73 Vgl. hierzu auch bes. Winds Oxforder Antrittsvorlesung 1957 »The Fallacy of Pure Art«. – S.a. bes.: B. Buschendorf: Das Prinzip der inneren Grenzsetzung, 310–314.) 68

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Verwandtschaft von Kunst und Anarchie, die Wind später zum Titel eines seiner Bücher erhoben hat. Denn die Kunst enthält in der Tat – was die Verfechter einer Theorie der ›reinen Kunst‹ ignorieren – ein destruktives, irrationales Potential, insofern sie Bild ist: Bilder können Menschen beherrschen, indem sie ihre Phantasie besetzen, und so durchaus auch negativen Einfluss auf ihr Leben nehmen. Der Grundfehler des formalistischen Ansatzes ist es daher vor allem, nur gleichsam »die oberste Schicht eines Kunstwerkes sorgfältig abzuheben, ohne an den imaginativen Gehalt zu rühren«. Die Kunst wird hier, so könnte man, Wind interpretierend, sagen, nicht als Kunst, sondern als Bild – verstanden als Ereignis der reinen Sichtbarkeit – behandelt. Die von Platon in den Blick genommene und für die Kunst konstitutive Verbindung mit dem Leben und seinen moralischen Fragen wird dabei unterschlagen: Sie verliert damit ihre »unmittelbare Bedeutung für unser Dasein und wird zur schönen Überflüssigkeit«. Dagegen kann und soll man nach Wind bei Platon – so krude uns die von ihm vorgesehenen Zensurmaßnahmen auch erscheinen mögen – lernen, die Kunst »ernst zu nehmen«.74 Allerdings unterscheidet sich Winds Bestimmung der Kunst zugleich in einem zentralen Punkt von der Platons. Kunst ist zwar ebenfalls Winds Auffassung nach als Entäußerung der Phantasie Präsenz des Irrationalen, Mythischen in nicht mehr mythischer Zeit. Und Fiktion tendiert, dies ist für Wind eine bleibend aktuelle Einsicht Platons, stets dazu, für wahr genommen zu werden, mit ihren Bildern das Bewusstsein zu besetzen und so ihre zerstörerische, da irrationale Wirkung zu entfalten.75 Kunst ist aber zugleich – wie dies nach Wind die Ikonologie zeigt – eine Weise, Gedanken zum Ausdruck zu bringen, d. h. eine Form von Rationalität. Und aus dieser leitet sich die moralische Funktion der Kunst ab, die Platon – und mit ihm der Formalismus – der Kunst abspricht bzw. nur sehr eingeschränkt zuerkennen mag.76 Platon berücksichtigt nämlich noch nicht die in der Moderne »grundlegende Tatsache«, daß die Kunst ein Spiel der Einbildungskraft ist, welche uns zu gleicher Zeit bindet und löst, uns gefangen nimmt im Dargestellten und es doch nur als ästhetischen Schein darstellt. Aus dieser doppelten Wurzel – Darstellung und Fiktion – zieht die Kunst ihre Macht, die Anschauung über das Gegebene hinaus zu erweitern, unsere Erfahrung zu vertiefen; aber um den Preis eines beständigen Schillerns und Wechsels zwischen Wirklichkeit und Bild. Im Bereich dieser Vieldeutigkeit und Spannung lebt die Kunst, und nur, solange sie ihr doppeltes Gesicht bewahrt, bleibt sie, was sie ist.77

E. Wind: Kunst und Anarchie, 30, 19 und 12. Vgl. ders.: Θεῖος Φόβος, 57 f. 76 Die Kunst hat nämlich für Wind – ebenso wie die Philosophie oder die historische Forschung – immer eine moralische und politische Bedeutung. Vgl. hierzu bes.: Ch. Buschendorf: Kunst als Kritik; H. Bredekamp: Falsche Skischwünge; s.a. J.M. Krois: Einleitung, 28 f.; R. Ohrt: … ein Umweg [Nachwort], 395 f. und 405. 77 E. Wind: Kunst und Anarchie, 30 f. 74

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Winds Gewährsmann ist hier Schiller. So erklärt er unter Berufung auf die Ästhetischen Briefe, in der Moderne sei der ästhetische Schein in der Kunst eben nicht mehr, wie noch für Platon, nur falscher Schein, sondern Mittel zur Distanzgewinnung, das Raum für Reflexion schafft.78 Nicht weniger problematisch als die Position der formalistischen Puristen ist aber Winds Auffassung nach die ebenso extreme Gegenreaktion auf diese »Überfeinerung«: die Theorie des Art Engagé, die die »Schwächen der Theorie der ›reinen Kunst‹ durch ihre einfache Umkehrung zu beheben sucht«.79 Die moralische Bedeutung besteht bei der Kunst nämlich nicht in der Propagierung bestimmter als ›moralisch‹ angesehener Inhalte. Auch hier, so könnte man sagen, wird die Kunst zu Bildern transformiert, die Zeichen für einen konkret benennbaren Inhalt sind, den sie quasi übersetzen. Allerdings steht dieser Inhalt, den die Ikonographie zu benennen hat, eben nur bei Sekundärem in einer ›Eins-zu-eins-Beziehung‹ mit einem Text. Im Fall der Kunst ist diese Beziehung nur auf dem ›Umweg‹ der umfassenden Rekonstruktion der Denkbedingungen eines Werks zu erhellen. 80 Kunst ist für Wind also nicht – wie Platon und die Formalisten dies in unterschiedlicher Weise, aber in der Konsequenz identisch, sehen – reine Präsenz des Irrationalen – seien dies verführerische, erschreckende oder physiologische ›Sichtweisen‹ reflektierende Bilder. Kunst ist für ihn aber zugleich auch nicht schlicht eine andere Form von Rationalität. Vielmehr erkennt Wind mit Warburg den Widerstreit zwischen Irrationalität und Besonnenheit, der nach Platon das Verhältnis von Kunst und Staat sowie zwischen Kunst und Individuum prägt, als einen Widerstreit innerhalb der Kunst selbst. Ihre Bedeutung für das Leben besteht darin – so Wind mit Schiller –, den modernen »Antagonismus der Kräfte«, jenes »große Instrument der Kultur«, anschaulich präsent zu machen.81 Genauer: Der von Warburg so genannte ›Denkraum der Besonnenheit‹, der bei Bildern erst durch den wissenschaft lichen Zugang geschaffen wird, ist in der Kunst immer schon als Imperativ an die Rezeption enthalten. Diesen Denkraum kann man nicht sehen, sondern er ist Sache des Bewusstseins, mit dem etwas gesehen wird. Kunst ist, wie man in Anlehnung an Hegel sagen könnte, nicht nur, wie das Bild, eine Form des Wissens, sondern eine Weise, sich über diese Wissensform zu verständigen. Daher gilt für die Kunst sozusagen in doppelter Weise, was auch für Bilder gilt: »Das Auge liest anders, wenn der Gedanke es lenkt.«82

Vgl. ders.: Θεῖος Φόβος, 65–68. Ders.: Kunst und Anarchie, 30. 80 Vgl. ders.: Bild und Text (um 1958), 261. 81 Ders.: Θεῖος Φόβος, 66. – Vgl. F. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 587 (6. Brief). 82 Vgl. Anm. 7. 78

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Literatur Bredekamp, Horst/ Buschendorf, Bernhard u. a. (Hgg.): Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998 Bredekamp, Horst: Falsche Skischwünge. Winds Kritik an Heidegger und Sartre, in: H. Bredekamp/ B. Buschendorf u. a. (Hgg.): Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998, 207–218 Busch, Werner: Heroisierte Porträts? Edgar Wind und das englische Bildnis des 18. Jahrhunderts, in: H. Bredekamp/ B. Buschendorf u. a. (Hgg.): Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998, 33–48 Buschendorf, Bernhard: »War ein sehr tüchtiges gegenseitiges Fördern«. Edgar Wind und Aby Warburg, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 4 (1985), 165–209 – Auf dem Weg nach England. Edgar Wind und die Emigration der Bibliothek Warburg, in: M. Diers (Hg.): Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute, Hamburg 1993, 85–128 – Das Prinzip der inneren Grenzsetzung und seine methodologische Bedeutung für die Kulturwissenschaften [Nachwort], in: E. Wind: Das Experiment und die Metaphysik (1930), hg. von B. Buschendorf, Frankfurt a. M. 2001 (Neuausgabe der Edition von 1934), 270–326 – Einige Motive im Denken Edgar Winds [Nachwort], in: E. Wind: Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt a. M. 41987, 396–415 – Enthusiasmus und Erinnerung in der Kunsttheorie Edgar Winds, in: A. Assmann/ D. Harth (Hgg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 21993, 319–334 – Zur Begründung der Kulturwissenschaft. Der Symbolbegriff bei Friedrich Theodor Vischer, Aby Warburg und Edgar Wind, in: H. Bredekamp/ B. Buschendorf u. a. (Hgg.): Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998, 227–248 Buschendorf, Christa: Kunst als Kritik. Edgar Wind und das Symposium »Art and Morals«, in: H. Bredekamp/ B. Buschendorf u. a. (Hgg.): Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998, 117–133 Dessoir, Max: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Stuttgart 21923 – Sinn und Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft, in: Philosophische Monatshefte der Kant-Studien 1 (1925), 149–152 Dvořák, Max: Alois Riegl (1905), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kunstgeschichte, München 1929, 279–298 Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a. M. 1984 [Originalausg.: Aby Warburg. An Intellectual Biography, London 1970] Griener, Pascal: Edgar Wind und das Problem der Schule von Athen, in: H. Bredekamp/ B. Buschendorf u. a. (Hgg.): Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998, 77–103 Klein, Robert: Edgar Wind, Pagan Mysteries in the Renaissance, London 1958 [Rez.], in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 23 (1960), 284–286 Klibansky, Raymond: Erinnerung an ein Jahrhundert. Gespräche mit Georges Leroux, Frankfurt a. M. 2001 [Originalausg.: Le philosophe et la mémoire du siécle, Paris 1998] Krois, John M.: Einleitung, in: E. Wind: Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, hg. von J.M. Krois und R. Ohrt, Hamburg 2009 (Fundus-Bücher Bd. 174)

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– Kunst und Wissenschaft in Edgar Winds Philosophie der Verkörperung, in: H. Bredekamp/ B. Buschendorf u. a. (Hgg.): Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998, 181–199 Lloyd-Jones, Hugh: A Biographical Memoir, in: E. Wind: The Eloquence of Symbols. Studies in Humanist Art, hg. von J. Anderson, Oxford 21993, XIII–XXXVI Lüdeking, Karlheinz: Panofskys Umweg zur Ikonographie, in: J. Früchtl/ M. Moog-Grünewald (Hgg.): Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten. 100 Jahre »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«, Hamburg 2007 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 8), 201–224 Mitchell, William J.Th.: Der Pictorial Turn, in: Ch. Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, 15–40 [Originalausg.: The Pictorial Turn, in: ArtForum 30 (1992), 89–95] Ohrt, Roberto: … ein Umweg [Nachwort], in: E. Wind: Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, hg. von J.M. Krois und R. Ohrt, Hamburg 2009 (Fundus-Bücher Bd. 174), 395–425 Pächt, Otto: Kritik der Ikonologie, in: ders.: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. Ausgewählte Schriften, hg. von J. Oberhaidacher/ A. Rosenauer u. a., München 1977, 235– 250 Panofsky, Erwin: Das Problem des Stils in der bildenden Kunst, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 10 (1915), 460–467 – Der Begriff des Kunstwollens, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 14 (1920), 321–339 – Meaning in the Visual Art, Garden City 1957 – Studies in Iconology, New York 1939 – Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie. Ein Beitrag zu der Erörterung über die Möglichkeit »kunstwissenschaft licher Grundbegriffe«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 18 (1925), 129–161 – Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst, in: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von H. Oberer und E. Verheyen, Berlin 1985, 85–97 Passarge, Walter: Die Philosophie der Kunstgeschichte in der Gegenwart. Mittenwald 1981 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1930) Peirce, Charles S.: Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen, in: ders.: Schriften I, Frankfurt a. M. 1967, 184–231 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Erzählungen/ Theoretische Schriften, hg. von G. Fricke und H.G. Göpfert, Darmstadt 1993 (Sämtliche Werke, Bd. V), 587 (6. Brief) Schneider, Norbert: Kunst zwischen Magie und Logos. Zum kulturwissenschaft lichen Ansatz von Edgar Wind (1995), in: K. Garber (Hg.): Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk im Blick auf das Europa der frühen Neuzeit, München 2002, 2–37 Schneider, Pablo: Begriffliches Denken – verkörpertes Sehen. Edgar Wind (1900–1971), in: J. Probst/ J.P. Klenner (Hgg.): Ideengeschichte der Bildwissenschaft. Siebzehn Porträts, Frankfurt a. M. 2009, 53–74 Sedlmayr, Hans: Einleitung. Die Quintessenz der Lehren Riegls, in: A. Riegl: Gesammelte Aufsätze, Berlin 1995 (Nachdruck der von K.M. Swoboda herausgegebenen Ausgabe, Augsburg/ Wien 1929), XI–XXXIV

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Špet, Gustav G.: K voprosu o postanovke naučnoj raboty v oblasti iskusstvovedenija [Zur Frage der Organisation der wissenschaft lichen Arbeit auf dem Gebiet der Kunstforschung], in: Bjulleteni GAChN 4–5 (1926), 3–20 [dt. in diesem Band] Vischer, Friedrich Th.: Das Symbol (1887), in: ders.: Kritische Gänge, Bd. IV, hg. von R. Vischer, 2München 1922, 420–456 Wind, Edgar: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Ein Beitrag zur Methodologie der Kunstgeschichte [Phil. Diss., Hamburg 1922], hg. von P. Schneider, Hamburg 2011 (Fundus-Bücher Bd. 192) [im Beitrag zitiert nach dem in der Hamburger Universitätsbibliothek lagernden Typoskript] – Bild und Text (um 1958), in: H. Bredekamp/ B. Buschendorf u. a. (Hgg.): Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998, 259–262 – Das Experiment und die Metaphysik. Zur Auflösung der kosmologischen Antinomien, Tübingen 1934/ Frankfurt a. M. 2001 – Einleitung, zu: Kulturwissenschaft liche Bibliographie zum Nachleben der Antike› in: ders: Das Experiment und die Metaphysik (1930), hg. von B. Buschendorf, Frankfurt a. M. 2001 (Neuausgabe der Edition von 1934), 235–253 – Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt a. M. 41987 [Originalausg.: Pagan Mysteries in the Renaissance, London 1958] – Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, hg. von J.M. Krois und R. Ohrt, Hamburg 2009 (Fundus-Bücher Bd. 174) – Kunst und Anarchie. Die Reith Lectures 1960. Durchgesehene Ausgabe mit den Zusätzen von 1968 und späteren Ergänzungen, Frankfurt a. M. 1994 [Originalausg.: Art and Anarchy, London 1963] – Offene Rechnungen. Aby Warburg und sein Werk, in: ders.: Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, hg. von J.M. Krois und R. Ohrt, Hamburg 2009 (Fundus-Bücher Bd. 174), 374–394 – Θεῖος Φόβος. Untersuchungen über die Platonische Kunstphilosophie, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 26 (1932), 349–373 – Theory of Art versus Aesthetics, in: The Philosophical Review 34 (1925), 350–359 – Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik, in: Vierter Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Hamburg, 7.–9. Oktober 1930. Bericht, hg. von H. Noack, Stuttgart 1931 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Beilageheft zu Bd. 25), 163–179 – Zur Systematik der künstlerischen Probleme, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 18 (1925), 438–486

»A suggestive indefiniteness of vague«. Peirce und die sinnliche Empfindung Lorenzo Vinciguerra

Ich male nicht die Dinge, sondern die Beziehungen zwischen den Dingen. Georges Braque

Die künstlerischen Avantgarden der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind – ebenso wie bestimmte große philosophische Strömungen, etwa die Phänomenologie Husserls – zumindest teilweise aus der Begegnung mit der zeitgenössischen Experimentalpsychologie hervorgegangen. Die Forschungen von Chevreul, Wundt oder Fechner boten für Probleme wie die der sinnlichen Empfindung und der Wahrnehmung des Raumes, der Farben und der Formen positive Erklärungen an.1 Diese Fragen fallen traditionellerweise in das Gebiet der Ästhetik. Tatsächlich sind sie aber älter. Sie entstammen der Wissenschaft von der menschlichen Seele, der ehemaligen Psychologie. Deren moderne philosophische Prämissen finden sich erst bei Descartes, bei dem der Dualismus und der Mechanizismus die Grundlagen der Wissenschaft lichkeit bilden. Diese Tradition wird dann durch den englischen Empirismus weiterentwickelt, um schließlich in der Kant’schen Transzendentalphilosophie eine neue Transformation zu erfahren. Charles Sanders Peirce teilt mit dieser Tradition den wissenschaft lichen Sinn für das Laborexperiment und die Überzeugung vom hypothetischen Charakter der Erkenntnis. Er gehörte zu den ersten in den USA, die sich, lange vor James, für die Forschungen von Wundt (dessen Arbeiten er übersetzen wollte) und Fechner (dessen Ergebnisse er in seinen 1878 publizierten Photometric Researches diskutiert) interessierten. Gegenstand der folgenden Überlegungen sind nicht die bekanntesten Theorien von Peirce (etwa das triadische Zeichenmodell seiner Semiotik), auf die sich die Vertreter einer Semiotik der Kunst meist beziehen. Vielmehr soll der Blick auf seine frühen Texte gerichtet werden, die der Kritik der Intuition gewidmet sind. Diese Kritik ist radikal, umfassend und bereitet die Entwicklung der späteren Semiotik von Peirce vor. Sie betrifft alle Bereiche, in denen man sich auf die Intuition beruft: die Theorie der Wahrnehmung, die Psychologie, die Ästhetik und die Metaphysik. Peirce stellt das allgemeine erkenntnistheoretische Modell in Frage, auf dem die von Descartes bis zu Kant reichende Tradition und alle an diese anknüpfenden Richtungen basieren. Dabei spielt eine bestimmte Deutung der sinnlichen Empfindung und der Abstraktion eine zentrale Rolle. Diese betrifft in verschiedener Hinsicht auch die Kunst und kann insofern möglicherweise dazu beitragen, die Arbeit der 1

Vgl. hierzu z. B.: G. Roque: Art et science de la couleur.

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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Künstler besser zu verstehen, die sich eben diesen die Wahrnehmung betreffenden Fragen gestellt haben. Im Jahr 1868 veröffentlicht Peirce zwei grundlegende Beiträge: »Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen, die man für den Menschen in Anspruch nimmt« (Questions Concerning Certains Faculties Claimed for Man) und »Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen« (Some Consequences of Four Incapacities). In diesen Texten trägt er radikale Argumente gegen das vor, was er als den »Geist des Cartesianismus« bezeichnet. Diese münden in vier Verneinungen: 1. Wir haben kein Vermögen der Introspektion, sondern alle Erkenntnis der inneren Welt ist durch hypothetisches Schlussfolgern aus unserer Erkenntnis äußerer Fakten abgeleitet. 2. Wir haben kein Vermögen der Intuition, sondern jede Erkenntnis wird von vorausgehenden Erkenntnissen logisch bestimmt. 3. Wir haben kein Vermögen, ohne Zeichen zu denken. 4. Wir haben keinen Begriff von einem absolut Unerkennbaren.2 Dabei soll im Folgenden insbesondere die zweite These, die von sehr großer Tragweite ist, in den Blick genommen werden. Was bedeutet hier ›intuitiv‹? Unter Bezugnahme auf Duns Scotus präzisiert Peirce, dass der Begriff ›intuitive Erkenntnis‹ im Mittelalter zwei Bedeutungen hatte: Als der abstraktiven Erkenntnis entgegengesetzt bezeichete er (so auch bereits bei Anselm) die Erkenntnis des Vorhandenen als vorhanden. Da aber eine intuitive Erkenntnis durch keine vorhergehende Erkenntnis bestimmt sein durfte, wurde sie als das Gegenteil zur diskursiven Erkenntnis gebraucht.3 In dieser Bedeutung verwendet sie Peirce, der demnach unter Intuition eine Erkenntnis versteht, die durch keine vorhergehende Erkenntnis bestimmt ist.4 Die Illusion, wir seien zu einfacher und unmittelbarer Erkenntnis fähig, wird folgendermaßen widerlegt: Nun ist es offenbar etwas Verschiedenes: eine Intuition zu haben oder intuitiv zu erkennen, daß es eine Intuition ist; und es ist die Frage, ob diese beiden Dinge, die im Denken unterscheidbar sind, in Wirklichkeit beständig miteinander verbunden sind, so daß wir jederzeit intuitiv zwischen einer Intuition und einer Erkenntnis, die durch eine andere Erkenntnis bestimmt ist, unterschieden können. Jede Erkenntnis ist als etwa Gegenwärtiges natürlich eine Intuition ihrer selbst. Aber die Bestimmung einer Erkenntnis durch eine andere Erkenntnis oder durch ein transzendentales Objekt ist, wie es zunächst wenigstens klar zu sein scheint, nicht ein Teil des unmittelbaren Inhalts dieser Erkenntnis […]. Es gibt keinen Beweis dafür, daß wir diese Fähigkeit haben, abgesehen davon, daß wir anscheinen fühlen, daß wir sie haben.5

Vgl. Ch.S. Peirce: Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen (1868), 186 (CP 5.265) [Originalausg.: ders.: Collected Papers, im Folg. zit. als CP mit Band- und Paragraphennummer)]. 3 Vgl. Duns Scotus: In sentent. lib. 2, dist. 3, qu. 9. Zit. bei:. Ch.S. Peirce: Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen (1868), 181 (CP 5.228). 4 Vgl. Ch.S. Peirce: Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen (1868), 157 (CP 5.213). 5 Ebd., 157 f. (CP 5.214) (Hervorhebung im Orig.). 2

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Gestützt auf seinen Beweis bringt Peirce mehrere Argumente vor, die aus der Erfahrung abgeleitet sind. Sie machen hinreichend deutlich, dass es nicht immer einfach ist, zwischen einer Prämisse und einem Schluss zu unterscheiden, und dass wir über kein unfehlbares Mittel verfügen, dies mit Sicherheit zu tun: Jeder Rechtsanwalt weiß, wie schwierig es für Zeugen ist, zwischen dem, was sie von einem Ereignis gesehen, und dem, was sie hieraus gefolgert oder hierzu interpretiert haben, zu unterscheiden. Ebenso unterscheidet sich ein Traum, was seinen Inhalt angeht, nicht wesentlich von einer realen Erfahrung;6 und dennoch glaubt jeder, dass die Träume durch ein vorhergehendes Wissen bestimmt sind. Wenn man also als Erklärung hierfür darauf verweist, dass die Fähigkeit, Intuitionen intuitiv zu erkennen, hier nur schläft, so ist dies eine bloße Vermutung, zumal wir, wenn wir aufwachen, nicht der Ansicht sind, dass der Traum sich von der Wirklichkeit unterschied, bis auf einige Merkmale – wie bereits Descartes bemerkte –, nämlich seine Dunkelheit und seine bruchstückhafte Beschaffenheit. Zugleich ist es aber keinesfalls selten, dass ein Traum so lebendig erscheint, dass die Erinnerung an ihn für die Erinnerung an ein wirkliches Vorkommnis gehalten wird.7 Wenn man ein Kind fragt, woher es weiß, was es weiß, wird es nicht selten antworten, dass es seine Muttersprache nie gelernt hat, dass es sie immer schon konnte, oder auch dass es sie beherrscht, seit es denken kann. 8 Auch muss der Umstand, dass wir in der Lage sind, unsere Freunde an gewissen äußeren Merkmalen wieder zu erkennen, obwohl wir möglicherweise nicht sagen können, was jene Merkmale sind, und wir keiner Schlussfolgerung aus ihnen bewusst sind, uns zu dem Schluss führen, dass je mehr die Schlussfolgerung uns einfach und natürlich erscheint, desto stärker ihre Prämissen, wie komplex sie auch sein mögen, in Vergessenheit geraten und dies in dem Maße, wie die auf ihnen basierende Deutung plausibel erscheint.9 Anders gesagt: Wir sind desto mehr davon überzeugt, eine Sache intuitiv zu erkennen, je stärker wir dazu tendieren, die Prämissen zu vergessen, auf denen diese Überzeugung in Wirklichkeit beruht. Ebenso verhält es sich mit den Begriffen des Raumes und der Zeit, die für Peirce weit davon entfernt sind, Intuitionen konstituieren zu können. Zwar kann das Vergehen der Zeit in der Tat nicht direkt und unmittelbar gespürt werden. Andernfalls müsste es in jedem Augenblick ein Gefühl der Zeit geben. Da aber ein Augenblick keine Dauer hat, gibt es hier auch kein unmittelbares Gefühl der Dauer. Anders 6 Ebenso wie Spinoza macht Peirce keinerlei Unterschied zwischen einer realen Erfahrung und einer Halluzination, jeweils für sich betrachtet. Vgl. Ch.S. Peirce: The Percipuum (CP 7.644). 7 Vgl. Ch.S. Peirce: Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen (1868), 160 (CP 5.217). – Spinoza hatte sich desselben Typus von Argumenten bedient, um jene zu widerlegen, die behaupten, dass wir im wachen Zustand die Freiheit entweder zu sprechen oder zu schweigen hätten, während wir diese im Schlaf nicht mehr hätten. Vgl. Spinoza: Ethica III, 2. Lehrsatz, Anmerkung. – Zu einer gewissen Nähe zwischen dem Anticartesianismus von Peirce und dem von Spinoza vgl. auch: L. Vinciguerra: Image et signe entre Spinoza et Peirce. 8 Vgl. Ch.S. Peirce: Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen (1868), 160 f. (CP 5.217 f.). 9 Ebd., 164 f. (CP 5.223).

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gesagt: Kein einzelnes dieser elementaren Gefühle ist ein unmittelbares Gefühl der Dauer, und also auch nicht deren Summe. Die gleiche Überlegung gilt auch für den Raum und seine drei bzw. zwei Dimensionen, die zwar unmittelbare Intuitionen zu sein scheinen, tatsächlich aber aus Schlussfolgerungen resultieren. In der Weiterführung eines bereits bei Berkeley angelegten Arguments notiert Peirce: Wenn aber eine ausgedehnte Fläche unmittelbar zu sehen wäre, müsste unsere Netzhaut sich über eine ausgedehnte Fläche ausbreiten. Stattdessen besteht die Netzhaut jedoch aus unzähligen nadelförmigen Gebilden, die dem Licht zugewandt sind und deren Abstand voneinander entschieden größer als das minimum visibile ist. Nehmen wir an, daß jeder dieser Nervenpunkte die Sinnesempfi ndung einer kleinen, farbigen Fläche vermittelt. Selbst dann müßte doch, was wir unmittelbar sehen, nicht eine kontinuierliche Fläche sein, sondern eine Menge von Flecken. Wer könnte das durch eine bloße Anschauung entdecken?10

Keine Reizung kann also eine so komplizierte Vorstellung wie die eines noch so kleinen Raumes hervorbringen. Und wenn die Reizung eines einzelnen Nervenpunktes nicht in der Lage ist, den unmittelbaren Eindruck von Raum hervorzubringen, so ist die Reizung aller Nervenpunkte dazu ebenso wenig in der Lage. Es ist also nicht denkbar, dass »die Reizung eines einzelnen dieser Nervenpunkte […] unmittelbar den Sinneseindruck von Raum vermitteln kann«.11 Die Wahrnehmungen von Raum und Zeit sind demnach eher Vorstellungen, die die Synthese von Eindrücken, so zahlreich und kurz sie auch sein mögen, bilden. Aber diese Eindrücke, die also die Rolle von vorausgehenden Erkenntnissen spielen, können nicht in einer klar bestimmbaren und isolierbaren Einheit erfasst werden. Die ersten Ergebnisse dieser Analysen münden in die Idee, dass keine Wahrnehmung eine Intuition sein kann. Anders gesagt: Vom logischen und nicht psychologischen Standpunkt aus betrachtet – denn wenn wir psychologisch argumentieren, haben wir eher den entgegengesetzten Eindruck – kann die Sinnesempfindung keine »Prämisse, die selbst keine Konklusion ist« (a premiss not itself a conclusion), sein.12 Die Arbeiten zum Sehen, die Peirce vor allem im Ausgang von der Experimentalpsychologie und seiner kritischen Lektüre des Versuchs über eine neue Theorie des Sehens von Berkeley entwickelt, führen ihn dazu auszuschließen, dass man bei der Erklärung des Sehens von einem im Auge gemalten Bild sprechen könne. Wenn man solche Termini benutzt, um das Problem des Sehens zu erfassen, dann ist man dazu verurteilt, im Gehirn andere Augen anzunehmen, die die Aufgabe übernehmen, dieses kleine, auf der Netzhaut eingedrückte Bild zu sehen. Descartes, der weit davon entfernt war, hier ein Problem zu erkennen, hat darin eher die Bestätigung seiner intuitionistischen Theorie erkannt: Es ist demnach nicht das Auge, sondern die Seele, die sieht. Ebenso beweist das Experimentieren mit dem Blinden Fleck auf der 10 11 12

Ebd., 162 f. (CP 5.223) (Hervorhebung im Orig.). Ebd., 163 (CP 5.223). Ebd., 157 (CP 5.213).

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Netzhaut für Peirce, dass das Sehfeld nicht als einheitlicher Raum aufgebaut ist, was bedeutet, dass unsere Raumwahrnehmung weder eine unmittelbare Intuition noch ein intuitives Apriori der Empfindung ist, wie dies nach Kant angenommen werden konnte.13 Wenn man diese Überlegungen weiter führt, wird man darauf aufmerksam, dass die Gesichtswahrnehmungen keine Bilder sein können, wenn man unter ›Bild‹ etwas versteht, das in jeder Hinsicht und im winzigsten Detail absolut bestimmt ist. Wenn dies der Fall wäre, müssten wir alle Details sehen, die ein Bild uns zeigt. Dies ist allerdings, wie Peirce anmerkt, niemals der Fall, ebenso wie niemand alle Details seines Weges zum Büro im Geist präsent hat. Das ist der Hintergrund der Kritik, die Peirce an den englischen Empiristen übt, die an die Existenz einer Sache als ›Bild in unserer Einbildungskraft‹ glaubten. Hume nahm beispielsweise an, dass es zwischen der Gesichtswahrnehmung eines roten Buches und der Erinnerung an dieses lediglich einen Unterschied hinsichtlich der Energie und der Lebhaft igkeit gebe. Wäre das der Fall, dann müssten wir uns an das Buch als etwas erinnern, das weniger rot ist als es beim ersten Sinneseindruck. Dagegen ist es so, dass wir uns an seine Farbe für einige Augenblicke mit sehr großer Genauigkeit erinnern.14 Peirce führt damit eine Kritik fort, die bereits zwei Jahrhunderte zuvor formuliert worden war: Schon Spinoza hatte bestritten, dass man eine Idee wie ein Bild an einer Wand auffassen kann. Peirce geht demgegenüber noch weiter, indem er bestreitet, dass wir überhaupt in unserem Gehirn so etwas wie Bilder haben. Er richtet so an der Stelle, wo man sich traditionellerweise auf eine psychologische und subjektive Analyse der Erfahrung gestützt hatte, einen semiotischen Blick auf das Problem der Wahrnehmung. Von diesem Blickwinkel aus gibt uns nichts die Gewissheit, dass man die Wahrnehmung, wie dies jeder intuitionistische Ansatz tut, auf ein Bild zurückführen kann, das ursprünglich in einzigartiger und vollkommener Weise bestimmt ist, das sozusagen eine perfekte Kopie dessen ist (des Objekts), wovon es das Bild sein soll. Viel später wird Merleau-Ponty, sicher ohne die Texte von Peirce zu kennen, sich dazu veranlasst sehen, im Ausgang von einer kritischen Lektüre der Gestaltpsychologie ähnliche Argumente zu entwickeln. So wird er zeigen, dass das Sehfeld nicht einem Bild angeglichen werden kann, und dass »[e]ine isolierte Wahrnehmungsgegebenheit […] sich beim Gedankenversuch, sie wahrzunehmen, als unmöglich« erweist.15 Ebd., 161 f. (CP 5.220). Vgl. Ch.S. Peirce: Die Grundlagen der Gültigkeit der Gesetze der Logik (1868), 213 (CP 5.300). 15 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, 22. »Was ist, sind nicht gleichgültige Gegebenheiten, die, weil faktische Kontiguitäten und Ähnlichkeiten sie so oder so assoziieren, sich zu Dingen zusammentun; im Gegenteil wird die analytische Feststellung von Ähnlichkeiten und Kontiguitäten in Wahrheit dadurch erst möglich, daß wir zuvor bereits ein Ganzes als Ding wahrgenommen haben.« (Ebd., 35.) Wir lassen hier die (allerdings wichtige) Frage außer Acht, ob Peirces Position nicht ihrerseits der Kritik, die Merleau-Ponty gegen den Intellektualismus vorträgt, unterzogen werden müsste. 13 14

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Peirce geht sogar so weit zu bezweifeln, dass Sehbilder hinsichtlich der Farbe festgelegt sind, d. h. dass wir so etwas wie ein Bild, das Gemälde einer Sache, im Kopf haben. Daraus folgt: Jede Sinnesempfindung ist an sich weder einfach, noch unmittelbar, noch bestimmt, sondern sie ist in unhintergehbarer Weise vermittelt, unvollständig und ungenau.16 Wenn einige versucht waren zu glauben, dass bestimmte Farben einfach sind und andere aus der Mischung einfacher Farben hervorgehen, so heißt dies in Wirklichkeit nichts anderes, als dass nur wir selbst es sind, die diesen eine größere Bedeutung beimessen oder sie eben als ›einfach‹ betrachten. Das Gefühl der Einfachheit, das beispielsweise aus der Wahrnehmung einer Farbe erwächst, ist also immer das Ergebnis einer Vermittlung, niemals eines unmittelbaren Gegebenseins, das demnach weitgehend mythische Züge trägt. Was gegeben ist, das gibt sich immer in der Vielfalt und der Komplexität. Woher kommt also das Gefühl der Unmittelbarkeit? Die Antwort, die Peirce auf diese Frage gibt, stützt sich auf eine quasi spinozistische Aussage: Unser Glaube an die Unmittelbarkeit rührt daher, dass wir uns zwar unserer Wahrnehmungen bewusst sind, dass wir aber die ihnen vorausgehenden und sie bestimmenden Prämissen verkennen.17 Jede Sinnesempfindung ist demnach für Peirce in Wirklichkeit eine Schlussfolgerung, d. h. sie folgt logisch aus einem Gedankengang, dessen Prämissen wir vergessen haben. Das bedeutet, dass es keinen anderen Beweis dafür gibt, dass wir eine Intuition haben, als die Tatsache, dass wir davon ein inneres Gefühl haben. Zu behaupten, dass die Sinnesempfindung auf eine Schlussfolgerung und nicht auf ein sozusagen erstes Bild zurückgeht, wirft allerdings ein Problem logischer Art auf: Normalerweise basiert eine Schlussfolgerung auf allgemeinen Begriffen. Dagegen ist ein Bild eine singuläre Vorstellung und kann also als solche nicht zum Gegenstand einer Schlussfolgerung werden. Erneut antwortet Peirce hierauf, indem er gegenüber dem nominalistischen Prinzip, das als wirklich nur einzelne Individuen anerkennt, eine realistische Position verteidigt. Das Problem dieses Prinzips besteht darin, dass ›Einzelnes‹ und ›Individuelles‹ selbst mehrdeutige Begriffe sind. ›Einzelnes‹ kann bezeichnen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt nur an einem Ort sein kann. Wenn man sagt, dass ein Bild etwas Einzelnes ist, will man damit sagen, dass es in allen Hinsichten vollkommen bestimmt ist. Das Bild eines Menschen muss das eines weißen oder schwarzen Menschen sein, eines gerade oder krumm gewachsenen, eines kleinen oder großen, mit geöffnetem oder geschlossenem Mund, mit einer bestimmten Haarfarbe, dessen Gestalt bestimmten Proportionen hat. Ebenso muss das Bild eines Dreiecks das eines Dreiecks sein, bei dem jeder Winkel eine bestimmte Größe von so und so viel Grad, Minuten und Sekunden hat.18 Der Mensch ist in diesem Sinne ein Einzelnes; aber in dieser Bedeutung bildet das Einzelne nicht den Gegensatz zum Allgemeinen, weil der Mensch ein allgemeiner Begriff ist. Vgl. Ch. Chauviré: Peirce et la signification. Vgl. Ch.S. Peirce: Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen, die man für den Menschen in Anspruch nimmt (1868), 164 f. (CP 5.223). 18 Vgl. Ch.S. Peirce: Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen (1868), 212 f. (CP 5.299). 16

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Wie ließe es sich schließlich sonst erklären, dass wir dazu neigen, schneller die Einzelheiten als die allgemeinen Verhältnisse zu vergessen? Wenn die allgemeinen Merkmale tatsächlich in den Einzelheiten lägen, aus denen, wie man annimmt, das Bild besteht, warum würde dann das, was im Bild nur in sekundärer Weise existiert, mehr Eindruck machen als das Bild selbst? Wenn wir ein Bild auf der Netzhaut hätten, müssten die allerkleinsten Details in gleichem, wenn nicht in noch höherem Maße präsent sein als das allgemeine Modell oder seine Bedeutung. Das, was tatsächlich gesehen werden müsste, sieht man also nicht, während das vom Gesehenen Abstrahierte völlig offensichtlich ist. Das Vergessen der für jede Wahrnehmung notwendigen Prämissen ist es, das den unabweisbaren Eindruck der Einfachheit und Unmittelbarkeit bedingt. Der Versuch, die Farben so zu sehen, als wenn sie niemals zuvor gesehen wurden, die Welt zu betrachten, als wenn dies zum ersten Mal geschähe, die Sprache zu hören, als wenn sie noch nie gehört worden wäre – all dies war zweifellos eine Hoffnung (und auch ein Mythos), die eine bestimmte Idee der Philosophie und der Ästhetik genährt hat. Das ›zu den Sachen selbst‹, das verheißene Land des Denkens, ist aber, als Quelle der Kunst betrachtet, nach wie vor eine Umsetzung von Prozessen und Methoden (Reduktion, Suspension, Einklammerung, Verfremdung, Dekontextualisierung), die eben Abstraktionsformen sind, und die man in bestimmten künstlerischen und philosophischen Praktiken gleichermaßen finden kann. Wenn man unter dem ›ersten Mal‹ das versteht, was ohne jede Prämisse geschieht und unabhängig von jeglicher vorausgegangenen Erfahrung ist, dann ist das erste Mal nie eine primäre Sinnesempfindung. Dies bedeutet, dass wir keinerlei Möglichkeit haben, in unserer Erfahrung so etwas wie primäre Sinnesempfindungen auszumachen. Die Erfahrung, die sich diese Fähigkeit, die letztlich nur der Reflex einer (empirischen oder transzendentalen) Illusion ist, zuschreibt, ist in Wirklichkeit immer das Ergebnis einer Schlussfolgerung, d. h. einer Konstruktion. In der unmittelbaren Intuition findet sich nach Peirce kein Gedanke, weil es dort weder ein Wissen von einer unmittelbaren Gegenwart noch von einem absolut Besonderen gibt. »Sollte man einwenden, daß die besondere Beschaffenheit von Rot durch keinerlei vorangegangene Erkenntnis bestimmt wird, so antworte ich, daß jene Beschaffenheit nicht eine Beschaffenheit von Rot als einer Erkenntnis ist.«19 Anders gesagt: Dieses Rot ist von der Bedeutung ›rot‹ gelöst, insofern dieses Wissen das gleiche für einen Menschen wäre, der als blau sieht, was ich als rot sehe, und umgekehrt. Man sieht also, inwiefern Peirces Kritik am Intuitionismus sich gegen die Hypothese eines Assoziationismus der Bilder richtet, die darin besteht, den Prozess der Bedeutungsverleihung auf isolierte elementare Einheiten, die intuitiv erfasst werden, zurückzuführen. […] [D]as, was unter dem Namen der Assoziation von Bildern läuft , [ist] in Wirklichkeit eine Assoziation von Urteilen. Die Assoziation von Ideen geht, wie man sagt, nach drei Prinzipien vor sich, dem der Ähnlichkeit, der Kontiguität und der KausaCh.S. Peirce: Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen (1868), 178 (CP 5.261) (Hervorhebung im Orig.). 19

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lität. Es würde aber gleichermaßen wahr sein zu sagen, daß Zeichen das was sie bezeichnen, aufgrund der drei Prinzipien der Ähnlichkeit, Kontiguität und Kausalität bezeichnen. Es steht außer Frage, daß alles ein Zeichen für all das ist, was auch immer mit ihm durch Ähnlichkeit, Kontiguität oder Kausalität assoziiert wird; noch kann es einen Zweifel darüber geben, daß jedes Zeichen einen bezeichneten Gegenstand ins Gedächtnis ruft. So besteht die Assoziation von Ideen also darin, daß ein Urteil ein anderes Urteil hervorruft , von dem es ein Zeichen ist. Nun ist das aber nichts anderes als Schlussfolgern.20

Was man, genau genommen, vom Rot weiß, sind seine Beziehungen zu den anderen Farben oder zu den Erfahrungsgegenständen, d. h. die Korrelationen, in die die abstrakt so genannte Unmittelbarkeit immer eingebunden ist. 21 Es gibt also immer ein ›schon da‹, ›schon gesehen‹, ›schon wahrgenommen‹, damit eine tatsächlich Sache da ist, gesehen und wahrgenommen wird. Anders gesagt: Das Primäre ist die Relation, nicht die Relata dieser Relation, die genau genommen das sind, was aus der Relation hervorgeht. Aus diesem Grund kann Peirce auch in einem an Spinoza erinnernden Sinne erklären, dass wir, »genau wie wir sagen, daß ein Körper in Bewegung ist und nicht, daß die Bewegung im Körper ist, sagen, daß wir im Denken sind und nicht, daß Gedanken in uns sind«.22 Die Auffassung ist hier also die, dass eine Idee oder eine Empfindung das Vielfältige auf eine einfachere Einheit wie die Empfindungen der Farben, Töne, taktilen Eigenschaften usw. zurückführt. Im Gegensatz dazu ist der gleichermaßen psychologische, epistemologische, ontologische oder gar ästhetische Status dieses ›Einfacheren‹ nicht der, etwas schlechthin Einfaches zu sein. Es scheint demnach, dass die Kunst viel dazu beigetragen hat, die Aufmerksamkeit auf die grundlegende Qualität dieser Relation zurückzulenken. Georges Braque hatte die Gewohnheit zu sagen, er male nicht die Dinge, sondern die Beziehungen zwischen den Dingen. Das Stillleben in der Malerei ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Wenn man an Chardin oder Cézanne denkt, zwischen denen Merleau-Ponty eine tiefe Verbundenheit erkannt hat, dann ist das Stillleben nie eine bloße Zusammenstellung von Gegenständen. Es besteht nicht aus Obstschalen, Gläsern oder Früchten, sondern vielmehr aus den Beziehungen, die diese miteinander verweben, und bedingen, dass jeder Gegenstand nur in Relationen zu den anderen Gegenständen existiert, indem alle aus ihrer Komposition hervorgehen. Da also die Relation und nicht die Relata das Primäre ist, geht die Komposition ihren Elementen voraus. John Dewey zitiert Schiller, wenn er sagt, dass die Wahrnehmung zunächst keinen klar bestimmten Gegenstand hat.23 Erst danach kristallisiert sich der Gegenstand heraus und gewinnt Form. Und erst anschließend, nachdem die Dinge ihrem Grund Ch.S. Peirce: Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen (1868), 217 f. (CP 5.307) (Hervorhebung im Orig.). 21 Vgl. C. Tiercelin-Engel: Que signifie: voir rouge? 22 Ch.S. Peirce: Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen (1868), 228 (CP 5.289). 23 »Bei mir ist die Empfi ndung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand« (Friedrich Schiller [Brief an Goethe vom 18. März 1796], zit. in: J. Dewey: Kunst als Erfahrung, 222). 20

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entsprungen und nachdem die Namen und Formen unterschieden worden sind, kann sich die Frage nach der Sprache stellen. Was vorausgeht, ist eine »gewisse musikalische Gemütsstimmung«24 , eine gewisse (beispielsweise für die Symbolisten essentielle) Atmosphäre, oder auch, mit Edgar Allan Poe gesprochen, »eine suggestive Unbestimmtheit des Vagen« (a suggestive indefiniteness of vague)25, die Coleridge zu der Behauptung veranlasste, jedes Kunstwerk müsse etwas Unverständliches (something not understood) an sich haben, damit es seine vollkommene Wirkung erzielen kann.26 Dieser Charakter des Vagen, Unbestimmten, wesentlich Unvollendeten, den Peirce in seiner Analyse der sinnlichen Empfindung aufgezeigt hat und den man in seiner Phaneroskopie ebenso wiederfindet wie in seiner triadischen Zeichentheorie, ist in dem Endprodukt jeder Erkenntnis und zweifellos ebenfalls in jedem Kunstwerk enthalten. Daher kann man sagen, dass so wie jedes Zeichen auf ein anderes Zeichen verweist, jedes Kunstwerk, wie Baudelaire meinte, auf ein anderes Kunstwerk verweist. Was ist nach Peirce also unter Abstraktion zu verstehen? Die Abstraktion ist nichts anderes als die Aufmerksamkeit selbst. Die Aufmerksamkeit wird angezogen, wenn ein und dasselbe Phänomen sich wiederholt bei verschiedenen Anlässen zeigt, wenn dasselbe Prädikat in verschiedenen Subjekten begegnet. Wir erkennen, dass A eine bestimmte Beschaffenheit hat, dass B die gleiche hat, dass C die gleiche hat. Dies erregt unsere Aufmerksamkeit und wir sagen: »Diese Dinge haben diese Beschaffenheit.« Anders gesagt: Die Abstraktion ist als Aufmerksamkeit nichts anderes als der Akt des Induzierens selbst. Abstraktion und Induktion sind ein und dasselbe. Insofern hat die Abstraktion Auswirkungen auf das Nervensystem. Diese Auswirkungen sind nichts anderes als Gewohnheiten. Man erkennt hier Peirces Pragmatismus. Auch fällt die Abstraktion letztlich mit der Willenskraft zusammen, die nichts anderes ist als die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu konzentrieren, kurz gesagt: zu induzieren, vorläufige Schlüsse zu ziehen.27 Die Aufmerksamkeit ist als Abstraktion eine Induktion, sie selbst bringt Gewohnheiten hervor. Die Abstraktionsleistung besteht also darin, den Akzent auf eines der objektiven Elemente des Bewusstseins zu legen, das jedoch nicht selbst unmittelbarer Gegenstand des Bewusstseins ist. Aus diesem Blickwinkel ist jeder Sinn in Wirklichkeit ein Abstraktionsmechanismus, Ebd. E.A. Poe: Maginalia, Dezember 1844, zit. in: J. Dewey: Kunst als Erfahrung, 225. 26 Vgl. J. Dewey: Kunst als Erfahrung, 225. – Die Ästhetik des ›je ne sais quoi‹ als einer Idee, die klar und unklar zugleich ist, hat eine ihrer klassischen Quellen genau in dem Raum, den die Cartesianische Doktrin der klaren und distinkten Ideen offen lässt. Leibniz beispielsweise spricht davon unter Bezug auf die Kunst des Malers. Vgl. P.-H. Simon: Le »je ne sais quoi« devant la raison classique. – Diese Frage fi ndet sich auch, in verschiedenen Formen durchdekliniert, in den Schriften von Künstlern um die Jahrhundertwende, z. B. im Tagebuch von Delacroix und den Schriften von Kandinsky. Allerdings ist diese Problematik älter und hat ihre Wurzeln im ästhetischen Diskurs des 17. und 18. Jahrhunderts. 27 »Die Sinnesempfi ndung und das Abstraktionsvermögen oder die Aufmerksamkeit können in einem Sinne als die einzigen Konstituenten allen Denkens verstanden werden.« (Ch.S. Peirce: Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen [1868], 210 [CP 5.295].) 24 25

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insofern beispielsweise die Sehbilder hinsichtlich des Geschmacks unbestimmt sind.28 Sinnliche Empfindung und Abstraktion teilen demnach die Eigenschaft, Folgerungen zu sein, die scheinbare Einfachheit der Wahrnehmungen beruht dabei darauf, dass jeweils ein einfaches Prädikat ein komplexes ersetzt.29 Dies ist auch der wesentliche Grund dafür, dass für Peirce die sinnliche Empfindung immer hypothetischer Art ist und ihr Sinn ›offen‹, d. h. niemals ganz gegenwärtig, niemals ganz vollendet, bleibt (Peirce wird sogar sagen, dass der Sinn eines Gedankens ein rein virtueller ist), er aber immer in der Beziehung liegt, die diese sinnliche Empfindung mit den sich an diese knüpfenden Gedanken unterhalten kann. Diese Kritik der Illusion absoluter Ursprünge und Anfänge der sinnlichen Erfahrung musste Peirce unausweichlich zur Vertiefung einer Philosophie des Zeichens führen, die mit Sicherheit die Macht der früheren Metaphysik hat, wenngleich sie nicht mehr deren Prinzipien teilt, die sich seiner Auffassung nach im Nebulösen verlieren. Was die Bestimmung des Status der sinnlichen Empfindung angeht, die, wie oben gezeigt, nie in dem Maß bestimmt ist, wie man dies meint, so ist es ein Erbe der Semiotik von Peirce, dass diese etwas unhintergehbar Vages enthalten muss: Jede sinnliche Empfindung hat etwas Unbestimmtes in sich, was zugleich bedeutet, dass das Bestimmte nicht notwendigerweise zugleich das Realste ist. Peirces Beobachtungen zur Erfahrung der Wahrnehmung können dazu beitragen, bestimmte künstlerische Bedenken auszuräumen, etwa jener, die das konventionelle assoziative Band zwischen dem semantischen Aspekt der Zeichen und ihrer Materialität zerschneiden wollten, um so nicht nur das Spiel der Differenzen freizusetzen, sondern ebenfalls das unbestimmte Substrat, auf dem diese Differenzen letztlich beruhen. Sie können ebenfalls der ästhetischen Reflexion helfen, die Wahrnehmung als eine semiotische Erfahrung zu verstehen, deren Konturen nie vollständig gegeben, sondern die fortwährend auszubauen sind. Aus dem Französischen übersetzt von Bernadette Collenberg-Plotnikov

Peirce bezieht sich auch auf die Idee der Präzision (precision), die er von Duns Scotus (praecisio) entlehnt. Die Präzision ist eine besondere Form der Abstraktion, der geistigen Sonderung (dissociation), die nicht mit dem Unterscheidungsvermögen (discrimination) zu verwechseln ist. Vermittels des Unterscheidungsvermögens kann ich Blau und Rot, den Raum von der Farbe oder die Farbe vom Raum differenzieren. Aber vermittels der Präzision kann ich Ausdehnung ohne Farbe denken, weil ich mir zwar einen farblosen Raum, aber keine Farbe ohne Ausdehnung vorstellen kann. (Vgl. Ch.S. Peirce: Original Statement [CP 1.549]; vgl. hierzu dort auch das folgende Kapitel.) 29 Vgl. Ch.S. Peirce: Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen (1868), 211 f. (CP 5.297). 28

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Literatur Chauviré, Christiane: Peirce et la signification. Introduction à la logique du vague, Paris 1995 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M. 1980 [Originalausg.: Art as Experience, New York 1958 (Copyright 1934)] Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 62008 [Originalausg.: Phénomenologie de la perception, Paris 1945] Peirce, Charles S.: The Percipuum, in: CP 7.644 – Die Grundlagen der Gültigkeit der Gesetze der Logik: weitere Konsequenzen aus vier Unvermögen (1868), in: ders.: Schriften I: Zur Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1967, 232–249 (Originalausg.: CP 5.300) – Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen, die man für den Menschen in Anspruch nimmt (1868), in: ders.: Schriften I: Zur Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1967, 157–183 (Originalausg.: CP 5.213) – Collected Papers, 8 Bde., Bd. I-VI hg. von Ch. Hartshorne und Paul Weiss, Bd. VII-VIII hg. von A.W. Burks, Cambridge, Mass. 1931–58 [zit. als CP mit Band- und Paragraphennummer] – Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen (1868), in: ders.: Schriften I: Zur Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1967, 184–231 (Originalausg.: CP 5.265) – Original Statement, in: CP 1.549 Roque, Georges: Art et science de la couleur. Chevreul et les peintres, de Delacroix à l’abstraction, Nimes 1997 Simon, Pierre-Henri: Le ›je ne sais quoi‹ devant la raison classique, in: Cahiers de l’Association internationale des études françaises 11 (1959), 104–117 Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, hg. von W. Bartuschat, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. II, Hamburg 2010 Tiercelin-Engel, Claudine: Que signifie: voir rouge? La sensation de la couleur selon Peirce, in: Archives de Philosophie 47 (1984), 409–429 Vinciguerra, Lorenzo: Image et signe entre Spinoza et Peirce. Éléments pour une lecture pragmatiste du spinozisme, in: ders. (Hg.): Quel avenir pour Spinoza? Enquête sur les spinozismes à venir, Paris 2001, 249–272

Die Sprachlichkeit der Kunst als Thema der Ästhetik in Russland und Osteuropa

Kunst der Sprache, Kunst als Sprache, Sprache(n) der Kunst. Überlegungen im Ausgang von Diskussionen über das Verhältnis von Sprache und Kunst in den 1920er Jahren bei Gustav Špet und an der GAChN Rainer Grübel

язык и речь употребляю promiscue, хотя признаю существенное различие терминов, но для последующую оно иррелевантно, так как ›язык‹ мне нужен всегда в форме его речевого воплощения, а ›речь‹ понимаю как эмпирическую абстракцию […].1 [›]Sprache[‹] und [›]Rede[‹] gebrauche ich promiscue, obgleich ich den wesentlichen Unterschied der Termini einräume, doch für das Folgende ist er irrelevant, weil ›Sprache‹ mir immer in der Form ihrer Verkörperung in Rede notwendig ist und ich ›Rede‹ als empirische Abstraktion verstehe […].

1. Vorüberlegungen zum Ausdruck ›Sprache‹ und seiner Anwendung auf die ›Kunst‹ Jede Rede über Sprache ist ein zweischneidiges Schwert. Sie trifft nicht nur ihren Gegenstand, sondern auch ihr Ausdrucksmittel, ihr Medium. Es ist, um einen Vergleich aus einem anderen Wirklichkeitsbereich zu bemühen, als wäre der Diskurs übers Steinigen nur durch Steinigen zu vollziehen. Nun sprechen wir über Sprache nicht, indem wir Steine werfen, sondern indem wir reden, und wir verständigen uns sogar übers Steinigen in der Regel nicht durch Steinwurf, sondern indem wir vom Steinigen sprechen. Der Ausdruck ›Metasprache‹, der eigens eingeführt wurde, um dieses reflexive Verhältnis der Sprechakte zu bändigen und den Eindruck vermittelt, es bestehe eine scharfe Grenze zwischen dem ›Über‹ des Mediums, in dem die Rede von Sprache redet und dem ›Unter‹ des Gegenstandes, von dem in ihr und mehr noch durch sie die Rede geht, ist indes trügerisch: Jede Aussage über Sprache ist zugleich eine Proposition über das Instrument, in dem diese Aussage geschieht.2 Der Satz ›Am Anfang G.G. Špet: Zametki k stat’e ›Roman‹, 54. Vgl. auch Michail Bachtins Terminus ›Metalinguistik‹. Er bezeichnet die dialogischen Beziehungen zwischen verbalen Äußerungen. In die von der Metalinguistik untersuchten sprachlichen 1 2

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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war das Wort‹ suggeriert für jeden Text, in dem er unwidersprochen steht und somit gilt, die Wirkung einer Initialzündung. Wer sich entscheidet, Sprache als kataphatische Erscheinung zu entwerfen, setzt zugleich voraus, sein Medium sei im Grunde imstande, alle lingualen Phänomene adäquat zu benennen. Betrachtet er Sprache dagegen im Horizont der Apophatik, hat er die eingeschränkte Gültigkeit seiner möglichen Aussagen über den Gegenstand Sprache bereits festgelegt und den Ast, auf dem er sitzt, angesägt. Wer das Wort, wie Ferdinand de Saussure, als arbiträre Größe fasst, beansprucht für die sprachliche Realisierung seiner Rede folgerichtig Freiheit des Ausdrucks: Mit welchen Wörtern er die Elemente der Sprache und auch sie selbst belegt, ist dann für deren Bedeutung und Sinn irrelevant. Entwirft er das Wort dagegen, wie der russische Futurist Velimir Chlebnikov und die Vertreter der russischen Imjaslavie-Bewegung, als strikten Eigennamen, 3 ist nur jeweils ein einziger, ein ganz bestimmter Ausdruck geeignet, eine bestimmte Erscheinung der Sprachwirklichkeit und natürlich auch die Sprache selbst treffend zu benennen. Das Namen-Konzept von der Sprache steht der Auffassung der russischen Formalisten von der poetischen Sprache nahe. Sie macht, so die frühe sensualistischpsychologische Formulierung Viktor Šklovskijs, das Steinerne am Stein spürbar. Dies findet auch in der exemplarischen Funktion von Lyrik und Versepik Chlebnikovs für die Untersuchungen der poetischen Rede bei Roman Jakobson seinen Niederschlag4 . Er hat nicht zufällig selbst Lyrik geschrieben. Diesem Modell entspricht im Grunde auch das Sprachkonzept Gustav Špets, der in den frühen 1920er Jahren die poetische Funktion der Sprache in den Ästhetischen Fragmenten meisterlich genutzt hat, um von ästhetischen Gegenständen zu handeln. Die alternative Konzeption von der Prosa als Grundmodell sprachlicher Artikulation über die Wirklichkeit hat neben anderen Michail Bachtin entwickelt, dessen Texte, indem sie stets unterschiedliche Standpunkte gegeneinander setzen, selbst aufs Klarste dieses Modell realisieren; Gedichte aus seiner Feder sind nicht zufällig unbekannt.5 In seinem Fall sind die Positionen von Sprecher, Angesprochenem und Besprochenem konstitutiv für den Redeakt6 , da Sprechen hier grundsätzlich eine perspektivische, in aller Regel multiperspektivische Erscheinung ist. Sprache im engeren Sinne ist das privilegierte Verständigungsmittel, das Wörter als seine Primär-Elemente zu Sätzen und Sätze zu Texten fügt. Dabei ist der Ruf ›Feuer!‹ nicht nur ein Wort, sondern auch ein Satz, und nicht nur ein Satz, sondern Erscheinungen gehen die Standpunkte der Sprechenden und Hörenden, ihre Kontexte und ihre Horizonte mit ein. M.M. Bachtin: Problema teksta v lingvistike, fi lologii i drugich gumanitarnych naukach, 309–310. 3 H. Kuße (Hg.): Name und Person; ders.: Semiotičeskie koncepcii imjaslavija i fi losofii imeni. 4 R. Jakobson: Novejšaja russkaja poėzija. 5 Vgl. zum Unterschied der Sprachentwürfe Špets und Bachtins R. Grübel: Esthétique de la poésie et esthétique de la prose dans les œuvres de Gustave Chpet et de Mikhail Bakhtine sowie L.A. Gogotišvili: Špet i Bachtin. 6 Vgl. M.M. Bachtin: Avtor i geroj v ėstetičeskoj dejatel’nosti. Vgl. auch ders.: Jazyk i reč’.

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auch ein Text und nicht nur ein Text, sondern auch ein Kommunikationsakt. Solche Texte gehören Gattungen der Rede an, die uns befähigen, den Sinn oder Unsinn dieser Kommunikationsakte, Texte, Sätze und Wörter zu entschlüsseln oder aber ihre Unverständlichkeit zu konstatieren. Die Aussage ›Feuer!‹ hat als Hilferuf einen ganz anderen Sinn als die Bitte des Rauchers, dem Streichhölzer fehlen, oder das Schieß-Kommando eines Vorgesetzten. Gattungen wie der Hilferuf wiederum gehen ein in Diskurse, welche die Praktiken der Gattungsverwendung regeln. So muss der Polizist, dem am 1. April von der Notrufsäule der Ruf ›Feuer!‹ übermittelt wird, entscheiden, ob es sich um einen Aprilscherz handelt oder einen tatsächlichen Notruf. Diskurse steuern Funktion und Wert von Gattungen in Kulturen. Ihnen eignet auch eine Geschichte. So haben sich die Diskurse verbaler Notrufe und Schießbefehle im letzten Jahrhundert kaum geändert, während Diskurspraktiken der BittEtikette aufgrund sozialer Veränderungen eingreifendem Wandel unterlegen waren. Ein Soldat der Bundeswehr wird es sich anders als der Soldat der kaiserlichen Armee aufgrund der Diskurse über den Staatsbürger in Uniform und die Pflichten des Soldaten dreimal überlegen, ob er dem Befehl ›Feuer!‹ seines Vorgesetzten Folge leistet, wenn der seine Zigarette anzünden lassen will. Der Terminus ›Sprache‹ bettet aus Sicht der mit ihm befassten Sprachwissenschaft Erscheinungen des Wortes in komplexe, einander implizierende Kontexte ein, zu denen unterhalb der Ebene des Wortes noch die elementaren Momente des Morphems und Phonems respektive Graphems als das Wort bildende Konstituenten gehören. Ob für die Künste, insbesondere das Ballett oder die Musik eine analog umfassende Systematik dieser einander einschließenden Ebenen vorausgesetzt werden kann, ist sehr die Frage. Nicht weniger fragwürdig bleibt vor allem der implizite Gebrauch der Ausdrücke ›Wort‹ und ›Sprache‹ als Begriffswörter, welche die nichtsprachlichen Künste erschließen sollen, da diese Termini die Komponenten Semantik und Sinngebung notwendig implizieren. Wortkunst, Belletristik und Dramenkunst oder Lyrik, Prosa und Drama, mit einem Wort: Literatur als sprachliches Phänomen zu bezeichnen, versteht sich (gleichsam) von selbst, da dieser Kunstbereich mit dem Medium Sprache arbeitet. Es zeigt sich indes, dass die jeweilige Arbeitsweise des Mediums unterschiedlich ist, dass sich eine poetische von einer prosaischen sowie dramatischen Sprachverwendung unterscheiden lässt, weshalb auch von den drei Medien der Literatur gesprochen wird.7 Gleichwohl ist ihnen gemeinsam, dass die Sprache ihr wohl nicht vernünftig zu bestreitendes Gestaltungsmittel ist. Wer dagegen Kunst allgemein als Sprache bezeichnet, nutzt den Ausdruck ›Sprache‹ unvermeidlich in einem weiteren Sinne. Die mit dem Wort ›Kunst‹ bezeichneten Phänomene gebrauchen (von der Literatur, der Vokalmusik, der Kunst des Theaters sowie dem Tonfi lm abgesehen) ja keine sprachlichen Mittel im zuvor ausgeführten engeren Sinne. Über Musik ganz allgemein, über Ballett, Plastik und Malerei als 7

Vgl. R. Grübel: Performanzkunst, Erzählkunst und Wortkunst.

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Sprache zu reden, ist (wiederum eine enge Grenzziehung der Reichweite des Ausdrucks Sprache vorausgesetzt) im Grunde nur in übertragener Rede möglich. Daher betrachten die Sprachwissenschaft ler diese Regionen ja auch nicht als ihre Domäne und beschreiben in der Grammatik nicht die Komposition des Sonatensatzes. Wird hingegen eine solche Erweiterung der Referenzgrenzen des Begriffs Sprache vorgenommen, ist es von Belang, Voraussetzungen und Implikationen dieser Referenzerweiterung herauszufi nden. Ist der Ausdruck ›Sprache‹ gar Element übertragener Rede, gilt es zu klären, ob es sich dabei um eine metaphorische oder metonymische Verwendung dieses Ausdrucks handelt. Ein analoger Fall läge vor, wenn wir in der Wissenschaft das Wort ›Leben‹ einmal in dem Sinn verwendeten, wie es von der Biologie erforscht wird, ein andermal in übertragenem Sinne. Dies geschähe etwa, wenn wir die Redensart vom ›Leben des Artefakts‹ als terminus technicus der Kunst- und Literaturwissenschaft gebrauchten, im selben Zusammenhang aber auch zum Begriff ›Leben‹ griffen, wie ihn die Biologie definiert. Die Rede ginge dann ausdrücklich oder unausdrücklich von der Photosynthese und / oder vom Stoff wechsel des Artefakts. Solche gleichzeitige Verwendung des Ausdrucks ›Sprache‹ im engen und weiten Sinne erzeugt die Gefahr der quaternio terminorum. Sie springt ins Auge, wenn wir im Ausdruck ›Zeichensprache‹ die Komponente ›Zeichen‹ durch ›Sprache‹ ersetzen, wie es der weitere Begriff der Sprache ja durchaus nahelegt, und so das Kompositum ›Sprachensprache‹ erzeugen. Wie es Diskurse über Notrufe und Etikette gibt, die den Umgang mit sprachlichen Gattungen begleiten und prägen, gab es im zwanzigsten Jahrhundert auch einen Diskurs über die Sprache(n) als Kunst. Dieser Diskurs ist lehrreich, weil er das damalige Denken über das Verhältnis von Kunst und Sprache, von Wort- und Bildkunst offen legt oder wenigstens erschließen lässt. In den 1920er Jahren war der Disput in Russland über die Methoden zur Untersuchung der Künste besonders lebhaft. Sehr streitbar ausgetragen, war er seinerseits Ausdruck der Ungewissheit, was die Kunst und was das einzelne Kunstwerk überhaupt sei. Bildete das Artefakt ein ästhetisches Phänomen, das sich durch Erhebung seiner ästhetischen Qualitäten erfassen ließ (der Standpunkt Bachtins), war es eine gesellschaft liche Erscheinung, die es soziologisch zu erkunden galt (der Standpunkt Plechanovs und Pereverzevs) oder war es gar eine Erscheinung sui generis, die eine ganz eigene Methode der Erforschung erforderte (Standpunkt der russischen Formalisten)? Und bildete die Sprachlichkeit der Künste möglicherweise den Schlüssel, mit dem diese Spezifi k zu fassen war? In welchem Sinne waren dann die Künste, vor allem auch die nichtsprachlichen Künste ›sprachlich‹? Nicht wenige erfuhren diese Ungewissheiten damals sogar als Kulturkrise, aus der ein neuer Konsens über den Charakter der Artefakte herausführen sollte. Hervorhebung verdient zudem der Umstand, dass erst die Erklärung aller Künste zu sprachlichen Erscheinungen sie auch zu Gegenständen sprachphilosophischer Untersuchung machten. Damit geht es letztlich auch um einen Streit der Disziplinen, die sich Gegenstände aneignen und/ oder sie anderen entziehen.

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2. Die Verwendung des Ausdrucks ›Sprache‹ für Sprachkunst und Kunst allgemein in den 1920er Jahren bei Gustav Špet und in der GAChN Язык — не просто пример или иллюстрация, а методический образец.8 Die Sprache ist nicht nur Beispiel oder Illustration, sondern methodisches Modell.

2.1 Der Gebrauch des Ausdrucks ›Sprache‹ (jazyk) mit Blick auf die Kunst in den Schriften Gustav Špets und anderer Vertreter von GAChN философское изучение ›языка‹ есть основа изучения всех выражений со значениями. Но рядом с этим ›язык‹ как продукт культуры, как сама культура, как одна из форм социального взаимодействия есть проблема эмпирических наук, в том числе и этнологии, в том числе и этнической психологии.9 […] die philosophische Erforschung der ›Sprache‹ bildet die Grundlage der Erforschung aller Ausdrücke mit Bedeutung. Doch daneben ist die ›Sprache‹ als Produkt der Kultur, als eine der Formen sozialer Interaktion ein Problem empirischer Wissenschaft, darunter auch der Ethnologie und der ethnischen Psychologie.

Der Diskurs über die Kunsttheorie, der in den 1920er Jahren in den ihr gewidmeten Arbeiten der Mitarbeiter der GAChN geführt wurde, war weitgehend bestimmt von der Phänomenologie Gustav Špets. Hierfür waren vor allem vier einschlägige Arbeiten Špets maßgeblich, seine Ästhetischen Fragmente sowie die Studien »Probleme der gegenwärtigen Ästhetik« (1922/2510), die Abhandlung »Zur Frage nach der Organisation der wissenschaft lichen Arbeit auf dem Gebiet der Kunstwissenschaft« (192611) sowie die Studie »Die Kunst als Wissensart«12 . Für die Erschließung dieser Arbeiten, die Rekonstruktion ihres Verhältnisses zu Husserls Phänomenologie G.G. Špet: Vvedenie v ėtničeskuju psichologiju, 423 (Hervorhebung im Orig.). Ebd., 469. 10 Ders.: Problemy sovremennoj ėstetiki (1922/1925) (dt. Übersetzung in diesem Band). 11 Ders.: K voprosu o postanovke naučnoj raboty v oblasti iskusstvovedenija (1926) (dt. Übersetzung in diesem Band). 12 Ders.: Iskusstvo kak vid znanija, 101–150. Hier ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der Text dieser Studie von der Herausgeberin aus zwei Einzeltexten Špets kompiliert worden ist. Vgl. ebd., 563. 8 9

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sowie die Vermittlung ihres Gehalts nach Deutschland war Alexander Haardts Studie Husserl in Rußland bahnbrechend.13 Aus heutiger Sicht stehen auch Špets Arbeiten zur Sprache – sei es der Sprachphilosophie, sei es der Sprache der Kunst oder der Wortkunst – unter den Auspizien des linguistic turn. Ganz abgesehen von der Dominanz der Bildkunst in der russischen Avantgarde (oder Hochmoderne), die Roman Jakobson zufolge die Vorherrschaft der Musik im Symbolismus abgelöst hatte, beobachten wir in der Kultur von der Moderne bis zur Postmoderne eine alles überwölbende Einstellung auf den sprachlichen Charakter kultureller Phänomene, der auch den hier in Rede stehenden Gegenstand geprägt hat. Philosophie war von Wittgenstein und Bachtin bis Habermas und Apel vordringlich Philosophie der (sprachlichen) Kommunikation. Für Špet ist die Kunst (nicht anders als der Mythos und das Alltagshandeln) schon deshalb sprachlich, weil sie (wie alles Verstehbare, sogar Irrsinniges) auf der wechselseitigen Zuordnung von Bedeutungsträgern und Bedeutung aufruht. Diese entwarf Špet anders als Peirce nicht im Rahmen einer allgemeinen Zeichentheorie, sondern aufgrund einer Verallgemeinerung des Modells der Sprache, zumal ihrer Bedeutungs- und Sinnbildungsleistung. Als Philosoph der phänomenologischen Tradition Husserls sieht Špet die Erschließung dieser Sinn- und Bedeutungsbildungsprozesse als genuin philosophische Aufgaben an. Dabei setzt er anders als Husserl eine folgenreiche komplementäre Analogie voraus zwischen philosophischer und künstlerischer Sprache. Schon in den Ästhetischen Fragmenten (sie entstanden in den späten 10er und frühen 20er Jahren) entwirft er das Wort der philosophischen Sprache als eine Erscheinung, der Plastizität, Musikalität und malerischer Charakter eignen. Diese These artikuliert Špet in einer Sprachform, die durch ihre äußere Gestalt das Behauptete selbst vorführt. Es ist, als wolle der Phänomenologe unsere Eingangsthese, ohne sie in philosophischer Rede auszuformulieren, gerade durch die Sprachform selbst beweisen. Im folgenden Absatz dieses Essays verleihen die sieben eine Sprechpause bezeichnenden Bindestrich-Satzzeichen, tiré (–) also, den Prosasätzen einen eigenwilligen Rhythmus, der an die rhythmisierte Prosa in Andrej Belyjs Symphonien anschließt. Bezeichnend für den poetischen Charakter dieser Perioden ist, dass im ersten Satz die im philosophischen Kontext eher zu erwartende logisch konditionierende Konjunktion ›esli‹ durch zeitlich koordinierendes ›kogda‹ ersetzt ist. Die Konstruktion erzeugt vermittels der beiden deiktischen Das-Ist-Sätze (›Это –‹) durch die Spannung erzeugende Pause eine äquivalente Abfolge von zwei Segmenten, die gleichsam auf ›jazyk‹ reimen, eben auf jene Sprache, die – wie die poetische Reimfigur – zugleich Gleichartiges und ganz Verschiedenes aneinander bindet: Слово – пластично, музыкально, живописно, – это имеет смысл, когда все эти предикаты – к субъекту действительности. Это – философский язык. Пластика, Alexander Haardt: Husserl in Rußland. Kunst- und Sprachphänomenologie bei Gustav Špet und Aleksej Losev, München 1993; vgl. auch: G.G. Špet: Die Hermeneutik und ihre Probleme. 13

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музыка, живопись – словесны. Такова – внешность их; через словесность, присущую им, они действительны. Это – реально-художественный язык.14 Das Wort ist plastisch, musikalisch, malerisch, – es hat Sinn, wenn sie alle Prädikate sind – zum Subjekt der Wirklichkeit. Dies ist die philosophische Sprache. Die Plastik, die Musik, die Malerei sind verbal. So ist ihr Äußeres beschaffen; durch die Verbalität, die ihnen eignet, sind sie wirklich. Das ist die real-künstlerische Sprache.

Wie die Ästhetischen Fragmente im Nachklang zu Friedrich Schlegels »AthenäumsFragmenten«15 ästhetische Miniaturen und Fragmente einer Ästhetik in einem sind, so verbindet bei Špet jenes Sprachmedium die Philosophie und die Künste, das (der deutsche Ausdruck ›Verbalität‹ für das Wort ›slovesnost’‹, das ja auch ›Wortkunst‹ bedeutet, kann dies nur bedingt wiedergeben) zugleich auf Wortkunst eingestellt ist. Die hier konstatierte Sprachlichkeit von Bildhauerei, Musik und Malerei gründet in Špets spezifischer Auffassung vom Verhältnis der äußeren zu den inneren Formen. Da es wiederholt dargestellt wurde, erinnern wir nur daran, dass in seiner Terminologie »innere Form« die Beziehung zwischen Bewusstsein (noesis) und Gegenstand (noema) heißt.16 Špets Ausdruck »real-künstlerische Sprache« (real’no-chudožestvennyj jazyk17) designiert eine besondere Kunstepoche. Diese definiert er durch ein Wortspiel im Satz »Der neue Realismus ist ein Realismus der Völker, Sprachen, er ist heidnisch« (»Новый реализм – реализм народов, языков – языческий«18). Er verwirft damit das Christentum als Deutungsfolie der Ethnien und Sprachen. Zwar stellt er in diesem Zusammenhang die christliche Glaubenslehre als ›Romantik‹ ins Abseits, doch folgt er dabei selbst dem romantischen Innovationsmuster der Aufwertung des vorchristlichen Heidentums. Das Pagane dieses neuen Realismus bildet eine Analogie zum an Afrika orientierten Primitivismus im Sinne der (vermeintlichen) Wiederherstellung des Ursprünglichen in der Bildenden Kunst seiner Zeit.19 Das Heidnisch-Genuine verleiht dabei dem Sprachmodell der Kunstanalyse seine Erklärungskraft, seine schier unbegrenzte Reichweite und seine unübertreffliche Dignität. Hierher rührt übrigens auch Špets Interesse für die ethnische Psychologie.20 G.G. Špet: Ėstetičeskie fragmenty, 197 (Hervorhebung im Orig.). Vgl. vor allem Schlegels Athenäumsfragment 116 (F. Schlegel: 116. Athenäums-Fragment) zur »progressive[n] Universalpoesie«, die alles umfasst, »was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang.« 16 Vgl. u. a. R. Grjubel’ [R. Grübel]: »Krasnorečivej slov inych / Nemye razgovory« und L.A. Gogotišvili: Kogitologičeskaja interpretacija idei vnutrennej formy G. Špeta. 17 G.G. Špet: Ėstetičeskie fragmenty, 197. 18 Ebd. 19 Freilich hat Špet an anderer Stelle dafür plädiert, die Kunst der Frühzeit von der Kunst im engeren Sinne abzugrenzen (G.G. Špet: K voprosu o postanovke naučnoj raboty v oblasti iskusstvovedenija, 19). 20 Ders.: Vvedenie v ėtničeskuju psichologiju. 14

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Für Špet muss der Künstler die Wirklichkeit – sogar die unsinnige und irrationale – durch seine Sprache veräußerlichen, damit der Philosoph sie in seine eigene, die Sinnstrukturen erhellende Sprache aufnehmen kann: »Schönheit ist zweifach geboren, zweifach erschienen. Daher ist sie sowohl Sinn als auch Bedeutung.« (»Красота – дважды рожденная, дважды явленная. Оттого она – и смысл и значение.«21) Es gelte, das Transzendente künstlerisch in die Sprache der Äußerlichkeit zu übersetzen, um es (ästhetisch) zu sehen und (philosophisch) zu durchschauen.22 Die geläufige Definition des ästhetischen Gegenstandes als Vermittlung zwischen dem Ding als Objekt der Wirklichkeit und dem ideal denkbaren Gegenstand (Kants ›Ding an sich‹) wird von Špet verworfen,23 weil sie zur Konstituierung der Fiktion einer transzendenten Realität führt. Der russische Phänomenologe zieht stattdessen den Terminus des »entrückten Seins« (bytie otrešennoe 24) vor, der sich mit Jan Mukařovskýs Bestimmung der ästhetischen Funktion als Negation der praktischen berührt.25 Bei der Untersuchung der Frage, was kulturelle Gegenstände als soziale Gegenstände seien, kommt Špet zum Schluss, sie seien nicht in ihrer Bedeutung, doch in ihrem Sein ein »Mittel« (sredstvo26) und somit nicht autonom. Als Instrumente und Medium geistiger Produktion eigne ihnen kein anderes Sein als das geistige, doch seien sie »Zeichen« (znaki27), die auf ein autonomes Sein verwiesen und erlangten just dadurch ihre eigene Bedeutung.28 Gerade der von ihnen angezeigte autonome (samodovlejuščij) Bereich des »Sinns« (smysl29) sei die Region des entrückten (otrešennogo) kulturellen Seins, und darunter falle eben auch der Sektor der Kunst. Die Zeichen bildeten als Ausdruck Nachahmungen, Verkörperungen, Abdrücke wirklicher Geistigkeit. Wer von ihr absehe, erhalte nichts als ein krudes soziales Ding, eine Ware.30 Der ästhetische Gegenstand sei daher als Gegenstand des dispensierten Seins ein kultureller Gegenstand, und das heiße: ein Zeichen, das einem Sinn entspricht. Nur insofern die Kunst zeichenhaft sei und als zeichenhafte auf einen Sinn verweise, sei sie zugleich »verbal« (slovesno) und ,,mit Sinn versehen« Ders.: Ėstetičeskie fragmenty, 192. Hier greift Špet zur Paronomasie: Нужно »перевести« – traducere ad suam intuitionem – трансцендентное на язык внешности, чтобы узреть и уразуметь. Diese Sprachfigur ist eine kritische Replik auf Šklovskijs Emphase der Wahrnehmung. 23 Ders.: Problemy sovremennoj ėstetiki, 69. 24 Ebd., 70. 25 J. Mukařovský: Kapitel aus der Poetik, 47–51. 26 G.G. Špet: Problemy sovremennoj ėstetiki, 75. 27 Ebd. 28 Grundsätzlich ist die Semiotik Špets mit der Schwierigkeit befrachtet, dass sie das Zeichenkonzept in strikter Analogie zum Wortkonzept entwirft, wobei der russische Ausdruck für »Wort, »slovo«, zusätzlich zwischen den Bedeutungen Einzelwort und Rede schillert. 29 Ebd. 30 Es dürften solche Passagen in den Arbeiten Špets gewesen sein, welche die damaligen Aufpasser und Denunzianten ideologischer Korrektheit als Bekenntnisse zum Idealismus für die Absetzung, Kaltstellung und letztlich für die staatliche Ermordung Špets genutzt haben. 21

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(osmysleno31). Dabei übertrage Kunst nicht nur Sinn, sondern bilde auch seelische Erregungen, Bestrebungen und Reaktionen ab. Somit sei sie nicht nur ein soziales Ding und als solches ein Mittel, sondern auch ein kultureller Wert, ein Index und konstitutives Element der grundlegenden kulturellen Kategorie des Autotelos, der Person und der Persönlichkeit.32 Der Autonomie von Person und Expression als ihrem Index entspreche ein Künstler, der sich zu jedem Menschen der Kultur als solchem verhält, der den anderen weder als Höherentwicklung des Affen noch als »Bürger« oder »Genosse« behandle.33 Die Spezifi k der Kunst lasse sich nur erfassen, wenn man sie als möglichen Gegenstand des ästhetischen Bewusstseins fasse und die Struktur der Kunst selbst als die seines Ausdrucks untersuche. Die Philosophie der Kunst erschließe dann jene Momente der Struktur des Ausdrucks, die Träger des Ästhetischen seien. Erst als philosophische Lehre könne die Ästhetik am Material der Kunst die entsprechende Struktur des ästhetischen Bewusstseins offenlegen. Während sich die Musik dabei als vornehmlich autonom und expressiv herausstelle, worin auch die besondere Stärke und Irrationalität der Musik in ihrer Wirkung auf den Menschen beruhe,34 sei die Dichtung vornehmlich signifikativ.35 Die Sprache der Bildenden Kunst wiederum bringe die Entgegensetzung dieser beiden Bedeutungen des Ausdrucks nicht so klar zur Geltung, da sie ›Dinge‹ lediglich ›zeige‹. Und so verwende sie die nominative Funktion des Wortes, eine begriffslose Rede, die nur aus Eigennamen bestehe: »Dies ist eine Sprache, deren Wörter Eigennamen sind und in der es keine Wörter zur Bezeichnung von Allgemeinbegriffen gibt: ›der Mensch überhaupt‹, ›die Natur überhaupt‹ u.dgl.m.« (»Это – язык, слова которого суть собственные имена, и где нет слов для обозначения общих понятий: ›человек вообще‹, ›природа вообще‹ и т.п.«36) Die Verallgemeinerung der spezifizierenden nominativen zur begrifflichen Rede leiste erst die kunstwissenschaft liche, besser noch kunstphilosophische Betrachtung. Solche Verwendung des Ausdrucks ›Sprache‹ zur Kennzeichnung des Zeichensystems der bildenden Kunst bildet eine Metonymie, insofern sie das Verhältnis Allgemeines-Besonderes von den Zeichen der ›Bildsprache‹ zurückbezieht auf die Differenz von Eigennamen und Klassennamen in der verbalen Rede. Selbst bei einem gemalten Porträt, das eine Einzelperson darstellt, kann jedoch nicht sensu stricto die Rede gehen von den Ausdrucksmitteln als Eigennamen. Hier ergeben sich Berührungspunkte mit der Sprachphilosophie Benjamins. Für Benjamin ist ›Ausdruck‹ jenes Medium, in dem Sprache die Funktion der BezeichG.G. Špet: Problemy sovremennoj ėstetiki, 76. Vgl. zum Begriff der Persönlichkeit bei Husserl und Špet: V.I. Molchanov: Ich-Sprache, IchHypertrophie und das Erfahrungsunterscheiden. 33 Vgl. G.G. Špet: Problemy sovremennoj ėstetiki, 77 (dt. in diesem Band). 34 Vgl. das Bekenntnis Špets , er habe während des Verfassens von Erscheinung und Sinn (Javlenie i smysl) stets Wagners Tannhäuser gehört. G.G. Špet: Javlenie i smysl, 35. 35 ›Signifi kativ‹ meint hier gewiss Sinn-stiftend. 36 G.G. Špet: Problemy sovremennoj ėstetiki, 77. 31

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nung übersteigt. Sprache, verstanden als Ausdruck, ist in Benjamins theologischer Linguistik das Bemühen, den ›Namen‹ zu nennen. Dies gelinge am ehesten noch der Kunst, da hier Sach- und Wahrheitsgehalt kongruieren.37 So entwirft Benjamin zunächst einen ebenso weiten Sprachbegriff wie Špet: »Jede Äußerung menschlichen Geisteslebens kann als eine Art Sprache aufgefaßt werden, und diese Auffassung erschließt nach Art einer wahrhaften Methode überall neue Fragestellungen. Man kann von einer Sprache der Musik und der Plastik reden […]«.38 Er fundiert ihn auch ähnlich wie der russische Phänomenologe als ein auf die Übermittlung geistiger Inhalte gerichtetes Prinzip. Dann freilich konturiert Benjamin eine Sprache, die das Wesen der Dinge ausmache, ernennt sie zum Medium der Selbstmitteilung der Sprache (und damit auch der Dinge) und unterscheidet die geistige Mitteilung des Menschen durch die Namen, die er den Dingen gibt von jener, die er ihnen in den Namen gibt: »[…] im Namen teilt das geistige Wesen des Menschen sich Gott mit.«39 Hier kommt Benjamin den Vertretern der russischen Philosophie des Namens nahe: Florenskij, Losev und Sergej Bulgakov. Die Ästhetik ist für Špet, anders als Metaphysiker und Psychologen meinten, keine Wissenschaft vom Inneren des Menschen, sondern eine vom Welt-Äußeren. Und so knüpft der Phänomenologe an Vladimir Solov’evs Deutung der in Dostoevskijs Prosa artikulierten Rechtfertigung der Welt durch Schönheit an:40 Die Ästhetik sei die »letzte und überzeugendste Rechtfertigung der Wirklichkeit« (»poslednee i samoe ubeditel’noe opravdanie dejstvitel’nosti«41). Als solche gehe sie ein in den Aufgabenbereich einer »Kulturphilosophie« (filosofija kul’tury). Diese suspendierte Wirklichkeit, die Kunst also, und der ästhetische Gegenstand gelte es im Kontext der Arten und Typen kultureller Wirklichkeit zu erforschen. Nur in diesem Kontext erschlösse sich der eigentliche Sinn der Kunst und des Ästhetischen. Als Teil der grenzhaften und grenzwertigen Kultur ist Kunst Triebfeder auch für eine Kulturphilosophie, die sich ihres notwendig extremen Standorts in der Welt bewusst ist: Философия же культуры есть, повидимому, предельный вопрос и самой философии, как сама культура есть предельная действительность – предельное осуществление и овнешнение, и как культурное сознание есть предельное сознание.42 Die Philosophie der Kultur ist aber offenkundig die Grenzfrage auch der Philosophie selbst, wie die Kultur selbst Grenzwirklichkeit ist – Grenz-Verwirklichung und -Veräußerlichung und wie das kulturelle Bewusstsein Grenzbewusstsein ist.

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R. Kather: »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«. W. Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, 140. Ebd., 144. Vgl. I.M. Čubarov: Gustav Špet i Vladimir Solov’ev. G.G. Špet: Problemy sovremennoj ėstetiki, 78. Ebd.

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Špet selbst zeigt einen hohen Reflexionsgrad bei der Anwendung des Begriffs ›Sprache‹ auf die Kunst ganz allgemein. Zwei Problemfelder ergeben sich allerdings auch in seiner Ästhetik und Kunsttheorie. Dies ist zum einen die mit der Definition von Kunst als Sprache konkurrierende Bestimmung von Kunst als ›Wissen‹.43 Diese noetische Orientierung verleiht bei Špet dem Begriff ›Sprache‹ seine besondere Aura. Es scheint, als suche der Phänomenologe Hegels Verurteilung der Kunst als obsolete Erkenntnisform zu unterlaufen, indem er sie gegenläufig als spezifische Erkenntnisweise profi liert. Dass er dabei zum Antipoden der russischen Formalisten wird, aus deren Sicht es der Kunst um sinnliche Wahrnehmung und nicht um theoretische Einsicht geht, sei nur am Rande vermerkt. Problematischer noch ist der Umstand, dass Špet die Sprache der Literatur, ja im Grunde Sprache überhaupt, als poetische Sprache entwirft und so die Prosarede vernachlässigt.44 Für das künstlerische Wort pointiert er den Begriff der Form als Verbindung in die Tiefe und nicht zur Seite, wie es in einem komplexen, kombinatorischen, d. h. prosaischen System der Fall wäre.45 Prosa ist ars combinatoria, Poesie – creatio ex lingua. Musik wäre dieser Sehweise gemäß creatio ex sono. Nun ist der Laut der Sprache jedoch etwas ganz anderes als der Ton der Musik. Und dies, obgleich beide im Russischen mit ein und demselben Wort ›zvuk‹ bezeichnet werden. Die Schwierigkeit rührt nicht so sehr daher, dass der Ausdruck ›Sprache‹ hier in übertragenem Wortgebrauch verwendet wird, sondern dass er mit Blick auf die Sprachkunst gleichzeitig in direkter begrifflicher und übertragener bildlicher Ausdrucksweise erscheint. Hierdurch erlangt das Wort ›Sprache‹ jene flirrende Zweideutigkeit, die es zur Bezeichnung des Phänomens Kunst weniger geeignet erscheinen lässt. Vgl. »Die Wirklichkeit der Kunst ist die Wirklichkeit einer Weltanschauung, – eines Mythos.« (»Действительность искусства есть действительность мировоззрения,– мифа.«) G.G. Špet: Zametki k stat’e ›Roman‹, 51. 44 Špet nennt, als er die Person des Subjektes als Repräsentant bestimmt, sie »[…] Zeichen eines allgemeinen sinnerfüllten Inhalts, Wort (in seinem weitesten symbolischen Sinn des Archetypen einer jeden soziokulturellen Erscheinung) mit seinem Sinn […]« (»[…] знак общего смыслового содержания, слово (в его широчайшем символическом смысле архетипа всякого социально-культурного явления) со своим смыслом […].«) G.G. Špet: Vnutrennjaja forma slova, 486; Hervorhebung im Orig.). In der Schrift Sinn und Sprache unterscheidet Špet drei Bedeutungen des Ausdrucks ›Wort‹: 1. Das Wort als mündliche oder schrift liche Rede, die also als Kommunikationsmittel Gedanken, Gefühle, Wissen, Befehle und Verträge usw. verkörpere und den Menschen als Gabe vom sprachlosen Tier unterscheide; 2. das ›Wort‹ als durch einen beliebigen Sinn abgeschlossenen Teil der Rede oder auch die Rede selbst (die in der Regel eine Reihe von miteinander verbundenen Wörtern enthalte), das ausgesprochen, gehalten, erhalten oder vorenthalten wird und zu dem auch die Gabe des Wortes bzw. der Rede gehöre, 3. das ›Wort‹ als letztes, unteilbares Element der Sprache, als Einzelwort, dessen Kriterium die Bedeutung sei, das sowohl selbst aus mehreren Wörtern bestehen als auch nur Teil eines einzigen Wortes sein könne. Eine unterschiedliche Konzeption des Begriffs ›Wort‹ je nach dem dabei verwendeten Sprachmodell ist hier dagegen nicht zu erkennen. Wortkunde oder Wortwissenschaft ist hier ebenso wie Sprachwissenschaft zunächst und vor allem Semasiologie. Vgl. G.G. Špet: Mysl’ i slovo, 568 f. 45 G.G. Špet: Ėstetičeskie fragmenty, 209. 43

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Um dieses Problem zu überzeichnen, greifen wir zu einer Analogie. Wer den Ausdruck ›Wärme‹ zunächst auf die Erscheinung der Wärmestrahlung reduziert, dann aber mit dem Satz ›Dieser Raum ist warm‹ sowohl die hohe physikalische Temperatur der darin befindlichen Luft als auch das psychische Wohlbefinden sich darin aufhaltender Menschen bezeichnet, trifft weder die Bestimmung der physikalischen Temperatur noch der psychischen Gefühlslage, die das Befinden darin auslöst. Parallel zur Privilegierung des Wortes als Modell kultureller Zeichen betreibt Špet auch die Wertung der Wortkunst als zentrale Konstituente des historischen Bewusstseins. In seinem Beitrag »Literatur« (Literatura) zum Lexikon kunstwissenschaft licher Termini stellt er literarisches und historisches Bewusstsein geradezu gleich: Литературное сознание в этом смысле есть само историческое сознание, сознание историческим родом и народом своего собственного культурно-исторического становления и бытия. Литературное сознание, как сознание родом себя в своем собственном слове, ближе определяется как сознание национальное, т.е. не неопределенно-этническое сознание, а именно национально-историческое, литературным словом, литературною речью, преодолевающее устно-словесное многообразие этнических диалектов. По предмету и содержанию, это, есть сознание народом своей народности, в ее собственном образовании.46 Das literarische Bewusstsein ist in diesem Sinne das historische Bewusstsein selbst, das Bewusstsein, welches historischer Stamm und Volk von ihrem eigenen kulturhistorischen Werden und Sein haben. Das literarische Bewusstsein wird als Bewusstsein des Stamms von sich selbst in seinem eigenen Wort näher bestimmt als nationales Bewusstsein, d. h. als unbestimmt ethnisches Bewusstsein, und zwar als nationalhistorisches gerade durch das literarische Wort, durch die literarische Rede, welche die mündlich-verbale Vielfalt ethnischer Dialekte überwunden hat. Seinem Gegenstand und Inhalt nach ist dies das Bewusstsein des Volkes von seinem Volk-Sein in seiner eigenen Gestaltwerdung.

Damit schließt die Literatur für Špet zusätzlich an die Bildung der Logik der Geschichte an. Allerdings ist die Frage gerechtfertigt, ob еin Roman wie Krieg und Frieden als Bestandteil des russischen historischen Bewusstseins nicht doch etwas anderes ist als dieser Roman, gelesen unter ästhetischen Gesichtspunkten.

46

Ders.: Literatura, 258.

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2.2 Anwendungen des Ausdrucks ›Sprache‹ auf averbale Künste in Studien der GAChN-Mitarbeiter Anschließend an die Erarbeitung dieser Basispositionen in den grundlegenden Untersuchungen Špets beobachten wir in den Arbeiten der Mitarbeiter von GAChN die fortschreitende Anwendung des Begriffs ›Sprache‹ auf zahlreiche Künste.47 Diese reichen von der Malerei und der Plastik über die Musik bis hin zu Kinematographie. Nicht selten mangelt es diesen Untersuchungen freilich an Problembewusstsein für die Übertragung dieses Terminus auf die angrenzenden Bereiche der averbalen Künste. Der Ausdruck wirkt dann durch sein prekäres Selbst-Verständlich-Werden hin und wieder wie ein Element der Verwendung eines spezifischen kunstwissenschaft lichen Jargons. Dies erstaunt umso mehr, als Špet einer der Initiatoren des zwar abgeschlossenen, in den 1920er Jahren aber nicht veröffentlichten Lexikons der Kunstterminologie48 gewesen ist und in seinem bereits genannten Beitrag von 1926 auch ein Plädoyer für dieses Glossar gehalten hat.49 Dieses Lexikon enthält indes kein Lemma zum Terminus ›Sprache‹. Und auch im Lemma ›Kunstwissenschaft‹ (Iskusstvoznanie) wird der Ausdruck ›Sprache‹ (jazyk) nicht verwendet.50 Špet nennt überdies beim Blick auf die Lage der Entwicklung der Kunstwissenschaften allein die Situation in der Literaturwissenschaft befriedigend.51 Beleg für die Problematik der Übertragung des Terminus ›Sprache‹ auf die bildenden Künste ist auch das ungeklärte Wechselverhältnis der Begriffswörter ›Wort‹ und ›Zeichen‹. Ein geplanter Artikel zum Zeichen ist nicht in die letzte Fassung des Glossars aufgenommen worden, und in einem vorbereiteten Beitrag zu diesem Terminus von A.A. Guber ist bezeichnenderweise im Vorfeld der Abschnitt »Zeichen in der Musik« (Znak v muzyke) durch Beschluss der für die Erarbeitung des Glossars zuständigen Kommission gestrichen worden.52 A.G. Gabričevskij zieht jedenfalls die Ausdrücke ›Zeichensystem‹ (sistema znakov) und ›Zeichen‹ (znak) den Begriffswörtern ›Sprache‹ und ›Wort‹ in seinem Beitrag »Darstellung« (Izobraženie) erkennbar vor: »[…] ein jedes Kunstwerk ist eine Darstellung, insofern es ein sinn-

Dies weisen insbesondere die Bulletins sowie die einschlägigen Arbeiten in der Zeitschrift Iskusstvo sowie in den Reihen des Verlags aus. 48 I.M. Čubarov (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov. 49 G.G. Špet: K voprosu o postanovke naučnoj raboty v oblasti iskusstvovedenija, 17 f. (dt. in diesem Band) Das Lexikon ist fast 80 Jahre nach seiner Fertigstellung von Igor’ Čubarov herausgegeben worden: I.M. Čubarov (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov. 50 D.S. Nedovič: Iskusstvoznanie. Einziger Berührungspunkt zur Sprachauff assung von der Kunst ist der Hinweis auf die »Morphologische Methode« (morfologičeskij metod, 212) in der personenbezogenen oder differentiellen Kunstwissenschaft. Der vom selben Autor verfasste Beitrag über »Analogie« (D.S. Nedovič: Analogija) übergeht gleichfalls die Analogie der theoretischen Modellierung von Sprache und Kunst in der GAChN. 51 G.G. Špet: K voprosu o postanovke naučnoj raboty v oblasti iskustovovedenija, 13. 52 A.A. Guber: Znak. 47

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lich wahrnehmbares, anschauliches Zeichen oder Zeichensystem ist.«53 Der Beitrag »Ausdruck« (vyraženie54) von D.S. Nedovič umgeht das Wort ›Sprache‹ ebenso wie Tarabukins ausgedehnter Artikel »Malerei« (Živopis’55). In den Thesen des Vortrags von V.P. Zubov »Die Genese der wissenschaft lichen Terminologie« begegnet der Ausdruck ›Sprache‹ (jazyk) dann auch folgerichtig nur noch zur Bezeichnung der wissenschaft lichen Metasprache sowie der natürlichen (hier »empirischen« – ėmpiričeskij56) Sprachen. Dabei weist Zubov völlig zutreffend hin auf die Einwirkung der »inneren Form natürlicher Sprache« auf die »Struktur der Wissenschaftssprache«.57 Als Beispiel für eine stark metaphorische Verwendung des Ausdrucks »Sprache« kann der Beitrag von Aleksandr Germanovič Cires mit dem Titel »Die Sprache der Porträt-Darstellung« (Jazyk portretnogo izobraženija) dienen. Der zugehörige Bericht im GAChN-Bulletin 8–9 setzt im Referat des Vortrags den Ausdruck »Sprache der Porträt-Darstellung« in verräterische Anführungszeichen und führt aus:

A.G. Gabričevskij: Izobraženie, 192. Hier bezeichnet Gabričevskij (ebd., 194) mit ausdrücklichem Verweis auf Kandinskys ›Expressionismus‹ den Ausfall der Darstellungsfunktion als dessen Spezifi kum. Und er hebt die Darstellungstypik der Wortkunst explizit gegen die der Bildkunst ab, da die Literatur eine spezifi sche Form der Anschaulichkeit erzeuge, die durch das Wort und seine Struktur bedingt sei. Im Unterschied zum nominativen Wort der pragmatischen Rede, das reale, anschauliche Inhalte benenne, büße das Wort in der künstlerischen Rede seine praktischen Funktionen ein, sei es nicht nur Mittel oder bedingtes Signal (ebd., 196). Als künstlerisches Wort werde es dann gewertet, wenn es abgesondert vom durch es bezeichneten Gegenstand gedacht und in seiner ganzen Fülle ausgeschöpft werde, wenn seine logischen und expressiven Funktionen ein unauflösbares einheitliches Ganzes bildeten. Hier ist die Nähe zum Konzept des poetischen Wortes in der Formalen Schule in der Dispension der praktischen Funktionen ebenso evident wie die Ferne in der Profi lierung des Denkens statt des Wahrnehmens. Die Spezifi k der Theaterkunst bestimmt Gabričevskij als Kombination von bildlicher und verbaler Darstellung. Für Musik und Theaterkunst wird die konstitutive Funktion der Darstellung gänzlich in Abrede gestellt, während für die Choreographie die Darstellung als nicht vollständig in temporale Gesetzmäßigkeiten verkörpert gesehen und für die Kinematografie die Dominanz mechanischer Darstellung festgelegt wird. 54 D.S. Nedovič: Vyraženie, 106. 55 N.M. Tarabukin: Živopis’. Anders verhält es sich naturgemäß im Beitrag »Bedeutung« (Značenie) von A.S. Achmanov, der allerdings in die letzte Fassung des Glossars nicht aufgenommen, vielmehr aus Archivmaterialen nachgetragen worden ist (A.S. Achmanov: Značenie). 56 V.P. Zubov: Genezis naučnoj terminologii, 448. 57 Ebd. Dabei ist von Interesse, dass B.A. Focht in der Diskussion nach Zubovs Vortrag das Problem zuspitzte zur Frage »Eignet der Sprache eine autonome Gesetzmäßigkeit, die der ontologischen Gesetzmäßigkeit entspricht«. Und er wies zugleich hin auf eine petitio principii, die aus Platons Hinweis erkennbar sei, dass die Gesetzmäßigkeit der Sprache vom Gegenstand, von der Möglichkeit des Erlangens der Wahrheit abhänge. Losev dagegen kritisiert, der Vortrag kehre die Verhältnisse um, indem statt über Wissenschaftsprache über die Sprache der wissenschaft lichen Darlegung gesprochen worden sei. Unter Sprache sei »das Element des sinnhaften Ausdrucks« (»stichija smyslovogo vyraženija«, ebd., 450) zu verstehen. Die weitere Diskussion bringt auch Probleme der Metasprache zu Bewusstsein, die sich mit der Wissenschaftssprache befasst. 53

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»Язык портретного изображения« разрешал антиномию полноты изображаемого в портрете: портрет – это или а) безграничная полнота жизни и истории личности, или б) лишь ничтожная часть этой полноты. Перечислив возможные слои изображенной личности, докладчик перешел к тем знакам, через которые эти слои раскрываются. Кроме трех основных видов портретного знака: 1) слова, 2) признака и 3) художественного намека, докладчик находит возможным говорить здесь, например, также и о ›метафоре‹. В прениях по докладу был отмечен особый интерес отдельных моментов анализа. Однако, спорным показался сам метод, каким шел докладчик. Если его доклад дает нам герменевтику портрета, то она невозможна без предварительного установления сущности предмета. Было бы убедительнее, если бы докладчик сам истолковал своим методом определенную историческую группу портретов.58 Die »Sprache der Porträt-Darstellung« klärte die Antinomie der Fülle des im Porträt Dargestellten: Das Porträt ist entweder a) die unbegrenzte Fülle des Lebens und der Geschichte der Person oder b) ein nichtiger Teil dieser Fülle. Nachdem er die möglichen Schichten der dargestellten Persönlichkeit aufgezählt hatte, ging der Vortragende zu denjenigen Zeichen über, durch welche diese Schichten erschlossen werden. Außer den drei Arten von Porträtzeichen, 1. Wörtern, 2. Merkmalen und 3. künstlerischen Anspielungen findet der Vortragende es hier auch möglich, von einer ›Metapher‹ zu sprechen. In den Diskussionen zum Vortrag wurde das Interesse einzelner Momente der Analyse festgestellt. Als strittig erwies sich jedoch die Methode selbst, die der Vortragende verwendete. Falls der Vortrag uns die Hermeneutik des Porträts bietet, so ist dies nicht ohne vorherige Bestimmung des Wesens des Gegenstandes möglich. Es wäre überzeugender, wenn der Vortragende selbst mit seiner Methode eine bestimmte historische Gruppe von Porträts interpretierte.

Wenn Cires hier ganz undifferenziert Wörter, Merkmale und Anspielungen als äquivalente Elemente einer ›Sprache der Porträtkunst‹ versammelt, erzeugt er einen äußerst diff usen Begriff dieses Idioms und unterscheidet sich darin scharf von Ernst Cassirer, der in der Einleitung zu seiner Philosophie der symbolischen Formen zur selben Zeit die Bereiche von Sprache, Kunst und Mythos scharf voneinander trennt.59 Zwar behandelt Cires im ausgeführten Aufsatz mit demselben Titel auch das »Problem der Struktur und der Arten des Porträt-Zeichens« (»problem[a] struktury i vidov portretnogo znaka«60), setzt sie indes nicht gegen die verbalen Zeichen ab. Ja, er ist der Auffassung, die Sprachbilder der poetischen Sprache verfügten über dieselbe »Anschaulichkeit« (nagljadnost’61) wie die Zeichen der Skulptur! Und auch für 58 59 60 61

A.G. Cires: [Bericht zu:] Jazyk portretnogo izobraženija, 20. E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I, 27. A.G. Cires: Jazyk portretnogo izobraženija, 101. Ebd., 100.

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die bildhaften Zeichen des Porträts reklamiert er deren Plastizität. Schließlich weist er der Betrachtung des Porträts die primäre Funktion zu, unser Wissen über den Menschen zu erweitern.62 Wenn nun Cires wiederholt vom »Ausdruck des Gesichtes« (vyraženie lica63) spricht, meint er mit »Ausdruck« etwas ganz anders als die Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens. Und wenn er von der Porträt-Metapher spricht, meidet er folgerichtig das Begriffswort ›Sprache‹ und spricht nur von »Zeichen«64 . Erst bei der Gleichstellung von »Lautgeste« (zvukovoj žest65) und Körpergeste des Porträtierten tappt Cires wieder in die Falle des Analogismus. Die Schlusssätze von Cires’ Aufsatz »Die Sprache der Portrait-Darstellung« führen den Gebrauch des Begriffsworts ›Sprache‹ in dieser Abhandlung ad absurdum, wird hier doch gerade die Nicht-Sprachlichkeit des Porträts als Stärke des Bildes herausgestellt. Es mag ja der Sache nach durchaus einsichtig sein, die Verwendung nichtreferentieller Zeichen als Vorteil des bildnerischen Porträts zu bestimmen; nicht begreiflich ist dagegen der Vorteil der Verwendung des Konzepts einer nichtsprachlichen Sprache. Die Fragen, ob das plastische Bild des Porträts einen adäquaten sprachlichen Ausdruck finden, ob es also dem poetischen Bild entsprechen könne, beantwortet der Kunsthistoriker zutreffend: Von Adäquatheit könne hier keine Rede sein, eben weil die Gegebenheit des poetischen und plastischen Bildes zu unterschiedlich sei und das Wort stets allgemein, das plastische Bild stets konkret sei. Daher komme der verbalen Entfaltung des plastischen Bildes immer nur der Wert einer Näherungsgröße zu. Etwas anderes sei dagegen die Erschließung des eigenen Porträt-Bildes vor dem Antlitz des Kunstwerks selbst. Was der Beschreibung durchs Wort verschlossen bleibe, stehe hier dem verbalen Hinweis offen: Однако и здесь нельзя говорит об адэкватности в сообщении образа. Но несмотря на отсуствие адэкватности, недоступной вообще никокому словесному сообщению, сообщаемое может быть образом, имеющим лишь ему присущую художественную ценность.66 Јеdoch kann auch hier nicht von Adäquatheit in der Mitteilung des Bildes die Rede sein. Doch ungeachtet des Fehlens der Adäquatheit, die überhaupt keiner verbalen Mitteilung zugänglich ist, kann das Mitgeteilte hier ein Bild sein, das einen nur ihm eigenen Wert aufweist.

Dass Cires den Ausdruck »Sprache« hier und anderenorts nicht als theoretischen Ebd., 100. Ebd., 116. 64 Ebd., 118 f. 65 Ebd., 124 f. 66 Ebd., 131. Hier ist darauf hinzuweisen, dass der Terminus ›Lautgeste‹ (zvukovoj žest) ganz evident der Wissenschaftssprache der russischen Formalisten entlehnt ist. Boris Ėjchenbaum hat 1918 in seinem Aufsatz »Kak sdelana ›Šinel’‹ Gogolja« (Wie Gogol’s »Mantel« gemacht ist) den Begriff »Lautgeste« eingeführt, um die artikulatorische Mimik des Sprechenden bei der Produktion von Skaz (reported speech) zu bestimmen. 62

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Begriff, sondern als gängiges Schlagwort verwendet, belegt auch der Umstand, dass wir in seinen späteren Arbeiten zur Architektur das Wort »Sprache« vergeblich suchen.67 Dort ist dann nur noch von ›Kunst‹, ›Bild‹ und ›Bauwerk‹ die Rede.

2.3 Das Problematisieren der Anwendung des Terminus ›Sprache‹ auf die averbale Kunst durch Michail Petrovskij Die differenzierteste Reflexion über die Bedingungen der Anwendung des Ausdrucks ›Sprache‹ auf den Gesamtbereich der Kunst hat der Špet-Schüler und GAChN-Mitarbeiter Michail Petrovskij vorgelegt.68 In seinem 1927 erschienenen Aufsatz »Poetik und Kunstwissenschaft« (Poėtika i iskusstvovedenie) geht der Literaturtheoretiker zwar von Oskar Walzels Arbeit Die wechselseitige Erhellung der Künste (1917, 1923) aus, kommt dabei aber zu durchaus eigenständigen Ergebnissen. Zunächst weist er darauf hin, dass es dem Literaturwissenschaft ler Walzel mehr um die Bereicherung der Literaturwissenschaft durch die anderen Künste ging als um die Befruchtung der Kunstwissenschaften durch jene. Dabei hätten die Kunstwissenschaften durch die stärkere Ausdifferenzierung von Methodologie und Terminologie der Literaturwissenschaft von dieser sogar mehr zu erwarten als diese von jenen. Während es sich bei der Dichtkunst um »Sprache als Kunst« handle, liege bei den averbalen Künsten eine »Sprache sui generis«69 in je spezifischen Modifi kationen vor. Gemeinsam sei allen diesen Sprachen, dass sie die »Sinninhalte« (smyslovye soderžanija) der einzelnen Künste bildeten. Dabei blieben die Zeichen der averbalen Künste in ihrer Bedeutung viel dunkler als die der poetischen Rede. Und es gehe weniger um den logisch-begrifflichen Sinn, dessen Träger nur Worte im engeren Sinn und Elemente der verbalen Rede sein könnten. Bei der Übertragung auf eine averbale Kunst ergäbe sich allenfalls eine allegorische Interpretation und damit eine zumeist völlig willkürliche Übersetzung. Die Hermeneutik der poetischen Rede habe den großen Vorzug, dass ihr Gegenstand, die Dichtung, verbale Kunst sei. Daher könnten ihre Verfahren als Modell für die anderen Künste dienen. Diesem Argument können wir nicht beipflichten, da die eingangs dargestellte Reflexivität der Rede über Rede infolge der Verwechselbarkeit von Medium und Gegenstand eher einen erschwerenden Umstand für die Methode zu bilden scheint. Man braucht nicht einmal das böse Wort von der »Lyrik über Lyrik« zu zitieren, sondern kann auf die oben dargestellte Praxis Špets verweisen, in welcher der Gegenstand der poetischen Rede so auf das Medium der Rede über ihn zurückschlägt, dass er die Bestimmung des Gegenstands selbst affiziert. Dies geschieht, wenn die Vgl. A.G. Cires: Architektura Kolizeja. Ders.: Iskusstvo architektury. Ders.: Architektura Drevnego Egipeta. Eine weniger kritische Haltung vertritt G.G. Počepcov: Istorija russkoj semiotiki do i posle 1917 goda. 68 Petrovskij war von 1923 bis 1930 Leiter der Untersektion für Theoretische Poetik. Vgl. auch seinen Beitrag »Vyraženie i izobraženie v poėzii« sowie seine Arbeiten zur Prosaanalyse. 69 M.A. Petrovskij: Poėtika i iskusstvovedenie, 121. 67

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etymologische Verwandtschaft der russischen Wörter jazyk (Sprache) und jazyčestvo (Heidentum) auf den Sinn der damit bezeichnenden Ausdrücke durchschlägt. Anders als Walzel will Petrovskij den Ausdruck ›Sprache der Kunst‹ (und die ihm entsprechende Hermeneutik) nicht auf die Sphäre der Gestalt begrenzt sehen, weil dies zu einer rein metaphorischen Verwendung des Wortes ›Sprache‹ führe und Walzels Reduktion der Rezeption des sprachlichen Kunstwerks auf das ›Erlebnis‹ entspreche. Vielmehr sei die Kunst Ausdruck einiger ihr immanenter Gehalte und bilde das System ihrer expressiven Zeichen eine »Sprache der Kunst im direkten und nicht metaphorischen Sinne«70. Diese Sprache sei weder begriffliche Rede noch ein System unmittelbarer Symptome von Erlebnissen, die allein dem Miterleben zugänglich seien. Sie bilde vielmehr die Sphäre spezifischer Sinngebungen, die von der Kunst in ihren Formen als Zeichen mitgeteilt werden. Der Erwerb dieser Sprache bedürfe einer besonderen Methodik, deren Aufbau die Aufgabe der Hermeneutik der jeweiligen Kunst sei. Am Beispiel von Symmetrie und Rhythmus, der Sonatenhauptsatzform (ABA) und dem Leitmotiv entfaltet Petrovskij im weiteren Verlauf sein Modell der Übertragbarkeit von Strukturprinzipien der Raum- auf die Zeitkünste und vice versa. Beachtung verdient dieser Entwurf gerade deshalb, weil er die Problematik der Übertragung des Terminus ›Sprache‹ auf averbale Künste vor Augen führt. Insgesamt ist eine zunehmende Lösung der Wissenschaftler der jüngeren Generation von der Phänomenologie Gustav Špets zu beobachten. So kritisiert N.I. Žinkin 1929 am Entwurf des Artikels »Sinn« (Smysl) von A.S. Achmanov für das kunstwissenschaft liche Glossar von GAChN die einseitige Darlegung des Sinnbegriffs in der Tradition Špets, und T.I. Rajnov fordert, hier seien neben der Konzeption Husserls auch die davon abweichenden Vorstellungen Rickerts und Cassirers zu berücksichtigen.71 3. Folgerungen aus den Debatten der 1920er Jahre 1923 wurde im Moskauer Linguistischen Zirkel die Frage diskutiert, ob die Versrede primär eine graphische Erscheinung sei (Standpunkt von Aleksandr Il’ič Romm) oder eine phonetische (Standpunkt von Grigoij Vinokur).72 Dieser Disput, in dem Špet 1924 die Position von Romm einnahm,73 bezeugt die Suche nach den Grundlagen des sprachlichen Mediums der poetischen Rede. Er zeigt aber auch die essentialistische Fragerichtung der Geisteswissenschaft ler. Das Nebeneinander graphischer und phonetischer Rezeption von Versen und die Möglichkeiten des Ausspielens dieser Rezeptionsmodi durch avancierte Autoren (etwa in Majakovskijs Treppenversen) kamen so nicht zu begrifflichem Bewusstsein. 70 71 72 73

Ebd., 123. N.I. Žinkin: Včuvstvovanie, 469 f. Protokol zasedanija Moskovskogo Lingvističeskogo Kružka, 27 fevralja 1923g. G.G. Špet: Tezisy doklada »O granicach naučnogo literaturovedenija«, 682.

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Ähnlich steht es um den Entwurf aller Künste als Sprachen, die sich einer spezifischen kulturellen Epoche zuordnen lassen und für deren Betrachtung besonders erhellend sind, wenn sie als Problematiken behandelt werden, die mit den auch historisch zu erhebenden Interrelationen zwischen den Künsten einerseits zu tun haben, andererseits aber auch für die Diskurse prägend sind, die über diese Künste und ihr Wechselverhältnis geführt werden. Es ist keine Frage, dass die Applikation des Terminus ›Sprache‹ auf Malerei, Plastik, Ballett und Musik in diesen Arbeiten manche Einsicht befördert hat, die ohne solche Übertragung nicht zustande gekommen wäre. Aber diese Ergebnisse wären ›nachhaltiger‹, wenn sie (wie in der Studie Petrovskijs) die Problematik dieser Übertragung in den Erkenntnishorizont stetig einbezogen hätten. Ganz auf der Höhe unserer Zeit liegen dagegen Špets Überlegungen zur Kulturphilosophie und Kulturtheorie als dem Rahmen, in dem Untersuchungen zum sich wandelnden medialen Charakter der Künste und zu ihrer wechselseitigen Ähnlichkeit und Differenz anzustellen sind. Hier ist auch der Vergleich mit den zeitgenössischen Entwürfen von Kunst als Sprache bei Benjamin und als System symbolischer Formen bei Cassirer lehrreich. Wer als Kulturphilosoph, Kunst-, Musik- oder Filmwissenschaft ler ohne klare und weitgehende Einschränkungen seinen Gegenstand ›Sprache‹ nennt, schneidet sich ins eigene Fleisch, da er damit seinem eigenen Medium einen völlig diff usen Charakter zuschreibt. Es scheint aus heutiger Sicht fruchtbarer, bei der Untersuchung musikalischer, bildnerischer und fi lmischer Phänomene nicht einen ins Extrem gedehnten Begriff ›Sprache‹ zu nutzen, um die Analogien verbaler und averbaler Künste zu erfassen, sondern (wie es mehr der Sache als dem Begriff nach zum Teil bei Špet und seinen Mitarbeitern auch schon zu beobachten ist) den Begriff ›Semiose‹.74

In der Semiotik kommt dem verbalen Zeichensystem der Sprache mit Grund eine Sonderrolle zu. Gerade diese mediale Unterscheidung gestattet es, im Fall der Bi-, Poly- und Intermedialität die Funktion des jeweiligen Zeichensystems zu erfassen. Von besonderem Interesse sind dabei Fälle, in denen das eine Zeichensystem (z. B. das pikturale) in Analogie zu einem anderen (z. B. dem verbalen) verwendet wird. Wir können dann von der Ikonizität des Gebrauchs der ›Bildersprache‹ im Verhältnis zur verbalen Rede sprechen. 74

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Kunst der Sprache, Kunst als Sprache, Sprache(n) der Kunst

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Rainer Grübel

– Tezisy doklada »O granicach naučnogo literaturovedenija« [Thesen zum Vortrag »Über die Grenzen der wissenschaft lichen Literaturforschung«], in: ders.: Iskusstvo kak vid znanija [Kunst als Wissensart], 682–683 – Zametki k stat’e ›Roman‹ [Notizen zum Aufsatz über den Roman], in: ders.: Iskusstvo kak vid znanija [Kunst als Wissensart], 49–90 – Vvedenie v ėtničeskuju psichologiju [Einführung in die ethnische Psychologie], in: ders.: Philosophia natalis. Izbrannye psichologo-pedagogičeskie trudy [Philosophia natalis. Ausgewählte psychologischpädagogische Schriften], Moskau 2006, 417–500 – Vvedenie v ėtničeskuju psichologiju [Einführung in die ethnische Psychologie], Moskau 1927 Tarabukin, Nikolaj M.: Živopis’ [Malerei], in: I.M. Čubarov (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov, 159–165 Žinkin, Nikolaj I.: Portretnye formy [Porträtformen], in: A.G. Gabričevskij (Hg.): Iskusstvo portreta. Sbornik statej N.I. Žinkina, A.G. Gabričevskogo, B.V. Šapošnikova (i. dr.) [Porträtkunst. Eine Aufsatzsammlung von N.I. Žinkin, A.G. Gabričevskij, B.V. Šapošnikov (u. a.)], Moskau 1928 (Trudy GAChN. Filosofskoe otdelenie Bd. 3), 7–52 – Včuvstvovanie [Einfühlung], in: I.M. Čubarov (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov, 448–478 Zubov, Vasilij P.: Genezis naučnoj terminologii. K istorii naučnogo jazyka. Tezisy [Die Genese der wissenschaft lichen Terminologie. Zur Geschichte der Sprache der Wissenschaft], in: I.M. Čubarov (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov, 448–452

Vom Paradigma zur Serie: Zwischen früher und später Avantgarde Aage A. Hansen-Löve

I. Paradigmatische Poetik 1. Im Namen der Dinge: Chlebnikovs Onomatopoetik Im Gegensatz zu den ›Italienern‹ – zumal zu Marinettis ›Express-Futurismus‹1 – wollten sich die russischen Futuristen nicht mit bloßen Oberflächenphänomenen und dem reinen Geschwindigkeitsrausch der technischen Modernität aufhalten: Man wollte ganz im Sinne des russischen Logozentrismus2 zum den pulsierenden Lebenskern aller vitalen und kollektiven Erneuerungen gelangen – mit dem Ziel einer Total-Erneuerung der Zeichen, und damit einer Kulturrevolution der Sprache insgesamt. Die Innovatorik sollte – anders als auch als im Symbolismus um 1900 – nicht mehr bloß die Adjektiva von den Substantiven befreien, sondern in die Grammatik und den Laut- wie Morphembestand der Sprache selbst eingreifen. Hatte man sich bisher mit der Lockerung der Referenzfunktion begnügt und damit eher ein semantisches Anti-Programm bedient, ging es jetzt quasi an den ›Arbeitsspeicher‹ und das ›Betriebssystem‹ des Sprach-Code, der insgesamt – in welchem Medium auch immer – zerstückelt, analytisch zerlegt, dissoziiert wurde in seine ›disiecta membra‹, um daraus eben in einem zweiten Akt Sprache und Körper des Neuen Menschen zu formen. Dass Chlebnikovs berühmtestes Gedicht – seine Anrufung der »Lacherer« – einem körpersprachlichen Index, einer lautexpressiven, unwillkürlichen, präverbalen Ausdruckshandlung gewidmet ist, gehört zur höheren Ironie dieses Meister-Dichters: Das Gedicht entfaltet auf der syntagmatischen Achse seiner Textualität sein eigenes, ihm immanentes, Paradigma. Dabei bildet es eine Brücke zwischen dem präverbalen Pol der Körpersprache (wie das Lachen bzw. ein onomatopoetisches Lach-Wort an reflexhafte Körperreaktionen oder das Weinen, das Niesen, das Gähnen oder Interjektionen wie das berühmte ›Ach!‹3) und dem postverbalen 1 A.A. Hansen-Löve: Malevičs verbaler Suprematismus als Kritik des russischen Sprach-Futurismus; ders.: Die Kunst ist nicht gestürzt; den Gesamtrahmen der russischen Avantgardeströmungen dokumentiert F.Ph. Ingold: Der große Bruch. 2 A.A. Hansen-Löve: Am Anfang war… das Wort. 3 Zum ›Ach‹ in Goethes berühmtem Bekenntnis zur Apophatik der Seele: »Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr« – vgl. F.A. Kittler: Aufschreibsysteme 1800–1900, 46 f.: »Die Zerlegung Spr/ach/e stellt die basale Maschinenoperation im Aufschreibsystem von 1800 dar.« (Ebd., 48.) Für Kittler ist das »Ach!« ein »Minimalsignifi kat poetischer Liebe« (ebd., 143). Marina Cvetaeva hat in einem ihrer der anderen großen russischen Muse – Anna Achmatova – gewidmeten Gedichte eben dieses »Ach« als anagrammatisches Glied ihres Namens aktualisiert und entfaltet (»ACH-matova«) in: Dabei hat sie das anagrammatische Prinzip der »Schrift lichkeit« mit

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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Pol des Sprachkörpers, als welcher der Text figuriert, den er personifiziert – kurz: »verkörpert«:4 О, рассмейтесь, смехачи. О, засмейтесь смехачи. Что смеются смехами, что смеявствуют смеяльно. О, засмейтесь усмеяльно. […]5 (V. Chlebnikov) O, entlacht, Lacherer. O, erlacht, Lacherer. Dass sie Gelächter lachen, dass sie lachantern lachal. O erlacht lächeral. […]

»Wenn Chlebnikov las« – erinnert sich Majakovskij, brach er manchmal mitten im Wort ab mit dem Hinweis: »Na, und so weiter.« In diesem »usw.« steckt der ganze Chlebnikov. Er stellte die poetische Aufgabe, gab ihrer Lösung eine Form – die Nutzung dieser Lösung zu praktischen Zwecken überließ er den anderen.6

2. Der Text als Code – Jakobsons Äquivalenzpoetik Roman Jakobsons berühmte Chlebnikov-Studie »Die neueste russische Poesie«7 aus dem Jahr 1919 – erschienen dann in Prag 1921 – war nicht nur seine erste umfangreichere wissenschaft liche Monographie, sondern auch die Grundlegung jener funktionalen Poetik, mit der er zum Gründungsvater einer strukturalen, linguistisch fundierten »Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie« werden sollte.8 Um die Bedeutung dieser revolutionären Poetikkonzeption im Rückblick würdigen zu können, lohnt es sich doch, die oben erwähnte Spezifik der Position Jakobsons gegenüber den beiden skizzierten Futurismus-Modellen zu reflektieren – darüber hinaus dem paronymischen der Mündlichkeit (dem Kalauer) untrennbar miteinander verschmolzen und als poetisches Programm einer weiblichen Logozentrik etabliert (M. Cvetaeva: O muza plača …, 103). 4 Vgl. die »paradigmatischen Kolumnen« in Fausts »Im Anfang war das Wort…« (F.A. Kittler: Aufschreibsysteme 1800–1900, 19.) 5 V.V. Chlebnikov: Sobranie sočinenij, Bd. II, 35. Vgl. R. Jakobson: Die neueste russische Poesie (1921), 84–85. 6 V. Majakovskij: V.V.Chlebnikov, 23 f.: »Принося вещь для печати, Хлебников обыкновенно прибавлял: »если что не так – переделайте«. Читая, он обрывал иногда на полуслове и просто указывал: »ну и так далее«. В этом »и т.д.« весь Хлебников: он ставил поэтическую задачу, давал способ ее разрешения, а пользование решением для практических целей – это он предоставлял другим…« (dt. in: Velimir Chlebnikov: Werke 1. Poesie, hg. von P. Urban, Reinbek bei Hamburg 1972, 9-15, hier: 9). 7 Zit. nach der Ausgabe: W.-D. Stempel (Hg.): Texte der russischen Formalisten. 8 R. Jakobson: Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie (1961).

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aber auch seine spezielle Zurichtung der archaistischen Mythopoetik Chlebnikovs9 zum Konstrukt einer funktionalistischen Poeto-Logik und damit zu einem der maßgeblichen Manifeste des ›linguistic turn‹ der Avantgarde erkennbar zu machen. Die ›poetische Etymologie‹10 hat also den Status einer eigenen Wirklichkeit, die über eine Eigengesetzlichkeit verfügt und daher nicht determinierbar ist durch eine naiv-realistisch postulierte allgemeine Realität, ein Realitätsprinzip im Sinne Freuds. Eben dieser hatte ja auch die Autonomie einer psychischen Realität angenommen, nicht um die Welt der Anangke auszuschalten, sondern um ihre Ausschaltung bzw. Deformation als eigengesetzlich und damit überhaupt einmal in ihrer Wirksamkeit analysieren zu können: Jakobson nennt diese paradigmatischen Prozesse der Bedeutungskreation »Sprach-Denken« (jazykovoe myšlenie):11 Война и меч, вы часто только мяч Лаптою занятых морей.12 (V. Chlebnikov) Krieg und Schwert [meč], ihr seid oft nur ein Ball [mjač] Der Schlagball spielenden Meere. Hast du von der inneren Flexion der Wörter gehört? Über die Kasus innerhalb des Wortes? […] Somit müssen versippte Worte weit auseinanderliegende Bedeutungen haben. […] Beg [die Flucht] wird durch Furcht hervorgerufen, aber das Wesen, auf das die Furcht gerichtet sein muß, ist bog [Gott].13

In diesem Sinne lässt sich die Jakobson- Formel, »die Poesie ist Sprache in ihrer ästhetischen Funktion«14 , erweitern um den Zusatz: eben damit ist sie aber auch Sprache in ihrer noetischen Funktion: als »Äußerung mit Ausrichtung auf den Ausdruck« schaffen die Worte die Dinge, die Signifi kanten schlagen um zu den Signifikaten und vollziehen damit den ureigensten Kipp-Effekt des Poetischen. Deshalb wird im Kunstwerk – so Jakobson – nicht »mit Gedanken« oder Ideen operiert, »sondern mit Sprach-Fakten«15, die nach den Regeln der Kreuzung und des Parallelismus »Sach-Fakten« generieren. Auf eine Kurzformel gebracht, lautet das Universalgesetz der poetischen Funktion bei Jakobson und damit auch für Teile der frühen russischen Avantgardedichtung (zumal bei Chlebnikov): Ein jeder poetischer Text präsentiert (im Sinne des ›SprachDenkens‹ und der Erzeugung poetischer ›Realitäten‹) (s)ein eigenes Paradigma, d. h. die Abfolge der syntagmatisch aufeinanderfolgenden Lexeme (bzw. Morpheme) A.A. Hansen-Löve: Velimir Chlebnikovs poetischer Kannibalismus; ders.: Velimir Chlebnikovs Onomatopoetik. 10 R. Jakobson: Die neueste russische Poesie (1921), 89 ff. 11 A.A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus, 128–145. 12 V.V. Chlebnikov: Sobranie sočinenij, Bd. I, 119. 13 Zit. bei R. Jakobson: Die neueste russische Poesie (1921), 97 14 Ebd., 31. 15 Ebd., 37 und 31; A.A. Hansen-Löve: Velimir Chlebnikovs poetischer Kannibalismus, 162 f. 9

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wird gleichzeitig projizierbar auf ihre paradigmatische Vertikal-Liste, wo die Sukzessivität der Abfolge im Syntagma zur Simultaneität ihrer Präsenz als Paradigma ›umkippt‹. Jakobson definiert die Äquivalenz scheinbar genau umgekehrt: handelt es sich dabei doch um die »Projektion der paradigmatischen Achse auf die syntagmatische«. Dies bedeutet aber nichts anderes, als die Auffassung der syntagmatischen Sequenzen bzw. die Sukzessivität der dortigen Elemente als paradigmatische Klasse und damit als Teil eines Kodes.16

II. Das ›Gesetz der Serie‹ als ›missing link‹ zwischen Avantgarde und Postmoderne 1. Späte Avantgarde – Absurde Literatur in Russland Denker und Schreiber des Absurden in Ost wie West17 – in Russland zumal Daniil Charms und Aleksandr Vvedenskij, im Westen Ionesco oder Beckett18 – operieren nicht mit der Negation oder Deformation der gegnerischen Welt oder der herrschenden Normen – wie etwa die Verfremdungskünstler des Dadaismus oder FutuSchematische Darstellung bei R. Posner: Strukturalismus in der Gedichtinterpretation, 148 ff.; E. Holenstein: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus. 17 Zur Integration der russischen Obėriu-Gruppe in den Rahmen der internationalen Dichtung des Absurden vgl. A.A. Hansen-Löve: Konzepte des Nichts; ders.: Paradoxien des Endlichen; zuletzt auch G. Lehmann: Fallen und Verschwinden. 18 A.A. Hansen-Löve: Der absurde Körper und seine Tot-Geburt. Zu Charms und Beckett vgl. D.V. Tokarev: Kurs na chudšee. 16

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rismus: Sie setzen vielmehr auf die ironische Übererfüllung des Planes und die markierte Affirmation des herrschenden Systems.19 Der Gegner wird mit seinen eigenen Waffen geschlagen, er wird nicht in offener Feldschlacht (verbal, argumentativ) überwältigt, er wird vielmehr in seinen eigenen Argumenten, seinen eigenen Tricks und Verfahren verstrickt und erstickt: Der Absurdist sitzt als Letzter der Avantgarde im Gegensatz zu dieser immer in der Etappe oder wie die Helden Dostoevskijs im ›Kellerloch‹. An die Stelle des innovativen Verfremdungs-Prinzips eines absichtsvollen Nichtverstehens bzw. Nicht-Wieder-Erkennens (neuznavanie)20 tritt nunmehr die Strategie eines Missverstehens, d. h. eine Interferenz oder schleichenden ›Verschiebung‹ auf der Ebene der Pragmatik und der Interpretanten. Herrschte in der futuristischen wie archaistischen Avantgarde der 10er / 20er Jahre das Prinzip der Diskontinuität, dominiert am Ende der Avantgarden das einer unmerklichen, nicht festzumachenden Schein-Kontinuität, die das Darstellbare gegen das Denkbare ausspielt. Der theoretische Diskurs der russischen Dichter des Absurden, sei er philosophisch, theologisch, poetologisch oder sonst wie motiviert, bedient sich aller erdenklichen Versatzstücke der herrschenden Diskurs-Szene und der entsprechenden rhetorischen oder argumentativen Tricks der Gegner, wobei vielfach offen bleibt, ob die so ›gebastelten‹ Texte ernst gemeint sind oder ironisch – oder beides zugleich. Eben darin besteht der besondere Reiz einer Auseinandersetzung mit dem Denken jener Autoren in Russland zwischen Ende der 20er und Anfang der 40er Jahre, die sich eine Zeitlang mit dem Gruppennamen ›Obėriu‹ (»Vereinigung der Realen Kunst«, Ende der 20er / Anfang der 30er Jahre) bezeichneten und – ohne diese Bezeichnung selbst verwendet zu haben – im Rückblick als die eigentlichen Vertreter einer russischen Dichtung des Absurden erkennbar werden.21 Während in beiden anderen Avantgardetypen – so im Futurismus wie im Konstruktivismus – das Prinzip des Maximalismus triumphierte, reduzierten sich die Absurdisten auf einen listigen Minimalismus, der die Großen Narrative auf ihre absolute Nullstufe zurückschraubte:

Ausführlich dazu A.A. Hansen-Löve: Konzepte des Nichts. Als solches definierte Viktor Šklovskij die Hauptfunktion der Verfremdung und damit der Kunst und Literatur (V.B. Šklovskij: Die Kunst als Verfahren [1916]). 21 Zur Formation der Obėriuty, dem 1927 bis etwa 1933 und eigentlich weit darüber hinaus existierenden »Ob-edinenie real’nogo iskusstva« (Vereinigung der Realkunst), zählten neben den Dichtern Daniil Charms (1905–1942), Aleksandr Vvedenskij (1904–1941) und Nikolaj Olejnikov (1898–1937) auch die mehr philosophisch ausgerichteten Autoren: Leonid Lipavskij (1904–1941) und der Musiktheoretiker und Philosoph Jakov Druskin (1902–1980), dessen gesammelte Schriften unter dem Titel Priznaki večnosti (Merkmale der Ewigkeit) nur in sehr kleinen Portionen im Schreibheft 40, 1992, 58–66 auf deutsch und zitatweise russisch bei J.-Ph. Jaccard: Daniil Harms et la fin de l’avant-garde russe publiziert wurden. Einen historisch reich dokumentierten Überblick über die Bewegung liefert: G. Lehmann: Fallen und Verschwinden. 19

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Da ging einmal ein Mensch ins Büro und traf unterwegs einen anderen Menschen, der soeben ein französisches Weißbrot gekauft hatte und sich auf dem Heimweg befand. Das ist eigentlich alles.22 (D. Charms)

In der Poetik des Obėriu – hier vor allem bei Daniil Charms und Aleksandr Vvedenskijs – wird die Kode-Orientierung der futuristischen Avantgarde abgelöst von der Dominante des Diskursiven:23 Das Gedicht ist nicht mehr – wie im Futurismus der 10er und 20er Jahre – ein neu geschaffenes semantisches Paradigma, das als Text präsentiert wird und den (Welt-)Kode (re-)konstruierbar machen soll; am Ende der Avantgarde reduzieren sich die Dichtung und ihr Denken auf einen kahlen Echoraum, in dem die Schritte der Macht ebenso widerhallen wie das kollektive Murmeln einer ins Totale veröffentlichten Litanei von Gegenreden, Selbstgesprächen – Geschwätz. In Rainer Grübels Studie zu Sirenen und Kometen in der Literatur findet sich eine Stellungnahme zu Jakobsons Äquivalenzprinzip, in der die Radikalität wie Einseitigkeit dieses Prinzips – wenn es denn absolut gesetzt wird – kritisiert wird: Das Gedicht ist kein Paradigma wie das Inventar der Personalpronomina, der grammatikalischen Flexion oder des Wortschatzes einer Sprache, sondern ein syntagmatisches Gefüge, das sich paradigmatischer Prinzipien bedient. Die paradigmatische Ordnung der Gleichwertigkeit steht auf schlechtem Fuße mit der syntagmatischen Folge ungleichwertiger Einheiten. Jakobson spricht auch nicht von der paradigmatischen Ordnung der syntagmatischen Reihe, sondern von der Überlagerung der Syntagmatik durch die Paradigmatik, vom »zusätzlichen Einführen eines Äquivalenzprinzips zu der Wortfolge.24

Als Beispiel für eine solche nominalistische Reduktion nennt Grübel Handkes berühmte Liste von Fußballernamen, wo auch ein Paradigma als Syntagma präsentiert wird. Abgesehen davon aber gilt für den Regelfall des Äquivalenzprinzips eben nicht die nackte Paradigmatisierung des Textes bzw. Textualisierung des Paradigmas, sondern eben die Überlagerung einer ansonsten referentiell funktionierenden, zur Aussage tendierenden Wortfolge. Man könnte auch sagen: die Wörter haben eine ›Folge‹, während die Worte – ohne ›folgerichtig‹ sein zu wollen – ihre immanente Wahrheit für sich behalten. Was im Falle der archaistisch-utopistischen Avantgarde zum »Archisem« (Ju.M. Lotman)25 regrediert, d. h. ein autonomes, universelles Sprach-Denken postuliert, verlagert sich in der späten Avantgarde des absurden Denkens in offene Serien, deren Elemente nicht mehr Lexeme sind, sondern ganze Motivkomplexe, verbale Situationen, Stereotypen: Hier wird das Jakobson’sche Äquivalenzprinzip nicht vom Paradigma aufs Syntagma projiziert, sondern von einer zufälligen, kontinD.I. Charms: Alle Fälle, 356. A.A. Hansen-Löve: Zur Periodisierung der russischen Moderne. 24 R. Grübel: Sirenen und Kometen, 3, zu Roman Jakobson: Linguistik und Poetik, Frankfurt a. M. 1997, 253. 25 Vgl. Ju.M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, 220 ff. 22 23

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genten Menge von Motiven bzw. Motivationen (›Pragmatemen‹, ›Diskursemen‹) auf einen offenen Text – offen als syntagmatische Anreihung ebenso wie als offen in Hinblick auf seine Interpretation zwischen Eins und Null: zwischen Sinn bzw. Über-Sinn (etwa im ›Alogismus‹ der Suprematisten)26 und Un-Sinn, Nonsense (bessmyslica) der Dichter des Absurden.

2. Paul Kammerers ›Gesetz der Serie‹ Für Paul Kammerer, den ersten, wenn auch vergessenen und verfemten Erfinder des Gesetzes der Serie (1919),27 definiert sich dieses im Sinne eines Über-Sinnes als Gesetzmäßigkeit der akausalen Ordnung, die sich in der Biosphäre ebenso findet wie in der Semiosphäre, in der Natur wie in der Alltagskultur. Die syntagmatische Abfolge von Ereignissen erscheint unter dem Aspekt einer kausal-empirischen Deutung mehr oder weniger zufällig, regellos, chaotisch,28 während sie auf der Ebene einer davon unabhängigen paranoiden Weltordnung eine eigene Regelhaft igkeit vermuten lässt, die Kammerer auf ebenso wahnwitzige wie konsequente Weise systematisiert. Er fand damit nicht nur wohlwollende Zustimmung in der ultramodernen Physik Einsteins oder Paulis, sondern auch in eher hermetischen Konzepten wie C.G. Jungs Idee der ›Synchronizität‹29, von dem sich im übrigen Freud scharf abgrenzt. Freud glaubte an »äußere Zufälle«, die gleichwohl den Blick lenken hinter den Vorhang der vorgeschützten Motivationen: Die Fehlleistungen summieren sich zu einer Psychopathologie des Alltagslebens30, Gesetze des Zufalls aber, die außerpsychisch wirksam sind, wollte der Empiriker Freud durchaus nicht gelten lassen: Er verbannte sie in die Rumpelkammer der Aberglauben und Mystizismen: Ich glaube nicht, dass ein Ereignis, an dessen Zustandekommen mein Seelenleben unbeteiligt ist, mich etwas Verborgenes über die zukünft ige Gestaltung der Realität lehren kann; ich glaube aber, dass eine unbeabsichtigte Äußerung meiner eigenen Seelentätigkeit mir allerdings etwas Verborgenes enthüllt, was wiederum nur meinem Seelenleben angehört; ich glaube zwar an äußeren (realen) Zufall, aber nicht an innere (psychische) Zufälligkeit. […] [Umgekehrt] glaubt der Abergläubische, dass es psychische Zufälligkeiten gibt […]. Das Verborgene bei ihm [dem Abergläubischen] entspricht dem Unbewußten bei mir, und der Zwang, den Zufall nicht als Zufall gelten zu lassen, sondern ihn zu deuten, ist uns beiden gemeinsam […]. Weil der Abergläubische von der Motivierung der eigenen zufälligen Handlungen nichts weiß, und A.A. Hansen-Löve: Die Kunst ist nicht gestürzt, 263 ff. Zu Paul Kammerer vgl. die sehr engagierte Monographie von A. Koestler: Der Krötenküsser. In der Kunst- und Kulturwissenschaft hat Kammerers Gesetz der Serie bislang kaum Widerhall gefunden. Einige Bemerkungen finden sich zuletzt bei H. Ritter: Der Zufallsjäger. 28 Vgl. R. Lachmann: Zum Zufall in der Literatur. 29 Vgl. zusammenfassend dazu F.D. Peat: Synchronizität. 30 S. Freud: Gesammelte Werke, Bd. VIII, 210. 26 27

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weil die Tatsache dieser Motivierung nach einem Platze in seiner Anerkennung drängt, ist er genötigt, sie durch Verschiebung in der Außenwelt unterzubringen.31

Paul Kammerer war alles andere als ein Mystiker oder Okkultist – im Gegenteil. Er wollte jenen Ereignisfolgen, die auf Wiederholung, Analogie und Homologie basierten, eine feste Grundlage geben, also das Paradoxon bewältigen, eine empirische, biologische Erklärung für akausale Folgen zu erschließen. Seine Beispielsammlung (Das Gesetz der Serie, 24–35) liest sich dabei stellenweise wie eine Sammlung von Daniil Charms’ Fällen, in denen ja auch der ›Zu-fall‹ triumphiert, der in jedem ›Fall‹ steckt (im Russischen bedeutet slučaj beides zugleich: ›Zu-fall‹ und ›Vor-fall‹).32 Am 27. August 1907 öff ne ich in der Stadtbahn ein Fenster; ein brummiger alter Herr steht sofort auf und schmeißt es zu. Am 30. August 1907 sagt mein Schwager E.v.W. in der Stadtbahn, er müsse sich sehr vor Zugluft hüten; kaum hört dies eine böse aussehende alte Dame, als sie sich erhebt und zwei Fenster öff net.33

Die Komik der ›Beispielsammlung‹ Kammerers ist eine durchaus unfreiwillige – ebenso wie übrigens seine todernsten Erklärungsversuche – , da alle Widersprüche von ›Zufall‹ und ›Notwendigkeit‹, Kontingenz und Stringenz, Chaos und Ordnung, Regellosigkeit und Gesetzmäßigkeit, Unabsichtlichkeit und Planung letztlich im Sinne einer konzeptuellen Apophatik 34 undefinierbar bleiben: Denn entweder es handelt sich um echte ›Zufälligkeiten‹, um eine ›Koinzidenz‹ oder ›Synchronizität‹, die jenseits einer nachvollziehbaren Kausalität auftreten; oder es handelt sich um Erklärungsversuche ›ex post‹, die aufgrund einer fi xierten Intentionalität eine konditionierte Erwartungshaltung bestätigen und damit den Tatbestand einer Selbstmanipulation des Beobachters erfüllen. S. Freud: Gesammelte Werke, Bd. IV, 286 f. Dazu S. Kofmann: Die Kindheit der Kunst, 220. Vgl. die deutsche Ausgabe von Peter Urban: D. Charms: Alle Fälle. 33 P. Kammerer: Das Gesetz der Serie, 79 (Hervorhebung des Autors). 34 Die ›Apophatik‹ ist von Anfang an – in der Philosophie wie in der Theologie (hier als ›negative Theologie‹) – fi xiert auf Spekulationen über das Unendliche und Unsägliche: Es geht immer um das Paradoxon eines Sprechens über das Unaussprechliche, um eine Verbalisierung außeroder übersemiotischer Sphären, welcher die ›Kataphatik‹ als offenbarende, inkarnierte Rede des Logos gegenübersteht. Eben dieser Logozentrismus war es, der in der Postmoderne (hier vor allem bei J. Derrida) gegenüber Formen des apophatischen Diskurses abgewertet wurde. Vgl. H. TheillWunder: Die archaische Verborgenheit, 11 ff., 148 ff. Zur Apophatik im Rahmen des postmodernen Philosophierens vgl. stellvertretend für so vieles: J. Derrida: Wie nicht sprechen. G. Deleuze entwickelt in seiner Logik des Sinns eine – immer wieder auf Carroll (ebd., 13 f., 101) und damit auf die apophatische und absurdistische Tradition – verweisende Theorie des Paradoxalen, die das Feld der eigentlichen Philosophie (die hier immer als Diskurs und Anti-SystemDenken verstanden wird) einnimmt (ebd., 288) und das »Undenkbare« – also die Differenz – denkt (ebd.). Im Paradoxon werden »zwei Richtungen, zwei Sinnprägungen zugleich« – die einander ausschließen – bejaht (15) und im Wege von »Kettenschlüssen, d. h. Serien von Fragesätzen« entfaltet. Dieses paradoxale Diskursdenken fi ndet Deleuze bei den Stoikern ebenso wie in den zenbuddhistischen Koans oder im angelsächsischen non-sense (24.). Auch D. Charms (Eine Fliege durchschlug die Stirn …, 33) spricht von »Gesetzmäßigkeiten der alogischen Kette«. 31

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Am ehesten noch könnte man den bei Kammerer konstatierten regelhaften Zufällen bzw. Zufallsregeln den Status von ›Abduktionen‹ zuordnen, wie sie Th. A. Sebeok und J. Umiker-Sebeok – ausgehend von Ch.S. Peirce und den ›Fällen‹ des Sherlock Holmes – auf scharfsinnige Weise entwickelt haben (»Du kennst meine Methode«, 1982). Es handelt sich dabei um ›Ad-hoc-Regeln‹, deren Relevanz nicht universell, sondern partiell gilt – also hypothetische Annahmen, die aus dem jeweiligen, konkreten, relativ eng begrenzten pragmatischen Kontext abgeleitet sind. Man könnte auch von ›Pragma-Regeln‹ sprechen, die ›Pragmateme‹35 – d. h. kommunikative, interaktive, kulturelle Stereotypen konfigurieren, deren Wahrscheinlichkeit eben jenen Zufalls-Witz implizieren, wie er ja auch in fi ktionalen Erzählsituationen gang und gäbe ist, wenn etwa gesagt wird, etwas würde ›wie im Roman‹ – also überreguliert, sehr formal, überstrukturiert – passieren. Dabei handelt es sich um die berühmten, sehr durchschaubaren ›Zufälle‹, die aus einem kontingenten ›Geschehen‹ die scheinbare narrative Ordnung einer ›Geschichte‹ bzw. einer ›Erzählung‹ provozieren: zufällige Begegnungen der Helden, Verwandtschaft sbeziehungen, schlichte Hasard-Situationen (im Sinne der Spieltheorie), wie sie etwa in M. Ju. Lermontovs Novelle »Der Fatalist« seinen epochalen Roman Ein Held unserer Zeit beschließen.36 Die gekünstelten, konstruierten ›Zufälligkeiten‹ von Sujets bzw. Narrationen verdanken ihre Regeln nicht einer Realitätserfahrung, sondern einer der Systembedingtheit (uslovnost’) von Erzählkonstrukten, also Sujets, deren markante, prägnante Überordnung ganz klar der auktorialen Rolle eines dominanten ›deus ex machina‹ entspricht.37 Eben diese massive Systembedingtheit auch des realistischen Erzählens – etwa in der klassischen russischen Prosa des 19. Jahrhunderts – war es denn auch, die – mindestens so stark wie die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts – die pragmatische Poetik der Oberiuten bestimmte. Was bei Kammerer eine entmystifizierte zweite Ordnung unterhalb der ›Logik des Sinns‹ und der empirischen Alltagsvernunft darstellt, wird bei Charms und den seinen aus der ›transfiniten‹, transzendentalen Ordnung eines noumenalen Jenseits in eine ›cisfinite‹ Diesseitigkeit verlagert,38 deren Evidenz prä- oder postlogisch wirksam wird. Was bei Kammerer Ver- und Bewunderung auslöst – nämlich eine Art paranoid erahnter Großer Plan hinter den Zufällen des banalen Alltags – , schrumpft bei Charms zu einem ›Kleinen Plan‹, zu einer »kleinen Literatur« (Deleuze / Guattari)39, in der die Großen Sujets ad absurdum Wenn ›-eme‹ die jeweils kleinsten systematischen Einheiten markieren (Phon-eme, Morpheme etc.), dann muss es auch ›Pragmat-eme‹ geben: als kleinste stereotype Elemente von Standardsituationen der kulturellen Pragmatik und den dazugehörigen diskursiven Ritualen (Tischreden, Grußformeln, Dresscodes bei Begräbnissen etc.). Eben dieses pragmatische Material ist es, wovon die Absurdisten ausgehen. 36 Ausführlicher dazu A.A. Hansen-Löve: Pečorin als Frau und Pferd. 37 Das Sujet als ›deus ex machina‹ behandelt A.K. Žolkovskij: Deus ex machina. 38 Zum ›cisfi nitum‹ vgl. D.I. Charms: Die Kunst ist ein Schrank, 171–172. 39 G. Deleuze / F. Guattari: Kafk a. 35

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geführt werden – und damit das Narrative des Daseins – durch seine maßlose Übersteigerung (einer vorgeblichen Anbiederung) – affirmiert und zugleich absolut diskreditiert wird. Wir wissen nicht, ob wir lachen sollen oder ernsthaft akzeptieren, dass wir vor großen Entdeckungen stehen. Hier eines der ›idiotischsten‹40 Beispiele aus der Sammlung Kammerers: Samstag, den 8. Mai 1915 [die genaue Zeitangabe simuliert faktische Exaktheit], sagt ein kleiner Knabe, in der Straßenbahn beim Hofburgtheater in Wien vorüberfahrend: »Mutter, das is a Kirch’n!« – Donnerstag, den 13. Mai, fragt ein Bub, auf das Wiener Vivarium im Prater zeigend: »Mutter, is das a Kirch’n?« (Mitgeteilt von einer Frau, die es selbst mit angehört hat).41

Eine scheinbar ganz zufällige Anhäufung äquiphoner Namen liefert folgendes durchaus bescheidene Beispiel: In der »Österreichischen Illustrierten Rundschau« IV 24 vom 9. März 1917, S. 670, findet sich ein Aufsatz »Über das Einküchenhaus« von E. v. FILEK: »Man hat in Österreich die Einküchenhausfrage schon verschiedentlich angeschnitten. Es sprach vor mehr als sieben Jahren OTTO FICK, der Begründer des ersten derartigen Hauses in Kopenhagen, auf Aufforderung AUGUSTE FICKERTs über seine Erfahrungen […].42

Auch das Wortspiel »Kammersänger Kammerer«43 schafft eine – wenn auch recht wackelige – Brücke zwischen einer etymologisierenden Namen-Äquivalenz und der Situationskomik der Gesetzes der Serie. Nicht besser steht es um die perseverierenden ›Stumpfsinnverse‹, die im Übrigen deutlich machen, wie sehr in den deutschsprachigen Kulturen der Reim als semantisches Verfahren ›abgewirtschaftet‹ hatte, was dieses Kunstmittel denn auch für Karnevalsreden ebenso prädestinierte wie für dadaistische Parodien: Es war ein Elefant in Celebes, Der sah von fern was Gelebes.44

Die avantgardistischen »Kalauer« hatten in Russland dagegen einen durchaus nicht primär komischen Charakter, sondern einen semantischen; erst in der Spätavantgarde wird der immanente Nonsense-Effekt solcher Wortspiele – ganz im Sinne der »puns« bei Edward Lear oder Lewis Carroll45 – aktiviert. In Freuds Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten46 finden sich zahlreiche Beispiele dieses Genres, Zur Selbststilisierung der Obėriuty – zumal von Charms – als ›Idioten‹ vgl. A.A. HansenLöve: Konzepte des Nichts. 41 P. Kammerer: Das Gesetz der Serie, 25. 42 Ebd., 25 (Hervorhebung des Autors). 43 Ebd., 26. 44 Ebd., 29. 45 Vgl. die verschiedenen Nonsense-Gattungen in der Sammlung von C. Wells: A Nonsense Anthology. 46 Gesammelte Werke, Bd. IV, 46 ff. 40

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wobei hier freilich dem ›Non-Sense‹ ein tieferer oder jedenfalls signifi kanter ›Sense‹ zugesprochen wird. Dass bei dieser Auflösung der Witze auch ihre Komik zugunsten einer nicht selten sehr banalen Einsicht geopfert wird, war wohl unvermeidlich; bisweilen aber schimmert auch bei Freud der für Kammerer so typische bürokratische Tonfall einer wissenschaft lichen ›Trockenheit‹ durch, die mit den nicht selten ›saftigen‹ Objekten der Darstellung und delikaten Situationen in einem seltsamen Missverhältnis stehen. Eben diese pseudowissenschaft liche Objektivität oder philosophische Abstraktheit prägt ja auch den ›Schülerwitz‹ bei Lewis Carroll ebenso wie bei Charms und den Obėriuty, die ja über durchaus intensive und teilweise gemeinsame Schulerfahrungen verfügen konnten.47 Das Problem der Zufälle besteht unter anderem darin, dass eine gesteigerte Aufmerksamkeit, die ihnen – noch dazu von einem professionellen Beobachter – zuteil wird, den Garaus macht, genauer: ihre Glaubwürdigkeit minimiert. Wenn jemand etwa ›entdeckt‹, es würden extrem wenige dunkelgrüne Autos die Straßen befahren – immer im Vergleich zu den jeweiligen Modefarben – , dann wird er alsbald feststellen müssen, dass er vom Zeitpunkt seiner gesteigerten Apperzeptivität an schlichtweg überall grüne Autos sieht, während alle nicht-grünen in den Hintergrund treten. Ähnliches kennzeichnet ja auch die ›déformation professionelle‹, die den Profi vom Laien unterscheidet und für diesen eines seiner – leicht parodierbaren – Hauptmerkmale bildet. In diesem Sinne war denn auch Kammerer ein professioneller Zufallssucher, der sich eigens auf immer dieselbe Parkbank im Wiener Burggarten setzte, um sich vom gehäuften Auftreten von wem und was auch immer frappieren zu lassen. Das ›Anekdotische‹ bei Charms und den Obėriuty reduziert sich ja nicht auf den privaten oder gar intimen, sehr persönlichen, inoffiziellen Charakter der geschilderten Ereignisse (die ›anékdota‹ sind ja allemal ›inedita‹, d. h. unpublizierte Sachen)48: das ankedotische Interesse richtet sich eben auf ›Fälle‹, die dadurch zu solchen werden, dass sie zum Gegenstand von (Kurz-) Texten erhoben werden. Damit übernimmt der Autor die experimentelle Rolle eines ›Randomisators‹, um die Frage zu klären, ob es überhaupt möglich sei, nicht zu erzählen: gemäß dem vom radikalen Konstruktivismus begründeten Prinzip, dass es unmöglich sei, »nicht nicht zu kommunizieren«49. In diesem (Un-)Sinne sind alle erzählten Zufälle eben auch ›Fälle‹ – selbst dann, wenn ihnen jede Kausalität abgeht, jede Motivation, jede offensichtliche 47 Zum Schul- bzw. Studentenwitz bei Carroll und den Oberiuten vgl. A.A. Hansen-Löve: Paradoxien des Endlichen. Unsinnsfiguren im Kunstdenken der russischen Dichter des Absurden. Mit Vorliebe exerziert Carroll Denk-(Sport-)Spiele durch, in denen (Schul-)Bildungs-Formeln durchgespielt werden, die als feste Diskurs-Komplexe frei verschiebbare Spielsteine im Spiel mit der ›Bildung‹ darstellen. 48 Das Paradoxon der Gattung ›Anekdota‹ – man denke an jene des Prokopios über Justinian und Theodora – besteht ja eben im Reiz des Verbotenen der ›inedita‹, die gerade deshalb dem Leser den Eindruck einer Mitwisserschaft vermittelt, die durch die Veröffentlichung de fakto ad absurdum geführt wird. 49 P. Watzlawick, J.H. Beavin u. a.: Menschliche Kommunikation; A.A. Hansen-Löve: Paradoxien des Endlichen.

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Sinnhaftigkeit. Gleichzeitig bleibt aber auch die Frage offen, ob sie über eine verborgene, geheime, kryptische Sinngebung verfügen, die der ›sofisticated reader‹ entdecken soll. Wenn aber beides fehlt – was dann? Dann bleibt vielleicht nur jener »Verdacht«, den Karl Kraus mit der Psychoanalyse in die Welt gekommen sah – oder Boris Groys als das eigentliche Merkmal (postmoderner) Medialität entlarvt.50 So ist denn auch Kammerers »Systematik der Serien«51 ebenso ›seriell‹ und damit der Beweislast des ›Logischen‹, ›Empirischen‹ enthoben, während die daraus abgeleiteten Gesetzmäßigkeiten ganz im Geiste des herrschenden Positivismus im Diskursgewand der begrifflichen wie stilistischen Autorität daherkommen. So finden wir etwa Sätze, die den scientistischen Diskurs, ja das Wissenschaft liche und Philosophische selbst zu parodieren scheinen – ohne dies freilich zu tun: um seriales Geschehen verzeichnen zu dürfen, [nahmen wir] eine ›Wiederholung gleicher‹ oder auch nur ›ähnlicher Dinge und Ereignisse‹ in Anspruch […]. Das Weltgeschehen neigt zwar, wie wir zu zeigen bemüht sind, zu unablässigen Wiederholungen; aber zugleich auch, wie niemand leugnet, zur größten Mannigfaltigkeit […].52

Wie könnte man einen solchen Satz bestreiten, dessen Inhalt völlig ›leer‹ ist, dessen Wertanspruch und diskursive Gestik dafür umso kraft voller in Erscheinung treten. Überhaupt scheint – jedenfalls in absurdistischen Genres oder in totalitären – die Sinnleere der Mitteilung durch eine Wertfülle kompensiert zu werden, die vor einem solchen Hintergrund umso autonomer oder aber auch autoritärer auft ritt. Noch etwas fällt bei Kammerer auf, was bei Charms – mit freilich anderen Zielsetzungen – gleichfalls eine bedeutende Rolle spielt: Der Wissenschaft ler bedient sich nicht nur des paranoiden Diskurses eines Autodidakten bzw. Allein-Entdeckers einer ansonsten von keinem anderen noch gesehenen Erscheinung;53 die von Kammerer angeführten Beispiele tragen vielfach das Merkmal des Kuriosen, Gesuchten, Nebensächlichen, Minderwertigen, Nutzlosen, Beiläufigen, Idiotischen. Diese Eigenschaften teilen im Übrigen solche Beweisstücke mit den zumeist recht bescheidenen oder abseitigen Funktionfeldern des Magisch-Okkulten, das sich seltsamerweise einer praktischen Nutzung – etwa der Goldgewinnung in der Alchimie, der technischen Innovatorik oder überhaupt praktischen Umsetzung – weitgehend entzieht. Die magischen Praktiken beschränken sich auf das Verbiegen von Gabeln, das Erraten von Verstecken unnötiger Dinge oder die Vorhersage irrelevanter Ereignisse. Sie sind ebenso flüchtig wie unbeständig und versagen daher im entscheidenden Moment ihren Dienst. Letztlich haben sie etwas Beschämendes,

B. Groys: Unter Verdacht; dazu A.A. Hansen-Löve: Vom Rußland-Komplex zum Medium des Verdachts. 51 P. Kammerer: Das Gesetz der Serie, 71 ff. 52 Ebd., 71 f. 53 Zur Bedeutung des (verkannten) Erfi nderschicksals bzw. des Dilettantismus in der russischen Wissenskultur vgl. M. Hagemeister: »Unser Körper muss unser Werk sein«, 15 ff. 50

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wie die von Kammerer erwähnte »Tücke des Objekts«54 oder die – in jener Epoche von Charly Chaplin zur Perfektion getriebenen Verfahren des ›slap stick‹, die wir als mechanistisches Wiederholungsverfahren (im Sinne Henri Bergsons)55 im Stummfi lm wie in den absurden Welten bei Charms und Vvedenskij wiederfinden. Ähnlich steht es um die Regeln des Seriellen, die sich auf Phänomene beziehen, die oft mals aufgrund ihrer Kuriosität einen ästhetischen Charakter annehmen, der dann bei Charms zu einer Poetik des Zufalls umgeformt werden. So könnte etwa folgendes Beispiel bei Kammerer auch von Charms stammen: Sonntag, den 29. Oktober 1905, besuchten Mr. BLEND (ein Gast aus England), die Brüder KARL und HANS PRZ. [gemeint ist H. Przibram, der immer wieder auftaucht und ein Vorgesetzter Kammerers war – A. H.-L.] miteinander die römische Abteilung des Wiener kunsthistorischen Hofmuseums. Eine Gruppe kleiner Figürchen fiel ihnen auf, Knaben darstellend, die auf Händen gehen. Als sie ihren Weg fortsetzten und in die Körnergasse kamen, sahen sie einige Straßenjungen, von denen einer mitten auf der Gasse anfing, auf den Händen zu gehen.56

Mehr als die Hälfte dieses denkwürdigen Falles besteht aus Diskursmasse, die über keinen (inhaltlichen) Informationswert verfügt, sondern nur die Authentizität des Ereignisses signalisieren soll, dessen Beliebigkeit und relative Uninteressantheit (das Gehen auf Händen) dazu dient, eine Analogieserie zu belegen bzw. zu illustrieren, nicht aber eine eigenwertige Narratio vorzuführen, die auf eigenen Beinen stehen könnte. Diese Verschiebung zwischen Text-Thema und Text-Rhema zeichnet im übrigen auch die absurden Genres aus, ja machen einen wesentlichen Teil ihrer komischen wie intellektuellen Wirkung aus. Die Beliebigkeit und damit auch leichte Austauschbarkeit des Vergleichmaterials steht in umgekehrtem Verhältnis zu seinem argumentativen Gewicht: Je weniger Eigenwert die Beispielsfakten haben, um so größer ihr diskursiver Effekt. Hier kippt denn auch das Paradigmatische einer Bedeutungsklasse in das Paradigma als Beispielsatz, der dazu dient, eine Regel zu belegen, eine Erkenntnis zu illustrieren, ein Gesetz zu affirmieren, auch wenn es das der Gesetz der Serie wäre. Und doch geht uns die Frage nicht aus dem Kopf, ob die scheinbar nebensächlichen Informationen – etwa das ›Auf-den-Händen-Gehen‹ – nicht doch einen zusätzlichen Sinn in sich birgt, eine karnevalistische Note, ein philosophisches Motiv der verkehrten Welt, eine historische Anspielung – oder was auch immer. Kammerer war freilich nicht so verblendet, das den Zufällen innewohnende Paradoxon zu verkennen, welches darin gipfelt, dass ein Zufall ›derart zur Regel‹ gemacht wird, »dass sein Begriff aufgehoben erscheint«57: So würde denn auch das ›Gesetz P. Kammerer: Das Gesetz der Serie, 349. H. Bergson: Das Lachen, 10 f., 42 ff. (»wenn eine Person wie eine Sache erscheint«); ders. zur Wiederholungskomik: ebd., 62 ff. 56 P. Kammerer: Das Gesetz der Serie, 74 (Hervorhebung des Autors). 57 Ebd., 93. 54 55

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der Serie‹ schlichtweg ein Paradoxon sein, wenn man darunter eine – wie man hier sagen möchte – Regel mit beschränkter Haftung versteht. Es wäre dann das Paradoxale, das der Regel die Strenge nimmt und ihr eine Anmut(ung) des Poetischen verleiht – einer Ordnungswelt, die – wie oben im Falle der linguistisch inkorrekten Etymologie bei Jakobson expliziert – einer imaginären, psychischen, rein intellektuellen Realität entspricht: Diese soll aber nichts mimetisch abbilden, was als Wirklichkeit gelten kann, sondern bloß modellhaft vorzeichnen, was noetische oder poetische Wirksamkeit insinuiert. Dabei kommt es immer wieder zu einer paradoxalen Umkehrung zwischen der Exaktheit, ja Überpräzision der Orts- und Personenangaben, die den ›Rahmen‹ der Zufallsanekdote bilden, und der Undefinierbarkeit jener Gesetzmäßigkeit, welche die Zufälle selbst unter dem Aspekt einer Serienbildung – also einer (wenn auch irrationalen, alogischen, aleatorischen) Gesetzhaftigkeit an- und zuordnet. Es handelt sich dabei im Übrigen um genau jenes Verfahren der (scheinbaren) Redundanz oder inadäquaten Überinformation, die im ›skaz des primitiven Sprechers‹ gerade in der russischen Prosa des Realismus simuliert wird und letztlich als einer der fundamentalen Ausgangspunkte einer analytischen Narratologie der Formalisten diente. Gerade an diese klassische ›skaz‹-Tradition knüpften die Obėriuty mit Vorliebe an.58 Am 17. April 1906 [warum nicht am 1. April? – A. H.-L.] zeigten die Uhr des Raimundtheaters in Wien [warum nicht des Burgtheaters oder eines anderen Etablissements?], die Uhr meines Bruders OTTO und meine Uhr genau 8 Uhr 14 Minuten [es könnte auch eine jede andere Uhrzeit sein], als sie gleichzeitig bzw. so rasch hintereinander, wie der Blick von einem Zifferblatt zum anderen gleiten kann, verglichen wurden. Später stelle sich heraus, dass alle drei Uhren nicht richtig gegangen, sondern auf die Minute genau um gleichviel (um wieviel, versäumte ich zu notieren, es werden einige Minuten gewesen sein) der richtigen Wiener Zeit vorausgegangen waren.59

Auch hier ist nicht zu übersehen, dass die geschilderte Synchronizität – übrigens eine auf falscher chronographischer Grundlage! – gar keinen anderen Zweck erfüllt, als das Gesetz einer »simultanen Identitätsserie«60 zu illustrieren. Wenn man schon fundamentale Zweifel an den Ergebnissen der Forschungen und Deduktionen Kammerers hegt (dies gilt letztlich auch für seine lamarckistischen Krötenexperimente), so kann man doch uneingeschränkt die Bloßlegung des zeitgenössischen Wissenschaft sdiskurses und seine Exaktheitsansprüche, seine Präpotenz, seine Dünkel- und Vorurteilshaft igkeit und seine intellektuelle Gewalttätigkeit studieren – ein Effekt, den Kammerer zwar nur sehr bedingt Die Theorie des ›skaz‹, also der stilisierten mündlichen Rede im Rahmen von Schriftgenres der realistischen Prosa (zumal bei Gogol, Dostoevskij oder Leskov), war für die Entwicklung der formalistischen Erzähltheorie von zentraler Bedeutung (A.A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus, 274–303). 59 P. Kammerer: Das Gesetz der Serie, 103 (Hervorhebung des Autors). 60 Ebd. 58

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anstrebte, der für die (russischen) Dichter des Absurden aber freilich von zentraler Bedeutung war. Während die frühe Avantgarde und der junge Formalismus noch an der ›Entblößung der (poetischen) Verfahren‹ (obnaženie priema) bastelten, machten sich die Absurdisten gleich an die ›Entlarvung‹ (obličenie) der autoritären Diskurslandschaften, genauer: Diskursfestungen, Sprachgefängnisse, Sprechverbote und idiotischen Redeweisen. In diesem Sinne bilden sie denn auch die Brücke zwischen einer utopielosen, projektionsfreien Spätavantgarde und auslaufenden Moderne zu den Diskurspoetiken der Postmoderne, der Konzeptualismen und Kulturpoetiken, die seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts auch in Russland dominierten. Der Hauptunterschied zu Paul Kammerer besteht schließlich darin, dass Charms und sein Freundeskreis an einer Zufallsordnung arbeiteten, die sie gleichzeitig total in Frage stellten und permanent ad absurdum führten. Kammerer suchte nach positiven, biologischen, naturgestützten Gesetzmäßigkeiten, die das Zufällige des Zufalls letztlich aufhoben, da eine – wie auch immer – alogische Regel ja keinen Zufall mehr zulassen würde. Neben Kausalität und Finalität etablierte Kammerer also ein drittes Prinzip – eben die Serialität.61 Diese reguliert Ereignisfolgen, die »dem direkten Hervorgerufensein durch eine gemeinsame Ursache entrückt erscheinen«62 , aber eben doch – wie der Wahnsinn – Methode haben. Während aber Kammerer bei allem analytischen Scharfsinn letztlich doch im Geiste des Monismus und einem analogiefi xierten Ordnungsdenken verhaftet bleibt, geht den russischen Obėriuty die positive Basis in der Biosphäre ab: Ihre Hermetik ist eine durchaus prekäre und die Rückschlüsse auf sinnstiftende Synchronizitäten der menschlichen Existenz äußerst fragwürdig. Kammerer denkt in Kontinuitäten und Prozessen der Ähnlichkeitsbildung bzw. Wiederholung, Attraktion und Synthese, Imitation und Trägheit, Mimikry und Periodizität, Gedächtnishaftigkeit (das ›Mnemische‹) und Evolution;63 Charms und die seinen – immer noch avantgardistisch geprägt – denken in Kategorien der Diskontinuität, Ungegenständlichkeit, Nullität. An die Stelle des großen, erhabenen Vergessens – als Gegenform zum Gedächtnis – treten kleine Formen der ›Vergesslichkeit‹, an die Stelle der stolzen Entfremdung und Einsamkeit des in der Moderne immer noch spätromantischen Künstlermenschen tritt die grausame Tatsache der Gottverlassenheit, die in einer irreparablen Welt nichts Gutes verheißt. Kammerer ging es in seinem Gesetz der Serie um sein Herzensanliegen: den Nachweis der Vererbung erworbener Eigenschaften, der ihm ja auch im Paradies der Neolamarckisten – der Sowjetunion – eine Professur am Laborimperium Pawlows eingetragen hatte. Ob es ein Zufall war, dass er dieser ›Berufung‹ durch seinen Selbstmord zuvorgekommen war, bleibe dahingestellt. Vielleicht waren ihm die Sowjetunion und ihre stählerne Technikbegeisterung doch etwas unheimlich 61 62 63

Ebd., 102. Ebd. Ebd., 119 f., 129 f.

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geworden, so dass ein Kopfschuss auf dem Schneeberg südlich von Wien immer noch mehr Sicherheit versprach als die große Reise in den Osten.64 Charms und die Obėriuty waren nicht nur weit entfernt von der Idee der Vererbung, eine solche ›erworbener Eigenschaften‹ konnte nach der Phase von ›Kultur 1‹ (der utopischen Frühphase der Sowjetunion) sogar eher als Drohung empfunden werden.65 Jedenfalls dachten die Kunstdenker des Absurden prinzipiell antigenerisch angesichts der Rückkehr des Genetischen und letztlich Rassistischen in den totalitären Systemen ihrer Epoche. Während Kammerer in der ›Mneme‹ das erhaltende Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, ja des gesamten Universums erkennen wollte, konnte davon in der Welt der Absurden um 1930 keine Rede sein – im Gegenteil. Die Kunst folgte nicht mehr der harmonikalen ›analogia entis‹, auf die Kammerer immer noch rekurriert:66 sie diskreditiert das Analoge und die historischen Annalen als das anale Sammeln von Mist, Kot, Blödsinn, den der Dichter ›atonal‹, ungegenständlich, antimnemisch fortdenkt. Auch die »Ableitung des zeitlichen Moments aus dem räumlichen«, von dem Kammerer schwärmt67, erscheint schon im Geiste der Bergson’schen Zeitphilosophie illegitim und allzu sehr verhaftet in den Raumordnungen der Alten Welt, die zur selben Zeit auch Chlebnikov in seiner Geschichtsmathematik unterlaufen wollte. Diese verfügt jedenfalls über jenen utopischen Optimismus, der jener ›Schönen Neuen Welt‹ näher steht als ihren totalitären Karikaturen im Rahmen des Stalinismus oder Nazismus. Dass Charms und die Obėriuty mit den Ideen, ja auch mit der schillernden Gestalt Paul Kammerers in Kontakt kommen konnten, ist durchaus nicht unwahrscheinlich: War Kammerer ja in der frühen Sowjetunion einige Zeit so populär, dass niemand anderer als Lunačarskij selbst zwei Jahre nach dessen Tod diesen zum Helden eines sehr erfolgreichen Kinofilms machte, 68 in dem die mit dem Wiener Biologen und Zufallsdenker verknüpften Hoffnungen auf die Züchtung eines ›Neuen Menschen‹ noch einmal – an der Schwelle zum Stalinismus – über den Tod triumphieren sollten. Zum Gesamtkomplex des Fälschungsskandals vgl. emphatisch die Monographie von A. Koestler: Der Krötenküsser, die dem »Fall des Biologen Paul Kammerer« gewidmet ist und das Ziel verfolgt, den in Verruf geratenen Wissenschaft ler und Vererbungsforscher posthum zu rehabilitieren. Dass Kammerer in der frühen Sowjetunion enormes Ansehen genoss, lag zweifellos an seiner Vererbungslehre, deren optimistische wie utopische Projektion – die Kammerer übrigens durchaus nicht teilte – mit dem bolschewistischen Ideal eines ›Neuen Menschen‹ zu korrespondieren schien. Vgl. dazu M. Hagemeister: »Unser Körper muss unser Werk sein« (Einleitung) und auf Pavlov bezogen die Monographie von T. Rüting: Pavlov und der Neue Mensch, 135. 65 V. Paperny (Kul’tura dva) bezeichnet die Avantgardephase der Sowjetunion als »Kultur 1«, die des Stalinismus danach als »Kultur 2«. 66 P. Kammerer: Das Gesetz der Serie, 313. 67 Ebd., 315. 68 Der Film heißt »Salamandra« und bezieht sich auf die Salamander-Experimente Kammerers (A. Koestler: Der Krötenküsser, 13 f.). Der Streifen »war so erfolgreich«, dass ihn Arthur Koestler »noch sechs Jahre« nach Kammerers Tod in Moskau sehen konnte. 64

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3. Kettenreaktionen – Eskalationen – Katastrophen Der Körper in der absurden Welt der Obėriuty69 ›verträgt nichts‹, er steht permanent an der Kippe zur Auflösung in seine Bestandteile (rasčlenenie) und folgt damit dem mörderischen ›Gesetz der Serie‹, das nicht nur den Vielfraß bestraft, sondern auch den, der davon erfährt bzw. einfach wahllos jeden: Однажды Орлов объелся толченым горохом и умер. А Крылов, узнав об этом, тоже умер. А Спиридонов умер сам собой. А жена Спиридонова упала с буфета и тоже умерла. […] Хорошие люди и не умеют поставить себя на твердую ногу.70 Einst aß Orlov zu viel Erbsenbrei und starb. Und als Krylov davon erfuhr, starb auch er. Und Spiridonov starb von ganz allein. Und Spiridonovs Frau fiel von der Kommode und starb ebenfalls. […] Lauter gute Menschen, und können keinen kühlen Kopf bewahren.71

Die Kombination des willkürlichen Ess-Aktes72 mit dem unwillkürlichen Verschlucken oder anderen Körperreflexen nimmt in der Regel einen letalen Ausgang: Человек с глупым лицом съел антрекот, икнул и умер. Официанты вынесли его в коридор, ведущий к кухне, и положили его на пол вдоль стены, прикрыв грязной скатертью.73 Ein Mensch mit dummem Gesicht aß ein Entrecôte, rülpste und starb. Die Kellner trugen ihn auf den Korridor hinaus, der zur Küche führte, legten ihn, längs der Wand, auf den Boden und deckten ihn mit einem schmutzigen Tischtuch zu.74

Die Komik der Fehlleistung, die den Körper – so bei Henri Bergson75 – ins Marionettenhaft-Mechanische versetzt und damit den Optimismus einer frühavantgardistischen Körperutopie simuliert, nimmt im absurden Schreiben eher die Gestalt des Freud’schen »Unheimlichen«76 an, das letztlich – wenn auch mit umgekehrten A.A. Hansen-Löve: Der absurde Körper und seine Tot-Geburt. D.I. Charms: Slučai, 330 (Hervorhebungen im Weiteren immer von A. H.-L.). 71 Ders.: Alle Fälle, 334. 72 A.A. Hansen-Löve: Die Welt als Labyrinth.. 73 D.I. Charms: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. II, 71. 74 Ders.: Alle Fälle, 310. 75 H. Bergson: Das Lachen, 5 ff. (zu den »komischen Bewegungen«), 69 ff. (zur »Mechanisierung« des Lebendigen). Zu Bergson und Charms vgl. H.L. Fink: Bergson and Russian Modernism. 1900–1930, 89–111. 76 Über die Wiederholungslust des Kalauers erfahren wir naturgemäß am meisten in Freuds Witz-Buch (S. Freud: Gesammelte Werke, Bd. IV, 46 ff. zum Kalauer), das dämonische Gegenbild hält er uns in seiner berühmten Abhandlung zum »Unheimlichen« entgegen (S. Freud: Das Unheimliche, 249), wenn von der »Wiederholung des Gleichartigen« als Ursache für unheimliche Gefühle die Rede ist – am radikalsten verkörpert wohl in der Doppelgängergestalt (248). 69 70

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Vorzeichen – die fröhliche Logik der Lapsus und Verdinglichungen ins Panische verkehrt. Der absurde Körper verheddert sich hoffnungslos in Wiederholungsschleifen, er stolpert noch vor dem ersten (oder letzten) Schritt, erleidet, ganz unter dem Gesetz der Serie stehend, das Schicksal des Tausendfüßlers, der die Übersicht über seine zahllosen Beinchen verloren hat. Etwas davon spüren wir noch angesichts der Kalamitäten von Kafkas Käfer Gregor, wenn dieser auch weniger an einem Zuviel an Beinen als an einem Zuwenig an Liebe zu leiden hat. Так хорошо начался день, и вот уже первая неудача. Мне не следовало выходить на улицу […].77 Der Tag hatte so schön begonnen, und – schon das erste Mißgeschick. Ich hätte überhaupt nicht auf die Straße gehen sollen […].78

Die zwei radikalsten ›Fall‹-Fälle bei Charms – seine »Herabstürzenden alten Frauen«79 im Rahmen der Fälle (slučai) und einer der letzten Texte knapp vor der Verhaftung, »Upadanie« (Fallen), – markieren beide Eckpunkte eines Niederganges, dessen gebremste bzw. aufgefächerte Dynamik die Paradoxalität aller Bewegungsabläufe teilt: sowohl was deren scheinbare Homogenität selbst anlangt – als auch die Inkongruenz von Erzählzeit und erzählter Zeit. Толпа готова была хоть до самого вечера стоять около кооператива, но кто-то сказал, что в Озерном переулке из окна старухи вываливаются. Тогда толпа возле кооператива поредела, потому что многие перешли в Озерный переулок.80 Die Menge hätte wohl bis zum Abend vor der Kooperative gestanden. Aber da sagte jemand, in der Ozernyj-Straße fielen in einem fort alte Frauen aus den Fenstern. Da lichtete sich die Menge vor der Kooperative, weil viele nun in die Ozernyj-Gasse gingen.81 Одна старуха от чрезмерного любопытства вывалилась из окна, упала и разбилась. Из окна высунулась другая старуха и стала смотреть вниз на разбившуюся, но от чрезмерного любопытства тоже вывалилась из окна, упала и разбилась. […] Когда вывалилась шестая старуха, мне надоело смотреть на них […]. 82 Eine alte Frau lehnte sich aus übergroßer Neugierde zu weit aus dem Fenster, fiel 77 78 79 80 81 82

D.I. Charms: Starucha, 163. Ders.: Die alte Frau , 377. Ders.: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. II, 331. Ders.:, Kassirša, 111. Ders.: Die Kassiererin, 265. Ders.: Vyvalivajuščiesja staruchi, 331.

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hinaus und zerschellte. Aus dem Fenster lehnte sich eine zweite alte Frau und begann, auf die Tote hinabzuschauen, aber aus übergroßer Neugierde fiel auch sie aus dem Fenster, fiel und zerschellte. […] Als die sechste alte Frau hinausgefallen war, hatte ich es satt, ihnen zuzuschauen […].83

Das Gesetz der Serie, ja ein unheimlicher ›Wiederholungszwang‹, der im Sinne von Bergsons Komik der Repetition84 unmittelbar zum Lachen reizt – eben dieses Gesetz einer alogischen Serialität prägt die paranoide Welt der Absurden, in der aus dem nackten Zufall Notwendigkeit wird – und vice versa.85 Bei Charms heißt es dazu schlicht: »Indessen folgte eine Gefahr der anderen auf dem Fuße […]«86 , so dass die Figuren dieser Zufallswelt gezwungen sind, sich über die »Gesetzmäßigkeiten der alogischen Kette« den Kopf zu zerbrechen. 87 Indem die absurde ›Para-Noia‹ Regeln für die totale Inkonsequenz und Kontingenz ›ad hoc‹ entwirft, verwirft sie zugleich den Totalitätsanspruch einer archaischutopischen Weltordnung, deren verbaler wie dinghafter Code die Semio- und Biosphäre in eine große, kosmische Ordnung zwingt, wie sie noch der utopischen Avantgarde – etwa Chlebnikov – vorgeschwebt hatte. Jetzt aber, ›ex post‹ und ›post festum‹ gibt es keine ›optimalen Projektionen‹ mehr: An die Stelle der universellen Paradigmatik (im Sinne Jakobsons) tritt die absurde Pragmatik von Gewohnheitsregeln, die – wie dies bei ungeschriebenen Gesetzen der Fall zu sein pflegt – ebenso stringent und zwingend wie undefinierbar erscheinen. Das Paradigma wird durch die Serie ab- oder eher schon aufgelöst: Самостоятельно существующие предметы уже не связаны законами логических рядов и скачут в пространстве куда хотят, как и мы. Следуя за предметами, скачут и слова существительного вида. Существительные слова рождают глаголы и даруют глаголам свободный выбор. […] Так вырастает новое поколение частей речи. Речь, свободная от логических русел, бежит по новым путям, разграниченная от других речей […].88 Selbständig existierende Gegenstände sind durch die Gesetze logischer Reihen nicht mehr gebunden und springen im Raum, so wie wir. Den Gegenständen folgend, springen auch die Wörter in substantivischer Gestalt. […] So wächst eine neue Generation von Teilen der Rede heran. Die Rede, frei von logischen Bahnen, geht neue Wege, abgegrenzt von anderen Reden […]. 89 Ders.: Die neugierigen alten Frauen, 335 (Hervorhebung des Autors). H. Bergson: Das Lachen, 62 ff. 85 Zur Rolle des Zufalls bei den Obėriuty vgl. A.A. Hansen-Löve: Zur Poetik des Minimalismus, 173 ff. 86 D.I. Charms: Eine Fliege durchschlug die Stirn…, 31. 87 Ebd., 33. 88 Ders.: Sablja, in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. II, 299. 89 Ders.: Der Säbel, in: ders.: Alle Fälle, 76. 83

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Wenn Chlebnikov noch an »Schicksalstafeln« (Doski sud’by)90 denken konnte und eine entsprechende Universal-Mathematik 91 der Geschichten und Schicksale, beschränkt sich Charms auf den konkreten Akt des Aufzählens, der enumerativen Evidenz des ›Vorhandenen‹, das zugleich nicht handhabbar ist: »Alle diese Zahlen bilden eine Reihe des Zählens und Rechnens.«92 Das poetische Wort steht nicht für sich isoliert, sondern bildet Komplexe, die zumindest aus zwei Gliedern bestehen, wobei jedes nachfolgende Glied durch das vorhergehende generiert wird (als eine Art ›Kettenreaktion‹). Solche Konstruktionen haben in der Regel einen prädikativen – nicht nominativen Charakter. Das Vorhandensein eines Verbums ist unabdingbar für solche Serienbildungen, wobei gleichzeitig die mit dem Verbum verbundenen ›Handlungen‹ für absurd bzw. sinnlos erklärt werden. Besonders bei Charms dominieren die Überschneidungen von einer prädikativen Konstruktion zur anderen, wobei das Subjekt der ersten Konstruktion in der zweiten als Objekt auftauchen kann. Auf diese Weise entfaltet sich der Text nach zwei Linien: auf der horizontalen Linie (der syntagmatischen), auf der sich die Konstruktion bildet – und auf der vertikalen (paradigmatische Linie), durch welche die Verbindungen zwischen den Konstruktionen hergestellt werden. Die paradigmatische Linie macht eine unendliche Fortsetzung des Textes möglich: волшебная ночь наступает волшебная ночь наступает волшебная кошка съедает сметану волшебный старик долго кашляя дремлет93 Die zauberhafte Nacht bricht herein | Die zauberhafte Nacht bricht herein | Die zauberhafte Katze isst Sauerrahm | der zauberhafte Alte schlummert nach langem Husten

In dem Gedicht »Ne teper’« [Nicht-Jetzt] wird ein Begriff durch den jeweils nachfolgenden rückwirkend erklärt. Der Text endet mit dem nackten Nebeneinandersetzen der in ihm abgewandelten bzw. quasi-definierten Begriffe:

Deutsche Teilübersetzung in V.V. Chlebnikov: Werke, Bd. II, 311–342. Zur Zahlentheorie bei Charms (auch im Verhältnis zu Chlebnikov) vgl. ausführlich A. Niederbudde: Mathematische Konzeptionen in der russischen Moderne, 89 ff. 92 D.I. Charms: Alle Fälle, 78. Wie nicht anders zu erwarten, herrscht auch in Becketts absurder Welt das ›Gesetz der Serie‹ – erstmals perfektioniert in seinem Roman Murphy, ins Komische gesteigert dann – in Molloy, wo das berühmte ›Kieselsteinspiel‹ das Prinzip der Serie mit dem der Kombinatorik verknüpft und sich beide Regelwerke wechselseitig ad absurdum führen: »Mr. Knott kannte einst einen Mann, der von einem Hund gebissen wurde, ins Bein, und er kannte einst einen anderen Mann, der von einer Katze gekratzt wurde, in der Nase, und er kannte eine schöne, stattliche Frau, die von einer Ziege gestoßen wurde […].« (S. Beckett: Watt, 296.) Das berühmte Kieselsteinspiel Becketts fi ndet sich in seinem Roman Molloy (S. Beckett: Molloy, 95 ff.). 93 D.I. Charms: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. I, 189. 90 91

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Там не тут. Там то. Тут это. Но теперь там и это и то. Но теперь и тут это и то. […] Где же теперь? Теперь тут, а теперь там, а теперь тут, а теперь тут и там. Это быть то. Тут бытъ там. Это, то, тут, там, быть Я, Мы, Бог.94 […] Dort ist nicht hier. | Dort ist jenes. | Hier ist dieses. | Aber jetzt ist dort dieses und jenes | Aber jetzt ist hier dieses und jenes | […] Wo ist denn jetzt? |Jetzt ist hier, und jetzt dort, und jetzt hier, und jetzt hier und dort. | Dieses werde [wörtl.: zu sein – A. H.-L.] jenes. | Hier werde dort. | Dieses, jenes, hier, dort werde Ich, Wir, Gott.

Viele Texte Charms’ sind aufgebaut nach dem Prinzip der endlosen Reduplikation der syntaktischen Konstruktion, d. h. der Text des Gedichts wird vor den Augen des Lesers generiert als Entfaltung einer vertikalen Wortreihe, die ein oder mehrere grammatische Merkmale miteinander teilen.

4. Minimalistische Serialität: Additive Texte95 Während Chlebnikov noch als Sprach- und Weltschöpfer bzw. als Lehrer von Gesetzen auftreten wollte, bilden die Obėriuty eher eine Schülerklasse, für die sich das gesamte (kulturelle) Universum in eine Schulinszenierung prolongiert hat, deren Normen kosmische Dimensionen erlangt.96 Воробьев и Адам Адамыч (входя) Здравствуйте! Здравствуйте! Здравствуйте! Здравствуйте! Николай II Здравствуйте! Ebd., 127 f. Vgl. diesen Abschnitt in: A.A. Hansen-Löve: Zur Poetik des Minimalismus. 96 Auch hier zeigt sich die Parallele zum Schul-Modell (samt dem Zitatenschatz des SchulbuchWissens) in den Werken von Lewis Carroll. Vgl. A.A. Hansen-Löve: Konzepte des Nichts, 317 f.; ders.: Padaroxien des Endlichen. 94 95

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Здравствуйте! Здравствуйте! Здравствуйте!97 Vorob’ev und Adam (eintretend) – Guten Tag!/ Guten Tag!/ Guten Tag!/ Guten Tag!/ Nikolaj II – / Guten Tag!/ Guten Tag!/ Guten Tag!/ Guten Tag! Хор Танцуйте, танцуйте! Гости Танцуем, танцуем! Хор Танцуйте фигуру. Гости Танцуем фигуру. Хор Откройте откройте откройте откройте Закройте закройте закройте закройте.98 Der Chor – | Tanzt, tanzt! | Die Gäste – | Wir tanzen, wir tanzen! | Der Chor – | Tanz eine Figur. | Die Gäste – | Wir tanzen eine Figur. | Der Chor – | Öffnet, öff net, | öff net, öff net. | Schließt, schließt, | schließt, schließt. Кра кра краси фаси перекоси. Предмет, предмет, предмет, предмет, предмет, предмет, предмет, предмет, предмет, предмет, предмет, предмет.99 Ma ma male Vorderansichten mach sie krumm. Gegenstand, Gegenstand, Gegenstand, Gegenstand, Gegenstand, Gegenstand, Gegenstand, Gegenstand, Gegenstand, Gegenstand, Gegenstand, Gegenstand.

Die Vorliebe der Obėriuty – ja der späten Avantgarde überhaupt100 – für Tautologien, verweist auf eine Tautologik,101 die den Gegenstand bzw. das Wort in seiner ›fünften Bedeutung‹, d. h. in seiner völligen Losgelöstheit von pragmatischen, ja sogar ästhetischen Bindungen ›als solchen‹ bzw. ›als solches‹ vergegenwärtigt: Das Wort ist das Wort, der Gegenstand ist der Gegenstand: »Die fünfte Bedeutung ist der Schrank«.102 97 98 99 100 101 102

D.I. Charms: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. II, 281. Ebd., 282. D.I. Charms: Traktat o krasivych ženščinach (1933), 89. A.A. Hansen-Löve: Zur Periodisierung der russischen Moderne. Zur Tautologie in der Minimal Art vgl. B. Rose: ABC Art, 295 ff D.I. Charms: Gegenstände und Figuren entdeckt von D.I. Charms, 61; vgl. auch D.I.

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Wenn im Futurismus bzw. Archaismus Chlebnikovs – zumal im Idealfall der Wortkunsttext – in seiner syntagmatischen Ausdehnung zugleich ein (innovatorisches, okkasionelles) Paradigma darstellte, bildet die an der Textoberfläche scheinbar identische, oft asyntaktische Anreihung von Lexemen keinesweg primär ein Archisem bzw. ein neues Paradigma (eine neue semantische Welt), sondern eine mehr oder weniger offene Serie,103 deren Zusammenhalt durch prosodische-rhythmische, morphologische und syntaktische Äquivalenzen gewährleistet wurde – gesteigert durch den Skandiereffekt und den alogischen Aggregatzustand der ›Flüssigkeit‹ (tekučest’),104 die als Körpersprache des Autors – als Sprechakt, Sprech-Inszenierung – präsent war. Der Litanei-Effekt wurzelt einerseits im Kinder-Genre der Abzählreime, anderseits bezieht er sich auf sprachmagische, folkloristische, sektantische bzw. religiöse Sprech- und Gebetsformeln,105 die schon von den Futuristen (hier v.a. von Kručenych) als Beleg für die archaische bzw. okkultistische Verwurzelung der ›zaum’‹-Poetik herangezogen wurde. Wenn aber in den primitivistischen wie futuristischen Avantgarde-Strömungen die Wiederholung (man denke an die Theorie der Repetition und Reduplikation bei Osip Brik und den frühen Formalisten)106 text- und bedeutungsgenerierend funktioniert, wirkt sie in der absurden Poetik einmal sprachgestisch als Wiederholungszwang (als pragma-ästhetischer Effekt), einmal als Wiederholungs-Lust (etwa im Sinne der Freud’schen Wiederholungseffekte in Wort- und v.a. Situationskomik), einmal als Wiederholungs-List: Im letzten Falle wird die Formelhaftigkeit der (sowjetischen) Ideologeme diskurskritisch entblößt, ein Vorgehen, das fast gleichzeitig im Formalismus reflektiert wurde.107 Die Verankerung dieses Wiederholungsprinzips im (verbalen) Infantilismus (bei Kručenych) belegen auch vielfach die Kinderverse der Obėriuty – besonders jene von Charms:108 Вот и дом полетел. Вот и собака полетела. Вот и сон полетел. Вот и мать полетела. Вот и сад полетел. Конь полетел.109 Charms: Über das Unendliche, 33. Der Begriff der »5. Bedeutung« entstammt dem Kunstdenken Malevičs (vgl. K. Malewitsch: Über die neuen Systeme in der Kunst, 26). 103 Zur Bedeutung der Serialität für die späte Avantgarde bzw. die Postavantgarde vgl. M.B. Jampol’skij: Bespamjatstvo kak istok (čitaja Charmsa), 343 ff. (»Serialität« [serijnost’] und »Antiereignis« [antisobytie]). 104 Den Begriff hatte Charms vom »zaum’«-Dichter Tufanov übernommen (vgl. J.-Ph. Jaccard: Daniil Harms et la fin de l’avant-garde russe, 40 f.) 105 A.A. Hansen-Löve: »Scribo qui absurdum«, 170 f. 106 A.A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus, 130–145; ders.: Wieder-Holungen. 107 G. Vinokur: Kul’tura jazyka (vgl. A.A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus, 498 ff.). 108 A.A. Hansen-Löve: Kručenych vs. Chlebnikov. 109 D.I. Charms: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. I, 175.

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Da ist das Haus losgeflogen. | Da ist auch der Hund losgeflogen. | Da ist auch der Traum losgeflogen. | Da ist auch die Mutter losgeflogen. | Da ist auch der Garten losgeflogen. | Das Pferd ist losgeflogen.

Dieses Verfahren ist – über die Suggestion der seriellen Wiederholung hinaus – an pragmatische Formeln gebunden, die weniger dem parömiologischen Kode der Kleingattungen (Idiome, Sprichwörter)110 angehören (wie im Futurismus/ Primitivismus der frühen Avantgarde) als typischen Diskursen: Die absurde Serialität zielt also darauf ab, durch Wiederholung nicht neue Paradigmata aufzubauen, sondern vorhandene Sprachspiele zu dekonstruieren,111 d. h. einerseits abzubauen, anderseits aus ihnen durch schrittweise Variationen und Manipulationen eine absurde Diskurs-Pluralität aufzubauen. Все все все деревья пиф все все все каменья паф вся вся вся природа пуф. Все все все девицы пиф все все все мужчины паф вся вся вся женитьба пуф. Все все все славяне пиф все все все евреи паф вся вся вся Россия пуф.112 Alle alle Bäume sind pif | alle alle Steine sind paf | die ganze ganze Natur ist puf. | Alle alle Weiber sind pif | alle alle Männer sind paf | die ganze ganze Heirat ist puf. | Alle alle Slaven sind pif | alle alle Juden sind paf | ganz ganz Russland ist puf.

Die absurden Aufzählungen113 simulieren das quasi-wissenschaft liche oder rationale ›Belegen‹ eines Lehrsatzes, der sich aus der Sicht der Alltagsvernunft als ›Leersatz‹, ›Leerformel‹, unter dem Aspekt einer höheren absurden Weisheit als Philosophem zu erkennen gibt: Я долго думал откуда на улице взялся тигр. Думал-думал, A.A. Hansen-Löve: Kručenych vs. Chlebnikov. Zum Vergleich von Charms und Wittgenstein vgl. A.A. Hansen-Löve: Konzepte des Nichts. 112 D.I. Charms: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. I, 101. 113 Die ›Aufzählung‹ als Produkt einer ›Registrierung der Dinge‹ (im Sinne von Chlebnikov) ist ein Mittel der Klassifizierung bzw. der (cisfi niten) Taxonomie (vgl. dazu D.I. Charms: Sablja, 433–439; vgl. M.B. Jampol’skij: Bespamjatstvo kak istok (čitaja Charmsa), 131 f.). 110

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Думал-думал, Думал-думал, Думал-думал, В это время ветер дунул, И я забыл, о чем я думал. Так я и не знаю, откуда на улице взялся тигр.114 Ich dachte lange (darüber nach), woher der Tiger auf der Straße kam. | Dachte – dachte | Dachte – dachte | Dachte – dachte | Dachte – dachte | Zu der Zeit wehte ein Wind | Und ich vergaß, worüber ich nachdachte. | So weiß ich [auch] nicht, woher | der Tiger auf der Straße kam.

5. Subtraktive Texte Es gibt eine ganze Reihe von ›subtraktiven Genres‹, in deren Verlauf der Held, die narrative Figur (oder das Textthema im weiteren Sinne) gleichsam ›scheibchenweise‹ reduziert, und letztlich auf ›Null‹ gebracht wird, während gleichzeitig – auf seine ›Kosten‹ – der verbale bzw. poetische Text wächst, ja sich in diesem Subtraktionsakt überhaupt erst konstituiert.115 Die sukzessive, syntagmatische Konstruktion des Textes geht einher mit der schrittweisen Destruktion seines Themas – bis hin zur totalen Demontage der Figur bzw. des Körpers: »Allmählich verliert der Mensch seine Form und wird zu einer Kugel. Und, nachdem er zu einer Kugel geworden ist, verliert der Mensch all seine Wünsche.«116 Nicht zufällig ist der erste ›Fall‹ (»Der rothaarige Mensch«) eben diesem subtraktiven Prinzip gewidmet, nach dem im Zuge des Wachsens des Textes das Textthema (der Körper des Helden) dahinschwindet; darüber hinaus wird das semiotische Paradoxon entfaltet, nach dem eine Aussage verbal perfekt und syntaktisch wohlgeformt produzierbar ist,117 obwohl die Referenz der Aussage auf Null reduziert erscheint – oder eben auf eine bloß ›verbale Realität‹:

D.I. Charms: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. III, 54 f. Subtraktive Genres der syntagmatischen Art waren typischerweise im Manierismus sehr beliebt (G.-R. Hocke: Die Welt als Labyrinth 1987, 311 f.). Der Text beginnt trichterförmig mit einer Zeile, auf die eine weitere – um ein Wort gekürzte – Zeile folgt, bis lediglich ein Wort bzw. ein Graphem-Wort (oft ein Pronomen) übrig bleibt. Im Manierismus nannte man solche Texte ›Kaimata‹; der Rückbezug zur Sprachkabbala bzw. Buchstaben-Mystik ist evident (ebd.). Vgl. dazu A.A. Hansen-Löve: Velimir Chlebnikovs Onomatopoetik, 142 f. Zur Poetik subtaktiver Tichtertexte in der Folklore vgl. auch M.I. Lekomceva: Osobennosti teksta s neopredelenno vyražennoj semantikoj, 94; L. Sauerwald: Mystisch-hermetische Aspekte. 116 D.I. Charms: Polet, 375. 117 Zur Rolle der syntaktischen »Korrektheit« in der Poetik der Obėriuty vgl. L. Stoimenoff : Grundlagen und Verfahren, 46 f. 114

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Жил один рыжый человек, у которого не было глаз и ушей. У него не было и волос, так что рыжим его называли условно. Говорить он не мог, так что у него не было рта. Носа тоже не было. У него не было даже рук и ног. И живота у него не было, и спины у него не было, и хребта у него не было, и никаких внутренностей у него не было. Ничего не было! Так что непонятно, о ком идет речь. Уж лучше мы о нем не будем больше говорить.118 Es war einmal ein rothaariger Mann, der hatte keine Augen und keine Ohren. Haare hatte er auch keine, so dass man ihn nur bedingt einen Rotschopf nennen konnte. Sprechen konnte er nicht, denn er hatte keinen Mund. Eine Nase hatte er auch nicht. Er hatte nicht einmal Arme und Beine. Und er hatte keinen Bauch, und er hatte keinen Rücken, und er hatte kein Rückgrat, und Eingeweide hatte er auch nicht. Überhaupt nichts hatte er! So dass man gar nicht versteht, von wem die Rede ist. Besser, wir sprechen nicht mehr von ihm.119

Wenn wir Charms’ ›Rotschopf‹-Text als ›paradigmatisch‹ für die pragmatische Selbstannullierung eines Textes setzen, denken wir an Chlebnikovs mythopoetische, neoprimitivistische Entsprechung zu diesem Prozess höchster poetischer Autonomie: an den Fall eines auf der Motivebene sich selbst ›verzehrenden‹, ›essenden‹ Textes, dessen personifi ziertes Textthema nicht subtrahiert wird, sondern – im Sinne einer Poetik der Entfaltung – das razvertyvanie120 des Motivbestands zurückführt im Zuge eines ›Einrollens‹ (svertyvanie) der Kernmotive. Einer der kürzesten wie berührendsten Mythopoesien Chlebnikovs thematisiert nicht nur das kleinste und marginalste Buch-Insekt – die ›Fliege‹ –; diese wird zugleich auch realisiert und entfaltet zu eben jenem paradoxalen Lebe- und Lesewesen, das sich im Zuge seiner Metamorphosen zwischen Wort und Welt selbst verzehrt:121 Муха нежное слово, красивое, Ты мордочку лапками моешь, А иногда за ивою Письмо ешь. Fliege, zartes Wort, schönes, Du wäscht [dir] das Schnäuzchen mit den Pfötchen,

118 119 120 121

D.I. Charms: Polet v nebesa, 353 Ders.: Alle Fälle, 333. A.A. Hansen-Löve: Entfaltung, Realisierung. Chlebnikovs ›Mucha‹-Text zitiert nach: V.V. Chlebnikov: Neizdannye proizvedenija, 152.

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Und hier und da hinter der Weide Frisst einen Brief [Buchstaben] du.

Der poetische Text, das Buch ist selbst ›autophag‹ wie die Fliege, die ihre eigene Bezeichnung, ihr ›Name‹ und dessen artikulatorischer Liebreiz (m-u-cha) zum Lesen wie zum Essen verführt: Die Fliege als verbales Buch-Wesen frisst sich selbst, indem ihre Schrift lichkeit, ihr buchstäbliches Sprachwesen artikuliert und damit naturalisiert wird. 6. Das gewaltsame Ende der Serie Serien haben ›naturgemäß‹ kein Ende, da sie ja per definitionem ›offen‹ konzipiert sind. Und doch müssen sie irgendwo, irgendwann aufhören: In der absurden Poetik handelt es sich dabei eher um ein ›Verenden‹, ein brachiales Abbrechen.122 Ist ein Paradigma ›erschöpft‹, dann lässt sich seinem Bestand an Sememen (oder Morphemen) nichts mehr hinzufügen – einmal sind weitgehend alle Kopfbedeckungen aufgezählt oder alle einschlägigen Deklinationen oder Konjugationen; das Ende der Reihe resultiert dagegen nicht aus der Erschöpfung seiner Glieder, sondern der des Auf- und Erzählers, des Sprechers oder Schreibers: Es handelt sich um einen externen Grund, der das Fortspinnen der Reihe der Kette abbricht – es gibt kein Papier mehr, die Tinte oder das Licht ist ausgegangen, die Zeit, die Geduld aufgebraucht. Das Paradigma erlischt aufgrund der vollständigen Erfüllung seiner Bedingungen; die Serie fi ndet ein – immer irgendwie abruptes – Ende, wenn der (Gedulds-)Faden reißt oder die pragmatischen bzw. medialen Möglichkeiten ausgereizt erscheinen. Es gibt keinen Schlusspunkt, sondern nur Fortsetzungspunkte (›…‹), nicht jenes ›Et cetera‹, das Chlebnikovs bekanntlich – so die eingangs erwähnte Anekdote – vors unvermittelte Abreißen seiner Deklamationen setzte: weil mit dem bisher Gesagten die paradigmatische Klasse hinlänglich erklärt war, die Regel erkennbar und damit auch anwendbar für den Leser, der ja immer auch ein Weiterbenützer sein sollte, ein Fortsetzer, ein Anwender. Das Auslaufen der Serie – sei es im Nichts oder in der tautologischen Wiederholung (wie beim Sprung einer Platte), das Auslaufen betrifft den pragmatischen Sprech- und Schreibakt, den körperlichen oder medialen Rahmen bzw. das Organ der Performanz:123 Insofern ist das Ende der Serie ein performatives, das des Paradigmas ein systemisches, grammatikalisches, kodiertes. In gewisser Weise bewegen sich das Aufzählen und die Liste zwischen beiden Extremen: vor allem aufgrund ihres enumerativen, deskriptiven Charakters als ›z. B.‹, als Beispiel für ein Prinzip, das weder semantisch bzw. grammatikalisch noch metonymisch oder gar willkürlich ist, wie im Falle der absurdistischen Serien. Was 122 123

sen.

A.A. Hansen-Löve: Diskursapokalypsen. Dazu mit vielen Beispielen von Charms’ Textfi nali A.A. Hansen-Löve: Diskursapokalyp-

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sich hier als abstrahierbares Prinzip der Enumeration bzw. der Aufl istung abzeichnet, ist entweder nur abduktiv, ad hoc, bezogen auf einen sehr begrenzten Kontext anwendbar; oder es ergibt sich aus der Aneinanderreihung überhaupt kein Prinzip, vielleicht gar das Prinzip der Unordnung, des Chaos, des Zufalls – eben jener »Haufen Pljuškins«124 in Gogols Toten Seelen oder das barocke Vanitas-Motiv des ›heap of broken images‹, wie wir es in den mittelalterlichen Fresken bzw. Ikonen an den zerbrochenen Objekten unter den Füßen des Auferstehenden sehen können – oder (desakralisiert) in den Stillleben der Niederländer oder der Chaotik von Hogarths Bedlam-Bildern. In diesem Lichte erscheinen die epatierenden Schlußformeln – ›(vot i) vse‹ (im Sinne von ›Das wär’s‹, ›Das ist alles‹) – bei Charms auch als direkter Ausdruck dieser Null-Stufe bzw. Null-Schwelle (des Ereignishaften) insofern, als dieses ›vse‹ als Final-Signal gleichzeitig jenes ALLES indiziert, mit dem das narrative Nichts steht – und fällt. Die von jeder Erzähl-Kultur bzw. Diskurs-Gemeinschaft jeweils festgesetzte Grenze zwischen Fall und Zufall, Regel und Ausnahme, Erzählenswertem und Ereignis-Leere wird hier zum eigentlichen Angelpunkt des Sprachaktes: ›vse‹/ ›всё‹

Literatur Beckett, Samuel: Molloy, in: ders.: Werke, Bd. III.1, hg. von E. Tophoven und K. Birkenhauer, Frankfurt a. M. 1976, 7–243 – Watt, in: ders.: Werke, Bd. II.2, hg. von E. Tophoven und K. Birkenhauer, Frankfurt a. M. 1976 Bergson, Henri: Das Lachen, Jena 1921 Charms, Daniil I.: Alle Fälle. Das unvollständige Gesamtwerk in zeitlicher Folge, hg. von P. Urban, Zürich 1995 – Bal [Der Ball], in: ders.: Polet v nebesa, 133-137 – Die alte Frau, in: ders.: Alle Fälle, 375–405 – Die Kassiererin, in: ders.: Alle Fälle, 263–265 – Die Kunst ist ein Schrank. Aus den Notizbüchern 1924–1940, hg. von P. Urban, Berlin 1992 – Die neugierigen alten Frauen, in: ders.: Alle Fälle, 335 – Eine Fliege durchschlug die Stirn eines vorüberlaufenden Herrn, flog ihm durch den Kopf und trat im Genick wieder aus, in: ders.: Alle Fälle, 31–35 – Gegenstände und Figuren entdeckt von D.I. Charms, in: ders.: Die Kunst ist ein Schrank, 59–62 – Kassirša [Die Kassiererin], in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. II, 107–109 – Polet v nebesa. Stichi, proza, dramy, pis’ma [Flug in den Himmel. Gedichte, Prosa, Dramen, Briefe], Leningrad 1988

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A.A. Hansen-Löve: Der absurde Körper und seine Tot-Geburt.

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– Polnoe sobranie sočinenij [Sämtliche Werke], hg. von V.N. Sažin, 3 Bde., Sankt Petersburg 1997–2002 – Sablja [Der Säbel], in: ders.: Polet v nebesa, 433–439 – Sablja [Der Säbel], in ders.: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. II, 298–304 – Slučai [Fälle], in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. II, 330–361 – Sobranie proizvedenij [Gesammelte Werke], 4 Bde., hg. von M. Mejlach und V. Erl’, Bremen 1978–1988 – Starucha [Die alte Frau], in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. II, 161–188 – Traktat o krasivych ženščinach [Traktat über die schönen Frauen], in: ders.: Menja nazyvajut kapucinom. Nekotorye proizvedenija Daniila Ivanoviča Charmsa [Man nennt mich einen Kapuziner. Einige Werke Daniil Ivanovič Charms ‹], hg. von A. Gerasimova, Moskau 1993, 89 – Über das Unendliche. Drei Traktate, in: Schreibheft 40 (1992), 33–36 – Vyvalivajuščiesja staruchi [Herabstürzende alte Frauen], in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. II, 331 Chlebnikov, Velimir V.: Mucha … [Fliege …], in: ders.: Neizdannye proizvedenija, 152 – Neizdannye proizvedenija [Unveröffentlichte Werke], hg. von N. Chardžiev und T. Gric, Moskau 1940 – Sobranie sočinenij [Gesammelte Werke], 4 Bde., Moskau 1928–1933 – Werke, 2 Bde., hg. von P. Urban, Hamburg 1972 Cvetaeva, Marina: Izbrannye proizvedenija [Ausgewählte Werke], Moskau/ Leningrad 1965 – O muza plača … (Achmatovoj) [O Muse des Weinens …] (1916), in: dies.: Izbrannye proizvedenija [Veröffentlichte Werke], Moskau/ Leningrad 1965, 103 Deleuze, Gilles: Die Logik des Sinns, Frankfurt a. M. 1993 Deleuze, Gilles/ Guattari, Felix: Kafka. Eine kleine Literatur, Frankfurt a. M. 1976 Derrida, Jacques: Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 1989 Ėjchenbaum, Boris M.: Molodoj Tolstoj [Der junge Tolstoj], Petrograd/ Berlin 1922 Fink, Hilary L.: Bergson and Russian Modernism. 1900–1930, Evanston, Illinois 1999 Freud, Sigmund: Das Unheimliche, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XII, London 1947, 229– 268 – Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VI, London 1949 – Gesammelte Werke: Chronologisch geordnet, 18 Bde., hg. von A. Freud u. a., London 1940 ff. Görner, Rüdiger: Die Kunst des Absurden. Über ein literarisches Phänomen, Darmstadt 1996 Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München/ Wien 2000 Grübel, Rainer G.: Sirenen und Kometen. Axiologie und Geschichte der Motive Wasserfrau und Haarstern in slavischen und anderen europäischen Literaturen, Frankfurt a. M./ Berlin u. a. 1995 Hagemeister, Michael: »Unser Körper muss unser Werk sein.« Beherrschung der Natur und Überwindung des Todes in russischen Projekten des frühen 20. Jahrhunderts, in: B. Groys/ M. Hagemeister: Die Neue Menschheit, Frankfurt a. M. 2005, 19–67 Hansen-Löve, Aage A.: Am Anfang war… das Wort. Zum Logozentrismus – à la russe, in: I. Mülder-Bach/ E. Schumacher (Hgg.): Am Anfang war … Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne, München 2008, 71–90

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– Der absurde Körper und seine Tot-Geburt: Verbale Brachialitäten bei Daniil Charms, in: Wiener Slawistischer Almanach 57 (2006), 151–230 – Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1978 – Die Kunst ist nicht gestürzt. Das suprematistische Jahrzehnt, in: K. Malevič: Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik, hg. von A.A. Hansen-Löve, München 2004, 255–603 – Diskursapokalypsen: Endtexte und Textenden. Russische Beispiele, in: K. Stierle/ R. Warning (Hgg.): Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996 (Poetik und Hermeneutik Bd. 14), 183–250 – Entfaltung, Realisierung, in: A. Flaker (Hg.): Glossarium der russischen Avantgarde, Graz/ Wien 1989, 188–211 – Konzepte des Nichts im Kunstdenken der russischen Dichter des Absurden (Oberiu), in: Poetika 26 (1994), 308–373 – Kručenych vs. Chlebnikov. Zur Typologie zweier Programme im russischen Futurismus, in: AvantGarde. Interdisciplinary and International Review. Amsterdam, 4 (1990), 15–44 – Malevičs verbaler Suprematismus als Kritik des russischen Sprach-Futurismus, in: R. Kacianka/ P. Zima (Hgg.): Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen/ Basel 2004, 171–192 – Muchi – russkie, literaturnye [Fliegen – russische, literarische], in: Studia Litteraria Polono-Slavica. Warschau, 4 (1999), 95–132 – Paradoxien des Endlichen. Unsinnsfiguren im Kunstdenken der russischen Dichter des Absurden, in: Wiener Slawistischer Almanach 44 (1999), 125–183 – Pečorin als Frau und Pferd und anderes zu Lermontovs »Geroj našego vremeni«, 1. Teil, in: Russian Literature 31 (1992), 491–544; 2. Teil, in: Russian Literature 33–34 (1993), 413–470 – »Scribo qui absurdum«. Die Religionen der russischen Dichter des Absurden (Oberiu), in: M. Deppermann (Hg.): Russisches Denken im europäischen Dialog, Innsbruck/ Wien 1998, 160–203 – Velimir Chlebnikovs Onomatopoetik. Name und Anagramm, in: R. Lachmann, I.P. Smirnov (Hgg.): Kryptogramm. Zur Ästhetik des Verborgenen, Wien 1988 (=Wiener Slawistischer Almanach 21), 135–224 – Velimir Chlebnikovs poetischer Kannibalismus, in: Poetica 19 (1987), 88–133 – Vom Rußland-Komplex zum Medium des Verdachts. Zur Kunst- zur Kulturökonomie bei Boris Groys, in: R. Lüdeke/ E. Greber (Hgg.): Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft, Göttingen 2004, 143–170 – Wieder-Holungen – Zwischen Laut- und Lebensfigur: Jakobson – Kierkegaard – Freud – Kierkegaard, in: R. Lüdeke / I. Mülder-Bach (Hgg.): Wiederholen. Literarische Funktionen und Verfahren, Tagung Seeon 2004, Göttingen 2006, 41–92 – »Wir sind alle aus ›Pljuškins Haufen‹ hervorgekrochen …«: Ding – Gegenstand – Ungegenständlichkeit – Verdinglichung – Unding: vom Realismus zum Konzeptualismus, in: A. Hennig / G. Witte (Hgg.): Der dementierte Gegenstand. Artefaktskepsis der russischen Avantgarde zwischen Abstraktion und Dinglichkeit, Wien/ München 2008 (=Wiener Slawistischer Almanach 71), 251–346 – Zur Periodisierung der russischen Moderne. Die »Dritte Avantgarde«, in: Wiener Slawistischer Almanach 32 (1993), 207–264

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– Zur Poetik des Minimalismus in der russischen Dichtung des Absurden, in: M. Goller / G. Witte (Hgg.): Minimalismus. Zwischen Leere und Exzeß, Wien/ München 2001, 133–186 Hocke, Gustav-René: Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur, Hamburg 1987 Holenstein, Elmar: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, Frankfurt a. M. 1975 Ingold, Felix Ph.: Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1813. Kultur. Gesellschaft. Politik, München 2000 Jaccard, Jean-Philippe: Daniil Harms et la fin de l’avant-garde russe, Bern/ Berlin u. a. 1991 Jakobson, Roman: Die neueste russische Poesie (1921), in: W.-D. Stempel (Hg.): Texte der russischen Formalisten, Bd. II, 18–134 – Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie (1961), in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt a. M. 1979, 233–263 Jampol’skij, Michail B.: Bespamjatstvo kak istok (čitaja Charmsa) [Ohnmacht als Quelle (Charms lesend)], Moskau 1998 Kabakov, Ilja/ Groys, Boris: Žizn’ much. – Das Leben der Fliegen, Köln 1992 Kammerer, Paul: Das Gesetz der Serie. Eine Lehre von den Wiederholungen im Lebens- und im Weltengeschehen, Stuttgart/ Berlin 1919 Kittler, Friedrich A.: Aufschreibsysteme 1800–1900, München 1987 Koestler, Arthur: Der Krötenküsser. Der Fall des Biologen Paul Kammerer, Wien/ München u. a. 1972 Kofmann, Sarah: Die Kindheit der Kunst. Eine Interpretation der Freudschen Ästhetik, München 1993 Lachmann, Renate: Zum Zufall in der Literatur, insbesondere der phantastischen, in: G. v. Graevenitz / O. Marquard (Hgg.): Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik Bd. 17), 403–432 Lehmann, Gudrun: Fallen und Verschwinden. Daniil Charms. Leben und Werk, Wuppertal 2010 Lekomceva, Margarita I.: Osobennosti teksta s neopredelenno vyražennoj semantikoj [Besonderheiten eines Textes mit ungenau ausgedrückter Semantik], in: Trudy po znakovym sistemam [Studien zu den Zeichensystemen] 21(1987), 94–103 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München 1972 Majakovskij, Vladimir: V.V. Chlebnikov (1922), in: ders. Polnoe sobranie sočinenij v 13 tomach [Gesammelte Schriften in 13 Bd.], Bd. XII, Moskau 1959, 23–28 (dt. in: Velimir Chlebnikov: Werke 1. Poesie, hg. P. Urban, Hamburg 1972, 9–15) Malewitsch, Kasimir: Über die neuen Systeme in der Kunst, Zürich 1988. Marinelli-König, Gertraud: Russische Kinderliteratur in der Sowjetunion 1920–1930, München 2008 Niederbudde, Anke: Mathematische Konzeptionen in der russischen Moderne. Florenskij – Chlebnikov – Charms, München 2006 Papernyj, Vladimir: Kul’tura dva, Moskau 1996 Peat, F. David: Synchronizität. Die verborgene Ordnung, Bern/ München 1989 Posner, Roland: Strukturalismus in der Gedichtinterpretation. Textdeskription und Rezeptionsanalyse am Beispiel von Baudelaires »Les Chats« (1969), in: J. Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Eine Auswahl. Texte zur Theorie der Literaturwissenschaft, Bd. I, Frankfurt a. M. 1972

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Ritter, Henning: Der Zufallsjäger. Paul Kammerer und das Gesetz der Serie, in: Ch. Blättler (Hg.): Kunst der Serie. Die Serie in den Künsten, München 2010, 43–56 Rose, Barbara: ABC Art, in: G. Stemmrich (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/ Basel 1995, 280–308 Rüting, Torsten: Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland, München 2002 Sauerwald, Lisanne: Mystisch-hermetische Aspekte im Kunstdenken der russischen Dichter des Absurden, Würzburg 2010 Sebeok, Thomas A./ Umiker-Sebeok, Jean: »Du kennst meine Methode«. Charles S. Peirce und Sherlock Holmes, Fankfurt a. M. 1982 Šklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren (1916), in: J. Striedter (Hg.): Texte der russischen Formalisten, Bd. I, München 1969, 2–35 Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Texte der russischen Formalisten, Bd. II, München 1972 Stoimenoff, Ljubomir: Grundlagen und Verfahren des sprachlichen Experiments von D.I. Charms, Frankfurt a. M. 1984 Theill-Wunder, Hella: Die archaische Verborgenheit. Die philosophischen Wurzeln der negativen Theologie, München 1970 Tokarev, D.V.: Kurs na chudšee: Absurd kak kategorija teksta u Daniila Charms i Semjuela Bekketa [Kurs aufs Schlimmste: Das Absurde als Textkategorie bei Daniil Charms und Samuel Becket], Moskau 2002 Toporov, Vladimir N.: Die Ursprünge der indoeuropäischen Poetik, in: Poetica 13 (1981), 1–63 Vinokur, Grigorij O.: Kul’tura jazyka [Kultur der Sprache] (1925), Moskau 21929 Watzlawick, Paul/ Beavin, Janet H. u. a.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern/ Stuttgart 1985 Wells, Carolyn: A Nonsense Anthology, New York 1958 Žolkovskij, Aleksandr K.: Deus ex machina, in: Trudy po znakovym sistemam [Studien zu den Zeichensystemen] 3 (1967), 146–155

Die Kunsttheorie Wassily Kandinskys und die Anfänge der GAChN Nadia Podzemskaia

Die Beteiligung Kandinskys an der Schaff ung der GAChN (RAChN). Beginn der Tätigkeit der Akademie Der Aufenthalt Kandinskys in Russland 1915–1921 ist die am wenigsten dokumentierte Lebensphase des Künstlers. Nachdem er im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch gezwungen war, Deutschland zu verlassen, wo er bereits eine gewisse Berühmtheit erlang hatte, kehrte Kandinsky nach Moskau zurück, wo man ihn »nicht erwartete«. Es existiert die Meinung, der Künstler sei einsam gewesen, und dass es ihm nicht gelungen sei, sich vollständig ins Moskauer Kulturleben zu integrieren, in dem die junge Generation der zukünft igen Konstruktivisten nach und nach die wichtigsten Positionen besetzte. Die Gründungsgeschichte der RAChN/ GAChN und die Rolle, die Kandinsky darin spielte, widerlegen, wie ich hoffe, zeigen zu können, die eben genannte Annahme. Die Tätigkeit Kandinskys an der RAChN fällt in einen äußerst kurzen Zeitraum von fünf Monaten, nämlich von Mitte Juni 1921 (wenn man als Beginn der Akademie den Zeitpunkt ansieht, an dem die Wissenschaft lich-Künstlerische Kommission [NChK] des Staatlichen Künstlerischen Komitees [GUS] ihre Arbeit aufnimmt) bis Mitte Dezember desselben Jahres, als der Künstler sich auf eine Dienstreise nach Deutschland begibt, um Kontakte mit dem Bauhaus aufzunehmen und eine deutsche Abteilung der RAChN zu organisieren. In diesem kurzen Zeitraum bekleidet Kandinsky an der RAChN die äußerst wichtigen Posten des Vizepräsidenten der Akademie und des Vorsitzenden der ersten an der Akademie eingerichteten, Physikalisch-Psychologischen Abteilung. Die Sitzungsprotokolle der RAChN und die Anwesenheitslisten zeugen von seiner aktiven Tätigkeit im Akademiebetrieb: Kandinsky ist wohl täglich bei jeder Art von wissenschaft lichen und organisatorischen Sitzungen anwesend, führt auf ihnen den Vorsitz, hält Vorträge programmatischen Charakters und beteiligt sich an den Diskussionen. Man kann die zentrale Rolle, die Kandinsky in dieser anfänglichen, organisatorischen Periode der RAChN spielt, nicht hoch genug bewerten. Welche Bedeutung hat seine Tätigkeit allein für das weitere Schicksal der Akademie? Geben die Autorität des Künstlers, seine Kunsttheorie und seine Persönlichkeit dem Charakter dieses Instituts ihr Gepräge, und inwiefern erweist sich diese Prägung als langfristig? Bekanntermaßen fällt die Blüte der GAChN in die Mitte der 20er Jahre und ist mit der führenden Rolle Gustav G. Špets an der Akademie verbunden, der seit 1924 (unter dem ständigen Präsidenten Petr S. Kogan) denselben Posten des Vizepräsidenten bekleidet, den Kandinsky in den Anfangsmonaten der Akademie innehatte.

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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Wirkt an dieser berühmt gewordenen GAChN, an der der Philosophischen Abteilung eine so wichtige Rolle zukommt, noch irgendetwas von der anfänglichen Präsenz Kandinskys nach? Oder ist Letztere nicht mehr als eine Episode, die hauptsächlich symbolische Bedeutung besitzt? Somit sehen wir uns vor zwei Aufgaben gestellt: Den Aufenthalt Kandinskys an der RAChN einerseits im Hinblick auf den Schaffensweg des Künstlers selbst und die Entwicklungslogik seiner Kunsttheorie und andererseits im Kontext der Akademie und ihrer Geschichte zu beleuchten. Bekanntlich ist Kandinsky – neben anderen Künstlern, nämlich Kollegen der IZO (Abteilung für Bildende Künste) des Narkompros (Volkskommissariat für Bildung), wie Vladimir Franketti, Aleksandr Rodčenko, Varvara Stepanova u. a. – einer der Gründungsinitiatoren des »Rats der Meister zum Schutz ihrer berufl ichen Interessen« im Dezember 1919. Im März 1920, als die neue Organisation in Institut für Künstlerische Kultur (INChUK) umbenannt wird, konzipiert Kandinsky ein Programm für die Aktivitäten des Instituts im Bereicht der Kunsttheorie. Als Pendant dazu legt der Künstler Konstantin F. Juon ein Programm für die praktischen Arbeiten des Instituts vor. Die praktische Sektion kommt allerdings nicht zustande, und die Hauptarbeit des INChUK konzentriert sich im Frühling und Sommer 1920 in der damals einzigen Sektion für Monumentale Kunst (der so umbenannten Theoretischen Sektion), die von Kandinsky geleitet wird.1 Dabei ist es für das Anliegen Kandinskys bezeichnend, dass er abgesehen von denjenigen Mitgliedern des INChUK, die noch in den »Rat der Meister« eingetreten sind, von Anfang an die Musiktheoretiker Nadežda Ja. Brjusova und Aleksandr A. Šenšin zur Arbeit in der Sektion heranzieht. Auf der ersten Sitzung der Sektion am 12. Mai 1920 wird ihre zentrale Aufgabe definiert, das Problem der Wechselwirkung der Künste vorwiegend am Beispiel der Malerei, Musik und Dichtung zu untersuchen. Im Herbst 1921 kristallisiert sich schließlich eine von Kandinsky initiierte Orientierung der Sektionsarbeit auf die Analyse der Wechselbeziehung von Malerei, Musik und Tanz heraus, d. h. auf eine Synthese der Malerei mit den so genannten Zeitkünsten, die den übrigen Mitgliedern des INChUK – Künstlern, die bisher auf die Wechselwirkung zwischen Malerei und Skulptur, Architektur und Alltagsdingen sowie auf die praktische Tätigkeit ausgerichtet waren – immer mehr missfällt. Im Herbst 1920 unternimmt Kandinsky zudem erste Versuche, Laborexperimente zur Psychologie der Wahrnehmung in das Programm der Sektion aufzunehmen. Im Dezember 1920 werden (zusammen mit Aleksandr G. Gabričevskij) der Physiker Nikolaj E. Uspenskij und der Kristallograph Georgij B. Wul’f für Arbeit in der Sektion gewonnen, und man erwägt darüber hinaus die Einladung des Direktors des Instituts für Physik und Biophysik, Petr P. Lazarev, zur Mitwirkung. Doch im Januar 1921 scheitert Aleksej A. Sidorov, der bereits im Dezember 1920 von Kandinsky zum Leiter des »Laboratoriums für die Schulung des Auges« ernannt worden ist, auf der Vollversammlung des INChUK bei den Wahlen der neuen Mitgliedern an den Ge1

Vgl. S. Chan-Magomedov: INChUK.

Die Kunsttheorie Wassily Kandinskys

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genstimmen der Kollegen. Im Februar 1921 reicht Kandinsky, der darin die Gefährdung seines Programms sieht, ein Gesuch über seinen Austritt aus dem INChUK ein. Ihm folgen seine Mitstreiter Aleksandr A. Šenšin und Nikolaj V. Sinezubov. Kandinsky unternimmt gleich darauf den Versuch, den Volkskommissar Anatolij V. Lunačarskij von der Notwendigkeit eines neuen Instituts im Rahmen des Narkompros zu überzeugen, das sich parallel zum INChUK speziell mit Fragen der Kunstwissenschaft beschäftigen soll. Dieses Unternehmen ist von Erfolg gekrönt. So wird innerhalb des Staatlichen Kunstkomitees die Wissenschaftlich-Künstlerische Kommission gebildet, auf deren Grundlage die Akademie der Kunstwissenschaften entsteht. Die Kontinuität zwischen der von Kandinsky geleiteten Sektion für Monumentale Kunst des INChUK und der im Sommer 1921 gegründeten RAChN ist unübersehbar: Dies betrifft sowohl den Mitgliederstab als auch das ursprüngliche Programm und die Tätigkeitsziele der beiden Institutionen sowie die in ihnen praktizierten Untersuchungsmethoden. Diesbezüglich ist jedoch hervorzuheben, dass die RAChN/ GAChN, die ebenso wie die ihr vorausgegangenen Institutionen in den Zuständigkeitsbereich des Narkompros fällt, eine wesentliche Unbestimmtheit der Ziele beibehalten hat, die auch dem seinerzeit auf der Grundlage des »Rates der Meister« gegründeten INChUK eigen war. In seinem Vortrag über die Arbeit der Kommission zur Ausarbeitung von Grundsätzen für die wissenschaft liche Tätigkeit der Akademie, den er auf einer Vorstandssitzung der RAChN am 6. Oktober 1922 hält, spricht Präsident Petr S. Kogan davon, dass die Akademie sich in erster Linie durch eine »Synthese der einzelnen Kunstgattungen« auszeichnen solle und dass sie zugleich dazu bestimmt sei, »das führende Organ auf dem Gebiet der Kunst«2 zu werden. Gemeint ist eine beratende Experten- und Organisationsrolle auf dem Gebiet der Künste, die die GAChN bis zum Ende ihres Bestehens beibehält. Davon zeugt die aktive Beteiligung der Akademiemitglieder an der Ausarbeitung der sowjetischen Museumspolitik, bei der Organisation von Kunstbibliotheken und Ausstellungen, im Kampf für eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Künstler usw. Besonders in der Anfangsphase machen diese letzten Funktionen die Akademie zweifellos attraktiv für praktische Künstler, sogar für jene, die von vornherein an der Entwicklung einer Kunsttheorie wenig interessiert sind, wie z. B. der Maler Il’ja I. Maškov. Im Unterschied zum INChUK jedoch, an dem Kandinsky zwecks Etablierung seiner theoretischen Ziele genötigt war, fortwährend Kompromisse zu schließen, werden an der RAChN von Anfang an Probleme der wissenschaft lichen Kunstforschung im Allgemeinen und der Erforschung der einzelnen Künste im Besonderen explizit in den Vordergrund gestellt. Sie umfassen Fragen der vergleichenden Untersuchungen von Raum- und Zeitformen der Kunst, die Musik-, Tanz-, Malereiund Architekturanalyse und schließlich Untersuchungen der psychologischen Wahrnehmung von verschiedenen Kunstformen – d. h. all jene Fragen, die der von Aleksandr Rodčenko am INChUK geleiteten »Gruppe für objektive Analyse« zum Anlaß der Kritik an Kandinsky gereichen. Der Erforschung dieser Probleme widmet 2

Protokol 33 zasedanija pravlenija RAChN ot 6 oktjabrja 1922.

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sich nun jener ›Zirkel der Gleichgesinnten‹, über dessen Entstehung im Winter 1920–1921, d. h. in der Periode der heftigsten Debatten am INChUK, Gabričevskijs Ehefrau Natalja A. Severcova in ihren Erinnerungen schreibt und mit dem sie die Anfänge der Akademie verbindet. In diesen Zirkel treten die Kunstwissenschaft ler Aleksandr G. Gabričevskij, Aleksej A. Sidorov, Aleksandr A. Šenšin und Evsej D. Šor, die Maler Wassily W. Kandinsky und Robert R. Fal’k und der Philosoph Gustav G. Špet ein. Laut Severcova [wurde] im Winter des Jahres 1921 die Akademie der Kunstwissenschaften (GAChN) eröffnet. Fal’k, Šenšin, Špet, Kandinsky, Juša Šor (anders wurde er nicht genannt) und Sidorov bildeten einen Zirkel, in dem kluge Gespräche und Dispute geführt wurden. Abends besuchten sie sich gegenseitig, tranken Wodka und diskutierten; sie stiegen auf ein Bier hinunter in die Keller des Arbat, – sie aßen wenig, amüsierten sich aber prächtig, und keiner haderte mit dem Leben. Unter uns nannten wir alle sie bereits die ›Verwandten‹, umso mehr, da echte, Blutsverwandte uns kaum geblieben waren.3

Die Herausbildung des Zirkels im Winter 1921 wird von Severcova mit der Schaffung der Akademie der Kunstwissenschaften gleichgesetzt, was offenkundig weder dem Datum der offiziellen Eröffnung der RAChN noch dem Tätigkeitsbeginn der Wissenschaft lich-Künstlerischen Kommission entspricht, die im Mai desselben Jahres eingerichtet wird und deren erste Sitzung, auf der Lunačarskij und Kogan auftreten, am 16. Juni stattfindet. Es liegt jedoch die Annahme nahe, dass die hitzigen Diskussionen im Winter 1920/21, an die Severcova sich erinnert, der unmittelbaren Vorgeschichte der GAChN entsprechen – einer Periode, die durch die Suche nach adäquaten Methoden einer wissenschaft lichen Erforschung der Kunst und der Frage der Organisation einer entsprechenden Institution gekennzeichnet ist, welches ursprünglich die Sektion für Monumentale Kunst des INChUK werden sollte; erst nach dem Scheitern dieser Versuche Anfang 1921 ist die Rede von der Schaff ung einer speziellen wissenschaft lichen Einrichtung, die der Bearbeitung von Fragen gewidmet sein soll, die für den oben genannten Kreis von Interesse sind. Es ist anzumerken, dass vier Mitglieder des erwähnten ›Zirkels‹ – Kandinsky, Gabričevskij, Sidorov und Špet – in der Folge den Kern der RAChN/ GAChN selbst bilden. Aleksandr Gabričevskij, der sich selbst als ›Gleichgesinnter‹ des Künstlers bezeichnet, arbeitet in den Jahren 1920/21 am engsten mit Kandinsky zusammen, so auch bei der Einrichtung der Physikalisch-Psychologischen Abteilung.4 Nach der Abreise des Künstlers wird er mit der Leitung der im Januar 1922 gegründeten Sektion für Unpublizierte Erinnerungen von Natalja Severcova , nach freundlicher Mitteilung ihrer Nichte, Ol’ga S. Severceva, Nachlassverwalterin vom Gabričevskij-Severcova-Archiv, auszugsweise zit. in: N. Podzemskaja: »Vozvraščenie iskusstva«, 152 f. 4 Vgl. das »Curriculum vitae« Gabričevskijs aus seiner Personalakte an der GAChN: »[…] nahm zur Zeit der Mitwirkung Kandinskys an der Arbeit des INChUK (Institut für Kunstkultur) teil, arbeitete als dessen unmittelbarer Gesinnungsgenosse direkt an der Organisierung der Physikalisch-Psychologischen Abteilung der Akademie für Kunstwissenschaften mit, deren Mitglied er seit ihrer Einrichtung war.« Zitiert nach: N. Podzemskaja: »Vozvraščenie iskusstva«, 167. 3

Die Kunsttheorie Wassily Kandinskys

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Bildende Künste betraut. Die Arbeit der Sektion wird gemäß dem von Kandinsky bereits im Sommer 1921 erarbeiteten Plan zum Studium der Grundelemente der Kunst, der Konstruktion und der Komposition organisiert; sie übernimmt auch die Erforschung der Zeit in den räumlichen Künsten und die Erarbeitung einer Kunstterminologie, wie sie in den Plänen der Sektion vorgesehen sind, vom INChUK;5 das Projekt der Enzyklopädie der Künste, aus welchem sich in der Folge das Einzelprojekt des Lexikons der Kunstterminologie – eine Gemeinschaftsarbeit der gesamten GAChN – herauslöst, wird noch 1919 in der IZO des Narkompros geplant. Hier wird eine entsprechende Redaktionskommission eingerichtet, in die die späteren RAChNMitglieder Kandinsky, Evsej D. Šor und Ivan V. Žoltovskij eintreten. Bereits im akademischen Jahr 1922/23 wird der Arbeitsplan der Sektion für Bildende Künste, und hier vor allem der der Gruppe für die Theorie der räumlichen Künste, auch als Vorgabe der im Februar 1922 gebildeten Philosophischen Abteilung angesehen, und im April 1923 geht die Theoriegruppe in der Philosophischen Abteilung auf, wobei sie ihre Themen und Aufgaben an Letztere übergibt. Im Rahmen der Philosophischen Abteilung beginnt man zudem mit der noch von Kandinsky ins Auge gefassten Erarbeitung einer kunstwissenschaft lichen Terminologie.6

Grundbegriffe in Kandinskys ›Wissenschaft von der Kunst‹ und die wissenschaftliche Orientierung der GAChN – zur Problemstellung Es existiert die Meinung, dass Kandinskys Vorstellungen von der Synthese der Wissenschaften und Künste und dem hohen Stellenwert der wissenschaft lichen Erkenntnis an der Akademie unberührt geblieben seien, dass sie in keiner ihrer Unterabteilungen Unterstützung erfahren hätten und dass seine zweifelsohne zentrale Rolle in der Geschichte der Akademie ausschließlich in die ersten Etappen ihrer Entstehung gefallen sei.7 Diese These beruht auf einem Vergleich des theoretischen Erbes der GAChN mit publizierten Texten Kandinskys, die in unmittelbarer Verbindung mit seiner Tätigkeit an der Akademie entstanden. Die Rede ist von mehreren vom Künstler 1921 an der Akademie gehaltenen Vorträgen, von denen nur die Thesen überliefert sind, die jedoch bereits ihrer Natur nach einen höchst fragmentarischen und ›angewandten‹ Charakter aufweisen. Allein auf dieser Grundlage kann jedoch schwerlich eine adäquate Vorstellung von den theoretischen Ansichten Kandinsky gewonnen werden, die er zur Zeit der Gründung der RAChN längst entwickelt hatte. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, jene Wissenschaft von der Kunst bei Kandinsky in ihren Grundzügen zu skizzieren, deren Hauptthemen und Grundbegriffe bei den GAChN-Mitgliedern auf Resonanz 5 Vgl. Schematičeskaja programma Instituta chudožestvennoj kul’tury po planu V.V. Kandinskogo; V. Kandinsky: Tezisy k dokladu »Plan rabot sekcii izobrazitel’nych iskusstv« (1921), 72. 6 V. Kandinskij: Tezisy k dokladu »Plan rabot sekcii izobrazitel’nych iskusstv« (1921), 73. 7 I.M. Čubarov: Status naučnogo znanija v GAChN.

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stießen. Dabei sollen die Ursprünge dieser Themen ermittelt und ihre mögliche Nachwirkung nachgezeichnet werden.

Kunst und Sprache: Die Frage der ›inneren Form‹ In erster Linie ist festzuhalten, dass sich Kandinskys Kunsttheorie, die auf der zentralen Dichotomie von Inhalt – im Sinne von (abstraktem, geistigem, innerem) Gehalt – und (materieller, äußerer) Form basiert, im Ausgang von der Idee einer funktionellen Analogie von Kunst und Sprache entwickelt hat. So ist es kein Zufall, dass der ursprüngliche Titel seines unter dem Titel Über das Geistige in der Kunst bekannten theoretischen Hauptwerks Die Farbensprache lautete. Im Kapitel »Theorie« geht der Künstler ausführlich auf diese Parallele ein und setzt sich dabei insbesondere mit der die Sprache betreffenden Unterscheidung zwischen dem Bezeichneten (der »Mitteilung der Ideen und Gefühle«) und dem Bezeichnenden, der klanglichen oder geschriebenen Form, die den Sinn transportiert, auseinander. 8 Die Idee der parallelen Funktionsweise von Kunst und Sprache stützt sich auf die Hypothese, dass diese beiden Phänomene innerhalb der geistigen Tätigkeit zwei äußerst eng verwandte Bereiche bilden – eine Vorstellung, die ganz in der Humboldt’schen Tradition steht. Es ist bezeichnend, dass die Humboldt’sche Theorie im 19. Jahrhundert, nach der die Sprache als das »bildende Organ des Gedankens« anzusehen ist, entscheidender im Bereich der Kunstpsychologie als in dem der eigentlichen Sprachwissenschaft weiterentwickelt wird, die in dieser Zeit von der Schule der vergleichenden Geschichte der indoeuropäischen Sprachen dominiert wird.9 Insbesondere die Idee, die Kunst als eine Tätigkeit des Geistes zu betrachten, wie man sie in den Texten Konrad Fiedlers und anderer Münchner Theoretiker findet, entspringt eben diesem intellektuellen Kontext. So erklärt Adolf von Hildebrand in seinem berühmten Werk Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893), dass unter allen Bereichen des Geistes die bildenden Künste die einzigen seien, die bewusst danach strebten, das Problem der Beziehung zwischen der Formvorstellung und dem Seheindruck zu lösen. In Russland wird die Humboldt’sche Parallele zwischen Sprache und Kunst, zwischen Wort und Kunstwerk, von Aleksandr Potebnja entwickelt. So schreibt dieser in seinem Buch Denken und Sprache (1862): Man muss, um aus der Kunst kein für das menschliche Leben unnötiges oder gar nutzloses Phänomen zu machen, annehmen, dass sie, nicht anders als das Wort, nicht nur ein Ausdruck, sondern auch das Mittel zur Schaff ung eines Gedankens ist; dass ihr Ziel, wie das des Wortes, darin besteht, im Produzenten ebenso wie im Rezipienten einen bestimmten subjektiven Seelenzustand hervorzubringen; dass sie nicht ἔργον sondern ἐνέργεια ist, also etwas, das sich in ständigem Werden befindet.10 8 9 10

W. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 125. Vgl. hierzu J. Trabant: Traditionen Humboldts, 59–63. A.A. Potebnja: Mysl’ i jazyk, 169.

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In Analogie zur Kant’schen Erkenntnistheorie betrachtet die von der Münchner Schule entwickelte Kunsttheorie die Kunst als »Bildung der Realität für das Auge«, ganz wie die Wissenschaft dies für die Vernunft ist.11 In München wird die Idee, dass die Kunst eine bewusste Konstruktion der Form sei, von Arnold Böcklin sowie seinen zahlreichen Schülern und Nachfolgern geteilt, unter ihnen auch Kandinsky.12 Nicht anders als bei Hildebrand wird diese Idee bei Böcklin parallel zur Kritik am Impressionismus entwickelt. In einem mit »Impressionismus« betitelten Fragment erklärt Hildebrand, dass die von den Impressionisten dargestellte Welt nichts anderes als eine chaotische Ansammlung von Phänomenen sei, die dem ähnele, was einem Neugeborenen erscheint. Denn sie hätten im Schaffensprozess keinerlei Bezug zur Vernunft, weil sie nur eine mechanische Reproduktion der Natur anstrebten.13 Ähnlich kritisiert Böcklin die »naiven Herren Impressionisten« aufgrund ihrer beschränkten Auffassung des Sehens, das sie als rein optischen Prozess betrachteten, obwohl doch »die Maschine Auge […] nicht ohne das Gehirn« arbeite.14 Im Gegensatz zur impressionistischen Idee von der Malerei als einer naiven, passiven und mechanischen Reproduktion der Natur und der daraus folgenden Verwirrung hinsichtlich des Verhältnisses von Malerei und Natur vertritt Böcklin die Auffassung, ein Bild sei eine der Wirklichkeit entgegengesetzte »verkörperte Vorstellung«, da es das Ergebnis einer bewussten Konstruktion sei, die auf einem System von Gegensätzen basiere und das Ziel habe, dem Betrachter die Erkenntnis zu erleichtern: »Das Verstehen liegt im Vergleichenkönnen. Das Vergleichenkönnen wird umso leichter, je verschiedener die verglichenen Dinge sind, oder: Kontraste machen begreifen«15. Diese Auffassung, die man ebenfalls bei Hildebrand findet, geht auf die Herbart’sche Ästhetik der Relation zurück, die in der deutschen Ästhetik des 19. Jahrhunderts, vor allem in den Arbeiten Fiedlers, intensiv rezipiert wird. In eben diesem Sinne muss auch die gegen den Impressionismus an dessen ›Naturalismus‹ gerichtete Kritik in Über das Geistige in der Kunst gelesen werden.16 Und in diesem Sinne ist auch Kandinskys Bejahung der Theorie des Neoimpressionismus zu verstehen, die, obwohl sie sich als Ergebnis der impressionistischen und also

Diese Charakteristik der Münchner Schule stützt sich auf den Beitrag »Die formale Methode« von Aleksandr Gabričevskij, der mit Sicherheit für das Lexikon der Kunstterminologie (Slovar’ chudožestvennych terminov) verfasst wurde, das an der GAChN in den 1920er Jahren in Vorbereitung war. (Vgl. A. Gabričevskij: Morfologija iskusstva, 29.) 12 Zur Rolle Böcklins bei der Ausarbeitung der Malereitheorie Kandinskys vgl. N. Podzemskaia: Colore simbolo immagine, hier bes. 71–76; näherhin zur Theorie der Farbe vgl. dies.: Kandinsky et l’enseignement de Böcklin sur la couleur. 13 A. v. Hildebrand: Gesammelte Schriften zur Kunst, 454. 14 Zit. nach G. Floerke: Zehn Jahre mit Böcklin, 116. – In den Schriften Kandinskys fi nden sich Zitate von Floerke. 15 G. Floerke: Zehn Jahre mit Böcklin, 64. 16 Vgl. die Anmerkung zu van Gogh, wo dieser als »impressionistisch-naturalistische[r] Maler« charakterisiert wird. (W. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 99, Fn. 2.) 11

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naturalistischen Tendenzen präsentiert, »ins Abstrakte greift«17. Der Begriff des ›Abstrakten‹ hat hier den Sinn eines Strebens nach Universalität, nach dem Ganzen, – dem Ganzen, das sich nicht in der Natur findet, sondern die Frucht des Geistes des Künstlers, »oder, wenn man will, des Anwehens eines befruchteten göttlichen Odems« ist, wie Kandinsky, Goethe zitierend, erklärt. Hieraus folgt, wie er weiter schreibt, dass die Kunst »über der Natur steht«.18 Die Bestimmung der Kunst als ein Gebiet des Geistes, das Sinn hervorbringt und mitteilt, lenkt ebenso wie die Annäherung der Kunst an die Sprache die Aufmerksamkeit Kandinskys auf den Vorgang der Bedeutungsverleihung. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet dabei die Unzufriedenheit, die ihm das Konzept der Naturnachahmung bereitet, wie es auf die naturalistische Kunst seiner Zeit angewandt wird. In seinen frühesten Texten vom Beginn des 20. Jahrhunderts kritisiert Kandinsky erstens die Auffassung als beschränkt, die die Natur nur mit der äußeren Umgebung identifiziert. Dagegen hält er es für notwendig, diese Auffassung auf »die ganze Natur« auszudehnen, denn diese »besteht nicht nur aus jetzt sichtbaren Formen, sondern noch und im wichtigsten Teil aus dem inneren Leben dieser Formen«, was im ästhetischen Diskurs bisher verkannt worden sei.19 Zweitens zeigt er die Grenzen einer solchen Definition der Mimesistheorie auf, da diese nicht alle Bestandteile des künstlerischen Prozesses berücksichtige, insbesondere jene nicht, die mit der Psyche des Künstlers und der »Erinnerung an den psychischen Eindruck« verbunden sind.20 Die Kunst als Bedeutungssystem, das die subtilsten und komplexesten Phänomene, die undefinierbarsten Gefühle und Stimmungen zum Gegenstand hat – das ist das Ideal, das Kandinsky zu Beginn des 20. Jahrhunderts anstrebt. Der Wunsch, hinsichtlich der Malerei angemessene Mittel für die Darstellung des Undarstellbaren zu finden, richtet sich gegen die in der Ästhetik und Psychologie des 19. Jahrhunderts, etwa bei Gustav Fechner, verbreitete Vorstellung, nach der die Malerei im Gegensatz zur Poesie oder zur Musik für unfähig erklärt wird, das Unsichtbare direkt darzustellen, ohne auf Assoziationen realer Gegenstände zurückzugreifen. Seit 1909/10 bemüht Kandinsky sich, dem Faktor der Assoziation die Idee der seelischen Vibration entgegenzustellen, die die Grundlage des Mechanismus der unmittelbaren Wirkung eines Werks auf den Betrachter darstelle. Die Formel des Verhältnisses zwischen Künstler und Betrachter, die man in seiner Schrift »Inhalt und Form« von 1910 findet (»Emotion–Gefühl–Werk–Gefühl–Emotion«), stützt sich auf das Reso-

W. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 54. W. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 132, Fn. 1 (vgl. Goethe an Eckermann, 18.4.1827) und 132. 19 Vgl. in dem von ca. 1910/11 datierenden Text: »Jede Kunst hat 2 Möglichkeiten: 1) auf die physischen Sinne zu wirken und 2) auf die Seele selbst […]«, der kürzlich publiziert wurde in: W. Kandinsky: Gesammelte Schriften 1889–1916, 413. 20 Vgl. das Fragment von 1912–1913 »Der Naturalismus selbst…«, in: W. Kandinsky: Gesammelte Schriften 1889–1916, 481. 17

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nanzprinzip der Streichinstrumente.21 Hierbei handelt es sich um einen alten Topos, auf den ebenfalls die Humboldt’sche Deutung des Verstehensprozesses zwischen Sender und Empfänger einer Aussage rekurriert.22 Bei Potebnja ist die Frage der Rezeption/ des Verstehens in der Sprache und in der Kunst unlösbar verknüpft mit dem Grundkonzept seiner Theorie, der ›inneren Form‹ des Wortes, die auf die ›innere Sprachform‹ in Humboldts psychologischer Deutung von Steinthal zurückgeht. In Denken und Sprache wird die innere Form des Wortes als seine nächste etymologische Bedeutung definiert, oder auch, wie Potebnja erklärt, als Beziehung des Inhalts eines Gedankens zum Bewusstsein: Die innere Form lenkt den Inhalt in eine bestimmte Richtung, indem sie zeigt, »wie dem Menschen sein eigener Gedanke erscheint«23. Dieses ›Bild vom Bild‹ bei Potebnja korrespondiert mit dem ›inneren Klang‹ bei Kandinsky, der eine ›abstrakte‹ oder ›innere Vorstellung‹ ist, die von allem Nebensächlichen und Zufälligen befreit ist. In Über das Geistige in der Kunst spricht Kandinsky von einem ›inneren Klang‹ hinsichtlich des Wortes und der Farbe.24 Dieser ›innere Klang‹ der Farbe oder des Wortes ist bei Kandinsky ein Paradigma, das alle Künste betrifft, insofern als sie Sprachen sind. In einem seiner ersten Texte schreibt er unter Bezugnahme auf die Musik, die Literatur und die Malerei: »es muß einfach klingen, und der Klang muß in den Menschen greifen und eine gewünschte Vibration hervorrufen«25. Und in einem anderen Fragment heißt es: »Die Kunst spricht. […] Die Sprache der Kunst ist an die Seele gerichtet, die mit ihrer Vibration antwortet.«26 Im Mittelpunkt der Versuche Kandinskys in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts stehen die »farbigen Zeichnungen«, Werke in Gouache oder Öl auf Karton, deren Hintergründe oft farbig und eher dunkel sind, mit Sujets aus Märchen und Legenden, die ihm eine freie Wahl der Farben erlauben. In diesen entschieden gegenständlichen Werken arbeitet der Künstler mit der Befreiung (Abstraktion) der Farbe unter Bezug auf die konkrete Form und das konkrete Objekt und versucht so, den ›inneren Wert‹ jeder Farbe aufzuzeigen, der trotz aller Veränderungen des W. Kandinsky: Gesammelte Schriften 1889–1916, 402, vgl. 404. Vgl. das Zitat Humboldts bei Potebnja: »Die Menschen, sagt Humboldt, verstehen einander nicht dadurch, dass sie sich Zeichen der Dinge wirklich hingeben […] und sich gegenseitig bestimmen, genau und vollständig denselben Begriff hervorzubringen, sondern dadurch, dass sie gegenseitig in einander dasselbe Glied der Kette ihrer sinnlichen Vorstellungen und inneren Begriffserzeugungen berühren, worauf alsdann in jedem entsprechende, aber nicht dieselben Begriffe hervorspringen.« (A.A. Potebnja: Mysl’ i jazyk, 124 f. [vgl. Wilhelm von Humboldt: Charakter der Sprachen, 1836–1839].) 23 A.A. Potebnja: Mysl’ i jazyk, 89. Man erkennt dies gut an dem von Potebnja gewählten Beispiel des Begriffs des Gehalts, der in verschiedenen Sprachen entsprechend der unterschiedlichen Etymologien ausgedrückt wird: annuum (was für ein Jahr gegeben wird), pensio (was gewogen wurde), gage (das Ergebnis eines Vertrags), žalovanie (Geschenk, Liebesgabe). 24 Vgl. W. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 49 und 71. 25 W. Kandinsky: Musik! Das ist immer die abstrakteste Kunst gewesen…, in: ders.: Gesammelte Schriften 1889–1916, 337 (Hervorhebung im Orig.). 26 W. Kandinsky: »Die Kunst spricht…«, in ders.: Gesammelte Schriften 1889–1916, 421. 21

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Kontextes insgesamt derselbe bleibt.27 In einem um 1911 auf Russisch verfassten Vorwort zu den »Bühnencompositionen« schreibt er auch: »Wohl hält sich seit Giottos Zeiten die Vorstellung, daß den Farbentönen eine bekannte, mehr oder weniger abstrakte Vorstellung entspricht: dem Weißen die Reinheit, dem Grünen die Hoffnung, usw. Ähnliche Anspielungen sehen wir auch bei Delacroix .«28 In der Tat zitiert er in mehreren Texten den in dem Werk Signacs gelesenen Satz von Delacroix: »Jedermann weiß, daß Gelb, Orange und Rot Ideen der Freude, des Reichtums einflößen und darstellen«.29 In einer unveröffentlicht gebliebenen Anmerkung kommentiert er Delacroix, indem er versucht, die symbolischen Bedeutungen, die der französische Künstler den Farben zuschreibt, mit der Vielfalt der Assoziationen zu erklären: Also noch viel zu einfach. Aber sehr interessant, weil D[elacroix] hier vom Reellen abstrahiert. Z. B. Rot – Feuer, also manchmal Schmerz, Unglück, Vernichtung. Rot – Blut, ebenso u[nd] außerdem tierische Gefühle, Span[ische] Stiere. Gelb – Herbstlaub, also kommender Tod, Ende der Freude. Ausdruck ›Reichtum‹ kommt also doch von der Idee des Goldes und des Geldes […].30

In seiner eigenen Arbeit über die ›farbigen Zeichnungen‹ greift Kandinsky bei seinem Versuch, die Bedeutung des ›inneren Wertes‹ der Farbe zu bestimmen, auf ein breites Feld von Assoziationen aus dem Schatz des kulturellen Gedächtnisses zurück, indem er einen Fundus von Symbolen in den klassischen Werken, den Werken der dekorativen Kunst, der mittelalterlichen, der byzantinischen Malerei usw. zusammenträgt.31 Die Argumentationsweise von Kandinsky ist dabei der von Potebnja eng verwandt, wenn dieser den Begriff der inneren Form einführt, die die Macht hat, unser Denken zu lenken, es bei der Wahl einer Bedeutung vor anderen Bedeutungen zu leiten. In den 1920er Jahren werden in Moskau die soziokulturellen Aspekte des Begriffs der inneren Form von Gustav Špet sowie seinen Kollegen und Schülern an der GAChN Aleksandr Gabričevskij, Nikolaj Žinkin und Michail Petrovskij entwickelt. In ihrem Werk gewinnt dieser Begriff eine zentrale Bedeutung, indem er zu einem Grundelement bei der Erarbeitung einer ›neuen Kunstwissenschaft‹ wird, die den Konzepten der »so genannten Formalisten des OPOJAZ« entgegengestellt wird.32 Auf diese »Die stets erregende, isoliert betrachtete, warme rote Farbe wird ihren inneren Wert wesentlich verändern, wenn sie nicht mehr isoliert ist und als abstrakter Laut bleibt, sondern zum Element eines Wesens verwendet wird, indem sie mit einer naturellen Form verbunden wird. Dieses Summieren des Rot mit verschiedenen naturellen Formen wird auch verschiedene innere Wirkungen verursachen, die aber durch die ständige sonst isolierte Wirkung des Rot verwandt klingen werden.« (W. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 121.) 28 W. Kandinsky: Du théâtre / Über das Theater / O teatre, 156 (Dok. 12B). 29 W. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 70. 30 Archive der Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stift ung, München. 31 Vgl. N. Podzemskaia: Colore Simbolo immagine. 32 A.G. Cires (Hg.): Chudožestvennaja forma. Vorwort, 6. Vgl. dazu: Rajner Grjubel’: »Krasnorečivej slov inych / Nemye razgovory«. 27

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Weise findet die Kandinsky’sche Theorie ihren Platz in der Nachkommenschaft des russischen Symbolismus, der über Potebnja und Andrej Belyj zum einen das Erbe von Humboldt und Steinthal, zum anderen den deutschen Formalismus weiterentwickelt. Aus diesem Grund muss man die Annäherung zwischen den theoretischen Überlegungen Kandinskys während seiner Münchner Zeit und den Arbeiten über die ›innere Form‹ in den verschiedenen Künsten, wie sie in der Philosophischen Abteilung der GAChN entwickelt werden, anerkennen.

Die Elemente der Kunst und die Konstruktion des Kunstwerks. Zur Frage nach dem Verhältnis der Kunstwissenschaft zu den ›positiven Wissenschaften‹ An dieser Stelle gilt es, den Begriff der ›Grundelemente‹ der verschiedenen Künste und der Kunst insgesamt näher zu betrachten, den Kandinsky im Programm seiner Kunstwissenschaft in den Vordergrund stellt, welches von ihm ursprünglich für das INChUK ausgearbeitetet und danach der Arbeit der Physikalisch-Psychologischen Abteilung der RAChN zugrunde gelegt wird. Der Begriff ›Elemente‹ taucht im Manuskript »Die Farbensprache« von 1908/09 auf, im Zusammenhang mit der Frage nach dem Vergleich verschiedener Künste bei der Schaff ung einer monumentalen Kunst; von Anfang an weist er einen Bezug zu Kandinskys Arbeit über die »Bühnencompositionen« auf. Im 1908/09 in deutscher Sprache verfassten »Vorwort« werden diese Kompositionen als mögliche Kombination dreier Elemente definiert: des musikalischen Klangs, des Farbenklangs und der Bewegung.33 Die »Bühnencompositionen« entstehen in enger Kooperation mit dem Komponisten Thomas von Hartmann, der sich 1908 mit Kandinsky anfreundet und sogleich beginnt, ihn in die Grundlagen der Musiktheorie einzuführen, aus welcher dieser offensichtlich auch den Begriff der Kunstelemente entlehnt. In der Bibliothek des Fonds Kandinsky (Musée national d’art moderne – Centre Georges Pompidou, Paris) wird die russische Übersetzung des musiktheoretischen Lehrbuchs Allgemeine Musiklehre von Adolf Bernhard Marx aufbewahrt, ein Geschenk Hartmanns und seiner Frau Olga, das mit einer scherzhaften, auf Deutsch verfassten Widmung versehen ist: »Dem kleinen lieben Wassy von Onkel Tom und Tante Olga. Lerne fleißig und sei überzeugt, dass alles* (*betreff Theorie), was hier steht, nach ein paar Jahren Unsinn sein wird«. Wir entdecken in diesem Lehrbuch eine mit Bleistift geschriebene Bemerkung Kandinskys, die Marx’ Definition von Rhythmus, Ton und Timbre als Grundelemente der Musik betrifft.34 Die Möglichkeit einer Zergliederung W. Kandinsky: Du théâtre / Über das Theater / O teatre, 48, Dok. 5. A.B. Marks: Vseobščij učebnik musyki, 335. Vgl. das Exemplar dieses Buches im Fonds Kandinsky (Musée national d’art moderne – Centre Georges Pompidou, Paris), das mit dem Stempel Kandinskys versehen ist: »W. Kandinsky Ainmillerstr. 98 München«. 33

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in Elemente ist eine notwendige Voraussetzung für die Arbeit mit verschiedenen Künsten gleichzeitig; davon zeugen die Syntheseversuche Aleksandra V. Zachar’inaUnkovskas zu Beginn des 20. Jahrhunderts und später die vergleichenden Analysen musikalischer und plastischer Werke bei Aleksandr A. Šenšin, dem sich Kandinsky auch nach seiner Abreise nach Deutschland weiterhin zuwendet, zum Beispiel in seinem Werk Punkt und Linie zur Fläche (1923–1926).35 Die Behauptung, dass es sich beim konkreten Gegenstand der neuen Wissenschaft um die Grundelemente der Künste handele, ist der entscheidende Schritt zur Umgestaltung der Ästhetik in eine ›exakte Wissenschaft‹, über deren Notwendigkeit zu Beginn des Jahrhunderts Andrej Belyj schreibt. In seinem Aufsatz »Lyrik und Experiment« (1909) findet er den Ausgangspunkt für eine solche Untersuchung auf dem Gebiet der lyrischen Poesie im Rhythmus. Doch bereits 1906 schreibt er in seinem Aufsatz »Formprinzipien in der Ästhetik« über ›zeitliche‹« und ›räumliche‹ Elemente, die in unterschiedlichem Maße den verschiedenen Künsten eigen seien und die der allgemeinen Ästhetik der Kunst zugrunde gelegt werden sollten.36 Durch ihre Verwandlung in eine ›exakte Wissenschaft‹, die sich dem vergleichenden Studium der Grundelemente der verschiedenen Künste widmet, wird die ›Wissenschaft von der Kunst‹ auf eine Stufe gestellt mit den Naturwissenschaften und mit der Sprachwissenschaft, die den Terminus ›Element‹ im Sinne von ›Grund‹, ›Anfang‹, ›Atom‹ und ›Buchstabe des Alphabets‹ gebraucht. Hier ist auf die Hinwendung zu diesem Begriff in den Projekten der Universalgrammatiken der Kunst des 19. Jahrhunderts hinzuweisen, die sich auf die Vorstellung eines Parallelismus von Kunst und Sprache stützen. So ermittelt zum Beispiel Alois Riegl in seiner Historischen Grammatik der bildenden Künste (verfasst 1897/98) folgendermaßen fünf Elemente der bildenden Künste: Der Zweck (wozu?), der Rohstoff (woraus?), die Technik (womit?), das Motiv (was?), die Form und Fläche (wie?).37 Die von Kandinsky proklamierte Orientierung auf das Studium der Kunstelemente wird ins ursprüngliche Programm der Sektion für bildende Künste aufgenommen, die seit 1922 von Gabričevskij geleitet wird. Doch bereits Mitte der 1920er Jahre unterzieht Gabričevskij sie einer Kritik. Er betrachtet diese Orientierung nun als misslungenen Versuch einer mechanischen Entlehnung aus Gebieten, die außerhalb des Künstlerischen und Ästhetischen liegen.38 Gabričevskij zieht dieser Untersuchungsmethode ohne Einschränkung eine andere vor, die vom Ganzen – von der künstlerischen Gestalt und von den inneren Formen jeder einzelnen Kunst ausgeht. In seinem um 1926 verfassten Text Über die Malerei, der im Rahmen seiner Tätigkeit der innerhalb der Philosophischen Abteilung der GAChN soeben gebildeten »Kommission für das Studium des künstlerischen Bildes« entsteht, behauptet 35 36 37 38

W. Kandinsky: Punkt und Linie zur Fläche, 71, Anm. 1. A. Belyj: Simvolizm, 178. A. Riegl: Historische Grammatik der bildenden Künste, 213. A.G. Gabričevskij: O živopisi, 263.

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Gabričevskij, dass auf dem Gebiet der räumlichen Künste zwei Wege der Forschung möglich sind: Einerseits kann man von der Feststellung und Charakteristik solcher optischen Elemente wie Raum, Masse, Oberfläche, Fläche, Farbe und Licht ausgehen, aus denen sich die sinnlich-anschaulicher Bestand des räumlichen künstlerischen Bildes zusammensetzt, um dann den Ort dieser Elemente in der spezifischen Struktur des gemalten, plastischen oder architektonischen Werkes aufzudecken, und um jene konstruktive oder sekundäre Rolle, die sie im Aufbau dieser oder jener Art der räumlichen Künste spielen, zu analysieren. Andererseits ist der umgekehrte Weg möglich – ausgehend vom Spezifi kum dieser oder jener Kunst, von den inneren Formen, die der Struktur des gemalten, plastischen oder künstlerischen Bildes zugrunde liegen, eine Gesamtanalyse dieses Bildes durchzuführen, die gesamte innere Hierarchie und das Wechselspiel der in ihm enthaltenen Formen und damit die Gesetze seiner äußeren Gestaltung zu klären.39

Gabričevskij rechtfertigt 1926 seine Wahl des zweiten Weges mit der damaligen Situation der Kunstwissenschaften, da solche fortwährend in ihnen genutzten Begriffe wie Raum, Farbe und Licht üblicherweise einfach mechanisch aus Gebieten entlehnt würden, die außerhalb des Künstlerischen oder Ästhetischen lägen. Dabei [werden] die größtenteils phänomenologischen Beobachtungen hinsichtlich der Rolle dieser Elemente in der Kunst bei der Mehrheit der Forscher entweder verfälscht oder einfach durch Schemata und Modelle ersetzt, die aus der Psychologie, der Physiologie oder aus Elementarlehrbüchern der Physik und Mathematik entlehnt wurden.40

Ferner erklärt Gabričevskij den Begriff ›Element‹ selbst, »der seine Tradition in der russischen Kunst- und Lehrpraxis hat«, für misslungen: Es wäre absurd zu behaupten, der Künstler erschaffe sein Werk, indem er irgendwelche abstrakten Wesen kombiniert, die als Raum, Licht u.ä. bezeichnet werden. Es ist völlig offensichtlich, dass er in diesem Fall mit Formen operiert, die einerseits ihre Gestalt bereits erhalten haben, bevor sie in die Grenzen des Künstlerischen aufgenommen werden, und die andererseits neu interpretiert und neu bearbeitet werden, just von dem Moment an, da diese Aufnahme geschehen ist. Dieses Problem und diese Interpretation muss man natürlich den inneren Formen anrechnen, die die Struktur des künstlerischen Bildes bestimmen. 41

Hier ist Gabričevskijs Bestreben offensichtlich, Špet folgend, die Autonomie der Kunstwissenschaft gegenüber den so genannten ›positiven Wissenschaften‹ zu behaupten, in erster Linie gegenüber der modernen Psychologie und Physiologie. »Die 39 40 41

Ebd., 262. Ebd., 263. Ebd.

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Theorie der räumlichen Künste ist die einzige Wissenschaft, die den sichtbaren Gegenstand als solchen untersucht«, bekräftigt er in einer 1926 am VChUTEIN (Höheres Künstlerisch-Technisches Institut) gehaltenen Vorlesung, denn: »die Physik und die Mathematik [untersuchen] nur die quantitative Seite [des Gegenstandes], die Physiologie – gar keinen Gegenstand, sondern sein Korr[elat], und die Psychologie – nur Prozesse«42 . So lautet die Position Gabričevskijs in dem sich Mitte der 1920er Jahre in der GAChN entfaltenden Streit über die Methoden der Kunstwissenschaft, der auf der einen Seite die sich um Špet versammelnden jungen Philosophen und auf der anderen Seite die in der Physikalisch-Psychologischen Abteilung arbeitenden Psychologen trennt. Zu Recht ist hier die Frage zu stellen, welche Position Kandinsky in diesem Streit über die Methode der Kunstwissenschaft und der ›positiven Wissenschaften‹ eingenommen hätte, wenn er in Moskau geblieben wäre. Die Frage scheint überflüssig, ist der Künstler doch, wie bereits erörtert, schon im INChUK Initiator einer engen Zusammenarbeit mit den Wissenschaft lern. Die Frage der Rolle von Naturwissenschaften und exakten Wissenschaften bei der Erarbeitung einer Wissenschaft der Kunst und das damit verbundene Projekt eines wissenschaft lich-experimentellen Laboratoriums werden dort zum Stein des Anstoßes und treiben den Bruch Kandinskys mit Rodčenkos »Gruppe für objektive Analyse« Anfang 1921 voran; in Kandinskys im Juli desselben Jahres vorgelegtem »Arbeitsplan der Sektion für bildende Künste« der RAChN wird die Frage der Zusammenarbeit von Kunsttheoretikern und Vertretern der so genannten ›positiven Wissenschaften‹ zur Grundfrage der Kunstwissenschaft erklärt. Doch bedeutet dies unbedingt, dass seine Position a priori derjenigen nahe kommt, die später die Mitarbeiter der von ihm selbst gegründeten PhysikalischPsychologischen Abteilung vertreten? Eine aufmerksame Lektüre von Texten des Künstlers aus verschiedensten Zeiten muss dazu führen, diese Frage zu verneinen. Die Frage ist, welche Art von Wissenschaft, welche Methode und welchen Zugang zur Kunst Kandinsky meint, wenn er in seinem auf der Sitzung der Wissenschaftlich-Künstlerischen Kommission vom 1. September 1921 gehaltenen Vortrag »Grundelemente der Malerei« von einer »allgemeine[n] Bezeichnung für das psychologische Verfahren« spricht. Indem er dort behauptet, »die Kunstwissenschaft [solle] bei der Annäherung an ein Bild den gleichen Standpunkt einnehmen, den die Wissenschaft gewöhnlich einnimmt, wenn sie sich den Phänomenen der Welt nähert«, polemisiert der Künstler gegen eine Meinung, die dort zwei Tage zuvor, am 30. August, Semen L. Frank in seinem Vortrag »Die Rolle der Kunst in den positiven Wissenschaften« geäußert hatte, nämlich dass »die Wissenschaft bei einer Annäherung an die Phänomene der Welt und ihrer Untersuchung diese gewöhnlich arm macht, zerstückelt, in Totes verwandelt und nur die einzelnen Teile betrachtet«. Kandinsky schreibt: »Ihm [Frank] scheint, dass die Wissenschaft, um den Menschen zu studieren,

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A.G. Gabričevskij: Teorija prostranstvennych iskusstv, 215 (Hervorhebung im Orig.).

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diesen töten muss. Doch man kann sich dem Menschen auch als einem lebenden Menschen nähern, und dem Bild als einem lebenden Wesen […].«43 Somit soll der psychologische Ansatz, auf dem der Künstler besteht (und der seiner Meinung nach dazu bestimmt ist, die Kunstwissenschaft mit den ›positiven Wissenschaften‹ zu vereinen), vor allem von der Auffassung vom Kunstwerk als lebendem Organismus ausgehen – einer tief in der deutschen philosophischen Tradition verwurzelten Vorstellung, die Gabričevskij vollständig teilt, die jedoch den Psychologen der GAChN fremd geblieben ist. Als im Sommer und Herbst 1921 in der Wissenschaft lichKünstlerischen Kommission und der RAChN über das Verhältnis der Methoden der Kunstwissenschaft zu den Methoden der ›positiven Wissenschaften‹ debattiert wird,44 betont er die Notwendigkeit des »Aufbaus der Kunstwissenschaft als eines Teils der Naturphilosophie«45. Diesen Gedanken entwickelt Gabričevskij später, in seinem 1923/24 verfassten und 1928 publizierten Text Oberfläche und Fläche, in dem er schreibt, dass die Kunst »von ihrer natürlichen Seite her« mit der Biologie in Beziehung gesetzt werden könne, d. h. mit der »Wissenschaft des Lebens im weitesten Sinne des Wortes«. Er präzisiert, dass wenn man schon bei der Erforschung der Kunst sich wissenschaftlicher Modelle bedienen müsse, dann der organischen und nicht der mechanischen, wobei er als Beispiel die antike und mittelalterliche Wissenschaft sowie die Optik und Farbenlehre Goethes anführt.46 Diese von Gabričevskij in den ersten Jahren seiner Tätigkeit in der RAChN vertretene Position, die der Kandinskys nahe kommt, hat ihr Pendant in dem im Frühjahr 1924 von Vasilij P. Zubov formulierten Programm zur Erforschung der Optik für die soeben in der Philosophischen Abteilung gebildete »Kommission für das Studium der Geschichte der ästhetischen Theorien«, deren ständiger wissenschaft licher Sekretär er wird. Indem er die Optik in dem Sinne interpretiert, der diesem Begriff bis Mitte des 18. Jahrhunderts zukam, nämlich als Lehre von den Objekten des Sehvermögens und ihrer Eigenschaften, betont er die sich bei ihrem Studium ergebende Notwendigkeit, sich solchen Wissenschaften wie der Physik zuzuwenden; dabei fasst er die antike, die mittelalterliche und die Physik der Frührenaissance sowie die Optik Goethes ins Auge, die »vom Ideenkreis der ästhetischen Ordnung« und »vom unmittelbar Gegebenen« ausgehen, »ohne es durch Modelle zu ersetzen, die visuell mit diesem Gegebenen nichts gemeinsam Lecture by Wassily Kandinsky, 1921, 3. Dieser Frage ist die gesamte Vortragsreihe gewidmet, im Rahmen derer auch der o.g. Vortrag Franks gehalten werden. Erwähnt seien hier auch die beiden Vorträge Nikolaj E. Uspenskijs »Rol’ pozitivnych nauk pri izučenii chudožestvennogo tvorčestva« [Die Rolle der positiven Wissenschaften bei der Erforschung des Kunstwerks] und »Na granice iskusstva i nauki« [An der Grenze von Kunst und Wissenschaft] (4. August und 3. Dezember 1921). Vgl. GAChN. Otčet za 1921–1925, 9. 45 Vgl. die auf den 15. September 1921 datierten Thesen Gabričevskijs »O vremennoj i prostranstvennoj forme«, 167. 46 A.G. Gabričevskij: Poverchnost’ i ploskost’, 221. 43

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hatten«. »Gerade dieses Merkmal der alten Physik«, so Zubov, »gestattet es, eine Brücke von ihr zu den Erscheinungen der ästhetischen Ordnung zu schlagen.«47 Ein Sammelband zur Geschichte der physikalischen Theorien ästhetischer Wahrnehmung, in dem einschlägige Artikel Zubovs über »Die Optik R. Bacons«, »Die Katroptika des 16. und 17. Jahrhunderts« und »Das Verfahren zur Untersuchung der Chromatik Goethes« enthalten waren, wurde den Sitzungsprotokollen des Redaktionskomitees der RAChN von 1924/1925 zufolge in den Publikationslisten der Philosophischen Abteilung als druckfertig verzeichnet, ist jedoch nicht erschienen.48 Denn das Zubov’sche Programm zur Erforschung der Optik, das den Forschungsschwerpunkten der Akademie in der Frühphase ihres Bestehens entsprach, bleibt am Schluss nur das Programm eines Einzelgängers.49 Im oben erwähnten Aufsatz Oberfl äche und Fläche von 1923/1924 nimmt Gabričevskij nicht ohne Grund an, dass nur wenige diesen Weg beschreiten würden, während der Mainstream der Kunstwissenschaft ler fortfahren würde, »fertige Modelle aus der physiologischen Psychologie zu entlehnen, die sich auf dem Gebiet der Kunst als noch abstrakter und leerer erweisen«.50 Dieser Umstand wird für ihn nach und nach immer deutlicher, wovon sein oben zitierter, 1926 entstandener Text Über die Malerei zeugt. Es sei schließlich noch erwähnt, dass Kandinsky den Ausdruck ›Elemente der Kunst‹ wie auch den Begriff der ›Konstruktion‹ bereits in der Münchner Periode in der Bedeutung der bewussten Gestaltung verwendet und ihn damit von Anfang an vom Begriff der ›Komposition‹ abgrenzt, den er ab den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts im Sinne eines inneren Plans oder seiner Realisierung im großformatigen Bild gebraucht.51 In der zweiten Ausgabe seines Buches Über das Geistige in der Kunst schlägt Kandinsky eine weit gefasste Definition von Konstruktion als Ausdruck eines objektiven Gesetzes in der Kunst vor, deren geistige Kraft das Gesetz der inneren Notwendigkeit ist, und versteht unter Konstruktion eine innere Organisation des Kunstwerks in Analogie zur lebendigen Welt, die er in dem undatierten Fragment »Heute ist man in der traurigen und glücklichen Lage, über Konstruktion in der Kunst sprechen zu müssen […]« ausführlich beschreibt. In diesem Text wird die Frage der Konstruktion und des bewussten Schaffens als direkte Konsequenz der Vorstellung vom Kunstwerk als einem Lebewesen angesehen. Gemäß dieser Überlegung sind geistige Wesen, ähnlich allem Lebenden auf der Welt, eingeschlossen in eine 47 48

V.P. Zubov: [Notiz ohne Titel], in: RGALI. F. 941. Op. 14. Ed. chr. 13. L. 5. GAChN. Spiski publikacij Filosofskogo otdelenija, in: RGALI. F. 941. Op. 1. Ed. chr. 43. L.

57, 81. Näheres zu Zubovs Programm der Optikforschung an der GAChN vgl. meinen Aufsatz »U istokov ›mnogoletnich sovmestnych skitanij v debrjach Leonardo ‹«. 50 A.G. Gabričevskij: Poverchnost’ i ploskost’, 219–220. 51 Zu Kandinsky als einem der ersten in der russischen Kunst, die neben dem russischen Äquivalent ›postroenie‹ das Fremdwort ›konstrukcija‹ verwendeten, vgl. E.V. Sidorina: Liki konstruktivizma, 468–474. Zum Begriff der Konstruktion bei Kandinsky vgl. Verf.: Ponjatie konstrukcii u Kandinskogo. 49

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ununterbrochene »Kette der Ursachen und [des] Zwecks«. Wie jedes Lebewesen geht das Kunstwerk »logisch« unvermeidlich aus vorher Seiendem hervor und »muß […] als lebendes Wesen, wenn auch in geistiger Form, jedem Wesen konstruktiv gleich sein, logisch konstruiert werden.«52 . In einem anderen undatierten Fragment mit dem Titel »Kompositionselemente« wird eine auf Etymologie basierende Deutung des Wortes ›organisieren‹ (vgl. ›Organismus‹, ›Organe‹) entwickelt: Einfache und mehrfache Erlebnisse, seelische Klänge, die unorganisiert (wie z. B. auf Fließpapier) oder organisiert sein können. ›Organisiert‹, d. h., zum Organismus gemacht. So ist ein graphisches Werk ein Organismus, der in der Kunstwelt lebt, seine Organe hat und also keine Verzerrung, keine Verschiebung erleiden kann ohne zerstört zu werden.53

Eine solche auf die spinozistische Tradition Goethes und der deutschen Romantik zurückgehende organistische Vorstellung vom Wesen des Kunstwerks tritt erneut in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich in den Arbeiten der des Münchner Zirkels, insbesondere bei Adolf von Hildebrand auf. Bei Letzterem liegt diese Vorstellung seinen Überlegungen zur zentralen Frage der Ästhetik zugrunde – der Wechselbeziehung zwischen Teil und Ganzem. So erläutert er am Beispiel der Landschaftsdarstellung, wie im Bild die Einzelgegenstände durch ihre Stellung und Anwendung an der Darstellung des Gesamtraumes arbeiten und je nach ihrer Verwertung die Raumanregung des Ganzen verstärken, andererseits durch diese Verwendung an sich als Einzelgegenstände stärker zum Ausdruck kommen, weil sie eben im Ganzen eine bestimmte räumliche Funktion haben, eine bestimmte räumliche Rolle spielen

und er folgert: »In dieser Doppelrolle, welche in einer Raumwirkung fürs Ganze und fürs Einzelne besteht, erkennen wir aber die künstlerische Verknüpfung des Ganzen und Einzelnen – die Gelenke der Erscheinung als eines künstlerischen Organismus.«54 Die organistische Vorstellung von der Konstruktion erfährt an der RAChN vor allem in den Arbeiten des Kandinsky nahe stehenden Gabričevskij eine Weiterentwicklung. In der Einführung in die Morphologie der Kunst, die dieser Mitte 1921 zu schreiben beginnt, geht der Wissenschaft ler speziell auf den Organismusbegriff Schellings und Goethes ein und bekräftigt insbesondere: »Die pantheistisch-organistisch aufgefasste Natur konnte der Kunst schon deshalb nicht so scharf gegenüberstehen, weil [sie] zu sich gegenseitig widerspiegelnden Symbolen und Verkörperungen des Allorganismus geworden waren.«55 Gabričevskijs Definition der Kunst52 53 54 55

W. Kandinsky: Gesammelte Schriften 1889–1916, 349 f. (Hervorhebung im Orig.). Ebd., 610. A. v. Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst, 31. A.G. Gabričevskij: Vvedenie v morfologiju iskusstva, 101.

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wissenschaft als Teil der Naturphilosophie ist ebenfalls mit dieser philosophischen Tradition verbunden. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass der erste Vortrag der Physikalisch-Psychologischen Abteilung der RAChN aus dem Zyklus Probleme der Konstruktion im Dezember 1921 der Beitrag Gabričevskijs zum Thema »Das wissenschaft liche und das künstlerische Weltbild Goethes« ist, von welchem leider weder der Text noch die Thesen erhalten sind. Wir müssen also, wenn wir an der GAChN jene Forschungsrichtungen kenntlich machen wollen, die der ursprünglichen Konzeption Kandinskys treu blieben, unseren Blick von der Physikalisch-Psychologischen Abteilung abwenden und auf jene – einzelnen und untereinander höchst verschiedenen – GAChN-Mitglieder richten, die der Goethe’schen Auffassung von der Kunst nahe standen und die ein stark ausgeprägtes Interesse sowohl an Fragen des Werks als solches als auch am Studium klassischer Kunsttheorien von Künstlern (Leonardos, Albertis, Palladios u. a.) hatten. Ich habe hier vor allem Gabričevskij, Zubov, Dmitrij S. Nedovič und Ivan V. Žoltovskij im Blick. Zum Schluss weise ich darauf hin, dass es sich bei den Projekten der wissenschaft lichen Ausgabe Goethes und der Traktate der italienischen Renaissance, die unter der Leitung Gabričevskijs in den 1930er Jahren, bereits nach der Auflösung der GAChN, unter Mitwirkung ehemaliger ›Akademiemitglieder‹ durchgeführt wurden, um ein wirkliches Resultat der noch an der GAChN von Kandinsky mit leichter Hand eingeleiteten ›Kunstwissenschaft‹ handelte.

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Jan Mukařovský und Michail Bachtin Herta Schmid

Einem Vergleich zwischen dem Begründer des tschechischen Strukturalismus in der Literaturwissenschaft und Ästhetik und dem Haupt des sogenannten Bachtinkreises in der Sowjetunion haftet etwas Willkürliches an.1 Mukařovský bekennt sich als Anhänger der Schule der russischen Formalisten und verteidigt nach deren politischer Zerschlagung ihre eminente Bedeutung für die internationale Literaturwissenschaft.2 1934, als er in die prononciert strukturalistische Phase seiner Literaturtheorie eintritt, hat er in einer Rezension der tschechischen Übersetzung von Viktor Šklovskijs Teorija prozy [Theorie der Prosa] versucht, seinen Landsleuten die ihnen befremdlich erscheinenden Grundsätze der russischen Formalisten nahe zu bringen. Desgleichen stellt er hier zwischen tschechischem Strukturalismus und russischem Formalismus eine Beziehung der Kontinuität her: Der Strukturalismus formuliere Gedanken aus, die Šklovskij von Anbeginn verfolgt, auf Grund der polemischen Konfrontation mit den akademischen Zunft vertretern aber nicht habe auskristallisieren können.3 Ganz anders ist Bachtins Verhältnis zur Schule der russischen Formalisten. 1924 attackiert er in dem Aufsatz »Problema soderžanija, materiala i formy v slovesnom tvorčestve« [Das Problem von Inhalt, Material und Form im sprachlichen Schaffen] deren rein formalen, inhaltsvergessenen Ansatz. Den von Mukařovský bemerkten intendierten Strukturalismus nimmt er entweder nicht wahr, oder er goutiert ihn nicht. Der Grund für die Ablehnung muss in Bachtins eigener Literaturtheorie gesucht werden, die sich nur schwer unter ein Etikett zwingen lässt.4 Charakteristisch Zur Frage der Kontakte zwischen Bachtin und Mukařovský vgl. I. Wutsdorff: Bachtin und der Prager Strukturalismus, bes. die »Einleitung«, 9–30. 2 So in dem Aufsatz »Vztah mezi sovětskou a československou literární vědou« (1935–36). Den russischen Formalismus bewertet Mukařovský dort als »wichtigste und fruchtbarste Erscheinung der sowjetischen Literaturwissenschaft« (vgl. ders.: Vztah mezi sovětskou a československou literární vědou, 334 f. Übersetzungen, sofern nicht anders angegeben, von H. Schmid). Einleitend bietet er eine Übersicht über die geistigen Wurzeln dieser Schule, an der kein Literaturwissenschaft ler mehr werde vorbeigehen können. 3 Vgl. hierzu bes. den Anfangsteil in Mukařovskýs Aufsatz »K českému překladu Šklovského Teorie prózy« (1934). 4 In meinem Aufsatz »Die entwicklungsgeschichtlichen Ideen Jan Mukařovskýs und Michail Bachtins« schlage ich für Bachtins Ästhetik den Begriff der »Verantwortungsästhetik« vor. Um dem Verdacht vorzubeugen, die Ästhetik des tschechischen Strukturalismus sei verantwortungslos, sei aus Mukařovskýs Apologie der (von Bachtin ebenfalls kritisierten) modernen Kunst, »Dialogické rozpory v moderním umění« (1935), zitiert: »Die moderne Kunst wird allzu oft als Krise der zeitgenössischen Kultur und Gesellschaft kritisiert. Solche Charakterisierung ist nur soweit berechtigt, wie sie nicht Ausdruck des Grolls gegenüber jeglicher lebendigen Kunst ist, und nur dann, wenn sie von dem Bewusstsein darum begleitet ist, wie viel Streben es gerade in der modernen Kunst nach einer Rekonstruktion der Welt der Werte gibt und wie stark in ihrem scheinbaren 1

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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ist aber wohl, dass sich Bachtin im Laufe der Entwicklung seines Denkens der hermeneutischen Richtung zuwendet. Hermeneutik liegt sowohl dem russischen Formalismus als auch dem tschechischen Strukturalismus fern. Ein Indiz für die Unvereinbarkeit zwischen Mukařovský und Bachtin kann man auch darin vermuten, dass letzterer bisweilen als eine Art Wegbereiter des Poststrukturalismus und Postmodernismus deklariert wird, 5 eine ›Ehrung‹, die dem Tschechen schwerlich zuteil werden kann.6 Gerade die gegensätzliche Haltung zum russischen Formalismus soll uns als Vergleichspunkt beider Theoretiker dienen. Ein weiterer Punkt wird die jeweilige Auffassung von der Sprache sein. Im Focus unseres kontrastiven Vergleichs steht Mukařovskýs Strukturalismus, der heute in Deutschland so fremd zu wirken scheint, wie Mukařovský dies 1934 für die Rezeptionsbedingungen des russischen Formalismus bei den Tschechen konstatierte. Unser Vergleich mag vielleicht hilfreich sein, um unsere heutige Fremdheit gegenüber sowohl dem Prager Strukturalismus als auch Bachtins Theorie auszumessen.

Mukařovskýs und Bachtins Einstellung zum russischen Formalismus In Mukařovskýs Rezension zu Šklovskijs Theorie der Prosa sind zwei Ansätze für die Weiterentwicklung seines Denkens wichtig. Einer davon ist die Frage nach der Beziehung zwischen der Literatur und außerliterarischen Erscheinungen in Gesellschaft und Kultur, der andere die Beziehung zwischen künstlerischer Literatur und Ästhetik. Zunächst geht er auf die gemeinsame Traditionslinie der Herbart’schen Ästhetik ein. Diese von Immanuel Kant herrührende Linie hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den Tschechen (ebenso in Österreich) eine besondere Blüte erfahren, so dass man auch vom tschechischen Herbartismus oder Formalismus/ Formismus spricht. Auf die Phase der Blüte folgte eine Phase der Diffamierung und Vulgarisierung, die erst durch Otakar Zich, Mukařovskýs akademischen

Chaos das Bemühen um eine, freilich dynamische, Ordnung ist.« (J. Mukařovský: Dialogické rozpory v moderním umění, 370.) 5 Vgl. dazu E. Volek: El Formalismo Ruso. Er hebt die religiöse Kontur der Bachtin’schen Dialogizitätstheorie hervor. 6 E. Volek (vgl. J. Jandová / E. Volek [eds.]: Signo, función y valor) erörtert die Beziehungen des tschechischen Strukturalismus zu zeitgenössischen und aktuellen sprachtheoretischen Strömungen im internationalen Kontext. Laut Volek war Frankreich, das in Poststrukturalismus und Postmodernismus führend wurde, besonders resistent gegen die Konzepte der Tschechen. Einer der Gründe sei die Einstellung zum menschlichen Subjekt, dem der französische Poststrukturalismus den Boden entzog, wohingegen Mukařovský ab Mitte der dreißiger Jahre eine »paulatinische Wende« (»un cambio paulatino«; ebd., 390) von einer das Subjekt eliminierenden zu einer die Ethik des Wissenschaft lers in allen Gebieten fordernden Auffassung vollzogen habe. Was für die Wissenschaft gilt, gilt jedoch nicht in gleichem Maße für den Künstler, der nach Mukařovský unter Gesetzen steht, die nur eine indirekte Beziehung zur Ethik erlauben.

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Lehrer, durchbrochen wurde. Wir versuchen eine kurze Darstellung von Herbarts Ästhetik. Johann Friedrich Herbart suchte nach Gesetzen für ästhetische Verhältnisse zwischen sogenannten »Realen«, das sind kleinste Einheiten der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Die Qualität der Realen gilt als ästhetisch gleichgültig, relevant ist nur das Verhältnis paariger Reale, das auf konstanten Formen wie Symmetrie, Proportionalität, Kontrast und dergleichen basiert. Nicht die isolierte Einzelreale, sondern das Paar ist die eigentliche Grundeinheit von Wahrnehmung. Die Relationsformen sind veränderlich, insofern jedem in ein Paar gespannten Reale eine gewisse Menge an Energie zukommt, die es befähigt, sich gegenüber dem Gegenpol für eine bestimmte Zeit in eine Vormachtstellung zu drängen, wobei es sich die Eigenenergie der zurückgedrängten Reale zunutze macht. Auf eine Phase der Dominanz folgt eine solche der Erschöpfung, das bisher vorherrschende Reale tritt nun seinerseits in den Hintergrund und die Unterordnung, kann sich aber in dieser Ruheposition erholen und den Gegenpol aus der erreichten Vorrangstellung wieder verdrängen. Diesem Modell dynamischen, asymmetrischen Ausschaukelns von Energien auf der Ebene der sinnlichen Elemente korrespondiert ein psychologisches Gesetz der Wahrnehmung. Es besagt, dass ein habituell gewordenes Verhältnis zwischen den Realen die Aufmerksamkeit abstumpfen lässt, so dass das Wahrnehmungssubjekt nach neuen Paarverhältnissen verlangt. Künstlerisches Schaffen fügt sich in die Konstellation zwischen den objektiv gegebenen Zuständen zwischen den Realen und den Bedürfnissen des subjektiven Bewusstseins so ein, dass es eine Resultante zweier Kräfte wird, der Energie und Eigendynamik der Realen und des Wechsels zwischen Gewöhnung und Erneuerungsbedürfnis von Wahrnehmung im menschlichen Bewusstsein.7 Unschwer kann man die Nähe dieser Linie der Ästhetik zu der Lehre der russischen Formalisten von der Abweichung, Deformation bis hin zur ›Verfremdung‹ (ostranenie) sowie dem Gesetz des Dominantenwechsels in der Entwicklung von Kunst erkennen.8 Mukařovský verweist auf einige Stellen aus Šklovskijs Texten, »an denen sich das Herz orthodoxer Herbart’scher Formalisten erfreuen würde«, wie beispielsweise: Das literarische Werk ist reine Form, es ist keine Sache, kein Material, sondern ein Verhältnis zwischen Materialien. Wie ein Verhältnis hat auch dieses keine Dimensionen. Deshalb ist der Maßstab des Werks, der arithmetische Wert seines Zählers und 7 Vgl. J.F. Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, bes. den dritten Abschnitt »Einleitung in die Ästhetik; besonders in ihren wichtigsten Teil, die praktische Philosophie«. Dort liefert Herbart eine der Theorie der Abweichung im russischen Formalismus und mehr noch im tschechischen Strukturalismus zugrundeliegende Formel: »Die Abweichung setzt den festen Punkt voraus, von wo abgewichen wird […]. Gibt es überhaupt irgendeine weitreichende Formel zur Erklärung des Schönen, so ist es diese: am Regelmäßigen verlieren, um es sogleich wieder zu gewinnen.« (Ebd., 163.) Auf die Herbart’sche Linie im österreichisch-tschechischen Raum verweist auch Wolfhart Henckmann in seiner »Einleitung« (ebd., LII). 8 Ju.N. Tynjanov (vgl. ders.: Das Problem der Verssprache) nimmt zu den genannten Begriffen im Sinne einer ›Dialektik‹ Stellung, die der von Mukařovský sehr ähnelt. Vgl. ebd., 43.

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Nenners, eine gleichgültige Angelegenheit, wichtig ist nur ihr Verhältnis. Scherzhafte, tragische, weltliche, kammertonartige, die Stellung einer Welt gegen eine Welt oder einer Katze zum Stein sind untereinander gleich.9

Doch in der Intention der Šklovskij’schen Theorie liege die Verbindbarkeit von Formverhältnissen und Bedeutungen, d. h. eine Berücksichtigung auch des sogenannten ›Inhalts‹. Des Weiteren sei auch die schroffe Zurückweisung der Literatursoziologie bei Šklovskij der polemischen Situation seiner neuen Schule geschuldet. In beiden Hinsichten, der Bedeutung wie des sozialen Aspekts, begreift Mukařovský seinen eigenen Strukturalismus als dialektische Synthese: Während der russische Formalismus die Antithese zur These rein inhaltlich oder soziologisch orientierter Literaturbetrachtung sei, böte der Strukturalismus als Synthese eine Überwindung der Einseitigkeiten beider Richtungen. In Bezug auf die Literatursoziologie zitiert Mukařovský wiederum eine einschlägige, bildliche Aussage Šklovskijs: Ich beschäft ige mich beim Studium der Literatur mit ihren inneren Gesetzen. Wenn ich eine Parallele aus der Industrie anführen soll, so interessiert mich nicht die Situation auf dem Baumwollmarkt in der Welt, noch die Politik der Trusts, sondern nur die Arten des Garns und die Webweisen.

Der Strukturalismus interessiert sich, so Mukařovský, zwar weiterhin hauptsächlich für die ›Webweise‹, doch deren Entwicklung sei nicht nur von der Webtechnik, sondern ebenfalls durch die »Bedürfnisse des Marktes, durch Angebot und Nachfrage« bedingt.10 Wie diese Bedingtheit sich in der Eigenentwicklung der Literatur als einer autonomen Reihe geltend machen kann, sei Sache der »dialektischen« Beziehungen zwischen heterogenen Reihen, eine Denkformel, die Mukařovský immer wieder verwendet. Im Falle der literarischen Reihe nennt er als ihr äußere Reihen »Wissenschaft, Politik, Ökonomie, gesellschaft liche Schichtung, Sprache, Moral, Religion usw.«.11 Von diesen Reihen interessieren ihn im weiteren Ausbau seines Strukturalismus besonders die gesellschaft liche Schichtung, die Sprache und die Religion; Markt, Politik und Moral hingegen weitaus weniger. Dennoch lassen sich auch zu diesen Bereichen implizite Brücken erkennen, die im Übrigen auch in der Kant’schen und Herbart’schen philosophischen Ästhetik angelegt sind. Das strukturalistische Konzept der Beziehung zwischen der Kunst und kunstfremden Reihen wollen wir zunächst beiseite lassen, um uns der Ästhetik zuzuwenden, ist sie doch auch der Grund für die positive Bewertung des russischen Formalismus durch Mukařovský. Der tschechische Strukturalist entwickelt ab Mitte der dreißiger Jahre bis Mitte der vierziger Jahre ein eigenständiges System der Ästhetik der Kunst, das wir in einigen Zügen nachzuzeichnen versuchen, ohne im Einzelnen auf Parallelen oder Anleihen bei zeitgenössischen bzw. älteren Strömungen einzu9 10 11

J. Mukařovský: K českému překladu Šklovského Teorie prózy, 326–327. Ebd., 328–329. Ebd., 329.

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gehen. Doch sei zumindest auf die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls hingewiesen, auf die er sich bei der Ermittlung der Zeichenhaft igkeit von Kunst stützt, einem wichtigen, zur strukturalistischen Semiotik der Kunst und Künste überleitenden Theorieteil.12 Die Rekonstruktion des Systems soll uns den Vergleich mit Michail Bachtins Ästhetik ermöglichen. Ein passendes, oft schon von der Fachliteratur verwendetes Etikett für die ästhetische Orientierung des tschechischen Strukturalismus ist die anthropologische Ästhetik.13 Eine ihrer grundlegenden Voraussetzungen ist die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt und die damit zusammenhängende phänomenologische Lehre von verschiedenartigen ›Haltungen‹ oder ›Einstellungen‹ (postoje) des Bewusstseins. Die Haltungen korrelieren mit den Funktionen des Menschen, d. h. bestimmten Weisen seines ›sich geltend Machens‹, seiner ›Selbstverwirklichung‹ (sebeuplatnění) gegenüber der Wirklichkeit. Hier ermittelt Mukařovský vier Grundfunktionen: die praktische, dem Erhalt des biologischen Organismus dienende Funktion, die theoretische, auf begriffliches Erfassen von Wirklichkeit gerichtete Funktion sowie die Funktion magisch-religiöser Einwirkung auf Kräfte spiritueller Art. Diesen drei Funktionen ist die Richtung der funktionalen Energie auf ein äußeres Ziel gemeinsam. Die vierte, die ästhetische Funktion hat kein äußeres Ziel, ihre Energie entfaltet ein auf sich selbst gerichtetes Zielstreben (sebeúčelnost). Der Gegensatz von äußerer Zielgerichtetheit und Selbstzieligkeit erlaubt eine polare Einteilung der vier Funktionen in die Gruppe der ersten drei, jetzt auch »praktische« im weiteren Sinne genannten Funktionen und der nicht praktischen ästhetischen Funktion. Unter Berücksichtigung der je funktionsgerechten Bewusstseinseinstellungen gelangt Mukařovský zu einer zweiten, die erste überlagernden Einteilung der vier Funktionen. In der Ausübung der praktischen Funktion (im engeren Sinne der biologischen Selbsterhaltung) und der Erkenntnisfunktion stellt sich das Subjekt unvermittelt auf das Objekt ein, in den beiden anderen Funktionen tritt zwischen Subjekt und Objekt ein vermittelndes Zeichen. Zwar können auch die beiden erstgeVgl. hierzu J. Mukařovský: Místo estetické funkce mezi ostatními. Hier bedient sich Mukařovský der phänomenologischen »Wesensschau« (er verwendet den deutschen Ausdruck) als eines Deduktionsverfahrens »aus der Sache selber«, also »aus dem Wesen der Funktion« (ebd., 87). 13 Die anthropologische Ästhetik entwickelt Mukařovský ab »Estetická funkce, norma a hodnota jako sociální fakty« (1936) über »Může míti estetická hodnota v umění platnost všeobecnou?« (1939) bis hin zu »Záměrnost a nezáměrnost v umění« (1943). Auf letzteren Aufsatz gehe ich weiter unten genauer ein. Zum Anthropologismus bei Mukařovský und Ernst Cassirer vgl. auch H. Schmid: Zugänge zum Subjekt. Hingewiesen sei auch auf Ondřej Sládeks Sammelband Český strukturalismus po poststrukturalismu, worin das anthropologische Thema bei Mukařovský mehrmals zur Sprache kommt. Erwähnt sei, dass Tzvetan Todorov (vgl. ders.: Antropologia fi lozoficzna) auch Bachtins Lehre unter das Etikett der »Antropologiczna Filozofia« [Anthropologische Philosophie] subsumiert. Todorov hält diesen von Bachtin selbst reklamierten Ausdruck für einen Schlüssel des gesamten Bachtin’schen Denkens und spürt ihm durch alle Entwicklungsphasen nach. 12

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nannten Funktionen Zeichen verwenden, diese sind aber nicht wesensbedingt. Der Unterschied zwischen der magisch-religiösen und der ästhetischen Zeichenbildung liegt darin, dass erstere die Zeichen für Operationen an der Sache verwendet, wobei die Strukturrelationen zwischen Subjekt, Zeichen und Sache nicht klar erkannt werden. Bei der ästhetischen Zeichenbildung hingegen ruht die Aufmerksamkeit des Subjekts auf der Beziehung des Zeichens zu seinem eigenen Bewusstsein, die Sache rückt in den Hintergrund. Subjekt und Zeichen treten in eine Beziehung der Nähe, Zeichen und bezeichnete Sache treten auseinander. So kann dann auch die Strukturrelation zwischen Subjekt, Zeichen und Sache klar bewusst gemacht werden. Die ästhetische Funktion ist daher hilfreich für die allgemeine Wissenschaft der Semiotik, darüber hinaus aber auch für die Auffassung des Menschen als eines Zeichen bildenden und – im Unterschied zur magisch-religiösen Funktion – Zeichenstrukturen durchschauenden Wesens. Die Kunst, der Bereich menschlicher Selbstverwirklichung, in dem die ästhetische Funktion gesetzgeberisch wirkt, wird somit als ein orientierender Faktor in der gesamten semiotischen Sphäre eminent wichtig, da sie helfen kann, nicht nur komplizierte Zeichenbauten, sondern auch rhetorische Zeichenmanipulationen zu durchschauen.14 Bemerkenswert an Mukařovskýs Paradigma der vier anthropologischen Funktionen ist das Fehlen der sprachlichen Funktion. Das sprachliche Zeichen erhält nicht den Rang eines Urphänomens bei der funktionalen Selbstverwirklichung des Menschen gegenüber der Wirklichkeit. Das hat Konsequenzen auch für die Rolle der sprachlichen Zeichen in der Ästhetik der Künste. Sprache ist Material nur in der Literatur, die übrigen Künste haben ihre eigenen Materialien. Mittels ihrer setzen die Künstler die allgemeine ästhetische Funktion im Rahmen der materiellen Möglichkeiten wie auch materiellen Grenzen um. Das Rechnen mit einer sprachunabhängigen Zeichenbildung der ästhetischen Funktion in den Einzelkünsten erlaubt somit eine Semiotik der Künste, die jede Einzelkunst als spezifische Manifestation der ästhetischen Funktion begreifen und mit den übrigen Künsten vergleichen lässt. Zur anthropologischen Ästhetik gehört auch die Lehre von der Weise, wie die ästhetische Funktion ihre Selbstzieligkeit realisiert. Hier macht sich die Herbart’sche Tradition deutlich bemerkbar, wobei Mukařovský nun eine genauere Formel für die Entwicklungsdynamik der ästhetischen ›Verhältnisse‹ aufstellt. Er sieht sie ähnlich wie Herbart in einer anthropologischen Basis fundiert, welche der menschliche Körperbau, seine Lage im Raum und die Blutzirkulation liefern: Das Empfinden für Proportionalität, Symmetrie und Gleichgewicht sowie für Rhythmus sind Universalien sinnlicher Wahrnehmung. Kunst macht sich diese Universalien zunutze, Das Eindringen politisch bedingter Rhetorik in die tschechische Lyrik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht Mukařovský in »Poznámky k sociologii básnického jazyka« (1935). Die Studie will damaligen, von der Literatursoziologie ausgehenden Tendenzen, sich nur mit dem ›Inhalt‹ zu beschäft igen und die mögliche, ästhetische Deformation zu übersehen, entgegentreten. Hier verweist Mukařovský auch auf Aufsätze von V.N. Vološinov, einem prominenten Mitglied des Bachtinkreises. 14

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indem sie die materiellen Verhältnisse im Kunstwerk so anlegt, dass Spannungen zu der Basis spürbar werden. Die Basis selbst ist eine Grundnorm, ein Maßstab, der nicht absolute Übereinstimmung verlangt, denn diese wäre ästhetisch gleichgültig. Vielmehr dient der Maßstab dem Messen der Differenzen, der Abweichungen zwischen den Verhältnissen im Kunstwerk und den in der Basis angelegten. Den Faktor der Gewöhnung an etablierte Differenzbeziehungen, den auch Herbart berücksichtigt hat (später finden wir ihn bei Broder Christiansen und den russischen Formalisten wieder), bezieht Mukařovský mittels des Begriffs der historischen Normen in seine Formel ein, die uns eine Ergänzung der Herbart’sche ›Formel‹15 liefert: Jedes Kunstwerk steht in einer doppelten Spannungsbeziehung, deren einer Pol die unveränderliche Wahrnehmungsbasis, der andere Pol die Reihe historisch wechselnder künstlerischer Normen bildet. Zu beiden Polen muss ein Einzelwerk Abstand halten, doch kann es sich, um sich vom historischen Normenzustand abzusetzen, der anthropologischen Basis maximal annähern, wodurch ein innovatives Werk ›klassische‹ Züge annimmt. Nähert es sich dagegen den historisch gegebenen Normen maximal an, dann gilt es als ›realistisch‹16 . Besonders in Bezug auf das, was man gerne die ›Klassiker‹ der Moderne in den nicht darstellenden Richtungen der Malerei und Bildhauerei nennt, ist dieser Teil der strukturalistischen Ästhetik bedenkenswert. Für die Gesamtformel der ästhetischen Entwicklungsdynamik ist charakteristisch, dass auch hier Grenzen gesetzt werden: Die historischen Normen in der Kunst müssen innerhalb der Reichweite der anthropologischen Basis bleiben, damit diese als spontaner, durch alle Zeiten hindurch wirksamer Maßstab der Abweichungen und Annäherungen in einem Kunstwerk in Kraft bleiben kann. Die gesamte Überlegung zur ästhetischen Normenbasis offenbart uns auch das Weiterwirken eines von Kant aufgeworfenen Problems im tschechischen Strukturalismus. Nach Kant beansprucht das ästhetische Urteil allgemeine Geltung, obwohl es rein subjektiv ist. Der universelle Geltungsanspruch leitet sich von der anthropologischen Basis sinnlicher Wahrnehmung ab, deren ›dialektischer‹ Funktionsweise in der Kunst Mukařovský auf die Spur zu kommen sucht. Noch zu erwähnen bleibt die Beziehung, die Mukařovský zwischen der anthropologischen Funktionenlehre und der Lehre der anthropologischen Fundierung der ästhetischen Verhältnisse legt. Bei der Erörterung dieser Beziehung kommen Begriffe auf, die für Michail Bachtins Ästhetik zentrale Bedeutung haben, nämlich die Begriffe von Inhalt und Form. Beide Begriffe diskutiert Mukařovský unter den Schlagwörtern von Leere und Füllung. Leere meint das Fehlen von eigenen Werten der ästhetischen Funktion, das sich aus ihrem Mangel eines äußeren Funktionszieles ergibt. In die Leere des ästhetischen Zeichens ziehen die Werte der ›praktischen‹ Zur Herbart’schen ›Formel‹ vgl. Anm. 7. Mukařovský bezieht sich zur Bestimmung des Realismus auf Roman Jakobsons Aufsatz »O chudožestvennom realizme« (1921). Doch Jakobson hat meines Wissens keine anthropologischen Funktionen berücksichtigt, er hält sich an die sprachlichen Funktionen. 15 16

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Funktionen als inhaltliche Füllung ein, wobei sie nun unter den Maßstab der historisch gegebenen, aktuellen ästhetischen Normen mit ihrer anthropologischen Basis geraten, d. h. einer ›Form‹ unterstellt werden, die im ›praktischen‹ Lebensvollzug nur sekundär ist. So geraten die ästhetischen, rein formalen Verhältnisse zu Faktoren einer neuen Ordnung zwischen den ›praktischen‹ Funktionswerten, die vom anthropologischen Menschen abgezogen ist. Der neuen, ästhetischen, im zeichenhaften Kunstwerk verwirklichten Ordnung der außerästhetischen Werte spricht Mukařovský die Fähigkeit zu, den Blick des Menschen für Schieflagen seiner funktionalen Selbstverwirklichung in der Gesellschaft zu schärfen und Widerstandspotenziale in sich zu mobilisieren. Hier öffnet sich die strukturalistische Ästhetik für die politisch und kulturell kritisch eingestellte Kunstsoziologie. Der anthropologische Mensch in der durch Kunst vitalisierten ästhetischen Einstellung und ästhetischen Funktion wird zum Maßstab der gesellschaft lich gegebenen Verhältnisse zwischen seinen unveräußerlichen Funktionen und Funktionswerten und dem kollektiven System der Funktionen und Werte, das in seiner Gesellschaft etabliert ist.17 Schon der Titel von Bachtins fundamentaler Auseinandersetzung mit der Ästhetik des russischen Formalismus, »Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen«, zeugt von einer Einengung des Blickwinkels der Bachtin’schen Ästhetik auf die Literatur. Diese Verengung setzt sich in der Weiterentwicklung seines Denkens in der Konzentration auf die Gattung des Romans und das Romanschaffen Dostoevskijs fort. Dennoch beansprucht der Aufsatz von 1924 Gültigkeit für die allgemeine Ästhetik, die trotz einiger Gemeinsamkeiten mit der strukturalistischen Ästhetik doch wesentliche Unterschiede aufweist. Einen Hauptunterschied kann man aus Bachtins Kritik an dem, was er abschätzig die ›Materialästhetik‹ (material’naja ėstetika) der Formalisten nennt, ableiten. Er unterstellt ihnen generell eine isolationistische, an Technik und Naturwissenschaften orientierte Auffassung des künstlerischen Materials. Im Falle der formalistischen Literaturwissenschaft kritisiert er die Anlehnung an die moderne Linguistik. Dementsprechend gerate die Ästhetik der formalistischen Schule zu einer bloßen Technik des Kunstschaffens, bei der die Abweichung von der vorgefundenen Materialform und die ständige Erneuerung von Abweichungsverhältnissen in der Geschichte der Kunst das Schaffensziel sei. Wichtig in unserem Zusammenhang ist, 17 Kritik speziell am Monofunktionalismus der modernen Gesellschaft hat Mukařovský besonders mit Blick auf die Architektur entwickelt. Vgl. dazu »K problému funkcí v architektuře« (1937–1938). In »Člověk ve světě funkcí« (1946) hebt Mukařovský hervor, dass das Maschinenzeitalter den Menschen das Denken in Funktionen gelehrt habe, die er vorher zwar angewendet, aber nicht kognitiv erfasst hatte. Der Preis für den kognitiven Zugewinn sei der Verlust an »Fülle seiner Natürlichkeit« (J. Mukařovský: Člověk ve světě funkcí, 285). Auch in den puristischen, das absolute ästhetische Objekt suchenden Phasen der Künste sei die menschliche Funktionsvielfalt zerstört worden. Die theoretische Forderung, die funktionale Tätigkeit in der Kunst vom Standpunkt des menschlichen Subjekts (in der phänomenologischen ›Wesensschau‹) in Relation mit der Objektwelt zu betrachten, dient also dazu, eine Umkehr in der Entwicklung der Künste wie auch der Gesellschaft einklagbar zu machen.

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dass Bachtin im Umkehrschluss das Material des künstlerischen Schaffens als Träger unlöslicher Werte erachtet. Die künstlerischen Verfahren der Materialbearbeitung beziehen sich auf dieses wertgesättigte Material, nicht auf das wertneutrale der Wissenschaft.18 Eine Beziehung zu Mukařovskýs Konzept der Leere und Füllung des ästhetischen Objekts durch außerästhetische Werte wird hier evident, doch bei Bachtin fehlt die systematische Differenzierung zwischen den Funktionen und ihren spezifischen Funktionswerten. In Folge dieser Konzeption des Materials ist auch der Sinn von Kunstschaffen für Bachtin ein anderer als für die befehdete Schule. Anstelle der als sensualistisch und hedonistisch verurteilten Ästhetik der Formalisten (gleichlautende Vorwürfe treffen später den tschechischen Strukturalismus von Seiten der Marxisten) postuliert Bachtin eine ethisch begründete axiologische Ästhetik. Um sie zu beschreiben greift er auf die Unterscheidung der philosophischen Ästhetik zwischen dem Kunstwerk als materiellem Artefakt und als bewusstseinsimmanentem ästhetischem Objekt zurück. In der Form des Artefakts bringe der Künstler seine eigene Bewertung aller dem Material anhaftenden außerästhetischen Werte zum Ausdruck, die in dieser Umgeformtheit den Inhalt des ästhetischen Objekts ausmachen. Für die ganzheitliche künstlerische Artefaktform schlägt er den Begriff der Komposition, für die ganzheitliche ästhetische Inhaltsform den der Architektonik vor.19 Die materielle Komposition ist nur eine der immateriellen Architektonik dienende Form, eine Übergangserscheinung bei der ästhetischen Erfassung des Kunstwerks, die sich teleologisch auf das ästhetische Objekt richtet. Wenn wir an dieser Stelle einen vergleichenden Blick auf Mukařovskýs Ästhetik werfen, so fällt das Fehlen der Funktionenlehre in der Korrelation mit ihrer je eigenen Bewusstseinseinstellung und der Lehre der spezifischen ästhetischen Zeichenbildung bei Bachtin auf. Wie Bachtin bedient sich auch Mukařovský der traditionellen Begriffe von Artefakt und ästhetischem Objekt, verbindet sie jedoch mit dem Begriff des ästhetischen Zeichens. Die zeichenkonstitutive Zweiheit von materiellem 18 Bachtins Kritik an den Formalisten entzündet sich an deren mit den Futuristen geteilten Proklamierung des von Werten befreiten dichterischen Worts und der befreiten Sache. In »Avtor i geroj v ėstetičeskoj dejatel’nosti – Problema otnošenija avtora k geroju« (1952–53) und »Slovo v romane« (1934–1935; ich beziehe mich auf die dt. Übersetzung von 1979, »Das Wort im Roman«) sieht Bachtin im postulierten »nackten« Wort und Gegenstand eine bloße Fiktion, die allenfalls für künstlerische Experimente herhalten könne. Er trifft sich darin offenkundig mit Charles S. Peirce, der, wie Lorenzo Vinciguerra in seinem Referat »A suggestive indefi niteness of vague. Peirce et la sensation« darlegt (vgl. seinen Beitrag in diesem Sammelband), jegliche Wahrnehmung als bedingt durch Sedimente vorhergehender Wahrnehmungen in einer anfangs- und endlosen Kette erachtet. Solch ein Kettenbild liegt auch dem später von Bachtin entwickelten Theorem des Dialogs in der »Großen Zeit« zugrunde. (Dazu weiter unten.) 19 Die Begriffe Komposition und Architektonik greift Mukařovský in dem Aufsatz über Šklovskij so auf, dass eine Umkehrung ihrer Verwendungsweise durch Bachtin herauskommt: Die Architektonik, »(Proportion und Aufeinanderfolge der Teile)«, fasse Šklovskij als äußere Form auf, die Komposition als »Organisation der Bedeutungsseite des Werks«, mithin des ästhetischen Objekts (vgl. J. Mukařovský: K českému překladu Šklovského Teorie prózy, 328). In die Komposition gingen wohl emotionale, nicht aber moralische Wertungen ein.

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Signifikant und immateriellem Signifikat kehrt im ästhetischen Zeichen als äußeres, materialisiertes Artefakt und bewusstseinsimmanentes ästhetisches Objekt wieder.20 Beide konstitutiven Seiten des ästhetischen Zeichens sind zwar theoretisch, nicht jedoch im ästhetisch eingestellten Bewusstsein voneinander trennbar. Das hat zur Konsequenz, dass die im Artefakt gegebenen ästhetischen Verhältnisse auch zwischen den außerästhetischen Werten, dem ›Inhalt‹ des ästhetischen Objekts, wiederkehren. Somit ist auch der anthropologische Maßstab für die Abweichungen und Annäherungen der formalen Verhältnisse in beiden Seiten des ästhetischen Zeichens wirksam. Der anthropologische Mensch, zu dem schaffender Künstler wie auch Werkrezipient gehören, findet sich sowohl im Artefakt als auch im ästhetischen Objekt wieder. Bachtin insistiert hingegen auf einer ›Außenbefindlichkeit‹ (vnenachodimost’) speziell des schaffenden Künstlers gegenüber dem ästhetischen Objekt. Die Außenbefindlichkeit erlaubt diesem, die kompositorische Form des Artefakts als Mittel des Ausdrucks seiner dem Kunstschaffen vorgängigen Werthaltung gegenüber den materialinhärenten außerästhetischen Werten zu verwenden. Wertungskriterium des Künstlers ist seine Moral, eine Auffassung, die Mukařovský aufgrund seiner Lehre von der Polyfunktionalität des Menschen nicht teilen kann. Näher liegt der Schluss, dass der strukturalistischen Ästhetik ein universales Menschenrecht auf polyfunktionale ›Selbstverwirklichung‹ zugrunde liegt. Bachtins Rechnen mit der Außenbefindlichkeit des Künstlers hat weitreichende Folgen für seine berühmt gewordene Polyphonietheorie und Theorie der ›Dialogizität‹ (dialogičnost’). Auch die eingangs erwähnte Hinwendung zur Hermeneutik wird mittels dieses Theorems begreiflich, worauf wir abschließend eingehen werden. Was Polyphonie und Dialogizität betrifft, so haben sie für Mukařovský eine stärker eingeschränkte Bedeutung als für Bachtin. Den Grund für die auseinandergehenden Positionen suchen wir nun in der jeweiligen Sprachauffassung.

Mukařovskýs und Bachtins Auffassung von der Sprache Den Begriff ›Sprache‹ gilt es zunächst abzuklären. Da Mukařovský in seine anthropologische Funktionenlehre die menschliche Sprache nicht aufgenommen hat, ist auch das von der ästhetischen Funktion gebildete Zeichen nicht vom Modell des Sprachzeichens abgezogen. Von ›Sprache‹ in den nicht-verbalen Künsten zu reden, Vgl. dazu Mukařovskýs »Umění jako semiologický fakt« (1934; ursprünglicher Titel »L’Art comme fait sémiologique«). Dort wird ersichtlich, wie nicht darstellende Künste (Musik, sog. abstrakte Malerei), die kein kodiertes Referenzobjekt in ihre Zeichenstruktur einbauen, dennoch mit der Welt der kollektiven Werte in eine Zeichenbeziehung gebracht werden, durch die sie ›Inhalt‹ bekommen. Mutatis mutandis erklärt sich, warum die dem sprachlichen Zeichen anhaftende Bedeutung mit ihrem dargestellten, referentiellen Objekt zur Materialseite des Dichterwerks geschlagen werden muss. Unter dem Gesichtspunkt der theoretischen Ästhetik sind darstellende (Dichtung, Porträtmalerei) und sogenannte ›abstrakte‹ Künste gleich und folgen den gleichen Gesetzen ästhetischen Zeichenbaus. 20

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wäre demnach eine irreführende Metapher, 21 denn die Metaphorisierung enthält eine Gefahr – nämlich die spezifische Bedeutungsschicht sprachlicher Zeichen in die nicht-verbalen Künste zu projizieren. Geht man hingegen wie unser tschechischer Theoretiker vom universalen Zeichen der Kunst und Künste aus, dann liefert die Dichtkunst mit ihrem Material der sprachlichen Zeichen und Bedeutungen ein Problem, denn es muss nachgewiesen werden, wie die diesem Material anhaftende Bedeutung in ein ästhetisches Zeichen umgewandelt wird, wie also der sprachliche Signifi kant und sein Signifi kat in Artefakt und ästhetisches Objekt transformiert werden. Die Transformation ist auch für Bachtin ein Zentralproblem, so dass wir einen Vergleichspunkt beider Theorien erhalten. Es lassen sich drei prägnante Abweichungen der jeweiligen Transformationsauffassung ermitteln. Sie betreffen zum ersten den sprachlichen und den ästhetischen Bezugsrahmen der dichterischen Transformation, zum zweiten den entscheidenden Faktor des inneren Umbaus der Dichtersprache und zum dritten die Vorstellung von der Entwicklung von Sprache in der Literatur sowie außerhalb ihrer in der Gesellschaft. Ausgangspunkt für die Ermittlung des sprachlichen Bezugsrahmens der Transformation ist bei beiden Theoretikern die Redeäußerung (tschech. promluva, russ. vyskazyvanie) in der kommunikativen Situation zwischen einem Sprecher und seinem Redepartner. Dank dieses Ausgangspunktes sind die Sprachzeichen nicht mehr nur Elemente des abstrakten linguistischen Systems der langue, sondern sie treten in das konkrete Beziehungssystem des Sprachgebrauchs, die parole, ein. Als parole erhält das Sprachzeichen wirksame Beziehungen zum Sprecher, zum Hörer und zu dem gemeinsamen Redegegenstand, aus denen ihm aktuelle Bedeutungen zuwachsen. Mukařovský nimmt hier Bezug auf Karl Bühlers Modell der drei kommunikativen Funktionen von Expression, Darstellung und Appell, Bachtin auf Valentin N. Vološinovs ähnlich gebautes »Redeszenarium«22 , wobei jedoch, anders als bei Bühler und Mukařovský, nicht die kognitive, gegenstandsgerichtete Darstellungsfunktion, sondern die auf beide Kommunikationspartner gerichteten Funktionen (in Bühlers Terminologie: Expression und Appell) zum Schwerpunkt werden. Die unterschiedBoris M. Ėngel’gardt (Formal’nyj metod, 1927) lehnt Redeweisen wie Sprache der Kunst und ästhetisches Objekt in Analogie zu Ausdruck und Inhalt für die theoretische Ästhetik ab. Wie die russischen Formalisten, so findet auch Ėngel’gardt in der Bachtinschule wenig Anklang. Am nächsten von den Mitgliedern dieser Schule steht ihm wohl Pavel N. Medvedev (Formal’nyj metod, 1928); vgl. z. B. beider Defi nition von ›Entrückung‹ (otrešenie) der dargestellten Welt. Von Medvedev stammt der Ausdruck ›Wertungsgeste‹ (ocenivajuščij žest), an den Mukařovskýs Begriff der ›semantischen Geste‹ (sémantické gesto) anklingt, mit dem der oben noch vorzuführende Begriff der ›semantischen Akkumulation‹ zusammenhängt. 22 Vološinov spricht von einem »›scenarij‹ sobytija« [›Szenarium‹ des Ereignisses], das in der Dichtkunst als ein Spiel inszeniert werde. Die Konstellation Sprecher – Hörer – Redegegenstand, die in der praktischen Kommunikation ja keine dritte Person vorsieht, wird transformiert in die Konstellation Autor – Held – Redegegenstand – Leser als zuhörender Dritter, wobei alle drei personalen Rollenträger aufeinander einwirken. Vgl. V.N. Vološinov: Slovo v žizni i slovo v poėzii, 102. 21

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liche Akzentuierung hat Folgen für die Struktur der Redesemantik: Bei der Kognition treten die objektiven grammatischen und logischen Regeln hervor, bei Expression und Appell die subjektiven Emotionen und Wertungen. Wird die Redeäußerung mit ihrem gesamten Szenarium Grundlage der Literatur, schaltet sich der ästhetische Bezugsrahmen dieser Kunstart ein. Für den Tschechen steht dieser Rahmen primär im Spannungsfeld zwischen der hierarchischen Struktur der aktuellen künstlerisch-literarischen Normen (genannt ›lebendige literarische Tradition‹) und der anthropologischen ästhetischen Normenbasis, und erst sekundär ist auch der Bezug zu dem aktuellen Zustand der den praktischen Sprachgebrauch regulierenden Normen relevant. Oberste regulative Kraft in beiden Hinsichten ist die ästhetische Funktion, die nun als eine vierte, dominierende Funktion in die Bühler’sche Funktionstriade eindringt, um die kommunikativen Sprachzeichen in ästhetische Zeichen umzuwandeln. Eine vermittelnde Rolle bei diesem Vorgang spielen die drei Grundgattungen der Literatur, die Lyrik, Epik und das Drama, die strukturelle Vorbedingungen für die Art und Weise liefern, wie aus einem kommunikativen Sprachzeichen ein ästhetisches Zeichen, das auch ›Zeichen des Zeichens‹ (znak znaka) genannt wird, gemacht werden kann.23 Bachtin nimmt neben den literarischen Gattungen auch noch ein anderes, grundlegenderes Gattungssystem an, die sogenannten »Redegattungen« (rečevye žanry). Das sind ganzheitliche Äußerungsformen der praktischen Kommunikation mit eigenen, wenig strengen Bauregeln. Eine noch zu gründende »Metalinguistik« (metalingvistika) soll diese in der damaligen Sprachwissenschaft noch nicht erforschten Gebilde untersuchen.24 Die literarischen Gattungen liefern ›sekundäre‹ Redeszenarien, die sich auf die ›primären‹ Szenarien der Redegattungen beziehen. Man muss sich also ein in sich gestuftes Modell von Redeszenarien vorstellen, worin der Blick durch das sekundäre literarische Szenarium hindurch auf das darunter liegende primäre Szenarium weitergeführt wird. Dieser gestufte Bau der Redeszenarien gibt uns eine Vorstellung von dem, was Bachtin mit dem Begriff der ›Architektonik‹ des ästhetischen Objekts und seiner eigenartigen Schönheit gemeint haben könnte. Der Faktor, der den Blick von der sekundären Ebene in die primäre Ebene lenkt, ist die

Den Ausdruck ›znak znaka‹ hat der Ethnologe und Theaterwissenschaft ler Petr Bogatyrev in etwas unscharfer Defi nition im Prager Kreis propagiert. Mukařovský verwendet ihn (selten) für die Relation poetisches Zeichen – kommunikatives Sprachzeichen. Zeichen des Zeichens ist das ästhetische Zeichen freilich auch hinsichtlich des magisch-religiösen Zeichens. Dieser Relation nachzugehen ist aufschlussreich bei Werken, die mit politischen religiösen Mythen und Riten arbeiten, wie beispielsweise Euripides’ Drama Die Bakchen oder Vergils Aeneis. 24 Zu den Redegattungen vgl. M.M. Bachtin: Problema rečevych žanrov. D’jula Kiraj und Arpad Kovač (vgl. dies.: Russkaja klassičeskaja i sovetskaja poėtika) nennen in ihrem »Predislovie« (ebd., 7–9, hier 8) neben Bachtin eine ganze Reihe damaliger russischer Forscher zum Gattungsproblem: Skaft ymov, Frejdenberg, Vinogradov, Propp, Pospelov. Eine ähnliche Forschungsrichtung verfolgt André Jolles (vgl. ders.: Einfache Formen) mittels der morphologischen Analyse. Er versucht nachzuweisen, wie sich die mündlichen, ›einfachen Formen‹ beim Eintritt in die Literatur strukturell verändern. 23

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(in der Komposition und besonderen stilistischen Verfahren ausgedrückte)25 subjektive Emotion und Wertung des Werkautors. Dank seiner Position in der Außenbefindlichkeit kann er eine eigene Wertstellungnahme zu den Wertpositionen aller in Szene gesetzten Redenden beziehen.26 Die drei literarischen Grundgattungen der Lyrik, Epik und des Dramas konditionieren je unterschiedlich die Wertstellungnahme des Werkautors. Lyrik und Drama erlauben dem Autor nur eine monologisch geschlossene, die Epik auch eine dialogisch offene Form seiner Wertstellungnahme. Hier schließt sich eine von Bachtin getroffene Differenzierung innerhalb des Systems der epischen Gattungen an. In der Frühzeit der Epik habe das Epos als eine geschlossene, nicht dialogische Form geherrscht, ab der Renaissance sei der Roman hinzugetreten, der sich von einer anfänglich geschlossenen zu einer offenen, dialogischen Form entwickelt habe. In Dostoevskijs Werken finde der Roman eine erste ideale Gestaltung der Dialogizität, die Bachtin mit der Polyphonie in der Musik vergleicht, wo gleichwertige Stimmen synchron gegeneinander geführt werden. Für den Roman des 20. Jahrhunderts wünscht sich Bachtin eine Weiterentwicklung der Polyphonie nach einem von ihm entworfenen Modell der Verbindung von Synchronie mit Diachronie, worauf wir weiter unten zurückkommen werden. Monologische Geschlossenheit oder dialogische Offenheit liefern in Bachtins Theorie die Kriterien für seine eigene Bewertung der literarischen Gattungen. Er zieht sprachtheoretische, philosophische und auch religionswissenschaft liche Überlegungen für seine Bevorzugung von Dialogizität heran, die wir hier nicht näher diskutieren können.27 Gesagt sei nur, dass Sprache für Bachtin wesensmäßig dialogisch ist, der Monolog ist eine Deformation sprachlichen Wesens. Die oben erwähnten Redegattungen des lebendigen, außerliterarischen Redeverkehrs sind vorzüglich dialogisch verfasst, so dass ein Rückgriff auf sie dem literarischen Autor eine Basis für Dialogizität liefert, die auch Volksnähe garantiert. Vielleicht kann man die Verwurzelung von Literatur in den volkstümlichen Redegattungen mit der Rolle vergleichen, die Mukařovský den anthropologischen Funktionen beimisst. Hervorzuheben bleibt noch, dass Bachtin der gesamten Literaturgeschichte ein teleologisches Streben nach dem dialogischen Roman unterstellt. Was Mukařovský betrifft, so gelten ihm Monolog und Dialog als ästhetisch gleichwertige Möglichkeiten, obwohl er – darin Bachtin ähnlich – dem Dialog im außerliterarischen 25 Hierzu gehören die berühmt gewordenen »Typen des Prosawortes«. Vgl. dazu M.M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. 26 D. Kiraj und A. Kovač (vgl. dies.: Russkaja klassičeskaja i sovetskaja poėtika) haben m. E. zu Recht erkannt, dass Bachtin, indem er den Autor als Träger von »Redeaktivität« zum »konstruktiven Prinzip der Form« macht, auch das Problem der Beziehung zwischen »Autor und Held« neu stellen kann (ebd., 27–28). Weniger deutlich sehen sie, dass die literarischen und die ›Redegattungen‹ szenariumartige Strukturschichten bilden, die man wohl der von Bachtin postulierten Architektonik des ästhetischen Objekts zuschreiben muss. 27 Näheres dazu vgl. H. Schmid: Bachtins Dialogizitätstheorie. Hinzuzufügen wäre, dass Martin Buber für Bachtin zunehmend wichtig wurde, was seiner Theorie eine religionsphilosophische Färbung verliehen hat.

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Redeverkehr ein Vorzugsrecht einräumt. An beiden Grundformen von Rede interessieren ihn die Unterschiede ihres internen semantischen Baus, die Typen des Dialogs in Alltagskommunikation und Drama sowie die Übergangsformen zwischen Monolog und Dialog in der Literatur. Charakteristisch für den tschechischen Strukturalismus ist, dass er der Geschichte der Literatur und Kunst keine teleologische Entwicklung unterlegt, sondern eine fortwährend die anthropologische Basis umkreisende Bewegung, die der Erkenntnis des unveränderlichen Wesens des Menschen dienen soll. Die unterschiedlichen Positionen beider Theoretiker können wir an dem demonstrieren, was wir den entscheidenden Faktor des inneren Umbaus der Dichtersprache nennen. Als Beispiel soll uns die jeweilige Auffassung der Intonation dienen. Für Mukařovský ist sie eine der möglichen, durch das sprachliche Material gelieferten Dominanten, Bachtin gilt sie als die ideale Dominante von Literatur. Bei der Definition von Intonation beziehen sich beide auf Sergej Karcevskij: Intonation ist demnach eine Erscheinung der Stimmführung in der Satzäußerung, die sich auf deren Aussageinhalt bezieht. Sie untergliedert sich in zwei aufeinander bezogene, durch eine Zäsur getrennte Stimmhöhenlinien im Satz; mit ihrem ersten, in die Höhe strebenden Teil markiert sie den Beginn, mit dem zweiten, nach unten strebenden Teil den Abschluss des Satzes. Beide Teile vergleicht Karcevskij mit Replik und Gegenreplik im Dialog nach dem Muster von Frage und Antwort.28 Die weitere Arbeit mit Karcevskijs Definitionsvorlage der Intonation weist bei Mukařovský zurück auf die Herbart’sche Lehre paariger ästhetischer Verhältnisse. In der Lyrik entspricht der Einheit des Satzes die Einheit der Verszeile. In ihr treten das quantitative Maß des Versrhythmus mit seiner eigenen inneren Zäsur und das qualitative, auf den Satzsinn bezogene Maß der Intonation mit ihrer inneren Zäsur in korrelative Spannung zueinander. Mal kann der Rhythmus, mal die Intonation überwiegen, mal können sich auch beide decken, was sich in jedem Fall an dem Verhältnis ihrer Zäsuren zueinander kenntlich macht. Die verskonstitutive Korrelation mit dem Rhythmus als einem rein quantitativen Maß verändert den Charakter der qualitativen, auf die Satzsemantik bezogenen Intonation. Sie büßt ihre primäre Orientierung am Satzsinn ein, löst sich also von ihrer ursprünglichen semantischen Funktion und verwandelt sich in eine melodische, an die Musik, wo ja auch der Rhythmus zu Hause ist, angelehnte Stimmführung. Umgekehrt nimmt auch der Rhythmus durch die Zusammenspannung mit der Intonation etwas von dieser in sich auf, er kann nämlich mittels seiner eigenen Zweiteilung (und der Unterteilung in die kleineren Segmente der Versfüße) semantische Werte des Satzganzen hervorheben, die in der Intonation nicht betont sind. Das Verhältnis von Intonation und Rhythmus liefert uns einen Einblick in die Weise, wie sich die ›Dialektik‹ in der 28 Zur Bestimmung der Intonation zitiert Mukařovský ausführlich aus Karcevskijs »Sur la phonologie de la phrase«, das 1931 im IV. Band der Travaux du Cercle linguistique de Prague abgedruckt wurde. Karcevskij beschäft igt sich mit der Satzintonation »in ihren zwei Abarten« von Frage und Antwort, die er für die »breitesten dynamischen Schemata« hält. Vgl. J. Mukařovský: Intonace jako činitel básnického rytmu, hier 193.

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Kunst nach Mukařovský auswirkt: Beide im ästhetischen Verhältnis zusammengespannten, ganzheitsbildenden Faktoren, Intonation und Rhythmus, verlieren an den ›Partner‹ ein eigenes Merkmal und übernehmen ein anderes von diesem. In der Prosasprache der Epik fehlt der nach einem festen Wiederkehrschema quantifizierte Rhythmus. Die Intonation muss sich hier, um ästhetische Paarigkeit zu erlangen, ihren ›Partner‹ erst noch suchen. Am Beispiel der Romane und Dramen von Karel Čapek demonstriert Mukařovský, wie die Intonation auf die in der – auch von Čapek ausgeübten – Lyrik gewonnene musikalische Melodik zurückgreift, um sich nun mit dem Dialog zu verbinden. Wie der Versrhythmus gegenüber der lyrischen Intonation, so bewirkt nun auch die in die Erzählprosa ausgewanderte musikalisierte Intonation am Dialog eine Umwandlung. Er verliert seine typische, auf logischen und wertenden Gegensätzen zwischen den Repliken der Redepartner basierende Intonation, diese spannt sich jetzt als eine melodisch fließende Linie nicht nur über die Satz-, sondern auch über die Replikengrenzen hinweg und dominiert so den gesamten Werkkontext.29 Eine Kulminationsform der musikalischen Intonation in der Prosa ist die chorische Wechselrede, worin die semantischen Positionen der Personen gegenüber dem Redegegenstand identisch sind. Der Stimmenwechsel dient hier allein dazu, verschiedene Stimmlagen in den Chor einzubringen. Bachtin nutzt Karcevskijs Definition der Satzintonation auf andere Weise für seine Theorie aus. Die bei Karcevskij lediglich zum Vergleich zwischen den beiden Teilen der Satzintonation herangezogene Paarigkeit von Replik und Gegenreplik, Frage und Antwort macht er zum Grundmuster der Beziehung zwischen Intonationsganzen.30 Die Binnenzäsur zwischen den Intonationsteilen verschiebt sich somit in die Außenzäsur zwischen den Äußerungen der Redepartner. Dadurch wird nicht nur die von Mukařovský untersuchte Spannung zwischen rhythmischer und intonationsbedingter, also doppelter Binnenzäsur als Grundkorrelation des Versbaus hinfällig, sondern die lyrische Verssprache fällt auch unter das Verdikt der Deformation der wesensmäßigen Dialogizität von Sprache. Denn die Einheit des Verses wird nach Bachtin vom Rhythmus dominiert, die Satzintonation bietet dem Rhythmus keine gleichwertige Gegenkraft. Da Rhythmus wiederum vom individuellen Körpergefühl des Autors abgezogen ist, kann sich die Verszeile nicht für den Rhythmus eines anderen Körpers öff nen – Rhythmus ist nicht dialogfähig. Das Verdikt mangelnder ›echter‹ Dialogizität trifft auch das Drama, wofür Bachtin freilich andere Argumente bemüht.31 Hauptsächlich lastet er dem Drama an, dass es zwar den Vgl. J. Mukařovský: Próza Karla Čapka jako lyrická melodie a dialog. Das oben folgende Beispiel der chorischen Rede bezieht sich auf Čapeks Roboterdrama R.U.R. (Kürzel für Rossum’s Universal Robots). 30 Ähnlich geht auch V.N. Vološinov vor, vgl. das erste Kapitel über »Teorija vyskazyvanija i problemy sintaksisa« des dritten Teils seiner einflussreichen Monographie Marksizm i filosofija jazyka (1930). Er unterlegt dort auch den Absätzen eines Textes dialogische Beziehungen und macht überhaupt den Dialog zu einer Universalie der inneren und äußeren Rede. 31 Vgl. dazu Bachtins Auseinandersetzung mit Lunačarskij, der auch in Shakespeares Dramen (und bei Balzac) dialogische Polyphonie gestaltet sieht. Bachtin hält dagegen, in jedem Drama 29

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Dialog der dramatischen Personen vorführt, in der Relation Autor – dramatische Person jedoch monologisch verfasst sei. Damit gelangen wir zum Schwerpunkt der Bachtin’schen Dialogizitätslehre. Die eigentliche dialogische Achse spannt sich nicht zwischen den fi ktiven Personen, sondern zwischen dem Werkautor und letzteren. Das hat mit der Rolle der Außenbefindlichkeit des Autors zu tun, die Bachtin schon in seiner frühen Auseinandersetzung mit den russischen Formalisten betont hatte. Während dort jedoch der Autor mittels der Komposition des äußeren Artefakts eine Wertstellungnahme zu den Inhaltswerten des ästhetischen Objekts zum Ausdruck bringt, die noch nicht dialogisch gedacht ist, bringt die Suche nach der Verankerung der ›echten‹ Dialogizität in der Literatur Bachtin dazu, in den literarischen, ›sekundären‹ Gattungen nach derjenigen Stelle zu suchen, an der die echte Dialogizität lokalisierbar wäre. Er findet sie schließlich im sogenannten ›Autorwort‹, das er als Wort des Autors über das Wort des Helden definiert, also als ein Wort zweiten Grades oder Metawort.32 Mit ›Wort‹ von Autor und Held sind verschiedene Größenordnungen gemeint: ein Einzelwort mit Satzfunktion, eine Replik, der gesamte Redekontext des Helden im Roman sowie der erzählende, auf den Autor zurückgeführte Redekontext. Das Wort des Autors bezieht sich auf das zum Objektwort gewordene Wort des Helden so, dass zwei emotionale und wertgesättigte Intonationen aufeinandertreffen, die des Autors und diejenige des Helden. Aufgrund seiner Außenbefi ndlichkeit kann der Autor seine eigene Intonationslinie so benutzen, dass sie eine vorrangige, autoritär abschließende Bewertung des Worts des Helden und der diesem inhärenten Werte ausdrückt. Er kann aber auch auf die autoritäre Bewertung verzichten, indem er die Abschließung des Redekontextes des Helden diesem selbst überlässt. Dann bleibt die Intonationslinie des Autors unabgeschlossen, und in dieser Unabgeschlossenheit drückt sich die ›echte‹ Dialogizität aus, d. h. die Anerkennung des Subjekts des Helden als eines dem Autorsubjekt gleichwertigen Subjekts, was die Grundvoraussetzung für einen ›echten‹, dialogischen Redeverkehr ist. Dialogizität bindet sich damit an den Autor in der Haltung des fragenden Subjekts mit der entsprechenden ansteigenden Intonationslinie, die absteigende Intonationslinie fällt dem antwortenden Wort des Helden zu. Als Fazit unserer Suche nach dem entscheidenden Faktor des inneren Umbaus der Dichtersprache bei Mukařovský und Bachtin können wir festhalten: Der Strukgebe es »genau genommen nur einen Helden mit vollwertiger Stimme, die Polyphonie würde aber eine Vielfalt erfordern«. Vgl. M.M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs (ins Deutsche übersetzte Ausgabe), 41. Zu weiteren, für mich wenig überzeugenden Kriterien, die in Bachtins Augen echte Dialogizität im Drama verhindern, vgl. auch H. Schmid: Bachtins Dialogizitätstheorie. Zur Rolle des Rhythmus vgl. M.M. Bachtin: Problema soderžanija, materiala i formy v slovesnom tvorčestve, und ders.: Avtor i geroj v ėstetičeskoj dejatel’nosti. 32 Vgl. dazu das 5. Kapitel, »Das Wort bei Dostoevskij«, in: M.M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Nur die »Metalinguistik« sei imstande, das Metawort (das Wort des Autors über das Wort des Helden) zu erfassen. Obwohl Mukařovský in dem Aufsatz über Čapek (vgl. ders.: Próza Karla Čapka jako lyrická melodie a dialog) das Problem des Metaworts berührt, muss sein ›Zeichen des Zeichens‹ doch anders aufgefasst werden, vgl. Anm. 23.

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turalist setzt als Umbaufaktor die gespannte Korrelation zwischen zwei heterogenen sprachlichen Komponenten an – im oben angeführten Beispiel der lyrischen Verszeile: Rhythmus versus Intonation. Bachtin sucht Paarigkeit zwischen homogenen Komponenten – Intonation eines Sprechers versus Intonation eines anderen Sprechers. Die von Mukařovský angesetzte Beziehung zwischen paarigen heterogenen Komponenten ist keine dialogische, sondern eine ›dialektische‹ Beziehung gegenseitiger Anverwandlung. Umgekehrt gilt, dass homogene Paarigkeit in heterogene umgewandelt werden muss – in unserem angeführten Beispiel: musikalisierte, semantische Differenzen verwischende Intonation versus semantische Differenzen betonende Intonation –, damit ›Dialektik‹ zustande kommen kann. Bachtin wiederum sucht zwischen den homogenen Intonationen ebenfalls nach Heterogeneität, doch entnimmt er sie nicht dem Inventar der Komponenten der Dichtersprache, sondern den korrelativen Positionen der Partner im Redeszenarium. Dialogizität soll hier dadurch eingeführt werden, dass der privilegierte Redepartner (im Roman ist das der Autor-Erzähler) auf sein Privileg verzichtet und die Position des anderen (der Held) als der seinen gleichwertig anerkennt nach dem Modell von Frage- und Antwortintonation, wofür das zuunterst liegende Szenarium der ›primären Redegattung‹ einen Maßstab liefert. Die Vorstellungen beider Theoretiker von der Entwicklung von Sprache in der Literatur und außerhalb ihrer treffen sich in der Hochschätzung der literarischen Sprache als eines Faktors der gesamten kulturellen Entwicklung. Jurij Tynjanovs Modell der Synfunktion (konstruktive Funktion einer Komponente gegenüber den übrigen in der Werkstruktur) und Autofunktion (Entwicklungsfunktion einer Werkkomponte in ihrer historischen Reihe) liegt auch Mukařovskýs Vorstellung von der autonomen Entwicklung der Dichtersprache nach eigenen historischen Reihen zugrunde, und Roman Jakobsons 1928 zusammen mit Tynjanov veröffentlichte Thesen unter dem Titel »Problemy izučenija literatury i jazyka« [Probleme der Literaturund Sprachforschung] liefern ihm die Methodik für die Untersuchung der Beziehungen zwischen der autonomen Literaturgeschichte und den übrigen kulturellen Entwicklungsreihen, die ebenfalls autonomen Entwicklungsgesetzen folgen. Allerdings ergänzt der Tscheche diese Methodik um sein Konzept der historischen ›Dialektik‹, worauf hier nur hingewiesen sei.33 Bachtin kann aufgrund seiner Unterordnung der Kunst unter die Moral und der Literatur unter das teleologische Streben nach Dialogizität eine autonome Entwicklung weder nach dem formalistischen noch nach dem strukturalistischen, ›dialektischen‹ Modell akzeptieren. Seine Entwicklung hin zur Hermeneutik, auf die wir schon vorausgewiesen haben, zeugt von einem ganz andersartigen Interesse an Sprache, Literatur und Kultur, als es aus formalistischer wie strukturalistischer Perspektive entwickelt werden konnte. Es sei der Versuch gemacht, die Grundzüge seiner 33 Eine genauere Darstellung der formalen Struktur von historischer Dialektik bei Mukařovský versuche ich in meinem Aufsatz »Jan Mukařovskýs Theatertheorie« zu geben, bes. im Unterteil »Das Prinzip der Dialektik als Denkmethode und noetische Haltung«, 108 ff.

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hermeutischen Wende zu skizzieren, der wir dann eine semiotische Wende bei Mukařovský konfrontieren können. Bachtins hermeneutische Wende gründet in einem neuen, erneut an Vološinovs Redeszenarium anknüpfenden Modell der Kommunikation, doch gibt er dem Dritten im Redeszenarium, der dann zu den zwei Redepartnern (Sprecher, Hörer) hinzutritt, wenn das Szenarium in die Literatur eindringt, ganz neue Bedeutungsdimensionen. Er wird jetzt mit dem leicht pathetischen Ausdruck ›Überadressat‹ (nadadressat) bezeichnet. Dazu passt seine Rolle des stummen Beobachters, dessen sich die beiden kommunizierenden Personen inne sind. Je nach dem Entwicklungsstand der Kultur und der sozial bedingten Teilhabe der Kommunizierenden an ihr steht der Dritte für Größen wie Gott, absolute Wahrheit, Gewissen, Volk, Weltgericht der Geschichte, Wissenschaft.34 Der Ausdruck ›Weltgericht der Geschichte‹ (sud istorii) deutet an, dass der Überadressat eine Gerichtsinstanz einbringt, vor der sich die Redepartner verantwortlich fühlen. ›Gott‹ wiederum konnotiert mit dem alles sehenden Gottesauge und dem Buch Gottes, in dem alle Taten der Menschen eingetragen werden, um beim Jüngsten Gericht das endgültige Urteil über des Menschen Seele zu begründen. Aber auch mit den übrigen, nicht religiös-transzendenten Ausdrücken für den Dritten ist Gerichtsbarkeit im zeitlichen und überzeitlichen Maßstab verbindbar. Mit dem neu konzipierten Redeszenarium operiert Bachtin in zwei Richtungen. Deren eine reicht in die Struktur des Werkes hinein, in das Verhältnis von Autor und Held zu dem je für sie gültigen Überadressaten, mit dem sie in innerer Gerichtsverhandlung stehen. Der Leser – jetzt ein vierter Rollenträger – muss aus den jeweiligen Intonationen und ihrem gegenseitigen Verhältnis die jeweils verbindlichen Lebenswerte erschließen, um Held und Autor zu ›verstehen‹. Der Leser ist also kein Richter, sondern ein Erforscher der menschlichen Seele, ihres innersten werthaltigen ›Kerns‹, die ihn, wenn er sie erschlossen hat, selber in seinem Innersten berührt oder gar provoziert. Der Leser als Vierter wird zum Hermeneutiker. Die zweite von Bachtin bemühte Operationsrichtung zielt aus der Werkstruktur heraus und nun in die Literatur- und Sprachgeschichte hinein. Auf dieser Ebene entwirft Bachtin zwei zeitlich unterschiedlich strukturierte literarische Redeszenarien, den Dialog in der ›kleinen‹ und in der ›Großen Zeit‹. Der Dialog in der ›kleinen Zeit‹, der in Dostoevskijs Romanen realisiert sei, erstreckt sich über den kürzeren Zeitraum einer Epoche, die der Autor in seinen Roman eingibt. In der ›kleinen Zeit‹ kommen alle dem Autor gegenwärtigen, von ihm selber vertretenen oder auf den und die Helden projizierten Vorstellungen von dem Dritten synchron zusammen in einem polyphonen Dialog werthaltiger und damit ideologieträchtiger Stimmen. Dem bei Dostoevskij vorgefundenen synchronen Modell gesellt Bachtin jedoch ein zweites, literarisch noch nicht realisiertes Modell hinzu. Demnach soll der Roman des 20. Jahrhunderts den Dialog so in die ›Große Zeit‹ transponieren, dass sich Vgl. bes. Bachtins späten, hermeneutischen Aufsatz »Problema teksta v lingvistike, fi lologii i drugich gumanitarnych naukach«. 34

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Synchronie mit Diachronie verbindet. Für den neuen Roman ist ein ›agierendes‹, ›akkumulierendes‹ Gedächtnis nötig. Träger solchen Gedächtnisses sollen sowohl der Autor des neuen Romans als auch sein Leser sein. Bei beiden erweitert sich der Gedächtnisraum um alle je in der Geschichte relevant gewordenen ideologischen Positionen, zu deren jeder einzelnen eine dialogische, verstehende Beziehung hergestellt werden soll. Desgleichen soll sich, wiederum nach dem Frage-AntwortSchema, eine Öffnung in die Zukunft auftun. Sowohl das Modell des Dialogs in der ›kleinen‹ als auch das in der ›Großen Zeit‹ hebt auf eine Geschichte der Ideologien ab, die letztlich am Maßstab ihres Beitrags zur Dialogizität als teleologischem Ziel von Literatur und Sprache gemessen werden. In einer politischen Situation, die den freien Redeverkehr in Wort und Schrift der staatlich institutionalisierten Zensur unterwarf, hatte die Bachtin’sche Dialogizitätstheorie eine offenkundige Sprengkraft, die auch ihre Attraktivität für die Literaturwissenschaft im westlichen Ausland begründete. Eine ganz andere Frage ist, ob Dialogizität durch die Hintertür des pathosgeladenen Begriffs der ›Großen Zeit‹, der ja auch eine Kommunikation der großen Geister ist, zu der sich der Hermeneutiker als Träger des ›agierenden‹, ›akkumulierenden‹ Gedächtnisses rechnen darf, den Zugang zur literarischen Kunst nicht einengt auf Geistes- und Ideologiegeschichte.35 In dem 1940 erschienenen Aufsatz »O jazyce básnickém« [Über die Dichtersprache] legt Mukařovský ein mit Bachtins Akkumulationsmodell partiell vergleichbares, allerdings weitaus nüchterneres Modell vor. Das auch graphisch veranschaulichte Modell verwendet statt der Wörter in der linearen Textreihe die Buchstabenreihe des Alphabets. Über jedem Buchstaben auf der horizontalen Achse erscheinen alle vorangegangenen Buchstaben in einer vertikalen Kolonne, die die lineare Aufeinanderfolge der Buchstaben in sich abbildet. Die vertikale Kolonne wächst bis zum Textende stetig an, so dass über dem letzten Buchstaben auf der horizontalen Achse der gesamte, vorausgehende Text vertikal gehäuft ist.36 Das abstrakte Akkumulationsschema lässt sich auch auf größere Einheiten wie Satz, Absatz, Kapitel und dergleichen übertragen. Anders als das – dank der Frage-Antwort-Relation – nach hinten und vorn offene Bachtinsche Akkumulationsmodell beschränkt sich

Den pathetisch-prophetischen Ton bei Bachtin hat Lunačarskij schon früh herausgespürt. Wenn er in Dostoevskijs polyphonen Romanen eine – an das sozialrevolutionäre Element des orthodoxen christlichen Glaubens gebundene – Verkündigung »allgemeiner Seelengemeinschaft« (»sobornost’ duš«) herausliest, die jedoch Sache einer »sehr weiten Zukunft« sei, so nimmt er Bachtins Modell des Dialogs in der ›Großen Zeit‹ annähernd vorweg und lässt Bachtin zugleich als einen Nachfolger der von konservativen Intellektuellen geübten ›Dostoevščina‹ (Maske für politischen Opportunismus) erscheinen. Vgl. A. Lunačarskij: O mnogogolosnosti Dostoevskogo, 157 f. Dem kann man entgegenhalten, dass Lunačarskij die kommunikationstheoretische, auf freie Meinungsäußerung abzielende Fundierung der Polyphonielehre Bachtins völlig ignoriert. 36 Vgl. J. Mukařovský: O jazyce básnickém, 93–136, bes. 127. Jiří Veltruský (vgl. ders.: Drama as Literature) hat auf die Verbindung dieses Modells mit Edmund Husserls Konzept des inneren Zeitbewusstseins hingewiesen, das Husserl an der Wahrnehmung des Tons und der Melodie exemplifiziert. 35

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Mukařovskýs Modell allerdings auf die Grenzen eines Einzelwerks, und zwar in allen literarischen Gattungen.37 Allein daraus geht schon hervor, dass es sich hier nicht um ein dialogisches Akkumulationsschema in der ›kleinen‹ oder ›Großen Zeit‹ handelt. Auch will das Modell keine Anleitung für hermeneutische Interpretation liefern, sondern das durch die textliche Sukzessivität bedingte dynamische Anwachsen der dichterischen Semantik veranschaulichen. In dem Aufsatz »Záměrnost a nezáměrnost v umění« [Absichtlichkeit und Unabsichtlichkeit in der Kunst] (1943) revidiert Mukařovský eines der bis dahin von ihm herangezogenen ästhetischen Gesetze im Sinne seiner semiotischen Wende. Die ästhetische Funktion in der Kunst, so hören wir nun, stellt nicht nur ein absichtlich gemachtes Zeichen, sondern auch eine nicht absichtlich gemachte, nicht zeichenhafte Sache, ein Ding (věc) vor das ästhetische Bewusstsein. Das Ding bindet sich primär an das sinnlich wahrnehmbare Artefakt als dessen materielles Substrat, jedoch als ein Schatten erhält es sich auch auf allen Strukturschichten des Zeichenbaus.38 Demzufolge muss der Dingschatten auch am ästhetischen Objekt wiederkehren, das ja, wie weiter oben dargelegt, seine Leere mit den außerästhetischen Werten der ›praktischen‹ Funktionen füllt. Fraglich bleibt im Rahmen von Mukařovskýs Ausführungen, was das Ding als Schatten des Zeichens im ästhetischen Objekt meinen könnte. Eine mögliche Antwort wäre: Es kann sich auf die externen Dinge der Wirklichkeit, ebenso gut aber auch auf den Menschen beziehen, der je nach dem Stand der kollektivierten Werte als bloßer dinglicher Faktor der »Wissenschaft, Politik, Ökonomie, sozialen Schichtung, Sprache, Moral, Religion und dgl.«39 gewertet wird oder als Subjekt mit dem Anspruch auf Selbstverwirklichung in all seinen angeborenen Funktionen. Baut man das Theorem der dialektischen Doppelnatur des Kunstwerks als Zeichen und Ding in das ästhetische Objekt ein, so gewinnt die strukturalistische Theorie einen Zugang zum Bereich der sozialen Erscheinungen mit ihren vielen kulturbildenden Reihen, die wir soeben aus Mukařovskýs Aufsatz von 1934 über Viktor Šklovskij noch einmal aufgelistet haben. Schon in diesem frühen Aufsatz beschäftigt Mukařovský die Frage nach dem Verhältnis von Ding und Zeichen im und außerhalb des Kunstwerks. Hinzuweisen ist auch auf den zeitgleich erschienenen Aufsatz »L’Art comme fait sémiologique«, wo die Beziehung zwischen künstlerischer Zeichenbildung in der Literatur und in anderen Kunstarten mit dem gesamten kollektiven Wertsystem der Gesellschaft systematisch semiotisch reflektiert wird. 1943, fast zehn Jahre später greift Mukařovský dieselbe Problematik im Kontext seiner inzwischen erarbeiteten anthropologischen Ästhetik erneut auf. Letztlich geht es ihm nicht nur um die Kunstsemio-

Insofern das Akkumulationsmodell zum textanalytischen Programm unter dem Begriff der ›semantischen Geste‹ steht, erhebt es allerdings doch den Anspruch, auf das Gesamtwerk eines Autors und auf Generationsgruppen anwendbar zu sein. Das ist von späteren tschechischen Strukturalisten kritisiert worden. Vgl. dazu H. Schmid: Die ›semantische Geste‹. 38 Vgl. auch H. Schmid: Poznání a zájem u Jana Mukařovského. 39 J. Mukařovský: K českému překladu Šklovského Teorie prózy, 329. 37

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tik, sondern auch um die Verdinglichung des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft, die Karl Marx unter ökonomischem Gesichtspunkt analysiert hat.40 Hier sei auch erwähnt, dass unser prominenter Begründer des tschechischen Strukturalismus sich nach dem Zweiten Weltkrieg dem Sozialismus zugewandt und dem Strukturalismus abgeschworen hat. Bachtin lebte in einer sozialistischen Gesellschaft, die kapitalistische Verdinglichung gerade aufheben wollte. Seine Dialogizitätstheorie macht radikaler als die später hinzutretende Hermeneutik auf ein Defizit an Gleichheit und Freiheit in der neuen sozialistischen Gesellschaft aufmerksam. Was die Attraktivität der beiden Theorien in der Literaturwissenschaft betrifft, so konnte sich Bachtins Dialogizitätstheorie längere Zeit einer Vorrangstellung gegenüber dem tschechischen Strukturalismus erfreuen. Das mag an dem kulturhistorischen Schwung des Dialogs in der ›kleinen‹ und ›Großen Zeit‹ liegen. 41 Mukařovskýs Strukturalismus hingegen verlangt Kenntnisse der Herbart’schen Linie der philosophischen Ästhetik, die in Deutschland stets nur eine marginale Rolle gespielt hat, jedoch gegenwärtig, über die Vermittlung von Oskar Walzel, der ja auch in Kreisen des russischen Formalismus diskutiert wurde, eine gewisse Wiederbelebung zu erfahren scheint.42 Stellt man den konkreten Ertrag des tschechischen Strukturalismus und der Bachtin’schen Theorie in der Literaturwissenschaft zusammen, so könnten sie einander positiv ergänzen: Bachtins schwungvolle, aber textanalytisch schwache Dialogizitätstheorie könnte mittels Mukařovskýs Akkumulationsmodell im Verband mit den übrigen strukturalistischen Analysebegriffen objektiviert und auf ihre analytisch nachweisbaren Relationen reduziert werden, und der tschechische Strukturalismus würde sich für die Interpretation der dichterischen Bedeutung öffnen, die in dieser Schule ein Manko geblieben ist.43 Vgl. dazu J. Mukařovský: Vztah mezi sovětskou a československou literární vědou, bes. 335, wo er eine allzu primitive Auslegung der marxistischen Lehre vom ideologischen Überbau von Marx, Engels und Lenin moniert. 41 Igor P. Smirnov (vgl. ders.: Geschichte der Nachgeschichte) zeigt freilich, dass weder die neuere russische ›Prosa‹ noch die Theoriebildung bleibende Wirkung des Bachtin’schen Modells vom Dialog in der ›Großen Zeit‹ verraten. Eine Übersicht über die Auffassungen von Autor und Subjekt vom russischen Formalismus über Bachtin zu Mukařovský gibt Miroslav Marcelli (vgl. ders.: Problém autora). Bemerkenswert ist seine Überlegung, dass Theorien, die die Verantwortung des Autors für sein Werk entweder betonen oder negieren, auch mit der Entwicklung des Urheberrechts sowie mit dem Interesse der Staates an strafrechtlicher Verfolgung eines unliebsamen Autors zusammengebracht werden können. 42 Vgl. H. Schmid: Poznání a zájem u Jana Mukařovského. Das neue Interesse an dem ›Herbartisten‹ Oskar Walzel zeigt sich vor allem bei Kunsthistorikern. 43 In dem von Ondřej Sládek 2006 herausgebrachten Sammelband Český strukturalismus po poststrukturalismu beschäft igen sich drei von insgesamt vierzehn Aufsätzen zentral mit der Frage der Verbindbarkeit von Hermeneutik bzw. Interpretation und Strukturalismus. Die Namen der Autoren mögen hier genügen: Jaroslav Hroch, Jan Schneider, Jiří Holý. Mehr als der Interpretation selber widmen sich deren Bedingungen und Möglichkeit drei weitere Autoren: Milan Jankovič, Aleš Haman, Tomáš Kubíček. Bachtins Hermeneutik fi ndet fast gar kein Echo. Eine Unterstützung der sprachtheoretischen Annahmen von Jan Mukařovský scheint übrigens Noam Chomskys an Descartes, der Grammatik von Port-Royal und an Wilhelm von Humboldt 40

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Literatur Bachtin, Michail M.: Problema soderžanija, materiala i formy v slovesnom tvorčestve [Das Problem von Inhalt, Material und Form im sprachlichen Schaffen] (1924), in: ders.: Voprosy literatury i ėstetiki. Issledovanija raznych let [Fragen der Literatur und Ästhetik. Studien aus allerlei Jahren], Moskau 1975, 281–307 – Das Wort im Roman (1934–1935), in: ders.: Die Ästhetik des Worts, hg. von R. Grübel, Frankfurt a. M. 1979, 154–300 – Avtor i geroj v ėstetičeskoj dejatel’nosti [Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit] (1952–1953), in: ders.: Ėstetika slovesnogo tvorčestva [Die Ästhetik des sprachlichen Schaffens], Moskau 1979, 9–191 – Problema teksta v lingvistike, fi lologii i drugich gumanitarnych naukach (Opyt fi losofskogo analiza) [Das Problem des Textes in der Linguistik, Philologie und anderen Geisteswissenschaften (Versuch einer philosophischen Analyse)] (1959–1961), in: ders.: Ėstetika slovesnogo tvorčestva [Die Ästhetik des sprachlichen Schaffens], Moskau 1979, 281–307 – Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 21963 – Problema rečevych žanrov [Das Problem der Redegattungen], in: ders.: Literaturnokritičeskie stat’i [Literaturkritische Aufsätze], Moskau 1986, 428–472 Ėngel’gardt, Boris M.: Formal’nyj metod v istorii literatury [Die formale Methode in der Literaturgeschichte], Leningrad 1927 Henckmann, Wolfhart: Einleitung, in: J.F. Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, hg. von W. Henckmann, Hamburg 1993, VII–LXX Herbart, Johann F.: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, hg. von W. Henckmann, Hamburg 1993 Jandová, Jarmila/ Volek, Emil (Hgg.): Signo, función y valor Estetica y semiotica del arte de Jan Mukařovský, Colombia S.A. 2000 Jolles, André: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (1930), 51974 Tübingen Kiraj, D’ula/ Kovač, Arpad (Hgg.): Poėtika. Trudy russkich i sovetskich poėtičeskich škol [Poetik. Schriften russischer und sowjetischer Poetikschulen], Budapest 1982 – Russkaja klassičeskaja i sovetskaja poėtika [Die russische klassische und sowjetische Poetik], in: dies. (Hgg.): Poėtika, 11–32 – Predislovie [Vorwort], in: dies. (Hgg.): Poėtika, 7–11 Lunačarskij, Anatolij: O mnogogolosnosti Dostoevskogo [Über die Polyphonie D.s] (1929), in: ders.: Sobranie sočinenij, Bd. I, Moskau 1963, 157–178 Marcelli, Miroslav: Problém autora [Das Problem des Autors], in: V. Zuska (Hg.): Estetika na křižovatce humanitních disciplín [Ästhetik auf der Kreuzung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen], Prag 1997, 43–58 Medvedev, Pavel N.: Formal’nyj metod v literaturovedenii [Die formale Methode in der Literaturwissenschaft], Leningrad 1928

orientiertes Projekt der transformationellen, generativen Grammatik zu liefern. Chomsky bezweifelt, dass die menschliche Sprache primär eine kommunikative Funktion hat, für ihn ist die kognitive Leistung von Sprache wesentlich. An Bachtins Sprachkonzept schließt eher die pragmatistische Sprechakttheorie von J.L. Austin, J.R. Searle und P. Grice an.

Jan Mukařovský und Michail Bachtin

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Mukařovský, Jan: Člověk ve světě funkcí. Předmluva ke knize K. Honzíka Tvorba životního slohu [Der Mensch in der Welt der Funktionen Vorwort zu dem Buch von K. Honzík Das Schaffen des Lebensstils] (1946), in: ders.: Studie z estetiky, 283–291 – Dialektické rozpory v moderním umění [Dialektische Widersprüche in der modernen Kunst] (1935), in: ders.: Studie z poetiky poetiky, 354–370 – Intonace jako činitel básnického rytmu [Die Intonation als Faktor des dichterischen Rhythmus] (1933), in: ders.: Studie z poetiky poetiky, 191–204 – K českému překladu Šklovského Teorie prózy [Zur tschechischen Übersetzung von Šklovskijs Theorie der Prosa] (1934), in: ders.: Studie z poetiky, 325–330 – K problému funkcí v architektuře [Zum Problem der Funktionen in der Architektur] (1937–1938), in: ders.: Studie z estetiky, 272–283 – Místo estetické funkce mezi ostatními [Die Stelleung der ästhetischen Funktion unter den übrigen] (1942), in: ders.: Studie z estetiky, 80–93 – O jazyce básnickém [Über die Dichtersprache] (1940), in: ders.: Studie z poetiky, 93–136 – Poznámky k sociologii básnického jazyka [Bemerkungen zur Soziologie der Dichtersprache] (1935), in: ders.: Studie z poetiky, 147–157 – Próza Karla Čapka jako lyrická melodie a dialog [Karel Čapeks Prosa als lyrische Melodie und Dialog] (1939), in: ders.: Studie z poetiky, 722–732 – Studie z estetiky [Studien zur Ästhetik], Prag 1966 – Studie z poetiky [Studien zur Poetik], Prag 1982 – Umění jako semiologický fakt [L’Art comme fait sémiologique] (1934), in: ders.: Studie z estetiky, 111–116 – Vztah mezi sovětskou a československou literární vědou [Die Beziehung zwischen der sowjetischen und tschechoslowakischen Literaturwissenschaft] (1935–36), in: ders.: Studie z poetiky, 331–336 – Záměrnost a nezáměrnost v umění [Absichtlichkeit und Unabsichtlichkeit in der Kunst] (1943), in: ders.: Studie z estetiky, 116–147 Schmid, Herta: Bachtins Dialogizitätstheorie im Spiegel der dramatisch-theatralischen Gattungen, in: H. Schmid/ J. Striedter (Hgg.): Dramatische und theatralische Kommunikation. Beiträge zur Geschichte und Theorie des Dramas und Theaters im 20. Jahrhundert, Tübingen 1992, 36–90 – Die entwicklungsgeschichtlichen Ideen Jan Mukařovskýs und Michail Bachtins, in: M. Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, 315–345 – Die ›semantische Geste‹ als Schlüsselbegriff des Prager literaturwissenschaft lichen Strukturalismus, in: E. Ibsch (Hg.): Schwerpunkte der Literaturwissenschaft außerhalb des deutschen Sprachraums, Amsterdam 1982, 209–259 – Jan Mukařovskýs Theatertheorie (Anläßlich des Aufsatzes »Zur künstlerischen Situation des heutigen tschechischen Theaters«, 1945), in: Balagan. Slavisches Drama, Theater und Kino 1 (1995), 96–121 – Poznání a zájem u Jana Mukařovského a v současné vědě o literatuře [Erkenntnis und Interesse bei Jan Mukařovský und in der gegenwärtigen Literaturtheorie], in: O. Sládek (Hg.): Český strukturalismus po poststrukturalismu, 160–178 – Zugänge zum Subjekt in der Prager strukturalistischen Anthropologie und in Ernst Cassirers genetischem Strukturalismus, in: P. Michalovič (Hg.): subiect – autor – audience: the subject in the expanse oft art [Subjekt – Autor – Zuhörerschaft: the subject in the expanse of art], Bratislava 1996, 155–175 [slovak.: in: P. Michalovič (Hg.): subjekt – autor –

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Herta Schmid

auditórium: subjekt v priestoroch umenia [Subjekt – Autor – Zuhörerschaft: das Subjekt in den Räumen der Kunst], Bratislava 1997, 149–166] Sládek, Ondřej (Hg.): Český strukturalismus po poststrukturalismu. Sborník z kolokvia pořádaného k přípomenutí třicátého úmrtí Jana Mukařovského (1891–1975) [Der tschechische Strukturalismus nach dem Poststrukturalismus. Sammelband zum Kolloquium in Erinnerung an Jan Mukařovskýs dreißigstes Todesjahr (1891−1975)], Brno 2006 Smirnov, Igor P.: Geschichte der Nachgeschichte: Zur russisch-sprachigen Prosa der Postmoderne, in: M. Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, 205–219 Titzmann, Michael (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991 Todorov, Tzvetan: Antropologia fi lozoficzna [Philosophische Anthropologie] (1981), in: E. Czaplejewicz/ E. Kasperski (Hgg.): Bachtin Dialog. Język. Literatura [Bachtin Dialog. Sprache. Literatur], Warschau 1983, 457–476 Tynjanov, Jurij N.: Das Problem der Verssprache. Zur Semantik des poetischen Textes (1924), München 1977 Veltruský, Jiří: Drama as Literature, Lisse 1977 Volek, Emil: El Formalismo Ruso y el postformalismo bajtiniano entre la Modernidad y la Postmodernidad: Paradigmas teóricos máscaras humanas, in: ders. (Hg.): Antología del Formalismo Ruso y el Grupo de Bajtin Polémica, historia y teoría literaria, Madrid 1992, 17–31 Vološinov, Valentin N.: Slovo v žizni i slovo v poėzii. K voprosam sociologičeskoj poėtiki [Das Wort im Leben und das Wort in der Poesie. Zu Fragen einer soziologischen Poesie] (1926) [Auszug], in: D. Kiraj/ A. Kovač (Hgg.): Poėtika, 102–108 – Marksizm i filosofija jazyka [Marxismus und Sprachphilosophie], Leningrad 21930 Wutsdorff, Irina: Bachtin und der Prager Strukturalismus. Modelle poetischer Offenheit am Beispiel der tschechischen Avantgarde, München 2006

Theoriedebatten an der GAChN im Kontext des deutsch-russischen Ideentransfers

Die Rezeption der klassischen deutschen Ästhetik in den Forschungen und Diskussionen der GAChN Aleksandr Dobrochotov

Zu den interessantesten Aspekten der wissenschaft lichen Aktivität der GAChN gehört die Hinwendung zur deutschen Wissenschaftskultur vom Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. In dieser suchen die Forscher der GAChN nach Theorieelementen, die es ermöglichen könnten, auch aktuelle Probleme der Kunstwissenschaft zu lösen. Daher sagt die Art und Weise, wie dieses deutsche Erbe rezipiert wird, viel über die den Forschungen der Akademie innewohnende Logik aus. Denn die Neuinterpretation der klassischen deutschen Ästhetik (damit ist das gesamte theoretische Diskussionsfeld von Winckelmann bis zur späten Romantik gemeint) bildet naheliegenderweise einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung der programmatischen Aufgabe der GAChN, eine neue Kunstwissenschaft zu schaffen. Die Neuinterpretation dieses Diskussionsfeldes sowie seine Einbeziehung in die Forschung der GAChN in den Arbeiten von Špet, Losev, Gabričeskij, Zubov, Focht, Popov, Achmanov u. a. gehören zu den wesentlichen wissenschaft lichen Leistungen der Akademie. Indes lassen sich diese Leistungen nicht so einfach auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Denn zum einen verfolgen die Autoren bei dieser Neuinterpretation oft sehr unterschiedliche theoretische Ansätze. Zum anderen haben die daraus resultierenden Ergebnisse oft einen thesenhaften und vorläufigen Status, da sie meist auf Vorträge zurückgehen, die auf Sitzungen der Akademie gehalten wurden. Beginnen wir daher mit den wenigen Punkten, die als gemeinsame Grundlage gelten können. Das transzendental-spekulative Denken bildet nicht allein für die Forscher der GAChN den vertrauten Ausgangspunkt: Das deutsche philosophische Erbe – zumindest in Gestalt des Schellingianismus und Hegelianismus – ist für die russische Philosophie nach wie vor eine nie versiegende Quelle. Selbst die Bolschewiki bekennen sich zu Hegel. Einen zusätzlichen Impuls für die GAChN dürfte in dieser Hinsicht die neuhegelianische Ästhetik Croces darstellen. Dazu gehören auch die Romantik, die durch die Symbolisten des Silbernen Zeitalters neu entdeckt und interpretiert wird, und (vermutlich) auch die intellektuelle Wirkung der am deutschen Idealismus orientierten Rechtsphilosophen aus der Schule Boris Čičerins1. Aber auch das westliche Denken befindet sich in den 1920er Jahren in der historischen Phase einer Neuentdeckung und Umwertung der spekulativen Klassik.2 Eine 1 Vgl. das 1918 erschienene einflussreiche Hegel-Buch des Rechtsphilosophen Ivan Il’in Filosofija Gegelja kak učenie o konkretnosti Boga i čeloveka. 2 Wenn man die von Windelband in den Präludien (1883) festgestellte Hinwendung der Jugend zu Hegel für den Ausgangspunkt hält, Diltheys Die Jugendgeschichte Hegels (1905) für das zentrale Ereignis und das Hegel-Jubiläum 1931 für das gesellschaft lich wirksame Ergebnis dieser Bewe-

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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Aleksandr Dobrochotov

einflussreiche Richtung innerhalb dieser Bewegung ist die Goethe-Renaissance, die ein neues Interesse am gesamten Spektrum ästhetischer Diskussionen der ›GoetheZeit‹ auslöst. Aus dieser Perspektive werden sowohl die Weimarer Klassik als auch der nachkantische transzendentale Idealismus neu gelesen und ›rehabilitiert‹, in erster Linie Hegel und Schelling. Für die Ideologie der GAChN ist diese Wiederentdeckung Goethes ebenso relevant wie der Einfluss des Neukantianismus und der Phänomenologie. Insgesamt ist ein geistig sehr anspruchsvolles Milieu zu konstatieren, dessen Konfiguration eine Orientierung an der deutschen Tradition geradezu unvermeidlich werden lässt.3 Aber für die GAChN ist darüber hinaus die Beschäftigung mit dem in der spekulativen Klassik stets präsenten Thema einer ästhetischen Synthese charakteristisch. Schlicht und direkt findet sich dieser Gedanke bei Hegel. In seinem »Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus« heißt es, dass »[…] der höchste Akt der Vernunft, der alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt« sei. »Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie«. Und weiter: »Wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.«4 Das Motiv einer neuen Mythologie darf zwar in diesem Zusammenhang nicht überbewertet werden, aber die neue Kunstwissenschaft der GAChN weist auch diese Nuance auf. So gibt es in der von offizieller Seite formulierten Aufgabe für die Wissenschaft ler, in der enervierend chaotischen Welt des künstlerischen Schaffens eine rationale Ordnung herzustellen, auch ein utopisches Moment. In diesem Programm kommt jedoch dem Aspekt der ›Wissenschaft‹ eine zentrale Bedeutung zu: Er ermöglicht es, die Interessen vieler Akteure zu verbinden, nicht zuletzt, weil eine gelungene Synthese von Vernunft und Kunst eben in jener klassischen deutschen Philosophie bereits realisiert worden ist, die auch die Sowjetmacht wohlwollend als ›Quelle und Bestandteil‹ (nach Lenins Worten) ihrer eigenen Doktrin anerkennt.

I. Als charakteristische Beispiele für diese Orientierung an der klassischen deutschen Ästhetik verwende ich die Arbeiten von Aleksej Losev, Aleksandr Gabričevskij, Vasilij Zubov und Gustav Špet. Bei Losev geht es hier in erster Linie um seine 1927 erschienene Dialektik der künstlerischen Form.5 Der Anmerkungsteil des Buches, der beinahe ebenso umfangreich wie der Textgung, dann müssen die 20er Jahre als Epoche einer aktiven und reifen Neuinterpretation der Klassik gelten. 3 Das gilt auch für das Denken der russischen Formalisten. Vgl. E.E. Dmitrieva (Hg.): Evropejskij kontekst russkogo formalizma. Dazu äußern sich S. Trotman-Valer, K. Men’, M. Espagne, E. Dmitrieva. 4 G.W.F. Hegel: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. 5 Zitiert nach A.F. Losev: Forma. Stil’. Vyraženie (Engl. Übers.: A. Losev: The Dialectic of Artistic Form).

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teil ist, behandelt im Wesentlichen das Thema der »Dialektik in der deutschen Ästhetik Ende des 18. Jahrhunderts«. (Dieses Forschungsthema hat Losev auch in zwei Sektionsvorträgen an der GAChN am 15. und 29. Oktober 1925 behandelt.6) Für Losev bildet die gesamte deutsche ästhetische Klassik ein einziges starkes historisches Argument für seine Lehre von der Kunst als einer ›energisch-symbolischen Gestalt‹. Der Aufbau eines dialektischen Universums mit totalen Verbindungen auf allen Ebenen hat für ihn unbedingten Vorrang. Daher hat Losev auch keine Bedenken, das Bild dieser geistigen Epoche im Lichte seiner Aufgaben zu ›formatieren‹. Das Protokoll vom 29. Oktober hält fest, dass Losev laut seiner Antwort an einen Opponenten die Hauptaufgabe seines Vortrags nicht in der Beschreibung individueller Besonderheiten einzelner Tendenzen des 18. Jahrhunderts sieht, sondern darin, zu zeigen, welches Material diese Tendenzen für die Ausarbeitung dialektischer Schemata bieten.7

Ein derartig aggressives Herangehen an das historische Material wäre schwerlich zu akzeptieren, ließe man außer Acht, dass die empirische Korrektheit, zu der in der anschließenden Diskussion des Vortrags insbesondere Zubov aufruft, eine Änderung der methodologischen Einstellung erfordern und die Instrumentalisierung der Klassik für die Aufgaben der GAChN in gewissem Sinne sogar blockieren würde. Losev lässt sich bewusst auf das Risiko ein, das Material zu stilisieren, und gewinnt dadurch ein philosophiehistorisches ›Terrain‹ für eigene Ausführungen. Natürlich ergeben sich daraus geistige Spannungen mit einigen GAChN-Forschern, wenn nicht gar Konflikte. So verfügt Losev bereits 1925 über ein differenziertes Verständnis der Kunst als Ganzes sowie der verschiedenen Kunstgattungen. Seine Kunstauffassung entwickelt er auf der für ihn selbstverständlichen christlich-platonischen Grundlage und bezieht darin einige Aspekte der Phänomenologie mit ein. Die anderen GAChN-Forscher, einschließlich Špet, befi nden sich dagegen noch im Stadium intensiver Suche. Hier entsteht fast notgedrungen eine Differenz der intellektuellen Haltungen zwischen den noch auf der Suche befindlichen Forschern und dem Wissenschaft ler, der eine ausgearbeitete Konzeption präsentiert. Daher stößt Losevs bereits ausgearbeitete mythologisierende Auffassung der Kunst bei den Kollegen auf Protest und auf mitunter berechtigte Kritik. In den »Anmerkungen« zur Dialektik der künstlerischen Form (von der 55. Anmerkung an bis zum Schluss bilden sie eine relativ geschlossene Darstellung der den Autor interessierenden Epoche) vertritt Losev ebenfalls diese von seinen Kollegen an der GAChN kritisierte Position. Allerdings ermöglichen die ausführlichen Darlegungen im Buch ein besseres Verständnis seiner Interpretationslogik. Wichtig ist auch die Komposition der Anmerkungen, die merkwürdigerweise nicht unmittelbar auf die Bezugstexte im theoretischen Hauptteil seines Buches abgestimmt ist. So kommt Losev nach einer allgemeinen Übersicht speziell auf Friedrich Schlegels 6 7

A.G. Dunaev: Losev i GAChN. Prenija po dokladu A.F. Loseva, 15 verso.

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Ideen und Schellings System des transzendentalen Idealismus zurück, die »separate dialektische Tendenzen am Ende des 18. Jahrhunderts« verbunden hätten. Dann analysiert er die in jenem Jahrzehnt aufkommende neue Hinwendung zur Antike und referiert detailliert die Konzeptionen der drei deutschen Forscher8 , auf die er sich in seinen Schlussfolgerungen stützt. Weiter entwickelt er das Konzept einer »Differenz zwischen romantischer und klassischer Ästhetik« und gibt eine kurze Beschreibung von Schellings Philosophie der Kunst, mit der seiner Auffassung nach eine neue Epoche der ›Dialektik der Kunst‹ in der Neuzeit einsetzt. Von Anmerkung 56 bis zum Ende untersucht Losev die Ideen dieser Epoche im Hinblick auf die Einteilung der Künste und die philosophisch-ästhetischen Schlüsselbegriffe (Schema, Allegorie, Symbol, das Erhabene, Phantasie, Ironie, Komik, das Naive, Tragik, Humor, Stil, Kompositionsformen). Hervorzuheben sind ein sehr konzentrierter Text über die Musik als Kunst (Anm. 56) und eine Untersuchung von Hegels Bestimmung der romantischen Kunstform (Anm. 61). Die Anmerkungen sind bei aller äußerlich chaotischen Gestaltung im Inneren als eine dreifache Rückkehr zu Schelling aufgebaut, dessen philosophische Entwicklung als Prüfstein für Losevs eigenes dialektisches Konzept dient, und als eine doppelte Rückkehr zum Thema der Synthese antiker und deutscher Dialektik, die Losev als die entscheidende Leistung dieser Epoche ansieht. Inhaltlich wird in den Anmerkungen das Konzept der Vorträge von 1925 so weiterentwickelt, dass sie Losevs eigene Dialektik der künstlerischen Form historisch begründen. Als Ausgangspunkt wählt Losev die Philosophie Kants als Versuch, die Dinge in der Vernunft zu sehen und die transzendentale Notwendigkeit und Selbstständigkeit der Kunst zu begründen. Indes hält er dabei fest, dass Kant in seinem Subjektivismus und seiner Auseinandersetzung mit dem Intuitivismus »an der Ästhetik der 90er Jahre vorbeiging«. Bei seiner Behandlung der Weimarer Klassik stellt Losev zwei Komponenten heraus – den »Platonismus bei Goethe und Schiller mit Kant’schen Anklängen« und »Goethes mystischen Spinozismus«. Besondere Aufmerksamkeit widmet Losev Schillers Theorie des Spiels. Für das Lexikon der Kunstterminolgie (Slovar’ chudožestvennych terminov) der GAChN verfasste er selbst einen kurzen, aber gehaltvollen Artikel »Spiel«, und in der Dialektik der künstlerischen Form skizziert er seine Version von einer Theorie der Kunst als Spiel, das mit der Konzeption des ›verschwindenden Autors‹ zusammenhängt: Die künstlerische Form als Sinn im Anderssein reproduziert sich selbst, indem sie mit Elementen des Werks spielt. Die höchste Spielebene wird erreicht, wenn das Thema mit jenen Variationen spielt, die kein wirkliches Thema werden können, aber in seinem Feld existieren und es in unendlichem Spiel reproduzieren. Die Genesis der Ansichten Friedrich Schlegels beschreibt Losev als Weg von der Schiller’schen Klassik über Kant zum mystischen Antinomismus. Eine besondere Rolle weist er Fichte als erstem ›authentischem‹ Dialektiker zu, der den Weg für eine ›universalistische antinoF. Strich: Deutsche Klassik und Romantik, H. Horwitz: Das Ichproblem der Romantik, M. Deutschbein: Das Wesen des Romantischen. 8

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mische‹ Weltempfindung bereitet hätte. In der Epoche nach Fichte erkennt Losev drei Tendenzen: 1. die Evolution Schellings vom »Physizismus zum Idealismus«, 2. die Natur- und Geistesmystik bei Novalis, Tieck und Wackenroder, 3. Schleiermachers Religionsphilosophie (die im Text sowie in den Vorträgen nicht explizit dargestellt wird). Alle drei Strömungen kommen Losev zufolge 1800 in Schellings System des transzendentalen Idealismus zusammen, das die Entwicklung der gesamten Dialektik der 90er Jahre zum Abschluss bringt. Hier ist laut Losev aus der »Wurzel bereits eine Pflanze geworden«. Im Mittelpunkt der Studie steht die Gegenüberstellung des Klassischen und Romantischen als Typen der Weltanschauung: [Romantik] ist die subjektivistisch-individualistische, potentielle Unendlichkeit des Pantheismus. Klassik ist die universal-kosmische, aktuelle Unendlichkeit der Idee. So sind romantisches und klassisches Weltempfinden, Kunst, Philosophie, romantische und klassische Ästhetik einander diametral entgegengesetzt.9

Losev bedarf dieser Polarität, um seine theoretische Konstruktion historisch zu begründen: » […] so klar mir die Gegensätzlichkeit dieser Typen vom empirisch-mythologischen Standpunkt aus scheint, so kategorisch vertrete ich die These von der wesentlichen Identität des konstruktiv-logischen Systems dieser beiden Erfahrungen und Mythologien«10. Deshalb kann die Dialektik des ersten Teils des Buchs, das Losevs eigenes Spiel mit den Themen der historischen Studie darstellt, die geschickt als Anmerkungen maskiert ist, nicht ohne die Konzepte Fichtes, Schellings und Hegels verstanden werden, die Losev reaktiviert und polemisch gegen den ›Zeitgeist‹ richtet.

II. Der Vortrag von Aleksandr Gabričevskij »Herders ›Plastik‹«11 in der GAChN vom 12. November 1925 geht ganz anders als Losev an die deutsche Ästhetik heran. In seinem Artikel »Oberfläche und Ebene« von 1928 betont Gabričevskij, es sei ein großes Problem, dass die Kunstwissenschaft sich mit »Prämissen und Modellen begnügt, die sie dogmatisch aus der Physik, Physiologie und Mathematik entlehnt hat, ohne sie an der unmittelbaren Gegebenheit des Künstlerischen als solchem zu prüfen«12 . Würde man diese Gegebenheit dem theoretischen Modell zugrunde legen, so Gabričevskij, dann »befände sich die Lehre von den Elementen der Kunst nicht in dem rudimentären Zustand wie dies jetzt der Fall ist, sondern wäre organischer Bestandteil der allgemeinen Naturphilosophie.«13 Als positives Beispiel nennt Gabričevskij Goethes Optik, die aus der Deutung der Malerei heraus entstanden sei, und merkt dazu an, dass »andere Elemente des räumlichen Schaffens noch mehr 9 10 11 12 13

A.F. Losev: Forma. Stil’. Vyraženie, 251. Ebd., 252. Zu den Thesen des Vortrags: A. Gabričevskij: Morfologija iskusstva,79 f. Ebd., 219. Ebd., 221 (Hervorhebung im Orig.).

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Aleksandr Dobrochotov

vernachlässigt werden: Für den Begriff der Masse haben wir fast nichts außer dem genialen Entwurf Herders …«14 . Gabričevskij bezieht sich auf einen Text, der selbst von Historikern der Ästhetik nicht allzu häufig zitiert wird, eine kleine Frühschrift von 1778 mit dem Titel Plastik.15 Herders Hauptthese ist, dass sich die künstlerischen Möglichkeiten und Fähigkeiten, die auf den drei für die Kunst grundlegenden Typen der Sinnlichkeit basieren – dem Sehen, Hören und Tasten – nicht ineinander übersetzen lassen. Herder greift Lessings Idee auf, dass die optischen Künste nicht für alles Künstlerische als Kriterium dienen könnten; man dürfe die Skulptur nicht als schweigende Poesie und die Poesie nicht als sprechendes Bild bezeichnen. Herder empört sich über diese noch aus der Antike stammenden Metaphern. Diese Welten seien nicht zu vermischen, jede solle auf ihre Weise funktionieren und sei nach eigenen inneren Kriterien zu bewerten. Gabričevskij merkt dazu an: Nach Herder sind die meisten ästhetischen Termini der optischen Wahrnehmung entlehnt. Der Tastsinn ist nicht nur nicht erforscht, sondern auch die aus diesem Bereich stammenden verbalen Nuancierungen verschwinden immer mehr [aus der Sprache]. Dabei geht der Tastsinn dem Sehsinn voraus, und auf ihm basiert die gesamte Kunst der Plastik. Die Phänomenologie des Tastens ist nichts anderes als das künstlerische Prinzip der Plastik.16

In seiner ästhetischen Theorie beschreitet Herder nicht den Weg des kontinentalen deduktiven Rationalismus und auch nicht den englischen empirischen Weg. Er versucht, die Formen der Kunst aus der konkreten Sinnlichkeit zu entwickeln, die dabei nicht Material, sondern aktives Element ist. (Gerade darin besteht eigentlich auch der Weg seiner Sprachphilosophie.) Das Leben des Materials ist somit sowohl Aufgabe für den Künstler als auch Bedingung für die Wahrnehmung der Schönheit. Gabričevskij schreibt hierzu: Im Gegengewicht zur abstrakten rationalistischen Ästhetik seiner Zeitgenossen versucht Herder, die Wissenschaft vom Schönen ›von unten‹ aufzubauen, auf dem Wege der Analyse der einfachsten ›sinnlichen Begriffe‹. Das Resultat dieser Analyse soll eine genaue Abgrenzung der sinnlichen Sphären sein. Die ›Phänomenologie‹ dieser Sphären liegt der Abgrenzung der verschiedenen Typen des Schönen und der Klassifizierung der Künste zugrunde. Entsprechend trägt auch der Begriff der Schönheit, der ›sinnliche Ausdruck innerer Vollkommenheit‹ einen dezidiert naturalistischen Charakter. Die Wahrnehmung der Schönheit ist das Einfühlen in eine Art Maximum an innerer Lebenskraft und Bewegung, die in der äußeren sinnlichen Form Ausdruck findet.17 Ebd. J.G. von Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume (Riga 1778). 16 A. Gabričevskij: Morfologija iskusstva, 79. 17 Ebd. 14

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Die Kritik des Optischen in der Plastik ist eine wertende: Das Sichtbare erfüllt nach Herder zwei Funktionen. Es entfernt uns von dem, was wir sehen und es zerlegt das Entfernte in gleichrangige Teile, so dass wir heute, in Kenntnis der Heidegger’schen »Zeit des Weltbildes«, sagen würden, dass der Mensch sich vom Objekt entfremdet und das Objektivierte in seinem Inneren so strukturiert, dass die Teile eines Ganzen als einzelne Objekte bestehen. Das Ergebnis ist laut Herder eine illusorische Reproduktion der Realität auf einer Fläche. Er entwertet keineswegs die Malerei: Er behauptet lediglich, dass man in der Malerei das sehen müsse, was sie uns geben kann und was wir mit nichts anderem verwechseln dürfen. Dies ist eine objektivierte Wirklichkeit, die ein Ganzes umfasst. Die Stärke der Malerei liegt darin, dass sie ein angehaltenes und flächiges Sein darzustellen vermag, und zwar alle Elemente vollständig bis in jedes Detail. Gute Malerei kann sogar den Unterschied zwischen Höherem und Niederem, zwischen Darstellungen des Erhabenen und des Unwürdigen überwinden. Aber sie kann grundsätzlich die beiden anderen Typen der Realität künstlerisch nicht wiedergeben, die auf dem Hören und Tasten basieren. Das Besondere des Hörsinns ist, dass er eine zeitliche Folge akustischer Zustände und der mit ihnen zusammenhängenden rationalen Akte vermittelt. Der Tastsinn vermittelt uns Form und Körper. Herder verwendet diese beiden Begriffe übrigens beinahe synonym. Form ist notwendig Umfang, und der Umfang vermittelt uns den Raum keineswegs so wie es das Bild tut. Er ist Raum (Umfang, Figur, Form), gefüllt mit Materie. In der Folge entdecken wir auf diese Weise die Kraft. Die Kraft, die Materie, Raum und Zeit bewegt, ist bereits das umfassende Bild des Kosmos. Es ist interessant, mit welchen Konnotationen diese Lobpreisung der Plastik einhergeht. Herder unterstreicht, dass die Plastik unbedingt Handlung ist – in erster Linie die des Bildhauers. Der Raum des Bildhauers gewinnt Gegenständlichkeit, und die Zeit ist hier präsent als dynamische Auswirkung von Kraft . Die Plastik könnte also den Status des Gesamtkunstwerks beanspruchen. Nach Herder wirft uns die Plastik direkt in die Materie hinein und erzeugt einen Strom der Sinnlichkeit: Ein wirklicher Bildhauer muss das Material, das er berührt, als erotisch empfi nden (die erotische Komponente der Plastik bei Herder ist eindringlich und explizit angesprochen). Deshalb kann die Plastik, die nicht mit den Augen und nicht mit dem Verstand, sondern körperlich gefühlt wird, so lebendig werden. Körperlichkeit und Materialität begeistern Herder und Gabričevskij gleichermaßen. Dieser Durchbruch einer neuen sinnlich-materialen Ästhetik war nicht weniger radikal als die Entdeckung des Literarisch-Zeitlichen durch Lessing und bereitete ebenso den Boden für die neue epochale Idee des Willens. Gabričevskij beschreibt die Plastik Herders mit Enthusiasmus als »die ausdrucksvollste Erscheinung in der Ästhetik jenes Weltempfi ndens, das einerseits im Schaffen des ›Sturm und Drang‹ (insbesondere beim jungen Goethe), andererseits in der Naturphilosophie des jungen Schelling Gestalt annahm«, als »eine[n] der ersten Versuche, die künstlerische Form ontologisch zu begründen« und als »den für jene Zeit einzigartigen Versuch einer systematischen Kunstwissenschaft , die

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Aleksandr Dobrochotov

kein Anhang zur Ästhetik, sondern ihre Grundlage wäre.«18 In dem GAChN-Vortrag »Philosophie und Theorie der Kunst« (27. Oktober 1925) formuliert er eine sozusagen programmatische These: […] vor unseren Augen [entsteht] eine eigenartige Ontologie des Künstlerischen (eine Kunsttheorie im engen, aber philosophischen Sinne dieses Wortes), die, ausgehend von der sinnlichen Gegebenheit, das Künstlerische nicht von anderen Formen des Schönen, sondern unmittelbar von anderen Formen des Seins, abgrenzt. Wenn deshalb früher, z. B. zur Zeit der Romantik, der philosophische Weg von der Kunstgeschichte und vom individuellen schöpferischen Akt des Künstlers zur Ästhetik führte, so verläuft der moderne Weg von der Kunstwissenschaft ›nach oben‹ entweder 1) zu einer reinen Ontologie mit der Gefahr zu Naturalismus zu werden (Schmarsow) oder 2) zur Philosophie des Lebens und des Schaffens mit der Gefahr, in Metaphysik umzuschlagen (Simmel). Für letzteren wird der metaphysische Gegenstand selbst nicht nach der Form des Schönen konstruiert, wie etwa bei Schelling zur Zeit seiner Identitätsphilosophie, sondern just nach der Form des Kunstgegenstands (die Tradition Herders beim jungen Schelling und bei Goethe). In diesem Sinn ist der moderne Kunsttheoretiker immer der Verführung des Sensualismus und Naturalismus ausgesetzt, und der Kunsthistoriker der Verführung, umfassende kulturmetaphysische Schemata zu konstruieren. Deshalb muss jede moderne Kunstphilosophie ständig die Phänomenologie des Künstlerischen im Auge behalten, und nur aus ihr können die Prinzipien für die Kunstwissenschaften gewonnen werden.19

Gabričevskijs an der GAChN entstandene Arbeiten zeigen, dass er nicht in Sensualismus und Naturalismus verfällt, aber keine Bedenken hat, sich auf eine ›Philosophie des Lebens und Schaffens‹ einzulassen. Goethe ist für ihn eine ständige Quelle schöpferischer Intuitionen,20 Simmels ›Metaphysik‹ eine Methodologie der Kulturanalyse und Herder ein Beispiel für die revolutionäre Hinwendung zur Dynamik der Form. Der oben zitierte Aufsatz »Oberfläche und Ebene« ist ein guter Beleg dafür. Zugleich ist der Imperativ, die ›Phänomenologie des Künstlerischen‹ zu beachten, keineswegs nur eine rhetorische Floskel. Im Unterschied zur Ästhetik hat die Philosophie der Kunst, wie Gabričevskij betont, mit den Formen des Seins zu tun und nicht mit denen der Schönheit. Sie muss deshalb ihren Gegenstand sowohl vor objektivistischer Naturalisierung als auch vor subjektivistischer Psychologisierung schützen. Daher grenzt sich Gabričevskij von Simmel ab (obwohl sie sich in ihrem Vitalismus nahestehen): Der ›metaphysische Gegenstand‹ ist nicht ›nach der Form eines Kunstgegenstands‹ zu konstruieren, da die Aufgabe darin besteht, seine eigene Formatur herauszustellen, in Bezug auf welche das ›Künstlerische‹ schöpferisch sekundär ist. Herder mit seiner ›ontologischen Begründung der künstlerischen Form‹ steht Gabričevskij hier näher als Simmel. 18 19 20

A. Gabričevskij: Morfologija iskusstva, 79. Ebd., 42 f. (Hervorhebung im Orig.) (vgl. dt. Übersetzung in diesem Band, 423–429). Vgl. hierzu A.L. Dobrochotov: A.G. Gabričevskij o poėtike Gëte.

Rezeption der klassischen deutschen Ästhetik in der GAChN

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Wir können also sehen, dass die klassische deutsche Ästhetik Gabričevskij auf die für seine morphologische Methode entscheidenden Lösungen hinweist. Herder – wie auch Goethe – gehen vom naturphilosophischen und historistischen Vitalismus einen prinzipiellen Schritt zur Autonomie der Form, gerade indem sie sie in der Einheit der körperlich-geistigen Praxis verwurzeln. Die Verführung durch die einfachere Lösung, nämlich die Form in der Praxis aufzulösen, besiegelt das Ende der klassischen Epoche. Gabričevskij jedoch blieb dieser Weg zeitlebens, selbst in seiner späten Schaffensperiode, als die ideologische Sprache seiner Zeit gerade dazu verführte, fremd. Indirekte, dadurch allerdings nicht weniger ausdrucksvolle Spuren der Herder’schen Intuitionen finden sich in Gabričevskijs Arbeiten über die Theorie der Architektur, wenn er erklärt, wie sich der »dynamische« Raum zur »tektonischen Hülle« verhält, und die Wechselwirkung von Masse und Flächigkeit, von »gestaltender Geste« und »antwortender Materie« beschreibt.21

III. Die beiden oben betrachteten Fälle sind ein Beleg für das Suchen der GAChN-Forscher nach theoretischen Gemeinsamkeiten mit der klassischen deutschen Ästhetik. Die Arbeit von V. Zubov über Jean Paul Richter22 hingegen ist dadurch originell, dass sie die deutsche Klassik selbst zum Material für eine Theorie neuen Typs macht und dies mit Methoden, die der Mentalität jener Epoche durchaus verwandt sind. Am 12. November 1925 hält Zubov einen Vortrag in der »GAChN-Kommission zur Erforschung der Geschichte ästhetischer Theorien«, die ihr Hauptaugenmerk auf die deutsche Ästhetik Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts legt.23 Losev ist Leiter der Sitzung. Das Protokoll hält fest: Der Referent unterschied zwischen der charakterologischen Analyse und der rein ästhetischen und setzte sich zum Ziel, Jean Pauls Werke vom psychoanalytischen Standpunkt aus zu betrachten und mit Hilfe der gewonnenen Resultate seine Ästhetik zu erklären. In den nachfolgenden Diskussionen ging es hauptsächlich um die Psychoanalyse, darum, ob es prinzipiell möglich ist, diese Methode bei künstlerischen und philosophischen Werken anzuwenden.24

Eine flüchtige Lektüre erweckt tatsächlich den Eindruck, wir hätten es mit gewöhnlichen Methoden der Psychoanalyse zu tun: Anhand der Romane werden Motive und Bilder des Wassers, Feuers, die Beziehung zu Frauen, zur Mutter, zum Vater, Kindheitserinnerungen, die Reaktion auf verschiedene Dinge erörtert; ein ganzer Abschnitt widmet sich der Analyse von Mikroobjekten wie Schmetterlingen, A.G. Gabričevskij: K voprosu o stroenii chudožestvennogo obraza v architekture. V. Zubov: Žan-Pol’ Richter i ego Ėstetika. 23 Es ist nicht bekannt, ob die umfangreiche Arbeit Zubovs vor dem Vortrag verfasst wurde oder sich auf ihn stützte. 24 Bjulleteni GAChN 2–3 (1925), 89 f. 21

22

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Eintagsfliegen, Käfer, Spinnen usw. Auf dieser Grundlage werden Schlüsse über den Charakter und die psychologische Verfassung von Jean Paul gezogen. Nach der protokollarisch festgehaltenen Reaktion der Kollegen zu urteilen, kritisiert man Zubov wegen einer schlecht verstandenen Psychoanalyse. In der Tat haben wir jedoch die Entstehung einer neuen geisteswissenschaft lichen Disziplin vor uns, die leider nicht weiter entwickelt wurde. Dabei wäre sie gerade innerhalb der Strategie der GAChN angebracht gewesen, da sich hier die formale Analyse der gesamten Kunst mit dem Versuch verbindet, diese formale Analyse selbst so umzudeuten, dass sie kein mechanistisches Instrumentarium mehr bleibt, sondern lebendige innere Formen erschließt. Gerade in dieser Intention unterscheiden sich die Forscher der GAChN entschieden von den ›Formalisten‹. Zubov betont bei der Darlegung seines Konzepts, dass seine Forschung keine reine Psychoanalyse und auch keine ›Strukturpsychologie‹ (im Sinne der DiltheySchule mit den sich anschließenden Richtungen) sei. Die Strukturpsychologie analysiert stilistisch den expliziten Inhalt eines Werks, das keine Antwort auf die Frage gibt, ob der Autor darin ›Schauspieler‹ oder er selbst ist. Die Psychoanalyse zeigt zwar den latenten Inhalt, ist aber als Konzeption für Zubov nicht annehmbar, sondern nur als ein heuristisches Verfahren. Seine eigene Methode bezeichnet Zubov als ›Charakteranalyse‹ oder ›Charakterologie‹ und versteht darunter die Rekonstruktion der individuellen psychologischen Eigenart des Autors ohne eine psychoanalytische ›Enthüllung‹ oder klinische Diagnosen. Die Bezeichnung ›Charakterologie‹ schlägt er für die Analyse der schöpferischen Persönlichkeit vor, unabhängig von ihrer Biographie und Pathographie, aber in engem Zusammenhang mit dem von ihr geschaffenen expliziten Text, in dem der latente Text enthalten ist. Zubov interessiert, wie die Charakteristika der Person zu einem literarischen Text werden, und wie das Wissen von diesem, auf besondere Weise beschriebenen, Typus von Person es hilft, diese Texte von Neuem zu lesen. Ein Großteil der Arbeit behandelt Jean Pauls Romane, aber seine Methode wendet Zubov auch auf scheinbar irrelevantes Material wie Jean Pauls Ästhetik an. Die Analyse der Romane erfolgt auf drei Ebenen: die erste – die ›periphere‹ – ist der stilistischen Analyse verwandt und stellt die Schlüsselsymbole oder, wie sich der Autor ausdrückt, die ›Elemente des Weltbildes‹ heraus; die zweite untersucht die typischen Reaktionen des Subjekts auf die Wirklichkeit; die dritte die Sphäre der ursprünglichen Erlebnisse, praktisch die Kindheitserinnerungen. Ausgiebig analysiert Zubov Symbole und Bilder, die in den Romanen immer wieder vorkommen: Meer oder Feuchtigkeit in verschiedenen Kontexten, Licht, Schnee, Schmerz, Insekten, Flug usw. Die zweite Schicht beruht auf einer selektiveren Suche. Den Autor interessieren die ›Gestalten‹, die ein einheitliches Modell der Welt bilden: die Welt als Buch, das Leben als Theater und Karneval, die Figuren der Mutter und der Geliebten, Krankheit und Tod. Besonders in diesem Zusammenhang hebt Zubov Jean Pauls Introvertiertheit und Hypersensibilität hervor. Die dritte, für die Psychoanalyse klassische Ebene sind die Kindheitserinnerungen, die sparsam und vorsichtig analysiert werden. Hier geht es vor allem um das Thema des Protests gegen die väterliche Herr-

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schaft. Die sich ergebende Diagnose25 stellt Zubov in der Sprache der Psychoanalyse vor: die Verdrängung des ›Titanismus‹, Introversion der Libido, Regression zum ›Narzismus‹ u. dgl. Außerdem können wir hier den Versuch einer Analyse (Charakterologie) sehen, die weder literaturwissenschaft lich noch biographisch wäre und dadurch prinzipiell mit dem persönlichen Schicksal des untersuchten Autors nichts zu tun hätte. Das heißt, dass eine solche Analyse als Instrument dienen kann, um einen bestimmten Typ von Poetik zu erforschen. Eine virtuelle, unbewusste, nicht explizit artikulierte Weltanschauung aufzubauen, die nicht die Philosophie des Autors oder seiner Figuren ist und nicht hinter dem Text steht, sondern vielmehr für ihn konstitutiv ist – das ist eine Aufgabe, die sich nicht völlig mit der Psychoanalyse deckt, aber dafür an die Suche des ›Steins der Weisen‹ der GAChN, d. h. der berüchtigten ›inneren Form‹ anklingt. Zubov führt diese Analyse mit bemerkenswerter Virtuosität durch. Dabei ist auf sein individuelles methodisches Verfahren hinzuweisen: Er stellt typische Beispielreihen von inhaltlichen Singularitäten auf, die nicht auf gattungsmäßige Verallgemeinerungen und nicht auf Konzepte zurückzuführen sind, sondern instruktive Einzelfälle bleiben, exempla eigener Art, die eher organisch als logisch zusammenhängen. Diese Reihen können ihrerseits an komplexen Gegenüberstellungen teilhaben und so etwas wie eine ›musikalische‹ Komposition bilden. Im Grunde ist dies ein barock-emblematischer Stil, der Zubov in die Nähe zu Pavel Florenskij bringt, der ebenfalls gern irreduzible Individualitäten in Reihen aufstellte. Beide Autoren verkörpern dabei einen barocken bzw. einen Spät-Renaissance-Typ einer kulturellen Mentalität, der in der nominalistischen Tradition gründet. Bei Zubov findet er seine zusätzliche Rechtfertigung darin, dass eine solche emblematische Methode es ermöglicht, in Romanen feste Konstruktionsverfahren bei der Darstellung von Figuren zu zeigen, welche den uns unsichtbaren ›latenten Text‹ zum Erscheinen bringen. Die Anwendung der ›Charakterologie‹ auf Jean Pauls Ästhetik zeigt besonders deutlich, dass wir es nicht mit einer Psycho-Analyse, sondern vielmehr mit einer Noo-Analyse zu tun haben. Das psychologische Motiv des erbitterten Kampfes gegen Fichte sowie gegen FichteAnhänger unter den Ästhetikern der Romantik wird klar, wenn man sich an den Charakter Jean Pauls erinnert, wie er in den vorangehenden Kapiteln beschrieben wurde. In Schlegel und Fichte sah Jean Paul die Inkarnation und Realisierung all jener Verlangen, die er selbst verdrängt hatte […].26

Zubov meint hier die in der vorausgehenden Analyse dargestellte ›Introvertiertheit‹, die praktisch zu einem Solipsismus führte, der die Welt in ein Lesebuch verwandelt, in einen Gegenstand uneigennützigen Genusses. Projektionen dieses Komplexes wurden für Jean Paul August W. Schlegel und Fichte, aber letztlich wurde Jean Paul selbst in seinen eigenen Augen Opfer der unendlichen Reflexion über die Reflexion. 25 26

V. Zubov: Žan-Pol’ Richter i ego Ėstetika, 192 f. Ebd., 195.

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In Clavis Fichteana kommt, wie Zubov vermutet, Jean Pauls Streben zum Ausdruck, den Hochmut des Solipsismus zu überwinden und zu beweisen, dass ein isoliertes ›Ich‹ die Welt und sich selbst zerstört. Noch düsterere Seiten von Jean Pauls Psyche zeigen sich nach Zubov in seiner Lehre über den Humor, die Ironie und den Scharfsinn: In Jean Pauls Lehre über den komischen Humor und den Scharfsinn kommen seine verbotenen Wünsche nach ›Titanismus‹ zum Durchbruch, und alles, was von ihm verurteilt wurde, blüht jetzt prachtvoll auf. Die subjektive Willkür wird kanonisiert […]. Die ganze entfesselte Anarchie des romantisch-fichteschen Subjekts lebt auf in Jean Pauls Theorie des Scharfsinns.27

Eine indirekte Bestätigung seiner Theorie sieht Zubov in Solgers Lehre von der romantischen Ironie, in der Jean Pauls Ideen bis zu der Grenze gebracht werden, vor der Jean Paul selbst zurückgeschreckt wäre. Alles Irdische und Individuelle, jegliche kleinen Geschöpfe, alle alltäglichen Kleinigkeiten (d. h. das, woran sich Jean Paul in der Suche nach einer objektiven Stütze klammerte) – all das fällt bei Solger in den Bereich des ›Niederen‹; Abstraktion und Idee verdrängen das Individuelle. Aber zu diesem Nihilismus, so der Autor, tendierte auch das Unbewusste von Jean Paul. Indem er Jean Pauls Geheimnis, seinen latenten Nihilismus, seine Empfi ndung des erschreckenden Abgrunds aufdeckt, der auch in seinen religiösen Erlebnissen und in der persönlichen Angst vor dem Tod sowie in seiner Abneigung gegen den romantischen Fichteanismus zum Ausdruck kommt, will Zubov nicht nur zeigen, dass hinter Jean Pauls ästhetischen Theorien Angst pulsiert. Er demonstriert ebenso den festen Zusammenhang von Charakter, Text und Idee als Strukturkomplex, weshalb sich jede Reduktion auf nur eines dieser drei Elemente als unangemessen erweist. Wir sehen hier eine neue Dimension bei der Erschließung der inneren Formen des künstlerischen und theoretischen Schaffens. Jean Pauls Ästhetik, die gewöhnlich im Lichte seiner zeitgenössischen nachkantianischen Theorien rezipiert wird (wenngleich unter Berücksichtigung seiner barocken Manier und der Reste eines aufgeklärten Rationalismus), wird auf andere Weise im Lichte der charakterologischen ›Gestalten‹ wahrgenommen, die Zubov virtuos systematisiert und auf die scheinbar neutralen Thesen seiner Ästhetik projiziert. In diesem Fall wird auch seine Auseinandersetzung mit der Romantik anders aufgefasst. Aber auch für die Philosophie der Kunst als Ziel der Forschungen der GAChN ist die ›Charakterologie‹ zweifellos von hoher Bedeutung. Zubov beweist systematisch, dass es einen ›latenten Text‹ als aktiven formalen Faktor gibt, dass er bestimmte Gesetzmäßigkeiten aufweist, die mit der geistigen Konstitution des Autors zusammenhängen, und dass sich diese Gesetzmäßigkeiten in ganz rationalen und hermeneutischen Prozeduren erforschen lassen.

27

Ebd., 198.

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IV. Im Verhältnis Gustav Špets zum Erbe der klassischen deutschen Ästhetik gibt es etwas Paradoxes. Zwei Figuren dieser Epoche – Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt – ziehen nicht nur seine Aufmerksamkeit auf sich, sondern spielen in seinen großen Arbeiten eine bedeutende Rolle – in Hermeneutik und ihre Probleme (Germenevtika i eë problemy, 1918) und Die innere Form des Wortes (Vnutrennjaja forma slova, 1927). Auf andere Denker dieses Kreises nimmt er wider Erwarten nur sporadisch Bezug. So taucht Kant selten und in negativen Kontexten auf (d. h. Kant, wie er nach der langen Auseinandersetzung mit den Neokantianern, auch den russischen, erscheint), und Schelling wird vor allem im Zusammenhang mit seiner Idee der ›Unmöglichkeit‹ einer Geschichtsphilosophie oder als Fortsetzer der Linie Leibniz-Wolff genannt. Hegel – seiner Rolle für Špets geistige Biographie entsprechend – kann natürlich mit Schleiermacher und Humboldt in eine Reihe gestellt werden 28 , aber die Texte über ihn sind nur Gelegenheitsschriften und nicht systematisch. Den Sitzungsprotokollen der GAChN zufolge beteiligt sich Špet in der Regel nicht einmal an der Arbeit der Kommission für die Geschichte der Ästhetik. Dennoch gibt es Grund anzunehmen, dass die Problematik der klassischen deutschen Ästhetik in Špets wissenschaft lichem Denken eine bedeutende Rolle spielt und sogar dort präsent ist, wo er dieses Material nicht ausdrücklich nennt oder sich direkt darauf bezieht. Wir greifen einige Texte heraus, die für Špets theoretische Suche relevant sind. In der 1923 veröffentlichten Arbeit »Probleme der modernen Ästhetik« (Problemy sovremennoj ėstetiki)29 (die dem Vortrag vom 16. März 1922 in der Philosophischen Abteilung der GAChN entspricht) zieht Špet ein Resumee: Wenn wir die Struktur der Kunst am Beispiel des poetischen Worts entwickeln, fi nden wir Momente, die für die Konstitution des Ästhetischen gleichgültig, die nichtästhetisch sind oder die im ästhetischen Bewusstsein die Rolle von Hindernissen oder Verzögerungen spielen, sowie schließlich die positiv ästhetischen Momente. Letztere finden sich 1. in äußeren Formen des sinnlich gegebenen ›Zeichens‹, in Formen der Verbindung, 2. in inneren Formen als Beziehungen von äußeren Formen zu ontischen Formen gegenständlichen Inhalts und 3. in immanenten (›natürlichen‹) Formen ideellen Gehalts, des ›Sujets‹, als Potenzen seines ›künstlichen‹ Ausdrucks. Die erste Gegebenheit der Ästhetik ist die äußere Form und ihr Bewusstsein. Die volle im Inneren aufgegliederte Struktur dieses Bewusstseins wird sich herausstellen, wenn die Zuordnung immanenter und innerer Ausdrucksformen zu diesem unmittelbar gegebenen äußeren Ausdruck gezeigt wird. Das ist die Aufgabe einer modernen positiven Ästhetik. T.G. Ščedrina: K voprosu o gegel’janstve … Gustava Špeta. (Dt. Übersetzung in diesem Band, 371–401.) Nach Anmerkung von Tatjana G. Ščedrina, der Herausgeberin und Kommentatorin des Textes, wurde der Aufsatz als vierter Teil der Ästhetischen Fragmente konzipiert, was für seine theoretische Relevanz spricht. 28 29

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Die Ästhetik handelt also, anders als Metaphysiker und Psychologen meinen, nicht von etwas ›Innerem‹, sondern von etwas gänzlich Äußerem. Deshalb ist sie die letzte und überzeugendste Rechtfertigung der Wirklichkeit. Die Natur kann nur durch die Kultur gerechtfertigt werden. Damit eröff net sich eine Reihe neuer Probleme, die den Inhalt der Ästhetik beschließen und sie in das umfassendere Problemgebiet der Kulturphilosophie überhaupt bringen. Das entrückte Sein, die Kunst, der ästhetische Gegenstand müssen im Kontext anderer Arten und Typen kultureller Wirklichkeit untersucht werden. Nur in diesem Kontext wird der eigentliche Sinn der Künste sowie des Ästhetischen als solchen begriffen werden. Die Philosophie der Kultur ist augenscheinlich eine Grenzfrage der Philosophie selbst, wie die Kultur selbst ein Grenzbereich der Wirklichkeit ist – eine extreme Verwirklichung und Entäußerung, wie auch das kulturelle Bewusstsein ein Extrembewusstsein ist.30

Diese Passage, die man zu den programmatischen zählen kann, formuliert eine wesentliche Aufgabe der 20er Jahre sowohl für Špet als auch für die GAChN: den Übergang der Ästhetik zum Bereich der Kulturphilosophie. Im Grunde ist diese Aufgabe dem von mir schon erwähnten Ältesten Systemprogramm mit seiner Auffassung des ›höchsten Vernunftakts‹ als eines ästhetischen Akts verwandt. Beide Programme erforderten jedoch die Einführung einer besonderen historischen Dimension, in der die höchste Synthese möglich wäre (bei Špet ist dies sein hermeneutisches Thema), und eines besonderen Typs von Gegenständlichkeit ›jenseits‹ des Subjektiven und Objektiven. Die Aufgabe einer ›positiven‹ Ästhetik sieht Špet offensichtlich in der Herausbildung einer neuen Gegenständlichkeit, in der Hinführung innerer und immanenter Formen zum äußeren Ausdruck. Der Weg zum Äußeren erzeugt und macht die innerlich aufgegliederte Struktur31 des ästhetischen Bewusstseins sichtbar. Aber nach Špet muss das Äußere – wie das Hegel ’sche ›Unmittelbare‹ – auf diesem beschrittenen Weg gerechtfertigt werden. Die Ästhetik ist die ›letzte Rechtfertigung der Wirklichkeit‹. In seiner kritischen Analyse der modernen deutschen Ästhetik bezieht sich Špet ungewöhnlich häufig auf das Erbe der klassischen Ästhetik. Die Erwartungen, die die gegenwärtige Ästhetik an die ›abgelebte‹ metaphysische Ästhetik stellen kann, hängen nicht wesentlich mit deren hervorstechenden EigenG.G. Špet: Problemy sovremennoj ėstetiki, 321 f. Für Nikolaj Plotnikov ist dieses Konzept (das er als ›hermeneutische Struktur‹ bezeichnet) in Špets Ästhetik zentral. Er hebt ebenfalls dieses wichtige Moment der Überwindung der traditionellen Binaritäten hervor: »In ontologischer Hinsicht zeigt der Strukturbegriff einen besonderen Typ von Gegenständen an, die der cartesianischen Dichotomie res extensa / res cogitans nicht unterworfen sind, sondern einen spezifischen Seinstyp bilden – das Sein der Kultur als des ›objektivierten Geistes‹. Die Analyse dieses Typs von Gegenständen macht die traditionellen Unterscheidungen des Inneren und Äußeren, von Form und Inhalt, des Psychischen und Materiellen überflüssig. Im Begriff der ›Struktur‹ wird ein Typ des Zusammenhangs fi xiert, der als Artikulation von Bedeutung konstituiert wird – eines Zusammenhangs, in dem alles Innere äußerlich erscheint und jede Form ein Element von Inhalt und Bedeutung bildet.« (N. Plotnikov: ›Struktura‹ kak ključevoe ponjatie germenevtičeskogo iskusstvoznanija, 50 f.) 30 31

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schaften als Metaphysik zusammen. […] Für die Metaphysik ist nicht entscheidend, dass sie das Relative verabsolutiert. […] Einen derartigen Fehler kann man in der degenerativen Metaphysik finden, z. B. in der des Materialismus oder Spiritualismus des 19. Jahrhunderts, nicht aber in der klassischen symbolischen Metaphysik der neuen oder alten Zeit – weder bei Platon, noch bei Plotin, Schelling oder Hegel. Deren ›Willkür‹ besteht in etwas anderem. Willkürlich hypostasieren sie zu etwas Realem, was nur die Bedeutung eines Idealen und Möglichen hat. Aus diesem Quasi-Realen schaffen sie dann eine eigene zweite Welt, die sich in der Vorstellung der Metaphysiker als beständigere und deshalb realere, ja als eigentlich reale Welt von der uns umgebenden Wirklichkeit abhebt; letztere erscheint als illusionäres Trugbild, als Phänomen ohne Dauer. Eben von dieser metaphysischen Versuchung müssen sich die gegenwärtige Philosophie und die positive philosophische Ästhetik zurückhalten. Ihre Aufgaben muss sie in dieser hiesigen Welt lösen.32

Wesentlich ist, dass Špet Schelling und Hegel als seine Verbündeten gegen die traditionellen Beschuldigungen in Schutz nimmt. Aber auch der Vorwurf der ›Willkür‹ ist cum grano salis zu verstehen. Er ist zu orthodox-marxistisch, um im Munde des Autors der Theorie der ›entrückten Objekte‹ aufrichtig zu sein. 33 Ebenfalls ist Špets Unterscheidung von ›Wirklichkeit‹ und ›Realität‹ zu berücksichtigen: Wirklichkeit ist das, was ist, wie es ist (das Wesen in der Erscheinung in allen Formen und Arten der Erscheinung); die Realität ist dieselbe Wirklichkeit, sofern sie als eine Realisierung betrachtet wird, als Verwirklichung der Idee und des ›Wesens‹ – die Realisierung hat deshalb Grade der Vollkommenheit (perfectio); die Aktualität ist die Erscheinung schöpferischer (spontaner) Potenz in Form der vorhandenen Präsentation.34

Ist Realität die Realisierung einer Idee, dann ist sie, wenn man es in Hegels Sprache übersetzt, ›Wirklichkeit‹. In jedem Fall macht diese Inversion der Termini das obige Zitat zweideutig. Kant spielt allerdings in diesem Artikel wie so oft bei Špet die Rolle eines ›Prügelknaben‹, aber insgesamt ist die dargelegte ästhetische Ontologie vom Geist der klassischen deutschen Ästhetik inspiriert. Interessant ist ebenfalls die kleine Skizze der Entstehung der Kunstwissenschaft als Theorie in Špet Aufsatz »Zur Frage nach der Organisation der wissenschaft lichen Arbeit auf dem Gebiet der Kunstwissenschaft«: Die Kunstwissenschaft entstand innerhalb der philosophischen Ästhetik und schloss auch die ›Theorie der Künste‹ mit ein, die zu ihrer mageren und wenig ergiebigen G.G. Špet: Problemy sovremennoj ėstetiki, 301. Übrigens wird zur Begründung dieses Konzepts ein Satz Hegels als klassischer Ausdruck der Idee zitiert, dass das ästhetische Objekt die Mitte zwischen dem Ding und dem Gedanken darstelle: Ebd., 314. 34 G.G. Špet: Iskusstvo kak vid znanija, 141 (Hervorhebung im Orig.). Vgl. auch den Brief Špets an T. Rajnov in: N.K. Gavrjušin: Rainov i GAChN, 138 f. 32 33

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empirischen Geschichte im Gegensatz stand, da der geniale Winckelmann keine würdigen Nachfolger gefunden hatte. Aber die von Winckelmann gesäten Samen bestanden fort, sie wurden dann sorgsam von klassischen Philologen innerhalb ihrer ›Enzyklopädie‹ gehegt, bis sie schließlich aufgingen und auf dem Boden der Philosophie gediehen. Unter verschiedenen Namen – ›Theorie der Kunst‹, ›Philosophie der Kunst‹, ›Kunstlehre‹ und sogar unter der modernen Bezeichnung ›Kunstwissenschaft‹35 – wurde diese Wissenschaft von der Kunst allmählich nach geschichtsphilosophischem Typ aufgebaut (im Unterschied zur rationalistisch-klassischen, aber typisch kunstwissenschaft lichen Methode wie z. B. bei Lessing). Der bekannte Gegensatz von ›alt‹ und ›modern‹, ›naiv‹ und ›sentimentalisch‹, ›klassisch‹ und ›romantisch‹ war für die Kunstphilosophie bestimmend, bis sie unter der Hand von Hegel ihre mustergültige Gestalt bekam. Aber erst bei Rumohr36 – und Hegel wusste dies zu schätzen – wurde der in der Philologie dahinvegetierende Keim zu einer Art wissenschaft licher Kunstgeschichte mit authentisch historischer Anwendung einer strengen philologischen Methode in der Quellenkritik (Einfluss Niebuhrs). 37

Das ist keinesfalls eine zufällige Aufzählung. Die Dynamik der Entwicklung einer neuen Theorie ist genau dargestellt, unter Beibehaltung des inneren Sujets der Geschichte: Winckelmann als Ausgangspunkt – die deutsche Wissenschaften vom Menschen als Boden für künftige Keime – Lessing als ›Scheideweg‹ in der Interpretation des Winckelmann’schen Erbes – binäre Konzepte, die die Diskussionen bestimmen, – Hegel als Ergebnis. Das Erbe der klassischen deutschen Ästhetik ist für Špet ein ständig präsenter intellektueller Hintergrund (eine Art ›Reliktstrahlung‹). Um diesen wahrzunehmen, bieten die Arbeiten »Kunst als Art des Wissens« und »Anmerkungen zum Artikel ›Roman‹«38 einen guten Zugang. In der ersteren ist das Motiv der wechselseitigen Ergänzung von Kunst und Erkenntnis besonders wichtig, die gemeinsam ein einheitliches, kommunikativ aufgeladenes Feld der Kultur schaffen. Erkenntnis ist die Welt der Begriffe (des Denkens), der Wahrnehmung und der Tätigkeit. Kunst ist die Welt der Phantasie, des Inhalts39 und Schaffens, aber diese zweite Welt ist nicht von der ersten getrennt, sondern in ihr und ist in ihrem praktischen Teil ebenso auf die Umgestaltung und ›Verbesserung‹ des natürlich Gegebenen gerichtet. Erkenntnis und Kunst zielen beide auf die Überwindung des elementaren Chaos, aber erstere ordnet das Chaos dem Willen unter und letztere dem Gefühl. 40 Z. B. erschien 1811 in Jena das Buch von C.F. v. Bachmann: Die Kunstwissenschaften in ihrem allgemeinen Umrisse. (Zunächst Anhänger, dann Gegner Hegels. Sein Anti-Hegel erschien 1835) [Fußnote des Verf.]. 36 Für einen Überblick zur Kunstgeschichte bis v. Rumohr vgl. W. Waeltzold: Deutsche Kunsthistoriker. Leipzig 1924 [Fußnote des Verf.]. 37 G.G. Špet: K voprosu o postanovke naučnoj raboty, 151 (dt. Übersetzung in diesem Band, 404). 38 Rekonstruiert von Tat’jana Ščedrina . 39 [›soderžanija‹ (sic!). Im Ms: »der Anschauung« (sozercanija). Anm. d. Hrsg.] 40 Ebd., 117. 35

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Aber eine solche komplementäre Ergänzung ist nur bei selbstständigen Elementen möglich. Die Idee der Selbstgenügsamkeit und des Selbstzwecks der Kunst ist für Špet von grundsätzlicher Bedeutung. Gerade hier wurzelt die von Špet skizzierte Kette der Verbindungen, die die ästhetische Realität erzeugen: Wissen – Selbstbewusstsein – Selbstbewusstsein in der Gemeinsamkeit und im Anderen. Der logische Kern dieses Schemas ist der Špet’sche Begriff der Entrücktheit, eine Autarkie eigener Art des Ästhetischen und überhaupt des Künstlerischen. Es ist eine derartige Organisation der Erlebnisse [möglich], die […] jedes gegebene Ding in seinem Sein als selbstständiges und ganzes wahrnimmt, als sich gleichsam selbst genügendes und unteilbares oder besser ein nicht aus Teilen und Elementen zusammengesetztes. Sie kann ebenso ihre Bedeutung haben, aber nur in ihrer Vollständigkeit und Unteilbarkeit, und sofern diese Bedeutung als ein Hinweis auf etwas noch Wichtigeres und Bedeutsameres verstanden wird, das in diesem Ding nur partiell zur Erscheinung kommt. Deshalb wird das Ding durch diesen ›Hinweis‹ oder diese ›Bezogenheit‹ in keine wirksame Verbindung mit anderen Dingen einbezogen, sondern im Gegenteil gleichsam aus dieser Verbindung herausgerissen und als Hinweis auf etwas anderes genommen, mit anderen Worten, es wird von der Welt der wirklichen Dinge entrückt.41

Natürlich nehmen bei Špet in der Rangordnung derer, die Kunst als Erkenntnis begreifen42 , Baumgarten, Kant und Solger einen Ehrenplatz ein. Kant erfährt hier, was bei Špet selten ist, eine positive Bewertung, aber mit Vorbehalten: Kant (die ›Ästhetik‹ ist wirklich eine Lehre von der Erkenntnis: Inhalt und sinnliche Formen) αα) interesseloses Gefühl, ββ) Anwendung von Theorie und Praxis. Kant: ästhetische Ideen sind keine Erkennisse! […] weil sie unerklärbar sind. Kant hat recht, dass es nicht erklärbare Anschauungen gibt, ebenso darin, dass er solche in der Kunst findet, aber nicht alle Anschauungen der Kunst sind so beschaffen, und außerdem ist das Unerklärbare nicht zwangsläufig unerkennbar, wie auch in der Wissenschaft ist das Nichbeweisbare nicht mit dem Unerkennbaren gleichzusetzen – von der Art sind die Axiome!43

Hegel jedoch – versteht sich – taucht auf den Seiten dieser Arbeit noch häufiger auf, da der Mechanismus des Übergangs zum Selbstbewusstsein, zum Hegel’schen ›für sich‹ für Špet wichtig ist als Erklärung des Übergangs vom Ästhetischen zum Künstlerischen als dem Wissen, d. h. dem kommunikativen Milieu der Kultursubjekte. Der Artikel »Roman« ist ein sehr wichtiger Text von Špet, allerdings ist er nicht einfach zu interpretieren. Die Theorie des Romans wurde nicht zufällig in den 20er Jahren ein wichtiges Thema. Davon schreiben Michail Bachtin, Georg Lukàcs, die Formalisten, insbesondere Viktor Šklovskij, der GAChN-Mitglied Boris Grifcov u. a. 41 42 43

Ebd., 117 f. Ebd., 118. Ebd. (Hervorhebung im Orig.).

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Es geht nicht nur um die Theorie der Gattungen, die für die Kunstphilosophie von Bedeutung ist. Der Roman wurde das Markenzeichen der Moderne, der Selbstausdruck der Neuen Zeit schlechthin, und seine Krise wurde zum Anlass, in der Dynamik der Romanformen das Schicksal der Moderne zu sehen. Špets Entwürfe ließen – leider vergeblich – auf die Entstehung einer interessanten Version dieser literaturphilosophischen Gattung hoffen. Ein ständiger ›Dialogpartner‹ Špets in dieser Arbeit (sichtbar und unsichtbar) ist Hegel. (»Hegel überragt alle, aber auch Hegel verbleibt immer noch zu sehr in der ›moralischen Weltordnung‹.«44) »Der psychologische Roman ist die Befreiung von der raisonnierenden Moral, aber er ordnet die Moral dem Irrationalen unter.«45 Diese Formel Špets steht im Rang nicht hinter der bekannten Aussage »der Roman ist ein bürgerliches Epos« (Hegel) zurück. Er versteht den Roman als Degradierung des Epos und polemisiert mit der Hegel’schen Version, ja er stellt die Berechtigung des Romans insgesamt in Frage angesichts der Aufgaben, die diese Gattung in der Kultur löst. Wie der Roman von seiner wesentlichen Entstehung her eine (erzählende, rhetorische) Degradierung des Epos ist, so vollendet sich gerade der entwickelte psychologische Roman, der in den epischen übergeht, im Drama, aber in einem Drama ohne Mythos, einem lebendigen und prosaischen. (Der so genannte Erziehungsroman (Wilhelm Meister) widerspricht nur scheinbar der negativen Eigenschaft des moralischen Romans, er ist trotzdem kein Epos, sondern eine Typisierung, und er ist negativ als Lösung eines unlösbaren Problems.) Für ein authentisches Epos ist das Bewusstsein einer natürlichen und kulturellen Realität erforderlich. Der Roman ist indes wesentlich illusorisch! Und damit hängt auch sein Moralisieren zusammen.46

Die finale Apologie des Romans erscheint ebenfalls ambivalent: Generell wird ein weiteres Mal die ohnehin klare These bestätigt, dass die Kunst umfassender ist als die Ästhetik, die künstlerische Wirkung umfassender als die ästhetische. Das Ästhetische bleibt für die breite Masse immer ein relativ kaltes Gebiet, das ist das Reich der kalten und der freien Berghöhen. Das Ästhetische und Schöne hängt zu sehr mit der Vernunft zusammen, um für alle zugänglich zu sein und um die seelischen Bedürfnisse aller zu befriedigen. Die Sphäre der Moral und der künstlerischen Rhetorik wird allen immer näher, zugänglicher und intimer bleiben. Der Roman kann wie die Kunst einen Abstieg oder eine Renaissance erleben, er kann besser oder schlechter sein, aber er findet immer volleren und wärmeren Anklang in den moralischen Erregungen der Zeit und des Durchschnittsmenschen als die Poesie. Poesie ist eine Kunst für wenige, eine undemokratische Kunst. Die Masse wird durchaus zufrieden sein, wenn man ihr neben vielem anderem auch etwas über das Poetische erzählt. Nur in den Momenten der Renaissance und der Entstehung einer neuen Kultur, wenn aus der Masse selbst schöpferische individuelle Gipfel emporstei44 45 46

G.G. Špet: Zametki k stat’e »Roman«, 50. Ebd., 62. Ebd., 63.

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gen, wird sie diesen auch in anderer Hinsicht verwandt, fühlt sich zu ihnen hingezogen und hegt in ihnen die eigene Aristokratie. In allen anderen Fällen richtet sie an sie ihre durchschnittlichen moralischen Forderungen und zwingt sie dazu, sie zu erfüllen und zieht das kulturelle Schaffen der Nation nach unten, zu sich herab. Dann blüht der Roman.47

Hier kann man einen (vielleicht nicht beabsichtigten) Anklang an Hegels Philosophem vom ›Ende der Kunst‹ hören. Interessanterweise ist Hegel selbst – genauer die Ablehnung seiner Autorität durch seine Epoche – für Špet eines der Beispiele für eine Erschöpfung der Kultur. Die Erkenntnis der Idee ist Philosophie, ihre Darstellung ist Poesie; in diesem Sinne ist Poesie realistisch und real, sie behandelt das Sein und nicht den Alltag – da nur die klassischen Epochen realistisch sind, Bewusstsein und Gefühl von Realität besitzen, schaffen sie das reale Epos. (Die Antike: die griechische Realität vom Krieg und Symposion und die römische des Staates; realistisch in diesem Sinn ist auch die Commedia divina, ebenso Milton. Die Renaissance: die Realität der irdischen Welt; das 17. Jahrhundert: die [Realität] der neuen Gesellschaft; das 18. und 19. Jahrhundert: der Subjektivismus – die Entstehung des Klassizismus, der künstliche Klassizismus, die Illusion der Romantiker, die Herzlichkeit Rousseaus, die illusorische Desillusionierung des Naturalismus, der Impressionismus! Nur bei den Deutschen hat Goethe die Realität des deutschen Geistes in der Haltung der zweiten deutschen Renaissance erkannt, der Sturz Hegels war der Sieg des Subjektivismus, des Feuerbach ’schen Irrationalismus, des Psychologismus usw.).48

Nach diesen Notizen zu urteilen hat Špet die romantische Version von der Theorie des Romans praktisch nicht beachtet, derzufolge er eine synthetische Gattung, ein ›Gesamtkunstwerk‹ eigener Art sein und den Widerspruch zwischen Subjektiv-Individuellem und Objektivem beseitigen sollte. Aber das lässt sich dadurch erklären, dass die Romantiker in der Theorie verblieben, während Hegel das 19. Jahrhundert mit seinen Romanformen erahnte49, ja auch in seinem Werk die Modalität des Romans umsetzte. Vielleicht war der ›Sturz Hegels‹ für Špet ein interessanter hermeneutischer Kasus, der die Objektivität der kulturellen Funktion des Romans bestätigt, welcher sich auch jene unterwirft, die sein Wesen durchschaut hatten.

Ebd., 88. Ebd., 75. 49 E.M. Meletinskij schreibt: »die Anhänger Hegels sind damit im Recht, dass es in der neuen Zeit unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich ist, eine heroische Epopöe zu schaffen und dass der Roman die führende erzählende Gattung wird, die alle epischen Ziele erreichen will. Sie sind auch darin im Recht, dass der Roman diese Ziele auf paradoxe Weise erreicht, indem er das Epos eines privaten Lebens bleibt, sofern tiefe gesellschaft liche Verhältnisse jetzt unter der Oberfläche des Spiels privater Interessen verborgen sind.« (E.M. Meletinskij: Srednevekovyj roman, 4 f.) 47

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V. Die unterschiedlichen intellektuellen Orientierungen der GAChN-Forscher hinderten sie ganz offensichtlich nicht daran, auf eigenen Wegen zu einem gemeinsamen Schluss zu kommen, nämlich dass der klassischen deutschen Ästhetik neue Aktualität verliehen werden müsse. Angefangen mit der interessierten Analyse des modernen deutschen Formalismus gingen sie Schritt für Schritt mit jedem Impuls weiter in die Vergangenheit bis zur klassischen deutschen Ästhetik Ende des 18. Jahrhunderts zurück. So wurde de facto entdeckt und bewiesen, dass die formale westliche Schule ihre geistigen Ressourcen ziemlich schnell erschöpfte: Sie war zu eng mit dem Positivismus verbunden. Wenngleich sie neue frische Prinzipien für die Analyse entdeckt hatte, stand sie für die GAChN-Wissenschaft ler eher in Analogie zur Metaphysik der vorkantischen Aufk lärung. Die klassische deutsche Ästhetik indessen, die in Russland seit den russischen Schellingianern bekannt war und genutzt wurde, erwies sich als lebendig und tragfähig. Die Bezugnahme auf die deutsche Klassik wurde zugleich zu einem wichtigen Moment der Abgrenzung von der russischen formalen Schule, der die GAChN-Forscher vorwarfen, sich auf die ›äußere Form‹ zu konzentrieren, während gerade die ›innere‹ der Gegenstand des Interesses war. In der Tat bewegten sich die Formalisten weniger im Bereich der ›Wissenschaft‹ von der Kunst als in dem der literarischen Praxis und Kritik. Das erforderte einen bestimmten Mechanismus (hier ist dieser Terminus nicht pejorativ gemeint) und eine Auffassung der Kunst im Sinne eines Arsenals von Verfahren. Für die Theoretiker der GAChN war die synthetisierende Kraft der Form von Belang: Nicht die ›Physik‹ der Zusammensetzung instrumenteller Mittel, sondern die ›Chemie‹ der gegenseitigen Durchdringung subjektiver und objektiver Ziele. Diese beiden Strategien unterscheiden sich wie die Morphologie des Mechanismus von der des Organismus.50 Ein natürlicher Verbündeter der Akademie ist in diesem Falle die klassische deutsche Ästhetik mit ihrem beständigen Streben, die organische Präsenz des Ganzen im Individuellen herauszustellen. Aus dem Russischen übersetzt von Vera Ammer

50 Die sehr instruktive Untersuchung von S.G. Čugunnikov zeigt, dass die russischen Formalisten intensiv auf Goethes Morphologie zurückgreifen, aber objektiv führt diese Autorenanalyse zu dem Gedanken, dass sie sich zwar das Prinzip der Polarität zu eigen machten, das Prinzip der Steigerung jedoch nicht verstanden. Spenglers Morphologie war ihnen näher als die Goethes. Vgl. S.G. Čugunnikov: Protofenomen v teorijach russkogo formalizma.

Rezeption der klassischen deutschen Ästhetik in der GAChN

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Literatur Bjulleteni GAChN [Bulletins der GAChN]. Moskau, 1925, H. 2–3 Čugunnikov, Sergej G.: Protofenomen v teoriach russkogo formalizma: formal’naja poėtika i nemeckaja morfologičeskaja tradicija [Das Protophänomen in den Theorien des russischen Formalismus: die formale Poetik und die deutsche morphologische Tradition], in: S. Zenkin (Hg.): Russkaja teorija, 1920–1930 gody: materialy 10-ch Lotmanovskich čtenij [Russische Theorie, 1920–1930er Jahre: Materialien der 10. Lotman-Lectures], Moskau 2004, 273–294 Dmitrieva, Ekaterina E. (Hg.): Evropejskij kontekst russkogo formalizma (k probleme ėstetičeskich perecečenij: Francija, Germanija, Italija, Rossija) [Der europäische Kontext des russischen Formalismus (zum Problem ästhetischer Überschneidungen: Frankreich, Deutschland, Italien, Russland], Moskau 2009 Dobrochotov, Aleksandr L.: A.G. Gabričevskij o poėtike Gëte [A.G. Gabričevskij über Goethes Poetik], in: Logos 2010, H. 2 (75), 115–121 Dunaev, Aleksej G.: Losev i GAChN (issledovanie archivnych materialov i publikacija dokladov 20-x godov) [Losev und die GAChN (eine Studie von Archivmaterialien und Publikation von Berichten der 20er Jahre], in: Ju.F. Panasenko (Hg.): A.F. Losev i kul’tura XX veka. Losevskie čtenija [A.F. Losev und die Kultur des 20. Jahrhunderts. Losev-Lektüren], Moskau 1991, 197–220 Gabričevskij, Aleksandr G.: K voprosu o stroenii chudožestvennogo obraza v architekture [Die Frage des Aufbaus der künstlerischen Form in der Architektur], in: ders.: Morfologija iskusstva [Morphologie der Kunst], Moskau 2002, 448–465 – Morfologija iskusstva [Die Morphologie der Kunst], Moskau 2002 Gavrjušin, Nikolaj K.: Ponjatie »pereživanija« v trudach G.G. Špeta (predvaritel’nye zametki) [Der Begriff des »Erlebnisses« in den Schriften von G.G. Špet (Vorbemerkungen)], in: Issledovanija po istorii russkoj mysli. Ežegodnik [Forschungen zur Geschichte des russischen Denkens. Jahrbuch] 8 (2006–2007), Moskau 2009, 96–105 – Rainov i GaChN [Timofej Rainov und die GaChN], in: Issledovanija po istorii russkoj mysli. Ežegodnik [Forschungen zur Geschichte des russischen Denkens. Jahrbuch] 8 (2006–2007), Moskau 2009, 127–138 Herder, Johann Gottfried von: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume (Riga 1778), in: Herder’s Sämmtliche Werke, hg. von B. Suphan. Bd. VIII. Berlin 1892, 1–87 Hegel, Georg W.F.: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: ders.: Werke in 20 Bänden, Bd. I, Frankfurt a. M. 1979, 234–237 Il’in, Ivan: Filosofija Gegelja kak učenie o konkretnosti Boga i čeloveka [Hegels Philosophie als Lehre von der Konkretheit Gottes und des Menschen]. 2 Bde. Moskau 1918 Losev, Aleksej F.: Forma. Stil‹. Vyraženie [Form, Stil, Ausdruck], Moskau 1995 – Prenija po dokladu A.F. Loseva [Diskussion über den Vortrag A.F. Losevs »Die Dialektik in der deutschen Ästhetik des 18. Jahrhunderts« am 29.10.1925], in: RGALI. F. 941. Op. 14. Ed. chr. [Akte] 21. L. [Blatt] 15–16 – The Dialectic of Artistic Form. Translated, annotated, and introduced by Oleg V. Bychkov. München/ Berlin 2013 Meletinskij, Eleazar M.: Srednevekovyj roman. Proischoždenie i klassi ceskie formy [Der Roman des Mittelalters. Entstehung und klassische Formen], Moskau 1983

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Plotnikov, Nikolaj: »Struktura« kak ključevoe ponjatie germenevtičeskogo iskusstvoznanija. K istorii nemecko-russkich idejnych svjazej 1920-x gg. [Die »Struktur« als Schlüsselbegriff der hermeneutischen Kunstwissenschaft . Zur Geschichte der deutsch-russischen geistigen Beziehungen der 1920er Jahre], in: Logos 2010, H. 2 (75), 35–51 Ščedrina, Tat’jana G.: K voprosu o gegel’janstve … Gustava Špeta [Zur Frage nach dem Hegelianismus von … Gustav Špet], in: N.V. Motrošilova (Hg.): »Fenomenologija ducha« Gegelja v kontekste sovremennogo gegelevedenija [Hegels »Phänomenologie des Geistes« im Kontext des zeitgenössischen Hegelianismus], Moskau 2010, 588–597 Špet, Gustav G.: Iskusstvo kak vid znanija. Izbrannye trudy po filosofii kul’tury [Kunst als Wissensart. Ausgewählte Schriften zur Kulturphilosophie], hg. von T. Ščedrina, Moskau 2007 – K voprosu o postanovke naučnoj raboty v oblasti iskusstvovedenija [Zur Frage der Organisation der wissenschaft lichen Arbeit auf dem Gebiet der Kunstforschung], in: ders.: Iskusstvo kak vid znanija, 149–163 (dt. in diesem Band) – Problemy sovremennoj ėstetiki [Probleme der modernen Ästhetik], in: ders.: Iskusstvo kak vid znanija, 288–322 (dt. in diesem Band) – Zametki k stat’e »Roman« [Notizen zum Aufsatz »Der Roman«], in: ders.: Iskusstvo kak vid znanija, 49–89 Waeltzold, Wilhelm: Deutsche Kunsthistoriker, Leipzig 1924 Zubov, Vasilij P.: Žan-Pol’ Richter i ego »Ėstetika« (Materialy k charakterističeskomu analizu) [Jean Paul Richter und seine »Ästhetik« (Materialien zur charakteristischen Analyse)], in: ders.: Izbrannye trudy po istorii filosofii i ėstetiki. 1917–1930 [Ausgewählte Schriften zur Geschichte von Philosophie und Ästhetik. 1917–1930], Moskau 2004, 147–206

Kunst als Wissen. Zu Gustav Špets Auseinandersetzung mit Konrad Fiedler Nikolaj Plotnikov

Die Frage nach der Rezeption Konrad Fiedlers bei Gustav Špet betrifft einerseits ein historisches Sujet, das in den Kontext der deutsch-russischen intellektuellen Beziehungen der 1920er Jahre und speziell der Geschichte der Staatlichen Akademie der Kunstwissenschaften (GAChN) gehört. Diese Rezeption ist, soweit ich sehen kann, von der Forschung bislang nicht beachtet worden. Auch wird der Name Fiedlers, im Gegensatz zu dem Adolf von Hildebrands, dessen Buch Das Problem der Form in der bildenden Kunst bereits vor dem ersten Weltkrieg in russischer Übersetzung erschienen ist (1914)1 und vielfach rezipiert wurde, kaum im Kontext der deutschrussischen kunsttheoretischen Diskussionen erwähnt. Eine Ausnahme bildet hier neben dem Kreis um Gustav Špet 2 das Werk Michail Bachtins und seines Zirkels.3 Andererseits hat dieses Thema einen theoretischen Bezug, denn es steht im Zusammenhang mit den neueren Debatten um die Bestimmung der Kunst und des Bildes, die durch Ansätze einer ›Bildwissenschaft‹ ausgelöst wurden. Im Rahmen dieser Debatten ist Konrad Fiedler seit der Neuauflage seiner Schriften zur Kunst in den 1970er Jahren in den Rang eines Klassikers der Kunstphilosophie und des eigentlichen Begründers der Bildwissenschaft erhoben worden.4 Damit erweisen sich die in den 1920er Jahren an der GAChN geführten Diskussionen um Fiedler und seine Auffassung der Kunst als einer Weise der Erkenntnis und einer spezifischen Sprache der Anschauungsformen als relevant für die gegenwärtigen Bestimmungsversuche einer Kunst- bzw. Bildwissenschaft. Im Jahre 1926 hält Gustav Špet an der Philosophischen Abteilung der GAChN einen Vortrag zum Thema »Die Kunst als Wissensart« (Iskusstvo kak vid znanija), der in dem anschließenden Jahresbericht in den Bulletins der Akademie als »das größte Ereignis des Jahres« bezeichnet wird.5 Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass dieser Vortrag das größte Ereignis an der Akademie während ihrer gesamten neunjährigen Geschichte darstellt. Denn der Vortrag mit anschließender Diskussion wird in drei Sitzungen – am 13., 20. und 27. April 1926 – abgehalten, an denen insgesamt »mehr als 200 Personen« teilnehmen.6 (Man beachte auch, dass Sitzungen der Akademie bis zu drei Stunden dauern konnten.) Über 18 Diskutanten A. Gil’debrand: Problema formy v izobrazitel’nom iskusstve. Vgl. A. Gabričevskij: K voprosu o formal’nom metode. 3 Vgl. M.M. Bachtin: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, 306 sowie P.N. Medvedev: Die formale Methode in der Literaturwissenschaft, 56, 62. 4 Vgl. L. Wiesing: Konrad Fiedler. 5 Bjulleteni GAChN 4–5 (1926), 35 f. 6 Ebd. 1 2

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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besprechen in ihren, zum Teil sehr ausführlichen, Stellungnahmen den Vortrag (darunter: P. Popov, N. Volkov, B. Focht, A. Losev, A. Achmanov, A. Cires, N. Žinkin, A. Guber, M. Fabrikant u. a.). Dem Beschluss des Präsidiums der Philosophischen Abteilung zufolge soll der Vortrag zusammen mit den Diskussionsbeiträgen als eine separate Broschüre in einer der Buch-Reihen der Akademie publiziert werden. Und noch ein Jahr später steht in den Publikationsplänen der Akademie ein Sammelband zum Thema Kunst als Wissensart.7 Diese Pläne werden jedoch nie realisiert. Von den Diskussionsbeiträgen ist nur ein einziger – von Matvej Kagan, dem Freund und philosophischen Lehrer Michail Bachtins – überliefert. Im Nachlass der Akademie konnten bis jetzt außer offiziellen Mitteilungen der Akademie keine Unterlagen zum Vortrag und zur geplanten Buchpublikation gefunden werden. Immerhin befinden sich im Nachlass von Gustav Špet zwei Mappen mit Manuskripten, die Bruchstücke der Vortragsausarbeitung sowie einige Notizen zum Vortrag enthalten.8 Diese Manuskripte bleiben zurzeit die einzige Quelle, aus der der Gedankengang im Vortrag von Gustav Špet sowie seine Auffassung der Kunst in den späten 20er Jahren rekonstruiert werden können.9 Dabei stellt der Vortrag offensichtlich eine Weiterführung und Neugestaltung der ästhetischen Konzeption und der Auffassung der poetischen Sprache dar, die in Špets publizierten Schriften – den Ästhetischen Fragmenten (1922–23) – sowie den Vorträgen an der Akademie10 greifbar sind. Im vorliegenden Beitrag wird versucht, die zentralen Argumentationsschritte dieses Vortrags zu rekonstruieren, um zu zeigen, dass Špet hier den Rahmen seiner früheren gegenstandorientierten PhänomeVgl. J. Jakimenko: Chronologija dejatel’nosti Filosofskogo Otdelenija GAChN. Zwar sind diese Manuskripte im Rahmen der Ausgewählten Schriften Špets durch T. Ščedrina ediert worden (G.G. Špet: Iskusstvo kak vid znanija, 112–148), jedoch macht die Willkürlichkeit, mit der die Forscherin den Text aus unterschiedlichen Manuskriptteilen zusammenkollagiert hat, sowie eine unermessliche Anzahl an Entzifferungsfehlern diese Edition geradezu unbrauchbar. Vgl. dazu die Rezension des Verf.: Gustav Špet Tat’jany Ščedrinoj: Rekonstrukcija ili fal’sifi kat? Aus dem Grund der Unbrauchbarkeit der publizierten Ausgabe wird im Folgenden nach den Manuskriptseiten zitiert. 9 Fragmente und Notizen zum Vortrag sind im Špet-Nachlass an der Russischen Staatsbibliothek (RGB) in zwei Akten aufbewahrt: Iskusstvo kak vid znanija, in: NIOR RGB [Handschriftenabteilung der Russ. Staatsbibliothek]. F. [Nachlaß] 718 (G. Špet). K. [Karton] 7. Ed. chr. [Akte] 3 und 4. Die Akte 3 enthält Notizen bei der Ausarbeitung einer schrift lichen Fassung des Vortrags aus dem Jahr 1927. In die Akte 4 sind eingegangen sowohl ein vierseitiges maschinenschrift liches Konzept des Vortrages als auch Notizen bei dessen Vorbereitung und unmittelbar nach seiner Präsentation an der Akademie 1926. Diese Notizen werden im Folgenden im Text nur unter der Angabe der Akte (A3 oder A4) und der Blattnummer zitiert. Zur vollständigen bibliographischen Angabe vgl. das Literaturverzeichnis. 10 U. a. hält Špet an der GAChN Vorträge über »Die innere Form bei Humboldt« (Sitzung vom 24.11. und 11.12.1923) sowie über »Die verschiedenen Bedeutungen des Terminus ›Form‹« (24.07.1923). Diese Vorträge sollten als Beiträge zum Sammelband Chudožestvennaja forma erscheinen, der für das Jahr 1924/25 zur Publikation bestimmt war und erst 1927 ohne Beteiligung Špets erschienen ist. 7 8

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nologie in der Bestimmung der Kunst erheblich modifi ziert und neue Positionen entwickelt, die es ihm ermöglichen, die Problematik der Subjektivität sowie die des ästhetischen Bewusstseins neu zu entfalten. Als ›frühere‹ wird hier diejenige Position bezeichnet, deren Ausarbeitungen in die Zeit vor dem Vortrag fallen. Im Rahmen dieser Ausarbeitungen, die sich unmittelbar an die Ästhetischen Fragmente anschließen, hält Špet noch an der Auffassung fest, dass Kunst keine Erkenntnisfunktion besitzt, sondern eine primär emotionale Dimension aufweist, die sich in der Unterhaltung, im ästhetischen Genuss u.Ä. manifestiert.11 Noch vor dem Vortrag von 1926 vermerkt er in einer Notiz (A3, 43 verso), er sei bei der Vorbereitung des Vortrags von der Ansicht ausgegangen, Kunst sei keine Erkenntnis und musste doch am Schluss zu einer entgegengesetzten These kommen. Diese veränderte Position ist in dem überlieferten Fragment der Ausarbeitung, das mit dem 1. März 1927 (also fast ein Jahr nach dem Vortrag) datiert ist, dokumentiert. Es ist anzunehmen, und dies soll im Folgenden näher ausgeführt werden, dass der Auslöser dieses Positionswechsels eine eingehende Auseinandersetzung Špets mit dem Werk von Konrad Fiedler sowie mit der auf ihm basierenden Konzeption einer allgemeinen Kunstwissenschaft von Emil Utitz ist.12 Diese Auseinandersetzung mit Fiedler eröffnet für Špet auch eine neue Perspektive, in der seine auf Husserls Logischen Untersuchungen und Dilthey basierende phänomenologisch-hermeneutische Konzeption13 anhand der Bestimmung des Kunstphänomens entwickelt werden kann. Im ersten Teil meiner Rekonstruktion gehe ich auf Špets Thesen ein, die unmittelbar im Anschluss an Fiedler formuliert werden. Im zweiten Teil analysiere ich die Argumente, die über Fiedler hinausführen und eine Erweiterung des thematischen Feldes von Špets eigener phänomenologischer Kunsttheorie markieren.

I. Špets Auseinandersetzung mit Fiedler Die Zusammenfassung des Vortrags »Kunst als Wissensart«, die in den Bulletins der Akademie veröffentlicht ist, lässt zunächst keinen Zusammenhang der Argumentation mit der Hauptproblematik des Werks von Fiedler erkennen. In ihrer Knappheit klingt diese Zusammenfassung sogar etwas rätselhaft: Die Grundthesen des Vortrags konzentrieren sich auf die Verteidigung der Ansicht, dass die Kunst eine besondere Art des Wissens ist. Die Bestimmungen der Kunst als Vgl. G. Špet: Problemy sovremennoj ėstetiki, 69 f. (dt. Übersetzung in diesem Band). Im Špets Nachlass befi ndet sich ein Heft mit der Überschrift »Konspekty i vypiski iz knig raznych avtorov po iskusstvoznaniju« [Konspekte und Exzerpte aus den Büchern verschiedener Autoren zur Kunstwissenschaft], das Špets Auseinandersetzung mit den Schriften von H. Wölfflin, K. Fiedler, E. Utitz und E. Wind dokumentiert. 13 Zu dieser Konzeption vgl.: A. Haardt: Husserl in Russland sowie der Verf.: Anthropologie versus Geschichte. 11

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Wissensart von Seiten des Aktes sind: 1. Emotionale Ursprünglichkeit; 2. Das sympathische Verstehen und 3. das Moment des Besitzes, das jede Möglichkeit der Utilisierung der Kunst ausschließt (diese Seite wurde vom Referenten mit dem griechischen Terminus ›ktesis‹ im Gegensatz zu ›hexis‹ bezeichnet). Von der Seite des zu Erkennenden wurde die Kunst als 1. Dasein, 2. Das absolut Empirische und 3. Unbedingte Subjektivität (Unmöglichkeit, ein Prädikat zu sein) bestimmt. Das erkennbare unbedingte Subjekt der Kunst erfassen wir durch das schöpferische Miterlebnis, Mitfühlen, das sich auf die äußeren expressiven Formen des Werks stützt.14

Nimmt man jedoch Einblick in das Fragment der Vortragsausarbeitung sowie in Špets Publikationen und Manuskripte, die in die Jahre 1925–26 fallen, dann erscheint die Konzeption von Fiedler als derjenige Referenzpunkt, auf den sich Špets Denken in dieser Zeit immer wieder bezieht. So notiert er im Fragment »Über die Einteilung der Künste«: »In der Bestimmung der Kunst muss von Fiedler ausgegangen werden«.15 Welche Ansichten Fiedlers finden nun Špets besondere Beachtung? Die »reformatorische Bedeutung« (A3, 6) Fiedlers sieht Špet in erster Linie in einer neuen Bestimmung der Autonomie der Kunst, die durch die Befreiung der Kunst von den Voraussetzungen der traditionellen Ästhetik, d. h. des Begriffs der Schönheit und der Theorie der Nachahmung, erfolgt. Indem Fiedler das Verständnis der Kunst radikal von allen ästhetischen Wertungen ablöst, eröff net er die Möglichkeit, die Kunst nicht von ihrer Wirkung her, sondern als eigenständiges Phänomen zu verstehen. Dieses Programm, die Kunst als Phänomen ›sui generis‹ (ein Lieblingsausdruck von Špet und der damaligen Kunsttheorie) zu bestimmen, das in Fiedlers Formel: »Die Kunst ist auf keinem anderen Wege zu finden als auf ihrem eigenen«16 zusammengefasst wird, macht sich auch Špet zu Eigen. Er nimmt es als Grundlage für die Ausarbeitung des philosophisch-methodischen Rahmens für die Organisation der Kunstforschung an der GAChN. Die spezifische Bestimmung der Kunst, die sie als autonomen Bereich der menschlichen Tätigkeit konstituiert, sieht Fiedler bekanntlich in der eigenständigen Erkenntnisfunktion, die die Kunst von der wissenschaft lichen Erkenntnis unterscheidet und sie zugleich als eine der Wissenschaft ebenbürtige Weise der Aneignung der Wirklichkeit herausstellt. Diese Erkenntnis leistet nach Fiedler die Anschauung, die die sichtbare Form der Welt zum eigentlichen Thema macht. Vermittels der Anschauung erfahren wir die Welt in ihrer ›Sichtbarkeit‹, die mit Begriffen nicht erfasst werden kann, aber auch kein bloßes Material für begriffliche Synthesen darstellt. Obwohl Fiedler von Kant ausgeht und dessen Trennung von Anschauungsformen und Kategorien des Verstandes zur Grundlage seiner Kunsttheorie macht, ist seine Bjulleteni GAChN 4–5 (1926), 35 f. G. Špet: O razdelenii iskusstv, Bl. 9. In diesem Fragment heißt es noch weiter: »Seine [Fiedlers] Charakteristik der Kunst als Wissen ist unzureichend« (Hervorhebung im Orig.). Diese Einschätzung wird von Špet in seinem Vortrag später verändert. 16 K. Fiedler: Schriften zur Kunst, Bd. I, 18. 14

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Konzeption radikal gegen die Kant’sche These, Anschauungen ohne Begriffe seien blind, gerichtet. Demgegenüber führt Fiedler ins Feld, dass die Anschauung uns ein eigenständiges Bild der Wirklichkeit liefert, das eine Erweiterung unserer Erkenntnis um eine neue Dimension – die anschauliche Erkenntnis – bedeutet. Die Erkenntnis wird in der Kunst zu einer bewussten Tätigkeit entfaltet, die eine genuine Form des Sichtbaren hervorbringt, analog der synthetischen Leistung des Verstandes bei Kant: In der Kunst, so Fiedler, wird das anschauliche Bewusstsein »aus dem unentwickelten, verdunkelten Zustand […] zu Bestimmtheit und Klarheit« erhoben.17 Von diesem Programm einer neuen Bestimmung der Kunst als einer Erkenntnisart sui generis geht auch Špet aus, wobei er in einer speziellen »Anmerkung zu Fiedler« notiert: Die vorliegende Studie hat zum Ziel zu zeigen, 1. dass die Kunst in der Tat eine Wissensart ist, aber nicht im Sinne Fiedlers, und 2. dass die Kunst in dem Sinne, in dem sie als Wissensart bezeichnet werden kann, enger mit dem Ästhetischen zusammenhängt, als es Fiedler dachte. Da ich mit Fiedler anerkenne, dass die Erforschung der Kunst als eines kulturellen Phänomens durch keine ästhetischen Wertungen vorbestimmt werden darf, bleibe ich die Antwort auf die Frage schuldig, worin das positive Spezifi kum der Kunst als solcher besteht und welchen Platz im Künstlerischen das eigentlich Ästhetische einnimmt. (A3, 6 und 6 verso)

Damit sind einige zentrale Punkte der Auseinandersetzung mit Fiedler markiert, die Špet in seiner Vortragsausarbeitung durchzuführen beabsichtigt. Mit Fiedler vertritt er die Ansicht, dass die Kunst nicht als Illustration einer anderswo gewonnenen Erkenntnis dient, sondern ein eigentümliches Wissen hervorbringt, das auf einem anderen Wege nicht zu gewinnen ist. Es geht ihm auch nicht um die Erkenntnis der Kunstwerke, die der wissenschaft lichen Erforschung in den historischen, psychologischen und kunstwissenschaft lichen Disziplinen durchaus zugänglich sind. Genauer gesagt, es geht Špet zwar auch um die Erkenntnis des Kunstwerks, allerdings um eine solche, die es nicht zum Gegenstand einer wissenschaft lichen Erforschung macht, sondern dasjenige Element des Wissens in der Kunst erfasst, das ihr konstituierendes Merkmal als das eines autonomen Kulturbereichs bildet. In Anlehnung an Fiedler18 sucht Špet zunächst die formalen Merkmale dieses Wissens zu bestimmen, die es erlauben, es überhaupt als Wissen, d. h. als der Gattung des Wissens zugehörig zu betrachten. Dies sind: »Erforschung«, »Gestaltung« und »Mitteilung« (A4, 2; A3, 43). So wie die Wissenschaft den Entdeckungsprozess des Wissens und die Herstellung eines geordneten Zusammenhangs von Wissen zum Zweck einer nachprüfbaren Mitteilung beinhaltet (mit Karl Popper könnte man vom ›Context of Discovery‹ und ›Context of Justification‹ sprechen), so ist auch die künstlerische Tätigkeit weder eine bloße Nachahmung der gegebenen Wirklichkeit

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K. Fiedler: Schriften zur Kunst, Bd. II, 48. EBd. Bd. II, 31.

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noch eine willkürliche Erdichtung19, sondern eine Erforschung und Gestaltung der sichtbaren Form, durch die eine neue Erkenntnis der Welt gewonnen und mitgeteilt wird. Diese Analogie von Wissenschaft und Kunst treibt Špet noch weiter, indem er den Wissensbegriff zusätzlich differenziert (A3, 3–4). Nimmt man die wissenschaft liche Erkenntnis, deren Kriterien und Ziele, zum Ausgangspunkt, dann kann von ihr einerseits ein vorwissenschaft liches Wissen unterschieden werden, das ein praktisches Können, die Geschicklichkeit bedeutet. Dieses vorwissenschaft liche oder auch alltägliche Wissen ist zwar nicht demonstrativ, kann jedoch prinzipiell in die Form eines wissenschaft lichen Wissens überführt werden, weil auch dieses pragmatische Wissen (»jede Hausfrau kennt Marktpreise, überprüft Rechnungen, kennt den Charakter der Händler usw.« [A3, 7 (gestrichen)]) zweckorientiert ist und eine logische Struktur hat. Andererseits unterscheidet Špet ein meta-wissenschaft liches Wissen, das die Kritik und die Reflexion beinhaltet. Dieses Wissen des Wissens ist mit dem philosophischen Wissen identisch, das sich nicht auf die Welt der Dinge, sondern auf die Begriffe von den Dingen richtet. Diese Differenzierung entspricht der Kant’schen Einteilung der praktischen, theoretischen und metaphysischen Erkenntnis, auf die sich Špet gelegentlich auch bezieht. Nun nimmt er im Bereich der Kunst eine ähnliche Differenzierung der Wissensformen vor. Er unterscheidet »Kunstfertigkeit« (A3, 5 [Dt. im Original]) als Vorstufe der Kunst, die sich vor allem in Dekoration, Schmuck und Ornament manifestiert. Hier bleibt die Kunst noch in die pragmatischen Zweckzusammenhänge eingebunden und geht über eine Technik der äußeren Gestaltung nicht hinaus. Der eigentliche Bereich der ›bildenden‹ Kunst fängt für Špet und Fiedler erst dort an, wo die Kunst eine neue Erkenntnis hervorbringt. Als Fortsetzung der Analogie von Wissenschaft und Kunst erwähnt Špet eine weitere Stufe im Aufbau des künstlerischen Bewusstseins, die dem metaphysischen Wissen entspricht. Er nennt dies »Transformation des Bewusstseins« oder auch »Reinigungsopfer« (očistitel’naja žertva) (A3, 5). Mit dieser in diesem Zusammenhang etwas rätselhaft anmutenden Formulierung bezieht er sich (vgl. auch A4, 1320) auf die Überlegungen des russisch-litauischen symbolistischen Dichters und seines Freundes Jurgis Baltrušajtis, der in einem Aufsatz »Kunst als Opfer« (Žertvennoe iskusstvo), der 1921 in der von Špet herausgegebenen Zeitschrift Mysl’ i slovo [Gedanke und Wort] erschienen ist, eine Differenzierung von drei Arten der Kunst vornimmt: »Kunst als Spiel«, »Kunst als Erkenntnis« und »Kunst als Opfer«21. Die dritte und höchste Stufe bedeutet dem symbolistischen Ideal Baltrušajtis’ zufolge, dass die Kunst zur Transformation des Lebens wird. Der Künstler wird mit dem antiken Helden verglichen, der das Chaos des Lebens durch sein Schaffen bewältigt und dem Leben zu einer vollkommenen Gestalt verhilft , indem er sich dem »Geheimnis des Lebens« hingibt und in dieser Hingabe seine 19 20 21

Vgl. Ebd. Bd. II, 30. Hier die Notiz Špets »Jurg[is] {igra / poznanie / žertva« [Spiel / Erkenntnis /Opfer]. J.K. Baltrušajtis: Žertvennoe iskusstvo, Zit. 221.

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»einsame Partikularität« dem »unsagbaren Willen des Universums« zum Opfer bringt.22 Wie Špet nun diese symbolistische Kunstauffassung mit der Deutung der Kunst als Erkenntnis in Verbindung bringt, kann aus den Bruchstücken seiner Ausarbeitung nicht erschlossen werden. Offensichtlich wird dieser Punkt auch in dem Vortrag selbst nicht ausgeführt, was Matvej Kagan zum Vorwurf veranlasst, Špet sei zur stark auf die Analogie von Kunst und Wissenschaft konzentriert und lasse die metaphysische Dimension der Kunst unbestimmt.23 In der Tat konzentriert sich Špet im Verlauf seiner weiteren Argumentation nur auf das Moment des Wissens bei der Bestimmung der Kunst, aber die Erwähnung dieser metaphysischen Dimension der Kunst ist dennoch hilfreich, um den Standort von Špets Kunstphilosophie genauer zu bestimmen. Seine intensive Auseinandersetzung mit Hegel sowie die von ihm geförderten Diskussionen über Hegel an der GAChN24 gehören ebenfalls in die Reihe seiner Versuche, in der Auffassung der Kunst auch eine metaphysische (bzw. in Špets Terminologie »kulturphilosophische«) Dimension zu thematisieren. Explizit bleibt jedoch der Faden von Špets Argumentation im Vortrag durch den Gedanken einer Gleichrangigkeit von Kunst und Wissenschaft als Weisen der Erkenntnis bestimmt. Mit Fiedler unterscheidet er zwei Wege der Erkenntnis25, die ihren Ausgang von der Erfahrung nehmen. In der Wissenschaft werden Wahrnehmungen von Einzeldingen durch das Verfahren der Abstraktion ausgewählt und geordnet, um unter den Begriff eines Dings subsumiert werden zu können. Die Erfahrung wird somit in einem begrifflichen Zusammenhang der Natur oder der Welt organisiert, in dem jedes Ding in Beziehungen mit den anderen gesetzt ist. Dieser Zusammenhang wird, um als Wissen ausgewiesen zu werden, durch rationale Gründe konstituiert, die eine Prüfung und eine invariante Reproduktion ermöglichen. Es ist jedoch, wie Špet ausführt, eine »andere Ordnung der Erfahrung« möglich, »eine andere Organisation der Erlebnisse, die sich für ›Gründe‹ nicht zu interessieren braucht. Sie nimmt dagegen jedes Ding in seinem Sein als selbständig und ganz wahr, als […] nicht zusammengesetzt aus Teilen und Elementen« (A3, 55; Hervorhebung im Orig.). Dieser andere Ausgang von der Erfahrung, den die Kunst nimmt, hat jedoch nichts mit einem instinktartigen Schauen im Sinne des Intuitionismus Bergsons zu tun, sondern ist, wie die Wissenschaft, mit einer Transformation der unmittelbaren Empfi ndungen verbunden. Im Unterschied jedoch zur Ebd., 223. M.I. Kagan: Tezisy k dokladu Špeta, 571. Die Auffassung der Kunst als Lebensgestaltung kehrt bei Špet am Ende seiner Vortragsausarbeitung wieder. 24 Im Nachlass Špets befi ndet sich die unpublizierte Übersetzung der Einleitung in Hegels Vorlesungen in die Ästhetik, die von Špets Mitarbeiter Nikolaj Volkov 1927 an der GAChN angefertigt und von Špet selbst redigiert und mit zahlreichen Anmerkungen versehen wurde (NIOR RGB. F. 718. K. 8. Ed. chr. 4 und 5). In diese Beschäft igung mit Hegel gehört u. a. auch der Akademie-Vortrag der Špet-Schülerin Appolinarija Solov’eva: O vzaimootnošenii problem ėstetiki i filosofii iskusstva na osnovanii postroenij Gegelja [Über das Wechselverhältnis der Probleme der Ästhetik und Kunstphilosophie auf der Basis der Ausführungen Hegels] (9. März 1926). 25 K. Fiedler: Schriften zur Kunst, Bd. I, 18. 22 23

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Wissenschaft, die sie durch Abstraktion in einen begriffl ichen Zusammenhang transformiert, ist hier das Erkenntnisinteresse ein anderes: Es ist das Interesse daran, wie ein Ding uns erscheint. Es ist das Interesse an dem Gesamteindruck oder, wie Špet mit Fiedler sagt (A3, 55, A4, 2)26 , an dem ›Gesamtgefühl‹ des erscheinenden Dinges, das sich der Anschauung präsentiert. Dieses ›Gesamtgefühl‹ ist ebenfalls Resultat einer Erkenntnisleistung, die im Unterschied zur wissenschaft lichen Abstraktion als »Entrückung/ Entrücktheit« (otrešenie, otrešennost’) bezeichnet wird: Das ästhetische Objekt wird dadurch konstituiert, dass es aus dem Weltzusammenhang herausgehoben, eben ›ent-rückt‹, wird und seine Gegenstandsbestimmungen, die es als ein reales Ding in der Welt charakterisieren, ausgeschaltet werden. (A3, 55) Die Entrücktheit ermöglicht ein Absehen von dem empirischen Wahrnehmungsbestand und eine Konzentration auf die Form, die das künstlerische Objekt im Unterschied zu einem Ding in der Welt konstituiert. Der Gegenstand erscheint dadurch als das Erscheinende (›Phänomen‹), Gesehene, Gehörte usw. par excellence. Er wird nicht mehr als ein Ding im Weltzusammenhang charakterisiert, sondern als »geistige Aktualität« (duchovnaja aktual’nost’) (A3, 31) oder »kontemplative Präsenz«27 (kontemplativnaja prezentacija) (A4, 4). Mit der letzten Formulierung deutet Špet an, dass das Wissen in der Kunst Resultat einer Leistung ist, die der Kontemplation verwandt ist: Bei der Kontemplation findet auch ein ›Absehen von‹ dem »wirklichen Ding« statt. »Wir befreien uns von allen Erlebnissen, die dem Inhalt des angeschauten künstlerischen Objekts nicht entsprechen.« (A4, 4; Hervorhebung im Orig.) Zugleich ist in diesem isolierten Objekt ein Ganzes präsent, das als »ein Wirkliches gar nicht ›vorgestellt‹ und nicht einmal imaginiert werden kann« (A4, 4). Es ist das Ganze der Erscheinung des Gegenstandes, wie er in der Anschauung erfasst wird, wobei auch hier nicht ein einzelner Wahrnehmungsakt, sondern das Ganze der Anschauungsleistung (gleichsam die ›Idee der Anschauung‹) gemeint ist. In einer Notiz gibt Špet erläuternd einen Definitionsversuch: Kunst ist »Erkenntnis des ganzen Gegenstandes durch die ganze Persönlichkeit in ihrer gegenseitigen Spezifizität« (A3, 43)28 . Es erhebt sich bei diesen Bestimmungen jedoch die Frage, ob wir es im Falle der Kunst, trotz der erwähnten formalen Gemeinsamkeiten mit der Wissenschaft, mit einer Erkenntnis zu tun haben? Und um welche Art von Wissen handelt es sich hier? Bei der Beantwortung dieser Fragen zeigen sich die Differenzen zwischen Špets und Fiedlers Deutung der Kunst als Erkenntnis. Bevor auf diese Differenzen eingeVgl. Ebd. Špet verwendet diesen Ausdruck mit Verweis auf Heinrich Maiers Psychologie des emotionalen Denkens, 484 (»präsentative Kontemplation«).Vgl. auch die Notiz Špets zu seinen Exzerpten aus diesem Buch: »то, что презентативно, есть именно отрешенность и знак, – фантазирующая контемпляция есть вместе и интерпретация (пример Леонардо!)« [das, was presentativ ist, ist gerade die Entrücktheit und das Zeichen, – die phantisierende Kontemplation ist zugleich eine Interpretation (Beispiel Leonardo!)« (G. Špet: Konspekty i vypiski’, Bl. 73). 28 »Это познание цельного предмета цельной личностью в их взаимной характерности« (Hervorhebung im Orig.). 26 27

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gangen wird, soll noch eine Wissensbestimmung thematisiert werden, die in Špets Argumentation eine Rolle spielt und die formalen Bedingungen des Wissens in der Kunst verdeutlichen soll. Wie bereits aus den Bulletins der Akademie zitiert, besteht Špet darauf, dass die Kunst ein Wissen im Sinnen von ›ktesis‹ bedeutet. Der Gegensatz von ›ktesis‹ und ›hexis‹, zwischen ›Besitzen‹ und ›Haben‹ geht auf Platons Dialog Theaitetos zurück, in dem er als eine mögliche Antwort in der Suche nach einer Definition von ›Wissen‹ diskutiert wird (197a–200d). Sokrates schlägt diese Unterscheidung vor, um die Aporien der Bestimmung des Wissens als einer ›wahren Meinung‹ zu lösen. Er verwendet dabei die Metapher eines ›Taubenschlags‹ – man besitzt viele Tauben, hat aber nur eine Taube in der Hand –, um das Wissen als ein potentielles ›Besitzen‹ von Kenntnissen auf einer Seite von dem Wissen in einem aktuell ausgesprochenen Urteil auf der anderen Seite zu unterscheiden. Man weiß bzw. kennt beispielsweise alle Zahlen, aber kann sich eventuell in der Wahl einer Zahl bei der Lösung einer mathematischen Aufgabe irren. Diese Bedeutung des Wissens als ›Besitz‹ (ktesis) wird in der Forschung als Wissen im dispositionalen Modus interpretiert, als Verfügbarkeit einer Kenntnis (Besitzen einer ›wahren Meinung‹) im Unterschied zu ihrer Vergegenwärtigung in einem Urteil.29 In der sprachanalytischen Philosophie wurde diese Unterscheidung durch G. Ryle in die Differenzen von »knowing how« (z. B. Fähigkeit der Regelanwendung) und »knowing that« (z. B. aktueller richtiger Gebrauch einer Regel) transformiert und für die modernen Theorie des Wissens nutzbar gemacht. Nun greift Špet gerade diese Unterscheidung auf, um die Wissensart der Kunst von der Wissenschaft abzuheben. Er notiert dabei: »Jede hexis setzt auch ktesis voraus, aber nicht umgekehrt; es kann eine absolute ktesis geben, die in hexis nicht übergeht«. Die Kunst ist also ein Wissen als »unbedingte ktesis, denn von der hexis ist auch wissenschaft liche Erkenntnis möglich« (A4, 4). Diese Beschreibung ergibt jedoch, wenn man die ktesis im Sinne einer Disposition interpretiert, wenig Sinn. Denn das Vorliegen einer Disposition, z. B. Deutsch zu sprechen, ist feststellbar aufgrund ihrer erfolgreichen Verwendung im aktuellen Sprachgebrauch. Das Postulieren einer Disposition, die nicht in einer Aktualisierung artikuliert wird (ktesis, die niemals in hexis übergeht), hat etwas Rätselhaftes an sich. Dies würde bedeuten, dass jemand ein Wissen besitzt (z. B. Multiplikationstabelle kennt), ohne es jemals aktualisiert zu haben. Ein solches Wissen wäre gar keines, auch nicht in der Kunst, wie man es auch sonst bestimmen mag. Insofern kann die Unterscheidung der Wissensbegriffe im Sinne der Disposition und des aktuellen Gebrauchs hier keine Anwendung finden. Špet muss mit dieser Unterscheidung, die er bisweilen auch als Unterscheidung zwischen praktischem und theoretischem Wissens charakterisiert, etwas anderes gemeint haben. Er spricht auch sonst nicht von der Disposition, obwohl er den ktesis-Begriff verwendet. Festzuhalten ist aber, dass dieses Wissen Špets Beschreibung zufolge weder zweckorientiert noch über rationale Kriterien ausweisbar ist, d. h. keiner Beurteilung 29

Vgl. J. Hardy: Platons Theorie des Wissens im »Theaitet«, insbes. 190–198.

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als wahr oder falsch unterliegt. Und es ist unmittelbar, d. h. es wird nicht über diskursive Schlussfolgerungen gewonnen, sondern bedeutet eine kriterienlose Vertrautheit. II. Wissen als Modus des Selbstseins. Kunst als Verkörperung des Selbstbewusstseins Obwohl die meisten dieser Charakteristika auch in Fiedlers Deutungen der Kunst (ohne Bezug auf Platon) anzutreffen sind, besteht eine grundsätzliche Differenz zwischen Fiedler und Špet in der Bestimmung dessen, welches Wissen in der Kunst in ihrem Unterschied zur Wissenschaft vorliegt. Auf eine Formel gebracht kann sie folgendermaßen artikuliert werden: Für Fiedler ist die Kunst ein Wissen von der Welt, für Špet dagegen sie ein Wissen von dem Selbst oder Selbstbewusstsein. Für Fiedler macht der Künstler, grundsätzlich nicht anders als Wissenschaft ler, die Welt zum Gegenstand des menschlichen Bewusstseins. Daher ist die Kunst für ihn eine spezifische Sprache, die Sprache der sichtbaren Formen, »mittelst deren gewisse Dinge in die Sphäre des menschlich erkennenden Bewusstseins gebracht werden«30. Diese besondere Kategorie der Dinge als Objekte in ihrer Sichtbarkeit oder Bilder, wie sie die moderne Bildwissenschaft im Anschluss an Fiedler untersucht, konstituieren den spezifischen Bereich der Kunst als Erkenntnis. Am Ende ist es die Welt als Ganzes in ihrer Erscheinung für das anschauende Bewusstsein, die das Erkenntnisziel der Kunst ausmacht.31 Dabei geht es jedoch nicht um die Reproduktion oder Nachahmung einer Naturgestalt. Ganz im Sinne der Erkenntniskritik Kants behauptet Fiedler, dass nur die Hervorbringung der sichtbaren Form der Welt durch die Kunst die Anschauung der Naturgestalt ermöglicht. »Denn nichts anderes ist die Kunst, als eins der Mittel, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt.«32 Für Špet dagegen ist jede Form des Wissens von einem Gegenstand prinzipiell diskursiv und letztlich wissenschaft lich einholbar. Seine subtilen Analysen der Sinnund Formschichten des ästhetischen Gegenstandes und die Aufeinanderbeziehung der logischen und poetischen (künstlerischen) Formen in den Ästhetischen Fragmenten33 lassen im Grunde keinen Raum offen für ein Gegenstandswissen, das nicht wissenschaft lich artikulierbar wäre. Auch in der Vortragsausarbeitung bemüht sich Špet darum, diejenigen Aspekte der Kunst systematisch auszugrenzen, die der wissenschaft lichen Erkenntnis zugänglich sind. Sowohl die künstlerischen oder moralischen Ideale, die ins Kunstwerk Eingang finden, als auch Momente des Sujets sowie mögliche Wissensinhalte sind als Objekte der wissenschaft lichen oder philosophischen Erkenntnis vorstellbar. Diese Aspekte des Kunstwerks machen das spezi30 31 32 33

K. Fiedler: Schriften zur Kunst, Bd. II, 36. Ebd. Bd. I, 28 f. Ebd. Bd. I, 109. G. Špet: Ėstetičeskie fragmenty, II.

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fische Wissen in der Kunst nicht aus. Zugleich besteht Špet darauf, dass es sich in der Kunst um ein Wissen handeln muss, das prinzipiell nicht in die Sprache der Begriffe übersetzbar ist (A3, 7). Denn erst diese Nichtübersetzbarkeit legitimiert den Anspruch der Kunst, eine Wissensart sui generis und eine eigenständige ›Sprache‹ zu sein.34 Einem solchen Anspruch kann nur etwas genügen, das nicht in die Sprache der Gegenstände, Ereignisse oder Ideen übersetzbar und nicht als Gegenstand vorstellbar ist. Dies ist Špet zufolge das Wissen von sich oder das Selbstbewusstsein. Seine Grundthese lautet daher: »Kunst als Wissen = Selbstbewusstsein« (A3, 24). Mit dieser These greift Špet in die Debatte um die Deutung des Selbstbewusstseins ein, die das philosophische Denken seit Locke begleitet. Locke hat das Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins entwickelt, das sich trotz der massiven Kritik von Hume, Fichte oder Brentano bis in die Gegenwart hinein durchgehalten hat. Diesem Modell zufolge erfasse ich mich im Selbstbewusstsein durch Rückwendung auf mich selbst. In einem solchen Akt der Reflexion richte ich mich nicht, wie im Akt der Wahrnehmung, auf die Gegenstände der Außenwelt, sondern mache die Bewusstseinsakte selbst zum Gegenstand. Das Reflexionsmodell ist jedoch trotz seiner Einfachheit und scheinbaren Plausibilität der Erklärung mit einigen fundamentalen Problemen behaftet, die es unmöglich machen, das Zustandekommen des Selbstbewusstseins zu explizieren. Zum einen ist es das Identifi kationsproblem, das besagt, dass das Selbstbewusstsein nicht aus dem Vorgang der Identifi kation von einem Bewusstseinsakt und dem Bewusstsein als Gegenstand entstehen kann. Man muss diese Identität bereits voraussetzen, um verständlich machen zu können, dass Akt und Gegenstand eins sind. Ich muss, m.a.W., mit mir bereits vertraut sein, um das Spiegelbild als mich selbst erkennen zu können. Das Scheitern einer solchen Erkenntnis beschreibt z. B. Ernst Mach, der beim Einsteigen in einen Wiener Omnibus einen auf der anderen Seite hereinkommenden Mann sah und dachte »Was steigt doch da für ein herabgekommener Schulmeister ein«, ohne gemerkt zu haben, dass ihm gegenüber ein großer Spiegel hing.35 Dass jedoch Ernst Mach, der bekanntlich den Ich-Begriff für »unrettbar« hielt, das Bewusstsein des eigenen Sehaktes, in dem er einen Schulmeister sah, hatte und dieses gar nicht anzweifelte, ist ein Zeugnis des Selbstbewusstseins, das ihm ermöglicht hat, die anfänglich misslungene Identifi kation zu korrigieren.36 Zum anderen ist es das Regressproblem, das das Reflexionsmodell zu bewältigen nicht imstande ist. Denn um die Ineinssetzung von Bewusstsein als Akt und Bewusstsein als Gegenstand dieses Aktes zu vollziehen, bedarf es eines weiteren Aktes, in dem der vorgängige Akt bewusst wird und so ins Unendliche fort, so dass das In der Auffassung der Kunst als einer spezifischen Formsprache weiß sich Špet ebenfalls mit Fiedler einig. Vgl. Špets Exzerpte aus den Werken von Fiedler und Emil Utitz: G. Špet: (Konspekty i vypiski iz knig raznych avtorov po iskusstvoznaniju) [Konspekte und Exzerpte aus Bücher verschiedener Autoren zur Kunstwissenschaft], insbes. Bl. 13–19, 22 f. 35 E. Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, 3 Anm. 36 Vgl. zu diesem Problemzusammenhang M. Frank: Fragmente einer Geschichte des Selbstbewusstseins. 34

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Selbstbewusstsein gar nicht zustande kommt. Das Faktum des Selbstbewusstseins ist aber selbst unbestritten. Daher muss das Modell seiner Erklärung als einer reflexiven Rückwendung auf sich selbst als unhaltbar betrachtet werden. Für die Problemkonstellation, aus der heraus Špet seine Analysen durchführt, ist es wichtig zu erwähnen, dass auch Edmund Husserl, angefangen mit den Logischen Untersuchungen sich in dieses Problem verwickelt. In der »V. Logischen Untersuchung« behandelt er die Bedeutung des Begriffs ›Bewusstsein‹ als ›innerer Wahrnehmung‹, die unsere gegenstandsbezogenen Akte ›begleitet‹ und genauso wie diese Akte eine ›intentionale Struktur‹ aufweist, wobei der Gegenstand dieser Intention nicht die Dinge, sondern die Bewusstseinsakte selbst sind. Diese ›Begleitung‹ durch den Akt der Selbstwahrnehmung, in dem die Akte der »Lust, die mich erfüllt«, der »Phantasievorstellung, die mir vorschwebt«37 bewusst werden, erweist sich schließlich als aporetisch: Denn im Akt der inneren Wahrnehmung der eigenen Erlebnisse soll Husserl zufolge der Gegenstand, d. h. das eigene Erlebnis, vollkommen adäquat gegeben sein. Dies unterscheidet die innere Wahrnehmung von dem Bewusstsein der äußeren Dinge, das seinen Gegenstand immer nur in Abschattungen hat. Wie kann jedoch die innere Wahrnehmung die volle Adäquation haben, wenn sie genauso, nämlich intentional strukturiert und gegenstandsbezogen ist, wie die anderen Bewusstseinsakte? Diese Adäquation oder das originäre Wissen von dem eigenen Akt scheint hier nicht erwiesen, sondern bloß vorausgesetzt zu sein. Husserl kommt hier in ein Dilemma: Um als Bewusstsein charakterisiert werden zu können, muss die innere Wahrnehmung intentional strukturiert sein. Dann ist sie aber inadäquat. Ist sie adäquat, kann sie nicht als intentional bestimmt und daher als Bewusstsein im Husserl’schen Sinne charakterisiert werden. Die Lösung des Dilemmas suchte Husserl in seiner Konzeption des inneren Zeitbewusstseins einerseits, in der Konzeption des transzendentalen Ego, das die Einheit des Bewusstseinsstromes stiftet, andererseits. Bei diesen Lösungsversuchen treten jedoch wiederum Probleme auf, die die Kritiker an der ›egologischen‹ Konzeption Husserls herausgestellt haben. Aus dieser Problemlage sind Theorieentwürfe hervorgegangen, die als ›non-egologische‹ Konzeptionen bekannt geworden sind, weil sie, wie bei Aron Gurwitsch und J.-P. Sartre, die Ich-Instanz des Selbstbewusstseins grundsätzlich in Frage stellen und das Ich nur als Gegenstand des Bewusstseins in Anschlag bringen. Auch die Position Špets enthält Argumente gegen Husserls Version der Transzendentalphilosophie, die in Richtung einer non-egologischen Konzeption weisen.38 Während Špet in seiner früheren Abhandlung Das Bewusstsein und sein Eigentümer (1916)39 gegen die Theorie des Ich-Subjekts polemisiert und das Ich nur als Gegenstand, nicht als Subjekt des Bewusstseins beschreibt (ähnlich wie Sartre dies später tun wird), so präzisiert er in seiner Vortragsausarbeitung von 1926/27 seine 37 38 39

E. Husserl: Logische Untersuchungen, Bd. II, 369 (A 336). Vgl. Verf.: Das Ich-Bewusstsein als Ergebnis sozialer Sinnbildung. Vgl. G. Špet: Das Bewusstsein und sein Eigentümer.

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Analysen des Selbstbewusstseins. Vor allem bricht er mit zwei Voraussetzungen der Husserl ’schen Deutung der inneren Wahrnehmung: Die Kenntnis vom eigenen Erlebnis, die die besondere Art des Wissens – das Selbstbewusstsein – ausmacht, muss Špet zufolge erstens »ungegenständlich« und zweitens »nicht-intentional« sein (A3, 13). Erlebnisse wie Todesangst, Lustgefühl oder Kopfschmerz (vgl. A4, 4) u. dgl. sind unmittelbar bewusst, ohne dass sie in ein intentionales und gegenständliches Wissen überführt werden könnten. Ihre Transformation in einen Gegenstand, die nachträglich erfolgen kann, bedeutet im Grunde eine Vertauschung: Das ›Selbst‹ hört auf, es selbst zu sein (A4, 6) und wir sprechen dann von einem Gegenstand, der von der Psychologie, Soziologie, Geschichte oder Medizin wissenschaft lich untersucht wird. Das Selbstbewusstsein dagegen, wiederholt Špet an mehreren Stellen seines Manuskripts, kann nie zum Objekt werden, »die Verwandlung des Selbstbewusstseins in ein Objekt ist nicht möglich« (A3, 38, 39). Dieses ungegenständliche Selbstbewusstsein ist keine »Vorstellung«, denn in der Vorstellung wird immer ›etwas‹, gleich ob etwas wirkliches oder fiktives, vorgestellt und es hat auch keine prädikative Struktur (»keine Vorstellung und kein Urteil« [A4, 3]). Daher ist bei seiner Deutung das Identifikations- und Regressproblem vermeidbar. Denn es kommt nicht in einer Reflexion auf sich selbst zustande, sondern ist als eine ursprüngliche Vertrautheit (znakomstvo, znajemost’ [A4, 5]) zu charakterisieren, was Špet auch mit Termini von Th. Lipps mit »Selbstfühlen«, »Selbstgefühl« (A3, 13) umschreibt. Es wird auch mit einer paradoxen Bezeichnung als »aktiver Zustand« (aktivnoe sostojanie [A3, 61]) beschrieben, die offensichtlich den Zustand des Künstlers beim aktiven Schaffensprozess sowie des Kunstrezipienten gleichermaßen meint.40 In mehreren Anläufen versucht Špet, eine philosophische Explikation dieses ungegenständlichen Wissens zu geben. Dabei bewegt er sich in Richtung einer ›Ontologie der Subjektivität‹, die er in seinem Humboldt-Buch Die innere Form des Wortes in Aussicht gestellt hat und nun in der Analyse des Selbstbewusstseins ausführt. Das Selbstbewusstsein hat diesen Ausführungen Špets zufolge den Charakter einer »absoluten Empirizität« (absoljutnaja empiričnost’ [A4, 6]) bzw. der Faktizität, die nicht in Begriffe überführbar ist. Denn die Vertrautheit mit sich selbst ist durch und durch faktisch vorhanden. Sie ist keine Idee, die das selbstbewusste Subjekt von sich macht, und kein Gegenstand, sondern die Anzeige des faktischen »Daseins« (naličnoe bytie [A4, 5]) eines Bewusstseinsaktes. Das Selbstbewusstsein ist daher ein einfaches »Bewusstwerden meines Seins« (osoznanie mojego bytija [A3, 63]), des Faktums meines Seins, ohne dass hier bewusst wäre, »was ich bin«, denn dies wäre schon ein gegenständliches Wissen. Des Weiteren wird das Selbstbewusstsein von Špet als »absolute Subjektivität« (absoljutnyj sub’’ekt [A4, 6]) charakterisiert. Damit ist kein metaphysischer Subjektbegriff im Sinne einer realen Substanz gemeint, sondern der Umstand, dass das 40 Nicht ganz konsequent erscheint in diesem Zusammenhang, dass Špet das Selbstbewusstsein als »Relation« (A4, 7) betrachtet. Denn bei der Charakterisierung des Selbstbewusstseins als ›ungegenständlich‹, ›nicht-intentional‹ und ›zuständlich‹ kann es keine ›Relation‹ geben.

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Selbst nicht als Prädikat von irgendeinem anderen Subjekt ausgesagt werden kann und auch nicht prädizierbar ist, denn sein Dasein kann in keiner inhaltlichen Bestimmung ausgesprochen werden. Das Selbst ist nach scholastischen Bestimmungen, die Špet mit Vorliebe anführt, eine »materia in qua« (A3, 33), also subiectum in vorkantischer Bedeutung, das den Träger aller Prädikate und Eigenschaften meint, der in keinem Prädikat ausgesprochen werden kann, sondern vielmehr die Bedingung des Prädizierens überhaupt ausmacht. Eine andere Charakterisierung für dieses Selbst des Selbstbewusstseins wählt Špet, indem er auf dem Seinsbegriff im Kant’schen Sinne verweist (A3 27, 59), denn auch bei Kant wird das »Sein« als kein reales Prädikat bestimmt, d. h. »ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dings hinzukommen könne«, sondern bloß als »die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst«41. Der Begriff des Seins zeigt den bloßen Bezug der Erfahrung auf das Erkenntnisvermögen, ohne dass mit ihr eine Erweiterung unserer Erkenntnis möglich wäre. Er enthält eine Seinssetzung. d. h. bringt zum Ausdruck, dass etwas ist, und nicht, was es ist. Jedoch im Unterschied zur Kant’schen Seinsbestimmung, die an das Urteil und die synthetische Leistung des Verstandes gebunden ist, sind für Špet das Sein des Bewusstseins und das Sich-Wissen kein Produkt einer begrifflichen Synthese, sondern bilden eine ursprüngliche Einheit. Das Stattfinden eines Bewusstseinsaktes impliziert ein Wissen von ihm. Über das Selbstbewusstsein kann man daher sagen: »Seine essentia ist gerade seine existentia« (A3, 59). Diesen Seinsmodus bezeichnet Špet, und dies ist seine dritte Grundbestimmung des Selbstbewusstseins, als »Aktualität« im Unterschied zu der »Wirklichkeit« der Dinge und der »Realität« einer Idee (A3, 23). Die ›Aktualität‹ charakterisiert das Sein des Bewusstseins, das in jeder Anschauung, Wahrnehmung, jedem Gedanken aktuell gewusst wird: »Das Sehen ist selbst da, wenn das Gesehene da ist« (A3, 35). Von dieser ›Aktualität‹ des Bewusstseinsaktes ist die ›Wirklichkeit‹ zu unterscheiden, die einer Ausweisung durch Vernunftgründe bedarf. Erst durch eine solche Bestimmung wird die Trennung des Wirklichen und des Fiktiven ermöglicht, wobei der Bereich des Wirklichen hier mit dem des durch rationale Gründe Gerechtfertigten zusammenfällt. Hier ist also der Hegel ’sche Satz ›alles Vernünftige ist wirklich‹ durchaus anwendbar. Allerdings hat die Vernunft laut Špet nur das »ontische Vetorecht« (pravo ontičeskogo veto [A3, 34]) im Sein, d. h. es kann die Scheidung des Wirklichen und des Fiktiven nur am ›Aktuellen‹ vornehmen, das als solches vortheoretisch gesetzt wird. »Das praktisch gesetzte Sein wird durch die theoretische Vernunft bestätigt und wenn etwas ist, kann ihm die Vernunft sein Recht auf Sein nicht absprechen; aber wenn die Vernunft keine Begründung für das Gesetzte, kein Vernunftrecht finden kann, dann heißt dies, dass es dieses Gesetzte in Wirklichkeit nicht gibt« (A3, 34). Die ›Aktualität‹ des Selbstbewusstseins hat also praktischen Charakter, wie auch jede Seinssetzung im vortheoretischen Bereich (von Špet auch als ›common sense‹ 41

Sein.

I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 626. Vgl. darüber: M. Heidegger: Kants These über das

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angesprochen) liegt und mit theoretischen Mitteln nicht durchgeführt werden kann. Dieser praktische Charakter des Selbstbewusstseins ist allerdings weder mit dem Normativen, also dem Moralisch-Praktischen noch mit dem Instrumentell-Praktischen, also mit Herstellungsprozessen zu verwechseln: Bei diesen beiden wird eine Idee oder ein Zweck ›realisiert‹. Auch bei einer solchen ›Realität‹ als ›Realisierung‹ befinden wir uns im Bereich des Gegenständlichen und Objektiven: Ziele werden gesetzt, Pläne realisiert, die Axt beweist ihre Realität im Holzfällen (um Špets früheres Beispiel42 zu zitieren). Die Aktualität ist aber auch nicht im Sinne des Gegensatzes von »aktuell–inaktuell« zu verstehen. Denn diese Modalitäten betreffen Špet zufolge nur den objektiven bzw. objektivierten Gegenstand (A3, 35). In Bezug auf das Bewusstsein des Aktes hat diese Unterscheidung hingegen keinen Sinn: Wo ein Bewusstseinsakt auch stattfindet, er ist seiner selbst immer aktuell bewusst. Das Selbstbewusstsein ist hier keine Disposition und keine Potentialität, die gelegentlich aktualisiert werden kann, sondern ein präreflexives Sich-Wissen, das prinzipiell als Aktualität zu verstehen ist (A3, 39). Nun kann man fragen, warum dieses Wissen, das ungegenständlich und nichtintentional ist, für Špet das Spezifische der Kunst als eines Wissens ausmacht. Gewiss ist das Selbstbewusstsein und das darin implizierte Wissen von sich nicht auf die Kunst beschränkt, sondern macht die Grundbestimmung des Menschlichen als selbstbewussten Lebens aus. Und es wird auch von Špet hervorgehoben, dass dieses Element des Wissens dem Selbstbewusstsein als solchen eigen ist. In der Kunst wird es jedoch eigens sichtbar gemacht, während alle anderen Formen der menschlichen Tätigkeit sowie des theoretischen und pragmatischen Wissens davon abstrahieren, indem sie es in ein Gegenstandswissen überführen. Die Kunst dagegen zeigt keine Gegenstände, sondern berichtet über die gewussten ›Zustände‹ des Bewusstseins, indem sie sie verkörpert. Die Kunst ist zwar auch eine Tätigkeit, die ein Produkt herstellt, aber der Zweck dieser Tätigkeit ist auf die Tätigkeit selbst bezogen als Streben, sie selbst bzw. sich selbst zu verkörpern (A3, 67). Der hier von Špet verwendete Begriff der ›Verkörperung‹ (voploščenie) (A3, 61 f.) soll diese Art der Präsenz des Selbstbewusstseins im Kunstwerk anzeigen: Verkörperung ist keine ›Vergegenständlichung‹ oder ›Objektivation‹, die das Bewusstsein in ein objektiv oder subjektiv Seiendes (etwa den Apparat der Wahrnehmung) verwandelt und so der wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich macht. In der Verkörperung wird nichts objektiviert, sondern die Subjektivität tritt als ›kontemplative Präsenz‹ in Erscheinung (A4, 9). Hier vor uns ist ein ›Selbst‹, es ist derart im Kunstwerk drinnen, in ihm ›verkörpert‹, dass wir es selbst und sein Werk direkt und unmittelbar identifizieren (›dies ist Puškin‹ usw.), es ist mit seinem Werk verschmolzen: wir erkennen das Werk und genießen es, und es selbst ist hier, unmittelbar fühlbar, hier präsent. (A4, 9)43 Vgl.: G. Špet: Javlenie i smysl, 190 f. »Здесь перед нами некоторый ›сам‹, который настолько в художественном произведении, ›воплощен‹ в нем, что мы прямо и непосредственно отожествляем его самого и его произведение (›это – Пушкин‹ и т.п.), он слит со своим произведением: мы изучаем худо42 43

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Das Kunstwerk ist somit weder ein Bericht über die Weltanschauung des Schöpfers, über seine Ideale und Ansichten, noch ist es eine Mitteilung über die dargestellten Gegenstände, sondern es ist ein Zeugnis des »schöpferischen Selbstbewusstseins« (tvorčeskoe samosoznanie [A3. 61]). ›Wessen Selbstbewusstsein?‹ kann man hier fragen. Eine solche Frage ist allerdings nach Špet unzulässig, denn auf diese Weise wird das Selbstbewusstsein in das Prädikat eines empirischen Subjekts verwandelt, das einen Gegenstand unter anderen darstellt und in dieser Form der wissenschaft lichen Erkenntnis unterliegt. »Die Wissenschaft, die objektive Erkenntnis kennt nur den ›Menschen‹, den ›psychophysischen Organismus‹, das ›Kollektiv‹, die ›Seele‹ als Objekte, aber dies ist kein Selbstbewusstsein« (A3, 38). In der Geschichte der Kunstreflexion gab es schon zahlreiche Kandidaten für diese Rolle des ›schöpferischen Selbstbewusstseins‹ – den Künstler, das Genie, den Geist des Volkes, den Zeitgeist, die Klasse u.ä. Dies sind jedoch alles Vergegenständlichungen, die zwar die Kunst einer kulturhistorischen Analyse zugänglich machen können, aber das ursprüngliche Sich-Wissen des Selbstbewusstseins in einem Begriff ausschalten. Das Spezifische dieses Wissens in der Kunst ist Špets Ansicht zufolge, dass es das Sehen, das Hören, kurz, die Anschauung als bewusst vollzogene kulturelle Leistung hinter jedem Gegenstand erfahrbar macht. Wenn jedoch das Selbstbewusstsein keinem konkreten und auch keinem abstrakten Subjekt zugeschrieben werden kann, ist es dann anonym? Diese Option, das Selbstbewusstsein als anonymes Sich-Wissen der Bewusstseinsakte zu beschreiben, ist in der Phänomenologie in den non-egologischen Konzeptionen, insbesondere in der von Sartre, gewählt worden. Auch Husserl hat diese Option in seinen unpublizierten Manuskripten und Ausarbeitungen zur Phänomenologie des Zeitbewusstseins in Erwägung gezogen: Er charakterisiert dieses Sich-Wissen des Bewusstseins als »lebendige Gegenwart«44 (vgl. Špets ›Aktualität‹), die in den Zeitstrom nicht eingezogen ist und als anonymes und überzeitliches Bewusstsein fungiert. Špet deutet ebenfalls an, dass im Gegensatz zur Wissenschaft, die eine ›Depersonalisierung‹ des Gegenstandes vollzieht, um die objektive Erkenntnis zu erzielen, in der Kunst gleichsam eine ›Impersonalisierung‹ des Selbstbewusstseins stattfi ndet (A3, 14 45): Das Selbstbewusstsein tritt als solches in Erscheinung, ohne dass wir sagen könnten, wer oder was dessen Träger ist. Gleichwohl stellt sich für Špet die Frage: Wenn das Selbstbewusstsein als anonym und überzeitlich zu beschreiben ist46 und auch nicht sein ›Wessen?‹ zur Erscheinung bringt, wie kann man »das Selbstbewusstsein von Shakespeare, Puškin usw. unterscheiden« (A3, 39 und 39 verso)? Seine Antwort lautet: durch die ›innere Form‹ des Kunstwerks, durch die Art und Weise, wie das Selbstbewusstsein im künstlerischen жественное произведение и наслаждаемся им, а он сам – здесь же, непосредственно ощутимый, чуемый, здесь – налицо.« (Hervorhebung im Orig.) 44 Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart. 45 Mit Verweis auf den Aufsatz von S. Alexander: Art and Science. 46 Špet beruft sich, ähnlich wie Husserl in seinen Manuskripten, auf die Defi nition der Ewigkeit als ›nunc stans‹ (A3, 59 verso). Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, 146 f.

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Material verkörpert wird (A3, 39). Die Veränderung dieser Art und Weise bezeugt das Bestehen verschiedener Selbstbewusstseine (A3, 39). Allerdings ist ihr Subjekt (als Träger) nicht der konkrete schaffende Mensch in seiner kulturellen Epoche, Lebensform und Umgebung. Das Selbstbewusstsein schafft nichts, nur der konkrete Mensch schafft, aber es kommt an diesem Prozess zum Ausdruck, ohne zu einem Gegenstand zu gerinnen. Letztlich betont Špet aber nicht das Moment der Individualität des Selbstbewusstseins, das sich in unterschiedlichen künstlerischen Formen ausdrückt, sondern das Moment seiner Gemeinsamkeit, Gemeinschaft lichkeit, die in der Kunst in Erscheinung tritt. Wenn das Selbstbewusstsein nicht in einen Gegenstand übersetzt werden kann, so kann es sich einem anderen Selbstbewusstsein mitteilen (A4, 2 verso). Durch die Rezeption der Kunstwerke haben wir an dieser Gemeinschaft lichkeit des Selbstbewusstseins teil. Die Kunst als Wissen bedeutet das Wissen um diese Gemeinschaft lichkeit: »Das kulturell schöpferische Antlitz, kein Individuum, sondern eine Gemeinschaft und Kommunikation, – das ist das Wissen, das unmittelbar von der Kunst gegeben wird« (A4, 12). In der Betrachtung des Kunstwerks bin ich meines kulturellen Mit-Seins mit dem ›schöpferischen Selbstbewusstsein‹ bewusst. Das Wissen ist hier die Teilhabe an der Gemeinschaft des Selbstbewusstseins, die mir mein kulturelles Dasein vor Augen führt. Špet betont, dass in der Kunst das Selbstbewusstsein als kulturelles Faktum sichtbar gemacht wird und zitiert wiederholt Fiedlers Satz: »Der Mensch geht in der Kunst einen Kampf mit der Natur ein, nicht um seine physische Existenz, sondern um seine geistige«47, – wobei er ›geistig‹ stets als ›kulturell‹ übersetzt (vgl. A4, 12). Der Sinn des ›Kulturellen‹ ist gerade diese Gemeinschaft lichkeit, die im Gegensatz zur sozialen Kommunikation, welche sich als Verbindung getrennter Subjekte vollzieht, eine Teilhabe an dem gemeinsamen Selbstbewusstsein bedeutet. Diese Gemeinschaft lichkeit ist auch nicht im Sinne der kulturhistorischen Faktoren oder sonstigen inhaltlichen Bestimmungen der Entwicklung der Menschen zu verstehen, sondern bildet geradezu die Bedingung der Möglichkeit seines Daseins als kulturelles Wesen, d. h. als Wesen, das im Element der Gemeinschaft lichkeit und des Verstehens existiert. Die Kunst bewährt diese Gemeinschaft lichkeit des Selbstbewusstseins und kultiviert sie. So ist die Literatur, wie Špet in einem ebenfalls unpublizierten Text aus GAChN-Zeiten ausführt48 , der Ausdruck des kulturellen und gemeinschaft lichen Selbstbewusstseins, aber nicht als Widerspiegelung desselben, sondern als dessen aktive Gestaltung im Wort. Der Kultus des Wortes, der für die Literatur fundamental ist, ist daher zugleich eine Kultivierung des schöpferischen Selbstbewusstseins und schöpferischer Kraft des Menschen. K. Fiedler: Schriften zur Kunst, Bd. I, 32. Es handelt sich um den Artikel »Literatur« (vgl. G.G. Špet: Literatura) zum Lexikon der Kunstterminologie, das an der GAChN vorbereitet wurde und nicht zur Erscheinung gelang. Aus dem GAChN-Nachlass publiziert von I.M. Čubarov: Slovar’chudožestvennych terminov. Zit. 253– 259. 47

48

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Nikolaj Plotnikov

Das für die Kunst spezifische Wissen ist nun das Wissen um diese Gemeinschaftlichkeit des kulturellen Selbstbewusstseins. Indem die Kunst dieses Wissen verkörpert und aufbewahrt, stellt sie, so die abschließende These Špets, die »originäre Einheit des kulturellen Daseins« wieder her, die im »Kampf um den Gegenstand« und »um dessen Beherrschung«, »im Kampf, der den Bruder gegen den Bruder aufstehen ließ« (A4, 11), zerstört wurde. So ist die Kunst ein Wissen, das zugleich »die Intensität und Fülle unseres Lebensgefühls und unserer Lebensgestaltung unendlich erhöht« (A4, 12). In diese Überlegungen fließen Špets Hoff nungen auf eine ›neue Renaissance‹ der Kultur ein, die er mit der Russischen Revolution und dann mit der Tätigkeit der GAChN verband. Es kommt in ihnen aber auch jenes Ideal der Kunst als Solidaritätsstiftung zum Ausdruck, das in der russischen Ästhetik seit Lev Tolstoj immer wieder artikuliert wird, und nun, vor dem Hintergrund der kommunistischen Kulturpolitik, eine geradezu tragische Ambivalenz aufweist.

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Kunst als Wissen

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Struktur und Persönlichkeit. Die Lebensphilosophie G. Simmels und die GAChN Maria Candida Ghidini

Die Lebensphilosophie ist in Russland bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts relativ bekannt. Einer der aktivsten Vermittler zwischen ihr und dem russischen Denken ist wohl Semen Frank. Mir scheint es wichtig, diese ›Vorgeschichte‹ hervorzuheben, um die philosophische Tätigkeit der Staatlichen Akademie der Kunstwissenschaften in ihren eigenen Kontext zu setzen und um ihre organische Verbindung mit der Entwicklung des russischen Denkens dieser Zeit aufzuzeigen. Die Mitglieder der GAChN befinden sich nicht in einer entlegenen Zitadelle, in einem der eigenen Kultur fremden Raum; im Gegenteil, sie sind, obwohl höchst sensibel für Anregungen aus der internationalen Forschungsgemeinschaft, fest verwurzelt im Boden des eigenen Denkens. Paradoxerweise zeugt die Anwesenheit insbesondere solcher Autoren wie Dilthey und Simmel von der Spezifi k des russischen Denkens und von der Thematisierung der eigenen nationalen kulturellen Identität. Zur Unterstützung meiner These möchte ich den Standpunkt eines russischen Wissenschaftlers anführen, der sich intensiv mit dem deutschen Historismus und mit Dilthey als Hauptfigur beschäftigt hat: Aleksandr Michajlov1. Er geht davon aus, dass die Aneignung des deutschen Historismus durch die russische Kultur in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit der charakteristischen Fähigkeit des russischen Denkens in Zusammenhang steht, einen gewissen »Akt der Selbstbesinnung und der Neubesinnung«2 durchzuführen, der aus der starken ontologischen Orientierung des russischen Denkens resultiert und der russischen Kultur von ihrer Entstehung an eigen ist. Bezüglich des russischen Denkens ist jedoch die Rede von einem besonderen Ontologietyp, da hier »die Idee der Geschichtlichkeit mit dem Sein verschmolzen ist«3. Eine ähnliche Einstellung ist auch für Gustav Špet grundlegend, der angesichts seiner Teilnahme an der internationalen phänomenologischen Bewegung dieser russischen Denktradition auf den ersten Blick fremd erscheinen könnte. In der Tat deutet Špet den gesamten Substantialismus und Ontologismus des russischen Denkens um und begründet sie philosophisch neu. Dadurch fügt er eine neue Nuance der phänomenologischen Philosophie hinzu und begreift die Wirklichkeit als historische Wirklichkeit (in scharfem Kontrast zum Ahistorismus Husserls in der Vorkriegszeit).4 »Daher«, so Michajlov weiter, A.V. Michajlov: Sovremennaja istoričeskaja poėtika. Ebd., 452. 3 Ebd., 453. 4 Dies bemerkt bereits Boris P. Vyšeslavcev in seiner wohlwollenden Rezension zur Abhandlung Špets über Alexander Herzen. Laut Vyšeslavcev betritt Špet hier das Gebiet der Geschichts1 2

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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die Vereinigung von Phänomenologie und Psychologie und schließlich die durch außergewöhnliche Bedeutung gekennzeichnete und sich als wahrhaft prophetisch erweisende Synthese von Phänomenologie und Hermeneutik – was in der deutschen Philosophie und Wissenschaft erst wesentlich später erreicht wurde. 5

Michajlov spricht von einer ausgeprägten ontologischen Voraussetzung, die »es ihm [Špet] gestattet, auf der sozialen Ebene das zu behandeln, was in einigen Phänomenologieströmungen immerzu ein abstraktes, strukturell-logisches Problem der Intersubjektivität geblieben ist«6 . Špet sucht andere Richtungen des Denkens, mit denen er die phänomenologische Einstellung dort ›korrigieren‹ könnte, wo sie ihm unfähig scheint, solch wesentliche Fragen zu lösen wie die dem Sein und dem Leben ursprünglich zukommende Geschichtlichkeit und das in philosophischen Termini nur schwer artikulierbare Problem des personalen Prinzips des Subjekts. In diesem Sinne liegt es auf der Hand, dass in Špets Werk gerade in der GAChN-Zeit eine ›Kreuzung unterschiedlicher intellektueller Traditionen‹ stattfindet, unter denen verschiedene Varianten der Lebensphilosophie, insbesondere die von Simmel, eine nicht unwesentliche Rolle spielen.7 Bei einer Beschäftigung mit der Staatlichen Akademie der Kunstwissenschaften lohnt es sich, die Aufmerksamkeit auf die Person Simmels zu richten, wenn auch aufgrund jener besonderen Bedeutung, die bei ihm die Ästhetik gewinnt. Der deutsche Philosoph sieht die Ästhetik in der Tat als eine Disziplin an, die die Subjektivität des Geschmacks überwindet, und misst ihr ein gewisses gnoseologisches Primat gegenüber den übrigen Formen des Wissens bei. Das Primat des Ästhetischen bei Simmel entspricht dem heuristischen Primat der Oberfläche (sein Hauptthema ist die ›Sichtbarkeit‹) gegenüber der Tiefe. Im Rahmen dieser phänomenologischen Konzeption sui generis besitzt die Kunst eine doppelte ›Funktion‹: Einerseits zeigt sie anschaulich das Sein und erfasst es zugleich dank ihres gestaltenden Blicks in gesetz- und verstehensmäßiger Einheit. In diesem Sinne erweist sich die Kunst als besondere Verbindung von Individuellem und Allgemeinem als paradigmatisch für das gesamte menschliche und insbesondere historische Wissen. Bereits die intellektuelle Gemeinschaft, die sich um die Zeitschrift Russkaja Mysl’ [Das russische Denken] versammelt, verfolgt aufmerksam das Schaffen des deutschen Philosophen. Im Jahre 1909 erscheint im Sabašnikov-Verlag die Abhandlung philosophie, ein echtes Wirkungsfeld der russischen Philosophie. Der Kern des von Špet anhand der Figur Herzens aufgeworfenen Problems besteht in der Hinwendung zur konkreten Persönlichkeit, die sich in der Geschichte offenbart und das einzige Bollwerk gegen utopischen Fanatismus darstellt. B.P. Vyšeslavcev: Novosti russkoj fi losofii, 189. 5 A.V. Michajlov: Sovremennaja istoričeskaja poėtika, 453. 6 Ebd., 454. 7 Tatsächlich richtet Špet von Beginn seiner Forschungstätigkeit an die Aufmerksamkeit auf Simmel. Im Jahre 1903 hält er im Rahmen eines Seminars bei Prof. Čelpanov einen Vortrag über die moderne Soziologie, in welchem er Simmel als wichtigsten Denker behandelt und dessen Probleme der Geschichtsphilosophie zitiert (bereits 1898 in russ. Übersetzung veröffentlicht). G.G. Špet: Novejšie tečenija v social’noj nauke, 43.

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Religija. Social’no-istoričeskij ėtjud [Die Religion. Ein sozialhistorischer Versuch]. Frank selbst übersetzt im Jahr 1908 Simmels Aufsatz Kant und Goethe. Zur Geschichte der modernen Weltanschauung ins Russische8 , in dem Simmel Kant zu ›korrigieren‹ und dessen formale Philosophie mithilfe der ontologischen Ganzheit des Goethe’schen Ansatzes zu ergänzen scheint. Kant und Goethe werden hier als Gegensätze vorgestellt, als Beispiele für verschiedene Synthesen, zwischen denen das moderne Denken verurteilt ist zu schwanken, als zwei Pole, die Simmel skizziert, um die Komplexität des Realen zu demonstrieren, ohne sich vollständig nur einer Position zuzuschlagen. Frank kann aber Simmels Relativismus, der im Grunde der ganzen Neuzeit eigen ist, nicht akzeptieren. So versteht und rechtfertigt Simmel die religiöse Weltanschauung, indem er nicht von der Transzendenz ausgeht, sondern von der Tatsache, dass es zur Verfassung der menschlichen Seele gehört, das Bedürfnis nach dem Glauben zu haben. Für Frank ist jedoch eine solche Rekonstruktion des Glaubens aufgrund ihres Subjektivismus nicht in der Lage, die ontologischen und objektiven Philosophiekonzepte verständlich zu machen. Doch ist der Simmel’sche Ansatz immerhin bereits ein Anzeichen einer metaphysischen Wende und dadurch für die Probleme des modernen Denkens sehr symptomatisch. Frank greift diese Fragen in einer 1913 verfassten Rezension über Simmels im selben Jahr entstandenes Goethe-Buch erneut auf.9 Als Ausgangspunkt wählt er den Zusammenhang zwischen philosophischem System und Biographie: Simmels Methode besteht darin, die geistige Persönlichkeit des Denkers zu nehmen und mithilfe einer feinen Zergliederung und Verflechtung abstrakter Ideen die geistigen Motive zu umreißen, die das Werk des jeweiligen Denkers bestimmen – Motive, in Bezug auf die sich sowohl der abstrakte Inhalt der philosophischen Systeme als auch die biographischen Fakten des persönlichen Lebens gleichsam nur als abgeleitete und mehr oder weniger verzerrte Äußerungen erweisen, die einer klärenden und vereinigenden Auslegung durch psychologische Intuition bedürfen.10

Goethe wird hier als Muster einer organischen Beziehung zwischen persönlichem und objektivem Prinzip betrachtet. Er ist weder ein reines Lebensgenie noch ein reines Schaffensgenie, er ist auch nichts dazwischen, sondern ein seltener Fall einer vollständigen Verschmelzung dieser zwei Sphären. Frank, der Simmel vor dem Hintergrund der russischen Entwicklungen liest, weist auf die Ähnlichkeit des Goethe’schen Ideals mit dem Alexander Herzens hin.11 »Daher ist die Geisteswelt Goethes das fruchtbarste Gebiet zur Auffindung subjektiv-objektiver ideeller Wurzeln der menschlichen Weltanschauung«, so definiert Frank synthetisch die Spezifi k der philosophischen Arbeit Simmels.

8 9 10 11

G. Zimmel’: Kant i Gete. S.L. Frank: Zimmel’ i ego kniga o Gete. Ebd., 32. Ebd., 33.

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Das Interesse Simmels ist auf die Vielfalt der subjektiv-geistigen Wurzeln aller philosophischen Probleme und ihrer Lösungen gerichtet. Seine Sphäre ist das, was man am präzisesten als ›transzendentale Psychologie‹ bezeichnen kann, die Psychologie der geistigen Motive, die Analyse der ganzen Vielfalt jener ›Standpunkte‹ und ›Positionen‹, von denen aus das Bewusstsein, die subjektive Natur des Geistes auf das objektive Material des Seins reagiert, es an sich anpasst und es damit ›gestaltet‹. […] Die Philosophie ist für ihn die Kunst, sich inmitten der endlosen Vielfalt der geistigen Positionen des Subjekts in Bezug auf das Material des Seins zu orientieren […]; alle philosophischen Probleme werden von ihm nicht hinsichtlich ihres objektiven Gehalts untersucht, der unabhängig ist vom Geistesleben des sie wahrnehmenden Bewusstseins, sondern gerade als Ausstrahlungen von Energien der subjektiv-geistigen Sphäre; genauer gesagt ist ihr objektiver Inhalt selbst nichts anderes als eine bestimmte Form der Beziehung des Subjekts zu ihnen […].12

Frank zufolge stellt Simmels Buch ein epochales Werk dar, das imstande ist, die Tendenz des modernen Denkens zu erfassen und aufzuzeigen. Wenn Simmel noch immer zwischen Kant und Goethe schwankt, so führt doch der von ihm aufgezeigte Weg – so behauptet Frank – von Kant zu Goethe: Der Weg des modernen philosophischen Bewusstseins (was auch immer sein abstrakt-wissenschaft licher Ausdruck sei) führt von Kant zu Goethe. Die gesamte Philosophie Bergsons ist übrigens nur eine interessante Etappe auf diesem Weg. Simmels Buch spricht auf seine Art für die, die es hören können, über dasselbe.13

Somit führt der Entwicklungsweg der modernen Philosophie von Kant zu Goethe, über Bergson und Husserl: Diese Betrachtungen Franks erweisen sich im Hinblick auf die Evolution des philosophischen Denkens innerhalb der GAChN als geradezu prophetisch. In ihr wird gerade Simmel – und gerade in den Termini, mit welchen Frank über ihn sprach – zur Schlüsselfigur in der Auseinandersetzung mit einigen wesentlichen Themen: der Überwindung des Kantianismus, des Problems der Philosophie als System und insbesondere des persönlichen (und nicht bloß subjektiven) Charakters der konstitutiven Beziehung von Ich zur Welt.

Kunst als Form des persönlichen Wissens In Simmels Werk fi nden sich Kategorien und Konzeptionsansätze, die es den GAChN-Mitgliedern ermöglichen, diese theoretischen Probleme mit den spezifischen Interessen der Ästhetik zu verbinden. Dazu gehören die Anerkennung der besonderen kognitiven Bedeutung der ästhetischen Einstellung in der Kunst sowie 12 13

Ebd., 33–34. Ebd., 37.

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die Behauptung des erkenntnistheoretischen Primats der Ästhetik, die von Simmel beinahe als universales Wissensmodell angesehen wird. Darüber hinaus ist er in all seinen Arbeiten bestrebt, das ›individuelle Gesetz‹ zu finden, das ebenso prinzipiell und notwendig ist wie das universale Gesetz. Simmel wird auch von Špet aufmerksam studiert, der ihn mehrmals zitiert, u. a. in seinen Arbeiten über ethnische Psychologie und über die Kunst des Schauspielers.14 Besonders häufig wird jedoch Simmels Rembrandt-Buch zitiert, das in den Diskussionen der Akademie ohnehin eine sehr große Rolle spielt. In seiner Studie »Kunst als Wissensart« aus dem Jahre 1926/27 kehrt Špet zu dem für ihn so zentralen Thema der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Kunst zurück, insbesondere zum Thema des spezifischen Charakters des Wissens, das durch die Kunst erreicht wird. Das Špet’sche Resümee zur Position Simmels zeigt sehr deutlich das Maß der Übereinstimmung beider. Der deutsche Philosoph thematisiert die Grenzen einer Kunsttheorie, die sich zur Aufgabe macht, das Kunsterlebnis in Begriffe zu übersetzen, und stellt somit die Frage nach der Möglichkeit einer Theorie der Kunst. Špet behauptet zwar, dass die Kunst »sich prinzipiell nicht in die Wissenschaft übersetzen [lasse]«15, dass in ihr stets etwas übrig bleibe, das auf keine andere Weise erreichbar und insbesondere nicht mit Begriffen definierbar ist. Doch darüber sprechen wir gerade mithilfe von Begriffen. Simmel und Špet, der ihm hier folgt, schlagen zwei Wege vor, um diese anscheinend unlösbare Aufgabe zu bewältigen: 1. den historischen Weg (»Erläuterung der Entstehungsbedingungen eines Kunstwerks, sowohl der persönlichen wie auch der sozialen«16) und den formalen Weg (2. »das Kunstwerk selbst hinsichtlich seiner Gestaltung und deren Wirkung, d. h. Anordnung, Einteilung, Raum, Farben, Rhythmus, Metrum und dergleichen, aber natürlich auch hinsichtlich seines materiellen Inhalts«17). Freilich fehlt es diesen beiden Standpunkten an ›direktem Kunsterlebnis‹, welches man nach Simmel auf einem ›dritten Weg‹ ›verstehen‹ kann, der die zwei anderen einschließt: auf dem philosophischen Weg.18 Simmel zufolge (und dies muss die Aufmerksamkeit Špets auf sich ziehen) beruht dieser Weg auf der Korrelation zwischen dem ästhetischen Objekt und dem Erlebnis G.G. Špet: Vvedenie v ėtničeskuju psichologiju, 484. G.G. Špet: Teatr kak iskusstvo, 28. G.G. Špet: Iskusstvo kak vid znanija, 120 (Hervorhebung im Orig.). 16 Ebd. 17 Ebd. (Vgl.: »Den wissenschaft lichen Versuchen, das Kunstwerk zu deuten und auszuwerten, sollte die Entscheidung zwischen zwei Wegerichtungen zugrunde liegen. […] [D]ie analytische Richtung [geht] gleichsam abwärts. Sie sucht einerseits nach den geschichtlichen Bedingungen, die das Werk sich in die Entwicklung der Kunst verständlich einordnen lassen; sie gewinnt andrerseits aus dem Kunstwerk seine einzelnen Wirkungsfaktoren heraus: die Straffheit oder Lockerung der Form, das Schema der Komposition, die Ausnutzung der Raumdimensionen, die Farbengebung, die Stoff wahl und vieles andere.« [G. Simmel: Rembrandt, V.]) 18 G. Simmel: Rembrandt, VIf. (»[hinter der analytischen] beginnt eine andere Direktive der Betrachtung, die man die philosophische nennen mag. Sie setzt das Ganze des Kunstwerks, als Dasein und Erlebnis, voraus und sucht dieses nun in die ganze Weite der seelischen Bewegtheit, in die Höhe der Begriffl ichkeit, in die Tiefe der weltgeschichtlichen Gegensätze einzustellen.«). 14

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des Subjekts. In der Annahme, bei dieser Korrelation handele es sich um eine »intentionale und nicht reale Beziehung«19, lassen Špet und seine Kollegen an der GAChN im Jahre 1927 die Gefahr des Psychologismus und Subjektivismus außer Acht. Für einen Phänomenologen ist es geradezu selbstverständlich, dass die fundierende Beziehung des ästhetischen Gegenstands und des ästhetischen Erlebnisses, die Beziehung zwischen Sein und Intentionalität, keineswegs auf eine rein psychologische Deutung reduzierbar ist. Daher verwendet Špet anstelle damals gängiger Termini wie ›psychologisch‹ und ›subjektiv‹ das Wort ›persönlich‹ (ličnoe) und präzisiert, dass er hier nicht nur das empirische Individuum im Blick habe, sondern ein gewisses ›zusätzliches Etwas‹, dass die individuelle Persönlichkeit charakterisiert. Walzel sieht die ›Gefahr‹ dieses letzten Weges in der ›persönlichen Auslegung‹. Selbstverständlich existierten diese Gefahren, und obendrein in einem nicht geringeren Maße als für die ersten zwei Wege. Doch kann man behaupten, dass in beiden Fällen ›persönlich‹ dasselbe bedeutet? Oder müsste man sich nicht vielmehr Folgendes fragen: ob ›persönlich‹ im zweiten Fall, d. h. wenn die Rede vom Erkennen des Kunstwerks in seiner Ganzheit ist, dasselbe ist wie auch beim empirischen, kunstwissenschaft lichen Erkennen, oder ob es noch mehr enthält, etwas, das im Letzteren nicht enthalten ist. Eine solche Zergliederung ist legitim, weil es diesen Unterschied in der Erkenntniseinstellung selbst gibt. Nun ergibt sich daraus ganz von selbst auch unser eigentliches Problem: Wenn dieses zusätzliche Etwas im Kunstwerk existiert, erfasst man es ebenso in Begriffen und folglich objektiv – was für ›persönliche Deutungen‹ man auch von ihm vornimmt, das Erkennbare selbst bleibt doch prinzipiell objektiv –, oder es ist eine besondere Art der Erkenntnis – eine ›persönliche‹ –, nicht wegen der ›Gefahr‹, die ja überall besteht, nicht infolge eines Zufalls oder einer Laune, sondern eine prinzipiell ›persönliche‹, prinzipiell nicht auf das objektive Verständnis zu reduzierende.20

Daraus folgt, dass das ästhetische Wissen hauptsächlich ein persönliches Wissen par excellence ist, das Modell und Paradigma jeder personalistischen Deutung der Frage nach dem Wissen. Somit ist es nicht verwunderlich, dass Simmel den Wissenschaft lern an der GAChN produktive Impulse in einer ganzen Reihe mit der Frage nach der Persönlichkeit verbundener Themen bietet: Biographie, expressive Formen (die Expression blieb einer der problematischsten Punkte der Špet’schen Semiotik, wie sie in den Ästhetischen Fragmenten entfaltet wurde), Porträt, Schauspieler. Jede dieser Fragen ist mit anderen verbunden und stellt die allgemeine semiotische Theorie, die an der Akademie erarbeitet wurde, gewissermaßen auf den Prüfstand.21 N.I. Žinkin: Problema ėstetičeskich form, 16. G.G. Špet: Iskusstvo kak vid znanija, 121. 21 Die zentrale Bedeutung des Themas der Persönlichkeit in der Kunstphilosophie ergibt sich bereits aus den Zielsetzungen der Philosophischen Abteilung der GAChN und ihrer verschiedenen Kommissionen: »Es entstanden zwei Planungsentwürfe, die sich knapp so formulieren lassen: Der erste Plan fächert sich in eine Reihe von Themen auf: a) Das Problem der Darstellung von Persönlichkeit in der Kunst – Porträt, Biographie, Charakteristik der Persönlichkeit in Belletristik, Mu19

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Einige Simmel ’sche Themen in der Reflexion der GAChN Es ist offensichtlich, dass man von Simmel jene Elemente übernimmt, die den Forschungsinteressen der Akademie entsprechen. Man könnte sagen, dass Simmel durch Špet als eine Weiterentwicklung einiger von dem russischen Philosophen bereits entworfener Forschungslinien rezipiert wird. An dieser Stelle soll der Versuch unternommen werden, einige dieser Themen zu skizzieren.

1. Die Sprache der Dinge. Der Schein Die Simmel ’schen Exkurse in das Feld der Ästhetik haben jedoch eine über die Ästhetik hinausgehende Bedeutung. Seine fundamentalen Schriften über Michelangelo, Rodin und insbesondere über Rembrandt gehören in die letzte Periode seines Lebens, doch sein Interesse für die Kunst ist von den ersten Essays an vorhanden. In diesem paradigmatischen Sinne tritt die Ästhetik als Umwandlung eines Unsichtbaren, Geistigen in eine sichtbare, ertastbare Form auf: Diese Metamorphose überführt den impliziten Sinn des Seins auf die phänomenologische Ebene, drückt ihn in der Kontingenz des Daseins aus. In seiner Analyse weist Simmel der bildenden Kunst eine besondere Rolle zu, und dies erscheint ungewöhnlich für die russischen philosophischen Kreise, die eher literaturzentristisch ausgerichtet sind. Dagegen ist es nicht verwunderlich, dass Simmel für die GAChN eine große Bedeutung erhält, insbesondere für solche Autoren wie Aleksandr Gabričevskij, die sich mit räumlichen Künsten beschäft igen. Innerhalb der Akademie dringen klassische ›simmelianische‹ Themen wie Porträt, Landschaft, Karikatur, Bildrahmen, Schauspieler, sowie Reflexionen zu Rembrandt und Goethe tief in die Arbeiten der verschiedenen Kommissionen und die Diskussionen der Forscher darin hinein, und prägen auch die Terminologie ihrer Analysen, wie sie in den Artikeln für die an der Akademie vorbereiteten kunstwissenschaft lichen Begriffslexika greifbar ist. Darüber hinaus enthält Simmels Werk, zusammen mit den Vertretern der deutschen formalen Schule, aus der Perspektive der GAChN-Mitglieder einige prinzipielle methodische Hinweise. Die ›Sichtbarkeit‹ in den bildenden Künsten erhebt Simmel und die Kunsttheoretiker an der GAChN zum Modell der Erkenntnis der individuellen Phänomene überhaupt, denn sie überwindet das Vorurteil von der Trennung des Inneren und Äußeren. In der Sichtbarkeit kommt die differenzierte Struktur der ›Sprache der Dinge‹, deren Semiotizität, d. h. deren Fähigkeit, sich dem gestaltenden Blick des Subjekts darzubieten, vollständig zum Ausdruck.

sik, Architektur Theater usw., b) Die angewandten Künste – Kunstindustrie, Kleidung, Wohneinrichtung usw., c) Die Traditionen in der Kunst, d) Das Problem der Übertragung der Wertungen in der Kunst. […]« (Bjulleteni GAChN [1925], 2–3, 30.)

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In dieser Auffassung des Sichtbaren stimmen die GAChN-Mitglieder mit Simmels Thesen beinahe wörtlich überein. Nikolaj Volkov zum Beispiel behauptet, dass ein Ding sowohl für das mythische Bewusstsein als auch für die Kunst stets mehr ist als ein bloßes Ding, dass es ein Zeichen par excellence ist, denn »es ist die Eigenschaft des Zeichens, durch sich selbst nicht sich selbst erscheinen zu lassen und in sich selbst nicht sich selbst zu verkörpern«22 . Gabričevskij hingegen skizziert den Übergang vom Ding-Mittel (in dem das Ding schweigt) zum Ding-künstlerischen Gegenstand (in dem das Ding spricht) mittels einer ›inaktuellen‹ Anschauung, die der »sinnlichen Abstraktion« bei Simmel verwandt ist.23 »Und all dies offenbart sich uns in seinem Äußeren. […] Ich meine das unzweifelhafte Primat des Auges und der Sehwahrnehmung in unserer Vorstellung von der Welt.«24 Die Welt ist vor allem dem Sehen gegeben, dies ist ein ursprüngliches anthropologisches Faktum. Durch die Sichtbarkeit zeigt sich die reiche Struktur der ›Sprache der Dinge‹. Daraus ergibt sich die Einsicht in jenen paradigmatisch privilegierten Status der bildenden Künste, die die GAChN-Mitglieder bei Simmel rezipierten.

2. Porträt und Biographie Die Frage nach der Persönlichkeit tritt in diesen Jahren auch in der Kunst als zentrale Frage in den Vordergrund, wie Žinkin in seinem Aufsatz über die »Porträtformen« anmerkt.25 Die Rede ist von einer eng mit der Frage der Expression und der Subjektivität verbundenen Problematik. Der Antipsychologismus, der die Špet’sche Betrachtung und seine ›Schule‹ bis zum Beginn der zwanziger Jahre charakterisiert, verliert in den folgenden Jahren seine Aktualität und seine polemische Kraft. Er wird nicht negiert, doch mit der Zeit wächst das Bewusstsein, dass er die Suche nach dem Schnittpunkt des psychologischen und des semiotischem Bereichs nicht behindern dürfe, die Suche nach dem Ort, an welchem sich vor allem innerhalb der Sprache und dann der Kunst sinnliche Gegebenheit mit Sinn vereinigt. »Das Thema des Porträts ist der Mensch. Das Porträt ist die Form vorzugsweise der humanitären Kunst«.26 In seinem für das Lexikon der Kunstterminologie verfassten Artikel resümiert Tarabukin auf diese Weise die Forschungen und Diskussionen der Akademie über das (Simmel ’sche!) Thema des Porträts und versucht sich in der Definition, was dieses Porträt ist und welcher Art ein echtes Porträt sein soll. Fragestellung und Antwort sind ebenfalls ganz nach Simmel geraten: Das Porträt sei Ausdruck des »Persönlichen, einer unverwechselbaren Eigenart«. In diesem Sinne könne man sagen, dass das Porträt charakteristisch für die Neuzeit sei, weil die Antike N.N. Volkov: Značenije ponjatija ›izobraženija‹, 197 (»это знаку присуще давать через себя не самого себя и разрешать в себе не самого себя«). 23 A.G. Gabričevskij: Jazyk veščej, 36. (vgl. G. Simmel: Das Problem des Portraits, 97). 24 Ebd., 37 25 N. Žinkin: Portretnye formy, 20. 26 N.M. Tarabukin: Portret, 323 (Hervorhebung im Orig.). 22

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lediglich Stilisierung, Konvention und universale Typisierung kenne. Der Schlüssel zur Neuzeit hingegen ist laut Tarabukin die Individualität, und als ›Wasserscheide‹ nennt er hier Rembrandt. Dieser Lexikonartikel Tarabukins liest sich gewissermaßen wie das Inhaltsverzeichnis des Sammelbandes der GAChN über das Porträt mit dem Titel Die Porträtkunst: Er weist auf den Zusammenhang zwischen Porträt und Biographie hin, auf das besondere Verfahren des Porträts, Zeit auszudrücken, und er stellt das Problem der Beziehung des Künstlers zur dargestellten Person in den Vordergrund, denn das Porträt als Zusammentreffen zweier Subjektivitäten nähert sich dem Thema des Subjekts, indem es dieses Thema gleichsam ins Quadrat setzt. Der Sammelband über das Porträt ist eine der am meisten ›simmelianisch‹ geprägten Publikationen der GAChN und emblematisch für die für diese Veröffentlichungen spezifische Lektüre Simmels im Rahmen der Špet’schen Konzeption. In allen Beiträgen des Bandes ist eine gewisse ›semiotische Einstellung‹ zu merken, die bei Simmel eigentlich fehlt. Die klassischen Simmel’schen Themen erweisen sich bei näherer Betrachtung als mit der Brille der semiotischen Theorie Špets gelesen. Folglich treten in allen Aufsätzen des Buches die Schlüsselbegriffe ›Ausdruck‹, ›Darstellung‹ und ›Erlebnis‹ auf. Sie alle berühren die Grundfrage des Verhältnisses zwischen Zeichen und Realität. Als ›Ausdruck‹ (vyraženie) wird der ursprüngliche Akt der Referenz bezeichnet, der Begriff verweist auf die Beziehung zum Gegenstand (d. h. er setzt die Existenz des Seins voraus und bekräft igt sie); ›Darstellung‹ (izobraženie) meint die Beziehung zwischen den Objekten (zwischen Sein und Kunstwerk); ›Erleben‹ (pereživanie) schließlich ist der Beginn dieser Beziehungen und der besondere Beitrag des Subjekts zu diesem Prozess.27 Themen der Simmel ’schen Überlegungen zu Rembrandt sind Zeit, Bewegung, Form und vor allem Individualität. Das Rembrandt’sche Porträt strebt nicht nach dem Typischen wie das der Renaissance, sondern es versucht, die Dynamik der Zeit selbst zum Ausdruck zu bringen, das Leben als fließende Einheit in seinen verschiedenen temporalen Dimensionen wiederzugeben. Jede Bewegung, jede Geste stellt als solche eine Einheit dar. Ausgehend vom Problem der bei Rembrandt vorhandenen In seinem Buch über die Biographie definiert Vinokur das Erlebnis als eine »prädizierende innere Form«, als eine Struktur, die die Biographie fundiert, d. h. als jene reflektierende Umwandlung des Lebensstroms in eine mit Sinn ausgestattete Einheit (G.O. Vinokur: Biografija i kul’tura, 41). Ich erlaube mir hier, auf meine Artikel zu diesem Thema zu verweisen: Problema ličnosti meždu fenomenologiej i istoriej, sowie: Trois publications du Département de Philosophie du GAKhN. Auf den Begriff der ›Darstellung‹ (izobraženie) als Grundbegriff der bildenden Künste geht insbesondere Gabričevskij ein. In seinem diesem Thema gewidmeten Artikel für das Lexikon der Kunstterminologie schreibt er, dass in gewissem Sinne jedes Kunstwerk in seiner Eigenschaft als anschauliches, sichtbares und betrachtbares Zeichen eine Darstellung ist. Das Kunstwerk schafft demnach eine Wirklichkeit sui generis, die jedoch kraft ihrer konkreten Fühlbarkeit stets in Bezug auf die natürliche Wirklichkeit wahrgenommen wird. Laut Gabričevskij sind verschiedene Äußerungen einer solchen Beziehung zwischen Kunst und Realität zu verzeichnen, von der passiven oder genauen Nachahmung bis hin zur vollständigen Überwindung oder gar Negation der Natur im System der abstrakten Formen. Vgl. A.G. Gabričevskij: Izobraženie. 27

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Polarität des Elements des Lebens und des Elements der Form, ist Simmel bemüht, diesen Widerspruch zwischen Leben und Form zu überwinden, der auch sein gesamtes Denken durchzieht. Für den niederländischen Künstler ist die Form die Offenbarung des Lebens in seiner Individualität; sie ist niemals vom Inhalt getrennt und bildet die Logik der Erscheinung. Der vom Künstler erfasste Augenblick, in dem sich das gesamte Leben verdichtet, verkörpert die Bergson’sche durée.28 Simmel interpretiert die Arbeit des Porträtmalers gleichsam auf die goetheanische Art und Weise: Die von ihm geschaffene Individualität ist gewissermaßen ein ideales Wesen, in dem sich verschiedene Momente des Werdens entfalten, aber ohne sich im Strom aufzulösen, sondern als innere Struktur. Ich möchte an dieser Stelle den Begriff der ›inneren Form‹ gebrauchen. In diesem Zusammenhang sind Simmels Bemerkungen über die Karikatur interessant (ein auch in den Arbeiten der GAChN-Autoren ausführlich behandeltes Thema).29 Hier herrscht erneut der morphologisch-goetheanische Ansatz vor: Die Identität besteht aus einem Spiel zwischen den Teilen und dem Ganzen, deren Gleichgewicht die Karikatur gewissermaßen stört. Eine Voraussetzung für die Karikatur ist somit die so genannte Einheit der Persönlichkeit, die als Hintergrund, als ihre innere Form bestehen muss, die Simmel direkt nach Goethe folgendermaßen definiert: »Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.«30 Laut Simmel ist die Karikatur eine Störung der inneren Form, ein auf eine Weise angeborenes Risiko, das uns allen aufgrund unseres zerbrechlichen Gleichgewichts zwischen Entwicklung und Identität eigen ist. Simmel spricht viel über dieses geistige Element, das die bloße Biographie transzendiert und sich als wahrer Kern der Persönlichkeit erweist. Solch eine strukturelle Einheit wird von ihm auch als ›Schicksal‹ bezeichnet; sie kann nicht auf eine Aneinanderreihung von Fakten reduziert werden, sondern sie hat zu tun mit jenem Sinnzusammenhang des Lebens, der unser Leben im Lichte der Interpretation konstituiert.31 Einen solchen Kern eben versucht Simmel in seiner Rekonstruktion der Lebensgeschichte Goethes zu erfassen. Eine auf ähnliche Weise grundlegende Behandlung des Problems einer Geschichte des persönlichen Lebens Simmel unterstreicht wiederholt die Bedeutung Bergsons. Insbesondere in seiner 1914 entstandenen Skizze »Henri Bergson« liefert er eine ausführliche Charakteristik zu Bergsons Denken. In seinen Abhandlungen über Bergson weist Simmel auf die Nähe ihrer beider Auffassung vom Leben hin und darauf, dass bei dem französischen Denker vor allem der Versuch, die Diskrepanz zwischen dem Werden und der Form zu überwinden, zentral ist. Gerade die Verweise auf die Bergson’sche Vorstellung von der Zeit als Dauer und auf die Simmel’sche Konzeption des Werkes Rembrandts fi ndet man in verschiedenen Artikeln des Lexikons der Kunstterminologie. Hier sind z. B. die Artikel Achmanovs und Nedovičs über die Zeit zu nennen (I.M. Čubarov (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov, 100–101 bzw. 101–105), oder auch einige Notizen Gabričevskijs zu diesem Thema, insbesondere der Text »Vremja v prostranstvennych iskusstvach. Tezisy iskusstva« (A.G. Gabričevskij: Morfologija iskusstva, 168), in welchem er die Spezifi k des künstlerischen Gegenstands als »Realität, die eine vollständige Einheit von Sein und Werden ist«, bezeichnet. 29 G. Simmel: Über die Karikatur. A.G. Gabričevskij: Karikatura. 30 G. Simmel: Über die Karikatur, 94. 31 Ders.: Das Problem des Schicksals. 28

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»in seiner ideellen Einstellung« finden wir in Grigorij Vinokurs Abhandlung Biographie und Kultur, der unter ›Schicksal‹ eine solche Lebenseinheit versteht, die der Mensch in ihrer inneren Struktur zu verstehen fähig ist.32

3. Die isolierte Kunst: Der Rahmen und der Henkel Die komplizierten Wechselbeziehungen von Kunst und Leben, das Spiel des Einschließens und des Ausschließens sind das Thema zahlreicher Werke Simmels, insbesondere einiger den GAChN-Mitgliedern wohl bekannter Skizzen wie »Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch« (1902), »Brücke und Tür« (1909) und »Der Henkel« (1911). In seinem Essay über den Rahmen betrachtet Simmel die Frage der Spezifi k des ästhetischen Bereichs einerseits im Verhältnis zum realen Bereich des Lebens und andererseits im Verhältnis zum logisch-erkenntnistheoretischen Bereich: Durch den Rahmen »schließt sich« das Kunstwerk, »als eine Welt für sich, gegen alles ihm Äußere ab.«33, und »in einem Akte« wird »die Gleichgültigkeit und Abwehr nach außen und der vereinheitlichende Zusammenschluß nach innen« ausgeübt34, so dass das Kunstwerk »ein Ganzes für sich« konstituiert, »was sonst nur die Welt als ganze oder die Seele sein kann: eine Einheit aus Einzelheiten«35. Der Akt der Isolierung oder des Entrückens ist seinem Wert nach ein aktiver Willensakt des schaffenden Subjekts. Folglich existiert einerseits das isolierte, entrückte Sein der Kunst als eine autonome Einheit, die sich in eine Insel verwandelt hat, so Vasilij Zubov in seinem von Simmel inspirierten Artikel »Isolation« für das Lexikon der Kunstterminologie36 , in welchem er außer dem Rahmen noch weitere für die Kunst wesentliche Faktoren aufzählt, die ebenfalls eine Isolation gewährleisten: die Theaterbühne und den Sockel der Statue; somit baut er Simmels Analyse aus. Geschlossenheit in sich, Entrückung und Isolation sind auch Gabričevskij zufolge gleichsam ein erstes Anzeichen für die Anwesenheit des Künstlerischen. Es ist »das erste morphologische Anzeichen, das es uns erlaubt, anhand einer Reihe von Negationen sofort das entsprechende Produkt auszuwählen«37. Die Grenzen des Kunstwerks stellen sich als Mauer und Schutz der Welt der symbolischen Formen vor der äußeren Welt dar, und zugleich als eine Synthese, die den inneren Inhalt in einer geschlossenen Struktur vereint. Letzten Endes ist das Entrücken das konstitutive Moment des Ästhetischen. Ich erinnere daran, dass Špet den Begriff des ›Entrückens‹ (otrešenie) erst in den ästhetischen terminologischen Gebrauch einführt: 32 33 34 35 36 37

G.O. Vinokur: Biografija i kul’tura, 64. G. Simmel: Der Bildrahmen, 46. Ebd., 47. Ebd., 46. V.P. Zubov: Izoljacija. A.G. Gabričevskij: Esli fi losofija iskusstva’, 50.

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Da ich mit keinem dieser Termini zufrieden bin, weil sie Äquivationen oder nebensächliche, größtenteils psychologische Zutaten enthalten, erlaube ich mir, zur Bezeichnung des genannten neutralen Bereichs des gegenständlichen Seins einen besonderen Terminus einzuführen: das entrückte Sein. Mit dem Wort ›Sein‹ in dem Terminus möchte ich unmittelbar auf seine ontologische Bedeutung und Stellung hinweisen, und mit dem Wort ›entrückt‹ will ich jene Tendenz der Entfernung von einer pragmatischen Wirklichkeit und ihrer ›Idealisierung‹ unterstreichen, mit der in erster Linie auch die Einstellung auf diesen Bereich sui generis defi niert wird.38

Bereits bei Simmel dienen Isolation und Neutralisierung der pragmatischen und konzeptuellen Bedürfnisse der Erzeugung einer neuen Sichtweise und stellen dadurch die erkenntnisttheoretische Spezifik der Kunst dar. Gabričevskij entwickelt sein Denken in die gleiche Richtung und sieht den Rahmen als eine besondere Grenze an, als Weigerung des Kunstwerks, sich der Ordnung der ›großen Welt‹ zu fügen, und daher als Bestätigung seiner »Vollständigkeit«. Doch der Begriff der Grenze selbst ist ein doppelter, er hat sowohl einen äußeren als auch einen inneren Aspekt. Und in der Tat kehrt Simmel in der Skizze »Der Henkel« den Standpunkt des Rahmens um und stellt die Frage nach den verschiedenen Zielen der Kunst, die, neben der rein ästhetischen, auch eine praktische Verwendung finden kann. Die Beschäftigung mit den angewandten Künsten wird auch an der GAChN als hoch aktuell betrachtet, da sie nicht allein den theoretischen Interessen der Akademie, sondern auch einem bestimmten sozialen Auftrag entspricht. Der Henkel der Vase ist das Symbol für die Zwiespältigkeit des künstlerischen Gegenstands und zugleich ein Hinweis auf das Problematische einer solchen Zwiespältigkeit: Der ästhetische Raum ist durch den Bildrahmen vom gestaltlosen Strom der Erfahrung isoliert. Dagegen befindet sich der reale Gegenstand in einer immerwährenden Verbindung mit der ihn umgebenden Umwelt, er ist Teil eines unendlichen continuum. Die Vase ist gleichsam Symbol für diese doppelte Zugehörigkeit: Sie ist ein künstlerisch gestalteter Gegenstand, hat jedoch gleichzeitig auch eine praktische Funktion und rückt durch ihren Henkel in den Raum des realen Lebens vor. Diese Zwiespältigkeit eben wird durch die Forscher der GAChN explizit thematisiert, insbesondere in den kunstwissenschaft lichen Diskussionen über das Verhältnis des Ästhetischen und des Künstlerischen, denn ein solcher Grenzstatus, eine solche doppelte Zugehörigkeit zu zwei Dimensionen wird in diesen Diskussionen als das Spezifi kum des Künstlerischen gegenüber dem Ästhetischen hervorgehoben. Der ganze Unterschied liegt darin, dass der Rahmen des autonomen künstlerischen Produkts gleichsam jene magische Geste ist, durch welche es sich aus dem Übrigen herauslöst, das Produkt der so genannten angewandten Kunst dagegen die Spur zweier entgegenkommender Gesten ist, die eine vollwertige künstlerische Gesättigtheit und Ausdruckskraft erreichen können. […] [M]an kann sagen, dass ähnlich dem, 38

G.G. Špet: Problemy sovremennoj ėstetiki, 314 (vgl. dt. Übersetzung in diesem Band, 368.)

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wie jedes künstlerische Produkt von uns, wenn auch gedanklich, eingerahmt wird, auch jeder lebende natürliche Körper bei seiner Begegnung mit seinem Anderssein eine gewisse Umrahmtheit oder Zusammengesetztheit erzeugt, die allein durch ihren Grenzcharakter die Potenz künstlerischer Ausdruckskraft in sich trägt.39

Der Henkel ist der Teil der Vase, mit dessen Hilfe die Vase in die Hand genommen wird, durch den die Vase in die Welt der Realität vorrückt. Er verbindet die Vase mit dem Leben jenseits der Kunst. Die Welt der Schönheit und die Welt des Nutzens sind heterogen, doch sie müssen ebenso kommunizieren wie die menschliche Seele, die beiden Welten zugehörig ist. Der theoretische Diskussionsrahmen der Akademie wird auf der Grundlage der Špet’schen Ästhetischen Fragmente und seiner »Probleme der modernen Ästhetik« entwickelt. Bei der letzteren Arbeit handelt es sich ursprünglich um einen programmatischen Vortrag, den Špet am 16. März 1922 in der Philosophischen Abteilung der Akademie (damals noch RAChN) hält und in welchem er über die Stellung der Ästhetik als selbständige Disziplin spricht und versucht, die Grundlagen für eine ›positive‹ Ästhetik als Bereich eines exakten, philosophisch fundierten Wissens zu schaffen. Doch das Problem der Ästhetik und der Rolle der Kunst hat keinen rein theoretischen Charakter, es ist durch die historische und kulturelle Situation der Zeit bestimmt. Als staatliche Institution muss die Akademie ihre Position in der Mitte der zwanziger Jahre herrschenden scharfen Polemik zwischen Formalisten und Vertretern der soziologischen Schule definieren. Eine Besonderheit der Position, die die Mitglieder der Philosophischen Abteilung der Akademie dabei einnehmen, ist das ständige Bestreben, diese Fragen auf die Ebene der Prinzipien zu heben, indem man sie jenseits der Grenzen des politisch-kulturellen Diskurses des neuen sowjetischen Staates behandelt. Eine solche Verflechtung aktueller Fragen und theoretischer Probleme zeichnet die Position Gabričevskijs aus. Indem er die Kunst als einen »besonderen Bereich des Seins und besonderen Typus menschlichen Schaffens«40 definiert, geht er von der phänomenologisch-husserlianischen Konzeption der Polarität des ästhetischen Gegenstands und Akts aus und formuliert sie mit Simmel ’schen Begriffen wie dem des Gegensatzes von Form und Geschichte, von Sein und Werden, von Struktur und Persönlichkeit um. Gabričevskij zufolge erweisen sich Struktur und Geschichte – die zwei Richtungen, in welche die neue Kunstwissenschaft gleichsam auseinanderbricht – als konstitutiv für den Gegenstand dieser Wissenschaft, da sie die der Kunst eigene besondere Dialektik der Geschlossenheit und Offenheit manifestieren, für die die Existenz der in der Kunst anwesenden ›umrahmten‹ Welt und des in die Welt hineinreichenden Henkels steht, um erneut Simmels Beispiele zu gebrauchen. Der besondere Simmel ’sche Ansatz, nicht ein System, sondern eine »funktionale 39 40

A.G. Gabričevskij: Esli fi losofija iskusstva’, 52. A.G. Gabričevskij: Novaja nauka ob iskusstve, 25.

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Philosophie«41, spielt hier also eine prinzipielle Rolle. Auf diese Weise bleiben beide Ansätze – der Husserl ’sche eudetisch-gegenständliche und der Simmel’sche kulturhermeneutische – dynamisch miteinander verbunden und besitzen für die GAChN gleichermaßen große Bedeutung. Aus dem Russischen übersetzt von Shirin Sariya Schnier

Literatur Bjulleteni GAChN [Bulletins der GAChN]. Moskau 1925, H. 2–3 Čubarov, Igor’ M. (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov. GAChN. 1923–1929 [Lexikon der Kunstterminologie. GAChN. 1923–1929], Moskau 2005 Frank, Semen L.: Zimmel’ i ego kniga o Gete [Simmel und sein Buch über Goethe], in: Russkaja mysl’ [Das russische Denken] 1913, H. 3, 32–36 Gabričevskij, Aleksandr G.: Esli fi losofija iskusstva’ [Wenn eine Philosophie der Kunst’], in: ders.: Morfologija iskusstva, 48–51 – Izobraženie [Darstellung], in: I.M. Čubarov (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov. GAChN. 1923–1929, 192–198 – Jazyk veščej [Die Sprache der Dinge], in: ders.: Morfologija iskusstva, 31–39 – Karikatura, in: I.M. Čubarov (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov. GAChN. 1923– 1929, 224–226 – Morfologija iskusstva [Morphologie der Kunst], Moskau 2002 – Novaja nauka ob iskusstve. Nabrosok [Die neue Kunstwissenschaft . Ein Entwurf], in: ders.: Morfologija iskusstva, 25 f. – Teorija i fi losofija iskusstva [Theorie und Philosophie der Kunst], in: ders.: Morfologija iskusstva, 188–211 Ghidini, Maria C.: Problema ličnosti meždu fenomenologiej i istoriej. Vlijanie Gustava Špeta na raboty Grigorija Vinokura dvadcatych godov [Das Problem der Persönlichkeit zwischen Phänomenologie und Geschichte. Der Einfluss Gustav Špets auf Grigorij Vinokurs Arbeiten der zwanziger Jahre], in: O.G. Mazaeva (Hg.): Špet i filosofija XX veka [Špet und die Philosophie des 20. Jahrhunderts], Tomsk 1999, 163–174 – Trois publications du Département de Philosophie du GAKhN, in: Slavica Occitania 26 (2008), 109–125 Michajlov, Aleksandr V.: Sovremennaja istoričeskaja poėtika i naučno-fi losofskoe nasledie Gustava Gustavoviča Špeta [Die moderne historische Poetik und das wissenschaftsphilosophische Erbe Gustav Gustavovič Špets], in: ders.: Izbrannoe. Istoričeskaja poėtika i germenevtika [Ausgewähltes. Historische Poetik und Hermeneutik], Sankt Petersburg 2006, 451–458 Simmel [russ.: Zimmel’], Georg: Brücke und Tür, in: Der Tag. Moderne illustrierte Zeitung, Nr. 683, 15. September 1909, 1–3

Diese Defi nition stammt von Gabričevskij aus einer Vorlesung vom 10. Dezember 1923 an der Moskauer Universität (A.G. Gabričevskij: Teorija i fi losofija iskusstva, 195–196). 41

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– Das Problem des Portraits, in: ders.: Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze, Potsdam 1922, 96–110 – Das Problem des Schicksals, in: Die Geisteswissenschaften, 1. Jg., H. 5 (29. Oktober 1913), 112–115 – Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch, in: ders.: Zur Philosophie der Kunst, Potsdam 1922, 46–54 – Der Henkel, in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essays, Leipzig 1911, 116–124 – Henri Bergson, in: ders.: Zur Philosophie der Kunst, Postdam 1922, 126–145 – Kant i Gete. K istorii sovremennogo mirovozzrenija [Kant und Goethe. Zur Geschichte der modernen Weltanschauung], in: Russkaja mysl’ [Das russische Denken] 1908, H. 6, 41–67 (dt. Original: Kant und Goethe. Zur Geschichte der modernen Weltanschauung, Berlin 1906) – Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, Leipzig 1919 – Über die Karikatur, in: ders.: Zur Philosophie der Kunst, Potsdam 1922, 87–95 Špet, Gustav G.: Problemy sovremennoj ėstetiki [Probleme der modernen Ästhetik] (1923), in: ders.: Iskusstvo kak vid znanija, 288–322 – Iskusstvo kak vid znanija. Izbrannye trudy po filosofii kul’tury [Kunst als Wissensart. Ausgewählte Schriften zur Kulturphilosophie], hg. von T. Ščedrina, Moskau 2007 – Novejšie tečenija v social’noj nauke [Neueste Strömungen in der Sozialwissenschaft], in: ders.: Filosofskaja kritika. Otzyvy, recenzii, obzory [Philosophische Kritik. Gutachten, Rezensionen, Referate], Moskau 2010, 34–51 – Teatr kak iskusstvo [Theater als Kunst], in: ders.: Iskusstvo kak vid znanija, 394–411 – Vvedenie v ėtničeskuju psichologiju [Einführung in die ethnische Psychologie] (1927), in: ders.: Philosophia Natalis. Izbrannye psichologo-pedagogičeskie trudy [Philosophia Natalis. Ausgewählte psychologisch-pädagogische Schriften], Moskau 2006, 417–500 Tarabukin, Nikolaj M.: Portret [Porträt], in: I.M. Čubarov (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov, 323–324 Vinokur, Grigorij O.: Biografija i kul’tura [Biographie und Kultur], Moskau 1927 (Trudy GAChN. Filosofskoe otdelenie Bd. 2) Volkov, Nikolaj N.: Značenije ponjatija ›izobraženie‹ dlja teorii živopisi [Die Bedeutung des Begriffs der ›Darstellung‹ für die Theorie der Malerei], in: Iskusstvo [Kunst] 1928, H. 3–4, 191–198 Vyšeslavcev, Boris P.: Novosti russkoj fi losofii. Obzor [Neuigkeiten der russischen Philosophie. Ein Überblick], in: F.A. Stepun (Hg.): Šipovnik. Sbornik literatury i iskusstva [Hagebutte. Sammelband zu Literatur und Kunst], Moskau 1922, 187–190 Žinkin, Nikolaj I.: Portretnye formy [Porträtformen], in: A.G. Gabričevskij (Hg.): Iskusstvo portreta. Sbornik statej N.I. Žinkina, A.G. Gabričevskogo, B.V. Shapošnikova (i. dr.) [Porträtkunst. Eine Aufsatzsammlung von N.I. Žinkin, A.G. Gabričevskij, B.V. Shapošnikov (u. a.)], Moskau 1928 (Trudy GAChN. Filosofskoe otdelenie Bd. 3), 7–52 – Problema ėstetičeskich form [Das Problem der ästhetischen Form], in: A.G. Cires (Hg.): Chudožestvennaja forma. Sbornik statej N.I. Žinkina, N.N. Volkova, M.A. Petrovskogo, A.A. Gubera [Die künstlerische Form. Eine Aufsatzsammlung von N.I. Žinkin, N.N. Volkov, M.A. Petrovskij, A.A. Guber], Moskau 1927 (Trudy GAChN. Filosofskoe otdelenie Bd. 1), 7–50 Zubov, Vasilij P.: Izoljacija [Isolation], in: I.M. Čubarov (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov, 201–203

Die Eigen- und Fremdbedeutung der Produktionskunst in der kunstwissenschaftlichen Diskussion unter den Abwesenden: Pavel Popov, Richard Hamann und Lev Trockij Igor’ Čubarov

1. Das Wesentliche im Rahmen des angekündigten Themas ist meiner Meinung nach die Frage nach der Ursache der von den Wissenschaft lern und Philosophen der GAChN vollzogenen Hinwendung zur ästhetischen Problematik oder, genauer gesagt, zur Kunstproblematik der 1920er Jahre in Russland. Heute genügt es nicht mehr zu sagen, diese Hinwendung oder gar ›Wende‹ sei nur auf das Interesse der Sowjetmacht und das Verbot der ›Ersten Philosophie‹, der reinen Wissenschaft und der ›Kunst um der Kunst willen‹ zurückzuführen, obwohl dies zum Teil berechtigt ist. Die Veränderung des traditionellen Gegenstandes des philosophischen Diskurses und dementsprechend der Methoden seiner Analyse ist in dieser Zeit durch eine Reihe von historischen, sozialanthropologischen, aber auch der Philosophie, Wissenschaft und Kunst immanenten Ursachen bedingt. Es wäre wichtig herauszufinden, welche neuen Konfigurationen die Wissenschaften, allen voran die Geisteswissenschaften, und die Kunst in dieser Zeit im allgemeinen Kontext der sozialen und kulturellen Modernisierung einnehmen. Zum größten Teil basiert diese Veränderung der etablierten Beziehung zwischen Kunst und Kunstreflexion auf einer in der neuen russischen, aber auch in der internationalen Gemeinschaft erfolgenden Veränderung des Status und Charakters der Kunst selbst, die durch die Revolutionsereignisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts hervorgerufen wird. Ohne Übertreibung kann man behaupten, dass Anfang der zwanziger Jahre die Geschichte selbst die Frage nach einer allgemeinen, alle bisherigen Ansätze der Kunsterforschung generalisierenden Wissenschaft stellt. Man kann sogar von einer gegenseitigen Durchdringung von Kunst und Kunstwissenschaften im Kontext des sich in diesen Jahren sowohl in Russland als auch in Deutschland entwickelnden sozialen Projekts sprechen. An dieser Stelle kann nur kurz auf die Ursachen solcher radikaler Transformationen der Kunst und des Wandels ihres Verhältnisses zur sozialen Sphäre eingegangen werden. Das 20. Jahrhundert bringt mit dem Wachstum der Industrieproduktion und der Urbanisierung und Technisierung des Lebensraums breite Arbeiterbzw. Bevölkerungsschichten auf die Bühne der Geschichte. Zu dieser Zeit hat die Kunst aufgehört, im Besitz einer kleinen Gruppe vom Mäzenatentum unterstützter Privilegierter zu sein, so wie sie schon früher einmal aufgehört hatte, zu den höfischen Diensten zu gehören. Im 20. Jahrhundert wird sie intensiv demokratisiert, wobei der sich in der russischen Kultur bereits im 19. Jahrhundert auft retende

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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›Raznočincy‹-Typ1 verbreitet. Neue Menschen bringen nicht nur neuen Stoff und neue Erfahrungen in die Kunst, sondern auch neue Ausdrucksformen, überhaupt ein neues Kunstverständnis. Michel Foucault beschreibt diese Situation als Transformation der Schichten oder als historische Formationen, die von einem Wandel in der Beziehung der Ebenen des Sichtbaren und Sagbaren, des Gesehenen und Geäußerten, der Inhalts- und Ausdrucksformen begleitet werden und die die grundlegende Revolution in der Kunst und den Wandel ihrer Rolle im Leben der menschlichen Gesellschaft widerspiegeln. Gemeint ist die Transformation der Gegenstandswelt, des Verhältnisses zu Dingen und Körpern, das Auftreten neuer Produktionssubjekte und Konsumformen, neuer Medien und Kunstarten. Diese Veränderungen hängen im Wesentlichen mit den gesellschaft lichen Vermassungsprozessen zusammen, die mit der Suche nach Organisations-, Steuerungs- und Kontrollmitteln seitens der Machtinstitutionen und des Staatsapparats einhergehen. Dabei nimmt die Wissenschaft – in unserem Fall die Kunstwissenschaft – in diesen Prozessen durchaus keine neutrale, auf irgendeine Weise desinteressierte Stellung ein. In vielerlei Hinsicht entsteht sie als Reaktion auf die Systemkrise in der Kunst des 20. Jahrhunderts, als Antwort auf die Geburt neuer Wissenschaftsformen und immanenter Selbstverständnisweisen. Die Geschichte determiniert in jeder Epoche das Sichtbare und Sagbare und ermöglicht verschiedenartige Handlungs- und Mentalitätstypen und Ideen.2 Beim Übergang vom Impressionismus zum Expressionismus, zur gegenstandslosen und später Produktionskunst wandelt sich das Raumverständnis, das nun aus der Enge der Feudalwirtschaft und der Handwerkszünfte in städtische Weiten und Fabrikmaßstäbe ausbricht. Neue Geschichtssubjekte betonen in der Kunst das Element der Arbeit, die Rolle des Menschen beim Erschaffen seiner Produkte, das Gemachtsein des Kunstdinges. In den Vordergrund treten nicht mehr seine äußeren Eigenschaften und Formen, sondern seine Bedeutung für den Menschen, sein Begreifen und das Moment der Mitwirkung des Menschen bei seiner Erzeugung. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall – selbstverständlich nicht im Sinne einer direkten Determination, sondern als eine diesen Prozessen entsprechende reflexivtranszendentale Einstellung in der Philosophie –, dass der Machismus, Neukantianismus und andere psychologistische Theorien von der Phänomenologie abgelöst werden. Viele Theoretiker stellen fest, dass die Hauptideen der Phänomenologie – von phänomenologischer Reduktion, Intersubjektivitäts- und Lebensweltproblematik bis hin zur Lehre der Zeichen – ihre Wesensentsprechungen in den Verfahren und der Selbstreflexion der Avantgarde-Künstler der zehn- bis zwanziger Jahre finden. Und obwohl unter den Kunsttheoretikern, Philosophen und Künstlern in der Regel das Nicht-Wiedererkennen eigener Grundsatzpositionen in der Erfahrung 1 ›Raznočincy‹ – Bezeichnung der sozialen Zugehörigkeit der russischen Intellektuellen im 19. Jahrhundert, die nicht mehr allein dem Adel angehörten, sondern ›aus verschiedenen sozialen Schichten‹ (›verschiedenen Rängen‹) stammten (Anm. d. Übers.). 2 Vgl. G. Deleuze: Foucault, 74 f.

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und dem Diskurs des Anderen stattfindet, können wir heute von wesentlichen Parallelen oder sogar logischem Isomorphismus sprechen. Charakteristisch in diesem Kontext sind die Diskussionen über die Probleme der Gegenwartskunst unter den Wissenschaft lern und Künstlern der GAChN Mitte der zwanziger Jahre. Dank der unmittelbaren Kenntnis der avantgardistischen Kunstpraxis jener Zeit und progressiver Tendenzen der deutschen Kunstwissenschaft kann eine Reihe von Akademie-Theoretikern sich dem Verständnis dieser Verbindung nähern. Um eine solche Erfahrung wird es im Folgenden gehen. 2. Schon vor 15 Jahren wies der bedeutende Avantgarde-Forscher Selim Chan-Magomedov in einem Artikel in einer Ausgabe von Voprosy iskusstvoznanija [Fragen der Kunstwissenschaft], der der GAChN gewidmeten war, berechtigterweise auf die Distanz hin, die in den zwanziger Jahren zwischen den Kunstwissenschaft lern und Philosophen einerseits und den Vertretern der zeitgenössischen Avantgardekunst, vor allem des Expressionismus, Kubofuturismus und der Produktionskunst andererseits bekanntermaßen vorherrscht.3 Diese Situation kann man sogar als einen Bruch bewerten, der nicht bloß auf den bekannten Sensibilitätsmangel der Kunsttheoretiker gegenüber ihren Künstler-Zeitgenossen zurückzuführen ist – obgleich es nichts Neues ist, dass die fundamentale Theorie oft etwas hinterherhinkt, wenn es um die zeitgenössische Kunstpraxis geht. Heute jedoch kann man dank der Entdeckung neuen Archivmaterials und der Senkung des Ideologisierungsniveaus kulturhistorischer Forschung einigen Aussagen Chan-Magomedovs hinsichtlich der genannten Sachlage widersprechen. Er stellt die Angelegenheit als eine gegenseitig vorteilhafte Nichteinmischung der Avantgardekünstler und Akademiker in die Angelegenheiten des jeweils anderen dar. Diese Nichteinmischung habe es den einen erlaubt, der eigenen Kunst ungehindert und ohne Rücksicht auf die akademische Wissenschaft Sinn zu verleihen und es den anderen gestattet, auf Kosten der Neutralität in den erbitterten Kunstdiskussionen der zwanziger Jahre die Diskreditierung ihrer theoretischen Positionen zu vermeiden, als das Avantgarde-Projekt, um mit den Worten des renommierten Historikers zu sprechen, ›zusammengebrochen‹ war. Die Gründung der GAChN führt ChanMagomedov in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit der Erschaff ung einer Art ökologischer Nische oder ›Schutzhülle‹ zurück, in der sich sensible Kunstwissenschaft ler in harten postrevolutionären Zeiten psychisch behaglich fühlen konnten. Die Reduzierung der Gründungsidee einer solchen Institution wie der GAChN auf Überlebensstrategien und den Wunsch nach psychischem Komfort wirkt zumindest wenig überzeugend. Eine solche Annahme legt den Verdacht nahe, es handele sich bei den Manifesten und ambitionierten Programmen der Abteilungen und Sektionen der GAChN um irgendeine Inszenierung seriöser Wissenschaftler mit dem Ziel, sich Subsistenzmittel von der neuen Sowjetmacht zu beschaffen.

S.O. Chan-Magomedov: GAChN v strukture naučnych i tvorčeskich organizacij 20–ch gg., 16–23. 3

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Unverständlich erscheint auch die Haltung der Macht selbst, in Person des Volkskommissar A. Lunačarskij, der laut Chan-Magomedov einfach keine Futuristen mag, sondern Klassiker und vorrevolutionäre Akademiker bevorzugt. Und auch wenn dies zum Teil zutrifft – genauso wie die Tatsache, dass der Volkskommissar für Bildung in der GAChN eine Kraft sieht, die sich den ultralinken Künstlergruppierungen (und vor allem den LEF-Anhängern)4 entgegenstellen kann –, so ist nicht zu leugnen, dass Lunačarskij zur gleichen Zeit Majakovskij und andere ›Futuristen‹ gegenüber der Macht aktiv unterstützt und verteidigt. Unberücksichtigt bleibt bei Chan-Magomedov auch die Tatsache, dass der Kreis der sogenannten Kubofuturisten in der LEF und im INChUK in den postrevolutionären Jahren eine gewisse Evolution durchlaufen hat, von der Kunstsprache der Zaum’ und der Gegenstandslosigkeit zu Produktionskunst, Reismus und Literatur des Fakts, und dass W. Kandinsky – der eigentliche Initiator der GAChN – dagegen eher bei dem noch vorrevolutionären Stadium des Expressionismus und der Gegenstandlosigkeit geblieben ist. 5 Chan-Magomedov erklärt diese Unstimmigkeit mit der von Kandinsky proklamierten ›Wissenschaft lichkeit‹ seines künstlerischen Programms. Hier jedoch ist eine Präzisierung nötig, was dieser unter ›Wissenschaft lichkeit‹ versteht und in welchem Sinne eine solche wissenschaft liche Einstellung den sowjetischen Kulturbeamten gefallen könnte. In derselben Ausgabe von Voprosy iskusstvoznanija aus dem Jahre 1997 weist Nadia Podzemskaia in ihrem Artikel über Kandinsky berechtigterweise darauf hin, dass er versucht, die einzigartige, in den ersten nachrevolutionären Jahren entstandene kulturpolitische Situation zu nutzen, um seine im Grunde anachronistischen Ideen von der ›Weltkunst‹, der ›Großen Utopie‹ usw. zu verwirklichen. 6 Dasselbe kann man auch über seine Einstellung zur Wissenschaft sagen. Er ist eher bestrebt, sich die Rhetorik der ›Wissenschaft lichkeit‹ zunutze zu machen, um sein tatsächlich revolutionäres Kunstprojekt voranzutreiben als die eigene Kunst in eine Art Wissenschaft zu verwandeln. Podzemskaia schreibt zu Recht, dass Kandinsky bereits 1910 in seinem berühmten Werk Über das Geistige in der Kunst die von ihm angewandte Methode der Kunstanalyse dem positiv Wissenschaft lichen vielmehr gegenüberstellt.7 Auch in der späteren Periode, in der Zeit seiner Arbeit im INChUK und an der GAChN, erläutert Kandinsky eigens, dass das Verhältnis der Kunst zur Wissenschaft nicht die blinde Übertragung ihrer Methoden auf die Kunst voraussetze, sondern eher die Suche nach einer gemeinsamen Methodologie meine, die auf der Einheit der Wahrnehmungsstruktur der Gegenstandswelt gründet. In diesem Sinne empfi ndet er z. B. die Hinwendung der Maler zur Kristallographie u.ä. als hilfreich. Dies betonte er besonders in seiner Rede an der GAChN, die in H. 1 ihrer Bulletins veröffentlicht wurde. 5 Wir dürfen nicht vergessen, dass neben Kandinsky auch Kazimir Malevič an die GAChN eingeladen war. 6 Vgl. N. Podzemskaja: Doklad V. Kandinskogo »Osnovnye elementy živopisi«, 76. 7 Ebd., 84. 4

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Hier muss man anmerken, das auch die LEF-Anhänger, z. B. in Person ihres führenden Theoretikers Boris Arvatov, in nicht geringerem Maße als Kandinsky und sogar in einem totaleren Sinne an die Wissenschaft und die wissenschaft liche Kunstorganisation appellieren, da sie die Heranziehung wissenschaft licher Methoden zur künstlerischen Organisation des Lebens beabsichtigen.8 Weshalb also ist es ausgerechnet Kandinsky und nicht den INChUK- oder LEFAnhängern gelungen, den Volksbildungskommissar davon zu überzeugen, eine ganze Akademie zu organisieren, die die Kunst von den unterschiedlichsten Seiten und im Horizont eines gewissen synthetisch-wissenschaft lichen Ansatzes untersucht? Die Antwort liegt auf der Hand: Aufgrund der Nähe ihrer beider Auffassung von der Rolle der Wissenschaft in der Kulturpolitik des Landes, und zwar hinsichtlich der Begrenzung ihrer Anwendung auf die äußere formale Sphäre, die die Art und Weise des Kunsteinflusses auf die Massenpsyche konstituiert. Die Masse soll passiv ein gewisses Maß an abstraktem Kunstinhalt wahrnehmen und mit der erforderlichen Emotion darauf reagieren, d. h. die Wissenschaftsidee reduziert sich hier auf die Analyse vorhersagbarer und eindeutiger Wirkungen auf die Psyche des Kunstkonsumenten, auf die Entdeckung der ›Gesetze‹ einer solchen Wirkung. In eben dieser Fassung wird die Wissenschaftsidee der Tätigkeit der Physikalisch-Psychologischen Abteilung der GAChN zugrunde gelegt.9

*** Zurück zu Chan-Magomedovs Artikel, möchte man anmerken, dass man heute auf die einseitigen politischen oder rein ästhetischen Kriterien des Kunstverständnisses der zwanziger Jahre verzichten kann, denen zufolge die politisch engagierten Maler a priori weniger bedeutsam sind als die ›akademischen‹. Nach welchen Maßstäben soll man zum Beispiel die Kunst von Rodčenko und Kandinsky, von Varvara Stepanova, Ljubov’ Popova und Kazimir Malevič vergleichen können? Nach historischen Maßstäben? Aber die Geschichte ist noch nicht abgeschlossen. Und zur damaligen Zeit ist der internationale Erfolg des sowjetischen Pavillons auf der von der GAChN organisierten Ausstellung 1925 in Paris vollkommen vergleichbar mit dem Erfolg Kandinskys im Westen, ja, er übertrifft ihn zum Teil sogar. Auf theoretischer Ebene kann man, was die Produktionskunst betrifft, sogar von einem historischen Vorgreifen sprechen, was weder eine Metapher noch eine Hyperbel ist, sondern eine Form sich selbst zuvorkommender Zeit, einer im Zeitmodus aufgehobenen Zukunft sozusagen, der Zukunft der Kunst. Vgl. B. Arvatov: Iskusstvo i proizvodstvo, 106–108. Im Bericht der Kommission des Bildungsvolkskommissariats zur Gründung der GAChN aus dem Jahre 1921 mit dem Titel »Arbeitsplan der Sektion der Bildenden Kunst« erklärt Kandinsky ohne Umschweife: »Kunstwerke haben den Einfluss auf den Menschen zum Ziel, demgemäß müssen sich alle möglichen Forschungsansätze der Kunst von einem gemeinsamen Ziel leiten lassen«. (V.V. Kandinskij: Izbrannye trudy po teorii iskusstv, 71.) 8 9

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Auch wenn die Bezugnahmen der Macht auf die Wissenschaft , die ›objektive‹ Kunstforschung, das Unterstreichen der pädagogischen Funktion der Kunst einen etwas anderen Zweck verfolgen als die der GAChN-Wissenschaft ler oder auch Kandinskys, so stimmen sie im Wesentlichen überein, und zwar durchaus nicht synonymisch. Damit will ich sagen, dass die Kunst und die sich in diesen Jahren aktiv herausbildende Kunstwissenschaft nicht abseits der sozialpolitischen Prozesse stehen, sich jedoch auch nicht von irgendeiner Art enger Klasseninteressen gängeln lassen. Gerade die GAChN wird zu einem Ort, an dem in den zwanziger Jahren äußerst demonstrativ das Aufeinandertreffen von Kunst, Philosophie, Politik und Wissenschaft stattfindet. Vielleicht erscheint es auf den ersten Blick, als habe sie eher bescheidene Resultate hervorgebracht. Heute jedoch sollte man gerade die inhaltsreichen Momente der Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersuchen, die sich bei den Künstlern, Wissenschaft lern und Politikern jener intensiven Zeit zeigen, und nicht alles auf zufällige biographische Ereignisse reduzieren. Die sich in dieser Zeit schnell entwickelnde avantgardistische Kunst fordert einerseits die Sowjetmacht heraus, die schon die Konservierung ihrer Institutionen angekündigt hat, und andererseits die oft der kulturellen Entwicklung hinterherhinkende Kunstwissenschaft und Philosophie. Die GAChN stellt hier keine Ausnahme dar. Aus dieser Perspektive wäre es äußerst interessant, die Eigenreflexion avantgardistischer Kunst – deren führende engagierte Theoretiker auch an der GAChN tätig sind – und die unter den Akademikern anzutreffende Auffassung von dieser Reflexion zu vergleichen und nicht alles auf Parteiintrigen zurückzuführen, worauf es bei Chan-Magomedov hinausläuft. 3. Die Episode, die in diesem Kontext behandelt werden soll, findet ungefähr in der Mitte der zwanziger Jahre statt, als der Mitarbeiterstab der GAChN bereits ergänzt worden ist und ihre Aufgaben und Ziele Form angenommen haben. Sie steht im Zusammenhang mit dem Namen Pavel Sergeevič Popovs (1892–1964), eines Schülers G. Čelpanovs und Kollegen G. Špets, der sich vorwiegend mit der Psychologie des künstlerischen Schaffens beschäft igt. Er leitet das Terminologische Kabinett der GAChN und schreibt für das Lexikon der Kunstterminologie selbst eine Reihe gehaltvoller Artikel zur Psychologie der Kunst. In den Diskussionen über die an der Philosophischen Abteilung gehaltenen Vorträge der GAChN-Psychologen nimmt Popov stets eine versöhnliche Position ein und stimmt eher mit den Ansätzen solcher Psychologen wie S. Skrjabin oder V. Ekzempljarskij überein als mit seinen Philosophenkollegen. Wichtiger als dieser Umstand scheint für die vorliegende Untersuchung jedoch seine Vermittlerrolle im schwierigen Dialog zwischen den Kunsttheoretikern der GAChN und russischen Avantgardekünstlern zu sein. Von großer Bedeutung ist hier die Tatsache, dass Popov einerseits der Bruder Ljubov’ Popovas ist – einer Kubofuturistin und einer der ersten Malerinnen der Produktionsrichtung – und andererseits der Ehemann der Enkelin Lev Tolstojs, Anna Il’inična. Die Figur Popovs tritt in diesem Sinne als jenes fehlende Bindeglied auf, das den von ChanMagometov erwähnten Bruch zwischen den Klassikern und Avantgardisten der zwanziger Jahre zum Teil ausfüllt.

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Der Vortrag Popovs über Richard Hamanns Aufsatz Kunst und Kultur der Gegenwart10, den er am 12. Februar 1925 auf der Sitzung der Kommission für die Geschichte ästhetischer Theorien an der Philosophischen Abteilung der GAChN hält, und ein in seinem Privatarchiv erhaltenes Manuskript11, das eine gekürzte Übersetzung dieses Artikels ins Russische enthält, erlauben es, das wirkliche Kenntnisniveau der Mitarbeiter der Philosophischen Abteilung über die deutsche Kunstwissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts und die Problematik der Gegenwartskunst genauer zu ermitteln und außerdem die Tiefe ihrer künstlerischen Interessen und ihr Verhältnis zu den aktuellen sozialpolitischen Prozessen ihrer ihrer Zeit zu bewerten. Zunächst sollte die Frage gestellt werden, warum Popov aus der Vielfalt der bis zur Mitte der zwanziger Jahre veröffentlichten Arbeiten R. Hamanns ausgerechnet diesen Artikel auswählt, der einen Manifest- und Skandalcharakter aufweist, ist Hamann zu dieser Zeit doch bereits als Autor von Büchern über deutsche Kunst, Renaissance, Impressionismus und Rembrandt gut bekannt; seine Ästhetik erscheint in der zweiten Auflage, und 1915 werden der Sammelband Kunst, Krieg und Gegenwart mit Hamanns Artikeln und sein bedeutender Aufsatz »Zur Begründung der Ästhetik« herausgegeben. In Deutschland selbst wird der oben erwähnte Artikel Hamanns, nebenbei bemerkt, ziemlich kühl aufgenommen. Anfänglich erscheinen kurze Stellungnahmen nur im Berliner Tageblatt und im Kunstblatt. 1924 erscheint in der angesehenen Dessoir’schen Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft eine äußerst kritische, wenn auch nicht überzeugende Rezension H. Glockners, und erst später, 1925, in der Zeitschrift Logos eine zustimmende, jedoch nicht besonders gehaltvolle und mit einem ärgerlichen Druckfehler im Titel (statt Richard Hamann steht dort Rudolf (sic!) Hamann. Kunst und Kultur) versehene Rezension eines gewissen E.V. Rätselhaft erscheint die Bemerkung Popovs in der Texteinführung zu Hamanns Artikel, laut der er einerseits plant, »die Broschüre selbst zu reflektieren« und die Überzeugungskraft der zentralen Schlussfolgerungen Hamanns zu bewerten, »sich möglichst nah ans Original haltend«, und in der er andererseits erwähnt, dass er das Original »in Moskau nicht zur Hand [hat]«.12 Einen Hinweis auf die Lösung liefert eine Bleistiftnotiz am Manuskriptrand in Popovs Handschrift, adressiert an eine gewisse Übersetzerin aus Sankt Petersburg. Er schreibt dort folgendes: Darauf folgte die Inhaltsangabe, mit meiner üblen Handschrift geschrieben, deshalb sende ich sie nicht zu, zumal Sie eine Übersetzerin sind – wozu brauchen Sie dann eine einfache Inhaltsangabe? Übrigens, wann erscheint die Übersetzung? Ihr Text war aber nicht immer gut leserlich – man musste raten, und manche Worte waren anstelle anderer geschrieben, aber ich habe nicht nach Freud geraten.13 10 11 12 13

R. Hamann: Kunst und Kultur der Gegenwart, Marburg 1922. P.S. Popov: O stat’e Gamana, R. »Kunst und Kultur der Gegenwart« Ebd., 1. Ebd., 3.

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In derselben Einführung schreibt Popov, in Leningrad werde zur selben Zeit eine Übersetzung von Hamanns Artikel ins Russische vorbereitet. In Anbetracht dessen, dass Popovs Manuskript im Wesentlichen eine freie und gekürzte Übersetzung desselben beinhaltet, aber keineswegs eine ›Inhaltsangabe‹, ist zu vermuten, dass er für seinen Vortrag einfach die ihm aus Leningrad zugeschickte Übersetzung verwendet hat, die noch dazu von jemand anderem angefertigt worden ist. Im Privatarchiv P.S. Popovs in Moskau befindet sich eine Inhaltswiedergabe jenes Artikels Hamanns, geschrieben von O. Kotel’nikova.14 Ausgehend davon, dass diese Petersburger Übersetzerin und Philosophin 1922 zusammen mit V. Žirmunskij eine gekürzte Übersetzung von O. Walzels Buch Impressionismus und Expressionismus im gegenwärtigen Deutschland herausgegeben hat, kann man annehmen, dass sie die Adressatin Popovs und die Autorin der von ihm verwendeten Übersetzung gewesen ist. Rätselhaft bleibt, warum er sie weder in seinem Vortrag an der GAChN noch im Manuskript erwähnt. Der eigene Beitrag Popovs bei der Analyse des Hamann-Textes besteht in seinem Manuskript eigentlich nur aus einer Seite Vorwort und fünf Seiten ›kritischer Analyse‹. 4. Gehen wir nun zum Inhalt des Vortrags Popovs über. Der zentrale Beweggrund seiner kritischen Analyse des Hamann-Artikels ist für Popov das Heranziehen der Autorität dieses bedeutenden deutschen Kunsthistorikers zur Erörterung der innerrussischen Situation und vor allem zur Bewertung der Produktionskunst, der sich in diesen Jahren viele Theoretiker und Künstler zuwenden. Ihre Entwicklung und Erfassung wird von der GAChN-Leitung im Allgemeinen als eines der vorrangigen Betätigungsfelder der Akademie angesehen. Im Jahre 1922 plant man sogar die Eröffnung einer eigenen Abteilung für Produktionskunst an der GAChN. Im selben Jahr lädt Vladimir Friče, der Leiter der Soziologischen Abteilung, Boris Arvatov als Mitarbeiter ein, später kommen solche Konstruktivismus- und Produktivismustheoretiker wie Nikolaj Tarabukin und David Arkin an die Akademie, und Aleksej Gan hält an der GAChN einen Vortrag. In seinem Vortrag ist Popov im Gegensatz zu seinen Kollegen von der Philosophischen Abteilung nicht geneigt, die gesamte Arbeit Hamanns als der Kunstgeschichte und der zeitgenössischen Kunstentwicklung nicht angemessen zu bewerten. Er schätzt Hamanns Versuch, die zeitgenössische Kunst in einem breiteren historischen, sozialen und kulturellen Kontext zu betrachten und dabei ihre Verbindung mit der Industrie, der Maschinisierung, der Urbanisierung und den befreienden sozialpolitischen Prozessen konzeptuell zu begründen. Gleichzeitig weist Popov auf die charakteristischen Gefahren einer solchen Generalisierung und eines solchen soziologischen Reduktionismus à la Spengler hin, der eine Reduzierung aller geistigen Prozesse einer Epoche auf ein einziges Modell vornimmt, eine Epoche der anderen scharf gegenüberstellt und Europa mit einer kulturellen Apokalypse droht. 14

O. Kotel’nikova: Otzyv o stat’e Gamana »Kunst und Kultur der Gegenwart«.

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Was die Industrialisierung und die Maschinisierung betrifft, so ist diese Verbindung mit der Maschine und der Produktion für die Produktionisten und Konstruktivisten keine äußerliche, die auf einer Nachahmung der vorhandenen technischen Maschinen und in der Fabrik insgesamt beruhte. Die Kunst überschreitet die Grenzen der Handwerks- und Manufakturwirtschaft mit ihrer Design-Produktion, die charakteristisch für die Vorgänger des Produktionismus, die Künstler und Theoretiker der Arts and Crafts, gewesen ist. Popov zählt beipflichtend Positionen auf, die laut Hamann den Expressionismus und Impressionismus sowie die Produktionskunst von den klassischen Formen der Kunst überhaupt unterscheiden. Neben den bereits genannten Aspekten erwähnt er die gewandelte Beziehung der Kunst zum Ding, zur Natur, zur Zweckmäßigkeit und zur Utilitarität. Am interessantesten aber ist, dass Popov den Ansatz Hamanns mit den seinen Intuitionen tatsächlich verwandten Ideen des Produktionisten B. Aratov, des konstruktivistischen Theoretikers N. Tarabukin und… L. Trockijs vergleicht. Mit allgemeinem Misstrauen gegenüber allem Sowjetischen analysiert und kritisiert Popov Hamann letztendlich mit Zitaten aus Arbeiten dieser Autoren. Unter anderem schreibt er hinsichtlich Hamanns Schlüsselbegriff ›Isolierung‹, dass der Versuch, dieses Charakteristikum des ästhetischen Gegenstandes mit den Ideen des Produktionismus dialektisch in Verbindung zu bringen, bei Hamann nicht vorliege. Schroff bemerkt er: »Dies ist einfach ein Überbleibsel des nicht überwundenen bourgeoisen Idealismus, der nicht befreit von der Natur des Dings, sondern das Bewusstsein mit erfundenen, fi ktiven Ideen unterjocht.«15 Als ebenso zweifelhaft empfindet Popov es, dem Expressionismus insgesamt eine Verbindung mit dem Produktionismus und ein gleichartiges Verhältnis zum Ding und zur Natur zuzuschreiben. Es ist anzunehmen, dass er dabei jene Querelen im Lager der Expressionisten und Konstruktivisten im Blick hat, welche sich vor den Augen aller Mitglieder der GAChN abspielen, als Kandinsky aus dem Mitarbeiterstab des INChUK entfernt und das INChUK selbst unter der Führung von Rodčenko, Stepanova und Brik zu einer Unterabteilung der GAChN wird. Dies ereignet sich wiederum im Zusammenhang mit der nach der Revolution veränderten Haltung der sich zuvor einigen Avantgardisten hinsichtlich ihrer Auffassung von der Natur, der Rolle der Kunst in der Gesellschaft sowie der Beziehung des Künstlers zum Ding und zur gesellschaft lichen Produktion. Als interessant stuft Popov den Versuch Hamanns ein, in der Tradition Walzels die damaligen philosophischen Doktrinen und weltanschaulichen Programme mit den Kunstrichtungen in eine Korrelation zu setzen. Als Kritikpunkt nennt er insbesondere das Fehlen einer Begründung des behaupteten Zusammenhangs von Expressionismus und Husserl ’scher Phänomenologie, die über die Prager und Wiener Dichter und Schriftsteller Max Brod und Franz Werfel den Expressionismus durchdrungen habe. P.S. Popov: O stat’e Gamana, R. »Kunst und Kultur der Gegenwart«, 40 f. (Hervorhebung im Orig.). 15

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Übrigens betont A.G. Gabričevskij in der Diskussion des Vortrags Popovs zu Recht die Heterogenität des Expressionismus selbst und den Umstand, dass dessen ideelle Grundlagen dem Bergsonismus näherstünden als der Schule Husserls.16 Insgesamt jedoch kommt in den Reaktionen einiger Kollegen Popovs auf seinen Vortrag eher eine konservative Haltung zum Vorschein, verquickt mit mangelndem Sinn für das Zeitgenössische und fehlender Vertrautheit mit dem Phänomen der Produktionskunst. Aber auch Popov nimmt eine recht vorsichtige Position ein. Er nimmt sich lediglich vor, die Ansichten Hamanns zu prüfen, die besagen, dass der Übergang der Kunst in die Produktion nicht zufällig, sondern bedingt sei durch soziale und ökonomische Transformationen, die die Stellung der Kunst selbst in der Gesellschaft verändern; und dies nicht nur in Sowjetrussland (hier sogar eher weniger), sondern auch im Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. 5. In seiner Hamann-Kritik weist Popov auf ein Problem hin, das in der deutschen Kunstwissenschaft zu Beginn der zwanziger Jahre aktiv diskutiert wird – das Problem des ästhetischen Gegenstandes. Bei Hamann verwandelt es sich in die Frage der Eigenbedeutsamkeit des Kunstwerks und seiner Isolation von der Wirklichkeit als eines Charakteristikums des Ästhetischen, im Gegensatz zu seiner Fremdbedeutsamkeit und funktionalen Alltagsverwendung. Unter der Eigenbedeutsamkeit des ästhetischen Gegenstandes versteht er die Bedeutung der Bildwahrnehmung, deren Zweck in ihr selbst liegt und die nicht durch Fremdbedeutungen objektiviert und nicht begrifflich artikulierbar ist. Das Beispiel eines Musikwerks ist hier am anschaulichsten. In diesem Zusammenhang schreibt Hamann von der begrifflichen Unartikulierbarkeit des ästhetischen Bildes und infolgedessen von der Unmöglichkeit der Ästhetik als Wissenschaft. Genauer gesagt, beschränkt er sie auf die Erkenntnistheorie, die die eigenbedeutsamen Wahrnehmungsinhalte in ihrem Verhältnis zu Namen und Begriffen phänomenologisch beschreibt. In seinem Vortrag »Probleme der modernen Ästhetik«17 an der GAChN im Jahre 1922, der später im ersten Heft der Zeitschrift Iskusstvo [Kunst] erscheint, vertritt G. Špet eine Hamann ähnliche Position, indem er bezüglich der Auffassung des ästhetischen Gegenstandes dem Psychologismus und dem Utilitarismus die Formel des ›entrückten Seins‹ entgegenstellt. Zugleich betont Špet, mit Verweis auf R. Hamann, dass der Begriff des Ästhetischen nicht aus dem Begriff des entrückten Seins oder aus dem Begriff der Kunst abgeleitet werden könne, wenn nicht bereits eine gewisse implizite Theorie des Ästhetischen vorliege.18 Überhaupt ähnelt der Ansatz Špets dem Hamanns, da er die Entrücktheit des ästhetischen Gegenstandes betont und bei der Analyse des Ästhetischen unmittelbar vom Kunstwerk selbst ausgeht. Allerdings liegt der Akzent hier auf der spezifischen Gegenständlichkeit des Ästhetischen in seiner Korrelation zu einer besonderen Art des Bewusstseins – des einbildenden, phantasierenden, jedoch von der Gefühlssphäre entrückten und als ›Nach16 17 18

Prenija po dokladu P.S. Popova. G. Špet: Problemy sovremennoj ėstetiki (dt. in diesem Band). Vgl. G. Špet: Iskusstvo kak vid znanija, 317.

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ahmung‹ der Idee verstandenen Bewusstseins. Nachahmung bedeutet hier nicht das Kopieren der Wirklichkeit, sondern eher das Schaffen einer neuen Wirklichkeit, einem gewissen Ideal oder ›Sinn‹ entsprechend, der jedoch erst im Kunstwerk selbst als sein sinnlicher Ausdruck sich eröffnet.19 Kunstwerke versteht Špet als Zeichen, die ein spezifisches Sein besitzen, wenn auch kein selbständiges Sein. Dieses Sein kann man als kulturell oder sozial bezeichnen, es ist als eine spezifische Beziehungsart zu verstehen, die Menschen in der historischen Praxis eingehen.20 Für Špets Semiotikversion ist gerade die Fähigkeit des Zeichens wichtig, Bedeutung zu tragen und Sinn auszudrücken, was er in einer anderen Arbeit (Jazyk i smysl [Sprache und Sinn]) mit dem speziellen Sein der Beziehungen verbindet.21 Neben ihrer Sinnausdrucksfunktion hat die Kunst Špet zufolge eine expressive Funktion, und bringt die – oft unbegründete – Unruhe, die irrationalen Wünsche und unerfüllten Hoffnungen des Menschen zum Ausdruck, der die Kunst schafft. In der Kunst eröff net sich, mit anderen Worten, nicht nur das Soziale, sondern auch das höchst Private, nicht nur der Bereich der Mittel-Dinge, sondern auch der der Zwecke-Personen. In einem Kunstwerk sind diese beiden Seiten neben der Darstellungs- und Nominativfunktion in einer ganzheitlichen Struktur vereinigt, die sich in ihrer Gesamtheit am ehesten in der Poesie zeigt. Jedoch schlägt Špet vor, den ästhetischen Gegenstand im breiteren Kontext des menschlichen kulturellen Seins zu untersuchen, der es als einziger erlaubt, die Eigenbedeutung dieses Gegenstands zu begreifen.22 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Špet bereits im ersten Teil seiner Ėstetičeskie fragmenty 23 [Ästhetischen Fragmente], bei seiner Kritik der Ideen W. Morris’ und J. Raskins zum Handwerkertum die Idee einer Rückkehr der Kunst aus den Museen und Privatsammlungen in die Lebenswelt des Menschen nicht ablehnt, und folglich auch nicht die Möglichkeit einer partiellen Verschmelzung der gesellschaft lichen Produktion und der Kunst. Doch im Gegenteil zu Hamann und Popov sieht es Špet unter den sozialen Bedingungen seiner Zeit als kaum möglich an, die beiden zu verbinden und der Kunst der Gegenwart eine Bedeutung zu verleihen, die dieser menschlichen Praxis gerecht würde. 6. Popov betont in seinem Vortrag zu Recht, dass Hamann, ungeachtet seiner Scharfsichtigkeit bei der Beobachtung der Kunsttendenzen, keine Unterscheidung zwischen den neuen Kunstformen – dem Konstruktivismus und dem Produktionismus – und dem sich bereits dem Ende zuneigenden Expressionismus trifft. Die zentrale Frage dabei ist die des Gegenstands. Der Unterschied zwischen diesen Kunstformen ist nicht durch theoretische Meinungsverschiedenheiten begründet, sondern durch Obwohl die entsprechenden Bemerkungen Špets kurz und fragmentarisch sind, verbindet seine Auffassung vom Gegenstand als Bild, und nicht von einem empirisch-sinnlichen oder idealdenkbaren Gegenstand, ihn abermals mit einer ganzen Reihe von Ästhetikern seiner Zeit in Deutschland. Vgl. ebd., 315 f., 318. 20 Ebd., 318–319. 21 G. Špet: Jazyk i smysl. 22 G. Špet: Iskusstvo kak vid znanija, 320 –322. 23 G. Špet: Ėstetičeskie fragmenty, 179. 19

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sozialpolitische Bedingungen, und er hängt mit der Veränderung des Verhältnisses zum Gegenstand unter den Bedingungen der sozialen Revolution in Russland zusammen sowie mit weiteren Versuchen einer Änderung der Eigentumsverhältnisse. Der Expressionismus reagiert auf die rein äußerliche Veränderung dieser Realitäten und der gesellschaft lichen Verhältnisse mit einer veränderten Wahrnehmung, und damit unterscheidet er sich de facto nicht wirklich von dem ihm von Hamann gegenübergestellten Impressionismus. Das gilt auch für das Verhältnis des Expressionismus zum Gegenstandsproblem und in Bezug auf die moderne Stadt, die Fabrik und die Maschinentechnik. Während der Expressionismus das Kunstwerk zum Naturgegenstand erklärt (Kandinsky), suchen die Produktionisten nach einer Möglichkeit, vom Menschen industriell hergestellte Gegenstände auf die Ebene des Kunstwerks zu überführen. Mit Hamanns Begriffen kann man sagen, dass, während im Expressionismus der Gegenstand und die Maschine der Wahrnehmung fremdbedeutsam sind, die Konstruktivisten versuchen, ihnen die Eigenschaft der Eigenbedeutsamkeit zu verleihen, d. h. die zweckmäßige Struktur des Gegenstandes und die Konstruktion der Maschinen als eine Art Kunstverfahren zu nutzen. Während sich die Expressionisten bei der Lösung des Problems der Arbeitsteilung und der Aneignung des Mehrwerts im Kapitalismus damit begnügen, wie Walther Rathenau 24 auf eine Rationalisierung und einen Zusammenschluss der Weltwirtschaft, auf einen kreativen Arbeitsansatz der neuen Unternehmergeneration und auf die Zusammenarbeit von Eigentümer und Arbeiter ohne Änderung der Eigentumsverhältnisse zu hoffen, sprechen die Produktionisten von der Befreiung der Arbeit von der Routine mittels permanenter Revolutionierung der Produktionsmittel und Einführung kollektiver Schaffens- und Alltagsformen. Die Tatsache, dass sich weder die einen noch die anderen Hoffnungen erfüllen, hebt die prinzipiellen Unterschiede dieser Ansätze nicht auf, ebenso wie die im produktionistischen Modell vorhandenen aktuellen Intuitionen beim Verständnis der Gegenwartskunst. Leider hat auch Popov selbst keine prinzipiellen Unterschiede im Ansatz L. Trockijs und der LEF-Produktionsten hinsichtlich der hier behandelten Problematik gesehen. Doch sie unterscheiden sich prinzipiell voneinander, vor allem in ihrem Verhältnis zu traditionellen Kunstformen und in ihrer Auffassung von der Rolle der Kunst im Gesellschaftsleben. Trockij besteht, obwohl er sich in einigen Fragen der Kulturpolitik nach außen mit den Futuristen solidarisch zeigt, auf den Formen der Staffeleikunst und ihrer vorwiegend ideologischen Funktion und unterzieht in seinem Buch die LEF für ihren ›Formalismus‹ einer harten Kritik.25 Die hierzu von Popov gelieferte Beschreibung26 Trockijs ist, gelinde gesagt, nicht ganz treffend. So klingt das Thema der Wiedergeburt der Tragödie in der neuen 24 W. Rathenau: Zur Kritik der Zeit, Berlin 1912; Zur Mechanik des Geistes, Berlin 1913; Von kommenden Dingen, Berlin 1917. 25 Vgl. L. Trockij: Literatura i revoljucija. 26 P.S. Popov: O stat’e Gamana, R. »Kunst und Kultur der Gegenwart«, 38 f.

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sozialistischen Kunst, von der Trockij schreibt 27, in Popovs Manuskript eher ironisch und verhängnisvoll. Am wichtigsten für den aktuellen Aufbau der zukünftigen ›tragischen sowjetischen Gesellschaft‹ habe Trockij scharfsinnig die… Komödie gehalten. Tatlins Projekt habe bei ihm keineswegs Begeisterung hervorgerufen, und er habe seinen Turm nicht weniger als den Eiffelturm kritisiert usw. Die Vermischung der Positionen Trockijs, Arvatovs und Tarabukins, die Popov Hamann zum Teil gegenüberstellt, zum Teil mit dessen Position vergleicht, gründete auf einer Verkennung der ablehnenden Haltung der Produktionisten-Konstruktivisten gegenüber der Staffeleikunst und der These von der Verquickung der Kunst mit der Industrieproduktion. Schluss Bekannterweise sehen die russischen Produktionisten und Konstruktivisten in der Kunst in erster Linie eine soziale Praxis und verbinden ihre Natur mit der sich historisch verändernden Arbeit, ihren Bedingungen, Mitteln, Eigentumsformen usw. Sie leiten das Schaffen des Künstlers von der Arbeitssphäre ab, von einem besonderen Handwerk und Können. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern – den englischen Utilitaristen – betonen sie, dass sich die Kunst infolge der sich allgemein wandelnden Arbeitsweisen in der industriellen Welt auch in der Fabrik wiederfinden und sich mit dem konstruktiven Ingenieurswesen vereinigen müsse, mit der Perspektive, dass die Arbeit vom Aspekt der Teilung der nicht kreativen Routine befreit werde. Aus ihrer Sicht würde die Kunst selbst letztendlich ihre eigene Konventionalität und Fiktionalität überwinden und zu der im Kapitalismus abhanden gekommenen Verbindung mit der menschlichen Lebenswelt zurückkehren. Die Autonomie wird dem ästhetischen Gegenstand laut dieser Position durch die soziale Unabhängigkeit verliehen. Solange jedoch soziale Ungleichheit vorhanden sei, werde die Kunst unvermeidlich Staffeleikunst, konventionelle Kunst bleiben und lediglich die ungenügende Organisation des sozialen Lebens kompensieren. Die größte Lehre, die man aus dem Produktionismus der 1920er Jahre ziehen kann, ist, dass es an der Gabelung des Verständnisses von Kunst als Erkenntnis, Agitation, Unterhaltung, Nutzen oder Lebensgestaltung überhaupt nicht notwendig ist, nur einer dieser Perspektiven zu folgen. Das heterogene Wesen der Kunst gestattet es, sie von all diesen Gesichtspunkten aus zu betrachten, ohne sich nur einem einzigen zu verschreiben. Allerdings stellt die Berücksichtigung der sozialen Natur der Kunst sowie ihrer Historizität als Grundlage einer solchen Betrachtung die wichtigste Voraussetzung für ihre Befreiung von kommerzieller Dienerschaft und ideologischer Vereinnahmung dar. Die Geschichte des Produktionismus zeigt deutlich, dass die Avantgardekunst, ohne sich selbst zu betrügen, weder die Realität in repräsentativen Formen ›abzubilden‹ vermag noch die ›Dinge selbst‹ unter den Bedingungen der kapitalistischen 27

L. Trockij: Literatura i revoljucija, 181.

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Typen der Wirtschaft und des Eigentums produzieren kann. Umso mehr, als unter den Bedingungen des modernen Kunstmarkts, mit seinen Systemen von Brands, Stars und Polittechnologen, diese beiden Strategien bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verknüpft sind, indem sie sich hier ins dekorative, dort ins politische Design der herrschenden Klasse wenden. Der Künstler muss in der Lage sein, sich weder an die Dinge zu ketten, noch an ihr Verschwinden, denn das Leben verkompliziert und verändert sich unaufhörlich. Deshalb kann die Kunst, will sie sich selbst und der Avantgarde unter den gegenwärtigen Bedingungen treu bleiben, nur eine kritische Distanz im Verhältnis zu den ihr aufgedrängten Formen und Verhältnissen bewahren, indem sie Strategien ausarbeitet, um zu verhindern, dass die Ergebnisse ihrer Arbeit vom Markt, von der bürgerlichen Kultur vereinnahmt werden können, indem sie aktiv von diesen noch nicht eroberte Arten von Medien und künstlerischen Technologien erfindet und in Bewegung setzt. Aus dem Russischen übersetzt von Shirin Sariya Schnier

Literatur Arvatov, Boris I.: Iskusstvo i proizvodstvo: Sbornik statej [Kunst und Produktion: Eine Aufsatzsammlung], Moskau 1926 Chan-Magomedov, Selim O.: GAChN v strukture naučnych i tvorčeskich organizacij 20-ch gg. [Die GAChN in der Struktur der Wissenschaft s- und Schaffensorganisationen der 20er Jahre], in: Voprosy iskusstvoznanija [Fragen der Kunstwissenschaft] 11 (1997), H. 2, 16–23 Deleuze, Gilles: Foucault, London 1999 Hamann, Richard: Kunst und Kultur der Gegenwart, Marburg 1922 Kandinskij, Vassilij V. [Kandinsky, Wassily W.]: Izbrannye trudy po teorii iskusstv [Ausgewählte Schriften zur Kunsttheorie], Moskau 2001 Kotel’nikova, Olga: Otzyv o stat’e Gamana »Kunst und Kultur der Gegenwart« [Rezension über Hamanns Artikel »Kunst und Kultur der Gegenwart«]. Avtograf. 1924, in: NIOR RGB. F. 547 (Popov P.S.). Kart. 10. Ed. chr. 35 Podzemskaja, Nadežda: Doklad V. Kandinskogo »Osnovnye elementy živopisi« v kontekste razvitija ego teorii živopisi [Kandinskijs Vortrag »Die Grundelemente der Malerei« im Kontext der Entwicklung seiner Theorie der Malerei], in: Voprosy iskusstvoznanija [Fragen der Kunstwissenschaft] 11 (1997), H. 2, 75–86 Popov, Pavel S.: O stat’e Gamana, R. »Kunst und Kultur der Gegenwart« [Über R. Hamanns Artikel »Kunst und Kultur der Gegenwart«] [Manuskript, 1924], in: NIOR RGB. F. 547. Kart. 4. Ed. chr. 1. L. 1–51 Prenija po dokladu P.S. Popova na temu: »O vzgljadach Gamana na iskusstvo i kul’turu sovremennosti (po povodu ego novoj brošjury)«. Zasedanija komissii po istorii ėstetičeskich učenij pri FO GAChN ot 19 fevralja 1925g. [Diskussion zum Vortrag von P.S. Popov zum Thema »Über die Ansichten Hamanns zur Kunst und Kultur der Gegenwart (anlässlich seiner neuen Broschüre)«. Sitzung der Kommission für die Geschichte

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der ästhetischen Theorien bei der Philosophischen Abteilung der GAChN vom 19. Februar 1925], in: RGALI. F. 941. Оp. 2. Ed. chr. 2. L. 34–35. Špet, Gustav G.: Ėstetičeskie fragmenty [Ästhetische Fragmente], in: ders.: Iskusstvo kak vid znanija, 175–287 – Iskusstvo kak vid znanija. Izbrannye trudy po filosofii kul’tury [Kunst als Wissensart. Ausgewählte Schriften zur Kulturphilosophie], hg. von T. Ščedrina, Moskau 2007 – Jazyk i smysl [Sprache und Sinn], in: ders.: Mysl’ i slovo. Izbrannye trudy [Denken und Wort. Ausgewählte Schriften], hg. von T. Ščedrina, Moskau 2008, 518-557 – Problemy sovremennoj ėstetiki [Probleme der modernen Ästhetik], in: Iskusstvo [Die Kunst]. Moskau, 1923, H. 1, 43–78 Trockij, Lev: Literatura i revoljucija [Literatur und Revolution], Moskau 1923

Die Sprachen der Künste in den Diskussionen der GAChN

Von der Empirik der angewandten Musikforschung zur Musikwissenschaft: Die Formierung der ersten russischen musiktheoretischen Konzeptionen in den Arbeiten der Musikalischen Sektion der GAChN Olesja Bobrik

Die Tätigkeit der Musikalischen Sektion der GAChN stellt eine einzigartige Phase in der Geschichte der russischen Musikwissenschaften dar. Die Einzigartigkeit dieser Entwicklungsstufe zeigt sich aus zeitlicher Distanz besonders deutlich und besteht vor allem in der Koexistenz herausragender Persönlichkeiten, die für kurze Zeit zusammenkamen. An der GAChN versammeln sich die bedeutendsten russischen Musikwissenschaft ler aus verschiedenen Generationen – von den älteren Zeitgenossen und den Altersgenossen Gustav Špets, darunter Georgij Konjus, Boleslav Javorskij, Michail Ivanov-Boreckij und Leonid Sabaneev, bis hin zur Generation ihrer Schüler, die sich später als Begründer der Musikwissenschaft der sowjetischen Periode betätigen. Große Bedeutung hat die Tätigkeit Aleksej Losevs, der von 1924 bis 1929 in der Musikalischen Sektion arbeitet (zwischen 1922 und 1929 lehrt er gleichzeitig Ästhetik am Moskauer Konservatorium). Die gemeinsame Arbeit der Mitglieder der Musikalischen Sektion hat die Ausarbeitung der ersten eigenständigen wissenschaft lichen Konzeptionen in der russischen Musikkunde und die Auseinandersetzung mit den fundamentalen Fragen der Musikwissenschaft zum Ziel – der Frage nach den Grundlagen der Musik und der nach dem Wesen ihrer Elemente. Zweifellos einmalig für die russische Musikwissenschaft ist die Beschäftigung mit den Problemen »auf dem Gebiet der Synthese von Musik und anderen Künsten«1. Dabei ist anzumerken, dass die spezielle Bearbeitung dieses Problems in der Tätigkeit russischer Forschungsinstitute später nie wieder vorkommt. Deshalb werde ich die Fakten des Ideenaustausches zwischen Musik und Malerei in den Focus meines Beitrags stellen. Um die Bedeutung der GAChN-Phase für die Geschichte der russischen Musikwissenschaft nachvollziehen zu können, sind einige Worte zu ihrer Vorgeschichte nötig. Im Grunde genommen existiert in Russland bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine Musikwissenschaft im engeren Sinne, als systematische Disziplin über die Musik, nicht. Es gibt in Russland nichts, was mit dem an den Universitäten Westeuropas traditionell vorhandenen Studium des Quadriviums vergleichbar wäre. Und während in Westeuropa der erste Lehrstuhl für Theorie und Geschichte der Musik bereits im Jahre 1787 an der Universität Göttingen eingerichtet wird, entstehen in Russland Lehrstühle für Musiktheorie an den Konservatorien erst zu Beginn der 1920er Jahre. 1

Protokoly zasedanij Muzykal’noj sekcii Naučno-chudožestvennoj komissii, Protokol Nr. 1.

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hat die Musikkunde in Russland angewandten Charakter und wird in den Konservatorien in Form von praktischen Kenntnissen in der Theorie der Harmonie, der Form, des Kontrapunkts und der Instrumente gelehrt, deren Darlegung auf deutsch- und französischsprachigen Quellen basiert. Davon zeugt der dominierende Typus der musiktheoretischen Publikationen: Als Beispiel mag hier das erste russische Lehrbuch für das professionelle Erlernen der Harmonie dienen, das Handbuch zum praktischen Harmoniestudium (1872) von Petr Čajkovskij (bei seinen Erkenntnissen stützt sich Čajkovskij auf das Lehrbuch Ernst Friedrich Richters, Professor am Leipziger Konservatorium)2 . Die Musikwissenschaft beginnt in Russland faktisch mit dem Werk Sergej Ivanovič Taneevs, Komponist und Professor am Moskauer Konservatorium, dessen integrale Konzeption und originelle Ideen die systematische Denkweise seiner zahlreichen Schüler prägen, darunter die der späteren GAChN-Mitglieder Javorskij, Konjus, Žiljaev und Engel’. Das Werk Taneevs stellt eine Übergangsphase in der Geschichte der russischen Musikwissenschaft dar – von der Musiktheorie als angewandter, empirischer Disziplin zur Musikwissenschaft, die sich das Ziel setzt, das Wesen der Musik zu ergründen. Und obwohl das theoretische Hauptwerk Taneevs, Der bewegliche Kontrapunkt des strengen Stils, ein didaktisches Ziel verfolgt – nämlich den Schüler zu lehren, polyphone Musik im Stile Palestrinas und Bachs zu komponieren –, werden in diesem Werk Ideen geäußert, die zur Grundlage nicht nur der theoretischen Konzeptionen der unmittelbaren Schüler werden, sondern auch der Theorie anderer Künste, insbesondere der Malerei. (Den Einfluss der Ideen Taneevs auf Kandinsky belegt Nadia Podzemskaia.3) Die erste dieser Ideen wird unter Verwendung einer Aussage Leonardo da Vincis formuliert, die dem Text Der bewegliche Kontrapunkt der strengen Schreibart als Motto vorausgeschickt wird: »Keine menschliche Forschung kann als wahre Wissenschaft anerkannt werden, wenn sie nicht in mathematischer Ausdrucksweise dargelegt wird«4 . Im Text werden diese Maximen wörtlich umgesetzt: Die gesamte Darstellung ist auf der Grundlage mathematischer Formeln aufgebaut, mit deren Hilfe das richtige Verhältnis der polyphonen Stimmen in der Vertikalen und der Horizontalen berechnet wird. Es ist wichtig anzumerken, dass sich erst durch die zeitliche Distanz und die Abgeschlossenheit der von Taneev analysierten Phase der Musikkultur die Möglichkeit eröffnet, die Musikanalyse so weit zu präzisieren, dass sie zu einer Formel gebracht wird.5 Die zeitliche Distanz bietet die Möglichkeit, die alte polyphone Musik als ideales und integrales Objekt zu behandeln. Auf der Grundlage solcher Kategorien, aber bereits unter Anwendung auf verschiedene Musikepochen und -stile, baut die Theorie der Metrotektonik des Taneev-Schülers KonVgl. dazu: Ju.N. Cholopov / G.I. Lyžov: Obščij obzor, 356. N. Podzemskaja: »Vozvraščenie iskusstva«. 4 »Nissuna umana investigazione si può dimandare vera scienza, s’essa non passa per le matematiche dimostrazioni.« (Leonardo da Vinci: Trattato della pittura. Libro prima, 2). 5 Wir erinnern uns, dass die Epoche der Polyphonie des ›strengen Stils‹ dem 15.-16. Jahrhundert, der des ›freien Stils‹ dem 17.-18. Jahrhundert zugerechnet wird. 2 3

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jus auf, – eine der grundlegenden Theorien, die auf den Sitzungen der Musikalischen Sektion der GAChN ausgearbeitet und fortwährend erörtert werden. Ich werde noch darauf zurückkommen. Eine weitere Eigenschaft, die charakteristisch für Taneev ist und von seinen Schülern übernommen wird, ist der Historismus des Denkens, das Streben, im Kontext seiner eigenen Zeit zu denken. Auf der Grundlage von Beobachtungen über die moderne Musik stellt Taneev die Vermutung auf, in der Epoche der Zerstörung der Tonart, des Systems der zentralisierten Organisation der Harmonie in der Musik, sei der rettende Ausweg der Kontrapunkt: »Für die moderne Musik, deren Harmonie allmählich den tonalen Zusammenhang verliert, muss die Bindekraft der kontrapunktischen Formen besonders wertvoll sein«6 . Diese Ansichten Taneevs werden durch die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts bestätigt, insbesondere durch die Rückkehr der Musik zur Verwendung der für eineinhalb Jahrhunderte in Vergessenheit geratenen, äußerst komplizierten kontrapunktischen Technik.7 Von der Bedeutung Taneevs zeugt auch die Resonanz, auf welche seine Idee des Kontrapunkts in den Arbeiten seiner Schüler und Verehrer stößt. Als besonders bedeutsam erweist sich seine Idee für B.L. Javorskij und (vielleicht durch seine Vermittlung) für einen der späteren Begründer der GAChN, Wassily Kandinsky. Der Einfluss Taneevs auf Kandinsky zeigt sich allein in der Entlehnung des Terminus »Kontrapunkt«8 . Dieser vermag es – wie auch andere musikalische Termini, die in den frühen Arbeiten des Künstlers Die Farbensprache und Über das Geistige in der Kunst auft reten (›Kontrapunkt‹, ›Harmonisierung‹, ›Akkord‹, ›Dissonanz‹, ›Generalbass‹ u. a.9) –, Kandinsky zu fesseln, durch die Verbindung von technischer Konkretheit und der Sauberkeit der Abstraktion sowie durch die Abwesenheit oberflächlicher, lebensnaher Assoziationen. Kandinsky und Taneev gemeinsam ist auch der Gedanke der Notwendigkeit, den Kontrapunkt als konstruktives Mittel in der Kunst zu verwenden. Hier ist ein Zitat Kandinskys anzuführen: Die Farbe, die selbst das Material für den Kontrapunkt ist, […] führt, in Verbindung mit der Graphik, zum großen Kontrapunkt der Malerei, der ihr die Möglichkeit verleiht, zur Komposition zu werden; und dann wird die Malerei als wahrlich reine Kunst dem Göttlichen dienen.10

All diese Gedanken Kandinskys besitzen meiner Ansicht nach weitaus mehr greifbare ›Punkte der Übereinstimmung‹ nicht allein mit Taneev, sondern auch mit dessen Schüler Boleslav Javorskij. Ich werde noch darauf zurückkommen. S.I. Taneev: Podvižnoj kontrapunkt strogogo pis’ma, 6. Besonders charakteristisch vorhanden in der Musik der Komponisten der Neuen Wiener Schule A. Schönberg, A. Berg und A. Webern, in P. Hindemiths polyphonem Zyklus »Ludus tonalis«, in I.F. Strawinskys musikalischem Spiel »Die Flut« u.v.m. 8 V. Kandinskij: O duchovnom v iskusstve, 57–58. 9 Vgl. zum Beispiel: ebd., 57–58, 82, 85 f. 10 Ebd., 58. 6 7

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Die wichtigsten Theorien, die von den Mitarbeitern der GAChN ausgearbeitet werden – Javorskijs Theorie des ›lad‹-Rhythmus (ladovogo ritma)11 und Konjus’ Theorie der Metrotektonik – korrelieren offensichtlich mit der wissenschaft lichen Position Taneevs. Gehen wir zunächst auf die Theorie Javorskijs ein. Die Grundlage der Theorie des ›tonalen Rhythmus‹ bildet die Idee des kontinuierlichen Fortschritts in der Musik, der sich in der allmählichen Aneignung aller Tonarten durch das Gehör äußert, die auf Basis des Prinzips der gegenseitigen Anziehung und Auflösung der ›Bewegung‹ in die ›Ruhe‹ entstehen (princip tjagotenija i razrešenija ›neustoja‹ v ›ustoj‹). Das Wichtigste an der Lehre Javorskijs sind das Begreifen der Musik als Organisation des Tonelements und die Akzentuierung des Moments der Bewegung, der dynamischen Verbindung der Elemente in ihr. Hingewiesen werden muss hier auf die Übereinstimmungen mit der Theorie des österreichischen Musikwissenschaftlers Ernst Kurt, eines Zeitgenossen Javorskijs, die in einer Reihe von Arbeiten umgesetzt wird, darunter das berühmte Traktat Grundlagen des linearen Kontrapunkts (1917), das 1931 in russischer Übersetzung erscheint. Beiden Theorien liegt die Auffassung von der Musik als Prozess zugrunde, als Bewegung, in welcher das Moment der Unbeständigkeit seinen Ursprung hat. Den genannten Lehren gemeinsam ist die Auffassung ›des psychologischen Prozesses des Erwachens sich herausbildender Triebkräfte‹ als Quelle der musikalischen Bewegung. Es ist bezeichnend, dass weder Javorskij selbst (der das Buch Kurts liest und umfangreiche Notizen darüber hinterlässt), noch seine Kollegen auf dem musikalischen Sektor die Ähnlichkeit der Theorien beachten. Javorskij selbst hebt nicht die Ähnlichkeiten, sondern die Unterschiede zwischen der Lehre Kurts und seiner eigenen hervor (vor allem die Ahistorizität von Kurts Denkweise12). Man muss hervorheben, dass viele Kollegen Javorskijs seiner Theorie gegenüber eine skeptische Haltung einnehmen. Diese Ablehnung seiner Ideen gründet darin, dass die Kollegen lediglich die elementaren Grundlagen seiner Theorie für evident und fundiert halten. Ablehnung könnten sowohl die ›Kompromisslosigkeit‹ Javorskijs und ein gewisses ›Sektierertum‹ seiner Schüler als auch letztendlich die Nähe der Theorie des ›tonalen Rhythmus‹ zur Theorie des historischen Materialismus hervorgerufen haben, die in der Idee von der Entwicklung des Gehörs und seiner Aneignung immer komplizierterer tonaler Strukturen festgestellt werden kann. Anders gestaltet sich die Rezeption seiner Lehre durch GAChN-Kollegen anderer Fachgebiete, denen es womöglich leichter fällt, die scholastisch anmutenden Prinzipien zu überwinden und die kreativen Potenzen seiner Konzeption zu erkennen. Bekannt ist der Einfluss Javorskijs auf Kandinsky und Aleksandr Gabričevskij, die von dessen Vgl. dazu A. Wehrmeyer in Studien zum russischen Musikdenken um 1920: »Der Begriff ›lad‹ bleibt hier einstweilen unübersetzt, weil ein brauchbares deutscher Äquivalent fehlt.« (96); »Bei Javorski bedeutet ›lad‹ mehrerlei: Tonales System, Tonalität (oder Modus) und Klangkomplex, wobei diese Verständnismöglichkeiten oft mals zugleich und ohne eindeutigen Akzent zu denken sind.« (109). 12 B. Javorskij: Zametki po povodu knigi Ė. Kurta »Osnovy linearnogo kontrapunkta«. 11

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Weltanschauung sowie von der Auffassung der Gesetze der Kunst als Erscheinungsformen der ganzen menschlichen Kultur fasziniert sind. Wie bereits erwähnt, äußerte sich der Einfluss Javorskijs auf Kandinsky nicht nur in dessen Neigung, die musikalische Terminologie Javorskijs zu gebrauchen, sondern auch auf einer anderen Ebene. Meiner Meinung nach besteht eine der gemeinsamen Ideen Javorskijs und Kandinskys, die klar die Ähnlichkeit ihrer Theorien belegt, in der Idee eines einheitlichen harmonischen Prinzips, ohne welches die Einheit der Komposition nicht möglich sei. Kandinskys Interpretation dieser Idee manifestiert sich in seinem Traktat Über das Geistige in der Kunst: Wie dieses ›Eins‹ zu verstehen ist, und wie es sein kann, zeigt die Definition der heutigen Harmonie. Daraus ist zu schließen, dass es möglich ist, das ganze Bild in Einzelteile zu spalten, in Widersprüche zu tauchen, durch alle Art äußere Flächen zu führen, auf alle Art äußeren Flächen zu bauen, wobei aber die innere Fläche immer dieselbe bleibt. Die Elemente der Konstruktion des Bildes sind eben jetzt nicht auf diesem Äußern, sondern nur in der inneren Notwendigkeit zu suchen.13

Inwieweit Kandinskys Äußerungen eine Nähe zu Javorskij aufweisen, verdeutlicht eine Aussage des Letzteren über das »Abendmahl« Leonardo da Vincis. Javorskij ist der Ansicht, dass gerade die konstruktive Einheit der Komposition das wichtigste Stilmerkmal Leonardos sei. »Ich denke«, schrieb er, dass alle umstrittenen Bilder, die Leonardo zugeschrieben werden, gerade nach dem Konstruktionsprinzip bestimmt werden können – wenn sie sich durch ihre Gesamtkonstruktion und die Ungewöhnlichkeit der Konstruktion jedes einzelnen Körpers hervortun, der nur als Teil [des Ganzen] der Gesamtkonstruktion verständlich ist, dann ist dies ein Werk Leonardos.14

Wenden wir uns nun Konjus’ Theorie der Metrotektonik zu. Dieser Lehre zufolge handelt es sich bei musikalischen Werken um ideale Objekte, die in der Ewigkeit existieren, um eine Art lebende Kristalle oder vollkommene, ruhende Körper. In diesem Sinne charakteristisch ist die spezifische Terminologie Konjus’, die eine Musikanalyse gewissermaßen zu einer Zergliederung des musikalischen Körpers macht. So heißt eines der größten Werke Konjus’, das dieser 1928 verfasst, Das Prinzip der Skelettzergliederung musikalischer Körper15. Konjus’ Arbeiten aus der GAChN-Zeit werden oft auch als architektonische Assoziationen charakterisiert, was seine Auffassung von der Musik als einer Art musikalisches Bauwesen widerspiegelt. Ein solches Verständnis ist im Grunde genommen im Terminus ›Metrotektonik‹ selbst angelegt, bei dem es sich um einen aus zwei griechischen Wörtern gebildeten Neologismus handelt: μέτρον (Maß) und τέκτων (Baumeister); somit V. Kandinskij: O duchovnom v iskusstve, 91 (Hervorhebung im Orig.). B. Javorskij: Stat’i. Vospominanija. Perepiska, Bd. I, 509 (Hervorhebung im Orig.). 15 Diese Arbeit wird im Konjus-Fonds des GCMMK (Gosudarstvennyj centralnyj muzej muzykal’noj kul’tury imeni M.I. Glinki) aufbewahrt (F. 62. Nr. 181). 13 14

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Abbildung 1: Schema zum Thema des Finales von Beethovens Zweiter Symphonie

wird diese Neubildung als ›Maßbauwesen‹ (mernoe stroitel’stvo) übersetzt16 . Die Theorie der Metrotektonik behandelt Musik tatsächlich als ›Tonbauwesen‹, was nach Konjus’ Methode konstruierte, analytische Schemata anschaulich verdeutlichen sollen. Ziel der Analyse nach der Methode der Metrotektonik ist die Feststellung einer vom Komponisten intuitiv gefundenen, aber im Verlauf der Proportionsanalyse evident werdenden Struktursymmetrie im musikalischen Werk. Die Formanalyse nach der Methode der Metrotektonik stützt sich auf einen exakten terminologischen Apparat. Dieser terminologische Apparat Konjus’ ist morphologischer Natur: Er bezeichnet das gesamte Werk als ›musikalischen Körper‹, der aus ›Bauzellen‹ besteht; die Zeit ist das ›Skelett‹ dieses ›musikalischen Körpers‹. Der Begriff der ›Bauzelle‹ ist zentral in dieser Theorie, er definiert die Maßeinheit des musikalischen Körpers. Indem er die ›Bauzellen‹ in einer Verbindung zusammenschließt, an deren Anfang sich die ›Stützzelle‹ (oder ›Welle‹) befindet, konstruiert Konjus ihre symmetrischen Korrelationen. Als Ergebnis einer solchen ›architektonischen‹ Herangehensweise verwandelt sich die Zeit in Konjus’ analytischen Schemata in Raum, und der Gegenstand seiner Theorie besteht nicht in einem »Form-Prozess«, sondern einem »FormKristall«17. In der Durchführung musikalischer Analysen auf der Grundlage der Theorie der Metrotektonik besteht die Hauptaufgabe der Mitarbeiter eines speziellen Metrischtektonischen Laboratoriums der GAChN, das ab 1925 existiert. Die von Konjus betriebene Suche nach den universalen Gesetzen der musikalischen Form gestattet es, von einer eigenen phänomenologischen Richtung zu sprechen, die von ihm innerhalb der russischen Musikwissenschaft begründet wird. Nicht von ungefähr wird Konjus von dem Phänomenologen Aleksej Losev unterstützt. Und obwohl Konjus dieses Interesse nicht erwidert, weist seine Lehre durch ihre Ausrichtung auf die Suche nach der idealen, im Tonkörper verwirklichten Zahl unverkennbare Nähe zur Musikphilosophie Losevs auf. Nicht zufällig drückt Losev im Schlussteil seines Buches Die Musik als Gegenstand der Logik, welcher der Theorie der Metrotektonik gewidmet ist, seine Bewunderung für Konjus’ Analysemethode aus: 16 Vgl. dazu: Ju.N. Cholopov / L. Kirillina / T. Kjuregjan / G. Lyžov / R. Pospelova / V. Cenova, in: Muzykal’no-teoretičeskie sistemy, 396. 17 Ebd., 397.

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Wenn man Dutzende und Hunderte von Musikstücken, die nach dem System G.Ė. Konjus’ analysiert worden sind, durchsieht, so staunt man unwillkürlich über die Universalität und Schönheit des Zahlenaufbaus der musikalischen Form. Hier ist der architektonische Aufbau deutlich sichtbar, der aus der Tiefe des schöpferischen Bewusstseins des Künstlers strömt, welcher sich unbewusst den ewigen Gesetzen der Dialektik der Zahlen unterwirft. Die Tiefe und das Geheimnis des Werks blühen in einem wie aus Stein gemeißelten Symbol auf – dem der figürlichen Zahlen. Die Schönheit und logische Notwendigkeit dieses figürlichen Zahlensymbols zu verstehen, ist nur die Dialektik fähig.18

Abschließend kommen wir zur Tätigkeit Aleksej Losevs selbst in der Musikalischen Sektion der GAChN. Er ist das einzige Mitglied der Musikalischen Sektion, das mit der philosophisch-ästhetischen Problematik vertraut ist. Während seiner Arbeit an der GAChN entsteht seine Theorie von der musikalisch verkörperten Zahl bzw. der sinnlich wahrgenommenen Zahlenfigur. Man muss zugeben, dass diese Ausarbeitungen unter den Kollegen in der Sektion nicht nur keine Unterstützung fi nden, sondern sogar auf Widerstand treffen. Die Analyse der Protokolle von Sektionssitzungen, an denen Losev teilnimmt, führt zu dem Schluss, dass er und seine Kollegen im Grunde verschiedene Sprachen sprechen. Während der Sitzungen ist Losev bestrebt, offene Konflikte zu vermeiden, und bemüht sich, in den fremden Ausführungen wenigstens etwas zu finden, das den eigenen nahe kam. Der Hauptgrund für die entstehenden Einwände sind die fehlende Bereitschaft und die Unfähigkeit der Sektionskollegen Losevs, auf der musiktheoretischen Ebene zu argumentieren: Als wissenschaft lich betrachten sie lediglich die Begründung der musikalischen Phänomene mit den empirischen Gesetzen der Physik, der Mechanik, der Physiologie und der Psychologie. Sich bei der Erforschung der Musik auf die Gesetze der Logik und Mathematik zu stützen, erscheint ihnen hingegen ›sophistisch‹. Losevs Denkweise führt in die entgegengesetzte Richtung. Davon zeugt sein Traktat Die Musik als Gegenstand der Logik, das in der GAChN-Phase entsteht und 1927 veröffentlicht wird. Im Kontext der Diskussionen in der Musikalischen Sektion wirkt dieses Traktat wie offene Polemik. Nicht nur der Wunsch, von den Musikerkollegen verstanden zu werden, sondern auch offenkundige Verärgerung äußert sich in der großen Anzahl von polemischen Analogien mit Alltagsphänomenen, die in die Erläuterungen zur Konzeption der Phänomenologie der »absoluten oder reinen Musik, vom Standpunkt des abstrakt-logischen Wissens aus«19 einfließen. So wird der Eidos der Musik im Traktat mit dem Eidos des Tisches20 verglichen, der Prozess der musikalischen Wahrnehmung mit dem Prozess der Verdauung und der Schweißabsonderung usw. Losevs Buch ist (besonders in seinen ersten Abschnitten, z. B. »Zur Frage der pseudomusikalischen Phänomene«) tatsächlich die Antwort auf die 18 19 20

A.F. Losev: Muzyka kak predmet logiki, 234. Ebd., 5. Ebd., 6.

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Polemik, die auf den Sitzungen der Musikalischen Sektion betrieben wird. Hier ein Beispiel: Jene Wissenschaft ler, die physikalische, physiologische und psychologische Musiktheorien aufbauen, beschäft igen sich nicht mit der Theorie der Musik, sondern einfach mit der der Physik, Physiologie und Psychologie. Und sie haben kein Recht, sich zu den Musiktheoretikern zu zählen, sie haben keinerlei Beziehung zur Musik als solcher. Mit einer solchen Leistung aber können sie sich zu den Theoretikern der Verdauung oder der Schweißabsonderung zählen, weil das eine wie das andere im Erlebnis gegeben ist und den gleichen psychologischen Gesetzen der Apperzeption, der Assoziation, der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses usw. unterworfen ist. 21

Verständnis, jedenfalls unter Musikern und Musikwissenschaft lern, erhält die philosophische Musiktheorie Losevs erst mehrere Jahrzehnte nach ihrer Begründung. Der beste Beleg für dieses Verständnis sind die Arbeiten Ju.N. Cholopovs, der Losev persönlich kannte und im eigentlichen Sinne sein Schüler war. Dies zeigt die Darlegung der Theorie der Musikwahrnehmung, in welcher sich die strenge Methodologie beider Forscher verbindet: Wir hören (1) den durchgängigen und ununterbrochene Fluss eines Zeitprozesses; anders gesagt, das unauflösbare, kontinuierliche Werden. Wir hören weiterhin (2) auch die zergliederte Figur dieses unauflösbaren Werdens, d. h. die werdende Zahl, die nichts anderes ist als die in einheitlich-differente Ganzheit, die als Ergebnis des kontinuierlichen Werdens gegeben ist (3). […] Sie ist nur eine Sinnfigur des Werdens und als solche außerqualitativ. Doch sie besitzt ihre eigene, nicht mehr materielle, sondern rein musikalische Qualität. Losev zufolge äußert sie sich (4) einerseits im Tonsystem und andererseits in der metrorhythmischen Figur. Das Wichtigste aber ist, dass in der Musik mit ihrer künstlerischen, sinnlich-kognitiven Spezifi k die reine Sinnfigur der musikalischen Zahl von uns nicht rational gedacht wird, sondern eben gehört wird, weil sie (5) ein sinnliches Phänomen ist, das sich von Luft wellen und den übrigen physikalischen Bedingungen der Musik unterscheidet, die gedacht und gemessen werden.22

Doch auch in unserer Zeit, da Losevs Theorie als eine bedeutende musikalisch-ästhetische Lehre des 20. Jahrhunderts gilt, bleibt die Kluft zwischen ihr und der Empirie der Musikwissenschaft gewaltig: »Die Philosophie und die Musikpraxis verhalten sich zueinander wie Stalaktiten und Stalagmiten. Und die Musikphilosophie Losevs gibt uns eine richtige Perspektive für eine erfolgreiche Ausfüllung dieses Feldes.«23 Die Musikalische Sektion der GAChN existiert, wie auch die Akademie selbst, weniger als ein Jahrzehnt. Der Kreis der Wissenschaft ler der Musikalischen Sektion 21 22 23

Ebd., 10 (Hervorhebung im Orig.). Ju.N. Cholopov: Filosofija A.F. Loseva, 588. Ders.: Filosofija A.F. Loseva i perelom v muzyke XX veka, 175.

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der GAChN beginnt sich bereits zu Beginn ihres Bestehens zu lichten. Anfang der 1930er Jahre stirbt Georgij Konjus. Die Mehrheit der in Russland verbliebenen Mitarbeiter der Musikalischen Sektion, darunter Javorskij und Losev, wird Opfer der Repressionen. Kompliziert und bisweilen tragisch gestaltet sich nicht nur das Schicksal der Mitglieder der Musikalischen Sektion der GAChN, sondern auch das ihres wissenschaft lichen Erbes. Die Politik der Unifizierung und Zentralisierung, die in den 1930er und 1940er Jahren zur Schaff ung eines einheitlichen Systems der Musikwissenschaft in der UdSSR durchgeführt wird 24 , marginalisiert die Theorien Javorskijs und Konjus’ innerhalb weniger Jahre25. Die Musikphilosophie Losevs wird bis zur Zeit der Perestrojka aus den Konservatoriumskursen verbannt. Und wenn das musikalisch-theoretische Erbe Losevs in der Gegenwart auch einen besseren Stand hat, so sind doch viele (sogar die Mehrheit) der Arbeiten und Entwürfe Javorskijs und Konjus’ nach wie vor unpubliziert.26 In der heutigen Retrospektive erscheint die GAChN-Periode in der Entwicklung der Musikwissenschaften wahrhaftig einzigartig. Sowohl die Situation selbst, in welcher die Musikwissenschaft wie auf einer ›Tabula rasa‹ entsteht, als auch die Aspektvielfalt, die die Untersuchung des Wesens der Musik im Vergleich zu anderen Künsten aufweist, und auch die Verschiedenheit der Meinungen und Ideen der Menschen, die lange Zeit halbvergessen bleiben, gewinnen für uns eine neue Bedeutung. Aus dem Russischen übersetzt von Shirin Sariya Schnier

24 Zum Beispiel ist das Anfang der 1930er Jahre verfasste, so genannte »Brigade«-Harmonielehrbuch (Sposobin, I.V. / Evseev S.V. u. a.: Praktičeskij kurs garmonii. Teil 1,2. Moskau 1934, 1935) bis heute die Unterrichtsgrundlage in diesem Fach in den musikalischen Lehranstalten der Mittelstufe (Fachschulen und Colleges). 25 Einige Termini Javorskijs – »intonacija« (Intonation), »predykt« (predictus), »peremennyj«, »uveličennyj« lady (veränderliche, erweiterte Tonarten) u. a. – wurden von der sowjetischen Musikwissenschaft übernommen. 26 Unveröffentlicht blieben z. B. Konjus’ Grundlagenwerk »Embryologie und Morphologie des musikalischen Organismus« (1929 auf Russisch und Französisch; GCMMK. F. 62. Nr. 72) und Javorskijs »Notizen über die musikalische Kunst« (1916–1926; GCMMK. F. 146. Nr. 293).

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Literatur Cholopov, Jurij N.: Filosofija A.F. Loseva [Die Philosophie A.F. Losevs], in: Musykal’noteoretičeskie sistemy. Učebnik dlja istoriko-teoretičeskich i kompozitorskich fakul’tetov muzykal’nych vuzov [Musiktheoretische Systeme. Lehrbuch für die historisch-theoretischen und Kompositionsfakultäten von Musikhochschulen], Мoskau 2006, 583–598 – Filosofija A.F. Loseva i perelom v muzyke XX veka [Die Philosophie A.F. Losevs und der Wendepunkt in der Musik des 20. Jahrhunderts], in: А.А. Tacho-Godi/ E.A. Tacho-Godi (Hgg.): Aleksej Fedorovič Losev, Moskau 2009, 167–175 Cholopov, Jurij/ Kirillina, Larisa u. a.: Muzykal’no-teoretičeskie sistemy. Učebnik dlja istorikoteoretičeskich i kompozitorskich fakul’tetov muzykal’nych vuzov [Musiktheoretische Systeme. Lehrbuch für die historisch-theoretischen und Kompositionsfakultäten von Musikhochschulen], Мoskau 2006 Cholopov Jurij/ Lyžov, Grigorij: Obščij obzor. Pervye russkie original’nye učebniki garmonii [Allgemeine Übersicht. Die ersten russischen originalen Harmonielehrbücher], in: J. Cholopov/ L. Kirillina u. a.: Musykal’no-teoretičeskie sistemy. Učebnik dlja istorikoteoretičeskich i kompozitorskich fakul’tetov muzykal’nych vuzov [Musiktheoretische Systeme. Lehrbuch für die historisch-theoretischen und Kompositionsfakultäten von Musikhochschulen], Мoskau 2006, 356–360 Javorskij, Boleslav L.: Stat’i. Vospominanija. Perepiska [Aufsätze. Erinnerungen. Briefwechsel], Bd. I, Moskau 1972 – Zametki po povodu knigi Ė. Kurta »Osnovy linearnogo kontrapunkta« [Notizen anlässlich des Buches von Ė. Kurt »Grundlagen des linearen Kontrapunkts], in: GCMMK (Gosudarstvennyj centralnyj muzej muzykal›noj kul’tury imeni M.I. Glinki). F. 146. № 4874. L. 1 Kandinskij, Vasilij V. [Kandinsky, Wassily W.]: O duchovnom v iskusstve [Über das Geistige in der Kunst], Moskau 1992 Leonardo da Vinci: Trattato della pittura. Rom 1817 Losev, Aleksej F.: Muzyka kak predmet logiki [Die Musik als Gegenstand der Logik], Moskau 1927 Podzemskaja, Nadežda [Podzemskaia, Nadia]: »Vozvraščenie iskusstva na put’ tradicii« i »nauka ob iskusstve«: Kandinskij i sozdanie GAChN [Die »Rückkehr der Kunst auf den Weg der Tradition« und die »Wissenschaft der Kunst«: Kandinsky und die Gründung der GAChN], in: Issledovanija po istorii russkoj mysli. Ežegodnik [Studien zur Geschichte des russischen Denkens. Jahrbuch] 8 (2006–2007), hg. von M.A. Kolerov und N.S. Plotnikov, Moskau 2009, 150–172 Protokoly zasedanij Muzykal’noj sekcii Naučno-chudožestvennoj komissii. Protokol №. 1. 19 sentjabrja 1921 g. [Sitzungsprotokolle der Musikalischen Sektion der Wissenschaft lichkünstlerischen Kommission. Protokoll Nr. 1. 19. September 1921], in: RGALI. F. 941. Op. 5. Ed. chr. 1. L. 1 Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes, Bd. I, Wien 1918 Taneev’, Sergej I.: Podvižnoj kontrapunkt strogogo pis’ma [Der bewegliche Kontrapunkt der strengen Schreibart], Leipzig/ Moskau 1909 Wehrmeyer, Andreas: Studien zum russischen Musikdenken um 1920. Frankfurt a. M. 1991

Die Semantik der Theateraufführung: Die Theatertheorie an der GAChN Violetta Gudkova

1. Im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verändern sich die Vorstellungen von den Möglichkeiten der Theaterkunst grundlegend. Es scheint, als ob der seit langem allen bekannte Gegenstand des Theaters seine Konturen wechselt. An die Stelle der sprechenden Personen, die die Handlung eines Stückes von der Bühne aus vortragen, auf welcher das Hauptmittel der Informationsmitteilung das verbale Element ist, tritt die integrative Form des Schauspiels – der auf bestimmte Weise organisierte metaphorische Raum. Im sich schnell wandelnden Jahrhundert fasst ein neuer Beruf Fuß – der der Regie. Die Entstehung der Theaterwissenschaft in Russland zu Beginn des 20. Jahrhundert als eigener Zweig der Geisteswissenschaften ist ein Prozess, der nicht nur fest mit der Herausbildung der Regie als Beruf neuen Typs verbunden ist, sondern auch durch ihn initiiert wird. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die künstlerische Ursprünglichkeit der Bühne begriffen und eingebürgert, die Unabhängigkeit der Theaterkunst im eigentlichen Sinne vom Drama als ›fertigem‹, dem Schauspiel vorausgehenden Text. G. Simmel schreibt: Das Drama besteht als abgeschlossenes Kunstwerk. Hebt der Schauspieler dies nun in eine Kunst zweiter Potenz? […] Der Schauspieler versinnlicht das Drama, aber er verwirklicht es nicht, und deshalb kann sein Tun Kunst sein, was Wirklichkeit ihrem Begriffe nach eben nicht sein könnte.1

Die Simmel ’sche Definition von Theaterkunst wird von G. Špet aufgegriffen, der die Konzeption der szenischen Realität als fi ktiv hervorhebt: Die ›Wirklichkeit‹, die durch die Kunst hervorgebracht wird, ist nicht die uns umgebende Wirklichkeit, die unserer lebenspraktischen Erfahrung […], sondern es ist eine Wirklichkeit einer besonderen Beschaffenheit und einer besonderen Wahrnehmung – eine entrückte Wirklichkeit.2

1 G. Simmel: Der Schauspieler und die Wirklichkeit, 5–6. G. Zimmel’ [G. Simmel]: Akter i dejstvitel’nost, 292–293 (Hervorhebung der Autorin). 2 G. Špet: Teatr kak iskusstvo, 31, 37.

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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2. Zu dieser Zeit gibt es in Russland nicht nur ein gesellschaft liches Bedürfnis nach einer Theorie, das sich in den aktiv geführten Diskussionen über den Gegenstand des Theaters, seine Bedeutung und sein Wesen geltend macht, sondern auch diejenigen, die imstande sind, diese Theorie auszuarbeiten. Zu Beginn der 1920er Jahre entsteht im russischen Theater eine einzigartige Situation, die es so früher nicht gegeben hat und die sich nicht mehr wiederholen wird: Absolventen (oder Studenten der letzten zwei bis drei Kurse) der universitären geisteswissenschaft lichen Fakultäten – der historisch-philologischen und der juristischen – kommen zum Theater, Personen mit der gründlichen Allgemeinbildung der damaligen Universität, die über die Strömungen des zeitgenössischen Denkens informiert und offen für neues Wissen sind. Warum geschieht dies? Junge Leute mit geisteswissenschaft lichen Interessen, künftige Privatdozenten, Professoren oder Personen der ›freien Berufe‹ wie die praktizierenden Juristen (Anwälte) verlieren im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts infolge der russischen Revolution von 1917 ihren Beruf und damit die Möglichkeiten, ihre Lebensplanungen in der Zukunft zu realisieren.3 Dieser Verlust dient als Anstoß zur Selbstbestimmung unter neuen Bedingungen und motiviert einige künstlerisch begabte und auf die Öffentlichkeit orientierte Personen, den Beruf des Regisseurs oder des Theaterschriftstellers zu wählen4 , was seinerseits nicht nur zur Blüte des russischen Theaters, sondern auch zu intensiven Reflexionen über die Theaterkunst führt. Die Theaterwissenschaft wird von Personen mit weitem geisteswissenschaft lichem Horizont begründet, die auf Wort, Analyse und Verstehen orientiert sind. ›Verstehen‹ ist hier das Schlüsselwort. Das Streben, sich Methoden zur Analyse von Bühnenwerken, ihrer Struktur und Poetik anzueignen, zeigt sich auch im großen Interesse der Theaterwissenschaft ler und eines gewissen Teils der Regisseure für theoretische Ideen, u. a. des frühen OPOJAZ.

Zu erwähnen ist, dass 1919 die Auflösung juristischer Fakultäten im Lande stattfi ndet und dass das Narkompros 1921 auch historisch-philologische Fakultäten schließt. Vgl. V. Topoljanskij: Skvoznjak iz prošlogo, 62–65. 4 So ist P.A. Markov ein Absolvent der historisch-philologischen Fakultät der MGU, der gleichzeitig sowohl als Sekretär der Theatersektion der GAChN tätig ist als auch als aktiver Theaterkritiker auft ritt und etwas später Leiter der Literaturabteilung des Moskauer Künstlerischen Theaters (MChT) wird. Ein Student der Juristischen Fakultät (bis zum Eintritt in die Kurse der Philharmonischen Fachschule) ist V. Mejerchol’d. A.Ja. Tairov » [tritt] nach dem Abschluss der Universität in eine Anwaltskorporation ein« (A.Ja. Tairov: Zapiski režissera, 69). V.G. Sachnovskij absolviert die historisch-philologische Abteilung der Moskauer Universität, und E. Vachtangov, der in die Physikalische Fakultät derselben Universität eintritt, wechselt zwei Jahre später zur Juristischen über und organisiert im folgenden Jahr den Drama-Zirkel der Moskauer Universität. N.D. Volkov absolviert bis zur Revolution erfolgreich die Juristische Fakultät der Moskauer Universität (in die er 1912 eingetreten ist), und V.N. Parnach studiert nach der Historisch-Philologischen, ebenso wie Ju.K. Oleša, an der Juristischen Fakultät. 3

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Auf diese Art und Weise kommt, obwohl noch keine Lehrstühle und Fakultäten für Theaterwissenschaften existieren, die Universität ins Theater. Und gerade an der Jahrhundertwende wird die Theaterwissenschaft als selbständige Disziplin der Geisteswissenschaften etabliert, d. h. in die Sphäre der Wissenschaft eingeführt.

3. In dieser Zeit erkennt man die Notwendigkeit, neue Ansätze zur Erforschung des sich reformierenden russischen Theaters zu erarbeiten. Die Gründung des Staatlichen Instituts für Theaterwissenschaft im Herbst 1921 ist die Antwort auf die entstandene Situation, die eine Institutionalisierung der einzelnen Zirkel und Vereinigungen der über das Theater schreibenden Personen erfordert. Bereits nach wenigen Wochen wird das Institut in die gerade entstehende Gesamtstruktur der GAChN eingegliedert und bildet die Basis der Theatersektion. Zu ihren Mitglieder gehören K.S. Stanislavskij, V.Ė. Mejerchol’d, A.Ja. Tairov, V.I. Nemirovič-Dančenko, A.A. Bachrušin, A.I. Južin, V.G. Sachnovskij, L.Ja. Gurevič, P.A. Markov, N.D. Volkov, S.A. Poljakov, V.A. Filippov, M.D. Ėjchengol’c, P.M. Jakobson u. a. Die Liste der Mitglieder vermittelt ein wichtiges Charakteristikum der Theatersektion: Sie vereinigt Menschen verschiedener Generationen, bekannte Theaterpersönlichkeiten, die auf wertvolle Erfahrungen zurückgreifen können, sowie junge Leute auf der energischen Suche nach neuen Ideen. Bereits im Jahre 1922 werden Vorträge von G.G. Špet zum Thema »Das Theater als Kunst«, von V.A. Filippov zum Thema »Was ist das Theater«, von M.D. Ėjchengol’c über »Die Geschichte des Theaters als Wissenschaft« sowie von V.Ė. Moric über »Wege und Aufgaben der Theatergeschichte« veranstaltet.5 Es ist bis jetzt leider nicht gelungen, die Texte dieser Vorträge (mit Ausnahme der Publikation des Vortrags von G.G. Špet) im Nachlass der Akademie aufzufinden: Höchstwahrscheinlich bleibt in den ersten Monaten des Bestehens der Theatersektion die Protokollierung der Vorträge und die Archivierung der Vortragstexte eine Sache des Zufalls, systematische Stenogramme der Sitzungen werden nicht geführt. Im Herbst 1923 wird an der GAChN die Gruppe für Methodologie der Theaterwissenschaft gegründet, die die Frage nach dem Gegenstand der Theaterwissenschaft, nach der Erschließung und der Bestimmung des Begriffs ›Theater‹, nach der Anwendung formaler und soziologischer Methoden in der Theaterforschung stellte und das Werk sowie die Methoden des deutschen Theaterwissenschaft lers Max Herrmann einer Analyse unterzog.6

Zwei Jahre später, am 22. Oktober 1925, findet eine Organisationssitzung der neuen, Theoretischen Unterabteilung statt, mit deren Leitung man den Regisseur und 5 6

Vgl. GAChN. Otčet za 1921–1925, 33–34. Ebd., 32.

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Schriftsteller V.G. Sachnovskij betraut und deren Aufgabenplan nun besprochen wird. Die erste Frage, die es zu beantworten gilt, wird folgendermaßen formuliert: Es müsse definiert werden, was das Theater als Objekt der Theaterwissenschaft sei. Es wird die Aufgabe gestellt, die Geschichte des Gegenstands und die Methode seiner Erforschung zu begründen. Die junge Wissenschaft verfügt weder über eigene Analysemethoden, noch über ein terminologisches Instrumentarium. Wichtig ist dabei, dass die absolute Unformalisiertheit der Theaterkunst nun zum ersten Mal als erheblicher Mangel begriffen wird. Was für ein Glück, Pausen, Metronom, Stimmgabel, Harmonisierung und Kontrapunkt zur Verfügung zu haben, erarbeitete Übungen für die Entwicklung der Technik, eine Terminologie, die diese oder jene schauspielerische Darstellung bezeichnet, und Begriffe für schöpferische Wahrnehmungen und Erlebnisse,

schreibt K.S. Stanislavskij. »Die Bedeutung und Notwendigkeit dieser Terminologie wurden in der Musik längst erkannt. Dort gibt es verbindliche Grundlagen, auf die man sich stützen kann […].«7 In der Entstehungsphase der Theaterkunde als Wissenschaft sind Entlehnungen aus anderen Wissensgebieten (darunter nicht nur der Philosophie, Psychologie, Geschichtswissenschaft, Literatur- und Musikwissenschaft, sondern auch der Mathematik, Geologie und Physik), die bereits über ein System analytischer Konstruktionen verfügen, unvermeidlich. Dabei induzieren die neuen wissenschaft lichen Ideen auch revolutionäre Entdeckungen in Wissenschaftsgebieten, die scheinbar überhaupt nichts mit der Theaterproblematik zu tun haben. So erinnert sich Roman Jakobson gegen Ende der 1970er Jahre an das gewaltige Kraft feld des Jahrhundertbeginns: Unsere unmittelbare Schule hinsichtlich der Gedanken über die Zeit war die sich verbreitende Diskussion rund um die neugeborene Relativitätstheorie mit ihrer Ablehnung der absoluten Zeit und ihrer hartnäckigen Verknüpfung der Zeit- und Raumprobleme.8

Zu Beginn der 1920er Jahre werden grundlegende Konzeptionen des Theaters als Kunstphänomen formuliert. G.G. Špet gibt 1922 in einem Artikel eine Definition der Konventionalität (Symbolik) als des wichtigsten Wesenszugs des Theaters. P.A. Florenskij untersucht die räumlich-zeitlichen Charakteristika der Bühnenkunst. Ausgehend von der Feststellung, »jede Kultur [könne] als Tätigkeit der Organisation von Raum gedeutet werden«, nimmt er an, dass »die Poesie und die Musik sich ihrer Natur nach der Tätigkeit der Wissenschaft und Philosophie nähern, während die

7 8

K.S. Stanislavskij: Moja žizn v iskusstve. Zit. nach J.S. Levčenko: O nekotorych fi losofskich referencijach russkogo formalizma, 188.

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Architektur, die Skulptur und das Theater sich der Technik nähern«9. Bald darauf werden die räumlich-zeitlichen Wechselbeziehungen als das wesentliche inhaltliche Element des Schauspiels begriffen. Das Bühnenbild – das ist keineswegs eine statische Gruppierung, sondern ein Prozess: Die Einwirkung der Zeit auf den Raum. Neben dem plastischen Element ist im Bühnenbild auch das Element der Zeit enthalten, d. h. das rhythmische und musikalische,

formuliert Mejerchol’d.10 4. Indem sie die verschiedenen Seiten ein und desselben Gegenstands akzentuieren, schlagen die Theaterforscher verschiedene Methoden zu seiner Analyse vor. Ihnen gemeinsam ist aber, dass sich die Mitarbeiter der Theatersektion der GAChN bei der Diskussion über das Theater als Kunstphänomen auf die deutsche philosophische Tradition stützen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts am einflussreichsten ist. Über die Einflüsse einer besonderen Theaterrichtung (der Meiningener auf das Werk des frühen MChT) ebenso wie über die Einflüsse der Werke deutscher Theatertheoretiker auf die frühen Versuche der russischen Theaterwissenschaft ist viel bekannt. Überhaupt wird in der russischen künstlerischen Elite dieser Jahre aus verschiedenen Gründen gerade die deutsche Tradition sehr stark rezipiert. Viele Theaterpersönlichkeiten hielten sich zum Studium oder zur Arbeit in Deutschland auf. So steht V.G. Sachnovskij, der das Studium an der Universität zu Freiburg absolviert, unter dem Einfluss der Ideen H. Rickerts; F.A. Stepun verbringt sieben Jahre an der Heidelberger Universität bei W. Windelband; V.M. Vol’kenštejn studiert, bevor er die Stelle als Sekretär K.S. Stanislavskijs antritt und Leiter der Literaturabteilung des Ersten Studios des MChT wird, ebenfalls einige Zeit in Heidelberg; G.G. Špet studiert bei E. Husserl in Göttingen. ›Deutschorientiert‹, wenn man sich so ausdrücken darf, ist zweifellos auch Mejerchol’d, der russlanddeutscher Abstammung ist und fließend Deutsch beherrscht. Die neuesten Strömungen der europäischen (und vor allem deutschsprachigen) Philosophie, die sich in den 1910er und 20er Jahren so vielversprechend entwickelt (insbesondere die entstehende Phänomenologie), gelangen schnell nach Russland, da sie ›aus erster Hand‹ aufgenommen werden. Nicht zufällig werden die Sitzungen der Theoretischen Unterabteilung der Theatersektion der GAChN mit Vorträgen eröff net, die im Zusammenhang mit der Entwicklung der deutschen Theaterwissenschaft stehen: Die Prozesse der Herausbildung der Theaterwissenschaft in Russland und Deutschland verlaufen parallel zueinander und gleichen sich. (Eigentlich wurde der Terminus ›Theaterwissenschaft‹ 9 10

P.A. Florenskij: Analiz prostranstvennosti i vremeni, 61. Vgl. A.K. Gladkov: Mejerchol’d, 299.

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selbst 1900 von Max Herrmann eingeführt11). P.A. Markov hielt den Vortrag »Theaterwissenschaft in Deutschland«, nachdem er eine eigens dafür bestimmte Forschungsreise unternommen hatte; L.Ja. Gurevič präsentiert einen Überblick über die deutschen Forschungen auf dem Gebiet der Psychologie der Theaterkunst. Später analysiert P.M. Jakobson das fundamentale Werk Hugo Dingers Die Dramaturgie als theoretische Wissenschaft. Und eines der Schlüsselwerke des Leningrader Theaterwissenschaft lers A.A. Gvozdev, der der Theatersektion der GAChN nahe steht, ist auf einer akribischen Auswertung der Grundlagenforschung M. Herrmanns aufgebaut12 . Bei seiner Charakterisierung der prinzipiellen Bedeutung der Monographie M. Herrmanns über das Theater der deutschen Meistersinger des 16. Jahrhunderts lenkt Gvozdev die Aufmerksamkeit des Lesers in erster Linie auf die »ununterbrochene Kontinuität der Universitätsforschung zu Fragen des Theaters und seiner Geschichte«, und obwohl der Wissenschaft ler auch in Deutschland das Fehlen einer »speziellen historisch-theatralischen Methode« konstatiert, pflichtet er dem Urteil Herrmanns über den »vorwissenschaftlichen Zustand«13 der Theaterforschungen bei. Diesen ›vorwissenschaft liche Zustand‹ der Studien über die Theaterkunst versuchen auch die Forscher zu überwinden, die in der Theoretischen Unterabteilung der Theatersektion der GAChN zusammengekommen sind.

5. Überlegungen zum Phänomen der Theaterkunst kommen auf unterschiedlichen Ebenen zustande. Neben der Diskussion der allgemeinphilosophischen Konzeptionen der neuen Theaterwissenschaft ist eine Behandlung konkreterer Probleme notwendig. Mit der Herausbildung des Theaters als Studienobjekt und der beginnenden Ausgestaltung der Theaterwissenschaft als selbständigem Zweig der Geisteswissenschaften entsteht zwangsläufig die Frage der Begründung einer Geschichte des Gegenstands, in welcher die Spezifik der Theaterkunst mit voller Deutlichkeit hervortritt. Es ist vor allem notwendig, geeignete Hilfsmittel für die Ausarbeitung einer wissenschaft lichen Geschichte des Theaters zu entwickeln, d. h. die Maßeinheit, das Urelement der Theaterkunst zu ermitteln. Mit dieser taxonomischen Einheit wird das Schauspiel (spektakl’) als dynamisches Ganzes zum Forschungsobjekt gewählt (was in der Folge eine Reihe von Problemen aufgrund der offenkundigen Heterogenität seiner Elemente hervorruft).

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S. Corssen: Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft, 74. M. Herrmann: Forschungen zur deutschen Theatergeschichte. A.A. Gvozdev: Germanskaja nauka o teatre, 8 f.

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Den nächsten Schritt in der Differenzierung der Struktur der Theaterhandlung vollzieht Mejerchol’d: Er erarbeitet eine Theatersprache als Sprache der Bühnenbilder (misanscena). Das ›Bühnenbild‹ begreift er als jenes konstruktive Element des Schauspiels, in welchem Schauspieler, Raum und Zeit vereint sind. Zwei Moskauer Forscher, Pavel M. Jakobson und Nikolaj I. Tarabukin, formulieren eine bedeutend radikalere Idee: Die der Gebärde als Grundlage des theatralischen Schauspiels. Der erste der uns bekannten Beiträge, die der Erforschung des Phänomens der Bühnenkunst in der Theatersektion des GAChN gewidmet sind, ist der Vortrag P. M. Jakobsons14 vom 29. Mai 1925 mit dem Titel »Die Elemente des Schauspiels und ihre ästhetische Bedeutung« (Elementy spektaklja i ich estetičeskoe značenie). Jakobson verwendet den von Humboldt inspirierten Terminus der ›inneren Formen‹ und führt die Konzeption der expressiven Gebärde ins Feld (»Denn jede ausdrucksvolle, expressive Bewegung ist im weitesten Sinne des Wortes eine Gebärde, und jede theatralische Handlung kann als detaillierte Gebärde festgelegt werden«)15. Wir sehen hier einen jungen Anhänger der formalistischen Schule vor uns, der vorschlägt, das Theater als integrale semantische Struktur zu untersuchen. Ich erinnere daran, dass gerade die Analyse der Schauspielkunst als Evolution der Gebärde einen zentralen Platz in Gvozdevs Referat über die Arbeiten M. Herrmanns einnimmt. Herrmann setzt den Naturalismus der schauspielerischen Methoden, die in den Fastnachtspielen Anwendung finden, der Bühnenkunst im Drama hohen Stils entgegen, in welchem ein bestimmtes System der Körperbewegungen vorherrscht, die stilisierte, symbolhaft-typische Gebärde, ohne Individualisierung und Mimikbegleitung. […] Eine Erschließung und eine konkrete Definition dieses Systems gelingen mittels einer vielschichtigen Untersuchung der Gebärden in verschiedenen Bereichen des künstlerischen Schaffens der gegenwärtigen und vergangenen Epochen. […] Diese vergleichende Untersuchung erklärt die Gebärde des mittelalterlichen Theaters und vermittelt ein klares Bild der Entwicklung der schauspielerischen Bewegung von der frühen Epoche des mittelalterlichen Theaters mit seinen monotonen, noch vollkommen an Bibeltext Pavel M. Jakobson (1902–1979). Von 1925 bis 1930 aktiver Mitarbeiter der Theatersektion der GAChN. Im Laufe von dreieinhalb Jahren, von 1925 bis 1928, hält Jakobson zwei Dutzend Vorträge, die verschiedenen Problemen der Theatertheorie gewidmet sind. Leider sind die Vorträge selbst nicht alle erhalten geblieben, sondern lediglich ihre Thesen, die im besten Fall in den Stenogrammen der Diskussionen festgehalten wurden. Nichtsdestoweniger ist auch hier bestimmtes Material für eine Rekonstruktion der allgemeinen Forschungsrichtungen vorhanden. Jakobsons Interesse gilt allen grundlegenden Fragen der Theaterwissenschaft: Vom Wesen des Theaters als Kunst und seinen wechselseitigen Beziehungen zur Literatur über die Dramenlehre, unterschiedliche Ansätzen der Erforschung des Phänomens Theater insgesamt und das Wesen der Schauspielkunst bis hin zu den höchst ›technologischen‹ Problemen der Bühne – der Struktur des Schauspiels, seiner wichtigsten Elemente, der Methoden der Fixierung, der Rolle des Rhythmus im Theater u. a. Jakobsons letzter Vortrag an der GAChN ist der Psychologie der Schauspielkunst gewidmet, und mit diesem Thema beschäft igt er sich bis zum Ende seines Lebens. 15 P.M. Jakobson: Tezisy doklada »Ėlementy spektaklja i ich ėstetičeskoe značenie«. 14

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gebundenen Bewegungen bis hin zu Naturalismus, Individualisierung und Pathetik des Gebärdenspiels, das am Ausgang des Mittelalters in Bühnenvorstellungen aufkommt.16

Jakobson spricht von der Gebärde als Zeichen, und dies ist wiederum eine Grundlage des Theater-ABC, sein (minimales, d. h. nicht weiter teilbares) Urelement. Das Gebärdensystem ist es auch, welches das semantische theatralische Alphabet bildet. Die Gebärde ist reflexiv, und wenn sie reflexiv ist, so ist sie auch das gesuchte Ausdrucksinstrument, das auf der Bestimmtheit der Konvention zwischen Schauspieler und Publikum basiert. In der Gebärde sind sowohl die Zeit als auch ihr Verständnis (Interpretation) ausgedrückt, sowohl das ›allgemeine‹ (typisierte) als auch das individuelle. Regisseur V.G. Sachnovskij hinterfragt Jakobsons Position, indem er die These von der magischen Unergründlichkeit der theatralischen Natur aufstellt: »Das Theater gewinnt manchmal den Charakter populärer, verständlicher Kunst, aber im allgemeinen ist es unergründlich im Gegensatz zu den gewöhnlichen Gegenständen. Es ist in seinen Grundlagen irrational«, erklärt Sachnovskij. Und noch einmal: Die Spezifi k des theatralischen Gegenstands ist außerordentlich, sie erfordert auch entsprechende geistige Operationen, ebenso wie eine Untersuchung des Schaffens im Traum. Das Theater besitzt ein Spezifi kum im unterbewussten Bereich.17

Somit werden im Bereich der Theoretischen Unterabteilung unterschiedliche Positionen sichtbar, und es entwickelt sich ein Streit zwischen Theatertheoretikern und Theaterpraktikern, ein Streit zwischen Methodologen und ›Theaterleuten‹. Den Standpunkt Ersterer repräsentiert P.M. Jakobson, der beharrlich danach strebt, die Überlegungen in einen Plan der theoretischen Reflexion hinüberzuführen. Die Auffassung des Theaters durch diejenigen, die es schaffen, verteidigt V.G. Sachnovskij konsequenter und energischer als die anderen. Die Paradoxie der Situation besteht darin, dass der Philosoph (Jakobson, jüngst Absolvent der Philosophischen Abteilung der Philologischen Fakultät der Moskauer Universität) bemüht ist, eine operative Definition der Grundlagen einer Theatersprache zu erarbeiten, der Praktiker (Sachnovskij) hingegen über den Gegenstand seiner beruflichen Tätigkeit ›philosophiert‹. Bei seiner Erörterung des von Jakobson gehaltenen Vortrags spricht Sachnovskij vom einem äußerlich gegebenen Ausdrucksplan der Theaterkunst: »Das einzige, [was] objektiv gegeben[ist], ist die Bewegung einiger Massen – eine gewisse psychische Masse, die gezeigt wird, als wenn sie optisch wäre«. Und noch einmal (im eigenen Vortrag »Der Gegenstand des Schauspiels«): Der Gegenstand des Schauspiels ist die Katastrophe der gleichzeitig zusammenprallenden Kräfte des Schauspiels. […] Der Text des Autors oder die literarische Vorlage 16 17

A.A. Gvozdev: Germanskaja nauka o teatre, 15. Prenija po dokladu P.M. Jakobsona »Teatr kak predmet teatrovedenija«.

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des Schauspiels sind eine Art Melos. […] Die Bühnenhandlung ist eine in verschiedenen Geschwindigkeiten erfolgende Bewegung verschiedener Massen von Erlebnissen mit deren Fixierung im Bühnenbild.18

Es ist offensichtlich, dass die Polemiker von unterschiedlichen Traditionen der Geisteswissenschaft ausgehen. Jakobson hat eine Neigung zur formalistischen Schule der Kunstwissenschaft, zu ihrem lexikalischen Repertoire. Sachnovskij hingegen stützt sich auf Termini, die zu unterschiedlichen Traditionen gehören, von aristotelischen Texten (Katastrophe, Melos) bis hin zu zeitgenössischen Forschungen zur Psychologie, die sich im Theatermilieu eingebürgert haben (›psychische Masse‹, ›Erlebnis‹). Doch weder die eine noch die andere Tradition ist fähig, den neuen Untersuchungsgegenstand mit erschöpfender Adäquatheit darzustellen. Vielleicht ist das Instrumentarium der formalistischen Schule einerseits wegen seiner demonstrativen Rigidität und andererseits wegen seiner Systematizität ›bequemer‹ für eine Analyse der offenen (aber in vielem chaotisch erscheinenden) Sphäre der Theaterkunst in einer historisch-kulturellen Situation, die die ursprüngliche psychologisierende Deskriptivität der Theaterrezensenten überwindet. Doch es scheint, dass solch unähnliche Ansätze sich gegenseitig eher ergänzen denn ausschließen. Ende November 1928 hält Jakobson erneut den Vortrag »Was ist das Theater«. Die behandelten Fragen erweisen sich als so wichtig für die Zuhörer, dass ihre Erörterung zwei Sitzungen einnimmt. 1. Die theoretische Untersuchung des Theaters wird nur dann erfolgreich sein, wenn man aufhört, davon zu reden, dass das Theater aus dem Stück, der Dekoration, der Musik, den Handlungen des Schauspielers und des Regisseurs usw. zusammengesetzt ist. Das Schauspiel ist ein Ganzes – und als dieses Ganze muss man es für die Wissenschaft nehmen. […] Das Theater als Konkretion der Kultur kann nur unter Berücksichtigung seines Kontextes und der Art und Weise des Verständnisses und der Interpretation erschlossen werden, in der wir die vor uns stattfi ndende Wirklichkeit erfassen. 4. Es ist Zeit, sich von der Position zu distanzieren, im Theater hätten wir neben der Gebärde das Wort, hätten die Musik usw. Das Element des Theaters ist die Gebärde. Dies ist keine Erklärung, sondern ein Hinweis auf die Spezifi k des Gegenstandes. Der Kontext des Theaters ist die Sphäre des Spiels, das als Vorstellung und als Verkörperung von Personen begriffen wird. Dies zwingt uns prinzipiell, die gesamte Wirklichkeit des Theaters unter dem Aspekt der Gebärde zu interpretieren, sei es das Wort, die Dekoration, die Musik usw. Eine Analyse der Gebärde vermag, den gesamten Gegenstand des Theaters zu erschließen. In der Gebärde gibt es zahlreiche ›wir‹, die das Theater konstruieren. Diese Formen können auch in anderen Trägern auft reten – in der Dekoration, der Musik, dem Wort usw. Einen anderen Weg zur Erschließung des Theaters als Ganzes gibt es nicht.19 18 19

V.G. Sachnovskij: Tezisy k doklady »Predmet spektaklja« (Hervorhebung im Orig.). P.M. Jakobson: Tezisy k doklady »Što takoe teatr«.

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Offensichtlich ist hier die Bemühung um eine ›richtige‹ Formel, unbestreitbar die intensive Suche nach einer Sprache, die fähig ist, die Theaterkunst zu beschreiben, das Bestreben, das Schauspiel als ein bestimmtes, d. h. feste Charakteristiken besitzendes Kulturphänomen zu betrachten. Doch die Thesen zeugen von einem äußerst weiten Verständnis der ›Gebärde‹. Bei Jakobson ist nicht von der Bewegung des Schauspielers, ihren Formen und ihrer Entwicklung die Rede (wie dies bei M. Herrmann der Fall war), sondern von ausnahmslos allen Strukturelementen des Schauspiels, was die analytischen Möglichkeiten des Terminus prinzipiell verringert. Die Ideen Jakobsons werden von dem Kunstwissenschaft ler N.M. Tarabukin aufgegriffen. Im Frühling 1929 hält er den Vortrag »Der Rhythmus und die Dialektik der Gebärde«. In seinen Thesen wird die Gebärde als wichtigstes Element der Raumorganisation gehandelt, das sowohl in die aktuelle Zeit als auch in den historischkulturellen Kontext eingefügt ist: I. Die Universalität der Gebärdensprache einerseits und ihre Konventionalität andererseits. 1. Die Gebärde ist eine Bewegung, die innerlich gerechtfertigt und äußerlich als Zeichen ausgedrückt wird. 2. Der Gebärde, die als Kategorie des Werdens behandelt wird, müssen die Pose als gewordene Gebärde und das Gebärdenspiel als mechanische Körperbewegung gegenübergestellt werden. 3. Die Gebärde ist voluntaristisch. 4. Die Natur der Gebärde ist dialektisch. 5. Der Inhalt der Gebärde schließt Rhythmus, Faktur, Tempo und Komposition ein. 6. Der Rhythmus ist die Form der Bewegung. Der Rhythmus verleiht der Gebärde den künstlerischen Ausdruck der Bewegung. 7. Der Stil der Gebärde ist das Produkt der Epoche. […] Wie die Natur der Gebärde, so ist auch die Entwicklung der Gebärde dialektisch.20

Wenn man von einigen lexikalischen Besonderheiten der Mitteilung absieht (die hervorgehobene Akzentuierung der unerlässlichen ›Dialektik‹, den Gebrauch des verbreiteten Ausdrucks ›Produkt der Epoche‹ oder des ›Voluntarismus‹ anstelle von ›Freiheit‹), so haben wir ein genaues Programm für die Erforschung der Gebärde als Grundlage der Theaterkunst vor uns. Prinzipiell ist die Trennung der ›Gebärde‹ als Symbol, das das Wesen und seinen Ausdruck, seine Bedeutung und sein Zeichen in sich vereint, von der ›Pose‹, des Sinns und des Zeichens von der entleerten inhaltlosen Schablone (der ›Pose‹). Somit erhält das allgemeine Prinzip, das zwei Jahre zuvor von Jakobson formuliert worden ist, bei Tarabukin seine Konkretisierung und Weiterentwicklung. In diesen Jahren wird in der Theatersektion ein Vortrag gehalten, der der Analyse der Pause als dem bedeutungshaften Schweigen gewidmet ist, es entstehen die 20

N.M. Tarabukin: Tezisy doklada »Ritm i dialektika žesta«.

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Mejerhol’d’schen Überlegungen zur Rolle der Pause in der Struktur des Schauspiels, usw. Die ›Elementierung‹ der Theaterhandlung dauert an.

6. Das unbestreitbare Verdienst der in der Theatersektion der GAChN arbeitenden Forscher besteht darin, dass sie nicht nur die Selbständigkeit der Theaterkunst begründen und die Theaterkunde in die Sphäre der Wissenschaft einführen, sondern auch den Versuch unternehmen, Forschungsmethoden zu entwickeln und ihren Begriffsapparat zu erarbeiten. Dabei ändert das Untersuchungsobjekt mit einer solch hohen Geschwindigkeit die seine Möglichkeiten bestimmenden Konturen, dass die notwendige historische Distanz, die den Gegenstand hätte ›abkühlen‹ und ›kristallisieren‹ können, nicht erreicht wird. Gleichzeitig wird sowohl eine im eigentlichen Sinne künstlerische Theatersprache als auch eine terminologische Sprache der Theaterwissenschaft erarbeitet, die sich als eine wissenschaft liche Disziplin etabliert. Die theaterwissenschaft liche Analyse, die traditionell eine Neigung zur Bildhaft igkeit und zur Metapher, d. h. zum verbalen Analogon der Kunst aufweist, ist nun bestrebt, eine ›Grammatik der Bühnenkunst‹ (Stanislavskij) zu entwickeln. Die Erarbeitung einer bühnenbildnerischen Sprache wird zum prinzipiellen Schritt in der Befreiung von der auf der Bühne vorherrschenden Rolle des Wortes. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts sagt das Theater, welches zu Beginn des vorherigen Jahrhunderts in heftigen Konflikten seine Unabhängigkeit von der Literatur bewiesen hat, sich allgemein vom Wort los und gerät zur Form der nichtverbalen Darstellung. Dadurch wird der gesamte Entwicklungszyklus der Theaterkunst abgeschlossen. Die Kunst der Gebärde als Grundbaustein des Theaters stellt ihre umfassenden Möglichkeiten unter Beweis. Der Körper und die Körperlichkeit entwickelen sich am Ausgang des 20. Jahrhunderts zu verbreiteten und wichtigen Themen philologischer, kulturtypologischer und philosophischer Studien. Bei der (bisweilen radikalen) Erweiterung des Spektrums der szenischen Strukturen werden das Bühnenbild, die Gebärde und die Pause weiterhin als die wichtigsten semantischen Einheiten der Bühnenkunst untersucht. Die Forschungen der Theoretischen Unterabteilung der Theatersektion der GAChN, die so vielversprechend begonnen haben, werden bei den ersten Zugängen zur Erarbeitung einer Philosophie und Theorie des Theaters eingestellt. Die hier aufgeworfenen Fragen aber, jedenfalls jene, die auf den Sitzungen der Theoretischen Unterabteilung der Theatersektion der GAChN angesprochen worden sind, insbesondere in der vieljährigen Polemik P.M. Jakobsons und V.G. Sachnovskijs, sind bis zum heutigen Tag im Blickfeld der Forscher geblieben. Aus dem Russischen übersetzt von Shirin Sariya Schnier

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Violetta Gudkova

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Die Theatertheorie an der GAChN

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Das Ding ist ein Wort. Positionen der GAChN im Kontext des avantgardistischen Reismus Anke Hennig

Das Nachdenken über die Dinge hat in den Avantgarden einen weiten Raum eingenommen. Das Spektrum der Positionen, die sich hier während des ersten Jahrzehnts nach der Oktoberrevolution in Russland finden, ist außerordentlich breit und reicht vom futuristischen Horror vor den Dingen über den suprematistischen Ikonoklasmus bis zur konstruktivistischen Produktionskunst. Für die künstlerische Herangehensweise an die Dinglichkeit steht vielfach das Bestreben im Vordergrund, die materiell-dingliche Natur des Kunstwerks zu ergründen. Das meint in der Malerei beispielsweise ein Nachdenken über die Materialität von Farbe und Leinwand, die dabei ihre Dinglichkeit offenbaren oder in der Literatur eine Betrachtung des lyrischen Gedichtes in seiner Klang-, Laut- und Buchstäblichkeit als solcher. Im avantgardistischen Reismus (veščizm) hat auch die Position der GAChN ihren Ort. Sie scheint dazu eine ganz bestimmte Charakteristik aufzuweisen, die ich mit meinem Titel andeuten wollte. Verschiedene Theoretiker, die an der GAChN tätig waren, hatten ein besonderes Interesse an einer »Sprache der Dinge«. Wofür exemplarisch der gleichnamige Text von Aleksandr Gabričevskij steht, gilt ebenso für Gustav Špets Überlegungen zum Wort als sozial-kulturellem Ding. Ähnliches lässt sich auch im Text »Ding« von Nikolaj Žinkin finden.1 Ich werde den genannten Positionen folgen und daran anschließend einige Überlegungen dazu anstellen, wie sich das Verhältnis der verschiedenen, an der GAChN vertretenen Disziplinen zu einer »Sprache der Dinge« gestaltete. Richtet man diese Frage an die Kunstwissenschaften an der GAChN, so wäre es interessant neben Aleksandr Gabričevskijs Text die Position Boris Šapošnikovs hinzuzuziehen. An dieser Stelle will ich auf die Überraschung hinaus, die sich bei Aleksandr Gabričevskij einstellt, in dessen Morphologie der Kunst die bildende Kunst unter den Raumkünsten erscheint und für den eine Rekonstruktion der »Sprache der Dinge« unvermittelt ein neues Untersuchungsfeld eröffnet, um ganz plötzlich ins Zentrum der Kunstwissenschaft als einer Morphologie der Raumkünste zu rücken. Was sich in den Kunstwissenschaften als Glücksfall darstellt, sieht in den Literaturwissenschaften dagegen sehr verspannt aus. Obwohl die Sprache der Dinge als eine künstlerische zu verstehen ist und das notwendig die Frage nach einer Literarizität dieser Sprache impliziert, scheinen die Literaturwissenschaften hier geradewegs in ein Dilemma zu geraten. Auf der einen Seite fällt es der Literaturabteilung der GAChN schwer, ihre Formenanalysen gegen Bei aller Verschiedenheit in den Ansätzen trifft es auch auf Aleksej Losevs Ding und Name (Vešč’ i imja) zu. 1

ZÄK-Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2014 · ISBN 978-3-7873-2410-1

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die avantgardistischen Literaturexperimente in Richtung einer Aisthesis des Textes zu verteidigen, in denen das Wort zum Ding erklärt wird und denen die Theorie des russischen Formalismus Rechnung trägt. Auf der anderen Seite hat die Literaturabteilung Schwierigkeiten, sich gegen die methodischen Übergriffe aus der philosophischen Abteilung zu schützen, mit deren Versuchen, die Literaturwissenschaft auf eine formvergessene Semiotik zu beschränken und weder die Dinglichkeit, noch die Formalität sondern ausschließlich die Gegenständlichkeit der Literatur als Gegenstand der Literaturwissenschaften anzuerkennen. Als stellvertretend dafür, in welchem Maße diese Ästhetik des Wortes einer poetischen »Sprache des Dings« im Wege steht, will ich den einzigen mir bekannten dingfeindlichen Text der 1920er Jahre betrachten – Michail Stoljarovs »Ding oder Schaffen?«2 .

Ding und Gegenstand Wenn man nun versucht zu verfolgen, wie sich die einzelnen Positionen zur Ästhetik und Sprachlichkeit der Dinge auseinender entwickeln, müsste man mit Špets Ästhetischen Fragmenten beginnen. Hier findet sich die grundlegende Unterscheidung zwischen Ding und Gegenstand, die für den Diskurs der Dinge an der GAChN prägend war, aber auch für die Poetologie der Avantgarden bestimmend gewesen ist. Um sie herum entspinnen sich eine Reihe von Richtungskämpfen, etwa derjenige zwischen den Konstruktivisten, die an den »Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten« (VChUTEMAS) lehrten, und die Partei des Dings ergriffen hatten und ihren protokonzeptuellen Studenten, wie Solomon Nikritin und Kliment Red’ko, die das Ding als Gegenstand verstanden wissen wollten. Bei der Gegenüberstellung von Ding und Gegenstand handelt es sich also nicht nur um ein akademisches Begriffskonstrukt, obwohl seine Formulierung einem phänomenologischen Interesse entsprang, verdankt sich sein Einfluss der großen Reichweite innerhalb der Kultur der Avantgarden. Im Kern ist die Unterscheidung von Ding und Gegenstand von Špet getroffen worden, als er schrieb, das Ding sei der reale Gegenstand und der Gegenstand das ideale Ding. Die Position der GAChN in dieser Frontstellung bestand in einer Präferenz des Gegenstandes und signifi kant ist der Kontext, in dem Špet diese Unterscheidung trifft, nämlich anlässlich einer sprachlichen Kommunikationssituation: Wenn wir aus dem Mund von N ein Wort vernehmen, das wir als nominales Zeichen eines Dings aufnehmen, so wenden wir uns nicht nur diesem Ding zu, das vorhanden ist oder erinnert wird. Es kommt vor, dass wir weder das Ding vor Augen noch überhaupt etwas konkret-bestimmbares in Erinnerung haben (wenn immerhin das Ding selbst konkret ist). Oder wir wissen im Weiteren nicht, welches konkrete Ding genannt ist. […] Wesentlich ist nur, dass N, der das Wort nennt, und ich, der ich die 2

M.P. Stoljarov: Vešč’ ili tvorčestvo?.

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Wort-Nennung höre, beide ein und dasselbe meinen3. D. h. den Gegenstand, von dem die Rede ist, über den das ›Wort‹ etwas aussagt.4 Когда мы слышим из уст N слово, которое воспринимаем как номинальный знак вещи, мы не только обращаемся к этой вещи — наличной или вспоминаемой. Бывает, что и вещи этой нет налицо, и не вспоминается ничего конкретно-определенного (если еще сама вещь конкретна) или мы далее и не знаем, какая определенная вещь названа. […] Существенно только то, что N, называя, и я, слыша слово-название, будем подразумевать под словом одно и то же. Это есть предмет, о котором идет речь, о котором высказывается ›слово’.5

Ding und Gegenstand werden hier unterschieden als zwei Seiten des Wortes, als seine Referenz und seine Signifi kanz, sein Verweischarakter und seine Bedeutungsnatur. In der Sprache der Repräsentation vertritt ein anwesender Gegenstand als das von beiden Gesprächspartnern geteilte Ideal ein abwesendes Ding. Wie wesentlich ihm diese Verbindung von Ding und Gegenstand durch das Wort ist, wird an folgender Formulierung ersichtlich: »Die Realisierung des Idealen ist, wie gesagt, ein komplexer Prozess der Aufdeckung des Sinns […]«6 (»Реализация идеального, как сказано, сложный процесс раскрытия смысла, содержания […]«7). Mit Blick auf das Revolutionsjahrzehnt, in dem dieser Text entstand, oder auf die zeitgenössische Produktionskunst wäre es wohl naheliegender, einen Prozess der Realisierung von idealen Möglichkeiten als Produktionsprozess, als politische Organisationsmacht oder aber als Lauf der Geschichte aufzufassen, Špet aber will das Real-werden des Idealen als Hermeneutik verstanden wissen. Das Verstehen setzt er zudem vom Verstehenden ab und isoliert es damit von Sprecher und Hörer sowie von deren konkreter und subjektiver Erfahrung. »Wenn wir sagen: ›Das meint‹, dann versteht nicht das Subjekt, die Person, nicht N und nicht ›wir‹, sondern das Wort selbst, und im Wort selbst wird verstanden«8 (»Говорим: ›подразумевается‹ — не субъектомлицом, не N, не ›нами‹, а самим словом и в самом слове.«9). Das anagogische Moment dieser Hermeneutik, d. h. die Annahme von etwas Aufzudeckendem, von einem innerhalb des Wortes zu lokalisierenden Sinn, deutet schon auf seinen anagogischen Formalismus in Die innere Form des Wortes von 1927 hin. Wie man sich eine solche Anagogik vorzustellen hat, wie es also zur Aufdeckung des Inneren kommt, wäre wohl auch die zentrale Frage, die bei allen gegenwärtigen Versuchen einer methodischen Wiederanknüpfung an den Begriff der inneren Form beantwor»Meinen« – Diese Übersetzung von »podrazumevanie« gibt Špet selbst in einer Fußnote seines Buches Vnutrennjaja forma slova, 94 an. 4 G. Špet: Ästhetische Fragmente (Auszüge), 629 f. 5 Ders.: Sočinenija, 392 f. 6 Ders.: Ästhetische Fragmente, 632. 7 Ders.: Sočinenija, 394. 8 Ders.: Ästhetische Fragmente, 631. 9 Ders.: Sočinenija, 393. 3

Das Ding ist ein Wort

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tet werden müsste. Der Frage nach der Aktualität dieses Begriffs ist der Beitrag von Rainer Grübel gewidmet, auf die Soziologie des Dings, die Špet in seinem Buch Die innere Form des Wortes entfaltet, werde ich noch zurückkommen, wenn anhand der Texte von Gabričevskij und Žinkin – die chronologisch und konzeptuell dazwischen liegen – eine Sicht auf die Dinge entfaltet worden ist, für die Špet sich zu jenem Zeitpunkt noch kaum interessiert. Im damaligen Stadium des Nachdenkens über die Dinge an der GAChN sind die Dinge vorerst die materiellen, abwesenden Referenten einer sprachlichen Kommunikation, die sich auf einen Gegenstand richtet, den die Gesprächspartner als Ideal miteinander teilen.

Sprache und Gebrauch der Dinge Nikolaj Žinkin macht in seinem Text »Ding«, der 1924 geschrieben wurde, nun zwei weitere wesentliche Punkte deutlich, er verweist nämlich auf die Abhängigkeit des Dinges von der Sprache und die Abhängigkeit des Gegenstandes vom Gebrauch. Zunächst besteht er also darauf, dass die Dinge nur als Referenten wahrzunehmen wären, d. h. ihre Realität nur eine sprachliche sei. Er hatte eine Kritik gegen Husserl und Špet angestrengt, in der er zu zeigen bemüht war, dass die Unterscheidung zwischen realen Dingen der Wahrnehmung und idealen Gegenständen des Bewusstseins nicht vom Bewusstsein getroffen werden kann. Kein Bewusstsein, auch kein Realitätsbewusstsein, sei in der Lage einen Gegenstand zu realisieren. Hier mag man sich an jene Szene erinnern, in der die Wahrnehmung des Phänomenologen um einen Tisch kreist. Der Tisch als solcher kann im Prinzip niemals wahrgenommen werden, weil seine Rückseite aus keiner Perspektive wahrzunehmen ist und weil sich das Wahrnehmungsbild des Tisches zudem permanent ändert, d. h. jede einzelne Perspektive auf den Tisch sich von der vorhergehenden unterscheiden wird, sobald der Phänomenologe den nächsten Schritt tut, um sich der Rückseite des Tisches zu nähern. Hat er den Kreis vollendet und ist er einmal um den Tisch herumgegangen, kann er nur festhalten, in jedem einzelnen Moment eine andere Wahrnehmung gehabt zu haben, die in keinem Moment eine Wahrnehmung des Tisches gewesen ist. Žinkin hatte sich nun gegen die Annahme gewandt, hier sei ein transzendentes X, ein Gegenstand anzunehmen,10 der die Wahrnehmung entlang ihrer verschiedenen Perspektiven leite und der wechselseitigen Integration ihrer vorausund zurückspringenden Momente als Konstante zugrunde liege. Hier realisiere auch nicht die Wahrnehmung einen idealen Tisch-Gegenstand, vielmehr sei hier die Sprache am Werk. Das Zugrundeliegende – russisch podležaščee – sei sprachlicher Natur. Hier muss angemerkt werden, dass es sich um einen Kalauer handelt, d. h. podležaščee in der russischen Sprachlehre die Bezeichnung für das Satzsubjekt ist. Žinkin sieht also die Realität des Dings metonymisch von der Sprache abhängen und 10

N. Žinkin: Ding, 666 [russ.: Vešč, 77].

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die Wahrnehmung eines jeden Dings durch eine Form der Bezugnahme geleitet, die im Kern sprachlich sei. Das Thema fi xiert und markiert einen Punkt, der immer in sich selbst identisch bleibt, als ›ein und dasselbe‹ im Ding, ungeachtet seines sich ständig wandelnden Augenscheins. Das Thema als zugrunde Liegendes unter-legt dem Augenschein keinen ontischen Träger, ist kein ›Hypokeimenon‹, sondern liegt dem Gespräch über das Ding zugrunde, ist dasjenige, wovon gesprochen wird. Eben deshalb bleibt es identisch, weil über ein und dasselbe die verschiedensten ›Sagen‹ verbreitet werden können[…].11 Эта тема фиксирует и дает некоторый всегда в себе тождественный пункт, как ›то же самое‹ в вещи, несмотря на всегда изменчивую ее видимость. Тема как подлежащее не ›под — лежащий‹ под видимостью онтический носитель ›Hypokeimenon‹, а подлежащее разговору о вещи — то, о чем сказано. Она потому и остается тождественной, что о том же самом могут быть высказаны различные ›сказания‹ […].12

Dabei rücken Ding und Sprache bereits deutlich enger zusammen, das Prinzip der Referenz wirkt sich in der Interpretation des Dings selbst dann aus, wenn noch keine unmittelbare Kommunikationssituation gegeben ist, sondern nur ein Wahrnehmungsexperiment vorliegt. Der zweite Punkt, auf den Žinkin aufmerksam macht, ist die Tatsache, dass Ding und Gegenstand durch den praktischen Gebrauch miteinander vermittelt werden, d. h. der ideale Gegenstand als der ideale Gebrauch des Dings aufzufassen sei. Der Sinn des Dings kann also nicht unmittelbar aus einer Hermeneutik erschlossen werden, sondern muss den Umweg über einе Soziologie nehmen. Das Dingbewusstsein ist kaum das Bewusstsein vom Ding (darin liegt lediglich ein bestimmter, seine Gegenständlichkeit und Objektivität konstituierender Moment beschlossen: das Ding als Gegenstand), sondern das Bewusstsein vom Gebrauch des Dings z u r Sache.13 Вещное сознание не столько и не только сознание о вещи (в этом заключается только один из моментов конституирующих предметность и объективность — вещь как предмет), но сознание употребления вещи для дела.14

Das Ding bestimmt sich nicht als Realisierung eines Gegenstandes sondern: »Das Wesen des Dings liegt in seinem Gebrauch, wobei jede Qualität des Gebrauchs ein neues Ding erschafft und somit zwischen ihnen Grenzen zieht«15 (»Сущность вещи 11 12 13 14 15

N. Žinkin: Ding, 697. Ders.: Vešč, 94. Ders.: Ding, 691. Ders.: Vešč, 91. Ders.: Ding, 693.

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в ее употреблении, при этом каждое качество употребления создает новую вещь и этим проводит границу между ними.«16). Insbesondere die letzte Frage, diejenige nach einer Grenzziehung zwischen den Dingen und ihrer Konstitution als einzelner, hatte ihn besonders beschäft igt. »Woher wissen wir, dass der Fuß des Tisches ein Teil dieses Dings ist, der Stift darauf aber ein eigenständiges Ding?«17 (»Откуда мы знаем, что ножка стола есть часть этой вещи, а карандаш на нем — самостоятельная вещь?«18) – hatte Žinkin gefragt und ging davon aus, der unterschiedliche Gebrauch unterscheide beide voneinander. Wie aber anhand eines anderen Tisches noch anschaulich werden wird, ist der Unterschied zwischen Schreibinstrument und Schreibunterlage nur schwer durch unterschiedliche Formen des Schreibens zu bestimmen. Eher schon können Tische auch zu anderen Verrichtungen gebraucht werden. An dieser Stelle errichtet Žinkin eine Grenze, indem er die Codifizierung des Gebrauchs durch die Kultur behauptet. »Für das Ding ist der Charakter seiner Verwendung, die kultivierte Weise seiner Benutzung von wesentlicher Bedeutung. Hier erhält das Ding vermutlich auch seinen Sinn und wird zum Zeichen der Kultur«19 (»Для вещи важен характер ее употребления, культивируемый способ ее использования. Тут наверное вещь и приобретает смысл и становится знаком культуры.«20). Das Ding ist also nicht schon dann es selbst, wenn sein Gebrauch seinem Zweck entspricht, sondern erst wenn der Zweck des Dings zeichenhafte Züge trägt, die dem Code einer Kultur entstammen. Aus Žinkins Perspektive sind also zwei Relationen von Sprache und Ding festzuhalten. Einmal ist das Ding als reales Ding nur durch Bezugnahme auf etwas möglich, das als sprachliches Signifikat bestimmt ist. Auf der anderen Seite ist der Sinn eines Dinges, d. h. sein Gegenstand, nur aus einer Interpretation des Gebrauchs im Kontext einer Kulturhermeneutik zu ermitteln. Gerade weil Žinkin das Ideal eines Dinges (seinen Gegenstand) durch die Einheit bedingt sieht, welche sich aus einem Zirkel von Gebrauch und Kommunikation ergibt und wo in klarer Eindeutigkeit ein anderer Gebrauch auch einem anderen Ding entspricht, werden alle seine Beispiele vor einem Negativhorizont unbrauchbarer, stummer Dinge entfaltet, an dem sich ein Tisch, wie dieser abzeichnet: Hatte man ihn einmal wahrgenommen, so ging er einem nicht mehr aus dem Kopfe. Er schien gewissermaßen, ich weiß nicht recht, aber zweifellos seiner eigenen Bestimmung zu folgen […]. In Erstaunen versetzte, dass er, wiewohl nicht einfach, so doch auch nicht wirklich verwickelt, gleichsam auf Anhieb und vorsätzlich kompliziert entworfen worden war. Dass er vielmehr die Einfachheit in dem Maße verloren hatte, 16 17 18 19 20

Ders.: Vešč, 92. Ders.: Ding, 666. Ders.: Vešč, 77. Ders.: Ding, 703. Ders.: Vešč, 97.

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wie er hergestellt worden war […]. Wie er da stand, war es ein Tisch mit Zusätzen, so wie gewisse überladene Zeichnungen Schizophrener gemacht sind, und war er vollendet, so in dem Maße, wie die Mittel nicht mehr vorhanden waren, ihm noch etwas hinzuzufügen, Tisch, der immer mehr von einem Haufen, immer weniger von einem Tisch an sich hatte […]. Auf keinen Gebrauch war er zugeschnitten, auf nichts, was gewöhnlich von einem Tisch erwartet wurde. Schwer, sperrig, kaum von der Stelle zu rühren. Man wusste nicht, wie ihn nehmen (sowohl geistig als auch manuell). Die Tischplatte, der nützliche Teil, zunehmend an Umfang verlierend, verschwand, stand zu diesem unhandlichen Gestell so wenig in Beziehung, dass man das Ganze als einen Tisch nicht mehr zusammenbrachte, vielmehr als ein gesondertes Möbelstück ansah, dessen Verwendung noch nicht hätte angegeben werden können. Ein Tisch, der von menschlichen Spuren nicht mehr zeugte, bar jeder Schnörkelei, der nicht bürgerlich, nicht rustikal war, der kein Tisch vom Lande, kein Küchen- und kein Arbeitstisch war. Der für nichts sich hergab, sich verteidigte, sich jeglichem Dienst, jeder Kommunikation verweigerte.21

An diesem verwachsenen Tisch lässt sich ein Gegensatz zwischen der Position der GAChN und derjenigen der ikonoklastischen Avantgarden in zweierlei Hinsicht festmachen: Es ist einerseits richtig, dass Žinkin das Ding aus der Perspektive des Gegenstandes beleuchtet und an ihm fast alle Momente ablehnt, die vom frühen Futurismus und Formalismus herausgehoben worden waren. Für jene war es beispielsweise gerade die Entblößung der Dinge von ihrer zweckgemäßen kulturellen Handhabung und ihrer durch die Kultur ritualisierten Zeichenhaftigkeit, die sie erst in ihrer Dinghaftigkeit erscheinen ließ. Andererseits läst sich der Gegensatz zwischen den frühen Avantgarden und der GAChN auch in Bezug auf eine Idealisierung des Dings eben in den ersten beiden Avantgarden beziehen, 22 der wiederum die Ästhetik der GAChN nicht folgt. Die aus dem Blickwinkel der GAChN beargwöhnten und aus der Perspektive des Gegenstandes verachteten Dinge bilden eine Ästhetik aus, die in ihrer Hässlichkeit eine Reihe avantgardistischer Bestimmungen des Dinges teilt. Sie neigen dazu, sich aus der Einheit eines Produktes wieder in den Prozess der Produktion hinein aufzulösen, die Ganzheit eines jeden Werkes mit zähem Widerstand zu hintertreiben und gar den Zerfall des Dings in einen ununterscheidbaren Haufen voranzutreiben, von dem nicht gesagt werden kann, was an ihm Zusätze und was fehlende Teile sind, weil es diesen Dingen vor allem an einer Einheit mangelt. Žinkin bringt ein Beispiel, bei dem der unkultivierte und zweckentfremdete Gebrauch ein Streichholz in einen Zahnstocher verwandelt. Die Aufmerksamkeit, die ein solches metamorphotisches Ding in seiner monströsen Uneindeutigkeit auf sich zieht, verharrt auf halbem Weg zwischen dem einen und dem anderen Ding. In diesem Zwischenstadium verliert ein Klavier – so ein weiteres Henri Micheaux, zitiert nach G. Deleuze / F. Guattari: Anti-Ödipus, 12. Zur Reaktualisierung des Gegenstandes in der »dritten Avantgarde« vgl. A.A. Hansen-Löve: »Wir sind alle aus Pljuškins Haufen hervorgekrochen …«. 21

22

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Beispiel von Žinkin – von einem feisten Futuristen an die Decke gehängt, gar seine Dingnatur, weil es seinem kulturellen Zweck und jeglichem Gebrauch überhaupt entzogen sei. Hier unterstellt Žinkin nun ein zweites Moment der Sprachlichkeit des Dings. Während die konstruktivistische Poetik auf der einen Seite darum kämpft, die Referenz ihrer Werke zu minimieren und sich deshalb unmittelbar der Produktion der Dinge zuwendet und die absurde Poetik auf der anderen Seite sich der Irreduzibilität einer jeden Signifikantenkette bewusst wird, trifft Žinkin auf die Notwendigkeit eines Signifikats zur Unterscheidung von Dingen. Die Frage, die Žinkin an die Dinge richtet, kann man als diejenige nach dem signifikativen Ideal einer Eineindeutigkeit des Sinnes und einem Bestreben nach Minimierung sowohl von Metaphorik als auch Metonymik formulieren. Ein zweideutiges Ding dürfte nicht ein einziges Ding sein sondern müsste seine verschiedenen Bedeutungen auch in zwei Dingen manifestieren, synonyme Dinge müssten schlechterdings ein und dasselbe Ding sein. Nur die Unterscheidbarkeit von Bedeutungen führt auch Unterschiede in die Dinge ein. Auf negativem Wege nähert sich Žinkin an diesem Punkt dem Differenzdenken des Formalismus. Damit das materielle Ding nicht in die kontinuierliche Stofflichkeit seines Materials (veščestvennost’) zurückfällt, sondern die Abgegrenztheit eines Dinges behält, bedarf es der Bestimmung seines Gegenstandes,23 bzw. eindeutigen Sinnes. Wie wenig dies möglich ist und wie sehr das Schreckensbild der Äquivokation darauf hindeutet, dass der Sinn nicht als dem Ding immanent zu denken ist, so sehr walten Sinnunterschiede im Ding, die seine Bestimmung unmöglich machen und es der Doppeldeutigkeit ausliefern. Der Formalismus favorisiert die Wahrnehmbarkeit der Dinge entlang dieser Grenze einer immanenten Zweideutigkeit, die er in das positive Bild einer wesentlichen Ironie der Dinge kleidet. Žinkin hat dagegen Alltagsdinge vor Augen, die sich kaum von anderen Dingen und von ihren Nutzern unterscheiden, selbst in ihrem kultivierten Gebrauch eine Schnittfläche mit dem Menschen behalten und in ihrer Körperlichkeit dazu neigen, an genau dieser Stelle mit ihm zusammenzuwachsen. Wo keine Differenzen auszumachen sind, herrscht jedoch nicht formalistische Indifferenz sondern Verwicklung: So fragt sich Žinkin, woher wir angesichts eines fegenden Mannes wissen können, ob der Besenstiel noch zu seinem Körper gehört oder vielmehr sein Arm zum Besen. Diese Übergangszone, in der ein Arm ein Stiel ist und der Besen eine verlängerte Hand darstellt, herrscht eine Ununterscheidbarkeit, die Žinkin nicht durch eine These von den Dingen als Prothesen des Menschen24 oder im Laufe der Kulturgeschichte exteriorisierten Organen auflöst. Die Unterscheidung kann kaum anders denn durch eine Operation des Schnittes vorgenommen werden, die den Charakter einer Amputation behält, wenn nicht eine Bedeutungsverschiedenheit sie rechtfer23 Er kommt damit den postsuprematistischen Konkurrenten des Konstruktivismus und der Problematik des projektionistischen Dinges näher. Dazu bereits an anderer Stelle: A. Hennig: Das projektionistische Ding. 24 S. Spieker: Dziga Vertovs »Filmauge« aus prothetischer Sicht.

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tigt. Sinnunterschiede haben hier die Funktion, ein Ding von einem anderen zu trennen und die Aufgabe der Sprache besteht darin, die fRakturen des Materials durch eine Sinntrennung zu legitimieren.25

Die Sprache der Dinge Den Dingen als Zeichen der Kultur wendet sich auch Aleksandr Gabričevskij in seinem Text die »Sprache der Dinge« zu, der Mitte der 1920er Jahre entstand, also etwa zur gleichen Zeit, wie der Text Žinkins. Vielleicht kannte er ihn, als er schrieb: Jede kulturelle Einheit, jedes soziale System ist zugleich ein System von Zeichen, weil ein jedes Ding, angefangen beim eigenen Körper des Menschen, seinen Bewegungen und Tönen bis hin zu irgendeinem Bruchstück der Welt, prinzipiell ein soziales Ding sein kann, ein ausdrucksvolles Ding, d. h. nicht nur ein Ding, sondern auch ein Zeichen, ein Träger von Sinn.26 Всякое культурное единство, всякая социальная система является всегда в то же время системой знаков, ибо всякая вещь, начиная от собственного тела человека, его движений и звучаний и кончая любым отрезком мира, может быть принципиально вещью социальной, вещью выразительной, т.е. не только вещью, но и знаком, носителем смысла.27

Dies ließe sich auch noch in dem bei Gustav Špet vorgefundenen Begriffspaar von Ding und Gegenstand ausdrücken, insofern jedes Ding auch gegenständlich wäre, d. h. ein Zeichen, das einen Sinn berge. Eine entscheidende Differenz aber markiert Gabričevskijs Zusatz: »Dabei kann das Ding nicht nur Träger seines Sinns sein, sondern kann als Mittel der Mitteilung und Übertragung von anderem Sinn erscheinen«28 (»Причем вещь не только понимается как носительница своего смысла, но может явиться средством сообщения и передачи другого смысла.«29). Wenn er schreibt, von diesem kulturellen oder auch sozialen Sinn könne es vollkommen überwachsen sein, sieht man dieselbe Grenze im Ding aufscheinen, auf die auch Žinkin gestoßen war. Im Folgenden setzt Gabričevskij sich gegen eine umstandslose Gleichsetzung der Zeichennatur von Wort und Ding ab. Er nimmt stattdessen eine kulturgeschichtliche Differenzierung der Zeichenmaterie in Dinge und Ausdrucksträger an, wobei die Ausdruckshaftigkeit im Ding sukzessive verkümmert und nur noch dessen praktischer Wert zurückgeblieben sei. In seiner Annahme, hier sei von der Differenzierung unterschiedlicher Relationen von Zeichen und Bezeichnetem 25 26 27 28 29

Vgl. A. Hennig: faktur und fRaktur. A. Gabričevskij: Die Sprache der Dinge, 567. Ders.: Jazyk veščej, 31. Ders.: Die Sprache der Dinge, 567. Ders.: Jazyk veščej, 31.

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auszugehen, macht sich ein semiotischer Ansatz bemerkbar, der schon über die Metaphorik von der Sprachlichkeit der Dinge hinausweist, weil er impliziert, dass die spezifische Zeichenrelation der Sprache nicht mehr diejenige ist, die im Ding vorzufinden sei. Der Künstler nun beziehe sich auf jenen primitiven Zustand der Dinge, in dem ihr praktischer Wert nicht von ihrem Ausdruck zu unterscheiden sei. Gabričevskij heißt damit im Übrigen nicht nur einen Dingfetischismus gut, sondern hält auch den avantgardistischen Primitivismus und sogar die konstruktivistische Produktionskunst für gesetzmäßig. Für Gabričevskij gehören die Dinge, sofern ihr Ausdruck nicht von ihrer Dinghaftigkeit zu unterscheiden ist, sowohl zur Sprache als auch zur Kunst. Der kontemplativen Haltung zu den Dingen, dem interesselosen Wohlgefallen, das Voraussetzung für ihre ästhetische Wahrnehmung ist, gibt er einen kulturhistorischen Grund: Nach der Trennung der pragmatischen Ordnung der Dinge von ihrer symbolischen Ordnung, bedarf es der Abstandnahme von der Praxis, wenn die Stimme der Dinge noch gehört werden soll. Hier sieht nun Gabričevskij die Leistung der Raumkünste, nämlich in ihrer Formung von zeichenhaften Dingen, indem sie mit »räumlichen Bildern«30 (»пространственными образами«)31 wie er schreibt, die Sprache der Dinge zu Gehör zu bringen suchen. Damit hat Gabričevskij ganz überraschend ein Moment gefunden, das ihm eine Integration der bildenden Kunst in die Raumkünste erlaubt und eine Generalisierung der Raumkünste zu einer eigenen Sinnsphäre. Somit geht schon aus diesen einleitenden und flüchtigen Bemerkungen klar hervor, dass das Problem des besonderen Ausdrucks des Dings zusammen mit dem Problem der Raumkünste entsteht, insofern, dass in jeder Kultur offenbar eine besondere Sphäre des Sinns vorliegt, die ihren Ausdruck gerade in diesen und nur in diesen Künsten findet.32 Таким образом уже из этих беглых предварительных замечаний явствует, что проблема особой выразительности вещи возникает в связи с проблемой пространственных искусств, поскольку, по-видимому, во всякой культуре наличествует особая сфера смысла, находящая себе свое выражение именно в этих искусствах и только в них.33

Dies war vor allen Dingen in der Beziehung zur philosophischen Abteilung und Špet selbst wichtig, der ja die Literatur als repräsentativ für alle Künste angesehen hatte – was eine Erforschung der anderen Künste zu einem Unterfangen machte, das grundsätzlich unter Begründungsnot stand. Zur Selbstverteidigung wendet er Špets Entgegensetzung von Ding und Gegenstand gegen diesen. Indem Gabričevskij der Generalisierung der Literatur zur 30 31 32 33

Ders.: Die Sprache der Dinge, 576. Ders.: Jazyk veščej, 37. Ders.: Die Sprache der Dinge, 571. Ders.: Jazyk veščej, 34.

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Metakunst nicht widerspricht, die sich, wie Špet geschrieben hatte, daraus ergäbe, dass im Wort »das einzige vollkommen allgemeine Zeichen«34 vorliege, das als repräsentativ für jegliche Zeichenhaftigkeit angesehen werden könne, erkennt er auch die Gegenständlichkeit der Literatur an. Diese Anerkenntnis wirkt wie ein glücklicher Schachzug, weil sich daraus nun fast von selbst ergibt, dass man entweder eine der Semiotik des Gegenstandes, d. h. der Signifi kation diametral entgegengesetzte Sprache der Dinge, d. h. der Referenz annehmen, oder aber den Gegensatz von Gegenstand und Ding aufgeben muss. Mit Špet gegen Špet braucht man nun nur noch die Eigenständigkeit einer Sprache der Dinge zu versichern, und die Unterordnung der Kunst- unter die Literaturforschung ist vereitelt. Für Gabričevskij ist der Raum nicht nur das primäre Medium der menschlichen Orientierung, deren vorrangiges Organ der Sehsinn ist, – die Raumkünste, wie er nun feststellt, formen zudem hauptsächlich Dinge, deren Sprache sich uns durch den Augenschein erschließt: So garantiert uns das ›Aussehen‹ der äußeren Welt die Fülle und Authentizität unserer Vorstellung von ihr; ihre visuellen Charakteristika sind auf diese Weise vollgültige Zeichen aller anderen nichtvisuellen sinnlichen Möglichkeiten, die in den Dingen angelegt sind.35 Итак ›вид‹ внешнего мира гарантирует нам полноту и подлинность представления о нем; его зрительные характеристики являются таким образом как бы полноценными знаками всех иных не зрительных чувственных возможностей, заложенных в вещах.36

Nicht zuletzt räumt Gabričevskij auch noch den erkenntniskritischen Vorbehalt gegen die Dinge aus, wenn er schreibt: Und wenn auch ein gewisser Zweifel in der üblichen Vorstellung vom täuschenden ›Augenschein‹ durchschimmert, hinter dem sich das Wesen verbirgt, so zeugt gerade diese Dialektik selbst von der Möglichkeit des visuellen Ausdrucks der sinnlichen Fülle oder aber davon, dass in diesem Paradox der ›Augenschein‹ Synonym für Sinnlichkeit überhaupt ist.37 И если некоторое сомнение в репрезентативной мощи зрительного и сквозит в обычном представлении об обманной ›видимости‹, за которой скрывается сущность, то сама эта диалектика как раз и свидетельствует о возможности зрительного выражения всей чувственной полноты или же о том, что в этом парадоксе ›видимость‹ является синонимом чувственности вообще.38 34 35 36 37 38

G. Špet: [Das Wort als sozial-kulturelles Ding], 647. A. Gabričevskij: Die Sprache der Dinge, 577. Ders.: Jazyk veščej, 38. Ders.: Die Sprache der Dinge, 577. Ders.: Jazyk veščej, 38

Das Ding ist ein Wort

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Damit hat sich für Gabričevskij in den Dingen ein eigener Sinnmodus erschlossen, ein indexikalischer Zeichentypus, der für das Sehen charakteristisch ist und als solcher repräsentativ für die sinnliche Orientierung in der Welt überhaupt. Am Schluss seines Textes nimmt Gabričevskij deshalb eine Wendung von einer Sprache zu einer Poetik der Dinge vor. Eine Realisierung dieser Konzeption der Raumkünste in ihrer Totalität fi ndet man, wie mir scheint, in der Museumskunst Boris Šapošnikovs. Wenn er das Museum als Kunstwerk ansieht, das Werke der bildenden Kunst in einem Raum zu situieren habe, der einen kulturhistorischen Ort bezeichnen müsse, fügt er das Bild in seinem damaligen Raum ein. Zudem müsse dies ein Alltagraum voller Dinge sein, so dass Raum und Dinge – Gabričevskij hatte sie »räumliche Bilder« genannt – die Sprache des Bildes vernehmbar machen könnten. Wie auch bei Gabričevskij ist die Sprache von Ding, Bild und Raum nur in einer Poetik zu vernehmen, d. h. das Museum als ihr Arrangement muss ein Kunstwerk sein, wenn diese nicht stumm bleiben sollen.39

Das Wort als Urbild des Dings Bevor sich abschließend die literaturwissenschaft lichen Probleme mit einer Poetik der Dinge angeben lassen, wie sie sich bei Michail Stoljarov zeigen, ist Gabričevskijs Position noch derjenigen gegenüberzustellen, die Gustav Špet im Rahmen seiner Konzeption der inneren Form bezieht. Darin gibt er eine »Bestimmung des Wortes seinem Resultat nach als ein bestimmtes sozial-kulturelles Ding«40 (»определение слова в его результате, как некоторой социально-культурной вещи«41). Hier ist nun die soziale und kulturelle Perspektive auf das Verhältnis von Wort und Ding lesbar, die Žinkin und Gabričevskij entwickelt hatten. Im Folgenden kehrt Špet diese These, die mit den Ausführungen Žinkins und Gabričevskijs vereinbar wäre, jedoch um und behauptet: »Mit anderen Worten heißt das, dass das Wort in seiner formalen Struktur das ontologische Urbild eines jeden sozial-kulturellen ›Dings‹ ist«42 (»Другими словами, это значит, что слово в своей формальной структуре есть онтологический прообраз всякой культурно-социальной ›вещи‹.43). Nun ist nicht mehr das Wort dinglich, sondern jedes Ding wörtlich zu nehmen. Diese These ist derjenigen Gabričevskijs, wonach das Ding als repräsentativ für eine Poetik der Sinne anzusehen sei, direkt entgegengesetzt. An Michail Stoljarovs Text »Ding oder Schaffen« ist nun zu zeigen, welche Konsequenzen das mit sich bringt.

39 40 41 42 43

B. Šapošnikov: Muzej kak chudožestvennoe proizvedenie. G. Špet: Das Wort als sozial-kulturelles Ding, 646. Ders.: Vnutrennjaja forma slova, 140 (Hervorhebung im Original). Ders.: Das Wort als sozial-kulturelles Ding, 646. Ders.: Vnutrennjaja forma slova, 140.

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Das Unding der Poesie In seiner Polemik gegen die russischen Formalisten wendet sich Michail Stoljarov in einem ersten Schritt gegen die formalistische Ausblendung des Inhaltes in der Analyse von Literaturwerken und die Ersetzung des Begriffspaares von Inhalt und Form durch dasjenige von Material und Verfahren. Daraus schließt er, für den Formalismus sei ein Verständnis des Kunstwerkes als Ding charakteristisch. Das stimmt noch mit den formalistischen Proklamationen, vor allem mit Viktor Šklovskijs ›Veščizm‹ (Reismus) überein. Seine Verzerrung der formalistischen Theorie beginnt in dem Moment, wo er das Verfremdungsprinzip als Kern der Verfahrensdynamik unterschlägt und damit die Ästhetik der Dinge aus dem Blickfeld rückt. Man braucht sich allerdings nur in Erinnerung zu rufen, wie eng die ›Verfremdung der Dinge‹ in den formalistischen Kunstbegriff eingebunden ist: Und gerade um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Dings zu geben, als Sehen und nicht als Wiederkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form […].44 И вот для того, чтобы вернуть ощущение жизни, почувствовать вещи, для того, чтобы делать камень каменным, существует то, что называется искусством. Целью искусства является дать ощущение вещи, как видение, а не как узнавание; приемом искусства является прием ›остранения‹ вещей и прием затрудненной формы […]..45

Für Stoljarov vertreten die formalistischen Analysen allerdings nur einen technologischen Standpunkt: »Das ist eine technologische Perspektive auf das Schaffen: Für sie ist das Kunstwerk ein Ding, ein Artefakt«46 (»Это технологическая точка зрения на творчество: для нее произведения – вещь, изделие.«47). Im Folgenden führt er aus, dass es das ästhetische Erlebnis aber nicht mit dem toten Artefakt, sondern mit dem ästhetischen Objekt zu tun habe, und dass der Dingcharakter des letzteren nur illusionär sei. Er folgt hier der Ästhetik Volkelts, wenn er schreibt, die Kunst entdingliche – beispielsweise: »Die darstellende Kunst entdinglicht das Dargestellte […]« (»Изобразительное искусство развеществляет изображаемое […]«48), an anderer Stelle: »Die Arbeit des Bildhauers entdinglicht das Bild« (»работа ваятеля – развеществляет образ«49) und schließlich: »Es entdinglicht, beseelt, nur die Schau des ›Inhaltes‹, des ›Sinns‹ […]« (»Развеществляет, 44 45 46 47 48 49

V.B. Šklovskij: Die Kunst als Verfahren, 15. Ders.: Iskusstvo kak priem, 13. Deutsche Übersetzung A. H. M.P. Stoljarov: Vešč’ ili tvorčestvo?, 266. Ebd., 269. Ebd.

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одухотворяет лишь усмотрение ›содержания‹, ›смысла‹ […]«50). Das ästhetische Erlebnis begegne also gar keinem Material, stattdessen: »Öff net sich die Idee: die verkörperte Idee, der konkrete Sinn. Nur die Idee, vollendet verkörpert, die nichts außer sich hat« (»Открывается – идея: воплощенная идея, конкретный смысл. Только идея, воплощенная до конца, не имеющая ничего вне себя.«51). Im Kunstwerk als verkörperter Idee können deshalb weder Material noch Verfahren ausgemacht werden: »Woraus ist sie gemacht? Aus nichts. Wie? Gar nicht. Sie ist kein Ding; kein Artefakt« (»Из чего она сделана? Ни из чего. Как? Никак. Она не вещь; не изделие.«52). »Der Sinn« – schreibt Stoljarov »verschlingt in seiner Verkörperung, nimmt in sich auf, verwandelt das Wort, wenn man so will, vernichtet es. Der Laut wird konkreter Sinn. […] Die Poesie ist eine Entdinglichung des Wortes« (»Смысл, воплощаясь, вбирает, поглощает, претворяет в себя слово; если угодно – уничтожает его. Звук становится конкретным смыслом. […] Поэзия – развеществление слова.«53). Hier ist nun jener Punkt erreicht, an dem die Poesie zum Unding und eine Poetik der Dinge zum Paradoxon geworden ist, weil die Dinge sich selbst auslöschen würden, sobald sie eine poetische Qualität annehmen. Obwohl Špet selbst nicht so weit gegangen war, und einen wortlosen Gedanken als eine Pathologie betrachtet hatte, so bringt die Versicherung, jedes Ding habe prinzipiell (und ausschließlich) Wortcharakter für die Literaturwissenschaften dennoch die genannten Schwierigkeiten mit sich, wenn er in seinem Text die »Die Grenzen der Literaturwissenschaft« (Granicy literaturovedenija) schreibt, »die Gegebenheit des literaturwissenschaft lichen Gegenstandes ist eine signifi kative und keine perzeptive« (»данность предмета литературоведения – сигнификативная, а не перцептивная«54). Gerade die Literaturwissenschaften an der Akademie sehen sich also außerstande, etwas zu einer Poetik der Dinge beizutragen. Zusammenfassend lässt sich dann auch der Fokus auf eine ›Sprache der Dinge‹, der die spezifische Position der GAChN im Kontext der avantgardistischen Dingästhetik ausmachte, noch einmal anders bestimmen. Das Interesse der Akademie an der Sprache des Dings ist ein Phänomen des Zweifels an ihm.

50 51 52 53 54

Ebd., 270. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 273.

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Literatur Deleuze, Gilles/ Guattari, Felix: Anti-Ödipus, Frankfurt a. M. 1977 Gabričevskij, Aleksandr G.: Die Sprache der Dinge, in: A. Hennig (Hg.): Über die Dinge, 567–581 – Jazyk veščej [Die Sprache der Dinge], in: ders.: Morfologija iskusstva [Morphologie der Kunst], hg. von F.O. Stukalov-Pagodin, Moskau 2002, 31–39 Hansen-Loeve, Aage A.: »Wir sind alle aus Pljuškins Haufen hervorgekrochen…«: Ding – Gegenstand – Ungegenständlichkeit – Unding, in: A. Hennig/ G. Witte (Hgg.): Der dementierte Gegenstand, 251–346 Hennig, Anke/ Witte, Georg (Hgg.): Der dementierte Gegenstand. Artefaktskepsis der russischen Avantgarde zwischen Abstraktion und Dinglichkeit, Wien/ München 2008 Hennig, Anke: Das projektionistische Ding, in: A. Hennig/ G. Witte (Hgg.): Der dementierte Gegenstand, 349–391 – faktur und fRaktur. Transformatoren ästhetischer Erfahrung im Film, in: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, hg. vom Sonderforschungsbereich 626, Ästhetische Erfahrung, Berlin 2006 URL: www.sfb626.de/veroeffentlichungen/online/aesth_erfahrung/aufsaetze/hennig.pdf [Zugriff am 12.07.2013] – (Hg.): Über die Dinge. Texte der russischen Avantgarde, Hamburg 2010 Šapošnikov, Boris V.: Muzej kak chudožestvennoe proizvedenie [Das Museum als Kunstwerk], in: RGALI. F. 941. Op. 3. D. 7. L. 3–17 Šklovskij, Viktor B.: Iskusstvo kak priem [Kunst als Verfahren], in: ders.: O teorii prozy [Über die Theorie der Prosa], Moskau 1985, 9–25 – Kunst als Verfahren, in: J. Striedter (Hg.): Texte der russischen Formalisten, Bd. I, München 1969, 3–35 Špet, Gustav G.: [Das Wort als sozial-kulturelles Ding – Auszug aus Vnutrennjaja forma slova: Ėtjudy i variacii na temy Gumbol’ta], in: A. Hennig (Hg.): Über die Dinge, 646– 648 – Ästhetische Fragmente (Auszüge), in: A. Hennig (Hg.): Über die Dinge, 629–645 – O granicach naučnogo literaturovedenija [Über die Grenzen der wissenschaft lichen Literaturforschung], in: I.M. Čubarov (Hg.): Slovar’ chudožestvennych terminov. GAChN. 1923–1929 [Lexikon der Kunstterminologie. GAChN. 1923–1929], Moskau 2005, 441– 442 – Sočine