Visuelle Aisthetik: Filmische Typographie in der literarischen Moderne 9783839466650

Was sind die gemeinsamen aisthetischen Grundlagen von filmischer Visualität und der Literatur des frühen 20. Jahrhundert

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Visuelle Aisthetik: Filmische Typographie in der literarischen Moderne
 9783839466650

Table of contents :
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Die aisthetische Dimension von Drucksachen
2. Naturwissenschaftliches Sehen: vom Sehsinn zur Seh-Technik
3. Das Spektrum typographischer Funktionen
4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)
5. Typographie als Technik – Sehendes Lesen
6. Literaturverzeichnis
Danksagung

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Paula Vosse Visuelle Aisthetik

Literatur – Medien – Ästhetik Band 7

Editorial Die Buchreihe ist ein Forum für Arbeiten, die sich der Theorie und Ästhetik des Buches im Kontext der Frage nach der spezifischen Funktion und Medialität der Literatur widmen. Sie richtet sich an VerfasserInnen von Untersuchungen, die die ›Eigenmedialität‹ literarischer Texte und damit auch die Funktionen in den Blick nehmen, die Gestaltung, Typographie, Illustrationen, Einbänden und Paratexten sowie dem materiellen Format der Texte zukommen; gefragt wird nach dem Zusammenspiel von Aisthesis, (Medien-) Ästhetik und Poetik. Die Reihe soll ein Publikationsort für Forschung sein, die Literatur medien- bzw. formoder materialästhetisch als spezifisch ›buchförmige‹ Kommunikation versteht und hieraus die Konjunktur einer materialorientierten Formensprache ableitet. Die Reihe wird herausgegeben von Torsten Hahn und Nicolas Pethes.

Paula Vosse, geb. 1991, forscht zu den interdisziplinären Schnittstellen visueller Kommunikation. Sie studierte dank verschiedener Stipendien Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Köln, Prag, St. Louis und Berkeley.

Paula Vosse

Visuelle Aisthetik Filmische Typographie in der literarischen Moderne

Zugl.: Dissertation Universität zu Köln, Philosophische Fakultät 2022. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FAZIT-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Maximilian Kloppert und Maximilian Ochel, Köln Korrektorat: Maximilian Ochel, Köln; Lukas Vosse, Stuttgart; Gabriele Vosse, Rhede (Ems) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839466650 Print-ISBN 978-3-8376-6665-6 PDF-ISBN 978-3-8394-6665-0 Buchreihen-ISSN: 2702-2188 Buchreihen-eISSN: 2703-0199 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Abbildungsverzeichnis ......................................................................... 7 Tabellenverzeichnis............................................................................9 1.

Die aisthetische Dimension von Drucksachen ............................................ 11

2. 2.1 2.2 2.3

Naturwissenschaftliches Sehen: vom Sehsinn zur Seh-Technik ........................ Sinnesphysiologische Argumente: Hermann von Helmholtz ................................ Zerstreutes Beobachten und ganzheitliches Lesen: Wilhelm Wundt ......................... Psyche – funktionelle Ästhetik – Zweck: Hugo Münsterberg ................................

3. 3.1 3.2 3.3

Das Spektrum typographischer Funktionen ............................................. 67 Die Kinodebatte: Der moderne Paragone-Diskurs .......................................... 94 »Typografie ist in Druck gestaltete Mitteilung« ............................................ 113 Technik als Steigerungsphänomen ........................................................129

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4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929) .....................................143 4.1 Frühe Filmtexte: das Kinobuch (1913/14) ................................................... 151 4.1.1 Typographie im Stummfilm ......................................................... 157 4.1.2 Plumm-Pascha (Else Lasker-Schüler, 1913) ...........................................165 4.1.3 Zwischen Himmel und Erde (Heinrich Lautensack, 1913) ............................... 175 4.1.4 Die Hochzeitsnacht (Walter Hasenclever, 1913) .......................................185 4.2 Ein Roman: Blut und Zelluloid (Heinrich Eduard Jacob, 1929) ................................193 4.2.1 Interpunktion: Gedankenstrich und Punktfolge ..................................... 204 4.2.2 Klammersetzungen ................................................................ 208 4.2.3 Typographische Dispositive als Gattungsreferenzen ................................. 212 4.2.4 Wirkräume ......................................................................... 221 4.3 Das Typofoto: Dynamik der Gross-Stadt (László Molohy-Nagy, 1921/22) ...................... 224 5. Typographie als Technik – Sehendes Lesen ............................................ 245

6. Literaturverzeichnis.................................................................... 249 6.1 Quellen .................................................................................. 249 6.2 Darstellungen ........................................................................... 257 Danksagung ................................................................................. 277

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17:

Skizze der Retina nach Helmholtz. ............................................ 36 Ausstellungsobjekt 22 in Moholy-Nagys »Wohin geht die typografische Entwicklung?« (1929). ........................................................ 60 Reihenanordnung für die Wiedererkennungs-Versuche. ....................... 62 Analysemodell zur Untersuchung des typographischen Spektrums von Texten.................................................................... 76 Else Lasker-Schüler: »Plumm-Pascha« (1913), S. 38/39. ........................ 171 Otto Ludwig: »Zwischen Himmel und Erde« (1856), S. 1 (links); Heinrich Lautensack: »Zwischen Himmel und Erde« (1913), S. 1 (rechts). ................. 176 Heinrich Lautensack: »Zwischen Himmel und Erde« (1913), S. 142/143. .......... 177 Walter Hasenclever: »Die Hochzeitsnacht« (1913), S. 20/21. .....................186 Walter Hasenclever: »Die Pest« (1920), S. 1.....................................190 Heinrich Eduard Jacob: »Blut und Zelluloid« (1929), S. 16/17..................... 213 Heinrich Eduard Jacob: »Blut und Zelluloid« (1929), S. 34/35. .................. 216 Heinrich Eduard Jacob: »Blut und Zelluloid« (1929), S. 38/39. .................. 219 Karel Čapek: »Der Krieg mit den Molchen« (1936), S. 158/159.................... 221 Heinrich Eduard Jacob: »Blut und Zelluloid« (1929), S. 102/103. .................223 Heinrich Eduard Jacob: »Blut und Zelluloid« (1929), S. 284/285. ................224 László Moholy-Nagy: »Dynamik der Gross-Stadt« (1925), S. 120/21. ..............234 László Moholy-Nagy: »Dynamik der Gross-Stadt« (1925), S. 128/129..............234

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Abfolge der simultanen Erzählstränge in »Blut und Zelluloid« (1929). ................196 Tabelle 2: Klammereinsatz in »Blut und Zelluloid« (1929). .....................................209

1. Die aisthetische Dimension von Drucksachen

Die derzeitige Forschungslage zur literarischen Moderne hält die rege künstlerische Dynamik dieses Zeitraums mithilfe der Klassifizierung verschiedener Strömungen fest.1 Ihr gegenseitiges Kontrastieren und Komplementieren kann durch die öffentlich ausgetragenen theoretischen Debatten beobachtet werden, während die Komplexität dieser reziproken Verhältnisse im wachsenden Stilpluralismus ersichtlich wird.2 Bemerkenswert ist dabei, dass die Selbstreflexion des künstlerischen Milieus so ausgebildet war, dass schon zeitgenössische Publikationen wie Hans Arps und El Lissitzkys Die Kunstismen (1925) dieses Phänomen beobachten und einordnen. Medienästhetisch wird die Motivation der literarischen Experimente vornehmlich über die Konkurrenz zu technischen Innovationen begriffen. Auch der Stummfilm leitet durch sein Tempo und sein Potential Dynamik abzubilden ein neues Paradigma ein, an dem sich auch die Literatur orientiert. Gleichzeitig resultieren hieraus aber auch neue literarische Strategien, welche die literarische Materialität neu erkunden. Im Gegensatz zu etablierten Forschungsperspektiven, die die Adaption einer filmischen Ästhetik in der Literatur nachzeichnen, fragt die vorliegende Arbeit nach den gemeinsamen aisthetischen Grundlagen von filmischer Visualität und der Literatur der Zeit. Im Fokus der Untersuchung stehen daher Umstrukturierungen im druckstilistischen Möglichkeitsspielraum der Literatur. Die Fokusverschiebung auf die Aisthetik erklärt sich mit der zeitgenössischen Technifizierung und Entmystifizierung des Menschen. Dieses Phänomen verbreitet sich mit dem zunehmenden Empirismus und Positivismus des 19. Jahrhunderts, die Körper und Geist auf ihre Funktionen zurückführen. Während die Ästhetik den gesamten Wahrnehmungsprozess, von physiologischem Reizeintritt bis zur Reizverarbeitung und -reflektion, berücksichtigt, legt die Aisthetik, als erster Schritt der Ästhetik, den Fokus auf die rein sinnliche Wahrnehmung. Diese Trennung der einzelnen ästhetischen 1

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Die Stilkategorisierungen folgen auch einem Ordnungssystem von Topoi und Themen. Natur, Großstadt, das Visuelle, die Psychologie, Subjektivierung und Objektivierung als auch Individuum, Ich-Dissoziation und die Masse, Industrie, Großstadt, Reizüberflutung oder Werbung wären eine Auswahl gängiger Schwerpunkte in den avantgardistischen Strömungen, die auch über ihre Gegensätze reflektiert werden. Vgl. Josting, Petra/Fähnders, Walter (Hg.): »Laboratorium Vielseitigkeit«. Zur Literatur der Weimarer Republik (2005).

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Visuelle Aisthetik

Schritte wird durch naturwissenschaftliche Experimente eingeleitet. Denn bei diesen liegt nicht der Gesamtumfang der Wahrnehmung im Fokus, sondern die Ergründung und Erforschung einzelner sinnlicher oder motorischer Fähigkeiten und Kapazitäten des Menschen. Durch die Auslagerung des Unergründbaren, der individuellen Reflexion oder ästhetischen Wahrnehmung, wird ihr erster Schritt greifbar: die sinnliche Reizverarbeitung – die Aisthetik der Wahrnehmung. Eine Vielzahl künstlerischer Experimente des 19. und 20. Jahrhunderts präsentieren auf Grundlage hieraus resultierender Wahrnehmungserkenntnisse der Naturwissenschaften die sinnliche Wahrnehmung – sie zeigen wie gesehen wird und weniger was gesehen werden soll. Dabei bewährt sich eine naturwissenschaftliche Methodik, die, wie nachfolgend nahegelegt wird, sich auch in die Literaturproduktion übertragen lässt: der Verbund von visueller Beobachtung und daraus resultierender Erkenntnis. Die sinnesphysiologische Wahrnehmung, die Aisthetik, wird, so die These dieser Arbeit, zum Ausgangspunkt für die druckstilistische Komposition von Typographie. Dabei wird die Form der Buchstaben dazu benutzt eine aisthetische Reizreaktionskette auszulösen: die Augenbewegung wird so koordinierbar. Parallel hierzu wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die ästhetische Funktion der Typographie weiter ausgebaut, indem Schriftformen und -typen, wie auch die Anordnung auf der Seite und die Größe der Druckbuchstaben mit konkreten Bedeutungen assoziiert werden. Diese typographischen Phänomene sind nicht neu, werden aber durch Lehrbücher in einer neuen Regelhaftigkeit festgehalten – damit wird ein typographischer Standard für eine entsprechende ästhetische Wirkung manifest und, wie beispielsweise im Bauhaus, auch unterrichtet. Gerade neben dem Stummfilm und seiner psychologischen Ästhetik, präsentiert sich diese Strategie als Laboratorium der Literatur: Denn durch das aisthetische Mittel der statischen Typographie können medien- und psychoästhetische Phänomene des Films (Dynamik, Mobilität, Perspektivwechsel usw.) visualisiert werden. Der Druck3 eines Textes stellt dieses Verfahren aus, indem der erste Schritt einer ästhetischen Erkenntnis – die aisthetische Wahrnehmung – im Textmaterial manifest und, wie vorliegend nachgewiesen, als eigene Teilkomponente des Textgehalts einkalkuliert wird.4 Das visuelle Material wird so zu einer autonomen Dimension des Textes und nicht nur als Ausgangspunkt ästhetischer Erkenntnis verstanden. Hierbei stehen sich Aisthetik und Hermeneutik nicht 3 4

Vgl. Hahn, Torsten: Drucksache (2019), S. 437. Zur Differenzierung zwischen Aisthetik und Ästhetik vgl. Barck, Karlheinz/Gente, Peter/Paris, Heidi/Richter, Stefan (Hg.).: AISTHESIS. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik (1990). Dabei liefert der Sammelband selbst Texte, die sich mit den sinnlichen und technischen Prämissen einer anderen Ästhetik, der Aisthesis, auseinandersetzten. So eröffnen die unterschiedlichen Beiträge eine Vielzahl an Zugängen, jedoch (beabsichtigt) keine Definition. Gernot Böhmes Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre (2001) setzt einen philosophischen Ausgangspunkt, um sich der Aisthetik anzunähern. Bernhard Dotzler und Ernst Müller zeichnen währenddessen die historischen Einflüsse auf die Wahrnehmung nach (Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur aisthesis materialis, 1995). Nicht zuletzt sollte Kittlers These in Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985) berücksichtigt werden, die gerade wegen seines Einbezugs der Psychophysik und Psychotechnik auch vorliegend von besonderer Relevanz ist. Bei Kittler ist die visuelle Form aber auch als Medium und Vermittlerin von Sprache zu denken, während hier die bildlichen und technischen, gerade nicht sprachlichen Qualitäten der aisthetischen Dimension von Text im Vordergrund stehen möchten.

1. Die aisthetische Dimension von Drucksachen

entgegen, sondern werden vielmehr, wie die Analysen zeigen, komplementär eingesetzt. Die typographische Ästhetik eines Textes meint vorliegend dessen sinnliche Wahrnehmung, Verarbeitung und Reflexion aus der Perspektive der Betrachtenden. Die typographische Aisthetik eines Textes benennt im Gegensatz dazu allein dessen sinnlich wahrnehmbare, also materiell gestaltete Form. Anstatt den gesamten ästhetischen Wahrnehmungsprozess zu beleuchten, wird hier dessen visueller Ausgangspunkt in den Mittelpunkt der Untersuchung gerückt. Für eine Analyse der Typographie sind dabei zwei Gestaltungsmodi zu unterscheiden: das Zurückgreifen auf die ästhetische Funktion von Typographie und ihr Gebrauch als literarische Technik. Die ästhetische Funktion von Typographie unterstellt sich dem semantischen Gehalt eines Textes und offeriert, im Sinne der Neuen Typographie nach Jan Tschichold, ein angemessenes Textbild. Das bedeutet nicht nur, dass Typographie und Textinhalt sich gegenseitig komplementieren, sondern, dass die Typographie geradezu unsichtbar wird, weil ihre Form die Information des Textes dermaßen präzise einfasst und ausdrückt. Im Gegensatz dazu wird Typographie als literarische Technik angewandt, sobald sie als autonomes und gezielt sichtbares Gestaltungsmittel eingesetzt wird, das auch unabhängig vom expliziten Textgeschehen die Textdimension steigert oder erweitert. Typographische Mittel, die eine solche autonome Funktion erfüllen, sind damit als Gestaltungstechnik zu verstehen. Beide Modi können sich ergänzen und bewegen sich daher auf einem aisthetischen Spektrum, das sich zwischen den Polen der ästhetischen Funktion und der literarischen Technik von Typographie bewegt. Für diese druckstilistische Untersuchung der »Organisation von Redundanz und Varietät«,5 die sich in der materiellen Dimension der Literatur abzeichnet, bietet sich der von Torsten Hahn vorgeschlagene Literaturbegriff einer »medienästhetisch formatiert[en] [und][…] autonome[n]«6 Drucksache an, der den gedruckten Text mit seinen medialen Funktionen verschränkt.7 Der zeitgenössische Begriff, der beispielsweise von Alfred Döblin,8 Kurt Schwitters9 oder Carl Ernst Poeschel10 eingesetzt wird, erhält gerade durch die Berücksichtigung der materiellen, medialen und aisthetischen Dimension von Texten paradigmatischen Wert. Im Kontext der materiellen Ästhetik11 und Text- wie Buchwissenschaften,12 die seit dem material turn der 1980er in den Geistes- und Kulturwissenschaften stetig ausgebaut und unter Anbetracht des gegenwärtigen digitalen

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Vgl. Hahn, Torsten/Pethes, Nicolas: Einleitung (2020), S. 12. Hahn, Torsten: Drucksache (2019), S. 437. Vgl. Jahraus, Oliver: Literatur als Medium (2003). Vgl. Hahn, Torsten: Drucksache (2019). Vgl. Schwitters, Kurt: Über die einheitliche Gestaltung von Drucksachen (1930). Vgl. Poeschel, Carl Ernst: Zeitgemässe Buchdruckkunst (1904), S. 63. Vgl. u.a. Heibach, Christiane/Rohe, Carsten: Ästhetik der Materialität (2015); Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig: Materialität der Kommunikation (1988). Dabei sei darauf hingewiesen, dass Titel wie Apel, Friedmar: Das Auge liest mit (2010) sich mit der Visualität der Literatur auseinandersetzen, jedoch nur im semantischen Sinne. Der Begriff Visuelle Ästhetik meint nicht die Aisthetik, die vorliegend untersucht wird. Vgl. u.a. Burdorf, Dieter: Poetik der Form (2001); Schmitz-Emans, Monika: Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst (2019); Schneider, Ute: Praxeologische Studien zur historischen Buchwissenschaft (2020); Stöckmann, Ingo: Form, Theorie, Methode (2016); Beck, Andreas (u.a.): Visuelles Design (2019).

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Visuelle Aisthetik

Zeitalters immer relevanter werden, unterscheidet die vorliegende Forschungsperspektive damit zwischen verschiedenen Modi typographischer Textgestaltung, die deutlich voneinander abgegrenzt und damit als Mittel des literarischen Instrumentariums klassifiziert werden. Mit einem Blick auf die zeitgenössische Vielfalt originärer Schreibstrategien, die sich wie bei Carl Einstein mit Visualität auseinandersetzen,13 kann zu Beginn des 20. Jahrhunderts erklärt werden, warum kategorisierende Stilzuschreibungen rein hermeneutischer Art gerade ab diesem Zeitraum nicht ausreichen und von einer Berücksichtigung der materiellen Dimension profitieren. Denn hier helfen dichotomische Pole wie progressiv/traditionell oder abstrakt/konkret nur bedingt, da sie von einer vereinfachten Ausrichtung des Textes ausgehen.14 Wenn beispielsweise Carl Einsteins Bebuquin (1912), Gottfried Benns Gehirne (1916), Ernst Tollers Masse Mensch (1922) oder Thomas Manns Der Zauberberg (1924) nach gängigen literaturwissenschaftlichen Kategorisierungen gelesen werden würden, wären sie zunächst unterschiedlichen Stilen oder Epochen zuzuordnen und hätten wenig gemein. Es lässt sich jedoch mindestens eine traditionell literarische Gemeinsamkeit dieser experimentellen Texte feststellen, die auch epochenübergreifend bestehen bleibt: Ihr literarischer Raum ist eine materielle, semiotisch bedruckte Seite. Mehr noch: Sie alle sind Fließtexte mit einheitlichem Schriftbild und gängigem Layout; wenige Auffälligkeiten. Damit stützt sich ihre Identifizierung als avantgardistisch oder modern vornehmlich auf ihren Stoff, ihre Satzkonstruktionen, ihre stilistische Form oder Bezugsverschiebungen zwischen Wort und Bedeutung. Der ausschlaggebende Punkt dafür, dass ein stilistisches Formspiel wie Bebuquin (1912) trotz seiner inhaltlichen Wirrungen für die Rezipient:innen analysierbar und (mehr oder minder) verständlich bleibt, ist jedoch vor allem eins: seine traditionelle Lesetypographie15 – also die visuelle und materielle Technik des Textes.16 Die vorliegende Arbeit lässt hier ein methodisches Prinzip der strukturalistischen Tradition greifen, welches die Dynamik und Varianz der materiellen Qualitäten eines

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Vgl. Weixler, Antonius: Poetik des Transvisuellen. Carl Einsteins »Écriture Visionnaire« und die Ästhetische Moderne (2016). Dazu auch Ibáñez, Joan: Carl Einstein (2010). Walter Fähnders führt eine sehr schlüssige Argumentation, schließt aber gänzlich aus, dass avantgardistische Literatur auch tendenziell konservativ sein kann. Vgl. z.B. Fähnders, Walter: Avantgarde – Begriff und Phänomen (2007). Auch Peter Gays Republik der Außenseiter (1970) kristallisiert die Weimarer Republik als Transit zwischen den Weltkriegen und kann so die unabhängigen Merkmale der Zeit nicht zu Genüge herausarbeiten. Peter Bürgers Theorie der Avantgarde beschreibt im Gegensatz dazu den Autonomieprozess der Einzelteile eines avantgardistischen Kunstwerks, lässt aber gleichzeitig die rein materiellen Formteile einer literarischen Drucksache unbeachtet. Und auch Kittler verwendet für seine medienwissenschaftlichen Theorien Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985) und Grammophon, Film, Typewriter (1986) Texte, die die Medien inhaltlich darstellen, berücksichtigt aber eher selten die materielle Flächengestaltung der Drucksachen, während er das Medium der Schrift durchaus historisiert. Gerade bei Einsteins Bebuquin (1912) ist es verwunderlich, dass nur die semantische Visualität seiner Schreibmethode erforscht wird und eher seltener die materielle Ebene. Vgl. hierzu Weixler, Antonius: Poetik des Tansvisuellen. Carl Einsteins »Écriture Visionnaire« und die Ästhetische Moderne. Eine Schlüsselmethode seines Schreibverfahrens ist aber gerade, dass er es aussehen und lesen lässt wie einen traditionellen Text. Die Kriterien einer angemessenen Lesetypographie sind zeitabhängig.

1. Die aisthetische Dimension von Drucksachen

Textes berücksichtigt. Denn eine genuin strukturalistische Annahme ist die Bestimmbarkeit eines Gegenstands durch seine kontextabhängige Struktur – für die vorliegende Untersuchung wäre das die literarische Visualität eines Textes. Die Relevanz einzelner Auffälligkeiten ergibt sich dabei aus dem Gesamtbild des Textes, seiner Textbildlichkeit, aus den visuellen Relationen und Grenzen, die textimmanent abgelesen werden können. Diese Annahme wurde vom Prager linguistischen Kreis fundiert und ist auch gegenwärtig literaturwissenschaftlich anwendbar: »Man kann also ein Zeichen, einen Begriff, einen Textbefund nicht von sich aus verstehen, als direkte Manifestation eines Sinns, sondern nur im Vergleich mit anderen Zeichen, Begriffen und das heißt letztendlich: Texten«17 – im Vergleich von Texten oder auch visuellen intratextuellen Markierungen sind, wie folgend gezeigt wird, Relationen entscheidend. Relationen zwischen divergierenden Texten wie zu den zeitgenössischen Diskursen. Die hier untersuchten Druckbilder unterscheiden sich von den zuvor erwähnten Texten insofern, als dass sie die Medientechnologie Film als ihr Vergleichsmedium begreifen – explizit und implizit –, was (so die These der Arbeit) zu einer Wiederentdeckung der materiellen Mittel der visuellen Medientechnologie Text führt, diese provoziert und zu Gestaltungsexperimenten animiert. Vor dem Hintergrund rezeptionstheoretischer,18 semiotischer,19 medienwissenschaftlicher,20 film-21 und formtheoretischer22 Ansätze legt die vorliegende Untersuchung daher materielle Analysen moderner Texttypographie vor. Die literarische Montage, die die vorliegende Arbeit untersucht, ist eine materielle Technik. Aus diesem Grund fiel die Auswahl auf Texte, die typographisch aufschlussreich in Hinblick auf »die Ästhetik und die Technik«23 der Montage analysiert werden können, um eine materielle und mediale Auseinandersetzung mit dem Film zu spiegeln. Ziel ist dabei die Diskussion um die materielle Ästhetik von Literatur anhand konkreter Analysen von Typographie als literarischer Technik zwischen 1913 und 1929 zu bereichern. Hierzu werden die aisthetischen Qualitäten eines Textes von zeitgenössischen sinnesphysiologischen und psychotechnischen Annahmen abgeleitet und vor dem Hintergrund gängiger Diskurse platziert. Das detailreiche Abtasten wahrnehmungstheoretischer Grundlagen und kunsttheoretischer Positionen im modernen Paragone, der Bauhauslehre und dem Einsatz psychologischer Produktionsstrategien legt das Fundament für das Wiederentdecken der Materialität von Text – provoziert durch die Visualität des

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Baßler, Moritz: Deutsche Erzählprosa 1850-1950 (2015), S. 15. Hier sind vor allem die durch Iser in den Fokus gesetzten Leerstellen eines Textes relevant. Vgl. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte (1970). Vgl. Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik (1972). Bei Eco ist vor allem spannend, dass er den visuellen Code von dem architektonischen Code unterscheidet. Der architektonische Code wird nämlich zusätzlich um die direkte Funktion des Gebrauchscharakters erweitert, durch die der:die Kommunikationspartner:in vermittelt wird, dass er:sie den architektonischen Zeichen zu folgen hat. Die organisierende Struktur der Typographie trägt, wie vorliegend nachgewiesen wird, kommunikative und koordinierende Funktionen. Vgl. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985) und ders.: Grammophon/Film/Typewriter (1986). Benjamin, Walter: Medienästhetische Schriften (2002). Moholy-Nagy, Laszlo: Malerei – Fotografie – Film (1925). Stiegler, Bernd: Der montierte Mensch (2016), S. 9.

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Visuelle Aisthetik

Films. Dabei schließt diese Arbeit zwei Forschungslücken: Erstens wurde die Untersuchung aisthetischer Wahrnehmung von Materialität bisher vornehmlich von den Bildwissenschaften angewandt.24 Zum Nachvollzug der materiellen Aisthetik literarischer Drucksachen, bzw. Text überhaupt, wird mit einem ähnlichen Analyseverfahren gearbeitet, welches die Überlegungen des Forschungsfelds konkretisiert und transdisziplinäre Methoden kombiniert, um die aisthetische Konzeption von Texten als Produktionstechnik ausweisen zu können. Zwar liegt mit Susanne Wehdes Typographische Kultur (2000) auch eine Analyse typographischer Textverfahren vor, jedoch geht die Autorin dabei linguistisch (strukturalistisch und semiotisch) und kulturhistorisch vor, um die Vielfältigkeit typographischer Mittel aufzuzeigen. Zweitens wurden die Parallelen zwischen Architektur und Kino zeitgenössisch bereits von Yvan Goll angeführt25 und auch wissenschaftlich aufgearbeitet26 und jene zwischen Architektur und Typographie spätestens durch die expliziten und detailreichen Ausführungen des Bauhauses in Umlauf gebracht. Die hier nun spezifizierte Verbindung aisthetischer Gemeinsamkeiten von Kino und Typographie27 schließt eine Lücke in den bisherigen Beschreibungen dieser reziproken Verhältnisse innerhalb dieses Themenkreises visueller Konzeptionen im frühen 20. Jahrhundert. Die Medientechnologie des Films ist hierbei entscheidend, da sie die zeitgenössische visuelle Wahrnehmung immens herausfordert. In der Textproduktion werden daraufhin die eigenen visuellen Elemente wiederentdeckt und umorganisiert, um genrespezifisch ebenfalls mit der eigenen Materialität zu experimentieren. Dies ist ohne weitere Innovationstechniken möglich, da auch das Buch und der Text visuelle Medientechnologien sind; für das Experimentieren mit dieser Voraussetzung ist eine Fokusverschiebung notwendig, die den Einsatz von Visualität als autonomes Mittel zulässt, ohne der Semantik des Geschriebenen zu unterstehen. Der Film gibt damit den ausschlaggebenden Anstoß zu typographischen Textkonstruktionen, die visuelle Brüche und Markierungen verarbeiten, um materiell in den Rezeptionsprozess einzugreifen. Das Spektrum typographischer Textbildlichkeit im Spiegel der Medientechnologie Film wird anhand von ausgewählten Texten präsentiert, die einen einheitlichen thematischen Bezugspunkt aufweisen, materiell jedoch divers auftreten. Denn sie alle entspringen einer direkten Auseinandersetzung mit dem Film, wählen aber jeweils unterschiedliche, semantische und/oder materielle Strategien, um diese Prämisse zu verarbeiten: die ersten drei Textanalysen von Plumm-Pascha (Else Lasker-Schüler, 1913), Zwischen Himmel und Erde (Heinrich Lautensack, 1913) und Die Hochzeitsnacht (Walter Hasenclever, 1913) sind in einer Textsammlung versammelt, die explizit Vorlagen für den Film einfasst, dem Kinobuch (1913/14). Darauf folgt die Analyse des Romans Blut und Zelluloid (Heinrich Eduard Jacob, 1929).28 Hier werden typographische Mittel in die literarische Dimension miteinbezogen. Und schließlich folgt das Typofoto Dynamik der Gross-Stadt (1921/22) von László 24 25 26 27 28

Hierzu: Wagner, Christoph/Greelee, Mark W./Wolff, Christian: Aisthesis (2013). Vgl. Goll, Yvan: Das Kinodram (1920), S. 139. Vgl. Keim, Christiane/Schrödl, Barbara: Korrespondenzen zwischen Film, Architekturgeschichte und Architekturtheorie (2015). Einen einschlägigen Forschungsbeitrag zur Typographie im Film leistete Florian Krautkrämer mit Schrift im Film (2013). Trotz des Tonfilms, um 1927 immer mehr den Stummfilm ersetzt, entwickelt Jacobs Roman seine typographische Gestaltung anhand von Visualität. Vgl. 4.2.

1. Die aisthetische Dimension von Drucksachen

Moholy-Nagy, das den Untertitel Skizze zu einem Filmmanusskript trägt und diese Funktion vornehmlich visuell vermittelt. Da zu beobachten ist, dass Typographie, sobald sie von einzelnen Autor:innen als literarische Technik handhabbar gemacht wurde, auch in deren Gestaltungsrepertoire eingeht, werden in den Analysen weitere Texte als Stütze dieser These herangezogen. Im Falle von Dynamik der Gross-Stadt (1921/22) stellt der Autor Moholy-Nagy selbst einen Vergleich mit zeitgenössischen Filmen an. Ein Zugang zu literarischen Texten anhand der Vergleichsebene ihres typographischen Layouts gewinnt dabei weiter Kontur, wenn man sich vor Augen führt, dass der Ausgangspunkt von einer technisch-materiellen Perspektive für die Analyse des Konkurrenzmediums Film von vornherein etabliert ist: Im Vergleich zu den sprachkritischen Diskursen der zeitgenössischen Literaturtheorie und -kritik spielen in den theoretischen Diskussionsräumen des Films Semantik und Inhalt eine sekundäre Rolle, während die Technik des Mediums zu seinem Prinzip erklärt wird. Denn zunächst begreift man ihn um 1900 als kinematographische Technik, wissenschaftliches Abbildungsverfahren, unterhaltendes Lichtspiel oder retrospektiv betrachtet als Medientechnologie – aber nicht als Kunst. Für das Publikum des frühen 20. Jahrhunderts liegt der Grund hierfür auf der Hand, da die Technik des Films nicht mit den traditionellen Künsten verwandt zu sein scheint: seine visuelle Forderung nach außerordentlicher Geschwindigkeit und Dynamik an die ihn betrachtenden Augen(paare) scheint nicht mit der klassischen Form des rhetorischen movere, »der spezifischen Gemütsbewegung«,29 vereinbar. Während die bildende Kunst hierdurch provoziert ebenso zunehmend beim sinnesphysiologischen movere ansetzt, vermehrt technische Experimente durchläuft und Picasso 1907 mit Les Demoiselles d’Avignon die traditionelle Perspektive30 auflöst, treten in den deutschen Filmzeitschriften Kinematograph (1907-35) und Lichtbild-Bühne (1908-40) ab 1908/09 auch die ersten Filmkritiken auf und befeuern die Diskussion um das technische Medium Film als Kunst.31 Damit wird ab diesem Zeitpunkt erstmals die Möglichkeit diskutiert, die Medientechnologie auch als künstlerischen Ausdruck zu verstehen. Traditionelle Verhältnisse von Inhalt und Form werden nun öffentlich anhand des Kunst-werdenden Mediums verteidigt, infrage gestellt oder umstrukturiert. Das Dispositiv Film bringt in diesem Diskurs zum Vorschein, dass sich sein künstlerischer Charakter aus seiner originären Ausdrucksform generiert: Und gerade seine technische Form ist der Grund dafür, dass die Frage danach, ob der Film als Kunst oder Unterhaltung zu verstehen sei, noch Jahrzehnte lang anhält.32 Hierdurch wird einerseits ersichtlich, dass im öffentli-

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Mellmann, Katja: Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung (2015), S. 174. Vgl. auch ebd., S. 178-184. Vgl. Egenhofer, Sebastian: Dispositive der Formgenese (2019). Vgl. Müller, Dorit: Gefährliche Fahrten (2004), S. 192. Gleichzeitig erhebt Kurt Pinthus Anspruch darauf 1913 die erste Filmkritik geschrieben zu haben. Vgl. Pinthus, Kurt: Vorwort zur Neu-Ausgabe (1963), S. 10f. Als Auftakt der filmtheoretischen Forschung kann Hugo Münsterbergs The Photoplay (1916) gesehen werden. Mit der Technik des Films setzte sich zudem frühzeitig der russische Formalismus auseinander. Gerade Sergej Ėjzenštejn (Sergej Eisenstein) forcierte hierbei die Montage als Alleinstellungsmerkmal des Films, welches auch zu seiner Bewertung als Kunst führen sollte. Während Béla Balázs mit Der sichtbare Mensch (1924) die internationale Verständlichkeit der Mimik und Gestik des Films forcierte, tendierten Schriften wie Rudolf Arnheims Film als Kunst (1932) dazu den

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chen Diskurs damit begonnen wird, den Film als Kunst zu diskutieren und damit den alteingesessenen Wettstreit der Künste, den Paragone, zu erweitern. Andererseits, dass sich der Film, wie beispielsweise auch sein Ursprung, die Photographie, vor allem durch seine materielle Form und die von ihm angewandten Techniken beschreiben lässt. Der öffentliche Diskurs der Kino-Debatte (1978),33 genährt von transkünstlerischen Vergleichen und Abgrenzungen, bestätigt reziproke – kunsttheoretische wie mediale – Bezugsketten zwischen der Medientechnologie und den etablierten Kunstgattungen.34 Diese Arbeit nimmt sich diesen Überlegungen diskurs- und materialanalytisch an. Um die materiellen Mittel der Texte ausreichend beleuchten zu können, werden dazu theoretische Überlegungen wie jene von Stephan Brössel in Filmisches Erzählen (2014) berücksichtigt, aber notwendigerweise weiterentwickelt. Denn die untersuchten Texte haben zwar explizite Bezugspunkte zur filmischen Welt und Form,35 werden hier aber

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Film aus einer kunsthistorischen Perspektive schematisch mit den anderen Künsten zu vergleichen. 1938 folgte Ernst Iros Wesen und Dramaturgie des Films, das praktische Anleitung beisteuert und auch visuelle Kommunikation thematisiert. In André Bazins Was ist Kino? (1958) sammeln sich Essays, die eine subjekt- und wirkungsästhetische Filmtheorie entwickeln. Siegfried Kracauers publizierte 1947 eine sozialpsychologische Perspektive in From Caligari to Hitler, bevor er in Theorie des Films (1960) eine materielle Ästhetik des Films aufgrund seiner photographischen Abbildungen vorstellt, wobei der Filmtheoretiker mit Material den bildlichen Inhalt des Films meint. Eine erste Soziologie des Films (1970) legte Dieter Prokop vor. Christian Metz entwickelt 1972 eine Semiologie des Films, auf die noch die Sprache und Film (1973) folgte, wodurch er eine linguistische Perspektive vorlegt. Mit ihrem Aufsatz Visual Pleasure and Narrative Cinema (1975) zeigt Laura Mulvey die erste feministische Filmtheorie. Gilles Deleuzes Schriften Das Bewegungs-Bild (1983) und Das Zeit-Bild (1985) stellen einen philosophischen Ansatz vor. Als kritisierende Reaktion auf psychoanalytische Filmtheorien erarbeitete Noëll Carroll Mystifying Movies (1991). Peter Wuss präsentiert mit Filmanalyse und Psychologie (1993) eine wahrnehmungspsychologische Perspetive. 1997 gab Klaus Kanzog eine Einführung in die Filmphilologie. David Bordwell, Kristin Thompson und Jeff Smith legten 2003 mit Film Art: An Introduction einen umfassenden Überblick vor. Vgl. Kaes, Anton: Kino-Debatte (1978); Kaes, Anton: Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933 (1983), insbesondere S. 219-262. Auch weitere Medientechnologien erleben in dem hier besprochenen Zeitraum einen erheblichen Aufschwung. Hierzu u.a. Beals, Kurt: Wireless Dada (2020). Stephan Brössel legt eine umfassende und aufschlussreiche Theorie vor, die die Forschung zur filmischen Literatur definitiv erweitert. Er setzt sich vornehmlich mit gängigen Diskursen wie u.a. Großstadt und Sprachkrise auseinander. Den kritischen Bruch zwischen Literatur- und Filmwelt arbeitet er sehr vielschichtig heraus. Die Veränderung im visuellen Auftritt der Texte vernachlässigt er aber, obwohl er über Bildwerdung und Visualisierungsprozesse schreibt. Umso interessanter ist eigentlich, dass Brössels Arbeit bestätigt, dass Typographie als Medium unsichtbar wird, indem er sogar Textausschnitte hervorhebt, die gerade durch ihre Visualität hervortreten (vgl. Brössel, Stephan: Filmisches Erzählen (2014), S. 77). Brössel beschreibt dies wie folgt: »die den Erzählakt anreichernde mediale Ebene des Textes [wird] filmisch realisiert« (ebd., S. 78). Mit dem Typus der inhaltlichen und formalen Explizitheit (vgl. ebd., S. 79) beschreibt er inhaltliche wie typographische Filmbezüge in Drucksachen. Das älteste Beispiel, das Brössel unter diesen Typus fasst ist Fitzgeralds The love of the last tycoon. A western (1941). Dass es sich aus diesem Grund schon um intermediale Adaptionen des Drehbuchs handeln könnte, wird weniger in den Fokus gerückt. Auch die Etablierungsphase der von ihm beleuchteten Schreibtechniken wird nicht berücksichtigt. Die vorliegende Arbeit kann daher als Vorbau zu Brössels umfangreicher Theorie gelesen werden. Denn Brössel versucht den medialen Raum des filmischen Erzählens auch anhand des »piktographische[n] Material[s]« (vgl. Brössel, Stephan: Filmisches Erzählen (2014), S. 108) zu erschließen; doch

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vornehmlich auf dessen visuelle Umsetzung hin beleuchtet. Die Differenz zwischen dem visuellen Modus der Medientechnologie und der Texte, der Drucksachen, ist gerade der Druck – das statische Material visualisiert dabei die dynamisierende Technik des Films durch den Einsatz von Typographie. Durch den materiellen Zugang zu den Texten, die teils eine filmische Aisthetik visualisieren, werden sie als Drucksachen konkreter fassbar und als selektive Formungsakte analysierbar. Die Materialität des Textes wird dementsprechend durch den gewählten Druckstil zu einem konkreten Anhaltspunkt für bisherige Deutungstendenzen eines filmischen Schreibstils.36 Da dieser visuelle Anspruch eines sinnesphysiologischen Konzeptions- und Kalkulationsprozesses der Textgestaltung bedarf, wird hier bewusst von einer Drucktechnik gesprochen und von dem Begriff der Form für die visuelle Gestaltung der Texte Abstand genommen, da letzteres offenkundig auch als narratives, genrespezifisches Verfahren verstanden wird und sich in den seltensten Fällen auf die materielle sowie typographische Formgebung eines Textes bezieht. Zusätzlich soll im Folgenden davon ausgegangen werden, dass die visuellen Qualitäten von Typographie37 in diesem Zeitraum zunächst wiederentdeckt und anschließend umfunktioniert werden, sodass sich ein Gestaltungsspektrum zwischen ihrer ästhetischen Funktion und ihrem Einsatz als literarischer Technik etabliert. Die Materialien des Buches durchlaufen, provoziert von der Visualität des Stummfilms, eine Vielzahl von Experimenten, die zu unserem heutigen Verständnis von Typographie(-ordnungen) beigetragen haben und eröffnen durch die Berücksichtigung der visuellen und materiellen Seite eine neue Dimension in der Produktion von gedruckten Texten. Durch die fehlenden Vorgaben für visuelle Textgestaltung entsteht ein breites typographisches Spektrum an Druckoptionen, die anhand der ausgewählten Texte in ihren materiellen und semantischen Dimensionen präsentiert werden. Hierbei wurden gezielt Texte gewählt, die an den äußeren Rändern und im Kern der Bandbreite dieses Möglichkeitsspielraums zu situieren sind. Deshalb möchte die vorliegende Arbeit den medientechnologischen, kunsttheoretischen und produktionstechnischen Einfluss des Films auf die Literatur der 1910er und -20er Jahre anhand der den beiden Kunstgattungen gemeinsamen Ebene der visuellen Gestaltung, sei es Leinwand- oder Seitenfläche, analysieren. Dafür werden die wahrnehmungstheoretischen Annahmen der frühen Filmtheorien bezüglich Aufmerksamkeitslenkung, Zerstreuung, visueller Inanspruchnahme, sinnesphysiologischer Lernprozesse und perzeptiver Chock-Zustände auf ihre naturwissenschaftlichen Prämissen zurückgeführt. Denn im 19. Jahrhundert setzt eine positivistische und funktionelle Wissensordnung in den Naturwissenschaften ein, die sich von einer philosophischen Wahrnehmungstheorie distanziert. Aus diesem Grund wird vorliegend nachgezeichnet wie Sinnesphysiologie (Helmholtz), physiologische Psychologie (Wundt), sowie Psychotechnik

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auch hier werden keine Reflexionen über eine typographische Technik zur visuellen Erweiterung des Textbildes angeführt. Es wird hier nahegelegt diesen Begriff, wie von Hahn in Drucksache (2019) vorgeschlagen, medienästhetisch anzupassen und von einem Druckstil zu sprechen. Die Schreibweise von Typographie variiert aufgrund der historischen Anpassung der Schreibweise. Im Fließtext wird durchgehend Typographie geschrieben.

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und -ästhetik (Münsterberg) Argumente für eine optisch angemessene visuelle Gestaltung erarbeiten. Dabei liefern sie auch die Antwort auf die Frage, welche Mittel dem Film eine zuvor ungekannte Interaktion mit der visuellen Wahrnehmung ermöglichen: Dynamik, Blickkoordination und Limitation des einsehbaren Blickfelds. Die Weiterentwicklung und Übertragung dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse und der daraus resultierenden Kalkulationsmöglichkeiten der visuellen Wahrnehmung auf andere Informationsträger wie den gedruckten Text führt dabei einerseits zu der Berechenbarkeit einer potentiellen Rezeption – und damit der Verdinglichung des Individuums – und andererseits, gerade durch dieses reziproke Anleihen technischer Mittel unter den Gattungen, zur Erhebung der filmischen Medientechnologie zur Kunst. Hieran wird deutlich, aus welchen Gründen die semantische Ingredienz des Films seiner Technik (zunächst) untergeordnet bleibt: seine sinnesphysiologisch herausfordernden Effekte zielen nicht auf kontemplative Reflexionszustände, sondern auf direkte visuelle Motivation. Mit einem Blick auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand des 19. Jahrhunderts wird zudem verständlich, dass zeitgleich zur materialisierenden Industrialisierung auch eine Materialisierung und Objektivierung des Subjekts einhergeht: Das Messen, Quantifizieren und Ausdeuten des Menschen führen zu dessen Berechenbarkeit. Mit Helmholtz’ sinnesphysiologischen Erkenntnissen wird eine unmittelbare neurologische Verbindung zwischen Auge und Gehirn belegt: Visuelle Qualitäten versteht er als direkte Einflüsse auf die Perzeption und verortet die Fehlbarkeit der visuellen Wahrnehmung dadurch in den psychologischen Erkenntnisprozessen (2.1). Gleichzeitig ermittelt die Physiologie jedoch die Trägheit unserer visuellen Reflexe, was für die Konfrontation mit dem Bewegtbild bedeutet, dass der zeitlich-gebundene Reflexionsprozess, der in den traditionellen Künsten notwendigerweise zur betrachtenden Rezeption gehört, durch schnelle und fortlaufende Wechsel des Bewegtbildes untergraben wird. In der Wahrnehmungspsychologie wird somit erarbeitet, dass der Film als technisches (und ausgesprochen erfolgreiches) Bildmedium auf sinnesphysiologische Prinzipien antwortet, wodurch die Vermutung nahe liegt, dass die traditionellen Künste ähnliche Formexperimente auf die visuelle Perzeption des Menschen ausrichten können. Aufgrund der experimentellen Erschließung des Menschen durch seinen physiologischen Aufbau und dessen Zusammenhang mit der Psyche wird so auch sein Geist bis zu einem bestimmten Grad entmystifiziert. Schritt für Schritt beschreibt Wilhelm Wundt anhand dieser Grundlagen, welche entscheidenden Faktoren den menschlichen Leseakt prägen. Einerseits kann er dabei festhalten, dass wir im Formganzen lesen und nicht, wie vorher angenommen, jedes Zeichen für sich. Andererseits stellt er fest, dass ein zerstreutes Beobachten notwendiger Bestandteil eines Experiments und des Wahrnehmungsprozesses sei (2.2). Ein weitläufiges Sehen wird so als physiologische Grundausstattung und Kulturtechnik des wissenschaftlich erschlossenen und modernen Menschen festgehalten. Wundt geht aber noch weiter und bindet die physiologischen Reiz-Reaktionsketten zurück an die menschliche Psyche: Die Sinne, und gerade der visuelle Reiz, können, nach Wundt, die Psyche direkt beeinflussen. Sein Schüler Hugo Münsterberg arbeitet 1914 an dem Umkehrschluss dieser These: Er verweist nicht mehr darauf, dass die visuell erfahrbare Form die Bedeutung eines Zeichens oder Phänomens beeinflusst, sondern legt nahe, dass auch der Geist visuell ausdrückbar wird – durch die filmische Technik (2.3). In seiner interdisziplinären Studie Das Lichtspiel

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(1916) argumentiert er damit nicht nur für die Relevanz psychologischer Abbildbarkeit durch die Medientechnologie, sondern stellt gleichzeitig deren künstlerischen Mehrwert dar. Münsterberg fundiert damit die Überlegenheit des Films durch seine medientechnologische Beschaffenheit und die daraus resultierende Erweiterung und Steigerung künstlerischer Möglichkeitsspielräume. Bereits vor dieser frühen wissenschaftlichen Filmtheorie, die er in Harvards Laboratorien aufstellt, formuliert der Autor in seinen Grundzügen der Psychotechnik (1914) explizite technische Empfehlungen an Kunstschaffende. Damit eröffnet Münsterberg auch die Diskussion um das Propagandapotential des Films, denn er schlussfolgert eine visuelle Beeinflussbarkeit des internen psychischen Bilds durch unwillkürliche Aufmerksamkeit. Und dieses technische und mechanische Verständnis von Psyche sollte sich rasant in den visuellen Gestaltungsversuchen der Wirtschaft im öffentlichen Raum durch Werbung und Reklame38 sowie, wie vorliegend nachgezeichnet, in Kunst und Literatur wiederfinden. Was die Ergebnisse der wahrnehmungspsychologischen Forschung für die Künste bedeuten, wurde an unterschiedlichen Verknüpfungspunkten zwischen Natur- und Geisteswissenschaft in interdisziplinären Forschungsbeiträgen bereits aufgezeigt. Jonathan Crary skizziert in diesem Zusammenhang, dass sich die Erweiterung, aber auch Bindung der visuellen Perspektive durch technische Erfindungen (vor allem durch die Entwicklung des Stroboskops) auf die bildenden Künste auswirkt.39 Weiter noch konnte Christoph Hoffmann auf die sprachlichen Verflechtungen hinweisen, die sich im Umfeld von Technik, Experiment und ihrer »Versprachlichung oder -schriftlichung« niederschlagen40 – denn der Einsatz sprachlicher Mittel, mündlich wie auch schriftlich, prägt die Rezeption synchron wie auch diachron. Dies kann an Metaphern und Analogien dargestellt werden. So hält sich im wissenschaftlichen und öffentlichen Raum beispielsweise lange die Analogie zwischen Telegraphendrähten und Nervenleitungen, was fälschlicherweise einen einheitlichen Aufbau aller Nervenbahnen suggeriert. Ebenso ist die transdisziplinäre Übernahme des Ingenieurs, der von der Berechnung der Maschinen zu der Berechnung von Kunst übergeht, zu statuieren (3.2). In der vorliegenden Arbeit wird der fruchtbaren Verbindung von naturwissenschaftlichem und dadurch motiviertem künstlerischem Experiment nachgegangen. Indem die Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie als theoretische Grundlage früher Filmtheorien begriffen werden, werden auch typographische Versuche unternommen, mit den optischen Voraussetzungen der visuellen Wahrnehmung die Textdimensionen des Materials und der Semantik zu erweitern. Denn durch Helmholtz’ physiologische Experimente wird der direkte Verbund von Auge und Gehirn bewiesen, von Wundt eine Konkretisierung des Beobachtungszustands im Experiment sowie eine psychologische Herleitung des ganzheitlichen Leseprozesses aufgestellt und von Münsterberg eine psychoästhetische Filmtheorie aufgestellt – das visuell wahrgenommene Zeichen durchläuft durch diese empirischen und methodischen Umfunktionierungen des Sehens verschiedene Stationen eines Autonomieprozesses: Zunächst wird der unmittelbare Zugang zum

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Vgl. König, Theodor: Reklame-Psychologie (1924). König weist explizit darauf hin, dass sich die Reklamepsychologie auf die Erkenntnisse anderer Wissenschaften stützt. Vgl. ebd., S. V. Vgl. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters (1990), 132f. Vgl. Hoffmann, Christoph: Unter Beobachtung (2006), S. 275f.

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Zentralorgan der Wahrnehmung, dem Gehirn, attestiert; dann wird der Einfluss auf die visuelle Perzeption festgehalten und letztlich der direkte Verbund von materieller Form (Bewegtbild) mit ihrem Inhalt festgestellt. Ergebnis dieses Prozesses ist die Anerkennung des Films als Kunst: Denn durch die Bestimmung seiner direkten visuellen Inanspruchnahme können neue zweidimensionale Raum- und Zeitkompositionen erprobt werden. Und dieses Verfahren grenzt sich von etablierten künstlerischen Mitteln ab, da es eine zuvor unbekannte Wirkkraft auf die Rezipient:innen ausübt. Dies geschieht visuell – also im direkten Bezugsfeld der künstlerischen Gattungen. So ergibt sich eine veränderte Wahrnehmung und Einordnung der Künste durch die naturwissenschaftliche Technik41 des Mediums Film, welcher sich durch seine materielle Form und nicht durch seinen semantischen Gehalt definiert. Jonthan Crarys Techniken des Betrachters (Techniques of the Observer 1990) und Aufmerksamkeit (Suspensions of Perception 2000) verdeutlichen diesen Umstand ebenso wie Christoph Arsendorfs Ströme und Strahlen (1989), Stefan Andriopoulos und Bernhard J. Dotzlers Medienarchäologie 1929 (2002), Christoph Hoffmanns Unter Beobachtung (2006), Petra Löfflers Verteilte Aufmerksamkeit (2014) oder Kurt Beals’ Wireless Dada (2019); Denn diese Forschungsbeiträge stellen aus verschiedenen Perspektiven dar, dass wissenschaftliche wie technische Errungenschaften Einfluss auf die Medialität und Materialität künstlerischer Gattungen ausüben. Die vorliegende Arbeit präzisiert die Tendenz dieser Forschungsbeiträge anhand der typographischen Gestalt moderner Texte, die immens durch die technische Beschaffenheit und Visualität des Films beeinflusst und gefördert wurden. Indem durch die Schnelligkeit der aufeinanderfolgenden Bilder keine synchrone Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Dargestellten möglich ist und der Bild-Schnitt zunehmend seinen Gehalt suggeriert, entsteht – durch die technische Form – (s)eine eigene Semantik. Semantik wird so auch zu einer Qualität des visuellen Materials. Bei den zeitgenössischen Filmtheorien wird dieses Verständnis bereits angewandt und auch in den Design- und Zeichentheorien des Bauhauses ver- und aufgearbeitet. Im Folgenden wird dieser gestaltende Prozess der entstehenden Formautonomie daher zunächst reflektiert (3.-3.3) und anschließend anhand von experimentellen Texten zwischen 1913 und 192942 nachgezeichnet (4.-4.3). Denn auch wenn die visuelle Physiologie und die Formgestaltung in der Literatur aus unterschiedlichen Teilsystemen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hervorgehen, sollten sie aufgrund ihrer gemeinsamen experimentellen Methode und Funktion in Bezug zueinander gesetzt werden. Die prominenten Texte, die oben genannt wurden, sind experimentelle Ausdrucksformen, deren moderner Gehalt sich im Formexperiment und/oder durch ihr semantisches Gehalt präsentiert. Auch die herangezogenen Texte, die in der vorliegenden Arbeit analysiert werden, thematisieren gängige Topoi des frühen 20. Jahrhunderts, jedoch 41

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Das Festhalten von Bewegungsabläufen war der naturwissenschaftliche Ausgangspunkt des Mediums Film, welches rein qualitativ detailreicher und technisch schneller war als das menschliche Auge. So ist es die Intention von Muybridge und Konsorten schnelle Bewegung durch Statik einsehbar zu machen, was in ihrem Umkehrschluss, der Aneinanderreihung der Bilder, zum Film wurde. Zum Überblick: Wolf, Herta (Hg.): Zeigen und/oder Beweisen? Die Fotografie als Kulturtechnik und Medium des Wissens (2016). Den zeitlichen Rahmen stecken die Textbeispiele des Kinobuchs (1913, vordatiert auf 1914) und Blut und Zelluloid (1929, vordatiert auf 1930) ab.

1. Die aisthetische Dimension von Drucksachen

nicht ausschließlich inhaltlich, sondern vor allem auch anhand ihrer materiellen Textbildlichkeit.43 So sind sie Formexperimente, die sich durch ihre aisthetische Dimension über das typographische Material abzeichnen. Sie stellen gleichzeitig Beispiele dar, die abseits des literaturwissenschaftlichen Kanons zu verorten sind. Dieser Fakt verdeutlicht, dass vor dem heutzutage neuaufgeflammten Interesse an materieller Text- und Buchforschung die funktionelle und materielle Formgebung eines Textes noch nicht als Hinweis auf dessen Literarizität verstanden wurde. Zwar stellen frühe Verweise auf die materiellen Buchdimensionen wie Paul Valérys Die beiden Tugenden des Buches (1926) den Ausgangspunkt der Argumentation dar, jedoch sind es gerade auch jüngere theoretische Texte wie Jacques Ranciéres Die Fläche des Designs (2003), die verdeutlichen, dass die Materialität der Kommunikation44 wie auch das mediale Format der Literatur, das Buch,45 gerade vor ihrem historischen Hintergrund,46 neue Beachtung als Drucksache47 erfahren. So wird an den ausgewählten Texten deutlich, dass sie die zeitgenössischen Diskurse zu Kunst und Visualität in ihrer materiellen Beschaffenheit des Drucks in Typographie, Interpunktion48 und Raumorganisation49 einfassen und ihren Gehalt hierdurch erweitern. Gerade die Themenfelder von Struktur, Aufbau, Raum und Architektur sollen hier nicht ausschließlich hermeneutisch, sondern vor allem auch materiell anhand von makro- und mikrotypographischen Druckelementen als Material und Technik der Texte deutlich werden.50 Dabei werden diese materiellen Analysen zugegebenermaßen durch ein fehlendes Regelsystem experimenteller Druckstile erschwert, wie Susanne Wehde bereits 2000 in Typographische Kultur umfassend aufzeigen konnte. Die Auszeichnung eines experimentellen Verfahrens schließt jedoch explizit einen kategorischen DecodierungsKatalog aus. Die hier untersuchten Texte von Lasker-Schüler, Lautensack, Hasenclever, Jacob und Moholy-Nagy werden mithilfe der Analyse als Steigerung des visuell erfassbaren Raums

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Textbildlichkeit meint die bildlich-visuelle Erscheinung von Texten. Das Decodieren spricht hier die visuellen Elemente an und nicht die Zeichen als Träger:innen von Sprache. Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Textbildlichkeit (2019), S. 61f. Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig: Materialität der Kommunikation (1988). Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst: Ein Kompendium (2019). Vgl. Schneider, Ute: Praxeologische Studien zur historischen Buchwissenschaft (2020). Vgl. Hahn, Torsten: Drucksache (2019). Einen Überblick zu außersprachlichen Funktionen von Satzzeichen bietet Nebrig, Alexander: Die Poesie der Zeichensetzung (2012). Historische Texte sind diesbezüglich editionsphilologisch auf Eingriff und Veränderungen durch Herausgeber:innen oder Neuauflagen zu prüfen. Denn die Neuauflagen des Kinobuchs oder Blut und Zelluloid zeigen, dass unkritische Neuauflafen das ursprüngliche Textbild einer Drucksache oft anpassen. Meist wird auf die zeichentheoretische Arbeit Jurij M. Lotmans hingewiesen, jedoch hiervon ausgehend das Sujet erarbeitet. So beispielsweise bei Nitsch, Wolfram: Topographien: Zur Ausgestaltung literarischer Räume (2015). Hier wird ausgeschlossen, dass es sich bei dem materiellen Raum eines Textes auch um ein literarisches Element oder einen literarischen Raum handeln könnte. Nach dem spatial turn gibt es eine Erweiterung des Raumverständnisses, wonach der topologische Raum vermehrt wieder als kultureller Raum untersucht wird. Vgl. Hallet, Wolfgang: Raum und Bewegung in der Literatur (2009).

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der bedruckten Seite lesbar. Sie stellen Versuche dar sich in der neuen visuellen Öffentlichkeit zu positionieren und überraschen dabei in ihrer Vielfältigkeit. Den ausschlaggebenden Motivator für die kreative Formvarianz in Plumm-Pascha (1913), Zwischen Himmel und Erde (1913), Die Hochzeitsnacht (1913), Die Pest (1920), Blut und Zelluloid (1929) und Dynamik der Gross-Stadt (1921/22) stellt dabei das Medium Film dar. Sie setzen sich direkt mit dessen technischer Beschaffenheit auseinander und offerieren so die Möglichkeit eines formästhetischen Vergleichs. Um die Analyse der Texte stichhaltig gestalten zu können, wird im Kapitelblock 3 zunächst eine Orientierung für die Analyse materieller Drucksachen anhand des typographischen Spektrums vorgestellt (3.). Dabei stehen die Außenbereiche dieser Bandbreite, die ästhetische Funktion der Typographie und ihr Gebrauch als literarische Technik, im Fokus. Ein historischer Abriss führt relevante Knotenpunkte der innovativen Textgestaltung vor, um den neuen Umgang der modernen Literatur mit einer kalkulierten visuellen Aufmerksamkeit zu verdeutlichen. Die vorliegende Arbeit versucht nicht, wie es andere Forschungsbeiträge zuvor unternommen haben,51 die visuellen und experimentellen Drucke des 20. Jahrhunderts als absolute Neuerung auszulegen – der historische Abriss wird verdeutlichen, dass dies nicht der Fall ist. Vielmehr möchte die Arbeit zeigen, dass der Umgang moderner Texte mit Typographie eine Umstrukturierung durchläuft, welche die technische und materielle Funktionalität des Drucktextes erkennt und einsetzt. Der bewusste und gezielte Einsatz dieser materiellen Textqualitäten eröffnet im beschriebenen Zeitraum neue Methoden und Arbeitstechniken für die Produktion von Texten. Die visuell-technologische Funktion von Typographie entwickelt sich hierbei zu einem Koordinierungsversuch des zerstreuten Sehens, während die ästhetische Funktion von Typographie den Inhalt eines Textes stützt. Um den Prozess dieser Umstrukturierung durch unterschiedliche Ausgangspunkte verdeutlichen zu können, folgen auf die Vorstellung der Untersuchungsmethode drei Analysen verschiedener Diskurse, die sich auf die Entwicklung einer sinnesphysiologisch und technisch motivierten Textgestaltung ausüben. Den Auftakt hierfür bildet ein Abriss des modernen Paragone, in dem innerhalb der Kino-Debatte der künstlerische Wert des Films diskutiert wird (3.1). Die Gleichstellung von Film, bildender Kunst und Literatur ermöglicht einen reziproken Austausch zwischen diesen Ausdrucksformen. Dass sich die technischen Mittel des Films als dessen Alleinstellungsmerkmal durchsetzen, wirkt sich hierbei auch auf die Grenzen und Spielräume der anderen Künste aus. Sie beginnen die eigenen Technologien in Frage zu stellen. In 3.2 wird die Etablierung der Bauhauslehre als künstlerische Kommunikationsform untersucht. Die Stütze dieser Lehre sind die Naturwissenschaften und das Ergebnis ein Streben nach einer globalen visuellen Formsprache, wie auch Béla Balázs sie in Der sichtbare Mensch (1924) durch den Stummfilm verwirklicht sieht. Aus diesen Ansätzen gehen Graphiken und Texte hervor, die mit visueller Kommunikation experimentieren und aus der Kombination von Ästhetik und Funktion auch das Fundament der modernen Gestaltung, des Designs, legen. Die letzte Analyse präsentiert, unter Berücksichtigung der psychotechnischen

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In vielen Arbeiten wird dabei vornehmlich der interdisziplinäre Austausch zwischen den bildenden Künsten und der Gebrauchsgrafik außeracht gelassen. Dies führt dazu, dass die reziproken Anleihen und Übernahmen als Innovationen und nicht als Entwicklungsprozess verstanden werden können. Vgl. z.B. Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte (1977).

1. Die aisthetische Dimension von Drucksachen

Tendenzen der Weimarer Republik, die zeitgenössische Überzeugung, durch Steigerung und Wiederholung in die Effizienz eines Individuums eingreifen zu können (3.3). Dieser Ansatz wird von Friedrich Kainz’ Das Steigerungsphänomen als Gestaltungsprinzip (1924) auf die Künste übertragen. Damit wird der künstlerische Druck auch zum steigerbaren Material, das darauf ausgelegt ist, die gegebenen Gattungsgrenzen zu erproben und sie zu übersteigen. Es lässt sich von dieser Empfehlung zum Ausbau materieller Mittel zur Erweiterung von Kunstgattungen auch ein Gebrauch von Typographie als psychotechnische Steigerung gedruckter Texte ableiten. Die darauffolgenden Texte werden dementsprechend auf die typographischen Gestaltungsmittel ihrer Materialität beleuchtet. Sie sollen darauf befragt werden, wie sie die künstlerischen Texte durch das kommunikative Potential ihrer materiellen Ebene erweitern; ob Typographie als literarische Technik oder ihre ästhetische Funktion eingesetzt wird; wo sie auf dem Spektrum materieller Textgestaltung zu verorten sind. Die Auswahl der Texte bildet daher gezielt Variationen materieller Textbildlichkeit ab. Dabei greifen nicht alle von ihnen auf die ästhetische Funktion von Typographie oder ihren operativen Einsatz als literarische Technik zurück. Dennoch visualisieren sie experimentelle Versuche mit der Materialität von Literatur und grenzen sich von den bisher etablierten typographischen Dispositiven, also der konventionellen materiellen Formgebung spezifischer Textgattungen, durch ihre materielle Gestaltung ab (4). Einige von ihnen konstituieren sogar ein neues typographisches Dispositiv, denn die Texte aus dem Kinobuch befördern nachweislich die Etablierung des materiell genormten Drehbuchs (4.1-4.1.4). Diese Texte werden zwar im 1913/14 von Kurt Pinthus veröffentlichten Kinobuch gesammelt, beziehen jedoch jeweils unterschiedliche Positionen im Umgang mit ihrem typographischen Textmaterial. Einzige einende Vorgabe an die Texte der Sammlung ist, einer literarischen Vorlage für potentielle Filme zu entsprechen; sie werden also mit einer explizit kompetitiven und kontrastiven Intention zum bisher als Unterhaltungsmedium verhandelten Film konzipiert.52 Aus diesem Grund orientiert sich die materielle Dimension der Texte teils auch an der Typographie im Film: Credits, Zwischentitel, Inserts (4.1.1). Den Auftakt dieses Analyseblocks stellt daher die Beleuchtung dieser typographischen Filmelemente dar, die in allen Texten dieses Blocks in die Druckgestalt übernommen werden. Anschließend folgen die Texte, die sich konzeptionell als literarische Vorlage für den Film verstehen. Lasker-Schüler verfasst in Plumm-Pascha (1913) eine dreiseitige phantastische Erzählung, die in ihrer traditionell mittelbaren Form ein einheitlicher Fließtext ist. Lasker-Schüler verlagert die filmische Wahrnehmung damit in den individuellen Vorstellungsraum der Leser:in (bzw. der Regisseur:in/Produzent:in) und arbeitet so mit einer klassisch literarischen Technik: der Vorstellungskraft. Damit positioniert sie ihren Text innerhalb der literarischen Tradition. Lautensack, der in Zwischen Himmel und Erde (1913) eine Erzählung Otto Ludwigs (1856) adaptiert und für die Leinwand umformiert, setzt der systematischen Reorganisation der materiellen Gestaltung das Beibehalten des Stoffs entgegen. Die räumlich-aisthetische Komponente des Textes wird in Zwischen Himmel und Erde typographisch angepasst und organisiert, um konkrete Anweisungen zu der filmtechnischen Ausgestaltung, also technotextuelle Ele-

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Vgl. Pinthus, Kurt: Vorwort zur Neu-Ausgabe (1963), S. 11f.

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mente,53 innerhalb des Drucks visuell hervorzuheben. Hasenclever wendet wieder ein anderes Verfahren materieller Gestaltung an und führt ein Extrem der textmateriellen Optionen in Die Hochzeitsnacht (1913) vor: Der Text simuliert tatsächliche Gegenständlichkeit durch das typographische Darstellen von Klingelschildern, Notizen usw. Die hier verwendeten visuellen Rahmungen erinnern dabei nicht wahllos an Zwischentitel und Inserts, sondern zeichnen typographisch die Kontur dieser textuellen Filmmittel nach. Mit Heinrich Eduard Jacobs Blut und Zelluloid (1929)54 wird in Kapitel 4.2 ein Roman vorgestellt, der sich durch seine aisthetische Dimension vom Film emanzipieren will – durch visuelles Training anhand von typographischer Irritation. Dafür wird eine texttechnologische Strategie eingesetzt, die sich an Steigerungsempfehlungen der Psychotechnik orientiert. Hierbei handelt es sich nicht um ein gedrucktes Experiment, sondern um einen intentionalen Miteinbezug der materiellen Dimension des gedruckten Textes zur Steigerung seines Gehalts. Die sinnesphysiologische Abhängigkeit des Publikums für das dynamische Bewegtbild versucht der Text durch typographische Wechsel im Fließtext zu einer literarischen Technik umzufunktionieren. Dahinter steht ein Übungsprinzip, das einen unabhängigen Sehprozess motivieren möchte. Jacobs Roman setzt die räumlich-aisthetische Gestaltung dabei im gedruckten Zustand des Romans um und präsentiert eine dezente materielle Textgestaltung, die sich im Kern des Spektrums situieren lässt. Der Text veranschaulicht durch seine typographische Montage so zusätzlich eine mögliche Transkription filmischer Technik für das textuelle Instrumentarium. Dass die Gattungsgrenzen durch die materiellen Spielräume von Text neben Werbung und Reklame nachvollziehbar verwischen, verdeutlicht Lászlo Moholy-Nagys Skizze Dynamik der Gross-Stadt (1921/22). Der ungarische Künstler, der durch seinen experimentellen Umgang mit künstlerischen Gattungen und Theorien bekannt wird, möchte Dynamik der Gross-Stadt als rein visuelles Filmskript verstanden wissen, das mittels seiner typographischen Markierungen die optischen Kapazitäten der Betrachtenden schult: »Ziel des Filmes: Ausnutzung der Apparatur, eigene optische Aktion, optische Tempogliederung, – statt literarischer, theatralischer Handlung: Dynamik des Optischen. Viel Bewegung, mitunter bis zur Brutalität gesteigert«.55 Dieses Typofoto ist auf dem äußeren Rand des Spektrums materieller Textbildlichkeit zu verorten, was durch das zeitgenössische Missverstehen der Skizze deutlich wird: Die Film-Gesellschaften konnten die Handlung des visuellen Materials nicht bestimmen.56 Mit einem Blick auf Dynamik der Gross-Stadt (1921/22) erscheint diese Aussage einleuchtend, da das Thema abstrakt durch Bild- und Formwechsel ausgedrückt wird und sich damit konkreten handlungsorientierten Szenen entzieht, denen eine Semantik abzulesen wäre. Ein Film, der eine ähnlich visuelle Methode anwendet, um die Dynamik der Großstadt Berlin einzufangen, ist Berlin – Sinfonie der Grosstadt von Walter Ruttmann (1927). Hier ist es jedoch die musikalische Untermalung, die das visuelle Material unterstützend zu

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Vgl. Schwarz, Alexander: Der geschriebene Film (1994), S. 45f. Der Text ist 1929 erschienen, der Copyright-Vermerk aber auf 1930 vordatiert. Vgl. Schütz, Hans J.: »Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen« (1988), S. 129. Moholy-Nagy, Laszlo: Dynamik der Gross-Stadt (1921/22), S. 121. Vgl. ebd., S. 120.

1. Die aisthetische Dimension von Drucksachen

einer Semantik durch Rhythmisierung formt. Moholy-Nagys Skizze arbeitet mit der räumlichen Aisthetik des Zweidimensionalen, die im Druck wie im Film wirken kann. Die komplette Aufhebung der semantischen Handlung durch die visuelle Materialität vermittelt hierbei die Annahme, dass das Visuelle auch erzählen kann (4.3). Gleichzeitig verweist das Typofoto auf die bauhäuslichen Bemühungen um eine visuelle Sprache. Die recht progressive Gestaltung verweist damit auf die Typisierung visueller Formen, die sich im kulturellen Gedächtnis eingeprägt haben. Die unverkennbare Semantik der Form, von der der Bauhaus-Ingenieur hier ausgeht, ist eine Antizipation der späteren Bemühungen um eine internationale Formsprache von Seiten des Bauhauses, die in 3.2 vorgestellt werden. Die vorliegende Arbeit zeigt durch die Analysen des typographischen Materials der Texte, dass Visualität im frühen 20. Jahrhundert als aisthetisches Mittel in den Produktionsprozess miteinbezogen wird.57 Unter dem Einfluss des Bauhauses werden gerade in Deutschland Gestaltung und Design als praktische Kunst entwickelt und Material als autonome Qualität erarbeitet. Dieser Ansatz äußert sich auch im literarischen Stilpluralismus, der in formemanzipiertem Ästhetizismus oder formauflösendem Dadaismus gipfelt. Eine reine Formautonomie, wie sie beispielsweise das Bauhaus denkt, kann im Literarischen langfristig jedoch nur scheitern: Das Textbild kann die Bedeutung eines Worts materiell erweitern und steigern, aber es ersetzt sie nicht. Eine Balance zwischen Material und Semantik ist hier die entscheidende Qualität, was anhand der vorliegenden Analysen dargestellt wird, da die Texte diese Komponenten in einem auffälligen oder ausgeglichenen Verhältnis zueinander anordnen und damit ihre Verständlichkeit und Funktionen beeinflussen. Die typographische Angemessenheit, wie sie die Neue Typographie Tschicholds proklamiert, wird damit zu einer Voraussetzung für die erfolgreiche Informationsweitergabe durch den gedruckten Text. Auch wenn sich die materiellen Erkundungstouren nicht in der breiteren Literatur durchsetzen, bilden sich Strömungen wie die Konkrete Poesie, in denen die Typographie zum zentralen Argument wird, oder künstlerische Schnittstellen wie das Künstlerbuch.58 Die typographisch-experimentelle Textform bleibt ab dem vorliegenden Untersuchungszeitraum durchgängig erhalten und wird gerade im 21. Jahrhundert vermehrt zur Genese einer materiellen Semantik einsetzt. So beispielsweise in Wolf Haas’ Verteidigung der Missionarsstellung (2012) oder Robert Gwisdeks Der unsichtbare Apfel (2014). Neben solchen Textexperimenten konnte sich zudem ein gezielter Umgang mit typographischen Dispositiven etablieren, wie in Anne Webers Annette, Ein Heldinnenepos (2020). Durch den Einbezug der materiellen Textdimension werden so intentional Genregrenzen konturiert und Typographie wie auch Layout als konkretes Instrumentarium handhabbar. Eine Berücksichtigung materieller Gestaltungsmittel wird nachfolgend anhand von Textanalysen von Typographie vorgeführt.

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Das kreative Ausprobieren von intratextuellen Raum- und Zeitverschiebungen mithilfe der Materialität eines gedruckten Textes wird beispielsweise auch in James Joyces Ulysses (1922), John Dos Passos’ Manhattan Transfer (1925) oder William Faulkners The Sound and the Fury (1929) als international vertretenes Phänomen evident. Für eine zahlreiche Auflistung unterschiedlichster Varianten vgl. Schmitz-Emans, Monika: Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst (2019) besonders ab S. 735ff.

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2. Naturwissenschaftliches Sehen: vom Sehsinn zur Seh-Technik

Das 19. Jahrhundert markiert die Geburtsstunde der Photographie und wird auch zu der des Films. Dabei entspringt der Film aneinandergereihten Photographien zum Zwecke von Bewegungsstudien. Die Photographie jedoch ist zunächst ein physikalisches und materialisierendes Aufzeichnungsverfahren – sie hält nach ihrem Entwicklungsprozess Statik fest. Sie konserviert einen Moment, während der Film die Zeit durch eine Reihe von Photographien wieder fließen lässt. Beide Medien suchen daher zunächst Antworten auf physikalische Fragen. Die reziproken Verbindungen zwischen Sinnesexperiment und abbildender Technik führen dabei zu einem rasanten Anstieg der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über die visuelle Wahrnehmung. Gleichzeitig zeigen Photographie und auch Film eine Vielzahl neuer Wissenslücken in naturwissenschaftlichen wie auch geisteswissenschaftlichen Forschungsfeldern auf. Ein interdisziplinäres Wissensgebiet, das besonders durch und mit den »realitätsgetreu[en]«1 Bildverfahren auf Funktionen und Verlässlichkeit untersucht wird, ist die menschliche Wahrnehmung. Hierbei ist es gerade die visuelle Täuschung des dynamischen Bewegtbilds, die in Physiologie, Philosophie und Psychologie zu neuen Hypothesen und empirischen Experimenten mit Wahrnehmungsprozessen anregt. Auch die räumliche Wahrnehmung der filmischen Darstellung stellt sich als besondere Herausforderung, aber auch als medialer Zugang für die anderen Künste heraus. Denn mit der Medientechnologie des Films kann ein dreidimensionales Objekt zweidimensional festgehalten werden, wird aber auf der flachen Leinwand dreidimensional wahrgenommen. Die Fehlerquelle solcher Wahrnehmungstäuschungen versucht bereits Hermann von Helmholtz’ sinnesphysiologisch herauszuarbeiten und verweist letztlich auf die Notwendigkeit einer neuen Wissenschaft für die Prozesse im Zentralorgan Gehirn: die Psychologie. Seine Vermutung ist, dass die Psyche des Menschen der Ursprung visueller Täuschungen ist. Einzige Orientierung für psychologische Prozesse liefern bisher philosophische Studien und die Literatur. Denn bereits im späten 18. Jahrhundert erproben Karl Philipp Moritz’ Magazin einer Erfahrungsseelenkunde (Aufruf 1782) und Anton Reiser (1785-1790) – als teils 1

Zur Diskussion von dem dokumentarischen Potential der Photographie: Wolf, Herta (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters (2005).

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Visuelle Aisthetik

empirische, teils fiktive Studien der menschlichen Psyche – psychologische und psychopathologische Schreibverfahren. Jedoch spielt die Introspektion, welche die Methode dieser Texte ist, in den sinnesphysiologischen und -psychologischen Experimenten zur Wahrnehmung Mitte des 19. Jahrhunderts eine eher periphere Rolle. Denn hier rücken nun technische Aufzeichnungs- und Dokumentationsinstrumente und -methoden in den Vordergrund, um die Präzision und Beweiskraft der Ergebnisse zu stärken. Helmholtz’ sinnesphysiologische Grundlagenforschung wird für seinen Schüler Wilhelm Wundt zum Ausgangpunkt für sinnespsychologische Experimente, die exakt durchgeführt und detailliert dokumentiert werden. In dem weltweit ersten psychologischen Labor in Leipzig etabliert Wundt so den empirischen Zweig der neuen Wissenschaft. Die zerstreute Beobachtung wird unter ihm essenzielle Methode in der Durchführung eines Experiments. Das Überblicken einer räumlichen Szene wird dabei zur tragenden Fähigkeit ernannt. Weiter noch kann Wundt so nachweisen, dass die menschliche Wahrnehmung ganzheitlich sieht – nicht nur bei der experimentellen Beobachtung, sondern gerade auch beim Lesen. Die Erkenntnis, dass diese sinnesphysiologische Anlage auch in Anspruch genommen werden kann, um Aufmerksamkeit und Leseprozess zu beeinflussen, ist dabei äußerst relevant für visuelle Kommunikationsformen. Dieses Wissen über eine mögliche Inanspruchnahme der menschlichen Psyche, mithilfe der visuellen Wahrnehmung, gewinnt durch seinen naturwissenschaftlichen Ursprung eine herausragende Beweiskraft. Da hierbei stets von den errechneten Durchschnittswerten der Experimente ausgegangen wird, muss eine »Gleichförmigkeit des psychischen Geschehens [zur] Voraussetzung«2 visueller Entwürfe werden – das gilt für Werbung, Reklame, bildende Kunst und auch Literatur. Die Medientechnologie des Films stellt durch seine wahrgenommene Dynamik eine Ausnahme dar: Die schnellen Bildwechsel scheinen die endogenetischen Kompetenzen des menschlichen Sehens zu übersteigen. Die Täuschung eines bewegten Bildes verweist auf die Lücken im Perzeptionsprozess. Für eine erfolgreiche visuelle Informationsweitergabe muss folglich die Trägheit des Sehens einkalkuliert werden. Aus dieser Erkenntniskette, Sinnesphysiologie – ganzheitliches Sehen – Wahrnehmungskalkulation, geht die erste Filmtheorie hervor: The Photoplay (1916). Der direkte physiologische Verbindungsweg von Sehreiz und Gehirn (Helmholtz), das Festhalten beeinflussbarer Sehvorgänge (Wundt) und die Inanspruchnahme der Psyche durch bestimmte Techniken (Münsterberg) stellen Erkenntnisse naturwissenschaftlicher Experimente heraus, die für die Weitergabe visueller Informationen ein besonderes Innovationspotential transportieren. Die visuelle Wahrnehmung wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts so zum Untersuchungsgegenstand, an dem perzeptive Reizreaktionsketten (Stimulus – Organismus – Reflex)3 erprobt werden. In qualitativ wie quantitativ gemessenen Experimenten fokussieren die Forscher:innen das Individuum, um aus Durchschnittswerten die Masse erschließen zu können;4 diese quantitativen und weniger qualitativen Messungen lesen das menschliche Subjekt als Objekt. So wird der Mensch als logisch aufgebautes und 2 3 4

König, Theodor: Reklame-Psychologie (1924), S. 14-26. Vgl. Selg, Herbert: Einführung in die experimentelle Psychologie (1966), S. 27. Vgl. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters (2000), S. 27.

2. Naturwissenschaftliches Sehen: vom Sehsinn zur Seh-Technik

physiologisch berechenbares Objekt handhabbar – vor allem auch für Institutionen und politische Intentionen.5 Jonathan Crary weist mit Techniken des Betrachters (engl. 1990, dt. 1996) auf das Aufkommen des subjektiven Sehens im 19. Jahrhundert hin, welches ausschlaggebend für die visuellen Gestaltungsvariationen in Ausdrucksformen des 20. Jahrhunderts ist.6 Als Kunsthistoriker bezieht er sich hierbei auf das aktive Betrachten zwischen Haptik und Optik und dessen perspektivische Veränderung.7 Auch Crarys Folgeuntersuchung Aufmerksamkeit (engl. 1999, dt. 2002) setzt einen wissens- und kunsthistorischen Fokus. Ausgehend von Muybridges photographischen Bewegungsstudien und den daran anschließenden Korrekturen in der Zeichenpraxis legt Crary auch in Aufmerksamkeit Argumente vor, die für einen direkten Austausch zwischen naturwissenschaftlicher Forschung und künstlerischer Praxis sprechen.8 Bereits vor Muybridges Studien von 1877 verstehen sich frühe Photograph:innen darauf die neue Visualisierungs- und Aufzeichnungstechnik experimentell einzusetzen. Auch andere Techniken können auf ihre Auswirkungen auf die künstlerische Produktion untersucht werden.9 Einen Sonderfall stellt in diesen reziproken Wechselspielen oft die Literatur dar. Zwar argumentiert Crary auch mit Kittlers Diskursanalyse,10 dessen Ausgangspunkt die Literatur ist, jedoch verweist er weniger auf Kittlers Textauswahl als auf dessen Schlussfolgerungen.11 Die von Crary herausgearbeitete Perspektivveränderung der Betrachtenden wird folgend für eine aisthetische Literaturanalyse fruchtbar gemacht. Ebenso werden Kittlers formale und medienwissenschaftliche Argumente berücksichtigt, mehr aber noch deren Weiterentwicklung durch Christoph Hoffmann. In Unter Beobachtung (2006) verweist Hoffmann auf semantische Schnittstellen des 19. Jahrhunderts. Er stellt dabei fest, dass Technologie und sinnliche Physiologie synchron und diachron ähnliche Terminologien verwenden. In Unter Beobachtung kritisiert Hoffmann, dass »Sinnesapparate« in der retrospektiven Geisteswissenschaft meist »als Apparate und an Apparaten […] [untersucht werden, was als wissenschaftliche Methode] an [d]en Wurzeln auseinanderfällt und [die] einheitliche Bedeutung verliert«,12 da ihre semantische Bedeutung als reziprokes Verhältnis zwischen den Sinnen und den Apparaten der zeitgenössischen Forschungspraxis entspringt. Wenn naturwissenschaftliche Quellen des 19. Jahrhunderts den Begriff Sinnesapparat verwenden, so stützten sie sich, wie Hoffmann nachweist, nicht nur auf die durch Helmholtz gesetzte Begriffs-

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Vgl. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters (2000), S. 30 und S. 87. Vgl. Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 211 und auch S. 343. Vgl. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters (1990), S. 30. Vgl. Arsendorf, Christoph: Ströme und Strahlen (1989), S. 16f. Vgl. Dotzler, Bernhard J./Schmidgen, Henning (Hg.): Parasiten und Sirenen. Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion (2008). Bildungsorganisation und Machtverhältnisse spielen dabei eine Rolle und entwickeln dabei Foucaults Theorie weiter. Vgl. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit (1999), S. 14. Vgl. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900 (1987), S. 11. Hoffmann, Christoph: Unter Beobachtung (2006), S. 276.

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Visuelle Aisthetik

norm,13 sondern auch auf teilweise divergierende Bedeutungen.14 In Unter Beobachtung verdeutlicht er so, dass zwei divergente Forschungstraditionen einsetzen, die Sinne und Apparate entweder in einem reziproken oder kompetitiven Verhältnis ausdeuten. Gerade für das reziproke Verhältnis von der Medientechnologie des Films und experimentellen Druckstilen spielt dieses Argument eine Rolle: In den visuellen Text-Experimenten Plumm-Pascha (1913) und Zwischen Himmel und Erde (1913) wird keine Konkurrenz zum Film, sondern ein technischer Möglichkeitsspielraum skizziert, der komplementär eingesetzt werden soll. Die Hochzeitsnacht (1913), Die Pest (1920) und Blut und Zelluloid (1929) stellen im Gegensatz dazu Texte dar, die das Filmische zwar als Orientierung nutzen, jedoch vornehmlich die eigene literarische Materialität umstrukturieren. In Dynamik der Gross-Stadt (1921/22) werden beide Strategien verbunden, indem die Filmskizze keine Konkurrenzsituation zum Film aufbaut und gleichzeitig der visuelle Informationsraum durch Typographie ausgeweitet wird. In diesen Texten werden so Spannungsverhältnisse zwischen Film und Literatur erkennbar. Mit der Dichotomie reziprok und kompetitiv sind diese Verhältnisse jedoch bei weitem nicht zur Genüge beschrieben. Gerade die Berücksichtigung der visuellen Textelemente, die Hoffmann unberücksichtigt lässt, lassen eine genauere Untersuchung der Wechselbeziehungen der Künste zu. Weiter fällt auf, dass die von Crary beschriebene Perspektiverweiterung der gegenseitigen Unterstützung physiologischer und psychologischer Wahrnehmungsprozesse entspringt. Crary kommt zwar auf die philosophischen Hintergründe dieser neuen Zusammenführung zu sprechen, übersieht aber die naturwissenschaftlichen Forschungsfelder, die sich tatsächlich mit den Techniken des Betrachtens auseinandersetzen, wie auch Hoffmann kritisiert.15 Denn eine Konkretisierung der physisch-psychischen Beziehungen zwischen Aufmerksamkeit und Zerstreuung bleibt bei Crary aus.16 Der Kunsthistoriker Crary verweist im Epilog von Aufmerksamkeit (1999) auf das verwandte Verhältnis der beiden Wahrnehmungszustände, kann dieses jedoch nicht konkret bestimmen. Die Lücke, die sich hier auftut, kann mit Wilhelm Wundts Kategorie des Beobachtens innerhalb des psychologischen Experiments geschlossen werden. Denn Wundt konkretisiert den notwendigen Ausgangszustand für reizreflexive visuelle Perzeption und Aufmerksamkeit: die Zerstreuung. Zwar ist die Zerstreuung das Gegenstück der Aufmerksamkeit, jedoch gleichzeitig auch ihre Voraussetzung. Crary übersieht damit den rahmenden Modus der Aufmerksamkeit, der bereits von Wundt als produktiver Zustand beschrieben wird. Die zerstreute Beobachtung wird zur Prämisse eines gelungenen Experiments und auch zum notwendigen Zustand für aisthetisch gesteigerte Drucksachen. Denn die typographischen Koordinierungstendenzen fangen gerade den zerstreuten psychischen Zustand auf. Und im Gegensatz zu Crary setzt Hoffmann in Unter Beobachtung (2006) das

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Vgl. Hoffmann, Christoph: Unter Beobachtung (2006), S. 12f. So erinnert Hoffmann bereits auf den ersten Seiten seiner Habilitationsschrift daran, dass ein Apparat zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst nichts anderes als eine ›Zusammenstellung der nötigen Dinge‹ bedeutet – wie etwa der Handapparat in unseren Bibliotheken. Vgl. ebd., S. 11. Vgl. Hoffmann, Christoph: Unter Beobachtung (2006), S. 15. Im Epilog zitiert Crary lediglich Freuds Wunsch nach einem selektiven Einsatz der Aufmerksamkeit. Vgl. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit (1999), S. 263ff.

2. Naturwissenschaftliches Sehen: vom Sehsinn zur Seh-Technik

komplementäre Verhältnis der psychophysischen Wahrnehmungszustände fest. Einerseits schärft er daher den Blick für die wechselnde Semantik in den verwendeten Terminologien der Naturwissenschaften, welche auch in der chronologischen Kette von Helmholtz, Wundt und Münsterberg variieren. Andererseits stellt er das hier entscheidende psychische Abhängigkeitsverhältnis fest: Keine Aufmerksamkeit ohne Zerstreuung. Die materielle Aisthetik eines Textes ist eine Antwort auf den zerstreuten Wahrnehmungszustand nach dem Kinobesuch. Nachdem der Blick im aufmerksamen Zustand dynamisiert wurde, kann die organisierte Seitenarchitektur ihn wieder koordinieren und durch ihren statischen Aufbau beruhigen. Das Begriffspaar Aufmerksamkeit/Zerstreuung ist damit für die Untersuchung der Wahrnehmungszustände ebenso relevant wie für die zeitgenössische Typographie. Der ganzheitliche Blick der Zerstreuung eröffnet dabei im Gegensatz zum fokussierten Lesen das weitläufige Sehen einer Seite. Auch wenn das physiologische Verständnis des Menschen zunimmt, so wird es doch auch zunehmend von menschlichen Zuständen und Verhaltensweisen getrennt. Einerseits wird der zu fassende Teil der menschlichen Physis systematisch untersucht. Andererseits lassen diese Experimente die unerklärlichen inneren Prozesse der psychologischen Wahrnehmung als großes Mysterium erscheinen. So sind Täuschung und Illusion unter Helmholtz strikt der psychologischen Reflexion zuzuordnen, während Wundt sie auch als Symptom der Psyche liest – mit Münsterbergs Filmästhetik kehrt sich dieses Verhältnis, indem Illusion und Täuschung (durch filmische Abbildungen) als das physiologisch Wahrgenommene des psychologischen Subjekts verstanden werden. Damit liest Münsterberg den psychischen Ausdruck in der Visualität des Films. Durch die Konfrontation der Wahrnehmung mit dem Bewegtbild wird so eine psychologische und auch physiologische Bewegungsmotivation ausgelöst17 – mindestens in der Bewegung der Augen. Diese Qualität teilt das Film-Sehen mit dem Lesen: Beide lassen scheinbar statische Form18 und faktisch sinnesphysiologische Reaktionen fließen – sie sind dynamisierte visuelle Kulturtechniken.19 Film-Sehen und auch Lesen stellen Praktiken dar, bei denen ihr technischer Gebrauch zu einer Modernisierung des Sehens führt. Im Kapitelblock 2. wird dargestellt, welche Erkenntnisse der Physiologie, Psychologie, Psychotechnik und -ästhetik den veränderten Umgang mit der zweidimensionalen Seitengestaltung einleiten. Denn auf dem Weg zu Münsterbergs psychologischer Filmästhetik, die explizit und manifest die Differenz zwischen Naturwissenschaft und den Künsten überbrückt, können weitere Erkenntnisse festgehalten werden, die implizit das Verständnis der visuellen Wahrnehmung um 1900 beeinflussen. So werden folgend Helmholtz’ Messung der Nervenleitungsgeschwindigkeit, Wundts ganzheitliches Formverständnis sowie seine zentrale Experiment-Kategorie der Beobachtung wie auch Münsterbergs Psychotechnik beleuchtet, da davon ausgegangen wird, dass genau diese Erkenntnisse das öffentliche Wissen von visueller Wahrnehmung nachhaltig prägen.

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Vgl. Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen (1895). Vgl. Jaeckel, Charlotte: »Formale Ekstase!!! (Great!)« (2020). David Magnus und Sergej Rickenbacher klassifizieren Weltendesign als Kulturtechnik und versuchen damit Technik, Ereignis und Material symbiotisch zu lesen und nicht voneinander abzugrenzen. Vgl. Magnus, David/Rickenbacher, Sergej: Einführung (2019), S. 24.

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Visuelle Aisthetik

Die Auswahl der naturwissenschaftlichen Ergebnisse und die Reihenfolge von Helmholtz’, Wundts und Münsterbergs Studien ergibt sich nicht nur aus dem chronologischen Nachvollzug einer systematischen Herleitung des zeitgenössischen Verständnisses der sinnlichen Wahrnehmung von Physiologie über Psychologie hin zur psychologischen Filmästhetik und Psychotechnik, sondern dient auch der Herleitung einer optisch-theoretischen Terminologie, welche sich in interdisziplinären Formtheorien zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiederfinden lässt. So stellt Münsterbergs Filmtheorie bereits ein Dokument dar, in dem deutlich wird, dass gerade die Technik der Medientechnologie Film ihr Alleinstellungsmerkmal ist, sich aber mit psychologischen Qualitäten analogisieren lässt. Metaphern und Terminologien werden dabei transdisziplinär, wie es auch Hoffmann beschreibt. Die Naturwissenschaften bilden mit wahrnehmungsphysiologischen und -psychologischen Experimenten so nicht nur den Ausgangspunkt des kunstwerdenden Mediums Film, sondern liefern auch das terminologische Instrumentarium, mit dem die Künste theoretisch innerhalb der Geisteswissenschaften neu kategorisiert und positioniert werden. Diese Terminologie entspringt jedoch nicht nur der physiologischen Optik und frühen Wahrnehmungspsychologie, sondern vor allem auch der Physik, Technik und Mechanik. Dadurch, dass Wundts Psychologie explizit Abstand von diesen Terminologien nimmt, wird nahegelegt, dass technisch-mechanische Äußerungen über die visuelle Perzeption sich auf das physiologische und nicht auf das psychologische Erfassen einer Wahrnehmung beziehen; also auf die Aisthetik und weniger auf die Ästhetik. Hierdurch kann geschlussfolgert werden, dass die Physiologie des Menschen als messbare Körpereigenschaft gelesen wird, die einer kalkulierbaren Konstruktion gleicht.

2.1 Sinnesphysiologische Argumente: Hermann von Helmholtz Die Physiologie des 19. Jahrhunderts untersucht den anatomischen Aufbau des menschlichen Körpers mit Ausrichtung auf dessen Funktionen. Die messbaren Qualitäten sind hierbei die entscheidenden: Abstände, Durchmesser, Anordnung, Verbindungen, Organisation und weitere Aspekte zu Relationen und Beschaffenheit. Hermann von Helmholtz’ Messung der Nervenleitungsgeschwindigkeit verzeichnet eine weitaus langsamere Reizübertragung als zuvor prognostiziert wurde, wodurch sie 1850 zum populären »Game-Changer«20 in der Physiologie wird, aber auch die Künste nachhaltig beeinflussen soll. Zeitlichen Relationen von neuronaler Reizverarbeitung mussten nach dieser Feststellung überdacht werden, denn zwischen sinnlichem Reiz und physiologischer Empfindung besteht nach dieser Entdeckung keine Simultanität mehr.21 Und die Auflösung von Simultanität bedeutet in diesem Zusammenhang: keine Übereinstimmung von räumlicher und zeitlicher Wahrnehmung. Ein Reiz und dessen Wahrnehmung verlaufen also asynchron. In einer Reizreaktionskette, in der die elektrische Ladung über eine längere Distanz zum Zentralorgan Gehirn weitergeleitet werden 20 21

Helmholtz’ Lehrer, Johannes Müller, war noch von einer Reizübertragung in Lichtgeschwindigkeit ausgegangen. Vgl. Gregory, Richard L.: Auge und Gehirn (1998 engl., dt. 2001), S. 97. Vgl. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit (1999), S. 247.

2. Naturwissenschaftliches Sehen: vom Sehsinn zur Seh-Technik

muss, verlängert sich die zeitliche Differenz zwischen Ursprungsreiz und sensueller Wahrnehmung. Um die Eigenschaften von Reizen und Nerven weiter zu kategorisieren, werden sie von nun an über ihre Leitungs- und Leistungsgeschwindigkeit definiert22 – über ihre mittelnden, also medialen Qualitäten. Diese Feststellung könnte dazu führen, dass der Physiologe die Unzuverlässigkeit der visuellen Wahrnehmung propagiert – dem ist aber nicht so. Denn eine weitere physiologische Bedingung legt Helmholtz als Beweis für die Verlässlichkeit des sinnesphysiologischen Sehprozesses und die Unzuverlässigkeit der psychologischen Reflexion aus: die anatomische Nähe von Sehorgan und Gehirn. Denn die Nervenleitung zwischen Sehnerv und Gehirn verbindet diese direkt und auf kürzestem Weg. Folge dieser Feststellung ist die Untermauerung der anatomischen und kognitiven Sonderstellung des Sehsinns. Die direkte Verbindung zum Zentralorgan Gehirn bestärkt dabei das Verständnis vom Sehsinn als zuverlässige Informationsquelle – obgleich bereits eine Vielzahl von Wahrnehmungstäuschungen23 und auch das kognitive Drehen von Sehreizen bekannt war.24 Während Helmholtz’ durch die Asynchronität von Reiz und dessen kognitiver Verarbeitung potentielle Fehlerquellen der neuronalen Kommunikation offenlegt, stützt er gleichzeitig das Vertrauen in den Sehreiz durch den kürzeren Übertragungsweg. So wird die privilegierte Aussagekraft und Kompetenz des Sehsinns rein physiologisch gerechtfertigt, und auch von anderen Disziplinen übernommen. Denn mit diesen physiologischen Messergebnissen kann die Kategorie der Beobachtung im naturwissenschaftlichen Experiment gerechtfertigt werden und unter Wilhelm Wundt zum dominierenden Durchführungsmodul aufsteigen. Da nach Helmholtz nicht die träge Nervenleitungsgeschwindigkeit, sondern die psychische Reflexion die Reizinformationen verändert, wächst die Skepsis gegenüber psychologischen Verarbeitungsprozessen. Das noch unerschlossene Gebiet der Psychologie baut aus diesem Grund auf die gemessenen Fakten der Physiologie auf. Das materialistische Verständnis des Körpers eröffnet einen Zugang zum Bewusstsein, obgleich es gerade die Psyche aus den eigenen Experimenten ausklammert. Dieses Paradox führt dazu, dass auch in der Sinnespsychologie und Psychotechnik der Körper als Schlüssel für psychische Prozesse eingesetzt wird: Der anatomische Aufbau des Körpers wird zur Grundlage des menschlichen Verstehens. So wird mit Helmholtz’ Ergebnissen die Evidenzkraft des Visuellen in Physiologie und Psychologie begründet. Mit dem bildlichen Erfassen der Netzhaut wird dieser visuelle Beweischarakter weiter gestärkt: Durch Helmholtz’ Skizze des Aufbaus der Retina wird deren komplexes Filtersystem aufgezeichnet und manifest. Der Lichteintritt durch den physiologischen Aufbau des Sinnesorgans ist komplizierter als angenommen und die Zelldichte und deren

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Hierzu auch: Schmidgen, Henning: Leerstellen des Denkens (2008), S. 111. Schmidgen verweist auch darauf, dass der Begriff der physiologischen Zeit von Adolphe Hirsch geprägt wird, bevor er von Wundt verwendet wird. Ebd., S. 116f. Vgl. Gregory, Richard L.: Auge und Gehirn (1998), S. 237-295. Doch auch noch 2001 wird explizit von Maurizio Ferraris auf diesen Umstand hingewiesen, wenn er sich mit der Experimentellen Ästhetik beschäftigt: vgl. Ferraris, Maurizio: Experimentelle Ästhetik (2001), S. 125-154.

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differenzierter Aufbau legen nahe, dass filternde Prozesse stattfinden, bevor die Reizinformation an das Zentralorgan Gehirn weitergeleitet wird: Der physiologische Aufbau sortiert und organisiert die visuelle Perzeption. Der zelluläre Aufbau der Retina liefert zudem Hinweise darauf, dass es sich bei ihr um einen ausgesonderten Teil des Gehirns handelt, wodurch eigenständige visuelle Datenverarbeitung im Auge nicht mehr abwegig erscheint.25 Die rein physiologische Anatomie des Auges stellt damit die erste Instanz dar, die jede visuelle Wahrnehmung überwinden muss, um als tatsächlich Wahr-zu-nehmendes erkannt zu werden. Dies ist eine hierarchisch hohe Position in der Reizreaktionskette der visuellen Perzeption des Menschen, welche durch ihre selbstreferentielle Manifestation in einer abbildenden Skizze 1851 durch Helmholtz festgehalten wird.

Abbildung 1: Skizze der Retina nach Helmholtz.

(Quelle: Crary, Jonathan: Suspensions of perception [1999], S. 154)

Den Ausgangspunkt der physiologisch-visuellen Wahrnehmung markiert die Physiologie im Durchbruch des Lichts durch den Glaskörper des Auges. Und mit diesem Eintritt des Lichts in den Körper des Menschen beginnt der physiologische Prozess des Sehens. Die nun folgende physiologische Reizreaktionskette versteht Helmholtz als ein kohärentes, lückenloses System.26 Aus diesem lückenlosen System der Informationsweitergabe leitet sich die mechanische Metaphorisierung ab, mit der er den Aufbau der menschlich-physiologischen Wahrnehmung beschreibt. Er vergleicht »Nervenfäden mit ›elektrischen Telegraphendrähten‹«,27 womit Helmholtz eine Analogie Du 25 26

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Vgl. Gregory, Richard L.: Auge und Gehirn (1998), S. 74. »Eine zweite Folgerung betrifft die Natur der psychischen Tätigkeiten, welche die gegebenen Empfindungen in Wahrnehmungen umsetzen. Helmholtz glaubt, dass es sich bei diesen Denkvorgängen nur um Schlüsse handeln kann. Aufgrund vorher gemachter Erfahrungen wird beim Vorliegen gewisser Empfindungen auf äußere Objekte geschlossen. Diese Schlüsse gehen im Lauf der Zeit so sehr in Fleisch und Blut über, dass sie nicht mehr bewusst werden; es sind die berühmten ›unbewussten Schlüsse‹«. Heidelberger, Michael/Pulte, Helmut/Schiemann, Gregor: Hermann von Helmholtz – Leben und Werk (2017), S. XX. Heidelberger, Michael/Pulte, Helmut/Schiemann, Gregor: Hermann von Helmholtz – Leben und Werk (2017), S. XVI. Noch direkter Helmholtz’ Begründung: »Man hat die Nervenfäden oft mit den Telegraphendrähten vergleichen, welche in Land durchziehen; und in der That ist dieser Vergleich in hohem Grade geeignet eine hervorstechende und wichtige Eigenthümlichkeit ihrer Wirkung klar

2. Naturwissenschaftliches Sehen: vom Sehsinn zur Seh-Technik

Bois-Reymonds übernimmt,28 und damit gleichzeitig den transdisziplinären Gebrauch metaphorischer Elemente bestätigt.29 Folgend erweitert der Physiologe das physische Vokabular um weitere begriffliche Anleihen aus Technik und Mechanik, wenn er von dem Auge als »natürliche Camera obscura«,30 »Muskelapparat«31 oder dessen »Mechanismus«32 spricht. Vor allem prägt er jedoch den Begriff des Sehapparates, als eine vollständig physiologisch beschreib- und erschließbare visuelle Wahrnehmungskonstruktion.33 Mit diesen technischen Analogien »[teilt] und fragmentiert [er] [das physische Subjekt in immer spezifischere organische und mechanische Systeme],«34 die als separate Apparate mit kooperativer Vernetzung verstanden werden. Das Verständnis von Sinnesphysiologie, das mit einer solchen Wortwahl zum Ausdruck kommt, generiert sich gerade aus den semantischen Analogien: stabiler und funktionsorientierter Aufbau, verlässliche Informationsweitergabe, aufeinander abgestimmte Komponenten und die hieraus resultierende lückenlose Einsicht in die neuronale Reizvermittlung – bis zur psychischen Informationsverarbeitung. Diese Perspektive klammert den psychologischen Reflexionsakt im visuellen Wahrnehmen aus und unterstreicht die strenge Logik und Berechenbarkeit der Physiologie. Der Sehsinn wird durch Helmholtz als optimiertes Instrument ausgelegt und das Auge zum Apparat des Menschen. Hier geht es um nichts weniger als eine Objektivierung der physiologischen Wahrnehmung und damit des Körpers. Der Körper des Menschen wird in diesem Diskurs nicht als Heim der Seele betrachtet, sondern als optimaler Apparat, der gemessen, berechnet und kalkuliert werden kann. Der Sehapparat wird dabei von Helmholtz auch als »Vorbild optischer Apparate«35 verstanden, womit er die Verwandtschaft ihrer mechanischen Abläufe hervorheben will.36 Die Metapher der menschlichen Maschine bzw. des maschinellen Menschen war gerade durch den materialistischen Ursprung der naturwissenschaftlichen Be-

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zu machen. Denn es sind in dem Telegraphennetze überall dieselben kupfernen oder eisernen Drähte, welche dieselbe Art von Bewegung, nämlich einen elektrischen Strom, fortleiten, dabei aber die verschiedenartigsten Wirkungen in den Stationen hervorbringen, je nach den Hülfsapparaten, mit denen sie verbunden werden«. Von Helmholtz, Hermann: Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens (1868), S. 487f. Vgl. ebd. Außerdem ist hierbei interessant, dass Helmholtz auf diesen physischen Ausgangspunkt seiner Arbeiten sogar einen Eid geleistet hatte: »Hermann von Helmholtz, Emil Du Bois-Reymond, Ernst Brücke und Carl Ludwig, vier führende deutsche Physiologen, Physiker und Mediziner hatten in Berlin einen Klub gegründet, dessen Mitglieder sich ausdrücklich mit einem feierlichen Eid verpflichten mussten, keine anderen als physikalisch-chemische Kräfte im Organismus anzunehmen«. Lück, Helmut E./Guski-Leinwand, Susanne: Psychologie zwischen Philosophie und Physiologie (2014), S. 50. Hierzu auch Hoffmann, Christoph: Unter Beobachtung (2006), S. 235. Vgl. Pethes, Nicolas: Poetik/Wissen (2004), S. 361. Von Helmholtz, Hermann: Ueber das Sehen des Menschen (1855), S. 103. Ebd., S. 105. Ebd., S. 114. Vgl. Hoffmann, Christoph: Unter Beobachtung (2006), S. 12f. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters (1990), S. 88. Von Helmholtz, Hermann: Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens (1868), S. 462. Vgl. ebd., S. 463.

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weisführung kein neues Phänomen.37 Publikationen wie Anson Rabinbachs The Human Motor (1990) untersuchen im Speziellen den Zusammenhang mit der Weiterentwicklung und Steigerung menschlicher Fähigkeiten im Sinne einer Produktionssteigerung.38 Daraus lässt sich ableiten, dass sich der industrielle Wille zur physischen Steigerung, den Rabinbach beschreibt, vor allem um und nach 1900 durchsetzen kann. Der Einsatz des Begriffs Sehapparat bezeichnet damit schon frühzeitig ein technisches Verständnis des Sehprozesses. Parallel dazu verdeutlichen jedoch detailgetreue Darstellungen der komplexen Netzhaut o.ä., dass die Technik und Präzision der optischen Apparate eigentlich nicht mit den sinnesphysiologischen Kapazitäten des Sehens vergleichbar sind.39 Helmholtz’ Verständnis des Sehapparats als verdichtete Verbindung zwischen Reiz und Informationsauswertung, also als abgestimmtes mechanisches System, das in seiner Komplexität bis zur Perfektion in seinen Teilkomponenten aufeinander abgestimmt ist, steht damit als entscheidendes Charakteristikum des Sehens im Fokus. Nicht die Präzision, sondern die Effektivität ist bei der mechanischen Konstruktion des Sehapparats die dominierende Qualität. Denn durch die physiologische Fragmentierung des menschlichen Körpers in seine apparativen Bestandteile werden technische Steigerungen der jeweiligen Apparaturen eine Option. Voraussetzung für die angestrebte Präzision in den apparativen Funktionen ist das stabile Fundament des physiologischen Körpers als effektive Konstruktion, wie Helmholtz es am Sehapparat vorführt. Diese Annahmen antizipieren die psychotechnischen Bemühungen um eine Optimierung des Menschen, denn sie prognostizieren einen Erfolg dieses Vorhabens auf physiologischer Grundlage. Helmholtz erschließt das physiologische Wahrnehmungssystem als objektivierten und potentiell technisch optimierbaren Sehapparat – Kulturtechniken wie Sehen und Lesen werden hierdurch in zwei differenzierte Module unterteilt: die messbaren sinnesphysiologischen Prozesse und die abstrakteren Praktiken kultureller Prägung. Indem das technische Funktionieren des Menschen Mitte des 19. Jahrhunderts – ganz im Sinne der Industrialisierung – einem fortschrittlichen Erfolgsversprechen gleicht, wird Technik hier zur Kultur.40 Die technische Unfehlbarkeit der physiologischen Reizreaktionskette ist damit auch ein Zeugnis der menschlichen Fähigkeiten. Wahrnehmungstäuschungen sind lediglich das (noch) nicht Abbildbare, nicht visuell Fassbare und nicht systematisch Lokalisierbare: Das Unsichtbare, und damit zumeist ein kognitiver Prozess im Gehirn, ist die Fehlerquelle in der sinnlichen Wahrnehmung.41 Helmholtz’ Skizze der

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Kants Absage an eine mechanische Erklärung des Menschen provozierte einen verstärkten Fokus auf Errungenschaften und Erkenntnisse in der Wissenschaft der Physiologie. Vgl. Walach, Harald/ Stillfried, Nikolaus: Psychologie (2020), S. 206. Wobei Christoph Hoffmann betont, dass naturwissenschaftliche Disziplinen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch komplementär und reziprok ausgerichtet sind. Vgl. Hoffmann, Christoph: Unter Beobachtung (2006), S. 273ff. Rabinbach, Anson: The Human Motor (1990), S. 45-64. Vgl. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit (1999), S. 129ff. Vgl. Schröter, Manfred: Die Kulturmöglichkeit der Technik als Formproblem der produktiven Arbeit (1920). Die physische Unfehlbarkeit begründet sich, nach Helmholtz, in dem stimmigen und nachvollziehbaren Aufbau der physiologischen Wahrnehmung (Vgl. Heidelberger, Michael/Pulte, Helmut/ Schiemann, Gregor: Hermann von Helmholtz – Leben und Werk [2017], S. XX): »In diesem [vorher ge-

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Retina bildet so die Komplexität des Sehsinns ab und macht sie dadurch handhabbar, denn das bildliche Begreifen ihres Aufbaus fundiert das Vertrauen in das Abbildbare der visuellen Perzeption. Das Sichtbar-Machen und Sichtbar-Werden sind Mittel, mit denen der Sehsinn handhabbar wird und an Beweiskraft gewinnt. Dieses Vertrauen in die Verbildlichung und Aufzeichnung von Wissen antizipiert Bruno Latours Theorie in Drawing things together (1986), in der er festhält, wie Aufzeichnungsverfahren Wissen abbilden, um es zu übersetzen und handhabbar zu machen.42 Dass die Auslegung dieser Sichtbarmachung jedoch relativ bleibt, hält bereits das Lehrbuch der Psychotechnik (1930) von W. Moede fest: »Je nach der Art und dem Zwecke der Untersuchung kann man das Auswertungsergebnis formen«43 – Das intentionale Visualisieren der Ergebnisaufzeichnung wird zum Beweis der Theorie: »the fixation of believe« zur »fixation of evidence«.44 Helmholtz’ Skizze der Retina (als physiologisches Argument für einen autonomen Sehprozess) ist beispielhaft für die wissenskonstituierende Funktion der Aufzeichnung: Denn Helmholtz stellt mit der Zeichnung fest, dass die Ganglienzellen, die vermehrt im Gehirn auftreten, sich auch in der Netzhaut befinden. Diese physiologische Analogie wird als Argument für eine optionale Unabhängigkeit des Sehens von supraspinalen Regulationen angeführt. Die reflexiven Kompetenzen des Gehirns werden so auch dem Sehorgan zugeschrieben, wodurch psychologische Prozesse auf physiologische Argumente reduziert werden. Durch genügend visuelles Training der Augenmuskulatur wäre, nach Helmholtz, also der:die Betrachtende in der Lage, ohne Reflexionsprozess im Zentralorgan Gehirn Formen und semantische Inhalte rein physiologisch zuzuweisen. Die physiologische Perzeption verläuft ab diesem Punkt (theoretisch) ausschließlich innerhalb des Sehapparats: Das geschulte Auge liest Form und Gestalt ohne psychischen Reflexionsprozess. Im Umkehrschluss verläuft der Wahrnehmungsakt des untrainierten Auges weitaus langsamer, da alles noch im Zentralorgan reflektiert werden muss. Schnelle Reizverarbeitung ist damit die visuelle Fertigkeit, die diese sinnesphysiologische Entdeckung verspricht. Ein solcher Trainingseffekt im physiologischen Sehen, der beim Selektieren helfen soll, wird auch in Kunst- und Filmtheorien des 20. Jahrhunderts in Form eines visuellen Gewöhnungsprozesses beschrieben.45 Diese Annahmen finden

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schilderten] Falle wird die Sinnesempfindung zur Sinnestäuschung. Das Sinnesorgan täuscht uns dabei nicht, es wirkt in keiner Weise regelwidrig, im Gegentheil, es wirkt nach seinen festen, unabänderlichen Gesetzen und kann gar nicht anders wirken. Aber wir täuschen uns im Verständniss der Sinnesempfindung« (von Helmholtz, Hermann: Ueber das Sehen des Menschen [1855], S. 113). »[D]er Körper [wird durch die Physiologie] zum Schauplatz sowohl der Macht als auch der Wahrheit« (Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters [1990], S. 87) und eröffnet die Gegenüberstellung zu den nicht einsehbaren psychologischen Abläufen. Die Empirie verlagert sich auf den Körper und das Transzendentale auf den Geist. »[D]ie Form unserer Erkenntnis bedingen [die physischen und anatomischen Funktionen des menschlichen Körpers]« (ebd.); womit diese auch den psychischen Erkenntnisgewinn beeinflussen. So würde bei einer Sinnestäuschung oder Illusion eine ersichtliche Form durch ihre psychologische Ausdeutung ihres genealogischen Inhalts beraubt. Es ändere sich lediglich durch die Reflexion die eigentliche Reiz-Gestalt. Latour, Bruno: Drawing things together (1986). Für einen Überblick weiterer Aufzeichnungstheorien: Lynch, Micheal/Woolgar, Steve: Representation in Scientific Practice (1988). Moede, W.: Lehrbuch der Psychotechnik (1930), S. 332. Amann, K./Knorr Cetina, K.: The fixation of (visual) evidence (1988), S. 85. Vgl. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters (1990), S. 152.

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sich auch in den literarischen Zeugnissen des Untersuchungszeitraums: So muss Franz Biberkopf in Berlin Alexanderplatz (1929) nach seiner Entlassung aus der Strafanstalt seine Wahrnehmung zunächst sortieren,46 um der Reizüberflutung der Großstadt gewachsen zu sein – seine Augen sind noch zu untrainiert, um den rasch wechselnden Eindrücken standhalten zu können. Gerade im Zusammenhang mit dem thematischen Schwerpunkt des bewegten Bildes sind Helmholtz’ Äußerungen zur Anpassungsfähigkeit durch Training interessant.47 In den frühen Theorien zum Film wird nämlich zunächst angesprochen, dass seine Geschwindigkeit die Betrachter:innen überrumpelt und ein bedachtes Kontemplieren ausschließt48 – die Entdeckung der langsamen Nervenleitungsgeschwindigkeit scheint diese Auslegung zu stützen. Der Ausbau der sinnlichen Reflexion wird so ein hilfreiches Instrument zur Bewältigung des modernen Alltags. Walter Benjamin vergleicht das Training durch sensuelle Chocks sogar direkt mit industriellen Arbeitsabläufen – Steigerung der Produktivität eingeschlossen. Die beschleunigte Einwirkung von außen, sei es Fließband oder Film, gibt dabei den Rhythmus der Geschwindigkeit vor, der zu erlernen ist: So unterwarf die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art. Es kam der Tag, da einem neuen und dringlichen Reizbedürfnis der Film entsprach. Im Film kommt die chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung. Was am Fließband den Rhythmus der Produktion bestimmt, liegt beim Film dem der Rezeption zugrunde.49 Die Technik ist bei Benjamin die Akteurin, auf die die Sinne reagieren, die sie trainiert. Indem der Film dieses Training an der physiologischen Rezeption durchführt, steigert er so die visuelle Reizreaktionsgeschwindigkeit. Auch Helmholtz geht explizit davon aus, dass sich die Fertigkeit eines schnellen visuellen Formverarbeitens durch einen perzeptiven Lernprozess angeeignet wird. Hieraus folgt, dass es unterschiedliche Abstufungen in der Fertigkeit Wahrnehmung und im Erkennungsprozess von visuellen Reizen gibt: Durch das Princip der Einübung, der Erziehung unserer Sinnesorgane erklärt sich auch die Sicherheit und Genauigkeit in der Raumconstruction unserer Augen. Mit welcher die künstlichsten Maschinen übertreffenden Genauigkeit wir lernen können die Organe unseres Körpers zu gebrauchen, das zeigen die Uebungen des Jongleurs, die Stösse 46 47

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Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte von Frank Biberkopf (1929), S. 13-19. »Während die wirkliche Bewegung stattfand, musste der Beobachter, wenn er einen Gegenstand fixieren wollte, seine Augen entsprechend mitbewegen. So entstand nun eine neue Art von Einübung bei ihm, die ihn lehrte, welchen Grad von Spannung er den Augenmuskeln geben musste, um einen Gegenstand zu fixieren. Hört nun die wirkliche Bewegung auf, so will er in derselben Weise fortfahren, die Gegenstände zu fixieren. Jetzt aber tritt bei derselben Spannung der Muskeln eine Verschiebung des Netzhautbildes ein, da die Gegenstände sich nicht mehr in entsprechender Weise mit den Augen bewegen, und der Beobachter urtheilt deshalb, dass die stillstehenden Gegenstände sich bewegen, bis er sich wieder auf die Fixation feststehender Gegenstände eingeübt hat. Es ist diese Art der Scheinbewegungen namentlich deshalb interessant, weil sie lehrt, wie schnell eine veränderte Einübung in der Deutung der Sinneswahrnehmungen eintreten kann«. Von Helmholtz, Hermann: Ueber das Sehen des Menschen (1855), S. 118f. Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935), S. 378. Benjamin, Walter: Über einige Motive bei Baudelaire (1939), S. 43f.

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gewandter Billiardspieler. […]; wir erregen mit unserer Kunstfertigkeit nur deshalb kein Aufsehen, weil jeder Andere dieselbe Reihe von Kunststücken ausführen kann. Indem wir sehen gelernt haben, haben wir eben nur gelernt, die Vorstellung eines gewissen Gegenstandes mit gewissen Empfindungen zu verknüpfen, welche wir wahrnehmen.50 Räumliches Verständnis verknüpft Helmholtz hier mit den wiederholten Übungsphasen der Wahrnehmung. Dementsprechend sind qualitative als auch quantitative Reiz-Konfrontationen nötig, um die Reizverarbeitung zu verfeinern. Wie bei der Aneignung einer Sprache »durch den Gebrauch, also durch häufig wiederholte Erfahrung«,51 können sich die visuell Auszubildenden an die Kinematographie gewöhnen. Durch wiederholte Konfrontation mit der neuen Medientechnologie wäre nach dieser Lerntheorie jeder Mensch in der Lage, die Bild- und Formsprache des Stummfilms zu verstehen. Die Sehgewohnheiten würden durch Übung gesteigert und in eine direkte Informationsverarbeitung der visuellen Eindrücke münden. Die zweite Bedingung für einen erfolgreichen sinnesphysiologischen Lernprozess ist, neben den notwendigen Übungseinheiten, der Umgang mit der Expositionszeit der Bilder, was eng mit Helmholtz’ Entdeckung der Nervenleitungsgeschwindigkeit verwandt ist. Denn Helmholtz differenziert verschiedene Kategorien der visuellen Wahrnehmung nach ihrer Abhängigkeit von Zeit. Für ihn ist entscheidend, dass der Möglichkeitsraum des psychischen Reflexionsgrads von der Expositionszeit des Wahrgenommenen abhängig ist.52 Und die Unterscheidung dieser Grade lässt sich von der zeitlichen Übermittlung des Wahrgenommenen ableiten: So reicht die Expositionszeit entweder zur Kontemplation im Cerebrum oder nur für Induktionsschlüsse. Kunst- bzw. medienhistorisch bedeutet dies: Ein statischer:s Text/Bildnis offeriert genug Expositionszeit zur tiefergehenden Reflexion, während eine dynamische Veränderung des Exponats oder der Betrachtenden (notgedrungen) zu Induktionsschlüssen führt.53 Sofern sich der Sehsinn durch ein Medium wie den Film in seiner neuronalen Leistungsgeschwindigkeit übertroffen sieht, greift er auf die autonome Formerschließung, Induktionsschlüsse, des Sehapparats zurück. Die Induktionsschlüsse, die nach Helmholtz durch die Ganglienzellen in der Retina möglich werden, eignen sich zur schnellen

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Von Helmholtz, Hermann: Ueber das Sehen des Menschen (1855), S. 126. Von Helmholtz, Hermann: Von den Wahrnehmungen im Allgemeinen (1896), S. 426. Das Beispiel der Sprache, was auch in seiner Zeichentheorie anklingt, führt Helmholtz des Öfteren an. So begründet er an dieser Stelle auch aus welchen Gründen Sprache als »Verständniß eines Systems von Zeichen« sich auch für den Vergleich mit seinem Zeichensystem der Wahrnehmung eignet. Es sei nun kurz angemerkt, dass Helmholtz gesprochene und geschriebene Sprache hier nicht weiter ausdifferenziert, obgleich er über ein Zeichensystem redet, während er auch mit dem praktischen Spracherwerb argumentiert. Farb- und Lichtwahrnehmung ordnet Helmholtz beispielsweise rein physiologischen Empfindungen zu, während Raumkonstituierung durch die visuelle Wahrnehmung nach ihm erst durch einen psychologischen Schluss prozessiert werden kann. Vgl. Heidelberger, Michael/Pulte, Helmut/ Schiemann, Gregor: Hermann von Helmholtz – Leben und Werk (2017), S. XXIII. Die Parallelen zu Gotthold Ephraim Lessings Thesen im Laokoon (1766) sind hier ebenso evident wie Benjamins Kategorie des Ausstellungswerts, der durch die Mobilität eines technisch reproduzierbaren Kunstwerks eingeschränkt wird. Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935), S. 360.

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Informationsverarbeitung. Die Trägheit des Auges führt dabei zu diesem Kalkül der sinnesphysiologischen Autonomie, da keine Zeit bleibt, den Reflexionsprozess des Gehirns in seine Schlüsse miteinzubeziehen. Die »unbewussten« Schlüsse,54 sind nicht aus einem konkreten Denkprozess und dessen Schlussfolgerung abzuleiten, sondern ähneln vielmehr einer beschleunigten Konklusion.55 Direkte Induktionsschlüsse generieren sich dementsprechend durch ihre Abhängigkeit von Zeit. Die psychologische Vollendung einer visuellen Sinnestäuschung beschreibt Helmholtz als Einbildungskraft,56 welche auch in einer Vielzahl theoretischer Äußerungen zur Kontemplation in Medien- und Kunsttheorie vertreten ist – so auch prominent bei Walter Benjamin.57 Helmholtz beschreibt die zeitliche Relation des reflexiven Sehens dabei recht explizit: Die meisten anderen Sinnestäuschungen werden gewöhnlich schnell als solche entdeckt, weil der Beobachter sich bewußt ist, eine ungewöhnliche Art der Beobachtung anzuwenden, von der aus er geneigt ist, in die normale, ihm geläufigere überzugehen, in der die Täuschung schwindet und als solche erkannt wird. Nur wenn dazu keine Zeit ist, tritt wohl ein wirklicher Irrthum ein, der einen Augenblick dauert.58 Dauert das angezeigte Bild des Films nur einen Augenblick, so ergibt sich keine Möglichkeit zur Täuschungsentschlüsselung. Denn dann sind Kontemplation oder Auflösung 54

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Vgl. von Helmholtz, Hermann: Von den Wahrnehmungen im Allgemeinen (1896), S. 407. »Nur durch Schlüsse können wir überhaupt das erkennen, was wir nicht unmittelbar wahrnehmen. Dass es nicht ein mit Selbstbewusstsein vollzogener Schluss sei, darüber sind wir einig. Vielmehr hat er mehr den Charakter eines mechanisch eingeübten, der in die Reihe der unwillkührlichen Ideenverbindungen eingetreten ist, wie solche zu entstehen pflegen, wenn zwei Vorstellungen sehr häufig mit einander verbunden vorgekommen sind. Dann ruft jedesmal die eine mit einer gewissen Naturnothwendigkeit die andere hervor«. Helmholtz: Ueber das Sehen des Menschen (1855), S. 124. »Ich habe bisher immer gesagt, die Vorstellung in uns urtheile, schliesse, überlege u.s.w., habe mich aber wohl gehütet zu sagen, wir urtheilen, schliessen, überlegen; denn ich habe schon anerkannt, dass diese Acte ohne unser Wissen vor sich gehen und auch nicht durch unseren Willen und unsere bessere Ueberzeugung abgeändert werden können. Dürfen wir denn nun, was hier geschieht, dieses Denken ohne Selbstbewusstsein und nicht unterworfen der Controlle der selbstbewussten Intelligenz, wirklich als Prozesse des Denkens bezeichnen?«. Ebd., S. 122. »Fällt der blinde Fleck z.B. auf einen Theil einer schwarzen Linie auf weissem Grunde, so setzt die Einbildungskraft die Linie auf dem kürzesten Wege durch den blinden Fleck hin fort, auch dann, wenn in Wahrheit an der Stelle die wirkliche Linie eine Lücke oder Ausbiegung haben sollte«. Ebd., S. 121. Gerade in Benjamins medienphilosophischen Theorie spielt auch das Taktile des Films eine Rolle. Helmholtz ordnet die Sinnesempfindungen des Tastens/Fühlens und des Sehens zwar in einer Wechselbeziehung ein, jedoch auch hierarchisch. »Ja wir werden uns noch überzeugen können, dass wir die Raumanschauungen des Auges durch die des Tastsinnes, wo es angeht, fortdauernd controliren und corrigiren und dabei die Aussagen des letzteren immer als die entscheidenden betrachten. Bede Sinne, welche im Wesentlichen an derselben Aufgabe, aber mit äusserst verschiedener Begabung arbeiten, ergänzen sich gegenseitig in sehr glücklicher Weise. Während der Tastsinn ein zuverlässiger Gewährsmann, aber von eng begrenztem Gesichtskreise ist, dringt das Auge mit dem kühnsten Fluge der Phantasie wetteifernd in ungemessene Fernen vor«. Von Helmholtz, Hermann: Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens (1868), S. 517f. Vgl. auch Doutch, Daniela: Zum unmittelbaren Kontakt (2021), S. 67-84. Von Helmholtz, Hermann: Von den Wahrnehmungen im Allgemeinen (1896), S. 436.

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der Täuschung aufgrund ihrer zeitlichen Abhängigkeit nicht ausführbar. Helmholtz betont, dass die direkte Reflexion über eine visuelle Wahrnehmung in der Lage ist, Täuschungen zu entschlüsseln, sofern die Nervenleitungsgeschwindigkeit und -distanz dies zeitlich zulassen, bevor sich das Objekt verändert. Hugo Münsterberg stützt später diese Feststellung, indem er ergänzt, dass auch das vorhergehende Wissen um die zweidimensionale und statische Beschaffenheit des Films die Illusion der dreidimensionalen Bewegung im Moment der Exposition nicht auflöst. Nur ein langes, eingängiges Betrachten wäre in der Lage eine visuelle Sinnestäuschung aufzuheben.59 Die Medientechnologie des Films ist dementsprechend allein durch ihre technische Bedingung des schnellen Bildwechselns in der Lage, eine Sinnestäuschung auszulösen, die das Auge nicht entschlüsseln kann. Dies geschieht nicht aufgrund der Unzuverlässigkeit der physiologischen Wahrnehmung, sondern aufgrund ihrer Trägheit. Der Sehapparat antwortet hierauf durch ein reaktives Formverständnis, durch welches er versucht, Gestalt und Inhalt selbstständig zu erschließen – so zumindest Helmholtz’ Theorie. Die unterschiedlichen Methoden der visuellen Wahrnehmung, Induktionsschlüsse oder Kontemplation, definieren sich durch ihre Abhängigkeit von Zeit. Daher ist auch eine kurze Expositionszeit mit einer oberflächlichen, rein physiologischen Wahrnehmung verbunden. Selbst für das oberflächliche Wahrnehmen gilt jedoch, dass es erst nach einem perzeptiven Lernprozess greifen kann. Durch den Lernprozess des physiologischen Umgangs mit visuellen Eindrücken wird eine neue Methode der Perzeption ermöglicht, in der man lernt, annähernd synchron mit der wahrnehmbaren Gestalt umzugehen – durch den Einsatz von Induktionsschlüssen. Eine schnelle Verarbeitung des visuell Begreifbaren, ein Erkennen der rein formalen Gestaltung, wird so von der Medientechnologie des Films gefordert und gleichzeitig trainiert. Die physiologischen Grundannahmen, die Helmholtz präsentiert, lassen nicht nur auf die Objektivierung des Sehapparats schließen, sondern auch auf dessen potentielle Steigerung. Wird eine geschulte visuelle Wahrnehmung mit statischer zweidimensionaler Seitengestaltung konfrontiert, so müssten die Betrachtenden, nach Helmholtz’ Ansätzen, durch die visuelle Schulung in der Lage sein, schnelle visuelle Schlüsse zu ziehen und dynamische Hinweise ohne Reflexionsprozess einzuordnen – basierend auf dem bisher Gesichteten. Für den vorliegenden Zusammenhang verweisen Helmholtz’ Grundlagen einerseits auf die sinnesphysiologische Überforderung durch den Film und andererseits auf die Trainingskompetenz der statischen Typographie.

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Ein Blick auf die Op-Art verdeutlicht, dass diese These nicht zu halten war. Vgl. Gregory, Richard L.: Auge und Gehirn (1998), S. 245-249.

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2.2 Zerstreutes Beobachten und ganzheitliches Lesen: Wilhelm Wundt Wilhelm Wundts bekanntestes Lehrbuch Grundzüge der physiologischen Psychologie (1874) baut auf Hermann von Helmholtz’ Wahrnehmungsstudien auf,60 legt den Fokus jedoch nicht auf die physiologischen Ablaufketten, sondern auf die psychologischen Abläufe, die nach Eingang eines Reizsignals im Zentralorgan Gehirn vermutet werden. Im Vergleich zu Helmholtz, als dessen Assistent er ab 1858 tätig ist, spezialisiert sich Wundt darauf, mithilfe eines holistischen Ansatzes, Erklärungen für psychologische Bewusst-

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Auch Wundts technische Terminologie verdeutlicht, ähnlich wie bei Helmholtz, ein hierarchisches und mechanisches Verständnis neuronaler Steuerung: Die Bauelemente des Nervensystems beschreibt er anhand des Zentralorgans Gehirn, funktioneller Einheiten, Anhangsapparate, Kontaktverbindungen und Leitungssysteme (vgl. Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie [1874], S. 78ff.). Physiologische Prozesse und Abläufe werden als Einflussfaktoren der psychischen Wahrnehmung verstanden, aber im Umkehrschluss auch als Symptome psychologischer Zustände (vgl. ebd., S. 67) – Knoten- und Angelpunkt des Menschseins bleibt jedoch immer das Zentralorgan Gehirn. Wie auch in Helmholtz’ Physiologie, bezieht auch in Wundts Psychotheorie der Reflexe (vgl. ebd., S. 520) die anatomische Organisation des Sehsinns seine Sonderstellung, da Wundt eine direkte Transformation von sensorischem Reiz in motorische Reaktion vermutet: »Diese Verhältnisse machen es begreiflich, daß […] Übertragungen, Reaktionen auf Lichteindrücke ohne jede Beteiligung der Hauptbahn, als Reflexe auf das Augenmuskelsystem, und durch weitere Verbindung auch als solche auf andere Körpermuskeln, ausgelöst werden können« (ebd., S. 237 und weiter vgl. ebd., S. 361). So spricht auch Wundt dem der visuellen Wahrnehmung ein autonomes Reizreaktionspotential zu. Wundt entwickelt Helmholtz Analogie von Nervenleitungen zu Telegraphendrähten dabei strukturell weiter und widerspricht der metaphorischen Vereinheitlichung divergenter Nervenleitungen (»Schon bei HELMHOLTZ gerät jedoch diese Ausdehnung des Prinzips auf die Einzelqualitäten eines jeden Sinnesgebiets in einen unauflöslichen Widerstreit mit der andern, ebenfalls in der neueren Physiologie zur Geltung gelangten Anschauung, nach der die Nerven relativ indifferente Leiter der durch die übertragenen Vorgänge sein sollen, einer Anschauung, die zunächst in der Vergleichung mit Telegraphendrähten ihre Wurzel hat, dann aber in den übereinstimmenden chemischen und elektrischen Eigenschaften der Nerven eine Stütze fand. […] Denn die Vergleichung mit Telegraphendrähten ist günstigsten Falls eine zweifelhafte Analogie; und von den chemischen Eigenschaften der Nerven wissen wir wenig, von den elektrischen nur so viel, daß sie mit dem Vorgang der Erregung direkt wahrscheinlich nichts zu tun haben«. Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie [1874], S. 505 und vgl. ebd., S. 425) – dennoch hält sich gerade diese Metapher. Interessanterweise klassifiziert Wundt nun die »mechanischen Sinne«, Drucksinn und Gehörssinn, als jene Wahrnehmungsfilter, die ein recht getreues und schnelles Perzeptiv der Umwelt weitergeben. »Chemische Sinne« bedingen eine »tiefer greifende chemische Transformation«, welche Wundt Geruchs-, Geschmacks- und Gesichtssinn zuschreibt; Der Sehsinn gewinnt durch seine direkte Vernetzung mit dem Zentralorgan eine Sonderstellung (ebd., S. 426). Auch in der Entwicklung der Sinnesorgane wird er unter »Entwicklung spezifischer Sehorgane« gelistet (ebd., S. 445-452). Der Sehsinn ist in Wundts Theorien somit weder mechanisch noch automatisch und wird definitiv als Fortsatz des Gehirns betrachtet. Aus diesem Grund ist die vermeintliche Kontrolle des objektiven Sehens unverzichtbar, wenn der Sehsinn als Fortsatz des Gehirns doch auch in der Lage sein sollte Interpretation und Verinnerlichung visuell erfasster Begebenheiten bedingt psychologisch zu erschließen. Inhaltlich verweist dieser Punkt auf die durch Helmholtz klassifizierten Induktionsschlüsse, die Wundt jedoch nicht benennt. Sie wären jedoch ein Indiz für kontrollierte, aber auch automatische Reizreflexionsprozesse der sinnesphysiologischen Interpretation.

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seinszustände des Menschen zu finden.61 Nach diesen Erklärungen sucht Wundt mittels verschiedener Experimente. Die psychologischen Zustände liest er den Reaktionen der Proband:innen durch intensive Beobachtung ab – die äußeren reaktiven Merkmale werden hierbei als psychische Zeichen interpretiert. Die Beobachtung stellt dabei die zentrale Untersuchungsmethode im wundt’schen Experiment dar: »Das Experiment besteht in einer Beobachtung, die sich mit der willkürlichen Einwirkung des Beobachters auf die Entstehung und den Verlauf der zu beobachtenden Erscheinung verbindet«.62 Hierbei geht Wundt nicht von einer bestimmten Erscheinung aus, sondern intendiert explizit ein zerstreutes Beobachten. Denn die Beobachtungskategorie, die der Psychologe als zerstreutes Beobachten versteht, begreift sich als der unfokussiert umherschweifende Zustand der Augen im Wechsel mit punktueller visueller Aufmerksamkeit. Um dieses Wechselspiel von Aufmerksamkeit und Zerstreuung zu begreifen, ist es zunächst einmal nötig, Abstand von der negativen Konnotation der Zerstreuung zu nehmen. Denn nachdem in wahrnehmungspsychologischen Experimenten festgehalten werden konnte, dass die Aufmerksamkeitsspanne mit der Zeit abnimmt, also zeitlich gebunden ist, wurde der zerstreute Zustand bereits vor 1900 als eine notwendige Komponente der Aufmerksamkeit verstanden – auch wenn er zuvor als abgelenkter und unkonzentrierter Zustand nicht immer positiv gewertet wird.63 Wundt legt nun aber das weitläufige visuelle Abtasten und unfokussierte Sehen als Vorteile dieses zerstreuten Beobachtens aus. Indem sie den gesamten Eindruck des Gesichtsfelds eingefangen kann, wird die zerstreute Beobachtung zum entscheidenden Operationsmodus im Experiment. Dieser Umgang mit der Zerstreuung erklärt sie zu einem produktiven Zustand. Denn gerade beim unfokussierten Sehen fallen Veränderungen im erweiterten Sehfeld ins Auge; auf diese These stützt Wundt zumindest seine Operationskategorie des zerstreuten Beobachtens.64 Die Zerstreuung wird hier als Ausgangspunkt der selektiven Aufmerksamkeit verstanden, bezeichnet also einen grundsätzlich perzeptionsaffinen Wahrnehmungszustand der Beobachtenden. Gleichzeitig entwächst aus dieser visuellen Technik auch Wundts These zum ganzheitlichen Lesen, in welchem er experimentell nachweist, dass die Proband:innen ein Wort ganzheitlich sehen und nicht die einzelnen Buchstaben lesen. Die Zerstreuung, der Zustand aufgelöster Aufmerksamkeit, wird zum Ausgangspunkt dieser These. Die komplementierende Dichotomie der beiden Zustände wird bereits in Otto Ludwigs Erzählung Zwischen Himmel und Erde (1856) festgehalten: »Man preist ein Heilmittel gegen solche Krankheit; es heißt Zerstreuung, Vergessen seiner selbst«.65 Während der Zustand von Wundt noch als produktiver Modus verstanden wird, führt die anhaltende Aufmerksamkeit der Kinobesucher:innen 40 Jahre später zum öffentlichen Diskurs der Zerstreuung als Massenphänomen: Kollektive visuelle 61 62 63 64

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Vgl. Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie [1874], S. 4. Zitiert nach Selg, Herbert: Einführung in die experimentelle Psychologie (1966), S. 24. Vgl. Löffler, Petra: Zerstreuen (2015), S. 689. Vgl. Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie (1874), S. 25. Auch Freud sehnt sich nach einem neutralen Aufmerksamkeitszustand, in dem Veränderungen und Auffälligkeiten gleichzeitig wahrgenommen werden, benennt diesen aber nicht als Zerstreuung. Vgl. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit (1999), S. 289. Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde (1856), S. 84.

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Anstrengung führt zur kollektiven Zerstreuung66 – besonders unmittelbar nach der Vorstellung. In die Debatte über den Kunstwert des Kinos fließen aus diesem Grund auch die optionalen Auswirkungen der Medientechnologie Film auf die menschliche Psyche ein.67 Durch den Zustand der Zerstreuung wird damit die Verbindung zwischen Psyche und Sinnesphysiologie befördert, wodurch die naturwissenschaftlichen Studien zur Wahrnehmung als Erklärung des kinematographischen Effekts eingesetzt werden. Gleichzeitig liefern sie aber auch Anleitung und Trainingsoptionen für den Zustand der Zerstreuung wie auch der Aufmerksamkeit. Durch die öffentliche Diskussion und die damit einhergehende Bewertung der psychischen Folgen des filmischen Konsums wird Zerstreuung nach 1900 zunehmend auch negativ konnotiert, was jedoch um 1874 noch nicht der Fall ist. Denn Mitte des 19. Jahrhunderts kann der reziproke Zusammenhang zwischen zerstreutem Überblick und selektivem Fokus anhand von Wundts Studien deutlich herausgearbeitet werden. Die Verbindung dieses Begriffspaares ist für die umfassende Darstellung der zeitgenössischen Wahrnehmungsveränderung absolut notwendig, denn durch die separate psychologische Betrachtung und Bewertung der Phänomene wurden die eigentlich komplementären Zustände zwei Polen zugeordnet: die positive, weil produktive, Aufmerksamkeit und die negative, weil unproduktive, Zerstreuung. Hierbei ist entscheidend, dass das zerstreute Sehen bereits von Wundt als ursprünglicher Wahrnehmungszustand begriffen wird: Der wandernde ganzheitliche Sehprozess wird als Ausgangspunkt einer Beobachtung verstanden. Während das heterogene Publikum in einem Kinosaal aufmerksam den selektiven und zeitlich begrenzten Reizsignalen eines Films folgt, tastet der:die Betrachter:in eines statischen Objekts den jeweiligen Gegenstand selbstbestimmt, uneingeschränkt und ohne zeitliche Rahmung mithilfe des zerstreuten Sehens ab. Unterschiedliche Reizsignale und -angebote erfordern damit unterschiedliche Wahrnehmungszustände. Auch Paul Valéry begreift das ganzheitliche zerstreute Sehen und die fokussierte Aufmerksamkeit als zwei sich komplementierende Modi des Sehens – ganz ähnlich wie Wundt. Die Zustände des Sehens regen Valéry in den 1920ern so zu Schlussfolgerungen über das Sehen und Lesen an.68 Der ursprüngliche Diskurs um die Modi des Sehens weist bei Wundt wie später auch bei Valéry einen zweckgerichteten und funktionellen Charakter auf. Dies ist der Grund dafür, dass weder Wundt noch Valéry einen der Zustände negativ konnotieren: Ihr Wert wird von ihrer Funktionalität getragen. Valérys Die beiden Tugenden eines Buches (1926) verdeutlicht diese pragmatische Differenzierung zwischen den visuellen Techniken des Sehens und des Lesens. Lesen wird als ein fortlaufender, durch die Typographie angeleiteter Akt beschrieben: Das Buch kann sie [die Augen] anregen, sich einer regelmäßigen Bewegung zu bequemen, die eine Zeile entlang von Wort zu Wort weiterleitet, bei der nächsten Zeile, nach einem Sprung der nicht zählt, von neuem anhebt und derart fortschreitend eine Folge

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Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935), S. 379f. Das Unterkapitel 3.1 setzt sich näher mit der Kino-Debatte und dem modernen Paragone auseinander. Vgl. 3.1.

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geistiger Verhaltensweisen auslöst, die alle darauf hinauslaufen, die sinnlich wahrgenommenen Zeichen jeweils aufzuheben zugunsten von Gedächtnisinhalten und deren Kombinationen.69 Im Vergleich hierzu bezeichnet der Akt des Sehens das sinnliche Wahrnehmen der ganzheitlichen Form einer Seite: Eine Seite ist ein Bild. Sie liefert einen Totaleindruck, bietet dem Auge ein Ganzes oder ein Gefüge von größeren Blöcken und Schichten, von schwarzen Flächen und weißen Leeräumen, einen Fleck von mehr oder minder glücklicher Gestalt und Überzeugungskraft. Diese zweite Art zu sehen, nicht mehr sukzessiv und linear fortschreitend wie bei der Lektüre, sondern als eine Zusammenschau auf den ersten Blick, gestattet uns, die Typographie in die Nähe der Architektur zu rücken, wie man vorher bei der Lektüre darauf verfallen konnte, sie mit der melodischen Musik zu vergleichen, und überhaupt allen Künsten, die sich in der Zeit vollziehen.70 Sehen meint hier das reine Wahrnehmen – im Feld der Gesichtswahrnehmung.71 Valéry beschreibt damit das zerstreute Beobachten, das bereits Wundt für ein Experiment fordert: das ganzheitliche Überblicken. Wenn Valéry dabei von einem linearen Leseprozess spricht, so ist dies bezeichnend für die Perspektive eines Textproduzenten. Die Information eines Textes wird nicht linear aufgenommen,72 sondern linear vermittelt – die Annahme eines linearen Leseprozesses ist damit eng mit der linearen Kulturtechnik des Schreibens verbunden und entspringt damit einem produktions- und kommunikationstheoretischen Ausgangspunkt und nicht einem sinnesphysiologischen Verständnis visueller Rezeption. Wenn heutzutage von einem »Aufmerksamkeitsdefizit«73 gesprochen wird, so ist dies meist negativ konnotiert; denn dieses Defizit beschreibt den Mangel oder den Verlust von Aufmerksamkeit. Der permanente Zustand der Zerstreuung, die Zerstreutheit, wird hierbei nicht benannt, woran deutlich wird, dass die Funktion der Zerstreuung abhandengekommen ist und nicht mehr als notwendiger Ausgangspunkt der Aufmerksamkeit begriffen wird. Dies steht in starkem Kontrast zu Wundts Feststellung, dass die Aufmerksamkeit eigentlich der unregelmäßige Zustand ist. Denn er liest »in der Natur der Aufmerksamkeit selbst [.] eine Quelle von Abweichungen«,74 welche sich durch die periodische Funktion der Apperzeption erklärt und in regelmäßigen Oszillationsbewegungen äußert, durch soziokulturelle Verhältnisse jedoch eine Umwertung erfahren hat. Diese konnotative Umwertung verstreuter, abwesender oder nervöser Zustände75 lässt sich als Parallele zu Hoffmanns Feststellung diskursabhängiger Se-

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Valéry, Paul: Die beiden Tugenden eines Buches (1926), S. 467. Ebd., S. 468. Vgl. Eisler, Rudolf: Wörterbuch der Philosophischen Begriffe (1904), S. 330. Vgl. Schön, Erich: Lineares und nicht-lineares Lesen (2002). Schön setzt bei seiner kurzen Kulturgeschichte des nicht-linearen Lesens bereits im Mittelalter an. Die Pathologisierung des ADHS als Verhaltensstörung ist ein prominentes Beispiel hierfür. Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie (1874), S. 582. Einer Erörterung der wissenshistorischen Entwicklungen und kategorialen Unterschiede von Aufmerksamkeit und Zerstreuung wendet sich in jüngster Zeit wieder die kontinentale Philosophie zu.

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mantik lesen. An dieser Stelle sei daher explizit festgehalten, dass Zerstreuung im 19. und frühen 20. Jahrhundert positiv konnotiert und als Schwesterkategorie der Aufmerksamkeit aufgefasst wird; anders als der übersteigerte Zustand der Zerstreutheit, welcher auf eine pathologische Überempfindlichkeit der Großstädter:innen anspielt. Die von Petra Löffler verfasste Kulturgeschichte der Zerstreuung trägt aufgrund dieser konnotativen Umwertung auch den Titel Verteilte Aufmerksamkeit (2014) und zeichnet im Detail Eine Mediengeschichte der Zerstreuung nach. Die gesteigerte perzeptive Aufnahmebereitschaft im Zustand der Zerstreuung wird bei Wundt die notwendige Kompetenz für die Durchführung eines Experiments. Zerstreutes Beobachten ist für Wundt dementsprechend eine objektive visuelle Bestandaufnahme. Die visuelle Offenheit dieses Beobachtungszustands ermöglicht ein makrotypographisches Konstruktionskonzept von Texten, indem der ganzheitliche Eindruck der Druckseite typographisch durchgestaltet wird. Das Schlussfolgern des visuell Wahrgenommenen wird hier zweitrangig, da die Wahrnehmung von Abweichungen die primäre Funktion der zerstreuten Beobachtung darstellt. Dieser Wahrnehmungszustand eröffnet dadurch den Spielraum für zufällige Beobachtungen oder »Zufallsprodukt[e]« und lässt die Durchführung zum entscheidenden Modus für literarische Experimente werden: Sie »[bleiben] ästhetische Verausgabung«,76 intendieren keinen Beweis. Wundts Auslegung der zerstreuten Beobachtung schließt ein, dass die Augen auch ohne konkreten Fokus das Sichtfeld überblicken. Mit Emile Javals Entdeckung der Sakkadensprünge 1878 konnte diese Hypothese vier Jahr später auch belegt werden. Javal sieht in Sakkaden das Wechselverhältnis zwischen Fokussierung und Zerstreuung belegt77 und stützt sich, wie auch Wundt, auf die Vermutung, dass der zerstreute Zustand der Grundzustand der visuellen Perzeption sei. Steht die Aufmerksamkeit auch im Zusammenhang mit Konzentration und Übung, so wird sie gleichzeitig durch ihre Selektivität und Unbeständigkeit definiert.78 Denn die physiologischen Reflexe des visuellen Organs, die Sakkadensprünge, sind darauf ausgelegt den Zustand der Aufmerksamkeit durch Zerstreuung unterbrechen zu lassen – und umgekehrt.79 Anhaltende Aufmerksamkeit stellt somit nicht nur einen selektiven, sondern vor allem einen äußerst anstrengenden Zustand dar, welcher notwendigerweise zum Lösen der sinnesphysiologischen Spannung immer wieder in Zerstreuung mündet. Der Wechsel zwischen diesen Zuständen und deren gegenseitige Komplementierung stellen den Schlüssel zum zerstreuten Beobachten dar. Denn die Voraussetzung für selektive, konzentrierte und fokussierte visuelle Aufmerksamkeitszustände ist eine vorhergegangene Phase eines entspannenden Überblicks. Von diesem ausgehend strukturieren konkrete Aufmerksamkeitszustände den dynamischen Sehprozess durch

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Vgl. Kleinschmidt, Erich: Literatur als Experiment (2001), S. 2. Vgl. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit (1999), S. 231f. »Unterbrechungen und Diskontinuitäten in der Stimulation [aufgrund von Blicksprüngen, Blinzeln, Augenbewegungen, chromatischen Anomalien im Farbsehen und anderen möglichen Defekten des visuellen Systems] [sind] tatsächlich Teil des Sehens […]«. O’Regan, J. Kevin/Noë, Alva: Ein sensomotorischer Ansatz des Sehens und des visuellen Bewusstseins (2001), S. 375. Vgl. Gregory, Richard L.: Auge und Gehirn (1998), S. 77.

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das Selektieren von Veränderungen innerhalb des Sichtfeldes.80 Diese Zustände gehen mit einer gefilterten Wahrnehmung des Gesichteten einher, dessen interpretativer Möglichkeitsspielraum vom visuellen Obduktionszeitraum abhängig ist. Der zerstreute Zustand des physiologischen Sehens81 wird dabei als Ausgangspunkt einer jeden visuellen Perzeption82 verstanden und unter Wundt zur notwendigen Durchführungsstation eines Experiments deklariert. Dass Wundts Rückschlüsse auf die Zerstreuung als Ausgangspunkt der visuellen Wahrnehmung vor dem tatsächlichen Feststellen der Sakkadensprünge durch Javal stehen, markiert dabei den intensiven Austausch zwischen Praxis und Theorie. Durch die wahrnehmungspsychologische und dann auch physiologische Überprüfung der reziproken Zustände von Zerstreuung und Aufmerksamkeit wird ein dichtes Beziehungsgeflecht hergestellt, das sich auch Jahrzehnte später noch auf diese Erkenntnisse beziehen wird. Außerdem bezeichnen beide Zustände, Aufmerksamkeit und auch Zerstreuung, in diesem Zusammenhang psychische Kategorien, die durch einen physiologischen Reiz ausgelöst werden. Die drucksachlichen Experimente zur materiellen Erweiterung des Textgehalts folgen einem ähnlichen Verfahren: Auch hier sollen sich die sinnesphysiologischen Eindrücke auf die psychische Reflexion auswirken. Die Versuche der Bauhäusler eine Formsprache zu entwickeln, baut auch auf die visuelle Brücke zwischen Sinnesphysiologie und Psychologie auf. Gyorgy Kepes Language of Vision (1944)83 stellt diesen Ansatz zur visuellen Formsprache aus, der sich gleichermaßen auf physiologische wie psychologische Erkenntnisse stützt. Dieser Standardtext zu optischer Formsprache bezieht sich aber zum Publikationszeitraum auf einen bereits 70 Jahre alten Erkenntnisstand: Die dynamische Tendenz, die optischen Kräfte in ein integriertes Ganzes zu ordnen, setzt im psychologischen Feld Aufnahmebereitschaft, das heißt Aufmerksamkeit, voraus. Die Aufmerksamkeit ist doppelt begrenzt: erstens in der Anzahl der optischen Einheiten, die sie erfassen kann, und zweitens in der Zeitdauer, in der sie auf einem Punkt beharren kann. Und genauso wie die Begrenzung des zweidimensionalen Bildfeldes als notwendiger Bezugsrahmen für die Lage optischer Größen dient, so bilden die Grenzen des psychologischen Feldes die notwendigen Bedingungen für die Gesetzmäßigkeiten der bildnerischen Ordnung.84

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Vgl. Gregory, Richard L.: Auge und Gehirn (1998), S. 77. Gerade bei wahrgenommener Bewegung selektiert der äußere Rand der Retina unbewusst und das Auge fokussiert die als dynamisch wahrgenommene Veränderung. Da die Fovea centralis, die Sehgrube bzw. der Gelbe Fleck, aufgrund ihrer Zapfendichte den schärfsten Punkt der visuellen Wahrnehmung darstellt, erklären sich auch die Sakkaden, die Sehsprünge aus der Physiologie heraus, da das Auge versucht die visuelle Achse und die wahrgenommenen Informationen auf die Fovea centralis umzulenken. Dies erklärt die Sprünge, aber auch den vorwiegenden Zustand der Zerstreuung sowie die Selektion des scharfen Sehens, da die Sehgrube ja nur einen Bruchteil der Netzhaut einnimmt. So auch prominent Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit (1999), S. 33. Der strukturelle Ansatz des Autors wird auch in seinen Folgepublikationen Visuelle Erziehung (Sehen +werten) (1965) und Struktur in Kunst und Wissenschaft (1965) deutlich. Kepes, Gyorgy: Die Sprache des Sehens (1944), S. 36.

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In diesem Zitat werden von Kepes genau die Charakteristika der Aufmerksamkeit aufgegriffen, die für eine Kalkulation der Aufmerksamkeitsspanne und eine daran orientierte Gestaltungskonzeption notwendig sind: Aufnahmebereitschaft und zeitliche Determinierung. Andererseits lässt sich an dieser Aussage auch ablesen, dass psychologische Aufmerksamkeit und physiologischer Ausgangspunkt des Sehens nicht mehr eindeutig getrennt werden. Während Wundt zwischen physiologischem und psychologischem Sehen differenziert, ist der physiologische Ausgangspunkt des Sehens 1944 bereits in dem psychologischen Prozess der Aufmerksamkeit inkludiert. Die Verbindung zwischen Optik und psychischer Wirkung wird (spätestens) 1944 also wieder als Einheit verstanden – obgleich die Unterschiede zwischen physiologischem und psychologischem Wahrnehmen evident bleiben.85 Das Bindeglied stellt hierbei der Geisteszustand dar: Denn die visuelle Wahrnehmung endet nicht immer mit Induktionsschlüssen, wie Helmholtz sie beschreibt, sondern mündet, gerade in der irritierenden86 oder mehrdeutigen Konfrontation mit künstlerischen Ausdrucksformen, in einen Reflexionsprozess, der sich in Aufmerksamkeit oder Zerstreuung auflöst. Durch Wundts gründlich protokollierte Experimente wird ab 1879 zunehmend die entstehende Angewandte Psychologie in seinem Leipziger Labor geprägt. Die organisierte Beobachtung wird dabei der entscheidende Teil eines Experiments, der Validierung schafft und als Mess- und Prüfinstrument eingesetzt wird – ohne willkürliche Fokussierung, aber als »neu kodifizierte[s] Forschungsverfahren«,87 das auch transdisziplinär prägt. Mithilfe der Inanspruchnahme der physiologischen Perzeption schließt Wundt auf psychologische Konfigurationen, die der Beobachtung zeitlich nachgeordnet sind. Diese Verbindung verweist auf seine Vermutung, dass die rein physische Auswirkungen auf die psychologische Wahrnehmung hat. Eine Typographie, die einen Text sinnesphysiologisch erweitert, würde den Seh-Prozess nicht (notwendigerweise) zeitlich rahmen und die Sakkaden88 das statische Exponat abtasten lassen. Diese Sprünge werden durch Auffälligkeiten, Brüche und Markierungen89 gelenkt, sodass sie in die visuelle Gestaltung einer Drucksache definitiv miteinkalkuliert werden können. Dynamische Objekte ermöglichen aufgrund ihrer zeitlichen Bedingtheit nur ein durch das Auslösen von Reizreflexen angeleitetes und vor allem selektives Beobachten. Die zeitliche Unabhängigkeit beim Betrachten eines statischen Objekts ermächtigt die Betrachtenden zur eigenständigen Wahrnehmung, während das bewegte Bild richtungsweisend das räumliche und zeitliche Erkunden des Präsentierten vorgibt. Ein statisches Objekt versetzt die sinnesphysiologischen Kompetenzen damit in ein aktives Sehen, während ein dynamisches Objekt ein passives Sehen fordert. Die zerstreute Beobachtung wäre bei Wundt als autonomer und aktiver Sehprozess zu verstehen, wohingegen die Aufmerksamkeit nur an einen Fokus gebunden und damit in seiner Auffassungsgabe determiniert ist. Indem sich Wundt detaillierter als Helmholtz mit den psychischen Störungsoptionen der visuellen Wahrnehmung auseinandersetzt, beleuchtet er auch die psychischen

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Vgl. Gregory, Richard L.: Auge und Gehirn (1998), S. 63. Vgl. Hahn, Torsten: Drucksache (2019), S. 442. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit (1999), S. 32. Vgl. Gregory, Richard L.: Auge und Gehirn (1998), S. 63. Vgl. ebd., S. 64.

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Effekte visuell erfasster Formen, Figuren oder Zeichen. Hierbei kommt er auf die Ausdeutung statischer Zeichen zu sprechen. Gerade in Bezug auf das Lesen und Schreiben kommt Wundt zu dem Urteil, dass bei der Beurteilung der Gesamtheit dieser Leistungen und der in ihrem Gebiet vorkommenden Störungen zunächst davon auszugehen (ist), daß jede vollständige Wortvorstellung eine komplikative Assoziation aus drei Bestandteilen, Sprachlaut (L), Schriftbild (S) und Bedeutungsinhalt (B) ist, deren jeder sich dann wieder aus zwei engeren Bestandteilen zusammensetzt.90 Weiter setzt sich »das Schriftbild S aus optischer Vorstellung (o) und graphischen Bewegungsempfindungen (m‹)«91 zusammen, wobei »[b]eim Lesen [.] natürlich o im Vordergrund des Bewußtseins [steht]«.92 Wundt beschreibt die hierarchischen Verbindungen zwischen den verschiedenen Bestandteilen der vollständigen Wortvorstellung als variabel und vermerkt gerade für ihre visuelle Aussagekraft, dass das Schriftbild [.] die Artikulationsbewegung [weckt], diese aber nur in sehr geringem Grade das Schriftbild; oder die Assoziation zwischen m‹ und m: die graphische Bewegung erweckt leicht die Artikulationsempfindung der Sprachorgane, die aber meist nur unter besonderen Bedingungen die erstere usw.93 Dies bedeutet anders formuliert, dass die visuelle Präsentation einer Schrift bzw. Typographie in Wundts Theorie Einfluss auf die Betrachtenden ausübt, was selten beim Schreiben berücksichtigt werden würde. Für den vorliegenden Zusammenhang ist außerdem bemerkenswert, dass er die optische Vorstellung eines Schriftbilds auch ohne weitere Erläuterungen der geistigen Vorstellungskraft zuordnet. Die optische Vorstellung wird dabei durch die sinnesphysiologische Perzeption hervorgerufen. Wundt belegt damit in diesem Abschnitt seiner Grundzüge der physiologischen Psychologie (1874), dass Schrift und Texte mithilfe der Vorstellungskraft aktiv decodiert werden. Der eingeprägte Gesamteindruck des Wortes wird damit entscheidend und weniger das buchstäbliche Lesen, da Wundt auf einen psychischen Prozess anspielt, der auf bereits erfahrene Formerkennung aufbaut.

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Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie (1874), S. 374f. Ebd., S. 374. Ebd., S. 375. Die Weiterleitung einer Assoziation beschreibt er wie folgt: »Nehmen wir nun an, es wirkten, zugeführt in dem Sehnerven S, eine Reihe von Eindrücken auf das Sehzentrum SC, so sind folgende Hauptfälle möglich: 1) Die Eindrücke werden nicht weitergeleitet: dann bleiben die Empfindungen im Zustande der bloßen Perzeption oder undeutlichen Wahrnehmung. 2) Ein einzelner Eindruck a wird durch die auf den Wegen s s’ h h’ ausgelöste und auf dem Wege l a dem Zentrum SC zugeleitete Hemmung der Eindrücke b c d apperzeptiv gehoben: es findet Perzeption von b c d und Apperzeption von a statt. 3) Neben der Apperzeption des Eindruckes a findet eine Leitung über O nach dem Zentrum A statt, wo eine Resultante ausgelöst wird, die auf dem Wege e ε α in dem Hörzentrum HC die dem Gesichtsbild a entsprechende Wortvorstellung α hervorbringt. Gleichzeitig werden durch Hemmungen, die auf den Wegen χ ε und λ α in den Zentren A und SC ausgelöst werden, die resultierende Wortvorstellung und der Laut apperzipiert«. Ebd., S. 385. Ebd., S. 376.

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Zusätzlich hängt Wundt dieser Beobachtung an, dass die Wahrnehmung der Schriftzeichen durch Übung verändert werden kann. Ebenso wie Helmholtz den autonomen Sehapparat als Ergebnis eines visuellen Lernprozesses begreift, schlägt auch Wundt vor, dass die physiologischen Möglichkeiten des Sehsinns ausbaufähig sind. Weiter noch skizziert er die Grade einer Wahrnehmungsübung als intensiver, »wenn irgend welche (sic!) Veränderungen in der gewöhnlichen Stärke der einzelnen Vorstellungsbestandteile eintreten, oder wenn bestimmte Assoziationen unwirksam werden«.94 Abwandlungen des Gewohnten visuellen Eindrucks verstärken also den potentiellen Übungseffekt. Bezieht man diese sinnespsychologischen Schlussfolgerungen der wundt’schen Wahrnehmungsexperimente auf typographische Variationen, so erklärt sich ihr weitläufiger Spielraum und die damit einhergehende Unmöglichkeit einer Regel-Findung auf Produzent:innenseite:95 Die Veränderungen sind Abweichungen von dem Bekannten, werden jedoch nicht konkret definiert. So stellen gerade Brüche in der erwarteten Visualität einer Drucksache einen Trainingseffekt bzw. eine sinnesphysiologische und -psychologische Steigerung des gewöhnlichen Leseakts dar.96 Dabei wird der codierte Reiz97 visuell im Text markiert. Die potentiell hierauf folgende »apperzeptive Zeichenwirkung« kann eine »unmittelbare und dynamische Interpretantenbildung« auslösen.98 Die Wirkung des Schriftbilds als dynamisch geprägtes Konstrukt ist damit von den Betrachtenden abhängig – was Wundt als steigerbare Kompetenz des Individuums liest.99 Hierdurch verweist er nicht nur auf eine optionale Rezeptionsästhetik, sondern auch auf die Anpassungsfähigkeit unserer visuellen Auffassungsgabe – visuelle Konditionierung.100

Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie (1874), S. 376. Für weitere Einschränkungen: »Dabei ist nun aber dieses Schema kein stabiles, sondern es ist ein nach individuellen und zeitlichen Bedingungen wechselndes, ebenso wie die Assoziationen selbst wechselnde und insonderheit in hohem Grade von den vorangegangenen Assoziationen und sonstigen psychischen Bedingungen abhängige Vorgänge sind«. Ebd., S. 377. 96 Weswegen diese Qualitäten bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Prager Schule und den russischen Formalisten als dichterisches Merkmal einer poetischen Sprache verstanden werden. Vgl. Hoffstaedter, Petra: Poetizität aus der Sicht des Lesers (1986), S. 19f. 97 Vgl. Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 92-94. Wehde bezieht sich mit diesem Begriff explizit auf Umberto Eco. 98 Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 92. 99 Zum Steigerungsphänomen vgl. Kainz, Friedrich: Das Steigerungsphänomen als künstlerisches Gestaltungsprinzip (1924). 100 Denn er beschreibt in diesem Zusammenhang auch eine potentielle Veränderung menschlicher Nervenbahnen, um eine gesteigerte Forderung der Perzeption auch physisch auszugleichen. Vgl. Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie (1874), S. 377f. »›Übung‹ besteht ihrem geläufigen Begriff nach in der Vervollkommnung einer Funktion durch wiederholte Ausführung derselben. Das Prinzip der Übung besteht daher mit Bezug auf die Funktionen des Nervensystems darin, daß sich jedes zentrale Element sowohl für sich selbst wie in seinem besonderen, durch die Lebensverhältnisse gesetzten Zusammenwirken mit anderen Elementen zu einer bestimmten Funktion oder zur Beteiligung an einer solchen um so mehr eignet, je häufiger es durch äußere Bedingungen zu derselben veranlaßt wird. Als das Elementarphänomen der Übung haben wir die Zunahme der Erregbarkeit durch die Reizung kennen gelernt« (ebd., S. 390). Wundt beschreibt hierbei, dass die Nervenapparate und Anhangsorgane sich dieser Veränderung anpassen und somit »die Organe selbst zu einem wesentlichen Teil als die Produkte ihrer Funktion« auftreten. Hier umschreibt er also die Plastizität des Gehirns (vgl. ebd., S. 390-394). Und weiter heißt

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Gerade die explizite Schlussfolgerung auf psychologische Decodierungsprozesse von Schriftbildern veranschaulichen den Gebrauch des zerstreuten Beobachtens zum Sehen von Wörtern und Seiten. Wundt ging damit nicht von einem prozessualen Leseprozess, sondern von einer visuellen Rezeption aus, die sich auf bisherige visuelle Erfahrung stützt und dementsprechend auch mit neuen Eindrücken trainiert werden kann.

2.3 Psyche – funktionelle Ästhetik – Zweck: Hugo Münsterberg Hugo Münsterberg wird vor allem mit der Entwicklung der Psychotechnik101 in Verbindung gebracht. In seinen eigenen Worten »[bezeichnet] Psychotechnik […] den Gebrauch psychologischer Mittel (Psycho-Techniken) für bestimmte Zwecke«.102 Münsterberg versteht unter dieser zweckgerichteten psychologischen Methode eine Form Angewandter Psychologie. Und das Anwendungsgebiet der ab 1914 zunehmend prominenteren Psychotechnik wird, aufgrund ihrer effektivitätssteigernden Ausrichtung, vor allem die industrielle Wirtschaft. Denn die Psychotechnik sucht explizit nach Optionen die menschliche Produktionsfähigkeit durch die Optimierung von psychologischen (Arbeits-)Techniken zu steigern. Für psychotechnische Versuchsreihen werden daher Individuen ausgewählt, deren motorische wie geistige Kompetenzen unterschiedlich ausfallen, um Durchschnittswerte messen, berechnen und festhalten zu können. Ziel ist es, möglichst spezifische berufliche Qualifikationen zu berechnen, um durch die Berechnung der notwendigen Arbeitsqualifikationen die Effizienz der Arbeit und damit einen wachsenden Umsatz zu gewährleisten. Als Grundlage für eine solche Steigerung bestimmt Münsterberg die psychologische Angemessenheit der Arbeit: Es gilt daher »festzustellen, wie das Bewußtsein bestimmter Individuen tatsächlich arbeitet, und ob es voraussichtlich für eine bestimmte Aufgabe angepaßt ist oder nicht«.103 Die Möglichkeit der Bewusstseinsbeeinflussung und -lenkung ist hierbei ein expliziter Bestandteil

es: »Eine solche Einübung auf stellvertretende Funktion kann nun, wie die vorangegangenen Betrachtungen gezeigt haben, in einer doppelten Weise vorkommen: erstens indem Elemente und Elementenkomplexe, die bis dahin nur einen Teil einer zusammengesetzten Funktion erfüllten, infolge des Wegfalls anderer, einem ergänzenden Funktionsbestandteil zugeordneter Elemente, für das Ganze dieser Funktion eintreten; und zweitens indem zentrale Elemente infolge der Funktionsfähigkeit anderer, ihnen irgendwie räumlich zugeordneter, für Funktionen eintreten, an denen sie bis dahin überhaupt nicht beteiligt waren. […] Ausdehnung des Funktionsgebiets […] [und] Neuerwerb von Funktionen«. Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie (1874), S. 391. 101 »Ein wesentliches Element dieser neuen Disziplin war die quantitative Untersuchung des Auges und die Bestimmung seiner Aufmerksamkeitsspanne, Reaktionszeiten, Reizschwellen und seiner Ermüdung. Diese Untersuchungen standen ganz deutlich in Zusammenhang damit, daß für die rationelle und effektive Erledigung bestimmter Arbeitsvorgänge optimale Aufmerksamkeit der Arbeiter unverzichtbar war und daher Erkenntnisse über die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Subjekts verlangt wurden. Die wirtschaftliche Entwicklung führte zu monotonen und gleichförmigen Arbeiten, die eine schnelle Koordination von Auge und Hand und somit ein präzises Wissen über die optischen und sensorischen Fähigkeiten des Menschen erforderte.« Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters (1990), S. 91. 102 Blatter, Jeremy: Psychotechnik, Berufspsychologie und das Kino (2016), S. 156. 103 Münsterberg, Hugo: Grundzüge der Psychotechnik (1914), S. 136.

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dieser Optimierungsmethode.104 Indem die Psyche der Menschen durch die Psychotechnik technifiziert, also berechenbar, gemacht werden soll, bestimmt Münsterberg 1914 in Grundzüge der Psychotechnik kein spezifisches Einsatzgebiet, sondern erhebt vielmehr einen Universalanspruch.105 Die Breite des vorgeschlagenen Anwendungsraums erstreckt sich über Gesellschaftsordnung, Gesundheit, Wirtschaft, Recht, Erziehung, Kunst und Wissenschaft.106 Von besonderem Interesse ist im Folgenden der Anwendungsbereich der Kunst, den Münsterberg mit psychotechnischen Methoden in der Produktion anleiten möchte. In diesem Sinne betont er, dass psychotechnische Versuche aus seinem Labor nahelegen, dass ästhetische Wahrnehmungsprozesse schon bei einer sehr kurzen Darbietungszeit eines Gegenstands beginnen. Auch wenn das Subjekt sich noch gar nicht in das Ganze des Kunstwerks einlebt, so kann auch im kürzesten Spielraum schon ein Versenken und Einleben in die Formen und Farben mit ihren Bewegungen, Antrieben, Spannungen und Erregungen eine genügende Grundlage für das ästhetische Erlebnis bieten.107 Die Zeitrelation zwischen Beobachtenden und Expositionszeitraum stellt für Münsterberg keine Herausforderung dar. Mehr noch: Teileindrücke eines künstlerischen Gegenstands, ja dessen Fragmente, sind im Sinne dieser Aussage fähig, eigene ästhetische Aussagekraft zu halten. Fragment und geschlossenes Kunstwerk beinhalten damit potentiell beide einen ästhetischen Wert. Diese ästhetische Auffassung verweist auf die Montagetechnik des Films, also das Zerschneiden und Neu-Anordnen des Bildmaterials. Gleichzeitig schließt sie aber auch ein, dass die Essenz der Ästhetik nicht von einem konkreten Material abhängig ist. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass Münsterberg 1916 die »weltweit erste wissenschaftlich fundierte Theorie«108 zum Film verfasst. Er geht darin davon aus, dass die filmische Ästhetik einem psychologischen Ausdruck entspringt: Für Münsterberg visualisiert der Film die menschliche Vorstellungskraft. Und zeitgleich wird diese Annahme auch in Zeitschriften wie dem Kinematographen proklamiert: denn gelungene Dramaturgie gebe den »›Beweis [.], daß psychologische Vorgänge sich wohl im Film wiedergeben lassen‹«.109 Die direkte Verknüpfung, die er dabei zwischen ausgestrahltem Bildmaterial und Psyche nachzeichnet, führt zu Thesen über die Beeinflussbarkeit der Psyche durch das Sehen. Durch die Verbindung sinnesphysiologischer Reize mit psychischen Zuständen baut er so auf Wundts Studien auf. Nur handelt es sich nicht mehr um die objektive Feststellung eines reziproken Verhältnisses von Sinnesphysiologie und Psyche, sondern es wird zweckgerichtet in dieses Verhältnis eingegriffen. Das Interesse der Werbe- und Reklamebranche an Münsterbergs Wahrnehmungsexperimenten mit der Medientechnologie des Films steigt zu dieser Zeit immens an.110 Im Gegen104 105 106 107 108 109 110

Vgl. Münsterberg, Hugo: Grundzüge der Psychotechnik (1914), S. 136. Ebd. S. 10. Vgl. ebd., S. XI-XII. Ebd., S. 657. Steinmetz, Rüdiger: Vorwort (2016), S. 7. Zit. nach Brunner, Friedrich: Heinrich Lautensack (1983), S. 67. Kurz vor Münsterbergs Tod war eine Serie mit Paramount Pictures geplant. Vgl. Landy, Frank J.: Hugo Münsterberg (1992), S. 794.

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satz zu Wundts strukturalistisch-psychologischen Tendenzen,111 welche menschliches Verhalten anhand ihrer systematischen physiologischen Basis erklären, setzt Münsterberg auf funktionelle Erklärungsversuche. Er betont dabei die Anpassungsfähigkeit und Plastizität des Menschen und führt psychische Veränderungen in diesem Sinne auf Umwelteinflüsse zurück.112 Gerade die Anpassungsfähigkeit der visuellen Wahrnehmung an neue Eindrücke stellt einen Schwerpunkt seiner Arbeit dar.113 In seiner Filmtheorie The Photoplay (1916) liest Münsterberg die raum- und zeitlosen Abbildungstechniken der Medientechnologie Film als Ausdrücke der mobilen und abstrakten Darstellungswelt der Psyche. Indem die Filmtechnik in seiner Studie als psychologischer Ausdruck verstanden wird, kann die Psyche anhand filmischer Darstellungsmodi beschreib- und darstellbar werden – seine Filmtheorie ist also gleichzeitig ein textuelles Abbildungsverfahren der Psyche. Denn anhand der konkreten Abbildungen im Film werden psychologische Hypothesen manifest. Und neue Zugänge zur Erforschung der Psyche können sich anschließend an diesen orientieren. Auf diese Weise stilisiert Münsterberg den Film in seiner ästhetisch-psychologischen Studie zu einer technischästhetischen Praxis des psychologischen Ausdrucks; Münsterberg vergleicht also implizit und auch explizit die Psyche mit Technik. Damit findet er nicht nur einen Weg die Psyche zu visualisieren, sondern auch eine Herangehensweise sie zu technifizieren.114

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Seine philosophische Dissertation mit dem Titel »Die Lehre von der natürlichen Anpassung« schrieb Münsterberg unter Wundt. Mit dieser fiel er jedoch durch, weswegen Münsterberg 1887, zwei Jahre später, eine weitere Arbeit, dieses Mal eine medizinische Dissertation, in Heidelberg verfasste: »Über das Augenmass«. Vgl. Steinmetz, Rüdiger: The first Film Theory (2016), S. 10. Vgl. Landy, Frank J.: Hugo Münsterberg (1992), S. 787f. Münsterbergs Auseinandersetzung mit visueller Wahrnehmung konkretisiert sich während des Ersten Weltkriegs, während er in Harvard zu einem wichtigen Vertreter der Angewandten Psychologie wird und die politischen Diskussionen den Migranten zunehmend einschüchtern (vgl. ebd., S. 795 und vgl. Steinmetz, Rüdiger: The first Film Theory [2016], S. 22). Kurz vor seinem Tod 1916 publiziert er die unpolitische Studie The Photoplay. A Psychological Study. Hiermit baut Münsterberg auf die wahrnehmungsphysiologischen Experimente seiner Vorgänger, Helmholtz und Wundt, auf (und gleichzeitig fasst er die Psychologie als »empirische Geisteswissenschaft« auf. Vgl. Franke, Sophie: Hugo Münsterberg [2016], S. 58). Denn in The Photoplay (1916) versucht Münsterberg die Steigerung der Wahrnehmungsfähigkeit zu beschreiben, indem er den Film als potentielles Ausdrucksmedium der Psyche begreift. Die Vorstellungskraft des Geistes sei danach durch die ästhetischen Mittel des Films ausdrückbar. Dadurch, dass der Film medialisiert was abstrakt in der Psyche versammelt ist, zeigt sich eine Parallele zu Helmholtz: Durch Verbildlichung und Abbildung gewinnt der Untersuchungsgegenstand konkrete Qualitäten. Diese Lesart der Menschen begann mit Helmholtz’ Erkenntnis, dass die Retina perzeptive Informationen filtert und systematisch vorsortiert. Denn er hält so eine systematische Reaktionskette für die visuelle Wahrnehmung fest. Anschließend kommt Wundt zu dem Schluss, dass die wahrgenommene Form ganzheitlich wahrgenommen, also mit der Psyche erschlossen wird. Münsterberg erweitert dieses Verständnis vom Eintritt des Wahrnehmbaren um den Ausgang des Darstellbaren, indem die technisch abgebildeten Formen nun die Psyche ausdrücken können. Dieser produktionsorientierte Wechsel vom Wahrnehmbarem zum Ausdrückbarem ist ein entscheidender Moment für innovative Ausdrucksvariationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Der Film wird aufgrund seiner materiellen, ja technischen Qualitäten als psychologische Ästhetik beschrieben. Abbildende Techniken bieten damit einen optionalen Zugang zur Psyche.

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Diese erste wissenschaftliche Filmtheorie beinhaltet also eine technische Funktion der Psyche. Münsterberg macht diese Technisierung der Psyche an verschiedenen Knotenpunkten zwischen Medientechnologie und Geist deutlich. Zunächst einmal rückt er die dimensionale Wahrnehmungstäuschung in den Fokus. Denn diese wird auch durch technisches Wissen über das Medium nicht aufgelöst: Filme erscheinen dreidimensional, obgleich die Betrachtenden um deren Zweidimensionalität wissen.115 Seine psychologische Studie hat ihren Ursprung also in der Frage, wieso die menschliche Psyche, die um die Statik und die Flächenhaftigkeit der Photographie weiß, das bewegte Bild präsentiert, ohne diese Illusion zu korrigieren. Münsterberg kommt zu dem Schluss, dass unser Geist in Verbindung mit den positiven Nachbildern den Film als sukzessives Material erkennt – in seinen Augen ist die filmische Wahrnehmung also eine suggestive physisch-psychologische Konstruktion.116 Die physiologische Trägheit des Sehens, welche in der Nervenleitungsgeschwindigkeit durch Helmholtz festgehalten wurde, hält Münsterberg als Grund für diese suggestive Bildvernetzung der Psyche fest.117 Denn visuelle Täuschungen, Lücken und Überlieferungsfehler stellen die Grundlage des filmischen Effekts dar; so konstituiert sich etwa seine Dynamik aus der Kette wechselnder Photographien, die nicht einzeln, sondern als sukzessive Bewegung verarbeitet werden. Die Schnitt-, Aufbau- und Narrationstechnik des Films macht sich die physiologische Abhängigkeit der Zuschauer:innen zu Nutze, denn gerade die zeitliche Kontrolle wirkt sich auf deren geistige Bildinformationsverarbeitung aus. Nicht Bild für Bild, sondern der gesamte Film wirkt als Exponat, weshalb er nach seiner Ausstrahlung auch als Einheit verstanden wird.118 Die filmtechnische Organisation der physiologischen Wahrnehmung entspricht damit einer Kette von Bildeindrücken, die sinnesphysiologisch nur als Ganzes bewertet werden können. Nach den lessing’schen Paragone-Kategorien wäre die Sukzessivität so ein Argument der Literatur wie auch des Films. Die Naturwissenschaften erproben im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Fähigkeiten der physiologischen Sinne, auf welche das illusionistische Medium Film exakt Antwort zu geben scheint. Dass das bewegte Bild als wissenschaftliche Aufzeichnungsmethode von Wahrnehmungsstudien verstanden werden kann und auch in diesen eingesetzt wird, um die visuelle Perzeption weiter zu erforschen, bindet den Film an die Physiologie und Psychologie wie kein anderes Medium. Diese Medientechnologie erhält dadurch einen modernen, naturwissenschaftlichen Stellenwert und wird folglich auch als Mittel zur Wissenserschließung eingesetzt. Münsterberg versucht nun eine Auslagerung der psychischen Vorstellungskraft anhand der technischen Abbildungsmethoden nachzuweisen. Dass der Film die Vorstellungskraft der Zuschauer:innen durch sein räumlich

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Vgl. Münsterberg, Hugo: The Photoplay (1916), S. 46. Vgl. ebd., S. 58-64. Das Phi-Phänomen stellte sich in der neueren Forschung als ausschlaggebend für dieses Phänomen heraus. Dabei vollendet das Gehirn eine Scheinbewegung naher Objekte bzw. führt eine Bewegung zu Ende, die nicht vollständig ist. Vgl. Gregory, Richard L.: Auge und Gehirn (1998), S. 154. Vgl. Münsterberg, Hugo: The Photoplay (1916), S. 70.

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bewegtes Bild entlastet und durch seine zeitliche Bedingtheit diese Illusion hervorruft, betont Münsterberg im Photoplay:119 In short, it can act as our imagination acts. It has the mobility of our ideas which are not controlled by the physical necessity of outer events but by the psychological laws for the association of ideas. In our mind past and future become intertwined with the present. The photoplay objects the laws of the mind rather than those of the outer world.120 Als wichtigste Errungenschaft des filmischen Mediums beschreibt Münsterberg somit die Ablösung der psychischen Vorstellungskraft durch die medientechnologische Verbildlichung der Imagination. Und dies ist tatsächlich ein immenser Unterschied zur literarisch ausgelösten Einbildungskraft.121 Zwar werden bereits in der mittelhochdeutschen Literatur simultane Erzählstränge oder Multiperspektive eingesetzt,122 jedoch ist die Präsentation oder Projektion des Vorzustellenden in der gedruckten Textorganisation eher ungewöhnlich. Die auch visuell rhythmisierte lyrische Textform stellt mit Figurengedichten und der Strömung der Konkreten Poesie eine Ausnahme dar, deren visueller Spielraum meist an die Kürze der Texte gebunden ist.123 Synchron zu den Anfängen der abstrakten Kunst und dem Anstieg der öffentlichen Präsenz der Medientechnologie Film lässt sich jedoch auch eine visuell strukturierte Seitengestaltung wahrnehmen – so die These dieser Arbeit.124 Die typographischen Versuche und gestalterischen Mittel setzten sich dabei nicht zum Ziel, die Einbildungskraft der Lesenden durch konkrete Abbildungsverfahren abzulösen, wie Münsterberg es im Film zu erkennen meint. Die filmische Typographie versucht vielmehr, eine Inhalt-stützende, also ästhetische, Funktion zum Ausdruck zu bringen. Und/oder aber sie führt durch die materielle Umstrukturierung der visuellen Textmittel technisch eine aisthetische Erweiterung und Steigerung der Drucksache herbei,125 welche die visuelle Wahrnehmung der Sehenden potentiell trainieren kann. Entscheidender Unterschied ist hierbei, dass die Medientechnologie etwas Unsichtbares zum ersten Mal sichtbar macht. Schriftzeichen hingegen sind, wenn auch materiell eher marginal wahrgenommen, ohnehin schon in einer notwendig festen Form etabliert, um in erster Linie der verbalen Kommunikation zu dienen. Die typographische Erweiterung präzisiert und steigert damit den Text, sucht ihn aber nicht zu ersetzen.

Vgl. Münsterberg, Hugo: The Photoplay (1916), S. 65, S. 96 und S. 108. Ebd., S. 97. Vgl. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985), S. 315; Bubner, Rüdiger: Ästhetische Erfahrung (1989), S. 126; Assmann, Aleida: Lesen als Kippfigur (2012), S. 235-239. 122 Dies zählt Münsterberg jedoch zu einer der Neuerungen des Films. Vgl. Münsterberg, Hugo: The Photoplay (1916), S. 172. Zu vormodernen Tendenzen der Polyperspektivik: vgl. Hübner, Gert: Fokalisierung im höfischen Roman (2004). 123 Vgl. Polaschegg, Andrea: Literatur auf einen Blick (2012). 124 Vgl. Kapitel 3.2. 125 Münsterberg erwähnt, dass Künste immer schon gemischt wurden. Hierbei sei es jedoch nötig, dass auch die hybriden Formen eine Einheit in sich bilden, um den Rezipienten zufrieden zu stellen. Vgl. Münsterberg, Hugo: The Photoplay (1916), S. 183ff. 119 120 121

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Dass Münsterberg in seiner psychologischen Visualitätstheorie von bewussten und unbewussten Wirkungsmitteln ausgeht, ist für ihn nur folgerichtig mit den psychologischen Kategorien der freiwilligen und unfreiwilligen Aufmerksamkeit126 zusammenzudenken: »Our life is a great compromise between that which our voluntary attention aims at and that which the aims of the surrounding world force on our involuntary attention«.127 Auffällig ist, was sich nicht den organisierten bzw. bekannten und zu erwartenden bildlichen Codes entzieht:128 ein ungewöhnlicher Gegenstand im Theater, eine dynamische Handbewegung im Film oder auch ein typographischer Bruch in der Buchseitengestaltung: »Again, the quick action, the unusual action, the repeated action, the unexpected action, the action with strong outer effect will force itself on our mind and unbalance the mental equilibrium«.129 Das Unvorhergesehene wird zum Auffälligen. Für Münsterberg sind Wechsel und Brüche Auffälligkeiten, die den Reizreflex unserer visuellen Wahrnehmung auf sich ziehen. Daher arbeitet die Medientechnologie des Films nach ihm ausschließlich mit der unfreiwilligen Aufmerksamkeit. Dies sei, so Münsterberg, der raschen Bildfolge geschuldet: Unfreiwillige Aufmerksamkeit sei die physische Reaktion auf die visuelle Dynamik des Exponats.130 Die Intensität der Aufmerksamkeit jedoch sei nicht davon abhängig, ob sie als freiwillig oder unfreiwillig klassifiziert werden würde, denn Münsterberg beschreibt auch das lesende Versinken in einen literarischen Text als freiwillige Aufmerksamkeit, jedoch als äußerst intensiven Zustand: Die Außenwelt werde nicht mehr wahrgenommen, da der Körper von der Aufmerksamkeit in Anspruch genommen wird.131 Die freiwillige Aufmerksamkeit zeichnet sich damit durch die selbstgesteuerte physiologische Aktionsgeschwindigkeit der Betrachtenden aus. Münsterberg sieht dies im Film durch die Großaufnahme ausgedrückt, welche nach ihm den visuellen Akt der selektiven Wahrnehmung verdeutliche.132 Durch die Detailansicht wird die einsehbare Fläche reduziert und so zum physiologischen Kompromiss zwischen medientechnologischer Geschwindigkeitsvorgabe und dem Überblicken des Projizierten. Münsterberg bringt den Film wegen seiner zeitlichen Rahmung dennoch eher mit der unfreiwilligen reizreaktionären Aufmerksamkeit zusammen und statische Drucksachen mit der freiwilligen selbstgesteuerten Aufmerksamkeit.133 Münsterberg beschreibt ebenso, dass es durch die neuen technischen Optionen des Films nötig sei, ästhetische Fragen neu zu formulieren. Denn die Künste könnten, so Münsterberg, nicht mehr danach streben die Wirklichkeit nachzuahmen, nachdem eine

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Vgl. Münsterberg, Hugo: The Photoplay (1916), S. 74f. Ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 84. Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 84f. Vgl. Langer, Emilie: Die ästhetische Psychologie Hugo Münsterbergs: Laborpraxis und Filmtheorie (2016), S. 136. Die Aufmerksamkeit fungiert in beiden Fällen als notwendiges bedeutungsstiftendes Element der menschlichen Wahrnehmung, wodurch Münsterberg beide Zustände objektiv untersucht ohne eine Hierarchie aufzustellen – weder in den Aufmerksamkeitskategorien noch innerhalb der künstlerischen Gattungen. Vgl. Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel (1916), S. 51f.

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unter ihnen nun im Stande sei die psychische Imagination darzustellen.134 »The highest art may be furthest removed from reality«135 wird Münsterbergs Credo in The Photoplay (1916) und prägt damit einen neuen Anspruch an die Kunst. Folgend etabliert sich der Stummfilm gerade in Deutschland durch das Ablichten phantastischer und als expressionistisch gelesener Bildsequenzen.136 Die Abbildung psychologischer Prozesse im expressionistischen Film betont auch Matthias Uecker in Wirklichkeit und Literatur (2007): Eine künstlerisch »veredelte« Sichtbarkeit strebte dagegen der expressionistische Film an, der genuin visuelle Ausdrucksformen für bisher nur literarisch darstellbare Phantasien fand, dabei aber eben nicht »normale« Wirklichkeit abbildete, sondern tiefenpsychologische Vorgänge sichtbar zu machen suchte.137 In dem Zitat wird jedoch auch deutlich, dass der Inhalt des Darzustellenden im Gegensatz zu seiner Medientechnik nicht innovativ war, da die phantastische Literatur im 19. Jahrhundert bereits ein erfolgreiches Genre war. Münsterbergs Schlussfolgerung bleibt daher eine notwendige Reorganisation aller etablierten Künste – nicht auf inhaltlicher, sondern technischer und visuell progressiver Ebene. Es sind gerade die technischen Mittel des Films, die hierbei eine Erweiterung des künstlerischen Instrumentariums ermöglichen. Dieser Fokus auf die Produktion und Konstruktion künstlerischer Objekte folgt Münsterbergs psychotechnischen Studien, die zeigen, dass eine organisierte Produktion unter Berücksichtigung der aisthetischen Mittel die ästhetische Wirkung formt. 1922 sollte ein weiterer prominenter Versuch unternommen werden, den bildenden Künsten auf naturwissenschaftlicher Grundlage eine Empfehlung auszusprechen: Hans Prinzhorn, ein Hildesheimer Psychologe, widmet in Bildnerei der Geisteskranken: ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung 1922 ein komplettes Kapitel Gestaltungsempfehlungen für die zeitgenössischen avantgardistischen Strömungen. Prinzhorn prognostiziert einen neuen künstlerischen Wert durch die Orientierung an den Kompositions- und Formexperimenten psychisch erkrankter Menschen, die psychisch und auch in ihren Erzeugnissen keinem Durchschnitt entsprechen. Gerade die Surrealisten adaptieren daraufhin nachweislich Zeichnungen von Klinikinsass:innen – so etwa Max Ernsts figurale Adaption August Natterers Wunderhirten (1911) in Ödipus (1924/31). Während Prinzhorn das gestalterische Innovationspotential138 in den Fokus seiner Empfehlung rückt und damit versucht der Stigmatisierung und Stereotypisierung durch Cesare Lombrosos Genio e follia (1872) entgegenzuwirken, formuliert Münsterberg eine deutliche Empfehlung für die anzuwendende Technik. Genau genommen folgt er seinem eigenen Ratschlag und entwickelt eine aisthetische PsychoTechnik, eine perspektivische Kameratheorie, in The Photoplay (1916).139 Aufgrund des psychischen Eingreifens der psychotechnischen Forschung begeistert sich dennoch

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Vgl. Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel (1916), S. 137f. Ebd., S. 144. Vgl. Eisner, Lotte H./Hoffmann, Hilmar: Dämonische Leinwand (1980). Uecker, Matthias: Wirklichkeit und Literatur (2007), S. 234. Vgl., Prinzhorn, Hans: Bildnerei der Geisteskranken (1922), S. 345-349. Vgl. Steinmetz, Rüdiger: The first Film Theory (2016), S. 20.

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weniger die Filmbranche, sondern vor allem die Werbebranche für seine Thesen zur Aufmerksamkeitserhaltung und gezielten Komposition zur Blicklenkung. Die kompositorische Orientierung an Münsterbergs psychotechnischen Prinzipien ist gerade an Werbeplakaten nachweisbar.140 Die Plakate entfernen sich dabei immer mehr von ornamentalen Ausschmückungen und Jugendstil und werden gegen Ende des vorliegenden Untersuchungszeitraums immer strukturierterer und klarer aufgebaut. Die Reklamegestaltung wie auch die Werbegestaltung nahmen im Zuge der Industrialisierung zu, da die neue Menge an Produkten auch vertrieben werden musste.141 Um ihre Produkte effizient vertreten zu können, orientierten sich Unternehmer:innen an Richtiger Reklame (engl. 1925, dt. 1928), welche sich ganz explizit an der Psychotechnik Münsterbergs orientierte: Die Untersuchungsabteilung einer Reklameorganisation muß sich hauptsächlich mit dem Studium der Menschen, ihrer Hilfsmittel, ihrer Sitten und Gebräuche und ihrer Bedürfnisse befassen und kann daher gleichsam als ein psychologisches Laboratorium aufgefaßt werden.142

Abbildung 2: Ausstellungsobjekt 22 in Moholy-Nagys »Wohin geht die typografische Entwicklung?« (1929).

(Quelle: Eisele, Petra [u.a.]: Moholy-Nagy und die Neue Typografie [2019], S. 129)

140 Vgl. Münsterberg, Hugo: Grundzüge der Psychotechnik (1914), S. 422. 141 Vgl. Tipper (u.a.): Richtige Reklame (1925), S. 1f. 142 Vgl. ebd., S. 52.

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Hier geht es darum, die »Urtriebe und Instinkte« der Menschen festzustellen und ihnen durch spezifische Bildmittel entgegenzukommen: psychologisches Marketing und Wirtschaftspsychologie. Das psychotechnische Reklame- und Werbe-Verfahren stützt sich dabei auf die visuelle Interpretation von körperlicher Bedürfnissymptomatik: Die »Protzsucht«, die sich durch »Stolz, Prahlerei, Schaustellung« ausdrückt, wäre nach Tipper, Hollingworth, Hotchkiss und Parsons (Richtige Reklame, 1925) folgendermaßen zu ergründen: »Der Mensch sucht die eigene Person oder die Angehörigen zu schmücken und sich selbst, wie auch seine Angehörigen und Besitztümer in einem möglichst günstigen Licht zu zeigen«143 – hierauf könne eine Reklame für ein entsprechendes Produkt direkt eingehen. Die Funktion der Reklame ist die psychologische Bewegung zum Kauf eines Produkts. In fünf Schritten soll die Reaktion der potentiellen Käufer:innen motiviert werden: »1. Aufmerksamkeit. 2. Interesse. 3. Wunsch. 4. Überzeugung. 5. Handlung.«.144 Dabei folgt die Psychotechnik des Verkaufens in Jaederholms gleichnamigen Buch (1926) einer ganz ähnlichen Ablaufkette und beginnt mit dem Forcieren der Aufmerksamkeit,145 wobei die Reize der Käufer:innen durch die richtigen Worte und eine angenehme Sprache geweckt werden sollen. Gerade für die Gestaltung von Plakaten spielen dabei die Position, Komposition, das Layout, Schriftgröße und Wortmenge wie auch die Farbwahl eine entscheidende Rolle – dies betont auch Karl Rohwaldt in Reklamepsychologie (1927). Es wird also versucht, die zerstreute Aufmerksamkeit der Augen durch Ästhetik, Originalität, Information und Pragmatik einzufangen – und dies gestaltet sich durch die Zunahme der Plakatwerbung als äußerst schwierig. Denn gerade öffentliche Knotenpunkte wie Bahnhöfe werden mit einer Vielzahl gerahmter Werbeplakate und Reklame tapeziert. Zu diesem Zeitpunkt werden mehrere fachspezifische Anleitungen zur Konzeption von Werbung, Reklame und typographischer Gestaltung publiziert: so auch Burchartz’ Einige Thesen zur Gestaltung der Reklame (1923) oder Kurt Schwitters Merzhefte, von denen Merzheft 11 sich mit Typoreklame (1925) auseinandersetzt. Der Fokus dieser Publikationen liegt auf der Vorstellung von Reklame als wirtschaftlich lohnendem, objektiv überzeugendem und präzise kommunizierendem Mittel zum Vertrieb. Um immer präziser und schneller Informationen weitergeben zu können, werden auch Icons und Symbole ein wichtiger Bestandteil solcher Marketingstrategien. Dabei wird ihr übermäßiges Auftreten von Graphikern wie László Moholy-Nagy abgewertet,146 da hier nicht die Präzision der Information priorisiert wird, sondern der Wiedererkennungswert: die psychotechnische Wirkung.

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Tipper (u.a.): Richtige Reklame (1925), S. 69. Ebd., S. 79. Vgl. Jaederholm, Gustav Axel: Psychotechnik des Verkaufs (1926), S. 154-168. Auf dem vorhergehenden Text auf der Ausstellungstafel 20 steht: »unter dem einfluss konstruktivistischer bilder traten die exakten geometrischen lösungen in den vordergrund. statt der traditionellen stil-zielleisten kam die mode der ›blickfang-serien‹ auf. die überwucherung dieser zeichen verdeckte für viele die wahre bedeutung der neuen bestrebungen: die typografische organisation des textes. die sollte mit den mitteln: klarheit, knappheit, präzision erreicht werden. in der tat fielen aber diese balken, dicken punkte, grossen quadrate bei den meisten schöpferischen typografen fort, sobad sie erkannten, dass eine textorganisation ohne äusserlichen blickfang z.b. mit verschiedenen stärken und mit verschiedenen graden von typen funktionell durchgeführt werden kann«. Vgl. Eisele, Petra (u.a.): Moholy-Nagy und die Neue Typografie (2019), S. 124-128.

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Abbildung 3: Reihenanordnung für die Wiedererkennungs-Versuche.

(Quelle: Piorkowski, Hans: Beiträge zur experimentellen Reklame-Psychotechnik [1922], S. 356).

Die Reklame-Psychotechnik stützt sich dabei auf die Anhaltspunkte Übung und Wiederholung. Welche Formen einen hohen Wiedererkennungswert hatten, wird dabei experimentell überprüft. Abbildung 3 zeigt die Reihenanordnung für die Wiedererkennungsversuche (1922) des Logoentwurfs von Krupp/Ernemann, die nach dem Ersten Weltkrieg damit beginnen, gemeinsam Kinematographen zu produzieren. Der vermehrte Einsatz solcher Icon-Entwürfe »zum Schutze der Waren«147 war schon seit 1894 gesetzlich geregelt und nimmt mit der Zahl von Markenprodukten nach der Jahrhundertwende zu. Ein kanonischer Text, der diesen Zeichenüberfluss abdruckt, ist Berlin Alexanderplatz (1929) von Alfred Döblin. Der Roman kann als Umsetzung Döblins theoretischer Ausformulierung und Forderung eines literarischen Kinostils (An Romanautoren und ihre Kritiker, 1913) gelesen werden, indem er stilistisch und typographisch mit abrupten Aufmerksamkeitswechseln und intensiven Fokussierungen arbeitet. Dabei spiegeln die Seiten 50/51 der Erstausgabe visuelle Kommunikationsmodi in Form von Logo-Wortentsprechungen.148 Der Text visualisiert auch Einschnitte diverser perzeptiver Eindrücke durch die Platzierung von Gedankenstrichen zu Satzbeginn oder -ende. Die akkumulative Erzählstruktur versucht dabei, die sinnesphysiologische Wahrnehmung der groß147 Piorkowski, Hans: Beiträge zur experimentellen Reklame-Psychotechnik (1922), S. 351. 148 Auf Seite 110 finden sich auch mathematische Formeln. Der Roman ist zudem reich an Interpunktionen und wird deutlich durch Kapitel und Unterkapitel strukturiert. Vgl. für eine weitreichendere Analyse der Interpunktion in Berlin Alexanderplatz Stenzel, Jürgen: Zeichensetzung (1966), S. 117-130.

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städtischen Werbeflut durch Reihungen, Ellipsen und Gedankenstriche zum Ausdruck zu bringen. Letzterer übernimmt dabei eine doppelte Funktion: Der Gedankenstrich teilt und verbindet die Sätze als kurze horizontale Linie.149 In der Beschreibung des Alexanderplatzes greift dieses Schreib- und Druckverfahren äußerst eindrücklich: Destillen, Restaurationen, Obst- und Gemüsehandel, Kolonialwaren und Feinkost, Fuhrgeschäft, Dekorationsmalerei, Anfertigung von Damenkonfektion, Mehl und Mühlenfabrikate, Autogarage, Feuersozietät: Vorzug der Kleinmotorspritze ist einfache Konstruktion, leichte Bedienung, geringes Gewicht, geringer Umfang. – Deutsche Volksgenossen, nie ist ein Volk schmählicher getäuscht worden, nie wurde eine Nation schmählicher, ungerechter betrogen als das deutsche Volk. Wißt ihr noch, wie Scheidemann am 9. November 1918 von der Fensterbrüstung des Reichstags uns Frieden, Freiheit und Brot versprach? Und wie hat man das Versprechen gehalten! – Kanalisationsartikel, Fensterreinigungsgesellschaft, Schlaf ist Medizin, Steiners Paradiesbett. – Buchhandlung, die Bibliothek des modernen Menschen, unsere Gesamtausgaben führender Dichter und Denker setzen sich zusammen zur Bibliothek des modernen Menschen.150 Auch Petra Jagesberger untersucht die Werbung als literarische[n] Gegenstand (1998) in Berlin Alexanderplatz151 auf stilistische und typographische Mittel. Und Winfried Nöth beschreibt dieses Verhältnis von Werbung und Literatur gar als ein paragonales152 – ein Nebeneinander. Denn gerade das reihende Schreibverfahren ist es, das den Überfluss der sinnlichen Eindrücke verdeutlicht.153 An diesem visuellen Überangebot von Werbung und Reklame lässt sich ablesen, dass die zweidimensionale Gestaltung von einem ungemeinen Erflog der visuellen Kaufmotivation ausgeht. Dabei ist nicht die visuelle Gestaltung das neue Mittel, sondern das Lenken der Aufmerksamkeit durch Komposition und Bildmittel. Bilder und Ikons übernehmen mit der Zeit semantischen Inhalt, der wie in Abb. 3 an konkrete Unternehmen gebunden wird. Die Kompositionen werden gezielter ausgerichtet, sodass der Bildaufbau den betrachtenden Blick auf das Produkt lenkt. Während die selektive Blickführung des Film mit seiner Dynamik auf sinnesphysiologische Vorgaben des Sehapparats antwortet, streben die Werbeplakate, Logos und Reklamen mittels Psychotechnik eine ähnliche Wirkung an: Sie versuchen, den Blick der potentiellen Konsument:innen durch Aufbau und Struktur zu binden. Durch die medientechnologische Steigerung visueller Kompetenzen und Kapazitäten, der qualitativen Erweiterung visueller Fertigkeit, wird auch die Option des schnelleren perzeptiven Decodierens einprägsamer Symbole, Formen und Ikons möglich.

149 Für einen kulturgeschichtlichen Zugang zur Linie vgl. Ingold, Tim: Eine kurze Geschichte der Linien (2015). 150 Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz (1929), S. 136. 151 Vgl. Jagesberger, Petra: Werbung als literarischer Gegenstand (1998), S. 61-76. Für eine theoretische Annäherung: Baumgarten, Dominik: Ästhetische Transfers zwischen Literatur und Werbung (2013), S. 3-125. 152 Vgl. Nöth, Winfried: Werbung und die Künste (2010), S. 163f. 153 Zur Analyse der Interpunktion vgl. Stenzel, Jürgen: Zeichensetzung (1966), S. 117-130.

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Der Ausgangspunkt dieser Kalkulation ist »die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der nervösen Erregung [, welche] den beträchtlichen Wert von 30 bis 50 Meter pro Sekunde [hat]«.154 Der Richtwert 30 bis 50 Meter pro Sekunde beschreibt hierbei die Spannweite der Lernfähigkeit der Geschwindigkeit bzw. die unterschiedlichen Grade der perzeptiven Fertigkeit oder Kompetenz. Aus dieser Messung resultiert das Trennen von Physis und Psyche im Rezeptionsprozess155 – es wird angenommen, dass eine schnellere, präzisere Information ohne längeren Verarbeitungsprozess zur Psyche durchdringt. Die Annahme dahinter ist, dass die visuelle Informationsverarbeitung die klar strukturierte Mitteilung bereits in den Ganglienzellen der Retina decodieren kann. Dieser Hypothese, welche durch die Psychotechnik teils bestätigt wird, entspringt die Umstrukturierung visueller Werbestrategien. Zudem wird diese Trennung zeitgenössisch keinesfalls negativ bewertet, sondern ganz im Gegenteil: Das Quantifizieren und Berechnen der Menschen wird durch die empirische und positivistische Forschungsperspektive des 19. Jahrhunderts gerechtfertigt, da kulturell bedingte Wahrnehmungscodes in psychotechnischen Experimenten ignoriert werden. Die Neutralität der Psychotechnik, die aus ihrer Orientierung am Durchschnitt hervorgeht, hat dabei zwei Seiten: Einerseits ist sie äußerst inklusiv und andererseits kann sie daher politisch schnell nutzbar gemacht werden.156 Denn Der montierte Mensch (Bernd Stiegler, 2016) wird Ausgangspunkt gestalterischer wie künstlerischer Kalkulationsprozesse, die den psychologischen Einfluss durch Rezeption erproben und nutzen. Das bedeutet auch das Zurücktreten des individuellen Menschen hinter seiner »Zweckrationalität«157 für eine uneingeschränkte Effizienz im Sinne der Psychotechnik. Eine weitere Schlussfolgerung zum montierbaren Menschen ist die Einordnung der »Apperzeptionsvorgänge unter das Schema des Reflexes«.158 Anhand dieser These entwickelt Münsterberg eine direkte Abbildungs- und Beobachtungsoption für psychophysische Prozesse.159 Diese Ansätze zum Verständnis physischer Reflexe als psychische Symptome werden auch in der Leseforschung mithilfe von Eye-Tracking weiterhin verfolgt. Die Grundvoraussetzung solcher Studien ist, dass ein sinnesphysiologischer Ausdruck mit psychologischen Prozessen gekoppelt wird. Das Betrachten einer Form, rein visuelle Wahrnehmung, geht aber nicht notwendigerweise mit einem Reflexionsprozess einher. Aus diesem Grund sollen an dieser Stelle zwei Aspekte der referierten naturwissenschaftlichen Studien betont werden: Einerseits gehen die sinnesphysiologischen Versuche von Helmholtz, Wundt und Münsterberg mit dem Anspruch der »optischen Neutralität«, oder auch zerstreuten Beobachtung, einher.160 Dies ist eine Ausrichtung, die sich nicht auf einen erfolgreichen semantischen Leseprozess bezieht, Lück, Helmut E./Guski-Leinwand, Susanne: Sinnesphysiologische Forschung und Psychophysik (2014), S. 51. 155 Vgl. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters (1990), S. 104. 156 Stiegler, Bernd: Der montierte Mensch (2016), S. 42. 157 Ebd., S. 9. 158 Franke, Sophie: Hugo Münsterberg (2016), S. 77. 159 Hierbei ist erwähnenswert, dass »willkürliche Vorstellungsverbindungen« wie »vergleichende, beurteilende, auswählende, trennende und zusammenfassende Funktion[en]« dem Bewusstsein zugeordnet werden, zu dem es, nach Münsterberg, kein physisches Substrat gibt. Vgl. ebd., S. 78. 160 Vgl. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters (1990), S. 101f. 154

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sondern auf die Optimierung der Beobachtung als spezifische Technik des Sehens. Die Differenzierung von Semantik und Gestalt des Wahrgenommenen ist damit ausgesprochenes Ziel dieser Wahrnehmungskoordination, die zu einer unmittelbaren Form- und Bewegungserkennung führen soll. Andererseits soll das sinnesphysiologische Sehen in automatische Induktionsschlüsse münden, die mittels kognitiver Verarbeitung physische und/oder psychische Reaktionen zur Folge haben können. Das, was Wundt also mit seiner Instandsetzung des zerstreuten Beobachtens beginnt, stellt den Auftakt für einen angenommenen Direktweg zwischen visuellem Sinn und Psyche dar. Gerade diesen Reflexen und der automatischen psychischen Reaktion und Deutung wird dabei eine Bedeutung zugeschrieben. Die Augen folgen der Veränderung, dem Wechsel und dem Auffälligen, weil davon ausgegangen wird, dass eine Veränderung, ein Wechsel oder eine Auffälligkeit bedeutungsträchtig ist. Dabei ist irrelevant, ob der Ursprung dieser Annahme rückbindend an instinktive Reizreaktionen ist, denn allein durch die Annahme, dass Brüche und Markierungen gehaltträchtig sind, werden sie es in der Rezeption auch. Die visuelle Kommunikation des Bruchs, der Lücke, des Wechsels161 greift im medialen Material als Negativzeichen: im Film, im Design und in der Literatur.162 Die Durchschnittswerte, die oft als Ergebnis eines wahrnehmungspsychologischen Experiments festgehalten werden, verdeutlichen hierbei den normalistischen Forschungsansatz, der weniger auf individuelle Abweichungen und mehr auf eine Wertorientierung ausgelegt ist. Dabei potenziert sich diese durchschnittliche Evaluierungsgrundlage in der Psychotechnik Münsterbergs.163 Die Aufstellung von Eignungstest für industrielle Arbeiter oder sein 1912 entwickelter Fahrsimulator164 zum Führerscheinunterricht gehen ebenfalls von durchschnittlichen Fertigkeiten der Proband:innen und Schüler:innen aus. Und diese Durchschnittswerte ermöglichen durch ihre klaren Grenzen und Zielsetzungen eine Steigerung. Diese Ansätze sind für die Untersuchung von aisthetischen Experimenten in der Literatur deswegen interessant, weil ihre distribuierte Durchführung, die Rezeption im Leseprozess, gerade nicht gemessen werden kann, der:die Autor:in im Schreibprozess aber von einem quantifizierbaren Durchschnittswert der visuellen Wahrnehmung ausgehen muss, um materielle Aisthetik nicht als zweckloses Mittel seiner stilistischen Ästhetik einzusetzen.165 Bereits die 161

Hoffstaedter hält bereits in den 1980ern fest, dass »[poetische Textverarbeitung] insbesondere dann zustande [kommt], wenn Leser auf Texteigenschaften stoßen, die sie als auffallend oder ungewöhnlich empfinden. Zu einer poetischen Verarbeitung kommt es, wenn diese Eigenschaften als beabsichtigt eingeschätzt werden und als ein ästhetisches Spiel mit Sprache und/oder als bedeutungstragend ernst genommen werden«. Hoffstaedter, Petra: Poetizität aus der Sicht des Lesers (1986), S. 187. Weiter verweist die Autorin darauf, dass in ihrer empirischen Studie vornehmlich auf semantische Abweichungen reagiert wurde (ebd., S. 187f.). Es lässt sich an dieser Stelle nicht empirisch untersuchen aus welchen Gründen visuelle Gestaltung und Formvarianz nicht als ähnlich intendierte Abweichung verstanden werden. Dabei konnte keine Form von semantischem Training und Fähigkeitssteigerung durch eine poetische Sprache bewiesen werden. Vgl. ebd., S. 206f. 162 Bei auditiven Medien greift das Zeichen der Stille als Negativzeichen. 163 Vgl. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit (1999), S. 22. 164 Vgl. Langer, Emilie: Die ästhetische Psychologie Hugo Münsterbergs: Laborpraxis und Filmtheorie (2016), S. 107. 165 Die russischen Formalisten gingen beispielsweise davon aus, dass ein Text bestimmte »Wahrnehmungseffekte« im Leser auslösen möchte. Vgl. Ehlers, Klaar-Hinrichs: Das dynamische System

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Verwendung typographischer Mittel aus ihrer ästhetischen Funktion als visuelle Präzision der schriftlichen Aussage heraus, verweist auf die Kalkulation durchschnittlicher sinnesphysiologischer Wirkungsprozesse aus produktionsorientierter Perspektive. Eine solche kalkulierende Textkonzeption ist dabei nicht auf eine offene »Wirkungsästhetik«166 ausgelegt. Denn anhand der technischen Textproduktion wird eine materialbezogene Analyse möglich, die ähnlich wie die Naturwissenschaften von einem Durchschnitt ausgehen muss, um den Möglichkeitsspielraum einer Drucksache auszuarbeiten. Das technische und objektive Verständnis des Menschen eröffnet damit das technische und objektive Erstellen visueller Kommunikationswege. Eine Umfunktionierung der Kulturtechniken des Schreibens und Lesens167 auf die materielle Dimension einer Drucksache ist das Ergebnis dieser Auseinandersetzung: eine Technik des Sehens. Das unausgesprochene Versprechen des Wirkungserfolgs psychotechnischer Mittel führt zu Experimenten in Filmtechnik und -kunst, die Münsterbergs psychoästhetische Theorie anwenden.168 Das Ziel ist dabei eine visuelle Kommunikation, eine rein »bildliche mitteilung in einem kommunikativen prozeß«.169 Das bedeutet für die ästhetische Botschaft170 der Typographie, dass ihr durch ihre bildliche Betrachtung in den Naturwissenschaften ein autonomer Materialwert zugesprochen wird: Sie hat nun auch ohne explizite Referenz eine aisthetische Qualität. Eine solche selbstreferenzielle Typographie wird dadurch nicht nur ästhetisches, sondern auch aisthetisches Mittel. Münsterbergs Forderung nach einer »neuartige[n] Literatur für die Leinwand«171 wird hierdurch in der aisthetischen Dimension von Texten, ja Drucksachen, ausgeführt – die Drucksachen der literarischen Moderne werden auf diese Weise als Verlängerung psychotechnischer Versuche lesbar.

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(1992), S. 74. Die Gewöhnung an eine bestimmte Form wird hier jedoch als Automatismus negativ bewertet. Steinmetz, Rüdiger: The first Film Theory (2016), S. 28. Bei einem Kunstwerk betont Münsterberg auch die notwendige (Selbst-)Isolation der Betrachter:in für den Effekt des vollkommenen Eindrucks. Hiermit ist auch gemeint, dass außenstehende Bezüge, wie beispielsweise naturwissenschaftliche Hintergründe des Mediums Films nicht in die Rezeption einfließen sollen. Isolation steht hier also für eine Loslösung von äußeren Einflüssen, um die Konzentration auf das jeweilige Kunstwerk auszurichten. Vgl. ebd., S. 28f. Vgl. Langer, Emilie: Die ästhetische Psychologie Hugo Münsterbergs: Laborpraxis und Filmtheorie (2016), S. 116. Lissitzky, El: Typographische Tatsachen (1925), S. 152. Vgl. auch Steinmetz, Rüdiger: The first Film Theory (2016), S. 26. Aicher, Otl: visuelle kommunikation (1989), S. 8. Vgl. Eco, Umberto: Die ästhetische Botschaft (1982), S. 405. Eco nennt die Selbstreferenz auch Autoreflexivität. Weiter betont er, dass »[i]n der ästhetischen Botschaft [.] auch die Ausdruckssubstanz eine Form [bekommt]«, was hier auf den konkreten Fall der Typographie angewendet werden kann, auch wenn Eco sich hier vornehmlich auf Laute bezieht (ebd., S. 407). Vgl. Langer, Emilie: Die ästhetische Psychologie Hugo Münsterbergs (2016), S. 129.

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

Psychotechnische Theorien begründen sich durch zweckorientierte Funktionen und sind auf Effizienz ausgelegt. Implizit tragen sie also immer eine Steigerungsoption von Mensch und Medium mit sich.1 Dieser Steigerungsgedanke etabliert sich rasch als zeitgenössischer Diskurs. Um die technische Erweiterung der Schrift- und Textgestaltung anhand typographischer »Innovation und Invention«2 zu untersuchen, sind zunächst konkrete Kriterien von Nöten. Hierbei ist die Frage nach den Mitteln einer materiell erweiterten Poetizität zentral. Während Typographie in ihrer ästhetischen Funktion den semantischen Gehalt eines Textes komplementiert, erweitert und steigert sie als literarische Technik die Drucksache auch ohne explizite semantische Referenzpunkte im Text. Die Typographie trägt dabei eine autonome Bedeutungsdimension, die nicht an die Textsemantik gebunden sein muss – sie stellt die aisthetische Dimension von Text aus. Folgend wird ein theoretisches Analysemodell erarbeitet, das für die Untersuchung aisthetischer Mittel nützlich ist. Es distanziert sich von der rezeptiven Wirkung eines visuellen Reizes und konzentriert sich mit einer produktionsorientierten Perspektive auf die Gestaltung der Texte. Dabei wird deren aisthetische Dimension in den Vordergrund gerückt, ohne die hermeneutische Lesart auszugrenzen. Wenn davon ausgegangen wird, dass sich aus naturwissenschaftlichem Wissen theoretische Einblicke in die visuelle Wahrnehmungskoordination ableiten lassen, kann eine Analysemethode angewandt werden, die Texte auf signal-motivierte Leitlinien untersucht. Das vorgeschlagene Modell kann dabei helfen, die räumliche und zeitliche Koordination des gedruckten Textes zu decodieren und auf seine visuelle Technik hin zu untersuchen. Untersuchungsgegenstand einer solchen Analyse stellt die Textbildlichkeit bzw. das Raster eines gedruckten Textes dar.3 Denn neben den naturwissenschaftlichen Experimenten zur Wissensaneignung über die visuelle Wahrnehmung wird auch 1 2 3

Vgl. Langer, Emilie: Die ästhetische Psychologie Hugo Münsterbergs (2016), S. 125 u. 127. Kleinschmidt, Erich: Literatur als Experiment (2001), S. 4. Mit Monika Schmitz-Emans Begriff der Textbildlichkeit wird hier eine terminologische Präzisierung vorgenommen, die sich von Sybille Krämers und Rainer Totzkes Schriftbildlichkeit abgegrenzt (Vgl. Krämer, Sybille/Totzke, Rainer: Einleitung. Was bedeutet ›Schriftbildlichkeit‹? [2012]). Textbildlichkeit meint die bildlich-visuelle Erscheinung von Drucksachen. Textbildlichkeit trifft damit die medienästhetische und drucktechnische Spezifikation von Texten als Drucksachen. Vgl. Schmitz-Emans,

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in literarischen Texten in Folge der Sprachkrise, also der Entfremdungserfahrungen sprachlicher Abstraktheit, das Vertrauen in die Sinne gestärkt – und damit auch in die Sehkraft; denn die Unzuverlässigkeit der Sprache steht nunmehr der sinnlichen Präzision gegenüber. So wird eine Poetologie, die die aisthetische Dimensionen miteinbezieht, vorbereitet. Prominentes Beispiel hierfür ist Hugo von Hofmannsthals fiktiver Brief des Lord Chandos an Francis Bacon, Ein Brief (1902). Auf dieser Grundlage liefert die sinnesphysiologische Wahrnehmung eines Textes ersichtliche und strukturierte Informationen über das materielle System seiner Ordnung. Bemerkenswert ist daran, dass diese bildlich-visuelle Lesart von Texten simultan zu den Konzeptionsstrategien in der bildenden Kunst abläuft. Denn in der Kunst wie im Text werden um 1900 vermehrt experimentelle Verfahren erprobt, die das »[b]ildhaft[e] und sprachlich[e] Konzept«4 der Drucksachen in zwei Dimensionen aufteilen: Ästhetik und Aisthetik. Jens Woelke konkretisiert ein solches Informationsangebot wie folgt: Im Arbeitsgedächtnis wird nicht nur ein bildhaftes oder sprachliches Modell von Bild-, Text- oder Tonkandidaten erstellt. Vor dem Hintergrund des konzeptuellen Vorwissens wird diese Interpretationsalternative simultan in weitergehenden Inferenzprozessen […] bearbeitet. Die als Schlussfolgerung abgeleiteten Konzepte (= konzeptuelles Wissen) können räumlich oder sprachlich organisiert sein: Im ersten Fall spricht man von einem bildhaften Konzept bzw. einer wahrnehmungsmäßigen Repräsentation.5 Das konzeptuelle Arbeiten löst sich also von den etablierten Kommunikationsformen einer Gattung, um ein prozessuales Rezipieren auslösen zu können. Diese Steigerung kommunikativer Akte durch Medien hängt eng mit einem konstruktivistischen Weltverständnis zusammen und konkretisiert sich ausgehend von etablierten und traditionellen Gattungen, zielt jedoch auf eine Erweiterung bisheriger Verfahrens-, Strategie- und Rezeptionsmechanismen ab. Für einen solchen Umgang mit Texten werden besonders etablierte typographische Strukturen relevant. Das typographische Dispositiv6 einer Gattung beschreibt dieses visuell vermittelte Wissen über die jeweilige Textart durch ihre Druckgestalt. Es verdeutlicht, dass die materielle Einprägung bestimmter Genreformen, die sich über einen unbestimmten Zeitraum vollzieht, rein optisch in der Lage ist, über die vorliegende Gattung zu informieren. Dabei handelt es sich um eine Gewöhnungs- und Gewohnheitspraxis, die nur durch die Konfrontation der Betrachtenden mit verschiedenen Texten eingeübt werden kann.7 Der sich hieraus ergebende typographische Standard ist jedoch

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Monika: Textbildlichkeit (2019), S. 61f. Zur Terminologie der Drucksache: Hahn, Torsten: Drucksache (2019). Woelke, Jens: Kanalspezifika (2014), S. 63. Ebd. Insofern es eine geregelte Setzung einer Gattung gibt, so hat sich diese über Jahre etabliert, um durch ihre materielle Form den Leser:innen den Zugang durch eine angemessene Lesetypographie zu erleichtern. Vgl. Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 14. In theoretischen Arbeiten zur typographischen Praxis wird dieser Punkt immer wieder angesprochen, jedoch so gut wie nie wissenschaftlich belegt. Ausnahmen sind Filek, Jan: Read/ability. Typografie und Lesbarkeit (2013) und Voelker, Ulysses: read + play (2015).

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

lediglich eine normierte Orientierung, ähnlich wie der Durchschnittswert einer naturwissenschaftlichen Messung. Das bedeutet jedoch gleichzeitig, dass sich die Richtlinien der Angemessenheit8 einer bestimmten Textbild-Rhetorik nach den etablierten typographischen Dispositiven ausrichten. Hybride oder experimentelle Textformen versuchen weniger, einer solchen typographischen Rhetorik gerecht zu werden. Die immanente Erweiterung durch typographische Mittel ist dabei kein Einzelfall,9 sie lässt sich jedoch nur an Einzelfällen untersuchen,10 da sich die Bedeutungsebene der eingesetzten gedruckten Formsprache meist nur auf singuläre Texte konzentriert.11 Die in regelmäßigen Abständen auftauchende Erweiterung der Schriftlaufbreite, also der Buchstabensperrung, in Zwischen Himmel und Erde (1913) repräsentiert beispielsweise typographisch den Text der Zwischentitel des kinematographischen Spiels, während die Kursive in Blut und Zelluloid intramediale Textmarkierungen darstellt, wie die Beschreibung einer Szene innerhalb eines Drehbuchs, das von einer der Figuren gelesen wird. Die markierende Schriftlaufbreite der Kinobuch-Texte wird in der Neuauflage von 1963 durch eine Kursive ersetzt. Typographische Mittel durchlaufen demnach auch einen diachronen Entwicklungs- und Anpassungsprozess. Kursive wie auch Sperrung können so beide die räumliche Erweiterung eines Textes markieren, während die konkrete Gestalt dieses Raums nicht vorgegeben ist. Denn gerade im Ausbau der Möglichkeiten eines Textes werden »Prozesse der Formierung zum beweglichen Strukturprinzip«,12 was zwar nicht die Anzahl gestalterischer Mittel erhöht, jedoch ihre Funktionen und Ausrichtungen innerhalb des Seitenraums vervielfacht. Auch Bruch- und Wechselstrategien zur Bindung der Aufmerksamkeit werden auf diese Weise umgesetzt. Die erwähnte Erweiterung des textuellen Raums spielt sich auf makro- und mikrotypographischer Ebene ab, bezieht sich also auf die verschiedenen Elemente des Layouts: »Hier werden gestalterische Weichen gestellt im Hinblick auf Proportionen, Kontraste und das Spannungsverhältnis zwischen bedruckter und unbedruckter Fläche«.13 Jede Seitengestaltung orientiert sich an einem solchen makrotypographischen Raster. Eventuelle Regelmäßigkeiten oder Ausnahmen, beispielsweise Abweichungen von einem typographischen Dispositiv, können zudem durch die Musterung dieses Rasters extrahiert werden.14 Naturwissenschaftliches und textuelles Experimentieren können in den Gradwanderungen um diese Gesetzmäßigkeiten dabei helfen, sie zu stabilisieren, auch wäh8 9

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Ein früher expliziter Bezug auf Gestaltungsrichtlinien findet sich 1870 bei Christopher Dresser Vgl. Dresser, Christopher: Prinzipien dekorativer Gestaltung (1870), S. 28. Dass es Adaptionen oder Anleihen nicht nur auf intra-, sondern auch intertextueller Ebene und Form geben mag, wird hier theoretisch nicht ausgeschlossen, bildet jedoch nicht den vorliegenden Untersuchungsgegenstand. Gerade die Singularität der Textbeispiele führt die Vielfältigkeit des Phänomens auf. In der Semiotik findet sich dieses Problem in der »offenen« Logik der Signifikanten wieder, die ausschlaggebend dafür sind, »daß die ästhetische Botschaft sich in Bezug auf den Code zweideutig strukturiert und ständig ihre Denotationen in Konnotationen verwandelt«. Dies führt dazu, dass fortlaufend andere Codes zu ihrer Entschlüsselung verwendet werden (Vgl. Eco, Umberto: Die ästhetische Botschaft [1982], S. 421). Lemke, Anja: Philologisch-philosophische Arabesken (2020), S. 184. Voelker, Ulysses: read+play (2015), S. 95. Ein wiedererkanntes Muster suggeriert eine andere Form von Statik, in der die betrachtende Person nicht die einzelnen Details eines Kunstwerks nach und nach abtastet, sondern in der bereits

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rend gezielt Unregelmäßigkeiten erprobt werden. Wenn also Plumm-Pascha (1913), Else Lasker-Schülers Morgenländische Komödie, ein ungefähr dreiseitiger Fließtext mit lediglich fünf Absätzen ist, so entsteht in diesem makrotypographischen Raster der Seitenarchitektur das Textbild einer einheitlichen Erzählung. Auch das vorangestellte Personenverzeichnis bricht nicht mit diesem Eindruck, sondern stellt eine heterogene Kombination zweier typographischer Dispositive aus: das Drama und die Erzählung. Der Text Zwischen Himmel und Erde (1913), aus derselben Sammelpublikation wie Plumm-Pascha (1913) stammend, präsentiert sich absolut gegensätzlich als homogene Komposition verschiedener typographischer Dispositive, die des Dramas und jenes der Erzählung eingeschlossen. Beide Varianten gestalteter Textbildlichkeit sind auf die visuelle Interpretation des Layouts einer Gattung zurückzuführen und arbeiten mit bereits etablierten visuellen Zuordnungsmechanismen. Die Wahl des verwendeten Layouts eines Textes ist dementsprechend äußerst aufschlussreich für die Erschließung produktionsorientierter Absichten: Wer wählt welches typographische Dispositiv?15 Welches Textbild transportiert welchen Inhalt? Und welche visuellen Mittel werden hierbei gezielt als Erweiterung des literarischen Möglichkeitsraums nutzbar gemacht? Anhand dieser strukturell typographischen Gattungserweiterungen können hybride Dynamiken des Materials, und damit auch des jeweiligen Textes, festgehalten werden. Während makrotypographische Strukturen eines Textes sich hierbei direkt auf dessen interpretative Einordnung in ein typographisches Dispositiv auswirken, werden mikrotypographische Markierungen vornehmlich als eigene kommunikative Elemente verstanden,16 die akzentuiert formale Sprechakte des Narrativs vermitteln. Dies bedeutet, dass einige mikrotypographische Zeichen mit einem festen semantischen Gehalt verknüpft werden. Eine Entsprechung von typographischem Zeichen und semantischer Bedeutung ist damit, sofern das Zeichen nicht umcodiert wird, innerhalb eines bestimmten Zeitraums transtextuell einsetzbar. Typographische Zeichen werden so verwendbar wie Buchstaben. Ein Beispiel hierfür wäre das verstärkte Aufkommen des Gedankenstrichs und der Punktfolge in Texten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts.17 Gestaltende

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bekannten Form wiedererkennt. Vgl. 2.2 und Schnitzler, Andreas: Der Wettstreit der Künste (2007), S. 24. Die Entscheidung über die typographischen Rahmenbedingungen wie Schriftart und Layout sind dabei von der Publikation abhängig. Sammlungen wie das Kinobuch (1913/14) werden von der:dem Herausgeber:in, in dem Fall Kurt Pinthus, und der:dem Typographen:in und/oder der:dem Drucker:in konzipiert. Die Textbildlichkeit der Beiträge im Kinobuch bewegen sich innerhalb dieser Vorgaben. Bei Monographien wie Heinrich Eduard Jacobs Blut und Zelluloid (1929) arbeitet der:die Autor:in direkt mit den Gebrauchsgraphiker:innen zusammen, sodass das intendierte Textbild umgesetzt werden kann. Die Relevanz der aisthetischen Gestaltungsmittel der Drucksache ist dabei meist der Entscheidung der Autor:innen überlassen. Die Gebrauchsgraphiker:innen setzten die vorliegend untersuchten Gestaltungsmittel des Wirkraums, der Seitenarchitektur, der Kursive oder Satzzeichen nicht in Eigeninitiative. Bei Publikationen, die sich als Künstlerbuch verstehen oder die eine Zusammenarbeit mit einem:r Gebrauchsgraphiker:in explizit ausweisen, verhält es sich anders. Keine der hier untersuchten Drucksachen fällt jedoch in diese Buchkategorie. Vgl. Bredel, Ursula: Die Interpunktion des Deutschen (2008), S. 211-220. Vgl. Bay, Hansjörg: Die Punkte der Marquise (2017), Michelsen, Martina: Weg vom Wort (1993) und Stenzel, Jürgen: Zeichensetzung (1966).

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

Mikrotypographie behandelt vornehmlich Aspekte der Schriftart, wozu auch das Optimieren der Lesbarkeit des Layouts zählt,18 jedoch ist Lesbarkeit lediglich ein Kriterium der ästhetischen Funktion von Typographie. Satzzeichen und einige mikrotypographische Interpunktionen wie …, – oder () sind dennoch in der Lage, die makrotypographische Architektur der Seite zu beeinflussen, wodurch sie für die Erweiterung des Möglichkeitsraums an Bedeutung gewinnen und literarischen Gehalt vermitteln können. Mikrotypographische Elemente, die als literarische Technik verstanden werden können, sollten den Möglichkeitsraum eines Textes zu diesem Zweck erweitern, anstatt ausschließlich seinen Inhalt zu komplementieren. »Sie verstand nichts von Politik, aber sie ahnte gefühlsmäßig, daß jener als skeptischer Konservativer einiges für das neue Italien, das ›Italien der Ordnung‹ übrig hatte …«,19 regt hier beispielsweise als auslaufender Satz aus Blut und Zelluloid (1929), den Möglichkeitsraum der Erzählung, ähnlich wie ein Wirkraum, an. Diese produktionsorientierte Perspektive ist für die vorliegende Untersuchung äußerst aufschlussreich, weil hier mit einem wissenspoetologischen Ansatz gearbeitet wird.20 Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Sehen und Lesen von Literatur in den vorliegenden Textanalysen an ein schriftliches System gebunden sind und die visuelle Gestaltung der bedruckten Seite als tragende Komponente des Literarischen fungiert, untersucht das Analysemodell dessen visuelle und materielle Gestalt, die im Zusammenhang mit einer konkreten Funktion21 konzipiert wird. Diese Annahme gibt vor, dass nicht die drucktechnische Entwicklung der Typographie im Vordergrund der Untersuchung steht, sondern die Veränderung ihrer Funktionen,22 welche durch das Kunstwerden der Medientechnologie Film erweitert werden.23 Die Beobachtung Paul Valérys, dass ein gestaltetes Buch in »zwei ästhetische[n] Modi«, der »überblickshafte[n] Oberflächenlek-

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Vgl. Voelker, Ulysses: read+play (2015), S. 95. Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 302. Da bisher weder Lese- noch Poetizitätsforschung das Fehlen einer psychischen Einsicht überwinden konnten, scheint eine wirkungsästhetische Untersuchung mit dem daraus resultierenden Multipluralismus nicht zielführend. Zum Verarbeiten eines Textes und das Entwickeln eines poetischen Empfindens Hoffstaedter, Petra: Poetizität auf der Sicht des Lesers (1986). Hoffstaedter arbeitet in ihrer Studie rezeptionsorientiert sie stellte dementsprechend eine hohe Varianz im Verstehen eines Textes fest, bemerkt aber dennoch, dass alle Proband:innen die Text anhand ihres typographischen Dispositivs zuordnen. Gerade weil von unterschiedlichen Strukturen im wissenschaftlichen und literarischen Text gesprochen werden kann, ist durchaus die Frage nach der angewandten Methodik und Funktion des Kommunikationssystems relevant. So beispielsweise Fokkema und Ibsch: »The intertextual relations between literary texts are of a different nature than the intertextuality among scientific texts«. Fokkema, Douwe/Ibsch, Elrud: Science and Literature (2008), S. 62. »Die historische ›Mobilität‹ der formalen Elemente, sprich: der ständige Wandel ihrer Funktionen, macht eine definitorische Fixierung von funktionalen Abgrenzungen und Positionen im sprachlichen Material der Literatur grundsätzlich unmöglich«. Ehlers, Klaas-Hinrich: Das dynamische System (1992), S. 236. Die sozio-kulturelle Relevanz der kommunikativen Textgestaltung wurde bereits ausführlich aufgezeigt. Vgl. Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 11. Dabei wird auch auf das reziproke Wechselspiel der Künste eingegangen, wobei der Einfluss von Sinnesphysiologie und Psychotechnik peripher ausgeführt wird. Vgl. ebd., S. 17.

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türe und […] schrittweis[er] Linearlektüre«,24 gelesen werden kann, spiegelt nicht nur die naturwissenschaftlich festgehaltenen Wahrnehmungsmodi der selektiven Aufmerksamkeit und zerstreuten Beobachtung, sondern verdeutlicht auch die Relevanz der notwendigen Unterscheidung von ästhetischer Funktion und literarischer Technik der Typographie. Die zu unterscheidenden Kulturtechniken, die zum Decodieren des materiellen Abdrucks dieser Funktionen hinzugezogen werden, sind das Lesen oder das Sehen eines Textes. Auf Grundlage des Analysemodells in Abbildung 4 wird das Aufzeichnen des oben geschilderten naturwissenschaftlichen Wissens auf eine literarische Technik untersucht. Es wird also davon ausgegangen, dass sich das Wahrnehmungsdispositiv nicht nur in naturwissenschaftlichen Versuchen, sondern auch im literarischen Produkt verorten lässt. Denn die literarische Drucksache verweist auf ihre Konzeption, indem die aisthetische Gestaltung zur subliminalen Interpretation eines Textes führen soll. Diese produktionsorientierte Annahme stützt sich auf das Festhalten der langsamen Nervenleitungsgeschwindigkeit durch Helmholtz und der dazugehörigen Komponente des visuellen Wahrnehmungstrainings. Die Gestaltung der untersuchten Texte wird makrotypographisch und mikrotypographisch untersucht. Hierbei stellen die Kriterien der Seitenarchitektur, der Wirkraum und die Kursive/Sperrung, die literarischen Strukturelemente der Makrotypographie dar. Unabhängig vom typographischen Dispositiv, das entscheidend für die Flächenorganisation eines Textes ist, können diese beiden aisthetischen Gestaltungsmittel zur technischen Erweiterung eines Textes eingesetzt werden – der Wirkraum als typographische Leerstelle und narratives Negativzeichen und die Kursive/Sperrung als perspektivische Wechselmarkierung. Sie liefern Anhaltspunkte für die Analyse einer konzeptionellen Seitenarchitektur und deren aisthetischen Erweiterung. Die mikrotypographischen Satzzeichen werden aufgrund ihrer Multifunktionalität textspezifisch analysiert. Als Wirkraum, im Textdesign als Weißraum benannt, wird die unbeschriebene, freie Fläche innerhalb der Seitenarchitektur verstanden. Der Wirkraum fungiert wie eine Steigerung des Spatiums: ein vergrößertes Negativzeichen. Diese entsteht durch Letternkegel, Blindmaterial,25 die Freiräume in den Text drucken und in Größe und Form, je nach Druck und Druckverfahren, variieren. Binnen- und Außenflächen oder die Seitenränder eines Drucks zählen also explizit nicht zu einem Wirkraum, da all diese unbedruckten Flächenräume dem Druckverfahren geschuldet sind. Im Wirkraum, also der freien Fläche, die bewusst als optionaler Interpretationsraum gesetzt wird, sind ausschließlich jene Elemente der Seitenarchitektur eingeschlossen, die durch den gezielten Einsatz von Blindmaterial entstehen. Beim Konstruieren der Seite werden demnach auch die freien Räume in die Setzung des Drucks miteingebaut – sie sind also nicht zufällige Leerstellen, sondern materiell komplementäre Elemente der Seitenarchitektur, die notwendig sind. Der Wirkraum prägt damit den Möglichkeitsspielraum der typographischen Gestalt einer Seite.26 Das Blindmaterial durchläuft als aktiv gestaltbares Element parallel zu 24 25 26

Spoerhase, Carlos: Linie Fläche, Raum (2016), S. 15. Vgl. Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 103-107. Vgl. ebd., S. 105.

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

Drucklettern und Typographie einen Entwicklungs- und Innovationsprozess.27 Damit werden das Blindmaterial und auch der Wirkraum gezielt konstruiert, konzipiert und gesetzt. Aus diesem Grund wird in der Typographieforschung auch die Position vertreten, dass »[d]ie meisten Informationen auf einer typischen Textseite [.] sich im leeren und nicht im gedruckten Bereich [befinden]«.28 Gerade in seinem Gegenstück des geschlossenen Textblocks wird seine Relevanz als visuelles Mittel augenfällig: Während der Fließtext eine einheitliche Szene suggeriert, symbolisiert der Wirkraum stets den Abschluss einer Sequenz – seine raum-zeitliche Dimension in der Seitenarchitektur ist auch von seiner Größe abhängig. Indem der Wirkraum als typographischer Leerraum29 gerade nicht mit kommunikativen Zeichen gefüllt ist, suggeriert er Elemente des narrativen Gehalts, die nicht verschriftlicht werden. Seine Leerstelle präsentiert einen immensen Möglichkeitsraum für die Vorstellungskraft, der divergierende Lesarten fördert. Die dadurch entstehende Markierung des Abwesenden wird anhand der Analysen in Kapitelblock 4 noch näher erläutert. Denn allein das Setzen eines Wirkraums innerhalb der geschlossenen Seitenarchitektur vermittelt visuell das gezielte Auslassen schriftlicher Kommunikation. Hierdurch findet die maximale Entgrenzung des schriftlichen Narrativs statt, da es gerade nicht durch die Fixierung von gedruckten Buchstaben gehalten wird – »Nur ein Minimum in Umfang und Zahl der Zeichen kann das Maximum ihrer Energie freisetzen«.30 Der Wirkraum repräsentiert damit das größtmögliche Aufbrechen eines Textbilds bzw. Rasters und eröffnet so eine unendliche Fülle an Möglichkeitsräumen für die unfixierten Potentiale des Textes. Er verhält sich proportional zu dem gedruckten Textkörper.31 Die Kursive/Sperrung verdeutlicht durch den Wechsel von linearer zu diagonaler Leserichtung die Perspektive der schriftlichen Organisation; also die Ausrichtung und Lage der gedruckten Lettern. Da die Kursivsetzung einer Schrift als Unterkategorie der Schriftfamilie verstanden wird,32 tritt durch ihre Setzung nicht nur eine explizit visuelle Betonung, sondern auch eine Hierarchisierung innerhalb des gedruckten Textes auf. Der Ausrichtungswechsel der Schrift von linear zu diagonal erfordert zunächst mehr Konzentration und Aufmerksamkeit als ein einheitliches Textbild, worauf bereits Wundt hinweist.33 Ist man mit dem Lesen der Kursive nicht vertraut, so wird es auf Dauer zu anstrengend für das Auge, da das Decodieren dieser Ausdrucksform, wie auch lineares Le27 28 29

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Vgl. Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 106. Eisele, Petra (u.a.): Moholy-Nagy und die Neue Typografie (2019), S. 69. Der typographische Fachbegriff des Leerraums erinnert sicherlich an Isers »Leerstellte« innerhalb seines Entwurfs einer Rezeptionsästhetik, hat jedoch einen anderen Ursprung. Hier sei also darauf verwiesen, dass die Bezeichnung des Leerraums auf den freien Lettern des Spatiums zurückgeht, der für den systematischen Aufbau eines Textes von Seiten der Druckenden stets miteinkalkuliert werden musste. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985), S. 230. Zur typographischen Proportionslehre vgl. Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 117. Vgl. Filek, Jan: Read/ability (2013), S. 164. Heutige Typografen verwenden die Kursive meist für »einzelne Wörter oder kurze Textpassagen«, da sie »im Allgemeinen als schwieriger zu lesen [gilt]« (ebd., S. 167). Zudem kann die Kursive auch als einzelne Modifizierung auftreten und sich nicht durch den gesamten Text bzw. die Seite oder Doppelseite ziehen. Dennoch scheint es erwähnenswert, dass sich diese literarische Technik auch auf wissenschaftliche Texte beziehen kann, wenn z.B. Anmerkun-

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sen einen Trainingsprozess durchlaufen muss.34 Der Wechsel in der Schriftform fordert dementsprechend, ähnlich wie die wechselnde Bildfolge des Films, die Aufmerksamkeit der Leser:innen heraus. Das zeitgenössische Verständnis des diagonal/kursiv gedruckten Buchstabens als dynamisch und der rechtwinkligen Anordnung auf der zweidimensionalen Fläche als statisch,35 vermittelt zudem den Eindruck, dass die gewohnte visuelle Lesart Zerstreuung begünstigt, während der dynamische Wechsel attentive Konzentration fordert. Dieses Verhältnis verkehrt sich, sofern ein Text überwiegend in der Kursive gedruckt wird. Eine ausgewogene Abwechslung der schriftlichen Brüche kann aus psychotechnischer Perspektive jedoch ein vorzeitiges Ermüden verhindern. Wirkraum wie auch Kursive vermitteln eine räumliche Grenzmarkierung innerhalb der Seitenarchitektur: »Sie (die Grenze) teilt den Raum in zwei disjunkte Teilräume. Ihre wichtigste Eigenschaft ist ihre Unüberschreitbarkeit«,36 was in einem materiellen Text in seiner gedruckten Form manifest wird. Zieht sich die typographische Erweiterung des Narrativs durch den gesamten Druck, so kann von einer Perspektiverweiterung im »Gesamt-Topos«37 des textuellen Raums gesprochen werden. Dieses Gestaltungsmerkmal lässt sich etwa anhand von Blut und Zelluloid (1929) näher erörtern, in dem sich der narrative Raum immer weiter entgrenzt, während im materiellen Raum klare organisierende typographische Mittel verwendet werden, um diesen zu strukturieren. Diese Schichtung des Textes auf verschiedene Erzählebenen führt zu einer Multiperspektivik, die materiell markiert wird. »Die Vermehrung der Auswahlmöglichkeiten ist das Gesetz, unter dem die Organisation des künstlerischen Textes steht«.38 Die Gestalt eines Textes kann so durchaus als literarische Technik eingesetzt werden, um mit ihrer Unterstützung die Narrative visuell und auch inhaltlich zu erweitern. In Strömungen wie dem Dadaismus wird gezielt eine Spannung zwischen der ästhetischen Funktion und der literarischen Technik von Typographie in Szene gesetzt, weswegen die rein inhaltliche Informationsvermittlung eines dadaistischen Texts nicht Zielsetzung seines Verfassens sein kann. Durch den genuinen Anspruch der Dadaist:innen, sich jeder Klassifizierung und Regelung zu verwehren, ist die Komplexität und Dynamik der Texte mit einer rein auf den Inhalt fokussierten Lesart nicht zu durchdringen. Im dichtenden Futurismus fällt im Gegensatz hierzu auf, dass die textuelle Formgestaltung explizit sinnliche Funktionen durch onomatopoetische Mittel übernehmen soll, um einen synästhetischen Effekt des Textes zu provozieren. Auf ganz andere Weise fokussiert der Symbolismus die absolute Komplementierung von ästhetischer Funktion und literarischer Technik der Typographie, indem der Möglichkeitsraum gerade durch die visuellen Grenzen der Gestaltung verkleinert wird, wenn die figurative Gestalt eines Textes seinen Inhalt spiegelt. Die ästhetische Funktion und die literarische Technik von Typographie

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gen oder auch Überschriften markiert werden. Dies kann als Anleihe literarischer Verfahren gelesen werden. Vgl. Filek, Jan: Read/ability (2013), S. 167. Vgl. Lissitzky, El: Typographische Tatsachen (1925), S. 153. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte (1970), S. 327. Ebd., S. 329. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte (1970), S. 420f.

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

werden dementsprechend zwar beide durch die visuelle Gestaltung zum Ausdruck gebracht, sind aber zwei unterschiedliche Mittel, die die Konkretisierung bzw. Abstrahierung eines Textes unterstützen. Entscheidend für den Einsatz der ästhetischen Funktion oder literarischen Technik von Typographie ist eine systematische Perspektive auf die Konzeption und Produktion eines Textes. Das folgende Schaubild fasst diese Erläuterungen zusammen. Es liest sich vertikal von oben nach unten und bildet schematisch die Analyse der aisthetischen Qualität von Drucksachen anhand eines Spektrums ab. Dabei liegt ihm die produktionsorientierte Perspektive auf das typographische Spektrum zugrunde. Die oberste horizontale Moduleinheit Naturwissenschaftliches Wissen und Visuelle Wahrnehmungskoordination zeigt die transdisziplinäre Motivation aus aufgezeichneten Experimenten und der neuen Medientechnologie Film als diskursiven Einfluss auf die Umstrukturierung der makro- und mikrotypographischen Gestaltungsmittel. Das primäre Gestaltungsmittel literarischer Texte ist ein Schriftzeichensystem. Die technologisch motivierte Renaissance der aisthetischen Schrift- und Druckdimension prägt sich hauptsächlich auf Ebene der sekundären Gestaltungsmittel aus, die dem Schriftsystem zuzuordnen sind: Wirkraum, Seitenarchitektur, Kursive und Satzzeichen. Diese Elemente stellen die Aufzeichnung der aisthetischen Umstrukturierung dar: Sie alle sind genuine Mittel zur Produktion von Drucksachen, deren Gebrauch und Funktion sich in der literarischen Moderne erweitern. Wirkräume, die vorliegend als Steigerung des Spatiums, des Umbruchs, der Leerstelle, verstanden werden, gewinnen das semiotische Gewicht eines Negativzeichens. Die Seitenarchitektur wird als Raum für Experimente mit den typographischen Dispositiven und der Blickkoordination der Betrachtenden genutzt. Die Kursive, eines der ältesten Gestaltungsmittel der geschriebenen Schrift,39 markiert vermehrt Wechsel in der Erzähldimension (– ihre drucktechnische Analogie für Frakturschriften ist die gesperrte Schriftlaufweite). Satzzeichen gewinnen gerade auch durch den zunehmenden Gebrauch von Icons und Logos einen semiotischen Wert, dessen Bedeutung von dem jeweiligen semantischen Kontext der intradiegetischen Erzählung abhängt.40 Sie stellen durch ihre Multifunktionalität als syntaktische und semiotische Gestaltungsmittel ambivalente Elemente der aisthetischen Textdimension dar, indem die Informationen des Textes an sie gebunden sind und durch sie verändert werden können: das Setzen von Punkt, Fragezeichen oder Ausrufezeichen ist keine autonome Entscheidung der Gestaltung, sondern immer an eine potentielle Veränderung der Erzählung gebunden.

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Gerade zur Kursive gibt es Studien, die belegen, dass ihre Verwendung bereits vor dem Gebrauch von Minuskeln zur Schriftgestaltung verwendet wurde. Vgl. Suerbaum, Werner: Herculanensische Lukrez-Papyri (1994); Zereteli, G.: Beispiele griechischer Kursive kurz vor der Ausbildung der Minuskel (1933). Eine literarische Theorie der Satzzeichen beginnt mit Theodor W. Adornos physiognomischen Interpretation Satzzeichen (1956). Hans-Georg Gadamer setzt sich in Poesie und Interpunktion (1961) mit den rhythmischen, also zeitlichen Aspekten der Interpunktion auseinander. Jürgen Stenzel setzt in Zeichensetzung (1966) eine erste Hermeneutik der Satzzeichen an. Die Poesie der Zeichensetzung (2012) ist eine Sammlung, die von Alexander Nebrig und Carlos Spoerhase herausgegeben wurde und stilistische Theorie wie Studien präsentiert. Auch die Studiensammlung von Helga Lutz, Nils Plath und Dietmar Schmidt Satzzeichen. Szenen der Schrift (2017) stellt umfangreiche und vielseitige Perspektiven zusammen.

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Visuelle Aisthetik

Abbildung 4: Analysemodell zur Untersuchung des typographischen Spektrums von Texten.

(Quelle: Entworfen von Paula Vosse und bearbeitet von Dem Mangokönig)

So wie sich die Erkenntnisse des naturwissenschaftlichen Experiments in ihrer Aufzeichnung manifestieren, zeichnet die Typographie moderner Drucksachen Experimente mit der Visualität von textuellem Material auf. Dabei etabliert sich ein Spektrum, dass sich zwischen den Polen Komplementäre Gestaltung und Materielle Technik bewegt. Neben diesen Polen können auch Heter-/Hierarchische Strukturierungsprinzipien im Aufbau des Textbildes greifen. Ein Buchstabe, Wort oder auch Satzzeichen kann zudem optional als repräsentativer Semantikträger eingesetzt werden und/oder durch Funktionelle Ästhetik bestimmte Textelemente hervorheben, die mit einer Funktion versehen werden. Durch die topographische Verortung aisthetischer Visualität auf dem typographischen Spektrum kann die experimentelle Materialität eines Textes übersichtlicher untersucht werden. Da aisthetische Mittel im Untersuchungszeitraum keine Innovation darstel-

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

len, sondern in ihren Funktionen erweitert werden, besteht die Schwierigkeit ihrer Analyse darin, ihre typographische Funktionsveränderung anhand ihrer aisthetischen Technologisierung zu erkennen. Das Spektrum liefert damit Anhaltspunkte für eine differenzierte Zuordnung der aisthetischen Visualität von Texten. Wenn Karl Ernst Poeschel, der Typograph und Drucker des Kinobuchs (1913/14), 1925 in der Gutenbergfestschrift vom Ineinandergreifen einer »ehrlichen Typographie« und Bedeutung eines Textes als Einheit von »Sprechtechnik und Gebärde [der] Sprache«41 schreibt, so ist dies die produktionsorientierte Ausrichtung eines Gebrauchsgraphikers, welcher beruflich bedingt die ästhetische Einheitsform als ideale Umsetzung versteht. Poeschel betont bereits 1904 den künstlerischen Charakter des Druckerberufs und legt Wert auf die Praktikabilität des Textbilds.42 Tschichold,43 Schwitters,44 Renner45 und auch Poeschel stimmen darin überein, dass die Typographie den Inhalt eines Textes zurückhaltend untermalen sollte, sodass die inhaltliche Mitteilung weiterhin im Vordergrund steht und, dass die Leserlichkeit der Schrift ein Primat hierfür sei. Das Argument der Leserlichkeit ist hierbei ein rein sinnesphysiologisches: Die Mitteilung geschieht mit Hilfe des Auges, welches das aufgenommene Bild nach dem Gehirn weitertransportiert. Diese Tätigkeit des Lesens muss dem Auge nun so leicht und bequem wie möglich gemacht werden, und das lässt sich nur durch Verwendung klarer, deutlicher Schriften erzielen.46 Hier waltet auch die ästhetische Funktion der Typographie, die einen Text präzisiert und konkretisiert, also ausgeformt schließt. Diese vorangestellte Funktion der Typographie lässt dabei die aisthetische Qualität der Texte oftmals in den Hintergrund treten. So gilt die Forderung nach typographischer Angemessenheit, also Lesbarkeit, bis weit ins 20. Jahrhundert in informativen und literarischen Texten; auffällige Textgestaltung wird dabei der bildenden Kunst oder der Werbung zugesprochen.47 In Jan Tschicholds Publikation Die Neue Typographie. Ein Handbuch für zeitgemäss Schaffende (1928) wird eine solche Angemessenheit für verschiedene Textarten konkretisiert, um zeitgenössischen Gebrauchsgraphiker:innen zu einer progressiven und modernen Gestaltung anzuleiten. Titelgebend für Tschicholds Publikation ist László Moholy-Nagys Beitrag in Staatliches Bau-

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Poeschel, Karl Ernst: Rythmische Typographie (1925), S. 49. Interessanterweise betont Poeschel jedoch auch, dass innovative Formwechsel mit einem Preis einhergehen: Verständlichkeit kann eingebüßt werden. »Der Inhalt des Buches soll in seiner äußeren Erscheinung zum Ausdruck gebracht werden« (ebd., S. 50), jedoch steht dies nicht im Einklang mit dem schnellen Takt der Zeit. Poeschel war dementsprechend der Ansicht, dass die Industrialisierung dazu führen würde, dass Bücher in ihrer Gestaltung von Mikrotypographie bis zum Einband eine vereinfachte Form annehmen werden würden. Vgl. Poeschel, Carl Ernst: Zeitgemässe Buchdruckkunst (1904), S. 8f. Vgl. Tschichold, Jan: Die Neue Typographie (1928). Vgl. Schwitters, Kurt: Thesen über Typographie (1924). Vgl. Renner, Paul: Typografie als Kunst (1922). Poeschel, Carl Ernst: Zeitgemässe Buchdruckkunst, S. 12f. So zählt das Lern- und Lehrbuch Die Schrift als Anwendungsbereiche der Schrift »Schrift in der Umwelt«, »Die optischen Medien« und »Die Konsumgüterindustrie« auf – nicht den erzählenden Text. Vgl. Salberg-Steinhardt, Barbara: Die Schrift (1983).

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haus Weimar 1919-1923 (1923): Neue Typografie48 – er entspringt also der Bauhauslehre und damit der bildenden Kunst bzw. einer frühen Form des Designs. Dieser Aufsatz des Bauhäuslers war namensgebend für den folgenden Diskurs desselben Themas. Tschichold proklamiert, dass »auch ein geistiger Ausdruck unseres Weltbilds« in der Neuen Typographie erkennbar sein müsse und beschreibt dieses »[f]ür den modernen Menschen […] [als] kollektiv-total, nicht mehr individuell-spezialistisch«.49 Die Geburtsstunde dieser Neuen Typographie als Symptom für die neue Relevanz struktureller Gestaltung von Texten wäre ohne ein Aufbrechen traditioneller Kunstkategorien nicht denkbar gewesen – so Tschichold. Er datiert hierbei die alte Form der Typographie bis 1914.50 Entgegen dieser Einschätzung belegt Monika Schmitz-Emans mit aussagekräftigen Texten vor 1914, dass diese Kategorisierung der Perspektive eines Avantgardisten entspringt, der versucht die Modernität und Progressivität der eigenen Zeit zu forcieren.51 Die gesteigerte Konkurrenz der Künste durch das vermehrte Aufkommen technischer Medien, erhöht öffentliche Visibilitätsstrategien gerade innerhalb der entstehenden Kommunikationsplattformen der Großstädte. Hier greifen auch kriegswirtschaftliche Förderungsgelder bereits vor 1914, was durch den Ausbruch des Krieges entscheidend an Zugkraft gewinnt. Die anhaltenden Auswirkungen der progressiven Kriegspropaganda auf Reklame-Methoden sind jedoch auch nicht unerheblich. Denn Propaganda ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine etablierte mediale Form der Kommunikation, die Wahrnehmungsbeeinflussung als ihre genuine Funktion begreift.52 Für Tschichold werden das Ineinandergreifen ästhetischer Grenzen, aber auch das geistige Gehalt typographischer Gestaltung elementar. Zwar führt seine holistische Stilisierung dazu, dass er das innovative Potential des typographischen Eigenwerts und -ausdrucks auf künstlerischer Ebene nicht vollends auszuschöpfen weiß. Dennoch löst Tschicholds Ansatz die ästhetische und geistige Ausdruckskraft der Typographie von ihren technischen und handwerklichen Voraussetzungen und markiert hierdurch den entscheidenden Bruch mit der traditionellen Gestaltung.53 Diese geregelte und konstruierte Einheit zwischen Gestaltung und Wesenseinstellung sowie Form und Inhalt soll sich durch dieses Vorgehen, wie in der Werbebranche auch, positiv auf die präattentive Wahrnehmung der Rezipienten auswirken, indem die zu vermittelnde Information möglichst geschlossen präsentiert wird. Die typographische Gestalt unterstellt sich hierbei hierarchisch der Mitteilung und komplementiert ihren Gehalt. Dieses Prinzip, das Tschichold als Angemessenheit der Typographie beschreibt, wird vorliegend als ästhetische Funktion der Typographie verstanden. Sie wirkt sich förderlich auf einen einheitlichen Eindruck des zu Vermittelnden aus. 48 49 50 51 52

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Vgl. Eisele, Petra (u.a.): Moholy-Nagy und die Neue Typographie (2019), S. 43. Tschichold, Jan: Die Neue Typographie (1928), S. 8. Vgl. ebd., S. 15-29. Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Das Buch als literarisches Werk (2013). Gerade unter dem neuen Schwerpunkt der Public Relations wird der Begriff Propaganda als Methode der Öffentlichkeitsarbeit verwendet. 1928 wurde bereits Edward L. Barnays Kunst der Public Relations veröffentlicht, was als Grundlagentext dabei half »strategische Kommunikation auf breiter Front« zu popularisieren. Vgl. Rössler, Patrick: Das Weimarer Bauhaus und seine Öffentlichkeiten im Dialog (2009), S. 20. Vgl. Bose, Günter Karl: Das Neue an der Neuen Typografie (2020), S. 67.

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

Da in Jurij M. Lotmans Strukturalismus den einzelnen Mitteln des Schreibens verschiedene Funktionen zukommen,54 eignet sich seine Theorie besonders, um die Erweiterung des textuellen Möglichkeitsraums zu verdeutlichen. Eine verschachtelte Schreibtechnik geht hierbei mit der Idee einher, dass die Komplexität der zu vermittelnden Information auch die Komplexität der gestaltenden Form vorgibt und vice versa.55 Jede typographische Auffälligkeit verweist in dieser Analysemethode auf einen Aspekt der kommunikativen Information.56 Hieraus folgt: Je auffälliger die visuelle Gestalt eines Textes auftritt, desto vielschichtiger lässt sich das Präsentierte decodieren. Gerade Zeichen, Codes, Symbole oder Formeln stellen als Repräsentationen eine Erweiterung des Informationsgehalts dar57 und können damit als erweiternde Mittel verstanden werden. Eine dichte Mitteilung gewinnt in diesem Fall immens an Struktur, wenn die räumliche Gestaltung bei der Hierarchisierung der verschiedenen kommunikativen Ebenen unterstützend eingesetzt wird. Lotmans Theorie enthält damit Parallelen zu Wehdes Begriff des typographischen Dispositivs, indem die visuelle Wahrnehmung einer Textform bereits dessen Interpretation einleitet. Die visuelle Koordination durch das Textbild trägt so funktionell zur Organisation und Systematisierung des Inhalts bei. Konzeptionen von visueller Form und narrativem Inhalt schließen sich in der strukturalistischen (ursprünglich linguistischen) Theorie also aus einem reziproken Einheitskonzept zusammen – ähnlich wie es für eine angemessene Typographie der 20er Jahre verstanden wird: »Der Gedanke des Schriftstellers realisiert sich in einer bestimmten künstlerischen Struktur und ist von ihr nicht zu trennen«.58 Jedoch trägt die Vermehrung der »sinntragende[n] Elemente«59 eines Textes auch zu der Erweiterung seines Möglichkeitsraumes bei, da sich sein Gehalt von einer Eindeutigkeit distanziert. Die verschiedenen gestalterischen Ausrichtungen eines komplexen Seitenrasters tragen vielmehr zu einer festgehaltenen Dynamik bei. Hier handelt es sich also nicht ausschließlich um die Doppelcodierung der Typographie, die als »denotativ und konnotativ«60 – einerseits der lesbare standardisierte Ausgangspunkt von Typographie und andererseits »die Korrelation der materiellen und graphischen Gestalteigenschaften des typographischen Ausdruckssystems mit semantischen Einheiten des kulturellen Inhaltssystems«61 – begreift. Vielmehr enthält diese Konnotation bereits das Potential der Typographie zu einer literarischen Technik. Denn in dieser wird bewusst 54 55 56

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Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte (1970), S. 23. Vgl. ebd., S. 24. Demnach führt gerade die Organisation einer komplexen Sprache zu einem möglichst präzisen Text. Vgl. ebd., S. 421. Dass die poetische Sprache notwendigerweise komplizierter konzipiert ist als die »natürliche Sprache« hängt mit dem Ziel der Kommunikation zusammen: poetische Sprache vermittelt literarisch ganze Welten in wenigen Sätzen. Die Funktion gibt hier den Grad der sprachlichen Gestaltung und Form vor. Vgl. ebd., S. 24f. Letztendlich stellt Lotman klar, dass er ein informationstheoretisches Verständnis von dem künstlerischen Text hat, indem er in ihm »einen spezifisch gestalteten Mechanismus betrachten kann, der die Fähigkeit besitzt, Information in ungewöhnlich hoher Konzentration zu enthalten« (ebd., S. 420. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 86. Ebd., S. 87.

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mit Konventionen von Schrift experimentiert, indem die sich ergebenden Abgrenzungen, Zuwendungen und Positionierungen neue auto-semantische und inhaltliche Bezüge formen und erproben. Der Einsatz von typographischen Mitteln zum Zwecke der Raumentgrenzung und -erweiterung eines typographischen Dispositivs steht hier im Fokus der produktionsorientierten Analysen. Denn die vorliegende Arbeit begreift diese literarische Gestaltungstechnik, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben der dynamischen Filmtechnik konkretisiert, als Erweiterung des dichterischen Instrumentariums. Die Montagetechnik, welche Arnheim 1932 als »[d]as Aneinanderkleben von Aufnahmen mit verschiedener räumlicher und zeitlicher Situation«62 begreift, ist daher eine Option literarischer Typographietechnik, die direkt vom Stummfilm motiviert wurde. Dabei markiert die Montage visuell nachvollziehbare Brüche in Zeit- und Raumdimensionen im Film wie auch in der Literatur. Dieses gezielte Hinweisen auf die Einschnitte und die Veränderungen in Bewegungsabläufen war ein Ausgangspunkt der photographischen Technik – und beeinflusste die künstlerische Praxis maßgeblich. Denn das illusionistische Potential der visuellen Wahrnehmung, begünstigt von der langsamen Nervenleitungsgeschwindigkeit, soll Mitte des 19. Jahrhunderts durch das technische Medium korrigiert werden. Die bekannteste Referenz hierfür sind die Bewegungsstudien von Pferden durch Künstler wie Edgar Degas.63 Die Technik ermöglicht hier Momentaufnahmen und die Division von Bewegung, was auf zweidimensionale künstlerische Texte ohne Aufwand übertragen werden kann. Während der Popularisierung des frühen Stummfilms, der diese Technik durch das Fließen-Lassen von Photographien umkehrt, können weitere gattungsspezifische Charakteristika erkannt und übertragen werden. Dies sind im weitesten Ausmaß die räumliche Entgrenzung und Simultanperspektive sowie das organisierte Leiten des betrachtenden Blicks durch die schnelle Bildfolge. Das hieraus entstehende wissenschaftlich geprägte und als objektiv verstandene Neue Sehen ist Voraussetzung für die Neue Typographie und schult das Auge darauf, visuellen Konzepten folgen zu können. Das Erkennen eines fragmentarischen Ausschnitts, losgelöst von der Vielzahl diverser (Bild-)Elemente, das durch die photographischen Bewegungsstudien die aisthetische Wahrnehmung von Dynamik revolutioniert, prägt sich durch die Entwicklung des Films anders aus: Dadurch, dass die Fehlbarkeit der visuellen Perzeption weiter offengelegt wird, priorisieren künstlerische Produzent:innen nun die konzeptionelle Ganzheit eines Kunstwerks oder eines Textes – der Spielraum des eingegrenzten Sehens, weder gänzlich akkurat, noch verfälscht, wird der konzeptionellen Komposition untergeordnet. Damit rückt die semantische Information eines Kunstwerks vor dessen Wertung als etwas Geschmackvolles. Wenn fortlaufend vom Neuen Sehen die Rede ist, so meint dies eine sinnesphysiologische und ganzheitliche Formerkennung, die versucht, sich objektiv zu halten. Der technische Anteil des Neuen Sehens besteht aus ihrem Fokus auf die Reizverarbeitung, was durch entsprechende typographische Gestaltung erleichtert wird. So wird die Typographie auch in Valérys Die beiden Tugenden eines Buches (1926) zu einer selbstständigen Medientechnologie, die in der Lage ist, »ein schönes Buch [in] eine vollkommene Lese62 63

Arnheim, Rudolf: Film als Kunst (1932), S. 95. Vgl. Arsendorf, Christoph: Ströme und Strahlen (1989), S. 16f.

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

Maschine« zu steigern, »deren Bedingungen sich mit ziemlicher Genauigkeit nach den Gesetzen und Methoden der physiologischen Optik bestimmen lassen […]«.64 Die Parallelen zwischen Architektur und Typographie liegen hierbei in der systematischen Organisation ihres Rasters sowie den Übertragungsmethoden von Zweidimensionalem zu Dreidimensionalem (der Vorstellungskraft). Die Parallelen zwischen Film und Typographie liegen in der Inanspruchnahme der Betrachtenden durch optische Mittel. Denn das Bewegtbild wie auch die Seitengestaltung dynamisieren und kontrollieren den visuellen Bewegungsablauf des Auges. Das Neue Sehen wird als genuin optischer Prozess verstanden, der ganzheitlich Formen sowie Verhältnisse von Proportionen, Farben und Kontrasten erfasst. Andererseits ist er kalkulierbar und damit auch leicht zu beeinflussen. Das Dekonstruieren des visuellen Perzepts wurde gerade in der bildenden Kunst anhand der Ausprägung verschiedener Stile diskutiert. Auslösenden Reiz hierfür stellen wahrnehmungstheoretische Studien und verschiedene visuelle Medientechnologien wie die Photographie dar. Christoph Asendorf bemerkt dabei in Ströme und Strahlen (1989), dass der Schritt von der bildenden Kunst zur Drucksache nicht mehr weit ist, wenn die technischen und theoretischen Ausgangspunkte für die visuelle Veränderungen umfassend reflektiert werden: »Bild und Schrift nähern sich nach jahrtausendelanger Trennung wieder an – die zerlegten Dinge bestehen prinzipiell aus den gleichen Bestandteilen wie Schrift«.65 Die abstrakten Tendenzen beider Domänen werden hier zur visuellen Brücke. Denn letztlich werden in Strömungen wie dem Neoimpressionismus »die Dinge in Punkte und die Farben in ihre prismatischen Grundelemente zerlegt, die vom Auge synthetisiert werden«.66 Und mehr noch: die Produzent:innen setzten diese wahrnehmungstheoretische Grundlage als Konstruktionsprinzip, als künstlerische Technik, ein. Die moderne Kunst erhebt durch die Fundierung auf wahrnehmungsphysiologische Theorien so einen Anspruch auf eigene Objektivität.67 Die experimentellen Abbildungsverfahren und (naturwissenschaftliche) visuelle Information werden hier einer individuellen Ausdruckskunst vorgezogen. Konsekutiv folgt auf diese malerischen Techniken »[d]ie Rasterung von Bildern« sowie die »Druck- bzw. Reproduktionstechnik«.68 Die künstlerischen Gestaltungen können dabei in ihre Elemente zerlegt werden, da die semantische, materielle oder visuelle Einheit erst durch die Betrachtenden wiederhergestellt wird.69 Dass das Auftreten von Typographie als literarischer Technik eine intendierte Verarbeitung der oben geschilderten sinnesphysiologischen, wahrnehmungspsychologischen und psychotechnischen Experimente ist, kann an der Expansion der visuellen Öffentlichkeit nachvollziehbar dargelegt werden. Denn gerade die Option der visuellen Inanspruchnahme der Wahrnehmung durch ästhetische Präzision und signalfokussierte Reizleitung erregt schnell die Aufmerksamkeit der Reklame- und Werbebranche. So stellt die Erkenntnis, dass sinnesphysiologische Reize durch das Unterschreiten

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Valéry, Paul: Die beiden Tugenden des Buches (1926), S. 471. Asendorf, Christoph: Ströme und Strahlen (1989), S. 20. Ebd. Vgl. ebd., S. 21. Ebd. Vgl. ebd., S. 22.

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oder auch Überschreiten ihres Schwellenwerts zu präattentiver oder attentiver Wahrnehmung eines Perzepts führen können, eine lukrative Option dar. Die gestalterische Verlängerung naturwissenschaftlicher Experimente wird dadurch zu einem der wichtigsten Mittel der Werbung, mit dem versucht wird subliminalen Einfluss auf potentielle Konsument:innen auszuüben – es wird, so Theodor König, dabei grundsätzlich nur »w i l l k ü r l i c h e und u n w i l l k ü r l i c h e A u f m e r k s a m k e i t, oder aktive und passive, wie sie auch genannt wird«,70 unterschieden. Münsterberg hält bereits lange vor Tschicholds typographischen Vorschlägen für eine formorientierte Semantik71 fest, dass die systematische Organisation und der visuelle Aufbau von Formen die Rezeption beeinflussen.72 Dies führt dazu, dass er schon 1904 von Vertretern der Werbebranche kontaktiert wird, um die psychotechnische Methode auf die Werbe-Industrie umzumünzen.73 Die Psychotechnik setzt sich, wie im vorhergehenden Kapitel geschildert, aufgrund ihres wirtschaftlichen Effizienz-Versprechens schnell in der Reklame- und Werbebranche durch. Die öffentlich zugeschriebene Macht visueller Beeinflussungsmethoden darf in diesem Zusammenhang daher nicht unterschätzt werden. Die Transformation naturwissenschaftlicher Theorie in lebensweltliche Praxis ist zu diesem Zeitpunkt bereits kein Novum mehr. Nietzsches positivistische »Physiologie der Kunst« zeugt hiervon, wenn sie sich auf die sinnliche Erfahrbarkeit stützt und die gezielte Inanspruchnahme eines Reizes fordert.74 Für Nietzsche wird damit klarer, dass »Ästhetik nur angewandte Physiologie sei«,75 was letztendlich schon das moderne typographische Bewusstsein antizipiert, in dem nicht mehr über ästhetische Fragen der Schrift diskutiert wird, sondern ihre mediale Funktion in den Vordergrund rückt. Nietzsches »Ästhetik […], die angewandte Physiologie ist, braucht weder Schulung noch Bildung«76 und entspricht demnach keinem hierarchisch aufgebauten Bildungs- oder Wissenssystem mehr. Diese Distanzierung vom hermeneutischen Verstehen ist gleichzeitig eine Hinführung zum physiologischen Lesen, welches mithilfe von Typographie bewerkstelligt wird: im Fall von Nietzsche durch das Erzwingen des Buchstabierens im Sperrsatz.77 Indem das Visuelle des geschriebenen Wortes seiner Phonetik übergeordnet ist,78 wird in solch materialbezogenen Ästhetiktheorien nach performativen rhetorischen Kategorien gesucht, die fordern, dass das Prinzip der traditionellen Redekunst ausgeweitet wird: »Jede Rhetorik, jedes System zur Erzeugung figuraler Bedeutungsstrukturen verfügt über grundlegende Regeln der Kombinatorik wie über eine begrenzte Anzahl kombinierbarer Elemente«.79 Da das Schriftbild ein rhetorisches System wird, kann sich 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79

König, Theodor: Reklame-Psychologie (1924), S. 67. Vgl. Tschichold, Jan: Die Neue Typographie (1928). Vgl. Steinmetz, Rüdiger: The first Film Theory (2016), S. 23f. Vgl. Blatter, Jeremy: Psychotechnik, Berufspsychologie und das Kino (2016), S. 155. Münsterberg schlägt dieses frühe Angebot aus, kooperiert später jedoch mit der Werbe- und Filmbranche. Vgl. Plumpe, Gerhard: Ästhetische Kommunikation der Moderne (1993), S. 76f. Bose, Günter Karl: Lesen/Schreiben (2020), S. 41. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985), S. 228. Vgl. ebd., S. 229f. Vgl. Bose, Günter Karl: Lesen/Schreiben (2020), S. 48. Bose, Günter Karl: Spatium (2020), S. 26.

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

in seinem Anwendungsbereich nicht nur eine Professionalisierung ausbilden, sondern sogar eine Kultur.80 Diese gestaltende Kultur ist auf die »Quintessenz«81 der visuellen Mittelung ausgelegt, so Jaques Rancière in Die Fläche des Designs (2005), und breitet sich über diesem Grund transdisziplinär auf: in der Lyrik Mallarmés, im Bauhaus Design und in der Werbung. Diese Entwicklungen zeigen die verschiedenen Tendenzen einer visuellen transdisziplinären Wissens-Kultur um 1900.82 Eine solche visuelle Wissenskultur schlägt sich aber vor allem auch im Antlitz des Films nieder; genauso in dessen Theoretisierung, etwa bei Béla Balázs in Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924).83 Gerade das bauhäusliche Bestreben, die Grammatik einer Formsprache festzuhalten,84 zeugt von dessen starker Überzeugung des hohen transdisziplinären Werts einer visuellen Kultur, indem sie »aus dem Symbol das abstrakte Element«85 der aisthetischen Kommunikation formen. Zunächst einmal musste durch die technische Vorgabe der freien Letternpresse jedoch ein einheitliches visuelles System für Drucke gesetzt werden – und dieses musste von der sprachlichen Einheit der verbreiteten Texte unabhängig sein, da eine fehlende visuelle Präzision eines Buchstabens den Leseakt in jeder Sprache verhindert. Die Struktur des Textes ist hier also weniger relevant als seine Materialität, da mit letzterem eine erfolgreiche Vermittlung der zu verbreitenden Information gelingen oder missglücken kann. Die neuzeitlichen Flugblätter weisen so eine andere Seitenarchitektur als mehrseitige Zeitschriften und Magazine oder auch Bücher auf: Während Flugblätter, an einer gezielten Aussage orientiert, einen wenig strukturierten Informationsblock präsentieren, müssen Zeitschriften und Magazine die verschiedenen Beiträge und Mitteilungen visuell voneinander trennen und deren Unterschiede kennzeichnen. In einem längeren Text tritt jedoch die textimmanente Struktur in den Vordergrund, welche – durch Teile, Kapitel und Umbrüche – auch visuell systematisch kategorisiert wird. Das sich herausbildende typographische Dispositiv ist daher eng mit dem visuellen Wissen und den technischen Mitteln verbunden.86 Weniger abhängig vom Medium der Aufzeichnung, kann der Einfluss der Photographie auf kommunikative Typographie anhand eines neuen dokumentarischen Anspruchs nachempfunden werden. Denn laut Yvonne Wübben zeigt sich in zeitgenössi80 81 82

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Vgl. Bose, Günter Karl: Lesen/Schreiben (2020), S. 49. Rancière, Jaques: Die Fläche des Designs (2005), S. 112. Das visuelle Wissen, das auch vor dem Buchdruck in Texten zu verorten ist, soll an dieser Stelle nicht untergraben werden. Vielmehr wird auf Velten, Hans Rudolf: Visualität in der höfischen Literatur und Kultur des Mittelalters und Puff, Helmut: Textualität und Visualität um 1500 hingewiesen, um diesen Zeitraum aufschlussreich zu verfolgen. Auch die Editionswissenschaften setzten sich intensiv mit dem materiellen Auftritt eines Textes auseinander. Vgl. hierzu Nutt-Kofoth, Rüdiger: Editionsphilologie als Mediengeschichte (2006); Kanzog, Klaus: Einführung in die Editionsphilologie der neuen deutschen Literatur (1991). Siehe 3.3. Siehe 3.2. Rancière, Jaques: Die Fläche des Designs (2005), S. 120. Der Fokus der russischen Formalisten auf Laurence Sterne (1713-1768) (vgl. auch Schmitz-Emans, Monika: Buch-Literatur [2019], S. 735-739) lässt sich von dessen strukturellen Spielereien ableiten, welche, auch wenn dieser Begebenheit bereits unter den Formalisten wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, sich auch mit dessen visuell ersichtlichen Makrotypographie verbinden.

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schen Protokollen der psychiatrischen Praxis vor allem »das wortgetreue Aufzeichnen und Präsentieren von Worten im Modus der direkten Rede zu einer vorherrschenden Technik«.87 Diesen Wechsel versteht die Literaturwissenschaftlerin88 auch als den systematischen Einsatz von Orientierungsmitteln zur Unterstützung der Schriftlichkeit. Die schriftliche Darstellung des Inhalts geht hier Hand in Hand mit der abzubildenden Information, die einer wissenschaftlichen Praxis entspringt89 – und im Fall von Protokollen eine schriftliche Aufzeichnung von Mündlichkeit ist. Die hier angedachte Unterlegenheit des gedruckten Worts entspringt der lautlichen Prämisse von Sprache.90 Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit werden versuchsweise durch Typographie kompensiert, wie auch der naturwissenschaftliche Ton des psychiatrischen Protokolls durch einen naturwissenschaftlich fundierten poetologischen Naturalismus verdeutlicht; mit optophonetischen Textelementen oder Satzzeichen kann ebenfalls eine Schreibstrategie verfolgt werden, die sich an der Mündlichkeit orientiert. Die visuelle Gestaltung von Buchstaben, Worteinheiten, Schrifttypen oder ganzer Seitengestaltung markiert einen neuen Umgang mit dem Sehsinn: der zunehmend passiven Position des Sehens wird nun die aktive Option des visuellen Gestaltens abgewonnen. Diese Paradigmaverschiebung antizipieren die psychotechnischen Experimente von Helmholtz und Wundt mithilfe des Tachistoskops,91 indem [w]ohl zum erstenmal (sic!) in einer Schriftkultur [.] Leute auf physiologisch nackte Zeichenwahrnehmung reduziert [sind]. Schrift hört auf, sanft und tot auf geduldigem Papier ihrer Konsumenten zu harren, Schrift hört auf, mit Zuckerbäckerei und Mutterflüstern versüßt zu werden – sie überfällt mit der Gewalt eines Chocs.92 Der Wechsel von Mündlichkeit zu chocierender Schriftlichkeit, den Friedrich Kittler in Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985) betont, verbindet die ästhetische Funktion von Typographie mit ihrer repräsentativen Funktion des Sprachsystems. Dass die ästhetische Funktion der Typographie visuell jedoch auch die Simulation von Zeit- und Räumlichkeit suggerieren kann, fällt gerade Produzent:innen von Dramen, wie Arno Holz auf, der diese physiologische Kalkulation des Sehens von Buchstaben und der bedruckten Seite gegen Ende des 19. Jahrhunderts aktiv anwendet.93 Dabei wird bereits »im Drama der Neuzeit [.] auf die Inszenierungsebene durch grafische Hervorhebungen im Text hingewie-

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Wübben, Yvonne: Typografie und Rhetorik des Faktischen (2015), S. 333-335. Kittler zieht hier auch eine ähnliche Parallele, wenn er die typographische Seitengestaltung literarischer Produktion um 1900 umorganisiert und dann mit psychiatrischen Protokollen vergleicht. Vgl. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985), S. 292f. Auch Stephen Jacyna verweist auf den Distanzierungseffekt von der Ich-Perspektive durch die Verwendung einer objektivierenden wissenschaftlichen Poetologie. Vgl. Jacyna, Stephen: Construing Silence (1994). Vgl. hierzu auch Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985), S. 249-319. »Das Tachistoskop ist eine Schreibmaschine, deren Typen statt auf Papier auf die Netzhäute selber einhauen«. Ebd., S. 269. Ebd. Wie Kittler darlegt, wendet Arno Holz diese Technik bereits ab 1897 bewusst an und formuliert sogar explizit. Vgl. ebd., S. 271.

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

sen«.94 Die Typographie funktioniert hier als Hilfsmittel zur Koordination der gattungsspezifischen Plurimedialität. Das Drama und dessen meist mündlich umgesetzte Performanz befördern damit die Ausdrucksvielfalt der Typographie, da Elemente eines anderen Kommunikationsmodus (Mündlichkeit) auf die Schrift übertragen werden. Kittler schlussfolgert daraus: »Was die Verse im Auge haben, sind also nicht Leser und deren Verstehen, sondern Augen und deren Psychophysik«.95 Die Affinität von Drama und Drehbuch für typographischen Ausdruck ergibt sich dementsprechend aus ihrer Funktion: sie werden für die Bühne entworfen – in ihrer Typographie werden Zeit und Raum immer mitgedacht. Die Crux der typographischen Transponierung von Mündlichkeit ist jedoch, dass auch diese Herangehensweise nicht den gesamten Möglichkeitsspielraum von Typographie einfasst, sich aber bereits als gängige Deutung etabliert hat. Die untersuchten Texte zeigen auf, dass der Gestaltungsraum und die Gestaltungszeit von Typgraphie nicht nur auf Inhalt und Mündlichkeit reduzierbar sind, da gerade auch introspektive oder kommentierende Kommunikationsebenen durch sie zum Ausdruck gebracht werden können – ebenso wie Stille, Pausen und Szenenwechsel. Mit einem Blick auf den Ästhetizismus, die sorgsame Übersteigerung des Naturalismus, lässt sich erkennen, dass literarische Struktur und sprachliche Gestaltung einen Bezug zur Ästhetik herstellen und nicht, wie beim visuell beeindruckenden Auftritt eines Dandys wie Oscar Wilde zu vermuten wäre, das Material des Textes. In ästhetizistischen Publikationen fällt gerade die Trennung in der gestaltenden Produktion ins Auge, wenn separate Illustrationen den Textgehalt spiegeln. Für die Gesamtkomposition einer solchen Drucksache ist Kollektivgestaltung gängig. Auch wenn sich, wie im Ästhetizismus, ein medialer Grenzgang anbieten würde, um die sinnliche Ästhetik eines Textes zum Ausdruck zu bringen, weisen sich ästhetizistische Texte meist durch Arbeitsteilung aus: Text einerseits und Illustration andererseits. Hieran fällt auf, dass eine mediale Kooperation von materiellem Informationsträger und inhaltlicher Mitteilung nicht in Erwägung gezogen wird. Die Typographie trägt hier in erster Linie den Inhalt des Textes, während ihre aisthetische Dimension nicht ausgebaut wird. Ausschlaggebend hierfür sind auch die Bemühungen des Arts and Crafts Movements seit Mitte des 19. Jahrhunderts, den Buchdruck mit seinen umfassenden Teilbereichen wieder als künstlerisches Handwerk zu etablieren. Doch diese Trennung bricht in der lyrischen Produktion einiger Symbolisten, die sich gegen Realismus und Naturalismus wenden, bereits auf, muss sich aber materiellen Sonderformen bedienen,96 um händisch konzipierte Spielereien wie Stéphane Mallarmés Un Coup de Dés (1897) überhaupt druckbar zu machen. Denn in Mallarmés Würfelwurf wird mit einer innovativen Aisthetik der Seitenarchitektur gearbeitet; die typographische Gestaltung wird stringent durchgezogen und so auch zu einer entscheidenden Bedeutungskonstitute. Daher bringt der Mehrwert des gesteigerten Anschauungswerts der symbolistischen Lyrik auch eine Interpretationseingrenzung mit sich, indem der Möglichkeitsspielraum durch die konkrete Gedichtform eingeschränkt wird – wie bei einem Symbol. 94 95 96

Müller-Wood, Anja: Drama (2009), S. 143. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985), S. 271. Vgl. Wieland, Magnus: About:blank (2012), S. 196f.

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Das Figurengedicht, das bis in die Antike zurückgeht, lebt im Symbolismus mit Apollinaire und Mallarmé gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder auf. Diese Interaktion von Bild und Text versucht das ambivalente Verhältnis zwischen inhaltlichem und visuellem Wissen zu fokussieren und tut dies meist auf komplementierende Weise. Diese Tendenz hat typographische, graphologische und produktionsorientierte Auswirkungen – ist jedoch keine zwangsläufige Position der symbolistischen Strömung. Denn im Gegensatz zu Mallarmés gezielter Berücksichtigung der aisthetischen Dimension von Text, setzt Stefan George auf eine Zurückname der typographischen Mittel, um die Textbedeutung hervorzuheben. Im vierten Band Stefan Georges Gesamtausgabe von 1928 – Das Jahr der Seele (1897) – werden im Anhang seine Handschriftproben abgedruckt: Der Auftakt des Verses als Versalien, ansonsten durchgängig Minuskeln, während die typographische Setzung des Gedichts beibehalten wird. Für die Erstausgabe des Gedichtzyklus arbeitete George mit Melchior Lechter für die handwerkliche Buchgestaltung zusammen.97 Für die Gesamtausgabe wurde dessen Einteilung der Gedichtstruktur und die Zuweisung der Versalien übernommen, während man die Seitenarchitektur umstrukturierte. Der Gebrauch der Minuskeln nach dem Versauftakt erinnern dabei an die durchgängig kleingeschriebene Schrift universal (1925/26), die der Bauhäusler Herbert Bayer entwirft. Die Trennung zwischen dem semantischen Symbolismus und der repräsentativen Funktion der Schrift/Typographie hebt George – anders als Mallarmé in Un Coup de Dés (1897) – nicht durch die aisthetischen Qualitäten der Typographie auf, was den fundamentalistischen Tendenzen des George-Kreises entspricht.98 Den Weg zu einem materiellen Bewusstsein für gedruckte Sprache ebnet auch Hofmannsthals Chandos-Brief (1902), der eine kontrastierende Absage an die sprachlichen Ausdrucksmittel der Dichtkunst äußert. Er ist ein Ausdruck für die fehlende Präzision und Eindeutigkeit sprachlich-semantischer Mitteilungen, ohne die Materialität der Schrift als potentiellen Lösungsweg zu befragen. Diese textuelle Sehnsucht nach einer Konkretisierung der Dichtkunst wird begleitet von den ersten Ansätzen des Abstrahierens in der bildenden Kunst: Fauvismus, Kubismus und Expressionismus. Carlos Spoerhase legt in diesem Zusammenhang nahe, dass sich Theoretiker wie Valéry, Benjamin oder Moholy-Nagy bereits Mitte der 1920er die Frage nach dem Wirkungsgrad des Buches stellen. Valéry vergleicht die Typographie mit Architektur,99 Rodenbach verweist auf die »Hoffnung Mallarmés [, dass] Buchtypographie, die sich an der Plakattypographie orientiere, vermöge, […] wie ein gedrucktes Intonationsmuster den poetischen Gedankenverlauf zu nuancieren«100 und Benjamin fasst Literatur schriftbildnerisch in seiner Einbahnstraße ein.101 Leider bleiben die Schnittmengen zwischen Kunsttheorie und produktionsorientierten Ansätzen zur materiellen Form Vgl. Norton, Robert E.: Stefan George und der Symbolismus (2004), S. 799. Vgl. Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus (1995), S. 241-244. Annäherungen an eine literarästhetische Lyrik beschreibt Jürgen H. Petersen: Absolute Lyrik (2006). 99 Vgl. Spoerhase, Carlos: Linie, Fläche, Raum (2016), S. 12. 100 Ebd., S. 15. Diese Annahme wurde vor allem durch Valérys Aussage zu seiner ersten Lektüre von Coup de dés 1897 bestätigt, welche die Leerstellen des Textes auch als Leerstellen der Sprache, also Stille, im performativen Akt der Lyrik versteht. Vgl. Bose, Günter Karl: Das Neue der Neuen Typographie (2020), S. 68f. 101 Vgl. Spoerhase, Carlos: Linie, Fläche, Raum (2016), S. 27. 97 98

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

eine Ausnahme, sogar ein blind spot 102 der formtheoretischen Literatur-, Medien- und Kunstwissenschaft. Tendenzen zur Erschließung dieser Lücke finden sich in der Editionsphilologie der älteren und neueren deutschen Literatur. Der Mediävist Sven Limbeck spricht vor diesem Hintergrund von einer funktionalen103 Ästhetik der Typographie im Missale romanum von 1570, welche Aspekte eines ästhetischen Urteilens, aber auch performative Anweisungen vermittelt.104 Es fällt also auf, dass nicht erst Mallarmé eine autonome Form des gedruckten Wortes verfechtet. Durch das vermehrte Aufkommen des Films um die Jahrhundertwende, dessen technische Bedingungen ohnehin ein Produktionskollektiv von Regisseur:in, Schauspieler:in, Kameraleuten, Filmskript bzw. später Drehbuch etc. voraussetzen, können die traditionell distanzierten Positionen in der Literaturproduktion, und damit auch die Aufgabenfelder der Beteiligten, im frühen 20. Jahrhundert neu überdacht werden. Da diese Arbeitsteilung auch Tendenzen zum Gesamtkunstwerk beinhaltet, wird auch der Film vermehrt als solches verstanden und diskutiert. Claudia Dillmann zeichnet in diesem Zusammenhang die neu auftretenden Netzwerke innerhalb der avantgardistischen Strömungen nach, die sich aus verschiedenen Kooperationen ergeben.105 Es überschneiden sich zunehmend Gattungen, Berufe und künstlerische Experimente – was durch die kollektiven Produktionsbedingungen noch verstärkt wird. Der konservierte performative Akt, der im Film statisch-photographisch festgehalten wird, erfährt durch die systematische Anordnung seiner Teile eine nie gekannte Dynamik. Auch in der Literatur wird diese Veränderung der Gemeinschaftsproduktion festgehalten. So etwa in Arnold Höllriegels Du sollst dir kein Bildnis machen. Ein Roman aus Hollywood (1929).106 Einige der Kollektive und Gruppen, die in diesem Zeitraum zusammenkommen, äußern in ihren avantgardistischen Manifesten einen Anspruch auf eine typographische Präzision. Intendierte Veränderungen von Selbstreferenz und Semantik der literarischen bzw. textuellen Form sowie Typographie werden hier teils explizit ausformuliert. Manifeste der avantgardistischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts – östlicher Herkunft sind sie meist progressiver in ihren Forderungen – liefern damit einen Hinweis auf die neue Autonomie der Form. Visuelle Kompositionen wie Die futuristische Antitra-

102 Vgl. Schwartz, Frederic: blind spot (1994); Wetzel, Michael: Der blinde Fleck der Disziplinen (2014). 103 Vorliegend wird gezielt von funktioneller Ästhetik gesprochen, da dies die naturwissenschaftliche Weite des Funktionscharakters miteinfasst. 104 Limbeck, Sven: Funktionale Ästhetik (2016). In derselben Zeitschrift finden sich ähnliche Artikel, so auch Falk, Rainer: Das typographische Dispositiv des Dramas (2016) oder Polzer, Markus: Der Glaube an die Schrift (2016). Als gängiger Grund der Standardisierung typographischer Gestaltung können Marketing und die Aufmachung verschiedener Verlage herangezogen werden, die ihr Buchformat und Layout vereinheitlichen. Die Editionsphilologie arbeitet die so entstehenden typographischen Übersetzungsfehler bzw. -variationen auf. Vgl. die Analyse von Federmans Double or Nothing von Basten, Laura: »Struggle of word-design against word-syntax« (2016). Und konkreter das Problem der »Zeichentreue«: Brüning, Gerrit: Fraktur oder Antiqua? (2016). 105 Vgl. Dillmann, Claudia: Sie hatten das Kino… (2010), S. 278. 106 Vgl. Capovilla, Andrea: Der lebendige Schatten (1994), S. 41.

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dition (1913),107 Der Mensch mit dem grünen Kopf oder Manifest einer aktiven Leiche (1921)108 oder Zenitistisches Manifest (1921)109 sind eindeutige Verfechter dieser Entwicklung und vermitteln durch neue typographische Formsprache einen innovativen Umgang mit der Gestaltung einer gedruckten Seite. »Die neue Wortform schafft den Inhalt, und nicht umgekehrt«,110 proklamiert auch Kručënych bereits 1913 – womit nicht nur die konkrete Form des Wortes, sondern auch die Destruktion ihrer Buchstabenanordnung gemeint ist. Und auch wenn Nikolaj Burljuk sagt: »Manche Worte kann man überhaupt nicht drucken, weil sie die Handschrift des Autors brauchen«,111 bestätigt dies, dass die Form des Wortes mehr und mehr seinen eigenen semantischen Möglichkeitsraum prägt – graphisch oder gedruckt. Burljuk betont dies fast selbstverständlich: »Gewaltige Bedeutung hat die Anordnung des Geschriebenen auf dem Papier«112 – Die Organisation der Seite wird bei ihm 1915 zu einem bewussten konzeptionellen Mittel der textuellen Produktion erklärt. Die interdisziplinären Standpunkte zum Film und zur visuellen Gestaltung, die solchen Manifesten entnommen werden können, bringen den direkten Einfluss der visuellen Inanspruchnahme der Kunstproduzent:innen durch den Film zum Vorschein und bestätigen die These, dass die Produktionsseite durch visuelles Experimentieren versucht, eine neue visuelle Technik für den gedruckten Text zu fundieren. Entscheidend bei dieser verwobenen Herleitung des erweiterten Aufgabenfelds der literarischen Produktion ist die Verbindung von Handwerk und Kunst, die letztendlich auch die Entstehung des Designs mit sich bringt und in der Bewegung des Bauhauses nachvollzogen werden kann. Dabei haben das Druckerhandwerk und Fragen der Gebrauchsgraphik immer in die materiellen Entscheidungen der literarischen Produktion eingespielt:113 die Auswahl der Schrift ist entscheidend, da die gängigen Schriftfamilien, Fraktur und Antiqua, semantisch codiert werden. Der Frakturstreit, der bereits um 1800 eine rege Diskussion über Einheit (Fraktur als Nationalschrift der deutschen Sprache für einen deutschen Büchermarkt) und Offenheit (Antiqua als zugängliche Schriftfamilie lateinischer Basis) der deutschsprachigen Druckproduktion entfacht, zieht sich bis in die 1930er Jahre und wird nicht nur öffentlich, sondern auch im Parlament diskutiert. Während die Ideologisierung der Schriftfamilien mit der Reichstagsdebatte von 1911 weiter polarisiert, war die Fraktur seit der Reichsgründung 1874 offizielle Amtsschrift, die Antiqua galt aber als leserlicher. Wehde hebt dabei jedoch hervor, dass gerade nach 1900 die »disparate Heterogenität«114 der Schriftfamilien in den Vordergrund tritt. Der Ursprung

Vgl. Guillaume, Apollinaire: Die futuristische Antitradition (1913), S. 44-46. Zudem wollte sich der Futurismus durch Den futuristischen Film ausdrücken und bewertete diesen als höchste Kunst. »Das futuristische Kino wird […] das (immer langweilige und bedrückende) Buch töten«, da es anders auf die Sinne eingeht als die anderen Künste. Marinetti, F.T. (u.a.): Der futuristische Film (1916), S. 123-126, besonders 124. 108 Vgl. Barta, S.: Der Mensch mit dem grünen Kopf oder Manifest einer aktiven Leiche (1921), S. 233-236. 109 Vgl. Goll, Ivan: Zenitistisches Manifest (1921), S. 254. 110 Kručënych, Aleksej: Deklaration des Wortes als solches (1913), S. 49. 111 Burljuk, Nikolaj: Poetische Prinzipien (1915), S. 90. 112 Ebd. 113 Vgl. Martus, Stefen: Werkpolitik (2007), S. 23-31. 114 Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 250.

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der semantischen Gegensätzlichkeit der beiden Schriftfamilien wird von Susanne Wehde auf Luthers Wahl im Druck der reformierten Bibeltexte zurückgeführt: In der Sprache des Volkes, Deutsch, und nicht der internationalen Gelehrtensprache, Latein, wählt Luther dementsprechend gebrochene Schriften für den Bibeldruck.115 Und damit entscheidet die Wahl der Druckschrift nicht nur über die Leserlichkeit und Zugänglichkeit der Texte, sondern auch über deren soziale und nationale Zugehörigkeit. Diese Diskussion ist ausschlaggebend für die ästhetische Funktion der Typographie, die eine »Entsprechung von typographischer Form und literarischem Inhalt« ermöglicht.116 Zu beachten ist dabei, dass es sich bei den semantischen Konnotationen um eine Zuweisung von außen handelt. Wehde betont, »daß die Unabhängigkeit der denotativen und konnotativen Zeichenfunktion von Druckschriften die Möglichkeit eröffnet, die konnotative Semantisierung von Schriftformen abrupt und radikal umzucodieren«.117 Weiter betont sie, dass »[d]ie Zweiheit von Schrift als sprachliches und visuelles Zeichensystem [.] Typographie stets in ein Spannungsverhältnis zu der zeitgenössisch jeweils vorherrschenden Hierarchisierung von visueller und sprachlicher Kommunikation [stellt]«118 und gerade die ambivalenten Semantisierungsprozesse führen hierbei dazu, dass auch Typographie ausschlaggebend für die Sprachkrise wird. Der neue Umgang mit der aisthetischen Dimension von Drucksachen wird im differenzierten Gebrauch von der ästhetischen Funktion und der wissenspoetologischen Technik von typographischer Kommunikation einsehbar. Durch den Gebrauch optophonetischer Mittel, die der Futurismus als eine seiner Prämissen präsentiert, zeigen sich bereits ab 1909 literarische Texte, die die visuelle Konzeption seines Materials durchaus als eigenständiges Mittel einzusetzen wissen. Spätestens hier fällt auf, dass sich die Frage nach der Verlässlichkeit von Wort und Schrift, wie sie Hofmannsthal, Nietzsche oder Mauthner während der Sprachkrise stellen, verkompliziert. Dieses entstehende Spannungsverhältnis zwischen der ästhetischen und aisthetischen Textdimension stellt etwa das dadaistische Manifest von 1918 aus, indem es Konzeptionen der Mehrdeutigkeit, der Arbitrarität und der Paradoxa forciert. Die dadaistischen Formexperimente sind dementsprechend nicht auf eine einheitliche Information zu reduzieren. Sobald der Dadaismus selbst als stilistische Einheit allmählich greifbar wird und seine geregelte Unregelmäßigkeit dem eigenen Anspruch widerspricht, löst er sich auf. Dementsprechend tendieren viele der Dadaist:innen um 1921 zu anderen Strömungen, wie etwa dem Surrealismus. Mit dem Aufbrechen der Aufgabenbereiche in den Künsten und der multiperspektivischen Ausrichtung, die eine künstlerische Konzeption vor einem solchen reziproken Wechselbezug zwischen ihnen leisten muss, setzen auch die Naturwissenschaften metadisziplinäre Ziele, wie etwa in der Gestalttheorie der Berliner Schule.119 Der neu entstandene Möglichkeitsraum zwischen den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zur

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Vgl. Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 219. Vgl. ebd., S. 221. Ebd., S. 279. Ebd., S. 94. Vgl. hierzu: Heinrich, Michael: Metadisziplinäre Ästhetik (2019).

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Wahrnehmung und dem technischen Novum des Films wird langsam also von künstlerischer wie auch wissenschaftstheoretischer Seite gefüllt. Der Kern dieses Raums sollte die visuelle Gestaltung werden: praktisch durch Design und theoretisch durch Psychotechnik und Gestalttheorie vertreten. Auch die Phänomenologie unterstützt die Vorstellung davon, dass bestimmte Gestaltphänomene als Ursprung von Erkenntnissen zum anthropologischen Grundrepertoire gehören und auch diese philosophische Denkrichtung fällt in den Zeitraum nach der Jahrhundertwende. Das populär verbreitete Wissen über die Wahrnehmung schöpft sich aus Naturwissenschaft wie Film und generiert damit die neu aufkommende Relevanz der materiellen und aisthetischen Dimension von Texten. All die zeitgenössischen Phänomene machen deutlich, dass visuelle Techniken zeitabhängige Instrumente sind,120 welche wissenshistorisch den Eigenwert ihrer gedruckten Materialität herleiten lassen: Die anordnenden Formmerkmale der Makrotypografie appellieren an ein hypothetisches Wissen des Betrachters und definieren so seinen Interpretationsspielraum. Er wird folglich bei jeder Textkonfiguration, auf die sein Auge trifft, versuchen, eine Bedeutungsebene zu definieren. Der Betrachter ist nicht in der Lage, eine Textgestalt ohne erste interpretatorische Bemühungen wahrzunehmen. Für ihn kann es also einen »neutralen« Text nicht geben.121 Die Formel »Kunst ist Form. Formen heißt entformeln«,122 die sich aus einem solchen Verständnis ableitet, wird gerade von den Künstler:innen beschworen, die sich den beruflichen Optionen der Typograph:innen und Werbegestalter:innen öffnen – wie Kurt Schwitters.123 Tatsächlich treten er und die Dadaist:innen mit ihrer materiellen Lyrik in die Fußstapfen Mallarmés, wenn das Auge die dadaistische Nicht-Semantik des Nonsens mitliest.124 Im Zentrum Schwitters’ Formel steht damit zunächst die Annahme, dass Kunst als Konstrukt in ihre elementaren Teile zerlegbar ist. Die materielle Gestalt wird in diesem Verständnis auf ihre physiologischen Bedingungen und aisthetischen Mittel zurückgeführt125 und wissenspoetologisch126 eingesetzt. Die Seitenarchitektur stützt sich 120 Vgl. auch Poeschel, Karl Ernst: Rythmische Typographie (1925), S. 49. 121 Voelker, Ulysses: read+play (2015), S. 112. Vgl. auch Spiekermann, Erik: Über Schrift (2004). 122 Schwitters, Kurt: [Merzfrühling] (1924), S. 188. 123 Zu einem Überblick vgl. Riha, Karl: Dada und Merz visuell (1990). 124 Vgl. Moster, Stefan: Das Auge liest mit (2000). 125 »Da kann aber die beste Gedankenvorarbeit nichts nützen, sondern helfen kann nur die richtige Komposition, die mit allen visuellen Eigentümlichkeiten und Gewohnheiten des durchschnittlichen Menschen zu rechnen gewohnt ist, und die den Blick zwingend auf die wichtige Stelle lenken«. Schwitters, Kurt: Gestaltende Typographie (1928), S. 312. In Schwitters Text fällt auch der Begriff der Propaganda in einem deutlich positiveren Zusammenhang als aus heutiger Perspektive angenommen. Propaganda ist hier mit einer werbenden Überzeugungskraft bzw. einem konkreten Material vergleichbar und Schwitters bezieht sie auf Reklame und Werbung. Der Begriff der Propaganda wurde erst durch die Nationalsozialisten ideologisch eingefärbt und damit negativ konnotiert. Zum Überblick der Begriffsgeschichte von Propaganda: vgl. Starkulla, Heinz W./Wagner, Hans: Propaganda (2015). 126 Für eine präzise Einordnung dieses Begriffs: »Eine Poetologie des Wissens verfolgt also die transversalen Aussageverkettungen und beschreibt das Wissen in seinen Äußerungsformen; sie folgt der These, daß jede historische Wissensordnung bestimmte Inszenierungsweisen ausbildet, und

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folgend auf »orientierende Drucksachen«,127 um die Wahrnehmung der Rezipient:innen zu organisieren.128 Gerade das inhärente System einer Drucksache stelle hier das wichtigste Mittel dar und stünde sogar über dem ästhetischen Eindruck.129 Mit dieser Unterscheidung von textimmanenter Systematik, die bedeutungsträchtig und rein aisthetisch umgesetzt werden kann, kommt die Komplexität der visuellen Gestaltungstechnik eines Textes zum Ausdruck: Hier wird weniger eine neue ästhetische Sprache der Dingwelt konstituiert,130 als deren literarische Gestalt.131 Die »Situationen der Divergenz von Literatur und Wissenschaft […] [wie] gleichermaßen […] solche der Konvergenz«132 führen dazu, dass sich auch bestimmte Wissenssysteme und Erkenntnisse erst durch ihre Festschreibung im Text manifestieren. Hier spielt auch mit ein, dass ein Großteil der Wissensdistribution über die literarische Vermittlung stattfindet.133 Wissenspoetologie und poetologisches Wissen formen sich demnach synchron.134 Diese Beziehung verdeutlicht, dass in den hier behandelten Texten keine interdisziplinäre Hierarchie des Wissens und der Wissenschaften verhandelt wird, sondern, dass sich naturwissenschaftliche und literarische Methoden der Forschung (für diese Untersuchung der visuellen Gestaltung) gegenseitig bedingen.135 Ein zunehmendes naturwissenschaftliches Wissen über die visuelle Wahrsie interessiert sich entsprechend für die Regeln und Verfahren, nach denen sich ein Redezusammenhang ausbildet und beschließt und die Darstellungen dirigiert, in denen er seine performative Kraft sichert«. Vogl, Joseph: Für eine Poetologie des Wissens (1997), S. 122. 127 Schwitters, Kurt: Thesen über Typographie (1924), S. 192. 128 »Designästhetik lässt sich damit mit dem Programm einer progressiven Wahrnehmungstheorie in Verbindung bringen, welche zunächst die sensorischen Signal-Bedingungen von gestalteten Artefakten in den Blick nimmt, um diese dann auf die subjektive Erfahrungswirklichkeit und die Prozesse der Konsolidierung von zeichenbasierter Erkenntnis zu beziehen«. Grabbe, Lars C.: Dualistische Designästhetik (2020), S. 95. 129 Schwitters, Kurt: DIE NEUE GESTALTUNG IN DER TYPOGRAPHIE (1931), S. 216f. Und vgl. Schwitters, Kurt: Über die einheitliche Gestaltung von Drucksachen (1930). 130 Eine weitere bekannte zeitgenössische Position hierzu ist jene Cassirers. Vgl. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis (1929), S. 140. 131 Natürlich gibt es auch andere zeitgenössische Methoden, die Sprache zu kritisieren, jedoch stellt die Hervorstellung der aisthetischen Textdimension eine direkte Distanzierung von der Einheit von Signifikant und Signifikat dar. Diese Methode kann leicht als Funktionalismus missverstanden werden. Feige verweist explizit auf diese Degradierung der designtheoretischen Relevanz der Form: »Es ist schlichtweg falsch, dass aus einer Funktion eine Form folgt; durch diese These wird der produktive und konstruktive Charakter der Designpraxis zu etwas herabgesetzt, was vorgängig gegebenen Antworten gehorchen soll«. Feige, Daniel Martin: Design als Praxisform des Ästhetischen (2020), S. 54. Diese Position stellt dar, dass die ästhetische Funktion von Typographie immer auch von einem eigenen Wert begleitet wird. 132 Schönert, Jörg: Neue Ordnungen im Verhältnis von ›schöner Literatur‹ und Wissenschaft (1997), S. 41. Und auch Pethes, Nicolas: Poetik/Wissen (2004), S. 354f. 133 Richter, Karl/Schönert, Jörg/Titzmann, Michael: Literatur – Wissen – Wissenschaft (1997), S. 31. 134 Dass sich durch die immer weiter vorschreitende Abgrenzung der Forschungsgebiete auch disziplinäre Schreibformen naturwissenschaftlichen Ursprungs verändern, ist ein Symptom dafür, dass ein Austausch bzw. ein Bewusstsein für divergente Funktionen von Wissenspoetologien besteht. 135 Indem durch die Texte die visuelle Inanspruchnahme der Wahrnehmung beobachtet werden kann, stellen sie sich als Paradigma stützende Versuche dar. Vgl. Schmidt, S. J.: Experimentelle Literatur? (1992), S. 215. So stellt S. J. Schmidt jedoch auch fest, dass die zeitgenössische Rezeption

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nehmung führt hier auch zu einer erweiterten literarischen Auseinandersetzung mit wahrnehmungsorientierten Gestaltungstechniken. Die vorliegende Arbeit untersucht diesen Wissenstransfer von Sinnesphysiologie, Wahrnehmungspsychologie und Psychotechnik auf Drucksachen.136 Die Differenz zwischen naturwissenschaftlichen und literarischen Experimenten wird so in dem Produktionsmodus des Textes festgehalten: Das naturwissenschaftliche Experiment hält das Ergebnis eines Versuchs fest, während das literarische Experiment den Modus seiner Durchführung ausstellt. Die experimentelle Materialität eines Textes bildet sich demnach in dessen aisthetischer Dimension ab, manifestiert dabei jedoch kein abgeschlossenes Produkt, sondern den materiellen Ausgangspunkt für die immateriellen Verarbeitungsprozesse. Die aisthetische Dimension von Text zeichnet sich damit durch ihren prozesshaften Durchführungscharakter aus. Denn sie kann zwar in sich geschlossen betrachtet werden, ist aber gleichzeitig auch der Ursprung einer ästhetischen Wahrnehmungskette. So wie die Aisthetik also ein notwendiger Bestandteil der Ästhetik ist, liegt auch jeder (ästhetischen) Decodierung eines Textes dessen aisthetische Dimension zugrunde. Die Materialität von Text manifestiert dadurch einen prozessualen Abschnitt textueller Kommunikation. Gerade um den veränderten Zeitgeist nach der Jahrhundertwende einfangen zu können, liegen Form-Variationen der visuellen Mittel nahe. Denn wie Michael Titzmann beschreibt, fordern gerade physikalische Fortschritte eine neue Sprache, eine neue Formation und Notation von Wissen.137 Aus dem gemeinsamen Untersuchungsgegenstand der visuellen Organisation des Sehens ergibt sich hierbei die Relation von Sinnesphysiologie und Psychotechnik zu visuellen Ausdrucksformen. Titzmann betont in diesem Zusammenhang, dass Veränderungen in Wissenschaft und Literatur innerhalb einer Epoche denselben Ausgangspunkt haben können, hierauf jedoch unterschiedliche Reaktionsprozesse entwerfen, da beide Disziplinen eigenen rationalen Wissenssystemen entspringen.138 Es spielt sich eine simultane Prozessualität und Entwicklung ab. Titzmann verweist in diesem Zusammenhang auf verschiedene »diskursübergreifen-

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eines experimentellen Textes darüber entscheidet, wie hoch der retrospektiv beurteilende Kunstwert des Textes ausfällt: »Je länger ein Produkt diesem Assimilationsvorgang widersteht und je länger es auch nach Erfolg der Kanonisierung noch signalisiert, daß es zu seiner Entstehungszeit als experimentelles Produkt aufgefaßt und bewertet worden ist […], desto höher wird nach gegenwärtig vertretenen ästhetischen Normen der Kunstrang eines Werkes eingeschätzt« (Schmidt, S. J.: Experimentelle Literatur? (1992), S. 219). Indem die Wortwahl und die Ergebnisse der Sinnesphysiologie und Psychotechnik die Literatur prägen, während sie sich auch metaphorischen Vergleichen wie den Telegraphendrähten als Nervenleitungen bedienen, verändert sich durch diesen reziproken Bezugszirkel fortlaufend der semantische Geltungsraum der wissenschaftlich als auch literarisch untersuchten Objekte. Vgl. Pethes, Nicolas: Poetik/Wissen (2004), S. 362. Vgl. Titzmann, Michael: Revolutionärer Wandel in Literatur und Wissenschaft (1997). »Im mikrowie im makrophysikalischen Bereich überschreiben die neuen Paradigmen radikal die Grenzen menschlichen Vorstellungsvermögens und stellen, nur noch im (semiotischen) System der Mathematik formulierbar, die semiotische Weltklassifikation der natürlichen Sprachen infrage«. Vgl. ebd., S. 301. Vgl. ebd., S. 313.

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

de Objekte«,139 die eine simultane Verarbeitung von bestimmten Themen in diversen Disziplinen nachweisen. Hierbei geht er nicht auf das Visuelle ein, wohl aber auf die »Normalität«. Das Messen nach und die Standardisierung von Abläufen stellt jedoch auch im Formen, Systematisieren und Rastern einen wichtigen Kooperationspunkt von Wissenschaft und Literatur dar. Wenn Jan Tschichold 1928 in seiner Neuen Typographie schreibt, dass die Typographie nicht auf die technischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts vorbereitet war und sogar von einem »Verfall der Gesamterscheinung des Druckwerks«140 spricht, so hängt dies an eben diesen Kooperationspunkten verschiedener Wissensdimensionen: Die Technik war da, aber die Gestalter:innen konnten noch nicht mit ihr umgehen. So zumindest liest Tschichold die unterschiedlichen Entwicklungsstadien von »Lithographie und der Photographie, der Photolithographie, der Schnellpresse«141 und deren typographischen Gestaltungsoptionen – eine Position, die auch Walter Benjamin vertritt.142 Die Textbildlichkeit,143 die stets als Knotenpunkt zwischen technischen Möglichkeiten und adäquater Informationsvermittlung sowie -gestaltung fungiert, stellt sich so als zeitabhängiges Element der visuellen Wissenstransformation und -weitergabe dar. Sehen und Lesen wird durch die aufkommenden textuellen Experimente über Typographie trainiert, während die sinnesphysiologischen Fähigkeiten der Zeitgenoss:innen bereits durch die visuelle Überwältigung der Umwelt gefordert sind. Um die umfangreichen visuellen und medialen Reize des Untersuchungszeitraums für die Frage nach der literarischen Technik von Typographie zu operationalisieren, folgen im Kapitelblock 3 Analysen weitreichender Diskurse: (1) Der moderne Paragone-Diskurs im Spiegel der Medientechnologie Film, (2) die Standardisierung künstlerischer Mittel und Entwicklung einer globalen visuellen Formsprache am Bauhaus und (3) die Übertragung des psychotechnischen Steigerungsgedanken auf künstlerische Produktionsprozesse. Dass ein neues visuelles Paradigma durch die Bezüge zwischen der naturwissenschaftlichen Wahrnehmungstheorie und der Kunstform des Films entsteht und sich als technische, handwerkliche Kunst der Gestaltung formiert, wird so nachvollziehbar dargestellt. Der Möglichkeitsraum, der hier durch den reziproken Austausch unterschiedlicher Wissenssysteme entsteht, schlägt sich in visuellen Kommunikationsformen nieder. Diese etablierten Kulturtechniken werden durch selbstreferenzielle Rückführung auf ihre Materialität nicht mehr überlesen, sondern die Zeichen und Formen ihres Ausdrucks vielmehr als gehaltvolle Informationsträger verstanden. Indem so die materielle Visualität von Texten in den Vordergrund tritt, werden typographische Spezialisierungen und Formvariationen überhaupt erst möglich.

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Titzmann, Michael: Revolutionärer Wandel in Literatur und Wissenschaft (1997), S. 314. Tschichold, Jan: Die Neue Typographie (1928), S. 22. Ebd. Vgl. Scheunemann, Dietrich: Intolerance – Caligari – Potemkin (1997), S. 11. Vgl. Schmitz, Emans: Theoretische Annäherung an die Buch-Literatur (2019), S. 62.

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3.1 Die Kinodebatte: Der moderne Paragone-Diskurs144 Eines ist klar: Wir erleben eine Epoche der Durchsicht des literarischen Materials unter filmischem Blickwinkel. Im Angesicht des Films wird sich die Literatur ihrer Mittel neu bewußt werden müssen. Die Entwicklung des Films setzt das uralte Problem der Wechselbeziehung und Differenzierung der Künste wieder auf die Tagesordnung.145 In den 1920er Jahren macht Boris Ėjchenbaum deutlich, dass die Simulation von Bewegung durch die Abfolge statischer Photographien für die Kunst die mediale Innovation um 1900 ist.146 Auch wenn diese visuelle Form der Informationsvermittlung als massenmediales Novum auftritt,147 sind seine Bezüge zu den etablierten Künsten zahlreich. Gerade die Verbindungen zwischen literarischem Erzählen, seiner räumlichen Entgrenzung sowie zweidimensionalen Gestaltung und dem technischen Bildverfahren des Films lassen die Frage nach filmischem Kunstpotential laut werden. Mit dem Interesse an reziprokem Austausch rücken auch Übersetzungsstrategien der filmischen Technik in den Fokus.148 Es wird nach neuen visuellen Mitteln und Methoden gesucht, die die Spezifika einer Gattung ausdrücken können. Für den Text wird dieses Mittel die Neue Typographie. Denn nach den Worten von Lászlo Moholy-Nagy aus der GutenbergFestschift (1925) werde »die optisch-typografische Mitteilung in Form von Büchern, Plakaten, Zeitungen, Akzidenzdrucken usw. durch die optophonetische bzw. phonetischmechanische Konkurrenz von Grammophon, Radio und Film herausgefordert«.149 Die fundamentalen Elemente von technischem Verfahren und Informationsvermittlung, aber auch bildlicher Darstellung und perspektivischer Erweiterung, zeigen früh auf, dass der Film zwischen Medientechnologie und Kunst steht; mehr noch Ausgangpunkt einer neuen Kunstdebatte wird: der Kino-Debatte.150 Das Neue Sehen des

144 Da vorliegend die Umstrukturierung der typographischen Funktionen im Fokus steht, werden in diesem Kapitel vornehmlich die kunsttheoretischen und weniger die materiellen (vgl. 3.2) Aspekte im modernen Paragone beleuchtet Denn so kann nachvollzogen werden, dass Phänomene wie das Filmische vor optionalen Techniken in der Theorie von ihren Gattungszuschreibungen gelöst werden. Durch das Vergleichen der Affekte und Effekte der Gattungen werden künstlerische Phänomene auf ihre Techniken befragt, welche sie letztendlich übertragbar machen. 145 Ėjchenbaum, Boris: Literatur und Film (1926), S. 185. Eine Übersicht der Positionen des russischen Formalismus zum modernen Paragone-Diskurs und dem Film findet sich hier: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.): Poetika Kino (2005). 146 So wurde das Medium auch von Zeitgenossen verstanden. Vgl. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985), S. 295. Rein mediale Innovationen wie beispielsweise die Schreibmaschine kommen in der modernen Paragone-Debatte nur als Methode vor. 147 Bereits zeitgenössische Vergleiche mit der Gutenberg-Presse zeigen, dass die Reichweite des Filmtechnik nicht unterschätzt wurde. Vgl. Lautensack, Heinrich: Warum? – Darum! (1913), S. 101-103; Behne, Adolf: Die Stellung des Publikums zur modernen deutschen Literatur (1926), S. 162. 148 Bruns, Max: Kino und Buchhandel (1913), S. 86f.; Lautensack, Heinrich: Warum? – Darum! (1913), S. 101; Ewers, Hanns Heinz: Der Film und ich (1913), S. 103f. 149 Eisele, Petra: László Moholy-Nagy und die »Neue Reklame« der zwanziger Jahre (2009), S. 245. 150 Einen grundliegenden Überblick hierzu verschafft Kaes, Anton: Kino-Debatte (1978). Nicht nur die extremen Positionen der Debatte erregen Aufsehen, sondern auch die hohe Beteiligung. Heinz-B. Heller verweist darauf, dass das unvollständige Verzeichnis des Bibliothekars Erwin Ackerknecht

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20. Jahrhunderts151 ist hierfür ausschlaggebend und markiert die Rahmenbedingungen des Visuellen Zeitalters, »in dem sich Autor und Leser gleichermaßen am Film als Maßstab einer neuen Ästhetik orientieren«.152 Die Kinodebatte markiert einen Diskurs, der auch als medial erweiterter bzw. moderner Paragone beschrieben werden kann, da sich die Wort-, Schrift- und Bildbeiträge zu der öffentlichen Diskussion aus dem Vergleichen, Abgrenzen, Kategorisieren und Parallelisieren der Künste nährt. Die Tendenzen des modernen Paragone schließen dabei im Zuge der Kinodebatte auch reziproke Wechselbeziehungen ein, weswegen nicht ausschließlich von Medienkonkurrenz gesprochen werden kann. Zusätzlich werden im Zuge der Kinodebatte die Vor- und Nachteile der Gattungen öffentlich diskutiert, was das argumentative Wetteifern divergierender Positionen in den Vordergrund stellt und nicht die tatsächliche Konkurrenz der Gattungen. Zwar zielt der Diskurs des Wettstreits der Künste seit der Antike darauf ab, unter Berücksichtigung einer bestimmten Perspektive oder Intention eine hierarchische Aufstellung der Künste vorzunehmen,153 jedoch wird sich zeigen, dass das Aufbrechen ihrer Grenzen durch den Zuwachs an Techniken eine heterarchische Aufstellung der Gattungen begünstigt, indem auch ihre medienspezifischen Qualitäten gestärkt werden. Durch die Reflexion gemeinsamer Techniken unter verschiedenen Gattungen ist der moderne Paragone vom antiken abzugrenzen. Gleichzeitig werden durch diese nun ersichtlichen Gemeinsamkeiten differenter Künste der kompetitive Ausgangspunkt des Wettstreits verschoben: Zwar stehen noch die Alleinstellungsmerkmale der jeweiligen Gattungen im Fokus, doch ermöglichen mediale Technologien auch eine Übertragung bzw. Übersetzung solcher Qualitäten. So führt die Konkurrenzsituation der Gattungen durch das reziproke Anleihen von Techniken im modernen Paragone weniger zu einer Abgrenzung als zu einem Austausch – eine gleichberechtigte Aufstellung der Künste wird so begünstigt.

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bis 1930 »bereits rund zweieinhalbtausend Publikationen auswies, davon etwa 500 eigenständige Schriften«. Heller, Heinz-B.: Literarische Intelligenz und Film (1985), S. 5. Vgl. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben (1903); Kaes, Anton: Einführung (1978), S. 18; Friedell, Egon: Prolog vor dem Film (1912), S. 43. Kaes, Anton: Einführung (1978), S. 29. Thomas Zaunschirm geht davon aus, dass der traditionelle Vergleich unter den Künsten vor allem einen Wettkampf um Prestige spiegelt, welcher »immer auf Kosten anderer Unterlegener [geht]« (Zaunschirm, Thomas: Distanz. Dialektik [1982], S. 7). Hier gibt der Paragone eine Hierarchisierung vor, welche als vertikale Anordnung verschiedener Elemente das Gegenteil einer Heterarchisierung, einer horizontalen Anordnung, darstellt. Da die rhetorische Dichtkunst als politisches Mittel in der Antike von der Spitze der Künste aus wetteifert, nimmt die technische Vielfalt einer Gattung ein relevantes Gewicht in ihrer Positionierung im Paragone ein. Die Ekphrasis als literarische Bildbeschreibung kann beispielsweise die Lebhaftigkeit der Dichtkunst vorführen oder aber eine tatsächliche Anweisung zur Bildgestaltung und -komposition darstellen. Eine literarische Bildbeschreibung mit synästhetischen Effekten würde versuchen, die Überlegenheit der Dichtkunst auszudrücken, während eine schriftliche Anweisung der Bildkomposition eine Annäherung der Künste zueinander vermitteln kann. Hybride Techniken schließen durch ihre Synthese verschiedener künstlerischer Gattungen jedoch nicht nur ihr Einfügen in eine Hierarchisierung innerhalb des Paragone-Diskurses aus, sondern brechen auch die eindeutigen Kategorien der Künste per se auf. Die Kinodebatte und der Film machen auf den Anfang dieser Prozesse aufmerksam, während eine Multipluralistik von Techniken und Künsten auftritt.

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Für den vorliegenden Zusammenhang sind dabei einige historische Tendenzen des Paragone besonders hervorzuheben, um die transdisziplinären Bewegungen der künstlerischen Produktion nachvollziehen zu können. Gerade der Austausch zwischen Naturwissenschaft und Kunst sowie reziproke Entwicklungen neuer Medientechnologien stehen hier im Fokus. Denn bereits im 15. Jahrhundert wurden Naturwissenschaft und Technik als stützende Argumente im Wettstreit der Künste angewendet, als Alberti und Ghiberti malerische Perspektiverweiterung durch mathematische Regeln und Messungen heranzogen, um die Malerei zu rühmen,154 während Leonardo da Vinci sich ganz explizit am übergeordneten Sehsinn als Grundlage für die Relevanz der bildenden Künste orientierte.155 Diese Tendenz lässt sich bis ins 20. Jahrhundert nachvollziehen, als vor allem der russische Konstruktivismus Kunst als empirische Wissenschaft begreift und die einzelnen Gestaltungen dementsprechend als Experimente.156 Es soll hier nun beschrieben werden, welche konkreten Hinweise der moderne Paragone-Diskurs auf visuelle Gestaltung als literarische Technik aufzeigt. Dies bedeutet genauer, dass die reziproken Wechselbeziehungen zwischen den Künsten und der Technologie des Films untersucht werden, um die Veränderung der Sehgewohnheiten als Prämisse der veränderten zweidimensionalen Gestaltung eines Textes zu lesen. Grundsätzlich wird der bereits in der Antike ausbrechende Paragone, der Wettstreit der Künste, stets abhängig von seinen zeitgenössischen Bedingungen gelesen, welche seine Funktionen sowie Länge und Ausmaß determinieren. Paragone (it. = Vergleich, Gegenüberstellung, Streit; von gr. αγών = Wettkampf, Kampf) bezeichnet seit Horaz’ ut pictura poesis das Streben der Künste, die Wirklichkeit im Sinne der imitatio präzise nachzuahmen.157 Für die hier vorgestellte These der medientechnologischen Auswirkungen des Films auf die Visualität des Textes sind insbesondere die Wechselwirkungen zwischen Technik und Kunst interessant. Und diese resultieren aus der bereits geschilderten, künstlerischen Orientierung an den Naturwissenschaften. Dies wird am Auftreten neuer technischer Abbildungsverfahren,158 die die Wirklichkeit mittels physikalischer und chemischer Prozesse vorführen, besonders deutlich. Denn gerade, wenn die wirklichkeitsgetreue Abbildung einer künstlerischen Produktion in den Vordergrund gerückt wird, tritt durch naturwissenschaftliche Verfahren wie die Photographie ein direktes Konkurrenzverhältnis auf. Das photographische Abbildungsverfahren zeichnet mit Licht, während sich manuelle graphische Verfahren auf das Auge und die Fertigkeiten der Produzent:innen verlassen. Die Gegenüberstellung von technischer Abbildung und menschlicher Zeichnung stellt dabei die Variabilität der menschlichen Wahrnehmung und Fertigkeiten heraus. Im Bewusstsein dieses Unterschieds richten sich gerade handwerkliche Berufe neben der Photographie zunehmend auf ornamentale Gestaltung aus, die sich an »Naturformen«159 orientiert. Absehbar wird

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Vgl. Schnitzler, Andreas: Der Wettstreit der Künste (2007), S. 16f. Vgl. ebd., S. 22ff. Vgl. ebd., S. 61f. Vgl. Burdorf, Dieter: Paragone (2001), S. 569. Medien meint hier Mittel der kommunikativen Informationsweitergabe und ist nicht an eine bestimmte Materialität gebunden. Baabe-Meijer, Sabine: Berufliche Bildung am Bauhaus (2006), S. 128.

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dies im Jugendstil und dem Art and Crafts Movement. Nach dem Versuch, ihr Defizit gegenüber der Photographie durch naturalistische Tendenzen zu umgehen, versuchen unter anderem impressionistische, symbolistische und expressionistische Maltechniken über das rein sinnliche Wahrnehmen eines künstlerischen Gegenstands hinauszugehen.160 Entgegen aller Gattungsgrenzen wird der Film aber auch versuchsweise als Steigerung der »physikalischen«161 naturalistischen Literatur verstanden.162 Durch seine serielle Darstellung der einzelnen Bilder ist er in der Lage, eine konstruierte Einheit zu erzeugen, die, wie auch in der modernen Literatur, eine ganzheitliche Wahrnehmung nachzeichnet163 – ganzheitliche Wahrnehmung bedeutet dabei zeitgenössisch optisch wie psychisch.164 Andererseits versucht die Photographie im 19. Jahrhundert zunächst, auch den eigenen Kunstcharakter durch malerische Sujets zu etablieren.165 Die Anleihe der als künstlerisch verstandener Bildkompositionen oder Stoffe dient hier als ein Mittel der Aufwertung eines genuin wissenschaftlichen Mediums zur Kunst. Diese stofflichen Übernahmen, wie es auch frühe Literaturverfilmungen166 bzw. Autorenfilms167 zeigen, werfen gerade aufgrund ihres Erfolgs168 die Frage nach dem Ort des künstlerischen Gehalts auf. Findet sich das künstlerische Potential in der Kunstgattung bzw. dem Material oder in der künstlerischen Technik? Wie Matthias Uecker betont, sollte der Film sich bald von den stofflichen Fragen distanzieren und seine technischen Qualitäten in den Fokus rücken, um eine eigene Ästhetik zu formen:

160 Bereits zeitgenössische Theorien verstehen naturwissenschaftliche Schriften wie Ernst Machs Analyse der Empfindungen (1885) als Grundlage dieser Strömungen. Vgl. Arsendorf, Christoph: Ströme und Strahlen (1989), S. 11. Expliziter stellt Arsendorf die Gemälde Georges Seurats als kompositionelle Antwort auf die mathematischen Theorien seines Freundes Charles Henry heraus, der die Assoziationspsychologie mitbegründete, indem er Variationen von Farbe, Ton und Linie unter einer organisierten mathematisch fundierten Ästhetik untersuchte. Vgl. ebd., S. 19f. Seurat wird auch von Jonathan Crary detailliert in Hinblick auf seinen Pointillismus untersucht: Die verpixelte Maltechnik verweist nach Crary auf die Fehlbarkeit des Sehens und die einzelnen Rezeptoren. Vgl. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit (1999), S. 147f.; vgl. auch Arsendorf, Christoph: Ströme und Strahlen (1989), S. 20. 161 Arsendorf, Christoph: Ströme und Strahlen (1989), S. 12. 162 Vgl. Behne, Adolf: Die Stellung des Publikums zur modernen deutschen Literatur (1926), S. 162. 163 Vgl. Arsendorf, Christoph: Ströme und Strahlen (1989), S. 12f. 164 Zum zeitgenössischen Unterschied von innerer und äußerer Wahrnehmung Eisler, Rudolf: Wörterbuch der Philosophischen Begriffe (1904), S. 690-707. Die innere Wahrnehmung bezeichnet nur die inneren Prozesse, völlig losgelöst von den äußeren Objekten. 165 Vgl. Schnitzler, Andreas: Der Wettstreit der Künste (2007), S. 106-109. 166 Die erzählerischen und abbildenden Eigenschaften des Films haben unter anderem dazu beigetragen, dass er sich langfristig in der Öffentlichkeit durchsetzen konnte und nicht wie Thaumatrop (Wunderdreher), Phenakistiskop, Zootrop, Diorama und die Stereoskopie als technologisches Randphänomenen wahrgenommen wird. Wobei auch diese Medien wahrnehmbare Bewegtbilder vermitteln. Dass Autorenfilms am Beginn der Erfolgsgeschichte des Films stehen, war damit ausschlaggebend für den Etablierungsprozess des Stummfilms. 167 Vgl. hierzu insbesondere Schweinitz, Jörg: Bildreize zwischen Fläche und Raum (2016), S. 177f. Aufschlussreich für den erhofften Austausch zwischen etablierten Autor:innen und der Filmproduktion ist zudem Heller, Heinz-B.: Literarische Intelligenz und Film (1985), S. 19f. 168 Vgl. Schweinitz, Jörg: Bildreize zwischen Fläche und Raum (2016), S. 180f.

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Im Mittelpunkt der zeitgenössischen Filmästhetik stand der Versuch, eine »reine« Film-Kunst zu entwickeln, die nicht nur inhaltlich und durch ihren Wirklichkeitsbezug bestimmt werden sollte, sondern über die Definition spezifisch filmischer Mittel.169 Nach Andreas Schnitzler geht dieser Drang nach einer reinen Form der Gattungen auf Herders Plastik (1778) zurück. Denn der Philosoph sieht in der gattungsspezifischen Differenzierung die Option der Steigerung.170 Gerade im Hinblick auf diesen Steigerungsgedanken hilft eine funktionsorientierte Definition des Paragone.171 Ein theoretisches Indiz für einen solchen Versuch liefert Theo van Doesburg, Mitbegründer der niederländischen avantgardistischen Strömung De Stijl und prominenter Bauhaus-Interessent. Denn van Doesburg definiert Medientechnologien 1925 in Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst (Bauhausbuch 6) implizit als Kunstformen, indem er die Funktion und Information einer Drucksache in den Fokus rückt: Entweder wird die Oberfläche der Realität abgebildet oder ein sinnlich erfahrener Ausdruck dargestellt. »Im ersten Falle ist das Objekt Endziel der Ausdrucksweise, im zweiten Fall nur Mittel«.172 Steht, wie im zweiten Fall, die Funktion im Vordergrund, so kann jede Gattung als Medium fungieren. Steht aber das künstlerische Material im Vordergrund, so sind harmonische und gattungsspezifische Mittel notwendig, um die äußere Erscheinung der Realität überhaupt abbilden zu können. Hier werden also zwei künstlerische Verfahren unterschieden: Jenes der Abbildung und jenes der Verarbeitung. Sie unterscheiden sich in ihren Funktionen. Auf diese Weise treten funktionsorientierte künstlerische Verfahren neben die imitatio, die nicht an eine Kunstform gebunden sind – so wird es zumindest zeitgenössisch reflektiert. Neben die wahrnehmbare Realität treten nun Konzept, Erfahrung oder Idee – aber auch die Technik. Dabei wird der erzeugte Effekt eines künstlerischen Gegenstands173 – welcher auch durch Medien ausgelöst werden kann174 – zum künstlerischen Ziel erklärt. Da diese funktionsorientierte Definition die Lücke zwischen Medien und Künsten schließt, werden sie, wie von Andreas Schnitzler vorgeschlagen, folglich unter der Oberkategorie Gattungen zusammengefasst. Andreas Schnitzler berücksichtigt in seiner Untersuchung des Paragone die Funktion eines Gegenstands und erkennt damit die Tendenz des modernen Wettstreits, dass »die Gattungen erneut auf ihre Vermittlungstauglichkeit hin untersucht [werden]«,175 übersieht jedoch, dass damit gleichzeitig die Beständigkeit dieser traditionellen Gattungen hinterfragt wird. Denn tatsächlich nimmt die Gesamtheit aller künstlerischen

169 Uecker, Matthias: Wirklichkeit und Literatur (2007), S. 235. 170 Vgl. Schnitzler, Andreas: Der Wettstreit der Künste (2007), S. 37f. u. 116. 171 Da zudem die Differenzierung zwischen Kunst und Medium ein blind spot der Medienwissenschaften bleibt. Vgl. Andriopoulos, Stefan: Besessene Körper (2000), S. 15. 172 Van Doesburg, Theo: Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst (1925), S. 23. 173 Ebd., S. 29. 174 Vgl. ebd., S. 26. 175 »Der Paragone-Konflikt ist, vereinfacht formuliert, der Streit um die auf einen künstlerischen Endzweck ausgerichtete Instrumentalisierungsfähigkeit der verschiedenen Gattungen. Ändern sich, aus welchen Gründen auch immer, die künstlerischen Ambitionen bzw. Ziele, so werden auch die Gattungen erneut auf ihre Vermittlungstauglichkeit hin untersucht«. Schnitzler, Andreas: Der Wettstreit der Künste (2007), S. 47.

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

»Gattungen«, Künste wie auch Medien, stetig zu.176 Mit Hinblick auf dieses Phänomen soll hier nochmal bestärkt werden, dass der moderne Paragone mit einem Kunstbegriff arbeitet, der sich durch angewandte künstlerische Methoden generiert. In der vorliegenden Untersuchung ist der Unterschied zwischen Künsten und Medien aus diesem Grund zweitrangig, da er zeitgenössisch umgangen wird, indem künstlerische Funktionen und Informationen in den Vordergrund treten. Gleichzeitig werden jedoch verschiedene Gattungen als Kunst oder Technik bestimmt. Dies kann als Beiwerk avantgardistischer Experimente, die Auflösungstendenzen von Gattungsgrenzen befeuern, verstanden werden.177 Oder auch als gezielte Abwehr der modernen Kunst von der hierarchisierenden Paragone-Struktur.178 Sicherlich ist festzuhalten, dass die Positionen innerhalb der Kino-Debatte entweder vornehmlich die reziproken technischen Bezüge179 oder die Gattungsgrenzen betonen.180 Gerade die avantgardistischen Strömungen der bildenden Kunst suchen nach innovativen Methoden mithilfe von oder angelehnt an technische Medien.181 Dies hat nach Friedrich Kittler seine Ursprünge in den psychotechnischen Aufzeichnungsmöglichkeiten um 1900, da »[z]ur symbolischen Fixierung von Symbolischem [.] die technische Aufzeichnung von Realem in Konkurrenz [tritt]«.182 Kittler betont, dass Film und Grammophon zusätzlich als größte Konkurrenten des Buches auf den Markt der medialen Kommunikation treten. »Was läuft, muß, um zu sein, nicht mehr immer erst in Elemente einer abzählbaren Zeichenmenge (Buchstaben, Ziffern, Noten) transponiert werden; Analogmedien erlauben jeder Sequenz reeller Zahlen, sich als solche einzuschreiben«183 – im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Buchstaben, Ziffern und Noten auch aus ihren ursprünglichen Funktionen heraustreten, wie die aufkommenden typographischen Gestaltungstechniken zeigen. Kittler erkennt in diesem Diskurs um 1900, dass das Symbol184 zum Zeichen wird, was durch die Entmystifizierung der Wahrnehmung und die Säkularisierung des göttlichen Wortes begünstigt wird. Dies zeichne sich, nach Kittler, auch auf der Produktionsseite ab: Autor:innen um 1800, die nach reibungsloser Kompatibilität von Philosophie, Theologie und Literatur streben, werden um 1900 von Autor:innen abgelöst, die wie Gertrude Stein, Alfred Döblin oder Gottfried Benn185 naturwissenschaftlichen Hintergrund haben.

Zaunschirm, Thomas: Distanz. Dialektik (1982), S. 121. Vgl. Burdorf, Dieter: Paragone, S. 569; Kaes, Anton: Einführung, S. 29-35; ebd., S. 21. Vgl. Zaunschirm, Thomas: Distanz. Dialektik (1982), S. 16. So beispielsweise Tannenbaum, Herbert: Kino & Theater (1912), S. 8 u. 24; Friedell, Egon: Prolog vor dem Film (1912); Goll, Yvan: Das Kinodram (1920). 180 Lichtenstein, Alfred: Retter des Theaters (1913); Bruns, Max: Kino und Buchhandel (1913); Scheerbart, Paul: Kino und Buchhandel (1913). 181 Im Detail untersuchen dies Jonathan Crary: Techniken des Betrachters (1990); Asendorf, Christoph: Ströme und Strahlen (1989). 182 Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985), S. 278. 183 Ebd. 184 Vgl. ebd. 185 Kittler hebt hervor, dass Benn ein naturwissenschaftliches Studium explizit fordert, »eine literarisch angewandte Psychophysik also« (ebd., S. 292). 176 177 178 179

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Indem das Material neu entdeckt wird und autonom wirken kann, wird die künstlerische Konzeption186 eines Gegenstands nun zum entscheidenden Element seiner Abbildung und führt zum Erproben einer ganzheitlichen Darstellbarkeit von Material und Idee – losgelöst von dem Streben nach Wirklichkeitstreue. Zur Crux des künstlerischen Gestaltens wird hierbei der Versuch, komplexe Konzepte oder innovative Techniken auf der Fläche zum Ausdruck zu bringen. Denn zeitgenössische Kritik spricht dem Film Komplexität durch seine Oberflächigkeit ab und liest ihn eher als sinnliche Eingrenzung.187 Hierzu trage die visuell leitende Technik bei: »Schon die Reduktion auf den einen Sinn des Auges hindert die Natur-Idyllen und Dramen im Kino daran, etwas Besseres zu werden, als Zeitvertreib«.188 Das Material des Textes, die Schrift, ist jedoch durch die erweiterte Technik der Gestaltung in der Lage, visuelle Mittel als Komplexitätssteigerung einzusetzen.189 Dieser neue Möglichkeitsspielraum führt zu einem medialen Selbstfindungsprozess der Gattung: Die Frage ist nicht mehr was als Kunst verstanden wird, sondern wie Kunst produziert wird.190 Und für die Antwort auf diese Frage werden Ausdrucksmittel und Herstellungstechniken entscheidend: Kafka beispielsweise ist ein leidenschaftlicher Kinobesucher, kritisiert aber das Standardisieren der Blickrichtung191 – die Einschränkung des Sehens. Drucksachen übergeben die Expositionszeit an die Leser:innen, wodurch das zerstreute Sehen, das Kafka bevorzugt, zum Argument für den statischen Text wird. Im Spiegel der Medientechnologie Film wird so die Literatur in ihren eigenen Eigenschaften gestärkt. Das verzögerte, aber gesteigerte künstlerische Experimentieren um 1900 gründet auf dem Zuwachs technischer Medien, zeigt sich jedoch auch durch das Hinterfragen der über Jahrhunderte etablierten Gattungsgrenzen durch den Paragone so explosiv. Etablierte Gattungsgrenzen werden durch die medienbasierte Erweiterung des Diskurses endlich auf ihre Relevanz geprüft. Indem im 18. Jahrhundert das statische Simultanbild der Malerei bzw. Skulptur der sukzessiven Handlung der Dichtkunst gegenübergestellt wird, manifestiert sich in Lessings Laokoon eine Aufteilung, die zur Folge hat, dass das statische Material der Dichtkunst, die Schrift, bis zur beginnenden Sprachskepsis192 um 1900 unterbewertet und übersehen bleibt.193 Das Bewusstsein über den tatsächlichen Möglichkeitsspielraum gedruckter Plastizität setzt sich nur schleichend durch und blüht durch den Einsatz typographischer Gestaltung in der Werbung ab Mitte des 19. Jahrhunderts erheblich auf.194 Dabei führt gerade die Sprachkrise, die von einer Dissonanz zwi186 187 188 189 190 191 192 193 194

Diese konzeptionelle Malerei setzt damit auch den Auftakt für den Dadaismus und die Konzeptkunst. Vgl. Heimann, Moritz: Der Kinematographen-Unfug (1913), S. 79. Ebd., S. 79f. Vgl. dazu Kapitel 3. und das Analysemodell. Mit einer genuin kommunikationstheoretischen Perspektive auf dieses Definitionsproblem positioniert sich Plumpe, Gerhard: Ästhetische Kommunikation der Moderne (1993), S. 292. Vgl. Müller, Dorit: Gefährliche Fahrten (2004), S. 195. Vgl. Kaes, Anton: Einführung (1978), S. 20. Nähere Erläuterungen zur Sprachkrise in King, Martina: Sprachkrise (2012), S. 159-177. Vgl. Franz, Michael: Electric Laokoon (2007). In der Malerei setzen sich musikalische Begriffe zur Beschreibung eines Kunstwerks erst ab dem frühen 20. Jahrhundert durch, was auch als Markierung des Aufbruchs strenger Paragone-Gattungskategorien gelten kann (Vgl. Schnitzler, Andreas: Der Wettstreit der Künste [2007], S. 44f.).

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

schen Wirklichkeit und (weltkonstituierender) Sprache ausgeht, zu einem Produktivitäts- und Innovationsschub innerhalb der literarischen Avantgarden.195 Aber auch der Einfluss durch die technische Beschaffenheit der Photographie bzw. des Films, die dreidimensionale Plastizität der realen Lebenswelt akkurat zweidimensional abbildet, öffnet Gattungsnormen, die durch Paragone-Diskurse überhaupt erst gesetzt wurden.196 So wird unter anderem geschlussfolgert, dass Plastizität auch zweidimensional sein kann. Die Technik des Films bewegt sich auf der Fläche und sie ließe sich so auch auf der Fläche aufzeichnen. Damit beginnt das Experimentieren mit der visuellen Wahrnehmung: Tiefe, Fläche, Perspektive. Das technische Herstellungsverfahren des Films motiviert diese experimentelle Suche nach Darstellungsmethoden und -techniken. Die bildende Kunst konzentriert sich in diesem Prozess vermehrt auf die »Simultanperspektive«, um eine neue »Ganzheit« des künstlerischen Gegenstands zu ergründen.197 Nach dem Bauhäusler Gyorgy Kepes war dies als Restituierung des Menschen notwendig, da »[d]ie unkontrollierte Mechanisierung [.] die illusionistischen Gesetze der individuellen Perspektive [zerstörte]. […] [Weswegen] [d]ie Komplexität des Produktes [.] der menschlichen Kontrolle [entglitt]«.198 Die hieraus resultierende Hinwendung zur Simultanperspektive mit der »Verflachung« des Objekts führt dabei zu kubistischen, expressionistischen sowie konstruktivistischen Methoden.199 Und das Streben nach konzeptioneller, wie informativer Ganzheit200 fördert eine Komplexitätssteigerung der visuellen Information. Einen Lösungsansatz für diese Komplexitätssteigerung stellt die visuelle Entfächerung und simplifizierte Abbildung dar, wie die moderne Typographie sie anwendet. Eine systematische Organisation der visuellen Mittel hat hier zur Folge, dass komplexe Inhalte einfacher verarbeitet werden können. Perspektivische Erweiterungen ignorieren damit bewusst die traditionelle »Raum-Zeit-Einheit« und »[d]ie Forderung nach größtmöglicher Komplexität des dargestellten Objekts wird zum Dreh- und Angelpunkt der neuen Bildsprache«.201

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Auch hier steht die jeweilige Technik im Vordergrund, die nicht als gattungsspezifisches Element verstanden wird. Vgl. in Bezug auf filmisches Schreiben: Brössel, Stephan: Filmisches Erzählen (2014), S. 188-192. Und weiter auch King, Martina: Sprachkrise (2012), S. 167-175. Gerade in den Diskussionen von Kunsthistorikern wie Wölfflin oder Riegel wird deutlich, dass nicht nur die Grundbegriffe und der Umgang mit einer Hierarchie innerhalb der Künste einem linearen Denkschema entspringt. Vgl. Zaunschirm, Thomas: Distanz. Dialektik (1982), S. 20-28. Vgl. Schnitzler, Andreas: Der Wettstreit der Künste (2007), S. 50. Kepes, Gyorgy: Sprache des Sehens (1944), S. 75. Vgl. Schnitzler, Andreas: Der Wettstreit der Künste (2007), S. 51. Der andere Experimentierstrang für zu traumhaften Sujets und fantasievollen Darstellungen, die sich im frühen Film, aber auch im Surrealismus finden lassen. Hierzu: Kaes, Anton: Einführung (1978), S. 34f.; von Hofmannsthal, Hugo: Der Ersatz für die Träume (1921). Der konzeptionelle Anspruch des Paragone den künstlerischen Wahrheitsgehalt zu untersuchen, durchzieht den Wettstreit der Künste bereits seit der Renaissance und stützt sich auf Naturwissenschaften, um anhand von einem faktisch bewiesenen Wahrheitsgehalt die künstlerische Information zu steigern. Vgl. Schnitzler, Andreas: Der Wettstreit der Künste (2007), S. 52. Ebd., S. 50.

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Dabei eignet sich gerade die Typographie als eine Übersetzungsform für die filmische Medientechnologie. Denn sie gleicht dem Film durch die Forderung nach der physiologischen Bewegung der Augen. Die rein physiologischen Sakkaden, also Fokussprünge der Augen, folgen der visuellen Koordination des Textes und tasten ihn mit diesen ab. Im Film regt die medial vorgegebene Geschwindigkeit das Folgen der Augen an. Film wie auch Typographie lösen also einen Bewegungsreiz der Augen aus, was auch zeitgenössisch reflektiert wird. Die neue Medientechnologie scheint damit technisch eine psychophysische Reaktion auszulösen,202 die zügig auf psychotechnische Visualitätsstrategien der Reklame- und Werbebranche übersetzt wird.203 Reaktionen, ja Reflexe, die auch mit Rausch, Sucht und Schaulust in Verbindung gebracht werden: eine physiologische Abhängigkeit von der Medientechnologie.204 Die Pathologisierung des visuellen Rausches war dabei nur einer der Versuche, den Film negativ zu konnotieren. Gerade im Angesicht der potentiellen psychischen Gefahren des Films wird dessen Lehrpotential erst relevant, sobald die Vorteile seiner sinnesphysiologischen Eingriffe, seine propagandistischen Potentiale und die damit einhergehenden Gefahren bewusster wahrgenommen werden.205 Durch die neu attestierte Macht des Visuellen, die aus der psychologischen Relevanz ihrer naturwissenschaftlichen Belege erwächst, geraten nun gestaltende, manuelle wie technische, Strukturierungsprozesse in den Fokus der Produzent:innen. So prognostiziert auch Yvan Goll 1920: »Basis für alle neue kommende Kunst ist das Kino«.206 Von hermeneutischen Lesarten verlagert sich der Fokus auf das visuell wahrnehmbare Material, um die angenommene Willkürlichkeit der Bedeutungsauslese nicht mehr durch fehlende Objektivität zu entmündigen, denn die reine Hermeneutik »erntet [schlicht] nur noch Spott und den Titel Lüge«.207 Die sich hieraus entwickelnde Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts besteht vornehmlich aus gestalt- und medien-/kommunikationstheoretischen Überlegungen und Manifesten,208 wodurch die Aussagen der Produzent:innen, und nicht jene der Kritiker:innen, den Diskursverlauf prägen. Prinzip dieser Manifeste ist die Sehnsucht nach einem präzisen Deuten ihres künstlerischen Schaffens, das nicht von individuellen Umweltkonstruktionen beeinflusst wird.209 Diese Abwendung von der hermeneutischen Methode akkreditiert der Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgrund ihrer stofflichen Explizitheit zusätzlich einen »schädliche[n] Einfluss« auf die bildenden Künste.210 Dies mag einer der Gründe für den starken Austausch zwischen der Dichtkunst und dem Film sein, da die literarischen Stoffe durch die filmische Technik gerade auch die verborgenen Sinngehalte visuell preisgeben müssen.

Vgl. Heller, Heinz-B.: Literarische Intelligenz und Film (1985), S. 30f. Zu der psychotechnischen Verfahren siehe 3.3. Vgl. Heller, Heinz-B.: Literarische Intelligenz und Film (1985), S. 45-53. Vgl. ebd., S. 99-108. Goll, Yvan: Das Kinodram (1920), S. 137. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985), S. 216. Vgl. Schweinitz, Jörg: Bildreize zwischen Fläche und Raum (2016), S. 180f., 183; vgl. Schnitzler, Andreas: Der Wettstreit der Künste (2007), S. 87f. Und so auch Theo van Doesburg: »Die Theorie entstand als notwendige Folge der schaffenden Tätigkeit. Die Künstler schreiben nicht über die Kunst, sondern aus der Kunst heraus«. Van Doesburg, Theo: Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst (1925), S. 5. 209 Vgl. van Doesburg, Theo: Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst (1925), S. 6. 210 Schnitzler, Andreas: Der Wettstreit der Künste (2007), S. 90. 202 203 204 205 206 207 208

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

Das geistige Verstehen einer künstlerischen Idee, und damit die hermeneutische Lesart, wird durch die Erkenntnis der eher langsamen Nervenleitungsgeschwindigkeit in der chronologischen Wahrnehmungskette nach hinten verschoben.211 Gerade beim Film bewirkt die Schnelligkeit des Ausgestrahlten, dass ein Folgebild visuell erfasst werden muss, bevor das vorherige verarbeitet wurde. Zu hermeneutischen Verfahren des Verstehens haben die modernen Techniken der neuen Medien also keinen unmittelbaren, sondern einen mittelbaren Bezug: genau das macht sie zu Medien. Andererseits wirkt der Film aber direkt auf den Sehsinn, weswegen Positionen der Kino-Debatte seine Unmittelbarkeit betonen,212 aber dadurch gleichzeitig sein geistiges Defizit hervorheben: »Die Feindschaft gegen den Kinotopp beruht auf einem Mißverständnis: er ist keine Kunst im Sinne des Theaters, keine sterilisierte Geistigkeit; er ist durchaus keine Idee«.213 Das informative Gewicht einer Nachricht, hatte es sich noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die Rezeption konzentriert,214 verlagert sich im Laufe des Jahrhunderts auf die nun immer technologischere Produktion. Und gerade diese technischen Produktionsbedingungen generieren Skepsis gegenüber den neuen Verfahren.215 So formuliert Gottfried Semper bereits 1851: Wohin führt die Entwertung der Materie durch ihre Behandlung mit der Maschine, durch Surrogate für sie und durch so viele neue Erfindungen? Wohin die Entwertung der Arbeit, der malerischen, bildnerischen oder sonstigen Ausstattung, veranlaßt durch die nämlichen Ursachen? Ich meine natürlich nicht ihre Entwertung im Preise, sondern in der Bedeutung, in der Idee.216 Die Positionen, die die Kinodebatte durchziehen sind maßgeblich von der Beschaffenheit des Films geprägt und tragen einerseits dazu bei, dass technische Verfahren auch in anderen Gattungen erprobt werden, führen aber andererseits auch dazu, dass befürchtet wird, durch die Distanzierung von manuellen Herstellungsprozessen auch die geistige Idee eines künstlerischen Gegenstands einzubüßen.217 Das Problem, das die Debatte behandelt, ist also auch Hermeneutik vs. Optik. Denn es wird offensichtlich, dass der Film einen physischen Zugang findet, jedoch aufgrund seines Stoffes und seiner Schnelligkeit nicht ausreichend Kontemplation, wie in der Verarbeitung einer traditionellen Kunst, zulässt. Oder in den Worten Walter Benjamins: Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das 211 212

Siehe Kapitel 2.1. Vgl. z.B. Friedell, Egon: Prolog vor dem Film (1912), S. 43; Serner, Walter: Kino und Schaulust (1913), S. 55. 213 Hasenclever, Walter: Der Kinotopp als Erzieher (1913), S. 48. 214 So auch Christopher Dresser 1870: »Er [der Gestalter] muss sich permanent fragen, welche Wirkungen beruhigen, welche fröhlich sind, welche melancholisch, welche ätherisch, welche wunderschön, welche solide, welche anmutig, welche liebenswert usw.«. Dresser, Christopher: Prinzipien dekorativer Gestaltung (1870), S. 25. 215 Vgl. Tannenbaum, Herbert: Kino & Theater (1912), S. 17. 216 Semper, Gottfried: Wissenschaft, Industrie und Kunst (1851), S. 24. 217 Vgl. Pfemfert, Franz: Kino als Erzieher (1911), S. 59-62;

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nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden.218 Andere Stimmen von 1910 bis 1913 antizipieren diese Position von 1936 zu Beginn der Kino-Debatte noch weitaus kritischer: »Damit hat der Kino kampflos gesiegt: er gibt nur dem Auge sich hin und dessen Lust«;219 »Wir können beinahe den Geist dabei einschlafen lassen und mit den Augen schöpfen, was die Seele will«220 und dies wird letztendlich auch mit dem Gesellschaftsphänomen der Masse zusammengebracht: »Die Masse ist der natürliche Feind des Gedankens: ihr genügt die Oberfläche des Geschehens, die logische Aneinanderreihung von Bild an Bild, die Gehirn und Seele ausschaltet, so wie den Oberflächlichen der äußere Mensch für die ganze Persönlichkeit genügt«.221 Die Technik des Films trägt visuellen Informationsgehalt und ihr Zielpublikum wird die breite Masse und nicht etwa ein ausgewählter Intellektuellenkreis oder das Bildungsbürgertum. Die Mehrzahl dieser zeitgenössischen Elite sieht den Film dementsprechend eher als eine Bedrohung und Konkurrenz und nicht als eine neue Ausdrucksform künstlerischen Potentials.222 Gerade weil der inklusive Film in der Lage ist, sich einer unkonkreten Masse an verschiedenen Lokalitäten gleichzeitig zu zeigen, reagieren die Eliten mit der Exklusion der neuen Gattung aus dem traditionellen Kunstdiskurs. Diese Position gegen den Film und den trivialen Geschmack der Massen verhärtet sich so sehr, dass einige Diskursbeiträger:innen der Kino-Debatte wie Tannenbaum in Kino & Theater (1912) dazu tendieren, das Medium und die breite Bevölkerung zu verteidigen.223 Dabei führt der überdeutliche Massenzugang des Films auf beiden Seiten der Diskussion zu der Anerkennung seines Lehr- und Bildungspotentials. Extreme Positionen wie die von Erwin Ackermann sind dabei der Auffassung, dass moralische und volkserziehende Werte durch den Film prätentiert werden sollten. Hierbei ist es für den Direktor der Stettiner Stadtbücherei irrelevant, ob dabei ein Kunstcharakter bewahrt wird: als Erziehungsmittel wird er [der Volkserzieher] aber auch die einer unreiferen Entwicklungsstufe gefühlsmäßigen, geschmacklich nicht einwandfreien Laufbilder grundsätzlich heranziehen müssen, soweit sie nicht zum eigentlichen Schund Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935), S. 378. Serner, Walter: Kino und Schaulust (1913), S. 55. Anonym: Neuland für Kinematographentheater (1910), S. 41. Oesterheld, Erich: Wie die deutschen Dramatiker Barbaren wurden (1913), S. 99. Pinthus zählt Romantik, Phantasie und Kitsch als Instrumente der Kinokunst auf, und erklärt »– wir können das Kino (trotzdem es ein Feind der höheren Kunst ist) nicht bekämpfen. Es entzückt durch Bewegung die Massen«. Pinthus, Kurt: Einleitung (1913/14), S. 24. 223 »Geschmack ist Objekt und Produkt einzig einer entsprechenden Erziehung und Bildung. Der Geschmack des Volkes ist neutral, d.h. weder gut noch schlecht, bildsam wie Wachs«. Vgl. Tannenbaum, Herbert: Kino & Theater (1912), S. 31. Dies könnte folgend auch dem Theater zugutekommen, indem die durch das Kino gebildeten Zuschauer:innen die spezialisierte Form des Theaters schließlich auch schätzen könnten (vgl. ebd., S. 35). Hierbei betont Tannenbaum, dass das Kino die erste Kunst werden könnte/sei, die den Massen überhaupt zugänglich ist. Ein Verderben des künstlerischen Geschmacks könne dadurch nicht möglich sein, da der künstlerische Geschmack der Masse bisher gar nicht gebildet werden konnte. Weitere Verfechter des Films und Kinos wären Yvan Goll, Carlo Mierendorff und Hugo von Hofmannsthal. Alle in Kaes, Anton: Kino-Debatte (1978), S. 136-146, 149-152.

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3. Das Spektrum typographischer Funktionen

gehören. Die Bezeichnung Schundfilm aber kommt nur den Laufbildern zu, die niedere Instinkte normaler, geschmacklich unreifer Beschauer aufreizen, also moralisch negativ zu werten sind. Sie sind grundsätzlich abzulehnen.224 Das Misstrauen gegenüber der maschinellen Vervielfältigung und die Abneigung gegen eine solch inklusive mediale Ausdrucksform bzw. -kunst stellt bezeichnend heraus, dass der Zeitgeist der Gesellschaft noch nicht den Techniken seiner Zeit entsprach. Hier tritt also ein Problem auf, das Jan Tschichold, wie oben erwähnt, bereits beim Aufkommen der beweglichen Lettern zu erkennen meint: Die Produzent:innen sind noch nicht bereit für die Technik.225 Anfängliche Überforderung und Störung ist nach Prinzipien der Psychotechnik tatsächlich notwendig, wenn eine nachhaltige Veränderung in traditionellen Strukturen erwirkt werden soll – es stellt sich also die Frage, ob Produzent:innen jemals bereit für eine neue Technik sein können. Dabei schließt der Prozess technischen Fortschritts mit ein, dass nicht eine Neu-, sondern eine Umstrukturierung abläuft. Aufgrund der transkünstlerischen Konkurrenz, die die neuen Medien hervorrufen, plädiert auch Moholy-Nagy, wie eingangs aus der Gutenberg-Festschrift von 1925 zitiert, für eine solche Umstrukturierung künstlerischer Techniken.226 Gerade aus diesem Grund sollten die jeweiligen künstlerischen Ausdrucksformen ihre medienspezifischen Eigenschaften perfektionieren, indem neue technische Optionen wahrgenommen werden müssten.227 Nur so könne die Gattungsspezifik eines künstlerischen Gegenstands bestehen bleiben, während sich Ausrichtung und Gestaltung verändern, um den dynamischen Kommunikationsprozessen der Umwelt standzuhalten. Die Techniken, die eine Gattung anwendet, konstituieren und modernisieren also ihre Gattungsspezifik. Die Ästhetisierung der Technik steht hier neben der Technisierung der Kunst. Andererseits verweist die Technikskepsis auch darauf, dass die eurozentrische Kunstproduktion noch nicht bereit ist, den Geniegedanken des 18. Jahrhunderts gänzlich abzulegen. Denn einer Maschine den Ursprung eines künstlerischen Gegenstands zuzugestehen,228 strukturiert nicht nur die Gattung um, sondern auch die Produzent:innen. Wertende Aussagen wie »Nicht das fehlende Pedigree spricht gegen das Kino, sondern der Schweißgeruch der bekannten Herkunft«229 von Otto Kaus markieren das Festhalten an künstlerischem Elitismus. Dieses Problem wird spätestens mit Walter Benjamins Beschreibung des Auraverlusts durch die technische und kollektive Reproduktion des Films evident.230 Die Reproduktion löst durch die Vervielfachung eines Originals damit den Rückbezug zur mythischen Kultur – der künstlerische Gegenstand wird durch den Auraverlust freigesetzt. Die russischen Formalisten erklären das aufstrebende Medium deswegen gerade aufgrund seiner technischen Beschaffenheit

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Ackerknecht, Erwin: Das Lichtspiel im Dienste der Bildungspflege (1918), S. 86. Vgl. Tschichold, Jan: Die Neue Typografie (1928), S. 23. Eisele, Petra: László Moholy-Nagy und die »Neue Reklame« der zwanziger Jahre (2009), S. 245. Vgl. ebd. Ernst, Paul: Möglichkeiten einer Kinokunst (1913), S. 122. Kaus, Otto: Das Kino (1917), S. 159. Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935), S. 377.

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entschieden zu einer Kunst.231 Die oft betonte demokratische232 Methode des Films könnte hierfür ein Anhaltspunkt sein, da gerade das Produktionsprinzip eines Kollektivs bzw. mehrerer Verantwortlicher233 dem Kult des Individuellen der geistigen Hochkultur in Zentraleuropa widerspricht,234 im Gegensatz dazu aber genau in das politische Bild der russischen Oktoberrevolution passt. Auch die Wertung von Jan Tschichold, dass das Herausstellen einzelner Künstler:innen als »peinlich«235 gewertet werden kann, verdeutlicht eine klare Tendenz einer positiven Bewertung von kollektiven Herstellungsprozessen und eine Abwertung von Personenkult. Dass sich ein Großteil der frühen Filmtheorien spezifisch zur Technik des Films äußert,236 bestätigt auch die frühe Abhandlung Kino & Theater (1912) von Herbert Tannenbaum. Die »Technik« wird hier zum Zentrum der filmischen Ästhetik, die nun »auf dem Gebiete der Kunst [revolutioniert]«.237 Diese Aussage suggeriert, dass Tannenbaum den Film gerade aufgrund seiner technischen Beschaffenheit auch zu den Künsten zählt. Weiter betont er, dass das Kinodrama eine erhöhte Form der Konzentration herausfordert,238 da das Publikum aufgrund der fehlenden Worte den Inhalt des Dargestellten selbstständig erschließen müsse.239 Zusätzlich würde »[d]ie Eindringlichkeit optischer Vorgänge, welche die akustischer Eindrücke weit übertrifft, [.] die Einbildungskraft [beflügeln]«.240 Die selektive Beanspruchung und Erweiterung der Sinne durch den Film bleibt ein zentrales Argument Tannenbaums, wenn er schlussfolgert, dass »wir Modernen uns in eine allzu differenziert sensitive Dekadencenervenkunst hineingeistern«.241 Die Verbindung zwischen der filmischen Technik, beanspruchter Aufmerksamkeit und sinnlicher Steigerung steht damit im Kern von Kino & Theater und zeigt, dass sich auch frühe Beiträge des modernen Paragone-Diskurses explizit auf die visuelle Wahrnehmungsveränderung durch die Technik des Films beziehen. Zusätzlich reflektiert Tannenbaum auch die mediale Methode des Films und die zweidimensionale Simultanperspektive in seiner frühen Erörterung: Diese Unmittelbarkeit der Beobachtung verwandelt der Kinematograph in ein mittelbares Erkennen des Bildes einer lebendigen Wirklichkeit. Die Plastik der Realitäten, das Dreidimensionale des Raumes und der Körper ist aufgehoben und wird ersetzt

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Vgl. Vertov, Dziga: Kinoki – Umsturz (1923); Eisenstein, Sergej M.: Montage der Attraktion (1923); Ders.: Dramaturgie der Film-Form (1929); Šklovskij, Victor B.: Poesie und Prosa im Film (1927). Vgl. Behne, Adolf: Die Stellung des Publikums zur modernen deutschen Literatur (1926), S. 163; Mierendorff, Carlo: Hätte ich das Kino (1920), S. 140f. Vgl. Kaes, Anton: Einführung (1978), S. 14, 31. Willy Haas sieht diese kollektive Methode als den Beginn eines Entwicklungsprozesses, sodass sich am Ende der Entwicklung auch das Individuelle als Produktionsprinzip des Films herausstellen würde. Vgl. Haas, Willy: Sprechbühne und Lichtbildbühne (1921). Tschichold, Jan: Die Neue Typographie (1928), S. 13. Vgl. z.B. Pfemfert, Franz: Kino als Erzieher (1911); Heimann, Moritz: Der Kinematographen-Unfug (1913). Tannenbaum, Herbert: Kino & Theater (1912), S. 5 u. vgl. 23. Vgl. ebd., S. 11. Ebd., S. 33. Ebd., S. 12. Ebd., S. 17.

3. Das Spektrum typographischer Funktionen

durch das auf eine Fläche projizierte perspektivische Bild. […]; es regiert die Fläche und die Linie.242 Indem er nunmehr betont, dass sich die Schauspieler:innen allein mithilfe des körperlichen Materials ausdrücken müssen, welches zweidimensional abgebildet wird, ist die Brücke zur Seitengestaltung direkt gebaut:243 Denn die Form der Filmsprache sei Mimik und Gestik und sie ziele auf »bildhafte, raumwirkende, lineare, flächige Erscheinung«.244 Diese Ansätze sind deskriptiver Natur, lassen sich jedoch als Gestaltungsorientierung anwenden. Eine weitere Publikation, die kurz nach Kino & Theater (1912) veröffentlicht wird und in ihrer theoretischen Einleitung auch versucht, die Medientechnologie vom Theater abzugrenzen, ist das Kinobuch von 1913, vordatiert auf 1914.245 Das Verhandeln potentieller reziproker Bezüge wird in der Einleitung: Das Kinostück [1913] und dem retrospektiven Vorwort zur Neu-Ausgabe [1963] des Kinobuchs, die beide von dem Herausgeber Kurt Pinthus verfasst wurden, expliziter beschrieben. Die im Kinobuch (1913/14) versammelten Texte vertreten eine durchweg komplementäre Perspektive auf die Beziehung zwischen Film und Text. Den originären Gedanken für die Textsammlung führt Pinthus 1963 auf die andauernde Begeisterung für den Film zurück und lässt hierbei nicht unerwähnt, dass er 1913 auch die »wohl erste je in Druck gegebene prinzipielle, ausführliche Filmkritik«246 verfasst habe247 – entgegen dieser Äußerung veröffentlichten Fachzeitschriften wie der Kinematograph (1907-1935) und die Lichtbild-Bühne (1908-1940) bereits fünf Jahre zuvor Filmkritiken.248 Dennoch ist das Kinobuch die erste Sammlung ihrer Art, da alle Beiträge als direkte Ideenvorlagen oder konstruktive Anmerkungen für Filmprojekte konzipiert werden.249 Sie sind inhaltliche 242 Tannenbaum, Herbert: Kino & Theater (1912), S. 18f. 243 Vgl. ebd., S. 19. 244 »Das kinematographische Bild nimmt den Körpern ihre Plastik und läßt sie als Fläche wirken. Dieser Flächenwirkung gemäß muß der Schauspieler agieren und sich bewegen, wenn anders es ihm gelingen soll, Mimik und Geste zur eindringlichen Geltung zu bringen«. Ebd., S. 22f. 245 Aus diesem Grund wird auch hinter dem Kinobuch das Publikationsjahr (1913/14) angegeben und hinter den darin enthaltenen Texten (1913). 246 Pinthus, Kurt: Vorwort (1963), S. 10. 247 Diese Filmkritik wurde von der Leserschaft zerrissen, da man nicht verstehen konnte, wie Pinthus einen Abschnitt einer Zeitung, der für valide Literatur- bzw. Theaterkritik vorgesehen ist, für eine Kritik des Unterhaltungsmediums vergeuden konnte. Vgl. ebd., S. 11f. 248 Vgl. Müller, Dorit: Gefährliche Fahrten (2004), S. 192. 249 Pinthus, Kurt: Einleitung (1913), S. 19. Einige der Autor:innen des Rowohlt Verlags machen im Winter 1913 einen gemeinsamen Ausflug nach Dessau und gehen dort zusammen ins Kino, da eine Literaturverfilmung des gemeinsamen Verlags ausgestrahlt wird. Im Gegensatz zu anderen Kino-Aufführungen wurde diese noch von Klaviermusik und »d[er] Stimme eines im prächtigsten Sächsisch die Handlung kommentierenden Erzählers übertönt« (Pinthus, Kurt: Vorwort [1963], S. 9). »Dies kuriose Erlebnis verursachte lange und weitgreifende Diskussionen über den falschen Ehrgeiz des damaligen jungen Stummfilms, das ans Wort und die statische Bühne gebundene Theaterdrama oder den mit dem Wort schildernden Roman nachahmen zu wollen, statt die neuen, unendlichen Möglichkeiten der nur dem Film eigenen Technik sich bewegender Bilder zu nützen, und ich warf die Frag auf, was wohl jeder von uns, aufgefordert, ein Kinostück zu verfassen, produzieren würde«. ebd., S. 9f.). Mit dem Bewusstsein, dass bereits ein Transformationsprozess von Literatur zu Filmvorlagen vor sich ging, diskutierten die Literat:innen wie eine medienspezifische Vorlage für einen Film mit literarischem Anspruch auszusehen habe (vgl. ebd., S. 10f.). Zwischentitel wurden

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Empfehlungen für den Film. Dabei zielt Pinthus’ kritische Definition der unterschiedlichen filmischen Genres auf eine methodische Empfehlung für die Filmproduktion, da das Kino »sein eigentliches Wesen zu mißachten beginnt«.250 Diese Wesensverfälschung läge an der Orientierung an den Künsten, insbesondere dem Theater,251 und zögere die optimale Umsetzung des Filmischen heraus. Die technischen252 Genregrenzen werden in den Beiträgen des Kinobuchs zum künstlerischen Produktionsprinzip erklärt und konstituieren gleichzeitig den Möglichkeitsspielraum des Mediums. Dabei beziehen sich Einleitung und Vorwort jedoch vornehmlich auf den stofflichen Inhalt und weniger auf die technische Darstellbarkeit. Pinthus Parallelisierung von Kinostück und Roman setzt diesen Schwerpunkt. Denn nach Pinthus teilen beide Medien das betrachtende Folgen einer dynamischen253 Handlung, welche »unabhängig von räumlicher Begrenzung« sei und deswegen dargestellte Bewegung vorgebe.254 Zusätzlich wäre »[d]as Kinopublikum [.] im wesentlichen ein Romanlesepublikum«,255 weswegen der Pinthus das Kino als kathartische Erfahrung256 figurenbezogener Phantasien und Abenteuer beschreibt.257 Hiermit steht er nicht allein, da auch Hugo von Hofmannsthal258 oder Gerhart Hauptmann259 gerade die traumhaften Möglichkeiten des Filmischen besonders hervorheben – welche eher selten die technische Umsetzbarkeit ihrer Ideen berücksichtigen. Aus einer solchen rein stofflichen Adaption geht jedoch hervor, dass Pinthus das Kino nicht als eigene Kunstform anerkennt und seinen künstlerischen Wert eigentlich literarischen Narrativen entlehnt. Diese strikte Komplementierung wird durch die hierarchisierende Klassifizierung des Publikums noch verstärkt. Eine Position, die auch Alfred Döblin vertritt, was in Kientopp. Das Theater der kleinen Leute (1909) erkennt. Denn der Vorteil an literarischen Inhalten im Film sei nach Pinthus zusätzlich, dass das Massenpublikum von den ernsteren Künsten abgelenkt sei.260 Denn

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dabei als Indiz dafür gewertet, dass bestimmte Szenen nicht adäquat abgebildet werden könnten, sofern die Vorlage literarisch sei. Der Entschluss zu Textvorlagen, die sich als transitiv und funktionsorientiert begreifen, ist für die Verfasser:innen demnach ein konsekutiver. Pinthus, Kurt: Einleitung (1913), S. 19. Hierbei wird die Kritik von Pinthus von vielen anderen Theorien gestützt, jedoch ist die Einleitung des Kinobuchs eine der frühsten Kritiken dieser Art. Weitere zeitgenössische Texte, die das Kino stark von dem Theater abgegrenzt sehen wollen, sind beispielsweise: Vertov, Dziga: Wir. Variante eines Manifests (1922). Ausschlaggebender Unterschied ist für Pinthus 1913 die stumme mimische und gestische Kommunikation im Stummfilm. Vgl. ebd., S. 19f. »Deshalb ist es frevelhaft, Stücke, die für die Technik des Theaters geschrieben sind, überhaupt zu verfilmen«. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 26. Ebd., S. 21 u. 25. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 21ff. Dies entspricht der Positionierung der Autor:innen innerhalb der expressionistischen Avantgarde-Strömung, die sich auch durch individuelle Erfahrungen und Ich-Dissoziation ausdrückt. Vgl. von Hofmannsthal, Hugo: Der Ersatz für die Träume (1921). Vgl. Hauptmann, Gerhart: Über das Kino (1922). Vgl. Pinthus, Kurt: Einleitung (1913), S. 24.

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was höchste Kunst will (o Aristoteles, Lessing, Schiller, Nietzsche) erreicht das Kinostück mit rohen, primitiven Mitteln: Menschlichstes, Metaphysisches aufrütteln … edler, glücklicher werden (ohne deshalb Kunst zu sein). Und es ist wohl nicht die Schuld der Menschen, daß von jeher der größte Teil der Menschheit auf solche primitive, rohe Reize – auch in fortgeschrittenen Kulturen – schneller reagiert als auf höchste Kunst.261 Pinthus meint hier nichts anderes als die wahrnehmungspsychologische Inanspruchnahme der Betrachtenden durch den Film. Und so spiegeln auch einige Texte des Kinobuchs (1913/14) die physiologische Technik des Films in der Beanspruchung der Reize262 durch ein experimentierfreudiges Schriftbild. Dabei gäben aber die Texte und auch potentiellen Umsetzungen »[der] Autoren nicht viel mehr [.] als mechanisierte Erfindung und Erregungen des Gemüts«;263 also explizit: »keine Seelenkunst«.264 Das automotorische Reagieren der Masse auf Texte, die für das Kino entworfen wurden, steht hier also im Gegensatz zur grenzenloser Wirkweise hoher Kunst – der Literatur, die nicht als Vorlage konzipiert wird. Die unterschiedlichen Texte des Kinobuchs werden so mit einer ideellen und recht traditionellen Auffassung von Kunst eingeleitet, die versucht, dem neuen technischen Medium künstlerische Inhalte einzupflegen. Die Funktion des Films ist hier die Wiedergabe und Vermittlung literarischer Inhalte, weswegen er auch nur als rein technisches Medium abgehandelt wird. Die Irrelevanz der genuin filmischen Ästhetik wird vor allem dann deutlich, wenn Pinthus mit der Vorstellungskraft der Leser:innen begründet, dass eine technische Darstellung der Texte obsolet sei: »oder ob sie bleiben wie sie entstanden: Kino der Seele«265 – also Text. Zwar betont der Herausgeber, dass seine theoretischen Überlegungen nicht die explizite Überzeugung der Autor:innen deckt, so fände er sie aber in ihren Stücken bestätigt.266 Denn das Zwischenmediale der Beiträge im Kinobuch (1913/14) sei entscheidend,267 wobei die die einzelnen Einreichungen selbst jedoch als literarisch zu verstehen seien, so Pinthus.268 Aber was sichert diesen literarischen Wert, wenn die Stücke sich am Medium Film zu orientieren und damit das literarische Potential zu mechanisieren haben? Nach Pinthus sichern sie ihren literarischen Wert durch ihre experimentelle Form: »Da diese Form weder Novelle noch Drama sein durfte – denn das Drama ist aufgezeichnetes 261 262 263 264

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Pinthus, Kurt: Einleitung (1913), S. 25. Dass das Kino niemals die höchste Kunst erreichen kann, wird auf S. 27 abermals betont. Vgl. ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Vgl. ebd. Franz Pfemfert stimmt Pinthus hier zu, sieht die Seelenlosigkeit jedoch als zeitliches Phänomen, das dem Film ermöglicht sich durchzusetzen: »Seelenlosigkeit ist das Merkmal unserer Tage. Seele haben heißt Individualität besitzen. Unser Zeitalter erkennt Individualität nicht an«, Pfemfert, Franz: Kino als Erzieher (1911), S. 60. Pinthus, Kurt: Einleitung (1913), S. 28. Vgl. ebd., S. 27. »Aber wir wissen, diese Stücke sind blind wie – spricht Kant – Anschauungen ohne Begriffe. Erst der Kinoregisseur kann das in diesem Buche Aufgezeichnete zu spaßhaftem und rührendem Leben erwecken«. Ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 27.

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Theater, die Novelle aufgezeichnete Erzählung –, so mag es ergötzlich und unterhaltsam sein, zu sehen, wie die Schriftsteller eine Form suchen, die in etwa aufgezeichnetes Kino ist.«269 Hierbei fasst Pinthus implizit die typographische Dimension ein und bleibt einer traditionellen Perspektive auf Gattungen und technische Grenzen verhaftet. Wenn aber Pinthus das Experimentelle und Uneingeschränkte der Form als literarischen Wert der Texte festhält, so setzt er auch das Fundament für visuelle Gestaltung als experimentelle literarische Technik. Denn die Versuche der Formvariationen werden nicht von kohärenten Regeln eingeschränkt und entfalten gerade in diesem Möglichkeitsspielraum ihren literarischen Wert. Typographische Experimente sind eine freigestellte Gestaltungsoption, aber nicht vorgegebene Bedingung, wodurch ihr Gebrauch und ihre Abweichungen umso spannender werden. Das bedeutet auch, dass im Austausch mit einem technischen Medium die Texttypographie eine Selbstreferenz entwickeln kann – indem beispielsweise ein Negativzeichen wie der Wirkraum eine tatsächliche Handlungsunterbrechung suggeriert. Dieses Potential wird von Pinthus als literarisches verstanden. Pinthus selbst versteht diese Experimente der Autor:innen als Versuch, das filmische Medium in die Literatur zu übersetzen – und durch die typographische Dimension findet diese Übersetzung visuell statt, denn: »wir bemühten uns, kinematographisch zu sehen, jede Situation verfilmbar zu erfinden«,270 um damit den reziproken Austausch visueller Kommunikation zwischen den Gattungen zu generieren. Hier steht also, wie zu Beginn dieses Kapitels betont, die Funktion im Vordergrund der Gattung, während die angewandte Technik zu einem literarischen, also künstlerischen Prinzip erklärt wird. Dies ist eine Intention, die auch Dziga Vertov neun Jahre später aufgreifen wird, wenn er sagt: »Um ein Kinopoem oder eine Sequenz in sich reifen zu lassen, muß der Kinok sie genau aufzeichnen können, um ihnen unter günstigen technischen Bedingungen das Leben auf der Leinwand geben zu können«271 – Vertov meint hier nichts anderes als Transkriptionsprozesse zwischen Text und Leinwand. Zudem wird er in den Ausführungen zum Übersetzen weitaus expliziter als Pinthus, da er konkret die visuelle Organisation der Seite anspricht: »Um auf einem Blatt Papier eine dynamische Studie zu entwerfen, bedarf es graphischer Zeichen der Bewegung. Wir sind auf der Suche nach dem Filmalphabet«.272 Beschriebenes Ziel von Vertov ist also ein systematisches Aufzeichnen visueller Sprache. Das, was erreicht werden soll, bei einer Heterarchie der Künste, wäre damit ein mehrdimensionales und reziprokes Wechselverhältnis, in dem die Gattungen sich der Methoden anderer bedienen könnten, um diese in der eigenen Sprache zu re-form-ulieren. So sprechen nicht nur Pinthus und Vertov, sondern auch Ėjchenbaum und andere sich dafür aus, dass klassische Literatur nicht ohne angebrachte Übersetzung in die »>Photogeniesortengleicher< Texte [.] zur Konventionalisierung und Funktions-Zeichenbildung« (Wehde, Susanne: Typographische Kultur [2000], S. 119). Mit der FunktionsZeichenbildung ist hier die Verwendung von Zeichen zur Unterstützung des Textinhalts gemeint – also die ästhetische Funktion der Typographie. 121 Typographische Kompetenzen scheinen dabei jedoch auch von verschiedenen Zeiträumen und Medien abzuhängen, da einige gegenwärtige Untersuchungen der Sprachwissenschaft nahelegen, dass der korrekte Gebrauch und Einsatz von Interpunktion und Emojis in Textnachrichten über die Messenger von Smartphones von der medialen Erfahrung der Benutzer:innengruppe abhängig ist. Vgl. Tschernig, Kritin/von Hertzberg, Katharina: Altersgruppenspezifisches Nutzverhalten 116 117 118 119

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

der Text keinen medientechnologischen Druck an. Im Gegensatz dazu präsentiert er sich durch die fehlenden materiellen Eingriffe in einem äußerst zugänglichen, da literarisch konventionellen, Textbild. Das intendierte Ausblenden der Textbildlichkeit zur Förderung der visuellen Literaturrezeption hat zur Folge, dass Plumm-Pascha (1913) dem stilisierten Layout eines erzählenden Textes entspricht. Mit Lasker-Schülers ästhetischem Text-Konzept von ornamentaler Form im Manuskript zu einem semantischen Fokus im Druckbild ist das materielle Textbild Plumm-Paschas einleuchtend. Der strategische Fokus liegt im Erzähltext jedoch eindeutig auf dem Ausbau eines literarischen Monopols: der Einbildungskraft. Da die verwendeten typographischen Mittel allesamt semantisch codiert sind und sie in allen Fällen auf den Inhalt des Textes Bezug nehmen, kann hier nicht von einer visuellen Steigerung für die Lesenden die Rede sein. Vielmehr versucht Lasker-Schüler die phantastischen Inhalte, die expressionistische Stummfilme zeitgleich zeigen,122 auch literarisch zugänglich zu machen – gerade weil sie durch das Kino wieder aufleben. Dabei steht die inhaltliche Irrealisierung der typographischen Realisierung einer Erzähleinheit gegenüber. Lasker-Schüler orientiert sich auf diese Weise an den von Pinthus festgehaltenen inhaltlichen »Ausdrucksmitteln« des Kinostücks: Mobilität, Dynamik und Überraschung.123 Die einheitliche typographische Form greift zusätzlich dessen Wunsch nach einem literarischen Erzählkonzept für das Kino auf. Da Plumm-Pascha den vorab durch die Einleitung formulierten Eigenschaften eines Kinostücks – der Erzählform des filmischen Wesens124 – folgt, stellt er einen Erzähltext dar, der das literarische Verständnis einer Steigerung filmischer Inhalte ausweist. Nicht zufällig übersteigt der Vorschlag in Plumm-Pascha die zeitgenössischen Mittel des Films und stellt damit den Erzähltext in seinen phantastischen Erzähloptionen vor die Medientechnologie des Films, die in ihren Abbildungsoptionen noch eingeschränkt ist.

4.1.3 Zwischen Himmel und Erde (Heinrich Lautensack, 1913) Im Kinobuch (1913/14) wird Lautensacks Beitrag Zwischen Himmel und Erde (1913) als benanntes125 Vorzeigebeispiel an letzter Stelle der experimentellen Texte und vor dem Brief Kinodramen (1913) von Franz Blei, platziert. Die Expositionsstruktur des kinematographischen Spiels ist relativ simpel gehalten, was durch seine bereits unter Beweis gestellte Verfilmbarkeit zum Merkmal eines gelungenen (literarischen) Filmtextes wird. Denn gerade eine überschaubare Handlung kann durch eine Vielzahl von technischen Mitteln gesteigert und der Medientechnologie Film angepasst werden. In Zwischen Himmel und Erde von Bildzeichen bei WhatsApp (2015); Dürscheid, Christa/Frick, Karina: Keyboard-to-Screen-Kommunikation gestern und heute (2014); Dürscheid, Christa/Wagner, Franc/Brammer, Sarah: Wie Jugendliche schreiben (2010). 122 Prominente Untersuchungen hierzu sind Kurtz, Rudolf: Expressionismus und Film (1926), Kracauer, Siegfried: From Caligari to Hitler (1947), Eisner, Lotte: The Haunted Screen (1952). Auf diese Position baut die Herausgabe Scheunemann, Dietrich: Expressionist Film (2003) auf, indem die Positionen untersucht und erweitert werden. 123 Vgl. Pinthus, Kurt: Einleitung (1913), S. 25-27. 124 Ebd., S. 25-27, S. 27. 125 Vgl. Pinthus, Kurt: Vorwort (1963), S. 13f.

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wetteifern im zentralen Handlungsgeschehen der Ingenieur Olaf Torstensson und der Gutsverwalter Erdmann von Erdmannsdorf zunächst im Stillen und später im Kampf um die Gunst der Gutstochter Inge von Britz. Erdmannsdorf, der seit Jahren die Bücher des Guts eher schlecht als recht führt, will Inge zum gemeinsamen Glück mehr zwingen als überzeugen oder gewinnen – er ist der stereotypische Bösewicht. Aus einem Duell neben dem zuvor reparierten Schornstein, also Zwischen Himmel und Erde (1913), geht Torstensson als Sieger und Erdmannsdorf, nomen est omen, als Verlierer, sogar Toter, hervor. Die Wendepunktdramaturgie wird deutlich an die Figur Torstensson, den Ingenieur, und dessen Einfallsreichtum angelehnt. Der Menschentypus des Ingenieurs als innovative und moderne Type führt hier also im direkten Vergleich einen Bösewicht der alten Schule vor. Für den Text Zwischen Himmel und Erde von Heinrich Lautensack gibt es, abgesehen von den anderen Beiträgen des Kinobuchs, einen direkten Vergleichstext: die literarische Vorlage von Otto Ludwig aus dem Jahr 1856. Bei der Vorlage handelt es sich um eine Erzählung, die grob das Thema von Lautensacks Variante vorgibt: auch hier kämpfen zwei Rivalen auf einem Dach um die Gunst einer Frau. Um die visuellen Eigenschaften dieser Vorlage vom kinematographischen Spiel Lautensacks abzugrenzen, folgt ein Blick auf den Beginn beider Texte. Denn auch ohne die zahlreichen inhaltlichen Abweichungen herauszuarbeiten, kommunizieren die Textbilder bereits, dass sie unterschiedlich zu kategorisieren sind. Gleichzeitig verdeutlicht der Kontrast die visuelle Abgrenzbarkeit typographischer Dispositive. Denn während die Vorlage, ähnlich wie Lasker-Schülers PlummPascha, einen erzählenden Fließtext zeigt, bemüht sich Lautensack in seinem Text um eine dialogische Einteilung der Figuren und Szenen.

Abbildung 6: Otto Ludwig: »Zwischen Himmel und Erde« (1856), S. 1 (links); Heinrich Lautensack: »Zwischen Himmel und Erde« (1913), S. 1 (rechts).

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Abbildung 7: Heinrich Lautensack: »Zwischen Himmel und Erde« (1913), S. 142/143.

Der Vergleich von Heinrichs Lautensacks Text mit dem von Otto Ludwig gibt bereits auf Grundlage der typographischen Unterschiede entscheidende Informationen preis. Während das Textbild von 1856 dem von Plumm-Pascha (1913) als Fließtext ohne auffällige Markierungen nahesteht, scheint das visuelle Raster von Lautensacks Text eher einem dramatischen Textaufbau zu folgen. Ludwigs Textbild ist monologisch, wie in PlummPascha, und Lautensacks Text dialogisch aufgebaut. Gerade der dynamische und gehäufte Auftritt von Gedankenstrichen und Punktfolgen fällt neben dem nummerierten und strukturierten Aufbau der Szenenbilder in Lautensacks kinematographischem Spiel besonders auf. Doch auch in Otto Ludwigs ansonsten sehr fließenden und einheitlichen Erzählung nimmt der Gedankenstrich eine präsente Rolle an. Wie Martina Michelsen in Weg vom Wort – zum Gedankenstrich (1993) erarbeitet, trägt der Gedankenstrich bereits im 18. Jahrhundert europaweit126 zunehmend die Funktion eines Negativzeichens: »Das im Gedankenstrich Geäußerte ist nicht mehr durch Worte ersetzbar«.127 Dabei entwickelt er nach Ende des 19. Jahrhunderts einen »eigenständige[n] Zeichencharakter«128 und deutet auf »die sich […] auftuende Leere«.129 Zwar redet Michelsen hier vom Innenleben der

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Die Studie bezieht auf englischsprachige Literatur, jedoch betont die Autorin zu Beginn ihrer Studie, dass es sich um ein Phänomen handelt, das europaweit zu belegen ist. Vgl. Michelsen, Martina: Weg vom Wort (1993), S. 13. Ebd., S. 264. Ebd., S. 258. Ebd., S. 259.

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literarischen Figuren, die sie analysiert, jedoch kann dieser Verweis auch auf texttypographischer Ebene ausgedeutet werden, indem er das (abrupte) Ende von Textelementen ausweist. Michelsen forciert in ihrer Analyse lediglich die ästhetische Funktion des Satzzeichens, da sie den Gedankenstrich, wie auch hier bereits in der Analyse PlummPaschas (1913) vermerkt, als kulturell und literarisch aufgeladenes Zeichen liest. Der Gedankenstrich geht also bereits im 18. Jahrhundert über seine rein interpunktive Funktion hinaus, wobei die Materialität eines Textes nicht notwendigerweise räumlich oder zeitlich von ihm gesteigert wird.130 Definitiv ist aber eine Einteilung, Distanzierung und Abgrenzung von Satzteilen durch den Gedankenstrich ein direktes visuelles Merkmal des Satzzeichens. Zusätzlich ist das vorangestellte, verkleinerte und eingerückte Motto in Lautensacks Zwischen Himmel und Erde (1913) kein aussagekräftiges Klassifizierungselement, da Motti gattungsübergreifend eingesetzt werden. Wie in Abbildung 6 zu erkennen ist, wirkt die Länge des Mottos jedoch ungewohnt. Dabei mimt der erzählende, fast pathetische Ton eine dramatisierende Erzählinstanz. Der dadurch entstehende Eindruck eines AutorKommentars wird durch Lautensacks Initialen verstärkt. Diese doppelte Autor-Positionierung131 und damit auch -inszenierung wird noch auffälliger durch den fehlenden Verweis auf den Originalstoff. Noch interessanter wird diese Strategie, wenn zwar der Ursprung des Stoffs nicht ausgewiesen wird, dafür aber der gesetzlich-rechtliche Eigentümer: »*)‹Dieses (bereits aufgeführte) Szenarium ist Eigentum der Continental Kunstfilm G.m.b.h.‹«.132 Dieser Vermerk ist wohl ein frühes Omen für den Dreigroschenprozess (1930) zwischen Bertold Brecht und der Nero-Film AG. Denn in diesem wird um den Stoff der Dreigroschenoper (1929) gestritten, den Brecht zuvor jedoch selbst adaptiert hat. Brecht bekundet im Nachhinein, dass der Prozess ein soziales Experiment zum zeitgenössischen Stellenwert des Autor:innenbegriffs gewesen sei, welches zeige, »daß die vom Autor eingenommene Rolle weder juristisch geschützt noch praktisch produktiv ist«.133 Mit dem Rechtspruch für die Nero-Film AG kann eine entscheidende Schlussfolgerung getroffen werden: Die gattungsinterne Überführung von literarischen Stoffen ist im frühen 20. Jahrhundert weitaus unproblematischer als ihre Überführung in die lukrative Medientechnologie des Films – was nicht nur mit den medialen Transkriptionsbedingungen, sondern auch mit den veränderten Produktionspositionen und -kollektiven zusammenhängt. Es lässt sich daher vermuten, dass gerade das vorliegende Textbild des Stoffes,

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Gerade die Kleistforschung hat den traditionellen und innovativen Umgang mit den Satzzeichen des Gedankenstrichs und der Punktfolge aufgearbeitet. Bay, Hansjörg: Die Punkte der Marquise (2017) ist einer der jüngsten Beiträge, während auch Stenzel, Jürgen: Zeichensetzung (1966, S. 55-69) bereits eine hermeneutische Analyse vorlegt. Dabei steht die semantische Implikation der Satzzeichen im Vordergrund, da der Gedankenstrich zumeist gesetzt wird, wenn ein Teil der Handlung gezielt nicht ausgeführt wird; so etwa die Vergewaltigung der Marquise. Damit wird die Novelle Die Marquise von O… (1808) von Heinrich von Kleist mustergültig für Satzzeichen, die ihre interpunktive Funktion übersteigen. Einmal wird Lautensack im Untertitel Ein kinematographisches Spiel in 3 Akten von Heinrich Lautensack namentlich erwähnt und zusätzlich durch die Initialen am Ende des Mottos. Lautensack, Heinrich: Zwischen Himmel und Erde (1913), S. 141. Uecker, Matthias: Wirklichkeit und Literatur (2007), S. 237f.

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welches mit typographisch markierten Regie-, Szenen- und Kameraanweisungen versehen ist, seinen entscheidenden kapitalistischen Wert darstellt. Denn die Urheberrechte werden hier erst durch die transmediale Überführung und Aneignung des Stoffes relevant134 – und, was vielleicht noch entscheidender ist, der Filmproduktionsfirma zu- und dem Autor abgesprochen. So sind auch die Eingriffe in Lautensacks Zwischen Himmel und Erde (1913), die Pinthus nachweislich vornahm, um einen literarischen Text aus dem Drehbuch zu formen, nicht unerheblich. Alexander Schwarz hat daher das Ausmaß dieser Veränderungen anhand eines Vergleichs mit dem Manuskript festgehalten. Dabei stellt er fest, dass auch das auffällige Motto für die Druckfassung nach Aufforderung des Herausgebers überhaupt erst aufgesetzt wurde. Zudem schlägt Pinthus ein verändertes typographisches Raster vor, obwohl er im Vorwort des Kinobuchs (1913/14) die formale Freiheit der Einreichungen betont. Schwarz fasst die Änderungen so zusammen: Wo das Manuskript Einrückungen und Zeilenumbruch zur Markierung neuer Einstellungen pro »Bild« verwendet hatte, entstand im Druck ein kompakter, fortlaufender Text, bei dem die von der Mitte der Vorzeile an den Zeilenanfang gerückte Nummer ebenfalls das Erscheinungsbild unauffälliger macht. Pinthus hat im Manuskript mit Bleistift alle Anschlüsse und aufgehobenen Einzüge mit Korrekturzeichen eingetragen. Technotext, Angaben zu Größenordnung und Perspektive […] sind getilgt oder in die kohärente, traditionellere Textform integriert.135 Diese Eingriffe verdeutlichen, dass diese Veröffentlichung mit einer Lesefassung des Filmtextes einherging – nach Alexander Schwarz kein ungewöhnlicher Umgang mit Filmtexten aus Russland und Deutschland in den 1910ern und 20ern des 20. Jahrhunderts.136 Für die Untersuchung einer typographischen Technik, die sich durch Visualisierungsmethoden ausdrückt, ist dabei eine Feststellung von Schwarz besonders entscheidend: »So haben die Überlegungen über eine Annäherung von Film und Literatur bald zur Interessenverlagerung geführt: von der Realisierungsanweisung zur reliterarisierten Form«.137 Lesbarkeit wird für diese Herangehensweise der reliterarisierten Form zu einer der wichtigsten Kriterien.138 Die Eingriffe von Pinthus arbeiten damit den ursprünglich als Drehbuch genutzten Text zu einem Filmtext um, der für das gängige Lesepublikum leserlich gestaltet ist und sich dadurch weniger durch eine visuelle Technik auszeichnet. Durch dieses Anpassen des Layouts gibt der Pinthus zu verstehen, dass er von einer Beeinflussung des Leseprozesses durch die Visualität des Textes ausgeht. Auch wenn hier also gezielt keine rein filmische Typographie abgedruckt 134

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Rechtlich gesehen wäre ab 1874 bzw. 1886 bereits die Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst gültig gewesen, die 1910 nochmals detaillierter überarbeitet wurde. Die rechtliche Vorgabe und das praktisch durchgeführte Recht waren in der jungen Filmbranche zunächst schwierig zusammenzudenken. 1913 wurde so erst die Regelung für transkünstlerisches Urheberrecht zwischen Russland und Deutschland festgehalten. Vgl. Schwarz, Alexander: Der geschriebene Film (1994), S. 72f. Ebd., S. 119f. Ebd., S. 181. Ebd., S. 183. Vgl. ebd., S. 185.

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wird, so ist das vorliegende Bewusstsein zu einer visuellen Textgestaltung durchaus aufschlussreich. Denn es unterstreicht die eigentliche Funktion der Texte im Gegensatz zu ihrer deklarierten Funktion: Es handelt sich nicht um literarische Textvorlagen für Filmproduktionen, sondern um filmische Erzählungen für ein Lesepublikum. Dass Lautensack gerade zu Beginn seiner Drehbuchautor-Karriere nicht auf die eigenen Texte zurückgreift, ist nicht unabhängig von seinem ausbleibenden Erfolg als Dramaturg zu verstehen. Denn nach Lautensacks Schreibkarrierenauftakt mit den Elf Scharfrichtern, bei denen u.a. auch Frank Wedekind aktives Mitglied ist, versucht er sich zunächst an Gedichten, schreibt dann aber vermehrt Dramen, die oft zensiert werden.139 Friedrich Brunner liest die Zensur von Lautensacks Dramen als dessen frühe Hinwendung zum Film, da die Medientechnologie seine Skripte verfilmt, wodurch die aufkommende Branche zu einer lukrativen Einnahmequelle für ihn wird.140 Bereits 1913 arbeitet Lautensack bei der Continental Kunstfilm-Gesellschaft als Dramaturg und Reklame-Chef.141 Die vornehmlich visuelle Filmsprache des frühen Stummfilms hat Lautensack zum Zeitpunkt der Publikation des Kinobuchs (1913/14) also bereits in sein Repertoire aufgenommen – er weiß die Technik der filmischen Ausdrucksmöglichkeiten zu kommunizieren. Das zeigt auch das Textbild von Zwischen Himmel und Erde (1913). Interessant ist dabei, dass Lautensacks Filme von Zeitgenoss:innen und der Forschung nicht als Autorenfilms verstanden werden, weil dieser Autor nicht als Literat, sondern als Drehbuchautor und Dramaturg eingeordnet wird142 – auch wenn der Stoff aus seiner Feder kommt. Die Dialogizität des Textbildes weist eine deutliche Orientierung am typographischen Dispositiv des Dramas aus. Die Parallelen von dramatischem und filmischem Skript entspringen dabei weniger den Gemeinsamkeiten der Genres, wie auch eine Vielzahl kritischer Stimmen innerhalb der Kino-Debatte anmerken. Vielmehr ist es die Produktionsseite, also die der Drehbuchautor:innen, die sich an der performativen Umsetzbarkeit des Textes am Drama und Theater orientieren, also an ihrer Plurimedialität143 – so auch Lautensack. Die Kriterien sind in beiden Textformen visuelle Übersichtlichkeit, eine klare performative Struktur und visuelle Vermittlungsoptionen im Stoff. Das, was den dramatischen Text und das frühe Drehbuch verbindet, ist also vor allem ein unmittelbares Verständnis seines plurimedialen Textanteils, auf dem die Handlungsaufforderung für die filmische Umsetzung ablesbar wird. Dabei ist bemerkenswert, dass diese Plurimedialität ausschließlich über makro- wie mikrotypographische Ordnungen und Markierungen vermittelt wird. Aus Lautensacks Filmtextentwürfen entwickeln sich die erzählenden Drehbücher, welche eng mit der Entwicklung des filmischen Storytellings verknüpft sind. Dabei führt Jürgen Kasten den erzählenden Ton dieser Drehbücher auf den Umbruch von Kurz- zu

139 Vgl. Brunner, Friedrich: Heinrich Lautensack (1983), S. 50-62. 140 Vgl. ebd., S. 52. 141 Vgl. ebd., S. 63. Anschließend arbeitet Lautensack für die Deutsche Bioscop, die 1917 auch Teil der UFA wird. Vgl. ebd., S. 66. Bis zu seinem Tod 1919 bleibt er weiter im Filmgeschäft tätig und stand, nach Brunners Einschätzungen, vor weiteren Erfolgen. Vgl. ebd., S. 74f. 142 Vgl. Kasten, Jürgen: Auf dem Weg zum ›Erzählkino‹ (1998), S. 249. 143 Vgl. Müller-Wood, Anja: Drama (2009), S. 143.

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Langzeitfilmen zurück, denn eine längere Ausstrahlungszeit von den nun aufstrebenden Zwei- oder Dreiaktern sind »mit einer linear Szenen reihenden Dramaturgie kaum noch spannungsreich zu füllen«.144 Hieraus gehe ein »erzählerische[r] Gesamtplan« hervor: Die Filmerzählung wird in segmentierten, für die filmtechnische Aufnahme abgegrenzten und diese präfigurierenden Bildern entfaltet«.145 Im Textbild von Zwischen Himmel und Erde (1913) ist dieser Übergang durchaus erkennbar (Abb. 8). Gerade diese Nähe zum dramatischen Textsatz erschwert eine erste eindeutige Abgrenzung und Zuordnung der Stilmittel.146 Das liegt vornehmlich daran, dass aus typographischer Perspektive das dramatische Text-Dispositiv eine Vielzahl von freien Variationen entwirft, um seine »Inhalts- und Sprachebenen« zu koordinieren.147 Nicht nur die Textanordnung, sondern auch die Schriftauszeichnungen im typographischen Dispositiv des Dramas treten, so Susanne Wehde, vielfältiger auf als in vergleichbaren Textbildern. Ebenso wie das Textbild Plumm-Paschas (1913) eine Erzähllektüre entwirft, vermittelt dieses dramatische Textbild einen dialogischen Gehalt, der Interaktion, Dynamik und auch Performanz ausdrückt. Ein solch kommunikatives Textverfahren ist eine visuelle Technik des literarischen Feldes, die sich in der typographischen Struktur und Organisation ausdrückt. An diesen visuellen Aktionspotentialen einer dialogischen Textbildlichkeit orientiert sich, ausgehend von der notwenigen Übersetzungsfunktion des Genres, demnach auch das frühe Stummfilm-Drehbuch. Alexander Schwarz und Anton Kaes benennen für den weiteren Entwicklungsprozess des Drehbuch-Genres fünf Phasen: 1. vorliterarische Versuche von Filmskizzen (1895-1906/09), 2. Entwicklung erster Prototypen (1907-13), 3. Literarisierung- und Standardisierungsphase (1914-23), 4. Professionalisierungs-, Experimental- du Stabilisierungsphase und 5. Spezialisierungsphase durch den Tonfilm (ab 1924).148 Die Publikation des Kinobuchs (1913/14) fällt in den Übergang der Phase der Entwicklung von Prototypen149 und der Literarisierungs- und Standardisierungsphase. Dieser Übergang zwischen den eingeteilten Entwicklungsphasen des Drehbuchs, zeigt sich in den unterschiedlichen aisthetischen Qualitäten der Filmtexte. Auch wenn Lautensack eine relativ freie Form des frühen Drehbuchs konzipiert, tragen die typographischen Markierungen hier, auch nach den literarisch angepassten Änderungen, einen plurimedialen Charakter, der den Text als mittelbare Gattung ausweist. Durch die typographischen Markierungen können für die Analyse des Textes bereits einzelne Anhaltspunkte des Analysemodells hilfreich werden – auch wenn sich ein gezielter Einsatz dieser Mittel als literarische Texttechnologie erst in den 1920ern mit einem konkreten Funktionsempfinden für Typographie herausbildet. Gerade die Kursive Kasten, Jürgen: Auf dem Weg zum ›Erzählkino‹ (1998), S. 250. Ebd., S. 251. Die visuellen und strukturellen Parallelen von Dramensatz und Drehbuch werden dabei leider allzu oft in theoretischen Annäherungen an das frühe Drehbuch des Stummfilms ausgelassen und Vorgänger:innen wie das Opernlibretto, das scenario er commedia dell‹ arte und andere hervorgehoben. Vgl. Schwarz, Alexander: Der geschriebene Film (1994), S. 24f. und 41f. 147 Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 123. Dabei betont Wehde, dass sich diese Eigenart des typographischen Dispositivs des Dramas bis heute durchsetzt und gefestigt hat. Vgl. ebd., S. 123ff. 148 Vgl. Scheurer, Kyra: Drehbuch (2009), S. 161f. 149 Vgl. Kaes, Anton: Einführung (1978). 144 145 146

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stellt hier ein interessantes Indiz dar. Der Sperrsatz der Frakturschrift im Kinobuch von 1913/14 wird in der Neuauflage 1963 mit einer Kursivsetzung übersetzt. Dies ist auf die Handhabbarkeit der Fraktur zurückzuführen, dessen Kursivierung weitaus aufwendiger ist als die der Antiqua. Hinweise hierauf lassen sich der Entwicklung der Druckverfahren und der Geschichte der Typographie entnehmen, in der traditionell eine Sperrung der Frakturschrift eine Hervorhebung markiert – also kategorisch mit einer Kursivsetzung der Antiqua vergleichbar wird. Mit einem Blick auf die zweite Auflage des Kinobuchs von 1963 kann ein heuristischer Vergleich vollzogen werden, der durchaus auch von editionsphilologischem Interesse ist und die kategorische Vergleichbarkeit von unterschiedlichen Mitteln bei einheitlicher Funktion unterstützt. Im Fall von Lautensacks Zwischen Himmel und Erde (1913) verweist die Markierung durch Schriftsperrung, also spationierter Schriftlaufweite, auf Textstellen, die als Zwischentitel für die medientechnologische Umsetzung angedacht sind (Abb. 8). Durch diese eher dezente Hervorhebung innerhalb des Fließtextes kommuniziert das Textbild, aus dem die meisten makrotypographischen Strukturelemente durch Pinthus entfernt wurden, eine visuelle Erzähleinheit. Die Sperrung der Zwischentitel kann als typographisches Textelement kategorisiert werden, da hier eine einheitliche Hervorhebung mit einer konkreten Funktion verknüpft ist: der Markierung der Zwischentitel. Zwar werden Sperrungen auch als Auszeichnung von mündlichen Textelementen verwendet,150 jedoch ist dies im vorliegenden Text nicht der Fall. In Zwischen Himmel und Erde (1913) wird nämlich die direkte Rede der Figuren im Skript durch Anführungszeichen markiert, während eine spationierte Schriftlaufweite lediglich und einheitlich nur die Zwischentitel ausweist. Die Visualität des kinematographischen Spiels betont damit den narrativen Zusammenhang durch die Textur der Typographie. Gerade im Vergleich zu Hasenclevers Die Hochzeitsnacht (1913), fällt auf, dass der Textfluss hier eben nicht durch größere Textelemente unterbrochen wird, was die Einheit der Handlung suggeriert. Hier wird so eine aisthetische Einheit erzeugt, obgleich der Texte eigentlich in 72 einzelne Bilder eingeteilt ist. Eine solche nummerierte Szenen-Aufteilung wird weder in Plumm-Pascha (1913) noch in Die Hochzeitsnacht als strukturierendes Element eingesetzt. Diese Einheitssuggestion wird von den fehlenden Wirkräumen unterstützt. So bleiben die (Szenen)Bilder visuell nur dezent durch Nummerierung und Zeilenumbruch voneinander abgegrenzt, stehen direkt unter- bzw. übereinander. Die fehlenden Absätze sind dabei nicht nur ein Merkmal der literarischen Umgestaltung, sondern auch eine platzsparende und damit kostensparende Methode der Publikation. Die Anhaltspunkte der Kursive und des Wirkraums verweisen in diesem Zusammenhang direkt auf Produktionshintergründe und Textfunktionen. An Zwischen Himmel und Erde lässt sich so eine typgraphische Funktionsdopplung ablesen, die durch die Veränderungen entsteht: ursprünglich fungierte die Texttypographie als medientechnologische Vorlage, nach den Eingriffen wird sie jedoch zusätzlich der Leserlichkeit unterstellt, verliert dadurch aber nicht ihr plurimediales Potential.

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So bestätigt auch Susanne Wehde: »Als typographische Mündlichkeitsmerkmale dienen vor allem Auszeichnungsschriften (Kursivierung, Versal- oder Fettdruck), aber auch nichtalphabetisches, graphisches Auszeichnungsmaterial wie Linien und Druckfarbe oder visuell-syntaktische Formbildungen wie Spationierungen (Sperrdruck)«. Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 135.

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Es liegen gerade deswegen einige markante und uneinheitliche typographische Markierungen vor. So zunächst der bereits erwähnte prominente Gedankenstrich, mit dem Erläuterungen und Anweisungen in den Text eingeschoben werden, die sich meist auf die Szenographie, Dramaturgie oder Kameraführung beziehen. Hinweise zum Szenenaufbau (»Mit allerlei Waffen ausgestattet, Gewehrschränken und – was die Hauptsache ist – einer in einem ziemlich geräumigen Kasten an der Wand angebrachten, verschließbaren und vom Hausherrn soeben aufgeschlossenen Hausapotheke«,151 »– auf einer Wiese am Wasser und die ganzen Fabrikbaulichkeiten zum Hintergrund –«),152 der Figurenausstattung (»– im Reitdreß –«),153 zu Gemütszuständen (»– instinktiv –«,154 »– und man muß die Sorge Inges um den heimlich geliebten Mann merken! –«,155 »– er muß sein Gesicht abwenden vor Freude über die Rettung! –«)156 oder den Kameraanweisungen (»– groß! nah! –«,157 »– Erdmannsdorfs Gestalt –«,158 »– ganz nah sichtbar –«)159 werden also vornehmlich von Gedankenstrichen eingefasst. Aber auch in der einzigen explizit ausgewiesenen Anmerkung des Textes wird der Gedankenstrich verwendet: »(Anmerkung: Durch das – geöffnete – Fenster muß man – in einiger Entfernung, auf einem gemalten Prospekt – den Fabrikschornstein sehen, auf dessen Spitze noch der Galgen angebracht ist! – Der alte Schornstein, dahinter befindlich, im Gegensatz zum neuen, lichten, ungleich dunkler auf der Leinwand gehalten!)«.160 Es liegen auch weitere Einschübe vor, die nur als Kommentar des Erzählers zu verstehen sind, wie etwa »Da sieht man vor allem ziemlich dicke Bücher, von denen man – offen gestanden – nichts versteht«161 oder »– hier wird seine Mannesehre, das köstlichste, was er Inge – reinerhalten – mitbringen kann, in Zweifel gezogen«.162 Diese Bemerkungen verdeutlichen die hybride Position des Textes zwischen erzählendem Text, und vor allem Erzähler, und Filmtext und dem damit obsolet werdenden Kommentator. Gleichzeitig wird hier aber genauso die gedoppelte Funktionszuschreibung von Zwischen Himmel und Erde (1913) deutlich. Denn diese Einschübe könnten ebenso wie das Motto auf eine Empfehlung von Pinthus entstanden sein, wozu sich jedoch kein Vermerk im Manuskript findet. Hierfür würde die humoristische Ausschmückung durch die Kommentare sprechen, die definitiv nicht auf den funktionsorientierten Anspruch eines Drehbuchs zurückzuführen ist. Zu diesen vielfältigen Aufgabenbereichen eines einzigen typographischen Satzzeichens kommt neben seinem häufigen und teils auch gereihten Einsatz dessen makrotypographische Unterteilung der Textteile auf Seite 143, die eine komplette Zeile ausfüllt

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Lautensack, Heinrich: Zwischen Himmel und Erde (1913), S. 143. Ebd., S. 158. Ebd., S. 144. Ebd., S. 147. Ebd., S. 145. Ebd., S. 155. Ebd., S. 144. Ebd., S. 148. Ebd., S. 151. Ebd., S. 142f. Ebd., S. 142. Ebd., S. 150.

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(Abb. 8). In diesem Umgang mit dem Satzzeichen wird die variable Funktionsvielfalt des Gedankenstrichs nochmal besonders auffällig eingesetzt, denn er kann in gereihter Anordnung die Seitenarchitektur beeinflussen, obwohl Satzzeichen im Regelfall auf mikrotypographischer Ebene operieren. Dies verdeutlicht zusätzlich die rezeptionsstrukturierende Hierarchie von Makro- und Mikrotypographie, denn die Semantik des Gedankenstrichs wird hier zweitrangig. Priorität hat zunächst die visuelle Einteilung der Seitenarchitektur, wodurch die semantisch-ästhetische Funktion des Satzzeichens in den Hintergrund rückt. Dieser Einsatz des Gedankenstrichs wird durch das Ausfüllen einer kompletten Zeile zum räumlich-materiellen Einschnitt und strukturiert damit die visuelle Koordination der Lesenden. Dieser technische Gebrauch des Satzzeichens wird von seinem materiellen Eingriff getragen und fungiert unabhängig von seinen repräsentativen Potentialen. Die Verwendung des Satzzeichens ist an dieser Stelle lediglich für das Lesepublikum relevant und soll einen Bruch im Erzählstrang suggerieren. Dem vielfältig einsetzbaren Gedankenstrich ist damit keine konkrete Semantik zuzuschreiben, da er materiell wie auch ästhetisch eingesetzt werden kann – rein optisch wie in Abbildung 8 oder/und semantisch. Mit einem Blick auf die Gedankenstriche, die am Ende des 33., 36., 37., 41. und 70. Bildes stehen, tritt die raumstrukturierende Funktion des Satzzeichens erneut hervor: so wie zwei Gedankenstriche einen unabhängigen Satz in die bestehende Syntax eines übergeordneten Satzes einbetten können, markiert auch ein einzelner Gedankenstrich einen Bruch, Blick- oder Richtungswechsel. In Zwischen Himmel und Erde (1913) ist gerade die Schnelligkeit dieser Wechsel durch die Gedankenstriche ausgedrückt, wenn sie am Ende stehen: – – Mit einem Schrei des Entsetzens und der Wut zugleich stürzt Olaf auf Erdmannsdorf zu, umschlingt ihn und hebt ihn hoch, als ob er ihn im nächsten Augenblick der hinabgeschmissenen Förderung nachsenden wolle – 37. Unten: Das herabstürzende Seil, das Inge übrigens auf ein Haar erschlagen hätte! –163 Werden bei diesem Argument noch die Punktfolgen berücksichtigt, so entfaltet sich eine typographische Erzählmethodik, die durch Be- und Entschleunigung der Bildübergänge organisiert wird – und zwar durch die Satzzeichen: »Und ringt ihrer Liebe ein Geständnis ab, ihrer fraulichen Zurückhaltung einen Brief …«,164 »Und außerdem ist’s ja auch seine Pflicht als Ingenieur, da oben hinaufzufahren und alles nachzusehen ….«,165 »72. Schluß-Vignette. Inge und Olaf in einem schönen Segelboot ….«.166 Während die Punktfolgen also das langsame Ausblenden einer Szene oder das Verharren in einer Perspektive verdeutlichen, markieren die Gedankenstriche schnelle Wechsel. Die Steigerung des Textbildes wird hier durch ein Eingreifen in die Geschwindigkeit des Erzählflusses erzeugt. Diese Steigerung wäre ohne die Textsemantik jedoch nicht deutbar. Durch abrupte Wechsel – markiert durch Gedankenstriche – wird die

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Lautensack, Heinrich: Zwischen Himmel und Erde (1913), S. 153. Ebd., S. 148. Ebd., S. 150. Ebd., S. 159.

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Lektüre beschleunigt und die Aufmerksamkeit herausgefordert, wobei die Punktfolgen als entschleunigende Hinweise wirken, die das Bild ausblenden und durch die verlängerte Expositionszeit eine statische Bildsimulation suggerieren.167 Damit organisiert sich die Typographie in Lautensacks kinematographischem Spiel mit Ausrichtung auf die Lektüredynamik und -geschwindigkeit, um die filmische Ästhetik des Textes als visuell wahrnehmbare und lesbare Simulation zu gestalten. Das genrespezifische Verständnis dieses Filmtextes drückt sich so in seiner typographischen Technik aus. In seiner literarischen Druckfassung materialisiert Zwischen Himmel und Erde (1913) seine Aufforderung an die Lesedynamik durch technotextuell und semantisch eingesetzte Satzzeichen.

4.1.4 Die Hochzeitsnacht (Walter Hasenclever, 1913) Walter Hasenclevers Text Die Hochzeitsnacht. Ein Film in drei Akten (1913) präsentiert sich durch seine materiellen Rahmungen als Schlüsseltext im Kinobuch, da er bewusst mit visuellen Qualitäten arbeitet und mit diesen kategorische Text-Module mithilfe von Typographie markiert. Durch dieses Vorgehen ist er einer von fünf Autor:innen der Sammlung, die materielle Wechselmomente in das Textbild einflechten, um einen regulären Lesefluss zu brechen. Dieser gezielte und medienspezifische Einsatz von Textmaterialität wird an einer seiner späteren Arbeiten deutlich, da Hasenclever 1920 Die Pest. Ein Film für ein lesendes Publikum konzipiert. Das Textbild weist sich dabei als filmisch aus, indem die typographischen (und möglicherweise auch handschriftlichen) Elemente des Films durch die makrotypographische Seitenarchitektur nachgeahmt werden. Die Materialitätssimulation von schriftlichen Informationsträgern wie Notizen, Klingelschildern oder Zwischentiteln, also Inserts, die hier typographisch vollzogen wird, ist eine Methode, die auch in Richard A. Bermanns Leier und Schreibmaschine (1913)168 und Kurt Pinthus’ Die verrückte Lokomotive (1913)169 angewandt wird, jedoch jeweils nur einmal. Das Nachahmen der photographischen Abbildungstechnik des Films durch das typographische Skizzieren sprachlich-lateraler Informationsträger ist damit nicht nur bei Hasenclever zu finden, doch aber – mit neun Rahmungen – am prominentesten in Die Hochzeitsnacht (1913) vertreten. Spannenderweise unterwirft sich dabei die Typographie nicht, wie sonst üblich, der Repräsentation von Sprache, sondern eben der Repräsentation von Materialität. Dieser Umstand verdeutlicht den experimentellen Modus dieser Form von Nachahmung, welche literarhistorisch, so Erich Kleinschmidt, ein modernes Prinzip ist.170 Auch Max Brods Ein Tag aus dem Leben Kühnebecks, des jungen Idealisten (1913)171 und Albert Ehrensteins Der Tod Homers (1913)172 nutzen die typographische Kompetenz zur Abbildung von informativem Trägermaterial, nur werden hier Zwischentitel und keine Inserts nachgestellt. Der Unterschied in diesen beiden Verfahren ist die Funktionsorientierung (woraus auch eine Produktionsorientierung resultiert): Indem Inserts zweidi-

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Vgl. Kapitel 3.1. Das Nachstellen von Gemäldemotiven ist im frühen Stummfilm sehr gängig. Bermann, Richard A.: Leier und Schreibmaschine (1913), S. 14. Pinthus, Kurt: Die verrückte Lokomotive (1913), S. 82. Vgl. Kleinschmidt, Erich: Literatur als Experiment (2001), S. 1. Stenzer, Christine: Kleine Geschichte filmischer Zwischentitel (2017), S. 66, 67, 69. Ebd., S. 96.

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mensional und gerahmt dargestellt werden, treten sie als separates Medium im Text auf, während sie im Film nach Freedburg (1918) als organisch wahrgenommen werden – als Element der filmischen Fiktion von Dreidimensionalität. Ihre typographische Abbildung durch die immer gleiche Rahmung kategorisiert die Inserts als homogenes Element, obwohl ihre Informationen im Film durch unterschiedliche Medien vermittelt werden würden. Ihre typographische verdeutlicht damit ihre funktionelle Einheit und nicht ihre materielle. Durch materielle Vereinheitlichung wird hier die medienspezifische Funktion der Inserts ausgewiesen und eben nicht ihre tatsächliche Materialität. Bei der Rahmung von Zwischentiteln, die die Handlung oder Kommunikation der Figuren einfangen, ist genau das Gegenteil der Fall: Aufgrund der materiellen Einheit von Texttafeln im Film werden sie diesen im typographischen Material nachgezeichnet – ihre medienspezifische Funktion ist dabei irrelevant. Die Hochzeitsnacht wurde also deswegen für eine Analyse ausgewählt, weil ihr Textbild funktionsorientierte Typographie beinhaltet. Hierdurch wird keine direkte Verbindung von materieller und semantischer Zeichenebene hergestellt, sondern der autonome Zeichenwert betont: Typographie erweitert hier technisch mit visuellen Mitteln den Text.

Abbildung 8: Walter Hasenclever: »Die Hochzeitsnacht« (1913), S. 20/21.

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

Die funktionsorientierte Abbildung der Informationsträger stellt hier also gerade keinen dokumentarischen Anspruch dar, sondern führt die intermedialen Spannungsfelder der Medientechnologie Film vor. Denn die intratextuelle Textmediensimulation von Zwischentiteln bildet durch die visuelle Authentifizierung des Textmaterials auch eine Position im Diskurs um Visionen und Tatsachen im Film ab.173 Die Hochzeitsnacht (1913) bezieht hierzu semantisch Stellung, indem intradiegetische Realität und Traum visuell durch das Gemälde der Hochzeitsnacht verwoben werden. So stellt der Text die medientechnologische Option realer und phantastischer Abbildung nicht materiell, sondern im Narrativ aus. Die ambivalenten Fähigkeiten des Films werden hier nicht als Täuschung interpretiert, sondern als Möglichkeitsspielraum für die darzustellende Handlung.174 Dieser Umgang mit der Materialität der Buchseite wird in Die Pest (1920) weiter zugespitzt. Hier werden nicht nur die unterschiedlichen Textelemente durch ihre kategorische Visualisierung identifizierbar, sondern die gesamte Makrotypographie unterstellt sich einer filmischen Funktion, die Hasenclevers Text durch die Seitenarchitektur und die typographischen Kategorien vermittelt. Das Ergebnis ist die typographische Darstellung der kinematographischen Leinwand. Die Handlung wird dabei nicht von photographischen Bildern, sondern durch einen elliptischen Diktierstil linksbündig auf den Textseiten visualisiert. Im Gegensatz zu Die Hochzeitsnacht werden hier nicht nur die medialen Kategorien durch die Typographie unterschieden, sondern zusätzliche eine visuelle Analogie eröffnet. Damit wird hier das Abbilden der Inserts und Zwischentitel, das mehreren Autor:innen des Kinobuchs (1913/14) für das Druckbild eines Filmtext geeignet schien, auf das gesamte Textlayout übertragen. Indem der zentrierte Drucksatz filmischer Texttafeln von visuell festgelegten Funktionskategorien der Textelemente ergänzt wird, steuert die Seitenarchitektur die perzeptive Erfahrung durch die kinematographische Leinwand an, während die Mikrotypographie zusätzlich die unterschiedlichen medialen Modi der Handlung unterscheidet. Durch dieses typographische Ausweisen des medientechnologischen Verfahrens, wird er textuell technifiziert – seine technischen Mittel werden im Text ausgestellt. Beide Texte Hasenclevers zeugen so von seinem medialen Verständnis. Denn ihre visuellen Informationen versuchen die medientechnologischen Differenzen und Spezifika durch präzise typographische Klassifizierung zuzuordnen. So ist bereits das Textbild Der Hochzeitsnacht gestalterisch äußerst klar entworfen: Hasenclever teilt den Film in drei Akte und ein Intermezzo, welche jeweils in Sperrsatz (1913/14) bzw. Kursive (1963) betitelt werden. Die beschreibende Erzählstimme hält sich recht objektiv. Dieser dokumentarische Ton kann mit Matthias Uecker als neue Form der Beobachtung eingestuft werden.175 Dabei ist jedoch entscheidend, dass der Autor einen Großteil der Textelemente für die Augen der Leser:innen entwirft. Die Visualität des Textes und deren Wirkung auf die Re-

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Vgl. das gleichnamige Kapitel bei Uecker, Matthias: Wirklichkeit und Literatur (2007), S. 232-247. Vgl. ebd., S. 235. Uecker betont, dass der dokumentarische Wert der Photographie selten dem Film nachgesagt wurde. Die phantastischen und illusionistischen Qualitäten seiner Abbildungskraft und Montagetechnik führt schnell weg von seiner medientechnologischen Grundlage, die zunächst einmal Photographien und/oder Abbildungen aneinanderreiht. Vgl. ebd., S. 13-66.

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zeptionsästhetik werden dementsprechend im Produktionsverfahren reflektiert und im Hinblick auf medienspezifische Eigenschaften konstruiert und organisiert. Die materiellen Rahmungen in Die Hochzeitsnacht (1913) werden semantisch vom Text durch sprachliche Einleitungen wie »Man liest:«, »darauf steht:«, »darin steht:«, »Clarissa liest:« usw. angekündigt. Und die Expositionsstruktur wird durch die gerahmten Informationen angetrieben – die typographische (und in der filmischen Umsetzung auch denkbar handschriftliche) Mitteilung wird damit zum Motor der Handlung. Der erste Akt des Filmtextes schildert zunächst die Ausgangssituation, nachdem ein kurzes Personenregister die drei Hauptfiguren, Karl Heiden, Clarissa d‹ Aubrey176 und Graf Dimitri Sokolski, benennt: Karl ist ein an Tuberkulose erkrankter Maler und Clarissa seine Verlobte. Sie lernt Ballett tanzen, zeigt schnell Talent und führt dieses »in ihrem sensationellen Tanz DIE HOCHZEITSNACHT«177 vor, um das Geld für Karls Aufenthalt am Gardasee zu verdienen. Ein Aufenthalt im dortigen Klima weist Dr. Schmidt als letzte Überlebenschance des Malers aus. Da sich Karls Zustand schnell verschlechtert, bleibt Clarissa nicht viel Zeit und sie nimmt für 5000 Mark das unsittliche Angebot des sie verehrenden Grafen Sokolski an. Der anschließende Akt beschreibt, wie der genesene Karl unbedacht und frohen Mutes dieses Geld ausgibt. Als sein früherer Arzt Dr. Schmidt im Sterben liegt, wird Karl mittels einer Depesche zu ihm bestellt und darüber aufklärt, wer ihm dieses unterhaltsame und sorglose Leben unter Einsatz der eigenen Freiheit ermöglicht hat: Karls ehemalige Verlobte Clarissa, von der Karl bisher dachte, dass sie verstorben sei. Darauf folgt ein Intermezzo: sein Traum, der ihm Clarissa in einem masochistischen Harem zeigt. Karl malt seinen Traum, betitelt ihn (wie auch den Filmtext und das Tanzstück) Die Hochzeitsnacht, stellt ihn aus, woraufhin Graf Sokolski von der Reminiszenz überrascht wird und das Gemälde kauft. Sobald der Graf Clarissa das Gemälde präsentiert, »ahnt sie den Zusammenhang und bricht ohnmächtig vor ihm zusammen«.178 Im dritten und letzten Akt möchte Karl, inzwischen reich und noch immer auf der Suche nach Clarissa, unterstützend einen Detektiv engagieren. Er wird durch eine gerahmte Zeitungsannonce auf diesen aufmerksam. Da er jedoch kein Foto von Clarissa besitzt, muss er eine Kopie von Der Hochzeitsnacht anfertigen. Als er sich nun aus diesem Grund im Schloss des Grafen aufhält, findet er während des Malens zufällig Clarissa in einer Falltür im Boden. Mithilfe der Transportkiste für die Bildkopie schmuggelt Karl Clarissa letztlich aus dem Schloss. Karl Heiden fertig also in der Erzählung eine Replik des Gemäldes an, das seine Traumvision abbildet. Diese Replik soll als Ersatz eines photographischen Portraits von Clarissa fungieren, wodurch hier die Vorstellungskraft des Malers mit einer photographischen Abbildung gleichgesetzt wird. In einem Filmtext, der unter der Prämisse einer kulturellen Steigerung der Medientechnologie Film entsteht, ist dieses inhaltliche Detail wohl als Kommentar zur reziproken Wechselbeziehung unter den Künsten auszudeuten: eine steht nicht über der anderen; eine Photographie ist nicht weniger artifiziell als ein Gemälde und vice versa. In seinem theoretischen Beitrag zur Kinodebatte äußert sich Hasenclever 1913 in Der Kintopp als Erzieher. Eine Apologie dementsprechend auch positiv 176 177 178

Der Nachname wird erst in dem gerahmten Insert genannt, der sie als Tänzerin ankündigt. Hasenclever, Walter: Die Hochzeitsnacht (1913), S. 21. Ebd., S. 27.

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über die neue Gattung und bemerkt gleichzeitig: »Von allen Kunstfertigkeiten unserer Zeit ist der Kintopp die stärkste, denn er ist die zeitgenössischste. Raum und Zeitlichkeit dienen bei ihm zur Hypnose von Zuschauern«;179 und weiter argumentiert er, dass die Skepsis gegenüber dem Kintopp ein »Mißverständnis« wäre, denn »er ist durchaus keine Idee«180 – sondern eben eine Technik. Das Moderne der Medientechnologie zeichnet sich für Hasenclever auch dadurch aus, dass sie unterschiedliche Bürger:innen ansprechen kann, »jeden nach seiner seelischen Struktur«.181 Dass jedoch auch Hasenclever Ambivalenzen im Film erkennt, macht folgende Aussage von ihm deutlich: »Da wir das Chaos distanzieren, indem wir es scheinbar reproduziert haben, begeben wir uns seiner Realität«182 – er versteht die naturgetreue Abbildungstechnik des Films also nicht der Realität. Spätestens jetzt lässt sich zudem ein Erzählmuster der Figurenkonstellationen in den Kinobuch-Beiträgen erkennen. Die Figuren Der Hochzeitsnacht (1913) sind, wie auch in den ersten beiden analysierten Texten, in einer romantischen Dreierkonstellation aufgestellt. Der Antagonist versucht jeweils die weibliche Figur bei sich zu halten, aber in keinem der Kinobuch-Beiträge gelingt dieses Vorhaben. Der inhaltliche Wert der »kulturellen Steigerung« schließt damit ein jahrhundertealtes literarisches Motiv ein: die Dreiecksbeziehung.183 Da solche Beschreibungen keine Herausforderung für einen literarischen Text darstellen, wirken sie textuell nicht annähernd so bemerkenswert wie auf der Leinwand. Aus diesen, eben nicht literarisch bemerkenswerten Inhalten geht die kritische Bewertung der Kinobuch-Beiträge hervor, die ihnen in der Mehrzahl keinen besonderen inhaltlichen Wert zuspricht. Einen entscheidenden Unterschied zu den anderen Beiträgen stellt Hasenclevers extradiegetischer Abschnitt am Ende des Textes dar. Nachdem bereits einige kommentierende Einschübe der Autorstimme in Klammern gesetzt sind,184 werden anschließend noch einige alternative Enden vorgeschlagen: Damit ist die Geschichte zu Ende; wem aber dieser einfache Schluß nicht gefällt, dem soll es unbenommen sein, einen anderen zu wählen: etwa so, daß der Graf Karl Heiden im entscheidenden Augenblick überrascht, und daß einer von ihnen, oder auch beide totgeschossen werden. Vielleicht könnte sich dann noch Clarissa dazwischen werfen; damit finge eine neue Geschichte an. Oder aber es könnten Polizisten kommen (weshalb sollten sie nicht?) und den Grafen nach Sibirien schicken. Ich bin dafür man bleibt bei der Kiste, weil es das Einfachste und auch das Beste ist.185

Hasenclever, Walter: Der Kintopp als Erzieher (1913), S. 47. Ebd., S. 48. Ebd. Ebd. Für den Überblick: Eßlinger, Eva/Schlechtriemen, Tobias/Schweitzer, Doris/Zons, Alexander: Die Figur des Dritten (2010). Hieraus insbesondere: Kraß, Andreas: Der Rivale (2010). 184 »Indessen, da man wieder in Deutschland ist, wird er [Karl Heiden] wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses (geschehen durch die Umarmung) und groben Unfugs (weil Clarissa im Gepäckwagen gefahren ist) nach Paragraph soundsoviel bestraft werden«. Hasenclever, Walter: Die Hochzeitsnacht (1913), S. 30. 185 Ebd.

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Indem hier Alternativen für die filmische Umsetzung angeboten werden, schwächt er seinen eigenen Schluss, auch wenn dieser von Hasenclever als »das Einfachste und auch das Beste«186 angegeben wird. Seine Schlussvariante ist technisch die einfachste, womit sich seine medientechnologische Ausrichtung nicht nur an den materiellen Rahmungen, sondern an dieser Stelle auch explizit manifestiert. Trotz der Unsicherheit gegenüber der medientechnologischen Angemessenheit der frühen Filmtexte, weist Die Hochzeitsnacht (1913) ein mediales Materialitätsbewusstsein auf, das die zuvor analysierten Texte übertrifft. Wie Abbildung 9 zeigt, wird die typographische Option des gedruckten Textes als gestaltbarer Raum wahrgenommen und so auch eingesetzt. Dieses medienspezifische Schreibverfahren entwickelt Hasenclever, wie oben bereits angeschnitten, weiter. In Die Pest (1920) wird so durch die Handhabung der Seitenfläche als Leinwand eine literarische Leinwand kreiert. Der Text, herausgegeben mit dem Untertitel Ein Film, ist typographisch eindeutig in Anlehnung an die Typographie im Stummfilm strukturiert. Einzelne Bilder werden durch eine Aufzählung voneinander unterschieden, gegebenenfalls von kursiv markierten Zwischentiteln/Inserts begleitet und elliptisch beschrieben. Dabei sind die Handlungsbeschreibungen linksbündig und die Bildaufzählung, Inserts und Zwischentitel zentriert abgedruckt.

Abbildung 9: Walter Hasenclever: »Die Pest« (1920), S. 1.

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Hasenclever, Walter: Die Hochzeitsnacht (1913), S. 30.

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

Der kinematographische Eindruck der »neuen literarischen Textsorte« des Filmtexts/ Drehbuchs wird, so Schwarz, von einer »parataktischen Syntax, Ellipsen und anderen Elementen in einem Montagestil«187 getragen. Und auch zeitgenössisch wird Hasenclevers Pest als »Form der Experimente«188 begriffen, während Schwarz die typographische Gestaltung des Textes mit dem typographischen Dispositiv der Lyrik vergleicht.189 Für die materielle und typographische Analyse ist, gerade durch den Wechsel im Textsatz, der Begriff der Montage geeignet, den Hanno Möbius wie folgt definiert: [Montage] verengt sich semantisch im 18.Jh. auf einen handwerklichen Vorgang, bei dem ein komplexes Produkt zusammengesetzt wird. Mit der provozierenden Übernahme des Begriffes in die Künste nach 1900 gaben sich die M.künstler als Techniker, die sich vom überkommenen Künstlertypus absetzen.190 Dass die Montage als filmisches Stilmittel gilt, wird bereits bei Arnheim191 oder auch später Kracauer192 ausgeführt. Arnheim hebt dabei hervor, dass die Montage eine genuin filmische Technik sei, die räumliche wie zeitliche Dimensionen schneidet und wieder neu anordnet. Dieses Argument wurde gerade auch von den russischen Konstruktivisten, vor allem von Ėjzenštejn, vorgebracht. Die Montagetechnik kann jedoch auch unter verschiedenen Perspektiven auf eine lange Geschichte zurückblicken, wie Hanno Möbius belegt,193 und hat ihren künstlerischen Gebrauchscharakter demnach nicht exklusiv dem Film zu verdanken. Die Medientechnologie visualisiert sie jedoch, wodurch ihr typographisches Markieren überhaupt erst eine Option für die Literaturproduktion wird. Die Zuspitzung dieses experimentellen Textverfahrens wird im Vergleich der beiden Hasenclever-Texte deutlich: Die Hochzeitsnacht (1913) markiert zwar die unterschiedlichen Akte, was ein gängiges Strukturelement von Texten, vor allem des Dramas, ist, aber nicht alle Wechsel in den räumlichen und zeitlichen Dimensionen der Erzählung. Dadurch, dass im Text unterschiedliche Informationsträger materiell ausgewiesen werden, montiert Hasenclever nicht die raum-zeitlichen Ebenen, sondern die kommunikativen und aktiven Informationsträger. Indem Die Pest (1920) alle Textelemente in gesonderter Form materialisiert (Handlung linksbündig, Bildnummer zentriert, Zwischentitel/Inserts zentriert und kursiv), visualisiert er das montierte Verfahren seines Textes, um die Assoziation mit dem Film zu verstärken. Im Gegensatz dazu liegt bei Blut und Zelluloid (1929) eine literarische Montage vor, in der die materiellen Markierungen auf mediale Spezifika hinweisen und die semantischen Betonungen durch Satzzeichen und Wirkräume die intradiegetische Handlung unterstreichen. Die Analyse von Dynamik der Gross-Stadt (1921/22) steigert diesen Eindruck durch das Hinzuziehen von ikonischen Photographien als Zeichenmaterial.

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Schwarz, Alexander: Der geschriebene Film (1994), S. 189. H.L.: Der »Wort«-Film und der »Buch«-Film (1920), S. 24. Vgl. Schwarz, Alexander: Der geschriebene Film (1994), S. 191. Möbius, Hanno: Collage oder Montage (2009), S. 65. Vgl. Arnheim, Rudolf: Film als Kunst (1932), S. 95ff. Vgl. Kracauer, Siegfried: From Caligari to Hilter (1947), S. 181-189. Vgl. Möbius, Hanno: Montage und Collage (2000), S. 31-105.

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Hasenclevers typographische Montage-Strategie lässt sich bereits in Die Hochzeitsnacht (1913) ausweisen und bleibt auch in Die Pest (1920) erhalten. Während das Layout den Aufbau einer Leinwand simuliert, sind die einzelnen hier verwendeten typographischen Typen verschiedenen Kommunikationsebenen zugewiesen: Akt, Anzahl des Bilds, Zwischentitel und beschreibender Text weisen kategorisch voneinander abweichende Typographien auf. Nichtsdestotrotz ist der Gattungsanspruch des Textes explizit formuliert: Die Pest ist der erste Filmtext, der in Buchform gedruckt wurde. Er gilt als Manuskript. Gleichzeitig erschien eine nummerierte und vom Verfasser signierte Vorzugsausgabe auf Büttenpapier. Die Herstellung beider Ausgaben besorgte die Buchdruckerei Poeschel & Trepte in Leipzig.194 Der erste Filmtext, der in Buchform gedruckt wurde, wird zudem in Übergröße publiziert: 32,2 cm x 24 cm (– im Vergleich dazu misst die Originalausgabe des Kinobuchs 19,9 cm x 12 cm). Der bedruckte Raum ist dabei max. 21,5 cm (die Textlänge variiert auf den einzelnen Seiten) x 14,5 cm. Außerdem ist die Schriftgröße mit 0,5 cm für die Überschriften der Akte im Sperrsatz, 0,4 cm für die überwiegende Schriftgröße von Zwischentiteln und beschreibendem Text und 0,3 cm für die Bildzählung überdurchschnittlich groß. Das Hierarchisierungsprinzip, das hinter der Schriftgrößenvariation steht, hängt eng mit den typographischen Etablierungsprozessen des Drehbuchs als eigenes Genre zusammen und ist definitiv funktionsorientiert. Doch durch die eklatanten Maße des Buchformats klingen hier Carlos Spoerhases Thesen zum Format der Literatur (2018) an:195 Eine Leinwand ist eine massive Fläche und die auf ihr ausgestrahlte Typographie erscheint im Vergleich dazu marginal. Da die Seiten eine Leinwand simulieren, lassen sie den beschreibenden Text in den Hintergrund und die Zwischentitel/Inserts in den Vordergrund treten. Die Typographie im Film wird hier zum Abgebildeten. Der Versuch dieses textuellen Films ist genau deswegen so interessant, weil seine typographische Gestaltung medientechnologisch inspiriert ist, ohne dass technotextuelle Elemente eingebracht werden. Damit ist er eine gänzlich literarische konzipierte Drucksache. Nach anderen Filmprojekten und vor eigenen Auftritten des Autors On-Screen steht Die Pest als experimenteller Versuch Hasenclevers, die Gattungsgrenzen zwischen Film und Literatur zu unterwandern.196 Er legt den Film in Die Pest dabei nicht als Gattung, sondern als Schreibtechnik aus. Trotz des Fehlens technotextueller Anweisungen liest Charles H. Helmetag Hasenclevers literarische Montagetechnik als Indiz dafür ihn als den ersten deutschen (Drehbuch)Autor zu interpretieren – was Helmetag auf die klare visuelle Ausrichtung Hasenclevers Filmverständnisses zurückführt.197 Dieser Interpretation Hasenclevers textbildlicher Entwürfe ist stark zu widersprechen, da die typographischen Markierungen nicht einer Übersetzungsfunktion geschuldet sind, was Hasenclever, Walter: Die Pest (1920), S. 55. Joachim Paech verweist darauf, dass die Publikation solcher Filmszenarien eventuell eine eigene literarische Tradition prägen sollte, wie es zuvor auch dem Drama für das Theater gelungen war (Vgl. Paech, Joachim: Literatur und Film [1988], S. 108). Die peripheren Zahlen dieser Textform sprechen sich aber dafür aus, dass das Literarische des Films woanders als in der Veröffentlichung seiner Drehbücher zu finden ist. 195 Vgl. Spoerhase, Carlos: Das Format der Literatur (2018), S. 45f. 196 Vgl. Helmetag, Charles H.: Walter Hasenclever (1991), S. 452. 197 Vgl. ebd., S. 462. 194

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gerade in Die Pest durch das Fehlen der technotextuellen Anweisungen auffällt. Weiter wurde hier nahegelegt, dass die Visualität der Texte auf medienspezifische und funktionsorientiere Kategorisierungen zurückzuführen ist. Wären Die Hochzeitsnacht (1913) und Die Pest (1920) tatsächlich einzig als Drehbücher konzipiert, so würden sie die technotextuellen Mittel betonen und sich nicht an literarischen Montage-Experimenten versuchen.198 Vielmehr zielen die Texte auf eine typographisch organisierte Rezeptionsästhetik ab, was durch das gezielte Einsetzen und Auslassen visueller Markierungen unter Berücksichtigung medienspezifischer Qualitäten deutlich wird.

4.2 Ein Roman: Blut und Zelluloid (Heinrich Eduard Jacob, 1929) Im Gegensatz zu den kürzeren Texten des Kinobuchs (1913/14) und Dynamik der Gross-Stadt (1921/22) handelt es sich bei Blut und Zelluloid (1929) um einen Roman. Zur Zeit seiner Veröffentlichung durch den Rowohlt Verlag wurde er zum Bestseller und in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt, obgleich er heute eher unbekannt ist. Dies hat nicht zuletzt mit der peripheren Aufarbeitung des Autors Heinrich Eduard Jacob zu tun.199 Während Jacob retrospektiv vor allem als selbsternannter200 Vater des Sachbuchs201 internationalen Bekanntheitsgrad erfährt, wird vorliegend die auffällige Typographie in Blut und Zelluloid erstmalig detailliert untersucht.202 Gerade durch die explizite Auseinandersetzung mit der Medientechnologie des Films wird Blut und Zelluloid ein Schauplatz inter- und transmedialer Optionen der

198 Vgl. auch Kracauer, Siegfried: Theorie des Films (1964), S. 242f. 199 Die eher prozessual ausgerichtete Arbeit von Isolde Mozer untersucht recht detailliert die Biographie, die Ästhetik und die Poetologie des Autors. Sie deutet seine Schreibart letztlich als äußerst mehrschichtig, wobei die tiefere Ebene vornehmlich durch die Kabbala geprägt sein soll. Materielle Untersuchungen kommen hier aber leider zu kurz, obgleich, die typographische Präzision des Autors in einem Großteil seiner Drucksachen erkennbar ist. Mozer, Isolde: Zur Poetologie bei Heinrich Eduard Jacob (2005), S. 413-415. 200 Vgl. Schütz, H.J.: »Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen« (1988), S. 133f. 201 Vgl. Weidermann, Volker: Das Buch der verbrannten Bücher (2008), S. 120f. Jeffrey B. Berlin zeichnet die postalische Korrespondenz zwischen Heinrich Eduard Jacob während seinem Aufenthalt im KZ Dachau und Buchenwald nach. Hierbei beteuert er abermals den nationalen und auch internationalen Stellenwert des Autors, »[e]ven before [his] recognition as father oft he Sachbuch«. Berlin, Jeffrey B.: »Durch mich geht’s ein zur Stadt der Schmerzerkorenen, durch mich geht’s ein zum ewiglichen Schmerz, […] Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren!« (1999), S. 308. 202 Nicht nur die literarischen Texte, sondern auch die Kulturgeschichten Sage und Siegeszug des Kaffees (1934) und Sixthousand Years of Bread (1944) weisen neben ihren semantischen Qualitäten auch einen gezielten Gebrauch von Typographie auf, indem Anekdoten, direkte Rede oder Zitate in der Kursive markiert werden. In Vosse, Paula: Literarische Filmsimulation: Heinrich Eduard Jacobs medienphilosophische Filmästhetik in »Blut und Zelluloid« (2018) liegt der Fokus auf den semantischen Komponenten des Romans, wobei auch die Typographie miteinbezogen wird. Wie bereits oben erwähnt und auch in Hahn, Torsten, Pethes, Nicolas: Einleitung (2020) notwendigerweise vermerkt, sind semantische und materielle Aspekt einer literarischen Drucksache als komplementierende Elemente zu betrachten. Aus diesem Grund bleiben semantische Auffälligkeiten hier nicht unkommentiert, während die materielle Analyse der typographischen Markierungen den Fokus dieses Kapitels darstellt.

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aisthetischen Dimension von Literatur. Anders als im Kinobuch (1913/14) wird durch die Typographie des Romantextes die Montagetechnik von Film und Literatur visuell ausgewiesen. Diese visuelle Technik versucht, sich von der sinnesphysiologischen Abhängigkeit vom Film zu lösen, indem die sinnesphysiologische Wahrnehmung gesteigert wird: Das Sehen wird trainiert. Und dies manifestiert sich in einem experimentellen Autonomieprozess der aisthetischen Dimension von Text. Mit typographischen Mitteln entwickelt Jacob so eine psychotechnische Strategie. Diese weist einerseits typographisch divergente Textabschnitte aus und stellt andererseits eine medienphilosophische Position aus, indem mediale Gattungsmerkmale visuell transkribiert werden. Die sinnesphysiologische Provokation durch die Medientechnologie des Films eröffnet damit ein produktives Moment, da sie visuelle Bemächtigungsexperimente motiviert. Der Roman bildet so eine literarische Psychotechnologie ab, die das zerstreute Sehen kultivieren soll. Blut und Zelluloid (1929) präsentiert ein Textbild, das sich die reizreaktive Abhängigkeit vom Film durch technische Aisthetik abtrainieren will. Hierbei ist das visuelle Textbild nicht so experimentell aufgebaut wie in Gross-Stadt (1921/22). Vielmehr bildet die Typographie in Jacobs Roman den Versuch einer medialen Transkription ab, indem typographische Auffälligkeiten stets eine konkrete Funktion haben. Indem die Kursivsetzungen, Häufungen von Satzzeichen, Wirkräume oder Dokumentdarstellungen nicht erläutert werden, befördern sie zunächst eine visuelle Irritation und Konfrontation. Auf diese Weise spiegelt Jacobs Roman Blut und Zelluloid nicht nur zeitgenössische Paradigmen, sondern erweitert auch seine semantische Dimension. Denn in dieser scheitert zusätzlich ein propagandistisch angelegtes Filmprojekt. Und damit positioniert sich Jacobs literarische Montage nicht als eine Schreibstrategie, die sich auf den Film hin ausrichtet, sondern sich von diesem emanzipiert. Diese Lesart des Romans wird durch weitere Texte des Autors gestützt. Denn auch Jacobs Romane Jaqueline und die Japaner (1928) und Die Magd von Aachen. Eine von Siebentausend (1931), die vor und nach Blut und Zelluloid veröffentlicht werden, weisen typographische Markierungen auf. Während die typographischen Variationen in Jaqueline und die Japaner noch dezent auftreten, ist Blut und Zelluloid äußerst dicht ausgestaltet. In Die Magd von Aachen wird durchgängig die Fraktur als Standarddruck eingesetzt, was die historische Situierung von 1614 widerspiegelt und gleichzeitig einen Kommentar zu der anhaltenden Zweischriftigkeit in Deutschland und zum Frakturstreit darstellt. Denn für die Darstellung der Besatzungssituation durch die Franzosen wählt Jacob gezielt die Frakturschrift, die innerhalb des Frakturstreits als ästhetische Entsprechung der deutschen Sprache und Einheit diskutiert wird.203 Die komplexen Zusammenhänge der Schriftwahl für den Untersuchungszeitraum werden von Sven Schöpf anhand von Walter Benjamin nachgezeichnet. In »Schrift […] fällt beim Lesen nicht ab wie Schlacke« (2022) zeigt Schöpf, dass die Literatur den Frakturstreit als produktives Gestaltungsmoment umzusetzen verstand, indem die historischen Assoziationen mit der Frakturschrift den Inhalt der Texte ästhetisch durch die aisthetische Dimension der Literatur stützen sollen. Ein Indiz dafür, dass Jacob in Die Magd von Aachen (1931) typographische Mittel einsetzt, die er zunächst in Blut und Zelluloid erprobt hat, sind die gesetzten Wirkräume 203 Vgl. Wehde, Susanne: Typographische Kultur (2000), S. 245-273.

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

und die intratextuellen Markierungen anderer Aufschriften durch Versalien.204 Die konzeptionelle Berücksichtigung der materiellen Textebene ist deutlich als literarisches Werkzeug des Autors erkennbar. Dabei zeichnet sich die Aneignung dieser Mittel im Roman Blut und Zelluloid (1929) ab, wodurch der direkte Bezug zum zeitgenössischen Diskurs Film ausschlaggebend für Jacobs textgestalterisches Instrumentarium wird.205 Das Textbild des Romans präsentiert in seiner aisthetischen Dimension eine literarische Montage, durch die die intradiegetische Handlung des Filmprojekts visuell untermalt und technisch gesteigert wird. Der Titel des Romans eröffnet zunächst durch die semantisch kontrastierende Dichotomie aus Blut, Authentizität und Vergänglichkeit der Menschen, und Zelluloid, phantastischem Abenteuer – die materielle Dichotomie zeigt sich am genormten Fließtext und den typographischen Abweichungen. Im Textmaterial entsteht diese Aisthetik durch typographische Einschnitte, die durch den Einsatz diverser typographischer Dispositive ein dokumentarisches Schreibverfahren fingieren, während sie gleichzeitig die Hybridität der als eklektisch verstandenen Medientechnologie Film abbilden. Hieraus resultiert eine typographische Gestaltungstechnik, die anders als die Beiträge aus dem Kinobuch (1913/14) nicht mit der Prämisse eines weiteren medialen Übertragungsaktes konzipiert wird. Gleichzeitig steht der Roman Jacobs nicht so weit am äußeren Rand des typographischen Spektrums wie Dynamik der Gross-Stadt (1921/22), was auch ausschlaggebend für die Anordnung der Analysen ist. Jacob versucht eine typographische Technik in der Literatur anzuwenden, ohne die Visualität der Literatur als ihr Alleinstellungsmerkmal auszulegen. Moholy-Nagy hat mit Dynamik der Gross-Stadt eine gänzlich andere Funktion im Sinn, denn er forciert und modelliert eine Filmskizze mit der Absicht visuelle Kommunikation und das Neue Sehen abzubilden und zu trainieren. Mit dem thematischen Stoff des Filmprojekts offeriert Blut und Zelluloid eine fiktive Erzählung mit Realitätsbezug, die durch die Thematisierung des Propagandamissbrauchs ähnlich wie Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935) die Entwicklungen in der deutschen Werbe- und Filmbranche während des Nationalsozialismus antizipiert, und dadurch einen prognostischen Wert trägt. Wie bereits durch die vorhergehenden Kapitel deutlich wurde, ist das Propagandapotential des Films wie auch der Werbung und Reklame nach Ende des Ersten Weltkriegs und spätestens ab Mitte der 1920er eine einkalkulierte Qualität dieser Medien. Nach Volker Weidermann ein Grund dafür, dass Blut und Zelluloid 1933 von den Nazis verbrannt wird:206 denn der propagandistische Missbrauch der Medien durch die Politik wird explizit im Text verhandelt. Das politische Thema des Romans spiegelt sich auf seiner materiellen Ebene. Denn indem die Typographie versucht, die jeweilige medienästhetische Spezifik verschiedener Informationsträger im Druck zu manifestieren, fügen sich die einzelnen typographischen Blöcke zu einem komplementierenden und nicht kontrastierenden textuellen

204 Vgl. Jacob, Heinrich Eduard: Die Magd von Aachen (1931), S. 67, 150, 171, 233, 244, 275. 205 Das semantische Simulationsverfahren in Blut und Zelluloid wird detailreich in Vosse, Paula: Heinrich Eduard Jacobs medienphilosophische Filmästhetik (2018) erläutert. 206 Vgl. Weidermann, Volker: Das Buch der verbrannten Bücher (2008), S. 121.

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Gesamtkonstrukt zusammen. Die Propagandakritik wird also nicht allein von der inhaltlichen Warnung getragen, sondern durch ihre heterarchische Textorganisation manifest. Wobei mithilfe des markierten Materials ein Argument gegen propagandistischen Medienmissbrauch formuliert wird. Denn die materiell gekennzeichneten Genre-Elemente präsentieren in ihrem typographischen Druck ihre medienästhetischen Funktionen: Zeitungsbeiträge werden nicht als Fakt, sondern als kursive Kommentare lesbar; das Drehbuch des Films lenkt nicht durch visuelle Mittel, sondern bricht in seiner fragmentarischen Struktur; der elliptische Stil der Telegramme wird betont durch Versalien usw. In Blut und Zelluloid wird die Einbildungskraft visueller Semantik durch die Materialität entzaubert, da sie eben die kommunikative Funktion der Medien offenlegt.

Tabelle 1: Abfolge der simultanen Erzählstränge in »Blut und Zelluloid« (1929). a: Das Filmprojekt ERSTES BUCH: DAS GEWEHR, DAS ZWANZIGMAL IN DER SEKUNDE SCHIESST

b: Überschneidung der Erzählstränge

c: Die Suche nach Pedrotti

Einleitung durch zwei Harlekine Es schienen so golden die Sterne Der MohnblumenTwostep Diplomatischer Dienst Die Weisheit der Société Voltaire Die Epheben

ZWEITES BUCH: DIE AUSFAHRT DER JÜNGLINGE

Leichter als Kork Geschichte von einem Doktor Bianchi

Le petit cahier Onkel Pedrotti DRITTES BUCH: DAS NEBENEINANDER AUF DIESER ERDE

Ein Morgen in Paris Der Eid im PalaisRoyal Die Rundreise zum Hades

Die Rundreise zum Hades La Francia si muove An den Türmen Karthagos

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

Der Stoff des Romans, die (Nicht)Produktion eines Propagandafilms, wird von einer Vielzahl beteiligter und vernetzter Figuren und einer Multiperspektivik durch die simultanen207 Erzählebenen getragen. Schon allein aus diesem Grund wäre die Zuschreibung eines:r einzelnen Protagonist:in ein schwieriges Unterfangen.208 Die Figurenkollektive beider Handlungsstränge suchen nach der durch einen Zeitungsartikel ausgelösten Idee des umzusetzenden Filmprojekts: der italienische Räuberhauptmann Pedrotti. Die Suchenden werden dazu jedoch unterschiedlich motiviert: Handlungsstrang a) möchte tatsächlich ein Filmprojekt vollenden, während Handlungsstrang c) versucht, den Dreh dieses Films zu verhindern. Die beiden Handlungsstränge verlaufen nicht unabhängig voneinander, sondern kreuzen sich auch, wie in Tabelle 1 ersichtlich wird. In Blut und Zelluloid (1929) scheitert ein politisch motiviertes Film-Projekt zu Gunsten von künstlerischem Idealismus. Der Roman wird abgeschlossen, während der Film Drehbuch bleibt – in zwei verschiedenen Versionen, einer politisch und einer künstlerisch motivierten. Denn der kunstschaffende Regisseur Benno Rubenson tauscht das ihm vorgegebene Drehbuch aus und ersetzt es durch seinen eigenen Filmentwurf. Der erste Erzählstrang des Romans beschreibt den Ablauf dieser Entwicklung: Rubenson klaut die zunächst dokumentarische Filmidee des Studenten Winckelmann, die ihrerseits von einem Zeitungsbericht inspiriert wird,209 und wendet sich daraufhin an seine langjährige Bekannte und ehemalige Geliebte Else Clothilde von Bergmann, deren kommunikativen Charakteristika den Spezifika der Medientechnologie Film entsprechen.210 Diese organisiert einen politischen französischen Sponsor: die Société Voltaire, welche eine fiktive Institution ist, die einzig für die Beauftragung des Filmprojekts schauspielert, damit keine französischen Politiker:innen namentlich in die Propaganda verwickelt werden können. Ausgangsidee ist hierbei, den in die Jahre gekommenen und untergetauchten Räuberhauptmann Pedrotti zu filmen und sein abenteuerliches Leben abzubilden. Die Societé Voltaire legt dafür ein Drehbuch vor, welches Pedrotti als Indiz für Italiens Kontrollverlust auslegen will. Im Rahmen der Reise entscheidet der Regisseur Rubenson, ob ein Kunst-, Dokumentar- oder Propagandafilm das Ergebnis des Unterfangens sein wird. In Italien zeigt sich, dass die unvereinbare Spannung zwischen diesen Genres nicht zu halten ist: kein Film wird umgesetzt und Rubenson stirbt. Neben dieser Haupthandlung ist der Roman reich an literarischen Topoi. Diese fallen durch ihre handlungstreibenden, also aktiven Potentiale für das Erzählgeschehen auf. So wird der krasse Gegensatz zwischen der kontrollierten und technisch gesteuerten Großstadt und der romantischen Naturidylle auf Sardinien immer weiter gesteigert: die Kon207 Simultanität wird in einer Drucksache zu dieser Zeit lediglich inhaltlich dargestellt, weswegen die Futuristen beteuerten es gäbe keine simultane Schreibweise. Vgl. Marinetti, F.T. (u.a.): Der futuristische Film (1916). 208 In bisherigen Beiträgen zum Roman wird mehrfach die Figur Benno Rubenson als einziger Protagonist herausgearbeitet. Vgl. beispielsweise den detailliertesten Forschungsbeitrag zu Heinrich Eduard Jacob in Mozer, Isolde: Zur Poetologie bei Heinrich Eduard Jacob (2005). 209 Nomen est omen: denn Johann Joachim Winckelmann ist um 1800 ein großer Popularisator römischer Kunst. Indem auch der Zeitungsfund des Studenten Winckelmann eine Italienreise auslöst, wird hier damit ein evidenter Intertext eingebracht. 210 Auf die interessante Übertragung vom weiblichen Bild-Modell zum weiblichen Medien-Modell wies Erin McGlothlin hin. Vgl. Eiblmayr, Silvia: Die Frau als Bild (1993).

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trolle über das technische Equipment scheitert, wodurch intendierte Szenen nicht eingefangen werden können,211 – da der Regisseur hierdurch nicht ungehalten wird, ist bereits zu erahnen, dass es sich zumindest bei seiner Idee des Projekts nicht mehr um ein geschlossenes Drehbuch handelt. Kunst und Technik werden hier mit Natur und Großstadt analogisiert und bilden so die zeitgenössische Großstadtkritik212 ab. Dies wird gerade an der Figur Benno Rubensons deutlich. Denn der Regisseur gibt sich im Ausland immer mehr seiner künstlerischen Ideologie hin, geht in der Natur auf und betrachtet das Filmprojekt fast als nebensächlich – er und die Leser:innen wissen zu diesem Zeitpunkt bereits von seinem Herzleiden. Der Prozess geistiger, wie künstlerischer Befreiung wird durch das Verlassen der Großstadt Berlin von einem körperlichen Verjüngungsprozess begleitet, der paradoxerweise mit seinem Tod durch die Herzschwäche abgeschlossen und von einer Schwurhand begleitet wird: »Groß und gerade lag er da. Überaus jung, ein strenger Schläfer«.213 Im Gegensatz hierzu verdeutlicht der erste Auftritt Rubensons die Veränderung der Figur: »Es war das intelligente Gesicht eines levantinischen Teppichhändlers. Ein häßliches und krankes Gesicht« und »massig wie ein Gebirgstier« mit »schweren bläulichen Lider[n]«.214 Bei der Übergabe des Drehbuchs in Paris ist auch ein junger Italiener anwesend, ein nationalistischer Spion, Andrea Trevisani. Durch ihn wird der zweite Handlungsstrang eingeleitet, da er sich mit seinem Schulfreund, dem idealistisch-kommunistischen Agostino Bevilacqua, eigenhändig auf die Suche nach Pedrotti macht, um diesen an Mussolini zu übergeben. Wie Tabelle 1 zeigt, kreuzen sich die Erzählstränge an zwei Punkten: beim Kontakt mit den Auftraggeber:innen und im grand final. Im zweiten Handlungsstrang der Pedrotti-Suche, dem Abenteuer der Jünglinge, stehen sich zwei personifizierte Ideologien gegenüber: belesener Idealismus und bürgerlicher Nationalismus. Denn während Andrea Trevisani sich aufgrund einer empfundenen fehlenden Anerkennung zu der faschistischen (bürgerlich gruppierenden) Politik Mussolinis hingezogen fühlt, ist der (adelige) Agostino Bevilacqua von Idealismus durchzogen und tritt neben dem distanzierten Trevisani geradezu naiv auf. Als sie Pedrotti finden, der inzwischen seinen Unterhalt durch fingierte Abenteuer für touristische Gruppen verdient, verabschiedet sich Bevilacqua von Trevisani, da letzterer ihn nicht warnen, sondern ausliefern will. Enttäuscht läuft Bevilacqua, »Trapp,

Vgl. Vosse, Paula: Literarische Filmsimulation (2018), S. 46ff. Vgl. Hierzu auch detailreicher und im Spiegel zeitgenössischer Romane: Capovilla, Andrea: Der lebendige Schatten (1994), S. 47-50. Charlotte Heymel fasst in Touristen an der Front (2006) die ambivalenten Kriegseindrücke verschiedener Literat:innen zusammen, die so als Reiseliteratur lesbar werden. Heinrich Eduard Jacob beschreibt den Krieg in einem solchen Bericht »als kollektives Abenteuer«. Vgl. ebd., S. 54. Vor diesem Hintergrund wird der Roman autopoietisch lesbar und die Kollektivproduktion Film und Krieg vergleichbar, da sie als organisierte Massenunternehmungen ausgelegt werden 213 Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 337. 214 Ebd., S. 14. 211 212

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trapp«,215 davon und spricht die Worte »›Andrea Trevisani, höre!‹«,216 die auch die Erzählstimme im Epilog an ihn richtet,217 und verabschiedet sich für immer. Weder diese Jünglinge noch eine der anderen Figuren durchläuft, im Gegensatz zu Rubenson, einen Entwicklungsprozess. Trevisani sticht sogar aufgrund seiner ausbleibenden Entwicklung als deutlich ausgewiesener Verlierer des Romans hervor: keine Freunde, kein politischer Erfolg und, das macht der intradiegetische Epilog deutlich, keine früchtetragende Zukunft.218 Bei der Figur Clothilde lassen sich zwar keine Entwicklung, aber doch Schwankungen in ihrer mobilen Präsenz und Kommunikations-Kompetenz auf Sardinien beobachten. Gerade die Eigenschaften also, die sie als Personifikation der Medientechnologie Film kennzeichnen, treten durch das Auftreten eines mehrköpfigen Filmteams zurück. Denn in der Massenproduktion des Filmprojekts wird jeder Figur eine tragende Rolle zur Herstellung des Films zugewiesen.219 Vor Beginn der Reise stehen im Gegensatz dazu noch Clothildes Mobilität, kommunikative Kalkulation, schauspielerisches Talent und Reproduktionsfähigkeit, also eine Vielzahl von künstlerischen Fertigkeiten, im Fokus des Figurenentwurfs. Auf Sardinien gewinnt sie diese Fähigkeiten erst im finalen Kapitel stückweise zurück. Zunächst erahnt sie prognostisch das natürliche Ableben Rubensons durch einen Traum, bevor sie seinen Leichnam findet. Gerade in dieser Ausnahmesituation reagiert sie emotional, nachdem »ihr ganzer Körper [.] zu weinen [schien]«,220 während sie stumm bleibt – eine Abbildung wie aus einem Stummfilm. Daraufhin beschreibt der Text ihr kontrolliertes weiteres Vorgehen: Clothilde hatte sich erhoben. Während sie ununterbrochen schluchzte, und dieses Schluchzen für ihre Lunge eigentlich nicht schmerzlich war, sah sie mit großer geistiger Klarheit, daß für sie jetzt nicht Weinens Zeit war. Ein andermal – nein, stets und immer! – wollte sie den Mann beklagen, der ihr der erste gewesen war; der als Vater, Liebhaber, Lehrer ihrer Jugend erfüllt hatte. Jetzt aber waren sie auf der Kriegsfahrt! – »Le commandement est à moi!« dachte sie, und ein Schauer vereiste ihre Tränen. Das Heft! Das Heft! Le petit cahier!221 Sie wählt schnell einen neuen Regisseur: Bettenhausen – »Er sollte ihr Erster Offizier sein«.222 Daraufhin nimmt Clothilde dem Toten seine Geldbörse ab, salutiert und holt »das Zepter der Gewalt: bläuliche Blätter in silbrigem Umschlag!«,223 das Drehbuch aus

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Diese optophonetischen Worte begleiten die Figur schon bei seinem ersten Auftritt. Einige Zeilen von Auf- und Abzug Agostinos sind sogar identisch. Die Figur ist damit klar in einer festen, fast mannequin-anmutenden Rolle eingeschlossen. Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 95 u. 211. 216 Ebd., S. 211. 217 Ebd., S. 352. 218 Vgl. ebd., S. 352f. 219 Vgl. ebd., S. 166-178. 220 Ebd., S. 337. 221 Ebd., S. 337f. 222 Ebd., S. 338. 223 Ebd.

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Rubensons Zimmer. Das Drehbuch wird dabei auch als »Kommandostab«224 bezeichnet. Diese militärische Rhetorik im Themenkomplex Film und Technik bleibt durchgehend erhalten und wird bereits auf den ersten Seiten des Romans eingeführt, wenn für einen Regisseur, Pößleithner, »Oberregisseur« und »Oberleutnant« als Synonyme eingesetzt werden.225 Bevor sie zu den restlichen Figuren zurückkehrt, findet Clothilde im Drehbuch eine Nachricht des Verstorbenen, in der er eine vorhergegangene Unterhaltung der beiden zitiert und verdeutlicht, dass ihre Worte ausschlaggebend für den Drehbuch-Tausch waren: »Die Hauptsache ist, daß die Regierungen, die es bezahlen daran glauben!«.226 Durch die Realisation ihrer aktiven Rolle in Rubensons politisch-künstlerischem Ausbruch wird Clothildes stets kühler Antrieb »vor Verwunderung [starr] [.]. Clothilde schlief mit offenen Augen, auf dem Stuhle, die Hände im Schoß. Zwei ferne Gongschläge weckten sie – und wenige Sekunden später ein furchtbares Krachen im Nachbarbau«.227 Die medientechnologische Figur wird durch ihre Erkenntnis des veränderten Drehbuchs unterbrochen, wie auch Rubensons Brief durch seinen Tod abgebrochen wird. So sitzt Clothilde statisch mit offenen Augen ruhend, bis sie von einem Laut geweckt wird. Mit dem Weckruf, dem warnenden Alarm vor der Marineinfanterie, treten wieder schnell wechselnde Bilder auf. Schließlich, nachdem Pedrottis Aufenthaltsort komplett verwüstet ist, werden die Überbleibsel des Filmprojekts beschrieben: Wo sich der Hohlweg gabelte, stand die verlassene Filmkamera. Ein Geschoß hatte ihre Kurbel getroffen; sie war verbogen und abgesplittert. Ein anderer Schuß des Maschinengewehrs hatte ihr Stativ geknickt. Sie war nicht gestürzt, aber ihre Stirn hatte sich gegen die Erde geneigt, und ihr gläsernes Auge glotzte auf einen im Hohlweg liegenden Menschen. Wer dies Zusammen der beiden sah, der mußte einen Augenblick glauben, daß das trauernde Filmgeschütz jenen Menschen erschossen habe, der hier in einer Blutlache lag. Eine Reservekassette hatte, von einem flüchtenden Fuße berührt, sich im Sturze geöffnet. Ein langer Streifen reinen und durstigen Zelluloids vermischte sich mit Pedrottis Blut.228 Dieser Abschnitt verdeutlicht die ungewollte Brutalität der Kamera und das Verlangen des Zelluloids Leben einzufangen229 – und damit stiftet er auch den Titel des Romans. Dass das Opfer des Filmprojekts im reinen Streifen liegt, ist eine Allegorie für den Verlust des Realen durch medientechnologisches Festhalten. Das Filmprojekt ist offensichtlich gescheitert, da die Gewalt der Propaganda die Filmidee und seine Mittel hingestreckt hat. Gleichzeitig nimmt es aber auch ein medienphilosophisches Grundkonzept auf, indem verdeutlicht werden soll, dass nicht der Zelluloidstreifen, sondern die politischen Akteur:innen Propaganda produzieren.

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Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 339. Vgl. ebd., S. 12. Ebd., S. 340. Ebd., S. 341. Ebd., S. 344f. Zur Metapher der schießenden Kamera Vosse, Paula: Literarische Filmsimulation (2018), S. 73-76.

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

Bevor die letzten Worte des Romans Trevisani und seinen Glauben an die nationalistische Politik rügen, gilt der abschließende Abschnitt Clothilde: Sie wiegt sich durch Rubensons Drehbuch-Fassung in Sicherheit und diktiert einem Leutnant abrupt eine Radiodepesche an ihren Verlobten. Sie denkt an seinen Hilfszuspruch: »›Ick würde dir herauspauken!‹ dacht sie fröhlich und lächelte«,230 während das Filmmaterial, die Kameras und auch die Filmidee Pedrotti zerschossen am Boden liegen. Mit diesem Abschluss wird die Ambivalenz des Films, personifiziert in Clothilde, abermals auffällig. Dieser komplexe und mehrschichtige Inhalt ist gerade durch seine typographische Umsetzung besonders aufschlussreich, denn die materiellen Markierungen erfüllen mehrere Textfunktionen: (1) das Ausweisen medienästhetischer Mittel anhand von typographischen Dispositiven als Gattungsreferenzen, (2) visuelle Szeneriewechsel zeitlicher wie auch räumlicher Abhängigkeit durch die Wirkräume, (3) das Fingieren von Textoptionen durch Klammersetzungen und (4) das semantische und materielle Be- und Entschleunigen des Textes durch Gedankenstriche und Punktfolgen. Die ersten beiden Punkte werden dabei als direkte medienphilosophische Auseinandersetzung des Autors mit dem Film gelesen. Die letzten beiden Punkte führen die inhaltliche Ambivalenz typographischer Satzzeichen vor, welche auf den filmischen Stoff des Romans umfunktioniert wird. Sie werden als zusätzliche, aber bereits etablierte typographische Hilfsmittel herangezogen. Die Mittel, die 1929 bereits als gängige Mittel der typographischen Textgestaltung angewandt werden, sind: Satzzeichen und das Einrücken lyrisch zu lesender Textstellen, welche so hervorgehoben werden. Das visuelle Abbilden einer Gattungsreferenz jenseits der Lyrik oder der Einsatz von semantisch codierten Negativstellen wie den Wirkräumen, kann als neue literarische Technik der literarischen Moderne gelesen werden. Der Roman setzt damit nicht nur einen Fokus auf die typographische Textgestaltung und den technischen Umgang mit dieser, sondern impliziert auch die Relevanz verschiedener Publikationsformen wie auch die Diversität medialer Potentiale. Die Erzählstrategie des Autors positioniert die Leserschaft dabei in einer observierenden Rolle, was gerade in dem scheinbar ungeordneten Überschwall an visuellen Informationen an die wundt’sche Definition einer Experimentbeobachtung erinnert: der zerstreute Blick ermöglicht das Bemerken von Abweichungen. Dabei weist dieser Text keinen durchführenden Experimentcharakter in ihrer materiellen Gestaltung auf, wie es bei den Kinobuch-Beiträgen (1913/14) oder Dynamik der Gross-Stadt (1921/22) der Fall ist. Vielmehr wird der Text durch das Präteritum und die dokumentarische Aufzeichnungsfiktion als Protokoll und abgeschlossenes Experiment lesbar. Durch den Verbund inhaltlicher und materieller Argumente bildet der Text die medientechnologische Strategie des Films in der aisthetischen Dimension ab: durch Brüche, Wechsel und Markierungen. Dabei wird eine abbildende Technik im Text angewendet, die zu den genuinen Charakteristika des Films gehört: Die Montage. Durch die visuellen Markierungen wird der Effekt der Montage verstärkt und hervorgehoben – mit den Worten Walter Benjamins: »Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen«.231 Das Experimentieren mit fragmentarischem und unabgeschlossenem Text, das etwa zeitgleich von 230 Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 352. 231 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk (1927-40), S. 572.

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Musil in Der Mann ohne Eigenschaften (1930) oder Benjamins Einbahnstraße (1928) erprobt wird, bildet sich in Blut und Zelluloid (1929) visuell aus. Denn gerade auch die inter- und intratextuellen Gattungsreferenzen werden nur in Ausschnitten und Fragmenten abgedruckt. Durch diesen gezielten Einsatz von Typographie wird die Montagetechnik hier als visuelle Filmsimulation erkennbar. Dieses Abbildungsverfahren gewinnt durch seine typographische Explizitheit und Präzision den Status der Aufzeichnung eines visuellen Experiments. Dies wird durch die Möglichkeit der funktionsausgerichteten Kategorisierung typographischer Gruppen im Text deutlich. Durch das Ausstellen des intermedialen Fassungsvermögens und der visuellen Kapazitäten der Gattung Roman, ist hier ein Emanzipierungsversuch von der Medientechnologie des Films impliziert. Das konstruktivistische Prinzip der intermedialen und interrelationalen Netzwerke in Blut und Zelluloid drückt dabei nicht nur Jacobs Verständnis von einer kumulativen Filmästhetik aus, sondern wird auch durch den materiellen Romanaufbau gespiegelt. Nach eigener Aussage des Autors wäre der Roman sogar als Vorläufer des Sachbuchs zu verstehen. Denn trotz eindeutiger menschlicher Protagonist:innen sei »›der wahre Held des Buches […] die italienisch-französische Eifersucht und der hetzerische Film‹«.232 Die Medientechnologie als Protagonistin auszulegen, könnte an die Tendenzen der Neuen Sachlichkeit erinnern,233 jedoch verdinglicht Jacob auch eine Figur, Clothilde,234 während die Filmkamera anthropomorphisiert wird.235 Isolde Mozer beschreibt diese vernetzte Erzählstrategie Jacobs, in der er wissenschaftliche, zeitgenössische und fiktive Elemente einsetzt, als »Universalpoesie«236 und orientiert sich damit an einem poetologischen Verfahren der Frühromantik, das seine Informationen gattungsüberschreitend (meist aus der Philosophie) bezieht. Sie übersieht hierbei, dass der Autor dieses Schreibverfahren auch auf das Textbild überträgt. Dadurch tritt eine aisthetische Universalpoesie auf, die verschiedene Textelemente montiert. So bildet sich im Material des Textes das dahinterstehende »konstruktive Prinzip«237 ab und präsentiert die visuell abgegrenzten Textelemente, heterarchisch und damit demokratisch.238 Jacob positioniert sich zuvor auch öffentlich als demokratischer Schreibstratege und ruft

232 Jacob, Heinrich Eduard. Zit. n. Schütz, H.J.: »Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen« (1988), S. 129. 233 Isolde Mozer erkennt in Jacobs Schreibstil nicht nur ein Misstrauen gegenüber »dem Offensichtlichen«, sondern auch gegenüber der »Wörtlichkeit«. Sie begreift diese Haltung als Hinweis auf Jacobs Position in der Sprachkrise. Vgl Mozer, Isolde: Zur Poetologie bei Heinrich Eduard Jacob (2005), S. 198f. u. 299. 234 Vgl. Vosse, Paula: Literarische Filmsimulation (2018), S. 22-34. 235 Vgl. ebd., S. 74-76. 236 Vgl. Mozer, Isolde: Zur Poetologie bei Heinrich Eduard Jacob (2005), S. 323-327. Die Steigerung, die Mozer als zentrales Element Jacobs Textverfahren nennt, liest sie als inhaltliches Verfahren. Vgl. ebd., S. 327-356. 237 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte (1940), S. 702. 238 Die politische Dimension der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts wird durch die Zensur erheblich eingeschränkt. Der berufliche Werdegang Heinrich Lautensacks wurde beispielsweise erheblich durch die Zensur seiner Dramen determiniert. Das politische Mobilisierungspotential der Literatur wurde zu diesem Zeitpunkt durchaus anerkannt, was auch Texte wie Döblins Kunst ist nicht frei, sondern wirksam: Ars Militans (1929) zeigen.

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weitere Autor:innen auf, sich dem Schreibstil Walter Whitmans, den er als Orientierung nennt, anzunähern.239 Durch das Abbilden und Eingliedern der Textelemente in die Romaneinheit führt Blut und Zelluloid (1929) die Offenheit des Genres Roman vor, indem sich der Autor gattungsfremder Qualitäten bedient und diese inhaltlich wie materiell entwirft und übersetzt. Die Eigenschaft von Visualität, Fiktion und Illusionen abzubilden, wird damit ausgewiesen und vor dem Hintergrund des Themas Propagandapotential des Films als Potential der Medientechnologie ausgestellt. Die visuellen Hervorhebungen erfüllen damit eine konkrete Funktion: das Vorführen illusionärer Visualität. Diese Tendenz wird auch im Inhalt des Romans deutlich. Hier geht die Beweiskraft von den Bildern in die abgebildeten Worte über.240 Diese ambivalenten Potentiale werden so im Verjüngungsprozess Rubensons, dem Gegensatz von Clothildes jungem Körper und ihrem alten Gesicht oder dem äußerst geometrisch, also stabil und rational auftretenden, aber irrational handelnden Mussolini241 deutlich. Solche Verweise auf die Fehlbarkeit von visuellen Qualitäten werden materiell im Textbild gestützt, indem die typographischen Markierungen das Geschilderte durch ihre medialen Qualitäten erweitern: das Einrücken bzw. Nicht-Einrücken lyrischer Elemente bewertet deren künstlerischen Anspruch; die Zeitungsausschnitte fingieren einen Authentizitätsanspruch – ebenso wie das Abbilden des Filmkongress-Protokolls –; die Drehbücher rufen den hypothetischen Film vor Augen, der niemals entstehen soll; die Punktfolgen lassen das Geschriebene ausklingen, während die Gedankenstriche es (unter)brechen, und die Wirkräume visualisieren die Szeneriewechsel – alle typographischen Markierungen tragen damit eine Funktion, die ggf. nicht explizit mit dem Signifikat ihrer Zeichen in Verbindung steht. Auch neben den weitreichenden interrelationären Verweisen auf Kunst und Literatur, die das Thema des Romans, die Medientechnologie des Films, in einem traditionsreichen Konstrukt verorten, diskutieren die Figuren – aus einer medienphilosophischen Perspektive heraus – fortwährend das Potential dieser neuen visuellen Ausdrucksform. Besonders deutlich geht hieraus hervor, dass die Medientechnologie dynamisiert und physiologisch in die Betrachter:innen eindringt: Welch Phänomen: von keinem Theater keines Zeitalters je erreicht – dieser Hineinstrom von Regimentern, von Divisionen, von Armeen! Freiwillig kamen sie? Was war Wille? Reklame hatte sich in die Körper und in die Seelen genistet wie Gas. Mit jedem Atemzug nahm die Lunge, verteilt auf einen Kubikmeter Luft, zerstäubte Wünsche und Lockungen auf. Die Augen, die Finger, der Unterleib, alles gehorchte fremdem Befehl. Dem Diktat gewaltiger Großherren. So strömten sie, von den Fangarmen des Lichts, der Plakate, der Zeitungen hereingeschaufelt, in den Palast. Um vor das große Maschinengewehr der Projektoren getrieben zu werden. Vor den rasenden Zelluloidstreif. Die Linse, gleichmütig und kalt, gab zwanzig Schüsse in der Sekunde. Das machte zwölfhundert in der Minute. Von Patronen aus Zelluloid wurden die Gehirne durchschossen, verwundet und schon wieder bepflastert. Kilometerlange

239 Vgl. Jacob, Heinrich Eduard: Der Dichter in der Demokratie (1924), S. 2. 240 Vgl. hierzu auch: Schanze, Helmut: Die Ohnmacht der Worte (1997). 241 Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 317ff.

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Streifen entluden sich ohne Unterbrechung, entluden sich knatternd in eine Salve von Bildern, die im menschlichen Fleisch Hunger und Sättigung, Wollust und Leiden, Lachen und Tränen zugleich erregten.242 Aber auch das noch nicht ausgenutzte künstlerische Potential wird explizit auf dem Filmkongress in Paris diskutiert, den Clothilde besucht. Das Ergebnis des Konflikts mit der physiologischen und psychologischen Beanspruchung durch den Film scheint dessen Aneignung zu sein. Denn inhaltlich wie auch materiell versucht Blut und Zelluloid (1929) sich die medientechnologischen Qualitäten des Abbildungsverfahrens im Druck anzueignen. Die Option des Übergangs von Illusion zu Realität, Unwirklichem zu Wirklichem stellt sich auf diesem Wege auch durch das zerstörte Filmprojekt dar, welches die Figuren in ihr intradiegetisches Abenteuer führt: »Wie wirklich jetzt die Unwirklichkeit wurde!«.243 In Blut und Zelluloid wird damit Typographie als literarische Technik angewandt, um die medientechnologische Illusion des Films ins reale Material des Textes zu übertragen. Wie vorher angeschnitten, sind nicht alle typographischen Auffälligkeiten im Roman von gleichem Gewicht. Der Einsatz von Satzzeichen wie Klammern oder Gedankenstrich und das Eindrücken lyrischer Verse werden bereits von Autoren wie Laurence Sterne mit einem semantischen Eigengehalt versehen. In diesem Kapitel werden jedoch auch diese bereits etablierteren typographischen Mittel untersucht, da sie im Zusammenhang mit Jacobs filmischer Schreibtechnik eine visuelle Funktion übernehmen. Die eigentliche Innovation im Textbild ist aber die Verwendung von Wirkräumen als autonome Negativzeichen, welche eine zeitliche wie räumliche Verschiebung visualisieren und lesbar machen. Ebenso ungewöhnlich ist das typographische Nachahmen verschiedener Texttypen. Zwar ist die Darstellung eingerückter Lyrik in einem prosaischen Fließtext gängig, so ist es der Abdruck eines Notenblatts, das typographische Nachstellen eines Filmskripts oder eines Telegrams nicht. Jacobs eklektischer Typographiegebrauch kombiniert neue und bekannte Gestaltungsmittel, um das Textbild visuell einschneidend aufzubauen, gleichzeitig aber die Balance zwischen gewohntem und Neuen Sehen zu halten. Die Analyse setzt daher mit den bekannten Mitteln ein und endet mit den Wirkräumen. Während sich die Filmtexte des Kinobuchs (1913/14) typographisch zwischen Erzähltext und ersten Drehbuchversuchen bewegen, zeig Blut und Zelluloid ein deutlich durchdachtes Textbild, welches – für unseren retrospektiven Blick – nicht so innovativ und auffällig ist wie Dynamik der Gross-Stadt (1921/22).

4.2.1 Interpunktion: Gedankenstrich und Punktfolge Der Einsatz von Gedankenstrichen und Punktfolgen wurde in der Analyse von Heinrich Lautensacks Zwischen Himmel und Erde (1913) als be- und entschleunigendes Gestaltungsinstrumente ausgewiesen. Auch in Blut und Zelluloid zeigt sich, dass diese beiden Interpunktionen die zeitliche Wahrnehmung des Materials durch ihr Auftreten strukturieren und lenken. Hierbei suggeriert der Gedankenstrich auf materieller Ebene durch

242 Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 30. 243 Ebd., S. 193.

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

den klaren horizontalen Schnitt einen abrupten Wechsel, was zu einer beschleunigten Wahrnehmung führt. Indem der Leseprozess so durch sein Unterbrechen angetrieben wird, erzielt dieses Zeichen auch einen semantischen Beschleunigungseffekt durch die oft schlussfolgernden Sätze, die auf den Gedankenstrich folgen. Dabei tauchen auf den 353 Seiten des Romans insgesamt 509 Gedankenstriche auf. Zusätzlich wird an 16 Stellen der doppelte Gedankenstrich verwendet, welcher die gesteigerte Zeichenfunktion verbildlicht. Als Gegenstück zum Gedankenstrich wird die Punktfolge eingesetzt. Die entschleunigende Wirkung dieser Zeichenfolge entspringt ihrer genuinen Zeichenfunktion: während ein einzelner Punkt das Ende eines Aussagesatzes markiert, verdeutlicht der erste Punkt einer Folge zunächst auch das Satzende, wird aber selbst von den folgenden Punkten wieder abgeschlossen und lässt den Satz so auslaufen. Durch das redundante Abschluss-Verfahren wird der Satz ausgeblendet, da die Punkte keine Sätze, sondern das Ende des vorhergehenden Punktes markieren. Aus diesem Grund sind Punktfolgen auch häufig an unvollständige Sätze gebunden, denn sie weisen den Satz als unbeendet aus, lassen ihn ausklingen. Den Gedankenstrichen ähnlich treten auch ungewöhnlich viele Punktfolgen in Blut und Zelluloid (1929) auf: insgesamt 320. Das Zusammenspiel beider Interpunktionen, also das gehäufte Be- und Entschleunigen des Textbildes, führt zu einem dynamisierten Textbild und dem daraus resultierenden Eindruck einer abwechslungsreichen Textsemantik. Auf Seite 182 werden die Zeichen gehäuft abgebildet, jedoch tauchen sie an dieser Stelle ausschließlich in der direkten und indirekten Figurenrede auf. Stehen die Punktfolgen zu Beginn eines Satzes, lassen sie diesen einschleichen und verdeutlichen, dass er sich auf etwas vorher Gesagtes beziehen muss. So etwa »… Malariawasser?« […] …Nette Schulbildung!«.244 Der doppelte Gedankenstrich auf Seite 183 symbolisiert eine abrupte Unterbrechung, indem der vorhergehende Satz nicht zu Ende geführt wird: »Wie konnte in diesem verruchten Nest, im Hause dieses stinkenden Landarztes, das seit Jahrzehnten nicht ausgeräumt war, sich ein Telephon befinden und – – dies war ein Ferngespräch! Die Ferne selbst saß im Telephon«. Und die nun folgenden einfachen Gedankenstriche zu Beginn der Sätze symbolisieren das schnelle Antworten auf die Aussagen und Fragen der Figur am anderen Ende des Hörers: » – Am besten demnächste Vollmondnacht. – Wie? – Bitte nur herüberzukommen! Aufstieg sehr leicht, auch gefahrloses Klima… Zelte mit Mückenschutz mitbringen«. Die Punktfolgen entschleunigen hier die Unterhaltung, indem der Arzt Barbieri Stück für Stück auf die Fragen antwortet und Informationen für die Niederländer:innen durchgibt, die für die Teilhabe an Pedrottis Leben bezahlen – es also als Sehenswürdigkeit betrachten. Bei dieser telefonischen Unterhaltung wird nur eine Position über den Text vermittelt, was eine perspektivische Ortsgebundenheit ausdrückt. Abgesehen davon, dass die figurenbezogene Perspektive auch in den anderen materiellen Techniken Blut und Zelluloids relevant für die materielle Textgestaltung ist, handelt es sich bei den typographischen Einschnitten hier um logisch gesetzte Unter-

244 Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 182.

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brechungen: Die Gedankenstriche repräsentieren das Schweigen Barbieris, während die Punktfolgen sein phonetisches Zögern bzw. Ansetzen zum Ausdruck bringen.245 Im Fließtext erwirkt das Setzten eines Gedankenstrichs dieselbe Wirkung: »Wir sehen Agostino laufen, – und wir gestatten uns zu lächeln«,246 »Sie wollten trachten an eine Trift von Granitblöcken heranzukommen, in deren Schatten man geduckt vorwärtslaufen konnte – da krachten zwei Gewehrschüsse«247 oder »Vielleicht hatten Baum und Strauch oder Meer irgendeinen Anteil an ihr – aber nicht die Angst der Menschen«.248 Im ersten dieser drei Sequenzen wird durch den Bindestrich die vierte Wand gebrochen und der Leserschaft eine gemeinschaftsstiftende Wertung der Figur Agostiono Bevilacqua vorausgesetzt. Der typographische Einschnitt beschleunigt dadurch vor allem die Haltung zu dieser Figur, denn Agostino Bevilacqua tritt hier zum ersten Mal auf. Zusätzlich verdeutlicht der Wechsel in der narrativen Perspektive von Agostino zu der Lesegemeinschaft wir, im Gegensatz zu den intimeren Einschüben durch Klammersetzungen, eine distanzierte, wertende, aber auch sympathisierende Beobachter:innenposition. Der Satz ist von deiner Visualisierung Bevilacquas geprägt, könnte also auch eine filmische Sequenz mimen, und gibt dabei auch die Reaktion des Publikums vor – hierdurch wird das lesende Publikum in eine rein passive und vom Text abhängige Perspektive gerückt, während der Text verdeutlicht, dass die Leserschaft eigentlich gerade den Auftritt des Jünglings sieht. Das zweite Beispiel verfährt ähnlich dynamisierend, denn der Gedankenstrich markiert hier den Abbruch einer Figurenbewegung durch zwei Schüsse. So wird materiell und semantisch ein klarer Einschnitt in der Handlung vorgenommen. Im dritten Satz führt der Gedankenstrich wie auch im ersten Beispiel zu einer abrupten Schlussfolgerung: Das Erzählen wird unterbrochen und ein schnelles Fazit präsentiert. Die Punktfolgen fungieren als Ergänzung der beschleunigenden Funktion des Gedankenstrichs, indem sie auch außerhalb der Figurenrede eine entschleunigende Wirkung vermitteln: »Über Schlachtfelder fuhren Geschäftsreisende … Clothilde schlief«,249 »Es war, als ob er zeitweilig versuchte, die Soldatensprache geistig zu machen, dann wieder den Geist in Kommandos zu pressen …«250 oder Es war sehr wichtig Grafen zu kennen! … Die hündische Zunge der Demokratie, der revolutionären Gleichmacherei, hatte über diese Titel gewiß ein wenig hingeleckt – aber man hatte diese Zunge auch wieder in einen Maulkorb gesteckt! (Jawohl, meine Herren, das hatte man …).251 Das erste Exempel veranschaulicht dabei einen gediegenen und weichen Übergang zwischen zwei geschilderten Bildern. Durch die Punktfolge wird dabei das erste Bild in das zweite überführt. Im darauffolgenden Satz fordert die Punktfolge durch ihr weiches Ausklingen dazu auf, im vorher Gelesenen zu verharren. Und auch im dritten 245 Hierzu vgl. den typographischen Einsatz von Gedankenstrich und Punktfolge in einem weiteren Telefonat: Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 316. 246 Ebd., S. 95. 247 Ebd., S. 191. 248 Ebd., S. 216. 249 Ebd., S. 217. 250 Ebd., S. 311. 251 Ebd., S. 133.

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

Ausschnitt veranschaulichen die gereihten Punkte das gedankliche Entschleunigen und Abschweifen vom Zusammenhang. Gerade im Kontrast zum abbrechenden und schlussfolgernden Gedankenstrich treten die Punktfolgen als Satzzeichen auf, die gedankliches Flanieren und ein nur langsames Entziehen aus der Satzsemantik markieren. Neben seiner beschleunigenden Funktion wird der Gedankenstrich auch synonym zu anderen Satzzeichen eingesetzt. So etwa außerhalb der Figurenrede durch die Markierung von Einschüben wie »Knie von großer Spannweite – Agostino ist von hoher Gestalt – unterstützen das Unternehmen«.252 Den Gedankenstrichen wird hier dieselbe Funktion wie den Klammern zugewiesen, was besonders an zwei vergleichbaren Stellen auffällt: »Ein einzelner Knecht in schwarzen Gamaschen und weißen, gebauschten Leinenhosen – diese Tracht hatte etwas Albanisches! – führte antreibend und richtend zehn Wagen«253 und »Statt dessen kam, in ein altes Cape gewickelt (wie die Alpini es trugen), Doktor Barbieri aus der Villa«.254 Die Einschübe fungieren in beiden Zitaten als nähere Erläuterung der Figurenbekleidung und sie unterscheiden sich damit nicht inhaltlich oder in ihrer Funktion, sondern lediglich typographisch. Indem unterschiedliche Zeichen hier derselben Funktion nachkommen, kann der Vergleich als ein Argument dafür betrachtet werden, dass der Text eine visuelle Diversität durch den Gebrauch verschiedener Zeichen erreicht. Der Wechsel der Zeichenwahl für einen identischen semantischen Gebrauch führt zu einer materiellen Irritation, die eben nicht auf eine Interpretation, sondern auf visuelle Aufmerksamkeit und textuelle Variation ausgerichtet ist.255 Ähnlich werden auch narrative Kommentare durch Klammern oder Gedankenstriche in den Text eingebunden, ohne dass ein Unterschied in der Zeichenfunktion festzustellen wäre: »(war es zufällig?)«,256 »Und das er sich – Gott mag wissen, wo – in irgendeinem Basar gekauft hat«257 oder »Wie konnten Franzosen – ausgerechnet Franzosen! – es wagen, gegen den italienischen Staat Propagandabomben zu schleudern, wenn in den eigenen Kolonien Schwarzwasserfieber und Lepra hausten!«258 Der einzige Unterschied zwischen den Satzzeichen ist in solchen Sätzen ihre typographische Form. Und die einzige Bedingung für den austauschbaren Einsatz von Klammern oder Gedankenstrichen ist dabei die Anzahl: fassen zwei Gedankenstriche einen Teil des abgedruckten Satzes ein, so fungiert dieser als autonomer Einschub, ebenso als würde er durch Klammern eingefasst werden. Indem die Gedankenstriche jedoch auf den Einschub verweisen, statt ihn einzuklammern, wird er nicht direkt aus dem primären Narrativ gelöst und als verzichtbar herausgestellt. Dieser Unterschied ergibt sich nur auf der materiellen und nicht auf der inhaltlichen Textebene. Während der gedoppelte Gedankenstrich innerhalb der Figurenrede oft deren Intentionen, Schlussfolgerungen oder Wertungen einleitet,259 fungiert seine Doppelung im 252 253 254 255 256 257 258 259

Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 95. Ebd., S. 128. Ebd., S. 187. Vgl. Hahn, Torsten: Drucksache (2019), S. 445. Vgl. gerade auch für eine Irritation bei visueller Kommunikation: Götz, Matthias: Das grafische Zeichen (1989), S. 55-58. Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 146. Ebd., S. 98. Ebd., S. 160. Vgl. ebd., S. 61, 85, 86, 90, 181, 241, 271…

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Narrativ meist als eine betonte Steigerung einer einschneidenden Wechselfunktion260 und/oder Schlussfolgerung:261 »Warum, warum nur brauchte sie das? – – Man konnte sich den Kopf zergrübeln!«,262 »– –’Ich glaube, ich werde noch verrückt!‹ versuchte Benno Rubenson diesen schrecklichen Gedanken zu scheuchen«.263 An einer Textstelle fällt auf, dass der Gedankenstrich einen zeitlichen Wechsel markiert: »– – Nach zwei Tagen kam er zurück und faßte den Schlafenden am Arm«.264 Auf den ersten Blick ähnelt dieser Einsatz jenem der Wirkräume. Doch steht der gedoppelte Gedankenstrich hier für einen zeitlichen Schnitt und nicht für einen räumlichen. Diese materielle Funktion kann über den Textinhalt erschlossen werden, da Andrea Trevisani den schlafenden Agostino Bevilacqua verlässt und seine Abwesenheit dadurch gerahmt wird, dass Trevisani zurückkehrt, wenn Bevilacqua wieder am Schlafen ist. Das räumliche Setting ist identisch. Daher handelt es sich durch die unveränderte Szenerie um eine beschleunigte Darstellung, die das Schlafen und Reisen der Figuren gänzlich überspringt – weswegen auch keine visuelle Veränderung des Raums durch einen materiellen Wirkraum betont werden muss. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Gedankenstrich und Punktfolge durch ihre beund entschleunigenden Funktionen maßgeblich zur Abwechslung im materiellen Textbild und Textinhalt beitragen. Die Bandbreite an Gebrauchsoptionen ist beim Gedankenstrich jedoch weitreichender als bei der Punktfolge. Da diese Funktionen nicht allein aus der aisthetischen Dimension des Romans hervorgehen, muss für die Analyse der Typographie auch sein Inhalt berücksichtigt werden. Dies hängt maßgeblich damit zusammen, dass die Satzzeichen für die Textproduktion bereits als inhaltlich codiert gelten. Hierdurch wird es notwendig in der Decodierung dieser visuellen Zeichen auch den inhaltlichen Zusammenhang miteinzubeziehen. Dies ist gleichzeitig der Grund, der es Jacob ermöglicht, sie als variable Mittel in seinem Textbild zum Zwecke der dynamischen Aufmerksamkeitserhaltung einzusetzen.

4.2.2 Klammersetzungen Bei dem eingeklammerten Textmaterial in Blut und Zelluloid (1929) handelt es sich um Informationen, die im Narrativ oder in der Figurenrede als optional verzichtbares Material präsentiert werden. Die eingeklammerten und dadurch markierten Einheiten tragen dabei nicht zum primären Handlungsablauf bei, sondern eröffnen vielmehr eine Ebene an zusätzlichen Inhalten. Dabei ist der Gebrauch von Klammern zur Unterteilung der materiellen Dimensionen ein gängiges typographisches Instrument. In den Filmtexten des Kinobuchs (1913/14) werden die Klammern vornehmlich für technotextuelle oder schauspielerische Anweisungen und Kommentare genutzt – diese Informationen tragen nicht zur primären Handlungsebene bei, sondern beziehen sich auf Umsetzung oder Ausschmückung der zu vermittelnden Eindrücke. Für den weitaus umfangreicheren Text Blut und Zelluloid bietet Tabelle 2 einen ersten Überblick zum Klammereinsatz

260 261 262 263 264

Vgl. Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 183. Vgl. ebd., S. 319. Ebd., S. 268. Ebd. Ebd., S. 154.

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

im Roman an. Der Zweck dieser Auflistung ist nicht das Erfassen potentieller Übersetzungsmerkmale von Text zu Film, sondern die Bestätigung der Unabhängigkeit des Textbilds: die Tabelle veranschaulicht, dass technotextuelle Mittel hier eben nicht zur Vorlage für einen Film eingesetzt werden, sondern im literarischen Textmaterial eine durchgängige und auffällige Position einnehmen. Zudem wird in diesem Überblick gezeigt, dass eben nicht nur technotextuelles Material eingeklammert wird, sondern, dass dieser Typ von Klammersetzungen von weiteren, filmtechnologisch schwierig umsetzbaren, Einklammerungen begleitet wird.265

Tabelle 2: Klammereinsatz in »Blut und Zelluloid« (1929). Typ A: Technotext/ filmtechnologisch umsetzbar

Typ B: Filmtechnologisch schwierig bis gar nicht umsetzbar

Narrativ

16, 20, 33, 41, 43, 48, 66, 67, 85, 86, 98, 101, 109, 110, 111, 125, 126, 133, 147, 149, 156, 168, 169, 180, 184, 186, 187, 196, 199, 216, 231, 237, 243, 250, 252, 258, 261, 262, 272, 297, 303, 320, 325, 331, 339, 344, 345, 346

8, 10, 26, 39, 51, 60, 67, 85, 95, 101, 105, 120, 125, 133, 139, 145, 146, 150, 157, 160, 164, 167, 168, 173, 175, 185, 186, 193, 211, 216, 222, 223, 224, 226, 252, 253, 261, 262, 264, 265, 269, 270, 272, 277, 287, 289, 290, 303, 311, 320, 335, 339

Figurenrede

23, 45, 53, 72, 84, 85, 87, 90, 100, 162, 163, 164, 171, 204, 228, 229, 237, 239, 251, 252, 260, 261, 322, 340

Neben den so einteilbaren Einklammerungen gibt es einige Ausnahmen, die anders kategorisiert werden müssen: performative Beschreibungen, die in die Figurenrede eingeflochten sind: »(er verbeugte sich gegen Benno)«,266 »(er stieß ihn mit dem Zeigefinger)«267 und »(mit satanischer Ehrlichkeit kippte er sein Innerstes aus)«.268 Ein anderes Phänomen dieser Art stellen sprachliche Übersetzungen dar, die in Klammern hinter fremdsprachige Textstellen gesetzt werden. So beispielsweise »›Morte alla massoneria!‹ (Tod den Freimaurern!)«.269 Auf den Seiten 111, 126, 148, 196 und 280 wird eine deutsche Übersetzung zu einem italienischen Text in Klammern gesetzt. Auf Seite 148 auch eine italienische Übersetzung zum deutschen Titel eines Artikels. Dennoch wird nicht nach jedem Fremdsprachengebrauch eine Übersetzung abgebildet.270 Das eigeklammerte Textmaterial spiegelt die Variabilität im Handlungsspielraum. Denn die Klammersetzung veranschaulicht jenes Material, auf das die geschilderte 265 Bei den Zahlen handelt es sich um die jeweilige Seite in der Originalausgabe von Blut und Zelluloid (1929). Auf den fett markierten Seiten finden sich zwei, auf den unterstrichenen Seiten finden sich drei Klammersetzungen. Einige Seitenzahlen sind mehrfach eingetragen, da einige Passagen teilweise mehreren Typen entsprechen. 266 Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 86. 267 Ebd., S. 180. 268 Ebd., S. 184. 269 Ebd., S. 126. Solche Beispiele finden sich auch auf den Seiten 111, 145, 148, 196f. und 280. 270 Vgl. z.B. ebd., S. 151.

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Handlung nicht notwendigerweise zurückgreifen muss. Äußerst spannend ist dabei nicht nur die Abbildung technotextueller Optionen in einem Roman, sondern das vermehrte Abbilden der Klammern überhaupt. Das häufige Auftreten dieses typographischen Mittels trägt so zum montierten Textbild des Romans bei. Jedoch suggerieren die Klammersetzungen den visuellen Eindruck einer noch nicht durchgeführten, aber durchführbaren Montage, da die Klammern das potentiell verzichtbare Material präsentieren. Die so gezeigten Kürzungsoptionen führen damit explizit den typographischen Informationsreichtum vor, während sie den Text gleichzeitig nach Relevanz durchstrukturieren. Dieses Kompositionsverfahren ist das materielle Abbilden eines technischen Gestaltungsprinzips von Text. Denn das Material verweist durch die Klammersetzungen darauf, dass die ausschmückenden Passagen als solche kategorisiert werden. Ihre visuelle Hervorhebung eröffnet dadurch eine weitere Druck- und damit auch Erzählebene: sie exemplifizieren eine montierte Kompositionstechnik durch typographische Eingriffe in den Fließtext. In diesem Sinne vermittelt ein Textabschnitt in dem Roman durch die Klammern, die Interpunktion und die Kursive den Eindruck einer mikrotypographischen Montage. Dieser wird durch die ausgeklammerten Informationen verstärkt, da die eingeklammerten Gedanken gänzlich aus den stattfinden Reden ausgeklammert werden. Der eingeklammerte Inhalt bildet damit Text ab, der den anderen Figuren vorenthalten, mit den Leser:innen jedoch geteilt wird. Zunächst so bei Rubensons Rede auf Seite 260: »›[…] Als ob all das nicht gewesen wäre, fahren wir nach Sardinien und drehen einen Hetzfilm, bestimmt (wie heißt es in eurer Resolution?) […]‹«. Hierauf schließt sich Clothilde an: »[…] Vielleicht (wie soll ich dir das erklären?) sind solche Kongresse nur deswegen sinnvoll, weil sie nicht immer zusammenbleiben. Denn schon im Verlassen des Saales hört jeder auf, Kongressist zu sein … Und … siehst du …« Sie schwieg. Sie wollte sagen (aber es war für sie zu schwer), daß die große Schwäche der Menschen auf deren großer Vielfalt beruhe […]. Man konnte (hier dachte sie schon klarer) einer einzigen Idee vielleicht so wenig gehören, wie – einer einzigen Person […]. Genug! Auf einmal geschah es ihr selbst, daß die Erregung von Paris (die sie noch eben durchlebt hatte) einschlief und weiß wurde […].271 Die Wahrnehmung der Klammersetzungen ist hier mit den Figuren verflochten. Für den Handlungsverlauf mögen ihre Inhalte zwar unerheblich, für die inneren Abläufe der Figuren können sie aber aufschlussreich sein. Die Ebene, die durch die Klammern ausgegliedert wird, ist demnach auch durch Intimität bestimmt. Denn durch das Einsehen des Eingeklammerten ist ein Blick hinter die Oberfläche möglich. Psychologische Rückschlüsse, innere Zweifel, das, was auch den anderen Figuren verborgen bleibt, wird den Lesenden eröffnet. So sind es oft die Klammersetzungen, die medientechnologisch schwierig, bis gar nicht umsetzbar sind, die Informationen über die Figuren preisgeben, wie es ein Film nicht könnte. So verdeutlichen beispielsweise »(Es war ihm geläufig.)«,272

271 Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 261. 272 Ebd., S. 193.

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

»(obwohl er sehr belesen war)«,273 »(und verloren darum nicht an Größe)«274 oder »(Auch eine Dividiermaschine besaß er, die er seltener gebrauchte.)«275 hintergründige Informationen, die durch das eingeklammerte Material ausgewiesen werden. Ebenso werden aber auch räumliche Äußerungen wie »(der den paketbeladenen Mann auf der hinteren Plattform zum Spittelmarkt brachte)«276 oder »(wo es gegen das Forum geht)«277 eingeklammert – Informationen also, die durchaus für eine Visualisierung des Erzählten relevant sind. Dass die Klammern zudem überzeitliches Potential tragen, verdeutlicht bereits die erste Setzung im Roman: Der Student Hans Winckelmann – oder wie er in Träumen sich nannte: Johann Joachim Winckelmann; denn er studierte Kunstgeschichte wie jener Ahnherr seines Namens. unterbrach aufs neue seinen Beruf (der darin bestand, kein Frühstück zu essen). Er legte den etwas täppischen Arm auf den Wintermantel des Herrn, der gleich vornehm etwas zurücktrat und sagte: »Ich habe eine Idee!«278 Diese Information ist filmisch nicht in Kürze darstellbar, da es sich um ein wiederholtes Verhalten der Figur handelt, das durch Worte zügig ausgedrückt werden kann, jedoch vom Stummfilm in einer Mehrzahl von Szenen dargestellt werden müsste. Dieses Problem der Medientechnologie wäre auf die Schnelle, also auf vergleichbarer Ebene mit den sieben Worten, nur durch einen Zwischentitel zu lösen – also ebenfalls durch materialisierte Worte. Gerade jene Elemente, die nach Münsterberg die Psychotechnik des Stummfilms ausmachen, das selektive Einfangen und Ausstrahlen enträumlichter und entzeitlichter Abbildungen innerer Wahrnehmung, werden hier als aussparbares, da eingeklammertes, Material ausgewiesen. Die Klammern in Blut und Zelluloid (1929) dienen teils als texttechnologisches Mittel, da sie ausschmückendes Material zu Zeit und Raum wie auch die Psyche der Figuren separat ausweisen. Das eingeklammerte Material eröffnet dabei eine detaillierte, fast überfüllte Genauigkeit des semantischen Handlungsablaufs. Was besonders deutlich wird durch die Einklammerungen in der Figurenrede. So beispielsweise bei Winckelmann: »(Gemeinhin kenne ich keine Soldaten; es handelt sich um den Sohn meiner Wachsfrau.)«,279 Rubenson: »aber niemand findet sich (hörst du!), der es einklagen wird«,280 oder Mussolini: »(…verflucht noch einmal, das bin ich ja selber!)«.281 Hieran lässt sich ablesen, dass das Textbild bei solchen Sequenzen nicht auf einen visuellen Übersetzungsakt hin entworfen wird. Vielmehr wird gezeigt wie wenige Satzzeichen die Eröffnung einer abweichenden Erzählebene ermöglichen. Unabhängig davon, dass die Einklammerungen in einer Figurenrede ohnehin ungewöhnlich sind, da die Anführungszeichen das ausgesprochene Figurenwort auswei273 274 275 276 277 278 279 280 281

Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 125. Ebd., S. 222. Ebd., S. 320. Ebd., S. 265. Ebd., S. 303. Ebd., S. 8. Ebd., S. 23. Ebd., S. 163. Ebd., S. 322.

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sen, handelt es sich bei der vorherigen Stelle um Einschübe und keine Einklammerungen – also hinzugefügtes, ergänztes Material. Damit zeigt die Doppelseite 260/261 einige Klammersetzungen, die als hinzugefügter, unabhängiger Textanteil gelesen werden könnten und einige, die sich ohne Probleme in den semantischen Textfluss einsetzen lassen. Die Einsatzmöglichkeiten der Klammersetzungen und ihr Verhältnis zum materiellen Text ist also vielseitig, während ihre Funktion einheitlich bleibt. Denn die Ausrichtung zu einem »bestimmten Zwecke«282 ist der entscheidende Punkt, der die typographischen Markierungen zu einem technischen Mittel werden lässt. Und die Klammern führen den Text als (optionale) Montage vor. Das Textbild veranschaulicht damit eine Perspektive auf das operativ veränderbare Material: die Klammern werden durch das Auge des filmischen Operateurs zu Schnittmarkierungen. Der eingeklammerte Text kann so ausgeschnitten oder eingefügt werden; was von den Klammern ausgewiesen wird. Da die Klammersetzungen die primäre Handlung immer wieder unterbrechen und durch eine zusätzliche Dimension erweitern, ist ihre Funktion an den Bruch der Konzentration gebunden. Sie sorgen dadurch für eine Steigerung der Aufmerksamkeit – auch wenn das typographische Mittel zu diesem Zweck keine Innovation ist, so ist es doch deren Gebrauch und Funktion. Denn die Klammern zerschneiden die Texteinheit visuell und inhaltlich, indem sie eine kategorische Einteilung der Erzählebenen vornimmt. Der Text (und nicht die Medientechnologie Film) wird durch diesen Gebrauch als prozessuale Montage visualisiert. Dabei sind die Klammern mit dem primären Handlungsmaterial syntaktisch verflochten, wodurch eine Nähe zwischen primärem Textmaterial und diesen typographischen Markierungen besteht. Hierdurch wird die einschneidende Technik des Operierens am Material veranschaulicht. Der typographische Einsatz der Klammersetzung fingiert auf diese Weise eine notwendige Technik im Herstellungsprozess eines Films.

4.2.3 Typographische Dispositive als Gattungsreferenzen Die auffälligsten Brüche in der Makrotypographie des Romans sind die inter- und intratextuellen Gattungsreferenzen. Die einzelnen Hervorhebungen orientieren sich dabei an den jeweiligen typographischen Dispositiven und verdeutlichen dadurch die spezifische Ästhetik und Funktion des zitierten Mediums. Die erste solche Hervorhebung bildet gleichzeitig den Auftakt für das gesamte Filmprojekt ab. Denn die Textstelle zeigt den Zeitungabschnitt, den »der Student Hans Winckelmann – oder wie er sich in Träumen nannte: Johann Joachim Winckelmann; denn er studierte Kunstgeschichte wie jener Ahnherr seines Namens –«283 Rubenson als »Idee«284 vorlegt. Vermittelt wird der Student an Rubenson über einen seiner Kontakte, Pößleithner, der von der Erzählstimme als »Mephisto«285 vorgestellt wird. Semantisch ausgeladene Intertextualität dieser Art durchzieht den Roman, weswegen die hermeneutische Deutung für die materielle Analyse nicht irrelevant ist, sondern im Gegensatz dazu äußerst fruchtbar. Hier beispiels-

282 283 284 285

Blatter, Jeremy: Psychotechnik, Berufspsychologie und das Kino (2016), S. 156. Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 8. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8 u. 12.

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

weise die Übermittlung einer verführerischen Film-Idee mit einem Ursprung in kunstgeschichtlichen, ästhetischen Absichten, jedoch vermittelt von einem Teufel. Die materielle Markierung des Zeitungsausschnitts wird aus Rubensons visueller Perspektive abgedruckt, was durch die Einleitung »Er ergriff den Ausschnitt, legte ihn vor sich hin auf den Schreibtisch und begann plötzlich laut zu lesen:«286 deutlich wird. Durch zentrierte Versalien setzt der Zeitungsartikel ein und ist anschließend, wie auch alle anderen Zeitungsausschnitte und -zitate, durch stringente linksbündige Kursive von der primären materiellen Erzähltypographie abgegrenzt. Der erste Einschub durch Klammersetzung teilt die Innenperspektive der Figur Rubenson vom Standpunkt des allwissenden Erzählers: »(›Interessant!‹ dachte Rubenson. Murmelnd, als wolle er sich allein die Bekanntschaft dieser Banditen gönnen, las er weiter:)«.287 Ein zweites Mal wird der Artikel auf Seite 17 unterbrochen; nun aber von der primären Handlung, da Rubenson mit den beiden Anwesenden kommuniziert. Danach liest Rubenson den Artikel zu Ende, »da er zu den Leuten gehörte, die alles Gedruckte abweiden müssen«,288 woraufhin er mit den Worten »›Warum zeigen Sie mit das?‹«289 schließt.

Abbildung 10: Heinrich Eduard Jacob: »Blut und Zelluloid« (1929), S. 16/17.

286 287 288 289

Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 16. Ebd. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18.

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Indem die Kursive den Zeitungsartikel materiell markiert, wird dieser als eigenständiges Medium gekennzeichnet. Zusätzlich wird der Artikel zweimal unterbrochen, um hervorzuheben, dass die Lektüre der Rezipient:innen durch die lesende Figur Rubenson gesteuert wird. Die medienspezifischen Eigenschaften des »Ausschnitt[s]«290 werden durch die Unterbrechungen gesteigert, denn der Text der Idee ist nur ein Element eines informationsreichen Distributionsmediums, einer Zeitung. Nur dieser Ausschnitt wurde selektiv als potentielle Film-Idee ausgewählt und materiell entbunden, um ihn handhabbar zu machen. Die Selektion des Zeitungsausschnitts durch den ersten Leser Winckelmann führt dazu, dass der Artikel von allen folgenden Leser:innen als autonomer Text wahrgenommen wird. Als solcher wird er nun auch materiell im Druckbild des Romans gekennzeichnet. Dass die Schriftwahl der Kursive auf die individuelle Subjektivität der:s Artikelverfassers:in verweist, wird durch die nachfolgenden Kursivsetzungen deutlich: Denn bei dem abschließenden Aushändigen des Artikels, zurück an Pößleithner, bemerkt Rubenson ein unscheinbares Detail: »Dabei sah er, ohne es zu wollen, schräg auf das Druckbild und entdeckte eine zarte Bleistiftnotiz, die er im darauffallenden Licht bisher ganz übersehen hatte. Die hieß: ›Berliner Morgenpost, den 24. November 1926.‹ «.291 Durch den Hinweis auf das Publikationsdatum wird hier ein weiteres mediales Element von Zeitungsartikeln ausgewiesen: ihr Publikationsdatum, das über ihre Aktualität und Schnelllebigkeit informiert. Da die Notiz aber scheinbar von Winckelmann geschrieben wurde und auch, im Gegensatz zu den enthaltenen Zahlen, kursiv gesetzt ist, wird hier die Kursive als personengebundene Markierung eines Textmediums bestimmt. Die Kursive, auch im Druck noch der Handschrift ähnlich, soll in Blut und Zelluloid (1929) damit auf eine subjektive Textproduktion hinweisen – ähnlich einer graphologischen Intention. Die folgenden Kursivsetzungen entsprechen dieser Deutung, da sie entweder Texteinheiten simulieren, die handschriftlich sind, oder subjektive Textproduktionen. Im konkreten Fall der Zeitung enthält die Kursivsetzung den Hinweis auf die subjektive Perspektive des Artikels – auch wenn sein Inhalt die Situation um Pedrotti, der inzwischen nicht mehr raubt, sondern wohlhabende Touristen an seinem Leben teilhaben lässt, um Geld zu verdienen, sehr akkurat, wenn auch teils wertend, schildert. Doch »[w]as in einer Zeitung stand, das war schließlich noch lange nicht wahr«.292 Diese These bestätigt sich durch das handschriftliche Protokoll auf dem internationalen Filmkongreß, dem Clothilde beiwohnt, um die rechtlichen Regeln ihrer bevorstehenden Unternehmung abzuhorchen. Selbst in den Textstellen, die durch Anführungszeichen als direkte Rede gekennzeichnet werden, ist die handschriftliche Materialität des Protokolls, das zuvor aus verschiedenen Mitschriften abgeglichen und zusammengetragen wird, durch die Kursive markiert. Weitere materielle Hinweise auf die medienästhetische Funktion der Kursive als Markierung von Handschrift oder einem Text mit subjektivem Ursprung wäre das Drehbuch-Manuskript von Rubenson, während jenes der Société Voltaire lediglich um die Überschriften der einzelnen Bilder in Versalien er-

290 Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 16. 291 Ebd., S. 24. 292 Ebd., S. 28.

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gänzt wird.293 Eine Ausnahme stellt der bereits erwähnte Abschiedsbrief Rubensons an Clothilde dar, der zunächst die Unterhaltung der beiden über Propagasmus zitiert: »Weißt du, was Propagasmus ist? Propagasmus ist ein Wort und ein Überbleibsel aus dem Kriege. Propagasmus ist eine sehr wichtige Sache. Propagasmus ist die Arbeit, die aus den Propagandafonds der Großstaaten bezahlt wird; verstehst du?« »Es sieht so aus wie Propaganda. Aber: on se moque de cela. Es wird zwar wie Propaganda bezahlt (denn dazu sind ja die großen Fonds da) – doch die Eingeweihten, die mitspielen, bezeichnen es als Propagasmus, da fast immer das, was man macht, unwirksam und sinnlos ist und gar nicht der Propaganda dient. Die Hauptsache ist, daß die Regierungen, die es bezahlen, daran glauben!294 Auch die anschließenden Worte des Regisseurs sind als direkte Rede in Anführungszeichen gesetzt,295 bis der Brief endet: »Der Rest des Geldes, den sie mir versprach, interessiert mich nicht … Fraus Sacra … › Hier wurden die Züge undeutlich«.296 Weitere Hinweise für die intentionale Abbildung von interrelationalem Material im Roman liefert die Gegenüberstellung von Eichendorffs Sehnsucht (1833) und Andrea Trevisanis wie auch Agostino Bevilacquas selbst erdachten Versen. Wie auch andere Lieder und Gedichte ist Sequenz eingerückt.297 Zudem sind die Interrelationen zu Sehnsucht äußerst reich. Das ursprüngliche Lied wurde ebenso wie in Blut und Zelluloid (1929) in einem Roman Eichendorffs, Dichter und ihre Gesellen (1833), abgedruckt und im Dritten Buch und 24. Kapitel eingerückt abgedruckt.298 Rubenson »las [es] wie in der Knabenzeit vor«.299 Da Sehnsucht in Dichter und Gesellen (1833) das Heimweh der Figur Fiamatta nach Italien ausdrückt, antizipiert diese Textstelle damit nicht nur Rubensons Verjüngungsprozess – seine invertierte Entwicklung durch die Rückbindung an die Natur und die Loslösung von der Technik – sondern auch die bevorstehende Reise.300 Denn er liest in seinem »Schullesebuch«301 das Gedicht, das durch seinen intertextuellen Italien-Bezug auch die nahende Reise miteinbezieht. Dabei fehlen zwischen den Versen »ich hörte im Wandern sie singen« und »mit Gärten, die überm Gestein«302 die Zeilen:

293 Vgl. Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 156-158. 294 Ebd., S. 340. Die zitierte Stelle: ebd., S. 52f. Die Anführungszeichen sind im Roman nicht geschlossen, da Rubensons Brief noch weitergeht. 295 Vgl. ebd., S. 340f. 296 Ebd., S. 341. 297 Vgl. ebd., S. 34f., 70, 98, 122. 298 Vgl. von Eichendorff, Joseph: Dichter und ihre Gesellen (1833), S. 352. 299 Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 34. 300 In Dichter und ihre Gesellen (1833) und Blut und Zelluloid (1929) beginnt der italienische Erzählstrang mit dem Zweiten Buch. Blut und Zelluloid (1929) setzt hier sogar mit dem Abenteuer der italienischen Jünglinge ein, während in Sehnsucht (1833) auch »Zwei junge Gesellen« erwähnt werden, welche in Andrea Trevisani und Agostino Bevilacqua analogisiert werden. Vgl. von Eichendorff, Joseph: Dichter und ihre Gesellen (1833), S. 352 und Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929). 301 Ebd., S. 34. 302 Zitiert nach Blut und Zelluloid. Bei Sehnsucht steht in der Originalausgabe: »Ich hörte im Wandern sie singen« und »Von Gärten, die über’m Gestein«.

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Die stille Gegend entlang: Von schwindelnden Felsenschlüften, Wo die Wälder rauschen so sacht, Von Quellen, die von den Klüften Sich stürzen in die Waldesnacht. Sie sangen von Marmorbildern,303

Abbildung 11: Heinrich Eduard Jacob: »Blut und Zelluloid« (1929), S. 34/35.

So werden sechs Zeilen des »gute[n], warme[n] Gedicht[s]« ausgelassen und auch eine veränderte Strophenzuweisung angewandt, indem der Vorträger einzelne Verse verschiebt, ohne dies durch einen entsprechenden Abstand im Material bzw. eine rhythmische Pause im Leseakt zur etwaigen Markierung eines neuen Strophenbeginns kenntlich zu machen. Durch diesen Eingriff in die Vorlage wird deutlich, dass das eingefügte Material hier keinem Ganzheitsanspruch folgt, sondern der fragmentarischen und subjektbezogenen Wahrnehmung der Figur Benno Rubensons entspricht. Die Variabilität in der Strophensetzung bildet dabei Rubensons lesenden Blick materiell ab, der von dessen visuellen Pausen abhängig ist. Als Rubenson nach »ich hörte im Wandern sie singen« abschweift, sich Tod und Bestattung in Italien vorstellt – wie es auch eintreten würde – »[sah er] die Buchstaben nicht mehr. In seinem Gehirn ging die Oberstimme auf den

303 Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen (1833), S. 352.

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bekannten Worten weiter:«.304 Einerseits trügt ihn seine Erinnerung, was durch die fehlenden Verse auffällt, und andererseits weisen die erinnerten Verse dieselbe Typographie wie die gelesenen auf. Die Eichendorff-Textstelle weist sich als subjektbezogene Lesart und Perspektive der Figur aus, da die Änderungen am Originallied materiell nicht markiert werden. Zwar verdeutlicht der Text durch das intratextuelle Einrücken der Liedpassage daher, dass es sich um ein zitiertes Gedicht handelt, doch gleichzeitig wird der Originaltext unterbrochen, teils gelesen, teils erinnert und gekürzt. Das intertextuelle Zitat wird vom Regisseur Rubenson zerschnitten und montiert, doch auch durch das ausgewiesene typographische Dispositiv im Textbild einheitlich materialisiert. Dabei wird das Originalmaterial durch die Montage an den Romaninhalt angepasst. Das Einrücken von Liedern und Gedichten vollzieht sich, bis auf eine Ausnahme, einheitlich im Roman. Denn während Lieder und Gedichte durch ihr typographisches Dispositiv im Textmaterial rhythmisch und in Strophen abbildet werden – was bereits seit Jahrhunderten eine gängige Praxis in der Textproduktion ist –, um so auf die Performanz der Gattung zu verweisen, werden die Zeilen Andrea Trevisanis nicht materiell hervorgehoben: »Sieh die Fahne!« sagte Andrea und zitierte auf einmal das Gedicht, die einzigen Verse seines Lebens: »Ist sie nicht wie eine große Schlange, die durch sattes Gras davoneilt? Wer könnte glauben, daß sie nicht lebt! Oder daß sie ein Fetzen Tuch ist? Ja, das war kein kleiner Mann, der einen toten Fetzen Tuch zum erstenmal an einen Stock band und ihm zurief: Trinke Wind! Aus unserem Himmel, aus unserem Herzen, sei Fahne, sei Ideal, sei Leben!«305 Die Reaktion seines Freundes Agostino liefert die Erklärung hierfür »›Wie schön, wie dichterisch sprichst du, Andrea! Eine Wahrheit sagst du, so wahr, daß sie an mehreren Stellen der Welt von Philosophen gekeltert wurde. Was du sagtest, steht fast wörtlich in einem Buche von Max Scheler.‹« Andrea ist nicht bewusst, dass diese Worte bereits durch diverse Münder verschiedener Nationalitäten geflossen waren. Die Erzählstimme erläutert diese Szene wie folgt: So wußte Agostino alles, was Andrea ihm sagen konnte. Und er wußte, darüber hinaus, die geheimnisvoll andere Hälfte! Andrea hatte sagen hören, daß es Menschen gäbe, die den Mond, wenn er halb am Himmel stand, mit physischem Auge als voll sähen. War Bevilacqua solch ein Mensch?306 Es handelt sich hier um eine Metapher, die deutlich macht, dass Agostino Bevilacqua weniger verborgen ist als Andrea Trevisani. Sie spielt darauf an, dass sich ein bewusster Umgang mit wahrnehmungsphysiologischen Täuschungen etablieren kann, insofern man über ausreichend Wissen über die Erscheinungen verfügt. So sähe Bevilacqua eben nicht nur die wahrzunehmende Gestalt des Halbmondes, sondern durch sein kosmologisches Wissen den ganzen Mond. In Bezug auf das Dichten meint dies, dass hinter dem

304 Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 35. 305 Ebd., S. 120f. 306 Ebd., S. 121.

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äußeren Anschein auch ein Konzept, eine Idee stehen müsse. Da dies bei Trevisanis Versen nicht der Fall zu sein scheint, werden sie auch nicht markiert. Er hat seine Worte zu stark nach bereits bekannten ausgerichtet, weswegen sie nur den Anschein lyrischer Verse hervorrufen, aber eben kein Gedicht sind. Diese kunsttheoretische Position bildet sich hier im Material ab, indem die fehlende Kunstaffinität der Figur und der Verse auch mit dem typographischen Bild analogisiert wird. Denn durch das fehlende typographische Dispositiv von Lyrik werden Trevisanis Verse als Dilettantentum enttarnt.307 Diese Beobachtung fügt sich in das Figurenkonzept Trevisanis. Er folgt der äußeren Erscheinungsform, ohne das Konzept zu hinterfragen. Auch im weiteren Verlauf der erzählten Handlung orientiert sich sein Schaffen und Agieren an den gegebenen Umständen und ist daher weder semantisch noch materiell durch einen autonomen (künstlerischen) Eigenwert gekennzeichnet. Das Mitläufertum, das die Figur Trevisani maßgeblich ausmacht, wird im Roman semantisch durch den Epilog (»Die Kühnheit und die Gerechtigkeit haben keine Botschaften an dich.«308 ) und auch materiell durch die Abwertung seiner Verse gebrandmarkt. Die Szene findet mit der direkten Gegenüberstellung der künstlerischen Fähigkeiten beider Figuren auf der darauffolgenden Seite ein Ende, indem ein Lied Agostinos im Fließtext eingerückt und dessen einzelne Strophen kenntlich gemacht werden. Hier betont der Text materiell den genuinen Unterschied zwischen Agostino Bevilacqua und Andrea Trevisani über das physische Auge der Lesenden. Zusätzlich wird das Beschließen dieser Sequenz durch einen Wirkraum unterstrichen und hervorgehoben, der durch die freie Fläche einen Szenenwechsel markiert. Damit verdeutlicht dieser Abschnitt, dass nicht ausschließlich intertextuelles Material typographisch gekennzeichnet wird, da diese Verse eine intradiegetische Figur spricht und sie damit intratextuelles Material sind. Hierdurch wird gleichzeitig herausgestellt, dass in Blut und Zelluloid (1929) typographische Markierungen gesetzt werden, wenn die intratextuellen Materialien zuvor aufgeschrieben, notiert oder gedruckt wurden, also hypothetisch in einer festen Gestalt manifest und einsehbar wären. Denn Trevisani »des Buchstabens feind«309 hatte sein Die Fahne niemals notiert. Diese Beobachtung bestätigt sich auch durch die oben erwähnten von Rubenson erinnerten und nicht gelesenen Zeilen Eichendorffs, die aber schon einige Male materialisiert worden waren. Ein Indiz hierfür ist das Erinnern von Material, welches zuvor bereits gesehen wurde. Denn drei Seiten nach dem Eichendorff-Gedicht tritt dieses Phänomen nochmals auf, wenn Rubenson sich bei Clothilde an den Flügel setzt und aus dem Gedächtnis die Melodie des Mohnblumen-Twosteps spielt, welche ebenfalls durch ausgefüllte Notenzeilen im Textbild materialisiert wird (Abb. 12). Voraussetzung für eine materielle Gestalt von Zeichen ist dabei deren geordnete Platzierung, wodurch teils auch eine direkte Gattungszuordnung und materielle Setzung unternommen wird. In Bezug auf Trevisanis Verse bestätigt sich diese These textinhärent einige Seiten zuvor:

307 Vgl. Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 105. 308 Ebd., S. 353. 309 Ebd., S. 105.

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Nur ein einziges Mal im Leben hatte der nüchterne Andrea (der mehr dem Typus des Technikers glich und der Welt des Buchstabens feind war) Verse gemacht. […] »Die Fahne«, niemals aufgeschrieben (und wenn er sie aufgeschrieben hätte, hätten sie nach D’Annunzio geschmeckt). Es wäre Dilettantismus gewesen, und doch war dies alles sein tiefstes Eigen.310

Abbildung 12: Heinrich Eduard Jacob: »Blut und Zelluloid« (1929), S. 38/39.

Durch den angesprochenen Dilettantismus wird in dieser Textsequenz auch eine direkte Wertung des künstlerischen Schaffens vermittelt. Dem Text ist an mehreren Stellen zu entnehmen, dass die Verse Trevisanis semantisch kein Innovationspotential aufweisen. Auch materiell werden sie weder durch Rhythmik noch Stropheneinteilung als lyrische Verse ausgewiesen. Und auch Agostino Bevilacqua kategorisiert Trevisanis Worte als dichterische Prosa und nicht als Lyrik. Die typographischen Markierungen von Namensschildern, Plakat-, Werbe-, Artikelund Reklameüberschriften, Zwischentiteln in den Drehbüchern311 sowie Telegrammen durch Versalien sollen nicht den künstlerischen Wert der eingebetteten Gattungen betonen, sondern ihre informative Präsenz materiell verdeutlichen. Sie ziehen die Aufmerksamkeit der Betrachtenden nicht durch die Setzung eines typographischen Dispositivs,

310 Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 105. 311 Bei dem finalen Drehbuch von Rubenson ist der Titel linksbündig. Vgl. ebd., S. 339.

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sondern durch ihre auffällige und alarmierende Typographie auf sich. Die meisten Elemente dieser Art werden im Textblock zentriert.312 Einmal tritt die Aufschrift »GOTT MIT UNS!«313 auf einem Gürtel in Versalien auf, die nicht aus dem Textfluss gelöst und zentriert wird. Ebenso verhält es sich mit Telegrammen, die einfach in den Textblock eingefügt werden, aber dennoch durch Versalien hervorgehoben sind,314 und mit den Zwischentiteln innerhalb der Drehbuch-Sequenzen.315 Es lässt sich hieraus ableiten, dass die Markierungen, die zentriert werden, separat vom Handlungsgeschehen betrachtet werden sollen und damit unabhängige Informationen tragen. So etwa bei Rubensons Filmplakat: »MIT MANN UND ROSS UND WAGEN«316 oder bei den Karten zur Ausweisung der Abgesandten, also lediglich der neu auftretenden Figuren, der Société Voltaire in der Rubens AG: Kaum hatte sie [Clothilde] sich niedergelassen, da brachte die Gschweidler die Karten herein. Auf der einen stand nur: ANDREA TREVISANI auf der anderen: COMBALEAU-ALBERT und darunter in kleinerer Schrift: Employé de la Société Voltaire317 Diese Textstelle verdeutlicht zudem, dass die Markierung informativer Medien durch Versalien mit ihrer proportionalen Größe auf dem materiellen Informationsträger in Zusammenhang steht. Dieser typographische Gebrauch verdeutlicht, dass textuelle Informationen, die unweigerlich die sinnesphysiologische Aufmerksamkeit der Figuren durch eine herausstechende Typographie (Größe, Platzierung, Prägnanz, Informationsgehalt) auf sich ziehen, in Versalien gesetzt werden. Dies ist der Fall bei Titeln, Namen, Überschriften und ähnlichen Informationsmedien. Diese typographische Technik, mit der Jacob die Aufmerksamkeit der Leserschaft dezidiert auf die medialen Eigenschaften der unterschiedlichen Textgenres und -gattungen lenkt, ist eine Methode, die der Tscheche Karel Čapek einige Jahre später in Der Krieg mit den Molchen (Válka s mloky, 1936) perfektionieren sollte. Denn Čapek bildet in seinem Roman die typographischen Dispositive und zusätzlich diverse Schriftfamilien ab. Das Textbild, das hierdurch entsteht, vermittelt den Eindruck eines Textsammelsoriums

312 313 314 315 316 317

Vgl. Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 16, 20, 47f., 81, 156f. Ebd., S. 302. Vgl. ebd., S. 262, 351. Vgl. ebd., S. 158. Ebd., S. 20. Ebd., S. 80f.

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zum Inhalt des Romans. Es werden Zeitungsartikel, Überschriften, wissenschaftliche Beiträge, Protokolle usw. zusammengeführt, um die Authentizität der intradiegetischen Welt, die gänzlich übernatürlich ist, zu formen. Im Vergleich zu diesem Roman, der, wie Abbildung 13 zeigt, ein weitaus auffälligeres Textbild hat als Blut und Zelluloid (1929), fällt auf, dass Heinrich Eduard Jacob zwar die Unterschiede der Texttypen betont, sie aber nicht in den Vordergrund seines Textbildes treten lässt. Abweichungen, Wechsel und Gestaltungsoptionen innerhalb einer Schriftfamilie, um die Einheit des Romans nicht zu untergraben, sind die Merkmale Jacobs’ Texts. Eine offen gelegte Montage, die dennoch ein einheitliches Bild erzeugen möchte. Aus diesem Grund bildet Blut und Zelluloid kein Extrem ab, wird jedoch als Sprungbrett für experimentellere Textbilder lesbar.

Abbildung 13: Karel Čapek: »Der Krieg mit den Molchen« (1936), S. 158/159.

4.2.4 Wirkräume Alle Unterpunkte der Textgestaltung in Blut und Zelluloid sind nicht sonderlich progressiv – sie drängen sich den Leser:innen nicht direkt auf. So auch die Wirkräume, die der Autor in seinen Text einbindet. Insgesamt setzt er 19 dieser Negativzeichen, die einen Szenenwechsel im inhaltlichen Narrativ markieren. Die durch den Wirkraum gespiegelte visuelle Leere symbolisiert damit einen Wechsel der einsehbaren Perspektive, welcher unterschiedliche lange Zeitspannen aussparen kann. Dabei werden diese Leerräu-

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me, Weißstellen und Textpausen zu Beginn, in der Mitte oder auch am Ende einer Textseite eingefügt, was verdeutlicht, dass sie nicht von der Kapiteleinteilung und anderen materiellen Vorgaben des Layouts abhängen, sondern lediglich vom Textinhalt und der Position, an der ein Szenenwechsel stattfinden soll. Dabei variieren die Wirkräume in ihrem Ausmaß, wie auf den Abbildungen 14 und 15 erkennbar ist. Diese Variationen bringen durch die materielle Länge der Textpause auch die Länge der zeitlichen Differenz zwischen den Textabschnitten zum Ausdruck. Denn während in Abbildung 14 nur einige Minuten oder Stunden vor der nächsten Szene ins Land ziehen, bildet der Wirkraum in Abbildung 15 mehrere Stunden ab. Mit 2,9 cm entspricht der längste Wirkraum in dem Druckbild der Erstausgabe in etwa sieben Textzeilen. Damit gibt es eine Obergrenze in der materiellen Markierung von zeitlichen Szenenwechseln, wobei das inhaltliche Schweigen, das von den Wirkräumen visualisiert wird, teilweise auch mehrere Tage einfassen kann.318 Zudem gibt es einen Wirkraum, der markiert, dass die Perspektive von einer allgemeinen auf die von Clothilde wechselt.319 Diese abweichende Funktion, die nicht zeitlich, sondern räumlich in die Ausrichtung des Inhalts eingreift, tritt in demselben Kapitel, Der Eid im Palais-Royal, ein weiteres Mal auf.320 Diese räumlichen Wechsel, die materiell auch mit Wirkräumen gekennzeichnet werden, steigern sich noch in der semantischen Distanz im Folgekapitel Die Rundreise zum Hades. Der erste Abschnitt des Kapitels beschreibt, wie Benno fast seinem Herzleiden erliegt, nachdem er mit der Straßenbahn zu einem jüdischen Friedhof fährt und über den Zusammenhang von Tod, Religion und Kosmologie sinnt. Nach dem ersten Wirkraum wechselt der Erzählraum zu Pedrotti auf Sardinien, der den gerade vermählten und kurz darauf erschossenen Giovanni Calzolaio beweint (Abb. 15). Der zweite Wirkraum wird durch einen semantischen Lokalwechsel angekündigt: »Die Autos verschwanden am Horizont, auf der Straße nach Cágliari, während Pedrotti und die Seinen quer in die Steppe weitermarschierten. Durch die schöne Palmengegend kamen sie zur Mittagszeit in das Dörfchen Dodicicáse«.321 Er bildet sich darauffolgend am Seitenanfang ab und wird durch den Beginn des dritten Abschnitts beendet: »Er hatte die Wollmütze Calzolaios die er in seiner zitternden Hand dem Massaker entrissen hatte, vor sich auf den Tisch gelegt, neben eine brennende Kerze, und betrachtete sie mit nassen Blikken (sic!)«.322 Der Abschnitt wird durch die Antizipation von Pedrottis und Rubensons Aufeinandertreffen und unter Nennung des letzten Kapitels, in dem die Erzählstränge aufeinandertreffen, beendet: »Übrigens auf Wiedersehen!« fuhr Pedrotti gleichmütig fort. »Hier im Süden bleibe ich nicht. Wenn Herr Rubenzoni mich sprechen will, dann kannst du ihm übermorgen sagen: Er findet mich bei den ›Türmen Karthagos‹, acht Miglien südöstlich von Arbatax!"

318 319 320 321 322

Vgl. Jacob, Heinrich Eduard: Blut und Zelluloid (1929), S. 166, 185, 200 und 209. Vgl. ebd., S. 232. Vgl. ebd., S. 254. Ebd., S. 283. Ebd., S. 284.

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Und er zog ab – nachdem er heimlich dem Arzte zugeflüstert hatte: »Geh mit! Paß auf, was der Junge macht!«323 Hierauf folgt die Ankunft des deutschen Filmteams auf Sardinien, was den letzten Abschnitt des Kapitels darstellt. Damit fasst dieses Kapitel insgesamt drei Wirkräume und vier verschiedene Szenen ein, die sich alle an anderen Orten abspielen. Die visuelle Leere der Wirkräume verdeutlicht damit vor allem den Wechsel der gezeigten Szenen innerhalb eines Kapitels. Das materielle Eingreifen des Wirkraums ersetzt einen semantischen Übergang, denn der Erzähltext, der die Abschnitte miteinander verbinden könnte, ist nicht gedruckt, die Leerstelle markiert aber, wo er gedruckt sein könnte. Damit fungieren die Wirkräume als aisthetischer Schnitt des Autors im Text. Die weiße Fläche wird dabei als Negativzeichen des abwesenden Übergangs eingesetzt. Diese typographische Technik komplementiert den Inhalt der Erzählung rein aisthetisch ästhetisch, indem ein Negativzeichen visuelles Wissen über Handlungsgeschehen und perspektivische Orientierung vermittelt und den Text so steigert. Aus diesem Grund fungiert Typographie hier in ihrer ästhetischen Funktion und als literarische Technik.

Abbildung 14: Heinrich Eduard Jacob: »Blut und Zelluloid« (1929), S. 102/103.

323 Ebd., S. 289.

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Abbildung 15: Heinrich Eduard Jacob: »Blut und Zelluloid« (1929), S. 284/285.

4.3 Das Typofoto: Dynamik der Gross-Stadt (László Molohy-Nagy, 1921/22) Was bei Blut und Zelluloid (1929) als literarische Technik angewandt wird, ist in Dynamik der Gross-Stadt (1921/22) ein zentrales Element der druckgraphischen Kommunikation. Denn in Moholy-Nagys Filmskizze wird der Inhalt des Typofotos gänzlich auf die Komposition und Konstruktion der graphischen Elemente verteilt. Hier wird die Schrift zum Hilfsmittel, welches die visuell entworfenen Informationen verstärkt, erweitert und konkretisiert. Auf diese Weise setzt der Bauhäusler einen Versuch möglichst bildlicher Kommunikation um, die, im Fall des Genres Flimskizze, auch die Charakteristika des Bewegtbilds imitiert. Denn zwischen der Herausgabe des Kinobuchs (1913/14) und Dynamik der Gross-Stadt hat sich das Drehbuch bereits als eigene Textgattung etabliert. Filmtexte ohne technotextuelle Elemente werden dadurch zur Ausnahme. Typographische Varianten oder Formspiele, die Übersetzungsoptionen anhand medienspezifischer Qualitäten erproben, wie sie teils schon im Kinobuch zu finden sind, gehen nun zurück: Die textuelle Vorlage für einen Film scheint gefunden. Alexander Schwarz betont, dass die Anfangsphase der Filmtexte nicht zufällig parallel zu dem Aufkommen bauhäuslicher Formtheorien überwunden, sogar in ihr Gegenteil verkehrt wird. Denn nachdem zunächst »die Wirksamkeit von Buchdrucktraditionen und Literaturkonventionen« an literarisierten Filmtexten ersichtlich wird, zeigt der experimentelle Umgang mit der typographischen Textgestaltung von Filmtexten, dass »[d]ie neuen Formkonventionen und die dahinterstehenden filmspezifischen Erfordernisse […] zur Verfremdung traditioneller Muster verwendet [werden], ganz unabhängig von der Absicht einer Ver-

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filmung des Textes«,324 so Schwarz. Die Freiheit der textuellen Form werde durch die kompetitive Motivierung der Medientechnologie freigesetzt, löse sich aber letztlich von dieser. Schwarz’ Beobachtung ist bereits in Ansätzen in der Materialität von Hasenclevers Texten erkennbar, da sie funktionell auf den Text ausgerichtet ist und eben nicht auf den Film. Die experimentellen Schreibstrategien und Verfahren, die aus dem technischen Vergleich von Text und Film hervorgehen, weisen daher teils selbstreferentielle Tendenzen auf, die das visuelle Text-Potential reflektieren und untersuchen. Neben dem Aufkommen des Drehbuchs als eigenständiger Textgattung treten aus diesem Grund auch Textvariationen in bereits etablierten Gattungen auf, die die Eigenschaften und Wirkweisen der visuellen Textualität erproben. Die Möglichkeit, durch den visuellen Aufbau eines Textes dessen Gattung zu assoziieren, also typographische Dispositive zu prägen oder aufzulösen, wird zu einer Begleiterscheinung dieses Findungsprozesses genuin textueller Visualität und Visibilität. Gebrauchsgraphiker:innen gehen mit diesem Pool an Optionen anders um, da ihre Entwürfe grundsätzlich zweckgerichtet konzipiert werden. Denn das Bauhaus, dessen Verständnis von Typographie zwischen Gebrauchsgraphik, visueller Formsprache und künstlerischem Experiment anzusiedeln ist, vertritt wie beschrieben auch funktionelle sowie konstruktivistische Absichten. Diese kalkulierte und wirtschaftlich lukrative Ausrichtungskombination prägt neue berufliche Felder an der Grenze von Gebrauchsgraphik und Kunst. »Das Entstehen neuer technischer Mittel hat das Auftauchen neuer Gestaltungsbereiche zur Folge«,325 schreibt László Moholy-Nagy 1925/27 im achten Bauhausbuch Malerei, Fotografie, Film. Er bezieht dies vor allem auf optische Gestaltungtechniken mittels Photographie und Film. Denn der interessierte Bauhaus-Ingenieur sieht das Ausdruckspotential dieser beiden Medien noch nicht annähernd erschöpft. Ihr Wert findet sich nach Moholy-Nagy nicht in deren Reproduzierbarkeit, weswegen es ihr aktives Ausdrucksvermögen zu erkunden gälte – er motiviere explizit zum Experimentieren.326 Als Zweck dieses Experimentierens nennt der Bauhäusler die Steigerung der menschlichen Wahrnehmung, die erzwungen werden müsse, um die Funktionsapparate des Menschen vollends zu erkunden: »Der Aufbau des Menschen ist die Synthese aller seiner Funktionsapparate«.327 Auszubilden habe diese die Kunst, »in dem (sic!) sie zwischen den bekannten und den noch unbekannten optischen, akustischen und anderen funktionellen Erscheinungen weitgehendste neue Beziehungen herzustellen versucht und deren Aufnahme von den Funktionsapparaten erzwingt«.328 Mittels der neuen Medien möchte Moholy-Nagy dementsprechend auch die sinnesphysiologischen und wahrnehmungspsychologischen Entwicklungen des Menschen erkunden und beeinflussen. Dies entspricht den Lern- und Übungskonzepten, die bis zu 50 Jahre vorher Wundt und Münsterberg vorschlugen: der reziproke Austausch zwischen optischen Fähigkeiten und visuellen Medien zur Steigerung der menschlichen Wahrnehmung.

324 325 326 327 328

Schwarz, Alexander: Der geschriebene Film (1994), S. 375. Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 18; dazu auch: ebd., S. 36. Schwarz, Alexander: Der geschriebene Film (1994), S. 239 (Original in De Stijl V/7, 1922). Moholy-Nagy, László: Produktion – Reproduktion (1925), S. 238. Ebd.

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Dass jedes Medium für sich einen gesonderten Operationsraum an künstlerischem Ausdruck einfasst, beschreibt Moholy-Nagy in Die beispiellose Fotografie (1927) detaillierter für die Photographie. Er animiert nicht nur dazu gegen das naturalistische Abbildungspotential der Photographie durch abstrakte und medienspezifische Verfahren vorzugehen, sondern beschreibt ganz explizit, dass ein veränderter Gebrauch auch das Sehen und Denken beeinflussen könne. Für die Photographie, die es experimentell zu erkunden gilt, zählt er unter 2) folgendes auf: Versuche mit verschiedenen Linsensystemen; gegenüber unsern Augenerlebnissen ein verhältnis-veränderndes, unter Umständen bis ins >Unkenntliche< verzerrendes Verfahren. (Konkav- und Konvex-Spiegel, Lachkabinettaufnahmen usw. waren die ersten Vorstufen dazu.) Damit entsteht das Paradoxon: die mechanische Fantasie.329 Den Film aber sieht Moholy-Nagy dabei als Steigerung der Photographie: »Die Erschließung einer neuen Dimension des Optischen setzt der Film in potenzierter Weise durch«.330 »Auslösen latenter Funktionsgeladenheit unseres Organismus, unseres Gehirns«331 – Dabei erwähnt er ganz explizit das gegenseitige Motivieren neuer Verfahren zwischen Photographie und Film, wobei er den Ort dieses Austausches als »reziprokes Laboratorium«332 benennt. Auch kombinatorische Verfahren schließt Moholy-Nagy in diese Überlegungen ein. Neben all seinen Experimenten mit kinetischer Kunst und Lichtverfahren erarbeitet er aus diesem Grund auch innovative zweckgerichtete Hybridmedien, wie etwa das Typofoto. Folgend wird Dynamik der Gross-Stadt (1921/22) unter Anbetracht der Tatsache analysiert, dass es als Typofoto und Filmskizze konzipiert ist. Dafür werden die druckgraphischen Mittel und die zweidimensionale Seitenkonzeption untersucht. Die Übersetzungsoptionen in die Medientechnologie Film gibt Moholy-Nagy dabei deutlich durch teils elliptische und teils ausformulierte Technotext-Elemente zu verstehen wie etwa »Großaufnahme. Die Bewegung setzt sich in einem Auto fort«,333 »Finsternis«334 oder »In der Bahnhofshalle wird der Apparat erst in horizontalem Kreis, dann in vertikalem gedreht«.335 Es lässt sich daraus schließen, dass nicht die schriftlichlateralen Textelemente, sondern die bildlich-strukturelle Seitenarchitektur wie auch die typographischen Varianten der Schriftgestaltung zu Problemen in der Umsetzung führen. So wird gerade wegen der neuen Form visueller Kommunikation durch die Gattung des Typofotos die Decodierung der Filmskizze erschwert. Das Typofoto ist eine Gattung, die sich aus Typographie und Photographie zusammensetzt, um visuell Stoff auszudrücken. Es ist dabei nicht notwendigerweise eine Filmskizze für den Stummfilm, wie es bei Dynamik der Gross-Stadt der Fall ist, kombiniert jedoch stetig typographische Text- und photographische Bildelemente. Dynamik der Gross-Stadt (folgend Gross-Stadt) ist dabei das experimentelle Vorzeigebeispiel dieser

329 330 331 332 333 334 335

Moholy-Nagy, László: Die beispiellose Fotografie (1927), S. 245. Ebd. Ebd. Ebd. Moholy-Nagy, László: Dynamik der Gross-Stadt (1912/22), S. 117. Ebd., S. 118. Ebd., S. 122.

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neuen Gattung, welches Moholy-Nagy im Bauhausbuch 8 abdruckt, um das visuelle und kulturelle Assoziationspotential eines Typofotos zu verdeutlichen. Das Verfahren und die Methodik dieser kommunikativen Gattung fußt auf den neuen Gestaltungsoptionen und Produktionsprozessen motiviert durch die zeitgenössischen Einflüsse: »Die Menschen erfinden neue Instrumente, neue Arbeitsmethoden, die eine Umwälzung ihrer gewohnten Arbeitsweise zur Folge haben«.336 Moholy-Nagy antwortet mit dem Typofoto demnach auf die Anforderungen seiner Zeit: Er visualisiert Information. Für ihn wird das Typofoto damit ein mediales Instrument, das innerhalb der visuellen Reizüberflutung der 1920er die genaueste und verlässlichste Informationsvermittlung leiste: Was ist Typofoto? Typografie ist in Druck gestaltete Mitteilung. Fotografie ist visuelle Darstellung des optisch Faßbaren. Das Typofoto ist die visuell exaktest dargestellte Mitteilung.337 Durch die optische Systematisierung einer bestimmten Information soll, nach MoholyNagy, der reine Gehalt durch die sinnesphysiologische Vermittlung unmittelbar verstanden werden können. Hieraus lässt sich ableiten, dass er den Mehrwert des Typofotos, also der Kombination von Photographie und Typographie, in dessen Objektivität begreift.338 Das Typofoto erreicht nach dieser Vorstellung den höchsten Grad an Präzision in seiner Mittelung durch die angenommene Standardisierung in den visuellen Kommunikationspotentialen von Moholy-Nagys Mitmenschen. Dabei werden Photographien als objektive Ikonen, also semantisch und kulturell aufgeladene Bildzeichen, eingesetzt. Sie tragen für Moholy-Nagy keine direkte Intention, sondern verstehen sich als bildliche Gehaltsträger, die visuell eine Mitteilung assoziieren. Um diesen Ansatz zu stützen, benutzt Moholy-Nagy gezielt Photographien unterschiedlichen Ursprungs: seine eigenen, andere Kunstphotographien, Photographien aus Illustrierten oder auch Film-Stills.339 Seine Überzeugung von photographischen Abbildungen als Voraussetzung für das Neue Sehen führt er dabei einerseits auf die anthropologische Prämisse des visuellen Sinnes und andererseits auf den Objektivitätsanspruch ihrer Technizität zurück. Moholy-Nagys Schlussfolgerungen über die zeitgenössische Kommunikation, die seiner Entwicklung des Typofotos vorausgeht, ist damit die Feststellung einer potentiellen objektiven und standardisierten visuellen Informationsvermittlung: Aus den optischen und assoziativen Beziehungen baut sich die Gestaltung, die Darstellung auf: zu einer visuell-assoziativ-begrifflich-synthetischen Kontinuität: zu dem Typofoto als eindeutige Darstellung in optisch gültiger Gestalt. (Ein Versuch Seite 122).340 Der Versuch, den Moholy-Nagy hier in Klammern anhängt, ist Gross-Stadt (1921/22). Die Skizze zu einem Film ist Gleichzeitig Typofoto – so der Untertitel des erläuternden Textes.

336 337 338 339 340

Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 25. Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 139. Ebd., S. 38.

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Direkt der erste Absatz darunter beschreibt, dass die Skizze nicht verfilmt wurde, da »›trotz der guten Idee die Handlung darin nicht gefunden‹«341 werden konnte. Diese Aussage steht Moholy-Nagys Anspruch, eine objektive, unmittelbare und internationale Informationsvermittlung durch das Typofoto Gross-Stadt (1921/22) zu übermitteln, konträr gegenüber. Die Sollbruchstellen für die filmische Umsetzung des Typofotos, zu dem sich verschiedene Verfilmungen heutzutage im World Wide Web finden,342 gehen dabei vornehmlich auf die bildlichen Kommunikationsversuche zurück, wie oben bereits angerissen wurde. Denn für die Decodierung der Filmskizze sind zwei Prämissen der typofotographischen Kommunikation von Gross-Stadt zunächst äußerst relevant: 1) Das Auflösen einer konkreten Leserichtung und 2) das rein »objektiv[e] Sehe[n]«.343 Die optionale Leserichtung (1) erklärt Moholy-Nagy folgendermaßen: Die Verbindung der einzelnen »logischen« nicht zusammengehörenden Teile erfolgt entweder optisch, z.B. mittels Durchdringung oder durch horizontale oder vertikale Streifung der Einzelbilder (um die einander ähnlich zu machen), durch Blende (indem man, z.B. ein Bild mit einer Irisblende schließt und das nächste aus einer gleichen Irisblende hervortreten läßt) oder durch gemeinsame Bewegung sonst verschiedener Objekte, oder durch assoziative Bindungen.344 Das wiederkehrende »oder« drückt hier nicht nur die Vielzahl von Optionen aus, sondern auch die intendierte Offenheit der Drucksache. Denn mithilfe der technotextuellen Angaben soll die Skizze zudem nicht nur lesbar, sondern auch verfilmbar sein. Indem verschiedene Optionen zur Verbindung der einzelnen Elemente vorgeschlagen werden, können potentiell entweder filmische Mittel oder auch sinnstiftende Assoziationen zur Einheit der Filmskizze beitragen. So würde rein visuell nicht nur die Leserichtung, sondern auch eine Handlung vermittelt werden können. Die Offenheit von Moholy-Nagys Gebrauchsanweisung steht hier jedoch in starkem Kontrast zur genuinen Absicht des Typofotos, eine möglichst exakte Mitteilung zu sein. Das Missverstehen der abgebildeten Handlung ist dabei in der Differenz von wahrnehmungspsychologischem wie sinnesphysiologischem Produktionskonzept und hermeneutischem Lese- und Interpretationsverfahren begründet. Während Moholy-Nagy von einem visuell-intuitiven Entschlüsseln von Gross-Stadt ausgeht, erwarten die Rezipient:innen eine lesbare Autor:innenintention. So fundiert Moholy-Nagy auch die Präzision der Mitteilung in einer sinnesphysiologischen wie auch wahrnehmungspsychologischen Rezeptionsästhetik, nicht in einer systematischen Produzent:innenintention. Im Gegensatz zu einer linearen Leserichtung, einer kausalen oder aufbauenden Argumentationskette, sollen die visuellen Techniken und/oder Assoziationen wirken. Und da dies in ein simultanes Rezeptionsmuster eingebettet werden soll, werden die typographischen und photographischen Elemente durch ein asymmetrisches Seitenlayout aus einem festen Raum- und Zeitraster

341 Zit. n. Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 120. 342 Vgl. beispielsweise Schroeter und Berger. https://vimeo.com/340626462 (zuletzt eingesehen am 29.01.2023). 343 Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 26. 344 Ebd., S. 121.

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gelöst. Die Simultanität der fragmentarischen Teilkomponenten fasst so die Dynamik der Großstadt typographisch ein. Die offene Variabilität der Bild- und Textreihenfolge spiegelt dadurch zusätzlich den konstruktivistischen Anteil des Produktionskonzepts. In Gross-Stadt (1921/22) findet man damit ein gestaltbares Druckprinzip, welches notwendigerweise rezeptiv ausgeführt werden muss – die Simultanität ist dabei entscheidend und gleichzeitig eine Schwierigkeit für den sukzessiv ablaufenden Film. Auch wenn Alexander Schwarz die Forschungsposition vertritt, dass Gross-Stadt als »konstruktivistische Verfremdung der Gattungskonventionen« gelesen werden kann, die durch »eine Simultanität von Graphik, Bewegung, Dreidimensionalität, […] eine mediale Mischform und Konstellation aus Text, Ornamentik, Photographie« umsetzt,345 sollte die explizit ausgeschriebene Intention des Typofotos nicht ausgelassen werden. Denn Moholy-Nagy geht es neben der konstruktivistischen Verfremdung der Gattungskonventionen auch um eine neue visuelle Kommunikationsform. Und mit Ornamentik hat Gross-Stadt nicht zuletzt aus diesem Grund nichts gemein. Das rein objektive Sehen (2) leitet der Bauhaus-Ingenieur ganz klar vom abbildenden Medium der Photographie ab. Denn er argumentiert, dass »der fotografische Apparat [.] unser optisches Instrument, das Auge, vervollkommnen bzw. ergänzen [kann]«.346 Wie auch im Typofoto geht dieser Ansatz von einer technischen Optimierung der visuellen Leistung aus. Der Ausbau der kommunikativen und anthropologischen Eigenschaften ist hier also vor allem technologisch möglich. Die Photographie und in ihrer Folge auch der Film werden damit zu technischen Instrumenten, zur Erweiterung des Sehens und gleichzeitig zu Schlüsselwerkzeugen einer visuellen Sprache.347 Und um diesen Über-

345 Schwarz, Alexander: Der geschriebene Film (1994), S. 241. 346 Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 26. 347 In 4.1 wurde angesprochen, dass sich die verschiedenen Beiträge im Kinobuch in ihren kommunikativen Verfahren unterscheiden. Während Plumm-Pascha (1913) monologisch aufgebaut ist, arbeitet Zwischen Himmel und Erde (1913) bereits dialogisch. Die Hochzeitsnacht (1913) nimmt dann schließlich visuelle Mittel zur Erweiterung des Textes auf, welche in ihrem materiellen Eigenwert, aber auch in ihrem fragmentarischen Anteil am Textbild wie auch -gehalt zum Tragen kommen. Dynamik der Gross-Stadt (1921/22) verwendet ein ähnliches Prinzip: Die verwendeten Fotografien drücken, gerade unter Angabe ihres Ursprungs in der angehangenen Tabelle, ihren materiellen Eigenwert aus, während sie gleichzeitig in die abstrakte Konzeption der Filmskizze einfließen. Die Entwicklung dieses Gebrauchs von Fotografien in Texten kann chronologisch nachvollzogen werden. Susanne Gramatzki zeichnet in ihrem Aufsatz Traditionslinien? Vom fotografisch illustrierten Roman des 19. Jahrhunderts zum fotografischen Künstlerbuch des 20. Jahrhunderts (2013) beispielsweise nach, wie die illustrative Funktion von Photographien im gedruckten Medium vom 19. bis 20. Jahrhundert erweitert wird, indem die Bildmedien eine dialogische Kommunikation mit dem Text aufbauen. Letztlich hält Gramatzki fest: »Die Fotografien sind keine additive Ergänzung zum Text, sondern integraler Bestandteil der erzählerischen Fiktion« (Gramatzki, Susanne: Traditionslinien? Vom fotografisch illustrierten Roman des 19. Jahrhunderts zum fotografischen Künstlerbuch des 20. Jahrhunderts (2013), S. 138). Texte, die genuin bimedial gestaltet sind, bezeichnet die Autorin als Ikonotext: »ein Werk, dessen linguale und visuelle Elemente eine unauflösliche Einheit bilden« (ebd., S. 140). In Gramatzkis Herleitung werden jedoch vor allem surrealistische Texte und Gemälde der 1930er berücksichtigt, was den ikonotextuellen Charakter Gross-Stadts (1921/22) in Frage stellt. Für den vorliegenden Untersuchungsschwerpunt ist dabei vor allem relevant, dass die Bildmedien den Text erweitern und gleichzeitig separates Zeichenmaterial betrachtet werden.

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gang im Sehprozess zu fördern, setzt Moholy-Nagy einen Fokus auf die »Mittel«348 des Films; so will er das Neue Sehen herbeileiten. Dieses Neue Sehen ist 1927, bei der Herausgabe der überarbeiteten Fassung des Bauhausbuchs, für Moholy-Nagy keine Zukunftsvision mehr, sondern alltagsprägend. Er ist überzeugt davon, »daß wir die Welt mit vollkommen anderen Augen sehen«.349 Andere zeitgenössische Kunsttheoretiker:innen und Literat:innen pflichten ihm hierin bei. So auch Yvan Goll, der mit dem reziproken Verhältnis zwischen den Augen und den photographischen Verfahren zukünftige Entwicklungen innerhalb der Künste prognostiziert: »Dennoch: Basis für alle neue kommende Kunst ist das Kino. Niemand wird mehr ohne die neue Bewegung auskommen, denn wir notieren alle in einer anderen Geschwindigkeit als bisher«.350 Und gerade die Geschwindigkeit und das veränderte Tempo sind hierbei mit den drucktechnischen Innovationen der Textgestaltung in Verbindung zu bringen, denn Variationen in der Leserichtung und Organisation der Seite vermitteln eine neue gedruckte, also faktisch statische Dynamik. Mit Bewegung ist hier nicht das Tempo, also die Geschwindigkeit, gemeint, sondern der Bruch mit der linearen Ausrichtung der Seite – also die Dynamik im visuellen Wahrnehmungsprozess, der durch unterschiedliche Leserichtungen und Kompositionsoptionen ermöglicht und von Sakkadensprüngen tatsächlich physisch ausgeführt wird. Hier sollte nun deutlich werden, warum die beiden oben genannten Kriterien nicht getrennt voneinander formuliert werden können: das Auflösen einer Leserichtung ist an das Phänomen des Neuen, und als objektiv angenommenen, Sehens gebunden. Nur das zerstreute und Neue Sehen kann die Simultanität als Herausforderung im visuellen Alltag verarbeiten und decodieren. Gross-Stadt (1921/22) versteht sich als eine typofotographische Trainingseinheit für diese Sinnessteigerung. Der Notwendigkeit einer sinnesphysiologischen Perzeptionserweiterung zur Bewältigung der großstädtischen Gegenwart versuchen solche Experimente in der Textseitenarchitektur entgegenzukommen, indem sie mit dem als linear empfundenen Lesefluss brechen. Moholy-Nagy betont in diesem Zusammenhang gerade die gezielte Planung und Umsetzung dieser experimentellen Gestaltungsversuche: »Wir wollen planmäßig produzieren, da für das Leben das Schaffen neuer Relationen von Wichtigkeit ist«.351 Die Punkte zum Auflösen der Leserichtung und zum objektiven Sehen beantwortet MoholyNagy dementsprechend mit einem strukturiert geplanten Layout, einer durchdachten Seitenarchitektur und einer Fokusverschiebung von Signifikant und Signifikat: Die visuellen Zeichen werden zum tragenden Inhalt der Informationsvermittlung, während das Bezeichnete eine periphere Rolle einnimmt. Dies wird zur Schwierigkeit für einen traditionellen Leseprozess bzw. die etablierte Verarbeitung von zeichenfundierter Kommunikation. So soll durch diese hierarchische Verschiebung, nach Moholy-Nagys Annahme, der Inhalt des Typofotos durch die Unmittelbarkeit seiner visuellen Zeichen nicht inhaltlich-variabel, sondern assoziativ-präzise sein – das Zurücktreten des Signifikats führt aber zunächst einmal zu einer Irritation in der Rezeption. Obgleich Moholy-Nagy in Gross-Stadt also einen offenen Druckcharakter einhält, geht er in der Konzeption

348 349 350 351

Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 33. Zit. n. ebd., S. 27. Goll, Yvan: Das Kinodram (1920), S. 136. Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 27.

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von einer ähnlichen Rezeption der Betrachtenden aus, die er durch die Hierarchisierung der Druck-Elemente und mithilfe der Rahmungen anleitet. Der visuellen Vermittlung der Großstadtdynamik impliziert er, rückschließend auf die perzeptive und gesellschaftliche Annäherung des Zielpublikums durch das Kino, dass seine graphische Montage vergleichbare Assoziationen in den Rezipient:innen hervorzurufen hätte.352 GrossStadt (1921/22) statuiert damit ein Exempel des bauhäuslichen Kommunikationsprinzips einer visuellen und damit potentiell internationalen, aber auch standardisierten Formsprache. Der Wechsel in der Auslegung der Determinanten von Zeit und Raum als Beschleunigungsfaktoren innerhalb einer Drucksache wird in Gross-Stadt besonders deutlich: Der Versuch eines simultan ablaufenden Assoziationsprozesses durch verschiedene Photographien und Typographien bricht mit der traditionellen Struktur des Leseverlaufs. Die eklektische Form, die zwischen Drehbuch, Grafik und illustrierter Skizze steht, hebt damit die medialen Prämissen eines gedruckten mehrseitigen Drucks auf: Hier ist keine Zuordnung durch gängige künstlerische Zuschreibungen möglich, denn »[d]ie fest umrissenen Grenzen zwischen einer Kunst des Raumes und einer Kunst der Zeit, wie Lessing sie noch 1766 in seinem Laokoon gezogen hat, haben sich im Laufe des 19. Jahrhunderts [bereits] aufgelöst«.353 Die Lösung hierfür ist der Versuch einer simultanen Schreibweise, um Zeit und Raum aneinander zu binden. Dass dabei das rein Visuelle greifen soll, betont Moholy-Nagy wiederholt: »Der Film ›Dynamik der Groß:Stadt‹ will weder lehren, noch moralisieren, noch erzählen: er möchte nur visuell, nur visuell wirken«.354 Und für die intendierte visuelle Wirkung ergänzt Moholy-Nagy auch an dieser Stelle die Leseanleitung: Die Elemente des Visuellen stehen hier nicht unbedingt in logischer Bindung miteinander: trotzdem schließen sie sich durch ihre fotografisch-visuellen Relationen zu einem lebendigen Zusammenhang raumzeitlicher Ereignisse zusammen und schalten den Zuschauer aktiv in die Stadtdynamik ein.355 Durch die wiederholte Erläuterung der Typofoto-Funktion wird deutlich, dass Moholy-Nagy die Sollbruchstellen in der Decodierung seines Text-Bild-Hybrids miteinkalkuliert und versucht, sie anzugehen. Die Erläuterungen können anhand des extravaganten Druckrasters der Seitenarchitektur nachvollzogen werden, da sich in ihr Symmetrien, die eine linear angelegte Leserichtung anleiten würden, auflösen, während sie den dynamischen Bildaufbau fundamental tragen, indem auch die Textrichtung nicht stetig von links nach rechts verfährt. Innerhalb der einzelnen Textblöcke mit technotextuellem oder kunsttheoretischem Kommentar wird jedoch immer eine linksbündige und lineare Textordnung gedruckt und auch der vertikal abfallende Verlauf der Leserichtung wird – entlang des zelluloidhaften Bildstreifens der Rahmenarchitektur – eingehalten. Die jeweiligen Textmodule sind durch die geometrischen Rahmungen des Rasters dabei deutlich zu erkennen, sodass auch jeder assoziative Lesefluss visuell strukturiert und

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Vgl. Paech, Joachim: Literatur und Film (1988), S. 49. Hick, Ulrike: Geschichte der optischen Medien (1999), S. 292f. Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 120. Ebd.

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angeleitet wird. Gross-Stadt durchkreuzt und stützt damit gleichzeitig einen traditionell konzipierten linearen Textseitenaufbau. Die rahmenden Linien prägen dabei den Bildaufbau, da sie typographisch ein konstruiertes Gerüst zu Aufmerksamkeitslenkung simulieren. Der Bauhaus-Ingenieur entwirft so den architektonischen Aufbau des Typofotos. Die dadurch entstehenden Erzählmodule werden durch photographische Szenen, technotextuelle oder inhaltliche Erläuterungen, gestaltete Zwischentitel, optophonetische Typographie, Symbole oder Zahlen ausgefüllt. In den Modulen tritt zu keiner Zeit die Kursive auf. Ein technotextueller Gehalt dominiert die Textblöcke, während nur einige von ihnen auf den Handlungsinhalt verweisen. Durch diese Distanz zum ausformulierten Inhalt entspricht Moholy-Nagys Entwurf eines experimentellen Typofotos damit sicher nicht dem Drehbuch-Standard seiner Zeit, da sich die semantischen Übersetzungsoptionen sinnespsychologisch erst entfalten und lediglich die technischen Anleitungen eindeutig ausformuliert werden. Im Gegensatz zum erzählenden Langzeitfilm stellt Moholy-Nagys visuell-artistische Filmskizze eine Herausforderung, wenn nicht Unmöglichkeit dar. Dies hat hauptsächlich damit zu tun, dass der Bauhäusler visuelle Mitteilungen bereits als einen autonomen Kommunikationsweg begreift – wie die Definition des Typofotos verdeutlicht. Die Erwartungshaltung der Lesenden wird beim Decodieren von Gross-Stadt (1921/22) nur vom abfallenden Aufbau der Seitenarchitektur von oben nach unten getroffen. Denn die Asymmetrie der Elemente trägt dazu bei, dass einzelne Abfolgen variabel und austauschbar sind, weswegen sich in dieser Rasterbildung der konstruktive Leitgedanke des Typofotos spiegelt. Einen solchen Seitenaufbau deutet auch Tschichold 1928 als den adäquaten Ausdruck seiner Zeit: »D i e A s y m m e t r i e i s t d e r r h y t h m i s c h e A u s d r u c k f u n k t i o n e l l e r G e s t a l t u n g«.356 Die asymmetrische Seitenarchitektur wird dabei verstärkt durch die Strukturierung der einzelnen Druckseite und wird so nicht von der Symmetrie der Doppelseite getragen, was am Textblock oben links auf Seite 117 deutlich wird, in dem steht, dass die Bewegung der vorherigen Szene fortgesetzt wird. Hieran wird erkennbar, dass die visuelle Orientierung vertikal durchstrukturiert ist. Die teils richtungsweisende Funktion der Piktogramme, Icons und Zahlen, wie beispielsweise der Pfeile, wirkt sich damit nur auf zweiter Ebene – in den einzelnen Szenen – aus. Durch diese markante Einteilungsarchitektur der einzelnen Elemente bewahrt Gross-Stadt eine nachvollziehbare Systematik, die nie die Grenze eines Segments überschreitet. Die eingerahmten Module sind jedoch oft von mehreren Kommunikationsmitteln gleichzeitig gefüllt. Mit zunehmender Seitenzahl werden die Zelluloid-ähnlichen Rasterungen verspielter und rahmen die einzelnen Module nicht mehr geschlossen ein, während dadurch offenere Flächen, wie auf Seite 126 und 129, durch die Platzierung typographischer Druckschriftelemente strukturiert werden. Claudia Müller betont im Neuen Bauhausbuch Typofoto (1994), dass Gross-Stadt diese markanten Linien nicht im Manuskript, sondern erst im gedruckten Bauhausbuch 8 (1925) aufweist, sie also noch nicht im handschriftlichen Manuskript von 1921/22 als Modulteilung eingesetzt werden: Der wichtigste Unterschied zur Version von 1921/22 ist neben der Integration von Fotos die Einführung eines asymmetrischen, rechtwinklig organisierten Gerüstes aus ver-

356 Tschichold, Jan: Die Neue Typographie (1928), 69.

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schieden starken Längs- und Querbalken, das sich nach Mondrians Prinzip des Gleichgewichts von Gegensätzen verzweigt oder die Buchseite auffeldert und in das die Fotos und Textblöcke sich zwanglos einpassen.357 Die geometrische Einteilung der Module für die Druckversion und technische Reproduktion zielt damit auf eine präzisere Rezeption. Diese Form der modularen Seitenkonstruktion durch einzelne Text- und Bildsequenzen lässt sich noch in weiteren Bauhausbüchern, die von Moholy-Nagy gestaltet werden, wiederfinden. Die Rasterung wird zu einem entscheidenden Mittel der Neuen Typographie: Denn sie ist ein Werkzeug zur Hierarchisierung einer asymmetrischen Seitenarchitektur. Es entstehen durch das Einteilen der Seite kleinere Module und einzelne Elemente, die unterschiedlich stark die Aufmerksamkeit der Betrachtenden beanspruchen und trainieren, da sie in ihrem experimentellen Aufbau variieren. Die informativen Mitteilungen, die Gross-Stadt (1921/22) entnommen werden können, bestehen so vor allem aus perzeptiven Assoziationsketten – ausgehend von der Annahme eines rezeptiven, internalisierten und grundsätzlich sinnesphysiologischen Decodierungsprozesses visueller Eindrücke – und bilden keine eindeutige Handlung ab. Im Vordergrund steht dabei die Vermittlung der dynamischen und simultan ablaufenden Ereignisse in der Großstadt.358 Die Darstellung des Reizüberflusses und die beschleunigte Ausstrahlung gegensätzlicher Szenen soll dabei zu einer gesteigerten Wahrnehmungskapazität und -fähigkeit führen, die Betrachtenden perzeptiv trainieren. Diese Ideen bringt Moholy-Nagy nicht nur in Gross-Stadt zum Ausdruck, sondern auch in seinem kurzen Text Das simultane oder Polykino (1925), welcher auch im Bauhausbuch 8 abgedruckt ist. Er schreibt hier ganz explizit: »Durch die Riesenentwicklung der Technik und der Großstädte haben unsere Aufnahmeorgane ihre Fähigkeit einer simultanen akustischen und optischen Funktion erweitert«.359 Die Ausgangsidee eines sinnesphysiologischen Steigerungsprinzips, ausgelöst durch die medientechnologischen Errungenschaften seiner Zeit, ist so nicht nur in Moholy-Nagys zweidimensionalen, sondern auch in seine kinetischen Kunstobjekte eingeflossen, was Anne Hoormann in Lichtspiele (2003) eindrücklich vermittelt. Da einzelne Segmentierungen komplett unbedruckt bleiben, werden sie als gesetzte Wirkräume erkennbar. Diese freien Stellen wirken nur auf der gedruckten Filmskizze als interpretierbares Negativzeichen; denn der Film ist rhythmisch getaktet, und der (scheinbar) einzige umzusetzende Wirkraum wird im Modul »5 SEKUNDEN LAND SCHWARZE LEINWAND« auf Seite 121 zusätzlich von einem Technotext begleitet – er wird also für die filmische Umsetzung zum Negativ-Wirkraum, da er farblich ausgefüllt und bedruckt ist. Die freien Module werden nicht von einem solchen technotextuellen Element begleitet – denn durch die sinnesphysiologische Lichtempfindlichkeit der Zuschauer:innen eignet sich ein gänzlich weißes Bild auch nicht für die Ausstrahlung.

Müller, Claudia: Typofoto (1994), S. 86. Bei der Version von 1921/22 handelt es sich um einen Manuskript-Entwurf, weswegen erst in die Druckversion von 1925 Fotos und typographische Raster eingefügt werden. 358 Vgl. Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 120. 359 Ebd., S. 41. 357

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Abbildung 16: László Moholy-Nagy: »Dynamik der Gross-Stadt« (1925), S. 120/21.

Abbildung 17: László Moholy-Nagy: »Dynamik der Gross-Stadt« (1925), S. 128/129.

Der durch die Rahmungen entstehende visuelle Rhythmus organisiert die Geschwindigkeit des Typofotos. Der beschleunigte, dynamische Eindruck entsteht dabei durch die Asymmetrie und das aus ihr resultierende Brechen mit der Erwartungshaltung der Rezipient:innen. Moholy-Nagy spricht diese zeitliche Relation des Seitenaufbaus direkt an

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und bindet sie an visuelle Qualitäten: »Das Typofoto regelt das neue Tempo der neuen visuellen Literatur«.360 Dieser Aussage nach fasst er auch Gross-Stadt (1921/22) als Literatur auf, was auf einen intendierten künstlerischen Eigenwert der Drucksache und ihre Lesbarkeit als Text verweist. Vorlage wie Umsetzung sind mit diesem Anspruch also als autonome künstlerische Gegenstände zu sehen. Und diese basieren auf der neuen Relevanz visueller Geschwindigkeit. Das wird im »Ziel des Filmes [ganz konkret formuliert]: Ausnutzung der Apparatur, eigene optische Aktion, optische Tempogliederung, – literarischer, theatralischer Handlung: Dynamik des Optischen. Viel Bewegung mitunter bis zur Brutalität gesteigert«.361 Durch die modulare Einteilung der Seitenarchitektur drückt Moholy-Nagy dementsprechend die Geschwindigkeit des Films experimentell typographisch aus. Die visuelle Information des Typofotos fungiert also als schematische Nachahmung medientechnologischer Mittel. Der Technotext wird damit zur Technotypo, indem die technischen Gestaltungsanweisungen zu den unterschiedlichen Szenen allein durch das typographische Raster vermittelt werden. Wenn der Kommunikationsweg des Films wie von Jurij Lotman in abbildende und sprachliche Mittel eingeteilt wird,362 kann Moholy-Nagys Typofoto Gross-Stadt als eine experimentelle Transposition der Medientechnologie gelesen werden. Außerdem fällt gerade anhand der elliptischen Texte und der Einteilung der Textelemente auf, dass die visuelle Form von Text und Bild in GrossStadt einer krass montierten Schreibweise entspricht. In Literatur und Film (1988) spricht Joachim Paech genau diesen Transaktionsakt zwischen medientechnologischer und gedruckter Montage an: Die Schreibweise im Film ist demnach der kinematographische Gestus des Unterbrechens (Montage) raum-zeitlicher Kontinuität, der Elemente (kinematographische Gesten) hervorbringt, deren vor-filmisch szenische oder kinematographische Bedeutung in neuen Kontexten überprüfbar wird.363 Dass sich eine solche Druckart durch die Übernahme in die Literaturproduktion auch im Text durchsetzen würde, steht für Moholy-Nagy außer Frage.364 Die visuelle Nähe, die er zwischen Typofoto und Film herausarbeitet, bestätigt der Bauhaus-Ingenieur noch einmal in der überarbeiteten Fassung des Bauhausbuchs von 1927. Denn hier parallelisiert er in einer Fußnote »[b]eim Lesen der Korrektur für die zweite Auflage« sein Typofoto mit zeitgenössischen Filmen, die vergleichbare Inhalte vorführen würden: Walter Ruttmanns Berlin – Sinfonie der Grosstadt (1927) und Abel Gances Napoleon (1927).365 Berlin – Sinfonie der Grosstadt zeigt für Moholy-Nagy den »Bewegungsrhythmus einer Stadt [.], unter Verzicht auf die übliche ›Handlung‹. – Abel Grace verwendet in seinem Film ›Napoleon‹ drei gleichzeitig nebeneinander laufende Filmstreifen«;366 beides Um-

360 361 362 363 364 365 366

Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 38. Ebd., S. 121. Vgl. Lotman, Jurij: Probleme der Kinoästhetik (1977), S. 60. Paech, Joachim: Literatur und Film (1988), S. 175. Vgl. Eisele, Petra: László Moholy-Nagy und die »Neue Reklame« der zwanziger Jahre (2009), S. 242. Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 121. Ebd.

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setzungen seines theoretischen Vorschlags eines Simultankinos, das einerseits durch die Beanspruchung verschiedener Sinne ein synästhetisches Erlebnis fördert (Berlin – Sinfonie der Grosstadt), andererseits durch simultane Exposition Multiperspektivik präsentiert (Napoleon).367 Der Kern Moholy-Nagys Simultankinos ist die multisensorische simultane Wahrnehmung. Gerade Berlin – Sinfonie der Grosstadt unterstreicht mit dem musikalischen Arrangement Edmund Meisels, der auch die Filmmusik für Sergej Ėjzenštejns Panzerkreuzer Potemkin (1926) komponierte, seinen visuellen Rhythmus. Das Ineinandergreifen von Ton und Bild setzt dabei die Montage als zentrales Stilmittel der dynamischen Großstadt und ihrer fragmentarischen wie einschneidenden Eindrücke in den Fokus. Bernd Stiegler kommt gerade vor dem Hintergrund des russischen Avantgardefilms (Vertov, Ėjzenštejn) zu ebendieser Schlussfolgerung: »Die Entdeckung der Montage ist die des Rhythmus und der Zeit als dem Elementaren des Films«.368 Ruttmanns Kunstfilm steigert durch die musikalische Betonung des rhythmischen Schnitts zudem das Mittel der Blickführung. Durch die getaktete Komposition kann sich das Publikum rhythmisch auf den nächsten visuellen Eingriff einstellen, da das Gehör den jeweiligen Folgeanschlag erwartet – der Blick der Betrachtenden wird also durch den Rhythmus getaktet und durch dessen Regelmäßigkeit geschult. Ähnlich soll der visuelle Montage-Rhythmus in Gross-Stadt (1921/22) durch die Proportionen des Seitenlayouts in Form der schwarzen Rahmungen vorgegeben werden. Im Gegensatz zu Berlin – Sinfonie der Grosstadt (1927) ist hier jedoch keine regelmäßige Taktung möglich, da die Module unterschiedlich große Informationen einfassen. So intendiert die Variation in der Bild- und Textausrichtung gezielt eine rezeptionsästhetische und selbstgesteuerte Taktung. Napoleon (1927) verdeutlicht diese konstruktivistische Rezeptionsästhetik durch die simultan ablaufenden Filmstreifen. Die Darstellungsstrategie des Films schließt eine fragmentarische Multiperspektivik ein, die den Betrachtenden eine Auswahl an FokusOptionen offeriert. Das Resultat dieses visuellen Angebots ist eine multiperspektivische Rezeption und eine sowohl beschleunigte als auch wechselnde Fokusausrichtung. Das kalkulierte Eingreifen in die Blickkoordination der Betrachtenden wird auf diese Weise entschärft. Durch die Simultan-Montage wird gleichzeitig aber auch die »Illusion«369 des abgebildeten Films gesteigert und nach Moholy-Nagy auch explizit die visuelle wie kognitive Kompetenz der Betrachtenden: »Die Verwirklichung derartiger Pläne stellt neue Anforderungen an die Leistungsfähigkeit unseres optischen Aufnahmeorgans, des Auges, und unseres Aufnahmezentrums, des Gehirns«.370 Der psychotechnische Steigerungseffekt, den sich der Bauhaus-Ingenieur von diesem Ausstrahlungsverfahren verspricht, konzentriert sich damit explizit auf eine Erweiterung wahrnehmungsphysiologischer und -psychologischer Fähigkeiten. Anders als Stiegler in Der montierte Mensch (2016) nahelegt,371 zielt Moholy-Nagys Konzept nicht auf die Montage eines Men367 Vgl. Zit. n. Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 39-41. 368 Stiegler, Bernd: Der montierte Mensch (2016), S. 138. Als Intention des russischen Avantgardefilms stellt Stiegler auf psychotechnischer Grundlage zudem den Versuch heraus, einen neuen Menschentyp zu montieren. Was, Stiegler zufolge, über das psychologische Bild des Films durchgeführt werden sollte – als direkte psychisch eingreifende Konditionierung. Vgl. ebd., S. 131-178. 369 Moholy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 39. 370 Ebd., S. 41. 371 Vgl. Stiegler, Bernd: Der montierte Mensch (2016), S. 102.

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schen, sondern auf den Ausbau der bereits beschleunigten Wahrnehmungsfunktion der Großstädter:innen.372 Die filmische Montagetechnik ist aus dieser Perspektive ein sensorisches Training und kein psychologisches Konstruieren, wie es Stiegler den russischen Avantgardefilmen zuschreibt. Dies bestätigt das Bauhausbuch 14, von material zu architektur (1929): »so schafft z. b. der film – das montageprinzip überhaupt – eine übung in blitzschneller beobachtung simultaner existenzen auf allen gestaltungsgebieten«.373 Das Aufkommen der Visualisierung von Montagetechnik ist dabei genuin mit den filmischen Schnitttechniken verschränkt. Das bestätigt auch Claudia Müllers Hinweis darauf, dass Gross-Stadt (1921/22) »als ›in Text umbrochener filmloser Film‹ in ungarischer Sprache 1924 in der Avantgarde-Zeitschrift MA, aber mit Copyright des Weimarer Bauhauses, veröffentlicht« wurde.374 Diese Betitelung und auch die parallelisierende Anmerkung des Bauhaus-Ingenieurs zu den zeitgenössischen Filmen verdeutlichen, dass die Montage und das Filmische für Moholy-Nagy nicht an ein bestimmtes Medium gebunden zu sein scheinen, sondern lediglich an die kommunikativen Eigenschaften des technischen Mittels und künstlerischen Gegenstands. Neben der Technik der Montage erscheint ihm dabei ein weiteres relevantes Paradigma des Filmischen die Zeit zu sein, genauer: das Tempo. Diese Charakteristik wird nach Joachim Peach in den 1920ern als »Bewegung und Beschleunigung«, aber auch als »rein visuelle[r] Ausdruck [gefeiert]«.375 Der reziproke Fähigkeiten-Ausbau zwischen medientechnologischer Abbildung und visuell-perzeptiver Sinneswahrnehmung, die von Moholy-Nagy motiviert wird, soll so durch Gross-Stadt vorgeführt werden. Durch die Kombination textueller und photographischer Abbildungen soll das objektive und sinnesphysiologische Wahrnehmen beeinflusst werden und das Neue Sehen (be)fördern.376 So bildet das Typofoto ganz konkret eine Möglichkeit des Antrainierens ab. Tempo ist dabei das Paradigma, das Moholy-Nagy durch die Vermittlung von Geschwindigkeit, Tempo und Dynamik visuell zugänglich machen will. Die Wiederholung von »TEMPO TEMPO TEMPO«377 erscheint dabei äußerst präsent als Aufforderung und Anweisung für den Rezeptionsmodus. Gross-Stadt experimentiert durch selbstgesteuerte Rezeptionsbeschleunigung mit einem der diskursiven Leitmotive der 20er Jahre, denn bedingt durch die stetig wachsende Industrie, Technik, Produktion und die Expansion der Großstädte wird das Tempo eben nicht nur zu einer Herausforderung, sondern zu einer Bedingung der Goldenen Zwanziger. Und dieses Tempo lässt keine Informationsdichte zu. Zumindest nicht, wenn das Tempo der Wahrnehmung durch einen Film, gedruckt oder technologisch umgesetzt, vorgegeben ist. Mit dem Anspruch auf eine möglichst präzise Informationsweitergabe bildet Gross-Stadt ab, was zum Alltag geworden ist, denn [.] mit der neuen Technik der Jahrzehnte um 1900 bekam die Zeitökonomie eine neuartige Bedeutung: Sie wurde von der bloßen Ermahnung zur durchorganisierten Pra-

372 Moholy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 41. 373 Moholy-Nagy, László: von material zu architektur (1929), S. 15f. 374 Müller, Claudia: Typofoto (1994), S. 82. 375 Paech, Joachim: Literatur und Film (1988), S. 154. 376 Vgl. Haus, Andreas: Die Entwicklung der modernen Fotografie (2000), S. 352. 377 Moholy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 117.

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xis, zum Experiment fortwährender Beschleunigung und zur zweiten Natur des Menschen.378 Technik wird zur Natur. Bewegtbild zu sinnlicher Wahrnehmung. Ähnlich, so Petra Eisele, wie mit seinem Plakat PNEUMATIK zielte Moholy-Nagy nicht nur auf eine Synthese von Typographie und Photographie, sondern auch wahrnehmungspsychologisch auf eine schnelle und gleichzeitige Aufnahme beider Gestaltungsmittel, auf eine simultane Wahrnehmung, wie er sie in amerikanischen Inseraten bereits ansatzweise ausgebildet sah.379 Mit der Verwendung von Fotografien aus Illustrierten wird deutlich, dass Moholy-Nagy, ähnlich wie Schwitters und seine MERZ-Agentur,380 ein kooperatives Verhältnis zwischen innovativen Kunstformen und der Werbe- und Reklamebranche forciert. Eine reziproke Wechselbeziehung zwischen den diversen Arbeitsbereichen wird hier durch die Nutzung der visuellen Formsprache gefördert. Moholy-Nagys Haltung gegenüber der Reklame und Werbung ist dabei durchgehend vom produktiven Mehrwert dieser Wechselbeziehung geprägt: die technische Weiterentwicklung der künstlerischen Methoden durch Medien und Techniken, die durch die lukrative Förderung der Arbeitgeber:innen zur Verfügung gestellt wird, ist mit der Unterstützung rein künstlerischer Gegenstände nicht zu vergleichen.381 Die Kooperation mit der Wirtschaft bringt Moholy-Nagy, wie auch dem gesamten Bauhaus, finanzielle Mittel zum Ausbau der eigenen Methoden ein – durch diese lukrative Beziehung, aber auch finanzielle Abhängigkeit, entwickeln sich einige Designbereiche zu einer Form von Dienstleistung. So werden die typographischen und gestalterischen Fortschritte am Bauhaus ausgesprochen eigennützig von der Werbebranche finanziert – gerade der Rückbezug auf sinnesphysiologische und wahrnehmungspsychologische Grundlagen war hier ein vielversprechender Motivator zur Beständigkeit dieser Beziehung, wie bereits in 2.3 nahegelegt wurde. So sind es gerade typographische und drucktechnische Regelungen, die eine Kooperation der beiden Bereiche und einen einheitlichen Ausgangspunkt für die Gebrauchsgestaltung etablieren: Bereits mit der Einführung der Kleinschreibung, dem vermehrten Einsatz der Groteskschrift, der DIN-Norm sowie der funktionellen Typografie war innerhalb nur weniger Jahre eine enorme gestalterische-typografische Entwicklung und durch den Einsatz des Typofotos eine Verschmelzung von Bild und Text zu einer neuen typografischen Einheit erreicht worden.382 Moholy-Nagys innovative und kritische Gestaltungstheorien weisen dabei zusätzlich einen prognostischen Wert in Bezug auf die diskursive Mediengeschichte und -entwick-

378 Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität (1998), S. 190. 379 Eisele, Petra: László Moholy-Nagy und die »Neue Reklame« der zwanziger Jahre (2009), S. 245. 380 Für einen visuellen Eindruck: Rattemeyer, Volker: Kurt Schwitters, Typographie und Werbegestaltung (1990). 381 Vgl. Meer, Julia: Neuer Blick auf die Neue Typographie (2015), S. 225 u. 230. Moholy-Nagy, László: von material zu architektur (1929), S. 172. 382 Eisele, Petra: Typografie der Zukunft (2019), S. 19f.

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

lung auf.383 Ähnlich, wie es auch Benjamin später deuten wird, bringt Moholy-Nagy darin die notwendige Veränderung der Medien mit der Weiterentwicklung der reproduzierenden Optionen in Verbindung: Die Erfindung des Lichtdrucks, sein Weiterausbau, die photographische Setzmaschine, das Erfassen der Lichtreklame, das Erlebnis der optischen Kontinuität im Film, die simultane (gleichzeitige) Auswirkung sinnlich wahrnehmbarer Ereignisse (Großstadt) ermöglichen und fordern ein durchaus neues Nivo auch auf optisch-typographischem Gebiete. Der graue Text wird sich in ein farbiges Bilderbuch wandeln und wird als eine kontinuierliche optische Gestaltung (zusammenhängende Folge vieler einzelner Blätter) aufgefaßt werden. Mit der Weiterentwicklung der Reproduktionstechnik: des Lichtdrucks, der Bildtelegraphie, die die Beschaffung und den Druck von exakten Illustrationen im Augenblick ermöglicht, werden alle, wahrscheinlich sogar philosophische Werke mit den gleichen illustrativen Mitteln arbeiten – wenn auch auf höherer Ebene – wie die jetzigen amerikanischen Magazine.384 Nach Eisele vertritt Moholy-Nagy mit der Zeit die Position, dass »kein Unterschied mehr zwischen Buchstaben, Bildern und anderen graphischen Elementen gemacht werden müsse – sie alle würden beliebig modifizier-, skalier- und reproduzierbar«385 – und dadurch würde alles zu visuellen Zeichen werden. Diese demokratische Gleichsetzung des Zeichenwerts beinhaltet ein medienspezifisches Bewusstsein, indem gerade die Kombination der unterschiedlichen Medien die gattungsspezifischen und sich komplementierenden Eigenschaften ausweist. Moholy-Nagy experimentiert daher mit den medienspezifischen Eigenschaften, um eine möglichst objektive Einheit zu präsentieren und eine gezielte Wahrnehmung, wie etwa die filmische, zu vermitteln. Er versucht, die Prägnanz eines Mediums durch Hybridisierung aufgrund von technischen Kombinationen zu verschleiern, damit die diversen medialen Charakteristika zugunsten der Information in den Hintergrund rücken – nach Eisele eine »postmoderne Gestaltungsfreiheit«.386 Die Vermittlung einer multisensorischen Wahrnehmung wird damit der Schwerpunkt in Moholy-Nagys Typofoto. Dieses Ziel der Vermittlung, Anleitung und Steigerung einer simultanen Perzeption wird experimentell abgebildet – die Drucksache versteht sich damit nicht als Beweisführung, sondern als Aufzeichnung der Durchführung, des Trainings. Die Notwendigkeit einer Strukturierung der geforderten Wahrnehmungssteigerung wird bereits 1903 von Georg Simmel in Die Großstädte und das Nervenleben ausformuliert.387 Denn potentiell kann die sensuelle Steigerung, nach Simmel, auch zu einer Überreizung der Nerven führen, was in den psychischen Zustand der Monotonie münde: Blasiertheit. Und diese Blasiertheit führt Simmel explizit auf eine »physiologische Quelle« zurück, welche sich zeigt, indem die Betroffenen nicht »auf neue Reize mit der ihnen angemessenen

Vgl. Moholy-Nagy, László: ZEITGEMÄSSE TYPOGRAPHIE – ZIELE, PRAXIS, KRITIK (1925), S. 308. Ebd., S. 311. Eisele, Petra: Typografie der Zukunft (2019), S. 20 Ebd. 1930 erfüllt die Uhertype die technischen Voraussetzungen für den Fotosatz, der sich ab 1960 durchsetzen kann. 387 Simmel, Georg: Die Großstädte und das Nervenleben (1903), S. 188.

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Energie zu reagieren« wissen.388 Die exogenetischen Anforderungen übersteigen in dieser Theorie die endogenetische Geschwindigkeit der Nerven. Das ausgewogene Steigern der Wahrnehmung ohne Überreizung ist damit der einzige Weg mit der perzeptiven Fülle der Großstadt umzugehen – so Simmel. Seine kognitivistische Sozialtheorie führt er dabei mit der Normierung von Zeit- und Geldeinheiten zusammen, da »[d]er moderne Geist [.] mehr und mehr ein rechnender geworden [ist]«.389 Der Menschentypus des Ingenieurs wird also bereits 1903 in Simmels Essay antizipiert. Während der kalkulierende Geist die Veränderungen im Alltagsleben einzuordnen und zu berechnen weiß, wird Nervosität in Simmels Die Großstädte und das Nervenleben (1903) als Reaktion auf die raschen und wechselhaften Eindrücke der Großstädte begründet: Nervosität wird zur Vorstufe der Blasiertheit; also zur Krankheit der Großstädter:innen. Diese Studie vermerkt nicht nur die Gefahren einer Überreizung, sondern impliziert auch die Notwendigkeit hybrider (Übergangs-)Gattungen und Steigerungsmethoden zur Erweiterung und Anpassung der perzeptiven Kapazitäten. Nach Simmel werden die Großstädter:innen durch das sensuelle Ausgesetztsein ohnehin einem perzeptiven Übungsprozess ausgeliefert. Im Falle eines erfolgreichen Trainings gehören simultane Wahrnehmung und die damit einhergehende Koordination der Reizüberflutung in das technologische Repertoire des:der Großstädter:in. Im Falle eines Misserfolgs folge Überreizung, Nervosität und Blasiertheit. Die Wahrnehmung werde durch den Umgang mit dynamischen Sinneseindrücken geschult. Auf der gedruckten Seite entsprechen diese Übungseinheiten dem Bruch mit gewohnten Mustern und Rastern, welcher eine Umorientierung der visuellen Wahrnehmung fordert und damit auf veränderte Reaktionen und gesteigerte Geschwindigkeit abzielt. Das Tempo dieser wechselnden Eindrücke gibt dabei den Rhythmus und die Einheiten der Perzeption vor.390 In Gross-Stadt (1921/22) wie auch in Simmels Theorie ist der entscheidende Faktor der Strukturierung des simultanen Erlebens das Tempo, die Beschleunigung, eben die Länge der Expositionszeit eines Eindrucks. Eigentlich soll hier also tatsächlich die Nervenleitungsgeschwindigkeit gesteigert werden, die sich bereits mit Helmholtz’ Messung als überraschend langsam manifestierte. Das Tempo entscheidet über Für oder Wider der Relevanz und Durchsetzungsfähigkeit bestimmter sinnesphysiologischer Eindrücke; das Tempo kontrolliert den Fokus der Aufmerksamkeit. Die Nervenkrankheit Blasiertheit ist das Ergebnis der anhaltenden überreizten Aufmerksamkeitsbeanspruchung durch simultane und schnelle Eindrücke. Kritisch wird dieser Zustand, sofern er nicht durch die notwendige Zerstreuung entlastet wird, weswegen die Reizaufnahme abstumpft bzw. ins Unermessliche gesteigert wird. Mit Simmels Prognose wird eine geschulte Verarbeitung simultaner Sinneseindrücke nicht zur Option, sondern zur notwendigen Fähigkeit, um eine Krankheit zu vermeiden. Aus dieser Perspektive ist das Mittel gegen einen solchen krankhaften Zustand die koordinierte Aufmerksamkeitslenkung: photographische Medien werden damit nicht nur zum Auslöser von und zur Reaktion auf die zeitgenössische Reizüberflutung,391

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Simmel, Georg: Die Großstädte und das Nervenleben (1903), S. 193f. Ebd., S. 191. Krämer, Steffen: »Steigerung des Nervenlebens« (2010), S. 204. Vgl. Uecker, Matthias: Wirklichkeit und Literatur (2007), S. 201.

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

sondern auch zum Trainingsinstrument. Denn die Überforderung der Sinneseindrücke soll durch den kontrollierten Wahrnehmungsverlauf vermieden werden. In dem Typofoto drückt sich dieser Ablaufprozess in Aufbau und strukturierter Hierarchisierung der unterschiedlichen Bildelemente aus. In Gross-Stadt wären das: Raster, Variationen in Schriftgröße, -dicke und -ausrichtung und Einsatz kontrastreicher und inhaltsträchtiger Photographien. Bei all diesen Elementen ist die Platzierung innerhalb der Seitenarchitektur entscheidend für deren Position innerhalb der Perzeptionskette. Mit Simmels Herleitung nervlicher Nebenwirkungen der Großstadt werden künstlerische Gegenstände wie Moholy-Nagys Dynamik der Gross-Stadt (1921/22) zum potentiellen Mittel gegen eine Überreizung der Nerven, indem sie schwarz auf weiß die Einheiten durch den Druck entschleunigen und damit den Wahrnehmungsprozess entlasten, lediglich anleiten und nicht führen. Auch die psychotechnischen Empfehlungen, die in 3.3 vorgestellt wurden, konzentrieren sich auf diese rezeptiven Vorzüge der statischen Rezeption. Denn gerade die simultane Darstellungsform der Seite und des Buches ermöglicht zunächst einen Überblick. Die einzelnen Seiten sind durchstrukturiert, wodurch ein sukzedaner Decodierungsprozess motiviert wird – die Geschwindigkeit der Expositionszeit einzelner Einheiten wird hier aufgrund der faktischen Statik des Typofotos nicht durch das Medium vorgegeben, sondern von den Rezipient:innen gesteuert. Die dynamischen Bewegungsphänomene ergeben sich dabei durch das simulierte Tempo – durch Asymmetrie und visuelle Hierarchisierungsmethoden.392 Der zweidimensionale Druck wird also zum Hilfsmittel der Wahrnehmungsschulung, da die Betrachtenden durch selbstgesteuertes Lernen neue visuelle Strukturen kennenlernen. Die Druckstrategie ist dabei nicht mit einer lehrenden Attitüde versehen, wie Moholy-Nagy oben angibt, sondern mit einem konstruktivistischen Charakter, der notwendigerweise die Partizipation der Rezipient:innen auffordert. Die physiologische und objektive Grundlage des Neuen Sehens, also die Prämisse der »lebendige[n] Wahrnehmungstätigkeit des Subjekts«,393 fließt hier in das Druckkonzept ein. In Gross-Stadt wird dies besonders deutlich, wenn auf der letzten Seite der Filmskizze dann doch ein direkter Appell in fetten vertikal ausgerichteten Versalien steht: »DAS GANZE NOCH EINMAL RASCH DURCHLESEN«.394 Wiederholung und Übungsprozess werden damit bereits bei der Konzeption einkalkuliert. Mit dem wiederholten visuellen Durchlauf von Gross-Stadt greifen im Optimalfall die Koordinierungsverfahren mittels der Rahmungen – die Hierarchisierung der einzelnen Elemente soll dabei als orientierende Leserichtung erkannt werden, die, ähnlich einer Filmperspektive, den Betrachtungsprozess lenkt. Die visuelle Schulung zum Neuen Sehen wird nicht dem Zufall überlassen, sondern durch die graphische Drucksache explizit angeleitet, da die Technik bereits »lehrarbeit geleistet [hat]«.395 Ganz beiläufig umgeht Moholy-Nagy dabei das Technologiedefizit der Erziehung (1982), das Luhmann

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Dass Photographien mehr Aufmerksamkeit beanspruchen als typographische Elemente wird, so auch Uecker, zeitgenössisch nicht in Frage gestellt Vgl. Uecker, Matthias: Wirklichkeit und Literatur (2007), S. 201. 393 Haus, Andreas: Die Entwicklung der modernen Fotografie (2000), S. 368. 394 Molohy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film (1925), S. 129. 395 Moholy-Nagy, László: von material zu architektur (1929), S. 69.

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und Schorr später ankreiden werden,396 indem er sehr rational einen sinnesphysiologischen Standard der Rezipient:innen einkalkuliert. Gerade durch eine konstruierte und strukturierte Seitenarchitektur macht der Bauhäusler hier visuelle Wahrnehmung zur kommunikativen Technologie. Diese Strategie wendet Moholy-Nagy ein weiteres Mal in seinem Ausstellungsraum Wohin geht die typografische Entwicklung? in der bauhaus-Ausstellung Neue Typografie von 1929 an. Hierbei hängt er »die Ausstellungsobjekte ohne Rahmung ähnlich dem typografischen Layout eines Buches mit vorgegebener Leserichtung zwischen drei Metallleisten«.397 Im Rahmen des Bauhausjahres 2019 rekonstruieren Petra Eisele, Isabel Naegele und Michael Lailach diese Ausstellung, von der nur eine Photographie erhalten geblieben ist, im Buchformat. Das Prinzip der Übersetzbarkeit zwischen Wand- und Buchlayout wird hierbei verkehrt. Nach den Herausgeber:innen sind »die Ausstellungstafeln – etwas verkleinert – [so] vollständig und in originaler Reihenfolge reproduziert«,398 was den angenommenen Fokus des Bauhäuslers bestätigt: die Technik und der Eindruck der Präsentation ist relevanter als das Medium.399 Auch hier zeigen sich dabei die dunklen Metallleisten als ordnend und richtungsweisend, um den rezeptiven Blick anzuleiten. Moholy-Nagy wählt einige der Photographien für die Filmskizze Gross-Stadt (1921/22) aus Illustrierten und bezieht dadurch implizit Stellung zum Diskurs über einen dokumentarischen oder auch künstlerischen Wert der Photographie. Denn durch das Entnehmen aus dem Publikationskontext werden ihre Funktionen umorganisiert. Sie bilden nicht mehr ab, sondern werden durch die Betonung ihrer repräsentativen Form zu ikonischen Typen erhoben. Moholy-Nagys Parallelisierung von Gross-Stadt und Ruttmanns Berlin – Sinfonie der Grosstadt (1927) in der überarbeiteten Fassung des Bauhausbuchs 8 (1927) betont diesen künstlerischen Anspruch von Text- und Bildmontagen. Denn Ruttmann ordnet seinen Film ebenfalls als künstlerisch ein und nicht, wie von der Forschung damals und noch heute diskutiert wird, als dokumentarisch.400 In Gross-Stadt werden das wissenschaftliche Erkenntnispotential und der dokumentarische Anspruch der Photographien durch ihren Einsatz als repräsentative Platzhalter außer Kraft gesetzt, während gleichzeitig der kompositorische und ikonische Wert der Abbildungen zu ihrem eigentlichen Gehalt ansteigen. Die visuellen Eindrücke und affektiven Stimmungen, die sich zeitgenössisch in das kulturelle Gedächtnis der Berliner:innen einprägen, werden zum künstlerischen Stoff des Typofotos, so wie in Ruttmanns Film – ihre konstruktivistischen Verfahren schließen ein, dass kein objektiver Eindruck, sondern gerade eine subjektive Perspektivierung, Ziel der Rezeption ist. Der Bauhaus-Ingenieur Moholy-Nagy spannt so durch die Offenheit der Leserrichtung und den Gebrauch visueller Typen ein 396 Vgl. Luhmann, Niklas/Schorr, Karl Eberhard: Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik (1982). 397 Eisele, Petra (u.a.): Moholy-Nagy und die Neue Typografie (2019), S. 8. 398 Ebd., S. 9. 399 So schreibt er auch auf der ersten Texttafel der Ausstellung wohin geht die typografische entwicklung?: »das wesentliche des typografischen fotschritts ist nicht eine formale, sondern eine organisatorische errungenschaft: die heutige typografie ist keine setzarbeit mehr, sie ist zu einer drucktechnik geworden, in der die montage als ›modelarbeit‹ – mit anderen mitteln als das setzen – ausserhalb des druckbetriebes durchgeführt werden kann«. Vgl. ebd., S. 81. 400 Vgl. Uecker, Matthias: Wirklichkeit und Literatur (2007), S. 242-247.

4. Typographisch gestaltete Drucksachen (1913-1929)

möglichst breites Zielpublikum ein. Denn indem Perspektive und Interpretationsvorgabe ausgelagert sind, werden potentiell mehr Zugänge eröffnet. Parallel dazu gewinnt gerade die Typographie an Relevanz,401 da sie nicht nur visuell wirkt, sondern gleichzeitig noch die abgebildeten photographischen Typen erläutert und einordnet. Denn ohne die typographischen Erläuterungen würde jeglicher stofflicher Sinnzusammenhang allein von den Betrachtenden konstruiert werden müssen. Sie werden hier wie die Zwischentitel, Inserts und Credits im Stummfilm als kommunikative Hilfswerkzeuge eingesetzt; so wie Gross-Stadt als Hilfestellung für eine perzeptive und selbstgesteuerte Wahrnehmungssteigerung fungiert.

401 Matthias Uecker beschreibt ein ähnliches Phänomen bei den um 1930 entstehenden Photobüchern (Renger-Patzsch; Jünger), die eigentlich die Annahme vertraten, »daß Fotografien glaubwürdiger und wirksamer als Worte seien« (Uecker, Matthias: Wirklichkeit und Literatur (2007), S. 222).

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5. Typographie als Technik – Sehendes Lesen

Der Ursprung der vorliegenden These liegt in einer zerstreuten Betrachtung der aisthetischen Dimension von Blut und Zelluloid (1929). Erst nach erneuter Lektüre wurde die typographische Gestaltung des Romans mit dem Thema der Medientechnologie Film in Verbindung gesetzt. Denn die erste Funktion eines Textes ist die medienspezifische Vermittlung einer Information und diese Information wird gelesen. Die materielle Visualität typographischer Gestaltung ist für die Kulturtechnik des Lesens so zunächst sichtbar, für den semantischen Sinnzusammenhang aber keine notwendigerweise zu berücksichtigende Qualität. Auch vor dem Diskurs medienspezifischer Informationsabhängigkeit1 repräsentiert das Druckbild eines Textes einen handwerklichen Prozess, der nicht immer als mediales Element begriffen wird. Durch den material turn hat sich in den Literaturwissenschaften ein Bewusstsein für die Materialität des Buchs etabliert, das gerade durch seine Marginalisierung im 21. Jahrhundert2 Entscheidungen zu seiner visuellen Gestalt als informationsträchtige Argumente lesbar werden lässt. Der materielle Text steht heutzutage seiner digitalen Datenentsprechung gegenüber – wobei beide Medien gestaltet werden müssen.3 Dabei entwächst die gesteigerte Aufmerksamkeit für die materielle Kommunikation und Gestaltung einer intuitiven Vorahnung ihrer bevorstehenden Obsoleszenz durch materiallose, digitale Gestaltung. Dies ist einer der Gründe für das wachsende geisteswissenschaftliche Fundament an Forschungsstrategien, um die Differenzen, Analogien und Parallelen, die Varietäten und Redundanzen der materiellen wie digitalen Textform zu erörtern. Diese Überlegung entspringt keiner Not, sondern einer Tugend: das Forschungsfeld wird erweitert – so wie im Untersuchungszeitraum der technische Möglichkeitsspielraum erweitert wurde, um dem wirtschaftlichen wie kulturellen Monopolsturz durch die Medientechnologie entgegenzukommen.

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Ab den 1960ern wurde die moderne Form der Medienwissenschaft begründet. Dabei wird nicht nur festgehalten, dass der Begriff Medium offen ist und die Informationsaufnahme und -weitergabe prägt, sondern auch, dass diese Funktionen von kulturtechnischen Lernprozessen abhängig sind. Vgl. Marshall McLuhan: Understanding Media (1964); Kittler, Friedrich: Grammophon – Film – Typewriter (1986). Vgl. Flusser, Vilém: Does Writing have a Future? (2011); Piper, Andrew: Book was there (2012). Vgl. Drucker, Johanna: Graphesis (2014).

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Visuelle Aisthetik

Beide dieser Erweiterungsprozesse gründen auf der Expansion des Blickfelds. Und beide Strategien stützen sich auf eine Grundvoraussetzung der Literaturwissenschaft wie der Literaturproduktion: die materiellen Elemente der Literatur. Die wissenschaftliche Wende zu einem Verständnis von Materialität als einer autonomen und fundamentalen Komponente von Literatur bekam durch die Etablierung der Medienwissenschaft in den 1960ern ihren ersten Anstoß. Denn erst nach einem medienspezifischen Gebrauch der Kulturtechnik des Lesens konnte über die letzten zwanzig Jahre die Kulturtechnik des Literatur-Sehens wieder erarbeitet werden. Vorliegend wird beschrieben, wie diese Kulturtechnik vor etwa hundert Jahren eingerichtet wurde: Zwischen 1913 und 1929 wird ein Spektrum typographischer Gestaltungsoptionen geprägt, welches sich zwischen der ästhetischen Komplementierung des Textinhalts und dessen technischer Steigerung bewegt. Die genuine Funktion von mikrotypographischen Satzzeichen wie dem Gedankenstrich, der Punktfolge oder Klammern werden von den untersuchten Autor:innen des befragten Zeitraums dementsprechend divers zur ästhetischen Unterstreichung des Stoffes oder als materielles Textelement eingesetzt. Letzteres birgt die Option funktioneller Aisthetik, indem die materielle Dimension der Texte ausgestellt wird. Und auch die Kursive (wie die Sperrung in der Fraktur), eine der ältesten typographischen Mittel zur Hervorhebung von Textpassagen, durchläuft in diesem Zeitraum eine funktionelle Umstrukturierung: denn die mit ihr gesetzten Markierungen kategorisieren nun auch. Ein weiteres auffälliges Phänomen ist der Wirkraum, der als materielles Mittel nicht den Vorgaben des Layouts folgt, sondern als ästhetisches typographisches Negativzeichen inhaltliche Schnitte bemerkbar macht. Der Wirkraum bringt gerade durch die leeren Zeilen, die wortlos Inhalt tragen, zum Ausdruck, dass seine Setzung kein Zufall ist. All diese Umwertung bereits seit Jahren vorliegender Druckoptionen sind Resultate der Auseinandersetzung mit der visuellen Fläche und der Materialität von Text. Motiviert durch die sinnesphysiologische, wahrnehmungspsychologische wie psychotechnische Forschung und provoziert durch die technische Antwort auf diese Forschungsergebnisse durch den Film, erweitert auch die literarische Textproduktion der Moderne ihr Aufgabenfeld und damit ihr literarisches Instrumentarium. Hinter der Umfunktionierung und Technifizierung von Typographie verbirgt sich die Absicht visueller Wahrnehmungskoordination, deren Provenienz auf naturwissenschaftliches Wissen zurückzuführen ist. Die Textgestaltung versucht weniger die visuelle Wahrnehmung der Betrachtenden zu chockieren, in sie einzugreifen, als ihnen durch typographische Forderung das Neue Sehen anzutrainieren. Das typographische Layout und die Verwendung typographischer Elemente zur Konstruktion literarischer Texte leiten damit einen koordinierten Leseprozess an, der lediglich durch die Textseite und nicht durch den Expositionszeitraum determiniert ist. Die textuellen Übersetzungsstrategien einer filmischen Technik in einen Text setzen wegen der selbstbestimmten Geschwindigkeit des Lesens auf eine materielle Montage, einen Bruch im Textbild, um die visuelle Aufmerksamkeit der Lesenden zu steigern und neue Textdimensionen zu erarbeiten. Die produktionsorientierte Ausrichtung der Untersuchung hat dabei die reziproken Wechselbeziehungen im sich zuspitzenden Paragone der Moderne herausgearbeitet, um zu verdeutlichen, dass eine neue Disziplin zur medialen Gestaltung künstlerischer Gattungen etabliert wird: das Design als visuelle Formsprache. Der zeitgenössische Gestaltungsdiskurs zwischen Kunst und Handwerk bringt damit ein angewandtes und profes-

5. Typographie als Technik – Sehendes Lesen

sionelles Feld visueller Kommunikation hervor. Die literarische Textgestaltung von Seiten der Autor:innen ist nicht zuletzt aus diesem Grund immer an ihr inhaltliches Verfahren geknüpft, wodurch sich auch die Aufgabenfelder in der Textproduktion verschieben. Hierdurch gehen die komplementierenden Eigenschaften der Typographie nicht verloren, sondern sie werden gesteigert, indem die materielle Textdimension den literarischen Inhalt visualisiert, der nicht explizit geschrieben stehen muss. Das psychotechnische Versprechen, die Textwirkung durch diese visuellen Aufmerksamkeitsfoki steigern zu können, ist dabei eine Motivation von außen, die auf Fakten beruht, sich aber ebenfalls noch im experimentellen Prozess befindet. Zum Zeitpunkt der vorliegend untersuchten Texte lag zwar schon Münsterbergs psychoästhetische und -technische Studie The Photoplay (1916) vor, jedoch basieren die textuellen Empfehlungen und Anmerkungen zum Steigerungsphänomen als künstlerischem Gestaltungsprinzip (1922) hauptsächlich auf hypothetischen Annahmen, sodass die experimentelle Überprüfung noch ausstand. Die Texte Plumm-Pascha (4.1.2), Zwischen Himmel und Erde (4.1.3), Die Hochzeitsnacht wie auch Die Pest (4.1.4), Blut und Zelluloid (4.2) und Dynamik der Gross-Stadt (4.3) führen diese Experimente textuell aus und sind als typographische Versuche technischer Textgestaltung auf einem Spektrum materieller Aisthetik verortbar. Die einzelnen Analysen ergaben ein weitläufiges Spektrum, das sich diskursiv von auratischer Graphologie bis zur menschlichen Medientechnologisierung erstreckt, aber immer mit dem Paradigma typographischer Technik argumentiert. Durch den Perspektivwechsel auf die Produktionsseite konnte so die Etablierung von typographischer Gestaltung als kultureller Technik nachvollzogen werden. Da während des Untersuchungszeitraums erkannt wird, dass die materielle Visualität des Textbildes darüber entscheidet, was wie gelesen wird und ob es überhaupt leserlich ist. Ob und inwiefern von Kalkulation oder Konditionierung der Leserschaft gesprochen werden kann, hängt dabei von den jeweiligen Texten und deren typographischen Mitteln ab. Der künstlerische Prozess der Autor:innen ist jedoch nicht zwingend an ein konkretes Ziel gebunden, da die mediale Kommunikation eines Textes sich in der Rezeption der Lesenden/Sehenden entfaltet. Aus diesem Grund betont Robert E. Mueller die künstlerische Intuition in reziproken Beziehungen zwischen Kunst und Naturwissenschaft: The artist is a seer when he grasps the implications of a new medium and can guess how our perceptions will be altered by them, formulating an art which depends on this alteration for its comprehension. The artist may not be aware of what he is doing, but intuitively he may have grasped what the scientist has not yet begun to comprehend.4 Hierbei darf zudem nicht vergessen werden, dass die jeweilige Textstrategie entweder auf die Stärkung der eigenen Gattung oder auf ein Erkunden und Übergehen der Gattungsgrenzen ausgelegt ist.5 Denn gerade die Idee eines Wettstreits der Gattungen bezieht sich vorwiegend auf deren Materialität.6 Aus diesem Grund führen die semiotischen, konstruktivistischen und strukturalistischen Tendenzen, die sich kommunikationstheoretisch am Bauhaus oder kunsttheoretisch bei Wölfflin finden 4 5 6

Mueller, Robert E.: The Science of Art (1967), S. 24. Schnitzler, Andreas: Der Wettstreit der Künste (2007), S. 115. Vgl. ebd., S. 116.

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lassen, im frühen 20. Jahrhundert dazu, dass sie sich weniger aneinander aufreiben, sondern interdisziplinär ergänzen. Denn zwischen 1913 und 1929 zeugen die avantgardistischen und bauhäuslichen Gestaltungsexperimente eher von der Annahme eines anthropologischen Einheitsverständnisses durch die Kulturtechnik des Sehens als von einer artifiziellen Ausdruckskonkurrenz. Diese vorherrschende Reziprozität zeichnet sich nicht nur in den Gattungsbeziehungen und -bezeichnungen, sondern auch in den internationalen Künstlernetzwerken ab. Die konkrete Feststellung eines visuellen Schwerpunktes auf Kommunikation und Medien anhand von Typographie ist damit ein entscheidendes Resultat der Arbeit, durch das das Analysemodell anschlussfähig für andere Zeiträume und Epochen, aber auch Diskurse wird. Die Intention, literarische Schreibstrategien auch materiell an zeitgenössische Diskurse und Paradigmen anzuschließen, wird damit analysierbar. Denn auch andere Texte des Zeitraums weisen visuelle Strategien auf, ihren semantischen Inhalt im Textbild auszuweisen. So liegt beispielsweise eine Untersuchung zu der Zeichensetzung in Berlin Alexanderplatz (1929) von Stenzel vor,7 jedoch könnte diese noch durch die Kriterien des Analysemodells erweitert werden und damit das Diskursfeld zur Zeichensetzung aufleben lassen. Denn materiell forciert der Roman ein zumeist fließendes Textbild, das jedoch gezielt an einigen Stellen unterbrochen wird. Die Optionen, die sich durch typographische Analysen eröffnen, sind äußerst vielseitig und stehen im Forschungsfeld materieller Ästhetik und Aisthetik noch am Anfang. Eine detailreiche und präzise Aufarbeitung materieller und produktionsorientierter Gestaltungsmittel von Literatur birgt damit eine textbezogene Faktizität, die zur Unterstützung von Untersuchungsansätzen der Bildwissenschaft, Oberflächenästhetik und visueller Ästhetik herangezogen werden sollte, um Argumente für eine analoge wie auch digitale Literarizität zu fundieren. Vorliegend wurde ein solches Verfahren durch typographische Analysen vorgeführt. Ergebnis der Untersuchung ist dabei die materielle Topographie literarischer Montage, welche bisher nur inhaltlich oder anhand von ausgewiesenen Fragmenten greifbar war. Es wird so gezeigt, dass die Einordnung in typographische Dispositive für die Analyse literarischer Texte der Moderne meist nicht ausreichend ist, da gerade die experimentellen Abweichungen festhalten, in welcher Form sich ein Text manifestiert. Vorliegend wurden zwei verschiedene Modi, in denen experimentelle Texte operieren, nachgewiesen: einerseits das Auffangen des zerstreuten Blicks und andererseits das Trainieren des Neuen Sehens. Dabei verweist die makrotypographische Textebene auf die materielle Textdimension – ihre organisierende Seitenarchitektur und visuelle Koordination. Diese Flächengestaltung kann auf mikrotypographischer Textebene von syntaktischen Satzzeichen ergänzt werden und so (noch) stärker an der Konstitution der semantischen Textdimension mitwirken. Alle Analysen haben gezeigt, dass die materielle und die semantische Textdimension eng miteinander verwoben sind. Daher wird das Sehen eines Textes hier als Argument für dessen Verstehen ausgelegt, ohne auf die Beweiskraft der Augen zu setzen, sondern um die produktionsästhetischen und materiellen Argumente seiner konkreten Form zu lesen.

7

Vgl. Stenzel, Jürgen: Zeichensetzung (1966), S. 117-130.

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