Metaphorologie des Kinos: Sprachbilder und Intermedialität im literarischen Kinodiskurs der Klassischen Moderne 9783839452073

In seiner Anfangszeit stellte die Kinoerfahrung ein außergewöhnliches Erlebnis dar. Der Überschuss an Wahrnehmung verset

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Metaphorologie des Kinos: Sprachbilder und Intermedialität im literarischen Kinodiskurs der Klassischen Moderne
 9783839452073

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I Das Kino und seine Metapher. Überlegungen zu einer Wahlverwandtschaft
Filmbeschreibung – neue Ekphrasis? Zur Einführung in die Problematik
1 Der ›lebende Schatten‹ als metaphorisches Paradigma
2 Vom ›Memento mori‹ zum ›Antichrist‹. Literarische Variationen einer Leitmetapher
II ›Regressionsmaschine‹ Kino? Zur subjektbezogenen Metaphorik des Kinos
Rückwärtsprojektion. Einführung in die regressive Zeitstruktur der Metapher
3 Zwischen Abgrenzung und Sehnsucht. Der Stellenwert des Regressiven in psychologischen Bildtheorien
4 Das ›naive‹ Kind vor der Leinwand. Zum Regressiven als Leitmetapher des frühen Kinodiskurses
5 Über die Regression zur Reflexion. Der Kinozuschauer als ›barbarisches Kind‹
Weimarer Filmtheorie als Plädoyer für die reflektierte Regression
III Das Kino einverleiben. Zur objektbezogenen Metaphorik des Kinos
Metapher zwischen Intro- und Projektion. Zur Diätetik des Kinos
6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen
7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹. Stationen einer diskursiven Immunisierung gegen die ansteckende Krankheit des Kinos
8 Die kinematographische ›Ansteckung‹ des Theaters. Zum ›intermedialen Bezug‹ der Literatur auf den Film
Die reflektierte ›Kinopest‹. Zur Ansteckungsmetapher in der Weimarer Zeit
Schlussbetrachtung oder: Ausblick auf eine Metaphorologie des Films
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Filmverzeichnis
Index

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Daisuke Yanagibashi Metaphorologie des Kinos

Film

Daisuke Yanagibashi ist an der Waseda-Universität in Tokio als Lehrbeauftragter tätig und promovierte am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind moderne deutsche Literatur, Diskursgeschichte der Medien, Film- und Kulturtheorie.

Daisuke Yanagibashi

Metaphorologie des Kinos Sprachbilder und Intermedialität im literarischen Kinodiskurs der Klassischen Moderne

D 188 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Vorwort .................................................................................. 9 Einleitung ................................................................................ 11

I Das Kino und seine Metapher. Überlegungen zu einer Wahlverwandtschaft Filmbeschreibung – neue Ekphrasis? Zur Einführung in die Problematik................. 35 1 1.1 1.2 1.3

Der ›lebende Schatten‹ als metaphorisches Paradigma............................ 43 Die ersten Filmzuschauer und ihre Metaphern ....................................... 43 Maksim Gor’kij und ›das Leben der Schatten‹........................................ 47 Zur Wahlverwandtschaft zwischen der Metapher und dem Kino. Stählin und Münsterberg ............................................................ 52

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Vom ›Memento mori‹ zum ›Antichrist‹. Literarische Variationen einer Leitmetapher........................................ 61 2.1 Vom ›Kino‹ zum ›Film‹ – ein Paradigmenwechsel?.................................... 61 2.2 Das Kino als ›Memento mori‹. Victor Klemperer: Das Lichtspiel....................... 67 2.3 Hollywood als das »Reich der Schatten«. Höllriegel und Roth ......................... 71

II ›Regressionsmaschine‹ Kino? Zur subjektbezogenen Metaphorik des Kinos Rückwärtsprojektion. Einführung in die regressive Zeitstruktur der Metapher ........... 93

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Zwischen Abgrenzung und Sehnsucht. Der Stellenwert des Regressiven in psychologischen Bildtheorien...................................................... 97 3.1 »Das Kino entspräche […] einer passageren Form der Regression«. Die Apparatustheorie als Theoretisierung des Regressiven im Kino ................. 97 3.2 Die Metapher als reflexive Regression in die ›naive‹ Symbolik. Friedrich Theodor Vischer: Das Symbol ............................................. 106

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Das ›naive‹ Kind vor der Leinwand. Zum Regressiven als Leitmetapher des frühen Kinodiskurses.......................................................... 117 4.1 ›Kinderkrankheiten‹, ›Gassenjunge‹ und ›Flegel‹. Das Kino als ›Kind‹ ............... 120 4.2 Jugendschutz, Hypnose und das Kino. Kinder als Paradigma im Paternalismus-Diskurs des Kinos ............................................... 124 4.3 Rückfahrten in die ›Naivität‹. Zu Metaphernformen des Regressiven im frühen Kinodiskurs ........................................................................ 131

5 Über die Regression zur Reflexion. Der Kinozuschauer als ›barbarisches Kind‹ ....157 5.1 Die ›phantastische‹ Distanz zur Wirklichkeit – Klemperer, Lukács................... 160 5.2 Der ›sentimentalische‹ Rückblick auf das Attraktionenkino – Hoddis, Döblin, Roth ............................................................... 165 5.3 »… wie lächerlich es ist, ein erwachsener Mensch zu sein«. Der ›Weg des  Affen‹ zur regressiv-reflexiven Filmrezeption bei Kurt Tucholsky .................... 171 Weimarer Filmtheorie als Plädoyer für die reflektierte Regression ..................... 187

III Das Kino einverleiben. Zur objektbezogenen Metaphorik  des Kinos Metapher zwischen Intro- und Projektion. Zur Diätetik des Kinos ....................... 193 6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen ................. 199 6.1 Der Film als (un-)heilbringendes Getränk. Zur Alkoholmetapher des Kinos ........... 199 6.2 Vom Garanten der ›positiven Reform‹ zur unberechenbaren Kippfigur. Die Karriere der Nahrungsmetaphorik im Kinodiskurs ........................................... 218 6.3 Der ›Kientopp‹ als ›Gift-Gift‹ ...................................................... 237 7 7.1 7.2

Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹. Stationen einer diskursiven Immunisierung gegen die ansteckende Krankheit des Kinos ...................................... 243 ›Kinodrama‹ – ein vergiftetes Geschenk des Erbfeindes? ........................... 243 Pest als Metapher, Metapher als Pest. Zur Einführung in die Fragestellung........... 247

7.3 Zwischen Sichtbarmachung und Unsichtbarkeit. Der Ort der frühen  Kinematographie im bakteriologischen Diskurs ................................... 249 7.4 Metaphorisierung der ›Kinoseuche‹ ................................................ 263 8

Die kinematographische ›Ansteckung‹ des Theaters. Zum ›intermedialen Bezug‹ der Literatur auf den Film .........................................................291 8.1 Vom ›Krebs‹ zur ›Pest‹. Der Wandel des Metapherngebrauches im ›Theater-Kino-Streit‹ ........................................................... 292 8.2 Die Ansteckungswelle unter den Dramatikern. Zu Max Reinhardt als ›Infektionsträger‹ der ›Kinoseuche‹ ............................................ 300 8.3 ›Pest = Film‹. Zu Walter Hasenclevers Die Pest. Ein Film als einer filmischen Inszenierung der ›Kinopest‹ ...................................................... 305 Die reflektierte ›Kinopest‹. Zur Ansteckungsmetapher in der Weimarer Zeit ........... 333

Schlussbetrachtung oder: Ausblick auf eine Metaphorologie des Films ................. 337 Literaturverzeichnis.................................................................... 349 Abbildungsverzeichnis ................................................................. 373 Filmverzeichnis ........................................................................ 375 Index ........................................................................ .......... 377

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2018/19 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Für den Druck habe ich sie geringfügig überarbeitet. An dieser Stelle möchte ich all denjenigen danken, die zur Vollendung meines Promotionsvorhabens beitrugen. In erster Linie bedanke ich mich bei meinem Erstgutachter Prof. Dr. Stefan Keppler-Tasaki, der seit vielen Jahren mit großem Engagement und tatkräftiger Unterstützung mein Dissertationsprojekt betreut hat. Sein profundes Fachwissen und seine konstruktiven Hinweise haben die Arbeit in besonderem Maße bereichert. Gedankt sei auch Prof. Dr. Jutta MüllerTamm. Es war mir eine Freude, dass eine Germanistin und Wissenshistorikerin, deren Werk mir bereits mehrmals Inspirationen geboten hatte, das Zweitgutachten übernahm und der Promotionskommission vorsaß. Mein Dank richtet sich ferner an Prof. Dr. Irmela Marei Krüger-Fürhoff und Dr. Tomas Sommadossi, die in der Kommission ebenfalls mit Interesse mitgewirkt haben. Dem Kommissionsmitglied Prof. Dr. Cordula Lemke danke ich darüber hinaus für die Chance, im von ihr geleiteten Doktorandencolloquium der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien mein Dissertationsvorhaben präsentieren und hieraus wertvolle Impulse ziehen zu dürfen. Zu Dank verpflichtet bin ich außerdem allen Menschen, die mir zu verschiedenen Gelegenheiten ihre freundschaftliche Unterstützung leisteten. Namentlich nennen möchte ich Dr. Ina Linge, Dr. Hosung Lee und Dr. Oliver Hartmann. Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst sowie der Heiwa Nakajima Foundation (Tokio) bin ich aufrichtig dankbar für ihre finanzielle Förderung, die meine langfristigen Aufenthalte in Berlin überhaupt ermöglichte. Der Friedrich Schlegel Graduiertenschule danke ich für das großzügige Angebot einer idealen Arbeitsumgebung. Ohne den Druckkostenzuschuss der Ernst-Reuter-Gesellschaft hätte ich die Publikation meiner Dissertation in dieser Form nicht verwirklichen können. Mein herzlicher Dank gilt schließlich meinen Eltern.                                                                   Daisuke Yanagibashi Tokio, im März 2020   

Einleitung

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Der »Genuß der aufgehobenen Kausalität« Aber was nutzt es, wenn ich in diesem Blatte für den Kientopp Reklame trompete und mich an Schichten wende, die es doch nicht lesen? Ich will also den Schlapphut ablegen und den Zylinder aufsetzen und nun den Intellektuellen predigen: Geht in den Kientopp!1

Mit diesen spielerischen Worten appelliert der Romancier Hanns Heinz Ewers an das Bildungsbürgertum des ausgehenden Kaiserreichs und wirbt überschwänglich »für den Kientopp«. Ewers, der sich später selbst als Drehbuchautor und gar Regisseur betätigen und zudem die Romanvorlagen zahlreicher Filmproduktionen beisteuern sollte, glaubt dabei, »den Zylinder aufsetzen« zu müssen. Denn sein Artikel, Der Kientopp, erscheint am 11. Oktober 1907 in einer Ausgabe des Morgens, der »Wochenschrift für deutsche Kultur«, die »von solchen Autoritäten des Kunstlebens wie Werner Sombart, Richard Strauss, Georg Brandes und Hugo von Hofmannsthal herausgegeben« wird.2 Angesichts des offenbar noch fehlenden Interesses dieser intellektuellen Schichten und insbesondere der »blind[en]« »Preßleute« am »Kientopp« steigert sich die Vehemenz dieses leidenschaftlichen Plädoyers für den neuen »Kulturfaktor« umso mehr: »Theater, Variété, Kunstausstellungen, Konzerte, Vorträge, Bücher – aber wer spricht vom Kientopp?«3 Neben vielfältigen anderen Qualitäten – das Kino sei etwa »[e]rzieherisch«, »amüsierend« und »hygienisch« – hebt Ewers einen der »merkwürdige[n]« »Genüsse« besonders hervor,

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Ewers, Hanns Heinz: »Der Kientopp« [1907], in: Fritz Güttinger (Hg.), Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, Frankfurt am Main: Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main 1984, S. 12-14, hier S. 12. Keiner, Reinhold: Hanns Heinz Ewers und der Phantastische Film, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1988, S. 4. Dabei ist es wohlbekannt, dass Hofmannsthal später sowohl praktisch (bezüglich Verfilmung eigener Werke) als auch theoretisch (durch essayistische Arbeit) ein dauerhaftes Interesse am Film zeigen sollte. Zu seinem Aufsatz über das Kino als den Ersatz für die Träume (1921) siehe in Teil II der vorliegenden Untersuchung. Ewers: »Der Kientopp« (wie Anm. 1), S. 12.

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Metaphorologie des Kinos

den seine Klienten, die »Intellektuellen«, im Kino erwarten könnten: den »Genuß der aufgehobenen Kausalität«. Es ist nicht ganz leicht, sich da hineinzuleben, unser ganzer dummer Verstand steht ja immer unter dem tyrannischen Einfluß von Ursache und Wirkung. Da kommt der Herr Kientopphausknecht und steckt seinen Film von rückwärts in den Scheinwerfer. Eine kleine Handbewegung – und sie wirft die ganze Weltgeschichte um: die Wirkung wird Ursache, die Ursache Wirkung.4 Die Beschreibung des Kinos bzw. des »Kientopphausknecht[es]« als Befreier von der »tyrannischen« Herrschaft des Kausalen nimmt hier zwar primär auf die filmische Aufführungstechnik des Rückspulens oder der Rückwärtsprojektion Bezug. Metaphorisch wird hier aber auch das Glücksgefühl einer willkommenen Regression angedeutet, welches sich die angesprochene gebildete Leserschaft von einem Besuch des Kientopps versprechen könnte: »Michel ißt und die Knödel kommen ihm aus dem Munde heraus, seiner armen Frau aber kriecht das Kind aus den Armen der Hebamme wieder in den Mutterleib zurück!«5 Das Kino, das wie nichts anderes die seinerzeit modernste Medientechnik verkörpert, soll demnach nicht nur eine logische (›Ursache‹/›Wirkung‹) und implizit hegemoniale (›Herr‹/›Knecht‹) Verkehrung auslösen. Das Medium soll vielmehr eine sowohl onto- (»in den Mutterleib zurück!«) als auch phylogenetisch (»Weltgeschichte«) rückläufige Entwicklung bewirken. Im Kino wird also die Zeit selbst gleichsam zurückgedreht. Ewers’ Text stellt einen der ersten schriftstellerischen Beiträge zum Kino dar und markiert somit einen Anfang jener Kinodebatte, welche die facettenreichen Stellungnahmen der literarischen Intelligenz gegenüber dem neuen Medium insbesondere in den 1910er und 1920er Jahren bezeugt. In dieser Debatte taucht das Kinoerlebnis weiterhin in hoher Frequenz und mit unterschiedlichen Vorzeichen als etwas auf, das metaphorisch mit Regressionstendenzen in Verbindung gebracht wird. Die Regressionsmetapher für das Kino wird aber auch in anderen Bereichen eingesetzt, vor allem gerade denen, die Ewers in diesem Artikel anspricht. Gemeint sind der (kunst-)pädagogische Diskurs der Kinoreform (›Erziehung‹), der Streit über die sich insbesondere seit dem Aufkommen des Kinos auflösende Grenze zwischen Kunst und Unterhaltung (›Amüsement‹) und schließlich die medizinische, juristische und psychologische Debatte über die befürchteten Folgen der Kinorezeption (›Hygiene‹). Darüber hinaus verdankt sich die im deutschsprachigen Kulturraum ab den späten 1910er und den frühen 1920er Jahren entfaltete Filmtheorie wesentlich diesem metaphorischen Verständnis des Kinos. Dessen Spuren lassen sich ferner in den literarisch-fiktiven Gattungen wie Roman und Novelle beobachten, in denen das Kino nicht selten die Stätte eines mehr oder weniger 4 5

Ebd., S. 13. Ebd.

Einleitung

folgenreichen Erlebnisses der Protagonisten bildet. Filme sowie (auch nicht umgesetzte) Drehbücher setzen diese Metapher schließlich selbstreferenziell in filmische Figuren bzw. Handlungen um. Die Metapher des Kinos als ein Ort der onto- und/oder phylogenetischen Regression sowie von deren Spielarten zirkulieren im frühen 20. Jahrhundert in verschiedenen Diskursen. Daher tragen die Figuren nicht unerheblich dazu bei, das Wissen über das Verhältnis zwischen dem Kino und seinen Zuschauern zu organisieren und dadurch den historisch anthropologischen Stellenwert dieses modernen technischen Mediums auszuloten. Die vorliegende Untersuchung verfolgt diesen interdisziplinären und intermedialen Transfer der auf das Kino bezogenen Metapher des Regressiven in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.

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Das Regressive als Reflexionsmedium

Der Denkfigur des Regressiven wird seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein markant dialektischer Charakter attestiert, da sie zum Ende eines progressiven, fortschrittsgläubigen Säkulums als ein typisch modernes Phänomen erscheint. Als solche findet sich die Figur während des hier einschlägigen Zeitraums in einer sowohl sozial- als auch ideengeschichtlich spannungsgeladenen Lage, die auch den Kinodiskurs nachhaltig prägen sollte. Die einen verstehen das Regressive des Kinos als dringende Aufforderung zu erzieherischen Eingriffen vonseiten der bürgerlichen Intellektuellen. Die wilhelminischen Akademiker machen etwa an den sich seit der Industrialisierung und Urbanisierung formierenden Massen bzw. »Volksmenge[n]«6 regressive Züge wie Suggestibilität, Emotionalität, Bilderdenken oder irrationale Verhaltensformen aus. Insbesondere Gustave Le Bons auch im deutschen Kulturraum einflussreiche Psychologie der Massen (1911; Orig.: Psychologie des foules [1895]) beobachtet das Primitive in Mitten der modernen Erscheinung der Massen. Angesichts dieser regressiven Phänomene greifen viele Gebildete auf Konzepte der seit Mitte des 19. Jahrhunderts entworfenen ›Volksbildung‹ zurück, mittels derer man dem ›Volk‹ die bürgerlichen Kulturgüter sowie Normen ›beibringen‹ will. Auf diese paternalistische – aus heutiger Sicht an ein Rückzugsgefecht erinnernde – Weise suchen sie der Bevölkerung der ›unteren Schichten‹ ihrem eigenen Bildungsideal gemäß zur geistigen Reife zu verhelfen.7 6

7

Duenschmann, Hermann: »Kinematograph und Psychologie der Volksmenge. Eine sozialpolitische Studie« [1912], in: Albert Kümmel/Petra Löffler (Hg.), Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 85-99, hier S. 89 f. – Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. Über die engen Beziehungen zwischen dem Ideal der ›Volksbildung‹ und dem KinoreformDiskurs vor dem Ersten Weltkrieg vgl. unter anderem Schlüpmann, Heide: Die Unheimlichkeit

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Metaphorologie des Kinos

Gerade dieses bildungsbürgerliche Schema einer durch Bildung definierten persönlichen Entwicklung zur Reife wird aber im anhängigen Zeitraum massiv infrage gestellt. Dies hat mit einer Wende im anthropologischen Menschenbild zu tun, die sich unter dem Einfluss der seit dem frühen 19. Jahrhundert fachlich etablierten Biologie und vor allem aufgrund ihrer neuen zytologischen und evolutionstheoretischen Erkenntnisse vollzieht. Durch diesen wissensgeschichtlichen Wandel, der sich als die Naturalisierung bzw. Biologisierung der Anthropologie zusammenfassen lässt, wird der Geist oder die Vernunft aus dem menschlichen ›Wesensgrund‹ zugunsten des Leibes und des Triebes hinauskomplimentiert. Dieser »Achsendrehung im Begriff des Menschen« (Georg Simmel) zufolge sieht die neue Anthropologie ihre Aufgabe darin, den Menschen als ein Naturwesen samt der tierischen Triebnatur – als »homo natura« (Friedrich Nietzsche) – zu rehabilitieren. Diese tiefgreifende Wende bereitet schließlich die anschließende ideengeschichtliche Tendenz hin zur ›Lebensphilosophie‹ vor.8 Sei es als das eigentlich bereits Überwundene oder das noch zu überwindende Rudiment aus dem Vergangenen, sei es als das neue Ziel eines wiedergekehrten – jedoch anders gearteten – ›Zurück zur Natur‹: Das Regressive wird seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert neu entdeckt und lebt in bemerkenswerter Weise auf. Ebenso dialektisch konnotiert, werden auch die Kinematographie und deren Erlebnis als etwas durch Regression Bestimmtes mal vehement angegriffen, mal begeistert willkommen geheißen. Ewers’ Apologie führt den »Genuß der aufgehobenen Kausalität« im Kino aus und hebt dabei gerade die Bilder des Leiblichen (›Essen‹, ›Gebären‹ u.a.) besonders hervor. Im Gegensatz hierzu bedeutet die Feststellung regressiver Momente bei den Kritikern nichts anderes als den Hinweis auf die Verbesserungsbedürftigkeit des Kinos. Walter Turszinskys mit Ewers’ nahezu identisch betitelter Artikel Der »Kientopp«, der 1907 mit an der Wiege der Kinodebatte steht, stellt ein präzises Gegenbeispiel dar. Später sollte Turszinsky vielfach für Filmproduktionen engagiert werden, vorwiegend als Szenarist nicht zuletzt für die beiden erfolgreichen Komödienfilme mit dem jungen Ernst Lubitsch in der Hauptrolle, Die Firma heiratet und Der Stolz der Firma (beide DE 1914, R: Carl Wilhelm). In diesem frühen Kinoaufsatz verfolgt er noch eine zynisch gewendete Pädagogenschelte. Ähnlich wie Ewers zieht er zwar Bilder des Regressiven heran, um aber anders als dieser mit Blick auf die »Bedürfnisanstalt« gerade seine kulturpessimistische Einstellung »[i]n Sachen der Bildung« zu unterstreichen. Die

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des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos, Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1990, insbes. S. 8-23 sowie 193-204. Zur anthropologischen Wende, die im 19. Jahrhundert das Verständnis des Menschen auf die affektiv-triebhafte »Naturseite des Menschen als den ›Wesensgrund‹ seines Daseins« hin umkehrt, vgl. Riedel, Wolfgang: Homo Natura. Literarische Anthropologie um 1900 [1996], Studienausgabe, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, hier S. 51 (Herv. im Orig.).

Einleitung

Verwendung der Metaphorik – des räumlich vertikalen Schemas (oben/unten) sowie der Wassermetapher – fällt auch bei Turszinsky auf. So erhebe diese Anstalt »ihre Kundschaft nicht auf den goldnen Stuhl besserer Neigungen«, sondern belasse »sie im schwarzen Pfuhl ihres ästhetischen Indifferentismus«, wo sich »[d]er Durchschnittsverstand« »zu Hause«9 fühle. Unabhängig von der jeweiligen Einschätzung dieses massenmedialen Phänomens kreist die Kinodebatte von vornherein um das metaphorische Motiv des Regressiven. Die Einstellung zum Kino ist mithin davon abhängig, wie man sich zu den regressiven Zügen der Zeit, d.h. der Kultur, der Gesellschaft sowie des Menschen in der Moderne verhält. Der Diskurs des Regressiven bietet auf diese Weise ein Reflexionsmedium, mit dem man ein eigenes Bild bzw. Wissen des Kinos zu erarbeiten vermag.

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Filmrezeption – jenseits der ekphrastischen Spiegelung

Wie in der Forschung bereits mehrfach konstatiert wurde, scheinen Literatur und Film medienhistorisch stets in einer intermedialen Wechselbeziehung zu stehen. Unter dem Eindruck des aufkommenden Films arbeiten etwa manche experimentierfreudigen Schriftsteller (vor allem Epiker und Romanciers) des frühen 20. Jahrhunderts an einem andersartigen Schreibstil, der vor allem durch einen kinoähnlichen Einsatz der Montagetechnik gekennzeichnet ist. Der Film, auf den sich die ›filmische Schreibweise‹ als stilistischen bzw. methodischen Referenzpunkt stützt, beruft sich aber seinerseits auf die Literatur, vor allem auf die Erzählung und den Roman des 19. Jahrhunderts. So entwickelt David Wark Griffith, der »die Grundformen der narrativen Syntax des kontinuierlich erzählenden Films, die alternierende und die Parallelmontage, zur Perfektion gebracht hat«10 , gerade diese Montagetechnik erklärtermaßen in Anlehnung an den europäischen realistischen Roman, vor allem an Charles Dickens. Diese »Literarisierung des Films«11 , die Joachim Paech zufolge »seit etwa 1908«12 vonstattengeht, bewegt sich aber beinahe in einem Zirkelschluss, wenn wiederum »das literarische Erzählen in den realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts als Vorläufer oder Vorform für das filmische Erzählen des 20. Jahrhunderts zu verstehen«13 sein soll. Unter diesem Gesichtspunkt ähneln Literatur und Film zwei sich gegenüberstehenden Spiegeln, die jeweils den anderen – und zugleich sich selbst – unendlich reflektieren. Sie verstehen sich demzufolge gleichermaßen als Medien einer Narration, die ebenso gut literarisch wie filmisch vollzogen werden könnte. 9 10 11 12 13

T., W. [= Turszinsky, Walter]: »Der ›Kientopp‹«, in: Die Schaubühne 3 (1907), S. 183 f., hier S. 183. Paech, Joachim: Literatur und Film, 2., überarb. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler 1997, S. 34. Ebd., S. 24 f. Ebd., S. 44. Ebd., S. 50.

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Metaphorologie des Kinos

Dieses Bild einer stabilen, aber gerade deswegen hoffnungslos geschlossenen Beziehung zwischen Literatur und Film lässt an die ekphrastische Gleichsetzung von Wort und Bild sowie an Horaz’ Formel ›ut pictura poesis‹14 denken. Diese Vorstellung erweist sich jedoch vonseiten des Films unter anderem dann als Täuschung, wenn die »›vorliterarische‹ Phase«15 des filmischen Mediums berücksichtigt wird. In der Frühzeit des Films bedeutet das Erzählen noch kein konstitutives Element dieses Mediums.16 Dies gilt jedoch nicht nur für das ›Kino der Attraktionen‹,17 d.h. für den Film vor seiner ›Literarisierung‹ um 1908/09, als das Medium sein Vorbild gerade nicht in der Literatur, sondern vorwiegend im Varieté ausmacht. Auch nach dieser Wende zum Narrativen stellt das Kino noch für Jahre einen besonderen Ort dar, in dem den Filmzuschauern ein außergewöhnliches Erlebnis zuteilwird. In dieser Zeit kommt es nicht nur auf den narrativen Inhalt einzelner Filme an, sondern vielmehr auf das Filmerlebnis selbst, das per se als ein Überschuss an Wahrnehmung hervortritt und auf die narrative Mitteilung unter Umständen sogar störend wirkt. Die Beobachtungen der Rezipienten zu dieser kognitiven Redundanz bleiben für den intermedialen Zusammenhang von Literatur und Film zwar vorübergehend belanglos. Ist das Filmerlebnis selbst doch mit dem Inhalt des narrativ Dargebotenen nicht vollständig vereinbar und bleibt gegebenenfalls als unerwünschter Rest übrig, der den direkten Zugang zum Sujet verstellen kann. Es scheint zudem nicht

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Zur Tradition der Ekphrasis vgl. Boehm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München: Fink 1995 sowie Brassat, Wolfgang: Art. »Malerei«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5: L-Musi, Tübingen: Niemeyer 2001, Sp. 740-842, insbes. Sp. 742-748. Kaes, Anton: »Einführung«, in: Ders. (Hg.), Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929, München/Tübingen: dtv/Niemeyer 1978, S. 1-36, hier S. 2. Kaes versteht unter dieser Bezeichnung den Zeitabschnitt »von 1895 bis etwa 1909« und schließt diesen aus seiner begriffsstiftenden Anthologie aus. Diese Periodisierung wird allerdings in seiner jüngeren großangelegten Textsammlung revidiert, die er mit anderen Filmwissenschaftlern herausgibt. Vgl. dens./Baer, Nicholas/Cowan, Michael (Hg.): The Promise of Cinema. German Film Theory 1907-1933, Oakland: University of California Press 2016. Zu Recht hebt Irina Rajewsky deshalb die Relevanz des »Kriterium[s] der Historizität« bei der Intermedialitätsforschung hervor; es müsse immer auch »das Filmverständnis einer bestimmten Zeit bzw. eines bestimmten Autors« ermittelt werden, vgl. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2002, hier S. 88, Anm. 15. Vgl. Gunning, Tom: »The Cinema of Attractions. Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde« [1986], in: Thomas Elsaesser/Adam Barker (Hg.), Early Cinema. Space – Frame – Narrative, London: British Film Institute 1990, S. 56-62. Es zählt zu den Verdiensten der intensiven Erforschung zum frühen Kino seit den späten 1970er Jahren, dass man nun jedes Mal überprüfen muss, was und welche konkreten Merkmale unter den Termini ›Film/filmisch‹ bzw. ›Kino/kinematographisch‹ im jeweiligen Kontext zu verstehen sind. Die Bezeichnung ›filmische Schreibweise‹ etwa besagt ohne diese medienhistorische Reflexion nichts.

Einleitung

mehr als ein ephemeres Erlebnis zu sein, das trotz seiner auffallenden Sensation in der Regel keine dauerhafte Spur hinterlässt. Ungeachtet dieser gestaffelten Hürde, das vor der Leinwand Erlebte im Kontext einer intermedialen Fragestellung von Literatur und Film ernst zu nehmen, sind im Vorführraum des Films jedoch bereits auch die Schriftsteller zugegen, die – anders als die »Normalverbraucher«18  – ihre Beobachtung nicht zuletzt über die Alterität oder das qualitative Anderssein des Filmerlebnisses in den sprachlichen und literarischen Ausdruck zu übertragen versuchen. So bieten ihre Texte eine Grundlage für Überlegungen, die das intermediale Verhältnis von Literatur und Film nicht primär als die oben geschilderte geschlossene (Selbst-)Spiegelung des Narrativen konzipieren. Die Denkfiguren, welche die Schriftsteller in ihren Schilderungen der Filmrezeption einsetzen, tauchen in ihren literarischen Werken – nicht nur der Essayistik, sondern auch den epischen Gattungen wie Roman, Erzählung usw. – als kinobezügliche Motive auf. Dabei gewähren sie Einblicke in die anthropologischen, kulturtheoretischen oder gesellschafts- bzw. medienkritischen Einschätzungen des Mediums durch die Autoren. Darüber hinaus kommen diese Figuren in den Drehbüchern und den Filmen als diegetische und/oder bildliche Motive zum Vorschein, um gleichsam auf einem Umweg den intermedialen wie selbstreflexiven Zirkel zu schließen. Auf diese Weise kann sich – wie in der vorliegenden Untersuchung angenommen wird – eine Möglichkeit eröffnen, der Literatur-Film-Beziehung jenseits der narrativ-inhaltlichen Spiegelung näherzukommen.19

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Rhetorische Aneignung des medialen Fremdkörpers

Während sich das technische Zustandekommen der Kinematographie nicht auf einen einmaligen historischen Punkt festlegen lässt, bedeutet das erste Kinoerlebnis für die frühen Zuschauer gleichwohl ein einzigartiges Ereignis. Medien- wie technikgeschichtlich lässt sich zwar mehrfach überzeugend nachweisen, dass es vor und neben der Erfindung der Gebrüder Lumière mehrere Versuche zu vergleichbaren Apparaturen gab, die ermöglichen sollen, visuelle Eindrücke beweglicher photographischer Bilder herzustellen. Als deutsches Beispiel sei nur auf das Bioskop der Gebrüder Skladanowsky verwiesen, das abgesehen vom Einsatz des 18 19

Vgl. Güttinger, Fritz: Der Stummfilm im Zitat der Zeit, Frankfurt am Main: Deutsches Filmmuseum Frankfurt 1984, S. 19-22. Die tiefreichende Fragestellung nach der intermedialen (Inter-)Relation zwischen Literatur und Film, die über das narrative Verfahren bei weitem hinausreicht, zeichnet Stefan KepplerTasakis Arbeiten aus. Unter anderem ist hier der folgende Beitrag hervorzuheben, der in medientheoretischer Hinsicht die vorliegende Studie in ihrer Anfangsphase wesentlich inspiriert hat: Keppler(-Tasaki), Stefan: »Prolog zum Vampir. Paradoxierung und mediale Selbstreflexion in Literatur und Film«, in: Ders./Michael Will (Hg.), Der Vampirfilm. Klassiker des Genres in Einzelinterpretationen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 7-28.

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Metaphorologie des Kinos

Doppelprojektors und der Rückprojektion über das mit dem Cinématographe nahezu deckungsgleiche dispositive Setting verfügt und aufführungsgeschichtlich diesem sogar um ein paar Monate vorausgeht. Die auf die rechteckige Leinwand durch elektrisches Licht projizierten beweglichen photographischen Bilder konfrontieren die ersten Kinozuschauer aber mit neuartigen Sinneseindrücken. Deren sinnlichkognitive Komplexität reicht so weit, dass sie weder durch Kenntnisse über die technisch-apparative Konstruiertheit der Bilder noch mittels der herkömmlichen ästhetischen Begrifflichkeiten ausreichend reduzierbar scheint. Die rhetorischen Figuren und Metaphern, die in den frühen Texten über das Kino vielfach zu finden sind, dienen vor allem dem Zweck, den Fremdkörper des Kinos gedanklich vorstellbar und sprachlich kommunizierbar zu formatieren. Infolge dieses diskursiven Prozesses wird das neue technische Medium in kulturelle Kontexte eingebettet. Die vielfältigen rhetorischen Figuren, denen man in den frühen Texten hinsichtlich des neuen Mediums und dessen Erlebnis immer wieder begegnet, lassen sich in erster Linie aus diesem kognitiven und sensorischen Überschuss erklären, den das Kino in seiner Anfangszeit den Zuschauern bietet. Jörg Schweinitz meint, dass es sich beim Kinodiskurs insbesondere vor dem Ersten Weltkrieg um den »Prototyp« für »[v]iele der Argumente« handelt, die bei jeder neuen »einschneidende[n] mediale[n] Innovation«20 ausgetauscht werden. Aufgrund der scheinbar ähnlichen Struktur dieser Mediendiskussionen wird häufig eine historische Vergleichbarkeit unterstellt, die in der Tat einige medienwissenschaftlich komparative Untersuchungen veranlasst hat. Dem Kinodiskurs wird dabei aber nicht immer die von Schweinitz attestierte Rolle eines »Prototyps« zugesprochen. In diesem Zusammenhang sei die Pionierarbeit der Forschergruppe um Albert Kümmel angeführt. In einem breitgefächerten Aufsatz geht sie den Mediendiskursen der Etablierungsphase der jeweiligen ›neuen‹ Medien vom Buchdruck über die Zeitung, den Film und das Radio hin zu dem Hypertext und Internet21 vergleichend nach.22 Die Autoren gehen von der »Idee des ›Medienbruchs‹ als wech20 21

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Schweinitz, Jörg: »Vorwort«, in: Ders. (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, Leipzig: Reclam 1992, S. 5-12, hier S. 5. Kümmel, Albert et al.: »Rhetorik des Neuen. Mediendiskurse zwischen Buchdruck, Zeitung, Film, Radio, Hypertext und Internet«, in: Jürgen Fohrmann/Erhard Schüttpelz (Hg.), Die Kommunikation der Medien, Tübingen: Niemeyer 2004, S. 177-274. – Zum Fall des Operndiskurses mit Hinweis auf Analogien zur Kinodebatte vgl. Keppler-Tasaki, Stefan: »Opern-Debatte. Zum Verhältnis von Literatur und Libretto bei Wagner und seinen Zeitgenossen bis 1848«, in: Ders./Wolf Gerhard Schmidt (Hg.), Zwischen Gattungsdisziplin und Gesamtkunstwerk. Literarische Intermedialität 1815-1848, Berlin/München/Boston: de Gruyter 2015, S. 505-534, hier insbes. S. 521. Diese Reihe der neuen Medien lässt merkwürdigerweise die Photographie vermissen, ein Defizit, das durch Bernd Stieglers Sammlung der photobezogenen Metaphern ausgeglichen wird. Vgl. Stiegler, Bernd: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.

Einleitung

selseitige[m] Bezug von Medien auf Medien«23 oder von Prozessen der remediation (Bolter/Grusin) aus. Ihnen zufolge sollen diese Vorgänge »nie nur apparativ-technologische Konstellationen bestimmen, sondern immer auch die Diskurse über die Medien, ihre Rhetoriken und ihre Metaphern«. Gemäß dieser Fragestellung nach den »historischen Diskursformationen« durch eine »›Rhetorik des Neuen‹«24 stellen sie sechs Kategorien auf, anhand derer sie die jeweiligen Mediendiskussionen und insbesondere ihre Rhetoriken diskurstypologisch miteinander zu vergleichen suchen. Die zentrale Stellung, die von den Autoren der Rhetorik und Metaphorik zugewiesen wird, verleiht ihrer Untersuchung zwar eine besondere Relevanz in der einschlägigen Forschung über die Mediendiskurse und hier speziell über den Kinodiskurs. Heinz-Bernd Hellers bahnbrechende Untersuchung Literarische Intelligenz und Film,25 die sich nicht nur mit dem literarischen, sondern auch mit dem kulturpolitischen Diskurs befasst, weist bereits auf manch typische Metaphern in der Kinodiskussion der Jahre von 1910 bis 1930 hin. Desgleichen macht Sabine Hake in ihren grundlegenden Arbeiten wie The Cinema’s Third Machine26 oder Film in Deutschland27 auf den affektgeladenen Metaphernreichtum im Kinoreform-Diskurs aufmerksam. Trotz dieser wegweisenden Leistungen bleiben Bemerkungen dieser Art jedoch sporadisch und werden über eine im Grunde ideologiekritische Analyse des Kinodiskurses kaum hinausgeführt. Ungeachtet ihrer bemerkenswerten Einsicht in die diskursorganisierende Rolle der Rhetorik und Metaphorik lässt das Forschungsdesign von Kümmel et al. jedoch zwei Fragestellungen vermissen, von denen die vorliegende Untersuchung besonders geleitet wird. Zum einen bleibt der Themenkreis auf den fachspezifischen Mediendiskurs beschränkt und spart Bezugnahmen auf andere Diskurse aus. Diese Einschränkung mag mit Blick auf den epochenübergreifend komparativen Ansatz gerechtfertigt erscheinen. Durch die Strategien der »Komplexitätsreduktion«28 soll eine diachrone diskurstypologische Analyse überhaupt erst zu bewerkstelligen sein. Gleichwohl soll der Tendenz zur Destillation der überzeitlich konstanten »Rhetorik des Neuen«29 sowie den an einen Zirkelschluss angrenzen23 24 25 26 27 28 29

Fohrmann, Jürgen: »Einleitung«, in: Ders./Schüttpelz, Die Kommunikation (wie Anm. 21), S. 1-3, hier S. 2. Kümmel et al.: »Rhetorik« (wie Anm. 21), S. 178. Heller, Heinz-Bernd: Literarische Intelligenz und Film. Zu Veränderungen der ästhetischen Theorie und Praxis unter dem Eindruck des Films 1910-1930 in Deutschland, Tübingen: Niemeyer 1985. Hake, Sabine: The Cinema’s Third Machine. Writings on Film in Germany 1907-1933, Lincoln/London: University of Nebraska Press 1993. Hake, Sabine: Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895, übers. von Roger Thiel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004. Kümmel et al.: »Rhetorik« (wie Anm. 21), S. 181. Erkki Huhtamos Ansatz einer Medienarchäologie, der seinen methodischen Schwerpunkt auch auf die Rhetorik, diesmal den Topos, legt, erweist sich hier ebenfalls als relevant; vgl.

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den Vergleichskategorien im Folgenden entgegengearbeitet werden. Es ist außerdem denkbar, dass diese Herangehensweise Einblicke in die jeweilige synchrone Diskursanordnung verstellen kann, an welcher der jeweilige Mediendiskurs partizipiert und in der er in wechselseitigen Beziehungen zu anderen Diskursen steht. Wie unten ausgeführt wird, verhelfen die interdisziplinären Bezüge fallweise zu möglichen Antworten auf die folgenden Fragen, die im Rahmen des Ansatzes von Kümmel et al. weder gestellt noch zugelassen werden: Welchen Quellen eine bestimmte metaphorische Figur entstammt; zu welchen Zielen sie eingesetzt wird und welcher kulturelle bzw. gesellschaftliche Stellenwert ihr in einem bestimmten Zeitraum zukommt. Ferner kommt bei der Fragestellung von Kümmel et al. die Problematik des intermedialen und selbstreflexiven Transfers mittels Rhetorik und Metaphorik nicht in Sicht. Die Autoren wollen zwar einen »›überdeterminierenden Charakter‹« »im Sinne einer geschlossenen Medientheorie«30 abweisen. Ihnen zufolge soll dieser Theorieansatz davon ausgehen, dass die Medien die »Prozesse gesellschaftlichen Wandels maßgeblich« beeinflussen.31 Ungeachtet dieser Abgrenzung handelt es sich für sie jedoch bei den rhetorischen Formationen des Mediendiskurses immer um die »Effekte des Neuen«32 oder um die »rhetorische Reaktion« auf das »Ereignis« der technischen Erfindung des jeweils neuen Mediums. Wegen dieser methodischen Entscheidung für »Ereignisgeschichte«, d.h. indem an der Reihenfolge »Ereignis, Rhetorik, Diskurs«33 festgehalten wird, kommt der intermediale Prozess einer Rückkopplung und Selbstreflexion durch Rhetorik und Diskurs hindurch nicht ansatzweise zum Tragen. Gerade dieser Fragestellung aber soll die vorliegende Untersuchung anhand von Analysen exemplarischer Fälle der Filmproduktion und des Drehbuchs nachgehen, wie die in den Kinodiskussionen eingesetzten

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Huhtamo, Erkki: »Dismantling the Fairy Engine. Media Archaeology as Topos Study«, in: Ders./Jussi Parikka (Hg.), Media Archaeology. Approaches, Applications, and Implications, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 2011, S. 27-47. Huhtamo operiert hier mit dem Begriff des ›Topos‹ und signalisiert somit zwar sein Interesse an den historischen bis anthropologischen Konstanten im Mediendiskurs. Da ihm eine blinde Verehrung der Toposforschung à la Ernst Robert Curtius kontraproduktiv erscheint, soll der medienarchäologische Gebrauch dieses Terminus jedoch von dem des Romanisten bewusst abweichen (ebd., S. 34). Die vielversprechende methodische Entscheidung für die ›Medienarchäologie als Toposforschung‹ wirkt allerdings gerade mit Blick auf die hier unterstellte geschichtliche Veränderlichkeit der Topoi bisweilen fragwürdig. Kümmel et al.: »Rhetorik« (wie Anm. 21), S. 177. Die Autoren zitieren hier aus: Fohrmann, Jürgen: »Der Unterschied der Medien«, in: Ders./Schüttpelz, Die Kommunikation (wie Anm. 21), S. 5-19, hier S. 5. Fohrmann: »Der Unterschied« (wie Anm. 30), S. 11. Kümmel et al.:»Rhetorik« (wie Anm. 21), S. 180. Ebd., S. 177 (Herv. im Orig.).

Einleitung

metaphorischen Figuren bildlich bzw. thematisch umgesetzt werden. Hier soll unter anderem deutlich werden, dass das filmische Medium durch gesellschaftliche und kulturelle Prozesse gesteuert werden kann und der Kinodiskurs kraft seiner rhetorischen Figuren – tendenziell – mediale Ereignisse zu inszenieren vermag.

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Metaphorologie als Methode

In der anhängigen Arbeit wird versucht, den Kinodiskurs der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts aus einer metaphorologischen Perspektive zu beleuchten. Die bisherige Forschungsliteratur tendiert angesichts der außergewöhnlichen Materialfülle des einschlägigen Textkorpus zu einer oft unübersichtlichen Breite. Hier nur ein – allerdings brillantes – Beispiel aus den jüngeren Diskussionsbeiträgen: Daniel Hermsdorfs Filmbild und Körperwelt ist ein medienwissenschaftlicher und diskursanalytischer Versuch, die Filmtheorie der 1920er Jahre unter anderem mit der ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert aufkommenden Einfühlungsästhetik wissenschaftshistorisch in Verbindung zu bringen.34 Damit weist diese Arbeit auch für die hier zu verfolgende Fragestellung eine erhebliche Relevanz auf. Sie bildet jedoch mit ihren 723 Seiten zuzüglich des Literaturverzeichnisses leider keine Ausnahme von den auf diesem Forschungsfeld üblichen Materialschlachten. Die vorliegende Studie beansprucht insofern einen Innovationsschub, als sie die facetten- und umfangreiche Textgrundlage unter dem Aspekt der Metaphernanalyse in einen systematischen Überblick zu überführen sucht. Die Thematisierung des Metapherngebrauches im frühen Kinodiskurs resultiert jedoch nicht nur aus einem Kalkül des methodischen Nutzens oder gar der Arbeitsökonomie. Sie rührt vielmehr von der fachlichen Ausrichtung dieser Studie her. Als ein literaturhistorisches und literaturwissenschaftliches Unternehmen nimmt die vorliegende Arbeit die historischen kinobezüglichen Dokumente in erster Linie als Texte bzw. ›Literatur‹ ernst. Die interdisziplinäre Zirkulation der Denkfiguren à la ›Poetik der Kultur‹ kommt hier zwar ebenfalls stark in Betracht. Die Perspektive beschränkt sich jedoch vorwiegend auf die dezidiert rhetorischen Figuren und vor allem auf die Metapher. Dies geschieht hier aus prinzipiellen Überlegungen, wonach es sich bei der Metapher um eine Figur mit einer doppelten und widersprüchlichen Botschaft handelt. Die Metaphorologie im Sinne von Hans Blumenberg bildet eine geeignete Folie, um die methodische Herangehensweise der folgenden Untersuchung näher zu bestimmen. Denn die beiden Ansätze weisen signifikante Berührungspunkte auf, obwohl der hier Gewählte in einem wesentlichen metaphorologischen Aspekt von

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Hermsdorf, Daniel: Filmbild und Körperwelt. Anthropomorphismus in Naturphilosophie, Ästhetik und Medientheorie der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011.

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Metaphorologie des Kinos

Blumenberg abweicht. Vor allem mit Blick auf die anthropologisch fundierte Genese und Funktion der Metapher teilen die beiden Sichtweisen eine gemeinsame Voraussetzung. In einem Versuch, »den methodisch harten Kern der metaphorologischen Problematik«35 herauszuschälen, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (1971), macht Blumenberg in der Metapher einen »Umweg« aus. Das menschliche Wesen, dem es »an spezifischen Dispositionen zu reaktivem Verhalten gegenüber der Wirklichkeit« mangele, sei – so Blumenberg – mittels dieses »metaphorische[n] Umweg[s]« doch in der Lage, sich »nicht unmittelbar mit dieser Wirklichkeit« einzulassen. »Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ›metaphorisch‹«36 . Die nachfolgende Studie geht ebenfalls von der anthropologischen Fundierung der Rhetorik und speziell der Metapher als einer epistemischen Strategie aus, auf die der Mensch als ein Mängelwesen angewiesen ist. Nur dass es sich hier nicht primär um »die ihm [dem menschlichen Dasein] genuin tödliche Wirklichkeit« handelt, sondern um die technisch-perzeptive Modernität als einen dem Menschen unbekannten, daher gelegentlich bedrohlichen Fremdkörper. Angesichts der Präsenz jeder neu aufkommenden Medienmaschine muss man sich unweigerlich als ein ›Mängelwesen‹ verhalten, das aufgrund seiner »Indisposition« »überfordert« oder »in Situationen des Handlungszwanges« getrieben wird, »in denen rasche Orientierung und drastische Plausibilität vonnöten sind«37 . Das Kino als eine neue technische Erscheinung konfrontiert den Menschen mit einem kognitiven Überschuss, dessen Komplexität er anhand des sprachlich-bildlichen Deutungsmusters zu bewältigen sucht. Um ein weiteres Beispiel für die anthropologische Auffassung der Metapher aus der Forschung zur literarischen Moderne anzuführen: Klaus R. Scherpe setzt sich mit dem vergleichbaren Fall eines »Vorgang[s] der sprachlich-rhetorischen Reformulierung«38 auseinander, wenn er in einem Aufsatz die metaphorischen Bilder analysiert, die in der Literatur der Moderne »zur Bewältigung von Großstadtkomplexität«39 eingesetzt werden.40 So stellt Scherpe bei seiner in 35 36

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Haverkamp, Anselm: »Kommentar«, in: Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, hg. von dems., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013, S. 191-514, hier S. 205. Blumenberg, Hans: »Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik«, in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam 1981, S. 104-136, hier S. 115 f. Ebd. Scherpe, Klaus R.: »Bilder und Mythen zur Bewältigung von Großstadtkomplexität in der Literatur der Moderne«, in: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 41 (1991), S. 80-87, hier S. 81 (Herv. im Orig.). Ebd., S. 84. Außerdem ist es hierbei symptomatisch, dass Scherpe im »Bildraum der Moderne« einen »überdeutlich[en]« regressiven Zug registriert: »Erstaunlich, aber durchaus erklärbar ist nun, daß diese metaphorische Metarede, wie es scheint, ganz den Großstadtmythen vormoderner Zeiten verhaftet bleibt. Es wächst das Bedürfnis, die in der Vielfalt der Erscheinungswelt der

Einleitung

Anlehnung an die Systemtheorie durchgeführten Untersuchung heraus, dass das »Schatzhaus oder Archiv der Metaphorologie«41 auch in der Moderne nach wie vor seine Geltung behält. Wie Blumenbergs Metaphorologie, die ursprünglich der Begriffsgeschichte entspringt, geht die vorliegende Untersuchung auch dem historiographischen Interesse an der Metapher nach. Allerdings unterscheidet sich der hier gewählte Ansatz von dem Blumenbergs entscheidend in Bezug auf die Länge der zu behandelnden Zeiträume. Bei Blumenberg geht es einerseits um den »historische[n] Wandel einer Metapher«42 von der Antike bis hin zur unmittelbaren Gegenwart, also um eine »sich durchhaltende philosophische Problemkonstellation, die historisch variierende Lösungen«43 erfahren soll. Demgegenüber befasst sich die hier vorzunehmende historische Metaphernanalyse des Kinos mit der ungleich kürzeren Zeitspanne der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Sie dient damit weniger einem Längs-, sondern eher einem Querschnitt der Metapherngeschichte. Innerhalb dieses relativ eng abgesteckten Zeitraumes spielen sich jedoch ebenfalls semantische Verschiebungen ab, die eine mikrologische Nachforschung erfordern. Trotz der vergleichbaren Beobachtungsweise greift die vorliegende Untersuchung die Metapher aus einem anderen Blickwinkel auf als Blumenbergs Metaphorologie. Dieser Unterschied betrifft in zweierlei Hinsicht – gleichsam: inhaltlich und formal – die ›absoluten Metaphern‹, auf die Blumenbergs Interesse vorwiegend gerichtet ist. Laut seiner Definition dienen diese zum einen dazu, »jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen«44  – wie die nach der »Wahrheit«45 als solcher oder nach dem »als Gegenständlichkeit unerreichbare[n] Ganze[n]« der »Welt«46  – durch die übertragene bildliche Sprache dennoch zu »›beantworten‹«47 . Im Gegensatz zu diesen grundlegenden »großen Metaphern«48 entstammt der Bildempfänger bei den nachfolgend zu untersuchenden metaphorischen Reden durchgehend dem kinobezogenen Bildfeld. So nehmen einerseits der

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modernen Großstadt angelegte semantische Komplexität der Bilder zurückzuverwandeln in einfache Essenzen« (ebd., S. 82). Ebd., S. 81. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 13. Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg im Breisgau: Rombach 2005, S. 14. Blumenberg: Paradigmen (wie Anm. 42), S. 23. Ebd., S. 15. Ebd., S. 25. Ebd., S. 23. Weinrich, Harald: [Rezension zu:] »Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. (Sonderdruck aus ›Archiv für Begriffsgeschichte‹, Band 6.) Bonn, Bouvier 1960. 8° 147 S.«, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 219 (1967), S. 170-174, hier S. 171.

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Film sowie dessen bewegte Bilder auf der Leinwand als Objekt der Wahrnehmung oft eine bildempfangende Rolle ein. Als ein Bildempfänger kann alternativ das Kino als der zeitlich-räumliche Kontext (das ›Dispositiv‹) eines Filmerlebnisses dienen, das den Zuschauer bzw. das beschreibende schriftstellerische Subjekt selbst einschließt.49 Ungeachtet dieses offensichtlichen semantischen Unterschiedes lassen sich die jeweiligen Bildempfänger zumindest unter dem folgenden Aspekt auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Der bildempfangende Bereich der hier einschlägigen Metaphern rekurriert zwar nicht auf »das nie erfahrbare […] Ganze der Realität« wie bei den blumenbergschen ›absoluten Metaphern‹. Genauso wie diese »repräsentieren« jene jedoch auf ihre Weise einen gleichfalls nur schwer überschaubaren Sachverhalt. Zumal es sich weitgehend um einen selbstreflexiven Bezug auf das Ganze des Filmerlebens handelt. Es ist neben dem oben besprochenen kognitiven Überschuss unter anderem diese im Grunde »nie übersehbare«50 Selbstbezüglichkeit des Beschreibens, die den verstärkten Einsatz der Metaphernformen »›provoziert‹«51 . Insbesondere das formale bzw. linguistische Verständnis der (absoluten) Metapher trennt die vorliegende Studie von Blumenbergs metaphorologischem Projekt. Der Mitbegründer der Forschungsgruppe ›Poetik und Hermeneutik‹ definiert in seiner Programmschrift Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960) die ›absoluten Metaphern‹ als »›Übertragungen‹, die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen«52 . Aus der im Folgenden vertretenen linguistischen Perspektive lässt sich die Metapher dagegen als eine widersprüchliche Aussage oder Prädikation bestimmen, welche ihre Geltung und Nichtgeltung im selben Atem artikuliert. Insofern ist der lakonischen Feststellung in Harald Weinrichs Rezension zu den Paradigmen zuzustimmen, »daß alle Metaphern absolute Metaphern sind«, weil »sich überhaupt keine Metapher überzeugend in einen Begriff übersetzen läßt«53 . Diese Metaphernauffassung führt unausweichlich zu der Folgerung, dass jede Metapher als Metapher, d.h. als eine übertragene Rede nicht »ins Eigentliche […] zurück[zu]holen« ist. Sonst müsste der Metapher als ›Exmetapher‹ die doppelte, weil übertragene Bedeutung unweigerlich abhandenkommen.

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Dies bedeutet gleichzeitig den Ausschluss des Kinos als Bildspender aus dem eigentlichen Themenkreis der vorliegenden Studie. An einer Stelle in seinen Höhlenausgängen berührt Hans Blumenberg (Höhlenausgänge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 684) zwar flüchtig die Figur des Kinos, jedoch vermittelt gleichsam als einen Bildspender zweiter Ordnung. So stellt die »Kinohöhle« nur noch eine analogische Zeitgenossin für die hier thematische »Metaphorik der ›Projektionsmechanismen‹« in der Psychoanalyse dar. Blumenberg: Paradigmen (wie Anm. 42), S. 25. Ebd., S. 15. Ebd., S. 10. Weinrich: [Rezension zu:] »Hans Blumenberg, Paradigmen« (wie Anm. 48), S. 174.

Einleitung

Die auf den ersten Blick tautologisch anmutende Definition der ›absoluten Metapher‹ ergibt sich gerade aus Blumenbergs Verständnis für den nicht nur semantischen, sondern hochgradig pragmatischen Charakter der Metapher. Nach dieser Auffassung kann eine Aussage je nach der kommunikativen Situation entweder metaphorisch oder wörtlich verstanden werden. Demzufolge geht nicht nur eine Metapher als Exmetapher in die terminologische Sphäre über, indem sie im Gebrauch ihre übertragene Bedeutung scheinbar verliert. Desgleichen kann auch ein Urteil, das ursprünglich als eine wörtliche und eindeutige Bemerkung gemeint sein soll, unter einem veränderten begriffshistorischen Kontext als übertragen und metaphorisch ausgelegt werden. So erweist sich, mit Blumenberg, die »Metaphysik« nach ihrem »Schwund« »oft als beim Wort genommene Metaphorik«54 . Diese Reflexion über eine nachträgliche Metaphorizität ermöglicht Blumenberg unter anderem ein »›implikatives Modell‹«, mit dem er eine »Hintergrundmetaphorik«55 zur Diskussion stellt. Dies soll etwa den Fall betreffen, dass »Metaphern […] zwar gar nicht in der sprachlichen Ausdruckssphäre in Erscheinung« treten und dennoch durch einen bestimmten »Zusammenhang von Aussagen« die »metaphorische Leitvorstellung«56 aus dem Hintergrund abgeleitet werden kann. Dieser begriffs- und vor allem wissenschaftshistorisch folgenreichen Betrachtungsweise einer philosophischen Metaphorologie, die »den bildhaften Bodensatz am Grund der Theorie oder des Wissens aufscheinen«57 lässt, steht die vorliegende Studie insgesamt fern.58 Stattdessen wird hier durchgängig von der Metapher als einer Botschaft ausgegangen, die von vornherein als eine widersprüchliche bzw. doppeldeutige rhetorische Figur aufgestellt ist. Diese Entscheidung, die sich besonders aus der linguistischen Metaphernforschung speist, lässt sich nicht zuletzt aufgrund des Materialreichtums der explizit metaphorischen Beschreibung des Kinos methodisch sinnvoll umsetzen. Hinzu kommt der hier zu behandelnde Zeitabschnitt, der so begrenzt ist, dass er im Vergleich zu Blumenbergs metaphorologischen Darlegungen einer longue durée so gut wie synchronisch erscheint. Gegenüber den betreffenden zwei bis drei Jahrzehnten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist es durchaus praktikabel, die absichtlich metaphorischen Formulierungen von den nur nachträglich als übertragen erscheinenden Fällen zu unterscheiden. Die linguistische und gleichzeitig psychologische Metapherntheorie, die gerade zu einem für den frühen Kinodiskurs entscheidenden Zeitpunkt aufkommt, bietet der vorliegenden Studie ihre methodische Basis. Auf dieser Grundlage ist

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Blumenberg: Paradigmen (wie Anm. 42), S. 193. Ebd., S. 91. Ebd., S. 20. Müller-Tamm: Abstraktion (wie Anm. 43), S. 12. Mit der Ausnahme, dass vor allem in Kapitel 3 von der terminologischen Aneignung der Regressionsmetapher durch die spätere Apparatustheorie die Rede sein wird.

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Metaphorologie des Kinos

es nicht zuletzt möglich, die Frage zu beantworten, aus welchem Anlass die metaphorische Rede bei der Beschreibung eines Filmerlebnisses bevorzugt eingesetzt wird. In der Anfangszeit des Kinos wird die Rezeption des Films regelmäßig als ein Erlebnis vorgestellt, das einen in sich widersprüchlichen Charakter besitzt. Diese Eigenschaft des Doppelbödigen lässt sich in der Metapher, wie sie in der linguistischen Metapherntheorie ausgelegt wird, ebenfalls ausmachen. Diese strukturelle Vergleichbarkeit ist es, welche die Konjunktur der metaphorischen Sprachbilder im frühen Kinodiskurs zur Folge hat. Die vorliegende Studie stellt insofern einen Versuch der literarischen bzw. »linguistischen Metaphorologie«59 des Kinos dar und nähert sich der bemerkenswerten Wahlverwandtschaft zwischen dem Medium und der Metapher in den Jahren direkt nach dem Aufkommen der Kinematographie an.

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Das Kino und sein Diskurs oder: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

In der vorliegenden Arbeit soll dem Metapherngebrauch im deutschsprachigen literarischen Kinodiskurs der Klassischen Moderne nachgegangen werden. Unter dem Terminus ›Kinodiskurs‹ soll hier zuallererst das verstanden werden, was in Bezug auf die Kinematographie überhaupt geschrieben wurde. Dabei handelt es sich folglich um eine Summe sprachlicher Praktiken zum Thema Kino und Film, die als Texte dokumentiert und überprüfbar sind. Der Begriff ›literarischer Kinodiskurs‹ bezieht sich hier auf die kulturellen Aspekte im Allgemeinen und die literarischen im Besonderen. Demgegenüber sollen die Praktiken der Filmproduktion nur dann berücksichtigt werden, wenn sie zum einen auf das filmische Medium selbst thematisch bzw. motivisch Bezug nehmen oder wenn sie zum anderen mit dem kulturellen Kinodiskurs offensichtlich in Berührung kommen. Wäre ein evidenter Fall der ersteren Art ein medial selbstreflexiver Film, so der letzteren eine Filmproduktion hinsichtlich ihres Drehbuches. Die Geschichte des Films und die des Kinodiskurses verlaufen zugleich parallel und disparat zueinander. Auf der einen Seite ist die Geschichte des Kinodiskurses von der Kino- bzw. Filmgeschichte vor allem deswegen nicht zu trennen, weil Ersterer vorwiegend als Reaktion auf Letzteren organisiert wird. Der Verlauf des Kinodiskurses ist folglich von dem der Filmgeschichte bis zu einem gewissen Grad abhängig. Andererseits aber ist dem Kinodiskurs eine eigene Dynamik zuzusprechen, entwickelt er sich doch als sprachlich kommunikative Praxis mehr oder weniger unabhängig vom Filmischen selbst. Als Bildmedium ist der Film vor der Einführung des Tonfilms weitgehend stumm und entbehrt bis auf die Verwendung des Zwischentitels und des Erklärers der sprachlichen Ausdrucksmittel. Aufgrund der systematischen Divergenz zwischen der medialen Wahrnehmung und der sprachlichen Mitteilung stimmen die Filmgeschichte und die Diskursgeschichte des Ki59

Weinrich: [Rezension zu:] »Hans Blumenberg, Paradigmen« (wie Anm. 48), S. 174.

Einleitung

nos nicht überein und zeigen häufig Abweichungen nach der Art der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹. Bei einer historischen Untersuchung der Frühzeit des Kinos muss dieser Umstand unterschiedlicher Rhythmen sowie die Überschneidung von Medium und Diskurs laufend in Rechnung gestellt werden. Die hier einschlägige Zeitspanne lässt sich in sozial- wie kulturgeschichtlicher Hinsicht in drei Perioden einteilen: 1. Die Wilhelminische Zeit (1890-1914), 2. die Zeit des Ersten Weltkrieges (1914-1918) und 3. die Zeit der Weimarer Republik (19181933), um von feineren Unterteilungen an dieser Stelle nicht zu sprechen. Diese in der relevanten Forschung weitgehend akzeptierte Periodisierung wird auch im Folgenden grundsätzlich aufgenommen. Gleichzeitig ist aber darauf zu achten, dass es sich bei diesen Zeitabschnitten sicherlich nicht um endgültige, diskontinuierliche Einheiten handelt. Gerade im Bereich der Film- und Kinogeschichtsforschung sowie der historischen Analyse des Kinodiskurses ist seit langem eine Tendenz zu beobachten, die epochalen Trennungslinien immer schärfer zu ziehen. Hierbei tritt jeweils eine bestimmte Phase besonders signifikant in Erscheinung, während die anderen in ihren Schatten gestellt werden. Als Musterbeispiel sei nach wie vor an die vielzitierte Passage aus dem ersten Kapitel von Siegfried Kracauers Abhandlung Von Caligari zu Hitler (1958; Orig.: From Caligari to Hitler [1947]) erinnert. Ihm erscheint lediglich der deutsche Film nach dem Ersten Weltkrieg für eine ernsthafte Auseinandersetzung relevant, während dem früheren, so Kracauer, »an sich keine Bedeutung beizumessen«60 sei. Hierbei handelt es sich aber nur um ein klassisches – und in seinem Werturteil ungewöhnlich eindeutiges – Beispiel. Viele nachfolgende Arbeiten beziehen ebenfalls eine methodische Position, von der aus sich einer der drei Zeitabschnitte als bevorzugt untersuchenswert herausstellt. Dabei fällt außerdem auf, dass sich eine beträchtliche Anzahl der film- bzw. kinogeschichtlichen Untersuchungen seit den 1990er Jahren gegen die wirkmächtige kracauersche Bevorzugung des Weimarer Kinos nachdrücklich der ersten Phase des deutschen Films zuwendet, die von ihm als dessen »Vorgeschichte«61 mehr oder weniger deklassiert wird. Dieser Trend lässt sich gerade in Anbetracht der New Film History sowie des Jubiläums der 60

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Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films [1947], hg. von Sabine Biebl, übers. von Ruth Baumgarten und Karsten Witte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012 (= Werke 2.1), S. 25. Allerdings betrifft seine negative Einschätzung speziell den frühen deutschen Film. In seiner Theorie des Films gelten die Anfänge des Mediums bei den beiden Exponenten der »Haupttendenzen«, d.h. einer »realistischen« (Lumière) und einer »formgebenden« (Méliès), als normativ, vgl. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit [1960]. Mit einem Anhang »Marseiller Entwurf« zu einer Theorie des Films, hg. von Inka Mülder-Bach, übers. von Friedrich Walter und Ruth Zollschan, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005 (= Werke 3), S. 68-78. Kracauer: Von Caligari (wie Anm. 60), S. 25.

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Kinematographie im Jahre 1995 nachvollziehen. Verwiesen sei in diesem Kontext unter anderem auf die folgenden, vor allem in der deutschsprachigen Forschung bedeutenden Arbeiten: Heide Schlüpmanns feministisch geprägtes kritischtheoretisches Werk über das frühe deutsche Kinodrama: Die Unheimlichkeit des Blicks,62 Jörg Schweinitz’ interdisziplinäre, i.e. nicht nur die literarischen, sondern auch die volksbildnerisch-kinoreformerischen Texte eingehend berücksichtigende Dokumentation Prolog vor dem Film,63 Corinna Müllers inzwischen maßgebliche, überaus gründliche Historiographie über die Frühe deutsche Kinematographie,64 Helmut H. Diederichs’ materialreiches, formalästhetisch orientiertes »Lebenswerk« zur Frühgeschichte deutscher Filmtheorie,65 Thomas Elsaessers Sammlung seiner ins Deutsche übertragenen filmwissenschaftlichen Aufsätze zum Thema Filmgeschichte und frühes Kino66 und schließlich Klaus Kreimeiers auf die Untersuchungsergebnisse seines Forschungskollegs zurückgehende kulturgeschichtliche Veröffentlichung zum frühen Kino: Traum und Exzess.67  – Das anhaltende, vor allem im Ausland immer noch wachsende Interesse am Weimarer Kino schlägt sich in einer inzwischen fast unüberschaubaren Forschungsliteratur nieder. Um hier nur zwei repräsentative Publikationen aus den letzten 20 Jahren zu nennen: Elsaessers Das Weimarer Kino68 und Anton Kaes’ Shell Shock Cinema haben unser Bild vom Weimarer Kino in wichtigen Aspekten verändert.69 Im Vergleich hierzu fällt die Anzahl der film- und kinogeschichtlichen Publikationen über die Kriegsjahre – abgesehen von historischen Nachforschungen zum propagandistischen Einsatz des Films – bedauerlich gering aus. Neben Wolfgang Mühl-Benninghaus’ vorwiegend filmwirtschaftlich ausgerichteter Untersuchung, Vom Augusterlebnis zur UFA-Gründung,70 gebührt Philipp Stiasnys kulturgeschichtlicher Studie Das Kino

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Schlüpmann.: Die Unheimlichkeit (wie Anm. 7). Schweinitz (Hg.): Prolog (wie Anm. 20). Müller, Corinna: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994. Diederichs, Helmut H.: »Frühgeschichte deutscher Filmtheorie. Ihre Entstehung und Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg«, Habilitation, Universität Frankfurt am Main 1996, online unter http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/files/4924/fruefilm.pdf (zugegriffen am 1.3.2020). Elsaesser, Thomas: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München: Fink 2002. Kreimeier, Klaus: Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des frühen Kinos, Wien: Zsolnay 2011. Elsaesser, Thomas: Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig, übers. von Michael Wedel, Berlin: Vorwerk 8 1999. Kaes, Anton: Shell Shock Cinema. Weimar Culture and the Wounds of War, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2009. Mühl-Benninghaus, Wolfgang: Vom Augusterlebnis zur UFA-Gründung. Der deutsche Film im 1. Weltkrieg, Berlin: Avinus 2004.

Einleitung

und der Krieg71 schon deshalb beträchtliche Anerkennung, weil sie diese markante Forschungslücke insgesamt zu schließen versucht. Seit einigen Dekaden wird die Periodisierung des einschlägigen Zeitraums namentlich durch die fortgeschrittene Erforschung des frühen Kinos weiter erschwert. Gemeint ist vor allem die gewohnte Einteilung zwischen dem ›Kino der Attraktionen‹ und dem ›Erzähl-‹ bzw. ›klassischen Kino‹. Diese Tendenz einer immer fortschreitenden periodischen Ausdifferenzierung steht zu sehr in der Gefahr, die diskursiven Kontinuitätslinien zu verwischen, die durch die verschiedenen Zeitabschnitte hindurchlaufen. Gerade hier spielt die oben angesprochene relative Unabhängigkeit des Diskurses von der filmischen Praxis eine wichtige Rolle. Denn der Kinodiskurs und insbesondere dessen Rhetorik erweisen sich in dieser Hinsicht gewissermaßen als träge und unterlaufen manchmal nicht nur synchron bzw. fächer-, sondern auch diachron und epochenübergreifend die strengen ›Grenzbeamten‹. Hiervon rührt auch der unzuverlässige Charakter der literarischen und kinoreformerischen Dokumente als Zeugen der Film- und Kinogeschichte.72 »Dieses ›Schwimmen‹ […] über der tatsächlich angebotenen Produktion«73 lässt sich teils aus einer geistes- wie literaturgeschichtlichen Logik erklären, nämlich aus dem Wandel der Stilrichtungen innerhalb des einschlägigen Zeitraums, darunter Impressionismus, Expressionismus und Neue Sachlichkeit. Die Fraktionierungen werden vor allem in den jeweiligen Einstellungen gegenüber der Metapher deutlich. Der Metaphernreichtum bildet ein besonderes stilistisches Merkmal bereits des Impressionismus, und der Expressionismus bringt hier weniger eine Abwendung, sondern vielmehr eine Weiterführung dieses impressionistischen Hangs zur Metaphorisierung. Im Gegensatz dazu gehört »der Verzicht auf Metaphern«74 gerade zum Kern des neusachlichen Programms. Die kinobezüglichen essayistischen Texte wie z.B. Filmkritiken der 1920er Jahre machen in der Tat einen konkreteren und sachgerechteren Eindruck als die der Kinodebatte etwa der Vorkriegszeit. Es verspricht indes keinen Erkenntnisgewinn mehr, jene althergebrachte Debatte zwischen Literatur- und Film- bzw. Medienwissenschaft noch einmal auf-

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74

Stiasny, Philipp: Das Kino und der Krieg. Deutschland 1914-1929, München: edition text + kritik 2009. Dies zeigt sich exemplarisch an Jakob van Hoddis’ Gedicht Schluß: Kinematograph (1911) sowie an Alfred Döblins Berliner Programm (1913). Hierzu ausführlich in Teil II der vorliegenden Untersuchung. Koebner, Thomas: »Der Film als neue Kunst. Reaktionen der literarischen Intelligenz«, in: Helmut Kreuzer (Hg.), Literaturwissenschaft – Medienwissenschaft, Heidelberg: Quelle & Meyer 1977, S. 1-31, hier S. 2. Becker, Sabina: Neue Sachlichkeit, Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur, Köln: Böhlau 2000, S. 134.

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Metaphorologie des Kinos

leben zu lassen, die seit den 1970er Jahren angesichts der massenmedialen und medienwissenschaftlichen Herausforderung ausgetragen worden ist. Im Kontext der Kinodebatte geht es dort um die Periodisierungsfrage und insbesondere um die ›Vereinnahmung‹ des Films im Expressionismus. Hier interessiert aber keine fachliche Frontstellung, sondern die Feststellung, dass diese relative Unabhängigkeit des Diskurses unter anderem die nachhaltige oder gleichsam retardierende Qualität des Diskursiven und speziell der Rhetorik und Metaphorik zur Folge hat. Mit anderen Worten: Sie orientieren sich nicht nur an den gerade aktuellen, sondern bisweilen an den zurückliegenden und nur noch in Ausnahmefällen gebräuchlichen Praktiken. Selbst die Termini ›Kino‹ und ›Film‹ oder ›kinematographisch‹/›filmisch‹ verweisen in den literarischen Texten nicht selten auf jene persönlichen Erfahrungen der Autoren, die diese vorzugsweise in ihrer Jugend oder gar Kindheit gesammelt haben. Der Ausdruck ›filmisches Schreiben‹ oder ›Kinostil‹ etwa kann folglich je nach dem literatur- bzw. medientheoretischen Standpunkt und/oder dem generationellen Hintergrund des einzelnen Autors völlig Unterschiedliches besagen. Diese zurückgreifende und in diesem Sinne regressive Neigung ist auch im – vor allem literarischen, aber auch filmkritischen und -theoretischen – Kinodiskurs der 1920er Jahre zumeist in der bildlichen Rede auszumachen. Aufgrund dieser die Epochenschwellen überschreitenden Tendenz des Kinodiskurses, die eine chronologisch-periodisierende Darstellung unangemessen erscheinen lässt, wird der Schwerpunkt der Ausführung hier auf thematische Zusammenhänge gesetzt. Jedes Kapitel der Untersuchung widmet sich so in der Regel einer bestimmten Metapher bzw. Metapherngruppe, und aus den genannten Gründen ist weder die Kapitelanordnung noch die Darstellung innerhalb der einzelnen Kapitel streng chronologisch konzipiert. Demgegenüber wird der zeitliche Rahmen innerhalb der Klassischen Moderne mehr oder minder eingehalten. Während diese Bezeichnung als Epochenbegriff durch ihre definitorische Elastizität bekannt ist, soll sie in der vorliegenden Arbeit eine relativ weit gefasste Periode von 1895 bis 1939 umfassen. Den Anfang markiert selbstredend das Jahr der ersten öffentlichen Aufführung des Kinos, denn diese bedeutet zugleich die Entstehung des Kinodiskurses selbst. Als ausschlaggebend für die Feststellung des Endpunktes erweisen sich aber Umstände, die weniger medientechnologischer, sondern im weiteren Sinne diskursiver Natur sind. Denn die zeitliche Grenze wird nicht etwa durch die Einführung der Tonfilmtechnik in Deutschland im Jahr 1929 geboten, sondern vielmehr durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten und den Beginn zunehmender Gleichschaltung im Jahr 1933 – bis insbesondere zur Unterdrückung der eigentlichen, analysierenden und präzise wertenden Filmkritik durch den »Kunstbetrachter«-Erlass im Jahr 1936. Vor allem die Exilanten äußern sich freilich auch nach diesem Zeitpunkt vielfältig über das Kino bzw. dessen Erlebnis. Innerhalb dieses so abgesteckten Zeitraumes wird in der vorliegenden Unter-

Einleitung

suchung die Zirkulation der metaphorischen Figur des Regressiven sowie deren Spielarten verfolgt.

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Aufbau

Das vorliegende Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil (Kapitel 1 und 2) wird der methodische Ansatz einer Metaphernanalyse des Kinodiskurses systematisch wie historisch begründet. Zur Sprache kommt einerseits die strukturelle Affinität zwischen dem Kino und der Metapher, die insbesondere in einem bemerkenswerten Oszillieren zwischen Wissen und Glauben besteht. Aus einer parallelen Lektüre der psychologischen Metaphern- und Filmtheorien der 1910er Jahre soll hervorgehen, dass eine metaphorische Sprache zur Beschreibung eines Filmerlebnisses seinerzeit durchaus naheliegend erscheinen muss. Zum Zweiten soll anhand der exemplarischen, weil ›kühnen‹ Metapher des ›lebendigen Schattens‹ ein Stück der Metapherngeschichte des Kinos in der Literatur der betreffenden Periode verfolgt werden. Zur Geburtsstunde des Mediums selbst aufgekommen, bleibt die Metapher bis tief in die 1930er Jahre gebräuchlich, während sie im Verlauf dieses Zeitabschnittes radikale semantische Variationen durchläuft. Diese lange Karriere einer Leitmetapher soll nicht zuletzt den Prozess einer diskursiven Aneignung der neuen technischen Modernität anschaulich werden lassen. Die rhetorische Integration des Kinos in die kulturelle Sphäre vollzieht sich insbesondere dadurch, dass dem Medium nicht nur positive, sondern auch angstbesetzte und dämonisierende Imaginationen zugewiesen werden. Das Kino bzw. dessen Erlebnis ruft bei seiner Beschreibung beständig die Figuren des Regressiven auf den Plan. Im zweiten Teil (Kapitel 3-5) soll diese Beobachtung in zwei Schritten – zuerst auf der allgemeinen ästhetisch-theoretischen Ebene, dann durch konkrete Fallstudien – erörtert werden. Als Ausgangspunkt dient die Apparatustheorie, d.h. ein repräsentativer filmtheoretischer Ansatz der Regression aus den 1970er Jahren. Anhand dieser später gelagerten Theoriebildung wird einem nachhaltigen Deutungsmuster nachgegangen, das auf eine Leitmetapher des hier thematischen Zeitraumes zurückgeht. Die alte metaphorische Rede vom kinematographisch Regressiven unterscheidet sich von der neueren Theoretisierung jedoch durch einen rückgewandten, ›sentimentalischen‹ Wunsch nach dem als ›naiv‹ eingestuften früheren Entwicklungsstadium. Um sich der Wahlverwandtschaft zwischen der reflektierten Regressionssehnsucht und der Metapher um 1900 anzunähern, soll Friedrich Theodor Vischers einfühlungsästhetische Abhandlung Das Symbol (1887) einbezogen werden. Auf dieser aus dem psychologisch-ästhetischen Diskurs gezogenen Folie wird dann eine Reihe subjektbezogener Metaphern erörtert. Sie sollen den ›naiven‹ bzw. ›primitiven‹ inneren Zustand des Kinozuschauers durch die als kindlich oder ggf. tierisch aufgefassten Figuren personifizieren. Diesen metaphorischen Figuren

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Metaphorologie des Kinos

kommen im Kinodiskurs vor allem drei Charakteristika zu. Zum einen bieten sie eine Projektionsfläche an, die der intellektuell-sozialen Ab- und Ausgrenzung dient. Zum Zweiten geben sie den rückwärtsgewandten Wünschen Ausdruck, die längst verloren gegangene ›naiv‹ arkadische Glaubensinstanz ›sentimentalisch‹ zurückzuerobern. Schließlich ist unter ihnen eine Figur des andersartig ›Primitiven‹ zu beobachten. Diese stellt kein Idealbild der kindlich gutgläubigen Unschuld dar, sondern weist vielmehr eine ›barbarische‹ Triebnatur auf. Dieses metaphorische ›innere Kind‹, das im filmischen Bild keine Realitätsillusion, sondern lauter Oberfläche ausmacht, deutet auf eine andere, subversive Version der reflexiven Regression hin. Im dritten Teil (Kapitel 6-8) wird schließlich den objektbezogenen Metaphern nachgegangen, die das filmische Bild als symbolische Dinge versinnbildlichen. Die Bildspender stammen sowohl im erzieherischen Diskurs der Kinoreform als auch in der literarischen und kulturtheoretischen Kinodebatte gleichermaßen aus dem Einzuverleibenden, das sich jeweils als zweischneidig erweist. Während die ›Nahrung‹ Kino die körperliche und geistige gesunde Bildung fördert, verdirbt das ›Rauschmittel‹ Film den Geschmack der Zuschauer, macht sie süchtig oder stellt sich – wie bei den Metaphern des ›Giftes‹ und der ›Ansteckung‹ – als bisweilen tödlich heraus. Die ›Kinopest‹ soll jedoch nicht nur die Rezipienten bzw. die Zuschauermasse heimsuchen, sondern vielmehr die literarisch Produzierenden wie die Dichter und Schriftsteller, die infolge dieser ›Infektion‹ hybride, filmisch ›kontaminierte‹ Werke hervorbringen. Der Schlussteil befasst sich anhand von Walter Hasenclevers Drehbuch Die Pest mit diesem intermedialen Vorgang, um die selbstreflexive Rückkopplung von der Filmrezeption über die literarischrhetorischen Diskursivierungen hin zur Filmproduktion zu schließen.

I Das Kino und seine Metapher. Überlegungen zu einer Wahlverwandtschaft

Filmbeschreibung – neue Ekphrasis? Zur Einführung in die Problematik

Wie lässt sich ein Film beschreiben? – In der Regel gibt man die Handlung, d.h. die Story bzw. den Plot (beim Spielfilm) oder die Thematik und die Aussage (beim Dokumentarfilm) wieder. Auf diese Weise versucht man, den Inhalt eines Films – wenn auch in großen Zügen und als Synopse – mitzuteilen. Etwa bei den Filmkritiken in der Tagespresse kommen zudem gewöhnlich wohl einige auffallende formale und inszenatorische Aspekte (z.B. die Kameraführung, Lichtgestaltung oder Schnitttechniken usw.) oder aber besondere Leistungen der Schauspieler zur Sprache. Den Hauptteil der Filmbeschreibung macht jedoch in der Regel die Wiedergabe der filmischen Botschaft aus, i.e.: was ein Film dem Zuschauer zeigen oder mitteilen will. Der Inhalt eines Films wird vor allem deswegen auf der Ebene der stofflichen Referenz gesucht, da er dort für eine sprachliche Annäherung am zugänglichsten ist. In dieser – immer noch gängigen – Auffassung kommt dem Film und dem Text als Mitteilungsformen oder Medien eine durchaus vergleichbare und gleichberechtigte Stellung zu. Zugespitzt formuliert: Es ist, als wäre es die Sache einer freien Entscheidung, ob der mitzuteilende Inhalt entweder im filmischen Bild oder im sprachlichen Text dargestellt werden soll. Mit anderen Worten: als ob zwischen beiden Medien eine reibungslose Übersetzbarkeit vorhanden wäre. Diesem Modell der Filmbeschreibung, das man mit der informationstheoretischen Terminologie als ein Beispiel des ›Sender-Empfänger-Modells‹ der Medien ansprechen darf, liegt – genauso wie bei der traditionellen rhetorisch-literarischen Gattung der Ekphrasis1 oder Bildbeschreibung – eine Gleichsetzung von (filmischem) Bild und Wort bzw. Text in Bezug auf die inhaltliche Referenz zugrunde. Wenn man aber den Film als ein eigenständiges Medium oder eine Kunstform betrachten will, gilt es – Lessings Laokoon (1760) analog – dieses auf Ekphrasis

1

Zur Begriffsgeschichte der Ekphrasis bleibt der von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer herausgegebene Sammelband immer noch maßgebend: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart; vgl. auch Brassat, Wolfgang: Art. »Malerei«, insbes. Sp. 742-748.

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Metaphorologie des Kinos

basierende Modell zugunsten eines anderen Verfahrens zu verlassen, das die Medienspezifik des Films genügend berücksichtigt. Es soll hierbei nicht der primäre Forschungsgegenstand sein, was ein Film darstellt, sondern: wie und mit welchen filmischen Mitteln er dies vorführt. Darüber hinaus kommt bei den meisten Filmen diese inhaltliche Botschaft per se nicht bildlich und gegenständlich zum Vorschein, sondern wird erst im Kopf des Zuschauers gedanklich und in der Regel erst nach der Vorführung rückblickend rekonstruiert. Ein neues Modell sollte auch von dieser auf subjektive Bilderinnerung angewiesenen Nachträglichkeit befreit und auf eine wissenschaftlich verifizierbare Objektivität hin ausgerichtet sein. Es liegt nahe, dass gerade diese methodische Reflexion in der Etablierungsphase der Film- und Medienwissenschaft in Deutschland seit den 1960er Jahren eine heftige Diskussion über die Einführung der Protokollierungsverfahren veranlasst.2 Einen wesentlichen Anstoß für die methodischen Überlegungen zur Filmprotokollierung gibt insbesondere das von Gerd Albrecht vorgeschlagene Kategoriensystem der Filmanalyse (1964). Die verschiedenen Vorschläge der Protokollierungsmethode gehen darauf zurück, dass die Filmforschung angesichts der Flüchtigkeit des Filmerlebnisses sonst über kein wissenschaftlich verlässliches Analyseobjekt verfügt. Ohne diese Notierungstechniken ist der Analysierende aufgrund der Medienspezifik des Films dazu gezwungen, sich bei seiner Analyse immer auf sein eigenes Gedächtnis zu stützen, das allenfalls nur annähernd zuverlässig sein kann. Schon vor der Einführung (und parallel zu) dieser systematischen Notierung verwenden die Filmkritiker bzw. -theoretiker freilich Aufzeichnungen eigener Art. Anhand deren suchen sie den flüchtigen visuellen (und akustischen) Eindruck des Films sprachlich festzuhalten. Der Filmtheoretiker Rudolf Arnheim etwa erzählt im Vorwort der deutschen Neuauflage (1978) von Film als Kunst (1932) rückblickend von der Entstehung seiner ersten umfangreichen filmtheoretischen Abhandlung. In der Vorbereitungsphase habe, so entsinnt sich Arnheim, die Niederschrift vom jeweiligen Filmerlebnis als unentbehrliches mnemotechnisches Hilfsmittel eine zentrale Rolle eingenommen: Zur Vorbereitung auf Film als Kunst hatte ich mir jahrelang in einem schwarzen Büchlein, das ich heute noch verwahre, denkwürdige Filmepisoden aufgeschrieben, wie sie mir als eifrigem Filmkritiker ständig und auch in sonst dürftigen Durchschnittsfilmen vor die Augen kamen. Als ich genug Beispiele dieser Art gesammelt hatte, setzte ich mich hin, um aus ihnen eine Theorie abzuleiten.3 2

3

Zur Methodengeschichte der Filmprotokollierung in der Film- und Medienwissenschaft vgl. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse, 5., aktualis. u. erw. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler 2012, S. 27-38. Arnheim, Rudolf: »Vorwort zur deutschen Neuausgabe« [1978], in: Ders., Film als Kunst. Mit einem Nachwort von Karl Prümm und zeitgenössischen Rezensionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 9-13, hier S. 12.

Filmbeschreibung – neue Ekphrasis? Zur Einführung in die Problematik

Diese sprachlichen Aufzeichnungen – die sich bei Arnheim übrigens vorwiegend auf den inhaltlichen Aspekt des Films (die »Filmepisoden«) zu beziehen scheinen – bleiben aber überdies situationsbedingt in der Regel nur knappe Notizen. Aus diesem Grund müssen die Filmtheoretiker bzw. -kritiker im Grunde stets mit seiner subjektiven und insofern grundsätzlich unzuverlässigen Bilderinnerung auskommen. Die Film- und Medienwissenschaftler der Nachkriegszeit wollen sich gerade in dieser Hinsicht von ihren Konkurrenten, vor allem von Filmkritikern abheben. Sie versuchen durch ihre systematische sprachliche Protokollierung am Schneidetisch eine wissenschaftlich verifizierbare, möglichst objektive Dokumentation zu bewerkstelligen. In den seinerzeit eingesetzten Notierungs- und Versprachlichungsverfahren sind zweierlei Tendenzen zu beobachten. Zum einen steckt darin der latente »Vollständigkeitsanspruch«, »›das gesamte Filmereignis‹ zu behandeln« und »›ein umfassendes Verständnis des Films zu vermitteln‹«4 . Eine Beschreibung des Films hat trotz des Einsatzes des Schneidetisches aufgrund der medialen Unterschiede von Bild und Sprache die sinnliche Gesamtgestalt eines Films notgedrungen zu reduzieren und im gewissen Sinne zu zerstören. Gerade angesichts dieser Zwangslage, in die prinzipiell jeder Versuch einer Versprachlichung gerät, sind die Notierungssysteme des Films tendenziell dazu geneigt, einen Film immer ausführlicher und detaillierter zu beschreiben. Auf diese Weise verfolgen die Forscher das Ziel, den Film als ein zu analysierendes Objekt vollständig zu vergewissern und seine ästhetische Struktur als Ganzes zu erfassen. Diese methodische Entwicklung ist jedoch »von der Vergeblichkeit, das Filmerlebnis einzuholen und in jeder Nuance analytisch zu fassen, gekennzeichnet«. Gerade wegen dieser »schon fast extrem zu nennende[n] Ausführlichkeit«5 erweist sie sich verständlicherweise als »nur selten« oder »überhaupt nicht realisierbar«,6 so Hickethier und Paech. Dieses resignative Bewusstsein des sprachlich nicht einholbaren Films erinnert wiederum an den modernen Traditionsbruch der Ekphrasis, der Johann Joachim Winckelmann etwa in die »Trauer über das sisyphoshaft Aussichtslose des Unabdingbaren: der in Sprache aufgefaßten Kunst« versetzt.7 4

5 6 7

Hickethier, Knut/Paech, Joachim: »Einleitung. Zum gegenwärtigen Stand der Film- und Fernsehanalyse«, in: Dies. (Hg.), Didaktik der Massenkommunikation, Bd. 4: Methoden der Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart: Metzler 1979, S. 7-23, hier S. 13 f. Die Autoren verweisen hier zitierend auf: Faulstich, Werner/Faulstich, Inge: Modelle der Filmanalyse, München: Fink 1977. Hickethier/J. Paech: »Einleitung« (wie Anm. 4), S. 13. Ebd., S. 14. Pfotenhauer, Helmut: »Winckelmann und Heinse. Die Typen der Beschreibungskunst im 18. Jahrhundert oder die Geburt der neueren Kunstgeschichte«, in: Boehm/Ders., Beschreibungskunst (wie Anm. 1), S. 313-340, hier S. 329. Derselbe mediale Widerspruch zwischen Text und Film lässt sich auch folgendermaßen lakonisch formulieren: »Keine Narration nur durch Bilder. Keine Narration ohne Text.« Dotzler, Bernhard J./Müller-Tamm, Jutta: »Film nach Benjamin. Bild und Erzählung im Denken der Kinematographie«, in: Detlev Schöttker (Hg.),

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Metaphorologie des Kinos

Von der festen Verankerung in der ekphrastischen bzw. stofflichen Referenz losgerissen, kann sich der Fokus oder die Einstellung der Beschreibung im Prinzip von einem Aspekt in einen anderen unendlich verschieben, ohne das (auch filmische) Bild jemals sprachlich einholen zu können.8 Vor dieser prinzipiellen »Vergeblichkeit« kann auch der Einsatz des Schneidetisches keine wirkliche Rettung bedeuten. Die zweite Tendenz dieser methodischen Entwicklung besteht darin, dass die immer objektivere, von jeder Beimischung der subjektiven Färbung freier vollzogene Aufzeichnung angestrebt wird. Die konstitutive Ausrichtung dieser Herangehensweise gipfelt einerseits in den computergestützten Protokollierungsverfahren9 und andererseits schließlich im Befund, dass die versprachlichende Protokollierung und Notierung des Films durch das Aufkommen der Aufzeichnungsmedien wie VCR oder DVD nunmehr nahezu obsolet wirkt.10 Verschaffen sie doch jedem interessierten Zuschauer – zumindest bei den Filmen, die bereits als DVD oder Video vorhanden sind – einen Zugang zu einer bis dahin nur am Schneidetisch vorstellbaren, wunschgemäß ausführlichen Analyse. Mit deren Hilfe lässt sich ein Film nach Belieben vor- und zurückspulen, und man kann auch die Geschwindigkeit der Wiedergabe beliebig variieren bzw. den Film zu jeder Zeit anhalten, um Sequenzen, Einstellungen oder gar Einzelbilder detailliert zu betrachten. Schon ohne die eingehende Protokollierung, die einen enormen Arbeitsaufwand erfordert, liegt der Film insofern bereits elektronisch bzw. digital vollständig ›aufgezeichnet‹ vor – und sogar für jeden. Diese Verfügbarkeit des zu analysierenden Objektes lässt die Frage nach der wissenschaftlich verifizierbaren Protokollierung oder Beschreibung nunmehr beinahe überflüssig erscheinen.

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10

Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 208-219, hier S. 218. Angesichts dieser latenten Gefahr empfiehlt Hickethier einleuchtend, dass ein Filmprotokoll – der von Albrecht bereits im Jahre 1964 erhobenen Warnung vor jenem Vollständigkeitsanspruch folgend – nur »als Hilfsmittel zur Analyse spezieller Sequenzen und Aspekte des Films« angewendet werden sollte (Hickethier: Film- und Fernsehanalyse [wie Anm. 2], S. 36). – Zu Beginn seines Beitrags über Gerhard Lamprechts Emil und die Detektive (DE 1931) fasst Keppler-Tasaki die aktuelle Problemlage zum Thema »Filminterpretation oder Filmanalyse« mit einem besonderen Augenmerk auf dem »Filmkommentar auf DVD« pointiert zusammen, vgl. Keppler-Tasaki, Stefan: »Die Syntagmatik des Filmischen. Gerhard Lamprecht: Emil und die Detektive (1931)«, in: Ders./Elisabeth K. Paefgen (Hg.), Was lehrt das Kino? 24 Filme und Antworten, München: edition text + kritik 2012, S. 90-120, insbes. S. 90-93. Während Hickethier diese Methoden nur mit einigen ernüchternden bzw. skeptischen Worten ad acta legt (vgl. Hickethier: Film- und Fernsehanalyse [wie Anm. 2], S. 38), lässt zumindest die auf Ergebnissen computergestützter Filmanalyse beruhende Mannheimer Dissertation von Catrin Corell diese Verfahren nicht völlig aussichtslos erscheinen: Corell, Catrin: Der Holocaust als Herausforderung für den Film. Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungstypologie, Bielefeld: transcript 2009. Vgl. Hickethier: Film- und Fernsehanalyse (wie Anm. 2), S. 37.

Filmbeschreibung – neue Ekphrasis? Zur Einführung in die Problematik

Die ersten Filmbeschreibungen, die auf die Anfangszeit des Films zurückgehen und einen Beginn des Kinodiskurses überhaupt markieren, thematisieren im Unterschied zur späteren Filmkritik nicht primär den Inhalt des Gesehenen. Die gefilmten Gegenstände bzw. die im Film mitgeteilte Geschichte oder Botschaft – wenn man beim anfänglichen Film davon sprechen darf – erscheinen in dieser filmhistorischen Phase vorwiegend zweitrangig. Dort geht es zwar um die unerhörte Realität des bewegten Bildes, das ebenso wie das zugrundeliegende photographische Medium die Wirklichkeit nahezu tautologisch wiederzugeben scheint. Ungeachtet dieser technisch ermöglichten Realitätsnähe oder der eindeutigen gegenständlichen Referenz führt die frühe Beschreibung des Films kein Aufleben einer neuen Art der Ekphrasis herbei. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich vielmehr auf den Realitätseffekt, der gerade durch die neuartige Medientechnik des Kinos ermöglicht wird. Mit anderen Worten: In diesen Texten geht es mehr um den kinematographischen Apparat und den dadurch erzielten Eindruck auf den Zuschauer, vor allem auf den Autor selbst, als um den auf der Leinwand zu sehenden Inhalt oder das gefilmte Sujet. Dies zeigt sich am deutlichsten, wenn von den Inkongruenzen zur menschlichen Wahrnehmung die Rede ist, die das filmische Bild trotz bzw. gerade wegen seiner Realitätsnähe aufweist. Gemeint sind nicht nur die offensichtlichen technischen Mängel des Films an Dreidimensionalität, Ton und Farben usw. Es geht vielmehr um jenen Überschuss der (Hyper-)Realität durch das mechanische Auge der (Film-)Kamera, der später etwa von Walter Benjamin als das ›OptischUnbewusste‹ oder von Roland Barthes als punctum theoretisiert werden sollte. Diese Sensibilität für das andere Sehen des Kinos, die keinen unmittelbaren Zugang zum Sujet erlaubt, unterscheidet die frühen Berichte über das Kino von der Filmbeschreibung im Rahmen der späteren Filmkritik als eine ekphrastische Praxis. Ungeachtet dieser geschärften Aufmerksamkeit auf die Medialität der filmischen Wahrnehmung zeigt die frühe Beschreibung des Kinos einen wesentlichen Unterschied auch zur späteren film- und medienwissenschaftlichen Protokollierung. Diese strebt mithilfe des Kategoriensystems eine wissenschaftlich verifizierbare, möglichst vollständige objektive Transkription an, die schließlich in die durch Rechner automatisierte – insofern subjektlose – Protokollierung oder in die digitalen Aufzeichnungstechniken wie der DVD münden sollte. Bei jener geht es hingegen in erster Linie um den Effekt des Kinos auf den Zuschauer, und somit macht sich das Selbstbewusstsein des Autors stets bemerkbar. Diese Wirkung artikuliert sich, wie oben erwähnt, in zwei entgegengesetzte Richtungen: den Eindruck einer Realität und das Wissen um die technisch-apparative Medialität dieses Eindruckes. Die frühe Filmbeschreibung zeichnet sich durch ein Pendel zwischen diesen beiden Polen aus, welches seinerzeit das Filmerlebnis als ein Novum ausmacht. Insofern dürfte für sie die Bezeichnung »Filmbeschreibung« womöglich fehl am Platz sein. In diesem Zusammenhang könnte sie vielmehr als die ›Beschreibung

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Metaphorologie des Kinos

des Filmerlebnisses‹ oder gar ›Kinobeschreibung‹ adäquater charakterisiert werden. Wie dem auch sei: Nicht der Film, sondern das Kino tritt bei dieser Beschreibung in den Vordergrund. Denn das Medium stellt seinerzeit noch einen kulturellen wie gesellschaftlichen Fremdkörper dar und ist alles andere als transparent. Die Beschreibung des Filmerlebnisses dient insofern einer diskursiven Bewältigung bzw. kulturellen Aneignung dieser Alterität des Kinos. Die metaphorischen Figuren, welche in diesen Beschreibungen häufig eingesetzt werden, kommen der Funktion dieser Texte als diskursive Schnittstelle in zweierlei Hinsicht sehr zugute. Zum einen sind sie vorzüglich in der Lage, die selbstreflexive Oszillation zwischen dem Eindruck und dem Wissen exakt abzubilden und prägnant auszudrücken. Zum anderen lässt sich das Kino mithilfe der Bildersprache der Metaphern in die herkömmlichen kulturellen Kontexte eingliedern und verankern, da sie durch ihre denotativ-konnotative Mehrdeutigkeit verschiedene Sinnangebote parat haben. Diese kulturellen Bedeutungen helfen auch dabei, das neue Phänomen Kino entweder positiv oder negativ (nicht selten mit Affekten) zu bewerten und es in der Öffentlichkeit entsprechend zu bekämpfen oder zu befürworten. Diese öffentliche Diskussion selbst trägt wiederum – wie es in den frühen 1910er Jahren bezüglich des Autorenfilms wirklich stattfindet11  – zu einer breiteren Akzeptanz dieses Fremdkörpers bei. Die Selbstbezüglichkeit der Film- bzw. Kinobeschreibung sowie die metaphernreiche Kinopublizistik sind von daher zum einen als eine zeitgebundene und vorübergehende Erscheinung einzustufen. Denn durch die zunehmende gesellschaftliche Anerkennung des Films als Unterhaltungskultur seit den späten 1910er Jahren wird das Filmerlebnis immer banaler, alltäglicher und unauffälliger. Dementsprechend wird das Kino als ein Erlebnisraum gleichsam transparent, und der Film avanciert als das zu betrachtende Objekt zum alleinigen Ziel der Aufmerksamkeit. Mit dieser Verschiebung des diskursiven Schwerpunktes, die in der Forschung gemeinhin als ein Paradigmenwechsel vom ›Kino‹ zum ›Film‹ charakterisiert wird, treten die metaphorisch-selbstreflexiven Züge der Filmbeschreibung weitgehend zurück. Anstatt dessen etabliert sich die Filmkritik dann als eigenständige Gattung in der Publizistik der Weimarer Republik. Weniger das Kino, sondern der einzelne Film ist es, der nun überhaupt den Unterschied macht. Andererseits wird die selbstreflexive Betrachtung des Filmerlebnisses etwa in der Kritik über exzeptionelle Filme, in der sich gerade anbahnenden Filmtheorie sowie in den kinobezüglichen literarischen Texten fortgesetzt, und hierbei nimmt die metaphorische Rede weiterhin eine zentrale Stellung ein. Das Sprachbild oder die Metapher, die im Kinodiskurs auf der textuellen Ebene eingesetzt wird, 11

Vgl. Diederichs, Helmut H.: Anfänge deutscher Filmkritik, Stuttgart: Fischer + Wiedleroither 1986, S. 46 f.

Filmbeschreibung – neue Ekphrasis? Zur Einführung in die Problematik

taucht schließlich in manchen Drehbüchern auf der diegetischen Ebene als eine bildliche und fiktionale Figur auf. Somit schließt sich gleichsam ein (inter-)medial selbstreflexiver Zirkel.   Im vorliegenden Teil sollen die bemerkenswerten Wahlverwandtschaften zwischen dem Kino, dessen Rezeption, ihrer Beschreibung und der darin eingesetzten Metapher im frühen Kinodiskurs beleuchtet werden. In den frühen Beschreibungen des Kinos findet sich häufig die Metapher des ›lebendigen Schattens‹, die im ersten Kapitel exemplarisch zur Sprache kommt.12 Sie stellt gerade aufgrund ihrer offensichtlich paradoxen semantischen Struktur paradigmatisch die einzigartige Funktionalität der Metapher in der Beschreibung des Kinoerlebnisses dar. Hierbei wird davon ausgegangen, dass der Einsatz der Metapher in den ersten kinobezüglichen Texten auf der Parallelität der damaligen Vorstellungen von der Metapher und dem Kino, d.h. zwischen der Bewusstseinslage beim Verständnis der Metapher und der beim Filmerlebnis beruht. Dies soll anhand von einer vergleichenden Lektüre der psychologischen Metaphern- und Filmtheorie in der Mitte der 1910er Jahre erläutert werden. Die paradigmatische Metapher des ›lebendigen Schattens‹, die auf die ersten Beschreibungen des Kinoerlebnisses zurückgeht, findet auch weiterhin und bisweilen über die Referenz zum Rezeptionserlebnis des Films hinaus, i.e. auch in Hinsicht der Filmproduktion wiederholt Verwendung. Hierbei variiert sie allerdings je nach historischem und kulturellem Kontext ihre Sinnstruktur. Im zweiten Kapitel soll diesen Variationen des metaphorischen Paradigmas in literarischen Texten von den 1910er bis zu den 1930er Jahren nachgegangen werden. Die Varianten reflektieren einerseits den jeweiligen filmhistorischen Stand der Dinge. Sie rekurrieren andererseits indes auf jedes Mal andere Schichten des traditionellen Bildfeldes und aktualisieren andere Merkmale des Bildspenders, um sie dann auf das Kino jeweils zu übertragen. Die historische Variation einer Metapher, die vor allem im literarischen Diskurs stattfindet, soll insofern den Prozess einer fortschreitenden semantischen Artikulation und einer dadurch vonstattengehenden kulturellen Aneignung des Fremdkörpers Kino beleuchten.

12

Ungeachtet der germanistischen Ausrichtung der vorliegenden Arbeit werden in Kapitel 1 sowohl aufgrund der nur in begrenzter Anzahl verfügbaren deutschsprachigen historischen Quellen als auch wegen der global relevanten Sachlage auch Texte aus anderen europäischen (etwa französischen, englischen und russischen) Sprachräumen berücksichtigt.

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1

Der ›lebende Schatten‹ als metaphorisches Paradigma

1.1

Die ersten Filmzuschauer und ihre Metaphern

Bei den zahlreichen Zeitungs- bzw. Zeitschriftenartikeln der Jahre 1895/96 über die ersten Filmvorführungen im europäischen Raum, die mit Recht als die »erste Beziehung von Film und Presse«1 anzusprechen sind, geht es in erster Linie um die verblüffend realitätsnahe Wirkung des bewegten Filmbildes. Liest man einige dieser Berichte, fällt unmittelbar auf, dass diese Beiträge eine relativ begrenzte Zahl rhetorischer Mittel in Anspruch nehmen, um diesen Eindruck den Lesern effektvoll zu vermitteln. Die deutsche Erfinder-Zeitschrift Archimedes in ihrer Ausgabe vom Dezember 1895 schildert die Vorführung des Bioskops der Gebrüder Skladanowsky beispielsweise mit den folgenden Worten: Die lebensgroßen Darstellungen im Bioskop sind Projektionen von Serienaufnahmen, sie geben genau das Leben in voller Natürlichkeit wieder, und man kann glauben, die Wirklichkeit vor sich zu haben – so plastisch und greifbar ist die Wirkung des Bioskops.2 In diesen unscheinbaren Sätzen sind beinahe alle Ausdrücke versammelt, welche die vergleichbaren Artikel zum Zweck der Beschreibung des ersten Filmerlebnisses einsetzen. Auf der Leinwand fände man das ›Leben‹ bzw. die ›Natur‹ selbst ›plastisch‹ und ›greifbar‹ wiedergegeben und könnte glauben, man sähe im filmischen Bild die ›Realität‹ als solche. Ähnliche Belege können beliebig hinzugefügt werden. Viele publizistische Zeugen der Geburtsstunde der Kinematographie weisen unentwegt auf eine unerhörte Realitätsillusion des filmischen Bildes hin, und sie investieren zum Zweck der pointierten Beschreibung beinahe stereotype Vokabulare und immer wiederkehrende Redefiguren. Es wird von den Berichterstattern behauptet, dass sie vor der Leinwand einen Eindruck hätten, als würden sie »die Na1 2

Sattig, Ewald: Die deutsche Filmpresse, Breslau: Brehmer & Minuth 1937, S. 7. Zitiert nach Zglinicki, Friedrich von: Der Weg des Films. Die Geschichte der Kinematographie und ihrer Vorläufer, Berlin: Rembrandt 1956, S. 243.

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Metaphorologie des Kinos

tur und das Leben«3 betrachten. Zur Sprache kommen zudem etwa »volles, greifbares Leben«4 oder »eine Welt, die leibt und lebt«5 . Dementsprechend sind die drei Themenfelder zu benennen, welche die realistische Wirkung des Films bezeichnen sollen: ›Natur‹, ›Leben‹ und ›Plastik‹ (häufiger in den adjektivischen Formen wie ›plastisch‹ oder ›greifbar‹). Diese Ausdrücke deuten alle darauf hin, dass der bislang nicht dagewesene realitätsnahe Eindruck der beweglichen filmischen Bilder derart eindringlich wirkt, dass sich die Grenze zwischen dem Bild und seinem Objekt selbst zu verwischen scheint. Anders formuliert: Aufgrund der nahezu tautologischen optischen Wiedergabe der Realität löst die filmische Aufnahme für die ersten Zuschauer gleichsam das Repräsentationsverhältnis mit dem Aufgenommenen auf und nimmt nun einen gewissen Präsenzcharakter an. Das artifizielle Zeichen des Films, das die zweidimensionalen Bilder ausschließlich visuell zeigt, tritt vor den ersten Zuschauern anscheinend zurück zugunsten der dreidimensional erscheinenden Wirkung. Diese evoziert bei ihnen ferner eine haptische Empfindung und lässt somit an eine (allerdings durchaus immanente) Epiphanie eines authentischen ›Lebens‹ denken. In dieser Hinsicht scheint das filmische Zeichen in ihren Augen sich selbst bzw. seine Zeichenhaftigkeit aufzuheben. Diese figurativen Formulierungen aus den historischen Berichterstattungen über die ersten Vorführungen des Films scheinen eine bekannte Episode einmal mehr zu bestätigen. Gemeint ist das Ereignis, das angeblich die aufsehenerregende Wirkung der wahrheitsgetreuen bildlichen Wiedergabe der beweglichen Realität durch das Kino augenscheinlich bezeugen soll und seither immer wieder kolportiert wird. Die ersten Zuschauer hätten die filmische Illusion mit der darin abgebildeten Realität selbst verwechselt, sodass sie auf die Bilder unwillkürlich mit realen Handlungen hätten reagieren müssen. Der prominentesten Version dieser Episode zufolge seien die ersten Filmzuschauer bei der Pariser Uraufführung des Cinématographe Lumière vor allem von den realistischen Bildern eines einfahrenden Zugs überwältigt worden. Sie seien von ihren Stühlen aufgesprungen und in einen panischen Zustand geraten, da sie gefürchtet hätten, dass die Lokomotive in den

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Félix Regnault in L’Illustration 2779 (30. Mai 1896), zitiert nach: Westdeutscher Rundfunk Köln (Hg.): Cinématographe Lumière. Kino vor 100 Jahren, Köln: Westdeutscher Rundfunk 1995, S. 38. Berliner Lokal-Anzeiger vom 29. April 1986, zitiert nach Traub, Hans (Hg.): Die Ufa. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des deutschen Filmschaffens, Berlin: Ufa-Buchverlag 1943, S. 118. Zur Denkfigur der taktilen Immersion im frühen Kinodiskurs vgl. Yanagibashi, Daisuke: »Immersion und Mimesis. Diskursanalyse der Filmrezeption im deutschsprachigen Raum in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts«, in: Jahresblätter für japanische und deutsche Forschung in Japan 1 (2006), S. 29-36, hier S. 32 f. Photographische Mitteilungen vom April 1896, zitiert nach Zglinicki: Der Weg (wie Anm. 2), S. 218.

1 Der ›lebende Schatten‹ als metaphorisches Paradigma

Zuschauerraum hineinrase und auf das Publikum zuführe. Die Aussagekraft dieser Anekdote erweist sich als so nachhaltig und virulent, dass sie in verschiedenen Standardwerken der Filmgeschichte von Eisner über Sadoul bis hin zu Gregor und Patalas ohne jeglichen historischen Beweis auftaucht. Sogar bis in die 1990er Jahre hinein zirkuliert sie in zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln.6 Die Anekdote aus der Anfangszeit figuriert auf diese Weise gleichsam als eine Urszene der Filmgeschichte, welche die Wirkmächtigkeit des Mediums über die Zuschauer anschaulich beglaubigen soll. Die zahlreichen historischen Berichte über die ersten Filmvorführungen könnten dem Anschein nach als weitere Indizien zu verstehen sein, dass sich der Film den ersten Zuschauern in der Tat von seiner Scheinhaftigkeit befreit hätte. Konkreter formuliert: dass das filmische Bewegungsbild als eine körperliche Realität von der Leinwandoberfläche her an sie heranzurücken gedroht hätte. Im Gegensatz zur überlieferten Anekdote sind sich die ersten Berichterstatter jedoch durchaus des artifiziellen Charakters der realitätsnahen Wirkungen in der Attraktion des Kinos bewusst. Dieser Aspekt äußert sich für sie nicht zuletzt durch die technischen Mängel wie die niedrige Qualität der Bilder, den fehlenden Ton und den Ausfall der Farben deutlich. Ihre diesbezügliche Einsicht findet gerade in ihrem Gebrauch diverser Redefiguren einen auffälligen Niederschlag. Die offensichtlichen Vergleiche mittels der Partikel ›wie‹ oder die Metaphern des ›Lebens‹, ›Natur‹ und ›Plastik‹ weisen bereits auf das Wissen um den technisch erzeugten Realitätseffekt hin. Insbesondere die Verwendung des Irrealis bzw. der ›Als-ob‹Konstruktion7 betont das Bewusstsein der Verfasser, dass sie bei der Vorführung mit nichts anderem als einer technisch-künstlichen Illusion zu tun haben. »Die Lokomotive erscheint zuerst klein, dann ungeheuer groß, als ob sie im Begriff sei, den Saal zu zermalmen«8 . Oder: Eine Eisenbahnstation; aus der Ferne sieht man winzig klein die Locomotive eines Eilzugs heranbrausen, sie wird immer größer und größer, der Schlot qualmt, es fehlt nur, daß man noch pusten und das Rädergepolter hört. Endlich ist der Zug da, die Locomotive riesengroß, es scheint, als wolle sie in die Zuschauer hineinfahren.9

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Vgl. Loiperdinger, Martin: »Lumières Ankunft des Zugs. Gründungsmythos eines neuen Mediums«, in: Frank Kessler/Sabine Lenk/Ders. (Hg.), Aufführungsgeschichten, Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1996 (= KINtop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 5), S. 37-70, hier S. 37 f. Vgl. ebd., S. 45 f. Vgl. Anm. 3. Volkmer, Ottomar: Der Kinematograph oder die lebende Photographie, Wien: PensionsUnterstützungs-Verein der Mitglieder der k.k. Hof- und Staatsdruckerei/die kaiserliche Wiener Zeitung 1897, S. 25, zitiert nach Loiperdinger, »Lumières Ankunft« (wie Anm. 6), S. 45.

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Metaphorologie des Kinos

Als ein weiteres augenfälliges Beispiel sei an den Artikel in der Ausgabe vom 21. April 1896 des Kölner Stadt-Anzeigers erinnert. Der Beitrag, der aus Anlass der ersten Vorführung des Cinématographe in Köln am vorigen Tag verfasst wird, nimmt auch einen konjunktivischen Satzbau des Irrealis in Anspruch: Auf einem großen Lichtschirme sehen wir, wie sich die einzelnen Szenen vor uns abspielen. Es ist, als wenn wir an einem weitgeöffneten Fenster stünden und hinausblickten bald auf einen Fabrikhof, bald auf das weite Meer, bald auf einen großstädtischen Bahnhof. Alles erscheint vor den Augen des Publicums mit solcher Natürlichkeit, daß dieses Ausrufe des Erstaunens und des Bewunderns nicht unterdrücken kann.10 Hier signalisiert nicht nur der Konjunktiv eine selbstreflexive Distanznahme des Beobachters zu den technisch hervorgebrachten Wirklichkeitseffekten des Kinos. Auch die Metapher des Fensters, die zwar die Realitätsillusion des Films bildhaft betonen und eine Empfindung des tiefen Raumes jenseits der flächigen Leinwand bestechend evozieren soll, unterstreicht hier aber gleichzeitig einen in der realen Welt unvorstellbaren Umstand. Gleichsam bei jedem Auf- und Zumachen wechseln die Ansichten ›vor dem Fenster‹ bzw. die Schauplätze einzelner Kurzfilme, die mithilfe der enumerativen Konjunktion (›bald … bald …‹) einmal mehr hervorgehoben werden. Mittels einer »sorgfältig philologische[n] Lektüre« der historischen publizistischen Dokumente bezüglich des frühen Filmerlebnisses lässt sich die »PanikLegende« »entkräften«, so Martin Loiperdinger, der gerade dies in seinem vielrezipierten Aufsatz über den »Gründungsmythos« des Kinos anhand historischer Recherchen unternommen hat.11 Die Lektüre der Berichte über die ersten Filmvorführungen sorgt nicht nur dafür, dass die Anekdote als eine Legende entlarvt wird und die ihr zugesprochene historische Faktizität nicht mehr standhält. Denn ungeachtet dieser Aufklärung ist es weiterhin nicht zu leugnen, dass die ersten Berichterstatter auf den Filmbildern eine nie dagewesene Wiedergabe der visuellen Realität ausmachen, die sie mittels der figurativen Sprache zum Ausdruck bringen. Diesen Texten lässt sich folglich – und vor allem – eine innere Koexistenz zwei entgegengesetzter und im Prinzip unverträglicher Positionen ablesen. Ein staunendes Wahrnehmen der starken Realitätsillusion der filmischen Bilder wird zugleich anerkannt und verleugnet, und dies hinterlässt gerade in den rhetorischen Figuren seine doppeldeutige Spur. Exakter formuliert: Dieser innere Zwiespalt wird in den Berichten mithilfe der rhetorischen Techniken – entweder durch spezifische Satzstrukturen wie Konjunktiv oder durch

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Zitiert nach Fischli, Bruno (Hg.): Vom Sehen im Dunkeln. Kinogeschichten einer Stadt, Köln 1990, S. 8; vgl. hierzu auch Paech, Anne/Paech, Joachim: Menschen im Kino. Film und Literatur erzählen, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 8. Loiperdinger: »Lumières Ankunft« (wie Anm. 6), S. 46.

1 Der ›lebende Schatten‹ als metaphorisches Paradigma

Einsatz mehr oder weniger metaphorischer Nomen wie ›Leben‹, ›Natur‹, ›Plastik‹ und ›Fenster‹ – einerseits überwunden bzw. überbrückt, aber andererseits gerade dadurch deutlich hervorgehoben. Unter diesen rhetorischen Figuren bestehen aber augenfällige Unterschiede. Der Vergleich und der Konjunktiv weisen beide durch ihre Form unverkennbar auf, dass sie nicht als sachgemäße Aussagen verstanden werden dürfen und sich nur im übertragenen Sinne auf die besagten Sachverhalte beziehen. Bei einem metaphorischen Satz hingegen ist aufgrund der fehlenden grammatikalischen Signale (wie etwa des Vergleichspartikels ›wie‹ oder der konjunktivischen Konjugation) nur aus der rein äußeren Gestalt strenggenommen nicht zu unterscheiden, ob es sich beim Gesagten um eine wörtliche Prädikation handelt oder doch um eine Metapher. Um eine metaphorische Aussage als solche zu erkennen, ist man auf eine Berücksichtigung des umgebenden formal-sprachlichen sowie inhaltlich-sachlichen Kontextes angewiesen. Diese basale Bedingung verleiht der Metapher eine Sonderstellung unter den sprachlich-figurativen Ausdrucksmitteln. Ihr kommt damit eine besondere Fähigkeit zu, ein semantisches Kippspiel effektvoll zu inszenieren. Denn eine metaphorische Aussage ist falsch (im eigentlichen Sinne) und richtig (im übertragenen) zugleich.

1.2

Maksim Gor’kij und ›das Leben der Schatten‹

Diese janusköpfige Struktur der Metapher sorgt dafür, dass eine metaphorische Prädikation abgesehen von ihrem Kontext gegebenenfalls nicht metaphorisch, sondern wörtlich gedeutet werden könnte. Dies trifft auch auf den Satz ›Das filmische Bild ist lebendig‹ bzw. ›Es gewinnt Leben‹ zu – also den Ausdruck, der in der ersten Berichterstattung über das Kino sinngemäß häufig zu begegnen ist. In diesem Fall müsste es – rein theoretisch betrachtet – durchaus möglich sein, die Aussage so zu interpretieren, dass der Verfasser des Satzes das gesehene Bild mit der darin abgebildeten lebendigen Realität tatsächlich verwechseln würde. Mit anderen Worten: In dieser metaphorischen Aussage ist das filmische Bild mit seinem Inhalt oder seiner Bedeutung (›Leben‹) gleichsam identisch und different zugleich. In der Lebensmetaphorik wird der Eindruck bzw. die Wahrnehmung einer lebendigen Realität des Bildes dargestellt (A=B), während dieser Inhalt durch das Wissen um die technisch hergestellte Scheinhaftigkeit verleugnet wird (A≠B). Trotz ihrer an sich unvereinbaren Botschaften bestehen die beiden Aussagen gleichzeitig nebeneinander. Da diese Ambivalenz in der semantischen Struktur einer Metapher einem wesentlichen Aspekt des von den ersten Kinozuschauern Erlebten hochgradig entspricht, taucht die Metapher bei der sprachlichen Schilderung ihrer Filmrezeption immer wieder auf. Maksim Gor’kijs zwei Essays über den Cinématographe von

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Metaphorologie des Kinos

Anfang Juli 1896 sind geradezu als ein Paradebeispiel anzuführen, das sich dieser zweischneidigen Funktion der Rhetorik und vor allem der Metapher für die Beschreibung des eigenen Filmerlebnisses bedient. Es fällt sofort auf, dass der spätere sowjetrussische Erzähler und Dramatiker bereits in den beginnenden Sätzen des ersten seiner beiden Kinoaufsätze eindeutig verneint, was von jenen Berichterstattern, die für eine verblüffende Realitätsillusion der filmischen Bilder plädieren, einstimmig vertreten wird. Ihnen zufolge gebe das Kino das Leben in voller Natürlichkeit wieder. Die selten anzutreffende Einstellung dieses späteren namhaften Schriftstellers erklärt bis zum gewissen Grad den Umstand, dass seine Essays in der jüngeren Erforschung des frühen Kinos bevorzugt herangezogen werden. Denn sie scheinen den Zweck restlos zu erfüllen, den althergebrachten Mythos der leichtgläubigen frühen Zuschauer ad absurdum zu führen. Sein erstes Feuilleton zum Cinématographe Lumière, den er auf der ›Gesamtrussischen Ausstellung‹ in seiner Heimatstadt Nižnij-Novgorod zu sehen bekommt, beginnt Gor’kij allerdings mit den folgenden Sätzen (Flüchtige Notizen): Gestern war ich im Reich der Schatten. Wenn Sie nur wüßten, wie merkwürdig es ist, dort zu sein. Es gibt nicht einen Laut, und keine Farben. Alles dort – die Erde, die Bäume, die Menschen, Wasser und Luft – ist in eintöniges Grau getaucht. Auf grauem Himmel graue Sonnenstrahlen, graue Augen in grauen Gesichtern, auch die Blätter an den Bäumen sind grau, wie Asche. Das ist nicht das Leben, sondern der Schatten des Lebens. Das ist keine Bewegung, sondern der lautlose Schatten der Bewegung.12 »Das ist nicht das Leben, sondern der Schatten des Lebens.« – Die ernüchternde Bemerkung lässt sich neben anderem auf zwei wesentliche, wenigstens für einige Jahrzehnte anhaltende Defizite des Films zurückführen: an Laut (bis zu den späten 1920er Jahren) und an Farbe (bis zu den 1930ern). Auf diese Weise scheint jene Behauptung eines wirkmächtigen Realitätseffektes der filmischen Bilder einerseits (ideologie-)kritisch unterminiert zu werden. Aber auf der anderen Seite müsste Gor’kij selbst unter dem Verdacht stehen, eine zivilisatorische Errungenschaft in einen obskur rückständigen bzw. reaktionären Zusammenhang zu stellen. Vor der seinerzeit neuesten technischen Erfindung malt er die an eine schwarze Magie gemahnenden Schreckensbilder aus: Mit Schaudern sieht man es an – diese Bewegung einzig nur von Schatten. Man erinnert sich an Alpträume, an Verwünschungen, an böse Zauberer, die ganze Städ-

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Pacatus, I.M. [= Gor’kij, Maksim]: »Flüchtige Notizen«, in: Frank Kessler/Sabine Lenk/Martin Loiperdinger (Hg.), Anfänge des dokumentarischen Films, Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1995 (= KINtop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 4), S. 13-16, hier S. 13.

1 Der ›lebende Schatten‹ als metaphorisches Paradigma

te mit Schlaf überziehen, und es kommt einem vor, als sei das vor uns ein böser Scherz Merlins.13 An einer anderen Stelle erscheinen Gor’kij die Menschen, die auf dem Film des Lautes und der Farbe beraubt und als »Schatten« fixiert sind, nicht nur durch den schwarzen Zauber eingeschlafen, sondern gar tot. Drei Kartenspieler und der Kellner in einem Film »krümmen sich vor Lachen … aber kein Laut ist zu hören. Als wären diese Menschen gestorben und ihre Schatten dazu verurteilt, bis in alle Ewigkeit schweigend Karten zu spielen.« Vor der Leinwand registriert Gor’kij wiederum in einem konjunktivischen Satz seinen Eindruck, dass die gefilmten Menschen so auf ihn wirken, als käme ihnen zusammen mit ihrer Stimme und Farben auch das Leben selbst abhanden. Gemäß dieser Empfindung erfüllen die auf diese Weise wahrgenommenen filmischen Bilder dann seine »Seele mit Trauer« und »Schaudern«14 . So läuft die Beobachtung, die eine Realitätsillusion der filmischen Bilder von Grund auf bloßzulegen scheint, in Gor’kijs Textverlauf wider Erwarten auf keine aufgeklärt-aufklärerische, technikorientierte oder materialistische Position hinaus. Im Gegensatz zu einer nüchtern distanzierten objektiven Betrachtung erblickt Gor’kij im Film nicht bloß die Schatten des Lebens, geschweige denn die technisch hervorgebrachten leblosen Schatten, die durch ein elektrisches Licht auf die rechteckige Leinwand geworfen werden. Vielmehr ist es ein Leben der Schatten, das dort zum Vorschein kommt. Dieses Leben darf faktisch nicht im filmischen Bild vorhanden sein, während Gor’kij trotzdem nicht umhinkann, es mit eigenen Augen wahrzunehmen. Daher also seine »Schauder« beim Betrachten des Cinématographe, daher »glaubt« er »seinen Augen nicht«15 . Es ist ein »absonderlich[es]«16 Leben, dessen Bewegungen er auf der Leinwand verfolgt: »ein Leben, das irgendwie unnatürlich eintönig ist, ein Leben ohne Farben und Klänge, aber voll Bewegung, ein Leben von Geistern«17 . Im filmischen Bild existiert für Gor’kij ein regelrecht paradoxes Leben: das Leben ohne Leben bzw. eine lebendige Leblosigkeit, oder die Schatten des Lebens, die selbst – trotz alledem – als lebendig wahrgenommen werden: das Leben der Schatten. Diese paradoxen Züge des filmischen Bildes treten etwas deutlicher im zweiten Artikel (Von der Gesamtrussischen Ausstellung) hervor, in dem Gor’kij bei mehreren

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Ebd., S. 14. Ebd., S. 14 f. P(eško)v, A. [= Gor’kij, Maksim]: »Von der Gesamtrussischen Ausstellung (Von unserem Korrespondenten). ›Der Kinematograph von Lumière‹«, in: Kessler/Lenk/Loiperdinger, Anfänge (wie Anm. 12), S. 16-20, hier S. 16. Pacatus [= Gor’kij]: »Flüchtige Notizen« (wie Anm. 12), S. 13. P(eško)v [= Gor’kij]: »Von der Gesamtrussischen Ausstellung« (wie Anm. 15), S. 18.

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Metaphorologie des Kinos

Filmen jeweils eine Diskrepanz zwischen der Realität und der Irrealität in der Wirkung des Filmischen feststellt. Bei einem Film, der sich auf einem Pariser Boulevard abspielt, »brodelt ein merkwürdiges Leben, das echte, lebendige, fieberhafte Leben«, aber »trotzdem ist es so klein, grau, eintönig und unbeschreiblich seltsam«.18 In einem an Der begossene Gärtner (L’Arroseur arrosé, FR 1895) erinnernden Film sei er »erstaunt über diese lebendige Szene voll Bewegung, die sich in absolutem Schweigen vollzieht«. Beim bereits angesprochenen Film der Kartenspieler gehe schließlich gerade vom Lachen, das die Gesichtsmuskeln der Herren vor lebendiger Erregung vibrieren lässt, »etwas Kaltes aus, das dem lebendigen Leben so gar nicht gleichen will«. Das paradoxe Leben des Films geht in einer dialektischen Logik – bildlich gesprochen – aus diesem »schaudererregend[en]« Gefälle der Temperaturen zwischen der Kälte und der Wärme bzw. dem »fieberhafte[n] Leben« hervor. Je lebendiger, echter und realitätsnäher die Filmbilder erscheinen, umso absonderlicher und vom »lebendigen Leben« grundverschiedener wirken sie: »Wie phantastisch ist dieses lautlose Lachen«. Die Metapher eines anderen, »absonderlichen und phantastischen« ›Lebens‹ des filmischen Schattens lässt auf diese Weise zwei grundsätzlich unverträgliche Beobachtungen nichtsdestotrotz nebeneinander bestehen. Die filmischen Bilder sind demzufolge lebendig und leblos zugleich – genauso wie jene »schauererregend[en]« Phantome, jenes »Leben im Jenseits«19 . Mit dieser Beobachtung steht Gor’kij nicht allein da. Auch ein gewisser O. Winter, dem trotz seiner immer noch nicht ermittelten Identität sowie der bescheidenen Anzahl seiner Schriften der Titel »the first British film critic«20 gebühren soll, beschreibt beinahe zeitgleich in der englischen Zeitschrift New Review im Mai 1896 dasselbe Leben. Der Textverlauf seines Essays Ain’t It Lifelike! weist gegenüber Gor’kijs beiden Artikeln in Bezug auf dieses ›Leben‹ im Filmbild eine erstaunliche Parallelität auf. Das Leben, das Winter auf der Leinwand erblickt, übt auch auf ihn einen »terrifying effect« aus, da es sich um ein »life with a difference« handelt.21 Der Unterschied besteht bei ihm aus zwei Bestandteilen. Einerseits ist das »life« des Tons und der Farben beraubt; hinzu kommt die mechanische Beschaffenheit der filmischen Kamera, die anders als menschliche Augen die optische (monochrome) Welt vor ihr in einem immer gleichen Tempo wahllos aufnimmt und wiedergibt. Offenbar mit Blick auf einen der ersten Lumière-Filme, Barque sortant du port (FR 1895), erkennt er diesen Effekt in der gespaltenen Wahrnehmung einer (Ir-)Realität im Bild: 18 19 20 21

Ebd., S. 16. Ebd., S. 17 f. Bottomore, Stephen: »1896: Ain’t It Lifelike!«, in: Sight and Sound 51 (1982), S. 294-296, hier S. 294. Winter, O.: »Ain’t It Lifelike!«, in: New Review vom Mai 1896, zitiert nach Bottomore, »1896« (wie Anm. 20), S. 294-296, hier S. 294.

1 Der ›lebende Schatten‹ als metaphorisches Paradigma

Though you are conscious of the sunshine, the picture is subdued to a uniform and baffling grey. Though the waves break upon an imagined shore, they break in a silence which doubles your shrinking from their reality. The boys laugh with eyes and mouth – that you can see at a glance. But they laugh in a stillness which no ripple disturbs.22 Genauso wie Gor’kij macht auch Winter im ton- und farblosen Lachen der filmischen Figuren den Zwiespalt zwischen der Wahrnehmung einer real lebendigen Natur und einer Irrealität des »Reich[s] der Schatten« am deutlichsten aus. Es sind aber anders als bei Gor’kij nicht phantomähnliche ›lebendige Schatten‹, sondern vielmehr »marionettes«23 , an die ihn die menschlichen Figuren auf der Leinwand aufgrund ihres lebendig-unbelebten Erscheinungsbildes denken lassen. So wirkt das im Film medial festgehaltene ›Leben‹ nicht nur bei Menschen, sondern auch in der Dingwelt absonderlich: Here, then, is life; life it must be because a machine knows not how to invent; but it is life which you may only contemplate through a mechanical medium, life which eludes you in your daily pilgrimage. It is wondrous, even terrific; the smallest whiff of smoke goes upward in the picture; and a house falls to the ground without an echo. It is all true, and it is all false.24 Neben dem Ausfall des Tons und der Farben sorgt die mechanisch wahllose Aufnahme der Filmkamera dafür, dass das gefilmte ›Leben‹ eigentümliche Züge trägt und somit »wondrous« und »terrific« erscheint. Die kinematographische Maschinerie registriert etwas anderes als die visuelle Welt, welche die menschlichen Augen durch das »composing, eliminating, and selecting«25 wahrnehmen. Das ›Leben‹ auf der Leinwand muss deswegen ebenfalls etwas anderes als das Leben sein, dem man im Alltag auf der Straße begegnet. Das wirkliche Leben (A) ist dementsprechend kein ›Leben‹ auf der Leinwand (B; A≠B). Trotzdem sind die beiden ein und dasselbe Leben (A=B). Daraus folgt, dass man im Kino zwar Wahrheit sieht, welche aber im gleichen Atem als Lüge zu bezeichnen ist (»It is all true, and it is all false«). Dieser schauder- bzw. schwindelerregende Gedanke findet bei Gor’kij in der Metapher des ›lebendigen Schattens‹ oder in der metaphorischen Prädikation ›Das filmische Bild ist lebendiger Schatten‹ seinen Ausdruck. In diesem Satz ist die einfache Aussage der sonst geläufigen Lebensmetaphorik (›Das filmische Bild ist lebendig‹ bzw. ›Es gewinnt Leben‹) durch die Zutat des synekdochischen ›Schattens‹ bereichert und verkompliziert. Bei der Metaphorik des ›Lebens‹ begrüßen die Autoren beinahe euphorisch den realitätsgetreuen Eindruck des Films und behaup22 23 24 25

Ebd. Ebd. Ebd., S. 295. Ebd., S. 294.

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ten, in den filmischen Bildern die lebendige Realität erblickt zu haben (A=B). In der Tat erweist sich diese Aussage aber als metaphorisch, wenn man einmal die Kontexte prüft. Indem dies zutage tritt, wird dann die wörtliche Prädikation zugunsten des übertragenen Inhaltes verleugnet (A≠B). Im Gegensatz zu diesem einfachen Satz bringt Gor’kijs doppelbödige Prädikation ›Das filmische Bild ist lebendiger Schatten‹ auf einmal, i.e. ohne einen Umweg durch den Kontext die beiden Botschaften (A=B und A≠B) zum Ausdruck, die eigentlich nicht gleichzeitig bestehen können: 1) ›Das filmische Bild ist lebendig/Leben‹; 2) ›Das filmische Bild ist Schatten‹. Während der lebendige Eindruck des Films durch das Wissen um die technisch hervorgebrachte flache Schattenhaftigkeit des filmischen Bildes negiert wird, besteht gleichwohl die Empfindung einer beispiellosen realen Lebendigkeit und muss als solche ausgedrückt werden. So erweist sich die Prädikation ›Das filmische Bild ist lebendiger Schatten‹ anders als der einfache metaphorische Satz per se als widersprüchlich und paradox.

1.3 1.3.1

Zur Wahlverwandtschaft zwischen der Metapher und dem Kino. Stählin und Münsterberg Die »Bewußtseinslage der doppelten Bedeutung«. Stählins Metapherntheorie

Gor’kijs metaphorischer Prädikation gebührt eine für alle diesbezügliche Metaphern paradigmatische Stellung. Denn sie legt die für diese rhetorische Figur typische semantische Pendelbewegung (A=B / A≠B) deutlich offen, die andere einfache Metaphern mehr oder minder unauffällig vollziehen. Harald Weinrich zufolge definiert sich die ›neue‹ Metapherntheorie dadurch, dass sie Metapher nicht – wie die ›alte‹ – als ein verkürztes Gleichnis, sondern als eine »widersprüchliche Prädikation« versteht. Indem ein Vergleich die divergierenden Bedeutungen der verglichenen beiden Satzelemente in dialektischer Art durch ein Drittes, das Tertium comparationis, synthetisiert, wird die semantische Struktur somit vermeintlich stabilisiert. Im Unterschied hierzu bleibt bei einer Metapher die Spannung der Sache und des Bildes trotz einer wechselseitigen Wirkung bestehen. Gor’kijs Metapher des ›lebendigen Schattens‹ gilt gemäß Weinrichs Erläuterung für eine ›kühne Metapher‹, bei der die Widersprüchlichkeit der metaphorischen Prädikation »nicht unbemerkt bleiben kann«26 .

26

Weinrich, Harald: »Semantik der kühnen Metapher« [1963], in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, 2., um ein Nachw. zur Neuausg. u. einen bibliogr. Nachtr. erg. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 316-339, hier S. 330.

1 Der ›lebende Schatten‹ als metaphorisches Paradigma

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts findet sich im deutschsprachigen Kulturraum einer der ersten Versuche der ›neuen‹ Metapherntheorie im Sinne Weinrichs. Der Theologe und Psychologe Wilhelm Stählin erklärt diese reziproke semantische Beziehung zwischen der Sache und dem Bild – bzw. dem Bildempfänger und dem Bildspender, um sich auf Weinrichs Begrifflichkeiten zu stützen – in einer prädikativen Konstruktion als das konstitutive Element der Metapher. Infolge dieser Einsicht gilt seine Würzburger Dissertation Zur Psychologie und Statistik der Metapher (1914)27 in der nachfolgenden Forschung als ein Vorläufer der »Interaktionstheorie der Metapher […] [interaction view of metaphor]«28 . Diese Strömung, zu deren Hauptvertretern auch Weinrich zählt,29 sollte erst ab den 1950er Jahren in den Arbeiten ihrer Vertreter wie Max Black ihre eigentliche Blüte erreichen.30 Stählins Auffassung der Metapher beleuchtet die strukturelle Wahlverwandtschaft zwischen dieser sprachlichen Figur und dem Kino oder Filmerlebnis31 und verdient aus diesem Grund hier eine eingehende Betrachtung. Stählin geht von der »rein äußerlichen Begriffsbestimmung« der Metapher aus, dass »ein Gegenstand mit dem Namen eines anderen Gegenstandes, der einer anderen Sphäre angehört, bezeichnet [wird], ohne daß diese Übertragung selbst sprachlich zum Ausdruck kommt«32 . Dieser übertragene Gegenstand bzw. »der metaphorische Ausdruck steht jedes Mal in einer gewissen Spannung mit dem Zusammenhang«33 und stellt folglich in diesem neuen Kontext »ein[en] Fremdkörper« dar. Behält er trotz dieses Sphärenwechsels doch seine »›eigentliche[n]‹« »Wortbedeutungen«34 bei. Stählin rekonstruiert den inneren Akt, der beim Verstehen einer Metapher im Bewusstsein des Lesers stattfinden soll: 27 28 29 30

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32 33 34

Stählin, Wilhelm: »Zur Psychologie und Statistik der Metaphern. Eine methodologische Untersuchung«, in: Archiv für die gesamte Psychologie XXXI (1914), S. 297-425. Black, Max: »Die Metapher« [1954], in: Haverkamp, Theorie (wie Anm. 26), S. 55-79, hier S. 68 (Herv. im Orig.). Vgl. Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol, 5., durchges. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 90, Anm. 3. Vgl. Willer, Stefan: Art. »Metapher/metaphorisch«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 7: Supplemente, Register, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 89-148, hier S. 138 f. Wenigstens im persönlichen Umfeld des Religionspsychologen, der unter anderem vom Begründer der Würzburger Schule der Denkpsychologie Oswald Külpe geschult wird, erregt das Kino schon wissenschaftliches Interesse: Stählin fertigt seine Dissertation bei Karl Marbe an, dessen Untersuchungen über das Urteil (1901) sowie über den Rhythmus der Prosa (1904) er als methodische Referenz für die eigene Arbeit hervorhebt. Der Leiter des psychologischen Instituts an der Universität Würzburg veröffentlichte bereits vier Jahre vor Stählins Dissertation die kognitionspsychologische Arbeit über die Filmwahrnehmung; vgl. Marbe, Karl: Theorie der kinematographischen Projektionen, Leipzig: Barth 1910. Stählin: »Zur Psychologie« (wie Anm. 27), S. 321. Ebd. (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 322.

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[E]s kommen Merkmale zum Bewußtsein, Beziehungen tauchen auf, Beziehungsgegenstände fallen ein, Gefühlswerte klingen an, und vor allem: es wird eine Sphäre bewußt, in die der Gegenstand [des übertragenen Wortes eigentlich] hineingehört. Gleichzeitig aber bin ich durch den [neuen] Zusammenhang gezwungen, ein anderes Stoffgebiet, eine andere Sphäre ins Auge zu fassen. Der Zusammenhang liefert mir die Beziehungsgegenstände, mit denen das Wort hier in Beziehung gesetzt werden soll, und es sind andere Beziehungsgegenstände, als die mir sonst wohl bei diesem Wort einfallen möchten. Es ist eine eigentümliche Bewußtseinslage, die hierdurch entsteht, und ich glaube sie zutreffend als die »Bewußtseinslage der doppelten Bedeutung« kennzeichnen zu können.35 Stählin zufolge besitzt eine metaphorische Prädikation diese »doppelte Bedeutung« gleichzeitig, da »[d]as eine […] das andere nicht aus dem Bewußtsein auszulöschen« vermag. Diese »Bewusstseinslage der doppelten Bedeutung«36 zeichnet für ihn die »wirkliche und eigentliche Metapher«37 aus. Auf der einen Seite müsste zwar »ein Austausch der Merkmale, eine Vereinigung der beiderseitigen Sphären, eine Verschmelzung von Bild und Sache«38 stattfinden, sodass eine Metapher schließlich sinngemäß verstanden wird. Ungeachtet dieses interaktiven »Austausch[es]«, der einen scheinbaren »befriedigenden Ausgleich«39 der Spannung herbeiführen soll, kann dies jedoch keine endgültige Stabilisierung oder Aufhebung der widersprüchlichen prädikativen Sinnstruktur bedeuten. Denn sie müsste notwendigerweise einen Ausfall jener »Bewußtseinslage der doppelten Bedeutung« bewirken, die Stählin als konstitutiv für eine Metapher definiert. Dies demonstriert sein Ausschluss nicht nur des Gleichnisses, sondern auch der Exmetapher bzw. Katachrese – wie das »Haupt einer Räuberbande«40 , der »Fuß eines Berges« oder »ein seltsame[r] Lebensgang«41  – aus der Gruppe »wirkliche[r] und eigentliche[r] Metaphern« eindeutig. Denn in diesen Beispielen verschwindet die semantische Spannung zwischen der wörtlichen und der übertragenen Bedeutung zugunsten einer semantischen Stabilität (beim Gleichnis) oder Identität (bei den

35 36 37 38

39 40 41

Ebd. (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 323 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 379 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 324 (Herv. im Orig. gesperrt). – Ungeachtet der unterschiedlichen Themenwahl teilt Stählin hier mit Marbes Theorie der kinematographischen Projektionen (wie Anm. 31) insofern dieselbe Terminologie, als Marbe mit Blick auf die Filmwahrnehmung konstatiert, »daß zwei oder mehrere sukzessiv und periodisch auf das Auge wirkende Reize bei genügender Sukzessionsgeschwindigkeit zu einer intensiv und qualitativ konstanten Empfindung verschmelzen« (S. 27). Ebd., S. 326. Ebd. (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 327 (Herv. im Orig. gesperrt).

1 Der ›lebende Schatten‹ als metaphorisches Paradigma

katachrestischen Ausdrücken). Infolgedessen bleibt hier für die »Bewußstseinslage der doppelten Bedeutung« kein Spielraum mehr.42 In dieser Hinsicht ist Ekkehard Eggs’ Auslegung zuzustimmen, nach der sich »das Verstehen allgemein im Sinne von Stählin als gleichzeitige Bewegung hin zum Identischen und zum Nichtidentischen bestimmen«43 lasse. Demzufolge erfordert eine metaphorische Prädikation neben einer semantischen Identität per definitionem immer eine Nichtidentität des Bildspenders und des Bildempfängers, um überhaupt als eine Metapher funktionieren zu können. In einer metaphorischen Prädikation wird, so ebenfalls Gerhard Kurz, »eine Gleichheit […] behauptet, zugleich aber auch ihre Nichtgeltung«. Zudem vermag Stählin zufolge »[d]as eine […] das andere nicht aus dem Bewußtsein auszulöschen«. Die metaphorische Prädikation gilt (A=B) und gilt nicht (A≠B) zugleich. Insofern definiert aus dieser theoretischen Perspektive »[d]iese Simultanität der Geltung und Nichtgeltung«44 oder die oszillierende »gleichzeitige Bewegung hin zum Identischen und zum Nichtidentischen«45 die Metapher. Für die vorliegende Arbeit kommt es selbstredend nicht darauf an, den seinerzeit bahnbrechenden Theorieansatz Stählins mit Blick auf die darauffolgende Entwicklung der Metapherntheorie auf seine psychologische bzw. philologische Richtigkeit kritisch zu prüfen. Stählins Metaphernverständnis erscheint hier vielmehr vor allem aus zwei Gründen besonders erwähnenswert. Zum einen eignet es sich als ein Beleg dafür, dass im metapherntheoretischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts neue Wege geebnet werden. Dank dieser Innovation ist man nun in der Lage, gerade über jene Eigenschaft thematisch nachzudenken, die im zeitgenössischen metaphorischen Diskurs des Kinos bereits praktiziert zu finden ist. Stählins Metapherntheorie zufolge löst die »Bewußtseinslage der doppelten Bedeutung« das Oszillieren zwischen der Geltung (A=B) und der Nichtgeltung (A≠B) einer metaphorischen Prädikation aus. Auch in der Beschreibung der ersten Kinoerlebnisse spielt diese für eine Metapher konstitutive Schwingung eine ausschlaggebende Rolle. Es ist gerade dieses semantische Kippspiel, das dort eine häufige Verwendung der Metapher veranlasst, wie Gor’kijs Paradebeispiel dies – metaphorisch gesprochen – vor Augen führt.

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Dies weist die pragmatischen Züge von Stählins Metapherntheorie – und zugleich von der Interaktionstheorie der Metapher im Allgemeinen – auf, da es nicht von der Wortbedeutung selbst, sondern von der jeweiligen kommunikativen Situation abhängt, ob ein Ausdruck entweder wörtlich oder als Metapher (i.e. mit der doppelten Bedeutung) oder aber als Katachrese bzw. Exmetapher (ohne solche semantische Spannung) usw. verstanden wird. Eggs, Ekkehard: Art. »Metapher«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5: L-Musi, Sp. 1099-1183, hier Sp. 1161. Kurz: Metapher (wie Anm. 29), S. 25. Eggs: Art. »Metapher« (wie Anm. 43), Sp. 1161.

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Metaphorologie des Kinos

Zum anderen gilt es hervorzuheben, dass die vergleichbare Vorstellung einer Koexistenz des doppelten, eigentlich nicht kompatiblen inneren Zustandes nahezu gleichzeitig auch im beginnenden theoretischen Diskurs des Kinos als ein zentrales Merkmal des Kinoerlebnisses zur Diskussion steht. Trachtet man sich in der Frühzeit des Mediums systematisch der Bewusstseinslage eines Zuschauers anzunähern, so greift man das Modell einer im Grunde unvereinbaren doppelten Instanz auf. Es geht also um eine innere Struktur, die mit der »Bewußtseinslage« bei einer Metapher hochgradig kongruent organisiert ist. Hugo Münsterbergs Kinotheorie aus dem Jahre 1916, auf die im Folgenden eingegangen werden soll, stellt vor dieser Folie beinahe einen Begründungsversuch für die Beschreibung und somit für das Verständnis des Kinos und seines Erlebnisses mittels der Metapher dar.

1.3.2

Der »eigentümlich vielschichtige Zustand«. Münsterbergs Filmtheorie

In ihren Beschreibungen der Filmvorführung beziehen sich die frühen Zuschauer auf den inneren Zwiespalt vor allem durch die Verwendung der Metapher. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Stählins Dissertation findet dieselbe ›doppelte Bewußtseinslage‹ in einem der ersten umfangreichen Ansätze zur Filmtheorie einen prägnanten Ausdruck. Der deutsche Experimentalpsychologe Hugo Münsterberg, der zur damaligen Zeit als Harvard-Professor auf beiden Seiten des Atlantiks hohes Ansehen als akademische Persönlichkeit genießt, publiziert 1916 die Abhandlung Das Lichtspiel [The Photoplay]. Im engen Zusammenhang mit seiner Forschung im Bereich der angewandten Psychologie, die er in den Vereinigten Staaten durch den neu eingerichteten Arbeitsbereich an der Harvard University fachlichinstitutionell zu etablieren sucht, beschäftigt er sich hier mit dem neuen Medium. Seinerzeit steht das Kino unter dem Zeichen der sowohl produktions- als auch aufführungstechnischen Entwicklung von einem ›Kino der Attraktionen‹ hin zum narrativen, ›klassischen Kino‹. Münsterberg geht es in dieser Arbeit zum einen um psychologische Analysen der mentalen Aktivität bei der Filmwahrnehmung, die durch eine charakteristische innere Spaltung gekennzeichnet ist. Auf diesem psychologischen Befund aufbauend, expliziert er zum anderen die filmspezifischen erzählerischen Mittel wie Großaufnahme und Montage, die in einer Narration analog verschiedenen psychischen Mechanismen funktionieren sollen. Dieser Ansatz erscheint als eine Vorwegnahme der späteren konstruktivistischen Filmtheorien (z.B. von Kuleschow oder Eisenstein) zwar höchst beachtenswert. Hier empfiehlt sich indes eine Auseinandersetzung mit seinen psychologischen Erläuterungen über den inneren Zustand beim Filmerlebnis, um auf das oben angesprochene Verständnis der Filmwahrnehmung im frühen Kinodiskurs ein neues Licht zu werfen. Münsterberg zufolge ist die filmische Wirkung nicht nur auf eine passive Wahrnehmung äußerer Informationen, sondern vielmehr auf ein Zusammenspiel »in-

1 Der ›lebende Schatten‹ als metaphorisches Paradigma

nere[r] psychische[r] Aktivität«46 angewiesen. Zur Begründung dieser These setzt er sich zunächst mit den beiden wesentlichen Aspekten der Filmwahrnehmung auseinander: Tiefe und Bewegung. Es ist hier gerade deswegen besonders angebracht, seine Erörterung über das Erstere der beiden ausführlicher zu berücksichtigen, da die metaphorische Figur der ›plastischen‹ bzw. ›reliefartigen‹ Tiefe bereits in den ersten Berichten über die Filmvorführung mehrfach auffällt. Münsterbergs Argumentation hinsichtlich der Tiefenwirkung im Kino weist gemäß der ambivalenten Sachlage (genauso wie bei der Bewegungserscheinung) eine charakteristische Oszillation auf. Beim Betrachten des Films weiß man wohl, so Münsterberg, dass auf der Leinwand keine wirkliche »Tiefe« bzw. »Entfernung zu uns oder von uns weg«47 vor sich zu haben ist. In dieser Hinsicht ist ein Eindruck der Tiefe durch das basale technische Wissen anscheinend ohne weiteres ausgeschlossen. Trotz dieses per se sachgerechten Wissens erscheint das filmische bewegliche Bild vor dem Zuschauer immer noch mit einem gewissen Tiefeneindruck. Der Verlauf des Textes wird von der Fragestellung geleitet, wie diese Widersprüchlichkeit im Filmerlebnis psychologisch zu verstehen ist. Hierbei gilt es hervorzuheben, dass Münsterberg, seiner fachlichen Ausrichtung gemäß, diesen Befund der disjunktiv zweiteiligen Struktur der Filmrezeption keinem normativen Urteil unterziehen will. So wird versucht, den Widerspruch durch eine Polarisierung zweier Ordnungen zu erklären. Der zufolge ist der Zwiespalt zwischen der Tiefenwirkung und der diese Empfindung verleugnenden Erkenntnis auf den »Unterschied zwischen einem Objekt unseres Wissens und einem Objekt unseres Eindrucks« zurückzuführen. Die Ordnung des Eindrucks als die subjektive Modalität der Filmrezeption wird bei ihm bemerkenswerterweise nicht etwa in der Art einer Ideologiekritik als eine zu beseitigende perzeptive Täuschung ad acta gelegt. Das Wissen der apparativ bedingten Flächigkeit der Bilder beeinträchtigt folglich nicht im Geringsten den »unmittelbare[n] Eindruck. Keinesfalls haben wir das Recht, zu behaupten, daß die Szenen, die wir auf der Leinwand sehen, uns als flache Bilder erscheinen.«48 Der logische Irrtum, der widerlegt und korrigiert werden muss, ist Münsterberg zufolge vielmehr gerade in einem vermeintlich wissenschaftlichen bzw. aufklärerischen Unternehmen auszumachen, das den subjektiven Eindruck durch das objektive Wissen zu verdrängen sucht: »[Es] liefe […] doch nur auf die übliche Konfusion zwischen dem Wissen über ein Bild und seiner tatsächlichen Erscheinung hinaus, wollten wir leugnen, daß uns dennoch ein gewisser Tiefeneindruck erreicht«.49 Dem objektiv sachlichen Wissen um die technischen Funktionalitäten 46 47 48 49

Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie [1916] und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien: Synema 1996, S. 49 f. Ebd., S. 42. Ebd. Ebd., S. 43.

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des kinematographischen Apparates wird hier lediglich ein klar eingegrenzter Einflussbereich zugewiesen. Infolgedessen wird jeder Versuch zur Verleugnung des subjektiven Tiefeneindrucks als eine selbstgefällige Grenzüberschreitung streng bestraft: »Die Flächigkeit ist zwar ein objektiver Teil des physikalisch-technischen Arrangements, aber kein Merkmal dessen, was wir in der Vorführung des Lichtspiels eigentlich sehen.«50 Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass diese »unleugbar[e]« »Tiefenwirkung«, die man »eigentlich« sehe, derart überzeugend erschiene, dass man das scheinbar dreidimensionale Bild auf der Leinwand mit dem wirklichen Raum verwechseln könnte: »Ungeachtet dessen lassen wir uns niemals täuschen; wir sind uns der Tiefe voll bewußt, und dennoch halten wir sie nicht für tatsächliche Tiefe.« Dem Quidproquo sollen außer dem »physikalisch-technischen« Wissen in erster Linie die »technischen Unzulänglichkeiten«51 im Wege stehen. Gemeint sind vor allem die Störungen der Perspektive wegen der Flächigkeit des Bildes – etwa die Verzerrung der Größenverhältnisse oder die Abhängigkeit des Bildes vom Blickpunkt (i.e. von der Entfernung und dem Winkel gegenüber dem Leinwandbild). Außerdem erinnert die materielle Konstruktion des filmischen Dispositivs wie »das Format, der Rahmen und der gesamte Bildaufbau nachdrücklich an die Unwirklichkeit des wahrgenommenen Raumes«. Des Weiteren macht die Binokularität des menschlichen Sehens stets auf die zweidimensionale Oberfläche der Leinwand aufmerksam. Zumal die »beide[n] Augen« anders als bei einer realen Sicht »identische Eindrücke empfangen«,52 die durch die monokulare Kamera photographisch festgehalten worden sind. Nicht zuletzt stellt die flächige Leinwand selbst dem Zuschauer einen Gegenstand der optischen Wahrnehmung sui generis dar, und dies kann die Vorstellung eines durch die Leinwand hindurch erstreckten kontinuierlichen Raumes bisweilen konterkarieren. So erkennt auch Münsterberg genauso wie Gor’kij wohl die unbefriedigenden Qualitäten in der filmischen Wiedergabe der lebendigen oder dreidimensionalen Wirklichkeit. Die beiden können gleichwohl trotz alledem nicht umhinkönnen, die Empfindung eines Lebens oder einer Tiefe im Film einzuräumen. Aus der eigentümlichen Oszillation zwischen dem Eindruck und dem Wissen bzw. zwischen dem Glauben und der Ungläubigkeit an der Tiefe kristallisiert sich schließlich bei Münsterberg der folgende Satz heraus, der die Filmrezeption als ein paradoxes kognitives Erlebnis pointiert bezeichnet: »Wir sehen zweifellos die Tiefe, können sie aber dennoch nicht akzeptieren.« Einen Film zu sehen, muss demzufolge heißen, sich einer inneren Spaltung zu unterziehen. Man kann das im Kino Gesehene oder einen

50 51 52

Ebd., S. 44. Ebd. (Herv. im Orig.). Ebd., S. 45.

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realitätsgetreuen und lebendigen Eindruck des filmischen Bildes weder als eine optische Täuschung abtun, noch kann man der Wahrnehmung als etwas Wirklichem Glauben schenken. Die Menschen auf der Leinwand bewegen sich anscheinend »auf uns zu und von uns weg«, aber »die Personen selbst sind nicht aus Fleisch und Blut«, sondern aus flächigen Schatten. Bei der Filmwahrnehmung pendelt man auf diese Weise unaufhörlich zwischen der Realität und der Irrealität, zwischen dem Leben und dem Schatten. Es ist ein einzigartiges inneres Erleben, das die Wahrnehmung der Lichtspiele charakterisiert. Wir haben die Realität mit all ihren wirklichen Dimensionen; und doch bleibt die flüchtige, vergängliche Oberflächenandeutung ohne wirkliche Tiefe und Fülle […].53 Das Filmerlebnis ist demnach als ein regelrechtes Paradoxon zu bezeichnen. Vor der Leinwand soll das »Bewußtsein […] in einen eigentümlich vielschichtigen Zustand« (»a peculiar complex state«)54 versetzt werden, näherhin in eine Spaltung zwischen dem Eindruck und dem Wissen bzw. dem Empfinden und dem Erkennen. Dieser innere Konflikt im Filmzuschauer legt wohl nahe, dass gerade die ersten Beobachter des Kinos in ihren Artikeln mehrfach gestehen müssen, beim Beschreiben eigener Filmerlebnisse mit Schwierigkeiten konfrontiert zu werden. Gor’kij: »Der Eindruck, den sie [bewegte Photographien] hervorrufen, ist so ungewöhnlich, so einzigartig und komplex, daß ich kaum vermag, ihn in allen seinen Nuancen zu schildern«55 . Gerade angesichts der heranrückenden Bilder des Films eines einfahrenden Zugs, dem gelegentlich »das Gefühl von Tiefe und Relief«56 zugesprochen wird, gibt der Berichterstatter des Kölner Stadt-Anzeigers seine Schilderung der Cinématographe-Vorführung nahezu auf: »Hier kann die Feder den sich abspielenden Scenen nicht folgen.«57 Infolge des »vielschichtigen Zustand[es]« des filmsehenden und -beschreibenden Subjektes fällt es überaus schwer, das »unmittelbar« Empfundene in sprachlich-begriffliche Kategorien des Erkannten umzusetzen und so beide zwiespältigen Ordnungen im Beschreiben versöhnend zu überbrücken. Wie oben besprochen, versuchen die frühen Filmberichterstatter aus diesem Dilemma vor allem durch die Metaphern herauszukommen. Dies gelingt aber gerade nicht dadurch, dass eine metaphorische Prädikation diesen »vielschichtigen Zustand« bzw. die »Bewußtseinslage der doppelten Bedeutung« mittels Metapher

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Ebd. (Herv. im Orig.). Ebd. Der originale amerikanische Wortlaut aus: Münsterberg, Hugo: The Photoplay. A Psychological Study, New York/London: Appleton 1916, S. 57. Pacatus [= Gor’kij]: »Flüchtige Notizen« (wie Anm. 12), S. 13. Regnault (wie Anm. 3). Zitiert nach Fischli (Hg.): Vom Sehen (wie Anm. 10), S. 8.

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erfolgreich in eine stabile Identität oder Synthesis bringen könnte. Bei den Berichten wird auf die metaphorische Redeweise vielmehr deswegen bevorzugt rekurriert, weil sie mittels des semantischen Oszillierens in der Lage ist, den inneren »vielschichtigen Zustand« beim Kinoerlebnis auf der sprachlichen Ebene exakt abzubilden und zum Ausdruck zu bringen. Gor’kijs ›kühne Metapher‹ eines ›lebenden Schattens‹, die aus nichts Geringerem als seinem Zögern bei der Beschreibung des eigenen Filmerlebnisses hervorgeht, weist nur einen der radikalsten Versuche auf, sich dem inneren Zwiespalt des Eindrucks und des Wissens sprachlich anzunähern. Diese in sich widersprüchliche Metapher, die einen realitätsgetreuen Eindruck (›Leben‹) und ein dieses Empfinden unterlaufendes sachliches Wissen (›Schatten‹) gleichermaßen berücksichtigen soll, nimmt gerade deswegen selbst paradoxe Züge in Kauf. Dies betrifft ebenfalls die – wenn auch weniger auffällige – Plastik- bzw. Reliefmetaphorik, die viele Beobachter der Geburtsstunde des Kinos in der Presse gerade mit Blick auf den Tiefeneindruck des Films einsetzen. Münsterberg selbst bezieht sich an einer Stelle auf das Bild einer »Skulptur in Bewegung« oder eines »hochplastische[n] Relief[s]«, das der amerikanische Dichter Vachel Lindsay in seinem Theorieansatz des Films – The Art of the Moving Picture (1915)58  – verwendet. Dieses Bild legt Münsterberg als eine Metapher aus, mittels derer der Autor jener sachgemäß unmöglichen, aber dennoch unnegierbaren Tiefenwirkung des Films, i.e. jenem »vielschichtigen Zustand«, Ausdruck zu geben trachtet.59 In beiden Fällen kommen Metaphern als ein Ausdrucksmittel zum Tragen, das zwei divergente Positionen des Eindrucks und des Wissens einerseits so inszenieren kann, dass sie sich bis zu einem gewissen Grad überschneiden. Erst dadurch soll eine schwierige Beschreibung des Filmerlebnisses bewerkstelligt werden. Aber andererseits signalisieren sie mittels der offenbaren inhaltlichen Unstimmigkeit eine Nichtgeltung der Prädikation. Diese für Metapher wesentliche Janusköpfigkeit wirkt jedoch zu dem heiklen Zweck vorteilhaft, um den »vielschichtigen Zustand« des Kinozuschauers seiner Komplexität entsprechend wiederzugeben.

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Lindsay, Vachel: The Art of the Moving Picture, New York: Macmillan 1915, S. 80 (»sculpturein-motion«) und 84 (»high sculptural relief«). Münsterberg: Das Lichtspiel (wie Anm. 46), S. 44.

2 Vom ›Memento mori‹ zum ›Antichrist‹. Literarische Variationen einer Leitmetapher

2.1

Vom ›Kino‹ zum ›Film‹ – ein Paradigmenwechsel?

Die These einer strukturellen Wahlverwandtschaft der Metapher und des Kinos bzw. seines Erlebnisses, die im vorherigen Kapitel unterstellt wurde, beansprucht weniger eine systematische, sondern vielmehr eine diskursgeschichtliche Relevanz. Dies leuchtet besonders ein, wenn man einen in der Forschung zum Thema des deutschsprachigen Kinodiskurses im frühen 20. Jahrhundert mehrfach konstatierten Paradigmenwechsel vom ›Kino‹ zum ›Film‹ berücksichtigt. Fritz Güttinger macht als Erster darauf aufmerksam, dass die »Äußerungen über den Stummfilm der zehner Jahre« »gar nicht vom Film handeln, [sondern] immer nur vom Kino«. Den Übergang im »Fachausdrückliche[n]« markiert Güttinger zufolge der Anfang der 1920er Jahre. In den Titeln der filmtheoretischen Abhandlungen, die seit dem Kriegsende in großer Anzahl erscheinen, ist »dann im Titel nicht mehr vom Kino, sondern vom Film die Rede«1 . Dieser terminologische Wandel könnte auf den ersten Blick insofern verwundern, als er die tatsächliche Reihenfolge umzukehren scheint. Geht der kinematographische Film doch auf den Rollfilm zurück, den »Eastman 1888 auf den Markt«2 bringt. Ohne den Bildträger wäre das Aufkommen des Kinos im Jahre 1895 sicherlich nicht denkbar. Diese scheinbare Verwirrung in der terminologischen Abfolge wird nicht relativiert und kann sich womöglich noch verschärfen, wenn man die Mehrdeutigkeit des Wortes ›Kino‹ berücksichtigt. Denn dies bezeichnet nicht nur den technischen Apparat wie Cinématographe oder Bioskop, sondern bezieht sich 1

2

Güttinger, Fritz: Der Stummfilm im Zitat der Zeit, S. 23. Diese Beobachtung ist inzwischen vom aktuellen Standardwerk über die Geschichte des deutschen Nationalkinos aufgenommen worden. Vgl. Jacobsen, Wolfgang: »Frühgeschichte des deutschen Films. Licht am Ende des Tunnels«, in: Ders./Anton Kaes/Hans Helmut Prinzler (Hg.), Geschichte des deutschen Films, 2., aktualis. u. erw. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 13-37, hier S. 16. Beller, Hans: »Aspekte der Filmmontage. Eine Art Einführung«, in: Ders. (Hg.), Handbuch der Filmmontage. Praxis und Prinzipien des Filmschnitts, 5., gegenüber der 4. unveränd. Aufl., Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2009, S. 9-32, hier S. 9.

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Metaphorologie des Kinos

auch auf den spezifischen Aufführungs- und Rezeptionskontext, das ›Dispositiv‹ (Jean-Louis Baudry). Seit der Frühzeit des Mediums weist der Terminus ›Kino‹ zum einen auf den technischen Apparat zur Aufnahme, Duplikation sowie Projektion des Films hin. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn diese Bezeichnung nach dem damals üblichen Sprachgebrauch als Maskulinum (der Kino) Verwendung findet. Diese jetzt weitgehend verschwundene Form kommt insbesondere in den 1910er Jahren als die Abkürzung des ›Kinematographen‹ im Sinne des Cinématographe vielerorts in Gebrauch.3 Der Beginn der öffentlichen Aufführung des Films im Jahre 1895 bedeutet andererseits noch keine Entstehung des Kinos im engeren Sinne vom ständigen Vorführraum. Als materieller Bildträger wandert der Film ohne lokale Verankerung von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, oder alternativ führt man ihn etwa als Schlussnummer in Varietés vor. Die Erfindung des Kinos als der ortsfesten Abspielstätte erfolgt erst nach dieser sogenannten ambulanten Ära, nämlich »seit 1905«. In diesem Jahr werden die ersten »ständige[n] Kinos eingerichtet«, und 1906 sollte ein »Gründungsboom« des Kinos bzw. Ladenkinos ganz Deutschland überziehen.4 Immerhin: Die Bevorzugung des ›Kinos‹ in den frühen einschlägigen Publikationen vor dem ›Film‹ ist schließlich nicht technikgeschichtlicher, sondern diskurshistorischer Natur. Die beiden Bezeichnungen von ›Kino‹ und ›Film‹ referieren, so Sabine Hake, zwar auf »the same phenomenon, but they never reached complete identity; a residue of nonidentity, of difference, always remained«5 . Sie verortet diesen »terminological shift from Kino to Film«6 ebenfalls in den Zeitraum um das Ende des Ersten Weltkriegs und sieht darin einen Indikator, der auf »the new approaches to the medium« hinweist: Whereas Kino emphasized the side of reception, including the framework of exhibition and the diverse cultural practices associated with the cinema as an experience and event, Film referred primarily to the finished product, in its function ei-

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Konrad Lange etwa sage »immer ›der Kino‹«, weil diese »Abkürzung des Maskulinums ›der Kinematograph‹ [ihm] wichtiger zu sein [scheine] als die Analogie von ›das Auto‹«, vgl. Lange, Konrad: Nationale Kinoreform, München-Gladbach: Volksvereins-Verlag 1918, S. 3. Müller, Corinna: »Der frühe Film, das frühe Kino und seine Gegner und Befürworter«, in: Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba (Hg.), Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln: Böhlau 2001, S. 62-91, hier S. 63 f. – Hans-Michael Bock zufolge fehle dem Deutschen dahingegen die Entsprechung zu »dem Ausdruck ›cinéma‹« im Sinne der »Ästhetik und [der] innere[n] Struktur der Kunst«. In: Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien. Mit einer Einführung in Multimedia, hg. von HansMichael Bock, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012, S. 244, Anm. des Herausgebers. Hake, Sabine: The Cinema’s Third Machine. Writings on Film in Germany 1907-1933, S. 107. Ebd. (Herv. im Orig.).

2 Vom ›Memento mori‹ zum ›Antichrist‹. Literarische Variationen einer Leitmetapher

ther as a commodity or a work of art. Film drew attention to the filmic text, whereas Kino put a stronger emphasis on the social setting.7 Mit dem Ausdruck des ›Kinos‹ deutet man einerseits auf das Erlebnis oder die Rezeption in einem kinospezifischen dispositiven Rahmen hin. Unter dem Begriff des ›Films‹ bezieht man sich andererseits weitgehend auf das visuell Wahrzunehmende, das sich für eine bestimmte zeitliche Dauer auf der Leinwand abspielt und somit dem Publikum einen textuell zusammenhängenden Inhalt vermittelt. Während beim ›Kino‹ das wahrnehmende Subjekt in einem apparativen Setting bzw. sein Verhältnis zum dort Erlebten im Mittelpunkt steht, rückt beim ›Film‹ das bildliche Objekt als die mediale Repräsentation in den Vordergrund. Mit anderen Worten: Sollte das Modell des ›Kinos‹ durch eine gewisse Selbstreflexion des Zuschauers gekennzeichnet sein, so tritt dieses selbstbezügliche Moment des Subjekts unter dem Schema des ›Films‹ zugunsten der konzentrierten Thematisierung des Gegenstandes explizit zurück. Der terminologische Wandel vom ›Kino‹ zum ›Film‹ ist aus diesem Grund als ein Ausdruck der Veränderung der allgemeinen Einstellung gegenüber dem Kino zu verstehen. Das Kino bzw. das hier zugetragene Erlebnis bedeutet für das Publikum ab den späteren Kriegsjahren keine Seltenheit mehr, die eine besondere Aufmerksamkeit beanspruchen würde. Das Kinoerlebnis wird derart alltäglich und gleichsam transparent, dass nun der Film selbst als das einzige sehens- und erwähnenswerte Gebilde überhaupt einen Unterschied macht, der das Publikum anspricht. Dieser Wandel lässt sich durch den film- und kinohistorischen Kontext während des Ersten Weltkrieges erklären. In der Regel werden in der filmhistorischen Forschung die Kriegsjahre vor allem durch die rasante Expansion der bisher unterentwickelten deutschen Filmproduktion charakterisiert. Dank der Isolierung vom Import aus den feindlichen Ländern (vor allem dem bisher dominanten französischen Film) sowie des Anfang 1917 erlassenen Einfuhrverbots der ausländischen Filme wird die deutsche Filmindustrie von der starken internationalen Konkurrenz befreit.8 Zum hier besprochenen Prozess einer kulturellen Einbürgerung des Kinos, der gleichzeitig eine gewisse Banalisierung des Kinoerlebnisses nach sich zieht, tragen jedoch in erster Linie die beiden Veränderungen in der distributiven Struktur bei. Zum einen »wenden sich«, so Philipp Stiasny, nun »[n]eue Publikumsschichten« »dem Kino zu«, da der gattungsübergreifende Wettbewerb in der 7 8

Ebd. (Herv. im Orig.). Auf die Entwicklung der deutschen Filmindustrie während des Ersten Weltkrieges nehmen beinahe alle namhaften film- und kinogeschichtlichen Darstellungen zum betreffenden Zeitraum mehr oder minder ausführlich Bezug. Verwiesen sei hier vor allem auf: Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, S. 33-39, sowie Hake, Sabine: Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895, S. 51-56.

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Unterhaltungsbranche kriegsbedingt fehlt. Theater, Varietés und Jahrmärkte etwa müssen vor allem »durch Zensur, Verbote und die Einberufung von Mitarbeitern«9 ihr Geschäft verkleinern oder unter Umständen einstellen. Hinzu kommen auch die in großer Anzahl errichteten Front- bzw. Feldkinos, die den Soldaten insbesondere eine unentbehrliche Zerstreuung in den Tagen des nervenaufreibenden Stellungskrieges anbieten. Man vermutet, dass »viele Männer« »hinter den Schützengräben […] erstmals mit dem Medium Film in Berührung« kommen.10 Beide Phänomene helfen gleichsam die gesellschaftliche Etablierung und den darauffolgenden Aufschwung des Kinos als ein integrierender Bestandteil des freizeitlichen Konsums in der Weimarer Zeit vorzubereiten. Zum anderen kommt der Konsolidierungsprozess, der seit den letzten Vorkriegsjahren vonstattengegangen ist, in den Kriegsjahren (nicht zuletzt durch die Gründung der Ufa von 191711 endgültig) zum Tragen.12 Die nun entstandene vertikale Konzentration der Produktion, Distribution und Exhibition sorgt neben der Längenentwicklung des Films13 für eine veränderte Erwartung des Publikums von einem Kinobesuch. Stand bisher das je nach dem Kinotheater anders strukturierte Kurzfilmprogramm und somit gleichsam das Kinoerlebnis selbst im Mittelpunkt des Publikumsinteresses, so wird nun der einzelne abendfüllende Film als unterhaltendes und/oder künstlerisches Produkt in den Vordergrund gerückt.14 Der ausschlaggebende Anlass eines Kinobesuchs ist von nun an nicht im mehr oder minder ungewöhnlichen Erlebnis des Kinos als einer Attraktion zu suchen, sondern vielmehr im dort vorgeführten einzelnen Film. Es lässt sich in dieser Hinsicht als ein relevantes Zeichen dieses Paradigmenwechsels vom ›Kino‹ zum ›Film‹ verstehen,

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Stiasny, Philipp: Das Kino und der Krieg. Deutschland 1914-1929, S. 27. Mühl-Benninghaus, Wolfgang: Vom Augusterlebnis zur UFA-Gründung. Der deutsche Film im 1. Weltkrieg, S. 48. Zur Ufa vgl. u.a. Kreimeier, Klaus: Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns, München/Wien: Hanser 1992. Der erste Fall der vertikalen Konsolidierung in Deutschland ist aber nicht die Ufa, sondern jener Kinokonzern, zu dem sich bereits im Jahre 1915 Nordisk, Union und Oliver vereinigen. Vgl. dazu Diederichs, Helmut H.: »Frühgeschichte deutscher Filmtheorie. Ihre Entstehung und Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg«, S. 206. Vgl. Müller, Corinna: »Variationen des Kinoprogramms. Filmform und Filmgeschichte«, in: Dies./Harro Segeberg (Hg.), Die Modellierung des Kinofilms. Zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm 1905/06-1918, München: Fink 1998 (= Mediengeschichte des Films 2), S. 43-75. Es gibt allerdings eine Zwischenstufe: Zum ›Monopolfilm‹, dem »historisch erste[n] systematisch auf einzelne Filme zugeschnittene[n] Verleihmodell und insofern de[m] Übergang zum ›modernen‹ Filmhandel«, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg praktiziert wird, vgl. Müller, Corinna: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912, S. 126-157, hier S. 126.

2 Vom ›Memento mori‹ zum ›Antichrist‹. Literarische Variationen einer Leitmetapher

dass die Filmkritik erst ab den 1920er Jahren als fester Bestandteil in der Tagespresse etabliert wird.15 In dem Maße, wie das Kinoerlebnis als selbstverständlich angesehen und als per se nichts Erwähnenswertes vorausgesetzt wird, tritt die metaphorische Beschreibung des Kinos zurück. Denn es handelt sich bei dieser als einer Darstellung der doppelten Bewusstseinslage des Zuschauers gerade um seine selbstreflexive Deskription. Aus diesem Grund markiert der Paradigmenwechsel vom ›Kino‹ zum ›Film‹ gleichzeitig die Zeitschwelle, ab der die metaphorische Rede im kinobezüglichen Feuilleton ungleich weniger auffällt als etwa vor dem Ersten Weltkrieg. In der Tat finden sich in filmkritischen Artikeln, welche nun die dominante Gattung der kinobezüglichen Publikation ausmachen, seit dem Ende des Ersten Weltkrieges nur ausnahmsweise metaphorische Beschreibungen des Kinoerlebnisses. Stattdessen herrscht dort die unmittelbare, i.e. wörtliche Bezugnahme auf den gesehenen Film als das zu bewertende Objekt, und das Subjekt tritt im Textverlauf nicht als ein Erlebender, sondern vielmehr als ein kritisch Beurteilender hervor. Dabei betrachtet der Autor seinen Gegenstand angeblich nüchtern aus der Distanz und ist sich dementsprechend der doppelten Struktur seines inneren Zustandes selten bewusst. Bildlich gesprochen: Die metaphorisch widersprüchliche Struktur der Kinorezeption wird bei den Filmkritikern gleichsam zu einer nicht mehr auffälligen Exmetapher bzw. Katachrese, von der hier als selbstverständlich ausgegangen ist. Alternativ geht sie zu einem Gleichnis über, bei dem die semantische Widersprüchlichkeit durch ein fiktionalisierendes Rahmungsverfahren – genauso wie durch die Vergleichspartikel ›wie‹ – zu einer vermeintlichen Stabilität geleitet wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die metaphorisch doppelte Struktur des Kinoerlebnisses ab dem Ende des Ersten Weltkrieges von Grund auf aus dem Bewusstsein der Autoren verdrängt wird. Anders als in den üblichen Filmkritiken, die in der Regel einzelne Filme thematisch besprechen, tritt die metaphorische Rede häufiger dort in Erscheinung, wo der Filmkritiker – allerdings weniger bei Kritiken als etwa bei Aufsätzen – den Film bzw. »die kinematographische Entwicklung im Ganzen im Auge«16 hat. Rudolf Arnheim behauptet, der Filmkritiker sehe »die Filmproduktion der ganzen Welt als eine einheitliche Arbeit, in der jedes einzelne Werk seinen Platz hat«17 . Während Karl Prümm in dieser Einstellung den »Grundgestus«18 der Filmkritik der 1920er Jahre ausmacht, sieht Heinz-Bernd Hel15 16

17 18

Diederichs, Helmut H.: »Filmkritik und Filmtheorie. Analyse, Urteil & utopischer Entwurf«, in: Jacobsen/Kaes/Prinzler, Geschichte (wie Anm. 1), S. 497-510, hier S. 499. Prümm, Karl: »Filmkritik als Medientransfer. Grundprobleme des Schreibens über Filme«, in: Norbert Grob/Ders. (Hg.), Die Macht der Filmkritik. Positionen und Kontroversen, München: edition text + kritik 1990, S. 9-24, hier S. 21. Arnheim, Rudolf: »Fachliche Filmkritik« [1929], in: Ders., Kritiken und Aufsätze zum Film, hg. von Helmut H. Diederichs, München/Wien: Hanser 1977, S. 167-172, hier S. 171. Prümm: »Filmkritik« (wie Anm. 16), S. 21.

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Metaphorologie des Kinos

ler »dieses programmatische Selbstverständnis« bevorzugt »in den Rezensionen zu Ausnahmefilmen«19 wie Chaplin-Filmen oder sowjetischen Avantgardefilmen verwirklicht. Auf jeden Fall kommt bei dieser allgemeineren oder grundsätzlicheren Fragestellung auch im Rahmen der Filmkritik das (oft idealisierte und erstrebenswerte) Verhältnis des Zuschauers zum Film zur Sprache, das häufig auf irgendeine metaphorische Rede rekurriert. Mehr als die Filmkritik betrifft dies jedoch insbesondere die Filmtheorie, welche in der Regel universelle systematische Aussagen über den Film bzw. das Kino vorzulegen pflegt und gerade seit dem Ende des Ersten Weltkrieges eine regelrechte Konjunktur erlebt. Die Filmtheoretiker, zu deren ersten auch Münsterberg zählt, beschäftigen sich – gerade wie dieser – mehr oder minder nachdrücklich mit den möglichen Beziehungen des Zuschauers zum Film, und dies erfolgt nicht selten in metaphorischer Sprache. Es ist sogar häufig zu beobachten, dass der theoretische Kern gerade in der metaphorischen Modellbildung dieses dispositiven Verhältnisses des Zuschauers zum Film oder den filmischen Bildern auf der Leinwand besteht. Insofern leuchtet es ein, dass eine der innovativsten jüngeren Untersuchungen der Filmtheoriegeschichtsschreibung die Geschichte der Filmtheorie gerade als »eine Reihe von Metaphern, Konzepten und Begriffsfeldern« über »[d]ie unterschiedlichen Relationen zwischen Zuschauer und Film«20 rekonstruieren. In ihrer Filmtheorie zur Einführung (2007) bringen Thomas Elsaesser und Malte Hagener die theoretischen Leitmetaphern von ›Fenster und Rahmen‹ über ›Tür und Leinwand‹, ›Spiegel und Gesicht‹, ›Auge und Blick‹, ›Haut und Kontakt‹, ›Ohr und Ton‹ bis hin zu ›Geist und Gehirn‹ ins Spiel. Diese ingeniöse Rekapitulation der Filmtheoriegeschichte legt wohl nahe, dass die Filmtheorie nach jenem Paradigmenwechsel nun eines der Zentren des metaphorischen Kinodiskurses darstellt. Die Filmtheorie pflegt sich – anders als die übliche Filmkritik – dem Phänomen des Kinos im Ganzen anzunähern, und das dispositive Setting bildet einen konstitutiven Teil des kinematographischen Prozesses. Infolgedessen erfordert dieses Unternehmen zwangsläufig eine selbstreflexive Fragestellung der Filmrezeption. Aus der Verlagerung auf die filmtheoretische Rede ergibt sich allerdings ein tendenziell tiefreichender semantischer Wandel der metaphorischen Figuren. Denn im theoretischen Sprachgebrauch geht den Metaphern die doppelte und übertragene Bedeutung in der Regel verloren, und sie verwandeln sich in die mehr 19

20

Heller, Heinz-Bernd: »Massenkultur und ästhetische Urteilskraft. Zur Geschichte und Funktion der deutschen Filmkritik vor 1933«, in: Grob/Prümm, Die Macht (wie Anm. 16), S. 25-44, hier S. 41. Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius 2007, S. 14. Den Autoren zufolge »kann sich keine theoretische Position auf Film und Kino dieser Relation entziehen«, und »[j]eglicher Entwurf einer Filmtheorie konzeptioniert im Kern (auch) die Beziehung von Film und [Zuschauer-]Körper«. (S. 13)

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oder minder eindeutigen Termini. In diesem Kontext ist es auch ein Verdienst von Elsaessers und Hageners Historiographie, dass sie die filmtheoretische Terminologie aus metaphorologischer Perspektive als das Bündel der (Ex-)Metaphern herausstellt.

2.2

Das Kino als ›Memento mori‹. Victor Klemperer: Das Lichtspiel

Schließlich sind es neben anderen die literarischen Texte, welche auf die metaphorische Rede über das Kino zurückgreifen. Gemeint sind zwar in erster Linie die essayistischen bzw. feuilletonistischen Artikel, die das Kino überwiegend als eine typisch moderne Erscheinung in gesellschaftlicher, kulturtheoretischer oder ästhetischer Hinsicht thematisieren. Aber auch fiktionale, insbesondere epische Gattungen wie Roman, Novelle oder Erzählung nehmen nicht selten auf das Kino und den Film Bezug und speisen sich hierbei häufig aus dem Repertoire der metaphorischen Figuren, die in der Mehrheit aus der das Kino betreffenden Publizistik hervorgeht.21 Insbesondere der ›Als-ob‹-Charakter der Metapher kommt den literarischen (und potenziell auch filmischen) Selbstreflexionen des Filmerlebnisses auf der fiktionalen Ebene sehr zugute. In der Tat treten die film- wie kinobezüglichen Metaphern in den epischen Texten wie Roman oder Novelle (oder in den Drehbüchern bzw. Filmen) gelegentlich als thematische Motive auf. So eröffnet sich mittels der Metapher eine neue Perspektive auf den intermedialen Bezug, dem in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden soll. Diese literarische Bezugnahme auf das Kino erfolgt freilich nicht im theoretischen Interesse wie bei der Filmtheorie, sondern basiert vielmehr auf einer integralen Fähigkeit der Literatur, wie sie Jochen Hörisch auf den Punkt bringt. Ihm zufolge zähle es »[z]u den Funktionen von Literatur«, »mit äußerster Aufmerksamkeit die Massenmedien« – hier vor allem die »AV-Technologie« einschließlich des Kinos – »zu beobachten«, obwohl sie hinsichtlich der Funktion dieser Medien über »kein eigentliches Sachwissen« verfügt.22 Gerade »aufgrund ihrer fachlichen Inkompetenz« jedoch vermag Literatur, so Hörisch, »systematisch so etwas wie semantischen Überfluß« herzustellen.23 Insofern werden sowohl das Kino als 21

22 23

Gerade der Lyrik, der die bisherige Forschung über die Literatur-Film-Beziehung einen mehr oder minder marginalen Stellenwert zusprach, wird nicht zuletzt durch jüngere bemerkenswerte Dissertationen große Beachtung gezollt. Verwiesen sei insbesondere auf: Röhnert, Jan Volker: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars – John Ashbery – Rolf Dieter Brinkmann, Göttingen: Wallstein 2007 sowie Orphal, Stefanie: Poesiefilm. Lyrik im audiovisuellen Medium, Berlin/Boston: de Gruyter 2014. – Zur Dramatik siehe Kapitel 8 der vorliegenden Studie. Hörisch, Jochen: Ende der Vorstellung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 25. Ebd., S. 26.

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Metaphorologie des Kinos

ein technisches, gesellschaftliches bzw. kulturelles Motiv wie auch die kinobezüglichen Metaphern durch den literarischen Diskurs nicht nur einfach aufgenommen und wiedergegeben. Sie werden in der Literatur gelegentlich auch umformuliert und um die neuen sowie traditionellen Konnotationen bereichert, die bisweilen Zusammenhänge mit anderen Diskursen erschließen. Es wird in der deutschsprachigen Literatur ab den 1910er Jahren beispielsweise auch an die Metapher des ›lebendigen Schattens‹ angeknüpft, die etwa bei Gor’kij als eine ›kühne Metapher‹ das innere Kippspiel bei einem Kinoerlebnis abbildet. Dies erfolgt dort durch den Zusatz des ›Schattens‹, bei dem es sich in Wahrheit weniger um eine Metapher handelt, sondern um eine eher sachgemäße Beschreibung des kinematographischen Dispositivs oder allenfalls um eine Synekdoche. Da filmische Bilder auf der Leinwand aus flimmerndem Licht und Schatten bestehen, sieht man im Kino in der Tat – entweder monochrome oder farbige – Schatten. Diese ergeben sich ihrerseits aus den Schatten, die bei der Aufnahme auf dem Zelluloidstreifen fixiert sind, um dann durch das Licht aus dem Projektor auf die Leinwand geworfen zu werden. Das Pars pro toto des ›Schattens‹ findet schon seit dem Anfang des Kinodiskurses und sogar früher als bei Gor’kij etwa in der ersten Filmberichterstattung – mehrheitlich in Gestalt des ›Schattenspiels‹ bzw. des ›-bildes‹ – seinen Niederschlag. In der Regel trägt diese Synekdoche einen ernüchternden Zug, da sie auf die technischen Funktionalitäten im Klartext verweist, welche die filmische Realitätsillusion sichtlich konterkarieren. Der Bericht im Berliner Lokal-Anzeiger vom 5. November 1895 aus Anlass der ersten Vorführung des Bioskops im Berliner Varieté ›Wintergarten‹ etwa kommentiert diese Erfindung aus derselben Stadt vollkommen nüchtern, indem er sie mit den Vorgängerapparaten in medientechnischer Hinsicht sachlich vergleicht: Lehrreich und amüsant ist auch die Schlußnummer des Programms, das »Bioskop«. [Ottomar] Anschütz hat schon vor Jahren von Personen und Tieren in den einzelnen Phasen ihrer Bewegungen photographische Momentaufnahmen gemacht[,] die er dann auf einem raschrotierenden Rade vereinte, so daß das Auge Person oder Tier in der jeweilig photographierten Bewegung sah. Edison hat Anschütz’ Apparat[,] den »elektrischen Schnellseher«, in seinem Kinetoskop ausgestaltet. Hunderte von rasch bewegten und beleuchteten Bildchen setzen sich zu lebendigen Szenen aus dem Leben zusammen. Diese letztere Erfindung Edisons ist in dem Bioskop mit vielem Geschmack verwertet. Eine kinoskopische Szene wird auf eine beleuchtete, helle Fläche reflektiert, so daß sie den Eindruck von Schattenspielen macht. Nur das Zittern der einzelnen Figuren erinnert an

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die Zusammensetzung aus vielen kleinen, durch Elektrizität rasch bewegten und beleuchteten Bildchen.24 Die synekdochische Bezeichnung des Kinos als ›Schattenspiel‹ bzw. ›-bild‹ wird auch weiterhin als ein gezieltes Signal bevorzugt verwendet, um einen selbstbewusst distanzierten Umgang des Verfassers mit dem realitätsnahen Eindruck des Films nachdrücklich hervorzuheben. 17 Jahre später nimmt etwa Victor Klemperer, der zu dieser Zeit in Berlin als freier Schriftsteller tätig ist, in seinem Artikel Das Lichtspiel (1912) auch auf dieses Pars pro toto Bezug. Sein Schreiben zum Thema Kino ist in erster Linie (und nicht nur bei dem hier zu besprechenden Aufsatz) von seiner gegenüber dieser neuen »Volksbühne in der weitesten und einzig edlen Wortbedeutung« offenen Einstellung ausgezeichnet. Diese Haltung zählt unter den Intellektuellen insbesondere vor dem Ersten Weltkrieg eindeutig zu den Ausnahmen. Seine aufgeschlossene Würdigung gipfelt in der seinerzeit unerhörten Bemerkung, dass »auch die Schicht der Gebildeten vor dieser Bühne zum Volk« gehöre.25 Ungeachtet dieses in den damaligen Verhältnissen mutigen Bekenntnisses zum Kino sieht er sich dennoch gezwungen, sich von dem »Volk« intellektuell wie sozial abgrenzen zu müssen: Denn während der naive Zuschauer mit unbefangener Illusionskraft die bewegten Bilder als etwas wahrhaft Körperliches nimmt, dem er die Seele abfragt, kann der bewußtere Betrachter keinen Augenblick das Gefühl dafür verlieren, daß er es nicht mit den realen Dingen, daß er es vielmehr mit ihren Schattenbildern zu tun hat.26 Die kinobezügliche Synekdoche des ›Schattens‹ funktioniert hier etwa als eine gesellschaftliche wie geistige Abgrenzungsfolie, welche die selbstbewussten »Gebildeten« von den gutgläubigen »Ungebildeten«27 bzw. der »Masse der naiven Zuschauer«28 unüberbrückbar auseinanderhält. Das Wort ›Schatten‹ als ein Pars pro toto schöpft seine desillusionierende Wirkung aus dem objektiv-sachgemäßen und insofern vernünftigen Wissen um die technische Herstellungsweise der Illusion des Lebens (nämlich »etwas wahrhaft Körperliche[n]« plus der »Seele«). Auf diese technische Täuschung sollen, meint Klemperer, die »naiven Zuschauer« ohne weiteres hereinfallen. Während die »Ungebildeten« glaubten, dass im Bild eine lebendige »Seele« vorhanden wäre, durchschauten die »Gebildeten« den technischen

24 25 26 27 28

Zitiert nach Olimsky, Fritz: Tendenzen der Filmwirtschaft und deren Auswirkung auf die Filmpresse, Berlin: Berliner Börsen-Zeitung 1931, S. 20. Klemperer, Victor: »Das Lichtspiel« [1911/12], in: Fritz Güttinger (Hg.), Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, S. 76-85, hier S. 83. Ebd., S. 83 f. Ebd., S. 82. Ebd., S. 85.

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Metaphorologie des Kinos

Trick und sähen auf der Leinwand lauter Schatten. Von der widersprüchlichen, i.e. metaphorischen Wahrnehmung, bei der man trotz dieses sachgerechten Wissens auf dem Bild eine gewisse Lebendigkeit ausmachen müsste, ist Klemperer hier durchaus befreit. Diese nüchterne Sichtweise wird ihm durch den »bewußtere[n]« Umgang mit dem filmischen Bild bzw. dank der synekdochischen Auffassung des Films als ›Schatten‹ bewerkstelligt. Diese Feststellung, die für die Schriften der bildungsbürgerlichen Kinogegner bzw. -reformer geeigneter erscheint, sucht Klemperer indes als der erklärte Kinofreund in den darauffolgenden Zeilen in ein Argument für das Kino umzukehren. Indem er von der »Verwandtschaft« des Kinos mit den »uralten Schattenspiele[n]« spricht, behauptet Klemperer, dass »alle Sonderreize des alten Schattenspiels restlos auf die Filmdarstellung« übertragen seien. Durch diese »Verwandtschaft« wird das »Kinotheater« als ein »Schattenspiel« ebenfalls mit der »uralte[n], ewig wiederholte[n] Weisheit« in Verbindung gebracht. Es handelt sich nämlich um jene Wahrheit, auf die das »alte Schattenspiel« bei »Indern und manchen orientalischen Völkern« hingewiesen habe. Demnach sehe der (zumindest ›gebildete‹) Kinozuschauer »in der schattenartigen Darstellung der Menschen und Dinge ein Sinnbild für die Nichtigkeit der irdischen Erscheinungswelt«29 , so Klemperer. Aus dieser Bemerkung lässt sich nicht lediglich eine dezidiert befürwortende Intention des Autors für das Kino ablesen, die umso leichter zur Übertreibung tendiert, da das Kino unter den Gebildeten generell als primitiv und plebejisch beiseitegeschoben wird. Besonders auffallend ist vielmehr das Mittel, das Klemperer zu diesem Zweck aufgreift, nämlich eine Metaphorisierung der Synekdoche. Dieser Vorgang, der sich auch als eine Variation des metaphorischen Paradigmas ›lebendiger Schatten‹ verstehen lässt, geht hier in zwei Schritten vonstatten. Zum einen erhält das Wort ›Schatten‹, das ursprünglich als ein Pars pro toto einen Teil des kinematographischen Dispositivs benennt, durch den vorangegangenen Kontext zusätzlich einen ersten konnotativen Inhalt. Infolgedessen besagt es nicht nur den distanziert reflektierten Umgang eines Intellektuellen mit dem Film, sondern auch gleichsam die Aufdeckung bzw. Negation des ›Lebens‹ im Film als technische Illusion. Demzufolge führt das Kino ›Schatten‹ (»Schattenbilder«) als etwas Unbelebtes, Unwirkliches vor. Das Wort ›Schatten‹ stellt jedoch selbstredend kein abstraktes logisches Signal für eine Negation dar. Es weist vielmehr sowohl die expliziten Wortbedeutungen als auch eine Reihe der impliziten Vorstellungen und Gefühlswerte auf, die mit dem Nomen lexikalisch oder konnotativ verknüpft werden. Unter diesen möglichen Merkmalen wird aus dem technisch bedingten, bewegten und flimmernden Erscheinungsbild des ›Schattens‹ im Kino einerseits sowie der (negativen) Verbindung mit dem ›Leben‹ andererseits durch erklärliche Assoziationen die Bedeutung 29

Ebd., S. 84.

2 Vom ›Memento mori‹ zum ›Antichrist‹. Literarische Variationen einer Leitmetapher

des ›Flüchtigen‹ bzw. ›Vergänglichen‹ aktiviert. Gemäß diesem doppelten Zusammenhang, also durch die sowohl inner- als auch außertextuellen Assoziationsketten, drückt die metaphorisierte Synekdoche ›Schatten‹ jetzt so viel wie die ›Vergänglichkeit des Lebens‹ bzw. »die Nichtigkeit der irdischen Erscheinungswelt« aus. Anders formuliert: Aus dem metaphorischen Paradigma ›lebendiger Schatten‹ lässt sich hier eine Variante ›schattenhaftes Leben‹ herausarbeiten, welche Klemperer an dieser Stelle implizit intendiert. Da eine metaphorisch prädikative Struktur dabei aus dem ›Leben‹ und dem ›Schatten‹ besteht, findet zwischen den beiden eine semantische Interaktion statt, durch die sich am Ende die Bedeutung des ›vergänglichen Lebens‹ herauskristallisiert. Auf diese Weise figuriert das Kino wiederum metaphorisch als ein Ort, in dem man sich mit der Vanitas-Problematik konfrontiert sehen und über die eigene ›schattenhaft‹ vergängliche Existenz (›Leben‹) reflektieren soll. So vermag Klemperer mittels dieser Variation ein respektables (aber ggf. unwahrscheinliches) Argument für den Kinobesuch des Gebildeten vorzulegen, welches das filmische Bild in ein mediales ›Memento mori‹ verwandelt.30

2.3 2.3.1

Hollywood als das »Reich der Schatten«. Höllriegel und Roth ›Hollywood‹ als Metonymie im Amerikanismus-Diskurs

In den frühen 1910er Jahren und am Vorabend des ›Autorenfilms‹ ist der Kinogang eines Intellektuellen auf eine besondere Rechtfertigung angewiesen. Die oben erwähnte kulturelle wie gesellschaftliche Etablierung des Kinos nach dem Ersten Weltkrieg macht diesen heiklen Legitimationsversuch so gut wie überflüssig. Die Akzeptanz des Films von weiten Gesellschaftsschichten einschließlich eines großen Teils der ›Gebildeten‹ bedeutet indes freilich nicht, dass an der wachsenden Filmindustrie in kultureller bzw. gesellschaftlicher Hinsicht keine Kritik mehr geübt wird. Gerade unter den Kultureliten wie den Schriftstellern fällt der Wille zur intellektuellen Abgrenzung in dem Maße auf, wie die stumme Spielfilmproduktion im Laufe der 1910er und 1920er Jahre ihre Erzähl-, Inszenier- und Schnitttechniken mit allen Finessen ausfeilt. Die mittels dieser raffinierten narrativen Methoden zunehmend 30

Diese »pessimistische Philosophie« ist selbstredend kein letztes Wort von Klemperers eifrigem Plädoyer für das Kino. Zu Ende des Essays spricht er dieses Medium nun eben nicht als ein »Schatten-«, sondern emphatisch als ein »Lichtspiel« an, das »die Dinge der Welt« frei von der »Tücke des Objekts« sowie der »Erdenschwere« vor den Menschen »vorübergleiten« lässt und so ein »befreites, unirdisch gewordenes Leben« vorführt (ebd., S. 84 f.). Auf dieses entgrenzende Erlebnis einer von »all[en] Beschwerde[n]« befreienden, unrealistischen bzw. phantastischen Oberflächlichkeit des Kinos soll in Kapitel 5 näher eingegangen werden.

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Metaphorologie des Kinos

glaubwürdig dargebotene fiktionale Welt bietet dem Publikum eine immer größere Möglichkeit der psychischen Identifikation mit dem Film bzw. dessen Figuren oder aber des immersiven Erlebnisses ins Diegetische an. Auf diesem fortgeschrittenen Stand entwickelt sich zudem der kommerzielle wie rituelle Starkult, bei dem die Filmschauspieler in Bezug auf den Lebensstil und das alltägliche Verhalten einen gewissen Vorbildcharakter für die – vor allem jugendlichen – Zuschauer einnehmen. Das salonfähig gewordene Kino scheint dem (nicht nur ›ungebildeten‹) Publikum ein entgrenzendes Erlebnis zu versprechen. Umso hartnäckiger sucht die kulturpessimistische literarische Intelligenz aber die mediale Illusion des Kinos als technisch erzeugte Täuschung zu entlarven und davor zeit- und ideologiekritisch zu warnen. Genau zu diesem Zweck nehmen zwei aus Österreich stammende Schriftsteller mit Blick auf das Kino die Leben-Schatten-Metaphorik wieder auf. Sie sprechen gleichermaßen vom Film als dem ›Reich der Schatten‹, in das sich Gor’kij bereits beim Betrachten des Lumière-Films hineinversetzt glaubte. Unter diesem ›Reich‹ ist diesmal jedoch in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren nicht lediglich das Kino im Allgemeinen gemeint, sondern insbesondere der amerikanische Film oder – metonymisch – ›Hollywood‹. Diese neue Themenwahl reflektiert den Strukturwandel der auswärtigen Konstellation bezüglich der Distribution und Rezeption des Films in der Nachkriegszeit. Nach dem boomartigen Aufschwung der deutschen Filmindustrie in der Zeit des Ersten Weltkrieges bleibt das im Januar 1917 erlassene Importverbot der ausländischen Filme vorläufig in Geltung. Zusammen mit der inflationsbedingten Exportwelle verhilft diese Bestimmung zu einem »sensationellen Durchbruch«31 des deutschen Films. Im Jahre 1921 wird die Einfuhrsperre aufgehoben,32 und ausländische Filme können zwar rechtmäßig in die deutsche Filmlandschaft zurückkehren. Da der deutsche Filmmarkt indes infolge der galoppierenden Inflation zunächst wenig profitabel bleibt, ist es für die ausländischen Filmfirmen aber weiterhin schwierig, ihre Produkte in Deutschland einzuführen. Er eröffnet sich für ausländische Konkurrenten erst dann unumschränkt, als die deutsche Währung durch die Einführung der Rentenmark im November 1923 sowie die Übernahme des Dawesplans im August des nächsten Jahres gesichert wird. Ironischerweise gerade wegen der (vorläufigen) Stabilisierung der allgemeinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage verliert die deutsche Filmindustrie an Marktvorteilen. Die außergewöhnlich expandierende Tendenz der deutschen Filmproduktion kommt hiermit an ein Ende.33

31 32 33

Kracauer: Von Caligari (wie Anm. 8), S. 11. Vgl. Hake: Film (wie Anm. 8), S. 91. Zu der »Zeit der Stabilisierung oder des Dawes-Plans« ausführlich Kracauer: Von Caligari (wie Anm. 8), S. 159-241, hier S. 161. Vgl. auch Hake: The Cinema’s Third Machine (wie Anm. 5), S. 110;

2 Vom ›Memento mori‹ zum ›Antichrist‹. Literarische Variationen einer Leitmetapher

Auf der anderen Seite des Atlantiks formieren sich während des hauptsächlich in Europa ausgefochten Ersten Weltkrieges infolge von Fusionen mehrere große vertikal integrierte Filmfirmen. Aufgrund des kriegsbedingten Zusammenbruchs der europäischen Filmproduktion beherrscht die amerikanische Filmindustrie spätestens bis Ende der 1910er Jahre regelrecht die globale Filmlandschaft.34 Für die amerikanischen Investoren erweist sich der deutsche Filmmarkt jedoch erst unter den veränderten ökonomischen Umständen ab 1924 als zunehmend vielversprechend, und sie exportieren die Filme nunmehr en masse in den neu zu erobernden Absatzmarkt. Während 1923 »102 amerikanische Filme 253 deutschen Produktionen« gegenüberstanden, so entfallen im Jahre 1926 »216 amerikanische Filme auf 185 deutsche Filme«35 . Die verspätete Wiederbegegnung mit dem amerikanischen Film nach der siebenjährigen Zeitspanne seiner schwachen Präsenz übt auf das deutsche Kinopublikum eine umso größere Wirkung.36 Insbesondere sein explizit industriell-kommerzieller Charakter, der keinen Anspruch auf das Künstlerische erhebt, zeichnet den Film als einen wahren Ausdruck der Neuen Welt aus.37 Von daher liegt es wohl nahe, dass dem Film im Amerikanismus-Diskurs eine zentrale Rolle zukommt. In Hollywood, auf das sich zwischen 1911 und 1914 das Zentrum der amerikanischen Filmproduktion von New York verlegt hat, fabriziert die Unterhaltungsindustrie seitdem – von den kulturellen bzw. künstlerischen Einflüssen denkbar weit entfernt – systematisch und massenweise ihre Produkte.38 Das Toponym ›Hollywood‹ bietet aus diesem Grund insbesondere im Deutschland der Stabilisierungsphase als eine Synekdoche für die neuere Strömung des Kinos bzw. der Kulturindustrie im Allgemeinen häufig eine Zielscheibe der kulturpessimistischen Kritik vonseiten der Bildungseliten. In dieser Kontroverse sträuben sie sich gegen die moderne kulturelle Tendenz ›amerikanistischer‹ Prägung und speziell die kommerzielle Filmindustrie.

34 35 36

37 38

Dies.: Film (wie Anm. 8), S. 68, sowie Kaes, Anton: »Film in der Weimarer Republik. Motor der Moderne«, in: Jacobsen/Ders./Prinzler, Geschichte (wie Anm. 1), S. 39-98, hier S. 70. Zur Herrschaft des amerikanischen Films über den internationalen Markt in und nach der Zeit des Ersten Weltkrieges vgl. Monaco: Film (Anm. 4), S. 256-258. Kaes: »Film« (wie Anm. 33), S. 69. Vgl. Saunders, Thomas J.: Hollywood in Berlin. American Cinema and Weimar Germany, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1994, S. 5. Dieser Umstand erklärt einigermaßen die besondere Vehemenz der Amerikanismus-Debatten in der Weimarer Republik der 1920er Jahre. Vgl. Monaco: Film (wie Anm. 4), S. 257. Vgl. ebd.

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Metaphorologie des Kinos

2.3.2

Das ›Leben‹ als ›Schatten‹ des ›Schattens‹. Höllriegel: Du sollst dir kein Bildnis machen

Die journalistischen und literarischen Arbeiten von Richard A. Bermann alias Arnold Höllriegel über Hollywood sollten gerade in diesem Kontext der Vorherrschaft des amerikanischen Films im deutschen Filmmarkt der Stabilisierungszeit betrachtet werden. Der Österreicher hält sich vom Oktober 1926 bis Februar des folgenden Jahres als Reisereporter in Hollywood auf und berichtet über diese Filmstadt.39 Sein »Roman aus Hollywood« erscheint vom Mai bis Oktober 1928 im Berliner Tageblatt.40 Bis zu dieser Zeit hat Höllriegel bereits mehrere literarische Pionierarbeiten zum Thema Film vorgelegt. Er lieferte nicht nur zwei Prosastücke zum Kinobuch (1913/14), der von Kurt Pinthus herausgegebenen Sammlung der Filmideen junger Schriftsteller. Mit seinen beiden Filmromanen, Die Films der Prinzessin Fantoche (1913) sowie Bimini (1923) begründete er geradezu diese literarische Gattung. Erst nach dem Ende der Inflation kommt nun Hollywood, dieses Hypozentrum des Amerikanismus-Diskurses, als ein Synonym für den Film speziell in sein Visier. Höllriegels dritter und zugleich letzter Filmroman trägt das zweite Gebot im Titel: Du sollst dir kein Bildnis machen.41 Hiermit signalisiert er bereits seine distanzierte Einstellung gegenüber dieser Zentrale der globalen Unterhaltungsindustrie. Dr. Paul Pauer, der deutsche Dichter und der Protagonist dieses Romans, kommt zusammen mit seiner Frau Claire von Berlin-Steglitz über New York in Hollywood an, mit einer »revolutionären« Ambition, »dort große und schöne Filme zu dichten«42 . Der deutsche Regisseur Gabriel Garisch, der früher bei der Ufa gearbeitet hat und jetzt »hierherengagiert«43 ist, will aber Pauers nicht dafür vorgesehene Sonette verfilmen und die weibliche Hauptrolle mit seiner Frau Claire besetzen, die vor der Heirat als Schauspielerin auf der Provinzbühne stand. Gegen die Filmrechte soll Pauer nicht nur ein Honorar von »zehntausend Dollars« erhalten. Zudem kann der Dichter im »dramaturgische[n] Bureau« bei einer der großen Hollywoo-

39

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Zu Höllriegels Hollywood-Aufenthalten vgl. Müller, Hans-Harald/Eckert, Brita: Richard A. Bermann alias Arnold Höllriegel, Österreicher – Demokrat – Weltbürger. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933-1945, München u.a.: Saur 1995, S. 194-233. Vgl. ebd., S. 217, Anm. 39. Höllriegel, Arnold: Du sollst dir kein Bildnis machen. Ein Roman aus Hollywood [1928], hg. von Michael Grisko und Stefan Keppler-Tasaki, Siegen: Böschen 2010. Zu diesem Roman vgl. vor allem Keppler-Tasaki, Stefan: »Hollywood als Roman. Kultur- und Medienbegegnungen bei Arnold Höllriegel«, ebd., S. 420-445, sowie Capovilla, Andrea: Der lebendige Schatten. Film in der Literatur bis 1938, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1994, S. 51-61. Höllriegel: Du sollst (wie Anm. 41), S. 16. Ebd., S. 48.

2 Vom ›Memento mori‹ zum ›Antichrist‹. Literarische Variationen einer Leitmetapher

der Filmfirmen engagiert werden und hierfür eine Gage von »tausend Dollars in der Woche«44 beziehen. Hinter den lukrativen Geschäftsbedingungen, die Pauer zuerst förmlich begeistern können, verbirgt sich hier in dreifacher Hinsicht der mögliche Konfliktstoff. Die mediale Verschiedenheit von Literatur und Film kommt zwar auch hier stark zum Tragen. Dieser Gegensatz bedeutete im Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur einen ästhetischen, sondern zugleich einen gesellschaftlichen Klassenunterschied. Insbesondere im bildungsbürgerlichen Kinoreform-Diskurs stellte er eine unüberbrückbare Grenze dar. Dieses mediale Gefälle stimmt auch den Dichter Pauer bisweilen nachdenklich, zumal er seit seiner Ankunft in Hollywood keinen Vers dichten kann, sondern »immer nur Bilder«45 . In diesem Roman wird aber niemals bestritten, dass dem Film eine bestimmte Kunsttauglichkeit zugesprochen werden soll. Der »große Filmregisseur«46 Gabriel Garisch, der im Verlauf des Romans ab und zu als eine allegorische Verkörperung der Kinematographie selbst beschrieben wird, bringt am Ende ein filmisches Kunstwerk hervor. Auch der Dichter, Dr. Pauer, muss den künstlerischen Wert dieses Filmwerkes »zähneknirschend«47 anerkennen. Die mediale Differenz kommt hier nicht als ein ästhetisches, sondern vielmehr gleichsam als ein ontologisches Problem zur Sprache. Denn die Geschichte, die dem zu drehenden Film Stoff liefert, rührt von dem wirklichen Erlebnis des Ehepaars Pauer in ihrer gemeinsamen Vergangenheit her, und Claire soll – jetzt als debütierende Filmschauspielerin ›Clara Power‹ – im Film die Rolle ihrer selbst spielen. Die eigentliche Konfliktquelle besteht in diesem Roman demzufolge nicht zwischen Literatur und Film, sondern zwischen Sein und Schein bzw. ›Leben‹ und ›Schatten‹. Die ethische Entscheidung zwischen Kunst und Geld bzw. Industrie macht in dieser Hinsicht weniger eine Frage sui generis aus, sondern betont lediglich den Kontrast zwischen ›Leben‹ und ›Schatten‹ als ein moralisches Problem. Diese Ergänzung des Geldmotives weist einerseits auf die durchaus kommerzielle Natur der amerikanischen Filmproduktion hin. Sie eröffnet andererseits einen literaturhistorischen Bezug auf Adelbert von Chamissos Märchennovelle Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814), i.e. auf das Motiv des Verkaufes des eigenen Schattens. In diesem Roman ist es aber – wie unten gesehen wird – nicht nur der ›Schatten‹, sondern (die Seele sowie) das ›Leben‹ selbst, das man durch die Dreharbeiten dem Teufel gegen Bezahlung überlässt. Aus diesem Grund ist die Leitfrage, mit der sich Pauer konfrontiert sieht, eher die folgende: Ob man sein ›Leben‹ verkaufen und es dadurch zum ›Schatten‹ verwandeln darf.

44 45 46 47

Ebd., S. 145 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 247. Ebd., S. 80 f. Ebd., S. 318.

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Metaphorologie des Kinos

Höllriegels nüchterne, wenn nicht skeptische Haltung gegenüber ›Hollywood‹ findet in der Spannung zwischen ›Leben‹ und ›Schatten‹ ihren Niederschlag. Die Synekdoche ›Schatten‹ trägt auch hier eine entlarvende Funktion, da die Filmindustrie bzw. ›Hollywood‹ im Grunde nichts anderes als eine riesige Fabrik der »Illusion der Menschenmillionen«48 , i.e. der ›schattenhaften‹ Täuschung des realistischen ›Lebens‹ auf der Leinwand ist. Von daher muss Pauers Entwurf eines selbstreflexiven Films zum Thema Hollywood vom Präsidenten der Firma, der ›Mirador Pictures Corporation‹, strikt abgelehnt werden: »Nehmen Sie Ihre Stoffe, woher Sie wollen, aber zeigen Sie das nicht, im Film nicht, das nicht zu deutlich: wie es in Hollywood zugeht, wie das gemacht wird, daß nicht der angebetete Filmstar selber ins Wasser springt, sondern ein eigens gemieteter Doppelgänger, und daß die Märchenpaläste nur leere Fassaden sind, Gerüste aus photographischem Anschein und Pappe […]«.49 Was sich auf der Leinwand realistisch und ›lebendig‹ zuträgt, besteht aus lauter ›Schatten‹, aus artifiziell bzw. industriell fabrizierten Oberflächen, die hinter sich eine desillusionierende Wahrheit verbergen. Der Hollywood-Aufenthalt als Reisereporter ermöglicht Höllriegel einen Einblick in die Kehrseite bzw. ›Schattenseite‹ dieser glänzenden »Fassaden« des Films.50 Diese Erfahrung wird in Pauers Beobachtungen der Dreharbeiten unverkennbar reflektiert. So wird die Leben-Schatten-Metaphorik in diesem Roman nicht im Rezeptionszusammenhang, sondern im Kontext der Filmproduktion verwendet und unterliegt entsprechend einigen Modifikationen. Vor allem ist zu bemerken, dass das ›Leben‹ hier nicht primär als ›lebendiger Eindruck‹ der filmischen Illusion, sondern überwiegend im Sinne des ›Lebens‹ des Gefilmten bzw. zu Filmenden verstanden wird. Das wirkliche ›Leben‹ des Aufgenommenen wird durch die Dreharbeiten zu einem ›Schatten‹, der bei der Herstellung einer filmischen Illusion des Wirklichen als lauter Rohstoff dienen soll. Mit anderen Worten: Um die Illusion möglichst wirklich zu gestalten, muss die eigentliche Wirklichkeit diesem Zweck gemäß ins Nicht-Authentische, Gekünstelte bzw. Unwirkliche umgestaltet werden. Das Theater »von Neustadt an der Rosach«51 etwa, auf dessen Bühne Pauer Claire zum ersten Mal hat stehen sehen, wird auf dem Hollywooder Studiogelände nachgebaut. In den Augen Pauers, der es einmal während der Dreharbeiten besucht, erscheint es aber »so – – anders, in Form und Farbe«52 : »[E]s fehlt etwas, es ist etwas anders, 48 49 50

51 52

Ebd., S. 293. Ebd. (Herv. im Orig. gesperrt). Dieser Spaziergang hinter die Kulissen der »Filmopolis« liefert Höllriegels Reportagen, etwa dem letzten Kapitel seines Hollywood-Bilderbuches, »Das Leben im Traumland«, das Thema, vgl. Höllriegel: »Hollywood-Bilderbuch« (Auszüge) [1927], in: Ebd., S. 343-366, hier S. 355-366. Höllriegel: Du sollst (wie Anm. 41), S. 318. Ebd., S. 220.

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die Fußböden bäumen sich auf in seltsamen Winkeln, die Kanten sind schief, die Ecken scheinen verzeichnet«53 . Als er den Innenraum betritt, sieht er zuerst einmal nur »[e]ine Höhle. Eine muffige Dunkelheit«54 : Paul Pauer, mit zuckenden Augen, versucht zu sehen. Jetzt sieht er. Er steht in dem Zuschauerraum des großen Theaters, ganz hinten. Die Reihen der Sitze, seltsam gestuft und gestaffelt. Die Galerien, die Logen, vollkommen verrückt, wie von einem schlechten Schüler talentlos gezeichnet. Die Sitze sind leer, nur die erste Reihe ist besetzt, mit Damen in Abendkleidern und Herren im Smoking. Auch sie durcheinander, erhöht, versenkt. Paul Pauer, nun doch schon selber ein Filmmensch, errät auf einmal den Grund. Die Leute sind ja nicht da, um zu sehen, sondern im Gegenteil. Sie sollen gesehen werden. Nicht die Optik des Zuschauers, die des Photographen regiert.55 Im nachgebauten Theater sind die Perspektive und die räumlichen Verhältnissen so entstellt, dass es im Film einen eindrucksvoll realistischen Schein erwerben kann: »Die photographische Kamera hat hier zu entscheiden, für sie wird gebaut.«56 Nicht nur die Kulisse und die Dingwelt, sondern auch die Personen werden für den filmischen ›Schatten‹ umgestaltet. Beim Photoshooting für die Publicity entdeckt Pauer, dass die von ihm geliebten braunroten Haare Claires blond bzw. »grell gelb«57 gefärbt sind. Einen »Satz aus den heiligsten Lebensmaximen des großen Gabriel Garisch«58 zitierend, rechtfertigt sich Claire ihrem Gatten gegenüber: »Ja, mein Lieber, im Film – – Damit man im Film so aussieht, wie man wirklich ist, darf man im Leben nicht mehr so aussehen – –[.]«59 Dieser schockierende Vorfall führt Pauer zu dem beängstigenden Gedanken, seine Frau verloren zu haben: »Sie gehört ihm nicht mehr. Verkauft. Dieser Mensch dort. Wenn er den Finger hebt, lächelt sie, weint sie, verändert ihr Haar, ihre Seele, wird anders und anders.«60 Im Verlauf der Dreharbeiten kommt dem Menschen nicht nur die »Seele«, sondern auch das ›Leben‹ abhanden. Beim Anblick der nachgespielten Szene sowie des spielleitenden Regisseurs im nachgebauten Theater »erfaßt Paul Pauer« »[e]ine fast abergläubische Regung«: Der Mann da. Aus dem warmen Leben macht er kalte Bilder. Der Teufel, der den Schatten des Peter Schlemihl hohnlachend aufrollt und einsteckt. Wie vor sei-

53 54 55 56 57 58 59 60

Ebd., S. 218. Ebd., S. 220. Ebd., S. 220 f. Ebd., S. 218. Ebd., S. 170 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 171. Ebd., S. 170. Ebd., S. 175.

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nen sehenden Augen eine von den entscheidenden Szenen seines eigenen Lebens zum bloßen Bild wird, verliert er sie, sie entkommt ihm, sie ist nicht gewesen.61 In Anlehnung an Peter Schlemihl verwandelt sich der Filmregisseur Garisch in Pauers Augen in einen Teufel. Anders als in der Novelle ist es hier jedoch bemerkenswerterweise nicht lediglich der eigene ›Schatten‹, der an diesen Teufel verkauft wird. Die Verfilmung des eigenen Erlebnisses bedeutet vielmehr einen Verrat am »warmen Leben« selbst, da man dies gegen Bezahlung dem Regisseur bzw. ›Hollywood‹ überlässt. Infolgedessen sinkt das ›Leben‹ zum leblosen ›Schatten‹ bzw. zu bloßen »kalten Bilder[n]« herab. Vom filmischen Teufel wird nicht nur der ›Schatten‹, sondern auch das ›Leben‹ geraubt: »Das Erlebnis von damals, verfälscht und vergiftet, wird niemals wieder sein, was es war. Ein Schatten, der Schatten des Filmbilds, verdunkelt, was helles Licht war, geheiligte, liebe Erinnerung – –[.]«62 Wie oben erwähnt, wird in diesem Roman dem filmischen Bild keine »warme« ›Lebendigkeit‹ zugesprochen, sondern vielmehr die »kalte«, ›schattenhafte‹ – aber nichtsdestoweniger erstaunlich reale – Wirklichkeit. Das wirkliche ›Leben‹ tritt durch die Dreharbeiten zugunsten des ›Schattens‹ zurück, der auf der Leinwand nicht ›lebendig‹ erscheint, sondern wirklich, oder gar wirklicher als das eigentlich Wirkliche. Die beiden Wirklichkeiten stehen hier zueinander in einem umgekehrten Verhältnis. Damit die filmische Illusion real wirkt, muss das zu Filmende demgemäß weniger wirklich und zu einem ›Schatten‹ oder zum Rohmaterial der Illusion reduziert werden. »Er hat einen gespenstischen Hang, G. G. [= Gabriel Garisch], die Dinge so umzugestalten, daß sie nicht mehr Wirklichkeit sind, damit ihre Photographie desto wirklicher scheine. Den Dingen nimmt er die Wirklichkeit, und den Menschen die Seele.«63 Indem Garisch die eigentliche Wirklichkeit modifiziert und weniger wirklich aufscheinen lässt, vermag er, auf der Leinwand eine wirklichere Illusion als die Wirklichkeit darzustellen, die aber in Wahrheit nichts anderes als ein ›Schatten‹ ist. Auf den Menschen übertragen heißt dies: Um im Film glänzend auszusehen, muss man sich in Wirklichkeit zu einem ›Schatten‹, einem »Umriß« oder einer »Schablone zum Schattenwerfen«64 verwandeln. Gegenüber seinem besten Freund aus der gemeinsamen Kriegsgefangenschaft in Russland, Josef Freiherr von Matelian, versucht Pauer den befremdenden Eindruck von seiner Frau wie folgt zu formulieren: »›[…] Wenn sie nachher [i.e. nach der Dreharbeit] wieder zu mir zurückkehrte, als dieselbe. Aber nein. Sie ist wie – wie ausgesogen. Lauter Umriß, wenn du verstehst, was ich meine. Als ließe sie in dem Film ihre Seele stecken und nicht

61 62 63 64

Ebd., S. 223 f. Ebd., S. 224. Ebd., S. 219. Ebd., S. 306.

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nur ihren Schatten. […]‹«65 Indem Claire zusammen mit ihrem ›Schatten‹ ihre Seele für den Film opfert, verwandelt sie sich selbst zu einem ›Schatten‹: »[S]ie existiert vielleicht schon heute nicht mehr, sie ist nur noch ein Umriß, ein Schatten, eine Silhouette, sie ist – – Claire Pauers Verfilmung«66 . Um eine wirkliche Illusion aus ›Schatten‹ herzustellen, muss man für sie eigenes ›Leben‹ und eigene Seele widmen und in Wirklichkeit in ›Schatten‹ übergehen. Diese Verwandlung des ›Lebens‹ zum ›Schatten‹ führt konsequenterweise eine Umkehrung der Rangordnung zwischen dem Original und seiner Kopie herbei. Der Film, der eigentlich die Repräsentation der Wirklichkeit darstellen soll, gewinnt als der Zweck der Dreharbeiten nun die Oberhand über die Wirklichkeit, die jetzt nur eine dienende Instanz innehaben darf. Indem Pauer einmal Claire vor dem Spiegel beobachtet, registriert er genau diese Umkehr: Jetzt hebt sie ihren Arm, langsam, langsam. Sie dreht sich, daß aus ihrem Kleid kleine, grüngoldene Blitze sprühen, in den Spiegel hinein, und es ist, entsetzlich, als ob sich die Frau im Spiegel zuerst bewegt hätte, sie führt, sie macht vor, und die lebendige Frau macht die Bewegungen nach, wie eine Marionette. – – Paul Pauer, angstvoll vorgebeugt, hat ganz deutlich die Vision: die Frau, die er küssen wollte, ist ein Nichts, ein Schatten, ein Spiegelbild, und die Frau im Spiegel, die glatte, die kalte, ist auf eine gespenstische Art wirklich.67 In Pauers »Vision« ist die wirkliche Claire nur noch »ein Nichts, ein Schatten, ein Spiegelbild«, während das auf der silbernen Spiegeloberfläche aufscheinende Bild eine seltsame Wirklichkeit erlangt. Diese ›spiegelverkehrte‹ Umkehr wird aber noch einmal verkompliziert. Pauer ist sich immerhin durchaus bewusst, dass es sich bei der Letzteren trotz des illusionshaft wirklichen Aussehens keineswegs um eine wirkliche ›lebendige‹ Frau oder das Original handeln kann, sondern um nichts mehr als ein »kalte[s]« Spiegelbild oder eine Kopie (und in diesem Sinne ein ›Schatten‹). Pauer scheint es, als ahmte die lebendige Claire Bewegungen des eigenen Spiegelbildes nach und als würde somit zum Spiegelbild des Spiegelbildes, i.e. zum ›Schatten‹ des ›Schattens‹. Diese symbolträchtige Szene reflektiert die bemerkenswerte Dopplung der Leben-Schatten-Metapher mit Blick auf die Filmproduktion in diesem Roman. Bei den Dreharbeiten wird das ›Leben‹ zu einem ›Schatten‹ (a) des ›Schattens‹ (b). Hierbei weist der ›Schatten‹ (b) als eine Synekdoche für Kinematographie auf die technischen bzw. industriellen Verfahren zur Bildherstellung hin. Demgegenüber bezieht sich der ›Schatten‹ (a) auf eine konnotative Bedeutung des Wortes einer

65 66 67

Ebd., S. 242. Ebd., S. 309. Ebd., S. 213.

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Metaphorologie des Kinos

›untergeordneten bzw. abhängigen Erscheinung‹. Das ›Leben‹ bedeutet dementsprechend kein Original mehr. Und der Film entsteht – ›spiegelverkehrt‹ – als ein ›Schatten‹ (b) des ›Schattens‹ (a) oder als eine Kopie ohne ihr Original, i.e. als ein Simulakrum. Diese Variation der Leben-Schatten-Metapher dürfte insofern naheliegend sein, als man dabei an die fortgeschrittenen Inszenierungstechniken des klassischen Kinos der 1920er Jahre denken muss. Wird der klassische Filmstil doch Ende der 1910er Jahre in Hollywood perfektioniert.68 Mithilfe des intensiven Einsatzes der filmtechnischen Mittel (Schnitttechnik, Lichtgestaltung, Kameraführung, Einstellungsgrößen und Tricktechnik) lässt das Hollywood-Kino den Zuschauern die filmische Welt möglichst realistisch erscheinen. Aufgrund dieser Verfahren soll im klassischen Kino die Wirkung der Transparenz erweckt werden. Etwa bei Klemperer teilte das ›Leben‹ noch die flüchtige, vergängliche Qualität mit dem ›Schatten‹. In diesem Hollywood-Roman von Höllriegel gewinnt der ›Schatten‹ nun einen immer glaubwürdigeren und signifikanteren Anschein. Dementsprechend wird das ›Leben‹ zu einer zweitrangigen, weil dienenden Instanz eines »gefügige[n] Apparat[es] zum Schattenwerfen«69 herabgesetzt. Der verdoppelten ›Schatten‹-Metapher ist die nüchtern distanzierte Sichtweise eines Berichterstatters unverkennbar eingeschrieben. Höllriegel spricht hier dem klassischen Hollywood-Kino zwar eine bewundernswerte Wirklichkeit zu, die aber nur auf Kosten alles ›Lebendigen‹ zu erwerben sein soll. So lässt der Autor seinen Protagonisten am Ende des Romans diese Filmstadt an der Westküste endgültig verlassen. Der hierfür ausschlaggebende Beweggrund ist, wie die letzten Zeilen des Romans explizit aufweisen, gerade in der Verwandlung seiner Frau zum ›Schatten‹ bzw. dem ›Schatten des Schattens‹ zu finden: »Er [Pauer] streckt seine Arme aus, ein neuer Orpheus nach einer neuen Eurydike. Ach, er weiß, daß Eurydike nicht mehr ist, nur noch ein Schatten. Den Schatten läßt er, todtraurig, im Reiche der Schatten.«70

68

69 70

Von daher »werden die Begriffe ›Hollywood‹ und ›Klassik‹ [häufig] synonym verwendet«. Vgl. Elsaesser/Hagener: Filmtheorie (wie Anm. 20), S. 29 f. So ist es alles andere als verwunderlich, dass manche Schriftsteller im deutschen Kulturraum, die nach seiner kriegs- und wirtschaftsbedingten jahrelangen Absenz erst in den 1920er Jahren dem klassisch raffinierten amerikanischen Film begegnen, im Kino unter dem Zeichen des Hollywood die Gefahr einer zunehmenden Relativierung der Wirklichkeitsvorstellung auszumachen glauben. Siehe oben in Anm. 36. Höllriegel und Roth sind hiervon zwei exemplarische Zeugen. Höllriegel: Du sollst (wie Anm. 41), S. 306. Ebd., S. 341.

2 Vom ›Memento mori‹ zum ›Antichrist‹. Literarische Variationen einer Leitmetapher

2.3.3

Die metaphorische Dämonisierung des ›Schattens‹ als ›Verleugnung‹. Joseph Roths Antichrist

Das »Reich der Schatten«, das Gor’kij 1896 auf der Leinwand des Cinématographe Lumière ausmachte, stiftet so die allerletzten Worte des Romans Du sollst dir kein Bildnis machen aus dem Jahr 1928. Der Ausdruck bezieht sich beim Ersteren auf die zwiespältige Bewusstseinslage des Filmrezipienten, d.h. auf die Pendelbewegung zwischen dem Eindruck und dem Wissen aufseiten des Zuschauers. Durch dieselbe Formulierung kommt beim Letzteren eine kulturpessimistische, wenn nicht ikonoklastische Warnung vor der seinerzeit die Welt erobernden Kulturindustrie ›Hollywoods‹ zum Vorschein. Die Filmstadt, in der Filme – anders als in Europa – eindeutig als Ware für Unterhaltung industriell fabriziert werden,71 figuriert am Ende des Romans als das »Reich der Schatten«. Dieses ›Reich‹ spricht Höllriegel zudem, auf den Orpheus-Mythos Bezug nehmend, als ein Totenreich an, in dem sich die lebendigen Schauspieler schon auf Erden in die leblosen, aber dafür perfektionierten ›Schatten‹ verwandeln. So zeigt sich die kinobezügliche Leben-SchattenMetaphorik im Roman Höllriegels ausschließlich im Kontext der Filmproduktion. Auch Joseph Roth, seines Zeichens gleichfalls Schriftsteller und Journalist in Personalunion, setzt sich mehrere Jahre später in seinem Essayband Der Antichrist (1934)72 mit dem Phänomen ›Hollywood‹ auseinander. In dieser Schrift, die in der Rezeption vorwiegend stiefmütterlich behandelt wird, bezeichnet er die Filmopolis buchstäblich als den »Hades des modernen Menschen«73 . Hierbei geht Roth von der in zweierlei Hinsicht deckungsgleichen Einschätzung in Bezug auf die Filmproduktion aus wie bei Höllriegels Roman. Roth zufolge verkaufen zum einen die Filmschauspieler an die Filmfirma oder an ›Hollywood‹ »für Geld ihren Schatten«, der aber »sie selbst«,74 i.e. ihre Seele bzw. ihr Leben bedeutet. Indem der Filmschauspieler – zum Zweiten – seinen Schatten »tagtäglich auf die Leinwand ins Kinotheater schickt«, wird er allmählich zu »seine[m] eigenen Doppelgänger«. Eigentlich ist und bleibt er zwar »der Urheber jenes Schattens«, den man von der Leinwand kennt. Nichtsdestotrotz scheint er jedoch schließlich in Wirklichkeit, d.h. »wie er leibt und lebt«, »der Schatten seines eigenen Schattens«75 zu sein.

71 72 73 74 75

Vgl. Monaco: Film (wie Anm. 4), S. 257. Roth, Joseph: »Der Antichrist« [1934], in: Ders., Das journalistische Werk 1929-1939, hg. von Klaus Westermann, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991 (= Werke 3), S. 563-665. Ebd., S. 571 u. 573. Ebd., S. 573 (Herv. im Orig.). Ebd., S. 572.

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Metaphorologie des Kinos

Diesem »Pamphlet gegen das 20. Jahrhundert«76 , mit dem sich Roth »völlig« verrannt habe,77 wird in der Forschung weitgehend eine exzentrische, »[i]rrationale« und »verwickelt-unlogische«78 Natur unterstellt. Allein diese beiden Übereinstimmungen mit der Ansicht des ortskundigen Filmjournalisten Höllriegel bezüglich der Filmproduktion à la Hollywood reichen wohl aus, diese weit verbreitete Meinung über diese Schrift zumindest mit Blick auf seine Ausführung zum Thema Hollywood-Kino einmal infrage zu stellen.79 Vor allem der Vorwurf des Irrationalen in Anbetracht des Filmschauspielers als der ›Schatten des eigenen Schattens‹ lässt sich gleichsam mathematisch schon ad absurdum führen. Denn die Wechselbeziehung des ›Lebens‹ und des ›Schattens‹ weist sowohl bei Roth als auch bei Höllriegel eine, wenn auch umgekehrte, Proportion auf. Je wirklicher der filmische ›Schatten‹ des Schauspielers auf der Leinwand erscheint, desto unwirklicher und ›schattenhafter‹ wird er im realen ›Leben‹: Und wenn wir es zustande gebracht haben, daß sich Schatten auf der Leinwand der Kinotheater wie lebendige Menschen bewegen und sogar sprechen und singen, so sind doch keineswegs ihre Bewegungen, ihre Worte und ihr Gesang echt und ehrlich; vielmehr bedeuten diese Wunder der Leinwand das eine: daß die Wirklichkeit, die sie so täuschend nachahmen, deshalb gar nicht schwierig nachzuahmen war, weil sie keine ist. Ja, die wirklichen Menschen, die lebendigen, waren bereits so schattenhaft geworden, daß die Schatten der Leinwand wirklich erscheinen mußten.80 Diese schon an dem Metapherngebrauch auffallende Parallelität der beiden Texte sollte zwar vor der Folie des im deutschsprachigen Kulturraum seinerzeit aktuellen (Anti-)Amerikanismus-Diskurs betrachtet werden. Um sie jedoch plastisch nachzuvollziehen, muss auch die biographische Nähe berücksichtigt werden, die

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80

Capovilla: Der lebendige Schatten (wie Anm. 41), S. 112. Nürnberger, Helmuth: Joseph Roth, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 12. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2010, S. 107. Capovilla: Der lebendige Schatten (wie Anm. 41), S. 113. Jon Hughes versucht die in der Forschung weitgehend geteilte Vernachlässigung des Antichrist zumindest bezüglich der Bemerkungen über das Kino zwar mit Recht zu revidieren, indem er den Essay in den Kontext des zeitgenössischen Antiamerikanismus setzt. Herbert Iherings Aufsatz UFA und Buster Keaton [1926], den Hughes zu diesem Zweck heranzieht, erweist sich aber insofern als fehl am Platz, weil Roths Vorwurf nicht primär auf den von Ihering angegriffenen neuen amerikanischen »Weltmilitarismus« bzw. die industrielle Uniformierung der Individuen gerichtet ist, sondern – wie unten ausgeführt wird – auf die Relativierung der Wirklichkeitsvorstellung etwa im Zeichen des klassischen Hollywood-Kinos. Vgl. Hughes, Jon: Facing Modernity. Fragmentation, Culture, and Identity in Joseph Roth’s Writing in the 1920s, London: Maney Publishing 2006, S. 155. So gesehen erscheint Höllriegels Roman von 1928 als Beistand für Roth ungleich zuverlässiger. Roth: »Der Antichrist« (wie Anm. 72), S. 571 f.

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beide Autoren trotz des elfjährigen Altersunterschiedes zeigen. Ihre persönliche Bekanntschaft geht auf die beginnende Nachkriegszeit zurück. Roth nimmt im Jahr 1919 in Wien eine feste Anstellung als Journalist bei der gerade gegründeten Zeitung Der Neue Tag wahr, zu dessen älteren Mitarbeitern neben Alfred Polgar und Egon Erwin Kisch u.a.m. auch Höllriegel zählt.81 Höllriegel behauptet sogar 1937 im Rückblick, Roth als Schriftsteller »entdeckt« zu haben. Aus Anlass der Buchbesprechung des im selben Jahr erschienenen Romans Das falsche Gewicht erzählt der Rezensent von einer Wiederbegegnung mit dem Autor, der sich vor der Rückkehr aus der Vortragsreise in Polen zum Pariser Exil für eine Weile in Wien aufgehalten hat. Da habe Roth Höllriegel daran erinnert, dass dieser »einst als erster auf seine schriftstellerische Begabung aufmerksam wurde«. Nicht ohne Stolz setzt Höllriegel die Leser in Kenntnis, dass er Roth als »ein[em] melancholische[n] Junge[n] in einer sehr zerfetzten alten Militärbluse […] im Jahre 1919 im Vorzimmer einer Wiener Redaktion begegnete« und »ihm dann zu einer Anstellung als Reporter zum Gedrucktwerden verhelfen« konnte.82 Als die anspruchsvolle Zeitung aus Unrentabilität bereits im nächsten Jahr eingestellt wird, bricht Roth nach Berlin auf. In der Hauptstadt der Weimarer Republik vermittelt ihm Höllriegel wiederum ein Engagement beim Berliner Tageblatt, für das dieser bereits als Feuilletonist arbeitet.83 Bei der Stammzeitung Höllriegels veröffentlicht Roth 1921 insgesamt fünf Artikel,84 bevor er seinen Schwerpunkt dann über den Berliner Börsen-Courier schließlich auf die Frankfurter Zeitung verlagert. Roth verfasst zwar weder Filmromane, noch betritt er jemals die Neue Welt einschließlich Hollywoods. Ungeachtet der fehlenden persönlichen Erfahrungen mit der amerikanischen Filmstadt thematisiert und verwendet er in seinen Romanen mehrmals den Film und insbesondere das Hollywood-Kino als ein problematisches Motiv, das häufig mit seinem Amerika- und/oder Frauenbild zusammenhängt.85 Zudem bildet der Film genauso wie bei Höllriegel eines der zentralen Themengebiete seiner journalistischen Tätigkeit, und er beschäftigt sich eifrig in den Feuilletons mit dem Thema Kino.86 Roth und Höllriegel verbindet inhaltlich insbesonde81 82

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86

Vgl. Bronsen, David: Joseph Roth. Eine Biographie, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 199 f. Hoellriegel [= Höllriegel], Arnold: »Wiener Notizbuch«, in: Die Stunde 15 (1937), Nr. 4283 (20. Juni 1937, Sonntagsbeilage), S. 3, zitiert nach H.-H. Müller/Eckert, Richard A. Bermann (wie Anm. 39), S. 331 f., hier S. 331. Vgl. Bronsen: Joseph Roth (wie Anm. 81), S. 212. Vgl. Siegel, Rainer-Joachim: Joseph Roth-Bibliographie, Morsum/Sylt: Cicero Presse 1995, S. 482 f. Die Parallelität des Hollywood-Motives und des Frauenbildes in Roths Romanen erinnert wiederum an die Figur der Claire im Höllriegels Roman von 1928. Zum Film in Roths Romanen vgl. vor allem Capovilla: Der lebendige Schatten (wie Anm. 41), S. 103-112. Wie Thomas Düllo überzeugend darlegt, weisen vor allem die vielfältigen journalistischen Arbeiten Roths deutlich auf, dass dessen Position zum Thema Film trotz der explizit kulturpessimistischen Ausführung im Antichrist nicht so eindeutig ist, wie dieser Essay andeuten

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re das ontologische kulturpessimistische Interesse am Kino. Diese Fragestellung artikuliert sich bei beiden in durchaus vergleichbarer Weise – aber, wie unten besprochen wird, mit einer wesentlichen Differenz – durch die metaphorische Rede des ›Lebens‹ und des ›Schattens‹. An seinem Lebensabend erhält Roth mehrere Einladungen aus den Vereinigten Staaten. Besonders erwähnenswert ist, dass er einmal das Angebot des amerikanischen PEN-Clubs annimmt, als »a special guest at the World Congress of Writers«87 vom 8. bis 10. Mai 1939 in die USA einzureisen, ohne dass er aber diesen Plan wirklich in die Tat umsetzen kann. Durch die Hilfsorganisation für Emigranten, die American Guild for German Cultural Freedom, zu deren Gründung Höllriegel maßgeblich beitrug, verkehrt Roth mit diesem Landsmann bis zu seinem Tod im Jahre 1939, allerdings nur indirekt und immer zum Zweck finanzieller Unterstützung. In Paris lebend, erwirbt Roth 1938 etwa eine bescheidene Beihilfe der Guild,88 während sich Höllriegel als deren zweiter Direktor für den jüngeren Kollegen 1939 in New York um eine erneute Unterstützung kümmert,89 bevor er im selben Jahr einem Herzinfarkt erliegt. Im Kontext der vorliegenden Untersuchung, i.e. ihrer gemeinsamen Metaphernwahl vom ›Leben‹ und ›Schatten‹ für das Hollywood-Kino, erscheint nicht uninteressant, dass Roth den Roman von Höllriegel bereits während der frühen Veröffentlichung gekannt haben dürfte. Höllriegels Hollywood-Roman erscheint – nach der Erstveröffentlichung im Berliner Tageblatt – in Fortsetzung vom 18. September bis 29. November 1928 im dem Prager Tagblatt.90 Bei dieser Zeitung handelt es sich eben um das Organ, in dem Roth im gesamten Zeitraum seiner schriftstelle-

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dürfte, vgl. Düllo, Thomas: »Möglichkeiten im Reich der Schatten. Der Filmkritiker Joseph Roth«, in: FilmExil 5 (1994), S. 11-32, hier S. 12. Die vorliegende Untersuchung interessiert sich jedoch gezielt für seinen Metapherngebrauch des ›Lebens‹ und ›Schattens‹ im Antichrist und gerade nicht für die Rekonstruktion der filmkritischen bzw. -theoretischen Gedanken des Dichters. – Alle bisher ermittelten Feuilletons Roths zum Thema Film liegen jetzt neu ediert vor: Roth, Joseph: Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos, hg. von Helmut Peschina und Rainer-Joachim Siegel, Göttingen: Wallstein 2014. Der amerikanische PEN-Club an Joseph Roth am 21. Januar 1939, in: Joseph Roth, Briefe 19111939, hg. von Hermann Kesten, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 526 f., hier S. 526. Vgl. Eckert, Brita/Berthold, Werner: Joseph Roth 1894-1939. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main, 2., verb. Aufl., Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung 1979, S. 338-344. Richard A. Bermann [= Arnold Höllriegel] an Stefan Zweig aus New York am 19. April 1939, in: Joseph Roth/Stefan Zweig, »Jede Freundschaft mit mir ist verderblich«. Joseph Roth und Stefan Zweig Briefwechsel 1927-1938, hg. von Madeleine Rietra und Rainer-Joachim Siegel, Göttingen: Wallstein 2011, S. 561. Vgl. H.-H. Müller/Eckert: Richard A. Bermann (wie Anm. 39), S. 232, Anm. 39.

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rischen Karriere präsent ist91 und auch seinerseits im Jahre 1934 zwei Teilabdrucke aus dem Antichrist veröffentlichen sollte. Gemeint sind das Hollywood-Kapitel Die Heimat der Schatten am 13. September unter dem Titel Amerika92 sowie Der Mensch fürchtet den Menschen als Der Mensch, das reißende Tier 93 am 7. Oktober. Dies bedeutet freilich keineswegs, dass Roths metaphorische Rede vom (besonders in Hollywood agierenden) Filmschauspieler als dem »Schatten seines eigenen Schattens« auf die direkten Einflüsse von Höllriegels Hollywood-Roman zurückzuführen wäre. Es findet sich sogar ein relativ eindeutiger Gegenbeweis. Bereits 1919 vergleicht Roth den »Kinoschauspieler« mit »Peter Schlemihl«, ohne aber seinerzeit, i.e. noch vor der Invasion des amerikanischen Films in den deutschsprachigen Filmmarkt, ›Hollywood‹ einmal zu erwähnen: »Peter Schlemihl war der erste Kinoschauspieler: er verkaufte seinen Schatten für Tantiemen … / Allerdings dem Bösen und nicht einem Filmunternehmer. Aber wo ist der Unterschied?«94 Abgesehen von der schwer nachweisbaren Frage eines Einflusses bezeugt die Parallelität in der Metaphernwahl zwischen Höllriegels Roman und Roths Essayband wenigstens die hohe Virulenz der Leben-Schatten-Metapher im Kinodiskurs um 1930. Trotz dieser Ähnlichkeiten zeigen sich im Metapherngebrauch des Antichrist in dreierlei Hinsicht Unterschiede zu Höllriegels Filmroman. Zum einen erweitert Roth die Metapher dem filmgeschichtlichen Entwicklungsstand des Jahres 1934 gemäß auf den Tonfilm und spricht von Synchronsprechern für fremdsprachige Filme ebenfalls im Rekurs auf die Schattenmetaphorik (»Und es gibt welche, die verkaufen ihre eigenen Stimmen dem Schatten eines anderen, der eine andere Sprache spricht«95 ). Der noch wesentlichere Unterschied zu Höllriegels Roman besteht jedoch darin, dass Roth die Metaphorik nicht nur mit Blick auf die Filmproduktion verwendet, von der Höllriegel in seinem Roman vorwiegend handelt, sondern vielmehr den Auswirkungen des Films in der Rezeption nachgeht. Die Filmzuschauer etwa verwandeln sich auch – allerdings diesmal nicht in die ›Schatten eigener Schatten‹, sondern – in die »Doppelgänger fremder Schatten«: Die lebendigen Mädchen und Knaben in der ganzen Welt, die diese Schatten sehen, nehmen den Gang, das Antlitz, die Gestalt und die Haltung dieser Schatten an. Daher kommt es, daß man manchmal Männer und Frauen, lebendige Menschen, in den Straßen trifft, die nicht selbst Doppelgänger ihrer Schatten sind 91

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Vgl. Nürnberger, Helmuth: »Nachwort. Joseph Roth, Prag und das ›Prager Tagblatt‹«, in: Joseph Roth, Heimweh nach Prag. Feuilletons – Glossen – Reportagen für das »Prager Tagblatt«, hg. von Helmuth Nürnberger, Göttingen: Wallstein 2012, S. 573-633, hier S. 573. Roth, Joseph: »Amerika« [1934], in: Ders., Heimweh (wie Anm. 91), S. 465-468. Roth, Joseph: »Der Mensch, das reißende Tier« [1934], in: Ders., Heimweh (wie Anm. 91), S. 468-470. Roth, Joseph: »Streiflichter« [1919], in: Ders., Drei Sensationen (wie Anm. 86), S. 25-27, hier S. 26. Roth: »Der Antichrist« (wie Anm. 72), S. 615.

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wie die Schauspieler des Kinos, sondern noch weniger: nämlich die Doppelgänger fremder Schatten.96 Der kommerzielle und rituelle Starkult ›Hollywoods‹, der sich seit den 1920er Jahren regelrecht global durchsetzt, transformiert die »Schattenanbeter« in die »Schatten berühmter und beliebter Schatten«97 . Hierin lässt sich eventuell ein Ursprung soziologischer Massenmedienkritik baudrillardscher Prägung ausmachen. Der zufolge habe das mediale Bild die Abbildungsfunktion längst aufgehoben. Stattdessen soll es als Simulation nunmehr die hegemoniale Herrschaft gewinnen und kulturimperialistisch die ganze Welt erobern – allerdings nicht mittels militärischer Machtausübung, sondern durch die bewusstseinsindustriellen ›Schatten‹. Gerade in diesem medienpolitischen Sinne erzählt eine Figur in Roths Essayband, »der Mönch«, der sich übrigens am Ende als der Antichrist entpuppt, von einer Begegnung der von »Metro-Goldwein-Mayer« [sic!] delegierten »Vertreter des dritten Landes« mit dem Papst: »Und es kamen die Vertreter des dritten Landes. Sie sprachen: ›Wir kommen aus Hollywood, manche sprechen es Hölle-Wut aus, aber du glaube nicht daran, Heiliger Vater! Wir wollen die Welt nicht mehr erobern, wir haben sie nämlich schon erobert. Wir sind das Land der Schatten. […]‹«98 Die Macht, die dem filmischen ›Schatten‹ zugeschrieben wird und diesen die Welt erobern lässt, rührt nicht von der kalten und leblosen, aber vollkommeneren Realitätsnähe her, die Höllriegel in seinem Roman dem filmischen Bild beimisst. Hier bei Roth geht sie vielmehr auf die ›Lebendigkeit‹ der Bilder zurück. Dies stellt den dritten – und folgenschwersten – Unterschied der Leben-Schatten-Metapher beim Roth-Essay dar. Indem der Schauspieler seinen ›Schatten‹ und sein ›Leben‹ an ›Hollywood‹ verkauft, gewinnt sein filmisches Double – im scheinbaren Widerspruch zum obigen Zitat – derart das »echte Leben« bzw. die »Wahrheit«, dass es auch nach dem Tod des wirklichen Urhebers auf der Leinwand »ewig« am ›Leben‹ bleibt: [A]uch ein Doppelgänger muß sterben – eines Tages sterben das Original und sein Doppelgänger. Und wenn ein Mensch stirbt, ist auch sein Schatten dahin. Der Schauspieler aber, der im Kino spielt, der bleibt in alle Ewigkeit auf der Leinwand, der einzigen Realität, auf der sich sein echtes Leben abspielt, immer lebendig. Das heißt: sein Schatten, oder richtiger: seine Wahrheit (denn er selbst ist ja nur der Doppelgänger seines Schattens) ist »ewig«.99

96 97 98 99

Ebd., S. 614. Ebd., S. 617. Ebd., S. 664 (Herv. im Orig.). Ebd., S. 572 f. (Herv. im Orig.).

2 Vom ›Memento mori‹ zum ›Antichrist‹. Literarische Variationen einer Leitmetapher

»[D]as Reich des Schattens« Hollywood ist insofern als »der Hades der modernen Menschen« zu bezeichnen, da dort – anders als im antiken Hades – »die Schatten schon zu Lebzeiten unsterblich«100 würden. Während in Höllriegels »Reich der Schatten« die Schauspieler zugunsten der als Wirklichkeit wirklicheren, aber leblos kalten Filmbilder ihr ›Leben‹ aufgeben müssen, sind die Bilder in Roths »Reich« nicht nur »echt« und »[w]ahr«, sondern sie ›leben‹ auch auf der Leinwand. So ähnlich und vergleichbar die beiden Texte in Bezug auf die Leben-Schatten-Metaphorik zu sein scheinen, so diametral stehen sich ihre Inhalte gegenüber. Diese Differenz entspricht ihren unterschiedlichen Perspektiven auf den Film. Höllriegel geht von den vor Ort persönlich erkundigten Gegebenheiten der Hollywooder Filmproduktion aus. Roths Beobachtung stützt sich hingegen im Grunde genommen auf die eigenen Filmerlebnisse als Filmzuschauer und -kritiker vor der Leinwand sowie auf den Eindruck der »täuschend[en]«101 Nachahmung des Wirklichen durch den Film. Diesem Unterschied entsprechend kommt auch die jeweils andere Aufgabe der dämonisierten Filmmacher, i.e. des ›Teufels‹ (Höllriegel) und des ›Antichrist‹ (Roth), zum Tragen. Der Erstere konstruiert künstlich oder künstlerisch einen wirklicheren und vollkommeneren Schein der Wirklichkeit, wobei das authentische ›Leben‹ als etwas Störendes zurückgewiesen wird. Der Letztere stiehlt ebenfalls das eigentliche ›Leben‹, ersetzt es aber auf der Leinwand von Grund auf mit dem ›wahren‹ und ›echten‹ ›Leben‹ und relativiert hierdurch die Authentizität des gefilmten ›Lebens‹. Der Schwerpunkt von Höllriegels kritischer Beobachtung der Hollywooder Filmproduktion liegt auf der Entfremdung und Ausbeutung des eigentlichen ›Lebens‹ zugunsten der Kulturindustrie des Films. Bei der »›Dämonologie‹ des Films«102 im Antichrist steht – vorwiegend hinsichtlich der Filmrezeption – die Ersetz- bzw. Verwechselbarkeit der zwei Arten des ›Lebens‹, i.e. des authentischen und des scheinhaften, aber ›echten‹ und ›wahren‹, im Mittelpunkt. In diesem »Steckbrief gegen den Antichrist«103 verfolgt Roth alle möglichen »Formen« der zeitgenössischen Phänomene, in denen der Antichrist angeblich auftrete.104 Sie reichen von der Menschenmaterialschlacht des Ersten Weltkriegs über die Presse, Völkerbund, Rassismus, den sowjetischen Kommunismus und seine Vergöttlichung der Maschinen, die miserablen Lebensbedingungen der Bergarbeiter, das käfigartige Neue Bauen, die Umweltzerstörung durch die Petroleumquellen sowie den Abbau des Giftstoffes, die absurd-idyllischen

100 101 102 103

Ebd., S. 573. Ebd., S. 572. Müller-Funk, Wolfgang: Joseph Roth, München: Beck 1989, S. 115. Joseph Roth an Carl Seelig am 28. März 1934, in: Ders., Briefe (wie Anm. 87), S. 324 f., hier S. 324 (Herv. im Orig.). 104 Joseph Roth an René Schickele am 31. Januar 1934, in: Ders., Briefe (wie Anm. 87), S. 312.

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Schlachtenbilder des letzten Krieges, die ungläubigen Juden bis hin zum Nationalsozialismus. In diesem »Pamphlet gegen das 20. Jahrhundert« ist aber der Film nicht nur ein Thema unter vielen, sondern regelrecht ein zentraler Gegenstand. Denn, wie das eröffnende Kapitel bereits unmissverständlich hervorhebt, für Roth macht die täuschende Relativität der authentischen »Wirklichkeit« und der scheinhaften »Fata Morgana«105 das Charakteristikum des Antichrist aus. In diesem Buch über die »Gespenster der Gegenwart«106 wird von der apokalyptischen Überzeugung ausgegangen, dass »wir« »mit der Blindheit […] geschlagen« seien, die »uns […] vor dem Ende der Zeiten« »befallen« werde:107 »Sind es Gestalten? Sind es Schatten? Der Blinde unterscheidet nicht die einen von den anderen. Wir, die Blinden, unterscheiden sie nicht.«108 Diese »höllische« Blindheit solle genauer als ›Geblendetsein‹ bezeichnet werden, »denn obwohl wir geblendet sind, glauben wir zu sehen. Wir sind in der Tat eher ›Geblendete‹ als ›Blinde‹.«109 Roth zufolge ist diese Täuschung einer »Fata Morgana« nicht auf »unsere ermüdeten Sinne« zurückzuführen, da »unsere Vernunft« »[u]nversehrt« sei und »unsere Sinne« »wach« seien. Dennoch könnten »wir« »Gestalten« und »Schatten« nicht unterscheiden, weil »wir« durch »ein[en] Trug« des Antichrist »irregeführt« würden:110 »Denn unsere Blindheit ist eben eine, mit der man nur vom Antichrist geschlagen werden kann«111 . Diese Unentscheidbarkeit zwischen »Gestalten« und »Schatten« lässt sich Roth zufolge vor allem in den Filmbildern ausmachen, welche die ›echte‹ und ›wahre‹ ›Lebendigkeit‹ zu besitzen und jetzt sogar mit der Stimme versehen zu sein scheinen. Aus diesem Grund sei »[d]er Film«, so Roth in einem Brief an Stefan Zweig unter Bezug auf den Antichrist, keine zeitliche Erscheinung allein. Er mag die Menschen selig machen, auch der Teufel macht sie zuweilen selig. Es ist meine unerschütterliche Überzeugung, daß sich im quasi lebendigen Schatten der Teufel offenbart. Der Schatten, der selbst agiert und sogar spricht, ist der wahre Satan. Mit dem Kino beginnt das 20. Jahrhundert, das ist: das Vorspiel zum Untergang der Welt.112

105 Roth: »Der Antichrist« (wie Anm. 72), S. 569. 106 Joseph Roth an Friedrich Traugott Gubler am 31. Januar 1931, in: Ders., Briefe (wie Anm. 87), S. 191 f., hier S. 191. 107 Roth: »Der Antichrist« (wie Anm. 72), S. 563. 108 Ebd., S. 564. 109 Ebd., S. 565. 110 Ebd., S. 570. 111 Ebd., S. 565. 112 Joseph Roth an Stefan Zweig am 14. Juni 1934, in: Ders./St. Zweig, »Jede Freundschaft« (wie Anm. 89), S. 166-168, hier S. 166 (Herv. im Orig.). Zu seiner diametral entgegengesetzten Einschätzung in Bezug auf den Tonfilm vgl. Roth, Joseph: »Bemerkungen zum Tonfilm« [1929], in: Ders., Drei Sensationen (wie Anm. 86), S. 169-171.

2 Vom ›Memento mori‹ zum ›Antichrist‹. Literarische Variationen einer Leitmetapher

Vergleicht man die Dämonisierung des Films bei Roth mit Höllriegels Version, so geht daraus hervor, dass es sich bei jener um einen Rationalisierungsversuch handelt, der sich im Sinne der Psychoanalyse als ›Projektion‹ verstehen lässt. Roth macht im Film nicht nur eine künstlich-künstlerische, leblos-vollkommene (aber als die eigentliche Wirklichkeit wirklichere) Abbildung der Realität aus wie Höllriegel. Er erblickt dort vielmehr eine »täuschend[e]« Austauschbarkeit des wirklichen Lebens und des scheinhaften (aber ›echten‹ und ›wahren‹) ›Lebens‹. Damit er aber erfolgreich vermeiden kann, dies auf das Versagen »unsere[s]« vernünftigen Urteilsvermögens zurückzuführen, muss er entgegen seiner eigenen Wahrnehmung dieses ›Leben‹ immer wieder demonstrativ mit der ursprünglich synekdochischen Bezeichnung des ›Schattens‹ ansprechen. Darüber hinaus muss Roth für eine effektvolle Projektion diesen ›Schatten‹ wiederum metaphorisierend in den ›Antichrist‹ umwandeln. Diese furchterregende Figur aus der Apokalypse kommt dem Zweck einer Abwehr umso mehr entgegen, da sich »das Subjekt« bei solcher »phobische[n] Konstruktion« einer Projektion »verpflichtet sieht, dem, was nunmehr den Kategorien des Realen untergeordnet ist, vollen Glauben zu schenken«113 . Mit anderen Worten: Roths »Schattendämonologie«114 lässt sich als eine ins Extreme geratene metaphorische Oszillation zwischen ›Leben‹ und ›Schatten‹ umformulieren. Für eine intellektuell-kulturpessimistische Abwehr will das Subjekt, hier der Autor Roth, den Eindruck eines ›Lebens‹ auf der Leinwand im Nachhinein um jeden Preis verleugnen. Die Dämonisierung des Films mittels der ostentativ metaphorisierten ›Schatten‹-Synekdoche ist demzufolge als die unverkennbare Spur der Verleugnung einer einst vorhandenen Faszination von der ›lebendigen‹ Wirkung des Films zu verstehen.115 Gerade das faszinierte Erstaunen auf der Ebene des Eindrucks löst auf der reflexiven Ebene einen Abwehrmechanismus durch die Projektion aus. Diese Folgerung wird von der Leben-Schatten-Metaphorik exakt abgebildet. Um das ›Leben‹ im Eindruck des filmischen Scheins kulturpessimistisch verleugnen und sogar ethisch bzw. theologisch verurteilen zu können, wird der synekdochische Ausdruck des ›Schattens‹ nicht nur herangezogen. Diesem kommt zusätzlich ein apokalyptisch dämonologischer Zug eines ›Antichrist‹ zu, um die

113

114 115

Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Art. »Projektion«, in: Dies., Das Vokabular der Psychoanalyse, übers. von Emma Moersch, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 399-408, hier S. 402 f. Capovilla: Der lebendige Schatten (wie Anm. 41), S. 113. Über die eigene Faszination des »täuschend« ›lebendigen‹ Films, die ihn als Kind vor den Bildern der »geradewegs« »[h]eranmarschierenden« »Regimenter« sich ducken ließ, erzählt Roth im Rahmen seiner Kindheitserinnerung an den ersten Kinobesuch, den er aber gerade deswegen in diesem Traktat gegen die moderne »Fata Morgana« folgerichtig als »[m]eine erste Begegnung mit dem Antichrist« verurteilen muss. Vgl. Roth: »Der Antichrist« (wie Anm. 72), S. 576-579. Seine ›sentimentalische‹ Tendenz zur kindlichen Kinorezeption findet sich jedoch auf einer anderen, gleichsam umgekehrten Ebene. Näheres hierzu in Kapitel 5.

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Metaphorologie des Kinos

›Schatten‹-Synekdoche nun nachdrücklich als ein metaphorisches Feindbild zu verteufeln. »Roths ambivalente Meinung zu Film und Kino«, von der in der Forschung weitgehend ausgegangen wird, erweist sich in diesem Kontext nicht als doppeldeutig und resistent gegen Interpretationsversuche, sondern vielmehr als ein schlüssiger, weil dialektischer Gedankengang einer Projektion.116

116

Peschina, Helmut/Siegel, Rainer-Joachim: »Nachwort«, in: Roth, Drei Sensationen (wie Anm. 86), S. 352-389, hier S. 359.

II ›Regressionsmaschine‹ Kino? Zur subjektbezogenen Metaphorik des Kinos

Rückwärtsprojektion. Einführung in die regressive Zeitstruktur der Metapher

Schreckenerregende Figurationen, mit denen man das Kino zu verteufeln und auf diese Weise anzugreifen sucht, verbergen hinter ihrer Fassade eine besondere Begeisterung für den Film. Der Autor signalisiert seine Faszination gerade dadurch, dass er die Anziehungskraft des Mediums anhand der dämonisierenden Bilder ostentativ verneint. Die mittels Projektion vollzogenen Ausführungen sind im Kinodiskurs des hier einschlägigen Zeitraums weitaus häufiger anzutreffen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dieses Argumentationsmuster kommt weitgehend im Rekurs auf die metaphorische Rede zum Tragen, welche die Begeisterung des Autors für das Kino in einem Atemzug offenbart und verleugnet. Die Variationen der ›kühnen Metapher‹ des ›lebendigen Schattens‹ brachten die Funktionsweise der Metaphern im Allgemeinen auf den kinobezogenen Texten exemplarisch an den Tag. Gerade mit ihrer ›doppelten Bewusstseinslage‹ erweisen sich Metaphern als überaus geeignet dafür, die Doppelbödigkeit des Filmerlebnisses auf der Textebene präzise und augenfällig zu inszenieren. Ereignet sich doch im Bewusstsein des Filmzuschauers das Kippspiel der Faszination (d.h. Geltung der Prädikation) und der Distanzierung (ihre Nichtgeltung). Aus diesem Grund gebrauchen nicht nur die angeblichen Kinogegner, etwa wie die wilhelminischen Kinoreformer, häufig affektgeladene Metaphern. Die literarischen Beobachter des Mediums und gar Fachleute wie die Filmtheoretiker machen auch gelegentlich die metaphorischen Figuren für die Erläuterung der rätselhaften Faszination der Kinematographie nutzbar. Denn Metaphern ermöglichen den reflexiven Zugang zu Kinoerlebnissen, um die komplexen inneren Zustände des Kinozuschauers in ihrer Vielschichtigkeit berücksichtigen zu können. Im Zuge der Annäherung an die Faszination des Kinos wird immer wieder die argumentative Struktur der Projektion1 ins Spiel gebracht, die sich auf zweierlei

1

Das Verständnis dieses Begriffes basiert in der vorliegenden Studie generell auf der psychoanalytischen Auffassung, die sich dieser aus dem wahrnehmungstheoretischen Diskurs des 19. Jahrhunderts stammenden Denkfigur vorwiegend zur Beschreibung eines psychischen, normalen wie pathologischen Abwehrmechanismus bedient. Vgl. vor allem Laplan-

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Metaphorologie des Kinos

Weise im jeweiligen Sinnbild niederschlägt. Projiziert wird hierbei einerseits der Auslöser der medialen Anziehungskraft, wie Roths Antichrist eindringlich vorführte. Ein anderes Paradebeispiel dieser Art der metaphorischen Projektion ist etwa die Figur der ›Kinopest‹, welche die Publikumsmasse im Kino heimsuchen und ihr den Untergang bereiten soll. Auf der anderen Seite ist es auch üblich, dass man den inneren faszinierten Teil des eigenen Bewusstseins nach außen projiziert. Als Projektionsfigur agiert hierbei vorwiegend eine synekdochische oder metaphorische Personifikation, um dem anderen, i.e. nüchtern beobachtenden Ich den Status eines Wissenden zu gewährleisten. Einer der typischen Fälle findet sich in der Figur der ›Ungebildeten‹, des ›Volkes‹ und der ›kleinen Leute‹ mit mehr oder weniger proletarischer Färbung. Diese Komponenten des Diskurses oder des »Mythos vom ›Arbeiterkino‹« sind lange Zeit durch die Kinogeschichte gegeistert, obwohl er sich durch empirische Recherchen als nicht nachweisbar herausstellt.2 In beiden Fällen ist es die Glaubens- bzw. faszinierte Instanz bei den Zuschauern, die im Kinodiskurs des einschlägigen Zeitraumes metaphorisiert und nach außen projiziert wird. Auf diese Weise kann man das Kino mit gewissen negativen oder positiven affektiven Werten versehen und/oder sich selbst als die andere, i.e. wissende wie beurteilende Instanz inszenieren. Die Glaubensinstanz wird aber nicht nur räumlich, d.h. auf den äußeren Auslöser der filmischen Faszination oder aber auf die anderen, in der Regel als naiv eingestuften Figuren projiziert. Vor allem bei der zweiten Art der Projektion, in der sich die Glaubensinstanz durch die anderen Zuschauerfiguren verkörpert, werden häufig auch frühere und vergangene Entwicklungsstadien heraufbeschworen. Diese metaphorischen Figuren dienen bald als Projektionsfläche einer evolutionistisch progressiven Abgrenzung, bald dem Ausdruck für ›sentimentalisch‹ regressive Wünsche nach einer arkadischen Entgrenzung. Außerdem kann es sich auch bei der ersten Version der Projektion, also bei dem äußeren Auslöser einer filmischen Faszination, ebenfalls um eine reflexiv ›sentimentalische‹ Regression handeln. Denn man betrachtet hierbei das filmische Bild nicht als ein durch Verstand zu entzifferndes und auszulegendes Zeichen. Es soll vielmehr gleichsam zu einem rituellen Symbol bzw. einem Fetisch mit einer beinahe magischen Wirkkraft metaphorisiert werden.

2

che, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Art. »Projektion«. Zur weiter zurückreichenden Begriffsbzw. Metapherngeschichte, innerhalb derer die psychoanalytische Aneignung durch Freud nur noch ein spätes Glied darstellt, vgl. Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, S. 146-214, hier insbes. S. 193-209. – Zur Denkfigur der ›Introjektion‹ als das Gegenstück zur Projektion siehe Kapitel 6. Müller, Corinna: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912, S. 206. Näheres hierzu siehe Kapitel 4.

Rückwärtsprojektion. Einführung in die regressive Zeitstruktur der Metapher

Im Folgenden soll diese rückwärtsgewandte zeitliche Struktur der metaphorischen Projektion in drei Schritten beleuchtet werden. In Betracht kommen soll zunächst die Apparatustheorie. Sie entstammt dem psychoanalytischen Umkreis des französischsprachigen Kulturraumes und spielt in der Filmtheorie der 1970er Jahre eine maßgebliche Rolle. Diese inzwischen kanonische Strömung interessiert die vorliegende Studie aus dem Grund, da sie der Denkfigur des Regressiven eine in der Filmtheoriegeschichte einmalig große Signifikanz beimisst. Dort wird ein bisweilen noch heute wirkmächtiges Deutungsmuster angeboten. Sie setzt sich mit dem Filmerlebnis grundsätzlich anhand seiner regressiven Tendenz auseinander. Gerade infolge dieser Analyse verurteilt sie schließlich ideologiekritisch das ›Dispositiv‹ Kino. Insofern setzt die Theoriebildung diese Denkfigur nicht mehr als eine Metapher mit einer widersprüchlich doppelten Botschaft ein, sondern nimmt sie als einen Bestandteil ihrer terminologischen Gerüste ernst. Jean-Louis Baudrys grundlegender Aufsatz Das Dispositiv (Le dispositif, 1975)3 kommt als der typische Exponent dieser theoretischen Strömung zur Sprache. Ihm zufolge transportiere die an Platons Höhle erinnernde raumzeitliche Anordnung der Filmrezeption ihre Zuschauer zwangsläufig in die Kindheit. Der andere repräsentative Apparatustheoretiker, Christian Metz, legt in dieser Hinsicht jedoch eine ungleich schärfere Sensibilität an den Tag. Denn er deckt die diskursive Struktur für den wiederholten Einsatz der regressiven Figur auf und entlarvt diese als eine Exmetapher. Im nächsten Kapitel wird auf seine Abhandlung Der imaginäre Signifikant (Le signifiant imaginaire, 1977)4 eingehend Bezug genommen. Hier kommt jener ›Gründungsmythos‹ des Kinos, d.h. die »Legende«5 der panischen Reaktion der ersten Zuschauer des Cinématographe auf eine einfahrende filmische Lokomotive, noch einmal zur Sprache. Metz stellt heraus, dass die »gläubigen Zuschauer von 1895«6 im nachfolgenden Kinodiskurs eine nachträgliche Projektionsfläche der Glaubensinstanz des Kinopublikums darstellen. Auf diese Weise dienen sie, so Metz, dem progressiven Abgrenzungswunsch der angeblich reflexiveren und »bewußteren« Filmzuschauer. Die vermeintliche Naivität dieser ersten Zuschauer besteht hierbei in ihrem Umgang mit dem filmischen Zeichen. Sie betrachten dies als ein bildliches Symbol, das für sie als identisch mit dem Symbolisierten erscheinen und folglich damit verwechselt werden muss.

3

4 5 6

Baudry, Jean-Louis: »Das Dispositiv. Metapsychologische Bemerkungen des Realitätseindrucks« [1975], in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 48 (1994), S. 1047-1074. Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino [1977], übers. von Dominique Blüher et al., Münster: Nodus Publikationen 2000. Vgl. Loiperdinger, Martin: »Lumières Ankunft des Zugs. Gründungsmythos eines neuen Mediums«. Metz: Der imaginäre Signifikant (wie Anm. 4), S. 66.

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Metaphorologie des Kinos

Diese Identifikation und Verwechslung des Zeichens mit dem Bezeichneten soll den symbolischen Objektbezug der naiven gutgläubigen Zuschauerfigur kennzeichnen. Dieses Verständnis eines primitiven Umgangs mit dem bildlichen Symbol ist keineswegs neu und geht spätestens auf die Zeit um die Jahrhundertwende zurück. Friedrich Theodor Vischers Symboltheorie (1887) sieht die primitive Auffassung des Symbols bereits in der Identifizierung und Verwechslung des Symbols mit dem Symbolisierten verankert. Die Abhandlung stellt in dem vorliegenden Zusammenhang einen Basistext dar, weil Vischer hier auch die Funktion der Metapher als einen reflexiv rückwärtsgewandten Bezug auf das primitive Stadium des Symbolgedankens schildert. Im Rahmen dieser diachronen Zeitstruktur lässt sich folglich auch die Metapher als ein Ausdruck des rückläufigen und regressiven Wunsches verstehen. Drittens und letztens wird – in den darauffolgenden beiden Kapiteln 4 und 5 – den metaphorischen Denkfiguren des Regressiven im Kinodiskurs der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts nachgegangen. Die Spielarten der metaphorischen Kombination des Kino(zuschauer)s mit dem ›Kind‹ bzw. dem Regressiven sollen hierbei von der Beschreibung des Mediums Kino selbst als ›Kind‹ bis hin zum ›inneren Kind‹ des erwachsenen Zuschauers reichen. Anhand von zahlreichen Beispielen soll dargelegt werden, dass die metaphorischen Bezüge einerseits von der diskursiven Basis der Einfühlungsästhetik à la Vischer ausgehen und andererseits letztlich darüber hinausweisen.

3 Zwischen Abgrenzung und Sehnsucht. Der Stellenwert des Regressiven in psychologischen Bildtheorien

3.1

»Das Kino entspräche […] einer passageren Form der Regression«. Die Apparatustheorie als Theoretisierung des Regressiven im Kino

3.1.1

In der Regressionshöhle. Jean-Louis Baudry: Das Dispositiv

Jean-Louis Baudrys Aufsatz Das Dispositiv (1975)1 behauptet zusammen mit Christian Metz’ Arbeiten längst den Status eines filmtheoretischen Klassikers. Ferner erfährt er heute als exemplarischer Text der Apparatustheorie Eingang in die medienwissenschaftlichen Kursbücher.2 Diese französischen Abhandlungen interessieren hier jedoch deswegen, weil sie reichliche Berührungspunkte mit den deutschsprachigen Schriften der literarischen Kinokritiker sowie -befürworter der 1920er und 1930er Jahre aufweisen. Es ist, als nähmen die Apparatustheoretiker 40 Jahre später die alten Denkfiguren als begriffliche Grundlagen ihrer theoretischen Gerüste auf: die Denkfiguren, welche die Schriftsteller der Zwischenkriegszeit in ihren literarischen Arbeiten im Grunde als metaphorische Motive in Anspruch nehmen. Wie unten ausgeführt werden soll, ist hier jedoch von keinem einseitigen »primitiven Evolutionsschema« »des ›Übergangs‹ von der Metapher zum Begriff« auszugehen. Aufgrund des pragmatischen Charakters der Metapher ist es durchaus denkbar, dass sich der scheinbar eindeutige Terminus aus einer anderen, metaphorologischen Sicht als eine Metapher – exakter: eine Exmetapher – herausstellt. In diesem Sinne kann man im theoretischen Diskurs auch »den umgekehrten Weg vom Begriff zur Metapher«3 ausmachen. 1 2 3

Baudry, Jean-Louis: »Das Dispositiv. Metapsychologische Bemerkungen des Realitätseindrucks«, S. 1071. Vgl. etwa Pias, Claus et al. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, München: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 381-404. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960], S. 142 (Herv. im Orig.).

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Beispielsweise teilt Baudrys Dispositiv den Kerngedanken mit Arnold Höllriegels Filmroman Du sollst dir kein Bildnis machen (1928) und – vor allem – Joseph Roths Essayband Antichrist (1934), die beide im vorangegangenen Kapitel ausführlich zur Sprache kamen. Alle drei, sowohl Roth und Höllriegel als auch Baudry, sehen in der Verwechselbarkeit des Seins und des Scheins das Kardinalproblem des Kinos. Roths »Schattendämonologie« führt jedoch die täuschende Relativität der Wirklichkeit und der kinematographischen »Fata Morgana« auf den »Antichrist« als die eigens zu diesem Zweck heraufbeschworene Projektionsfigur zurück. Baudry verurteilt hingegen die höhlenartige Maschinenanordnung der Kinematographie, das »Dispositiv« selbst, und weist diesem allein die Schuld an der »Leichtgläubigkeit«4 des Filmzuschauers zu. Zum Zweck seiner Argumentation zieht Baudry Platons Höhlenmythos heran, der ihm zufolge »das Dispositiv des Kinos und die Situation des Zuschauers nicht nur evoziert, sondern überaus genau beschreibt«5 . Genauso wie die Gefangenen in der Höhle sitzen die Zuschauer6 im Dunkeln des Saals in der erzwungenen Unbeweglichkeit. Baudry konstatiert, es sei diese »motorische Lähmung, die Unmöglichkeit, von dort, wo sie [die Zuschauer] sind, wegzugehen«, die »für sie die Realitätsprüfung unmöglich macht, die ihren Irrtum beschönigt und sie tatsächlich dazu bringt, das Stellvertretende für real zu halten«. Um seine These zu begründen, diese »Bewegungslosigkeit« sei »einer der Gründe für den Verwirrtheitszustand, in den sie gestürzt wurden und der sie Bilder und Schatten für real halten läßt«,7 ruft Baudry allerdings nicht jene verteufelnde metaphorische Figur eines »Antichrist« auf den Plan. Zum Tragen kommt vielmehr das psychoanalytische Theorem des Regressiven. Das »kinematographische Dispositiv« determiniere einen künstlichen Regressionszustand […], wenn man die Dunkelheit des Saals berücksichtigt, die Situation der relativen Passivität, die erzwungene Unbeweglichkeit des Kino-Subjekts und natürlich auch die der Projektion bewegungsfähiger Bilder innewohnenden Effekte. Es rückt das Subjekt in eine seinem Entwicklungsstand vorherliegende Position[.]8 Diese »Position« fasst Baudry als mit dem »nachgeburtlichen Zustand«9 vergleichbar auf. Sie soll sich unter anderem10 dadurch auszeichnen, dass dort – ähnlich 4 5 6

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Baudry: »Das Dispositiv« (wie Anm. 1), S. 1054. Ebd., S. 1052. Allerdings spricht Baudry in seiner psychoanalytischen Argumentation weniger von den (pluralischen bzw. Massen-) Zuschauern, sondern weitgehend vom (singularischen) Filmzuschauer oder dem (Kino-)Subjekt. Ebd., S. 1054 (Herv. im Orig.). Ebd., S. 1068. Ebd., S. 1053. Zu dieser regressiven Lage, die Baudry auch »als Wiederholung eines besonderen, zur oralen Phase gehörenden Zustandes« beschreibt, zählt auch »die dem Aufbau der oralen Phase

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wie im Traum – »das Wahrgenommene sich nicht von den Vorstellungen unterscheidet«11 . In dem ›Dispositiv‹ Kino vergrabe »der Besucher des dunklen Saales […] sich in seinen Sessel« und finde sich in der »erzwungene[n] Unbeweglichkeit des Neugeborenen« wieder. Es lasse ihn auf diese Weise »in den alten Zustand« zurückkehren und verurteile ihn somit zum »Opfer des Eindrucks, eines Realitätseindrucks«12 . Im Verlauf von Baudrys Argumentation zeichnet sich unmissverständlich ein »ideologiekritische[r] Impetus« ab, der hier »mit psychologischen und psychoanalytischen Theoremen« verbunden ist. Es ist jedoch wohl nicht nur diese Kombination, »die in den politisierten 1970er Jahren auf viel Resonanz«13 stößt, sondern auch die nonkonformistische Strenge dieses Theorieansatzes. Genügt es doch Baudry keineswegs, die einzelnen Filme, die bald künstlerisch rühmenswert, bald ästhetisch verwahrlosend erscheinen mögen, zu zensieren oder anzugreifen: Statt das Kino als einen ideologisch neutralen Apparat zu betrachten, wie man auf eine recht dümmliche Art gesagt hat, dessen Einfluß lediglich vom filmischen Inhalt abhänge […], müßte man es, um sich über den Kino-Effekt klar zu werden, unter dem Blickwinkel des Dispositivs angehen, das es darstellt: […].14 Denn es handelt sich beim ›Dispositiv‹ Kino um eine Regressions- bzw. »Simulationsmaschine«15 . Durch die apparative und räumliche Anordnung selbst verblende diese Maschine zwangsläufig den Zuschauer. Auf dem Wege der »Rückkehr zu einem relativen Narzißmus«16 entledige sie das »Kino-Subjekt« einer direkten Konfrontation mit der Realität, so Baudry: Ein auffällig bestimmter Wunsch, der darin besteht, von der Realität eine Position, einen Zustand zu erlangen, in dem das Wahrgenommene sich nicht von den Vorstellungen unterscheidet. Man kann annehmen, daß es genau dieser Wunsch ist, der die lange Geschichte der Erfindung des Kinos umtreibt: eine Simulationsmaschine zu fabrizieren, die in der Lage ist, dem Subjekt Wahrnehmungen darzubieten, die die Eigenschaften von Vorstellungen haben, welche als Wahrnehmungen aufgefaßt werden – die Transformation von Gedanken durch bildliche Darstellung.17

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eigentümliche Dialektik von Innen/Außen, Verschlingender/Verschlungener, Essen/Gegessenwerden« (ebd., S. 1066 u. 1070, Anm. 12). Näheres hierzu siehe weiter unten in Teil II, Kapitel 6. Ebd., S. 1071. Ebd., S. 1052 f. (Herv. im Orig.). Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, S. 87. Baudry: »Das Dispositiv« (wie Anm. 1), S. 1067. Ebd., S. 1071. Ebd., S. 1068. Ebd., S. 1071.

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Baudry geht explizit von einer zwingenden bzw. »überdeterminierende[n] Kraft«18 des Dispositivs Kino aus: eine Argumentation, die an einige, zum Teil einflussreiche Ansätze späterer ›technikzentrierter‹19 Medientheorien erinnert. Diese Voraussetzung erweist sich jedoch im Laufe der filmgeschichtlichen Forschung seit den 1980er Jahren – mit Recht und wohl endgültig – als nicht nachweisbar oder zumindest als historisch kontingent. Dies offenbart sich besonders dann, wenn man auf Praktiken des frühen Films, die von denen des klassischen Kinos stark abweichen, einen Blick wirft. Darüber hinaus erfährt der Aufsatz bereits kurz nach dem Erscheinen durch einen anderen Vertreter der Apparatustheorie, Christian Metz, eine unauffällige, dennoch schwerwiegende Kritik. Dieser erkennt zwar ebenfalls eine regredierende Tendenz des Dispositivs Kino: »[W]ährend der Vorführung befinden wir uns«, bemerkt Metz, wie Jean-Louis Baudry hervorhob, […] wie das Kind in einem Zustand herabgesetzter Motorik und gesteigerter Wahrnehmung; da wir, wieder gleich dem Kind, Opfer des Imaginären sind, des Doubles, und dies paradoxerweise durch eine reale Wahrnehmung.20 Gleichwohl signalisiert Metz hier nicht nur durch das Vergleichspartikel (›wie‹) und das Adjektiv (›gleich‹) seine rhetorische bzw. metaphorologische Sensibilität. Des Weiteren spürt er – anders als Baudry – im scheinbar reibungslosen Betrieb der Regressions- und »Simulationsmaschine« aufmerksam einen unscheinbaren Defekt. Dieser kann eventuell eine Störung des wiederhergestellten kindlichen »Narzißmus« herbeiführen. Der Spiegel des Kinos »unterscheidet sich« von dem der Kindheit, so Metz, denn »[a]ls Dispositiv […] ist das Kino mehr aufseiten des Symbolischen und des Sekundären als der Spiegel der Kindheit«21 . Dieser Unterschied, den Baudry im Dispositiv anscheinend außer Acht lässt, hängt mit Metz’ differenzierterem Verständnis des kinematographisch Regressiven wohl eng zusammen. So vergleicht Metz in seinem Aufsatz aus demselben Jahr wie Baudrys Dispositiv,

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20 21

Fohrmann, Jürgen: »Der Unterschied der Medien«, S. 11. Vgl. Winkler, Hartmut: »Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte versus ›anthropologische‹ Mediengeschichtsschreibung«, in: Claus Pias (Hg.), [me’dien]i . dreizehn vortraege zur medienkultur, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 1999, S. 221-238. Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, S. 49. Ebd. (Herv. im Orig.). In diesem Satz stützt sich Metz offensichtlich auf das lacansche Verständnis des Symbolbegriffes. Um psychoanalytische Umschweife zu ersparen, reicht es hier jedoch vollkommen aus, von einer gängigen Auffassung auszugehen, der zufolge das Symbol ein arbiträres, dem Bezeichneten durch konventionelle Codes zugeordnetes Zeichen darstellen soll. Näheres hierzu siehe weiter unten (in Bezug auf Friedrich Theodor Vischers Symboltheorie).

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Der fiktionale Film und sein Zuschauer [Le film de fiction et son spectateur], die filmische Regression nicht – wie Baudry – mit »Traum«, sondern mit »Tagtraum«, weil sie beide [Film und Tagtraum] an einem Punkt der Realitätsanpassung eingreifen – oder an einem Punkt der Regression, um die Dinge vom anderen Ende her anzupacken –, der beinahe ähnlich ist, d. h. weil sie im selben Moment eingreifen (im selben Moment der Ontogenese, im selben Moment des Zeitplans): Der Traum gehört der Kindheit und der Nacht, der Film und der Tagtraum sind erwachsener und gehören dem Tag; allerdings nicht dem hellen Tag, sondern vielmehr dem Abend.22 So verortet Metz das Bewusstsein des ›Kino-Subjekts‹ in einer Zwischenstufe der ontogenetischen Entwicklung. Im Kino regrediert der Filmzuschauer demzufolge nicht komplett in die Kindheit, sondern gleichsam halbwegs. Im folgenden Unterkapitel soll speziell hinsichtlich des Mythos der ersten Kinozuschauer 1895 auf Metz’ diesbezügliche Auffassung eingegangen werden. Sie soll zum einen Baudrys Ausführung metaphorologisch de facto den Boden entziehen und zum anderen tendenziell auf das Metaphorische im Filmerlebnis hinweisen.

3.1.2

Die »gläubigen Zuschauer von 1895« als Projektionsfläche. Christian Metz: Der imaginäre Signifikant

In seinem Aufsatz Das Dispositiv prangert Baudry das kinematographische Medium selbst als eine Regressions- und »Simulationsmaschine« an. Durch den »Effekt der Täuschung«23 müsste das Kino den Zuschauer unweigerlich in eine kindliche »Leichtgläubigkeit« und somit in einen Verblendungszusammenhang verwickeln. Ebenso kommt ein anderer Exponent der Apparatustheorie, Christian Metz, auf die Problematik des Regressiven im Kino zu sprechen. Allerdings geht er die Thematik viel reflektierter an als sein Mitstreiter. Um dies aufzuweisen, wird im Folgenden – als ein notwendiger Umweg – zuerst nochmals auf den Mythos der frühen Zuschauer Bezug genommen. Denn Metz integriert diese Legende in seine Argumentation über die gleichsam mehrschichtige Glaubensstruktur des Filmzuschauers. Der alten Anekdote zufolge hätten die ersten Zuschauer des Cinématographe Lumière die filmischen Bilder mit der Realität verwechselt und darauf mit körperlichen Handlungen (etwa der panischen Flucht) reagiert. Der lange als faktisch

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Metz, Christian: »Der fiktionale Film und sein Zuschauer. Eine metapsychologische Untersuchung« [1975], in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 48 (1994), S. 1014-1046, hier S. 1040 (Herv. im Orig.). Elsaesser/Hagener: Filmtheorie (wie Anm. 13), S. 89.

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in Geltung gewesene »Gründungsmythos« des Kinos ist durch film- und kinogeschichtliche Recherchen längst als Legende entlarvt worden. Es bleibt dennoch, danach zu fragen, aus welchem Anlass die Legende so weit und breit zirkuliert und so langfristig kolportiert worden ist. Hierbei lassen sich drei verschiedene Standpunkte gegenüber der postulierten Naivität der Zuschauer feststellen. Die einen sprechen dieser Episode die historisch nachweisbare Faktizität ab und unterstellen ihrer nachhaltigen Verbreitung ein »ideologische[s] Bedürfnis«24 . Die wiederholte Erzählung soll demzufolge der Intention dienen, dem Medium massenpsychologisch eine »manipulatorische Macht«25 nachzusagen und darauf aufmerksam zu machen. Dieser Ansicht nach ist die naive Treuherzigkeit der ersten – geschweige denn späteren – Zuschauer nichts anderes als eine zum warnenden Zweck erfundene Fiktion. Ginge man aber von dieser Auffassung aus, so könnte man den sensationellen Qualitäten im Eindruck des Films nicht sachgerecht Rechnung tragen. Ohne das beinah befremdend realitätsnahe spektakuläre Erscheinungsbild des Films wäre der starke Einsatz der rhetorischen Figuren durch die ersten Berichterstatter überhaupt nicht erforderlich. Außerdem finden sich unter den verschiedenen Fassungen der Episode nicht selten die Versionen, die offenkundig keine Warnung intendieren. Sie legen nämlich die naive Gutgläubigkeit der Zuschauer nicht als eine gefährliche Suggestibilität dar, sondern dezidiert als etwas Attraktives und Wünschenswertes. In dieser Hinsicht ist zu bemerken, dass diese Geschichte stets aus einer nachträglichen Perspektive (nach-)erzählt wird. Ein Paradebeispiel lässt sich in einem Feuilleton von Walter Hasenclever ausmachen. Er nimmt hier Bezug auf eigenes frühes Erlebnis rückblickend und – wie die Synekdoche des ›Schattens‹ und die Metapher der ›Gespenster‹ deutlich signalisieren – reflexiv: Als Kind nahm mich mein Großvater in einen kleinen Saal mit, der in der belebtesten Straße von Aachen lag. Draußen hing ein Zettel mit der Inschrift: »Lebende Bilder«. Da sah ich meinen ersten Film. Ein Eisenbahnzug kam lautlos aus großer Entfernung näher und schien plötzlich in uns hereinzufahren. Ich schrie laut auf. Aber schon war die Lokomotive vorüber und schattenhaft zog der Gespensterzug in die Wand.26 Im Jahre 1929, i.e. zu Beginn der Tonfilmära erinnert sich Hasenclever an sein erstes Filmerlebnis, das ihm als Zehnjährigem in einem Ladenkino seiner Heimatstadt Aachen zuteilwurde. Aus der ungefähr 30-jährigen zeitlichen Distanz erscheint die 24 25 26

Loiperdinger, Martin: »Lumières Ankunft des Zugs. Gründungsmythos eines neuen Mediums«, S. 46. Ebd., S. 40. Hasenclever, Walter: »Wandlungen« [1929], in: Ders., Pariser Feuilletons 1927-1932, hg. von Dieter Breuer u. Bernd Witte, Mainz: v. Hase & Koehler 1996 (= Sämtliche Werke III. 2), S. 253256, hier S. 254.

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naive Reaktion auf die damals noch frische Sensation des anfänglichen Stummfilms geradezu rührend. Dies umso mehr, da sich das Filmwesen seinerzeit inmitten der »größten Umwälzung [befindet], die je eine Branche erlebt hat«27 . Gerade hinsichtlich der aktuellen Entwicklungslage des Films scheint diese kindliche Arglosigkeit nicht zurückzubringen zu sein. Der späte Hasenclever nimmt dieses kinematographische Urerlebnis noch einmal auf. Dies geschieht in seinem autobiographischen Roman Irrtum und Leidenschaft (1934-1939).28 Vor seinem Freitod in einem französischen Internierungslager 1940 beschäftigt er sich sechs Jahre lang mit diesem Lebensrückblick und trachtet gleichsam mit dem eigenen Leben abzurechnen. Hieran ist besonders bemerkenswert, dass das Erlebnis jetzt inhaltlich eng mit der liebevollen Erinnerung an seinen längst verstorbenen Großvater verknüpft ist.29 Immerhin nimmt das Quidproquo des filmischen Eisenbahnzugs mit einem wirklichen, welches das kindliche Ich laut aufschreien ließ, in den Augen des Erwachsenen eine nicht mehr zu restituierende, nahezu arkadische Gestalt an. Dasselbe gilt auch für die Typenfigur des Einfaltspinsels in frühen selbstreflexiven Filmen um 1900 wie The Countryman’s First Sight of the Animated Pictures (GB 1901, R: Robert Paul) oder Uncle Josh at the Moving Picture Show (US 1902, R: Edwin S. Porter).30 Dieser Tollpatsch verwechselt die von ihm zum ersten Mal erlebten Ereignisse auf der Leinwand mit der Wirklichkeit. So flieht er etwa vor dem heranrückenden filmischen Zug oder versucht den attraktiven beweglichen Schein der Frauen zu berühren. Diese komischen Kurzfilme verbergen eine unverkennbare nostalgische Neigung gegenüber der bereits abhanden gekommenen (oder als solche im Nachhinein erfundenen) medialen Gutgläubigkeit. Um einem Phänomen nostalgisch nachzutrauern, muss dies logischerweise unwiederbringlich verlorengegangen sein. Diesen endgültigen Verlust der Naivität bestreitet die dritte Auffassung, die etwa der Semiotiker und Filmtheoretiker Christian Metz vertritt. Vorwiegend mit Blick auf das fiktionale Kino beschäftigt er sich in einem Kapitel seines Hauptwerks Der imaginäre Signifikant (1977) mit den Glaubensstrukturen beim Zuschauer. Das Publikum fällt einerseits nicht auf die (hier diegetische) filmische Illusion herein. Jeder Filmzuschauer ›weiß‹, dass es 27 28 29

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Ebd. Hasenclever, Walter: »Irrtum und Leidenschaft. Roman« [1934-1939], in: Ders., Romane, hg. von Dieter Breuer, Mainz: v. Hase & Koehler 1992 (= Sämtliche Werke IV), S. 7-344. Ebd., S. 43-45. Hasenclevers Erinnerung an seinen Großvater scheint am frühen Kino dergestalt festgehalten zu sein, dass er in seinen Memoiren gleich nach dem ersten Kinobesuch eine an den Lumière-Film Der begossene Gärtner erinnernde Szene hervorhebt, die sich zwischen beiden ereignete: »Wir waren nie böse miteinander; nur einmal, als ich trotz ausdrücklichen Verbotes an seinem Springbrunnen drehte und im Garten eine Überschwemmung anrichtete, hob er den Stock gegen mich. Ich flüchtete zu Tode erschrocken zu meiner Großmutter.« (Ebd., S. 45) Zu diesen Filmen ausführlich Hansen, Miriam: Babel and Babylon. Spectatorship in American Silent Film, Cambridge: Harvard University Press 1991, S. 25-30.

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auf der Leinwand um nichts anderes als die Fiktion bzw. Repräsentation geht. Gleichwohl muss es aber andererseits gleichzeitig einen Gläubigen geben, damit ein (Spiel-)Film überhaupt funktioniert: »Dieser Gläubige ist selbstverständlich ein anderer Teil unserer selbst. Er bleibt hinter dem Ungläubigen bestehen oder in seinem Herzen, er ist jener, der weiterhin glaubt und der verleugnet, was er weiß«31 . Dies trifft nicht nur auf den hier speziell thematisierten fiktionalen Film zu, sondern auch – grundsätzlich gesprochen – jeden Film, der irgendeine (sei es nur optische, sei es auch diegetische) Realitätsillusion anbietet. Beim Betrachten des Films muss der Zuschauer von daher innerlich in zwei Instanzen gespaltet werden, die sich im Grunde einander unverträglich gegenüberstehen: die eine gläubige, die andere ungläubige und wissende.32 Da diese psychische Symbiose jedoch für den wissenden Teil nicht zulässig ist, wird sie von diesem verleugnet, und die »Glaubensinstanz« wird nach außen projiziert. Hierbei ist jedoch bemerkenswert, dass die Projektionsfläche nicht nur von gewissen anderen Personen angeboten wird. Hier tritt vielmehr bevorzugt ein »›früher‹«, d.h. eine »Vergangenheit«33 auf den Plan, die der Ungläubige vermeintlich längst überwunden haben will: [Z]um Beispiel die gläubigen Zuschauer von 1895 im ›Grand Café‹, die oft und wohlgefällig von den ungläubigen Zuschauern, die später kamen (und keine Kinder mehr sind), erwähnt wurden, diese Zuschauer von 1895 sprangen erschreckt von ihren Stühlen auf, als die Lokomotive in den Bahnhof von La Ciotat einfuhr (in dem berühmten Film von Lumière), weil sie fürchteten, daß der Zug sie überfahren würde.34 Um verleugnen zu können, dass man der filmischen Realitätsillusion unterlegen ist, bedarf man einer wiederholten Nacherzählung der alten Legende. Durch dieses diskursive Verfahren will man immer wieder seinen inneren leichtgläubigen Teil oder die Glaubensinstanz von sich abtrennen und als Figuren des Früheren nach außen projizieren. Auf diese Weise macht Metz die latente Metaphorizität dieser

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Metz: Der imaginäre Signifikant (wie Anm. 20), S. 66. Diese widersprüchliche Struktur erklärt Metz (unter Rekurs auf Freud, Lacan und Octave Mannoni) anhand der psychoanalytischen Theorie des Fetischismus: Ein Kind sieht den nackten Körper seiner Mutter und legt die Penislosigkeit als die Folge einer Kastration aus. Trotz dieses traumatisierenden Wissens wird der Glaube an den Phallus der Frau bewahrt, während die unerwünschte Wahrnehmung nicht völlig weggewischt wird. Der Fetisch lässt die beiden unverträglichen Positionen trotzdem koexistieren: die Wahrnehmung und die Verleugnung der Kastration (ebd., S. 64-66). Zur durchaus vergleichbaren diskursiven Figur im frühen deutschsprachigen Kinodiskurs siehe unten in Kapitel 4. Ebd., S. 67. Ebd., S. 66 f.

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›frühen‹ Figuren deutlich. Darüber hinaus stellt er im gleichen Atem auch jenen »Regressionszustand« in Baudrys Theoriebildung als (Ex-)Metapher heraus. Durch Metz’ Auslegung wird die hartnäckig zirkulierende Anekdote der Verwechslung des ersten Publikums auf einen unbewusst projizierenden Abwehrmechanismus vonseiten der späteren Zuschauer zurückgeführt. Diese metapsychologische Erläuterung erntet jedoch in der neueren Forschung wegen ihrer ahistorischen Behandlung dieser Episode Kritik. Dieser zufolge nehme Metz hier anscheinend die ohne Nachweis kolportierte Legende als ein geschichtliches Faktum hin. Insofern schließe er sich der in dieser Anekdote unterstellten Annahme an, die frühen Zuschauer wären derart naiv und gutgläubig gewesen, dass sie auf die filmische Realitätsillusion ohne weiteres hereingefallen wären. Einer der prominentesten Kritiker von Metz in dieser Problematik, der amerikanische Filmwissenschaftler Tom Gunning, stellt in seinem film- und kinohistorischen Aufsatz diese Einstellung von Metz infrage. Schließlich gelangt er zu der Feststellung: Die ersten Filmzuschauer oszillieren gleichsam zwischen den beiden Polen in ihrem Bewusstsein, i.e. zwischen dem Glauben und der Ungläubigkeit bzw. dem Eindruck und dem Wissen. Die visuelle Kraft des Kinos besteht hierbei aus »a trompe l’œil play of give-and-take, an obsessive desire to test the limits of an intellectual disavowal – I know, but yet I see«. Weniger die einfältige und primitive Verwechslung des filmischen Bildes mit der Realität, sondern vielmehr die »pleasurable vacillation between belief and doubt«35 zeichnet bereits von Anbeginn an das Filmerlebnis aus, so Gunning. Dieser Vorwurf erscheint in seiner historiographischen Hinsicht nach der Art von New Film History zwar äußerst relevant. Er ist jedoch insofern fehl am Platz, als es Metz bei seiner Ausführung offensichtlich nicht auf die historische Faktizität dieser Anekdote ankommt. Er versucht vielmehr der psychischen Dynamik nachzuspüren, welche diese Geschichte so häufig und nachhaltig nacherzählt werden lässt. Bei diesem Erkenntnisziel ist es für Metz nur konsequent und vollkommen gerechtfertigt, dass seine »penetrating analysis of the mythical role of this first audience does not lead to demythologisation«36 . Ist in seiner Untersuchung doch in der Tat nicht der aufklärerische Gestus einer historizistischen Entmythologisierung angestrebt. Metz bemüht sich vielmehr um die psychoanalytische Annäherung an den diskursiven Mechanismus eines immer wiederkehrenden Rekurses auf die Urszene. Diese erweist sich bekanntlich per definitionem als eine nachträgliche (Re-)Konstruktion.

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Gunning, Tom: »An Aesthetic of Astonishment: Early Film and the (In)Credulous Spectator« [1989], in: Linda Williams (Hg.), Viewing Positions. Ways of Seeing Film, New Brunswick: Rutgers University Press 1995, S. 114-133, hier S. 117. Ebd., S. 115.

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So gesehen scheint Metz’ Erläuterung sowohl für eine immer wiederkehrende Aktualisierung dieser Episode als auch für eine rückblickende Perspektive der Nacherzählung eine überzeugende Erklärung parat zu haben. Seiner Ansicht nach versucht jeder (Nach-)Erzähler dieser Anekdote die eigene Neigung zum Kinobesuch zu verleugnen. Zu diesem Zweck projiziert der moderne erwachsene Zuschauer seine innere Glaubensinstanz auf die anderen, insbesondere die noch nicht ausreichend aufgeklärte ›Kindheit‹. Allerdings lässt sich diese Instanz nicht nur ontogenetisch »auf das Kind« zurückführen. In der Art von Ernst Haeckels ›biogenetischem Grundgesetz‹ kann sie auch im phylogenetischen Sinne »auf die alten Zeiten« übertragen.37 Durch diese innere Abwehr intendiert er, den Verdacht einer naiven Gutgläubigkeit abzulehnen und den Status des Wissenden erfolgreich zu verteidigen. Es lässt sich außerdem leicht erkennen, dass auch der ideologiekritischen Argumentation im oben besprochenen Aufsatz Das Dispositiv von Jean-Louis Baudry dieselbe Logik zugrunde liegt. Bei diesem wird die »Leichtgläubigkeit« der Filmzuschauer gänzlich auf das regredierende Dispositiv des Kinos zurückgeführt: ›Ich musste vom Film fasziniert werden, da ich von der »Simulationsmaschine« irregeführt und zu einer Regression in den alten Zustand eines Neugeborenen gezwungen wurde‹. – Durch die im Grunde gleiche projektive Redestrategie vom Rekurs auf die Figuren eines ›früher‹ verfolgen sowohl das von Metz analysierte Publikum als auch der Autor des Dispositiv-Aufsatzes Baudry dieselbe Absicht. Die beiden wollen sich selbst als die kritisch Reflektierenden inszenieren und den möglichen Vorwurf einer Naivität vorwegnehmend abwehren.

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Die Metapher als reflexive Regression in die ›naive‹ Symbolik. Friedrich Theodor Vischer: Das Symbol

Metz betrachtet die wiederholte Legende der »gläubige[n] Zuschauer von 1895« als eine Grundlage für die nachträgliche Ausgrenzung der Glaubensinstanz durch die späteren Zuschauer. Seine elegante und raffinierte Ausführung erklärt aber nur eine Seite dieser zeitlichen Projektion. Für ihn ist von Anfang an vorausgesetzt, dass »[n]iemand […] zugeben [würde], daß er auf die ›Intrige‹ hereinfällt«; dass »[j]eder Zuschauer lautstark protestieren [würde], daß er nicht daran glaubt«38 . Das Beispiel von Hasenclever oder den im nächsten Kapitel zu besprechenden mehrheit-

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Metz: Der imaginäre Signifikant (wie Anm. 20), S. 67. In dieser Hinsicht muss das Verdienst der New Film History betont werden, dass durch deren historiographische Aufklärung der projektive Rückgriff auf die ersten, vermeintlich ›naiven‹ Zuschauer von 1895 zumindest in der anhängigen Forschung überwältigt worden ist. Ebd., S. 66.

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lich literarischen Autoren weisen jedoch deutlich darauf hin, dass in der Klassischen Moderne eine gewisse primitivistische oder ›sentimentalische‹ Tendenz zu beobachten ist: die Tendenz, das einmal nach außen und in frühere Zeiten Projizierte wieder reflexiv zurückzuerobern oder zumindest sehnsüchtig danach zu verlangen. Die frühen Filmzuschauer verkörpern für sie eine verlorene zeichentheoretische Unschuld, zwischen dem filmischen Zeichen und dem von ihm Bezeichneten noch keine unüberbrückbare Zäsur zu erblicken. Vor ihren Augen nimmt dieses ›naive‹ und ›primitive‹ erste Kinopublikum eine idealisierte Stellung ein, die es – auch nur für eine kurze bestimmte Weile – wiederzugewinnen oder sich noch einmal zu ›introjizieren‹ gilt. Von diesen ›sentimentalisch‹ rückwärtsgewandten Zügen des Kinodiskurses scheint Metz hier keine Notiz zu nehmen. Dies allerdings insofern mit Recht, als diese bewusst regressive Tendenz anscheinend über seine theoretische Perspektive der späten 1970er Jahre hinauszuweisen droht. Man ist von daher auf eine Auseinandersetzung mit dem diesbezüglichen zeitgenössischen Kontext angewiesen. Denn nur dadurch kann man sich dem metaphorischen Gebrauch der Denkfigur des Regressiven im frühen deutschsprachigen Kinodiskurs sachgerecht annähern.   Das vermeintlich primitive Quidproquo des Zeichens mit dem Bezeichneten wird nicht nur auf das eigene – onto- wie phylogenetisch – frühere bzw. ursprünglichere Stadium zurückgeführt. Die Zeitstruktur dieser Projektion, bei der man an die Identität des Zeichens mit dem Bezeichneten »glaub[t], doch immer in der Vergangenheit«, exemplifiziert Metz auch anhand von Beobachtungen des Ethnologen »bei gewissen Völkern«39 . Herangezogen werden bei ihm ihre Gebräuche der rituellen Masken, die mit dem repräsentierten Inhalt verwechselt werden sollen. Auf diese Weise rekurriert er – allerdings mit verändertem Vorzeichen – auf ein weit verbreitetes und nachhaltiges Argumentationsmuster. Demzufolge lässt sich zwischen der kindlich naiven Verwechslung des Zeichens mit dem Bezeichneten und dem Umgang mit dem symbolischen Objekt bei den sogenannten ›primitiven‹ ›Naturvölkern‹ eine Parallele ziehen. Dieses Erklärungsmodell hat bei der Publikation von seiner Abhandlung bereits eine lange Tradition hinter sich40 und geht auf die Zeit um 1900 zurück. 39 40

Ebd., S. 67. In dieser Problematik stützt sich Metz durchgehend auf Octave Mannoni. Allerdings meldet sich bei Metz und Mannoni offenbar eine reflektierte Sicht gegenüber dieser Tradition. Anders als die Ethnologen um 1900 unterstellen sie jenen »gewissen Völkern« keine naive Verwechslung zwischen den »Masken« und ihren Bedeutungen mehr, sondern sie beobachten auch dort jene nachträgliche Feststellung des früheren bzw. kindlichen Glaubens, die beim heutigen westlichen Kinopublikum ebenfalls der Fall ist: »Sie [diese Gesellschaften] glauben immer, doch immer in der Vergangenheit (wie wir alle)« (ebd.). In diesem eingeklammerten Zusatz spiegelt sich eine wesentliche Verschiebung des ethnologischen Forschungsinteresses im 20. Jahrhundert wider.

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Die philosophischen bzw. sprachwissenschaftlichen Theorien über den Ursprung der Sprache lehnen sich seinerzeit häufig »an die neuen, empirisch arbeitenden Humanwissenschaften, insbesondere an die Ethnologie und die Entwicklungspsychologie«41 an. In diesen Gebieten wird der onto- wie phylogenetisch ›primitiven‹ oder ursprünglichen Sprache nachgegangen, die jeweils bei Kindern oder bei den fremden, vermeintlich ›primitiven‹ Völkern zu beobachten sei. Diese ›primitive‹ Sprache wird unter anderem durch »die Motiviertheit durch ihre Gegenstände« sowie »die Partizipation von Sprache an oder sogar Identität mit ihren Gegenständen«42 gekennzeichnet. Mit den Charakteristiken entspricht die in diesen Theorien konstruierte ›primitive‹ Sprache einer »Tradition europäischen Sprachdenkens«. Ist seit der Antike doch in vergleichbarer Weise der »natürliche Sprachursprung«43  – aber seinerseits spekulativ – traktiert worden. In diesem Sinne versuchen die Humanwissenschaften »zu ›belegen‹, was Generationen europäischer Philosophen und Literaten nur ›phantasieren‹ konnten«44 . Gleichzeitig verbirgt sich hinter ihrer auf der Empirie fußenden »Theoriebildung« jedoch die heikle Tendenz einer Verzeitlichung des Räumlichen. Gemeint ist die Gefahr, »Elemente der eigenen Kultur in den fremden Kulturen«45 auszumachen.

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Gess, Nicola: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin), München: Fink 2013, S. 167. Ebd., S. 168. Ebd., S. 173. Ebd. Zu dieser »kratylischen« (Gess) europäischen Denktradition über einen nicht arbiträren, sondern motivierten Sprachursprung zählen unter anderem Vico, Rousseau, Hamann, Herder, Jean Paul und nicht zuletzt Hofmannsthal, welche diese natürliche Sprache in erster Linie in der Metapher noch lebendig vergegenwärtigt sehen. Zu Hofmannsthals Metaphernlehre sind Wolfgang Riedels Arbeiten immer noch maßgeblich. Vgl. vor allem Riedel, Wolfgang: Homo Natura. Literarische Anthropologie um 1900 [1996], Studienausgabe, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 23-49. – Die Metapherntheorien dieser Autoren können jedoch hier insofern nicht berücksichtigt werden, da ihnen eine andere Metaphernauffassung zugrunde liegt: Eine Metapher bedeutet für sie keine ambivalente Prädikation – wovon die vorliegende Untersuchung ausgeht –, sondern besagt lediglich eine motivierte Identität des Wortes mit der Sache. Demzufolge kommen ihre Nichtidentität und somit ihr Übertragensein schließlich nicht in Betracht. Diese irreführende, weil durchaus nachträgliche Bezeichnung ›Metapher‹ für diese natürliche Sprache, die keine übertragene und ›uneigentliche‹, sondern eine ursprüngliche und ›eigentliche‹ Rede ist, dient – so Gess – einer diskursiven »Rechtfertigung der Dichtkunst«, die »durch ihre tropische Sprache […] [die] Wiederbelebung oder produktive Weiterentwicklung« des ursprünglichen ›primitiven‹ Denkens ermöglichen könne (Primitives Denken [wie Anm. 41], S. 176). Diese Auffassung lässt sich mit der hier zu besprechenden Symbol- und Metapherntheorie Vischers nicht vereinen, weil diese – wie unten ausgeführt – die metaphorische Identifikation als eine das vorhandene Wissen um die Nicht-Identität bewusst vorbehaltende und insofern reflexive versteht. Ebd., S. 173.

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Infolgedessen wird das Fremde als äquivalent zum früheren Stadium der eigenen kulturellen Genealogie ausgelegt und angeeignet. Die konstatierte ursprüngliche Sprache soll in der Identität bzw. Einheit des Zeichens und des Bezeichneten bestehen. Inspiriert von ethnologischen Nachforschungen um 1900, beschäftigt sich Ernst Cassirer mit dieser »Denkform der Indifferenz«. Diese bestehe »vor allem zwischen der ›Repräsentation‹ (›Bild‹, ›Zeichen‹, ›Name‹) einer Sache […] und dieser ›Sache‹ […] selbst«46 . Im Rahmen seiner Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929) bezeichnet Cassirer Mitte der 1920er Jahre dieses »Identitätsdenken«47 als ›mythisch‹, ›Mythos‹ oder das »mythische Denken«. Hierbei siedelt er dies auf einer chronologisch »ursprünglichere[n]«48 Stufe an, die einem vernünftig-rationalen Stadium der Entwicklungsgeschichte des Menschen vorausgehe. Wie jene Apparatustheoretiker fasst die Theorie der ›mythischen Denkform‹ die Identifikation bzw. Verwechslung der ›Realität‹ mit dem ›Bild‹ ebenfalls als etwas Vorrationales, Unmündiges oder Unaufgeklärtes auf. Die Quelle dieser Theorie sowie Terminologie der ›mythischen Denkform‹ macht Wolfgang Riedel insbesondere in der viel rezipierten Abhandlung des Ästhetikers Friedrich Theodor Vischer, Das Symbol (1887)49 aus. In seiner letzten Schrift rehabilitiert Vischer den Symbolbegriff, indem er eine psychologisch und anthropologisch fundierte ästhetische Symboltheorie auf einer einfühlungsästhetischen Grundlage zu etablieren versucht. Vischers Symboltheorie wird an der Entwicklungsgeschichte des Menschen entlang konzipiert. Dabei versteht er das Symbol oder die Einheit des Bildes mit seiner Bedeutung einerseits nicht mehr »als Ausdrucksform einer überwundenen Kulturstufe«50 , wie er es früher – Hegel folgend – charakterisierte. Die Rehabilitierung des Symbols soll jedoch andererseits keine Wiederkehr einer früheren, ›naiveren‹ Stufe bedeuten. Da, wie Jutta Müller-Tamm treffend formuliert:

46 47

48 49

50

Riedel, Wolfgang: Nach der Achsendrehung. Literarische Anthropologie im 20. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 14 f. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925], hg. von Claus Rosenkranz, Hamburg: Meiner 2002 (= Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe 12), S. 81. Ebd., S. 53. Vischer, Friedrich Theodor: »Das Symbol« [1887], in: Ders., Kritische Gänge, Bd. 4, hg. von Robert Vischer, 2., verm. Aufl., München: Meyer & Jessen 1922, S. 420-456. Eine zusammenfassende Darstellung dieser Abhandlung findet sich u.a. in: Buschendorf, Bernhard: »Zur Begründung der Kulturwissenschaft. Der Symbolbegriff bei Friedrich Theodor Vischer, Aby Warburg und Edgar Wind«, in: Horst Bredekamp et al. (Hg.), Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin: Akademie 1998, S. 227-248. Berndt, Frauke/Drügh, Heinz Joachim: »Einleitung« [zum Kapitel: »Körper«], in: Dies. (Hg.), Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft, [Frankfurt am Main]: Suhrkamp 2009, S. 109-124, hier S. 120.

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die Einfühlungsästhetik den epistemologischen Bruch – so sehr sie in der Tat gegen ihn anging – in sich trägt: Die pantheistische Beschwörung der Einheit von Mensch und Welt mitsamt der zugehörigen Identifikation von Form und Idee in der ästhetischen Anschauung blieb ein Postulat, das sich an den natur- und wahrnehmungstheoretischen Voraussetzungen der Einfühlungslehre brach.51 Beim Aufsatz Das Symbol handelt es sich von daher um ein prekäres, weil paradoxes Unterfangen. Denn er bemüht sich, das Symbol, das sich bereits als etwas Unangemessenes erwiesen hat, dennoch zu ermöglichen bzw. zu erretten. Die hier vorzunehmende Auseinandersetzung mit diesem Aufsatz ist in dreifacher Hinsicht gerechtfertigt. Da Vischer das Symbol nicht als eine Art der sprachlichen Trope, sondern als ein anschauliches Bild definiert, lässt sich seine Argumentation zum einen mutatis mutandis auch auf das filmische Bild anwenden. Darüber hinaus kann diese Symboltheorie beleuchten, welche grundlegende Auffassung um 1900 hinsichtlich der Umgangsarten mit dem bildlichen Symbol vorgelegt wird. Die ästhetische Vorstellung über das Symbol sollte, so die Arbeitshypothese, jene zeitlich rückläufige Projektion der Glaubensinstanz des Filmzuschauers im Kinodiskurs der darauffolgenden Jahrzehnte motivieren oder legitimieren. Zu diesem Zweck erscheint das Argumentationsmodell dieses Aufsatzes, durch das dieser unter den vergleichbaren Theorieoptionen der Einfühlungsästhetik als eine Rarität hervorsticht, außerordentlich günstig. Erörtert diese Abhandlung doch die Problematik des bildlichen Symbols und der Einfühlung aus einer explizit diachronen Sicht, d.h. mit Blick auf die chronologisch aufgefassten Entwicklungsstufen des Menschen. In Vischers zeitlich strukturierter Symboltheorie nimmt schließlich auch die Metapher einen nicht unwesentlichen Stellenwert ein, der auch beim Verständnis des Metapherngebrauches im Kinodiskurs zu berücksichtigen ist. Aus diesen mehrfachen Gründen lässt sich Vischers Abhandlung als ein Basistext lesen. Mithilfe ihrer symboltheoretischen Systematik vermag man über den diskursiven Zusammenhang zwischen dem Kino, der Metapher und der zeitlichen Projektion bzw. der Regression einen Überblick zu verschaffen. Vischer geht von der basalen Definition aus, der zufolge das Symbol in der Verknüpfung von Bild und Inhalt oder Bedeutung besteht. Hierbei lässt sich das Bild als »ein sich darstellendes Sinnliches, angeschautes Anschauliches«52 verstehen. Als Symbol hat dieses Bild einen Inhalt, bedeutet also etwas anderes als sich selbst durch den semantischen »Vergleichungspunkt« oder das »tertium comparationis«53 . Wegen dieses äußeren Bezuges bezeichnet Vischer die symbolische Verbindung

51 52 53

Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, S. 217 f. Fr.Th. Vischer: »Das Symbol« (wie Anm. 49), S. 420. Ebd., S. 421 (Herv. im Orig. in lateinischer Schrift).

3 Zwischen Abgrenzung und Sehnsucht

zwischen Bild und Bedeutung als eine »äußerliche Verknüpfung«54 . In Bezug auf den Grad dieses Zusammenhanges unterscheidet er in psychologischer Hinsicht drei Formen des Symbols als »Hauptarten der Verbindung zwischen Bild und Sinn«55 . Ihm zufolge sollen diese mit den Entwicklungsstadien der Menschheit korrespondieren. Auf der ersten, entwicklungsgeschichtlich frühen Stufe werden »Bild und Bedeutung […] verwechselt«56 . Damit entsteht die »Identifizierung« der beiden bzw. »die Täuschung, dieses Surrogat« sei »die Sache selbst«. Mit dieser Auffassung bleibt Vischer noch Hegels Symbolverständnis verpflichtet.57 Diese »Art der Verbindung, die als dunkel und unfrei zu bezeichnen ist«, gehört dem religiösen Bewußtsein an, ist als historisch zu bezeichnen, weil sie vorzüglich in den Naturreligionen zu Hause war; sie ist aber ebensosehr eine bleibende Form, nicht nur, weil Naturreligionen noch bestehen, sondern auch, weil das Christentum (wie die mosaische Religion), wiewohl übrigens nicht Naturreligion, noch darin haftet.58 Diese ›dunkle‹, ›unfreie‹ und »unbewußte Verwechslung« des Bildes mit der Bedeutung ist bei dem gläubigen Menschen derart wirkungsvoll, dass er »mit dem Bilde« »reale Handlungen«, i.e. »gottesdienstliche Akte« vornimmt.59 Als ein christliches Beispiel dieser symbolischen Handlung führt Vischer die rituelle Aneignung bei der Eucharistie oder dem Abendmahl an. Durch »Essen und Trinken« von Brot und Wein wird die »Wirkung des Opfertodes« Jesu »dem Körper wirklich ganz angeeignet, in dessen Saft und Blut verwandelt wird«60 . An sich zwar hat dieses körperliche Aneignen mit dem geistigen Aneignen einer unendlichen geistigen Wohltat schlechthin nichts zu tun, das Band zwischen diesem und jenem ist einzig der Vergleichungspunkt. Aber das Vergleichen wird Verwechslung. Hiemit ist notwendig ein weiterer Akzent auch auf Brot und Wein gefallen, die vorher als solche gleichgültige Stoffe waren: sie bedeuten nicht bloß, der sich opfernde Christus steigt in sie nieder, verwandelt sie in sich.61 Beim Ritual der eucharistischen Transsubstantiation bedeutet das Bild nicht nur, sondern es ist diese Bedeutung. Aufgrund dieser Identifizierung tritt das Bewusstsein einer semantischen Vermittlung durch den »Vergleichungspunkt« gänzlich

54 55 56 57 58 59 60 61

Ebd., S. 420. Ebd., S. 423 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 424 (Herv. im Orig. gesperrt). Vgl. Berndt/Drügh: »Einleitung« (wie Anm. 50), S. 121. Fr.Th. Vischer: »Das Symbol« (wie Anm. 49), S. 424 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd. Ebd., S. 425. Ebd.

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zurück, und somit wird das Repräsentationsverhältnis gleichsam aufgehoben. Der Mensch ist dementsprechend nicht auf den geistigen Akt einer Deutung oder Decodierung angewiesen, sondern vollzieht unmittelbar den realen körperlichen Akt einer Aneignung bzw. Einverleibung. Auf diese Weise soll die im Bild präsente Bedeutung selbst dem Körper angeeignet werden. Wie zitiert, soll diese erste Stufe der Symbolik vor allem bei den »Naturreligionen« zu beobachten sein. Diese Feststellung ist durchaus vergleichbar mit den Erkenntnissen zeitgenössischer Ethnologen. Suchen diese doch den natürlichen Ursprung der Sprache in den vermeintlich ›primitiven‹ Völkern und entdecken ihn als eine durch ihre Gegenstände motivierte und damit identifizierte Sprache. Die für die Humanwissenschaften um 1900 charakteristische Überschneidung des Zeitlichen mit dem Räumlichen oder das Vorhandensein des Vergangenen in der Gegenwart kennzeichnet auch Vischers Auffassung der ersten Symbolform. Außerdem lässt sich bei Vischer das christliche Ritual des Abendmahls als ein Beispiel dieser ersten ›primitiven‹ Form anführen, da ihm zufolge auch der christliche Glaube für die Aufgeklärten nicht mehr verbindlich und präsent erscheint. Von daher sei etwa »[d]ie Mutter Jesu […] uns nicht ein aus dem Naturgesetz herausgehobenes Wesen, nicht Mutter Gottes, nicht zum Himmel gefahren, nicht Himmelskönigin«62 . So gesehen soll die identifizierte bzw. verwechselbare Verbindung des Bildes mit der Bedeutung für die jeweils anderen, i.e. für die gläubigen Christen oder die Anhänger der »Naturreligionen« bestehen bleiben. Gleichzeitig soll sie aber für »uns« bereits historisch überwunden sein. Diesem modernen »frei Denkende[n]« kommt als die dritte und zugleich letzte Stufe der geschichtlichen Entwicklung die »freie und helle«63 Symbolik zu. Bei dieser Form werden Bild und Bedeutung nicht mehr verwechselt, sondern klar auseinandergehalten. Es wird zudem deutlich, dass die beiden lediglich durch ein Drittes, i.e. einen äußeren »Vergleichungspunkt« oder ein »tertium comparationis« verknüpft sind. In dieser rationalen Symbolik herrscht eine »Verstandeshelle«, und das Symbol steht hier als nur noch arbiträre und konventionelle »Allegorie« »im bloßen Dienste des Gedankens«64 . Diese historisch wie systematisch späte Stufe der »hellen und freien« Symbolik entspricht dem intellektuellen Stand eines modernen, aufgeklärten und fortgeschrittenen Gebildeten.65 Als solche steht sie diametral gegenüber dem ersten »unfreien, dunkeln Symbol«66 des »religiösen Bewußtsein[s]«67 .

62 63 64 65 66 67

Ebd., S. 428. Ebd., S. 431. Ebd., S. 453. Grob gesagt weist Metz’ Verständnis des Symbolischen im obigen Zitat auf diese dritte Stufe der Symbolik hin (siehe Anm. 21). Fr.Th. Vischer: »Das Symbol« (wie Anm. 49), S. 453. Ebd., S. 424 (Herv. im Orig. gesperrt).

3 Zwischen Abgrenzung und Sehnsucht

Es handelt sich folglich um eine polarisierte Struktur. Zum einen die erste »religiöse, dunkel verwechselnde«68 Symbolik, in der Bild und Bedeutung in eins fallen bzw. miteinander verwechselt werden und das Symbol »eigentlich«69 genommen wird. Zum anderen die dritte »ganz freie und helle«70 , bei der Bild und Bedeutung bewusst strikt getrennt und erst dann klar und absichtlich durch einen »Vergleichungspunkt« vermittelt werden. Zwischen beide Pole situiert Vischer jedoch eine mittlere Stufe. Diese zweite Form der Symbolik, »worin sich Unfreiheit und Dunkel mit Freiheit und Helle […] verbindet«71 , soll einerseits historisch wie systematisch die anderen beiden Stufen verknüpfen. Sie soll also der ersten Phase nachfolgen und der dritten vorangehen. Auf der anderen Seite trägt sie indes derart reflexive Züge, dass es unter Umständen geeigneter erscheinen würde, wenn man sie erst der letzten rationalen Stufe folgen ließe. Wird diese mittlere Symbolik doch gerade durch ein ›Vorbehalten‹ des einmal erworbenen Bewusstseins zur Unterscheidung zwischen Bild und Bedeutung gekennzeichnet. Als ein Beispiel dieser »Mitte«72 nennt Vischer den »Mythus«. Hierbei werde ein seelischer Akt vorgenommen, »›[d]er Natur einen Menschen unter[zu]legen, in Quellen, Bergen, Sternen, Meer und Himmel schlagende Herzen [zu] ahnen‹«. Bei diesem »Mythusbegriff « müsse man dennoch »zwischen dem Mythusgläubigen« und demjenigen unterscheiden, der den Mythus durchschaut. Dieser Letztere soll von daher keinen »eigentlichen Glauben« mehr besitzen, jedoch »den Wert des Mythus kenn[en] und ihn […] als ästhetisches Motiv gebrauch[en]«. Im Gegensatz zu jenem weiß dieser »ganz«, dass »Götter (nebst Genien, Geistern, Sagenhelden)« keine »wirkliche[n] Wesen« sind und »ihre Handlungen, Ergebnisse« keine »Geschichte«73 . Trotz dieser vorhandenen Wissensinstanz »glaubt« dieser poetisch an den Mythus, »liebt« »ihn daher […] und [verwendet] gern«,74 indem er sich »gern in den Mythusgläubigen« »versetzt«75 . Dieses »Mythische« als das Symbol auf der mittleren Stufe zeichnet sich durch eine besondere, nämlich rückläufige Zeitlichkeit aus. Dies ist das Symbol »für das gebildet freie Bewußtsein«76 , das bereits »den Mythus durchschaut«77 und daran eigentlich nicht mehr glaubt. Infolgedessen ist es notwendig, dass sich dieses Bewusstsein »gern« in die frühere, bereits überwundene Stufe zurückzuversetzen

68 69 70 71 72 73 74 75 76 77

Ebd., S. 426. Ebd., S. 425 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 431. Ebd., S. 453. Ebd., S. 431 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 426 f. (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 428. Ebd., S. 427. Ebd., S. 431. Ebd., S. 428.

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vermag. »[E]inst geglaubtes Mythisches, ohne sächlichen Glauben, doch mit lebendiger Rückversetzung in diesen Glauben an- und aufgenommen als freies ästhetisches, doch nicht leeres, sondern sinnvolles Scheinbild ist symbolisch zu nennen.« Bei dieser Symbolform kehre das »helle und freie Bewußtsein«78 in das erste, als »dunkel und unfrei« bezeichnete »religiöse« Stadium zurück, wobei jenes ungeachtet der regressiven Ausrichtung niemals in diesem restlos aufginge. Anders als die »Verwechslung von Bild und Sinn« jener »religiös gebundene[n] Symbolik« sei »die Hinüberversetzung« des »freien Bewußtsein[s]« nicht »recht eigentlich und ganz ernst«. Vielmehr sei sie »halb ernst, nur schwebender Ernst, nur im Momente der ästhetischen Stimmung ernst«. Mit anderen Worten: »[D]ie Unterscheidung zwischen Bild und Sinn, die Einsicht in die Verknüpfung als bloß symbolische« bleibe nur währenddessen »vorbehalten«, »wo wir diese symbolische Verknüpfung im Vorstellen vollziehen«79 . In diesen Augenblicken würden »wir« »uns durchaus nicht sagen, daß sie bloß symbolisch ist«, da das »helle und freie Bewußtsein« gleichsam vorübergehend ausgeschaltet wird.80 Vischer bezeichnet »dieses Versetzen« zwar als einen Glauben, so doch einen »poetische[n]«, da »neben oder hinter ihm« »das helle Bewußtsein bewahrt [bleibe], daß diese Gebilde Phantasiewerk sind«81 . Aufgrund dieser doppelten Bewusstseinslage bezeichnet Vischer »solches nicht und doch Glauben«82 an Symbol mit den paradoxen Formulierungen oder Oxymora: Er sei »die unwillkürliche und dennoch freie, unbewußte und in gewissem Sinne doch bewußte Naturbeseelung«83 bzw. der »dunkelhelle, unfreifreie Akt«84 . Die bei dieser mittleren Symbolform »mitten in der Täuschung sich erhaltende Freiheit von der Täuschung« bzw. das »Vorbehalten« bezeichnet Vischer in Anlehnung an seinen Sohn Robert folgenreicherweise auch als »Einfühlung«85 . Im weiteren Textverlauf exemplifiziert er diese mit der sprachlichen und literarischen Figur der Metapher anhand eines Zitates aus Goethes Herrmann und Dorothea (1797): Der Dichter sagt von der sinkenden Sonne: »die in Wolken sich tief, gewitterdrohend verhüllte, aus dem Schleier bald hier, bald dort mit glühenden Blicken strahlend über das Feld die ahnungsvolle Beleuchtung«; jeder Leser weiß, daß solche Beleuchtung einfach ein seelenloses, rein physikalisches Scheinen von Licht in Dunkel ist, dem also ein Ahnen eigentlich durchaus nicht beigelegt werden kann, und kein Leser, der irgend Phantasie hat, wird dies, während er hingegeben liest, sich sagen; willig, ohne allen Einwand lassen wir uns in die schöne Vorstellung 78 79 80 81 82 83 84 85

Ebd., S. 431. Ebd., S. 434. Ebd., S. 433. Ebd., S. 427 f. Ebd., S. 428. Ebd., S. 431 f. Ebd., S. 433. Ebd., S. 434 f. (Herv. im Orig. gesperrt).

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hineinziehen. Nachher, ein andermal, wenn es gilt, zu zerlegen, dann, in prosaischer Stimmung, verbergen wir uns nicht, daß der Dichter uns täuscht, aber wir tadeln nicht, vielmehr wir loben diese Täuschung.86 Die Metapher wird hier als sprachliches Paradigma für die mittlere Hauptform des Symbols oder den »Mythus« ins Spiel gebracht. Denn die Figuration führt die gedankliche wie zeitliche Struktur des zweiten Stadiums des Symbols auf dem Text prägnant vor. Die metaphorische Beschreibung der »Beleuchtung« setzt die symbolische Verknüpfung des Bildes mit der Bedeutung in Szene. Sie führt ein sprachliches Landschaftsgemälde vor, das hier als Bildempfänger fungiert. Denn es weist auf die mythische Beseelung als seinen Sinn oder Bildspender hin. Dieses innere Bild einer beseelten Natur erscheint dem Leser einerseits derart überzeugend, dass er hierbei diesen Inhalt »willig« und »ohne allen Einwand«87 annimmt und sich gleichsam gerne täuschen lässt. Gleichzeitig durchschaut er aber diese Täuschung als Fiktion, und sein Wissen um die Differenz zwischen dem Bild und der Bedeutung bleibt immer vorhanden. Hier handelt es sich deshalb um eine gewollte Täuschung, die für eine Weile geltend gemacht wird. Während dieser Zeitspanne wird das »helle und freie Bewußtsein« oder der nüchterne Zweifel nur vorübergehend ausgeschaltet bzw. »vorbehalten«. Anders formuliert: Die Metapher nimmt eine semantische wie zeitliche Scharnierstelle ein. Sie bezieht sich auf die Geltung (die erste Hauptform) und auf die Nichtgeltung (die dritte) dieser symbolischen Verknüpfung bzw. ›unangemessener‹ Prädikation zugleich. Die Metapher signalisiert zum einen ein bereits vorhandenes, aufgeklärt sachliches Bewusstsein und einen Reflexionsabstand gegenüber dem bildlichen Symbol (auf der dritten Stufe). Auf dieser fortgeschrittenen Ebene kann dies nichts anderes als eine »äußerliche Verknüpfung von Bild und Inhalt« sein. Dieser nüchternen Perspektive zum Trotz besagt sie zum anderen gleichzeitig eine Täuschung bzw. Faszination durch das Symbol (auf der ersten Stufe), welches das Symbolisierte nicht nur bedeutet, sondern es ist. Um mit Vischers historisierender Auffassung zu sprechen, zeugt die Metapher von einer stattgehabten Regression in dieses »religiöse« Stadium. Hier existiert noch kein Repräsentationsverhältnis zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten, da beide noch identisch sind. Diese Regression in den natürlichen oder ›primitiven‹ Ursprung des bildlichen Zeichens bleibt aber nur eine von dem »hellen und freien Bewußtsein« gewollte vorübergehende und sich selbst – d.h. reflexiv – ›vorbehaltende‹ Wiederkehr. Eine Täuschung bzw. Verwechslung des Bildes mit dem Inhalt findet zwar 86

87

Ebd., S. 432. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: »Herrmann und Dorothea« [1797], in: Ders., Die Leiden des jungen Werthers, Die Wahlverwandtschaften, Kleine Prosa, Epen, hg. von Waltraud Wiethölter, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker 1994 (= Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche Abt. 1, Bd. 8), S. 807-883, hier S. 867 (»ahndungsvolle«). Fr.Th. Vischer: »Das Symbol« (wie Anm. 49), S. 432.

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einmal statt (Geltung einer Prädikation), aber sie kann lediglich als ein ›Als-ob‹ hingenommen werden (ihre Nichtgeltung). Die Metapher stellt von daher eine Spur einer durchaus reflexiven, ›sentimentalischen‹ Rückkehr in den ›naiven‹ Ursprung dar.

4 Das ›naive‹ Kind vor der Leinwand. Zum Regressiven als Leitmetapher des frühen Kinodiskurses

Friedrich Theodor Vischers historisch wie systematisch konzipierte Symboltheorie aus dem Jahr 1887 bedeutet für die vorliegende Studie einen Grundlagentext. Sie stellt den diskursiven Boden dar, auf dem sich auch der darauffolgende Kinodiskurs insbesondere in Bezug auf seinen Metapherngebrauch bewegt.1 Das metaphorische Kippspiel in der historisierenden Perspektive von Vischers Symboltheorie lässt sich zugleich sehr gut auf die Funktion der Metapher im Kinodiskurs übertragen. Denn das filmische Bild kann im Sinne Vischers auch als eine Art des Symbols verstanden werden, das auf das Aufgenommene als seine Bedeutung hinweist. Die Verbindung zwischen beiden ist nicht zuletzt auf eine »äußerliche Verknüpfung« zurückzuführen. Aber diesmal wird diese nicht semantisch durch den »Vergleichungspunkt« ermöglicht, sondern technisch durch die kinematographische Maschinerie. Auch im Kinodiskurs führt die Metapher in ihrer Weise eine zeitliche wie semantische Pendelbewegung vor. Sie bezieht sich einerseits auf das erste, ›naive‹ Stadium, in dem das filmische Bild mit dem darin Abgebildeten identisch ist und damit verwechselt wird. Gleichzeitig signalisiert sie das bereits vorhandene Bewusstsein auf der dritten fortgeschrittenen Stufe. Hierbei kommt das Repräsentationsverhältnis im filmischen Bild, d.h. der Unterschied zwischen dem Film und dem Inhalt deutlich zum Vorschein.2

1

2

Umso bedauerlicher erscheint, dass die höchstrelevante und bisher umfangreichste diskursanalytische Studie über die Beziehung zwischen der Einfühlungsästhetik und der Weimarer Filmtheorie Vischers letzter symboltheoretischer Abhandlung keine Beachtung schenkt. Vgl. Hermsdorf, Daniel: Filmbild und Körperwelt. Anthropomorphismus in Naturphilosophie, Ästhetik und Medientheorie der Moderne. Die Ausführungen dürfen nicht missverstanden werden, dass es sich beim filmischen Bild etwa um eine Metapher handeln würde. Das Filmbild stellt für die frühen Zuschauer vielmehr ein Symbol dar, das sich Vischers Terminologie gemäß auf dem mittleren Stadium befindet. Die Metapher wird in der Beschreibung ihres Filmerlebnisses als ein sprachliches Äquivalent dieses bildlichen Symbols herangezogen. Zu einer sogenannten ›filmischen Metapher‹, die

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Metaphorologie des Kinos

Bei den metaphorischen Figurationen im frühen Kinodiskurs sind aber zwei verschiedene Formen zu unterscheiden, die auf einen jeweils anderen Aspekt des Filmerlebnisses Bezug nehmen. In der ersten Art der Metapher wird das mit dem Aufgenommenen identifizierte bzw. verwechselte filmische Bild als symbolisches Objekt metaphorisiert: das Objekt, auf das man in der Regel nicht durch Verstand, nicht auslegend und entziffernd, sondern durch reale Handlungen körperlich reagiert. In dieser metaphorischen Rede wird der Bildspender häufig aus dem Gebiet des Einzuverleibenden, von Essen und Trinken entnommen. Brot und Wein bleiben im Kinodiskurs zwar anders als beim Sakrament des Abendmahls eher unterrepräsentiert. Das Kino sowie der Film werden aber vorwiegend als (Geistes-)Nahrung (etwa Kartoffeln, Linsengericht usw.) oder aber als alkoholisches Getränk wie Bier und Fusel versinnbildlicht. Hierbei ist es außerdem bemerkenswert, dass das körperlich Angeeignete immer wieder als etwas Doppeldeutiges, Zweischneidiges imaginiert wird: Bald soll das filmische Bild als Nahrung den Zuschauern körperlich wie geistig zugutekommen, bald soll es sich als vergiftete Kost auf die gesunde Vernunfttätigkeit störend auswirken. Außerdem lässt sich auch häufig beobachten, dass der Film als das bildliche Symbol auf dem ersten Stadium eindeutig schädigend und den Zuschauermassen gegenüber ansteckend erscheint. In diesem Fall wird es auf der metaphorischen Ebene bisweilen gar als Krankheitserreger bzw. Bazillus stigmatisiert. Die zweite Form der Metapher weist hingegen Personifikationen auf, welche die Figur des ins frühe Stadium der Symbolik regredierten Subjektes oder Zuschauers bedeuten sollen. Für dieses Subjekt stellt das filmisch bildliche Objekt kein Zeichen dar, das auf das Bezeichnete durch eine technische bzw. arbiträre Vermittlung nur »äußerlich« verknüpft wird. Für diese Zuschauerfigur zeigt es sich als ein beinahe »religiöse[s]« oder magisches Symbol, welches das Aufgenommene selbst ist. Hierbei liefert eine Reihe kindlich ›naiver‹ Figuren wie ›Kind‹, ›Ungebildeter‹ oder ›Volk‹ u.a.m. den Bildspender. Oder aber wie die vielmals kolportierten »gläubigen Zuschauer von 1895«: Die Legende will, dass diese frühen Filmrezipienten das Bild der heranstürmenden filmischen Lokomotive gerade nicht als eine lediglich optische, ›schattenhafte‹ Repräsentation betrachtet hätten, die mit dem Gefilmten nur durch eine »äußerliche Verknüpfung« verbunden ist. Vielmehr hätten sie darauf mit realen Handlungen, etwa einer panischen Flucht, reagiert, als handle es sich um einen wirklichen Eisenbahnzug. Diese ›naiven‹ Figuren werden zum einen gelegentlich der Lächerlichkeit preisgegeben und/oder dienen einer sozialen wie intellektuellen Abgrenzung, sodass der Autor sich selbst als Wissenden legitimieren kann. Einige der späten Folgen

sich vom filmischen Bild als Symbol unterscheidet, siehe weiter unten in der Schlussbetrachtung.

4 Das ›naive‹ Kind vor der Leinwand

dieser projektiv-abgrenzenden Diskursformation lässt sich etwa in der Apparatustheorie der 1970er Jahre ausmachen. Im hier verhandelten frühen deutschsprachigen Kinodiskurs ist es jedoch bezeichnend, dass diese ›kindlichen‹ Figuren zum anderen eine Projektionsfläche mit dem entgegengesetzten, i.e. positiven Vorzeichen anbieten. Wie das Beispiel von Walter Hasenclever vorwegnehmend andeutete, verkörpern die ›kindlich‹ arglosen Figuren im ›sentimentalisch‹-idyllischen Rückblick ein Sinnbild der einst vorhandenen, aber jetzt abhandengekommenen ›Naivität‹. Hierbei könnten etwa die »Menschen, welche nichts mehr rührt und anrührt, im Kino wieder das Weinen lernen«3 . Neben diesen ›naiven‹ Figuren im Kinodiskurs kommt zudem auch das ›barbarische‹ Kind zum Tragen, das aber etwas schräg zur systematischen wie historischen Perspektive von Vischers Symboltheorie steht. Bildet das filmische Bild doch für dieses andere Kind nicht nur keine Repräsentation, sondern auch kein Symbol, das mit dem Symbolisierten identisch sein soll. Dieses Kind sieht vielmehr im Film lediglich eine Oberfläche oder nur ein schwereloses, weil phantastisches »Lichtspiel« (Klemperer). Die filmischen Bilder weisen für das Kind keine genaue Entsprechung mit dem aufgenommenen Realen auf. Gerade diese Befreiung vom Wirklichen durch das Bild regt den kindlich-›barbarischen‹ Teil in den Zuschauern an. Für sie wird das filmische Bild – ebenso wie für die oben angesprochenen ›naiv‹ arglosen Figuren – vom Repräsentationsverhältnis entlastet, dies aber gleichsam in einer entgegengesetzten Richtung. Dieses Kind, das den Film gerade als unrealistische bzw. phantastische Attraktion betrachtet, verkörpert insbesondere im Rückblick auf die Anfänge des Kinos eine ideal arkadische Stufe des Mediums. Im Folgenden soll den verschiedenen Arten der Bezugnahme des Kinodiskurses auf das Motiv des ›Kindes‹ bzw. des Regressiven nachgegangen werden. Die metaphorische Verwendung dieser Figur zeichnet sich vor allem in der literarischen Kinodebatte durch eine ›sentimentalische‹ Tendenz aus. Dies ist jedoch nur als ein – wenn auch zentraler – Aspekt aufzufassen. Denn insbesondere in der Vorkriegszeit wird nicht nur innerhalb der Kinoreform, sondern auch in der literarischen Kinodebatte regelmäßig eine gewissermaßen paternalistische Forderung vorgelegt. Der zufolge sollen die kindlichen und jugendlichen Kinobesucher von den schädlichen Auswirkungen des ›Dispositivs‹ (Baudry) Kino in Schutz genommen werden. Hierbei ist die Erwähnung des ›Kindes‹ einerseits wörtlich zu verstehen, denn ein großer Teil des frühen Kinopublikums besteht in der Tat aus Kindern und Jugendlichen. Das Motiv wird jedoch andererseits immer häufiger im übertragenen, synekdochischen oder metaphorischen Sinne für die gesamte Zuschauerschaft herangezogen. Bereits hier macht sich das Regressive im Kino teilweise zwar bemerkbar, jedoch spielen die ›sentimentalischen‹ Züge erst in der 3

Benjamin, Walter: Einbahnstraße [1928], hg. von Detlev Schöttker, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009 (= Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe 8), S. 58.

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literarischen Kinodebatte eine zentrale Rolle. Das metaphorische ›innere Kind‹ des Filmzuschauers soll hierbei je nach Auffassung gleichsam zwei bemerkenswert heterogene Verhaltensweisen aufweisen: arglos bzw. ›naiv‹ einerseits oder primitiv und ›barbarisch‹ andererseits.

4.1

›Kinderkrankheiten‹, ›Gassenjunge‹ und ›Flegel‹. Das Kino als ›Kind‹

Bevor den Personifikationen des kinematographisch Regressiven nachgegangen wird, soll zunächst eine andere, in gewissem Sinne umgekehrte metaphorische Verwendung der Kind-Figur zur Sprache kommen. Gemeint ist die Metaphernform, die nicht dem Rezipienten des Filmes, sondern vielmehr dem kinematographischen Medium selbst zugeschrieben wird. Die metaphorische Charakterisierung des kürzlich aufgekommenen Kinos als noch junges bzw. neulich geborenes ›Kind‹ zählt vermutlich zur keineswegs seltenen, sondern eher sogar konventionellen Rhetorik. Diese Figuration lässt jedoch erkennen, welcher Stellenwert im damaligen Diskurs sowohl dem Kino als auch dem ›Kind‹ zugesprochen wird. Der individuelle Gebrauch der Metapher des ›Kindes‹ für das Kino zur Anfangszeit des Mediums zeigt an, ob der Verfasser des betreffenden Textes die vorhandene kinematographische Entwicklungslage anerkennt oder strikt ablehnt. Dies ist besonders bei der Metapher von ›Kinderkrankheiten‹ der Fall. 1913 feindet der Kinoreformer und Ästhetiker Konrad Lange die ihm zufolge miserablen »Vorführungen der Lichtspieltheater« an, »die unter dem Namen ›Dramen‹ oder ›Kunstfilms‹ bekannt sind«4 . Aufgrund persönlicher Beobachtung befindet er einerseits, »der Kino [habe] seine Kinderkrankheiten noch nicht überwunden«5 . Bereits drei Jahre zuvor behauptet der Pastor Walther Conradt andererseits zwar die Heilung des Kinos von ›Kinderkrankheiten‹ zu erkennen. Wegen des »schlechten, vom Auslande her angegebenen Geschmack[s]« zeigt er sich jedoch äußerst skeptisch und mithin dazu gezwungen, weiter eindringlich vor Gefahren zu warnen: Wenn auch die Kinderkrankheiten des Kinematographenwesens überwunden sind und die geschäftliche Seite der Sache geklärt ist, so daß sich die Weiterentwicklung in ruhigeren Bahnen als bisher vollziehen wird, so ist doch innerlich noch alles im Werden und Gären begriffen […].6

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Lange, Konrad: »Die ›Kunst‹ des Lichtspieltheaters« [1913], in: Helmut H. Diederichs (Hg.), Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 75-88, hier S. 76. Ebd., S. 78. Conradt, Walther: Kirche und Kinematograph. Eine Frage, Berlin: Hermann Walther Verlagsbuchhandlung 1910, S. 7.

4 Das ›naive‹ Kind vor der Leinwand

Die Metapher der noch nicht überwundenen ›Kinderkrankheiten‹ lässt sich in zwei Richtungen auslegen. Diese Figuration verweist zum einen auf die Ansicht des Autors, dass es sich beim vorhandenen Kino um keine endgültige Form handeln soll. Demnach müsse es noch durch gezielte Eingriffe verbesserungsfähig sein. Der Kunstwart-Herausgeber Ferdinand Avenarius ist etwa der Meinung, dass man »die kurze Geschichte des Kino schon [als] Verfall« bezeichnen müsste. Infolge dieser Auffassung steht Avenarius der vorliegenden Gestalt des Kinos, dem »Kinodrama«, eindeutig missbilligend gegenüber. Trotz alledem sollte man mit diesem bildungsfähigen »Schmerzenskind« schimpfen und in dessen Entwicklungsprozess erziehend eingreifen. Denn »das Kino hat Möglichkeiten, die ins Unendliche gehn, ohne daß es stillos zu werden brauchte«. Es gehört Avenarius zufolge von daher zur »Ungerechtigkeit, dieses Kino, das ist, zu verwechseln mit dem Kino, das sein könnte«7 . Nicht zuletzt weil die Kinoreform ihre Akteure vor allem aus Pädagogen und Volksbildnern rekrutiert, liegt ihr dieses Deutungsmuster einer Umerziehung des Verwahrlosten sehr nahe. So bedeutet der »›Kientopp‹« für Victor Noack einen »entarteten Sprössling« des »Kinematograph[en]«. Der »›Kientopp‹ [unterhalte] wie ein verbummeltes Genie aus bester Familie die Welt mit seinen Tollheiten«. Demgegenüber stellt der »Vater«, der »Kinematograph«, einen »äusserst würdige[n] und um vielerlei Wissenschaft hochverdiente[n], feinsinnige[n] Gelehrte[n]« dar. Um im Bild zu bleiben, lässt sich in Noacks Klage beinahe die Stimme eines medialen Sozialberaters vernehmen: »Aber wie weit hat sich der Sohn, der ›Kientopp‹, vom ehrenvollen Wege des Vaters entfernt!«8 Dieses Deutungsmuster beschränkt sich nicht auf die Pädagogen bzw. Kinoreformer, sondern ist auch im literarischen Milieu verankert. Ungeachtet dessen, dass das Kino gelegentlich als Sorgen- und ›Schmerzenskind‹ betrachtet wird, überzeugt sich etwa der Schriftsteller und später Filmregisseur Berthold Viertel 1912, »daß das Kino Zukunft hat. […]. Das Kino ist jung, es steht am Anfang seines Werdens. Es hat unabsehbare Möglichkeiten, deren Wert und Weite sich heute noch gar nicht entscheiden lassen.«9 Im Gegensatz zu Viertel zeigen die deutschen militärischen Verantwortlichen während der ersten beiden Jahre nach dem Kriegsbeginn weitgehend Desinteresse am Film.10 Angesichts des Ententefilms, der besonders in »den unmittelbar benachbarten neutralen Ländern« den Hass

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Avenarius, Ferdinand: »Vom Schmerzenskind Kino« [1918], in: Fritz Güttinger (Hg.), Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, S. 357-362, hier S. 359 f. (Herv. im Orig.). Hierzu ausführlich siehe weiter unten in Kapitel 6. Noack, Victor: »Der Kientopp«, in: Die Aktion 2 (1912), Sp. 905-909, hier Sp. 907. Viertel, Berthold: »Das Kino« [1912/13], in: Anton Kaes (Hg.), Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929, S. 70-72, hier S. 70 f. Vgl. Jacobsen, Wolfgang: »Frühgeschichte des deutschen Films. Licht am Ende des Tunnels«, S. 37.

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Metaphorologie des Kinos

gegen Deutschland mit Erfolg schürt und eine »unheilvolle Arbeit«11 leistet, stellt sich der deutschen Kommandobehörde endlich heraus, dass das Kino zumindest eine Möglichkeit besitzt: die propagandistische. Im Oktober 1917 nimmt das Bildund Filmamt (BuFA), die der Obersten Heeresleitung eingegliederte medienpolitische Abteilung, nicht ohne Anflug von Ärger zur Kenntnis, es hänge in diesen Angelegenheiten wohl definitiv zurück: Frankreich, das Land der Pantomime und der sprechenden Geste, und Amerika, das Land der Sensation und einer unbekümmerten Reporter-Phantasie, hatte von vornherein die Gehirne, die sich auf die neue Möglichkeit des Films künstlerisch, technisch und wirtschaftlich einstellten, sobald die neue Erfindung einmal die Kinderschuhe ausgezogen hatte.12 Diese »traumatisch nachwirkende Verspätung gegenüber den Ententemächten«13 hinterlässt in der Nachkriegszeit zwar einen ressentimentgeladenen Eindruck, »[n]icht den Waffen, sondern der Propaganda des Gegners unterlegen zu sein«14 . Trotz dieser schicksalhaften Verzögerung zieht die deutsche Filmindustrie jedoch aus der Erkenntnis der Feldgrauen einen ebenso folgenschweren Profit. Dieser sollte schließlich die Gründung der Ufa im Dezember desselben Jahres sowie das goldene Zeitalter des deutschen Films in der Weimarer Zeit ermöglichen. Der Leitartikel des am Jahresende erscheinenden Heftes von Der Film. Zeitschrift für die Gesamtinteressen der Kinematographie beschreibt diese der deutschen Kinobranche willkommene Entwicklung mit der Metapher des ›Kindes‹: Das Jahr 1917 geht zur Rüste. Es war […] ein Jahr des Kampfes und des Aufschwungs. Der Kampf soll uns nicht reuen, wenn wir nur seine Früchte ernten können. Der Film hat Erfolge erzielt, Erfolge auf der ganzen Linie. Sie sind, wenn wir einmal vom rein Geschäftlichen absehen, vor allem ideeller Natur. Wenn man bedenkt, wie schief noch vor drei Jahren die Kinematographie von vielen, und nicht den unmaßgebendsten, Kreisen angesehen wurde, so kann man im Gegensatz dazu

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Bild- und Filmamt: »Der Propagandafilm und seine Bedingungen, Ziele und Wege« [1917], in: Wilfried von Bredow/Rolf Zurek (Hg.), Film und Gesellschaft in Deutschland. Dokumente und Materialien, Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, S. 73-87, hier S. 74. Ebd., S. 73. Zur Metapher von ›Kinderschuhen‹ vgl. auch Curtis, Scott: »The Taste of a Nation. Training the Senses and Sensibility of Cinema Audiences in Imperial Germany«, in: Film History 6 (1994), S. 445-469, hier S. 455 (zum Gebrauch dieser Figur beim Kinoreformer Hermann Lemke). Heller, Heinz-Bernd: Literarische Intelligenz und Film. Zu Veränderungen der ästhetischen Theorie und Praxis unter dem Eindruck des Films 1910-1930 in Deutschland, S. 111. Schivelbusch, Wolfgang: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918 [2001], 2. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2007, S. 256.

4 Das ›naive‹ Kind vor der Leinwand

mit tiefer Befriedigung ihre jetzige Stellung betrachten. Er wurde vom Stiefkind zum – so könnte man beinahe schon sagen – Liebling.15 Dieses metaphorische Verständnis des frühen deutschen Kinos als das verwahrloste oder gar »Stiefkind« sowie von dessen Verbesserung und Aufwertung während des Ersten Weltkrieges zieht sich bis in die Zeit nach dem Zweiten hinein. Um hier nur zwei prominente Beispiele zu nennen, soll zunächst der Rückblick auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg von Siegfried Kracauer im Jahre 1947 in Betracht kommen. Im deutschen Film »[w]ährend jenes ganzen Zeitraums« macht er »die Züge eines Gassenjungen« und »ein verwahrlostes Geschöpf [aus], das sich in der Unterschicht der Gesellschaft umhertrieb«16 . Die andere prägende Figur der frühen deutschen Filmkritik, Kurt Pinthus, betitelt seine – schließlich leider unvollendete – Anthologie »literarischer Dokumente aus der Frühzeit des Kinos«17 als Flegeljahre des Films. Hiermit fügt er dieser Metaphernreihe ein letztes bemerkenswertes Glied an. Zwischen den beiden neueren Fällen des Metapherngebrauches vom verwahrlosten ›Kind‹ bzw. dem ›Gassenjungen‹ und ›Flegel‹ besteht jedoch ein bedeutungsschwerer Unterschied. Kracauer erachtet einerseits in seiner Historiographie des Weimarer Kinos hin zur nationalsozialistischen Filmindustrie das frühe Kino als »eine Frühzeit, der an sich keine Bedeutung beizumessen ist«18 . Konsequent verwendet er die Metapher des ›Gassenjungen‹ als ein eindeutig negatives Kennzeichen dafür, dass der betreffende Zeitabschnitt aufgrund dessen angeblicher Minderwertigkeit ad acta zu legen sei. In diesem Sinne erscheint die Figur des ›Gassenjungen‹ mit der von ›Kinderkrankheiten‹ semantisch überaus vergleichbar. Identifiziert diese doch ihrerseits die Kinderzeit nahezu mit einem kranken Zustand, von dem es so schnell wie möglich zu genesen gilt, d.h. aus dem herauszuwachsen sei. Im Gegensatz zu der auch in dieser Hinsicht teleologischen Perspektive Von Caligari zu Hitler attestiert Pinthus der »Frühgeschichte des Deutschen Films […], also etwa zwischen 1910 und 1920«19 rege reziproke Einwirkungen zwischen Kino und Li-

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Anonymus: »Propagandafilme (Eine Betrachtung am Jahresende)«, in: Der Film. Zeitschrift für die Gesamtinteressen der Kinematographie 2 (1917), Nr. 52, S. 19 f.; ein Druckfehler (»unmaßgebensten«) wurde korrigiert. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, S. 26. Knickmann, Hanne: »Ein Leben für Literatur, Theater und Film«, in: Kurt Pinthus, Kurt Pinthus, Filmpublizist. Mit Aufsätzen, Kritiken und einem Filmskript von Kurt Pinthus, Essay von dems., hg. von Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen und dems., München: edition text + kritik [2008], S. 11-114, hier S. 11. Kracauer: Von Caligari (wie Anm. 16), S. 25. Knickmann: »Ein Leben« (wie Anm. 17), S. 92.

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teratur.20 Aufgrund dieser Einschätzung will er diesen medialen Interrelationen sogar – nach der legendären expressionistischen Lyriksammlung, Menschheitsdämmerung (1919) – »die zweite große Anthologie seines Lebens«21 widmen. Das ebenfalls anthropomorphisierend metaphorische Wort ›Flegel‹ im Titel dieser literarischen Dokumentensammlung weist infolgedessen nicht nur auf die ironische Geste gegenüber seinen Sammelobjekten hin. Die Metaphernwahl signalisiert vielmehr eine im Rückblick anerkennende und ›sentimentalische‹, wenn nicht nostalgische Absicht des betagten Anthologisten, der sich selbst wohl als einer der ehemaligen »Flegel« einstufen muss.

4.2

Jugendschutz, Hypnose und das Kino. Kinder als Paradigma im Paternalismus-Diskurs des Kinos

Während bisher von der ›Kind‹-Figur für das filmische Medium selbst die Rede war, soll der Blick im Folgenden auf das Bild des ›Kindes‹ als Personifikation des Zuschauers gewendet werden. Vor der Untersuchung der Regressionsmetapher soll dabei jedoch zunächst auf die diskursive Beziehung zwischen dem Kind und dem Kino sowie die Problematik des Kinderpublikums eingegangen werden. Das Thema ›Kinderpublikum‹ des frühen deutschen Kinos steht zudem im engen Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Hypnose-Diskurs. Im frühen 20. Jahrhundert wird sich mit dem hypnotischen Phänomen hochgradig interdisziplinär, aber vor allem in der Psychologie und der Kriminalistik auseinandergesetzt. Im vorliegenden Unterkapitel soll versucht werden, die beiden Thematiken diskurshistorisch zusammenfassend zu rekapitulieren. Dies soll als notwendige Vorbereitungsmaßnahme dienen, um danach auf die metaphorischen Motive des ›Kindes‹ bzw. des Regressiven einzugehen.   Zu welchem Zeitpunkt geht die ›Kindheit‹ des Kinos zu Ende? Bereits 1910 gibt der Schriftsteller und Autor der Fachbücher insbesondere zum Thema bildender Kunst, Maximilian Rapsilber, auf diese Frage eine explizite Antwort: »Schon ist die Kunst des beweglichen Bildes aus den Kinderschuhen und Flegeljahren herausgewachsen und zeigt in diesen Tagen in Berlin die ersten Leistungen, die als ein ernsthaftes Kunsterzeugnis verblüffend in die Augen springen.«22 Kracauer und Pinthus stellen einstimmig fest, dass »[m]it dem Beginn der 1920er Jahre die ›Flegeljahre‹ des Films zu Ende gehen«23 . Anders als diese spätere Sicht der Filmkritiker soll 20 21 22 23

So lautet die geplante, noch nicht publizierte Einleitung zu den Flegeljahren des Films. Ebd., S. 11. Rapsilber, Maximilian: »Film und Kulisse«, in: Diederichs, Geschichte (wie Anm. 4), S. 68-72, hier S. 68. Knickmann: »Ein Leben« (wie Anm. 17), S. 94.

4 Das ›naive‹ Kind vor der Leinwand

der Abschluss der kinematographischen ›Kindheit‹ Rapsilber zufolge mindestens um zehn Jahre zurückdatiert werden. Corinna Müller erscheint die von Rapsilber bezeugte Jahreszahl film- und kinogeschichtlich vielsagend. Denn mit Blick auf diese soll der Ausdruck nicht mehr im übertragenen Sinne zu verstehen sein und dezidiert eine wörtliche Bedeutung erlangen: Die oft zu lesende Sentenz, daß um 1910 die ›Kinder-‹ oder ›Flegeljahre‹ des Kinos zu Ende waren, hatte nicht nur metaphorischen Sinn. Mit dem Wandel der Kinoprogrammstruktur vom Kurzfilm zum langen Spielfilm entfernte sich das Kino von kindlichen Rezeptionsmustern und paßte sich denen Erwachsener an.24 Diese Längenentwicklung des Films führt Müller zufolge auch einen Wandel der Zusammensetzung der Kundschaft mit sich. Bei den »frühe[n] Kinos« hat deren »Hauptklientel [tatsächlich] aus Kindern und Jugendlichen«25 bestanden. »[D]ie Steigerung der Besucherzahlen, welche die Kinematographie in Deutschland mit dem langen Spielfilm 1911/12 zu verzeichnen« hat, lässt sich, so Müller, »zweifellos« auf den »Zugewinn eines erwachsenen Publikums« zurückführen. Dieses neu dem Kino zugewandte Erwachsenenpublikum geht »nun nicht mehr primär als Begleitung seiner Kinder ins Kino«26 . Anders gesagt: Die Bildspender der ›Kinder‹ bzw. ›Flegel‹ für das frühe Kino rühren laut Müller ursprünglich von den kindlichen Zuschauern her. Sie beziehen sich demnach eigentlich nicht metaphorisch auf das Medium des Kinos, sondern in erster Linie wörtlich auf eine bestimmte, dominante Kategorie des Publikums, nämlich das Kinderpublikum. Anhand reicher Belege – nicht zuletzt aus der Kinoreform – stellt Müller folglich überzeugend fest, dass es »vor allem Kinder und Jugendliche« sind, »denen das frühe Kino – und dies wohl fast weltweit – seinen Aufstieg verdankte«27 . Diese kindliche Faszination ergibt sich, so Müller, unter anderem aus der Struktur des »frühe[n] Kurzfilmkino[s]«: Die Kürze der Filme, der schnelle Wechsel der Eindrücke und das enge Nebeneinander von Ernst und Lachen des frühen Kinos waren wie geschaffen für eine kindliche Rezeption und Erlebnisstruktur, der sprunghafte Umstellungen auf neue Gegenstände und rasche emotionale Wechsel mühelos gelingen.28 Die Kinder besuchen massenweise und wiederholt das Kino anscheinend aufgrund dessen außerordentlicher Eignung für das Kinderpublikum. Gerade ihre große Be24 25 26 27 28

Müller, Corinna: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912, S. 199. Müller, Corinna: »Der frühe Film, das frühe Kino und seine Gegner und Befürworter«, S. 64. C. Müller: Frühe deutsche Kinematographie (wie Anm. 24), S. 199. Ebd., S. 193. Ebd., S. 192.

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Metaphorologie des Kinos

geisterung von bzw. gelegentlich das heiße Begehren nach dem Kino stimmt die Kinoreformer jedoch besorgt.29 Denn sie finden – neben den materiell oder körperlich-gesundheitlich schädigenden Bedingungen im Ladenkino – nicht zuletzt den Inhalt des Films äußerst bedenklich. Aufsehen erregen von Anfang an insbesondere die kinematographischen »Vorführungen[, welche] die Kinder« […] moralisch gefährden«30 würden. Denn »der Nachahmungstrieb der Kinder [soll] durch diese Vorführungen angeregt werden«31 . »Nehmen wir z.B. an, ein zum Diebstahl neigender Knabe sähe die mit so viel Raffinement und glänzendem Erfolge dargestellten Gaunereien. Werden sie nicht seinen Nachahmungstrieb rege machen?«32 Diesem Verständnis nach seien die Kinder vor der Leinwand nicht in der Lage, die Repräsentation und die Realität auseinanderzuhalten. Um mit Konrad Lange zu sprechen: Bei einem Kunstwerk soll durch stilisierte Ausdrucksweise dem Rezipienten eine gewisse Entfernung hergestellt und auf diese Weise die »Freiheit des Gemütes« ermöglicht werden. Beim Kino soll dieser »Schutzwall für unser Gefühl« hingegen gänzlich ausfallen: »Mit einem Worte, das, was wir im Kino sehen, ist gar nicht Kunst, sondern Wirklichkeit.«33 Aufgrund dieser in seiner Art ästhetischen Überzeugung stellt Lange die Forderung auf »das absolute Verbot des Kinderbesuches für alle Vorstellungen […], die nicht besonders als Kindervorstellungen gekennzeichnet sind«. Denn: Jene jungen halbwüchsigen Burschen […], die allabendlich im Kinotheater die grausigen Verbrecherdramen an sich vorüberziehen lassen und mit stieren Augen und geröteten Wangen, keuchend und schnaufend vor Wollust die Aufregungen der sensationellen Handlungen dort an der Wand miterleben, das sind unsere künftigen Verbrecher, die [August] Sternickel und Genossen, an denen wir einmal unsere Freude erleben können. Denn ihnen kostet es nur einen Schritt, das Gesehene, ohne künstlerische Verklärung Gesehene, in die Wirklichkeit zu übersetzen.34

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Zur Kinoreformbewegung als Kampagne für Jugendschutz vgl. u.a. Curtis: »The Taste« (wie Anm. 12). Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens zu Hamburg: Bericht der Kommission für »Lebende Photographien«, erstattet am 17. April 1907 und im Auftrage des Vorstandes bearbeitet von C.H. Dannmeyer, Hamburg: Kampen 1907, S. 27. Ebd., S. 30. Ebd., S. 27. K. Lange: »Die ›Kunst‹« (wie Anm. 4), S. 82 f. (Herv. im Orig.). Ebd., S. 87. Zum wiederkehrenden Deutungsmuster eines kriminellen Medieneinflusses auf die Kinder und Jugendlichen vgl. Yanagibashi, Daisuke: »Kinder vor der Leinwand. Ein metaphorisches Zuschauerbild im frühen deutschen Kino-Diskurs«, in: Veröffentlichungen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin 58 (2009), S. 225-234.

4 Das ›naive‹ Kind vor der Leinwand

Langes Auffassung, »daß viele dieser [Kino-]Dramen eine verrohende zum Verbrechen anreizende Wirkung ausüben« sollen, liegt der seinerzeit interdisziplinär zirkulierende Hypnose-Gedanke zugrunde. Lange erachtet vor allem »erregbare Menschen, besonders Kinder und Ungebildete«35 als empfänglich für den Anreiz zum Verbrechen. Der Hypnose-Diskurs, der auch in der Kinoreform mächtig zum Tragen kommt, zieht bezüglich der ›Suggestivwirkung‹ des Kinos ebenfalls zwischen dem Kind und dem Erwachsenen eine unüberschreitbare Grenzlinie. Wird dem Kind doch ungleich größere Bereitschaft bzw. Suggestibilität unterstellt als dem Erwachsenen oder dem Gebildeten. Wie Jean-Louis Baudry gut 60 Jahre später behaupten sollte, konstatiert auch Robert Gaupp 1911/12 einen schwerwiegenden Ausfall der »Realitätsprüfung« (Baudry) oder der »Kritik« (Gaupp) beim Filmzuschauer. Der Tübinger Psychiater schreibt diesen Mangel weitgehend dem kinematographischen »Milieu«36 zu (man vergleiche hiermit das »Dispositiv« bei Baudry): Das Kino stellt aber alles gewissermaßen leibhaftig vor Augen, und zwar unter den psychologisch günstigsten Bedingungen für eine tiefe und oft nachhaltige Suggestivwirkung: der verdunkelte Raum, das eintönige Geräusch, die Aufdringlichkeit der Schlag auf Schlag einander folgenden aufregenden Szenen schläfern in der empfänglichen Seele jede Kritik ein und so wird gar nicht selten der Inhalt des Dramas zur verhängnisvollen Suggestion für die willenlos hingegebene jugendliche Seele.37 Ein ausschlaggebender Unterschied besteht jedoch darin, dass Gaupps Apparatustheorie avant la lettre im kinematographischen ›Dispositiv‹ keine Regressionsmaschine sieht. Denn Gaupp zufolge erweist sich der Mündige, Aufgeklärte bzw. Erwachsene – anders als die »jugendliche Seele«, das Kind oder der Ungebildete – als gefeit gegen die »Suggestivwirkung« des Kinos: »Was dem ästhetisch geschulten Geschmack des Gebildeten fad und ungenießbar erscheint, was er als groteskes Zeug innerlich unberührt abschüttelt, das kann auf Ungebildete und Kinder einen nervenzerstörenden Einfluß ausüben.«38 Vermögen die »Gebildeten« die hypnotische Wirkung des Kinos »ab[zu]schüttel[n]«, so fallen die »Ungebildete[n] und Kinder« auf die »Realitäts-Illusion«39 herein, um schließlich »das Gesehene […] in

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K. Lange: »Die ›Kunst‹« (wie Anm. 4), S. 85. Gaupp, Robert: »Die Gefahren des Kino« [1911/1912], in: Jörg Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, S. 64-69, hier S. 67, sowie ders.: »Der Kinematograph vom medizinischen und psychologischen Standpunkt«, in: Ders./Konrad Lange, Der Kinematograph als Volksunterhaltungsmittel, München: Dürerbund 1912, S. 1-12, hier S. 4. Gaupp: »Der Kinematograph« (wie Anm. 36), S. 9. Ders.: »Die Gefahren« (wie Anm. 36), S. 68. Baudry, Jean-Louis: »Das Dispositiv. Metapsychologische Bemerkungen des Realitätseindrucks«, S. 1052.

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Metaphorologie des Kinos

die Wirklichkeit zu übersetzen«40 . Insofern bildet der Hypnose-Diskurs des Kinos die historisierende Struktur von Vischers Symboltheorie ab. Dies jedoch bis auf den Punkt, dass jene mittlere Stufe der Symbolik, die sich durch eine reflexiv ›vorbehaltende‹ und in diesem Sinne metaphorische Rückkehr ins erste Stadium auszeichnet, hier strikt ausgeschlossen ist. Der kinoreformerische Hypnose-Diskurs nimmt auf diese Weise innere Abwehrmechanismen auf, mithilfe derer man seine eigene ›naive‹ Glaubensinstanz ausgrenzen und nach außen projizieren kann. Das Kind als der gegenüber der kinematographisch-hypnotischen Suggestion nicht widerstandsfähige Zuschauer bietet hier genauso wie der Ungebildete, der Proletarier oder das Volk eine zweckmäßige Projektionsfigur dar. Als ein Paradebeispiel außerhalb der Kinoreform im engeren Sinne braucht hier nur der späte Philosophieprofessor Alfred Baeumler genannt zu werden. Mit seinem Versuch einer Apologie des Kinematographentheaters (1912) will sich Baeumler von den »Kritiker[n] unserer Kultur« abgrenzen. Denn diese pflegen »allem, was die Gegenwart als ihr eigenstes hervorbringt, das blanke Nein« entgegenzusetzen. Indem er das ihn interessierende »Zeitphänomen«, das Kino, »möglichst unbefangen auf sich wirken«41 lässt, gelangt Baeumler zu einer ganzen Reihe anerkennender, teilweise die späteren Filmtheorien vorwegnehmender Beobachtungen. Diese reichen von der »Billigkeit« über die »absolute Modernität« bzw. »Aktualität«, die »Verklärung«42 oder Errettung des Wirklichen im Bilde, die ästhetisch hochwertige Naturaufnahme bis hin zur filmischen Wiederentdeckung des Menschen im Sinne »[e]ine[r] neue[n] Kultur der Physiognomik«43 . Dies alles jedoch nur soweit, dass das Kino für die Publikumsmasse die Zuflucht aus dem alltäglichen »Druck der Wirklichkeit« bietet. Dieses Publikum umfasst für Baeumler »Arbeiter und Frauen, Ladenmädchen, Burschen, Kinder und Handwerker, dazwischen vielleicht einige Studenten und Töchter höherer Stände«44 . Er nimmt vom Kino ausdrücklich Distanz, indem er am Ende des Aufsatzes das Medium als »herzlos«45 einschätzt und diesem den Rang einer Kunst abspricht. Hiermit legt er das Kino ad acta, als ob er durch diese nachdrückliche Geste die projektiven Abwehrmechanismen auf das »aus den Angehörigen der […] Masse des Volkes«46 bestehende Kinopublikum verneinen wollte. Dieser psychische Mechanismus gibt einige Anhaltspunkte für das Rätsel des »Mythos vom ›Arbeiterki-

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K. Lange: »Die ›Kunst‹« (wie Anm. 4), S. 87. Baeumler, Alfred: »Die Wirkungen der Lichtbildbühne. Versuch einer Apologie des Kinematographentheaters« [1912], in: Güttinger, Kein Tag (wie Anm. 7), S. 106-112, hier S. 106 f. Ebd., S. 109 f. (Herv. im Orig.). Ebd., S. 111. Ebd., S. 107 f. Ebd., S. 112. Ebd., S. 107.

4 Das ›naive‹ Kind vor der Leinwand

no‹«47 . Diese Annahme, die frühen Kinobesucher bestünden nahezu ausnahmslos aus den arbeitenden Schichten,48 wurde lange in der kinogeschichtlichen Diskussion als eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, obwohl sie durch empirische Recherchen – zumindest für den deutschen Kontext – nicht nachweisbar ist.49 Die ›naive‹ Kind-Figur erfährt im juristischen bzw. kriminalistischen Diskurs eine Zuspitzung, welche die Abgrenzungsverfahren gleichsam vervollständigen soll. Noack zufolge kehre [i]n der Praxis der Jugendgerichte […] der Fall immer wieder, daß Kinder sich durch kleine Diebstähle oder auch durch raffinierte Preisgabe der kindlichen Scham die Mittel zum Besuch des »Kientopps« zu verschaffen wußten. Die Bezeichnung »Kinokinder« ist gerichtsnotorisch.50 Das Phänomen dieser gerade durch den wiederholten Kinobesuch selbst verwahrlosten »Kinokinder« lässt sich durch den Hypnose-Diskurs auf ihre hohe ›Suggestibilität‹ zurückführen. »Jedes Kind, auch das völlig gesunde« sei, so der in diesem Bereich führende und überaus produktive Kinoreformer, Albert Hellwig, »in starkem Maße suggestibel«51 . »Mehrfach habe ich schon darauf aufmerksam gemacht, daß insbesondere Kinder diesen schädlichen Einflüssen der Schundfilms 47 48 49

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C. Müller: Frühe deutsche Kinematographie (wie Anm. 24), S. 206. Diese Beobachtung behält allerdings für die amerikanische Nickelodeon-Ära Geltung, vgl. Hansen, Miriam: Babel and Babylon. Spectatorship in American Silent Film, S. 60-89. Vgl. C. Müller: Frühe deutsche Kinematographie (wie Anm. 24), S. 191 f. u. 200-209. Müller bestreitet zwar nicht, dass es sich bei den frühen Kinozuschauern um »ein weitgehend ›neues‹ kulturelles Publikum« handelt und dieses sich »wohl auch zum Teil aus Arbeitern« zusammensetzen muss (S. 191 f.). Es liegen jedoch historische Indizien vor, welche die These eines »fast ausschließlich aus Arbeitern« (S. 200) bestehenden Kinopublikums deutlich konterkarieren. F. Jäkel zufolge bilden zum einen bereits 1908 neben dem »kleinen Mann […] auch Höherstehende und Gebildete […] eine nicht unerhebliche Besucherschar«. Jäkel, F.: »Das Theater des kleinen Mannes«, in: Der Kinematograph. Organ für die gesamte Projektionskunst 102 (9. Dezember 1908), unpaginiert. Emilie Altenloh macht zum anderen bei ihrer Befragung 1912, die sie für ihre Dissertation Zur Soziologie des Kino (1914) auswerten sollte, in »einigen Angehörigen der Arbeiterschaft« die »schärfste Kinogegnerschaft« aus. Diesen Umstand, der etwa von der damaligen amerikanischen Situation stark differieren soll, führt Müller in erster Linie auf das spezifisch deutsche Phänomen eines Nebeneinanderstehens zwei heterogener Maßstäbe der gesellschaftlichen Wertbestimmung zurück: ›Besitz‹ und ›Bildung‹. C . Müller:Frühe deutsche Kinematographie(wieAnm. 24),S. 201.Die »These vom ›Arbeiterkino‹« erscheint für Müller gerade deswegen problematisch, weil ihre Vertreter (wie der Frankfurter Soziologe Dieter Prokop) über »sehr verschiedene Entwicklungen« der »[n]ationale[n] Kinematographien« zugunsten eines einheitlich globalen Modells hinwegsehen (ebd., S. 3 sowie 245, Anm. 27). Noack, Victor: Der Kino. Etwas über sein Wesen und seine Bedeutung, Kultur und Fortschritt, Gautzsch bei Leipzig: Dietrich 1913, S. 3 f. Hellwig, Albert: Schundfilms. Ihr Wesen, ihre Gefahren und ihre Bekämpfung, Halle an der Saale: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1911, S. 43.

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ausgesetzt sind, weil sie Suggestionen besonders leicht zugänglich sind, weil ihre Phantasie am leichtesten beeinflußt werden kann.«52 Der Einfluss des Films auf Kinder und Jugendliche erweist sich für Hellwig als so nachhaltig und tiefgreifend, dass er ein ›hypnotisches Verbrechen‹53 aufgrund der intensiven bzw. wiederholten Filmerlebnisse unterstellt. Ins Spiel gebracht wird insbesondere ein Fall, welcher als »der sogenannte Borbecker Knabenmord« bekannt sein soll: »Es handelt sich bei diesem Falle darum, daß ein 16jähriger Bauernbursche den 41 /2 jährigen Sohn seiner Dienstherrschaft ohne sichtbaren Grund ermordet hat.«54 Das Motiv des jugendlichen Täters bleibt sowohl den »die Untersuchung führenden Personen« als auch gar dem Angeklagten selbst im Unklaren. Gleichwohl fällt dem Gericht besonders auf, dass der junge Mörder »ein eifriger Kinobesucher war«: Insbesondere konnte festgestellt werden, daß der Angeklagte in den der Mordtat unmittelbar vorhergehenden Tagen einen Film gesehen hatte, in welchem in anschaulicher Weise ein Überfall von Weißen durch Indianer geschildert wurde, und in welchen Situationen vorkamen, die in manchen Einzelheiten eine auffallende Ähnlichkeit mit den Umständen zeigten, welche bei der Tat des Angeklagten gegeben waren […].55 Langes Annahme, dass die jungen Cinephilen »unsere künftigen Verbrecher« wären, soll hier vonseiten der Jurisprudenz eine Bestätigung finden. Um »sich vom Ruf als Kinderverderber zu distanzieren«, ergreifen die Kinofachleute Restriktivmaßnahmen. Neben dem Widerruf der bis dahin bestehenden Preisermäßigungen für Kinder ist einerseits schärfere Besucherkontrolle zu beobachten. So wird etwa der »Kinderbesuch nur in Begleitung Erwachsener zugelassen und/oder altersweise und/oder tageszeitlich auf Nachmittagsstunden begrenzt«56 . Nicht zuletzt stellen die Kinoreformer die Forderung einer amtlichen, strengeren und idealiter reichsweit verbindlichen Filmzensur. Gaupp stellt fest: »Nur von einem Reichs- oder Landesgesetz und nur von einer Reichszensur verspreche ich mir einen Gang der Dinge derart, daß die Fabrikation des Schundfilms nicht mehr lukrativ sein wird. Dann wird er sehr bald verschwinden.«57 52 53

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Ebd., S. 47. Zum hochgradig interdisziplinären Diskurs des ›hypnotischen Verbrechens‹ bzw. der ›criminellen Suggestion‹ ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. Andriopoulos, Stefan: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München: Fink 2000; Zum Zusammenhang mit dem Film siehe insbes. S. 99-128. Hellwig, Albert: »Über die schädliche Suggestivkraft kinematographischer Vorführungen«, in: Albert Kümmel/Petra Löffler (Hg.), Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare, S. 115128, hier S. 118. Zum »Borbecker Knabenmord« vgl. auch Andriopoulos: Besessene Körper (wie Anm. 53), S. 122 f. Hellwig: »Über die schädliche Suggestivkraft« (wie Anm. 54), S. 119. C. Müller: Frühe deutsche Kinematographie (wie Anm. 24), S. 198. Gaupp: »Der Kinematograph« (wie Anm. 36), S. 12 (Herv. im Orig. gesperrt).

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Prof. Dr. Karl Brunner publiziert 1914 Eine ernste Mahnung an Jugendliche, Eltern und Erzieher. Der Literatursachverständige im Berliner Polizeipräsidium ist ab 1911 für Jugendschutz gegen Schundliteratur und für Theater- und Filmzensur zuständig. In dieser Broschüre schildert er das Kino als die bisher größte Gefahr für die Jugendlichen: In der ganzen Kulturgeschichte der Menschheit findet sich keine Erscheinung, die hinsichtlich der großen und tiefgehenden Wirkung auf die Massen und ganz besonders auf den jugendlichen Teil derselben auch nur entfernt mit dem Kinematographen verglichen werden könnte.58 Brunner schließt seine Publikation mit einem Zitat aus dem Erlass vom 8. März 1912 ab, mit dem »der preußische Kultusminister« »[z]um Schutz der Jugend […] eingegriffen« hat. Die zitierte Stelle endet mit den folgenden Worten: »Diese beklagenswerten Erscheinungen machen es zur Pflicht, geeignete Maßregeln zu treffen, um die Jugend gegen die von solchen Lichtbühnen ausgehenden Schädigungen zu schützen usw.«59

4.3

Rückfahrten in die ›Naivität‹. Zu Metaphernformen des Regressiven im frühen Kinodiskurs

Nachdem die wörtlichen Bezüge auf das Kind im frühen Kinodiskurs berücksichtigt worden sind, sollen im Folgenden die Arten der Metaphorisierung der ›Kind‹Figur sowie des Regressiven eingehend zur Sprache kommen. Im frühen Kinodiskurs, aber verstärkt in der literarischen Kinodebatte ist es häufig zu beobachten, dass das duale Modell von Kindern und Erwachsenen in Bezug auf Zuschauer nicht mehr durchzusetzen ist. Außerdem wird dort das Kinopublikum im Allgemeinen metaphorisch oder synekdochisch als ›Kinder‹ aufgefasst. Die Kinoreformer nehmen zwar diese Beobachtung in der Regel höchstens sporadisch oder nur mehr am Rande widerwillig zur Kenntnis. Die Schriftsteller feiern hingegen das ›sentimentalisch‹ Regressive im Filmerlebnis regelrecht als den zentralen bzw. Grundzug des Mediums. Hiermit greift die vorliegende Studie auf die Aspekte des literarischen Kinodiskurses zurück, die Thomas Koebner60 und – vor allem – Heinz-Bernd Heller um 1980 ausführlich zur Diskussion stellten. Das duale System der Kinder und der

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Brunner, Karl: Vergiftete Geistesnahrung. Eine ernste Mahnung an Jugendliche, Eltern und Erzieher, Leipzig: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung/Weicher 1914, S. 13. Ebd., S. 18. Koebner, Thomas: »Der Film als neue Kunst. Reaktionen der literarischen Intelligenz«.

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Erwachsenen figurierte in weitgehend ideologiekritischer Lesart als ein Klassenunterschied des Volkes bzw. Proletariers und der bildungsbürgerlichen Intelligenz. Zudem wurde der ›sentimentalisch‹-rückläufige Wunsch der Schriftsteller in einen kapitalistischen Willen zur Kompensation der »öffentlichen Funktionsverlust der bürgerlichen Intellektuellen«61 umgedeutet. Dieses kulturpolitische Ziel verfolgen sie »durch den Film im Zeichen einer vermeintlichen Volkstümlichkeit«, so Heller. In voller Anerkennung dieser wegbereitenden Ausführung62 muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass diese ideologie- und kapitalismuskritische Fragestellung eine diskurshistorische Perspektive aus den Augen verliert. Gemeint ist die mögliche Bezugnahme des frühen Kinodiskurses auf die ›primitivistische‹ Tendenz seit der – von Georg Simmel in Schopenhauers Anthropologie ausgemachten – »Achsendrehung im Begriff des Menschen«63 . Hierbei handelt es sich um den literarisch anthropologischen Impetus, den Menschen in den »Grundtext homo natura«64 , d.h. in die »(affektiv-triebhafte) Naturseite«65 zurückübersetzen zu wollen. Friedrich Theodor Vischers Symboltheorie von 1887 verankert sich zusammen mit den nachfolgenden einfühlungsästhetischen Ansätzen in dieser Strömung. Allerdings bleibt die rückläufige und in diesem Sinne regressive Tendenz hierbei eine reflexive, ›sentimentalische‹ und insofern metaphorische. Geht sie doch von einem »epistemologischen Bruch«66 aus und hält an der »sentimentalische[n] Triade«67 der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schließlich fest. Im vorliegenden Unterkapitel soll die metaphorische ›Kind‹-Figur für den ›naiven‹, leichtgläubigen Zuschauer in Betracht kommen. Der regressive Zug im Kino 61 62

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Heller: Literarische Intelligenz (wie Anm. 13), S. 91. Diese trifft allerdings etwa auf den Fall Gerhart Hauptmanns »in besonderer Schärfe« zu. Vgl. Keppler(-Tasaki), Stefan: »›Bildersturm‹: Gerhart Hauptmann und das Kino«, in: Stefan Neuhaus (Hg.), Literatur im Film. Beispiele einer Medienbeziehung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 63-85, hier S. 68. Simmel, Georg: »Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus« [1907], in: Ders., Philosophie der Mode (1905), Die Religion (1906/ 2 1912), Kant und Goethe (1906/ 3 1916), Schopenhauer und Nietzsche (1907), hg. von Michael Behr, Volkhard Krech und Gert Schmidt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995 (= Gesamtausgabe 10), S. 167-408, hier S. 210. Der Terminus ist durch dessen Wiederentdecker, den Germanisten Wolfgang Riedel, vor allem in seinem Opus Magnum zum Begriff einer tiefreichenden Epochenschwelle in der Anthropologie des 19. Jahrhunderts avanciert, vgl. Riedel, Wolfgang: Homo Natura. Literarische Anthropologie um 1900. Riedel: Homo Natura (wie Anm. 63), S. 154 (Herv. im Orig.). Der Ausdruck stammt seinerseits bekanntlich aus Nietzsches Feder. Vgl. Nietzsche, Friedrich: »Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft« [1886], in: Ders., Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (1886-1887), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1968 (= Werke. Kritische Gesamtausgabe VI-2), S. 1-255, hier S. 175. Riedel: Homo Natura (wie Anm. 63), S. 51 (Herv. im Orig.). Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, S. 217. Riedel: Homo Natura (wie Anm. 63), S. 151.

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steht einerseits bei der Kinoreform – mit Baudrys Aufsatz Das Dispositiv vergleichbar – in der Regel im Kreuzfeuer. Für die literarische Kinodebatte bietet er jedoch andererseits gleichsam einen Schauplatz, auf dem verschiedene kinematographische Phantasmen abgespielt werden.

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Zeitmaschine Kino

Das kinematographische Medium wird in seiner Anfangszeit als eine Maschine imaginiert, welche das Vergangene wiederzugeben und somit in die Gegenwart umzuwandeln vermag. So beschreibt Dr. Ing. Hans Goetz 1913 in Anlehnung an Carl Grunerts phantastische Novelle das Kino als eine Zeitmaschine: Eine derartige, wenn auch nicht eine Reise zur Steinzeit, sondern eine nur wenige Jahrzehnte zurück gestattende Zeitmaschine ist der Kinematograph, freilich eine Maschine, mit welcher wir nur rückwärts in die Vergangenheit fahren können, nicht in die Zukunft, eine Maschine, mit der wir Vergangenes zur Gegenwart machen können […].68 Mit dem Kino fährt man nicht nur in die Vergangenheit zurück. Es ist des Weiteren in der Lage, die Zeit selbst zurückzudrehen. Diese Phantasie geht vermutlich auf einen der ersten Filme zurück: Lumières Démolition d’un mur (FR 1896). In dem Film sieht man zuerst einen Abbruch der Mauer durch einige Arbeiter, und gleich danach wird dieselbe Prozedur dann rückwärts abgespielt. Nicht nur im Feuilleton, Der Kientopp (1907), malt Hanns Heinz Ewers den »Genuß der aufgehobenen Kausalität«69 anhand der andersherum gewendeten Entwicklung des Menschen aus. In seinem ersten Roman, Der Zauberlehrling oder Die Teufelsjäger (1909), integriert Ewers diese kinematographisch erst ins Bild gesetzte Phantasie in die Handlung. Im Gespräch mit der schönen Jüdin Lotte Lewi kommt der Protagonist, Frank Braun, auf »einen Film« zu sprechen, der »rückwärts«70 läuft. Er stellt eine Reihe vergleichbarer Beispiele vor und erzählt zum Schluss von einem Film, den er frei erfindet. Gleichsam in der Art des ›Buches des Lebens‹ soll dieser Film Lottes ganzes Leben – allerdings bildlich – fixieren. Hätte ihr fiktiver Vater mit diesem Film doch gewünscht, dass »seiner einzigen Tochter Leben allen späteren Geschlechtern im 68

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Goetz, Hans: »Kinematograph und Wissenschaft«, in: Bild und Film III (1913), S. 4-7, hier S. 6. Goetz verweist auf Carl Grunerts Erzählung Pierre Maurignacs Abenteuer (1908), die Herbert George Wells’ Roman Die Zeitmaschine (The Time Machine, 1895) nachempfunden ist. Von Bedeutung erscheint, dass der Science-Fiction-Klassiker, der den Begriff ›Zeitmaschine‹ stiftet, gerade im Jahr des Aufkommens des Kinos publiziert wird. Ewers, Hanns Heinz: »Der Kientopp«, S. 13. Ewers, Hanns Heinz: »Der Zauberlehrling oder Die Teufelsjäger« [1909], in: Ders., Der Zauberlehrling oder Die Teufelsjäger. Alraune, Erftstadt: area 2005 (= Gesammelte Werke 1), S. 7-397, hier S. 389.

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Bilde erhalten bleibt«. Auf dem Zelluloidstreifen sollen ihre sämtlichen Lebensereignisse von der Geburt bis zum Tod festgehalten werden. Nach Lottes Tod jedoch – so führt Frank Braun fort – will er noch einmal erscheinen und den Film vom Ende her abspielen lassen, damit eine »Zauberei« stattfindet: »[…] Ich aber, Lotte, der ich noch zwanzig Jahre älter werden will wie Sie, nehme den Film und lasse die Lotte rückwärts leben. Aus der Asche, Zauberlotte, wird im Feuer ein richtiger Leib, ein recht alter, krummer, verhutzelter freilich, aber doch ein Menschenleib. Und die Tote wird zur Lebenden, und die Greisin zur alten Frau. Die alte Frau wird zur jungen und die junge Frau zum Mädchen, zum Kinde und zum Säugling. Und wieder stehen die klugen Leute an Frau Ludmillas Bett, aber sie holen keine Lotte mehr! Der Herr Medizinalrat reicht das frischgewaschene Baby der Wehmutter zurück, die wäscht es: da wird es schmutzig. Und dann nimmt sie es – und Lotte kriecht wieder in der Mutter Bauch, woher sie einstmals gekommen. Die Lotte ist weg, weg, als ob sie niemals auf der Welt gewesen sei!«71

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»[D]as Volk, dieses ›große Kind‹« und sein Erzieher. Zum dualen Modell der Kinoreformer

In den frühen Phantasmen ums Kino gehen sowohl der Aufgenommene wie Ewers’ Romanfigur Lotte als auch das Publikum bzw. der Rezipient in die Vergangenheit zurück. Die kinematographische »Zeitmaschine« bringt die Zuschauer jedoch nicht nur in die Vergangenheit als diegetischen Schauplatz wie den wilden Westen, sondern in die eigenen früheren Zeiten. Diese umfassen zum einen ontogenetisch die ›naive‹ ›Kindheit‹ des Einzelnen und darüber hinaus phylogenetisch die ›primitive‹ Entwicklungsstufe der Menschheit wie etwa die »Steinzeit«. Das ›Kind‹ kommt in diesen diskursiven Formationen explizit als Metapher für den erwachsenen und modernen Zuschauer zum Vorschein. Er regrediert im Kino entweder in die unmündig-unaufgeklärte Leichtgläubigkeit oder gewinnt vielmehr seine eigene ›naive‹ Unschuld noch einmal zurück. Der Metapherngebrauch des ›Kindes‹ in der Kinoreform richtet sich mehrheitlich auf das erstere Deutungsmuster aus. Der Chefredakteur der »KinoreformerZeitschrift«72 Bild und Film, Dr. Lorenz Pieper, propagiert 1912 im Leitartikel von dessen erstem Heft überschwänglich das Ziel seiner Publikation. Hierbei handelt es sich, so Pieper, um die »Gesundung des Kinematographenwesens und seine

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Ebd., S. 391. Diederichs, Helmut H.: »Filmkritik und Filmtheorie. Analyse, Urteil & utopischer Entwurf«, in: Wolfgang Jacobsen/Anton Kaes/Hans Helmut Prinzler (Hg.), Geschichte des deutschen Films, S. 497-510, hier S. 498.

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Zurückeroberung für die Kultur, für wirklich edle Volksbildung«73 . Das gegebene Elend der deutschen Filmlandschaft sieht Pieper in den »Schundfilms« bzw. den »realistischen wie humoristischen« »›Dramen‹«. Die »Hauptschuld« trage hierbei nicht nur »die Filmfabrikation des Auslandes (Frankreich, Amerika, Italien, Dänemark usw.), die Woche für Woche ihren Schmutz auf den deutschen Markt spült«: Aber ebensoviel Schuld hat das Publikum selbst, das Volk, dieses »große Kind«, dessen erschreckend verbildeter Geschmack nach dem Dramenschund und der vielfach so albernen Komik des Kinos hungert und dürstet und die Kinobesitzer geradezu zwingt, ihm Woche für Woche ästhetische und sittliche Träber [Treber] vorzusetzen.74 In diesem Zitat lässt sich zwar die auf das kinematographische Objekt bezogene Metaphorik leicht erkennen, die auf den Auslöser der Faszination hinweist (›Krankheit‹ oder ›Hunger‹/›Durst‹). Daneben fällt hier jedoch insbesondere die Figur des ›Kindes‹ auf, die nun dezidiert als Metapher ins Spiel gebracht wird. Im hypnotischen Diskurs zeichnet sich das Kind, hier wörtlich verstanden, durch die besonders hohe Suggestibilität bzw. Empfänglichkeit für die filmische Sensation oder Sentimentalität aus. Im Gegensatz hierzu bezieht es sich in Piepers Leitartikel vielmehr im explizit übertragenen Sinne auf die »Masse des Publikums« im Allgemeinen. Durch den Metapherngebrauch unterstreicht er, dass ihr »›dramatische[r]‹ Instinkt« den »durchweg grotesken Unfug und Unsinn der komischen, humoristischen Filme« »geradezu zwang«75 . Diese metaphorische Sicht gegenüber dem Publikum als das ›Kind‹ lässt sich seinerzeit auch außerhalb der kinoreformerischen Kreise beobachten. Die Argumentation der Kinoreformer unterscheidet sich jedoch insbesondere in der folgenden doppelten Operation. Mit der metaphorischen Rede des ›Kindes‹ verweisen sie zwar auf das Regressive im ›Dispositiv‹ Kino. Von den Opfern dieser Regressionsmaschine nehmen die Kinoreformer sich selbst aber nachdrücklich aus, da sie sich als ausreichend aufgeklärt und gebildet verstehen wollen. Der Ausgrenzungsmechanismus bleibt auch hier auf der metaphorischen Ebene weiter wirksam. Das »Volk« im Kino kehre einerseits in den alten Zustand zurück, in dem der »Instinkt« allein regieren soll. Die Kinoreformer selbst seien jedoch andererseits gegen die regressiven Effekte des kinematographischen Apparates gefeit. Infolgedessen sollen sie schließlich in der Lage sein, das Volk als das ›große Kind‹ zu beschützen und zu erziehen. Konsequent soll es für Pieper angesichts der ›kindlichen‹ Züge des Publikums angebracht sein, das angeblich im Kino schlummernde volksbildnerische Potenzial zu entfesseln. So sollte man unter anderem die »[g]eradezu unbe-

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Pieper, Lorenz: »Kino und Drama«, in: Bild und Film I (1912), S. 4-7. Ebd., S. 4 f. Ebd., S. 5.

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schränkt[en] […] Bildungsmöglichkeiten [des Kinos] und seine Verwertbarkeit auf fast allen Gebieten der Volksaufklärung und Volkserziehung«76 in die Praxis umzusetzen versuchen. Im selben Jahr zeigt sich der Kinoreformer Adolf Sellmann in seiner Buchpublikation Der Kinematograph als Volkserzieher? mit Blick auf die »humoristischen Schlager«77 paternalistisch besorgt. Denn das Publikum soll »soviel Zeit und Geld für derartige gefühl- und gedankenlose Kindereien tagtäglich« opfern: Selbstverständlich nehme ich es meinem zweijährigen Kinde nicht übel, wenn es sich über seinen Hampelmann freut, ja ich freue mich sogar mit meinem Jungen und ziehe selbst unten am Faden! Es ist eben ein zweijähriges Kind, das an solchen Kindereien Vergnügen findet. Daß aber tausend und abertausend Erwachsene an dem kindischen Hampelmann-Humor im Kinotheater Gefallen finden, ist wahrlich kein Zeichen sittlicher Reife und stolzer Kulturhöhe unseres Volkes.78 Die doppelte Operation bleibt auch bei Sellmann am Werk. Einerseits gesteht er dem Kino einen regredierenden Effekt ein und sieht das Publikum im Kino wegen dieser kinematographischen Wirkung auf dem Spiel stehen. Andererseits grenzt Sellmann jedoch gleichzeitig die »kindisch« gewordenen Zuschauer von sich ab. Darüber hinaus inszeniert und legitimiert er sich als schutzfähiger Volksbildner oder gar Vaterfigur. Von der Regressionsmaschine des Kinos wird nur das Volk anheimgestellt, während die Gebildeten bzw. Pädagogen einen kritischen Reflexionsabstand niemals verlieren können. Die Strategie einer projizierenden Ausgrenzung des ›Naiven‹ in Gestalt des ›kindischen‹ Volkes kennzeichnet ausdrücklich die kinoreformerische Argumentation. Dieses Muster erweist sich als derart virulent und wirkmächtig, dass es sich bisweilen außerhalb der kinoreformerischen Kreise beobachten lässt, etwa in der frühen Filmtheorie. Der Filmtheoretiker Herbert Tannenbaum vertritt 1912 eine weitgehend vergleichbare Ansicht, obwohl er genau genommen nicht als Kinoreformer zu bezeichnen ist: Die naive Freude […] an der Sensation, die, wenn auch in geringem Maße jedem Menschen inne wohnt, vor allem aber die ungebildeteren Volkskreise beherrscht, bewirkte, daß man über der großen Möglichkeit, Handlungen darzustellen, allen künstlerischen Geschmack vergaß und bei dem kindlichen Vergnügen am lebenden Bild das Fehlen der dramatischen und aesthetischen Grundgesetze nicht bemerkte.79 76 77 78 79

Ebd., S. 7. Sellmann, Adolf: Der Kinematograph als Volkserzieher?, 2., verm. Aufl., Langensalza: Beyer & Söhne 1912, S. 13 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 14. Tannenbaum, Herbert: Kino und Theater, München: Steinbach 1912, S. 10.

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Das Kino als die Schule des ›Edel-Primitiven‹ – Engel, Hardekopf, Altenberg, Benjamin

Die literarische Kinodebatte sowie die Schriften der Filmleute zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass die in der Kinoreform unausgesprochen vorausgesetzte manichäische Dichotomie in der Regel ausfällt. Das ›Naive‹ oder ›Kindliche‹ wird einerseits den »ungebildeten Volkskreise[n]« nicht restlos zugesprochen. Im Gegenzug gehen die Schriftsteller auch nicht davon aus, dass alle Gebildeten künstlerisch kultivierte ›Erwachsene‹ sein sollen. Selbst in Artikeln mit negativem und kinofeindlichem Tenor kehrt man nicht ausdrücklich die Grenzziehung zwischen dem Volk und dem Gebildeten hervor. Der langjährige Theaterkritiker des Berliner Tageblatts, Fritz Engel, liefert hierfür ein geeignetes Beispiel. Ohne das Motiv des ›Kindes‹ explizit zu benennen, erkennt Engel 1913 die regressive Qualität des Kinos und bringt diese lakonisch zum Ausdruck: Das Wesen des Films, soweit er dramatische Vorgänge dartun will, ist Rückschritt. Man kann das Lichtspiel verbrämen und verschönen, aber man kann es nicht darüber hinausbringen, daß es nur ganz naive Gefühle und ganz primitive Verwickelungen wiedergibt. Hier und da ist das empfunden worden, und man hat aus der Not eine Tugend, aus der gezwungenen Umkehr zum Ältesten, Allerältesten einen Reiz gemacht.80 Das Kino zeigt sich hier als ein Medium des »Rückschritt[s]« bzw. »der gezwungenen Umkehr zum Ältesten, Allerältesten«. Bei Engel kommt jedoch – anders als beim kinoreformerischen Hypnosediskurs – jene endgültige soziokulturelle Aufteilung der Zuschauer nicht ins Spiel. Folglich wird hier über die beiden asymmetrischen Gruppen vom ›naiven‹, ›primitiven‹ und ›ungebildeten‹ ›Kind‹ einerseits und dem ›gebildeten‹ ›Erwachsenen‹ andererseits kein Wort verloren. Viele Schriftsteller gehen jedoch noch ein Stück weiter. Im Gegensatz zu Engel begrüßen sie dezidiert diese regressiven Momente, die den Zuschauern im Kino zuteilwerden sollen. Hierbei fällt auf, dass sie das Weinen als ein Schlüsselerlebnis besonders hervorheben. Anders als Kafkas inzwischen berühmter Tagebucheintrag, »Im Kino gewesen. Geweint«81 , ziehen diese Schriftsteller das Weinen eindeutig als Zeichen der vor der Leinwand stattfindenden temporären Regression heran. Dieses Deutungsmuster lässt sich auch in der späteren Apparatustheorie antreffen, welche die kinematographische Regression als eine passagere Rückkehr in eine

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Engel, Fritz: »Die Bilanz des Lichtspiels« [1913], in: Schweinitz, Prolog (wie Anm. 36), S. 384388, hier S. 386. Kafka, Franz: Tagebücher, hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, New York: Schocken 1990 (= Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe), S. 595. Der Eintrag ist vom 20. November 1913 datiert.

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»präödipale« bzw. »primitive Identifizierung«82 entwickelt. In diesem Zustand seien »die Grenzen des eigenen Körpers und der Außenwelt nicht genau festgelegt«, so Baudry. Die »Stärke der Bindung des Subjekts an das Bild«83 ermögliche eine Verschmelzung mit dem Film, d.h. »Identifizierungen mit der Hilflosigkeit und dem Ausgeliefertsein der Protagonisten« bzw. Protagonistinnen. Das Weinen lässt sich demnach auf die »primitive Identifizierung« zurückführen, die »Tränen beim Zuschauer auslösen [könne] – Tränen der Wut, der Verzweiflung und der Trauer«84 . Die Tränen sollen dabei ein beinah unwiderlegliches Indiz der regressiven Faszination des Kinos liefern. Denn als ein unwillkürliches physisch-physiologisches Phänomen schießen sie den Schriftstellern in die Augen. Dies soll auch dann der Fall sein, selbst wenn der Film einen ästhetisch belanglosen, von Sentimentalität triefenden Inhalt zur Schau stellt. Ferdinand Hardekopfs Bericht 1910 über seinen Pariser Kinobesuch erinnert in diesem Kontext gleichsam an ein Bekenntnis, das ein Kinoreformer niemals öffentlich ablegen würde: In einem Montmartre-cinéma geschah, in rapider Entwicklung, folgendes: ein reiches Kind wird geraubt, von Zigeunern zum Räuber erzogen, muß bei den eignen Eltern einbrechen –, erkennt die Mutter wieder, fällt ihr zu Füßen, schießt den Brigantenhauptmann nieder. Als im Saale wieder Licht wurde, sah ich in den Augen meiner Begleiterin die hellen Tränen blinken; kaum verbarg ich die eignen.85 Das Filmerlebnis, das sogar einen Gebildeten wie Hardekopf »naiv und empfänglich« stimmen soll, legt er keineswegs als etwas Peinliches aus, sondern als etwas vollkommen Erfreuliches. Zeugt dies doch von einer »dem Leben nahe[n] Verzauberung« des Kinos, welche diesem zu einer »neue[n] Form der Publizität« verhelfen soll. In den kinematographischen, »äußerst prompte[n] Wirkungen«86 stößt Har-

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Zeul, Mechthild: »Bilder des Unbewußten. Zur Geschichte der psychoanalytischen Filmtheorie«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 48 (1994), S. 975-1003, hier S. 983-987. Die vorliegende Studie geht davon aus, dass die projektive Argumentation über die Psychoanalyse in die spätere Apparatustheorie eingeführt wird. Beim frühen Kinodiskurs und der Psychoanalyse handelt es sich schließlich um zwei Zeitgenossen, die zu vielfältigen Gegenständen dieselbe Imagination teilen. Zur Themenkombination der Regression und der Einverleibung, die von den beiden Diskursen ähnlich vorgestellt wird, siehe weiter unten in Kapitel 6. Baudry: »Das Dispositiv« (wie Anm. 39), S. 1068 f. Zeul, Mechthild: »Warum weinen wir im Kino? Die Bedeutung der Regression für die filmische Wahrnehmung«, in: Kristina Jaspers/Wolf Unterberger (Hg.), Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud, Berlin: Stiftung Deutsche Kinemathek/Bertz + Fischer 2006, S. 7781, hier S. 78. Hardekopf, Ferdinand: »Der Kinematograph« [1910], in: Güttinger, Kein Tag (wie Anm. 7), S. 44-46, hier S. 46 (Herv. im Orig.). Ebd.

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dekopf auf regressive Züge. Diese Entdeckung soll jedoch in den Dienst gestellt werden einer »progressiven Entwicklungstendenz«87 , zugunsten deren »der gute Geschmack« auf den cinéma »Einfluß […] gewinnen«88 sollte. Das ›Naive‹ und ›Empfängliche‹ im Filmerlebnis soll jedoch nicht immer der Zweckmäßigkeit einer progressiven und propagandistischen Funktion mit »tendenziösen Werte[n]«89 unterstellt werden. Hardekopf versucht zwar die einmal persönlich erlebte kinematographische Regression am Ende in die Zweck-MittelRelation einzufügen. Das Kino soll sich demnach schließlich für »bürgerlich-intellektuelle« »Willensbildung«90 instrumentalisieren lassen. Wenn Peter Altenberg zwei Jahre später für das Kino schwärmt, geschieht dies im Gegensatz zu Hardekopf gerade wegen des ›naiven‹ bzw. ›primitiven‹ Genusses durch das Medium. Hardekopf beginnt seinen Artikel mit einer Metakritik am Kollegen und bekennenden Kinokritiker Franz Pfemfert. Genauso wendet sich auch Altenberg eingangs seines kleinen Beitrags Das Kino vom April 1912 in einer provokativen Geste »gegen allejene« Filmgegner. Im kinematographischen Medium macht Altenberg jedoch kein wirkmächtiges Propagandamittel aus, sondern »die beste, einfachste, vom öden Ich ablenkendste Erziehung«. Mit dieser hat Altenberg offenkundig eine spezifische Art der »Erziehung« im Auge, die nirgendwo in der Kinoreform vertreten und angestrebt würde. Gleichsam eine Erziehung in verkehrter Richtung, zielt sie doch auf ›Naivität‹ bzw. ›Primitivität‹ hin. Im Unterschied hierzu durchschaut Altenberg jene »›Kunstdarbietung‹«, in welcher die Kinoreformer das positive Gegenstück in ihrer kinogegnerischen Kampagne erkennen, als eine »infame Düpierung einfach-gerader Menschenseelen«. So erlebe er »[i]m Kino« als einer Schule der ›Naivität‹ »die Welt; und selbst die erfundenen Sketches sind schon, der Natur der Sache nach, auf edel-primitive Wirkung hin gearbeitet, Seelenkonflikte a la [sic!] ›3 und 2 macht 5‹, nicht aber absichtlich 6 oder 7!«91 Die Wortverbindung »edel-primitiv«, die im paternalistischen Kinodiskurs ein Oxymoron par excellence bilden könnte, nimmt in Altenbergs ›sentimentalischem‹ Bekenntnis zum Kino eine tragende Stellung ein. In dieser reflexiven Perspektive bedeutet das Weinen im Kino so gut wie eine wertvolle Errungenschaft der zurückgewendeten »Erziehung«. Diese führt Altenberg einerseits mit einem ungebildeten ›Kind‹ bzw. einer Jugendlichen zusammen und grenzt ihn andererseits gleichzeitig von seinen gebildeten Kollegen deutlich ab:

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Heller: Literarische Intelligenz (wie Anm. 13), S. 51. Hardekopf: »Der Kinematograph« (wie Anm. 85), S. 46. Ebd., S. 44. Heller: Literarische Intelligenz (wie Anm. 13), S. 52. Altenberg, Peter: »Das Kino« [1912], in: Schweinitz, Prolog (wie Anm. 36), S. 169 f. (Herv. im Orig.).

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Meine zarte 15jährige Freundin und ich, 52jähriger, haben bei dem Natursketch: Unter dem Sternenhimmel, in dem ein armer französischer Schiffzieher seine tote Braut flußaufwärts zieht, schwer und langsam, durch blühende Gelände, heiß geweint! Wehe euch, deren »trockenen Geist« wir »trockenen Herzens« angeblich begeistert genießen müssen! Wir müssen und wollen nicht! Ein »berühmter Schriftsteller« sagte zu mir: »Wir sind jetzt unter uns, was finden Sie eigentlich Besonderes an den Kinovorstellungen?!?« »Nein«, sagte ich, »wir sind nicht unter uns, sondern Sie sind unter mir!«92 Die bildungsbürgerliche Wertvorstellung scheint durch das Aufkommen des Kinos – jener »Achsendrehung« (Simmel/Riedel) gleich – auf den Kopf gestellt zu werden. »Die Fackelträger der Kultur eilen zur Höhe«, so führt Pfemfert ein Jahr zuvor in seiner Schmähschrift gegen das Kino als Erzieher aus, während »[d]as Volk aber […] unten dem Geklapper des Kino [lauscht] und […] seinem Phonographen eine neue Walze auf[legt]«93 . Altenberg billigt dem Kino als der »beste[n] […] Erziehung« hingegen einen hochverehrten Status ein. Denn die Kinozuschauer finden die kindlich »edel-primitive« ›Naivität‹ zeitweilig wieder und sind nun in der Lage, beim Ansehen eines rührselig-sentimentalen »Natursketch« dicke Tränen zu vergießen. Das Filmsehen bedeutet für Altenberg eine passagere Regression in die kindliche ›Naivität‹, die jedoch als ein durchaus gewolltes, weil befreiendes Erlebnis reflexiv und ›sentimentalisch‹ zurückersehnt wird. Auch nach dem Ersten Weltkrieg kommt diese willkommene kinematographische Regression in die ›kindliche‹, ›edel-primitive‹ Empfänglichkeit trotz der veränderten Umstände weiterhin zur Sprache. Walter Benjamin schildert in Einbahnstraße (1928) das Weinen im Kino genauso wie Altenberg als ein Lerngegenstand der Umerziehung, welche die Menschen von Bildungsbalast befreien und zu einer wiedergefundenen Simplizität führen soll: Und wie das Kino Möbel und Fassaden nicht in vollendeten Figuren einer kritischen Betrachtung vorführt, sondern allein ihre sture, sprunghafte Nähe sensationell ist, so kurbelt echte Reklame die Dinge heran und hat ein Tempo, das dem guten Film entspricht. Damit ist denn ›Sachlichkeit‹ endlich verabschiedet, und vor den Riesenbildern an den Häuserwänden, wo »Chlorodont« und »Sleipnir« für Giganten handlich liegen, wird die gesundete Sentimentalität amerikanisch frei, wie Menschen, welche nichts mehr rührt und anrührt, im Kino wieder das Weinen lernen.94

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Ebd., S. 170 (Herv. im Orig.). Pfemfert, Franz: »Kino als Erzieher« [1911], in: Kaes, Kino-Debatte (wie Anm. 9), S. 59-62, hier S. 62. Näheres zu dieser Schrift siehe Kapitel 8. Benjamin: Einbahnstraße (wie Anm. 3), S. 58.

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In diesem – Diese Flächen sind zu vermieten überschriebenen – Textstück, das im selben Jahr wie Arnold Höllriegels Hollywood-Roman Du sollst dir kein Bildnis machen erscheint, kommt das Weinen des Filmzuschauers im Kontext des AmerikanismusDiskurses zum Tragen. Abgesehen von diesem filmwirtschaftlich-kulturhistorisch veränderten Hintergrund bleibt jedoch der Grundgedanke: Im Kino als die Schule des ›Naiven‹ oder ›Edel-Primitiven‹ soll man eine verlorene Empfänglichkeit zurückgewinnen. Dank dieser durch einen Lernprozess zurückeroberten Unschuld soll auch dem rational-nüchternen Gebildeten jene »primitive Identifizierung« mit den Filmbildern noch einmal beschert werden. Auf diese Weise wird das Filmerlebnis im betreffenden Zeitraum immer wieder mit der Regressionsmetapher charakterisiert, auf die das Weinen als deren Index bzw. eine Synekdoche Bezug nimmt.

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Zurück ins filmische Meer als den ›in-fantilen‹ Urbereich – Benn, Carl Hauptmann

Der Zuschauer kehrt im literarischen Kinodiskurs nicht nur in die ontogenetisch alte Stufe wie die ›naive‹ Kindheit zurück. Von einer phylogenetischen »Umkehr zum Ältesten, Allerältesten« ist ebenso die Rede. Gerade das Medium, das an der Spitze eines zivilisatorischen bzw. technologischen Fortschritts in die Welt kommt, setzt eine atavistische Imagination frei. Laut Walter Serner ist es die »furchtbare […] Schaulust«, die »das Volk wie besessen in den Kino reißt«. Dieses tief verwurzelte optische Verlangen ist ihm zufolge bei jedem spektakulären bis katastrophalen Ereignis durch die abendländische Geschichte hindurch zugegen: vom »flammenübergossenen Troja« über das »brennende Rom« »beim Licht der lebenden Fanale Neros« bis hin zum »Fenster auf der Place du Louis Quinze«, wo man »Ströme Blutes aus enthaupteten Rumpfen brechen«95 sah. Dieser Phantasie zufolge soll das Kino als eine brandneue technische Erscheinung doch einen uralten Trieb wieder in Gang setzen, der in der Tiefe auch des modernen Menschen schlummert. Dazu kommt die Tatsache, dass der Stummfilm bis auf die Zwischentitel sowie die ›Conferencier‹ oder Erklärer weitgehend des sprachlichen Ausdrucks entbehrt. Gerade aufgrund dieser Sprachlosigkeit gewährt er der Vorstellung der vorsprachlichen, bildlichen Mitteilung einen wesentlichen Stellenwert im Kinodiskurs. Die ›in-fantile‹ Wortlosigkeit der Filmbilder verspricht zum einen einem von der Sprachskepsis geplagten Dichter-Arzt eine entgrenzende Wiederbelebung im Zeichen des ›thalassalen Regressionszugs‹. Derselbe Aspekt erschließt zum Zweiten einem anderen Schriftsteller in den stummen Körperbildern bzw. der Geste den »Urbereich aller seelischen Mitteilung«.   95

Serner, Walter: »Kino und Schaulust« [1913], in: Kaes, Kino-Debatte (wie Anm. 9), S. 53-58, hier S. 53 f.

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Gottfried Benn schildert in Die Reise (1916) einen Übergang des jungen Arztes Dr. Werff Rönne von der rationalen in die subrationale Sphäre.96 Vergleichbare Handlungen lassen sich in allen anderen Erzählungen seines frühen Zyklus Gehirne (1914-1916) ausmachen, der nach dessen Protagonisten auch ›Rönne-Novellen‹ genannt wird. Dieser regressive Schritt vollzieht sich in den Erzählungen auf der Ebene des Denkens, das mit der Sprache als Medium zur Artikulation einhergeht. Die rationale und moderne Sphäre zeigt sich als der Bereich eines bewussten, konzentrierten und logischen Denkens, das auch zur Kommunikation mit den anderen dienen soll. Das folgerichtig zusammenhängende Denken ist insbesondere darum unerlässlich, um mit den anderen vernünftig und rational kommunizieren zu können. Als Medium bedarf dieses Denken von daher sprachlicher Form bzw. Worte, die womöglich als Text gewoben werden können. Dieses rational-intellektuelle Terrain kommt in Die Reise unter anderem in Gestalt des hochgebildeten Kollegenkreises in der besetzten Brüsseler Vorstadt und dessen Alltagsritualen zum Vorschein. Bei dem gemeinsamen Mittagessen wird unentwegt etwa über unscheinbare Gesprächsthemen wie die »Eigentümlichkeiten einer tropischen Frucht«97 geplaudert. Die »Atmosphäre der Behaglichkeit«98 dieses »Herrenclubs«99 kommt Rönne jedoch einer »Erstickung«100 gleich. Die titelgebende Reise nach Antwerpen, die Rönne als Fluchtversuch vorschwebt, mündet am Ende in einem andersartigen Reiseziel: einem Kino. Auf diese Weise wird die Reise als eine geographische Ortsveränderung gleichsam durch eine innere Reise im Sinne der psychischen Bewegung – einen ›Trip‹101  – abgelöst. Hier in der »Dämmerung eines Kinos«, in die Rönne regelrecht »[e]inrauscht«, ereignet sich sein Über- bzw. Untergang in die subrationale Sphäre. Denn dieses »Unbewußte des Parterres« entbehrt zum einen jedes Anpassungs- und Wirklichkeitsdruckes: »Ein Herr kam auf ihn zu, mit Frau und Kind, Bekanntschaft zuwer-

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Die folgenden Ausführungen insbesondere in Bezug auf Benns anthropologisch aufgebaute poetische Konzeption verdanken der Auslegung von Wolfgang Riedel viel. Vgl. Riedel, Wolfgang: »Endogene Bilder. Anthropologie und Poetik bei Gottfried Benn«, in: Helmut Pfotenhauer/Ders./Sabine Schneider (Hg.), Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 163-201. – KepplerTasaki würdigt als Erster den Dichter eingehend als einen »vorzügliche[n] Kinobeobachter«. Keppler-Tasaki, Stefan: »›immer steht er in der Bilder Flut‹. Filmzugänge Gottfried Benns«, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 105 (2011), S. 201-226, hier S. 201. 97 Benn, Gottfried: »Die Reise« [1916], in: Ders., Gottfried Benn Sämtliche Werke, Bd. III: Prosa 1, hg. von Gerhard Schuster, Stuttgart: Klett-Cotta 1987, S. 42-49, hier S. 43. 98 Ebd., S. 45. 99 Lethen, Helmut: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, Berlin: Rowohlt 2006, S. 38. 100 Benn: »Die Reise« (wie Anm. 97), S. 44. 101 Die Bezeichnung der Reise als ein ›Trip‹ geht spätestens auf Klaus Theweleit zurück. Vgl. Theweleit, Klaus: Buch der Könige, Bd. 2x: Orpheus am Machtpol, Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1994, S. 151.

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fend, breiten Mund und frohes Lachen. Rönne aber erkannte ihn nicht mehr.«102 Dieser Ausstieg aus dem gesellschaftlichen und kollegialen Umgang bringt auch eine – wenn auch vorübergehende – Befreiung vom logisch folgerichtigen Denken in Worten mit sich. Rönnes Sprachskepsis wird im bisherigen Verlauf des Prosastückes bereits eindrucksvoll hervorgehoben. Für ihn handelt es sich bei den Wörtern und speziell den Substantiven »[n]ur um Vermittlung«, während »in Unberührtheit […] die Einzeldinge«103 bleiben. Das Filmerlebnis bereitet dem Aporetiker Rönne gerade in dieser Hinsicht eine – allerdings nur zeitweilige – Erlösung: »Denn es war vollbracht, es hatte sich vollzogen.«104 Dieses ›Epiphanie‹-Erleben, das zuerst einmal durch den Übergang vom Wort bzw. der Sprache in das Bild ausgelöst wird, erlöst Rönne vorübergehend von einer Sprachkrise. Denn das Repräsentationsverhältnis des Zeichens und des Bezeichneten werden im filmischen Bild überwunden oder zumindest zeitweilig suspendiert. In diesem entgrenzenden Erlebnis weisen die filmischen Bilder nicht nur optisch auf die »Einzeldinge« hin, sondern sind diese: »Über den Trümmern einer kranken Zeit hatte sich zusammengefunden die Bewegung und der Geist, ohne Zwischentritt.«105 Das Bewegungsbild (das Symbol) bezieht sich nicht nur auf den Inhalt (das Symbolisierte) etwa durch ein Tertium comparationis – einen »Zwischentritt« –, sondern jenes ist dieser selbst. Insofern verankert sich diese Novelle von 1916 noch im gemeinsamen Symboldiskurs mit Friedrich Theodor Vischers Symboltheorie von 1887. Diese temporäre kinematographische Rückkehr in die erste Stufe der Symbolik lässt sich mit Blick auf die metapsychologisch-filmtheoretischen Ansätze auch als eine psychische, ontogenetische Regression beschreiben. Im oben angeführten Aufsatz Das Dispositiv spricht Baudry von »einer passageren Form der Regression« im Kino, in dem der Zuschauer in die frühe Entwicklungsphase eines Neugeborenen zurückkehren soll. Die »anfängliche Disposition der oralen Phase«, die »dem Spiegelstadium und der Ich-Bildung vorhergeht«, zeichnet sich durch eine »Durchlässigkeit« aus. Denn hier habe »der Körper […] noch keine eigene Grenze«106 , so Baudry. Im Rekurs auf den von Bertram Lewin weiterentwickelten Begriff des ›Oralen‹ führt Baudry folglich aus, dass die »primitiven Identifizierungen«107 102 103 104 105 106 107

Benn: »Die Reise« (wie Anm. 97), S. 48. Ebd., S. 46. Ebd., S. 49 Ebd. Baudry: »Das Dispositiv« (wie Anm. 39), S. 1065. Mechthild Zeuls Rekapitulation zufolge sollen diese auf die »präödipalen« Modalitäten der Identifizierung verweisen. Anders als etwa bei der ›ödipalen‹ »Verschweißung mit dem Kamerablick« (Laura Mulvey) soll bei den »primitiven Identifizierungen« »noch nicht zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden« sein und eine »›Inkorporation durch das Auge‹« stattfinden. Vgl. Zeul: »Bilder« (wie Anm. 82), S. 983-986; Dies.: »Film- und Kinotheorie«, in: Hans-Martin Lohmann/Joachim Pfeiffer (Hg.), Freud Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stutt-

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des Zuschauers mit den filmischen Bildern »auf einer Verschmelzung von Innen und Außen«108 beruhen. In Benns Beschreibung des Filmerlebnisses scheint Rönne zwischen zwei Polen der psychischen »Identifizierungen« mit dem Film zu pendeln. Einerseits identifiziert sich Rönne zwar mit dem ›ödipalen‹, maskulin konnotierten Kamerablick bzw. der männlichen Hauptfigur. Dies äußert sich explizit vor allem durch seinen erotisch gefärbten, skopophilen Blick auf die weibliche Filmfigur: die »Frau am Bronnen« oder »die Amme, am Busen das Tuch. Wie holde Gespielin!«109 Es lassen sich jedoch manche Aspekte beobachten, die es geraten erscheinen lassen, Rönnes entgrenzendes Filmerlebnis vielmehr im Lichte der »primitiven Identifizierung« oder ›Verschmelzung‹ zu betrachten. Denn er stimmt keineswegs restlos mit dem männlich und somit ›ödipal‹ codierten Zuschauer überein. Von dieser modellhaften Zuschauerfigur gehen die »angloamerikanische feministische Filmtheorie«110 unter dem Einfluss von Laura Mulveys inzwischen klassischem Ansatz in den 1970er Jahren normativ aus. Anders als dieses seinerzeit aussagekräftige Zuschauermodell wird Rönne in mancher Hinsicht nicht auf seinen Blick, d.h. die »spekulare beziehungsweise okulare Wahrnehmung«111 gänzlich reduziert. Er betrachtet auch nicht bloß voyeuristisch vom Dunkel des Saals aus die anderen Leute auf der hellen Leinwand. Weniger eine entkörperlichte Schaulust, sondern vielmehr eine imaginierte körperhafte Immersion in die filmische Welt charakterisiert Rönnes Filmrezeption. Denn er wird hier nicht nur mit dem Kamerablick visuell ›verschweißt‹, so Mulvey, sondern ›verschmilzt‹ auch leibhaftig mit dem Film: »Er war eingetreten in den Film, in die scheidende Geste, in die mythische Wucht.«112 Rönnes Eintritt »in den Film« hat eine Sichabschließung von der Außenwelt und der Kommunikation mit anderen zur Voraussetzung (»die scheidende Geste«). Darüber hinaus signalisiert Benn die Körperhaftigkeit dieser Immersion durch einige Motive, die nicht nur die »spekulare« und »okulare«, sondern auch die Tastwahrnehmung (»die mythische Wucht«) evozieren sollen. Der erste Abschnitt nach gart/Weimar: Metzler 2006, S. 402-411, hier S. 408 f., sowie dies.: »Einführende Überlegungen zur Erstellung einer psychoanalytischen Filmtheorie«, in: Ralf Zwiebel/Annegret MahlerBungers (Hg.), Projektion und Wirklichkeit. Die unbewusste Botschaft des Films, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 38-60, hier S. 43. 108 Baudry: »Das Dispositiv« (wie Anm. 39), S. 1066. 109 Benn: »Die Reise« (wie Anm. 97), S. 49. – »Eine Berührung zwischen Rönnes Kinoerlebnis und Benns persönlicher Filmnutzung ergibt sich immerhin im erotischen Bereich. Im Lichtspieltheater kann Benn ausgiebig die Reize attraktiver Schauspielerinnen betrachten, ungestört von realen Präsenzen und zwischenmenschlichen Bezügen.« (Keppler-Tasaki: »›immer‹« [wie Anm. 96], S. 217). 110 Zeul: »Bilder« (wie Anm. 82), S. 986. 111 Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, S. 126. 112 Benn: »Die Reise« (wie Anm. 97), S. 49.

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dem Eingang in die Bilderwelt bzw. einer Übertretung der repräsentationslogischen Grenze lautet etwa wie folgt: »Groß vor dem Meer wölkte er um sich den Mantel, in hellen Brisen stand in Falten der Rock; durch die Luft schlug er wie auf ein Tier, und wie kühlte der Trunk den Letzten des Stamms.« Der gerade betretene filmische Bereich kommt Rönne als ein luftig-windiges Terrain am Strand vor, das ihm einen starken Luftwiderstand entgegenhält. Neben der Figuration des Faltenwurfs, der durch »helle Brisen« in lebhafte Bewegung gesetzt wird, erscheint hier das Bild des »Trunk[s]« besonders bemerkenswert. Während dieses Getränk Rönne als »den Letzten des Stamms« »kühlt«, figuriert der filmische »Strom« wie »ein Wurf von Formen, ein Spiel in Fiebern«113 . Der Film ist für Rönne – »ein Gebilde, ein[en] helle[n] Zusammentritt«114  – nicht nur etwas zu Sehendes, sondern auch etwas zu Fühlendes, zu Tastendes oder Einzuverleibendes. Dies verweist einerseits auf eine Wiederkehr der von Vischer konstatierten Symbolik auf der ersten »religiöse[n], dunkel verwechselnde[n]«115 Stufe. Hierbei soll ein bildliches Symbol etwa in Ritualen nicht nur gesehen und ausgelegt, sondern angeeignet und einverleibt werden. Filmtheoretisch und psychoanalytisch deutet diese perzeptionelle Symbiose des Visuellen und des Taktilen im Kino wiederum eine Rückkehr auf die orale bzw. primitive Identifizierung an. Wie beim Säugling, der »die Brustwarze oder die Flasche im Mund spürt und zugleich das Gesicht der Mutter anblickt«, seien hier »Tast- oder Kontaktwahrnehmung und visuelle Wahrnehmung noch miteinander vermischt«116 . Das ›Epiphanie-Erleben‹ bzw. die willkommene Rückkehr in die erste Stufe der Symbolik bleibt Rönne jedoch nur für bestimmte Zeitweile, wo die rationale Reflexivität ›vorbehalten‹ ist, in Geltung. Denn der »Zusammentritt« des Innen 113

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Ebd. »In der Zeit seiner am besten dokumentierten Filmbesuche« verwendet Benn in einem Gedicht wohl mit Blick auf den Film die Metapher »›der Bilder Flut‹«. Keppler-Tasaki: »›immer‹« (wie Anm. 96), S. 204. Das Zitat stammt aus: Benn, Gottfried: »Wer allein ist –« [1936], in: Ders., Gottfried Benn Sämtliche Werke, Bd. I: Gedichte 1, hg. von Gerhard Schuster, Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 130. Der kühlende, gleichzeitig im Innern »Fieber« auslösende »Trunk« lässt außerdem an alkoholisch berauschendes »Feuerwasser« denken, das Benn später »[i]m Kino« wieder konstatieren sollte. Benn, Gottfried: »Kleiner Kulturspiegel« [1951], in: Ders., Gottfried Benn Sämtliche Werke, Bd. II: Gedichte 2, hg. von Gerhard Schuster, Stuttgart: KlettCotta 1986, S. 150 f., hier S. 151. Vgl. Keppler-Tasaki: »›immer‹« (wie Anm. 96), S. 211. Zur Metapher des alkoholischen Getränks im frühen Kinodiskurs ausführlich in Kapitel 6. Benn: »Die Reise« (wie Anm. 97), S. 49. Vischer, Friedrich Theodor: »Das Symbol«, S. 426. Zeul: »Film- und Kinotheorie« (wie Anm. 107), S. 407. Durch den Rekurs auf die psychoanalytische Filmtheorie wird hier nicht intendiert, den literarischen Text auf die metapsychologische Terminologie zu reduzieren. Es geht vielmehr darum, aus metaphorologischer Perspektive ihre gemeinsame Imagination herauszuarbeiten, die aus demselben Symboldiskurs hervorgeht. Zur diskurshistorischen Kontextualisierung zwischen dem psychoanalytischen Theorieansatz zum ›Oralen‹ und der Einverleibungsmetapher im Kinodiskurs siehe unten in Teil III.

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und Außen oder die Identität des Bildes und des Inhaltes sind schließlich allein in der Einbildungskraft des Zuschauers, als Schein, möglich. Die ›sentimentalische‹ Regression im Kino muss irgendwann enden – genauso wie jede Filmvorführung: »Rönne, ein Gebilde, ein heller Zusammentritt, zerfallend, von blauen Buchten benagt, über den Lidern kichernd das Licht.«117 Die wieder angeschaltete Beleuchtung des Saals löst die ›Verschmelzung‹ Rönnes mit dem Film auf, und die »Bewegung« und der »Geist« fallen damit auseinander. Das entgrenzende Filmerlebnis geht unweigerlich zu Ende, hinterlässt stattdessen einen Text. Diese mehr oder weniger zusammenhängend aufgebauten Wörter beziehen sich rückblickend auf die nur während der Filmvorführung vonstattengegangene Regression. Der betreffende Textteil versteht sich infolgedessen als die Spur, welche über die »im Momente der ästhetischen Stimmung«118 stattgefundene Rückkehr in die erste Stufe der Symbolik erzählt. Allerdings führt er dies gerade im Nachhinein und als eine metaphorisch-übertragene, weil poetisch-fiktive Rede vor. In diesem Sinne stellt der literarische Text ein sprachliches Äquivalent für die zweite Form der Symbolik dar. Zumal er jenen »Zusammentritt« im filmischen Bild gleichzeitig affirmiert (Geltung der Prädikation: Rönne = Film) und negiert (als eine nachträgliche Erzählung in Worten). Darüber hinaus lässt sich diese vorübergehende ›sentimentalische‹ Regression im Kino in Die Reise nicht nur als ontogenetisch, sondern auch als phylogenetisch auffassen. Diese Vermutung erscheint insofern plausibel, als die metaphorischen Figuren in der Beschreibung des Filmerlebnisses im Einzelnen berücksichtigt werden. So sind in den Metaphernformen zwei verschiedene semantische Ausrichtungen auszumachen. Zum einen deuten einige Figuren auf das ethnologisch-völkerkundliche Bedeutungsfeld des Regressiven hin. Dies zeigt sich in der bereits zitierten Stelle: Im filmisch-»mythisch[en]« Terrain bekomme Rönne jenen »Trunk« als das letzte Mitglied des »Stamms«119 . Diese Figuren können sich nicht nur wörtlich auf die Handlung des Films beziehen, die sich vor Rönne im Brüsseler Kino abspielen soll. Darüber hinaus signalisieren sie Benns Interesse am primitiven, »archaischen« bzw. »prälogischen Denken« der »frühen Völker«, das der französische Ethnologe Lucien Lévy-Bruhl 1912 theoretisch entwickelt. Dieses Denken, das Cassirers »mythisches Denken« vorwegnimmt, soll »sich über viele Differenzen, Gegensätze, Widersprüche, wie sie dem rationalen Bewußtsein sich an den Phänomenen darstellen«,120 hinwegsetzen. Hierzu zählt zweifellos auch etwa die repräsentationslogisch unüberbrückbare Differenz des Zeichens und des Bezeichneten oder zwischen dem bildlichen Symbol und dem symbolisierten Inhalt. Diese

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Benn: »Die Reise« (wie Anm. 97), S. 49. Fr.Th. Vischer: »Das Symbol« (wie Anm. 115), S. 434. Benn: »Die Reise« (wie Anm. 97), S. 49. Riedel: »Endogene Bilder« (wie Anm. 96), S. 192 f.

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Kluft erweist sich in der ersten Stufe der Symbolik, die Vischer seinerseits unter anderem »in den Naturreligionen«121 wirksam einschätzt, als nicht existent. Der phylogenetische Regressionsgedanke bei Benn reicht zum zweiten auch außerhalb der Sphäre des Homo sapiens hinaus. Dies konstatiert Friedrich Kittler etwa dann, wenn er in dem Filmzuschauer Rönne, »den kein Wort erreicht«, ein »Versuchstier« sieht: Zwischen Technik und Körper, Reiz und Reaktion stellt der Film Kurzschlüsse her, die imaginäre Vermittlungen erübrigen. Reflexe, nicht anders als bei Pawlows Versuchstieren, laufen »ohne Zwischentritt«: als Bögen zwischen sensorischem Impuls und motorischer Reaktion.122 Mit dieser Formulierung, die an Döblins Bemerkung von 1909 – »Einfach wie die reflexartige Lust ist der auslösende Reiz«123  – erinnert, ruft Kittler eine alte Assoziation hervor. Wird doch diese Vorstellung auch von den frühen Beiträgern zur Kinodebatte – allerdings meist aus dem kulturpessimistischen und kinofeindlichen Lager – aufgegriffen. Ihnen zufolge werde der Filmzuschauer nicht nur auf die »Physiologie des Reiz-Reaktions-Mechanismus«124 reduziert. Genauso wie bei Benn wird hier ferner nahezu einstimmig von dem »Zweischichtenmodell der Psyche«125 ausgegangen. Infolgedessen beschreiben sie dieses Reflexschema evolutionistisch als etwas Animalisches, das in der Tiefe der modernen Menschen nistet. Conradt zufolge »stacheln« die filmischen »Effekte […] immer stärker das Tier im Menschen auf«126 . Die gierigen Kinounternehmer bieten auch für Willy Rath mit ihren filmischen Produkten »nur Befriedigung der dunklen Tier-Instinkte oder lächerliche Lügen«127 . Noch 1918 fördere die Kinoindustrie die »am weitesten verbreiteten Instinkte, […] die wir mit den Tieren gemeinsam haben«128 , so Ferdinand Avenarius. 121 122

Fr.Th. Vischer: »Das Symbol« (wie Anm. 115), S. 424. Kittler, Friedrich Adolf: Aufschreibesysteme 1800/1900, 4., vollst. überarb. Neuaufl., München: Fink 2003, S. 295. Nebenbei bemerkt: Kittlers Formulierung, »den kein Wort erreicht«, stammt von einem Benn-Zitat: »ein Wort, das ihn erreichte« (S. 294). Nach der Standardedition soll die Stelle jedoch lauten: »ein Wort, das ihn erfaßte« (Benn: »Die Reise« [wie Anm. 97], S. 47). 123 Döblin, Alfred: »Das Theater der kleinen Leute« [1909], in: Ders., Kleine Schriften, Bd. I, hg. von Anthony W. Riley, Olten/Freiburg im Breisgau: Walter 1985 (= Ausgewählte Werke in Einzelbänden), S. 71-73, hier S. 72. Hierzu ausführlich unten in Kapitel 6. 124 Krause, Markus: »Die Disziplinierung des Lichtspiels. Zur Überblendung von Masse, Medium und belehrbarem Subjekt im frühen Kinodiskurs«, in: Irmela Schneider/Isabell Otto (Hg.), Formationen der Mediennutzung, Bd. II: Strategien der Verdatung, S. 189-209, hier S. 190. 125 Riedel: »Endogene Bilder« (wie Anm. 96), S. 166. 126 Conradt: Kirche (wie Anm. 6), S. 14. 127 Rath, Willy: »Emporkömmling Kino«, in: Kunstwart und Kulturwart 26 (1913), S. 415-424, hier S. 424. Näheres hierzu siehe unten in Kapitel 6. 128 F. Avenarius: »Vom Schmerzenskind« (wie Anm. 7) S. 361.

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Die kritischen Argumente gegen die filmische Kulturindustrie wendet Benn in der Novelle Die Reise in ihr Gegenteil. Dies hängt zweifellos mit seinem spezifischen Regressionsgedanken zusammen, der explizit phylogenetisch konstituiert ist. So führt diese Vorstellung zum ›Meer‹ als dem »erste[n] ›Schoß‹ aller Landlebewesen«129 , dessen »partieller Ersatz«130 der »Mutterschoß der Säugetiere und Menschen«131 darstellen soll. In dieser Sache sollte Benn zwar später in Sándor Ferenczis nicht nur psycho-, sondern vielmehr ›bioanalytischer‹ Arbeit Versuch einer Genitaltheorie (1924) einige Anhaltspunkte finden. Dies zeigt sich unter anderem in der Schlussformel des Gedichtes Regressiv (1927): »thalassale Regression«132 . Diese berühmte bis notorische Formulierung133 stellt sich als das Zitat heraus, das auf Ferenczis Theorem des »thalassalen Regressionszug[s]«134 zurückgeht. Mit diesem Begriff stellt Ferenczi die folgende These auf: Das regressive Verlangen nach dem Ichverlust drückt sich häufig als eine Rückkehr »in die uterale Geborgenheit« aus; diese individualpsychologische Sehnsucht weist phylogenetisch auf einen »in die Gattung selbst eingesenkte[n] Wunsch«135 hin, nämlich das »Streben nach der in der Urzeit verlassenen See-Existenz«136 . Die »[e]xtensive Meer-Symbolik« bzw. die »Fluidalmetaphorik«137 ist jedoch in Benns Œuvre bereits um die Zeit der Rönne-Novellen 1914-1916 als ein Hinweis auf die ›sentimentalisch‹-regressive »Zerlösung des Ich«138 häufig anzutreffen. Diese früheren Ausdrücke aus der Zeit vor seiner Lektüre von Ferenczis Versuch sollen sein noch weiter zurückgehendes dauerhaftes Interesse am Thalassalen bezeugen.

129 Riedel: »Endogene Bilder« (wie Anm. 96), S. 187. 130 Ferenczi, Sándor: »Versuch einer Genitaltheorie« [1924], in: Ders., Schriften zur Psychoanalyse. Auswahl in zwei Bänden, Bd. II, hg. von Michael Balint, Frankfurt am Main: Fischer 1972, S. 317400, hier S. 365. 131 Riedel: »Endogene Bilder« (wie Anm. 96), S. 187. 132 Benn, Gottfried: »Regressiv« [1927], in: Ders., Gottfried Benn Sämtliche Werke, Bd. I (wie Anm. 113), S. 126. 133 Theodor Wiesengrund Adorno ruft ohne jegliche Quellenangaben die Formel etwa dann in Erinnerung, wenn er mit der »technologische[n] Bewußtseinsfeindschaft« des wagnerschen Musikdramas ins Gericht gehen will. Vgl. Adorno, Theodor Wiesengrund: »Versuch über Wagner« [1952], in: Ders., Die musikalischen Monographien, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971 (= Gesammelte Schriften 13), S. 7-148, hier S. 95. 134 Ferenczi: »Versuch« (wie Anm. 130), S. 363. 135 Riedel: »Endogene Bilder« (wie Anm. 96), S. 187. 136 Ferenczi: »Versuch« (wie Anm. 130), S. 363. 137 Riedel: »Endogene Bilder« (wie Anm. 96), S. 189. 138 Benn, Gottfried: »Epilog und Lyrisches Ich« [1921/27], in: Ders., Gottfried Benn Sämtliche Werke, Bd. III (wie Anm. 97), S. 127-133, hier S. 133: »Ach immer wieder in diese Glut, in die Grade der plazentaren Räume, in die Vorstufe der Meere des Urgesichts: Regressionstendenzen, Zerlösung des Ich!«

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In diesem Sinne stellt auch die Erzählung Die Reise keine Ausnahme dar. Die filmische Welt wird hier nicht umsonst als eine Meereslandschaft mit den immer wehenden »hellen Brisen« geschildert, wo Rönne als »Gebilde« »durch die Luft […] wie auf ein Tier« schlage. Rönnes entgrenzendes Filmerlebnis, das ihm eine onto- wie phylogenetische Regression in den alten bis uralten Zustand imaginieren lassen soll, geht an ihm nicht spurlos vorüber. Denn nach der Vorführung findet Rönne sein Bewusstsein zwar unterschwellig, jedoch fundamental verändert vor, d.h. als »von blauen Buchten benagt«139 . Ähnlich wie das bei Benn in diesem Zusammenhang üblichere Motiv des ›Ufers‹ benennen diese »Buchten« auch die Übergangszone des Bewusstseins. Hier wird der rückgewendeten Hoffnung des schriftstellerischen Ich Ausdruck verliehen, den Boden des modernen, aufgeklärten und fortgeschrittenen Denkens jemals zu verlassen. Gleichzeitig macht sich an den »Buchten« auch der phylogenetisch regressive Wunsch bemerkbar, die uralte Anpassung »unsere[r] tierischen Vorfahren«140 an das Landleben rückgängig machen zu können.   Anders als Benn erzählt C arl Hauptmann drei Jahre später nicht primär vom Zuschauer, der vor der Leinwand in die onto- wie phylogenetische Urzeit zeitweilig und metaphorisch zurückkehrt. Er spricht in erster Linie vielmehr von der »Filmkunst«, die »noch in den Windeln« liege. Hiermit nimmt auch Hauptmann die ›Kind‹-Metaphorik für das filmische Medium auf. Gleichwohl fordert er weder eine künstlerische Entwicklung des Kinos noch eine vermeintlich progressive Ausbildung der filmischen Propaganda. Er will vielmehr den Blick in die entgegengesetzte Richtung wenden, denn »[a]uf diesem Wege« sei »ein wahrer Fortschritt des Films unmöglich«141 . Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass Hauptmann das Kino des vorhandenen Formates affirmieren und die Figur des Neugeborenen als das Endziel eines bloß ontogenetischen Regressionszuges feiern würde. Er geht von der Beobachtung aus, dass die im bisherigen Sinne verfolgte ästhetische Erziehung des kinematographischen Säuglings miserabel ausfallen würde. Auf dieser Ansicht aufbauend, will sich Hauptmann lieber für eine phylogenetische Regression des anthropomorphisierten Kinos einsetzen, die bis in den »Urbereich aller seelischen Mitteilung« reichen soll. Diesen »Urbereich« macht er in der »Gebärde« aus, die in der Stummfilmzeit als eine primäre Ausdrucksform die Leinwand dominiert. Die Gebärde soll nicht nur über die sprachlichen Grenzen 139

Benn: »Die Reise« (wie Anm. 97), S. 49. Auch nach dem Verlassen des Kinos »verging [nie] das südliche Meer«, so der Schluss der Prosa (ebd.). 140 Ferenczi: »Versuch« (wie Anm. 130), S. 358 (Herv. im Orig.). 141 Hauptmann, Carl: »Film und Theater«, in: Die Neue Schaubühne. Monatshefte für Bühne, Drama und Film 1 (1919), S. 165-172, hier S. 165 f. (Herv. im Orig. gesperrt). – Dieser Artikel erscheint postum im von Hugo Zehder herausgegebenen Sammelband wieder. Vgl. Zehder, Hugo (Hg.): Der Film von morgen, Berlin/Dresden: Kaemmerer 1923, S. 11-20.

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hinaus universell verständlich sein. Sogar Tiere würden diese wortlosen Ausdrücke der Geste begreifen: »Ein Hund versteht nicht an Worten die Seelenverfassung seines Herrn. Er faßt sie sogleich aus dem stummen Gesamtspiel seiner Gebärde.«142 Ferner besäße das »Bioskop […] einzigartiges, ganz spezifisches Vermögen«, so Hauptmann, »den Ablauf aller bedeutungsvollen Bewegung, die lebendige Gebärde aller Wesen, der lebendigen und der toten Dinge, absolut zu objektivieren«143 . Hauptmann zufolge ist das »Bioskop« in der Lage, die »ganze Welt« als »ein weites Reich bedeutungsvoller Gebärde« zu redefinieren. Diese »Welt« soll »weit über das Reich der verständigen Menschenmitteilung hinaus […] das Tierreich« sowie »das ganze Naturreich« einschließen. Auf diese Weise »eröffnen sich Möglichkeiten, mit den Gebärden auch von Tieren und Pflanzen, von Felsen und Sternen, von Möbeln und Häusern zu spielen«144 . Um die Perspektive in einer anderen Weise umzukehren: Im Rahmen dieses beinah euphorischen Lobgesangs für das »Bioskop« muss der Filmrezipient in jene erste Stufe der Symbolik regrediert haben. Denn in seinen Augen stellt das filmische Bild kein Zeichen mehr dar, das erst mit Rücksicht auf den Code – über dieses Tertium comparationis – auf das Bezeichnete hinweist. Der Film zeigt sich für ihn vielmehr als ein Symbol, welches das darin Symbolisierte unmittelbar verkörpert bzw. mit diesem sogar identisch ist. Gerade auf dieser beinah magischen Transparenz beruht jene universelle Verständlichkeit der filmischen »Gebärde«. Diese soll ferner als der jetzt monistisch überhöhte Schlüsselbegriff den »ganzen Kosmos«145 selbst – mitsamt nicht nur allen Lebewesen, sondern sogar auch »toten Dinge[n]«146  – umfassen. Hauptmann propagiert überschwänglich den kunst- und kulturgeschichtlich einmaligen »Sinn des Films«, d.h. die Entdeckung der »Urmitteilung durch Gebärde«147 . Hierbei lässt er in seinen Zeilen die symboltheoretische Reflektiertheit bzw. jenen ›Vorbehalt‹ kaum erkennen. Der ›epistemologische Bruch‹, der die einfühlungsästhetische Prämisse bildet, macht sich im Verlauf dieses mystisch übersteigerten Essays – wenn überhaupt – nur schwindend bemerkbar. Vielmehr scheint dem Film gerade deswegen jene weltgeschichtliche Relevanz zuzukommen, weil er diesen modernen ›Bruch‹ rückgängig machen würde. Des Weiteren soll dies für Hauptmann nicht nur vorübergehend und metaphorisch, sondern endgültig und wörtlich vonstattengehen:

142 C. Hauptmann: »Film« (wie Anm. 141), S. 168; ein Druckfehler (»Erfaßt«) wurde vom Verfasser korrigiert. 143 Ebd., S. 167 (Herv. im Orig. gesperrt). 144 Ebd., S. 169 (Herv. im Orig. gesperrt). 145 Ebd. 146 Ebd., S. 167. 147 Ebd., S. 169.

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Der Film hat auch an den Dichter eine Mahnung gerichtet, die logisch hochzugespitzte, hochintellektuelle Sprache, die sich dem sinnlichen, leiblichen Ausdruck allzu abgezogen entrückte, wieder ganz in das Urreich der Gebärde zurückzufühlen und daraus eine sinnliche, anschauliche, mitreißende, lebendige Wucht der Urmitteilung wiederzugewinnen.148 Es liegt nahe, hier einen Vorklang von Béla Balázs’ Der sichtbare Mensch (1924) zu vernehmen. Denn dieser proponiert ebenfalls die Gegenüberstellung von der »Kultur der Worte« und der »neue[n] Gebärdensprache« des Films. Einerseits soll die Erstere für Balázs als »eine entmaterialisierte, abstrakte, verintellektualisierte Kultur« erscheinen. Die Letztere soll andererseits »der Sehnsucht nach dem verstummten, vergessenen, unsichtbar gewordenen leiblichen Menschen«149 entspringen. Verglichen mit Balázs’ Lob der filmischen ›Naivität‹, das durch einen gewissen reflektierten Dreh ausgezeichnet ist,150 fällt jedoch Hauptmanns hochtrabendes monistisches Pathos umso deutlicher auf. Der leidenschaftliche Duktus dieses Plädoyers, das »mit Eifer und Begeisterung«151 vorgetragen wird, scheint die zeitgenössische Leserschaft bereits zu befremden. So schreibt der Literatur- und Filmkritiker Kurt Pinthus Hauptmann zwei Jahre nach dessen Tod mit Blick auf den gerade erwähnten Artikel den Titel eines »Visionär[s]« zu. Allerdings geschieht dies im Kontext der Würdigung des Verstorbenen: »Carl Hauptmann glaubte zur Stunde seines Todes, daß man ihn endlich neben seinen Bruder Gerhart stellen müßte. Carl ist der größere Visionär, aber der kleinere Gestalter. Deshalb war Carl einer der ersten Dichter, die leidenschaftlich für den Film Partei nahmen.«152 Unabhängig von Hauptmanns ursprünglicher Absicht ist seine begeisterte Lobrede auf den Film bei den Lesern – oder mindestens hier bei Pinthus – vor allem als etwas Dichterisches bzw. Poetisches ernst zu nehmen. Denn sein Text scheint für sie neben der zukunftsweisenden und prophetischen Tendenz auch einen Anflug des Imaginären oder gar Halluzinatorischen zu besitzen. Aus dieser gewissen

148 Ebd., S. 171 f. 149 Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films [1924]. Mit einem Nachwort von Helmut H. Diederichs und zeitgenössischen Rezensionen von Robert Musil, Andor KrasznaKrausz, Siegfried Kracauer und Erich Kästner, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 18 f. (Herv. im Orig.). 150 Ausführlich hierzu siehe unten in Kapitel 5. 151 Zehder, Hugo: »Einleitung. Ein paar Worte«, in: Ders., Der Film (wie Anm. 141), S. 9. 152 Greve, Ludwig/Pehle, Margot/Westhoff, Heidi (Hg.):Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm, München/Stuttgart: Kösel/Klett 1976, S. 217. Hierbei handelt es sich um einen Auszug aus Kurt Pinthus’ Besprechung zum Film Die Austreibung (DE 1923, R: Friedrich Wilhelm Murnau) in Tagebuch 4 (1923), S. 1551. Für den Film liefert Carl Hauptmanns Schauspiel die Vorlage.

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Distanz dürfte für die Textrezipienten nicht nur Hauptmanns mit Eifer ausgemalte Vorstellung des Kinos als eine ›Vision‹ erscheinen. Darüber hinaus könnte der hierin aufscheinende »Urbereich aller seelischen Mitteilung« auch als ein unwahrscheinlicher, unangemessener und in diesem Sinne metaphorischer Ausdruck vorkommen.

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Die innere Spaltung des filmsehenden Schriftstellers – Kerr, Hofmannsthal

Pinthus behält wohl Recht, denn Carl Hauptmann zählt in der Tat zu den seltenen Ausnahmen, die sich in der literarischen Kinodebatte vom Medium – im akzentuierten Sinne – ohne ›Vorbehalt‹ hingerissen zeigen. Die überwiegende Mehrheit der Schriftsteller, die zu Wort kommen, distanziert sich ausdrücklich von der einseitigen Anerkennung – von der monistischen Faszination à la Carl Hauptmann ganz zu schweigen. Sein jüngerer und berühmterer Bruder Gerhart etwa signalisiert sein nüchterneres und verfeinerteres Verständnis des Kinowesens im metaphorischen Sprachgebrauch des ›Essens‹.153 Sogar Peter Altenberg, der das ›EdelPrimitive‹ im Kino heftig in Schutz nimmt, legt seinen inneren bildungsbürgerlichen Widerstand an den Tag. Diese unterschwellige Resistenz muss er durch seine ostentative Abwehrhaltung mühselig überwinden. Die zahllosen Ausrufezeichen und Unterstreichungen, die im kleinen Beitrag en masse zum Einsatz kommen, gewähren einen Einblick in den inneren Konflikt dieses Wiener Bohemiens. Die Schriftsteller unterliegen angesichts des Regressiven im Kino einem inneren Zwiespalt, der sich in jeweiligen Texten verschiedenartig niederschlägt. Der Theaterkritiker Alfred Kerr ist sich zur höchsten Zeit des ›Theater-KinoStreites‹ 1912/13 über alle Nachteile des Kinos so restlos im Klaren, dass er diese eingangs seines Artikels Revue passieren lässt: Was ist es mit dem Lichtspiel? Kann es die Menge von seelisch Höherem, wobei mehr Nachdenken erforderlich, weglocken? Amerikanisierung des inneren Menschen? Verflachung seines geistigen Lebens? Zurückschrauben der Entwickelung? Ja.154 Neben dem gemeinsamen »wirtschaftlich[en]« Interesse der Theaterzunft, das unter diesem angeblichen Konkurrenten »leidet«, hebt Kerr das Regressive im Filmerlebnis, das »Zurückschrauben der Entwickelung«, besonders hervor. Dies soll – genauso wie für Benn und Carl Hauptmann – im Wegfall der Sprache einen markanten Ausdruck finden: 153 154

Hierauf soll unten in Kapitel 6 eingegangen werden. Kerr, Alfred: »Kino«, in: Kaes, Kino-Debatte (wie Anm. 9), S. 75-77, hier S. 75.

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Mimik haben auch die Tiere; die Sprache wurde den Menschen gegeben; warum sich ihrer für den künstlerischen Ausdruck entschlagen? warum auf die Ebene der Taubstummen hinabsteigen? Die besten Unterscheidungen, die wir machen können, lassen sich durch kein Bild, das stumm ist (wenn auch mit Klavierbegleitung), ausdrücken. Aber … Aber merkwürdig, daß trotz diesen Erwägungen der Kientopp auch uns Verfeinerten Lockendes gibt.155 Bei allen denkbaren Mängeln des Kinos, die das Theater als Kulturfaktor umso bestechender erscheinen lassen müssten, kann Kerr als einer der »Verfeinerten« nicht umhin, im Kino etwas »Lockendes« auszumachen. Zwischen »Für« und »Gegen«, welche den ›Theater-Kino-Streit‹ rege ankurbeln, muss er infolgedessen unaufhörlich pendeln. Es kompliziert den Umstand einmal mehr, dass der Vorzug des Kinos in Kerrs Augen gerade in seinem möglichen Defekt selbst, im regressiven »Zurückschrauben«, zu bestehen scheint: Ich bin ein abgehärteter Theatergast, kenne viele Sorten von Wirkungen – und fliege doch auf eine Lichtspielbegebenheit. Ein Bübchen, von der Mutter gut, vom Stiefvater schlecht behandelt. Was tun? Flucht. Schiffsjunge. … Nach Jahren sehen wir einen gebräunten stattlichen Jüngling wieder, der in der neuen Welt sein Glück gemacht hat. Da packt ihn die Sehnsucht nach der alten Mutter … Die letzten Habseligkeiten der alten Frau sollen eben gepfändet werden – da tritt der Sohn ins Zimmer … vertreibt den Exekutor, nachdem er die geforderte Summe bezahlt hat, die Mutter sinkt ihm in die Arme. Das alles ist schafsdumm; ich weiß. Aber man merkt plötzlich, daß einem ›etwas in die Augen schießt‹. Wie ist es zu erklären?156 Die typisch kinodramatische sentimentale Handlung, die Kerr ohne weiteres als »schafsdumm« ad acta legen könnte, rührt ihn nichtsdestotrotz buchstäblich zu Tränen. Die unvorhergesehene emotionale Reaktion des Weinens, die er unweigerlich am eigenen Leib erleben und registrieren muss, versetzt Kerr regelrecht in Erschütterung. Infolgedessen unterliegt er einer inneren Diskrepanz: ›Ich weiß das alles, aber trotzdem …‹. »Ich weiß schon, aber dennoch …« – dies ist bekanntlich die Formel, mit welcher der französische Psychiater Octave Mannoni die eigentümliche Symbiose von Glauben und Nichtglauben beim Fetischisten zu erklären trachtet.157 In dieser Auffassung agiert der von Sentimentalität überfrachtete Film für Kerr gleichsam als 155 156 157

Ebd. Ebd., S. 75 f. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 13-16, hier S. 14. Christian Metz untersucht bereits im Rekurs auf die psychoanalytische Theorie des Fetischismus (Freud und Mannoni) die Glaubensstrukturen

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ein Fetisch. Er weiß, dass der Film ein schlechtes Machwerk ist, und glaubt demnach nicht an dessen Wirkkraft. Trotz alledem glaubt er doch daran – an agency,158 wenn man will – und vergießt beim Anblick desselben Films die Tränen. Wie kein anderer aus dem literarischen Kinodiskurs beschreibt Kerr so exakt und präzis die ›doppelte Bewusstseinslage‹ oder das Kippspiel zwischen Wissen und Glauben beim Filmerlebnis. Des Weiteren tut er dies, ohne die Glaubensinstanz nach außen etwa als ›Kind‹, ›Volk‹ oder ›kleine Leute‹ usw. zu projizieren oder aber halluzinatorisch bzw. monistisch zu verabsolutieren. Der innere Zwiespalt von Wissen und Glauben bietet für Hugo von Hofmannsthals Beitrag zur Kinodebatte, Der Ersatz für die Träume (1921), ein narratologisches, den Text strukturierendes Prinzip. Auf den ersten Blick scheint der Text ein weiteres Beispiel der ausgrenzenden Argumentation zu sein. Im Vordergrund steht hier das Kino als eine Angelegenheit der »arbeitenden Leute«, die »in den Städten oder großen zusammenhängenden Industriebezirken wohnen«. Das Leben dieser Leute soll unter dem Zeichen der »Nummer« geführt werden. Sollen sie doch auf diese unaufhörlich achten: nicht nur am »Werktag« in der Fabrik oder beim »Handwerk«, sondern auch »zuhause« bei der Anwendung von verschiedenen »Geräte[n] und kleinen Maschinen«. Dies soll schließlich derart radikalisiert werden, dass sie »selber Maschine« würden, »ein Werkzeug unter Werkzeugen«159 . Einen Ausweg aus der »eigentümliche[n] fade[n] Leere der Realität«, der »Öde« der Verdinglichung bzw. Entfremdung könne weder »[d]er Vortragssaal« noch »das Versammlungslokal« anbieten.160 Denn »in dieser Sprache«, die in solchen Sälen gesprochen wird, verberge sich »zuviel von der Algebra« oder der »Ziffer«: »[D]ies alles ist zu indirekt, die Verknüpfungen sind zu unsinnlich, dies hebt den Geist nicht wirklich auf, trägt ihn nicht irgendwo hin«161 . Im Gegensatz hierzu erscheint das Kino in diesem Kontext als die bestmögliche Zuflucht gerechtfertigt. Seien »sie«, d.h. die »arbeitenden Leute«, hier doch fähig, in ihre Kindheit zurückzukehren, in der »sie« »die einzige wirkliche« Macht, »die der Träume« besessen hätten. »Sie waren Kinder und damals waren sie mächtige Wesen. Da waren Träume, nachts, aber sie waren nicht auf die Nacht beschränkt; sie waren auch bei Tag da, waren überall«162 . Dieser Traum im Kino entspricht beim Filmzuschauer. Vgl. Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, S. 64-70. 158 Vgl. Böhme: Fetischismus (wie Anm. 157), S. 14. 159 Hofmannsthal, Hugo von: »Der Ersatz für die Träume« [1921], in: Ders., Reden und Aufsätze, Bd. II: 1914-1924, hg. von Bernd Schoeller, Frankfurt am Main: Fischer 1979 (= Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 141-145, hier S. 141 f. 160 Ebd., S. 142 f. En passant erwähnt der Text auch »die Branntweinschänke« als eine andere, doch ausgewiesen eskapistische Option (vgl. ebd., S. 142). Zur ›Alkohol‹-Metapher für das Kino siehe unten in Kapitel 6. 161 Ebd., S. 143. 162 Ebd.

4 Das ›naive‹ Kind vor der Leinwand

hier weniger der ›oralen‹, ›primitiven Identifizierung‹ oder einer ›Verschmelzung‹ mit dem Film, sondern vielmehr der ›ödipalen‹ eines Voyeurs. Denn die magische »Macht«, die das Kino ihnen zurückreichen soll, bewirkt eine Art von ›Offenbarung‹163 : Da liegt alles offen da, was sich sonst hinter den kalten undurchsichtigen Fassaden der endlosen Häuser verbirgt, da gehen alle Türen auf, in die Stuben der Reichen, in das Zimmer des jungen Mädchens, in die Halls der Hotels; in den Schlupfwinkel des Diebes, in die Werkstatt des Alchimisten. Es ist die Fahrt durch die Luft mit dem Teufel Asmodi, der alle Dächer abdeckt, alle Geheimnisse freilegt.164 Gerade in der Ausführung des Regressiven im Kino, in dem die »Leute« zu einem kindlichen Allmachtgefühl der »Träume« bzw. Tagträume zurückfinden sollen, geschieht eine unauffällige, jedoch schwerwiegende Verschiebung der Erzählerperspektive. Bis zu dieser Stelle ist von ›ihnen‹, d.h. den »arbeitenden Leute[n]« in den »Städten« oder »Industriebezirken« die Rede. In der Beschreibung des »Zweischichtenmodell[s] der Psyche« sowie der Aktivierung der kindlichen Tiefenschicht bei der Filmrezeption kommt indes nun die erste Person Plural, »wir«, unvermittelt in den Vordergrund: Es ist der ganze Mensch, der sich diesem Schauspiel hingibt; nicht ein einziger Traum aus der zartesten Kindheit, der nicht mit in Schwingung geriete. Denn wir haben unsere Träume nur zum Schein vergessen. Von jedem einzelnen von ihnen, auch von denen, die wir beim Erwachen schon verloren hatten, bleibt ein Etwas in uns, eine leise aber entscheidende Färbung unserer Affekte, es bleiben […] all die unterdrückten Besessenheiten, in denen die Stärke und Besonderheit des Individuums sich nach innen zu auslebt. Diese ganze unterirdische Vegetation bebt mit bis in ihren dunkelsten Wurzelgrund, während die Augen von dem flimmernden Film das tausendfältige Bild des Lebens ablesen. Ja dieser dunkle Wurzelgrund des Lebens, er, die Region wo das Individuum aufhört Individuum zu sein, er, den so selten ein Wort erreicht, kaum das Wort des Gebetes oder das Gestammel der Liebe, er bebt mit.165 Es ist, als würden sich vor der Leinwand die beiden Grenzen auf einmal verwischen: die gesellschaftliche zwischen den arbeitenden und den intellektuellen Schichten einerseits und die psychische zwischen den unteren und den oberen andererseits. Auf der Ebene des »dunkelsten Wurzelgrund[es]« bleibt nicht nur jeder »Traum aus der zartesten Kindheit« aufbewahrt. Hier in der Tiefe fallen zudem alle Schranken,

163 Vgl. Koebner: »Der Film« (wie Anm. 60), S. 22. 164 Hofmannsthal: »Der Ersatz« (wie Anm. 159), S. 143 f. 165 Ebd., S. 144 f.

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d.h. sowohl zwischen Personen oder ›Individuen‹ als auch den Gesellschaftsschichten. Gerade auf diesen tieferen Schichten lässt sich die Verlagerung der Perspektive von »sie« auf »wir« präzis nachvollziehen. Auf diesen psychischen Tiefenschichten – oder, um mit Benn zu sprechen: im »Unbewußte[n] des Parterres« – findet infolgedessen nicht nur eine temporäre ontogenetische Regression in die Kindheit statt. Desgleichen kehrt das Zuschauerpublikum auch symboltheoretisch auf die alte Stufe zurück. So entstehe im Filmerlebnis »blitzartig« das »Symbol«,166 das Vischers Definition der »religiöse[n], dunkel verwechselnde[n]«167 Symbolform exakt zu entsprechen scheint: »das sinnliche Bild für geistige Wahrheit, die der ratio unerreichbar ist«168 . Die sozialpsychologische Apologie des Kinos als das Asyl der »arbeitenden Leute« mündet in der Hymne für die »ehrwürdig« tempelartige »Stätte«, in welcher den »Menschen unserer Zeit« das Mysterium einer »Vision« zuteilwird. Der Text zeichnet sich jedoch durch die Erzählstrategie aus, die – im Gegensatz zu Carl Hauptmanns monistischer Eloge – Hofmannsthals sorgfältige Stellungnahme an den Tag bringen soll. Nicht nur die abermalig ausgrenzende und projizierende Präzisierung der Thematik betont die distanzierte Bezugnahme. Der zufolge sollen mit den »Menschen unserer Zeit« »diejenigen [gemeint sein,] welche die Masse bilden«169 . Es ist vielmehr die doppelte Erzählperspektive, die hier den Ausschlag gibt. Denn die ganze Ausführung lässt sich in der Tat nur als Zitat »mein[es] Freund[es]«170 verstehen, »mit dem ich«, so der Verfasser eingangs des Artikels, »auf dieses Thema kam«171 . An diese Doppelstruktur des Erzählens, die auch seinen früheren Brief (1902) prägte, erinnert Hofmannsthal zu Ende des Aufsatzes. Mit diesem Signal ist der Verfasser in der Lage, sich von der leidenschaftlichen Affirmation des Kinos ausdrücklich zu distanzieren. Im Text lassen sich in diesem Sinne zwei Instanzen feststellen. Während »mein Freund« die Glaubensinstanz verkörpert, ist dem nüchtern und objektiv dokumentierenden Blick des Verfassers der andere Pol des Wissens zuzuschreiben. Statt – wie Kerr – zwischen den beiden Polen unaufhörlich zu pendeln, gibt Hofmannsthal seiner inneren Spaltung – einerseits Faszination vom und andererseits Distanz zum Kino – durch die Konstruktion des Aufsatzes selbst einen ausgeprägten Ausdruck.

166 167 168 169 170 171

Ebd., S. 145. Fr.Th. Vischer: »Das Symbol« (wie Anm. 115), S. 426. Hofmannsthal: »Der Ersatz« (wie Anm. 159), S. 145. Ebd. Ebd., S. 141 und 145. Ebd., S. 141.

5 Über die Regression zur Reflexion. Der Kinozuschauer als ›barbarisches Kind‹

Im vorangegangenen Kapitel wurden die Exemplare der Figuration des Regressiven verfolgt: von der einseitigen Dominanz der ›naiven‹ Glaubensinstanz über die reflexive Rückkehr zum ›Edel-Primitiven‹ sowie die innere Spaltung von Glauben und Wissen bis hin zur projektiven Ausgrenzung des Leichtgläubigen. So verschieden all diese auch erscheinen mögen, so zeigen sie mindestens eine Gemeinsamkeit: Sie sind alle mit Blick auf die symboltheoretische Folie, Friedrich Theodor Vischers Abhandlung Das Symbol (1887) sowie dessen diachrones Koordinationssystem adäquat einzuordnen. Sie alle unterstellen zum einen eine ›naive‹ Stufe, auf der das Bild und dessen Inhalt identisch sind. Sie gehen jedoch zum anderen durchgehend davon aus, dass dieser frühere Zustand zu einem Zeitpunkt scheinbar unwiederbringlich verlorengegangen ist. Ihre unterschiedlichen Ausrichtungen resultieren einzig aus den verschiedenen Perspektiven gegenüber diesem chronologisch aufgefassten symboltheoretischen Wandel. Außerdem meldeten sich in den Beispieltexten häufig metaphorische Figuren. Diese sollen ermöglichen, die modern-aufgeklärte Reflektiertheit des jeweiligen Verfassers zu unterstreichen und gleichzeitig seine regressive, jedoch ›sentimentalische‹ Begeisterung vom Kino zum Ausdruck zu bringen. Der Symboldiskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts, den Vischers späte Schrift auf den Punkt bringt, bezeugt hier seine enorme Tragweite. Ferner will diese zweifellos sogar bis tief in die 1970er Jahre hinein, in denen die Apparatustheorie ihre Blütezeit feiert, nicht ausklingen. Dies ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Im frühen literarischen Kinodiskurs – genau genommen: kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg – sind noch andere regressive Tendenzen zu beobachten. Sie sind deswegen anders als die oben besprochenen Diskursformen, weil sie über das einfühlungsästhetisch-symboltheoretische Deutungsmuster hinausgehen. Auch hier kommt zwar eine ›Kind‹Figur als Metapher für das Regressive im Filmerlebnis zum Vorschein. Die temporäre Rückkehr zielt jedoch diesmal nicht auf die ›Naivität‹ ab, die im filmischen Bild dessen Inhalt schlechthin bzw. das Abgebildete selbst zu sehen glaubt. Das Regressive besteht bei diesem anderen ›Kind‹ gerade in der Vernichtung dieser Realitätsillusion. Diese soll zwar durch die filmisch-symbolische Verknüpfung vom

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Bild und seinem Inhalt scheinbar überzeugend hervorgebracht werden. An diesem filmischen Effekt bleibt aber trotz ihres realistisch anmutenden Eindrucks die »Unangemessenheit«1 haften. Die Aufdeckung dieser »Unangemessenheit« oder die Destruktion der motivierten Referenzialität bringt die Freiheit gegenüber den bildlichen Zeichen zustande. Diesen symboltheoretischen Vorgang stellt Vischer seinerseits im Zuge jener »dritte[n] Form« oder der »helle[n] und freie[n]«2 Symbolik fest. So braucht dieses ›Kind‹ nun das filmische Bild nicht zwangsläufig im realitätsillusionistischen und repräsentationslogischen Zusammenhang der Symbolik zu betrachten. Es hat zuerst einmal allein mit der physisch-materiellen Begebenheit des Films als Oberflächenerscheinungen aus Licht und Schatten zu tun. Diese flüchtigen Leinwandbilder können zwar wie bildliche Symbole auf etwas anderes hinweisen. Die semantische Vermittlung bzw. das »tertium comparationis« zwischen »Bild und Sinn« muss jedoch bei diesem ›Kind‹ nicht aus der Perspektive des »Bewußtsein[s] von Zweckmäßigkeit […] einleuchtend gewählt« sein. Zu diesem Punkt weicht das ›Kind‹ von der modernen, »hellen und freien« Symbolik ab. Statt der »Verstandeshelle« kommt hierbei vielmehr die Phantasie ins Spiel. Sie soll ermöglichen, die Filmbilder vom mimetischen Zusammenhang der Realitätsillusion oder dem Wirklichkeitsdruck zu befreien und in andere Kontexte beliebig überzuführen. In diesem Sinne verlagert sich das filmische Bild genauso wie die rationale Symbolform à la Vischer auch hier vom Paradigma des Symbols auf das der »Allegorie«3 . Allerdings soll sich diese jedoch nicht – wie bei Vischer – auf den zweckmäßigen Verstand, sondern auf das Einbildungsvermögen stützen. Darum liegt es durchaus nahe, dass diese ›kindliche‹ Sichtweise in den einschlägigen Texten häufig mit dem Märchen in Verbindung gebracht wird. Die triadischen Bedingungen für diese andersartige bzw. ›allegorische‹ Filmrezeption – Destruktion, Freiheit und Phantasie – weisen in zweierlei Hinsicht ›kindliche‹ oder regressive Aspekte auf. Dieses andere ›Kind‹ als eine Leitmetapher für den Filmzuschauer verhält sich in den betreffenden Texten zum einen gleichsam verantwortungslos gegenüber den filmischen Bildern. Diese Unbekümmertheit der Filmrezeption hängt damit eng zusammen, dass das ›Kind‹ auf die bestehenden Normen eines abbildenden Realismus keine Rücksicht nimmt. Aus dieser Perspektive erscheint die Bezeichnung dieses ›Kindes‹ – in Anlehnung an Nicola Gess’ Studie über das Primitive Denken – als ›barbarisch‹ gerechtfertigt.4 Diese Charakterisierung soll gewählt werden, um zu ›naiv‹ im Sinne etwa von arglos und leichtgläubig einen semantischen Kontrast zu bilden. Zum anderen findet in dieser ›Kind‹-Figur im Kinodiskurs – verstärkt in der Weimarer Zeit – auch ein im 1 2 3 4

Vischer, Friedrich Theodor: »Das Symbol«, S. 422 f. (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 453 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd. (Herv. im Orig. in lateinischer Schrift). Gess, Nicola: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin), S. 365-421.

5 Über die Regression zur Reflexion. Der Kinozuschauer als ›barbarisches Kind‹

weiteren Sinne regressiver Wunsch seinen Niederschlag. Die Schriftsteller verlangen in ihren Beiträgen zur Kinodebatte heiß danach, »von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen«. Dies ist bekanntlich die Formulierung, mit der Walter Benjamin einen »neuen, positiven Begriff des Barbarentums« einzuführen versucht. In der ›barbarischen‹ ›Kind‹-Figur im Kinodiskurs geht es jedoch nur vermittelt um die »Erfahrungsarmut«5 der Nachkriegszeit. Die verzweifelte Hoffnung, dass »die Menschheit […] die Kultur«6 überlebt, lässt sich auch hier zwar ausmachen. Sie nimmt aber bei den infrage kommenden Texten keine vordergründig zentrale Stellung ein. In der literarischen Kinodebatte zeichnet sich vielmehr in der Regel ein konkreteres Verlangen ab, die Entwicklung der Filmindustrie hin zum langen Spielfilm oder dem klassischen Kino ›von vorne‹ zu revidieren. Dies führt de facto eine Forderung auf die Rückkehr in das frühe ›Attraktionenkino‹ mit sich. Insofern kommt es überhaupt nicht von ungefähr, dass viele Verfechter der Wiederkunft des ›Barbarischen‹ biographisch der Generation angehören, die ihre Kindheit bzw. Jugend gerade in den ›Kinderjahren‹ des Kinos verbrachte. Diese decken sich weithin mit der filmhistorischen Periode des Kurzfilmprogramms im ›Kientopp‹, in der die »Kinder[…] und Jugendlichen« in der Tat »die Hauptklientel«7 darstellen. Im ›sentimentalischen‹ Rückblick der Autoren überlagern sich ihre eigene Kindheit und die des kinematographischen Mediums, die es beide ebenfalls wiederzugewinnen gilt. Die metaphorische Rede des ›barbarischen Kindes‹ dient in der Kinodebatte dazu, eine andere und bessere Gegenwart auszumalen, die faktisch nicht zustande kommen konnte. Durch die metaphorische Regressionsfigur wollen die Verfasser jedoch eine verlorene Zukunft des Vergangenen nicht nur beklagen, sondern vielmehr als doch noch umsetzbar imaginieren.   Im Folgenden soll – den zweiten Teil der Untersuchung abschließend – den metaphorischen und regressiven Figurationen des ›barbarischen Kindes‹ eingehend nachgegangen werden. Dieses ›kindliche‹ Motiv für eine andere, ›allegorische‹ Filmrezeption lässt sich im frühen literarischen Kinodiskurs als eine kritische bzw. reflektierte Stimme eindringlich vernehmen. Der Zeitraum, in dem diese metaphorische Figur zum Tragen kommt, reicht vom Auskommen des ›Kinodramas‹ im Sinne des langen Spielfilms um 1910 bis zu ersten nennenswerten filmtheoretischen Ansätzen in den 1920er Jahren. Hierbei ist es bemerkenswert, dass sich die Argumentation gerade nicht auf einen progressiven Vorschlag stützt, sondern vielmehr auf eine zurückblickende Perspektive von Reminiszenzen. 5

6 7

Benjamin, Walter: »Erfahrung und Armut« [1933], in: Ders., Aufsätze. Essays, Vorträge, Bd. 1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977 (= Gesammelte Schriften II), S. 213-219, hier S. 215. Vgl. auch Gess: Primitives Denken (wie Anm. 4), S. 370-376. Benjamin: »Erfahrung« (wie Anm. 5), S. 219. Müller, Corinna: »Der frühe Film, das frühe Kino und seine Gegner und Befürworter«, S. 64.

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Metaphorologie des Kinos

5.1

Die ›phantastische‹ Distanz zur Wirklichkeit – Klemperer, Lukács

Die zwei Arten des Regressiven, die im Filmerlebnis zu beobachten sind, hält Victor Klemperer bereits zu Beginn der kinobezogenen metaphorischen Rede des ›Kindes‹ in den frühen 1910er Jahren deutlich auseinander. Bei seinem oben in Kapitel 2 bereits besprochenen Artikel Das Lichtspiel (1911/12) macht er im Kino zum einen »ein ›Zurück zur Natur‹« für den »Gebildete[n]« aus. »[D]ie kindliche Freude«, »die einzelnen Szenen als Wirklichkeiten schlechthin« zu genießen, verbindet zwar die »Schicht der Gebildeten« mit dem »Volk«. So bringt die temporäre Regression in die Stufe des »[u]ngebildeten« »naive[n] Zuschauer[s]«8 eine Rückkehr auf »die religiöse, dunkel verwechselnde«9 Symbolform mit sich. Ungeachtet dessen kann der intellektuelle Zuschauer schließlich nicht aus dem Bewusstsein komplett verdrängen, »daß er es nicht mit den realen Dingen, daß er es vielmehr mit ihren Schattenbildern zu tun hat«. Demzufolge muss »der Gebildete« »als Erwachsener noch eine besondere verfeinerte Freude« empfinden, wenn er aus freiem Willen ins Kino gehen soll. Zunächst macht Klemperer beim gebildeten Filmzuschauer eine meditierend-kontemplative Sicht aus, sich das filmische Schattenbild als »ein Sinnbild für die Nichtigkeit der irdischen Erscheinungswelt« anzuschauen. Da er jedoch diese »pessimistische Philosophie« für »das freudige Interesse« der Filmzuschauer unzureichend beurteilt, hebt er dann die Rückseite dieses kinematographischen »Schattenspiels« hervor: das Kino als »Lichtspiel«10 : Denn hier sahen die Menschen die Dinge der Welt vorübergleiten als Objekte, denen die Tücke des Objekts fehlte, als irdische Dinge ohne Erdenschwere, in einer beglückenden Reinheit und losgelösten Selbständigkeit. Und diesen Vorzug, gleichsam die Idee der Dinge zu bringen statt der Plumpheit der Dinge selber, teilt das moderne Lichtspiel durchaus mit dem alten Schattenspiel. Jetzt erweist es sich, ein wie glücklicher Sprachgriff die Bezeichnung Lichtspiel ist; denn wirklich, hier handelt es sich um ein freudiges Spielen mit den Erscheinungen des Lebens: die anmutige Unerschöpflichkeit seiner Formen gleitet vorüber, all seine Beschwerde bleibt zurück.11 Der Titel des Artikels stellt sich als Programm heraus. Das Kino als ›Lichtspiel‹ verkörpert hier einen idealisierten Raum ohne Gravitation bzw. »Erdenschwere«. In dieser Sphäre werden die »irdische[n] Dinge« zu den »Idee[n]« verklärt und/oder in die »Erscheinungen« verflüchtigt, damit man mit diesem Lichtschein unendlich

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Klemperer, Victor: »Das Lichtspiel«, S. 83 f. Fr.Th. Vischer: »Das Symbol« (wie Anm. 1), S. 426. Klemperer: »Das Lichtspiel« (wie Anm. 8), S. 83 f. Ebd., S. 84 f.

5 Über die Regression zur Reflexion. Der Kinozuschauer als ›barbarisches Kind‹

spielen kann. Im Anblick dieses schwerelos vorübergleitenden »freudige[n] Spielen[s]« des Films legt man »all seine Beschwerde«, die seinen realen Alltag prägt, zeitweilig beiseite. Klemperer malt auf diese Weise die Filmrezeption als ein vom Wirklichkeitsdruck befreiendes Erlebnis aus. Diese Art der Rezeption des Films als ›Lichtspiel‹ hat einen gewissen Grad der Reflektiertheit zur Voraussetzung, der die Erkenntnis der Schattenhaftigkeit der Filmbilder sowie die rationale Aufdeckung jener ›Unangemessenheit‹ des Symbols ermöglichen soll. Aus diesem Grund spart Klemperer dies »befreites, unirdisch gewordenes Leben« auf der Leinwand nur dem »Gebildete[n]«12 aus. So lässt sich das Kino als ein Refugium redefinieren, das den Intellektuellen einen vorübergehenden Rückzug aus dem wirklichen Leben gewährleisten soll. Beide Arten der Regression, die Klemperer hier konstatiert, sind gleichsam mit einem jeweils anderen Vorzeichen versehen. Das eine zielt auf die Identität bzw. Verwechslung des Bildes mit dem Realen ab, das andere auf eine Befreiung oder Emanzipation vom Realen durch das Bild. Die ›naive‹ Rezeptionsweise beruht auf einer Symbolform, die »als dunkel und unfrei zu bezeichnen ist«13 . Insofern unterliegt sie einem zwanghaften Charakter einer Realitätsillusion, »die bewegten Bilder als etwas wahrhaft Körperliches« zu nehmen und diesen »die Seele«14 abzufragen. Im Gegensatz hierzu zeichnet sich die zweite Art der Regression durch eine bewusste Vernachlässigung der abbildrealistischen Normen aus und demnach durch eine Befreiung gerade von der Wirklichkeit. Die symbolische Verknüpfung mit dem Wirklichen wird im ›Lichtspiel‹ radikal und ›barbarisch‹ abgebrochen bzw. zerstört. Gerade hierdurch können die filmischen Bilder als ›Erscheinungen‹ frei und spielerisch vorübergleiten. Beinah zeitgleich bringt Georg Lukács dieses ›Barbarische‹ in der zweiten Art der Regression ausdrücklich mit dem ›Kind‹ in Zusammenhang. Seinem frühen Aufsatz Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos (1911/13) gebührt mit vollem Recht der Titel einer Pionierarbeit, da er verschiedene Kernaussagen der späteren filmtheoretischen Klassiker vorbereitet bzw. vorwegnimmt. Dies ist unter anderem mit Blick auf Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/36)15 der Fall. In seinem Beitrag sieht Lukács ein wesentliches Merkmal des

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Ebd. Fr.Th. Vischer: »Das Symbol« (wie Anm. 1), S. 424 (Herv. im Orig. gesperrt). Klemperer: »Das Lichtspiel« (wie Anm. 8), S. 84. Dies trifft insbesondere auf das Motiv der »Gegenwart« (Lukács) und die Denkfigur der ›Aura‹ (Benjamin) zu, die dem Letzteren zufolge durch die technische Reproduzierbarkeit im Zeichen des Films zum Verfall verurteilt werden soll: »Zum ersten Mal – und das ist das Werk des Films – kommt der Mensch in die Lage, zwar mit seiner gesamten lebendigen Person, aber unter Verzicht auf deren Aura wirken zu müssen. Denn die Aura ist an sein Hier und Jetzt gebunden.« Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – Dritte Fassung« [1935/36], in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Re-

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Metaphorologie des Kinos

Kinos genauso wie Klemperer in der Schwerelosigkeit. Auf der Bühne, die »absolute Gegenwart« präsentiert, agieren leibhaftig und ›gegenwärtig‹ die »tatsächlich daseienden« lebendigen Darsteller. Im Gegensatz hierzu sind die filmisch lebensechten, jedoch zweidimensionalen »Gestalten […] nur Bewegungen und Taten von Menschen«16 : Die Welt des »Kino« ist ein Leben ohne Hintergrund und Perspektive, ohne Unterschied der Gewichte und der Qualitäten. Denn nur die Gegenwärtigkeit gibt den Dingen Schicksal und Schwere, Licht und Leichtigkeit: es ist ein Leben ohne Maß und Ordnung, ohne Wesen und Wert; ein Leben ohne Seele, aus reiner Oberfläche.17 Gerade das »Fehlen dieser ›Gegenwart‹« oder des Präsenzcharakters, das Lukács zufolge »das wesentliche Kennzeichen des ›Kino‹« darstellt, gewährleistet dem Medium die zentrale Eigenschaft seines »Wesen[s]«. Lukács versteht darunter »die Bewegung an sich, die ewige Veränderlichkeit, de[n] nie ruhende[n] Wechsel der Dinge«. Aus diesem Montageprinzip »reiner Oberfläche« lässt sich das »Grundgesetz der Verknüpfung« der Einstellungen, Szenen und Sequenzen ableiten: »die von nichts beschränkte Möglichkeit«. Diese grundsätzlich unbegrenzte »Möglichkeit« der diachron-syntaktischen »Komposition« nimmt als ihren Gegenstand die photorealistischen Erscheinungsbilder auf. Dank dieser Kombination vermag das Kino auch die unwahrscheinlichsten und in diesem Sinne unrealistischsten Szenarien ins Bild zu bringen. »›Alles ist möglich‹: das ist die Weltanschauung des ›Kino‹«. Aus diesem »Grundprinzip« der »Bilderfolgen des ›Kino‹« resultiert die Vorstellung verschiedener ›Wirklichkeiten‹, die das Konzept der einzigen und gerade deswegen für alle verbindlichen Wirklichkeit radikal relativieren soll: »›Alles ist wahr und wirklich, alles ist gleich wahr und gleich wirklich‹«18 .

16

17 18

produzierbarkeit, hg. von Burkhardt Lindner, Berlin: Suhrkamp 2013 (= Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe 16), S. 96-141, hier S. 117. Vgl. hierzu auch Schweinitz, Jörg: »Georg Lukács’ frühe ›Gedanken zu einer Ästhetik des Kino‹ (1911/13) und die zeitgenössische deutsche Debatte um das neue Medium«, in: Zeitschrift für Germanistik 11 (1990), S. 702-710, hier S. 707. Lukács, Georg: »Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos« [1913], in: Ders., Schriften zur Literatursoziologie, hg. von Heinz Maus und Friedrich Fürstenberg, 4. Aufl., Neuwied/Berlin: Luchterhand 1970 (= Werkauswahl 1), S. 75-80, hier S. 75 f. (Herv. im Orig.). Die ursprüngliche kürzere Fassung dieses Textes lässt einige zentrale Aussagen vermissen. Vgl. Lukács, Georg: »Gedanken zu einer Ästhetik des ›Kino‹« [1911], in: Jörg Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, S. 300-305. Zu Lukács’ Filmtheorie vgl. Levin, Tom: »From Dialectical to Normative Specificity: Reading Lukács on Film«, in: New German Critique (1987), Nr. 40, S. 35-61. Lukács: »Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos« [1913] (wie Anm. 16), S. 76 f. Ebd. (Herv. im Orig.).

5 Über die Regression zur Reflexion. Der Kinozuschauer als ›barbarisches Kind‹

Diese im Kino bewerkstelligten, von der Realitätsillusion abweichenden Parallelwelten fasst Lukács mit dem Begriff des »Phantastische[n]«19 zusammen. Hierfür nennt er einige typische Beispiele, die zweifellos auf seine persönlichen Kinobesuche zurückgehen und in zwei Sorten zu klassifizieren sind: die zugespitzte bzw. groteske Dingbeseelung einerseits und der Rücklaufeffekt andererseits. Um von den Ersteren nur zwei Exemplare anzuführen: »Erst im ›Kino‹ ist […] das Automobil poetisch geworden, etwa im romantisch Spannenden einer Verfolgung sausenden Autos«.20 Oder: »Die Möbel bewegen sich im Zimmer eines Betrunkenen, sein Bett fliegt mit ihm – er konnte sich noch im letzten Augenblick am Rande des Bettes festhalten und sein Hemd weht wie eine Fahne um ihn – über die Stadt hinaus.«21 Unverkennbar handelt es sich hier um den Kurzfilm Dream of a Rarebit Fiend (US 1906; vgl. Abb. 1), eine frühe Slapstickkomödie, die einer der US-amerikanischen Regiepioniere, Edwin S. Porter, mithilfe der Vorlage eines bekannten Cartoons herstellt.22  – Für den zweiten Typus des Phantastischen, den Rücklaufeffekt, gibt Lukács unter anderem das – auch von Ewers bevorzugte23  – Beispiel eines »Zigarrenstummel[s]«. Dieser wird »durch das Rauchen immer größer […], bis schließlich im Moment des Anzündens die unberührte Zigarre in die Schachtel zurückgelegt wird«24 . Das filmische Bild entspräche hier in der ›phantastischen‹ Welt des Kinos nicht – symbolisch – der einzigen, entweder abgebildeten äußeren oder fest geglaubten inneren Realität. Es weist vielmehr – allegorisch – eine der vielen virtuellen, die Realitätsillusion sichtlich konterkarierenden ›Wirklichkeiten‹ auf, die der jeweiligen »Bilderfolge« gerade passend erscheint. Mit Blick auf diese ›phantastische‹ Befreiung des Kinos vom verbindlich-verbindenden Wirklichkeitsdruck, die mit dem »Märchen« und dem »Traum«25 in Zusammenhang gebracht wird, ruft Lukács die ›Kind‹-Metapher auf den Plan:

19 20 21 22

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24 25

Ebd., S. 76. Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. Es ist wohl Karsten Witte, der die Filmquelle dieser Beschreibung zum ersten Mal identifizierte. Vgl. Lukács, Georg: »Gedanken zu einer Ästhetik des Kino« [1913], in: Karsten Witte (Hg.), Theorie des Kinos, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 142-148, hier S. 147, Anm. 3. – Klaus Kreimeier kontrastiert die Faszination des »Lebensphilosoph[en]« von der »poetische[n] Turbulenz einer entfesselten Dingwelt« mit dem marxistischen Angriff in Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) gegen die »›Entfremdung‹« bzw. »Verdinglichung der menschlichen Beziehungen im Zeitalter der industriellen Produktion und der gespenstischen ›Beseeltheit‹ der Materie«. Kreimeier, Klaus: Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des frühen Kinos, S. 100 f. Sowohl im Aufsatz Der Kientopp (1907) als auch im Roman Der Zauberlehrling oder Die Teufelsjäger (1909) nimmt Ewers dieses Motiv in Anspruch. Vgl. Ewers, Hanns Heinz: »Der Kientopp«, S. 13, sowie dens.: »Der Zauberlehrling oder Die Teufelsjäger«, S. 389 f. Lukács: »Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos« [1913] (wie Anm. 16), S. 79. Ebd., S. 77.

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Metaphorologie des Kinos

 

Abb. 1: »[S]ein Bett fliegt mit ihm …«: The Dream of a Rarebit Fiend (US 1906, R: Edwin S. Porter)

Im Theater, vor der großen Bühne des großen Dramas sammeln wir uns und erreichen unsere höchsten Augenblicke; im »Kino« sollen wir diese unsere Höhepunkte vergessen und verantwortungslos werden: das Kind, das in jedem Menschen lebendig ist, wird hier freigelassen und zum Herrn über die Psyche des Zuschauers.26 Hier geht Lukács explizit von dem ›Zweischichtenmodell der Psyche‹ aus, in deren innerer, tieferer und früherer Schicht bei »jedem Menschen« »das Kind« wohnhaft sei. Dieses ›Kind‹, das vor der Leinwand zum Vorschein kommen soll, verkörpert hier jedoch keine arglose Glaubensinstanz. Dieses ›Kind‹ fällt folglich anders als das ›naive‹ auf die Realitätsillusion nicht herein, identifiziert sich angesichts der sentimentalen Kinodramen mit dem Film nicht und vergießt infolgedessen auch keine Tränen. Statt des Weinens ist es hier vielmehr das Lachen, das dieses innere ›Kind‹ auszeichnet. Zur Voraussetzung hat dieses Lachen – im Gegensatz zum Weinen – eine Distanz zum Gegenstand, und diese rührt gerade aus dem ›Phantastischen‹ des Kinos her. Gibt dieses doch nicht das wirkliche »Leben« selbst wieder, sondern »ein[en] neu[en] Aspekt von ihm«: das Leben auf »einem fremden Abgrund«, d.h.

26

Ebd., S. 79 (Herv. im Orig.). Hier macht sich insofern wiederum eine terminologische bzw. metaphorologische Nähe zu Benjamins Kunstwerk-Aufsatz bemerkbar, als dort ebenfalls zwei einander entgegengesetzte Rezeptionsformen des Kunstwerks, »Zerstreuung und Sammlung«, herangezogen werden. Benjamin: »Das Kunstwerk« (wie Anm. 15), S. 136.

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ein Leben als »etwas Ferne[s], innerlich Distanzierte[s]« 27 . Für die filmisch-›phantastische‹ Distanz und das Lachen im Kino gibt Lukács ein anschauliches Beispiel einer dokumentarischen Aufnahme. Der Film fixiert die abzubildende Welt jedoch aus einer anderen, mehr oder weniger ungewöhnlichen und ›phantastischen‹ Optik der Kamera. Infolgedessen kann »auch das gewöhnliche Treiben der Straßen und Märkte einen starken Humor und eine urkräftige Poesie«28 erhalten. Dieser »Humor«, der ein Lachen im Kino auslösen kann, sticht durch zwei Charakteristika hervor, die sich auf den ersten Blick entgegenzustehen scheinen. Die Vorbedingung, dass man sich im Kino von der eigentlichen, verbindlichen Wirklichkeit distanziert, erlaubt es dem Zuschauer, völlig unbekümmert und »verantwortungslos« zu lachen. Lukács führt hier zwei Exemplare an: etwa im filmischen Anblick auf »einen gelungenen Streich« oder auf »das hilflose Nichtzurechtfinden eines Unglücklichen«29 . Aus diesem Grund bezeichnet Lukács die das Lachen hervorrufende Emotion des Zuschauers als »das naiv-animalische Glücksgefühl des Kindes«. Die ›Naivität‹, die hier beim Kinozuschauer zum Tragen kommt, verweist deswegen auf keine Gutgläubigkeit. Sie bezieht sich vielmehr auf ein ›tierisches‹ bzw. ›barbarisches‹, »verantwortungslos[es]« Lachen. Ungeachtet dieses ›Naiv-Animalischen‹ oder ›Barbarischen‹ geht das Lachen im Kino zum Zweiten – scheinbar paradox – von einer Reflektiertheit aus. Das Lachen des ›barbarischen Kindes‹ entspringt nicht einem Glauben an bzw. der Identifizierung mit dem Film wie das Weinen, sondern einem Wissen um die Distanz zur ›phantastischen‹ Filmwelt. Um »verantwortungslos« und ›barbarisch‹ lachen zu können, muss der Filmzuschauer von vornherein wissen, dass er im Kino eine der Realität abweichende ›phantastische‹ Welt zu sehen bekommt. Das innere ›Kind‹ bezieht sich von daher auch hier auf die reflexive Regression. Diese zeichnet sich jedoch anders als die Rückkehr in die frühe Symbolform nicht durch das ›Vorbehalten‹ dieser Reflektiertheit, sondern vielmehr durch diese selbst aus. Das ›barbarische Kind‹ lässt sich in diesem Sinne als ein Produkt der sich distanzierenden, potenzierten Reflexion zum Film interpretieren.

5.2

Der ›sentimentalische‹ Rückblick auf das Attraktionenkino – Hoddis, Döblin, Roth

Wie Lukács’ Auswahl der Filmbeispiele in seinem Aufsatz von 1911/13 aus der filmgeschichtlich vorangegangenen Periode bereits aufgewiesen haben soll, bezieht sich der zweite Regressionstyp weitgehend auf die frühe filmische Praxis. Obwohl (oder

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Lukács: »Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos« [1913] (wie Anm. 16), S. 76. Ebd., S. 78 f. Ebd., S. 79.

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Metaphorologie des Kinos

gerade weil) zu dieser Zeit der Langfilm oder das ›Kinodrama‹ bereits »zum Durchbruch«30 kommt, wird hier der Kurzfilm bzw. das Attraktionenkino bevorzugt herangezogen. Der von Lukács angesprochene »Zustand der Begriffsverwirrungen«31 betrifft in den wandelbaren Jahren der Anfangszeit auch die Bezeichnungen ›Kino‹ sowie ›Film‹ selbst. Während diese Begriffe von den einen auf das Kurzfilmprogramm des Kientopps gemünzt sind, meinen die anderen mit derselben Terminologie das relativ weitläufig erzählende ›Kinodrama‹. Diese Sachlage kompliziert sich einmal mehr, wenn der beim Gebrauch beabsichtigte Inhalt dieser Wörter der filmgeschichtlichen Periodisierung nicht exakt entspricht. Neben Lukács’ Pionierarbeit der frühen 1910er Jahre ist vor allem an zwei prominente Beispiele zu denken. Zum einen an das Gedicht, mit dem Jakob van Hoddis, so Heller, sein »kokettierende[s] Interesse […] an dem neuen Medium in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg«32 zeigen soll. Diese Verse finden in der Forschungsliteratur häufig unter dem Titel Kinematograph Erwähnung.33 In Wahrheit erscheint dieses Gedicht Schluß: Kinematograph als ein Teil des Zyklus Varieté,34 welcher dessen abwechslungsreiche Programmstruktur lyrisch simuliert. So nimmt das Gedicht auf das Attraktionenkino als die letzte Nummer eines Varietéprogramms Bezug. Die lyrisch geschilderten »schnellen Wechsel von Geschichten und Szenen – in einem Programm, das aus acht bis zehn verschiedenen Nummern bestand, keine länger als drei Minuten« – seien Elsaesser zufolge »typisch für das Kino in seiner Varieté-Phase«35 . Im Erscheinungsjahr dieses Gedichts 1911 ist jedoch gerade die »Kino-Gründungswelle« im Gange. Diese Konjunktur des Ladenkinos greift »1906/07« von Berlin aus »auf andere deutsche Städte« derart schnell über, »daß es schon 1910 reichsweit zwischen ca. 1.000 und 1.500 Kinos«36 gibt. Auf der Leinwand dieser Kinos kommt es außerdem »mit der Jahreswende 1910/11 […] zum 30 31 32

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34 35

36

Müller, Corinna: »Variationen des Kinoprogramms. Filmform und Filmgeschichte«, S. 60. Lukács: »Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos« [1913] (wie Anm. 16), S. 75. Heller, Heinz-Bernd: »Literatur und Film«, in: Thomas Koebner (Hg.), Zwischen den Weltkriegen, Wiesbaden: Athenaion 1983 (= Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 20), S. 161194, hier S. 183. Vgl. ebd. sowie Quaresima, Leonardo: »›Geil und gähnend‹. Der Schriftsteller als Filmzuschauer«, in: Irmbert Schenk (Hg.), Erlebnisort Kino, Marburg: Schüren 2000, S. 55-67, hier S. 55, Anm. 2. Im Gegensatz zu seiner Vorarbeit nimmt Heller in seinem Hauptwerk auf Hoddis’ Gedicht eingehender und sachgerechter Rücksicht. Vgl. Heller, Heinz-Bernd: Literarische Intelligenz und Film. Zu Veränderungen der ästhetischen Theorie und Praxis unter dem Eindruck des Films 1910-1930 in Deutschland, S. 30-32. Hoddis, Jakob van: »Varieté« [1911], in: Ders., Dichtungen und Briefe, hg. von Regina Nörtemann, Göttingen: Wallstein 2007, S. 10-15. Elsaesser, Thomas: »Kino der Kaiserzeit. Einleitung«, in: Ders./Michael Wedel (Hg.), Kino der Kaiserzeit. Zwischen Tradition und Moderne, München: edition text + kritik 2002, S. 11-42, hier S. 24. Müller, Corinna: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912, S. 29.

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Durchbruch des langen Spielfilms«, sodass »von einer regelrechten Filmlängeneuphorie«37 gesprochen werden kann. Vor dieser film- und kinogeschichtlichen Folie lässt das Gedicht Schluß: Kinematograph innerhalb des Varieté-Zyklus nicht nur auf Hoddis’ Interesse am Neuen schließen. Hier legt der Dichter vielmehr seine bewusst unzeitgemäße Entscheidung an den Tag. So wendet sich Hoddis von einer aktuell vonstattengehenden Entwicklung hin zum längeren Erzählkino ab und dem früheren »zentralen Forum«38 des Films in Gestalt des Varietés zu. Alfred Döblin, der andere »›Unzeitgemäße‹«39 , führt in seinem Berliner Programm von 1913 – zum Zweiten – diese Diskrepanz zwischen dem gewünschten Kino und dem gerade vorliegenden explizit vor Augen: Die Darstellung erfodert [sic!] bei der ungeheuren Menge des Geformten einen Kinostil. In höchster Gedrängtheit und Präzision hat »die Fülle der Gesichte« vorbeizuziehen. Der Sprache das Äußerste der Plastik und Lebendigkeit abzuringen. Der Erzählerschlendrian hat im Roman keinen Platz; man erzählt nicht, sondern baut. Der Erzähler hat eine bäurische Vertraulichkeit.40 Der »Kinostil«, den Döblin hier in seinem Appell An Romanautoren und ihre Kritiker propagiert, stützt sich gerade nicht auf das Erzähl-, sondern auf das Attraktionenkino bzw. das abwechslungsreich komponierte Kurzfilmprogramm des Kientopps. In diesem Zeitraum ist bereits das Erzählkino mit der Länge von einer Stunde gang und gäbe. Trotzdem verweist die Beschreibung des »Kinostil[s]« mit den Termini von »höchster Gedrängtheit« über »›die Fülle der Gesichte‹«41 bis hin zur »Lebendigkeit« offensichtlich auf Döblins Präferenz für die frühere Kurzfilmästhetik.42 37 38 39

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41 42

C. Müller: »Variationen« (wie Anm. 30), S. 60 f. Ebd., S. 46. Kleinschmidt, Erich: »Zwischenwege. Döblin und die Medien Film, Rundfunk und Fotographie«, in: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 2001, S. 401-419, hier S. 414. Döblin, Alfred: »An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm« [1913], in: Ders., Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, hg. von Erich Kleinschmidt, Olten/Freiburg im Breisgau: Walter 1989 (= Ausgewählte Werke in Einzelbänden), S. 119-123, hier S. 121 f. Der Ausdruck stammt aus Goethes Faust I, V. 520. Vgl. Kleinschmidt, Erich: [Kommentar zu:] »An Romanautoren und ihre Kritiker«, in: Döblin, Schriften (wie Anm. 40), S. 629 f., hier S. 630. Vom Befund, Döblins Konzeptualisierung eines »literarischen Kinostils« stütze sich gerade nicht auf die zeitgenössischen »Versuche des Langfilms«, sondern sei »unverkennbar dem frühen Kurzfilm-Kino abgeschaut«, gehen heute – spätestens seit Harro Segebergs Beitrag 1998 – viele namhafte Stimmen der einschlägigen jüngeren Döblin-Forschung aus. Segeberg, Harro: »Literarische Kino-Ästhetik. Ansichten der Kino-Debatte«, in: Corinna Müller/Harro Segeberg (Hg.), Die Modellierung des Kinofilms. Zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm 1905/06-1918, S. 193-219, hier S. 211 (Herv. im Orig.). Vgl. hierzu auch Kleinschmidt: »Zwischenwege« (wie Anm. 39), S. 403 f. Keppler-Tasaki zufolge bleibe Döblin der »frühen Stummfilmzeit […] bis weit in die 1930er Jahre hinein, bis zur Begegnung mit der Filmindustrie Hollywoods, verhaftet« (Keppler-Tasaki, Stefan: »Nachwort«, in: Alfred Döblin,

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Metaphorologie des Kinos

Außerdem lässt sich hier auch Döblins – zumindest zu diesem Zeitpunkt – ablehnende Haltung gegenüber dem seinerzeit zur Hegemonie gelangenden erzählenden Langfilm implizit erkennen. Auffällig herrscht in der Kinodebatte ab den 1910er Jahren die Diskrepanz zwischen zwei filmgeschichtlichen Vorstellungen über das Kino. Die gegenwärtig gegebene Gestalt des gewöhnlichen längeren Kinodramas oder Spielfilms soll zum einen für viele Schriftsteller strikt abzulehnen sein. Die vergangene oder zumindest marginalisierte Erscheinungsform des Kientopps bzw. des Kurzfilmprogramms wird zum anderen im Rückblick idealisiert und bisweilen heiß begehrt. Diese Distanz zwischen der vorhandenen Realität und der im Vergangenen ausgemachten Wunschvorstellung vergrößert sich im Laufe der Zeit zunehmend insbesondere in den literarischen Kreisen. So artikuliert sich verstärkt ab dem Ende des Ersten Weltkrieges die ›sentimentalische‹ Perspektive auf die frühen filmischen Praktiken in der metaphorischen Rede des Regressiven oder des ›Kindes‹. Es ist ferner zu bemerken, dass dieses ›Kind‹ als die Metapher für das Attraktionenkino häufig den ›barbarischen‹ Zug trägt. In dieser Figuration zeichnet sich der – je nach dem Standpunkt des Autors entweder markante oder unterschwellige – Wunsch ab, ›von vorne zu beginnen‹. Es geht gleichsam um ein rückwärtsgewandtes Verlangen, eine andere mögliche, jedoch nicht verwirklichte Entwicklung des Films wiederzugewinnen oder zumindest ›phantastisch‹ zu imaginieren. Diese Figuration stößt insbesondere unter den Schriftstellern auf Resonanz, die in den ›Kinderjahren‹ des Kinos eigene Kindheit oder Jugend verbrachten. Einige der Schriftsteller, die bereits in der vorliegenden Studie angesprochen wurden, schildern im ›sentimentalischen‹ Rückblick das frühe arkadische, jetzt unwiederbringlich verlorene Kino. Walter Hasenclevers Memoiren an seine Aachener Kindheit um 1900 bieten hierfür ein Paradebeispiel. Hasenclever (Jahrgang 1890) sehnt sich 1930 in seiner Erinnerung an sein erstes Filmerlebnis zusammen mit dem zu ihm liebevollen Großvater nach der ›naiven‹, gutgläubigen Rezeption des frühen Kinos zurück. Im Unterschied hierzu ruft Joseph Roth (Jahrgang 1894) in seinem Antichrist (1934) jedoch das kindliche Ich eher als ein wildes, freches und im obigen Sinne ›barbarisches‹ Wesen in Erinnerung. In seinem ersten Filmerlebnis reagiert er zwar als Kind – genauso wie Hasenclever – auf die eindringlich realistischen Filmbilder reflexartig und körperlich, als würde er das filmische Bild mit dem Abgebildeten verwechseln. Vor den Bildern der »auf uns zu« marschierenden »Regimenter« im »Krieg Rußlands gegen Japan« mussten »wir uns« ducken, um »die Tritte zu empfangen«43 . Diese ›naive‹ Reaktion auf die filmische Realitätsillu-

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Die Geschichte vom Franz Biberkopf, Dramen, Filme. Mit einem Nachwort von dems., Frankfurt am Main: Fischer 2015 [= Gesammelte Werke 20], S. 618-651, hier S. 622). Roth, Joseph: »Der Antichrist«, S. 578 f.

5 Über die Regression zur Reflexion. Der Kinozuschauer als ›barbarisches Kind‹

sion irritiert jedoch Roth rückblickend so sehr, dass er diese verlorene Arglosigkeit als »[m]eine erste Begegnung mit dem Antichrist«44 verwünschen muss. Der kinematographische Apparat bietet dem kindlichen Ich jedoch nicht allein die mit dem Realen verwechselbare und auf diese Weise die Menschheit irreführende »Fata Morgana«45 . Das Kino stellt vielmehr ein attraktives Schauspiel dar, das allerdings vor (und nicht: auf ) der Leinwand und hinter bzw. über dem Publikum abgespielt wird.46 Roth widmet der dispositiv-räumlichen Umgebung eines Zeltkinos sowie den apparativ-technischen Vorgängen im Vorfeld der Filmvorführung oder seiner »erste[n] Begegnung mit dem Antichrist« viele Zeilen. Dieser Textteil geht über eine sachliche Beschreibung weit hinaus und bringt mit reichlichen Einsätzen der metaphorischen Bildersprache einen poetischen, ›phantastischen‹ Eindruck hervor: Man hörte ein ganz unbekanntes Rattern und Surren und Summen und Wispern und Flüstern und Donnern einer fremden Gestalt. Und sah man hinter sich und über sich, so erblickte man eine Art von einem vielkantigen Kegel, dessen Ursprung und gewissermaßen Mutterschoß ein winziges, helles, viereckiges Loch war, umgeben von schwarzen Wänden, und der gleichmäßig und allmählich über den Köpfen der Menschen im fahlen Licht anschwoll, immer voller und immer eckiger, bis er die Leinwand erreichte und sie bedeckte, ganz wie wenn ein Fluß aus fahlem Schein in ein Meer aus Fahlheit mündete und dieses erst durch seine erhellte Fahlheit belichtete, daß es sichtbar werde als das, was es ist, nämlich als viereckiges Meer. Und man sah die Kreuz- und Querfäden dieses viereckigen, aufrecht stehenden, ausgespannten, trockenen Meeres.47 Hier lassen sich einerseits die Figur des »Mutterschoß[es]« sowie die Fluidal- bzw. Meeresmetaphorik beobachten. Diese scheinen allerdings anders als bei Benn in keiner spezifischen Beziehung zum Regressiven oder dem ›Thalassalen‹ zu stehen. Zum anderen fällt im Textstück insbesondere der akustische Eindruck des Projektors auf. Das »Geräusch« kommt jedoch, so imaginiert Roth, aus dem Lichtkegel selbst oder genauer davon, dass sich die Milliarden winziger Staubkörperchen, die in ihm wirbelten, aneinander rieben. Und das war unsern Ohren das Merkwürdige, daß so winzige Körperchen

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Ebd., S. 576. Ebd., S. 569. Helmut Peschina und Rainer-Joachim Siegel zufolge (»Nachwort«, S. 361) ist dies ein Aspekt, der auch Roths Kritiken auszeichnet: »Roths Interesse galt immer auch den Kinobesuchern, die Beschreibung des Publikums stand oft im Zentrum seiner Berichterstattung, ohne dass er überhaupt auf den vorgeführten Streifen einging.« Roth: »Der Antichrist« (wie Anm. 43), S. 576 f.

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Metaphorologie des Kinos

aus Staub und Nichts – und wären es auch ihrer Milliarden – ein solch hörbares Gesurr verursachen konnten.48 Hier scheint Tom Gunnings Feststellung, in den ersten Jahren der Aufführung sei das Kino selbst eine Attraktion,49 eine weitere Bestätigung zu finden. Im ersten Filmerlebnis wird das kindliche Ich zwar vom Kino selbst fasziniert, jedoch nicht von dessen scheinbar zentraler Leistung der Realitätsillusion. Der kleine Zuschauer wird vielmehr von seinem technischen Funktionsprozess angezogen, der durch die kindlich zerstreute ›Phantasie‹ in ein magisches Schauspiel der »Milliarden winziger Staubkörperchen« umgewandelt wird. Der Blick des Kindes wendet sich ungezwungen auf mancherlei Richtung hin und erschließt eine ›phantastische‹ Perspektive, die sogar gegenüber anderen Sinnesreizen als dem Sichtbaren radikal aufgeschlossen ist. Diese zerstreute Aufmerksamkeit des ›Kindes‹ könnte aus dem Erlebnis des kinematographischen Dispositivs ›allegorisch‹ vielfältige ›neue Aspekte‹ schöpfen. Wenig später wird sie aber dann vom eigentlichen Inhalt des Films, der optischen Realitätsillusion, beschlagnahmt und so gut wie gleichgeschaltet, sobald die Filmvorführung anfängt. Da »eine menschliche Musikkapelle Märsche und Walzer zu spielen« beginnt, wird »das Gesurr der Staubmoleküle« übertönt: Und als die ersten lebendigen Schatten auf dem viereckigen, aufrecht stehenden, trockenen Meer erschienen und die Musik dazu Märsche und Walzer spielte und die Pauke schlug und die Tschinellen klingelten, hörten wir nicht mehr das Surren der miteinander kämpfenden Staubmoleküle innerhalb des viereckigen Kegels.50 Die technische Attraktion der kinematographischen Apparatur soll dem Kind jedoch von vornherein gewährleisten, sich von der illusionistischen Fata Morgana zu distanzieren. Dank der ›allegorisch‹ zerstreuten Beobachtung vor der Filmvorführung durchschaut das kindliche Ich die Illusion der »täuschend« realitätsnahen Figuren auf der Leinwand (»Ja, sie waren Schatten!«). Infolgedessen erkennt es jetzt glasklar, »daß über unsere Köpfe hinweg, eben aus dem winzigen, viereckigen Loch, dem Geburtsort des staubigen Kegels, auch die großen, lebendigen Schatten ihr Leben und ihre Hurtigkeit gewannen«51 . Roths verteufelnde Argumentationen im Antichrist sind in Wahrheit weniger gegen das kinematographische Dispositiv selbst gerichtet, das vor der Leinwand eine kuriose und ›allegorisch‹ mehrdeutige

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Ebd., S. 577. Gunning, Tom: »The Cinema of Attractions. Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde«, S. 58: »Early audiences went to exhibitions to see machines demonstrated (the newest technological wonder, following in the wake of such widely exhibited machines and marvels as X-rays or, earlier, the phonograph), rather than to view films.« Roth: »Der Antichrist« (wie Anm. 43), S. 577. Ebd.

5 Über die Regression zur Reflexion. Der Kinozuschauer als ›barbarisches Kind‹

Attraktion zur Schau stellen kann. Sein Feind ist und bleibt vielmehr die Realitätsillusion, die auf dem ›naiven‹, »unfrei verwechselten«52 Symbol basiert. In dieser Perspektive erscheint es bedeutungsschwer, dass diese Kindheitserinnerung mitten in die rigorose Kritik am »Reich des Schattens«53 bzw. an Hollywood eingebettet ist. Das klassische Kino, das seit den 1910er Jahren an der Westküste der Vereinigten Staaten vervollkommnet wird, sieht durch intensiven Einsatz der »filmischen Mittel« »auf die Wirkung der Transparenz« ab. Es bemüht sich unermüdlich und mit Erfolg darum, dass der technisch-dispositive Illusionscharakter einer Fata Morgana von den Zuschauern »möglichst wenig (wenn überhaupt) bemerkt«54 wird. Die ausführliche Beschreibung der ›phantastisch‹ figurierenden technischen Attraktion des Kinos lässt sich in dieser Hinsicht als ›sentimentalische‹ Reminiszenz an die frühe Praktik verstehen. Die überaus detailreiche Deskription der kindlichen Imagination, die auf den ersten Blick überflüssig anmuten dürfte, soll andeuten, dass potenziell eine andere Zukunft des Kinos hätte entfalten können.

5.3

»… wie lächerlich es ist, ein erwachsener Mensch zu sein«. Der ›Weg des Affen‹ zur regressiv-reflexiven Filmrezeption bei Kurt Tucholsky

Im kinobezogenen Werk von Kurt Tucholsky überlagert sich der medienarchäologisch ›sentimentalische‹ Rückblick auf das frühe Kino oder den Kientopp mit der regressiven Sehnsucht nach dem wiederzugewinnenden ›inneren Kind‹. In verschiedenen filmischen Phänomenen spürt der Schriftsteller unentwegt den für das Attraktionenkino typischen Aspekten nach. Denn gerade diese Erscheinungsform soll dem Zuschauer zu einer positiv gewendeten ›barbarischen‹ bzw. ›primitiven‹ Kraft eines ›Kindes‹ verhelfen, ›von vorne zu beginnen‹. In der Forschung gilt Tucholsky lange als Filmgegner, der »Ressentiments gegen das Kino« hegen soll. Tatsächlich scheint von seinen ersten Texten zum Thema Kino mit ablehnendem Tenor (1912/13) bis zu den späten Verdikten gegenüber dem Tonfilm um 1930 eine Brücke geschlagen zu werden. Es lässt sich in der ersten Hälfte der 1920er Jahre zwar »[d]ie intensive Beschäftigung mit Chaplin« feststellen. Hierbei soll es sich jedoch etwa für Wilhelm Greiner nur um eine temporäre und kurzlebige Begeisterung handeln. Demzufolge soll Tucholsky in diesem Zwischenspiel seine beharrliche Abneigung gegen das Kino lediglich vorübergehend

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Fr.Th. Vischer: »Das Symbol» (wie Anm. 1), S. 431. Roth: »Der Antichrist« (wie Anm. 43), S. 573. Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, S. 29.

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»vergessen (oder: verdräng[en])«.55 Mit Blick auf »[s]eine prinzipielle Ablehnung des Mediums Film«56 scheinen Tucholskys spätere kinobezogene Tätigkeiten nur noch einige kleine, unerhebliche Episoden darzustellen. Gemeint sind damit hier sowohl das Engagement für den Ehrenausschuss des linksbürgerlichen ›Volksverbandes für Filmkunst‹ (1928) als auch die Arbeit am – nicht realisierten – Drehbuch Seifenblasen (1931). In dieser Einschätzung der Forschung lässt sich nochmals ein ›Zustand der Begriffsverwirrungen‹ ausmachen. Denn Tucholskys Abscheu trifft in Wahrheit auf ein zwar überaus hegemoniales, jedoch nur bestimmtes Format des Films zu: den narrativen Langfilm bzw. das Kinodrama. In dieser Hinsicht kann sich seine Aversion in der Tat bisweilen erheblich steigern. Wenn die Filmproduktion der Vorkriegszeit bei der Herstellung eines Kinodramas »die gemeinste Spekulation auf die Sensation«57 aufweist, steht der Jurist Tucholsky dezidiert auf der Seite der strengen Filmzensur.58 Für die vorliegende Untersuchung ist es außerdem nicht uninteressant, dass sich Tucholskys Stellungnahme gegenüber der Zensurfrage durchgehend in der metaphorischen Rede des ›Kindes‹ artikuliert. Die ›Kind‹-Figur wird in diesem Zusammenhang jedoch, dem kinoreformerisch-paternalistischen Deutungsmuster folgend, gemeinhin als etwas Schutzbedürftiges angesehen. So formuliert Tucholsky 1913 sein Plädoyer für die Filmzensur in der kurzen Reportage über seinen Besuch des Berliner Polizeipräsidiums, in dem Filme gerade zensiert werden: »Die Filmzensur ist nötig. Weil Kinder eine starke Hand nötig haben.«59 Auch nach dem Ersten Weltkrieg, als sich Tucholskys Würdigung der Filmzensur relativiert (1920: »Wir sind kein Volk von kleinen Kindern«60 ), weicht er mit seinem ablehnenden Urteil gegenüber dem gängigen Film nicht von der Stelle. Die in diesem Kontext häufig zitierte Bemerkung, der Film habe mit der Kunst nichts

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Greiner, Wilhelm: »Bei euch in Amerika – bei uns in Europa«. Kurt Tucholskys Amerikabild, Hildesheim: Olms-Weidmann 1994, S. 56. Kiefer, Sascha: [Kommentar zu:] »Tell im Tonfilmatelier«, in: Kurt Tucholsky, Gesamtausgabe. Texte und Briefe, Bd. 13: Texte 1930, hg. von dems., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003, S. 689692, hier S. 689. Tucholsky, Kurt: »Kinomüdigkeit« [27. Mai 1913], in: Ders., Gesamtausgabe. Texte und Briefe, Bd. 1: Texte 1907-1913, hg. von Bärbel Boldt, Dirk Grathoff und Michael Hepp, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 205 f. Er widmet sogar seine kleine Reportage des Berliner Polizeipräsidiums dem Literatursachverständigen Prof. Karl Brunner, der für Theater- und Filmzensur zuständig ist. Vgl. Tucholsky, Kurt: »Verbotene Films« [1913], in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 1 (wie Anm. 57), S. 302-307, hier S. 302. Ebd., S. 307. Tucholsky, Kurt: »Kino-Zensur« [1920], in: Ders., Gesamtausgabe. Texte und Briefe, Bd. 4: Texte 1920, hg. von Bärbel Boldt, Gisela Enzmann-Kraiker und Christian Jäger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996, S. 400-404, hier S. 403.

5 Über die Regression zur Reflexion. Der Kinozuschauer als ›barbarisches Kind‹

zu tun (1919),61 wird hier jedoch mit Blick auf eine spezifische Gattung unter den Kinodramen besprochen: den Aufklärungsfilm. Überschwemmen die Filme dieses Genres doch regelrecht den Markt, nachdem 1918 »die Filmzensur in Fortfall gekommen ist«62 . Tucholskys Angriff richtet sich insofern nicht gegen das Medium des Films als solches, sondern stets gegen dessen bestimmte, allerdings vorherrschende Praxis. Eine künstlerisch ›veredelnde‹ Absicht eines Autorenfilms reizt seinen Widerwillen umso mehr. Die beiden ersten Beiträge Tucholskys zur kinematographischen Thematik um 1912/13 weisen bereits seine dezidierte Ablehnung des Aufwertungsversuches des Kientopps auf. Seine allererste Stellungnahme zur kinematographischen Thematik (Film, 30. Mai 1912)63 enthält eine ironische Anspielung auf Felix Holländers verfilmten Roman (Der Eid des Stephan Huller). Sein zweiter literarischer Bezug auf das Kino aus Anlass der Produktion des Autorenfilms, Max Macks Der Andere (DE 1913, B: Paul Lindau, D: Albert Bassermann u.a.), bringt jedoch einen bemerkenswerten künstlerischen Einfall an den Tag. Hier beim Kleinkunststück Kino (6. Februar 1913) wird ein lyrischer Spott mit dem Hauptdarsteller des Films, Albert Bassermann, getrieben. Dieser Sarkasmus kommt gerade durch ein kinematographisches Mittel zum Tragen. Wird dem Spottgesang doch eine nachfolgende Regieanweisung vorangestellt: Die Musik spielt: »Komm in meine Lie–bäs–lau–bee«, und auf dem Film erscheint die Charlottenburger Chaussee vom Großen Stern aus gesehen. Ganz hinten am Brandenburger Tor bewegt sich ein kleiner Punkt, er wird größer, deutlicher, er ist ein laufender Mensch, und als dieser so groß geworden ist, daß er die ganze Leinwand einnimmt und man schon seine Rockknöpfe begutachten kann, durchbricht prasselnd ein lebender Schauspieler, etwa Oskar Sabo, von hinten den aufgespannten Rahmen. Der Film erlischt, im Zuschauerraum wird es hell. Tusch.64 Dieser Anweisung folgt der Gesangstext, der vom aus der zweidimensionalen Filmwelt in den realen Bühnenraum plötzlich hervortretenden »lebende[n] Schauspieler« vorgetragen werden soll: Ick bin dea Kintopp-Willem! Und komm grad aus dem Fillem! […] Der Kintopp zieht uns alle an –

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Tucholsky, Kurt: »Die Prostitution mit der Maske« [1919], in: Ders., Gesamtausgabe. Texte und Briefe, Bd. 3: Texte 1919, hg. von Stefan Ahrens, Antje Bonitz und Ian King, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 139-142, hier S. 141. Ebd., S. 139. Tucholsky, Kurt: »Film« [1912], in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 1 (wie Anm. 57), S. 59. Tucholsky, Kurt: »Kino« [1913], in: Ebd., S. 139-141, hier S. 139.

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Selbst Bassermann, selbst Bassermann. Der Kintopp zieht uns an – Selbst den Bas – ser – mann.65 Tucholsky entwirft hier ein Stück der ›Bühnenschau‹, d.h. der »Mischung von Filmund Live-Darbietungen des ›Kino-Varietés‹, das besonders Anfang der 1920er Jahre sehr populär wurde«. Sein Versuch gilt in zweierlei Hinsicht als experimentell. Zum einen stellt der Entwurf insofern einen recht frühen Ansatz zu dieser Aufführungspraxis dar, als »die Film-Live-Shows erst 1913 aufkamen«66 . Bezeichnenderweise wird die Medienkritik gegen den Film hier zum Zweiten weder in publizistischer Weise noch durch traditionelle Kunstarten etwa der Literatur oder des Theaters geübt, sondern durch einen anderen Film. Diese Herangehensweise einer experimentellen Medienkunst avant la lettre scheint die Mediengrenze des Films herauszufordern.67 Diese performative Satire auf einen bestimmten Typus des Films organisiert sich gerade als eine Filmvorführung, die auf einer qualitativ anderen Praktik beruht. Die Methode des ›Kino-Varietés‹ stammt jedoch in Wahrheit aus der früheren historisch-medienarchäologischen Periode, in der die vermeintliche Medienspezifik des Films noch nicht komplett perfektioniert ist. Seinerzeit ist der narrative Aspekt nichts mehr als eine der vielen möglichen Optionen des Kinos. Der erzählende klassische Langfilm sollte erst gut ein Jahrzehnt später nach der Geburt des Kinos gebildet und am Ende flächendeckend praktiziert werden. So lässt sich dieser aufführungstechnische Rekurs auf die frühere zentrale Abspielstätte des Films, das Varieté, auch in formaler Hinsicht als eine kritische Antwort auf den Autorenfilm werten.68 Kommt dieser doch als Versuch der künstlerischen Erhebung oder

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Ebd., S. 140. Zu Ende der Vorführung soll der Schauspieler gleichsam wieder ›in den Film‹ zurückgehen: »Nach exekutiertem Tanz ab durch die Mitte«, so die letzte Regieanweisung (ebd., S. 141). C. Müller: Frühe deutsche Kinematographie (wie Anm. 36), S. 350, Anm. 297. Mit der experimentellen Filmperformance Laura (Rōra, JP 1974) inszeniert der japanische Dichter und Filmmacher Terayama Shūji eine ähnliche Grenzüberschreitung gleichsam in der umgekehrten Reihenfolge. Auf der Leinwand sieht man zuerst drei weißgeschminkte, spärlich bekleidete Frauen, die dem Parterre frontal gegenüberstehen und sich über das Publikum lustig machen. Auf ihre Provokation hin springt ein Zuschauer bzw. Performer dann aus dem Parkett durch einen Schlitz in die Leinwand hinein, um im Film von den Damen gewaltig ausgezogen und dann pudelnackt nach außen in den Zuschauerraum zurückgeworfen zu werden. – Bei japanischen Personennamen wird dortigen Gebräuchen gemäß der Familienname dem Vornamen vorangestellt. Jan Berg zufolge nimmt dieses »Programmgenre« sogar »[a]m selben Abend« wie die Premiere eines anderen gefeierten Autorenfilms, Der Student von Prag (DE 1913, R/B: Hanns Heinz Ewers, D: Paul Wegener u.a.), d.h. am 22. August 1913, seinen Anfang, vgl. Berg, Jan: »Die Bühnenschau – ein vergessenes Kapitel der Kinoprogrammgeschichte«, in: Knut Hi-

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Verfeinerung der unterhaltungsorientierten Ästhetik des Kientopps bzw. des Attraktionenkinos zum Vorschein. Die ›Bühnenschau‹, die einen der ersten Filmbezüge in Tucholskys Schriften überhaupt darstellt, prägt auf diese Weise einen Prototyp für seine weiteren schriftstellerischen Stellungnahmen zum Thema Kino. Dem gerade vorherrschenden Genre des Kinodramas oder des narrativen Langfilms wird im Rekurs auf die frühere filmische Produktions- bzw. Aufführungsmethode, das Attraktionenkino, relativiert. Das frühe, vermeintlich primitive Kino bietet in diesem Sinne ein Reflexionsmedium gegenüber dem Status quo des Kinematographenwesens, der gerade dadurch der Lächerlichkeit preisgegeben wird. In dieser medienkritischen Strategie stellt sich bereits offensichtlich heraus, dass Tucholskys sogenannte »Ressentiments gegen das Kino« mitnichten gegen dieses Medium selbst gerichtet sind. Kritisiert wird bei ihm lediglich das hegemoniale filmische Erscheinungsbild, vor dessen Negativfolie das vorangegangene Attraktionenkino umso bestechender hervortreten soll. Das frühe Attraktionenkino liefert für Tucholskys Medienkritik den Stütz- und Referenzpunkt, indem es einen idealisierten Status und eine weiterhin zurückzugewinnende Filmpraktik darstellt. Die wesentlichen Aspekte, welche diese früheren filmischen Verfahren auszeichnen sollen, gehen jedoch nur scheinbar verloren und leben für Tucholsky wenigstens in Komödien weiter. Im selben Jahr wie die Bühnenschau verfasst Tucholsky eine Lobeshymne auf zwei französische Schauspieler, Charles (in Deutschland: Moritz) Prince69 und Max Linder. Sie sind in seinen Augen die Filmkomiker, »die das Wesen, die Gesetze, den Rhythmus, das Tempo des Kinos begriffen haben«. Der Inbegriff des Kinos besteht für Tucholsky vor allem in der Kürze des Films, die zu einem abwechslungsreichen Kurzfilmprogramm am besten geeignet ist: »[D]rei Minuten, Parodie, Groteske, übermenschliche Handbewegungen, ein lächelnder Mund, aber kein gesprochenes Wort, Freude, Versuch, Hoffnung, Glück, Fall, Bums, Niederlage, Hühneraugen. Drei Minuten.«70 Die wenigen Filme, denen Tucholsky das Prädikat ›Kunst‹ zubilligt, stechen für ihn gerade wegen der ›grotesken‹ Schaubudenästhetik hervor. Beim CaligariFilm (Das Cabinett des Dr. Caligari, DE 1919, R: Robert Wiene) unterstreicht

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ckethier (Hg.), Filmgeschichte schreiben. Ansätze, Entwürfe und Methoden. Dokumentation der Tagung der GFF 1988, Berlin: Edition Sigma Bohn 1989, S. 25-40, hier S. 25. Claire und Wolfgang bekommen in einem Kino in Rheinsberg eine Slapstickkomödie mit Charles Prince (Moritz lernt kochen) zu sehen und zeigen während des Kurzfilmes ein für das Publikum des Attraktionenkinos typisches Verhalten: Inmitten der Vorführung plaudern sie ununterbrochen miteinander: »Die Claire konnte sich nicht beruhigen: sie fragte, wollte alles wissen.« Tucholsky, Kurt: »Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte« [1912], in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 1 (wie Anm. 57), S. 94-125, hier S. 114. Tucholsky, Kurt: »Moritz und Max« [1913], in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 1 (wie Anm. 57), S. 356 f.

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er in erster Linie die bewusst »unwirklich« gestaltete »Traumwelt« der Kulisse, d.h. die »schiefen, verqueren, hingehauenen Häuser[…]«71 . Die ›primitiven‹ Aspekte dieses Films würden eine emotionale Identifizierung etwa mit der mitunter sentimentalen Handlung eines klassisch und realistisch verfeinerten Kinodramas sichtlich konterkarieren. Seine Vorliebe für das frühere Kurzfilmprogramm spielt auch in seiner Begeisterung für Chaplins Filme eine eminente Rolle. In seiner Chaplin-Eloge Der berühmteste Mann der Welt (1922) werden das an eine frühere Kurzfilmästhetik erinnernde Tempo bzw. die Geschwindigkeit der filmischen Vorgänge hervorgehoben. Die Ereignisse dauern »nur einen Augenblick«, und es »geht alles ganz rasch vorüber, wird mit den sparsamen Mitteln exekutiert«72 . Tucholskys eindeutige Bevorzugung der ›primitiven‹ Ästhetik eines Jahrmarktkinos oder eines Kientopps rührt nicht allein von seiner persönlichen Neigung oder seinem Geschmack her. Darüber hinaus weist der Vorrang des Attraktiven auf sein Verständnis um die Bedeutung des filmischen Mediums hin. Gerade die von Tucholsky geschätzte Art des Films löst mit ihren reichlichen kurzfilmästhetischen Elementen eine medienarchäologische Würdigung des frühen Films aus. Diese andere, im gewissen Sinne nostalgische bzw. regressive Sichtweise soll gleichzeitig eine Distanzierung und Reflexion gegenüber der aktuell gegebenen medialen Wirklichkeit ermöglichen. So sprechen die dem Kientopp vergleichbaren Aspekte von Chaplins Slapstickkomödien für Tucholsky, der übrigens mit dem »Medium Film […] fast gleichaltrig«73 ist, das ›innere Kind‹ im Erwachsenen an: Man sagt, daß er alle seine Filme probeweise Kindern vorspiele. Wenn das nicht wahr ist, ist es brillant erfunden. Denn diese Filme mit der nachdenklichen Komik, mit der lustigen Tragik wenden sich an das Kind im Menschen, an das, was wohl bei allen Völkern gleich geblieben ist: an die unverwüstliche Jugendkraft. Er stellt das primitivste dar, aber das genial. Und er zeigt, wie lächerlich es ist, ein erwachsener Mensch zu sein, der sich ernst nimmt.74

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Tucholsky, Kurt: »Dr. Caligari« [1920], in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 4 (wie Anm. 60), S. 101-103, hier S. 101 f. Tucholsky, Kurt: »Der berühmteste Mann der Welt« [1922], in: Ders., Gesamtausgabe. Texte und Briefe, Bd. 5: Texte 1921-1922, hg. von Roland und Elfriede Links, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 436-440, hier S. 437. Habel, Frank-Burkhard: »›Der Film hat mit der Kunst nichts zu tun‹. Kurt Tucholsky und das Medium Film«, in: Friedhelm Greis/Ian King (Hg.), Tucholsky und die Medien. Dokumentation der Tagung 2005: »Wir leben in einer merkwürdigen Zeitung«, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2006, S. 67-82, hier S. 67. Tucholsky: »Der berühmteste Mann« (wie Anm. 72), S. 439.

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Wenn hier auch von der ›Jugend‹ und ›Primitivität‹ – »zwei der wichtigsten [Schlagworte] in der damaligen Amerika-Diskussion«75  – gesprochen wird, hängt dies weniger mit dem Amerikanismus-Diskurs zusammen. Ungleich deutlicher zeichnet sich hier vielmehr jenes ›Zweischichtenmodell der Psyche‹ ab, das Lukács bereits 1911/13 im Filmzuschauer ausfindig machte. Außerdem sieht Tucholsky genauso wie Hofmannsthal auf der inneren, tieferen, früheren und somit ›kindlichen‹ Schicht keine Schranken unter Individuen, geschweige denn unter »Völkern«. Im Anblick des wiederbelebten Attraktionenkinos à la Chaplin soll sich die Regression ins ›Primitive‹ in Bewegung setzen. Der ›Wurzelgrund‹ wird hier jedoch anders als bei Hofmannsthal nicht lebensphilosophisch mystifiziert, sondern als ein Vorbote des pazifistischen Ideals einer Völkerverständigung gefeiert. Immerhin ist es hier bezeichnenderweise keine progressive Vorstellung einer Internationale, sondern gerade das Regressive im Filmerlebnis, das eine regelrecht idealisierte Stellung einnimmt. Für Tucholsky stellt das Kino ein Medium dar, das sich auf keine falsche – künstlerisch, literarisch, dramatisch oder wirtschaftlich – fortschrittliche Richtung hin entwickeln sollte. Diese Überzeugung teilt er etwa mit dem Filmkritiker Hans Siemsen, der 1921 durch einen Weltbühne-Artikel eine Kontroverse auslöst. Dieser weitere Verehrer Chaplins76 irritiert das deutsche Filmwesen, da er die deutschen historischen Monumentalfilme der Nachkriegszeit als »protzig und teuer, aber langweilig und hohl«77 moniert. In dieser Debatte setzt sich Tucholsky als Peter Panter ausdrücklich mit einem gleichnamigen Artikel Für Hans Siemsen78 ein. Dies geschieht nicht zuletzt deswegen, weil Siemsen im Artikel mit Elan versichert, dass »Einfachheit und vor allem Naivität Grundbedingungen eines guten Films sind«79 . Diese wiedergefundene ›Naivität‹ verweist jedoch für Tucholsky nicht auf eine Wiederkehr der sich mit der filmischen Diegese identifizierenden Leichtgläubigkeit. Beim Regressiven im Zeichen des Attraktionenkinos handelt es sich um keine passive Akzeptanz, sondern vielmehr um eine aktive Distanzierung und Reflexion. Man kehrt in die Ebene des ›inneren Kindes‹ zurück, um aus dem gewissen Reflexionsabstand sich selbst als Erwachsenen betrachten und belachen zu können. Demnach lässt sich auch bei Tucholsky im Regressiven der Aspekt feststellen, der genauso wie bei Lukács auf den ersten Blick paradox anmuten dürfte. Der Filmzuschauer regrediert in das ›kindliche‹ Stadium, um sich von der gegebenen Wirk75 76 77 78 79

Greiner: »Bei euch« (wie Anm. 55), S. 47. Drei Jahre später sollte Siemsen eine Artikelsammlung Charlie Chaplin publizieren. Siemsen, Hans: Charlie Chaplin, Leipzig: Feuer 1924. Siemsen, Hans: »Die Filmerei«, in: Die Weltbühne 17 (1921), S. 101-105, hier S. 103. Tucholsky, Kurt: »Für Hans Siemsen« [1921], in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 5 (wie Anm. 72), S. 28-31. Siemsen: »Die Filmerei« (wie Anm. 77), S. 104.

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lichkeit der Erwachsenen – im Allgemeinen – und der bestehenden Form des erzählenden Langfilms – im Besonderen – zu distanzieren. Auf diese Weise ist man in der Lage, aus der anderen ›phantastischen‹ Perspektive die ›erwachsene‹ Realität einer Reflexion zu unterziehen. Wenn es konkret auf die kinematographische Angelegenheit ankommt, so ermöglicht die Regression eine Medienreflexion, deren Referenzpunkt für eine andere ›phantastische‹ bzw. ›allegorische‹ Sichtweise das Attraktionenkino bietet. Das frühe Kino als die ›Kinderzeit‹ des Mediums oder als ein Medium seiner eigenen Kindheit gewährleistet Tucholsky eine distanzierte, jedoch lustvolle, weil befreiende Reflexion des ›erwachsenen‹ Films. Tucholsky schlägt in manchen Texten eine bestimmte Art der Filmrezeption vor, die im gewissen Sinne als ein regressives Erlebnis aufzufassen ist. Zumal diese Filmrezeption eine ›barbarische‹ Destruktion der narrativen Geschlossenheit des Spielfilms zur Voraussetzung hat. Infolgedessen erscheint ein Kinodrama für den Filmzuschauer als disparate Fragmente. Des Weiteren sollen diese dem Zuschauer eine andere, ›allegorische‹ und ›phantastische‹ Betrachtungsweise der angeblich fortgeschrittenen ›erwachsenen‹ (Medien-)Wirklichkeit ermöglichen. Diese spezifische Sichtweise beschränkt sich für Tucholsky nicht auf die Filme des »Ausnahmemenschen wie Chaplin«80 . Denn es handelt sich weniger um die Produktion bzw. um die Filme selbst, die einem gut oder schlecht erscheinen können, sondern vielmehr um die spezifisch aktive Rezeptions- und Sichtweise des jeweiligen Films. Im Folgenden soll abschließend ein Artikel herangezogen werden, der seine subtile, aber ›barbarische‹ Auffassung des Films auf den Punkt bringt. Der Text soll die ›allegorische‹ Filmrezeption bei Tucholsky beleuchten, die im medienarchäologischen Rückblick ins Attraktionenkino und im Zeichen des onto- wie phylogenetisch Regressiven praktiziert wird. Die Rede ist vom Weltbühne-Beitrag Deutsche Kinodämmerung? von 1920. In dem Jahr ist das Importverbot der amerikanischen Filme noch nicht aufgehoben, und Tucholsky kann sich naturgemäß noch keinen Chaplin-Film anschauen. Stattdessen geht es im Text um einen Film italienischer Produktion aus dem Jahr 1916, Die Letzte Galavorstellung des Zirkus Wolfson (Il circo della morte). Der Film, der vom dänischen Regisseur Alfred Lind in Italien gedreht wird und auch unter dem alternativen Titel Zirkus Wolfsons letzte Galavorstellung bekannt ist, wird während des Ersten Weltkrieges in Deutschland durch Zensur verboten und erst 1920 vorgeführt. Im Programm der Ufa steht der Streifen als »[g]roßes Sensations-Drama in sechs Abteilungen«81 überschrieben, und das »Programmheft« (vgl. Abb. 2) hat anscheinend auch Tucholsky in der Hand. Gegen die

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Tucholsky, Kurt: »Rundfunkzensur« [1928], in: Ders., Gesamtausgabe. Texte und Briefe, Bd. 10: Texte 1928, hg. von Ute Maack, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 158-162, hier S. 161. Greve, Ludwig/Pehle, Margot/Westhoff, Heidi (Hg.): Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm, S. 81.

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abratenden Worte seines »dicke[n] Freund[es] Kie« – »aber Peter! […] Ein Mann in Ihrem Alter –!« – geht Tucholsky trotzdem ins Kino. Allerdings interessiert ihn keineswegs dieser Spielfilm als eine in sich geschlossene Narration bzw. der im Heft angekündigte »Inhalt«: »Zirkusmädchen bekamen Kinder, begruben dieselben und weinten edlen Fürstensöhnchen nach«82 . Die Besprechung im Kinematograph macht in der Diegese dieses Filmes eine »Fülle neuer, kaum je gesehener hochdramatischer, spannender, schöner und fesselnder Ueberraschungen«83 aus. Gleichwohl nimmt Tucholsky überhaupt keine Rücksicht auf die Handlung, aufgrund derer »die Leinewand in Sentimentalität« schwimme: »Aus dem Programmheft ging hervor, daß dieser [Film] auch einen Inhalt hat – ich habe gar nicht darauf geachtet.«84 Entgegen der Intention der Produzenten sowie der lautstarken Werbung ist es nicht die Handlung des Films, die Tucholsky zum Kinogang anreizt, sondern vielmehr seine »alte, tief eingewurzelte Liebe zum Kitsch«85 . Das willkommene Kitschige stimmt in diesem Artikel so gut wie restlos mit den Elementen der Kurzfilmästhetik bzw. des Attraktionenkinos überein. Tom Gunning macht in seinem begriffsstiftenden Essay über das Attraktionenkino im Film einer Verfolgungsjagd eine Synthese des Attraktionen- und narrativen Kinos aus.86 Durchaus kongenial hebt Tucholsky eine Szene hervor, wo ein Affe »mit einem kleinen Kind auf einen Fabrikschornstein« klettert und von einer jungen Frau verfolgt wird: »Die große Szene hatte ihre Qualitäten: der Affe nahm das Kind, ein wirkliches, schreiendes Bündel (das sich hier und da bemerkbar bemachte), und kletterte einen ungeheuren Schornstein damit hoch.«87 Mit dem Tier und dem Kind besitzt diese Szene zwei filmische Elemente, die einer Rezeption dieses Films als eine Attraktion zugutekommen. Insbesondere das Tier, und hier speziell die Figur des Affen, stellt Tucholsky als die Verkörperung der frühen ›kitschigen‹ Kurzfilmästhetik explizit dem klassischen narrativen Kino entgegen: »Was heißt hier Drama! Der Affe, der herrliche Affe!«88 Bereits seit dem Anfang der Kinogeschichte beziehen sowohl der Tierfilm als auch die Aufnahme des Babys eine feste Stellung im Repertoire des Attraktionenkinos. Man denke etwa an Das boxende Känguruh (DE 1895; vgl. Abb. 3) von den Gebrüdern Skladanowsky oder an Lumières Babys Frühstück (Repas de bébé, FR 1895; vgl. Abb.

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Tucholsky, Kurt: »Deutsche Kinodämmerung?« [1920], in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 4 (wie Anm. 60), S. 332-334, hier S. 332. Zitiert nach Greve/Pehle/Westhoff, Hätte ich das Kino! (wie Anm. 81), S. 81. Der Original der Besprechung soll in Der Kinematograph 700 (1920) zu finden sein. Tucholsky: »Deutsche Kinodämmerung?« (wie Anm. 82), S. 332. Ebd. Vgl. Gunning: »The Cinema« (wie Anm. 49), S. 60. Tucholsky: »Deutsche Kinodämmerung?« (wie Anm. 82), S. 332. Ebd.

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Abb. 2: Programmheft für den Film Die letzte Galavorstellung des Zirkus Wolfson (Il circo della morte, IT 1916/20, R: Alfred Lind)

4). In der Weltbühne-Kontroverse 1921 zeigt sich Hans Siemsen im Kontext seines Lobs für »das Filmen« als »eine ganz einfache, harmlose und natürliche Sache« fasziniert von den filmischen Tieren und Kindern: »Tiere und Kinder wirken im Film immer ungemein angenehm. (Ganz kleine Kinder meine ich natürlich.) Sie sind die allerbesten Filmschauspieler. Woher kommt das? Eben daher, daß Kinder und Tiere naiv sind.«89 Ganz im Sinne des Kollegen äußert sich auch Tucholsky in seinem Plädoyer für Siemsen: »Unzweifelhaft ist, daß Tiere und Kinder im Film tausendmal hübscher anzusehen sind als gefeierte Gents, die sich die Zigarette auf 89

Siemsen: »Die Filmerei« (wie Anm. 77), S. 104.

5 Über die Regression zur Reflexion. Der Kinozuschauer als ›barbarisches Kind‹

dem Etui zurechtklopfen.«90 Auch das Tier im Film Die letzte Galavorstellung spielt für Tucholsky »still und routiniert, wie ein alter Kinoschauspieler – nur viel besser und nicht so prätentiös«91 .

 

Abb. 3: Das boxende Känguruh (DE 1895, R: Max Skladanowsky); Abb. 4: Babys Frühstück (Repas de bébé, FR 1895, R: Auguste Lumière/Louis Lumière)

Was das Tier und das Kind »die allerbesten Filmschauspieler« macht, ist – anscheinend paradox – ihre ›Naivität‹ bzw. ihr Nichtspielen. Anders formuliert: Gerade weil sie fiktionale Figuren nicht bewusst und absichtlich mimen wollen, üben sie auf der Leinwand besondere Anziehungskraft aus. Béla Balázs, der zu verschiedenartigen Thematiken die bisherigen Kinodiskussionen zusammenfassend präsentiert, bringt drei Jahre später auch dieselbe Auffassung auf den Punkt. Anhand von der Dichotomie von ›Spielen‹ und ›Leben‹ kann Balázs ausdrücklich hindeuten, worauf es hier eigentlich ankommt: Die besondere Freude, Tieren auf dem Film zuzusehen, liegt darin, daß sie nicht spielen, sondern leben. Sie wissen nichts vom Apparat und machen ihre Sache mit naivem Ernst. Selbst wenn sie dressiert vorgeführt werden, wissen nur wir es, daß es Komödie ist. Sie wissen es nicht und nehmen alles tödlich ernst.92 Das ›kleine Kind‹ oder das »Bündel« kommt unter diesem Aspekt auch in dieselbe Kategorie wie das Tier: »Auf dem Film hat das Baby denselben Reiz der belauschten Natur wie das Tier. Es spielt nicht, es lebt.«93 So unterlaufen das Tier und das Kind potenziell grundsätzlich das Fiktionale bzw. das Narrative, welches das 90 91 92

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Tucholsky: »Für Hans Siemsen« (wie Anm. 78), S. 29 f. Tucholsky: »Deutsche Kinodämmerung?« (wie Anm. 82), S. 332. Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, S. 76. Vgl. auch Nessel, Sabine: »Tiere und Film«, in: Roland Borgards (Hg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart: Metzler 2016, S. 262-269. Balázs: Der sichtbare Mensch (wie Anm. 92), S. 77.

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Kinodrama anstrebt. Vergleichbar mit dem von Gunning betonten direkten Blick auf die Kamera, der im klassischen narrativen Kino tabuisiert wird,94 bricht das Tier bzw. das Baby im Film tendenziell eine in sich geschlossene fiktionale Welt. Diese einzige Sequenz der Verfolgungsjagd mit dem Affen und dem Baby nimmt Tucholsky aus der kohärenten Handlungskette des »[g]roße[n] SensationsDrama[s]« selektiv heraus. Infolgedessen kann er diese gleichsam als ein selbständiges Stück oder einen Kurzfilm besprechen: Dieser ungeheure schwarze Schornstein ragte unheilverkündend in die Luft, da unten lag Lugano (da haben den Film vor acht oder zehn Jahren dänische Schauspieler gemacht) und »Kaja, seine Tochter« kletterte dem Affen nach. Da oben, auf des Schornsteins Rand, ging es munter zu – das Kind zappelte und schrie, die Tiefe lag, wie es sich für eine anständige Tiefe gehört, schwindelerregend unter ihnen, Kaja kletterte, kam, sah und balgte sich mit dem Affen – und der große Todessprung zeigte endlich, wofür eigentlich das Kino auf der Welt ist.95 Die spannungsvolle Sequenz soll einer halsbrecherischen Zirkus- bzw. Varieténummer gleich eine tiefreichende Erregung des Zuschauers bewirken. Bei dieser Verfolgungsjagd eines Affen auf dem »ungeheuren« Schornstein geht es nicht um die ›Echtheit‹ der Durchführung oder die Realitätsnähe der Inszenierung: »Mir ist es ja herzlich gleichgültig, ob das ›geschnitten‹ oder ›kaschiert‹ oder echt ist – als ich es sah, war es für mich echt, und das ist die Hauptsache.«96 Tucholskys Blick vernachlässigt ostentativ auch die figurenorientierte Identifikationsmöglichkeit eines klassischen Kinos. Hier kommt es nicht auf die innere Motiviertheit dieser Szene im diegetischen Zusammenhang des ganzen Films an. Für Tucholsky dreht sich alles vielmehr um die »schwindelerregend[en]« Effekte, um Attraktionen, die allein durch die kinematographischen Oberflächenbilder hergestellt werden. Dies soll folglich bedeuten, dass der Genuss dieser Szene bei Tucholsky eine höhere Reflektiertheit zur Voraussetzung hat. Diese basiert jedoch diesmal weniger auf einer Beschränkung bzw. einem ›Vorbehalt‹ des Wissens, sondern auf dessen kontrollierter Selbstentladung. Tucholsky distanziert sich zunächst von der Realitätsillusion dieses »Sensations-Drama[s]« und durchschaut dessen Übermaß an »Sentimentalität«. Diese Erkenntnis ›behält‹ sich jedoch anders als beim ersten Modell der Regression nicht ›vor‹, sondern setzt sich aktiv und beinahe triebhaft durch. Infolgedessen werden die banal erscheinenden diegetischen Zusammenhänge weder leichtgläubig angenommen noch passiv akzeptiert, sondern vielmehr dezidiert und ›barbarisch‹ zerstört.

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Vgl. Gunning: »The Cinema« (wie Anm. 49), S. 60. Tucholsky: »Deutsche Kinodämmerung?« (wie Anm. 82), S. 332. Ebd.

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Es ist der Referenzpunkt aus der Frühzeit des Films, eines Attraktionenkinos, der Tucholsky erlaubt, die narrative Geschlossenheit des Films zu vernachlässigen. So ist er in der Lage, den klassischen Spielfilm einer ›barbarisch‹ zersetzenden Perspektive zu unterziehen. Wie Gunning berichtet, verkauft die Edison Company in der Übergangsphase vom Attraktionen- zum narrativen Kino eine Filmkomödie auch als separate Sequenzen, die jeweils eine spektakuläre Aktion aufweisen. Noch in den 1920er Jahren wirbt ein Kinobesitzer für den Monumentalfilm Ben Hur (Ben Hur – A Tale of the Christ, US 1925, R: Fred Niblo) mit einer Tabelle, die unterschiedliche Zeitpunkte bereits zur Schau stellt, an denen besonders attraktive Ereignisse vorkommen sollen.97 In einer vergleichbaren Weise demontiert Tucholsky die kontinuierliche Handlung des für ihn sentimentalen Kinodramas Die letzte Galavorstellung. Auf dieser ›barbarischen‹ Rezeptionsweise aufbauend, führt er dann insbesondere die Szene der Verfolgungsjagd an, die sich im Gegensatz zum eigentlichen Inhalt des Dramas eher am Rande abspielen soll. Zusammenfassend gesagt: Vor seinem ›allegorischen‹, ›barbarisch‹ zerlegenden Blick verliert der Film seine inhaltlich-formale Geschlossenheit und erscheint nun bruchstückhaft als Fragmente. Diese Destruktionslust versteht sich jedoch nicht als Selbstzweck, sondern eröffnet einen freien Raum, in dem sich nun eine von der Realität abweichende ›phantastische‹ Attraktion entfalten kann. Dieses Szenario einer befreienden Zerstörung der vermeintlich realistischen narrativen Zusammenhänge bringt Tucholsky in die Nähe jenes ›destruktiven Charakters‹, den Walter Benjamin im Kontext des ›positiven Barbarentums‹ konzeptualisiert.98 Diesen ›Charakter‹ fasst Benjamin unter anderem im folgenden Satz zusammen: »Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des

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Vgl. Gunning: »The Cinema« (wie Anm. 49), S. 60 f., Gemeint ist hier allerdings die »1924 version« dieses Films. Benjamin, Walter: »Der destruktive Charakter«, in: Ders., Einbahnstraße, S. 95-97. Es könnte womöglich nicht so sehr einleuchten, Tucholskys Gedanken im Rekurs auf Benjamins Konzepte auszulegen. Zumal dieser in seiner Attacke gegen die Linke Melancholie – allerdings nach Erich Kästner und Walter Mehring – auch Tucholsky namentlich benennt. Vgl. Benjamin, Walter: »Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch« [1931], in: Ders., Kritiken und Rezensionen, Bd. 1, hg. von Heinrich Kaulen, Berlin: Suhrkamp 2011 (= Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe 13), S. 300-305, hier S. 303. Hier interessiert jedoch weniger ihr unüberbrückbarer politischer Dissens, sondern vielmehr speziell der Diskurs des Destruktiven der Moderne, an dem sich beide aus dem verschiedenen Blickwinkel beteiligen. Hierzu vgl. Pethes, Nicolas: Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin, Tübingen: Niemeyer 1999, S. 158-170. – Konkret im filmischen Bezug zeichnet sich indes ein Unterschied ihrer Ansätze ab, denn bei Benjamin zerstörte nicht der Zuschauer einen vermeintlich realistischen Film wie bei Tucholsky. Es ist vielmehr »der Film«, so ein berühmter Satz im Kunstwerk-Essay, der »diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden« sprenge. Benjamin: »Das Kunstwerk« (wie Anm. 15), S. 130 (Herv. des Verf.).

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Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht.«99 Mitten im durch seine andere Sichtweise diegetisch demontierten Kinodrama macht Tucholsky auch einen ›Weg‹ aus. Dieser ›Weg‹ durch die »Trümmer« hindurch scheint für ihn auf eine andere – einmal verlorene – Zukunft des Vergangenen hinzudeuten: »Ich will nicht sagen, daß der Weg des Affen zum Fabrikschornstein hinauf der Weg des Kinos ist – aber ein Weg ist es schon.«100 Zwar zeigt Tucholsky zu Ende dieses Artikels denn auch seine große Erwartung an »Charly Chaplin«, der »frisches Blut und frischen Wind« mitbrächte. Zu diesem Zeitpunkt vor der Aufhebung des Importverbots kann er die wirkliche Gestalt der Chaplin-Filme jedoch noch nur vage ahnen. Von daher müsste die Zukunft des deutschen Films notgedrungen in den Sternen – dem »deutsche[n] Kinohimmel«101  – gedeutet werden. Über das Ziel dieses »Weg[es] des Affen« hat Tucholsky keine handgreifliche Vorstellung und entwirft folglich auch keine positive Filmtheorie. Um wieder mit Benjamin zu sprechen: »Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor.«102 Zumindest kennt Tucholsky aber den »Weg«, der sich nach der Zerstörung des vorhandenen angeblich fortgeschrittenen, in Wahrheit jedoch den Zuschauer in die Diegese immer stärker einbindenden narrativen Kinos bahnen soll. Der »Weg« stellt insofern einen Umweg dar, als er erst dann in die Zukunft führt, nachdem er zunächst aufs Vergangene hin verlaufen ist. Der rückläufige Pfad zum Attraktionenkino trägt nicht nur deswegen diesen ›animalischen‹ Titel, da das Tier dort in der Frühzeit auf der Leinwand eine tragende Rolle einnimmt. Es geht vielmehr um die nötige rückläufige Distanznahme von der gängigen Filmpraxis. Kann nur derjenige doch das »Bestehende […] in Trümmer« legen, wer genügend weit ausholt. Aus diesem Grund ist hier kein ontogenetisch regressives ›inneres Kind‹ gewählt, sondern eine phylogenetisch weiter zurückgehende Figur des ›Affen‹ bzw. jenes ›Naiv-Animalischen‹. Tucholskys ›allegorische‹, dekonstruierende Sichtweise spürt auch in nicht exzeptionellen Filmen einem ›phantastischen‹ Aspekt – einem »Weg des Affen« – nach. Dieses Filmfragment soll dem Attraktionenkino gleich das ›innere Kind‹ des Zuschauers ansprechen. Ungeachtet des Regressiven geht es hier jedoch weniger um die passive Leichtgläubigkeit eines Naiven. Es sind vielmehr die »unverwüstliche Jugendkraft«103 und das Einbildungsvermögen im erwachsenen Zuschauer, die vor der Leinwand aktiviert werden. Denn im Zuge des Regressiven soll die Potenzialität des Films zum Vorschein kommen, noch einmal ›von vorne zu beginnen‹. Aus dieser ›anderen‹, ›allegorischen‹ Perspektive heraus erblickt der Zuschauer die Benjamin: »Der destruktive Charakter« (wie Anm. 98), S. 97. Hierzu vgl. auch Pethes: Mnemographie (wie Anm. 98), S. 371-375, sowie Gess: Primitives Denken (wie Anm. 4), S. 374-376. 100 Tucholsky: »Deutsche Kinodämmerung?« (wie Anm. 82), S. 333. 101 Ebd. 102 Benjamin: »Der destruktive Charakter« (wie Anm. 98), S. 95. 103 Tucholsky: »Der berühmteste Mann« (wie Anm. 72), S. 439.

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Chance, einmal verlorene Möglichkeiten des Films zurückzugewinnen. Kraft der Phantasie lässt er die Ahnung einer anderen Zukunft aufblitzen, das zwar noch keinen konkreten Inhalt besitzen mag, jedoch zumindest von der bisherigen, faktisch erfolgten Entwicklung stark differieren kann. So bringt die regressive Geste auch hier eine reflektierte Betrachtung mit sich.

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Weimarer Filmtheorie als Plädoyer für die reflektierte Regression

Mit Blick auf die vorangegangenen Ausführungen kann es nicht verwundern, dass die frühe deutschsprachige Filmtheorie die metaphorische Figur des Regressiven bzw. des ›Kindes‹ als konstitutives Element in ihre theoretischen Gefüge integriert. Rudolf Harms’ Philosophie des Films (1926) spricht vom Film als dem »Märchenbuch des modernen Erwachsenen«1 und somit von der regressiven Qualität des Filmerlebnisses. Bereits zwei Jahre zuvor deklariert Béla Balázs in seinem ersten filmtheoretischen Buch, Der sichtbare Mensch (1924), den Film zum ›kindlichen‹ Medium: Es liegt aber auch bestimmt an der ganzen Atmosphäre und Mentalität des Films, daß das Kind mehr Spielraum darin hat. Die Welt des Films ist eben kindlicher. Denn jene Poesie des kleinen Lebens, welche die eigenste Substanz des guten Films ist, ist aus der näheren Perspektive der kleinen Leute sichtbarer. Die Kinder kennen die geheimen Winkel des Zimmers besser als die Erwachsenen, weil sie noch unter Tisch und Diwan kriechen können. Sie kennen die kleinen Momente des Lebens besser, weil sie noch Zeit haben, bei ihnen zu verweilen. Die Kinder sehen die Welt in Großaufnahmen.2 Hier nimmt Balázs die metaphorische Rede des ›Kindes‹ für das Medium selbst in Anspruch. Im Gegensatz zu den vergleichbaren Belegen bezeichnet Balázs durch die hier angewandte Metapher der »kleinen Leute« – hier allerdings im Sinne der Kinder – keine Entwicklungsmöglichkeiten des Films. Den früheren ähnlichen Beispielen zufolge soll der Film als ›Kind‹ nach einem gewissen Erziehungsbzw. Reifungsprozess allemal zu einem angeblich mündigen, erwachsenen und aufgeklärten Medium ausgebildet werden. In der Weimarer Filmtheorie ab den 1920er Jahren büßt dieses volksbildnerische Deutungsmuster einer Erziehung des Verwahrlosten offenbar seine Überzeugungskraft ein. Stattdessen gewinnt

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Harms, Rudolf: Philosophie des Films. Seine ästhetischen und metaphysischen Grundlagen [1926], Hamburg: Meiner 2009, S. 123. Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, S. 78 (Herv. im Orig.).

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das Regressive oder die »kindlichere Mentalität des Films«3  – nicht zuletzt im Zuge des Amerikanismus-Diskurses,4 aber auch darüber hinaus – zunehmend Anerkennung.5 Dies bedeutet jedoch keine rückhaltlose Würdigung des Regressiven im Kinoerlebnis – geschweige denn eine mystische Schwärmerei dafür. Schon allein die Tatsache, dass dieses Thema gerade von mehreren, nachhaltig einflussreichen theoretischen Ansätzen aufgegriffen wird, deutet die Vielschichtigkeit der Umstände an. Denn in diesen Arbeiten wird sich dem Regressiven, das die Filmtheoretiker im Film bzw. dessen Erlebnis ausmachen, beinahe ausnahmslos reflexiv angenähert. Die Theoretisierung des Regressiven sorgt hier nicht für die Aufklärung im Sinne einer Überwindung oder Korrektur dieser rückläufigen Tendenz. Sie legt vielmehr den reflektierteren Umgang mit dem ›kindlichen‹ Aspekt nahe, der zum filmischen Medium konstitutiv dazugehören soll. Im Gegensatz etwa zu Tucholsky ist es bei den Theorieansätzen mithin gerade nicht das Regressive, das eine Medienreflexion ermöglicht. Die durch die bisherigen Diskussionen im Kino konstatierte regressive Tendenz erfordert vielmehr eine vertiefte theoretische Reflexion, um den Film sowie dessen Erlebnis adäquat verstehen zu können. Balázs bringt in seiner Vorrede zu Der sichtbare Mensch diese veränderte Fragestellung um das filmisch Regressive auf den Punkt. Er sieht sich gezwungen, dem Publikum eine Erklärung abzugeben, dass er keine Absicht habe, mit seiner »Theorie« »das glückliche Paradies der Naivität« zu verderben. Diese spezifische Bezeichnung ist darauf zurückzuführen, dass im Kino »auch die kultiviertesten und ernstesten Geister sich ihrer verpflichtenden Bildung und ihres strengen Geschmacks ohne Scham entkleiden konnten, um sich in nackter, urnatürlicher Kindlichkeit dem bloßen primitiven Zuschauen hinzugeben.«6 Seine »Theorie« will nicht wie bei den Kinoreformern eine Erziehung oder Aufklärung des Zuschauers anstreben. Sie versucht folglich nicht, durch das beigebrachte Wissen aus dem Unmündigen, Kindlichen bzw. Ungebildeten einen Mündigen, Erwachsenen und Gebildeten herauszuprozessieren. Anders formuliert: Hier würde nicht beabsichtigt, den naiven und primitiven Genuss – oder, um wieder mit Ewers zu sprechen, jenen ›Genuss

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Ebd., S. 79. Ein Äquivalent mit dem entgegengesetzten Vorzeichen lässt sich in der deutschnationalen Strömung ausmachen, die auf die vergangene Wilhelminische Zeit nostalgisch zurückblickt. Friedrich Hollaender nimmt in seinem von Rosa Valetti gesungenen Song Wir wollen alle wieder Kinder sein! (1921) sarkastisch Bezug auf diese Tendenz, welche die Vorkriegszeit als eine verlorene, noch unschuldige ›Kindheit‹ ansehen will. Nach einem gut halben Jahrhundert sollte übrigens gerade in den Vereinigten Staaten den neueren elektronischen Medien wie dem Fernsehen eine genau umgekehrte Wirkung attestiert werden. Vgl. Postman, Neil: Das Verschwinden der Kindheit [1982], übers. von Reinhard Kaiser, 17. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2009. Balázs: Der sichtbare Mensch (wie Anm. 2), S. 13 f.

Weimarer Filmtheorie als Plädoyer für die reflektierte Regression

der aufgehobenen Kausalität‹ – als etwas Rückständiges zu berichtigen. Statt ›das Kind mit dem Bade auszuschütten‹, sollte man, so Balázs, mit dem Naiven und Primitiven im Filmerlebnis besser reflexiv umgehen: Nein, wahrlich, ich bin nicht gekommen, um euren Genuß zu stören. Im Gegenteil. Ich will es versuchen, eure Sinne und Nerven zu größerer Genußfähigkeit zu stimulieren. Denn das Verständnis für den Film ist der unbefangenen süßen Kindlichkeit nicht abhold. Der Film ist eine junge, noch unverschmockte Kunst und arbeitet mit neuen Urformen der Menschlichkeit. Darum gehört es gerade zu seinem richtigen Verständnis, sich auf das ganz Primitive und Naive einstellen zu können. Ihr werdet weiter lachen und weinen und werdet es nicht als »Schwäche« leugnen müssen.7 In der feierlichen Geste, Jesus paraphrasierend, verkündet Balázs ein Evangelium der reflexiven Annäherung an das Regressive. Ein theoretisches Verständnis des Films soll keineswegs »das ganz Primitive und Naive« verneinen, sondern seine Aufmerksamkeit vielmehr dezidiert darauf fokussieren. Man kann im Kino weiterhin verantwortungslos lachen oder sentimental Tränen vergießen, allerdings bewusst und reflektierend, denn »das bewußte Genießen ist der höchste Genuß«8 . Genauso wie bei anderen Thematiken, etwa der Gestikulation oder der Physiognomik, zieht Balázs auch hier aus den Argumentationen der Kinodebatte, die bislang ausgetragen wurde, die Summe. Seine »Theorie« bietet jedoch keine tautologische Wiederholung der vergangenen Figurationen, in denen die ›Kind‹- und die Regressionsmetaphorik eine so zentrale Stellung einnimmt. Mit mystischem, monistischem bzw. lebensphilosophischem Eifer verfolgt Balázs zwar einerseits das Ziel, im Film einen ›sichtbaren Menschen‹, d.h. eine ›religiöse, dunkel verwechselnde Symbolik‹ auszumachen. Ungeachtet dessen zeichnet sich sein theoretischer Ansatz aber andererseits durch die reflexive Distanznahme aus. Diese theoretische Reflexion des Regressiven im Kino hat zweierlei zur Folge. Zum einen ermöglicht die theoretisch reflektierte Annäherung eine umso intensivere Beschäftigung mit dem Regressiven. Zum anderen gerät der Umstand, dass manche theoretischen Termini aus der übertragenen Rede hervorgegangen sind, oft in Vergessenheit. In der Filmtheoriegeschichte lässt sich dies vor allem in dem Prozess beobachten, dass die Psychoanalyse im Laufe des 20. Jahrhunderts zu ihrer Grundtheorie avanciert. Als System psychopathologischer Beschreibungen nimmt die Psychoanalyse etwa auch den Ausdruck ›Regression‹ als theoretischen Terminus in Gebrauch. Jean-Louis Baudrys Theorie des filmischen Dispositivs als Regressionsmaschine erweckt hingegen den Eindruck, dass er diese Figur nicht

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Ebd., S. 14. Ebd.

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Metaphorologie des Kinos

als eine der Psychiatrie entliehene Metapher betrachtet, sondern wörtlich und direkt auf den Filmzuschauer anwendet. Anhand der theoretischen Reflektiertheit ist man zwar in der Lage, sich mit einem Phänomen in methodisch fundierter Weise auseinanderzusetzen. Zugunsten dieser disziplinären Vorgehensweise geht jedoch eventuell eine rhetorische Reflektiertheit verloren, die das faktische Vorhandensein dieses Phänomens infrage stellen und dieses ggf. als eine diskursive Konstruktion aufdecken kann. Aus diesem Grund ist die historisch-archäologische Betrachtung einer Metaphorologie angezeigt, um die sozusagen verschliffene Metaphorizität eines Terminus wieder ins Profil zu setzen. Die Weimarer Filmtheorie lässt sich erst dann genealogisch angemessen begreifen, wenn auf die jahrelange Bewegung einer Potenzierung der Reflexion einerseits und die zugrundeliegende Rhetorizität andererseits eingehend Rücksicht genommen wird. Für diese Perspektive erweist sich eine diskursgeschichtliche Kontextualisierung mit dem frühen Kinodiskurs als unabdingbar.

III Das Kino einverleiben. Zur objektbezogenen Metaphorik des Kinos

Metapher zwischen Intro- und Projektion. Zur Diätetik des Kinos

Der nachfolgende Teil befasst sich mit der Leitmetapher der Einverleibung. Die voranstehenden Ausführungen haben mit vielfältigen Belegen bewiesen, dass die Filmrezeption im frühen Kinodiskurs als etwas grundlegend Regressives aufgefasst wird. Insofern verwundert es eben nicht, dass man das Erlebnis im Kino dort häufig unter Rekurs auf die Einverleibungsmetapher beschreibt. Denn diese Figur nimmt im zeitgenössischen psychologischen Regressionsdiskurs eine ausgesprochen zentrale Stellung ein. Dies zeigte sich zwar bereits etwa in Friedrich Theodor Vischers psychologisch und phylogenetisch aufgebauter Einfühlungsästhetik, indem sie als ein typisches Beispiel der ersten bzw. ›primitiven‹ Stufe des Symbolgedankens das Ritual der Transsubstantiation auf den Plan rief. Es ist jedoch in erster Linie die Psychoanalyse, die im psychologischen Diskurs des Regressiven des hier einschlägigen Zeitraumes paradigmatisch wirkt. Sie schreibt dem Phänomen der Einverleibung eine konstitutive Rolle in der Ontogenese des Ich zu. Für die vorliegende Studie erscheint es außerdem nicht uninteressant, dass sich die theoretische Ausarbeitung dieses Themas gerade in der Zeit vollzieht, in der die Kinodebatte am lebhaftesten ausgetragen wird. Sigmund Freud behandelt dies besonders ausführlich im Aufsatz Triebe und Triebschicksale. Dieser gehört zur »Gruppe der fünf 1915 verfaßten metapsychologischen Schriften Freuds«, die bisweilen »als seine wichtigsten theoretischen Arbeiten«1 angesehen werden. Hier verfolgt Freud die ontogenetische Ichentwicklung, indem er diesen Vorgang chronologisch rekonstruiert. Den Ausgang dieses Prozesses macht er in einem »fast völlig hilflosen, in der Welt noch unorientierten Lebewesen«2 aus. Für dieses primitive Ich im »narzißtischen Urzustand«3 wären 1

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Mitscherlich, Alexander/Richards, Angela/Strachey, James: »Editorische Vorbemerkung« [zu: »Das Unbewußte«], in: Sigmund Freud, Psychologie des Unbewußten [1975], hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, 8., korrig. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 1997 (= Studienausgabe III), S. 121-124, hier S. 121. Freud, Sigmund: »Triebe und Triebschicksale« [1915], in: Ders., Psychologie (wie Anm. 1), S. 75102, hier S. 82. Ebd., S. 97, Anm. 2.

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»[d]as Äußere, das Objekt, das Gehaßte […] zu allem Anfang identisch«4 und in diesem Sinne gleichgültig. In der Genese des »Gegensatz[es] von Ich–Nicht-Ich (Außen), (Subjekt–Objekt)«5 , die dann in die Wege geleitet wird, kommt der Einverleibung eine Schlüsselrolle zu. Denn die Subjekt-Objekt-Beziehung soll unter anderem durch körperliche Aneignung bewirkt werden. »Unter der Herrschaft des Lustprinzips« formiere sich »ein purifiziertes Lust-Ich« und, indem dies »den Lustcharakter über jeden anderen setzt«,6 löse es eine weitere und klarere Unterscheidung von ›Innen‹ und ›Außen‹ aus: »Erweist sich […] das Objekt als Lustquelle, so wird es geliebt, aber auch dem Ich einverleibt, so daß für das purifizierte Lust-Ich das Objekt doch wiederum mit dem Fremden und Gehaßten zusammenfällt«7 . In dieser Weise gehe »[d]ie Liebe«, die »ursprünglich narzißtisch« und »autoerotisch« gewesen sei, »dann auf die Objekte [über], die dem erweiterten Ich einverleibt worden sind, und drückt das motorische Streben des Ichs nach diesen Objekten als Lustquellen aus«. Konsequent erkennt Freud in anderen Arbeiten aus der »Gruppe« von 1915 in diesem »Sicheinverleiben oder Fressen«8 das erste Entwicklungsstadium der Sexualtriebe. In dieser ersten »prägenitale[n] Sexualorganisation«, der »orale[n]«, sei die »Sexualtätigkeit […] von der Nahrungsaufnahme noch nicht gesondert«, die Freud hier mit der primären »Identifizierung«9 als »die Vorstufe der Objektwahl«10 in einen engen Zusammenhang bringt. Mit Blick auf diesen psychoanalytischen Theorieansatz zur Einverleibung als der ›primitiven‹ Objektbeziehung leuchtet der häufige Metapherngebrauch des Essens und Trinkens im zeitgenössischen Kinodiskurs durchaus ein. Zumal dort vom Regressiven im Filmerlebnis ausgegangen wird. Hinsichtlich der sprachlich-bildlichen Assoziation von Einverleibung und ›Primitivem‹ bewegen sich die Psychoanalyse und die Kinodebatte auf demselben diskursiven Boden.

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10

Ebd., S. 99. Ebd., S. 96. Vgl. auch Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Art. »Introjektion«, in: Dies., Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 235-237, hier S. 236, sowie dies: Art. »Projektion«, in: Ebd., S. 399-408, hier S. 404. Freud: »Triebe« (wie Anm. 2), S. 98 (Herv. im Orig.). Ebd., S. 99. Ebd., S. 100 f. (Herv. im Orig.). Freud, Sigmund: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« [1905-1924], in: Ders., Sexualleben [1972], hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, 4., korrig. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 1980 (= Studienausgabe V), S. 37-145, hier S. 103 (Herv. im Orig.). Der sechste Abschnitt der zweiten Abhandlung, der die einschlägigen Formulierungen enthält, erscheint erst in der Ausgabe von 1915, d.h. demselben Jahr, in dem jene »wichtigsten theoretischen Arbeiten« verfasst werden. – Zu den Ansätzen der Filmtheorie, die sich aus den psychoanalytischen Überlegungen über das ›Orale‹ speisen, siehe oben in Kapitel 4. Freud, Sigmund: »Trauer und Melancholie« [1915/17], in: Ders., Psychologie (wie Anm. 1), S. 193212, hier S. 203.

Metapher zwischen Intro- und Projektion. Zur Diätetik des Kinos

Die Entsprechung der beiden Diskurse in Bezug auf die Einverleibungsfigur setzt sich darüber hinaus in ihrer ambivalenten Funktion fort. Wie weiter unten gezeigt werden soll, zeichnet sich die Figur des Essens und Trinkens im Kinodiskurs durch eine semantische Pendelbewegung aus. So schwankt der als etwas Einzuverleibendes metaphorisierte Film zwischen Gut und Böse: Bald kommt er dem Publikum gesundheitlich zugute, bald wirkt er sich auf die Zuschauerkörper verhängnisvoll aus. Trotz dieses oszillierenden Erscheinungsbildes bleibt er als Objekt eigentlich ein und dasselbe. Das Kino führt hier ein Kippspiel vor, nämlich zwischen dem alkoholischen Rauschmittel und dem Heilmittel gerade gegen den Alkoholismus, wenn der Film als kulturelle Kost nicht im nächsten Augenblick in die vergiftete Geistesnahrung umgewandelt wird. Diese Ambivalenz, welche die Einverleibungsmetapher im Kinodiskurs wesentlich kennzeichnet, findet im psychoanalytischen Theorieansatz der »oralen Phase«11 eine parallele Argumentationsfigur, kommt dem Vorgang eines »Sicheinverleiben[s]« doch der des ›Auswerfens‹ als sein Pendant hinzu. Verleibt sich das »LustIch« Freud zufolge den »Lustanteil« der »Außenwelt« ein, so sondert es »einen Rest [aus], der ihm fremd ist«, wirft ihn »in die Außenwelt […] und [empfindet diesen] als feindlich«12 . Diese komplementären Prozeduren einer Identifizierung und Ausgrenzung, die am Schluss den Gegensatz von Subjekt–Objekt herausprozessieren sollen, beschreibt Freud in Anlehnung an Sándor Ferenczi durch ein dichotomisches Gegensatzpaar: ›Intro-‹ und ›Projektion‹:13 Es [das Ich] nimmt die dargebotenen Objekte, insofern sie Lustquellen sind, in sein Ich auf, introjiziert sich dieselben (nach dem Ausdrucke Ferenczis […]) und stößt anderseits von sich aus, was ihm im eigenen Innern Unlustanlaß wird. (Siehe später […] den Mechanismus der Projektion.)14 Verwiesen ist hier auf Ferenczis frühe Abhandlungen – vor allem Introjektion und Übertragung (1909) und Zur Begriffsbestimmung der Introjektion (1912).15 In diesen Arbeiten geht der Terminus der Introjektion zum ersten Mal als das Gegenstück zur 11

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Freud, Sigmund: »Massenpsychologie und Ich-Analyse« [1921], in: Ders., Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt am Main: Fischer 1974 (= Studienausgabe IX), S. 61-134, hier S. 98 (Herv. im Orig.). Freud: »Triebe« (wie Anm. 2), S. 98. Zum psychoanalytischen Profil dieser komplementären Denkfiguren im wissensgeschichtlichen Kontext vgl. Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, S. 193-209. Freud: »Triebe« (wie Anm. 2), S. 98. Allerdings handelt es sich beim Terminus ›Introjektion‹ nicht um eine Prägung Ferenczis. Zu einer vorauslaufenden Verwendung dieses Begriffs im ausgehenden 19. Jahrhundert durch den Philosophen Richard Avenarius, den älteren Bruder des Schriftstellers und Kinodebattenbeiträgers Ferdinand Avenarius, vgl. Müller-Tamm: Abstraktion (wie Anm. 13), S. 172-177.

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Projektion in die psychoanalytische Diskussion ein. Der Erstere soll hier bei Ferenczi eine »Ausdehnung des ursprünglich autoerotischen Interesses auf die Außenwelt durch Einbeziehung deren Objekte in das Ich«16 besagen. Der »erste Projektionsvorgang« bestehe andererseits darin, »die tückischen Dinge, die seinem [des Neugeborenen] Willen nicht gehorchen, als Außenwelt vom Ich […] zu sondern«17 . Diesem gegenläufigen Prozess der Intro- und Projektion verleiht Freud in einem späteren Aufsatz, Die Verneinung (1925), einen weit anschaulicheren Ausdruck: Die Eigenschaft [eines Dinges], über die entschieden werden soll, könnte ursprünglich gut oder schlecht, nützlich oder schädlich gewesen sein. In der Sprache der ältesten, oralen Triebregungen ausgedrückt: »Das will ich essen oder will es ausspucken«, und in weitergehender Übertragung: »Das will ich in mich einführen und das aus mir ausschließen.« Also: »Es soll in mir oder außer mir sein.« Das ursprüngliche Lust-Ich will, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, alles Gute sich introjizieren, alles Schlechte von sich werfen.18 Zwischen diesen beiden entgegengesetzten »ältesten, oralen Triebregungen« eines ›Essen-‹ und eines ›Ausspucken-Wollens‹ konstatiert Freud ferner in einer seiner wirkmächtigsten Abhandlungen, Das Unbehagen in der Kultur (1929/30), eine zeitliche Reihenfolge. Demnach besteht am Anfang die introjizierende und identifizierende Tendenz, alles in sich einzuführen, um erst später von einer projizierenden oder ausgrenzenden gefolgt zu werden. So sondere der »Säugling […] noch nicht sein Ich von einer Außenwelt als Quelle der auf ihn einströmenden Empfindungen«19 . Dieses ursprüngliche »allumfassende Gefühl, das einer innigen Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt« entspreche, bezeichnet Freud in Anlehnung an Romain Rolland bekanntlich als »das ›ozeanische Gefühl‹«. Dieses »Ursprüngliche« oder »Primitive« soll allerdings weiterhin »im Psychischen« »neben dem Späteren« erhalten bleiben.20 Diese ›ozeanische‹ Metaphernwahl für das Regressive scheint jedoch nicht neu zu sein21 und erinnert an einige vergleichbare Quellen, die Freud in dieser Hinsicht vorwegnehmen. Gemeint sind hier etwa Ferenczis ›thalassaler 16

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Ferenczi, Sándor: »Zur Begriffsbestimmung der Introjektion« [1912], in: Ders., Schriften zur Psychoanalyse. Auswahl in zwei Bänden, Bd. I, hg. von Michael Balint, Frankfurt am Main: Fischer 1970, S. 100-102, hier S. 100. Ferenczi, Sándor: »Introjektion und Übertragung« [1909], in: Ders., Schriften, Bd. I (wie Anm. 16), S. 12-47, hier S. 20. Freud, Sigmund: »Die Verneinung« [1925], in: Ders., Psychologie (wie Anm. 1), S. 371-377, hier S. 374. Freud, Sigmund: »Das Unbehagen in der Kultur« [1929/30], in: Ders., Fragen (wie Anm. 11), S. 191-270, hier S. 199. Ebd., S. 200 f. Riedel geht der in das 19. Jahrhundert zurückzuverfolgenden literarischen Vorgeschichte des ›ozeanischen Gefühls‹ nach, vgl. Riedel, Wolfgang: Homo Natura. Literarische Anthropologie um 1900, S. 79-119.

Metapher zwischen Intro- und Projektion. Zur Diätetik des Kinos

Regressionszug‹ (1924) und ferner Gottfried Benns ›südliches Meer‹ (1916).22 Immerhin: In diesem anfänglichen Zustand »enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab«, so Freud.23 Diese Abfolge leuchtet insofern ein, wenn man dies wieder in der Sprache des ›Oralen‹ ausdrückt: Um etwas ›ausspucken‹ zu können, muss es davor ›gegessen‹ worden und auf diese Weise bereits im Innern sein. In der Einverleibungsmetapher beim frühen Kinodiskurs, die hochgradig doppeldeutig verwendet wird, lässt sich diese oszillierende Bewegung auf der »Vorstufe der Objektwahl« ablesen. Hierbei fällt allerdings auf, dass in diesem Fall die einmal introjizierte »Lustquelle« und der zu projizierende »Unlustanlaß« vom selben Objekt dargeboten wird. Der Film, der anfangs als »Lustquelle«, d.h. als etwas Gutes oder Nützliches im Innern des Zuschauer-Ich Aufnahme gefunden hat, verwandelt sich dort aus irgendeinem Grund in schlechten bzw. schädlichen »Unlustanlaß« und wird von sich ausgestoßen. Mit Blick auf die ontogenetische Regression in die ›primitive‹ Stufe im Kinoraum lässt sich erklären, warum der Bildspender aus dem Einzunehmenden gewählt wird, auch wenn hiermit die unerfreulichen Aspekte des Filmerlebnisses bezeichnet werden sollen. Diese Art der Metapher trägt infolgedessen die Spuren einer Regression in die allererste Phase der Ichgenese, auf der die doppelte Prozedur von Identifizierung und Ausgrenzung24 vonstattengehen soll. Das Kino muss insofern einmal auf der Ebene der »ältesten, oralen Phase« bereitwillig empfangen und eingenommen worden sein, um dann als unheilbringendes ›Gift‹ nach außen ausgespuckt oder projiziert zu werden. Die Oszillation zwischen Intro- und Projektion legt an den Tag, dass der Metapherngebrauch

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Hierzu siehe oben in Kapitel 4. – Die Wucherungen der ›thalassalen‹ oder ›ozeanischen‹ Metapher um 1900 werfen ein neues Licht auf die besondere Anziehung, die der Lumière-Film Barque sortant du port (FR 1895) auf die frühen Filmzuschauer ausgeübt haben soll. Die Legende will, dass gleich nach der ersten Vorführung des Cinématographe in London 1896, die mit diesem Film endet, einige Gentlemen die Leinwand mit ihren Stöcken prüfend anstoßen. Dai Vaughan führt den inneren Zwang dieser frühen Zuschauer auf »the presence, in some metaphysical sense, of the sea itself« auf der Leinwand zurück: Vaughan, Dai: »Let There Be Lumière« [1981], in: Thomas Elsaesser/Adam Barker (Hg.), Early Cinema. Space, Frame, Narrative, S. 63-67, hier S. 65. Für die damalige Beliebtheit der ›ozeanischen‹ Thematik spricht ferner die Tatsache, dass im frühen Kino die Filme mit ähnlichem Sujet wiederholt produziert werden. Man denke u.a. an Bert Acres’ Rough Sea at Dover (GB 1895) und an Bamforth Films’ Rough Sea (GB 1900). Freud: »Das Unbehagen« (wie Anm. 19), S. 200. Am Rande sei gesagt, dass sich die Figur der Einverleibung in einer noch weiteren, gleichsam tieferen und grundsätzlicheren Ebene mit gutem Recht als Leitmetapher bezeichnen lässt. Denn die gegenläufige Prozedur von Intro- und Projektion entspricht präzise der gattungsspezifischen Bewegung der Metapher, d.h. einer Oszillation zwischen der Identifikation (A=B) und der Differenz (A≠B). Siehe hierzu Kapitel 1.

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Metaphorologie des Kinos

der doppeldeutigen Einverleibung im Kinodiskurs genauso wie deren psychoanalytische Verwendung durch die zeitgenössische Imagination zum ontogenetisch Primitiven determiniert wird.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

6.1 6.1.1

Der Film als (un-)heilbringendes Getränk. Zur Alkoholmetapher des Kinos Volksetymologie des ›Kientopps‹: schwebender Signifikant?

Gegen 1905/06 neigt sich die ambulante Ära des Kinos zu Ende. Während man bis dahin im Wanderkino etwa auf Jahrmärkten oder als eine Schlussnummer in Varietés Filme zeigte, öffnen nunmehr in Großstädten die ersten ortsfesten Abspielstätten. Diese zumeist in den Ladenzeilen errichteten kleinen Kinos vermehren sich in den Folgejahren explosionsartig und wachsen »[w]ie Pilze […] aus dem Boden«1 . Diesem »kleinere[n], schlauchartige[n]« Vorführraum sollte später in der kinogeschichtlichen Forschung der Terminus ›Ladenkino‹2 zuteilwerden. Seinerzeit bekommt er jedoch neben anderen Bezeichnungen wie ›Kinematographen-Theater‹ und ›Lebende Bilder‹ vor allem einen Spitznamen: ›Kientopp‹ (alternativ: ›Kintop‹ oder ›Kintopp‹), der aus der Berliner Mundart stammt. Obwohl dieser Ausdruck spätestens bis 1912 allgemein gebräuchlich bleibt,3 findet er auch danach noch in einem speziellen Sinne Verwendung. Abgesehen von seiner pejorativen Bedeutung für schlechte Gegenwartsfilme kommt der Begriff hierbei vor allem im Rückblick als ein historischer Terminus zum Einsatz. So soll er all das benennen, was sich für den betreffenden Zeitraum von 1905/06 bis 1912 in diesen kleinen Kinos überhaupt zuträgt, i.e. sowohl auf als auch vor der Leinwand. 1

2

3

Döring, Carl: »Berliner Kinematographen-Theater«, in: Der Kinematograph. Organ für die gesamte Projektionskunst 16 (17. April 1907), unpaginiert. Die Pilzmetapher zieht man in den damaligen Berichten zum Zweck der Beschreibung einer rapiden Verbreitung des Ladenkinos bevorzugt heran. Müller, Corinna: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912, S. 264, Anm. 15. Laut Müllers kinogeschichtlicher Recherche soll der erste Gebrauch dieser Bezeichnung aber jünger sein, nämlich auf einen Zeitschriftenartikel des Jahrgangs 1912/13 datieren. Vgl. Güttinger, Fritz: Der Stummfilm im Zitat der Zeit, S. 25.

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Metaphorologie des Kinos

Dieser Zeitraum deckt sich ungefähr mit der film- wie kinogeschichtlichen Phase einer »Zeit des Kurzfilms und Kurzfilmprogramms«. In diesen Jahren lehnt sich die Zeitstruktur eines Kientopp-Programms an das Vorbild des Varietés an. Ein Kurzfilmprogramm umfasst nämlich ungefähr anderthalb Stunden, die man mit Kurzfilmen von drei- bis 15-minütiger Dauer möglichst abwechslungsreich auszufüllen trachtet. Zu sehen bekommt man auf der Leinwand eines Kientopps eine »Vielfalt von Filmarten und -genres«. Diese soll aus »Dokumentarfilme[n] informativer und/oder aktueller Ausrichtung, stumme[n] Spielfilme[n] heiterer und ernster Abstufungen, Tonbilder[n], Farbfilme[n], Trickfilme[n] und Mischformen von Trick- oder Dokumentar-Spielfilmen« bestehen.4 In den ›Nummern‹ des Kurzfilmprogramms sind zwar bereits die im Vergleich zur Varieté- und Jahrmarktkinematographie deutlich längeren Spielfilme vorhanden, deren maximale Länge etwa eine Viertelstunde beträgt. Der Schwerpunkt eines Kurzfilmprogramms liegt jedoch – im Unterschied zum späteren, noch längeren Erzählkino von ca. anderthalbstündiger Dauer – weniger an der diegetischen Illusionierung oder der Identifikation mit der filmischen Geschichte. Im Vordergrund steht vielmehr die rhythmische und effektvolle Dramaturgie mit einer kurzweiligen Vielfalt. Trotz einer schon erkennbaren Tendenz zum Erzählerischen ist er aus diesem Grund noch keineswegs mit etablierten kulturellen Institutionen wie Theater und Literatur zu vergleichen. Von daher lässt sich der Kientopp mit Recht als »ein Mittelding von distanzierendem ›Kino der Attraktionen‹ und illusionierendem ›Erzählkino‹«5 charakterisieren. Haftet dem Kientopp doch noch die unverkennbare Färbung einer Varietédarbietung an, die stark an seine Herkunft aus der Unterhaltungsbranche erinnert. Vor der Leinwand eines Kientopps lassen sich auch Phänomene ausmachen, die bei der traditionellen Kultur grundsätzlich nicht zu beobachten wären.6 Man darf während der Vorführung dieser inhaltlich heterogenen Kurzfilme jederzeit den Zuschauerraum betreten oder verlassen. In solchem Saal sind außerdem häufig noch keine festen Stuhlreihen vorhanden. Das rastlose Publikum plaudert zwischendurch mit lauter Stimme, trinkt Bier, nascht Süßigkeiten, raucht und flirtet ggf. neckend miteinander. Unter anderem diese unberechenbaren, wenn nicht anarchischen Zustände vor der Leinwand sind es, die vor 1910 für eine vehemente bildungspolitische Anprangerung des ›Kientopps‹ sorgen, die den Anfang der Kinoreformbewegung markiert. Vom kulturell wie künstlerisch – zumindest aus damaliger Sicht – überhaupt nicht ernstzunehmenden Inhalt dieser Darbietungen

4 5 6

C. Müller: Frühe deutsche Kinematographie (wie Anm. 2), S. 56. Müller, Corinna: »Variationen des Kinoprogramms. Filmform und Filmgeschichte«, S. 59 f. Es sei denn, dass sie mit späteren experimentellen Theateraufführungen etwa der 1960er Jahre zu tun hätten.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

auf der Leinwand ganz zu schweigen. Hinzu kommen die technisch noch mangelhafte Qualität des flimmernden und zitternden Bildes sowie die drückend schwüle Luft im Kinoraum, die von Kinogegnern häufig als gesundheitsschädigend beanstandet werden. Der alte Name ›Kientopp‹ bezieht sich seitdem auf die wilden Jahre des frühen Kinos und verkörpert zum einen – als das »Negativ-Schlagwort«7 für alle denkbaren Defizite – dessen ungezügeltes und zu überwältigendes Übel. Er weist aber andererseits gelegentlich eine nostalgisch zurückzublickende, weil noch nicht disziplinär reglementierte Unschuld auf, welche der später etablierten Kulturindustrie des Spielfilms abhandenkommen sollte.8 Die Urheberschaft des Begriffes ›Kientopp‹, der als die volkstümliche wie wissenschaftliche Bezeichnung für die frühen filmischen Praktiken im Ganzen eine langfristige Geltung behält, wird zuweilen Hanns Heinz Ewers zugesprochen. Klaus Kreimeier etwa geht von dieser Annahme aus und gibt sie noch im Jahre 2011 an einer Stelle seiner sonst überaus informativen Abhandlung en passant wieder: In den frühen Laden- und Kneipenkinos mit ihren Minuten-Attraktionen, in denen es noch keine festen Stuhlreihen gibt und ein unstetes Laufpublikum kommt und geht, in denen man sich während der Vorstellung laut unterhält, Witze reißt, isst, trinkt und raucht und sich diebisch über jeden Filmriss, über jede technische Panne freut – in diesen sinisteren, aber höchst lebendigen Vergnügungsstätten, für die Hanns Heinz Ewers den Namen »Kientopp« erfunden hat, ist das Publikum noch ein kommunizierendes Kollektiv.9 An dieser langlebigen Legende hat zweifellos Ewers selbst einen wesentlichen Anteil, denn er konstatiert in aller Öffentlichkeit, dass der Begriff aus seiner Feder stamme. Im März 1913 hält Ewers anlässlich der Eröffnung des Kinos ›Cines-Theater‹ am Nollendorfplatz in Berlin mit der deutschen Uraufführung des italienischen Großfilmes Quo Vadis (1912, R: Enrico Guazzoni) die Direktion vertretend eine Festrede. In seiner »kurzweiligen Ansprache« unterrichtet »Dr. Ewers«, so ein Zeitungsbericht, das Publikum vor allem darüber, dass er »der Vater des Wortes ›Kinetopp‹ ist, aus dem der Setzerkobold Kientopp gemacht hat«10 . Gegen diese Behauptung melden sich jedoch bereits zeitgleich – i.e. ca. hundert Jahre vor der großangelegten Publikation Kreimeiers – mehrere beachtenswerte 7 8

9 10

Diederichs, Helmut H.: »Frühgeschichte deutscher Filmtheorie. Ihre Entstehung und Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg«, S. 37. In dieser Hinsicht gilt es ferner zu erwähnen, dass das als solches im deutschen Sprachraum einmalige Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films, das aus Anlass des Jubiläums des Kinos um 1995 im Zeichen der New Film History gegründet wird, einen Titel trägt, der von dieser ersten ständigen Abspielstätte des Films herrührt: KINtop. Kreimeier, Klaus: Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des frühen Kinos, S. 73 f. Anonymus: »Cines«, in: Vossische Zeitung vom 20. März 1913, unpaginiert. Vgl. auch Keiner, Reinhold: Hanns Heinz Ewers und der Phantastische Film, S. 87, Anm. 14.

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Metaphorologie des Kinos

Einwände. Zum einen bestritt Hans Brennert 1916 die »Vaterschaft« des »schöne[n] Wort[es] ›Kientopp‹«, die »Hanns Heinz Ewers für sich beansprucht«. Brennert legt Zeugnis davon ab, dass er es »schon 1906 in einem Kino der Frankfurter Allee in Berlin zum ersten Male hörte, wohin es wohl nicht vom Schreibtisch meines ausgezeichneten Freundes Hanns Heinz gelangt war«11 . Zum anderen entkräftet aber niemand anderes als Ewers selbst bereits 1907 von vornherein den später von ihm erhobenen Anspruch auf die Urheberschaft des Neologismus ›Kientopp‹. Dies geschieht sogar in einem Aufsatz, der dieses Wort als Überschrift trägt: Der Kientopp! Ich hörte dies Wort zum erstenmal, als ich jetzt wieder nach Berlin zurückkam, und habe mich sofort darin verliebt. Vier Jahre lang bin ich auf drei Kontinenten in den verlassensten Löchern in – »Kinematographentheater« (greulich!) gegangen, von jetzt ab gehe ich nur noch in »Kientöppe«. Und ich liebe die Berliner, daß sie dies Wort gefunden haben: ein Volkswort, das schlagend ihre Liebe zu der guten Sache beweist.12 Fritz Güttinger macht zwar auf diesen Umstand aufmerksam und klärt die hartnäckige, aber fehlerhafte Legende auf. »Daß die Bezeichnung ›Kientopp‹ nicht, wie noch heute gelegentlich behauptet wird, eine Erfindung von Hanns Heinz Ewers ist, geht aus seinem Artikel von 1907 hervor.« Gleichzeitig gibt er jedoch die endgültige Ermittlung der Fragen explizit auf, wovon dieser Name herrührt und was er überhaupt bedeutet. Handle es sich doch hierbei lediglich »um einen Fall von Volksetymologie«: »Der Vorgang besteht darin, daß ein fremdes Wort den heimischen Sprechgewohnheiten anverwandelt wird, indem man es aus zwei muttersprachlichen Wörtern zusammensetzt, die einem geläufig sind«. Güttinger zufolge bestehe das Wort ›Kientopp‹ aus dem berlinischen ›Topp‹ und ›Kien‹ wie Kiefernholz.13 Dabei dürfe man aber »hinter solchen Bildungen« wie ›Kientopp‹ »[e]inen Sinn […] nicht suchen; sie entstehen lediglich, um schwierige Wörter mundgerecht zu machen. Und der Kinematograph war ja anfangs ein harter Brocken.«14 Für den technischen Apparat gibt es anfänglich nichts anderes als die fremdsprachliche und langsilbige Bezeichnung ›Kinematographie‹ (seinerzeit gängiger: ›Kinematograph‹), die für das deutschsprachige Publikum eines mündlich eingängigeren Ersatzes bedürfen soll. Der neu geprägte ›Kientopp‹ soll diese pragmatische wie lexi11 12 13

14

Brennert, Hans: »Filmdeutsch«, in: Max Mack (Hg.), Die zappelnde Leinwand, Berlin: Eysler 1916, S. 11-18, hier S. 12 (Herv. im Orig. gesperrt). Ewers, Hanns Heinz: »Der Kientopp«, S. 12. Güttinger: Der Stummfilm (wie Anm. 3), S. 24 f. Über den genauen Inhalt des mehrdeutigen Wortes ›Topp‹ entscheidet sich Güttinger – wohl absichtlich – nicht. Inzwischen erhält seine volksetymologische Theorie Einlass in eine den Standard bildende Ausführung zur Geschichte des deutschen Nationalkinos. Vgl. Jacobsen, Wolfgang: »Frühgeschichte des deutschen Films. Licht am Ende des Tunnels«, S. 16. Güttinger: Der Stummfilm (wie Anm. 3), S. 25.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

kalische Leerstelle ausfüllen, ohne aber hierbei überhaupt etwas anderes zu besagen. Dieses künstliche Wort soll insofern als ein schwebender Signifikant verstanden werden, der per se keinen Signifikaten besitzt. Infolgedessen soll es ausschließlich die Funktion wahrnehmen, durchaus arbiträr mit einem fremden Sinngehalt verknüpft zu werden.

6.1.2

»Der Theaterraum ist […] gleichzeitig ein Schankraum«. Der ›Kientopp‹ als Ort zum Schauen und zum Trinken

Versuche einer anderen volksetymologischen Erklärung des Terminus ›Kientopp‹ sind schon im selben Jahr wie Ewers’ gleichnamiger Artikel vorhanden, um diesem sprachlichen Konstrukt auf den Grund zu kommen. Hierbei nimmt der semantische Aspekt dieses Begriffs im Gegensatz zur güttingerschen Theorie eine zentrale Rolle ein. Denn beide Wortteile ›Kien‹ und ›Topp‹ büßen diesmal ihre eigentlichen Bedeutungen nicht (oder zumindest nicht vollständig) ein. Der hier zu besprechenden Auslegung zufolge behalten diese Signifikanten auch im neuen Kontext ihre ursprünglichen Signifikate. Lassen sich doch die ersten Abspielstätten der Kinematographie gemäß dieser Theorie mit semantisch wie lebensweltlich guten Gründen als ›Kientopp‹ bezeichnen. So ist in der Schaustellerzeitschrift Der Komet am 16. März 1907 ein Artikel zu lesen, in dem ein anonymer Korrespondent über das Kino ›Welttheater‹ berichtet, das in der Müllerstraße in Wedding zu Berlin neu eröffnet wird. »Im Volksmunde dieser Gegend ist es unter dem Namen ›Kientopp‹ bekannt, da man hier Gelegenheit findet, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und hier einen ›Topp‹ trinken kann.«15 Den genaueren Sinngehalt dieses Wortteils ›Topp‹ sowie der Prägung im Ganzen weiß Carl Döring in einer Ausgabe des darauffolgenden Monats der Filmfachzeitschrift Der Kinematograph aufzuklären: Der Berliner muss für alle Institutionen des öffentlichen Lebens, zumal wenn sie populär sind, eine kurze, witzige, zuweilen »schnoddrige« Bezeichnung haben. So ist im Volksmunde aus dem ›zu langen‹ Fremdwort »Kinematograph« einfach »Kin-Topp« geworden. Das volkstümlich kurze Doppelwort erklärt sich sehr einfach. Die ersten drei Buchstaben, von denen das »i«, nach der Berliner Vorliebe für Dehnung der Vokale, lang gesprochen wird, sind dem FremdwortAnfang entnommen. Auch der »Topp« ergibt sich ganz natürlich. In Berlin nennt man die meist handtuchartig langgestreckten Lokale, in denen (namentlich vor Verteuerung der Bierpreise) der Gambrinusstoff in vier Zehntel-Gemässen (»Töpfen«) verschänkt zu werden pflegt, »vier Zehntel-Töppe«. Da nun die meisten 15

-n.: »Wanderungen durch deutsche Kinematographen-Theater. II«, in: Der Komet 1147 vom 16. März 1907, S. 10, zitiert nach Diederichs, »Frühgeschichte« (wie Anm. 7), S. 36. Diederichs schreibt diesen Artikel A. Berein zu. Siehe ebd., S. 280.

203

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Metaphorologie des Kinos

Kinematographen-Theater der Reichshauptstadt mit Bier-Ausschank verbunden sind, so liegt die Bezeichnung »Kin-Topp« sehr nahe.16 Die erste Hälfte des Wortes ›Kien‹ stammt zum einen, Döring zufolge, aus den ersten drei Buchstaben des Terminus ›Kinematograph‹ (im Sinne der ›Kinematographie‹). Der Vokal wird hierbei nicht durch jenen von Ewers angesprochenen »Setzerkobold«, sondern wegen der Berliner Vorliebe für gedehnte Laute in die Länge gezogen. Die weitere Hälfte ›Topp‹ lässt sich zum anderen auf eine bestimmte – wohl beträchtliche – Mengeneinheit17 zurückführen, mit der in Berliner Lokalen Bier ausgeschenkt wird. 1916 versteht auch Brennert diese Prägung als »eine sprachliche Selbsthilfe eines Berliners, der sich aus dem Begriff des Kinoladens und jener freundlichen Schänkläden, in denen es einen ›4 /10 -Topp‹ gab, kurz entschlossen jenes Wort schuf«18 . Infolgedessen lässt sich die Prägung ›Kientopp‹ aus der damals üblichen Konvention erklären, dem Kinoraum einen Schankbetrieb anzuschließen. Zu dieser Zeit richtet man ein Ladenkino ohne größeren Aufwand ein. Man sollte ein Ladenlokal, i.e. einen kleineren, meist schlauchartigen Raum – z.B. einer früheren Kneipe oder Gaststätte – mieten und diesen mit den nötigen Einrichtungen versehen. In einem Zeitschriftenartikel 1909 zählt ein gewisser Bardolph die erforderlichen Ausstattungsgegenstände eines Ladenkinos oder ›Kientopps‹ auf. Es gehöre neben Dunkelheit durch das Verkleben des Fensters, neben schlichten Stuhlreihen, einer Leinwandfläche und einem Klavier oder Musikautomaten auch »ein Büfett« dazu, »an dem es Bier und Erfrischungen gibt«19 . Trotz des Mieterwechsels von einer Gastwirtschaft zu einer neuartigen Unterhaltungsbranche verwendet man das Ladenlokal zum Teil auf gleiche Weise, d.h. zum Alkoholverkauf. Der Name ›Kientopp‹ benennt die zwei parallelen Gebrauchszwecke des Kinoraums, die seinerzeit durchaus Usus sind. Der ›Kientopp‹ ist demnach Ort zu den beiden parallelen Akten des Schauens (›Kien‹) und des Trinkens sowie Sichberauschens (›Topp‹) zugleich.

16 17

18 19

Döring: »Berliner Kinematographen-Theater« (wie Anm. 1). In einem Dialog zum Schluss des NS-Propagandafilms Hitlerjunge Quex (DE 1933, R: Hans Steinhoff) figuriert der ›Topp‹ als eine größere Alternative zur ›Molle‹: »›Mensch, wenn da ein Topp englisch Bier steht und da eine Molle Berliner Bier, was würdest du dann nehmen?‹ Antwort: die Molle. ›Denn die Molle ist in Berlin gebraut, und Berlin liegt an der Spree; wo aber fließt die Spree?‹ Antwort: ›In Deutschland, (gehobener Ton), in unserem Deutschland‹ …!«. Günther, Hans: »Der Film im Dritten Reich« [1934], in: Ders., Der Herren eigner Geist. Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Röhr, Berlin/Weimar: Aufbau 1981, S. 562-566, hier S. 565 (Herv. im Orig.). Brennert: »Filmdeutsch« (wie Anm. 11), S. 12. Bardolph: »Im Kientopp«, in: Morgen 3 (1909), S. 76-78, hier S. 77. Hierzu vgl. auch Paech, Anne/Paech, Joachim: Menschen im Kino. Film und Literatur erzählen, S. 27 f.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

Der ›Kientopp‹ als Ort sowohl des Unterhaltungs- als auch des Alkoholkonsums steht in der Diskussion der frühen Kinoreform gerade aufgrund dieser Zwitterstellung im Kreuzfeuer. In der anfänglichen Phase stellt die Kinoreform im Unterschied zur späteren Debatte noch keine kunstästhetische Auseinandersetzung im Zeichen des langen Spielfilms oder ›Kinodramas‹ dar. Sie verfolgt vielmehr vorwiegend eine pädagogische Kampagne für den Jugendschutz. So wenden sich zu dieser Zeit diverse Lehrerorganisationen gegen den ›Kientopp‹. Für die Pädagogen sollen »[n]icht nur der Inhalt vieler Darbietungen, sondern auch eine Reihe von Neben-Erscheinungen in den Theatern lebender Photographien […] Anlaß zu ernsten Bedenken« geben. Auf dem Spiel stehen sollen nicht nur die körperliche, sondern auch die geistige Gesundheit der (vor allem jugendlichen) Zuschauer. Neben anderen erscheint es der Hamburger Lehrerkommission etwa besonders besorgniserregend, dass »[d]er Theaterraum […] in der Regel gleichzeitig ein Schankraum«20 sei. Dieser Einwand gegen den Kientopp als Theater- und Schankraum ist im Kontext der heftigen sozialpolitischen Debatte um den Alkoholismus zu lesen. Denn seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ist die ›Alkoholfrage‹ oder die Trunksucht sowohl unter bürgerlichen als auch sozialistischen Reformern geradezu ein Politikum. Der Vorwurf scheint so schwergefallen zu sein, dass sich ein anonymer Beiträger für das Kinofachblatt Der Kinematograph verpflichtet fühlt, das Kino gegen diese harsche Kritik zu verteidigen. Darüber hinaus versucht er es gar als eine mögliche Lösung der ›Alkoholfrage‹ zu rehabilitieren. In der schlicht als Kinematograph und Alkohol betitelten Studie fragt sich der namenlose Autor, ob das Kino bzw. der »Bierausschank in den Kinolokalen den Alkoholkonsum vermehre«. Erwartungsgemäß verneint er mit Nachdruck die selber gestellte Frage: »Für uns besteht nicht der geringste Zweifel daran, daß es ihn beträchtlich vermindert.«21 Hier wird also zu bezeugen beabsichtigt, dass der Alkoholkonsum wegen des Kinos trotz des vorhandenen Ausschankbetriebes und der billigeren Angebote der alkoholischen Getränke nicht gestiegen (wie die Vorwürfe lauten), sondern auffällig gesunken sei. Zum Zweck einer Verteidigung des Kinos gegen den Vorwurf des übermäßigen Alkoholkonsums im Zuschauerraum besteht der Beiträger des Artikels Kinematograph und Alkohol vor allem auf die scharfe Trennung des Sehens und des Trinkens als zwei verschiedener Akte. Infolgedessen verweigert er durchgängig die Bezeichnung ›Kientopp‹ sowie die Betrachtungsweise über das Kino als ›Kientopp‹, i.e. als ein Ort sowohl zum Schauen als auch zum Trinken. Der Autor rekurriert aus diesem

20 21

Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens zu Hamburg: Bericht der Kommission für »Lebende Photographien« [1907], S. 23. Anonymus: »Kinematograph und Alkohol. Eine Berliner Studie« [1908], in: Frank Kessler/Sabine Lenk/Martin Loiperdinger (Hg.), Aufführungsgeschichten, S. 147-149, hier S. 148 (Herv. im Orig.).

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206

Metaphorologie des Kinos

Grunde zunächst auf die in der ›Alkoholfrage‹ althergebrachte Unterscheidung des wohltätigen gemeinschaftsstiftenden Getränks Bier und des bösartigen, weil eskapistischen Alkohols Branntwein.22 So wird behauptet, im Kino trinke man selten den Letzteren. Denn die »[b]ranntweinartige[n] Getränke sind zwar […] an den Buffets zu haben, werden aber niemals von den Kellnern angeboten« wie Bier. Dieser Sachverhalt sei darauf zurückzuführen, dass das Verständnis des Kinos als ›Kientopp‹ in Wirklichkeit nicht gelte: »Der Besucher des Kinos ist sich eben beim Eintritt bewußt, daß er nicht hineinkommt, um etwas zu trinken oder zu verzehren, sondern hauptsächlich um zu schauen.«23 Zwischen zwei Genüssen des Sehens und des Trinkens oder Verzehrens wird hier eine deutliche Grenze gezogen, und der Kinoraum soll demzufolge gegen den Vorwurf der pädagogischen Kinoreformer kein Schankraum sein. Darüber hinaus sei die im Kino verbrachte Zeitdauer für einen übermäßigen Alkoholkonsum zu kurz. Zudem fehle im Kino wegen der optischen Angebote jene Langeweile, die vor der Verbreitung des sesshaften Ladenkinos die Müßiggänger in Lokalen wie Restaurants und Cafés zum Trinken eingeladen habe. Schließlich weise auch die Statistik eine allgemeine Verringerung des Alkoholkonsums aus. Die letzte Auskunft erwähnt der Autor des Artikels als einen zusätzlichen Beweis dafür, dass das Kino den Alkoholismus nicht verschärfe, sondern vielmehr gar zu einer Bewältigung der ›Alkoholfrage‹ beitrage. So stützt sich dieser Versuch einer Rehabilitierung des Kinos durchgängig auf eine strenge Trennung der zwei Genüsse, i.e. der Kehle und des Auges, oder der beiden Zustände von Nüchternheit und Berauschung. Indem der ›Kinematograph‹ und der ›Alkohol‹ demnach strikt auseinandergehalten werden, soll für die unheilbringende Erscheinung ›Kientopp‹ kein Spielraum übrigbleiben.

6.1.3

Das Schauen als das Trinken. Zur Metaphorisierung des ›Kientopps‹

Behält die Abhandlung Kinematograph und Alkohol als Abwehrversuch eines anonymen kinofreundlichen Soziologen Recht, so bedeutet dies wohl, dass es sich bei

22

23

Vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel [1980], 7. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2010, S. 171. – David Wark Griffith zieht in einer Sequenz über die fanatischen Abstinenzler in seinem Großfilm Intoleranz (Intolerance, US 1916) diese traditionelle Dichotomie eindrucksvoll heran. Im Unterschied zur skeptischen Behandlung der ›intoleranten‹ Enthaltsamkeitsbewegung leistete Griffith in einem seiner (bis heute filmographisch nachweisbaren) frühesten Filme, die je in Deutschland aufgeführt werden, Die Bekehrung des Trunkenbolds (A Drunkard’s Reformation, US 1909), eine »most powerful temperance lesson ever depicted«. Anonymus: »A Drunkard’s Reformation«, in: American Mutoscope & Biograph, Bulletin 225 (1909), zitiert nach dem ROM-Bereich der DVD: Lichtspiele und Soziale Frage. Screening the Poor 1888-1914, München: film&kunst 2011. Anonymus: »Kinematograph« (wie Anm. 21), S. 147.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

dem Genuss des Trinkens und dem des Zuschauens um zwei völlig verschiedene Arten des Vergnügens handelt. Denn dieser Behauptung zufolge soll der Alkoholkonsum seinerzeit in der Tat keinen konstitutiven Beweggrund eines Kinobesuches bieten. Daraus folgt aber nicht, dass sich diese parallelen Handlungen gegenseitig komplett ausschlössen und auf keinen gemeinsamen Nenner bringen ließen. Im Gegenteil: Sie stehen vielmehr miteinander in einem inneren, weil rivalisierenden Zusammenhang, der bezüglich des Zeitraumes ab den frühen 1910er Jahren vielfach konstatiert wird. So teilt man häufig mit, dass zwischen den Gaststätten und den Kientöppen eine erkennbare Konkurrenz herrscht, bei der es außerdem offensichtlich zugunsten der letzteren Branche verläuft. Wie unten eingehend ausgeführt wird, macht Alfred Döblin etwa bereits 1909 zwischen dem Kino- und dem Kneipenbesuch der »Masse« ein konkurrierendes Verhältnis aus. Auch Hugo von Hofmannsthal findet in einem Aufsatz von 1921 im Kino einen Ausweg für »die Leute«24 (hier im Sinne der großstädtischen ›kleinen Leute‹) aus der »eigentümliche[n] fade[n] Leere der Realität, d[er] Öde[, …] aus der auch der Branntwein herausführt«. Ihm zufolge ziehe »[d]er Eingang zum Kino […] mit einer Gewalt die Schritte der Menschen an sich […] wie die Branntweinschänke«25 . Unabhängig davon, ob man im Kino bzw. ›Kientopp‹ überhaupt Branntwein tatsächlich konsumiert – was jenem anonymen Kinoverteidiger eine Überlebensfrage darstellt –, sieht Hofmannsthal zwischen dem Kino und dem Branntwein eine Parallele. Ebenfalls zieht Walter Panofsky in seiner Dissertation 1940 aus den damals bereits historischen Gegebenheiten – insbesondere bezüglich des Zeitraumes um 1910 – rückblickend die Summe: Die Menschen, die bisher den Abend in Gaststätten und Bierkellern beschlossen, gingen jetzt ins Kino, das nachgewiesener Maßen zu einer fühlbaren Konkurrenz für die Gaststätten geworden war. Seit 1882 betrug die Zunahme der Gastwirtschaften im Ganzen Reich bis 1907 38 %, – zu diesem Zeitpunkt besaß das Reich 234 437 derartiger Lokale. Die Konkurrenz des Kinos drückt sich im Eingehen zahlreicher Gaststätten aus: allein in Berlin mußten 1911 rund 2000 Lokale schließen, weil, wie auf einem Verbandstag des Gastwirtsgewerbes festgestellt wurde, »das Stammpublikum vom Kino entfremdet wurde.«26 Jenem anonymen Soziologen zufolge soll man in einem ›Kientopp‹ trotz der billigen Preise erheblich weniger Bier oder sonstige alkoholische Getränke konsumieren als in einer Kneipe oder Gaststätte. Daraus folgt, dass man so gut wie ausschließlich

24 25 26

Hofmannsthal, Hugo von: »Der Ersatz für die Träume«, S. 141. Näheres hierzu siehe oben in Kapitel 4. Ebd., S. 142 f. Panofsky, Walter: Die Geburt des Films, ein Stück Kulturgeschichte. Versuch einer zeitgeschichtlichen Darstellung des Lichtspiels in seinen Anfangsjahren, Würzburg-Aumühle: Triltsch 1940, S. 61.

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Metaphorologie des Kinos

um des Filmes oder dessen Erlebnisses willen das Kino besuchen soll. Ist von dieser Feststellung auszugehen, so sollte man ein Konkurrenzverhältnis wohl nicht zwischen zwei mehr oder minder gleichartigen Ausschankbetrieben suchen. Es muss vielmehr zwischen zwei per se fremdartigen, aber dennoch in gewisser Weise vergleichbaren Genüssen des Alkohols und des Filmes bestehen. Der filmische Rausch als solcher hat zum einen mit dem alkoholischen wenig zu tun. Nichtsdestotrotz müssen beide Genüsse zumindest auf einer bestimmten Ebene komparabel sein, um überhaupt miteinander in einem Wettbewerb stehen zu können. Hermann Friedemann berichtet in einem Zeitungsartikel 1912 über den im obigen Zitat von Panofsky angesprochenen »Verbandstag des Gastwirtsgewerbes« in Berlin. In diesem Bericht bringt Friedemann ebenfalls jene Statistik eines sinkenden Alkoholkonsums zur Sprache, auf die auch jener namenlose Kinoverteidiger hinweist. Er führt als mögliche Gründe dieses wirtschaftlichen und soziokulturellen Vorganges zweierlei Dinge auf: »den sozialdemokratischen Schnapsboykott und die Kinos«27 . Der Erstere trägt zu einem abnehmenden Pro-KopfAlkoholverbrauch in der Bevölkerung bei,28 der in der einschlägigen Statistik seinen Niederschlag finden soll. Die Konkurrenz zum Kinogewerbe signalisiert andererseits, so Friedemann, eine sozial- wie mentalitätsgeschichtliche Wende unter der Bevölkerung: Was bedeutet das alles? Dies: Das Leben entstofflicht sich. Auch das Leben der Massen. […] Ist es nicht etwas Großes, daß Abertausende auf Bier und Schnaps der Wirtshäuser verzichten, um Filmbilder zu sehen? […] Genüsse der Kehle werden durch Genüsse des Auges, des Ohrs und der Nerven ersetzt: unaufhaltsam und überall.29 So besucht man nun einen ›Kientopp‹ gerade nicht wegen der materiellen »Genüsse der Kehle« von Bier oder Schnaps, sondern vielmehr zwecks der entstofflichten »Genüsse des Auges«. Erst wenn diese mit jenen vergleichbar und folglich in gewisser Hinsicht austauschbar erscheinen, dann kann man von einer Konkurrenz

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29

Friedemann, Hermann: »Schnaps – Schund – Film«, in: Deutsche Montags-Zeitung vom 11. November 1912, unpaginiert. 1909 ruft die SPD wegen einer Branntweinsteuererhöhung zu einem Schnapsboykott auf, der im Grunde in der Tradition der sozialdemokratischen Mäßigkeitsbewegung steht. Der Cheftheoretiker der Partei, Karl Kautsky, bringt im späten 19. Jahrhundert diese Alkoholpolitik im Rahmen der Arbeiterbewegung in eine Formel: »Der Schnaps, das ist der Feind«. Nach anfänglichen Erfolgen erweist sich aber diese Aktion – so Hasso Spode – schließlich als wirkungslos. Vgl. Schivelbusch: Das Paradies (wie Anm. 22), S. 176, sowie Spode, Hasso: Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland, Opladen: Leske + Budrich 1993, S. 241. Friedemann: »Schnaps« (wie Anm. 27), ein Druckfehler (»der Nerv enersetzt«) wurde vom Verfasser korrigiert.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

zwischen beiden sprechen. Insofern nimmt ein zentrales Argument der Kientoppgegner, dass einem ›Kientopp‹ ein Ausschankbetrieb ubiquitär verbindlich sei, nur noch – wenn überhaupt – eine unerhebliche Rolle ein. Denn der Film selbst bedeutet nun ein alkoholähnliches Rauschmittel, das man gleichsam mit Augen tränke. Der ›Kientopp‹ muss demnach nicht die Bezeichnung des Ortes sein, in dem man filmisches Bild und Alkohol parallel konsumiert. Dort wird im gewissen – übertragenen – Sinne schon getrunken, auch wenn man keinen Tropfen Alkohol zu sich nimmt. Sieht man dort doch filmische Bilder, als tränke man sie.30 Diese metaphorische Perspektive erweist sich als unerlässlich, damit das konstatierte Konkurrenzverhältnis von Gastwirtschaften und Kientöppen überhaupt funktioniert. Mit anderen Worten: In der Bezeichnung ›Kientopp‹ oder genauer: zwischen ihren beiden Wortteilen ›Kien‹ und ›Topp‹ liegt ein typischer Fall jener metaphorischen Interaktion vor. Das letztere Element ›Topp‹ stammt aus dem Kontext des Ausschankbetriebs und wird mit dem ersteren ›Kien‹ wie ›Kinematographie‹ in Verbindung gesetzt. Im Gegensatz zu Güttingers volksetymologischer Feststellung behält ›Topp‹ jedoch trotz dieser Übertragung auch im neuen Zusammenhang noch seine ursprüngliche Bedeutung, i.e. eine bestimmte Biermenge, die seinerzeit in volkstümlichen Kneipen ausgeschenkt wird. Auf diese Weise benennt die Metapher ›Kientopp‹ gleichsam etwas Bierartiges in der Kinematographie, das der oben besprochenen Auffassung in Bezug auf die Konkurrenz zwischen Gaststätten und Kinos zugrunde liegt. Diese metapherneigene ›doppelte Bewusstseinslage‹ lässt aber beim ›Kientopp‹ schnell nach, der infolgedessen als Metapher derart wenig auffällt, dass das Wort bisweilen sogar als eine bloß zweckmäßige, durch nichts motivierte sinnlose Verknüpfung hingenommen wird. Aus diesem Grund ist der Ausdruck ›Kientopp‹ zwar gerade nicht als Metapher, sondern allenfalls als Exmetapher zu bezeichnen. Wenn man dem Wort in einer Rede oder einem Text begegnet, denkt man kaum mehr an den am Ladenkino angeschlossenen Ausschankbetrieb noch an die metaphorische Perspektivierung des Films als alkoholisches Getränk bzw. Rauschmittel. Ungeachtet dieser nur noch schwindenden Metaphorizität des Wortes ›Kientopp‹ besteht jedoch auch weiterhin die metaphorische Auffassung des Kinos als Ort des alkoholähnlichen Rausches. Dies äußert sich in der metaphorischen Rede des Alkohols wie des Biers oder Fusels, die sich im Kinodiskurs insbesondere um 1910 nahezu allerseits beobachten lässt.31 Bei Gottfried Benns Die Reise (1916)

30

31

Zur Fluidalmetaphorik, die nicht nur die gängigen Formen eines ›Bilderflusses‹ oder einer ›Bilderflut‹ des Films, sondern vielmehr die Figur des ›Trunks‹ einschließt, siehe oben in Kapitel 4 (bezüglich Gottfried Benns Die Reise) sowie unten in Kapitel 7 (zu Max Krells Kino. Eine Groteske). Vgl. Heller, Heinz-Bernd: Literarische Intelligenz und Film. Zu Veränderungen der ästhetischen Theorie und Praxis unter dem Eindruck des Films 1910-1930 in Deutschland, S. 47-49. An dieser

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Metaphorologie des Kinos

handelt es sich insofern um einen Ausnahmefall, als dort unter Rekurs auf die Metapher des ›Trunks‹ die willkommene Berauschung im Kino dargelegt wird. Allerdings geschieht dies in durchaus subtiler Weise, d.h. als eine ins Positive gewendete temporäre Regression, die innerhalb eines fiktiven Settings stattfindet.32 Die dominante Tendenz liegt vielmehr darin, dass der Film als Ersatz des alkoholischen Getränks figuriert, indem dem Kino die mit dem Alkohol vergleichbaren Wirkungen attestiert werden. Diese stellen sich außerdem ähnlich wie bei Alkohol als überaus doppeldeutig heraus. Bald stimmt das Kino einen heiter und steigert Glücksund Lebensgefühl, bald stellt der Film dem Publikum sowie der Kultur gegenüber ein verhängnisvoll süchtiges Rauschgift dar. So zeichnet sich das Kino, das nun einen Ort des Schauens als Trinkens bedeutet, in dieser Alkoholmetaphorik durch die ausgeprägte Zweischneidigkeit aus. Im Folgenden soll diesen beiden Aspekten der Alkoholmetapher des Kinos anhand von Textanalysen nachgegangen werden. Zum einen wird ein Aufsatz von Alfred Döblin aus dem Jahre 1909 ins Spiel gebracht: Das Theater der kleinen Leute. In diesem Essay ist ein Beispiel der Argumentation auszumachen, die das Kino gerade aufgrund der vorhandenen Vergleichbarkeit mit Alkohol als ein Heilmittel gegen den übermäßigen Alkoholverbrauch verschreiben will. Denselben Komponenten aber, die eine heilende Einwirkung des Kinos ermöglichen sollen, können aber auf der anderen Seite genau entgegengesetzte Folgen zukommen, welche den Zuschauern tragische Schicksalsschläge zufügen können. So sollen zum anderen verschiedene Aufsätze sowohl der Kinoreformer als auch der kinogegnerischen Literaten wie Theaterleute zur Sprache kommen. Diese wollen das Kino und insbesondere den sich gerade aufkommenden langen Spielfilm, ›Kinodrama‹, als solchen unheilbringenden Trank auslegen und anprangern.

32

Stelle seiner grundlegenden Arbeit macht Heller auf das Alkoholmotiv in den damaligen Diskussionen über das Phänomen Kino als Erster aufmerksam. Hierzu siehe oben in Kapitel 4. Mit Blick auf dieses vorauslaufende Anzeichen erscheint eine Filmglosse 1933 (»das erste Jahr«) diskursgeschichtlich symptomatisch, denn sie setzt sich nun dezidiert und leidenschaftlich (›trunken‹) für den Film als alkoholisches Getränk ein, nämlich als Wein: –fl–: »Der heurige Film«, in: Die Tat. Unabhängige Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit 25 (1933/34), S. 662-665, hier S. 663. Für den Verfasser (wohl den späteren Dokumentarfilmer Frank Leberecht) sei »die Hälfte aller Filme […] abgestandenes Leitungswasser, die andere Hälfte fast ist Limonade, zu Champagner aufgefärbt«. Man habe jedoch »den Film […] als einen Heurigen zu betrachten« (S. 662 f.), der »für das Deutschland einer neuen Ordnung« »jenen Rausch der Begeisterung entfesseln [könne], der zugleich ein Rausch der Nüchternheit ist und aus dem eine neue Zeit entstehen wird« (S. 665). Auf die NS-konforme Ausrichtung dieser Besprechung, die Goebbels lobend zitiert, nimmt Hans Günther im bereits erwähnten Aufsatz (siehe oben in Anm. 17) aus ideologischer Perspektive kritisch Bezug.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

6.1.4

Das Kino als »Mittel gegen den Alkoholismus« – Döblin: Das Theater der kleinen Leute

Im Jahre 1909 veröffentlicht Alfred Döblin in der von seinem Berliner Freund Herwarth Walden herausgegebenen Halbmonatsschrift Das Theater den Artikel Das Theater der kleinen Leute. Dr. med. Döblin hat drei Jahre zuvor eine Assistentenstelle an einer Regensburger Irrenanstalt verlassen und ist in seine Heimat Berlin zurückgekehrt. In diesem kurzen Essay beschreibt der junge Nervenarzt eine kleine Expedition eines »Höhergebildete[n]«. Diese Reise soll in eine Terra incognita führen, i.e.: in die populären Vergnügungsstätten, die für den Bildungsstand des Protagonisten am entferntesten sind und deren Kundschaft hauptsächlich aus den »kleinen Leute[n]« besteht. Neben dem Panoptikum sind es in dieser Feldforschung vor allem die »Kientopps«, die vom gebildeten »Besucher« besichtigt werden und in seinen Berichten thematisch Erwähnung finden. Unter den qualitativ unterschiedlichen Kinos in dieser Großstadt – angefangen von den »verräucherten Stuben, Ställen [und] unbrauchbaren Läden« bis hin zu den »großen Sälen [und] weiten Theatern« – entschließt er sich schließlich für »die kaschemmenartigen im Norden«. Döblin berichtet über die Außen- und Inneneinrichtungen des Gebäudes, über die Zuschauer oder über »ein Monstrum von Publikum, […] eine Masse«, die sich vorwiegend aus den ärmeren Schichten rekrutieren soll. Darüber hinaus erzählt er über die von Kriminalaffären sowie Sentimentalitäten beherrschten Darbietungen auf dem »Leinewandviereck«, welches das Publikum »zusammenbannt«,33 also in seinen Bann zieht. In seinem späteren Berliner Manifest An Romanautoren und ihre Kritiker (1913) zieht Döblin das technische Medium Film als ein paradigmatisches Modell für eine Textproduktion heran. So propagiert er den »Kinostil«34 programmatisch als eine methodische Herangehensweise für kommende Romane. Im Unterschied hierzu steht im Mittelpunkt dieses früheren Aufsatzes ein »Besucher« mitsamt seinen Beobachtungen bezüglich der Rezipientenmasse. Dieser soziologischen35 Ausrichtung seines Berichtes entsprechend sowie gemäß seinem Beruf im bürgerlichen Leben stellt Döblin letztlich die folgende Diagnose: »Deutlich erhellt: der Kientopp [sei] ein vorzügliches Mittel gegen den Alkoholismus, [die] schärfste Konkurrenz der Sechserdestillen; man achte, ob die Lebercirrhose und die Geburten epilep-

33 34 35

Döblin, Alfred: »Das Theater der kleinen Leute«, S. 71 f. Döblin, Alfred: »An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm«, S. 121. Näheres hierzu siehe oben in Kapitel 5. Zum soziologischen Charakter, den dieses Schreiben mit anderen zeitgenössischen Veröffentlichungen über kinematographische Themen teilt, siehe Krause, Markus: »Die Disziplinierung des Lichtspiels. Zur Überblendung von Masse, Medium und belehrbarem Subjekt im frühen Kinodiskurs«, S. 192.

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Metaphorologie des Kinos

tischer Kinder nicht in den nächsten zehn Jahren zurückgehen.«36 Im Gegensatz zu jenen Bildungsbürgern, die den sogenannten Schundkampf37 führen, verteidigt Döblin – mit einem Anflug von ärztlichem Paternalismus – den »Kientopp«, indem er im Kino eine Alternative zur Kaschemme sieht. Aus diesem Grund verordnet der Mediziner das Kino als Heilmittel gegen den Alkoholismus, den sowohl bürgerliche als auch sozialistische Reformer seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als ›Alkoholfrage‹ diskutieren. Ein Anlass dafür, dass Döblin hier in Bezug auf das Kino überhaupt den Alkoholismus in Betracht zieht, ist – neben dem allgemeinen sozialpolitischen Hintergrund der ›Alkoholfrage‹ – einerseits in seiner Biographie zu suchen. Denn seine vier Jahre zuvor abgeschlossene Dissertation, die der Spezialist für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Freiburg im Breisgau eingereicht hat, handelt bereits von einer Art Alkoholismus.38 Die dort thematisierten Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose39 seien in erster Linie auf den »chronischen Alkoholdelir« zurückzuführen. Im Zentrum des Krankheitsbildes stehen Döblin zufolge zwei Symptome. Einerseits der Gedächtnisausfall, aufgrund dessen alles im betroffenen Lebensausschnitt »›wie ausgelöscht‹«40 erscheine, und andererseits die sogenannten »Confabulationen«. Diese bedeuten die »phantastischen« Erinnerungsbilder, 36 37

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40

Döblin: »Das Theater« (wie Anm. 33), S. 73. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts löst die schlagartig aufblühende literarische Unterhaltungsindustrie einen von den Gebildeten getragenen Feldzug aus, den ›Schundkampf‹, der sich beauftragt sieht, die Ausbreitung ästhetisch minderwertiger und schädlicher Kunstwaren (vor allem Kolportage- sowie Hintertreppenromane) aufzuhalten. Vgl. Jäger, Georg: »Der Kampf gegen Schmutz und Schund. Die Reaktion der Gebildeten auf die Unterhaltungsindustrie«, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 31 (1988), S. 163-191; Maase, Kaspar: »›Schmutz und Schund‹. Die Auseinandersetzung um die Massenkultur im deutschen Kaiserreich 1871-1918«, in: Humboldt-Spektrum 4 (1997), H. 3, S. 48-54; dens.: »›Schundliteratur‹ und Jugendschutz im Ersten Weltkrieg. Eine Fallstudie zur Kommunikationskontrolle in Deutschland«, in: kommunikation@gesellschaft 3 (2002), online unter www.kommunikation-gesellschaft.de/B3_2002_Maase.pdf (zugegriffen am 1.3.2020). Die Kinoreformbewegung lässt sich als eine Fortsetzung des Schundkampfes auf dem neuen technisch-massenmedialen Feld des Kinos verstehen. In einem Brief an seinen Berliner Freund Herwarth Walden charakterisiert Döblin das Thema: »Seit ein pa[a]r Tagen habe ich auch meine Doktorarbeit begonnen; über einen Fall von ›Korsakoffscher Psychose‹; das ist eine seltene Geisteskrankheit, die nach schwerer Nervenkrankheit sich manchmal einstellt, wie es scheint, eine Alkoholsache.« (Alfred Döblin an Herwarth Walden im November 1904, in: Ders., Briefe, hg. von Heinz Graber, Olten/Freiburg im Breisgau: Walter 1970 [= Ausgewählte Werke in Einzelbänden], S. 27 f.) Zu dieser Doktorarbeit und insbesondere über deren Bedeutung für Döblins spätere schriftstellerische Tätigkeiten vgl. Schoeller, Wilfried F.: Alfred Döblin. Eine Biographie, München: Hanser 2011, S. 75-80. So lautet der Titel der Dissertation, die jetzt neu ediert vorliegt: Döblin, Alfred: Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose [1905]. Mit einem Nachwort von Susanne Mahler, Berlin: Tropen 2006. Ebd., S. 10 f.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

die der Patient für erlebt ausgibt, denen er jedoch in Wirklichkeit nie begegnet ist. Die vom Alkoholismus verursachte Auslassung im Gedächtnis – der ›Filmriss‹ avant la lettre – werde »mit reiche[n], oft [in] minutiöse[n] Detail[s]« ausgeschmückten (inneren) Bildern ausgeglichen. Darüber hinaus erstrecke sich deren Themenbereich bis hin zu »[a]benteuerliche[n] Räubergeschichten, merkwürdige[n] Seefahrten, Begegnungen mit exotischem Getier«41 . Dieses Stoffrepertoire erweist sich in dieser Hinsicht als wesensverwandt sowohl mit der zeitgenössischen Kolportage bzw. ›Schundliteratur‹ als auch mit den damaligen ›Kinodramen‹. Insofern stehen der Alkoholismus und die (inneren) phantastischen Bilder auch in Döblins Dissertation in einem konkurrierenden oder ergänzenden Verhältnis zueinander. Wenn man aber den Inhalt der voraussetzungsreich anmutenden Behauptung aus dem Jahre 1909, dass gerade das »kaschemmenartige« Kino zu einer Bekämpfung gegen den Alkoholismus effektiv diene, genauer bestimmen will, empfiehlt sich eine nähere Auseinandersetzung mit dem Text selbst. Es stellt sich dabei heraus, dass jene lapidare Passage aus zwei metaphorisch prädikativen Gleichungen besteht. 1. Das Kino ist ein Mittel gegen Alkoholismus; 2. Das Kino steht mit dem Alkohol in Konkurrenz. Darüber hinaus herrscht zwischen den beiden Thesen eine kausale Beziehung, wobei die Letztere eine Bedingung für den Inhalt der Ersteren darstellt. Denn: indem das Kino eine konkurrierende Position gegenüber dem Alkohol einnimmt, kann es zur Bekämpfung des Alkoholismus beitragen. Des Weiteren setzt dieser neue Satz einen verschwiegenen dritten voraus: Damit das Kino mit der »Sechserdestille« konkurrieren kann, muss es über gleiche oder zumindest vergleichbare, gewissermaßen ebenbürtige Wirkungen wie der Alkohol verfügen. Döblins Rezept stützt sich demzufolge auf eine metaphorische Sicht, in der das Kino nicht einfach gegen, sondern vielmehr im gewissen Sinne als Alkohol oder als Rauschmittel erscheinen soll. Gerade weil der »kaschemmenartige« ›Kientopp‹ durch eine ihm unterstellte rauschhafte Wirkung eine mit dem Alkohol konkurrierende Rolle einnehmen kann, ist der Kinobesuch den ›kleinen Leuten‹ nicht ab-, sondern vielmehr anzuraten (oder zumindest großzügig in Kauf zu nehmen). Dieser metaphorischen Sicht gegenüber dem Kino als Alkohol, die im Grunde auch Friedemann teilt, kommt bei Döblin seinem bürgerlichen Beruf entsprechend noch eine andere metaphorische Figur hinzu, nämlich die eines Heilmittels. Er spricht sogar einzelne Leiden wie »die Lebercirrhose und die Geburten epileptischer Kinder« an, die gerade jener »Korsakoffschen Psychose« gleich als typische Folgeerscheinungen des Alkoholismus gedeutet werden sollen. Dieser Metapher zufolge soll das Kino nicht nur Gastwirtschaften verdrängen und den übermäßigen Alkoholverbrauch in der Bevölkerung senken. Darüber hinaus könne es auch eine krankhafte Sucht heilen, die Vergifteten kurieren und ferner die verheerenden pathologischen Folgen sozialhygienisch beseitigen. Aus diesem Grund erscheint das 41

Ebd., S. 12.

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214

Metaphorologie des Kinos

Kino nun als ein heilbringendes Antidot, das von Patienten eingenommen werden und ihre Gesundheit fördern soll.

6.1.5

»[Z]wei gleich gefährliche Gifte«. Zur Bekämpfung des ›Kinofusels‹

Aus der Alkoholmetaphorik des Kinos schöpfen auch die Kinogegner eine argumentative Kraft, die sie aber ihrerseits zum Zweck einer Bekämpfung des Kinos einsetzen. Sie bestehen um 1910 aus zwei verschiedenen Lagern, die sich je nach den Berufen der Mitglieder sowie ihren selbstgestellten Aufgaben voneinander unterscheiden. Die Schriftsteller und Theaterleute einerseits, die im Rahmen der literarischen Kinodebatte den sogenannten ›Theater-Kino-Streit‹42 führen, und die bildungsbürgerlichen Kinoreformer zum anderen. Beide Strömungen werden zwar von mehr oder minder vergleichbaren Interessen geleitet. Ihrer Ansicht nach gilt es, die kulturellen Schäden im Status quo des deutschen Kinos zu bekämpfen oder zumindest stark restriktiv zu revidieren. Die Divergenzen beider rühren aber von ihren jeweils andersartigen Beweggründen her. Die Kinoreformer sehen sich vor allem aus pädagogischen und volkserzieherischen Gesichtspunkten verpflichtet, den angeblich geschmacksverderbenden Einfluss des neuen Mediums Film zu verbannen und bildungsbürgerlichen Idealen gemäß zu beschneiden.43 Die Schriftsteller verfolgen ersichtlich gegenständlichere Ziele. Sie wollen entweder die Zunft der Theaterleute bzw. Literaten vor der emporkommenden plebejischen Bedrohung der Populärkulturen beschützen oder nach Möglichkeit durch eine Kooperation mit dem Kino neue Überlebenschancen gewinnen.44 Bei allen Verschiedenheiten erscheint es jedoch plausibel, die beiden hinsichtlich ihres kinematographischen Metapherngebrauchs auf einen gemeinsamen

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44

Hierzu siehe unten in Kapitel 8; vgl. auch Diederichs: »Frühgeschichte« (wie Anm. 7), S. 35-48. Hinter dieser manifesten Motivation verbirgt sich aber auch eine latente Absicht der Bildungselite, den eigenen kulturellen Führungsanspruch vor dem drohenden Prestigeverlust zu erhalten. Zum sozialgeschichtlichen Kontext der Kinoreformbewegung vgl. die wegweisende Studie von Schlüpmann, Heide: Die Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos, insbes. S. 193-199. Zum weiteren historischen Zusammenhang eines Strukturwandels in Bezug auf die Statussymbole ›Bildung‹ bzw. ›Kultur‹ sowie den Versuchen einer Krisenbewältigung der Bildungsbürger im ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. neben anderen Köster, Udo: »Elitekultur – Kulturelite. Repräsentative Kultur und Sezessionsbewegungen im Kaiserreich«, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Das deutsche Kaiserreich. 1867/71 bis 1918. Bilanz einer Epoche, Freiburg im Breisgau/Würzburg: Ploetz 1984, S. 181-188. Exemplarische Texte, die hier zu besprechen sind, stammen mehrheitlich aus den Jahren 1912/13. Diederichs erklärt, dies sei auf den »Offene[n] Brief« von Max Epstein von Anfang Februar 1912 zurückzuführen, der an mehrere prominente Verbände der Theaterleute appelliert, bekämpfende Maßnahmen gegen das Kino zu ergreifen, vgl. Diederichs: »Frühgeschichte« (wie Anm. 7), S. 43-48. Zum Metapherngebrauch in Epsteins Aufsatz siehe Kapitel 8.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

Nenner zu bringen. Eines der augenscheinlichsten Beispiele ist gerade die Alkoholmetapher, die von beiden Bereichen in gleichem Maße favorisiert wird. Was den Gebrauch dieser Metapher betrifft, so sind sich die Publikationen der Kinoreformer und die Abhandlungen der literarischen und theatralischen Kinogegner zum Verwechseln ähnlich. Die Metapher nimmt hier jedoch bemerkenswerterweise eine jener Diagnose von Döblin diametral entgegengesetzte Rolle ein. Dort bedeutet das Kinoerlebnis ein wirksames Heilmittel gegen den Alkoholismus sowie dessen pathologische Folgen, weil ihm ein entsprechender Effekt beizumessen sei. Derselbe Umstand wird bei den Kinogegnern hingegen in umgekehrter Richtung ausgelegt und soll metaphorisch auf eine andere – in gleichem Maße ernste oder ggf. noch verhängnisvollere – geistige und kulturelle Vergiftung hinauslaufen. Der Kinoreformer Victor Noack widmet beispielsweise um 1910 als erklärter Kinogegner dem Thema mehrere Publikationen. In seiner Broschüre Der Kino. Etwas über sein Wesen und seine Bedeutung (1913) greift Noack auf die »Analogie zwischen ›Kientopp‹ und ›4 /10 -Topp‹ (Destille)«45 zurück, die Döring im Kinematograph sechs Jahre zuvor bereits vorstellte.46 Die Bezeichnung ›Kientopp‹ steht bei Noack anders als bei dem namenlosen Kinoapologeten nicht von vornherein speziell für das ›Ausschankkino‹. Sie sei vielmehr »für die leider nur zu vielen minderwertigen – ich möchte sagen: improvisierten Kinematographentheater angewandt, die im ersten besten Laden, oft genug sogar in hochparterre gelegenen Wohnungen, deren Stubenwände man ausbrechen ließ, ›aufgemacht‹ wurden«47 . Indem die Definition der »Kientopps« hier also generell für die Ladenkinos48 gilt, erweist sich die Bezeichnung fortan als eine metaphorische. Der Kientopp wird demzufolge zu einem Ort des Rausches keiner alkoholischen und physischen Natur, sondern einer sinnlichen wie psychischen. Das Kino im Allgemeinen oder das ›Kinodrama‹ im Einzelnen bedeutet für die literarischen Kinogegner – um Ludwig Fuldas hyperbo-

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Noack, Victor: Der Kino. Etwas über sein Wesen und seine Bedeutung, Kultur und Fortschritt, S. 8. Vgl. Döring: »Berliner Kinematographen-Theater« (wie Anm. 1). Aber bei Noack soll die Bezeichnung ›vier zehntel Topp‹ anders als bei Döring auf keine konkrete Maßeinheit mehr hinweisen, sondern synekdochisch auf eine Gaststätte. Noack: Der Kino (wie Anm. 45), S. 3. In seinem früheren Aufsatz, der inhaltsgemäß in seine Broschüre Der Kino Eingang fand, steht das Wort »Kientopp« für das unterhaltende Kinotheater im Allgemeinen, während die wissenschaftliche Verwendung des Mediums ehrenhalber mit dem Namen der »Kinematographie« bzw. des »Kinematograph[en]« angesprochen wird. Noack, Victor: »Der Kientopp«, Sp. 907. Die gehobenen, luxuriösen und großzügigen Kinopaläste sind zwar seinerzeit bereits vorhanden, bilden aber noch die Ausnahmen. Laut Döring gibt es in der Reichshauptstadt allenfalls zwei davon. Vgl. Döring: »Berliner Kinematographen-Theater« (wie Anm. 1) sowie C. Müller: Frühe deutsche Kinematographie (wie Anm. 2), S. 35.

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Metaphorologie des Kinos

lische Metapher zu zitieren – ebenfalls eine die Volksseele verderbende Vergiftung durch den »geistige[n] Methylalkohol«49 . Angesichts dieser Metaphorisierung des ›Kientopps‹, die auch bei Döblin eine wesentliche Basis seiner Argumentation bildet, sehen auch die Kinoreformer im Kino eine Konkurrenz mit dem Kneipengang und auch mit dem Alkoholgenuss. So bietet das Kino hier dem eskapistischen Wunsch der Arbeiter einen alternativen Zufluchtsort aus dem öden Alltagsleben. Der sich im Milieu der Kinoreform betätigende Filmtheoretiker50 Herbert Tannenbaum etwa schreibt 1912 in seiner Broschüre Kino und Theater: »Der Arbeiter, der Tag für Tag dieselbe Maschine bedient, der Kommis und der Privatier, sie kommen alle statt zum Biertisch in das Kino.«51 Des Weiteren bedeuten die Kinotheater auch für den Theaterkritiker Julius Bab »den Feiertag, den Aufschwung, die Erhebung«, »die sonst ein Buch, ein Spaziergang oder auch nur eine Kegelpartie und ein Wirtshaus geboten haben«52 . Ungeachtet dieser gemeinsamen Beobachtung ergibt sich hier aber auch eine andere Auslegung. Wo Döblin und Friedemann ein kinematographisches Verdienst für die Lebensreform der angeblich sonst zum übermäßigen Alkoholverbrauch neigenden »kleinen Leute« zu erkennen glauben,53 finden die Kinogegner eine ebenfalls bedrohliche Gefahr. Noack verurteilt den »intellektuelle[n] Fusel«, der im ›Kientopp‹ ausgeschenkt werde: So ein passionierter »Kientoppschleicher« unterscheidet sich, nachdem erst der obligate »Schlager« seines »Stammkinos« ihn in das gewöhnte Stadium der »Ge49

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Fulda, Ludwig: »Theater und Kinematograph«, in: Die Woche 14 (1912), S. 639-642, hier S. 641. Fulda, einer der Gründungsmitglieder der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste (neben Arno Holz und Thomas Mann u.a.) sowie ein Vorsitzender des Verbandes Deutscher Bühnenschriftsteller, bleibt dem Anschein nach der eigenen Meinung weiterhin treu und verfasst noch 1926 eine Novelle mit einer kinofeindlichen Botschaft, vgl. dens.: »Das bewegte Bild«, in: Velhagen & Klasings Monatshefte 40 (1926), S. 693-699. So der Titel der von Diederichs herausgegebenen Sammlung seiner Aufsätze. Vgl. Tannenbaum, Herbert: Der Filmtheoretiker Herbert Tannenbaum. Mit einem Text von Willy F. Storck, hg. von Helmut H. Diederichs, Frankfurt am Main: Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main 1987. Tannenbaum, Herbert: Kino und Theater, S. 31. Bab, Julius: »Die Kinematographen-Frage«, in: Die Rheinlande 22 (1912), S. 311-314. Bab gehört zum Schutzverband Deutscher Schriftsteller und nach der Erlassung des Gesetzes zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften am 18. Dezember 1926 in der Weimarer Republik (genauso wie Fulda) zur Oberprüfstelle, vgl. Jäger: »Der Kampf« (wie Anm. 37), S. 173. Im Unterschied zu den beiden attestiert Hofmannsthal bzw. seine Figur »mein Freund« dem Kino – trotz der durchaus vorhandenen Beobachtung einer Rivalität zur »Branntweinschänke« – weder Heilung des Alkoholismus noch soziale Lebensreform, sondern vielmehr ein traumähnliches Aufleben des in tiefen Schichten schlummernden Gedächtnisses bzw. des »dunkle[n] Wurzelgrund[es] des Lebens«. Hofmannsthal: »Der Ersatz« (wie Anm. 24), S. 143145. Näheres zu diesem Aufsatz siehe oben in Kapitel 5.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

hirntaubheit« versenkt hat, nicht sonderlich von dem Destillenbruder, dessen Gehirn die gewöhnliche Aetherdouche empfangen hat. Der materielle Fusel und der intellektuelle Fusel sind zwei gleich gefährliche Gifte.54 Bei Noack verkörpert der Kientopp oder »›Kinofusel‹«55 »eine […] große Gefahr [sowohl] für die soziale Ethik und Moral […] als auch für die physische Gesundheit des Volkes«56 . Denn die durch den »Schlager« heraufbeschworene »Gehirntaubheit« oder »Betäubung« verursache genauso wie beim »Betrunkenen«57 einen unheilvollen Hang zum wiederholten Konsum. Dies lässt sich wiederum als eine »quälende Leidenschaft« ansprechen, die »nicht unähnlich der Trunksucht«58 sei. In dieser Hinsicht erscheint auch Babs Terminologie nahezu deckungsgleich: »Ich für mein Teil bin der Ansicht, daß die seelische Vergiftung durch die Filmdramatik der physischen Alkoholvergiftung durchaus nicht an Gemeinschädlichkeit nachsteht.«59 So gehen die Kinoreformer und die kinofeindlichen Schriftsteller sowie Theaterleute zum einen offenbar gemeinsam davon aus, dass das Kino gerade wegen der Vergleichbarkeit seiner Wirkung mit alkoholisch giftigem Rauschmittel abzulehnen ist. Ihnen diametral gegenüberstehen aber andererseits die kinofreundlichen Beobachter, die im Film ein Antidot und Heilmittel gerade gegen diese Vergiftung ausmachen. Ungeachtet dieser offensichtlichen Abweichungen ihrer Befunde gehen beide aber im Grunde von einer gemeinsamen metaphorischen Feststellung aus, der Film sei ein alkoholähnliches Getränk im Ausschankraum des Kinos.   Nebenbei sei angemerkt: Das Theater, das für dessen Fachleute den Inbegriff der tradierten Kultur bedeutet und als solcher in der Kinodebatte den Gegenpol beziehen soll, erntet allerdings seinerseits in ähnlicher Argumentation affektgeladene Kritik. Zumindest das wagnersche Musikdrama wird auch im zeitgenössischen öffentlichen Disput anhand der metaphorischen Rede eines giftigen Rauschmittels denunziert. Karl Gutzkow etwa attestiert Wagners Musik eine fatale Wirkung des »tiefgeheime[n] Gift[es]«. Dies soll für Gutzkow »die Seele des Menschen mit Wohllaut überström[en] und sie gleichsam mit dem Schönen […] bis zur Erschöpfung und Ohnmacht, bis zur Erschlaffung und zum Tode« berauschen.60

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Noack: »Der Kientopp« (wie Anm. 47), Sp. 905. Noack: Der Kino (wie Anm. 45), S. 8. Ebd., S. 3. Ebd., S. 8. Noack: »Der Kientopp« (wie Anm. 47), Sp. 909. Bab: »Die Kinematographen-Frage« (wie Anm. 52), S. 313. Noch 1918 spricht Konrad Lange im Rückblick auf die Hegemonie des ausländischen Filmes im deutschen Markt der Vorkriegszeit von einem »eklen Trank, der die deutsche Volksseele vergiftet« (Lange, Konrad: Nationale Kinoreform, S. 10). Gutzkow, Karl: »Richard Wagner’sche Musik« [1852], in: Ders., Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe, hg. vom Editionsprojekt Karl Gutzkow, Exeter: Edi-

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Metaphorologie des Kinos

Hundert Jahre später greift Theodor Wiesengrund Adorno in seiner Wagner-Kritik diese Formel erneut auf. Im Zuge des kulturindustriell hergestellten »technologische[n] Rausch[es]« sowie mit Blick auf das im Bayreuther Festspielhaus beabsichtigte »›Ekstase‹«-Erlebnis konstatiert Adorno »die Geburt des Films aus dem Geiste der Musik«61 . Zugunsten der kulturpolitischen Frontstellung des ›TheaterKino-Streites‹ bleibt jedoch bei den theatralischen Debattenbeiträgern diese Nähe des Kinos zum (Musik-)Theater im Medien- und Gattungsdiskurs ausgeblendet.62

6.2 6.2.1

Vom Garanten der ›positiven Reform‹ zur unberechenbaren Kippfigur. Die Karriere der Nahrungsmetaphorik im Kinodiskurs Der Film als ein einzuverleibendes Symbol

Die metaphorische Rede des Alkohols besitzt zweierlei Ebenen. Zum einen bezieht sich die Metapher auf die chemisch-biologischen Einwirkungen des alkoholischen Getränks, denen man – wie oben gesehen – entweder anerkennend oder strikt ablehnend gegenübersteht. Bezüglich der Wirkungsart dieses Stoffes können sich die Einschätzungen zwar zueinander kompromisslos und antagonistisch verhalten. In Hinsicht auf die Handlung, die man mit diesem Stoff vornehmen soll, teilen aber auf der anderen Seite die Befürworter und die Widersacher des Kinoalkohols eine gemeinsame metaphorische Beobachtung. Das Kino sei etwas zu Trinkendes, oder allgemeiner: etwas Einzuverleibendes. Für die betreffende Metaphorik erweist sich als folgenreich, dass bei diesem Akt der fluide Stoff in den Körper des Trinkenden (i.e. des Sehenden) eindringt. Denn dieser Vorgang zieht zweierlei signifikante Konsequenzen nach sich. Zum einen wirkt die eingenommene Flüssigkeit auf den Rezipienten weder reflektiert noch gedanklich vermittelt, sondern materiell und somit beinahe direkt. Von daher vermag sein Körper auf den Eindringling lediglich reflexartig – gleichsam etwa durch Schluckreflex sowie Verdauung – zu reagieren. Das penetrierende Fluidum liefert den Trinkenden einer derart vollkommenen Passivität aus, dass dieser sich dem

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tionsprojekt Karl Gutzkow 1999 ff., S. 126-128, online unter https://projects.exeter.ac.uk/gutzkow/Gutzneu/gesamtausgabe/Buehne/RiWaMu.htm (zugegriffen am 1.3.2020), hier S. 127 f. Adorno, Theodor Wiesengrund: »Versuch über Wagner« [1952], S. 102 f. Ungeachtet der vergleichbaren Metaphorik bleibt beim wagnerschen ›Gift‹ für »das Gangliensystem« (Gutzkow: »Richard Wagner’sche Musik« [wie Anm. 60], S. 127) im Unterschied zum kinematographischen die schillernde Doppeldeutigkeit eines ›Gift-Giftes‹ (siehe unten) durchgehend aus. Infolgedessen werden die angeblich filmähnlichen Effekte etwa von Max Reinhardts Regietheater als eine neu aufkommende, von außen pestartig schleichende Bedrohung für das Theater empfunden. Näheres hierzu siehe unten in Kapitel 8.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

Einfluss von jenem nur schwer aktiv erwehren kann. Infolgedessen soll die Einwirkung des filmischen Alkohols – chemischen Reaktionen gleich – im Körperinneren streng kausal vonstattengehen. Dieser innere Zustand erscheint vergleichbar mit der schweren Betrunkenheit, die – man denke an jene »Korsakoffsche Psychose« – als eine gleichsam logische Folge übermäßigen Alkoholkonsums eintritt. Insofern scheint das filmische Bild – zum anderen – jedes Zeichencharakters entkleidet zu sein. Einem Zeichen pflegt man in erster Linie mit einem gewissen Reflexionsabstand auslegend gegenüberzustehen und dies auf das darin Bezeichnete oder Abgebildete hin zu entziffern. Filmische Bilder zeigen sich in dieser Metaphorik vielmehr gewissermaßen als spezielle (ernährende, alkoholische oder giftige) Chemikalien. Einmal in den menschlichen Körper eingenommen, müssen sie zwangsläufig bestimmte physische oder (gehirn-)physiologische Reaktionen in Gang setzen. Mit anderen Worten: Hier stellt das filmische Bild weniger eine bloß arbiträre zeichenhafte Konstruktion dar, sondern vielmehr ein Symbol, das – um auf Friedrich Theodor Vischers Begrifflichkeiten zurückzugreifen – als »religiös« sowie »dunkel und unfrei« zu bezeichnen ist. Wie bei diesem Symbol das Bild und die Bedeutung »verwechselt« und identifiziert werden, so gewährt ein filmisches Symbol bei dieser Metaphorik dem Zuschauer keinen interpretatorischen Freiraum zwischen dem Bild und dem Inhalt bzw. dem Abgebildeten. Angesichts dieses Symbols kommt lediglich der passive Akt des Empfangens oder des Aneignens zum Tragen, da der aktive etwa des Verstehens oder Auslegens so gut wie ausgeschlossen und wenn überhaupt nur schwer umzusetzen ist. Brot und Wein beim Abendmahl, das Vischer als das christliche Beispiel dieser Symbolik anführt, wird durch konkrete Akte des Essens und Trinkens mitsamt der Bedeutung des Christi Opfertodes »dem Körper wirklich ganz angeeignet«63 . In ähnlicher Weise zwingt das filmische Symbol auch dazu, dass der Inhalt des Bildes gutgläubig restlos akzeptiert oder – im emphatischen Sinne – ›geschluckt‹ wird. Wohlgemerkt lässt sich das filmische Bild anders als Brot und Wein selbstredend weder »wirklich« aneignen noch einverleiben. Man zieht das symbolische Getränk hier vielmehr als eine Metapher heran, um mit deren Hilfe die unerhört direkten Wirkungswege des Kinos annähernd auszudrücken. Die metaphorische Rede im Kinodiskurs ist – wovon die vorliegende Arbeit ausgeht – immer ein bewusster und reflektierter Sprachgebrauch, der auf unreflektiert-reflexartige und insofern ›naive‹ Wahrnehmungen Bezug nimmt.

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Vischer, Friedrich Theodor: »Das Symbol«, S. 424 f.

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Metaphorologie des Kinos

6.2.2

Die »sehr blutige Kost«. Zur Einführung in die Essensmetapher des Kinos

Aus dem oben genannten Grund kommt es nahezu logisch vor, dass sich im Kinodiskurs des einschlägigen Zeitraumes neben der Trinkmetapher auch die Essensmetaphorik vielfach ausmachen lässt.64 Zwischen beiden Figuren aber bestehen trotz ihrer augenscheinlichen Vergleichbarkeit wesentliche Unterschiede. Döblin etwa bringt im oben besprochenen Aufsatz von 1909 zusammen mit jenem »vorzügliche[n] Mittel gegen den Alkoholismus«, was eine Konkurrenzfähigkeit des Kinos mit dem alkoholischen Getränk logisch voraussetzt, bereits die Figur des Essens ins Spiel: Panem et circenses sieht man erfüllt: Das Vergnügen notwendig wie Brot; der Stierkampf ein Volksbedürfnis. Einfach wie die reflexartige Lust ist der auslösende Reiz: Kriminalaffären mit einem Dutzend Leichen, grauenvolle Verbrecherjagden drängen einander; dann faustdicke Sentimentalitäten: der blinde sterbende Bettler und der Hund, der auf seinem Grabe verreckt; ein Stück mit dem Titel »Achtet die Armen« oder die »Krabbenfängerin«; Kriegsschiffe; beim Anblick des Kaisers und der Armee kein Patriotismus; ein gehässiges Staunen.65 Das »Vergnügen« des ›Kientopps‹ bedeutet hier Nahrung »wie Brot«, welcher der einzige Zweck zukommen soll, die Bedürfnisse des Volkes restlos zu befriedigen. Infolgedessen zeigt sich die Rezeption als der chemisch-biologische Vorgang einer Einverleibung bzw. Digestion, auf den sich von außen her im Grunde nicht aktiv einwirken lässt. So sind die hier aufgezählten filmischen Sujets – von »Kriminalaffären« und »Verbrecherjagden« über »Sentimentalitäten« und Dramen armenfürsorglicher Thematik bis hin zu dokumentarischen Aufnahmen der kaiserlichen Marine und des Heeres – als »Reiz« zu verstehen, der die »Lust« der Zuschauer »reflexartig« erweckt und sogleich befriedigt.66 Die Essensmetaphorik dient hier zur

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Im ihm zugeschriebenen Abschnitt des Aufsatzes, den er mit anderen Autoren verfasst, verweist Kümmel mit Recht auf häufige Verwendung der Nahrungsmetaphorik im Diskurs der beiden einflussreichen technischen Massenmedien des Radios und des Films. Er deutet jedoch dabei leider – wenn überhaupt – nur ansatzweise auf die folgenreichen Zusammenhänge hin, denen unten ausführlich nachgegangen wird, vgl. Kümmel, Albert et al.: »Rhetorik des Neuen. Mediendiskurse zwischen Buchdruck, Zeitung, Film, Radio, Hypertext und Internet«, S. 229-261, insbes. S. 240 f. Döblin: »Das Theater« (wie Anm. 33), S. 72 f. Zwei Jahre später bezeichnet Karl Hans Strobl durchaus kongenial »das Kinematographentheater« als »das Automatenbüfett der Schaulust«, in dem »auch während des Tages, während einer Viertelstunde das Erholungsbedürfnis zu befriedigen« sei, vgl. Strobl, Karl Hans: »Der Kinematograph« [1911], in: Fritz Güttinger (Hg.), Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, S. 51-54, hier S. 52.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

Darstellung einer Filmrezeption, die den kritisch reflektierenden Intellekt komplett ausschalten und jenem ›Reiz-Reaktions-Schema‹ entsprechend vonstattengehen soll. Nicht nur in Hinsicht auf diese Tendenz hin zum Reflex statt Reflexion, sondern auch mit Blick auf die kontrastierenden Einschätzungen erscheint die Metaphorik des Essens wesensgleich mit der Alkoholmetapher. Auch bei der Essensmetaphorik stehen die Befürworter und die Gegner der kinematographischen Nahrung einander diametral entgegen. Als ein Beispiel der Letzteren lässt sich etwa Karl Brunner anführen, der seit 1911 als Literatursachverständiger im Berliner Polizeipräsidium für die dortige polizeiliche Zensur zuständig ist. Brunner sieht »jene Schundschriften in riesigen Mengen besonders von der Jugend verschlungen«. Dies sei darauf zurückzuführen, dass »sie einem Verlangen entgegenkommen, das, solange es Menschen gibt, allgemein vorhanden sein wird, weil es aus den niedrigen Instinkten, die in jedes Menschen Brust schlummern, entsprungen ist«67 . Brunner zufolge gehöre auch »[d]er Kinematograph« hierher und gelte zusammen mit der Schundliteratur als [v]ergiftete Geistesnahrung – so der Titel dieser 1914 veröffentlichten Ernste[n] Mahnung an Jugendliche, Eltern und Erzieher. Sei er doch genauso wie diese »zum Kulturfeind geworden«68 . Anzuprangern seien vor allem die »›Dramen‹, die das Programm beherrschen«, denn sie »sind meist Geistesnahrung niedriger Art, mit Giftkeimen durchsetzt, seine ›Humoresken‹ fast durchweg öde Albernheiten«69 . Auf der anderen Seite bezieht Döblin etwa in seinem oben vielfach angesprochenen Aufsatz Das Theater der kleinen Leute eine genau entgegengesetzte Position. So tritt er gerade mittels der metaphorischen Rede des Essens sowohl für die »Schundliteratur« als auch für den »Kientopp« dezidiert ein. Will er doch anhand dieser Figur dem »Volk« und der »Jugend« nahezu als deren medizinischer Vormund einen regen Konsum dieser populären Attraktion anraten: »Man nehme dem Volk und der Jugend nicht die Schundliteratur noch den Kientopp; sie brauchen die sehr blutige Kost ohne die breite Mehlpampe der volkstümlichen Literatur und die wässerigen Aufgüsse der Moral.«70 Die Nahrung des Kinos fungiert hier genauso wie der Alkohol des Films. Beide liefern sowohl den Kinobefürwortern als auch dessen Erbfeinden angeblich überzeugende Argumente für ihre Beweisführung entweder des Nutzens oder des Schadens des Mediums gegenüber dem »Volk«. Beim Gebrauch derselben Trink- und Essensmetaphorik streben beide Lager nach zwei gegensätzlichen Zielen: der soziopolitischen Förderung oder aber der intensiven Bekämpfung des Kinos. Die Diskussion hier unterliegt offensichtlich einer Logik 67 68 69 70

Brunner, Karl: Vergiftete Geistesnahrung. Eine ernste Mahnung an Jugendliche, Eltern und Erzieher, Leipzig: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung/Weicher 1914, S. 5 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 14 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 18. Döblin: »Das Theater« (wie Anm. 33), S. 73.

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Metaphorologie des Kinos

des ›Entweder-oder‹. Demnach erscheint es notwendig, den Film kategorisch abzulehnen, falls man sich für die tatkräftige Unterstützung des Kinos nicht bereit erklären will.

6.2.3

Die ›Nahrung‹ als die Leitmetapher der ›positiven Reform‹ des Kinos

Diese gegensätzlichen Auffassungen artikulieren sich jedoch bei der Essensmetaphorik auf zweierlei Ebenen anders als bei der Alkoholmetapher. Zum einen wird bei der Letzteren lediglich das Kino als alkoholisches Rauschmittel – entweder mit einer positiven oder mit einer negativen Bewertung – metaphorisiert. Demgegenüber ist es so gut wie ausgeschlossen, dass sein Widerpart, etwa das Theater als kulturell etablierte Institution, ebenfalls in Gestalt einer metaphorischen Figur auf den Plan träte. Neben dem Theater oder der Literatur findet allenfalls das alkoholische Getränk als Kontrastfigur Erwähnung, allerdings im durchaus nicht übertragenen, sondern schlicht eigentlichen Sinne. Bei der Ersteren, also der Nahrungsmetapher des Kinos hingegen, zieht man die traditionell hoch anerkannten Kulturfaktoren in gleicher Weise mithilfe einer metaphorischen Rede des Essens heran. So spricht Brunner mit Blick auf die »Geisteskultur« von der »edle[n]« »Geistesnahrung« und stellt diese jener »niedrige[n]«71 bzw. »[v]ergiftete[n]«72 gegenüber. Desgleichen macht Döblin im obigen Zitat 1909 zwischen der »blutige[n] Kost« des »Kientopps« und der »breite[n] Mehlpampe« oder den »wässerigen Aufgüsse[n]« der moralisierend »volkstümlichen Literatur« einen Kontrast mit umgekehrten Vorzeichen aus. Im Unterschied zur Alkoholmetapher motiviert die Figur der Nahrung offenkundig eine feinere Unterscheidung innerhalb derselben Kategorie des Essens sowie – dementsprechend – der kulturellen Praktik. Aus dieser Tendenz hin zu einer immer subtileren Ausdifferenzierung der Essensmetaphorik resultiert die andere Differenz zwischen beiden Metaphernformen. Diese Abweichung tritt aber erst zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich um 1912/13 deutlich zutage. Die Alkoholmetapher setzt zum einen nach wie vor Einschätzungen mit einem entweder positiven oder negativen Vorzeichen absolut. Die Essensmetaphorik lässt nun zum anderen eine graduelle Einstufung zu, die jetzt innerhalb des kinematographischen Phänomens selbst wirksam wird. Bei der Alkoholmetapher stehen sich Befürworter und Gegner des Kinoalkohols einander frontal gegenüber, obwohl sie von einer gemeinsamen metaphorologischen Beobachtung ausgehen. Das Kino erfährt hierbei entweder eine positive oder negative Bewertung, während diese Auffassung sowohl für die einen als auch für die anderen durchaus eindeutig ist und jedes Zugeständnis ausschließt. Bei der Nahrungsmetapher kommen jedoch innerhalb eines Textes verschiedene filmische Hervor71 72

Brunner: Vergiftete Geistesnahrung (wie Anm. 67), S. 3 f. Ebd., S. 9 u. 12.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

bringungen vor, die ungeachtet jeweils anderer Einschätzung vonseiten des Autors gleichermaßen als metaphorische Nahrung figurieren. Demzufolge geht es bei dieser Metaphorik nicht nur um den Meinungsunterschied über das Kino zwischen verschiedenen Verfassern, sondern allein um die Qualitätsunterschiede zwischen filmischen Erscheinungen. Insofern kommt die Nahrungsmetapher der zeitgleich im Kinodiskurs stattfindenden Wendung zu einer ›positiven Reform‹ als ihr gerade passendes Ausdrucksmittel zugute. Jörg Schweinitz zufolge melden sich »etwa ab 1912« in den »Positionen der Reformer« fundamentale Verschiebungen. Diese resultieren insbesondere aus dem »ständig zunehmende[n] Publikumsinteresse« sowie »Bemühungen der Branche um ein gutbürgerliches Image«73 . Bislang beschworen die Kinoreformer in Veröffentlichungen wie Zeitschriftenartikeln oder Pamphleten die »Gefahren des Kinos« und riefen »angesichts der populärsten Programmformen schlicht nach Restriktionen, Verboten und Zensur«74 . Nunmehr fängt man damit an, »verstärkt über eine aktive Einflußnahme auf die populären Programmformen im Sinne eigener ideologischer und ästhetischer Wertvorstellungen, über eine ›positive Reform‹, nachzudenken«75 . 1909 stellte Döblin in der metaphorischen Rede des Essens noch zwei verschiedene Gattungen des »Kientopp[s]« und der Literatur kontrastierend dar und machte zwischen beiden eine Frage eines ›Entwederoder‹ aus. Drei Jahre später sieht etwa Friedrich Freksa, der den weiteren Gebrauch dieser Metaphorik vor allem in der literarischen Kinodebatte de facto nachhaltig bestimmt, innerhalb der kinematographischen Nahrung unterschiedliche Qualitäten sowie Verbesserungsfähigkeiten. Schweinitz’ verdienstvoller Vorschlag der Phasenteilung erscheint gerade mit Blick auf den jeweils veränderten Metapherngebrauch der Nahrung wohl hier einmal mehr gerechtfertigt. Er wäre jedoch falsch verstanden, wenn man den genannten Zeitpunkt als einen eindeutigen und irreversiblen Übergang auslegte. Dies betrifft sowohl den Reformdiskurs selbst als auch die hierin eingesetzte Nahrungsmetapher. Zum einen findet sich bereits 1907 in einer der Begründungsurkunden der Kinodebatte, in Ewers’ Kientopp, ein minimales Anzeichen der ›positiven Reform‹. Formuliert er dies zwar als ein Appell an »Herr[n] Zensor«, so geht es hier genau genommen nicht um die Zensur als eine Restriktionsmaßnahme. Der Aufruf richtet sich vielmehr an die Förderung des Kunstfilms und rekurriert dabei gar ausdrücklich auf die metaphorische Rede der Nahrung: Und, verehrter Herr Zensor, der du soviel Dummheiten gemacht hast und noch machst, tu einmal etwas, wofür man dir danken darf. […]. Und wenn dann die 73 74 75

Schweinitz, Jörg: »Abwehr und Vereinnahmung: bildungsbürgerlicher Reformeifer«, in: Ders. (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, S. 55-64, hier S. 59. Schweinitz, Jörg: »Vorwort«, S. 9. Schweinitz: »Abwehr« (wie Anm. 73), S. 59.

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Künstler kommen und dir ihre Kientoppstücke einreichen – und sie werden kommen! – dann laß die Spreu vom Weizen scheiden und unterdrücke den Kitsch und hilf der Kunst!76 Schlagende Gegenbeispiele datieren zum anderen vor allem aus der Zeit im und nach dem Ersten Weltkrieg,77 auf welche Schweinitz’ Dokumentation ebenfalls keine Rücksicht nimmt. In einem Artikel Fronttheater oder Frontkino?, der in der konservativen Deutschen Tageszeitung publiziert wird, prangert Willy Körber zum einen als Feldkämpfer noch im vierten Kriegsjahr das Kino an der Front als »den Magen verderben[de]« Nahrung an. Körber setzt sich stattdessen für das Fronttheater vehement ein, denn »wir brauchen eine Kost, die gut nahrhaft und kernig« sei.78 Etwa in Konrad Langes Kriegspublikation Nationale Kinoreform findet sich zudem ein höchst vergleichbarer Ausdruck. Die Jugend, auf der Lange zufolge »die Zukunft unseres Volkes« beruhe, »soll nicht mit Pseudokunst [des Kinos] gefüttert, sondern mit wahrer Kunst [wie Museum, Theater oder Konzert] genährt werden«79 . Die Rede vom Film als einer Ersatznahrung, die das ›Volk‹ angesichts eines kriegsbedingten Engpasses notgedrungen in Kauf nimmt, zieht Carl Hauptmann gleich nach dem Krieg 1919 zu Beginn seines Artikels Film und Theater heran. Für ihn verhält sich das »Kunsttheater« zum Film wie echter Kaffee zu »Zichorie« als dessen Surrogat.80 So kehrt das ältere Modell der Nahrungsmetaphorik, das bereits 1909 bei Döblin zum Tragen kam, unter einer anderen diskurshistorischen Phase wieder. Sie unterstützt also keine Begründung jener ›positiven Reform‹ mehr, sondern noch einmal eine Argumentation in der Logik des ›Entweder-oder‹ – allerdings mit verkehrten Vorzeichen. Mit Blick auf diese Beispiele soll man Schweinitz’ Beobachtung relativieren und folgendermaßen verstehen: Erst »ab etwa 1912« wird eine andere »positive« Reformdiskussion nicht sporadisch, sondern nunmehr systematisch geführt. Diese veränderten Umstände erfordern zudem als die Leitmetapher eine entsprechend andersartige figurative Rede der Nahrung. In dieser Hinsicht lässt sich Friedrich Freksa mit Recht als der Pionier dieser neuartigen Rede filmischer Nahrung ansprechen. In der Filmgeschichte ist Freksa

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78 79 80

Ewers: »Der Kientopp« (wie Anm. 12), S. 13 f. Brunners Metapherngebrauch des Essens aus dem Jahr 1914, der oben besprochen wurde und sich ebenfalls durch eine ›Entweder-oder‹-Logik artikulierte, ließe sich als ein weiteres Gegenbeispiel aufführen. Körber, Willy: »Fronttheater oder Frontkino?«, in: Deutsche Tageszeitung vom 21. April 1917, unpaginiert (Herv. im Orig. gesperrt). K. Lange: Nationale Kinoreform (wie Anm. 59), S. 18 f. Hauptmann, Carl: »Film und Theater«, S. 165. Im weiteren Textverlauf kommt dem Film allerdings »eine sehr klare und bestimmte Aussicht [zu], Kunst zu werden«. (S. 166) Eine eingehende Auswertung dieses leidenschaftlichen Plädoyers eines »Visionärs« findet sich oben in Kapitel 4.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

in der Regel zwar einzig und allein als der Autor seines 1909 für Max Reinhardt geschriebenen pantomimischen Werkes Sumurun bekannt. Zumal dies u.a. nach dem Ersten Weltkrieg durch dessen Schüler Ernst Lubitsch großformatig verfilmt wird. In Rede steht hier jedoch seine Antwort auf eine im Mai 1912 durch die Frankfurter Zeitung veranstaltete Umfrage Vom Werte und Unwerte des Kinos, die im Kontext des gerade vor sich gehenden ›Theater-Kino-Streites‹ konzipiert wird. Auf die Frage, welche die Zeitungsredaktion »einer Anzahl von Persönlichkeiten« stellte, »die im öffentlichen Leben stehen«,81 bezieht dann »eine Reihe von Schriftstellern, Gelehrten und Künstlern«82 Stellung. Freksas Antwortschreiben hebt sich vom großen Teil der anderen Beiträger – bis auf etwa Wilhelm Schäfer – und vor allem der Frankfurter Redakteure ab. In der Fragestellung legt die Redaktion für die erwarteten Antworten von vornherein eine erwünschte Richtung vor. Der Tenor ihrer Ausschreibung ist durchaus die bis dahin typische Abwehrhaltung gegen »das Kino als eine ernsteste Gefahr, als eine die Entwicklung des Theaters verhängnisvoll beeinflussende Konkurrenz«83 . So wird diese Vorgabe weitgehend vom Interesse der Theaterzunft – im Besonderen – und somit des konservativen Bildungsbürgertums – im Allgemeinen – geleitet. Dementsprechend wird dem Kino ausschließlich der Platz zugewiesen, »der ihm als einem Unterhaltungsfaktor unserer Tage gebührt«84 . Konsequent muss »[j]ede Grenzverwischung«, dass »im Kino unter der Flagge ›Theater‹ statt Kunst photographischer Abklatsch des Lebens geboten« werde, für die Redaktion strikt untersagt bleiben. Erhöhe sie doch die Gefahr, »Surrogate für echte Ware zu halten«85 . Trotz der zugegebenermaßen nicht vorhandenen »direkte[n]« Konkurrenz – »in den Grossstädten [sei] nur ein geringer Teil der Kinobesucher auch Theaterbesucher« – soll man sich jedoch gegen »eine indirekte noch verhängnisvollere« sträuben. Denn »durch das Kino [werde] ein niedriges Geschmacksniveau so festgehalten, dass sich der ursprünglich neutrale Geschmack durch Gewöhnung allmählich in Ungeschmack verwandelt«86 . Genau im Sinne der Redakteure plädieren denn auch einige Respondenten – gemäß einer ›negativen Reform‹ – für die Restriktion des Kinos zugunsten einer Protektion des Theaters, indem sie gerade die Metapher der Ernährung – allerdings wie bei Brunner als Figur eines ›Entweder-oder‹ – heranziehen. Etwa dem Intendanten Robert Volkner zufolge sollten die

81

82 83 84 85 86

Anonymus: »Vom Werte und Unwerte des Kinos«, in: Frankfurter Zeitung vom 10., 30. und 31. Mai sowie 1. Juni 1912, zitiert nach der Onlineedition unter http://earlycinema.dch.phil-fak. uni-koeln.de/documents/create_rtf/1164 (zugegriffen am 1.3.2020), S. 5. Ebd., S. 18. Ebd., S. 2. Ebd., S. 5. Ebd., S. 3; ein Druckfehler im Original (»Surrogote«) wurde vom Verfasser korrigiert. Ebd., S. 2.

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Metaphorologie des Kinos

Gemeinden die Theater subventionieren, um durch die in ihnen gebotene »gesunde dramatische Kost […] die Jugend und die unteren Volksschichten wieder stärker anzuziehen«87 und hierdurch das Kino zu bekämpfen. Professor Dr. Paul Schubring hofft: Der Hungrige wird den Weg zu nahrhafter Kost zurückfinden. Wir wollen herzhaft lachen, wir wollen innerlich traurig werden im Theater, kleine Empfindungen sollen in die Höhe gebracht, laue Temperatur soll erhitzt werden. Um zu solcher Katharse zu gelangen, müssen wir alles Störende abhungern. Vor allem das Kinema.88 Ebenfalls führt Freksa in seiner Stellungnahme die Nahrungsmetapher ein, die sich jedoch nun dezidiert der ›positiven Reform‹ zuwendet. Bereits im ersten Absatz seines Rückschreibens beschreibt er das Kino mittels der konventionellen übertragenen Redensart von Einverleibung. Für Freksa versteht sich das Kino als eine typische »technische Entwicklung«, die »mit der Schnelligkeit eines Bambus emporgeschossen [sei] und […] all die anderen langsam reifenden älteren kulturellen Gewächse [überrage]«. Angesichts des rasanten Wachstums dieser wirkmächtigen technischen Errungenschaft soll »die Zeit […] danach streben, sie zu verdauen«89 . Es ist anscheinend gerade dieser (ex-)metaphorische Ausdruck eines intellektuellen Verdauens, der die durchgängige Verwendung der Essensmetaphorik in diesem Text veranlasst. In der Tat liest man noch in der nächsten Zeile dieser mediengeschichtlichen Überlegungen, dass »unsere« Zeit »am Augenhunger« leide. In der Gegenwart drängen »fremdartige Vorstellungen« durch technische Kommunikationsmedien wie »Telegraph, Zeitungen, Verbindungswege« gegen den modernen Menschen an. Angesichts des exponenziellen Wachstums von den »Vorstellungen« sei dieser nicht imstande, die Überfülle von Informationen sprachlich und verständlich zu bewältigen. Freksa zufolge liege dies auch an »unsere[r] bildarme[n], abstrakte[n] Sprache«, bei der anders als die »bildhafte, mit Gesichtsvorstellungen gesättigte Sprache unserer Großväter […] die Incohaerenz zwischen Vorstellung und Auge«90 obwalte. Aus dieser »Krise der Begriffssprache«91 hilft aber diesmal keine symbolisch bildhafte Sprache heraus, auf deren Umwege Hofmannsthal zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Lord Chandos durch die sogenannte ›Sprachkrise‹ hindurchkommen lässt. Einen Auszug aus der Sackgasse einer modernden, begrifflich

87 88 89 90 91

Ebd., S. 18. Ebd., S. 16; ein paar Interpunktionsfehler wurden vom Verfasser korrigiert. Freksa, Friedrich: »›Vom Werte und Unwerte des Kinos‹« [1912], in: Güttinger, Kein Tag (wie Anm. 66), S. 98-100, hier S. 98. Ebd. (Herv. im Orig.). Riedel, Wolfgang: Homo Natura. Literarische Anthropologie um 1900, S. 25.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

abstrakten Sprache macht Freksa vielmehr gerade im Kino aus. In dieser Auffassung scheint Freksa zwar Béla Balázs’ medienhistorische Gedanken über die »neue Wendung zum Visuellen« im Zeichen des »Kinematograph[en]«92 um gut zehn Jahre vorwegzunehmen. Die »Ohnmacht vor den Begriffen«93 artikuliert sich jedoch hier in Freksas Respons nach Frankfurt durchweg als ein »Augenhunger«, der folglich nicht nur visuell, sondern in erster Linie gleichsam diätetisch zu stillen ist: Darum leiden wir am Augenhunger, und diesen wenigstens materiell zu befriedigen ist nichts so geeignet wie der Kinematograph. Er ist für unsere Tage ebenso wichtig wie seiner Zeit die Kartoffel, die die Ernährung der schnell anschwellenden Menschenmassen ermöglichte.94 Vergleicht Freksa das Kino mit der »Kartoffel« als unentbehrliches Lebensmittel für die durch den »Augenhunger« geplagten Zuschauermassen, so bedeutet dies jedoch nicht, dass er eindeutig zu den Befürwortern dieses Mediums gehören würde. Im Unterschied zur Alkoholmetapher, die weitgehend einer pauschalen, entweder positiven oder aber negativen Einschätzung gegenüber dem Kino einen bildhaft markanten Ausdruck verleiht, gestattet die Metaphorik des Essens hier ungleich subtilere bzw. differenziertere Stellungnahmen. Indem Freksa das »Augenfutter« ›guter‹ Qualität von dem ›schlechten‹ unterscheidet, vermag er jenes gutzuheißen und dieses im selben Atem zu verdrängen: Aber es ist nötig, daß dieses wertvolle Instrument nicht in die Hände von Unberufenen kommt. So wie wir uns gegen den Brotwucher wehren, so sollen wir uns auch gegen den Wucher mit dem Augenfutter für unser Volk wehren. Heran, Städte, Zeitungsunternehmer, Universitäten, Künstler, Dichter, schafft dem Volke das, was es braucht.95 So fällt Freksa gegenüber dem »Augenfutter« des Kinos ein durchaus partielles Urteil. Man sollte ihm zufolge zwar gegen »[g]ierige Unternehmertrusts« ankämpfen. Gleichzeitig will er jedoch sowohl öffentlich-amtliche Einrichtungen wie »Städte« als auch Exponenten der intellektuellen Schichten wie »Zeitungsunternehmer, Universitäten, Künstler, Dichter« zu einer aktiven Beteiligung an einer besseren Filmproduktion anregen. »[D]er Kino« soll nun vor allem zweierlei Aufgaben nachkommen, zum einen »in Verbindung mit dem Grammophon dem Volke den Abglanz guter Kunstwerke zu vermitteln« sowie »die Zeit widerzuspiegeln, wie es der

92 93 94 95

Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, S. 16. Riedel: Homo Natura (wie Anm. 91), S. 26. Freksa: »›Vom Werte‹« (wie Anm. 89), S. 98. Ebd., S. 99.

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Metaphorologie des Kinos

Dichter ja kaum mehr kann«. Zu Ende dieses Schreibens wird dann beinahe leidenschaftlich aufgefordert, »dies wundervolle, mächtige Propagandamittel für Ideen und Anschauungen«96 zu verstaatlichen und in diesem Sinne zu fördern. Man sollte das Kino von dem unerwünschten »Wucher mit dem Augenfutter« befreien, damit es mit Fug und Recht als eine geläuterte Geistesnahrung vor das »Volk« endlich herantreten darf.

6.2.4

›Nahrung = Gift‹. Zu dem neuralgischen Punkt der ›positiven Reform‹

Die von Freksa eingeführte Verwendung der Nahrungsmetapher für die ›positive Reform‹ macht Schule. Im Folgenden soll auf drei Beispiele eingegangen werden,97 die jedoch in ähnlicher Weise auf eine konstitutive Hürde dieser diskursiven Ausrichtung stoßen müssen. Der Bühnenschriftsteller und spätere Drehbuchautor Willy Rath wirft zum einen in seiner 1913 veröffentlichten Broschüre Kino und Bühne eine Frage auf, die er nur schwer entweder mit Ja oder Nein zu beantworten vermag: »Eine wichtige Frage ergibt sich dabei gleich im Anbeginn: Will denn das Volk den Schund? Ein unbedingtes Ja oder Nein ist da schwer als berechtigt zu erweisen.«98 Trotz der scheinbar bestehenden Beobachtung, dass »das Volk den Schund in Unmengen hinunterschlinge«, ist Rath durchaus nicht imstande, dies auf »die Schwächen der Masse« zurückzuführen und festzustellen, dass das Volk »offenbar eben darauf versessen«99 sei. Einerseits hält er die »›Dramen‹«, d.h. die »Sensationsdramen« und den »Schundfilm«100 zwar für verwerflich. Auf der anderen Seite muss er jedoch den Konsum dieser Filme letztlich anerkennen, da ihm dieses triebhafte Verlangen nach den unterhaltenden Bewegtbildern in einem sozialpsychologischen Sinne gerechtfertigt erscheint. Diesen »Trieb« benennt Rath – Freksas »Augenhunger« analog – als »Lebenshunger«:

96 97

Ebd., S. 100. Es liegt nahe, dass der vergleichbare Metapherngebrauch auch unter den Filmautoren anzutreffen ist. Als dessen prominentes Beispiel lässt sich Paul Wegeners Rede von 1917 anführen. Ihm zufolge seien »[d]ie sensationellen [kinematographischen] Dramen und Romane«, die »von der breiten Masse gierig und kritiklos verschlungen« würden, strikt zu bekämpfen, weil die »schlimmen Folgen […] der Ernährung der Vorstellungswelt der breiten Massen mit solchem billigen Kunstersatz […] nicht ausbleiben« könnten. Stattdessen habe sich Wegener »seit Jahren bemüht«, Filme zu produzieren, »die das berechtigte Unterhaltungs- und Schaulustbedürfnis befriedigen, ohne einen reuevollen Nachgeschmack zurückzulassen« (Wegener, Paul: »Von den künstlerischen Möglichkeiten des Wandelbildes«, in: Deutscher Wille des Kunstwarts 30 [1917], S. 13-15, hier S. 14). 98 Rath, Willy: »Emporkömmling Kino«, S. 422 f. (Herv. im Orig. gesperrt). Hierbei handelt es sich um einen Vorabdruck des ersten Teils seiner Schrift Kino und Bühne, die im selben Herbst bei Lichtbildnerei (München-Gladbach) erscheint. 99 Ebd., S. 423. 100 Ebd., S. 418.

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Bewußt oder heimlich tief, fortreißend heftig oder geduldig ausdauernd, ist in jeder unangekränkelten Seele ein Trieb zur Lebensfülle stetig an der Arbeit, eine Sehnsucht aus der einzelmenschlichen Enge hinaus. Man könnte auch sagen: ein horror vacui, Schaudern vor innerer Leere, vor der Unzulänglichkeit des sterblichen Lebens in seiner nie völlig zu überwindenden Einsamkeit. Nennen wir den Trieb einfach Lebenshunger.101 Es geht hier um ein modernes sozialpsychologisches Phänomen, dass man weder vom inneren Seelenleben »in der Religion oder in der Poesie, der Musik, in irgendeiner Art von Liebe« noch von äußeren Tätigkeiten »als Seefahrer etwa oder als weitwandernder Handwerksbursche« jene »Lebensfülle« erreicht. In diesem Fall treibe »der Lebenshunger [den Menschen] nach einer Ersatzwelt: zur Weltwiedergabe, wie er sie in Erzählungen (man denke an die Bedeutung des mündlichen Erzählers im Orient), in Büchern, im Theater und nunmehr auch im Kino findet«. Dies gilt Rath zufolge nicht nur für den »Mensch[en] der Masse« sowie den »jugendlich unfertige[n] Mensch[en]«. Vielmehr »jeder, der noch Lebensenge sonderlich drückend, treibend empfindet, den drängt es ins äußere Leben, ins unbekannte, unwiderstehlich hinaus«102 . Diese »primitive Sehnsucht«103 trachtet Rath folglich nicht einem aufklärerisch normativen Vorwurf zu unterziehen, der bisweilen vonseiten der bildungsbürgerlichen Kinoreformer erhoben wird. Im Gegenteil: Dieser »Lebenshunger« sei – so Rath – »berechtigt«, da er »tief in der Lebenslage [der Filmzuschauer] wurzelt«, »nicht auf schlechtem, sondern auf reinem allgemeinmenschlichem Triebleben beruht und auf seelische Bereicherung ausgeht«104 . Gerade diese aufgeschlossene Sicht gegenüber dem eifrigen Unterhaltungskonsum im Kino lässt die Problematik umso ausschlaggebender erscheinen, was für filmische Nahrung man dem lebenshungernden Massenpublikum anbieten sollte. Bei diesem zentralen Thema der ›positiven Reform‹ des Kinos geht es nicht primär um das ästhetisch Schöne oder das künstlerisch Verfeinerte. Im Vordergrund steht vielmehr in erster Linie die Frage, ob ein Film auf die gegebenen Zuschauer zugeschnitten ist und ihrem seelischen Leben bzw. ihrer psychischen Gesundheit zugutekommt. Die Nahrungsmetapher, die Rath hier einsetzt, erweist sich in dieser Hinsicht als überaus geeignet:

101 102 103 104

Ebd., S. 423 (Herv. im Orig. in lateinischer Druckschrift). Ebd. Ebd., S. 424. Ebd. Diese Anerkennung des »allgemeinmenschlichen Triebleben[s]« nimmt – wie in Teil II gezeigt wurde – im frühen Kinodiskurs eine zentrale Rolle ein. In der Aufwertung der »Naturseite des Menschen« lässt sich eine Spur jener »Achsendrehung im Begriff des Menschen« feststellen, die Simmel zufolge im anthropologischen Denken des 19. Jahrhunderts stattfinde. Riedel: Homo Natura (wie Anm. 91), S. 51 (Herv. im Orig.). Vgl. auch dens.: Nach der Achsendrehung. Literarische Anthropologie im 20. Jahrhundert.

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Metaphorologie des Kinos

Wer demnach der breitesten Masse überfeinerte, schwerverständliche Schaustücke bieten würde, die sie nicht in sich aufzunehmen vermag, der gäbe den Hungernden wohl statt des Brotes schöne Steine, die ihnen in dem derzeitigen Lebenszustand nichts helfen könnten. Wer aber aus Erwerbsgier den Unberatenen, die in ihrer redlichen Sehnsucht vertrauensvoll nahen, nur Befriedigung der dunklen Tier-Instinkte oder lächerliche Lügen gewährt, wer allen guten Drang der einfachen Mitmenschenseele unberücksichtigt läßt und lediglich das Niedere in ihr gewaltsam zu kräftigen sucht, der gibt den Hungernden giftiges Brot.105 Es geht nicht um die Frage einer ›negativen Reform‹, i.e. eine einfache Alternative entweder Film oder herkömmliche Kultur, sondern darum, welchen Film mit welcher Qualität man dem Publikum offerieren sollte. In dieser subtileren Fragestellung einer ›positiven Reform‹ sind weder die gierigen »Schundverfertiger«106 noch die angeblich gutgemeinten Kinoreformer gegen Raths diätetische Kritik gefeit. Versorgen jene die Lebenshungrigen mit »giftige[m] Brot«, so zwingen diese die zwar kulturell wie künstlerisch per se wertvollen, dennoch für das gegebene Bedürfnis der Rezipienten in jeder Hinsicht nutzlosen und ungeeigneten »schöne[n] Steine«. Aus diesen medien- wie sozialpolitischen Überlegungen im Rekurs auf die metaphorische Sprache ergibt sich die zentrale Aufgabenstellung für die Kinobranche. Mit Blick auf die – metaphorisch aufgefasste – Volksgesundheit sollte man dem Publikum bessere Filme zur Verfügung stellen. Gerade diese Nahrungsmetaphorik bewirkt eine ungeheure gesellschaftliche Verantwortung der Filmmachenden. Diese erweist sich als derart enorm, dass deren »Überlast« die »gewerbsmäßigen Hersteller und Verschleißer wüsten Schundes […] zusammenbrechen«107 müssten, falls sie um diesen prekären gesellschaftlichen Auftrag wüssten. Raths Ansicht in Bezug auf die außergewöhnliche kulturelle wie diätetische Verantwortung einer ›positiven Reform‹ teilt noch 1922 Gerhart Hauptmann. Der Dichter gebraucht diesbezüglich nicht nur die Essensmetaphorik, sondern weist des Weiteren auf die logische Voraussetzung dieser Aufgabe hin. Im Geleitwort für das Programmheft der von Friedrich Wilhelm Murnau durchgeführten Verfilmung seiner Erzählung Phantom beschreibt er präzise nach Freksas Metapherngebrauch

105 Rath: »Emporkömmling« (wie Anm. 98), S. 424. 106 Ebd., S. 423. 107 Ebd., S. 424.

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das Kino als »ein Volksnahrungsmittel«, das mit »Brot und Kartoffeln« durchaus vergleichbar sein soll:108 Und da es sich um ein geistiges Volksnahrungsmittel handelt, so liegt auf dem Produzenten noch überdies die Last höchster Verantwortung: wenn Volksnahrungsmittel minderwertig, gefälscht oder sonst verdorben sind, so sind ihre Wirkungen im Volke verheerend.109 Es gilt demnach dem »Bedürfnis« der »Menge […] zu genügen«, die auf den Film »nicht mit dem Munde und nicht mit dem Magen, sondern mit hungerndem Auge harrt«. Die Frage nach der zweckmäßigen Verfahrensweise, um dieser enormen »Verantwortung« »auf die Dauer überhaupt« nachzukommen, scheint ihm aber – anders etwa als eine nach der gesundheitlich sinnvollen Lebensmittelversorgung – allzu heikel zu sein: Überdies will es fast unmöglich dünken, in der Schaffung dieses in unübersehbarer Fülle hervorzubringenden geistigen Massenguts Gesundheit, belebende Frische und Originalität zu wahren. Ein Weizenkorn bleibt ein Weizenkorn, die Kartoffel ist stets die Kartoffel: es wird hier mit gleichen Mitteln immer das wesentlich Gleiche hervorgebracht. Dem Kino gegenüber, auf dessen Gaben die ganze bewohnte Erde, nicht mit dem Munde und nicht mit dem Magen, sondern mit hungerndem Auge harrt, besteht die Menge auf einer unerschöpflichen Mannigfaltigkeit[.]110 So macht Hauptmann ungeachtet der Nahrungsmetaphorik auf einen wesentlichen Unterschied zwischen dem eigentlichen materiellen Nahrungsmittel und dem übertragenen filmischen aufmerksam. Man müsste lediglich die Quantität des Ertrags vergrößern oder die Qualität der Weizen bzw. Kartoffeln diätetisch verbessern, um den Lebensmittelbedarf der Bevölkerung erfolgreich zu decken. Infolge der inhaltlichen wie formalen Vielfalt des filmisch Dargebotenen, nach welcher sich »die Menge« leidenschaftlich sehnt, erscheint der Auftrag der Filmbranche aber 108 Keppler-Tasaki unterstellt nicht nur in Bezug auf die gemeinsame Essensmetaphorik, sondern darüber hinaus auf die ganze Argumentationslinie sogar einen direkten Einfluss von Freksa. Es ist ihm zufolge »sehr wahrscheinlich«, dass die »Hauptmannschen Filmüberlegungen von den [Kino-]Debattenbeiträgen Freksas« abhängen, vgl. Keppler(-Tasaki), Stefan: »›Bildersturm‹: Gerhart Hauptmann und das Kino«, S. 73. 109 Hauptmann, Gerhart: [Über das Kino], in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. XI: Nachgelassene Werke, Fragmente, hg. von Hans-Egon Hass und Martin Machatzke, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Propyläen 1974, S. 975. Zur Stellungnahme Hauptmanns gegenüber der filmischen »Unterhaltungsindustrie« insbesondere im Zusammenhang mit der Verfilmung (1913) seines Romans Atlantis vgl. Göktürk, Deniz: »›Atlantis‹ (1912) oder: Vom Sinken der Kultur«, in: Michael Grisko (Hg.), Gerhart Hauptmann und der Film, Siegen: Böschen 2007, S. 43-64, sowie Keppler(Tasaki): »›Bildersturm‹« (wie Anm. 108). 110 G. Hauptmann: [Über das Kino] (wie Anm. 109), S. 975.

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ungleich verwickelter. Kommt es hier doch nicht nur auf das – im emphatischen Sinne – substanzielle »Volksnahrungsmittel« als solches an, sondern vielmehr auf seine Funktion oder das Verhältnis zwischen diesem und der »Menge« sowie deren höchst wandelbarem Bedürfnis. Aufgrund dieser verschobenen Perspektive ergibt sich die wesentliche, dennoch prekäre Herausforderung an eine ›positive Reform‹. Zu berücksichtigen sind für diese nicht nur die wünschenswerte unterhaltende und/oder künstlerische Qualität der filmisch hergestellten Waren selbst, sondern gleichzeitig auch die aktuellen, körperlichen wie psychischen Zustände der jeweils gegebenen Konsumenten des Kinos: »Sicherem Ende geht immer entgegen, was mit dreierlei Dingen Raubbau treibt: mit der Kunst selbst, mit der materiellen Volkskraft, also dem Volkskörper, und mit der Volksseele.«111 Auf diese unerlässliche Bedingung der ›positiven Reform‹ bezieht sich auch Rath zwar bereits am Ende seines Aufsatzes 1913 als »ein Erfassen des Besseren«, für das aber diesem zufolge höchstens »noch ein Stück Arbeit«112 erforderlich sei. Im Unterschied hierzu stellt sich neun Jahre später für Hauptmann die Frage als so gut wie unlösbar dar, welcher Film überhaupt ›besser‹ sein soll. Zumal sich diese Frage gemäß Hauptmanns Überlegung als eine gleich vierfache erweist, für die sich kaum eine gerade passende Antwort finden könnte. Außer dem filmischen Objekt selbst sollte man noch die besonderen Wünsche der jeweiligen Subjekte bzw. Zuschauer nach konkreten Filmen in Betracht ziehen. Um dies herauszufinden, sind aber logischerweise schon vorher ihre augenblicklichen Lebensumstände ausführlich zu ermitteln. Darüber hinaus ist eine erhöhte, gleichsam auf nicht Substanz-, sondern auf Funktionsbegriff ausgerichtete Reflexionsebene unerlässlich, damit die gegenwärtige Lage einer wechselseitigen Relation zwischen Subjekt und Objekt eines Filmerlebnisses korrekt begreiflich wird. Diese vierfache Aufgabenstellung erscheint jedoch angesichts jener »unerschöpflich [m]annigfaltig[en]« Nachfrage sowie der höchst veränderlichen Lebenssituation der vorhandenen Zuschauer als »fast unmöglich«. Hier berührt Hauptmann gewissermaßen den neuralgischen Punkt der ›positiven Reform‹, die in dieser funktionalisierten Perspektive ans Unmögliche grenzt. Diese heikle Problemlage, die eine positiv reformerische Intention von innen her zu erodieren droht, bringt bereits sechs Jahre zuvor ein langjähriger Exponent dieser Strömung auf den Punkt. Die Rede ist vom Volksbildner und Dichter Ferdinand Avenarius, der in den späten 1880er Jahren die einflussreiche Zeitschrift für »Dichtung, Musik, bildende und angewandte Künste« begründete: Der Kunstwart. Er entwickelt 1918 in einem weit ausholenden Aufsatz über das Schmerzenskind Kino ausführlich seine Meinung. Während er sich für die vielfältigen »Möglichkeiten«

111 112

Ebd. Rath: »Emporkömmling« (wie Anm. 98), S. 424.

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des Kinos einsetzt, befürwortet er indes nicht »das Kino heute – wie es ist«, sondern das »Kino, das sein könnte«113 . Diese für die ›positive Reform‹ grundlegende zweiteilige Ansicht ist für Avenarius aber gar nicht neu und geht spätestens auf ein altes Schreiben im Jahre 1907 zurück. Bei diesem Jahr handelt es sich um einen derart frühen Zeitpunkt, dass seinerzeit die beiden Foren des aufkommenden deutschen Kinodiskurses, die bildungsbürgerliche Kinoreform einerseits und die literarische Kinodebatte andererseits, nahezu gleichzeitig ihren Anfang nehmen. Hier bekundet Avenarius – in voller Anerkennung der eigentlich in diesem Medium schlummernden Möglichkeiten als Mittel der Volkserziehung – schon seine eindeutige Ablehnung der bestehenden Form der Kinematographen-Schaustellungen.114 Ungeachtet oder gerade wegen seiner unentwegten Bemühung um die ›positive Reform‹ des Kinos entgeht ihm nicht die konstitutive Schwachstelle dieser Position, die seiner Ansicht nach in ihrem arglosen und gutmütigen Optimismus steckt. Im dritten Kriegsjahr gibt er seinem tiefgreifenden Zweifel an dieser für ihn unreflektierten Zuversicht auf die Reformierfähigkeit des Kinos einen markanten Ausdruck. Seine Argumentation rekurriert zwar auf die Nahrungsmetaphorik, sticht seiner Überzeugung gemäß aber durch ihre eindringliche Variation hervor. In seinem kleinen Essay nimmt Avenarius einen Zeitungsartikel des Schweizer Epikers und Schriftstellers Carl Spitteler ins Visier, der hier ein schriftliches Bekenntnis seiner Bekehrung zum Kinema ablegt. Aus dem »eifrige[n] Verächter« des Kinos sei ein begeisterter Freund des »Kinema« geworden, der »es fünfmal in der Woche besuch[e]«. Der spätere Nobelpreisträger vergisst zwar nicht, nachdrücklich hervorzuheben, dass seine Anerkennung »nicht unter allen Umständen, nicht wahllos« gelte. Sein Misstrauen richtet sich etwa gegen »[d]ie albernen Räubergeschichten, Verbrecher- und Detektiv-Intrigen mit ihren Dachklettereien und Automobiljagden«, die ihn »nicht minder als irgend einen anderen«115 langweilen sollen. Trotz der offensichtlichen Mängel des »Kinema« komme jedoch eine ›negative Reform‹ durch Restriktion, Bevormundung oder Zensur in Spittelers Augen keineswegs infrage. Stattdessen weist er exakt in der Manier der ›positiven Reform‹ sowohl die willkommenen als auch die unerwünschten Aspekte des Kinos auf, um dann vor allem die ersteren fördern zu wollen. In diesem Sinne stellt Spitteler »[z]um Schluß« dieser Konfession »eine Anregung«: Wenn Sie, meine Herren und Damen, zwar die nichtsnutzigen Räubergeschichten des Kinema meiden, hingegen, wenn einmal etwas Erfreuliches im Programm 113 114 115

Avenarius, Ferdinand: »Vom Schmerzenskind Kino« [1918], in: Güttinger, Kein Tag (wie Anm. 66), S. 357-362, hier S. 359. Zur ›Kind‹-Metaphorik siehe oben Kapitel 4. A [= Avenarius, Ferdinand]: »Die Kinematographen-Schaustellungen«, in: Der Kunstwart 20 (1907), S. 670 f. Spitteler, Carl: »Meine Bekehrung zum Kinema« [1916], in: Güttinger, Kein Tag (wie Anm. 66), S. 336-339, hier S. 336.

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aufleuchtet, zahlreich erscheinen, dann werden Sie mehr zur Hebung des Kinema tun, als alle behördlichen Maßregelungen, Bußen und Zensuren es vermögen.116 Diese durchaus wohlmeinende Aufforderung geht von der zuversichtlichen Annahme einer Verbesserungsfähigkeit aus. Mit dem »Kinema« lässt sich demnach substanziell bzw. gegenständlich umgehen, um dadurch seine gute und schlechte Seite dualistisch trennen und ausschließlich die erstere kultivieren zu können. Am Ende dieser Reinigungsverfahren müsste ein gehobenes und geläutertes »Kinema« zurückbleiben – genauso wie jenes materielle »Volksnahrungsmittel«, das nun, von minderwertigen Beimischungen befreit, der allgemeinen Volksgesundheit eindeutig zugutekommen sollte. Gerade dieser gutmütige Optimismus eines soeben bekehrten Anfängers ist es, der Avenarius als altgediegenen Vertreter der ›positiven Reform‹ zutiefst irritiert. »Ein paar gute Nummern oder nur Einzelheiten – und er bekennt sich ›bekehrt‹«117 , klagt Avenarius. So beschwört er in seiner Besprechung des spittelerschen Bekenntnisses jenen neuralgischen Punkt der ›positiven Reform‹ unter Bezugnahme auf die Nahrungsmetapher herauf. Dies geschieht aber in der Weise, dass genauso wie bei Hauptmann in diesem Kontext eher die Grenze ihrer Anwendbarkeit auffällig zutage tritt: Sieht er [Spitteler] denn nicht die eigentliche Gefahr beim Kino? Darin liegt sie doch, daß es mit den Werten zugleich die Unwerte, mit der Nahrung zugleich das Gift unter den Millionen verbreitet, die nicht, wie Spitteler und der gebildete Besucher überhaupt, gegen das Gift immun sind.118 »[D]ie eigentliche Gefahr« des Kinos bestehe Avenarius zufolge gerade darin, dass es sich auf einer bloß gegenständlichen Ebene nicht erfassen und nur dadurch nicht reformieren lässt »wie Brot und Kartoffeln«, i.e. jenes eigentliche Nahrungsmittel. Mit anderen Worten: Es reicht bei weitem nicht aus, sich lediglich um den ›diätetisch‹ besseren Film zu bemühen. Kann dieser sich doch je nach der gegebenen Lage der Zuschauer jederzeit ins Gegenteil verkehren und auf das Publikum womöglich einen komplett unvorhergesehenen, mitunter ›giftigen‹ Einfluss ausüben. Das Kino ist deswegen nicht substanziell zu beherrschen und somit nicht beliebig zu manipulieren, da sich seine Funktion nicht nur auf seinen Inhalt als solchen zurückführen lässt. Es kommt nicht lediglich auf die Qualität des Filmes selbst an, sondern vor allem auf das angemessene, aber überaus veränderliche Verhältnis zwischen dem Film und dem jeweils gegebenen Publikum. Eine ›positive

116 117 118

Ebd., S. 339. A [= Avenarius, Ferdinand]: »Spittelers ›Bekehrung zum Kino‹«, in: Deutscher Wille des Kunstwarts 29 (1916), S. 200 f., hier S. 201. Ebd. (Herv. im Orig. gesperrt).

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Reform‹ muss logisch betrachtet von vornherein davon ausgehen, diesen wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Film und den Zuschauern auf den Grund kommen zu können. Diese Vorbedingung stellt sich aber Hauptmann zufolge als »fast unmöglich« heraus, und insofern kann sich auch die ursprünglich gutgemeinte filmische Nahrung jederzeit in ihr Gegenteil – in »Gift« – verkehren, so Avenarius. In dieser diskurslogischen Phase, wo sich die metaphorische Nahrung von einem Zeichen der graduellen Verbesserungsfähigkeit im Sinne der ›positiven Reform‹ zu einer unzuverlässigen Kippfigur verwandelt, lässt der Unterschied zwischen der Essens- und der Alkoholmetapher spürbar nach. Die Metapher eines alkoholischen Rauschmittels bezieht infolgedessen dieselbe Position wie die zweischneidige Nahrung, die jederzeit in das Giftige umzukehren droht. Diese Herausforderung des Films, der eine durchaus unberechenbare Wirkung auf das Publikum ausüben kann, richtet sich ebenfalls an die Theaterleute, die sich zu dieser Zeit am ›Theater-Kino-Streit‹ mit Vehemenz beteiligen. Vor dieser Folie bringt der Novellist und Bühnenschriftsteller Moritz Heimann, der auch als Lektor für den S. Fischer Verlag tätig ist, die Alkoholmetapher ins Spiel. Denn ihm erscheint dieses Dilemma der filmischen Wirkung analog zu dem des Alkohols: Die Großbrauereien lassen das Evangelium der Lebensfreude verkünden, es erscheinen Artikel, in denen die Unschädlichkeit des Alkohols bewiesen wird, – als ob es nötig wäre, zu beweisen, was alle Welt praktiziert und glaubt. Ganz ähnlich wie mit dem Alkohol steht es mit dem Kinematographen: auch er ist unbesieglich; kämpfen wir gegen ihn.119 Eben derselbe Stoff, der einem Elixier gleich ohne jeden Schaden Glücksgefühl verbreiten kann, stellt unter Umständen das sinistere Teufelszeug dar, von dem ein Schluck regelrecht den Untergang bedeutet. Das Kino wie auch der Alkohol sind per se weder gut noch böse, daher wird auch die strikte Trennung von beiden zu einem unmöglichen Unterfangen. Man kämpft gegen das Kino, während es zugleich »unbesieglich« scheint. Will man auf das Kino mit all seinen Verdiensten nicht von Grund auf verzichten, so muss man seine Janusköpfigkeit vollständig in Kauf nehmen. Heimann beschreibt diese Aporie treffend und anschaulich mithilfe der Metapher eines ambivalenten Rauschgiftes. Dieser Zweischneidigkeit fallen selbst die Natur- bzw. dokumentarischen Aufnahmen anheim. Im Gegensatz zum ›Kinodrama‹ werden diese zwar sowohl von den Kinoreformern als auch den kinofeindlichen Theaterleuten weitgehend einstimmig – bisweilen überschwänglich – anerkannt. Etwa Vic-

119

Heimann, Moritz: »Der Kinematographen-Unfug«, in: Die Neue Rundschau 24 (1913), S. 123127, hier S. 124.

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Metaphorologie des Kinos

tor Klemperer spricht sie metaphorisch sogar als »ein heilsames Gegengift«120 an. Ungeachtet dieser allgemeinen positiven Einschätzung sind sie für Heimann stets dabei ins Gegenteilige umzuschlagen: Haben wir es in den Lichtspieldramen mit Darbietungen zu tun, wo sowohl die Filmaufnahme, als auch ihre Wirkung verwerflich ist, so sind die in das Gebiet der Naturwissenschaften gehörenden Aufnahmen an sich rühmlich und schön, aber sie werden durch Mißbrauch in ein doppelt gefährliches, weil schleichendes Gift, verwandelt.121 So stellt sich das Kino auch hier als eine keineswegs zuverlässige Kippfigur heraus. Die anscheinend »an sich rühmlich[e] und schön[e]« Aufnahme wandelt je nach dem jeweiligen Aufführungskontext in ein »Gift« um, das sich auf die Zuschauer umso gefährlicher auswirkt. Ähnliches gilt später in der Kriegszeit auch für den patriotisch-propagandistischen Film wie Bei unseren Helden an der Somme (1917), »[e]in Stück des heiligen Kampfes«. Für Hans Arendt gerate der Bufa-Film »in das Gewühl von Schund und Jux«, indem sich dieser »Schlachtenfilm im Rahmen einer gewöhnlichen Kinematographenvorstellung abrollt«. In diesem Aufführungskontext von »unterhaltenden Schaustücken« degradiere dieser »wirklichkeitsernste« Kriegsfilm zu »eine[m] bombensichere[n] Kassenstück«, bei dem »die Macht des Kinos die Menge immer wieder zu locken und sie mit ihrem schillernden Gift zu bestricken vermag«122 . Aufgrund dieses labilen Charakters der filmischen Wirkung, der in einer metaphorischen Rede eines ambivalenten (Gegen-)Giftes passend ausgedrückt wird, stößt hier das Konzept einer substanz- und inhaltbezogenen ›positiven Reform‹ an grundsätzliche Grenzen. Diese heikle, weil unberechenbare Wirkung des Films artikuliert sich im Kinodiskurs häufig durch die metaphorische Sprache des Alkohols ebenso wie der Nahrung.   Um abschließend gerade nicht metaphorologisch, sondern film- und medienhistorisch zu bemerken: Der neuere Ansatz einer »Funktionalisierung«123 ist es, den die Kinoreform angesichts dieser verwickelten Problemlage aufgreift. Dessen Musterbeispiel bildet die sogenannte »Wirkungszensur«, die nicht an dem Inhalt, sondern vielmehr an der Wirkung eines Filmes ansetzt. Ihrem Verfechter, dem Juristen und Experten der Zensurfrage Albert Hellwig zufolge hängt das Urteil hierbei im Gegensatz zur »Inhaltszensur« davon ab, »welche Wirkung die Vorführung

120 Klemperer, Victor: »Das Lichtspiel«, S. 80. 121 Heimann: »Der Kinematographen-Unfug« (wie Anm. 119), S. 125. 122 Arendt, Hans: »Der Krieg im Lichtbild«, in: Deutsche Tageszeitung vom 19. März 1917, unpaginiert. 123 Schlüpmann: Die Unheimlichkeit (wie Anm. 43), S. 223.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

des Films wahrscheinlich haben werde«124 . Diese Idee weist zwar von vornherein »eine logische Unmöglichkeit« auf, die Wirkung, die eigentlich »nur ex post«, nur »nach erfolgter Projektion des Films« festgestellt werden kann, schon »ex ante bestimmen«125 zu suchen. Ungeachtet dieses Makels fasst die Wirkungszensur nach dem Ersten Weltkrieg jedoch in dem Reichslichtspielgesetz (1920) rechtlich festen Fuß. Ferner behält sie gar bis heute in Gestalt der ›Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft‹ (FSK) Geltung, um die Inszenierung einer erfolgreichen Domestikation eines im Grunde Unberechenbaren aufrechtzuerhalten.126

6.3

Der ›Kientopp‹ als ›Gift-Gift‹

In der metaphorischen Rede von Einverleibung lässt sich einerseits feststellen, dass der Zuschauer insbesondere des Zeitraumes um 1910 das Kino auf einer psychischen Ebene rezipiert, die seinerzeit als ›primitiv‹ bzw. ›regressiv‹ gekennzeichnet ist. Diese temporäre Regression soll man nicht nur als ontogenetisch auffassen, wie der eingangs besprochene psychoanalytische Theorieansatz des ›Oralen‹ andeutete. In der Imagination der Einverleibung stellt der Film darüber hinaus ein bildliches Symbol dar, das auf das phylogenetisch Regressive hinweisen soll. Denn nach Vischers Symboltheorie ist es in das erste »religiöse, dunkel verwechselnde«127 Stadium des Symboldenkens einzustufen. Das filmische Bewegtbild wird demzufolge mit dem darin Aufgezeichneten identifiziert und verwechselt, ohne dass die für jede aufgeklärte Zeichentheorie grundlegende Dichotomie des Zeichens und des Bezeichneten deutlich zutage träte. Die durchaus unberechenbare Oszillation des Films andererseits, die sich gerade in der Kippfigur des Giftes und des Gegengiftes metaphorisch niederschlägt, lässt sich jedoch mittels Vischers symboltheoretischen Grundtextes allein nicht hinlänglich verstehen. Die im Kinodiskurs metaphorisch ausgedrückte Zweischneidigkeit des Heilmittels oder der Droge geht auf eine der ältesten abendländischen Kritiken zurück, in denen ein anderes, seinerzeit relativ neuartiges Medium verhandelt wird. Gemeint ist die mehrdeutige Metapher des pharmakon, die in Platons Dialog Phaidros jeweils auf (Heil-)Mittel oder auf Gift hinweist und sich dort auf ein zentrales Ge-

124 Hellwig, Albert: Die Filmzensur. Eine rechtsdogmatische und rechtspolitische Erörterung, Berlin: Frankenstein 1914, S. 15. 125 Loiperdinger, Martin: »Filmzensur und Selbstkontrolle«, in: Wolfgang Jacobsen/Anton Kaes/Hans Helmut Prinzler (Hg.), Geschichte des deutschen Films, S. 525-544, hier S. 530 (Herv. im Orig.). 126 Vgl. ebd., S. 540. 127 Fr.Th. Vischer: »Das Symbol« (wie Anm. 63), S. 426.

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Metaphorologie des Kinos

sprächsthema bezieht, nämlich auf die Schrift.128 Jacques Derrida entwickelt in seiner Abhandlung Platons Pharmazie (1968) bekanntlich die bei Platon unauflösliche Janusköpfigkeit dieses Mediums. Dies unterstützt zwar – als (Heil-)Mittel – das Gedächtnis und erweitert das Wissen, während es jedoch zugleich – als Droge bzw. Gift – vergesslicher macht und das Übel noch verschlimmert.129 Die antike Medienkritik der Schrift artikuliert sich bereits durch die metaphorische Rede einer zweischneidigen Arznei, die sich – überaus vergleichbar mit dem filmischen Heilmittel – jederzeit in ihr Gegenteil, i.e. in Gift, zu verkehren droht. Insofern lässt sich eventuell annehmen, dass sich diese Metaphorik im Kontext der Kritik des jeweiligen neuen Mediums womöglich durch die europäische Diskursgeschichte hindurchziehen könnte. Diese Vermutung einer konstanten oder topischen130 Metaphorik spricht für eine Ansicht, dass es sich bei der Einverleibungsmetapher im Kinodiskurs um ein atavistisches und phylogenetisch-regressives Aufleben einer uralten Imagination handelt. Diese Annahme muss ohne weitere Belege zwar eine mehr oder minder spekulative Theorie bleiben. Es erscheint jedoch diskursgeschichtlich bedeutungsschwer, dass gerade in dem für die vorliegende Arbeit thematisch zentralen Zeitraum dasselbe Motiv eines zweideutigen (Gegen-)Giftes in anthropologischer wie soziologischer Hinsicht zur Diskussion steht. Demzufolge soll diese zweischneidige Figur auf eine Rückkehr in das uralte, aber heute noch in der Tiefe lebendige Einbildungsvermögen zurückgehen. In Anbetracht dieser historischen Folie scheint es einzuleuchten, dass für die metaphorische Beschreibung des ambivalenten Kinoerlebnisses zu dieser Zeit gerade der Bildspender des alkoholischen Getränks bzw. der (vergifteten) Nahrung als eine Leitmetapher gewählt und herangezogen wird. Die Rede ist vor allem vom Aufsatz Gift-Gift, den der französische Soziologe und Ethnologe Marcel Mauss als eine Vorarbeit für sein Hauptwerk Die Gabe [Essai sur le don] (1925) im Vorjahr publiziert. Diese kleinere Studie richtet sich in erster Linie auf den – im gegenwärtigen Deutschen nur noch schwindenden – Doppelsinn des Wortes ›Gift‹, i.e. einerseits Gabe oder Geschenk (die Gift), andererseits Giftstoff (das Gift). Sowohl aufgrund etymologischer als auch ethnologischer Recherchen sieht Mauss diese Doppeldeutigkeit in einer ritualen Sitte des Tausches verankert, die in den indisch-europäischen Gesellschaften vielerorts praktiziert und bisweilen mit der Bezeichnung ›Potlatsch‹ beschrieben wird. Das Geschenk soll einerseits »den Geber und den Erwerber magisch, religiös, moralisch, juristisch miteinander 128

Vom Verdikt vonseiten der antiken Ideenlehre bleibt die bildende Kunst ebenfalls nicht verschont. In Platons Auge ist nämlich auch die Malerei »Gift für den Verstand«, vgl. Platon: Politeia X, 1 (595b), zitiert nach Wolfgang Brassat, Art. »Malerei«, Sp. 740. 129 Vgl. Derrida, Jacques: »Platons Pharmazie« [1968], in: Ders., Dissemination, hg. von Peter Engelmann, Wien: Passagen 1995, S. 69-192. 130 Zum Ansatz einer Medienarchäologie anhand der Toposforschung vgl. Huhtamo, Erkki: »Dismantling the Fairy Engine. Media Archaeology as Topos Study«.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

verbinden«. Andererseits verkehrt es sich im Rahmen des »›System[s] der totalen Leistungen‹« mitunter in ein schicksalhaftes Unheil für den Adressaten, »[s]ollte die gegebene Leistung nicht in der vorgesehenen juristischen, wirtschaftlichen oder rituellen Form erwidert werden«131 . Im Kontext der vorliegenden Untersuchung ist es durchaus symptomatisch, dass sich auch im frühen deutschsprachigen Kinodiskurs die thematischen Entsprechungen dieses ethnologisch erarbeiteten Motivs häufig beobachten lassen. So wird auch hier ein per se glück- und nutzbringendes Geschenk, das jederzeit in ein regelrechtes Menetekel umzuschlagen droht, vielfach ins Spiel gebracht. Albert Hellwig propagiert zum einen in seiner Abhandlung über die Reform des Lichtspielrechts (1920) vehement eine rechtliche Reglementierung des ›Schundfilms‹. Dieser im Grunde kinokritischen Publikation stellt Hellwig aber eine bedeutungsschwere Bemerkung voran, dass »das Lichtspiel [ein] Göttergeschenk der modernen Technik« sei, das »gewaltige Möglichkeiten in sich«132 berge. Gerhart Hauptmann gibt in dem oben besprochenen Text aus dem Jahr 1922 das zweite Beispiel. Hier bezeichnet Hauptmann das Kino als qualitativ schwerlich kontrollierbares »Volksnahrungsmittel«, »auf dessen Gaben die ganze bewohnte Erde, nicht mit dem Munde und nicht mit dem Magen, sondern mit hungerndem Auge harrt«. Sogar der – zumindest im Rahmen seines Traktates gegen die moderne »Fata Morgana«133  – selbsternannte Kinogegner Joseph Roth macht schließlich in seinem Erbfeind ein an sich löbliches, weil durch Vorsehung zuteilgewordenes »göttliches Geschenk« aus: »Aber es wäre billig und töricht, wie wir schon deutlich gesagt haben, die Erfindung zu verwünschen und die Vernunft, der sie entstammt. Denn der Erfinder hat doch nichts anderes getan, als die Vernunft anzuwenden, die Gabe Gottes.« »Die Erfindung, der Segen des Geistes« verwandelt sich aber durch »die Anwendung« in ein »Element des Antichrist«, so Roth. Hierbei wird der Auslöser dieser Verwandlung allerdings – konsequent für seine projektive Argumentation – gerade nicht in dem Medium selbst erkannt. Die Metamorphose soll dem »böse[n] Element« zugesprochen werden, das »sich zwischen die Stunde der Erfindung und die der Anwendung gedrängt haben«134 müsste. Immerhin evoziert die weithin geteilte Auffassung der unbeherrschbar ambivalenten Wirkung des Kinos auf diese Weise an vielen Orten die Metapher eines doppeldeutigen Geschenkes bzw. eines ›Gift-Giftes‹. Darüber hinaus begründet Mauss’ Theorie des doppeldeutigen ›Giftes‹ die Wahl eines Bildspenders für die Zweischneidigkeit des Kinos. Mauss zufolge sei »die 131

132 133 134

Mauss, Marcel: »Gift-Gift« [1924], in: Stefan Moebius/Christian Papilloud (Hg.), Gift – Marcel Mauss’ Kulturtheorie der Gabe, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 13-17, hier S. 14 f. Albert Hellwig: Die Reform des Lichtspielrechts, Langensalza: Beyer & Söhne 1920, S. 6. Roth, Joseph: »Der Antichrist« [1934], S. 569. Ebd., S. 574.

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Metaphorologie des Kinos

typische Leistung« dieses zweideutigen ›Giftes‹ (Geschenk/Giftstoff) gerade »in den germanischen Rechten und Sprachen […] die Gabe des Getränks, des Bieres«: [I]m Deutschen ist das Geschenk überhaupt das, was gegossen wird (Geschenk, Gegengeschenk). Unnötig, eine sehr große Anzahl der Themen des deutschen Rechts und der deutschen Mythologie zu erwähnen. Denn man sieht es: Nirgends war die Unsicherheit bezüglich der guten oder bösen Natur der Geschenke größer als in Bräuchen dieser Art, wo die Gaben wesentlich nur aus Getränken bestehen, die gemeinsam als gegebene oder zu erwidernde Trankopfer getrunken wurden. Das Getränk-Geschenk kann Giftstoff sein; normalerweise und außer in düsteren Dramen ist es das nicht; aber es kann dies immer werden.135 Das Getränk nimmt Mauss zufolge in der alten Semantik des zweideutigen Geschenkes eine paradigmatische Stellung ein, da es gerade ein- bzw. ausgeschenkt wird. Angesichts dieser etymologisch und ethnologisch mutmaßlichen Vorstellung einer potenziellen Vergiftung des Getränks erscheint Mauss »[d]ie Sinnverwandtschaft, die gift-Geschenk mit gift-Giftstoff verbindet, […] leicht zu erklären und natürlich«136 . Diese Beobachtung, »[d]as magische Gebräu des delikaten Zaubers kann gut oder böse sein«137 , soll zwar in der Regel nur bei »den Sitten der alten Germanen und Skandinavier«138 zum Tragen kommen. In Bezug auf das magisch ambivalente Getränk soll dieselbe Vorstellung jedoch insbesondere in der Kneipe immer noch lebendig sein – so konstatiert, auf Mauss’ ethnologischen Gedanken aufbauend, der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch. Andernfalls wäre es überhaupt nicht verständlich, dass vielfältige Trinkrituale wie das Zutrinken, bei denen »die Verbundenheit ins Gegenteil umschlagen [könne], wenn die Hauptregel verletzt wird«139 , im Ausschankbetrieb nachhaltig Anwendung finden: Die Regeln und die Rituale, die das Trinken in der Kneipe begleiten, ragen als Relikte aus einer längst vergangenen Zeit in unsere moderne Zivilisation hinein. Tatsächlich läßt sich die Kneipe als eine Art von Reservat bezeichnen, in dem sich archaische Verhaltensweisen lebendig erhalten haben, die aus den übrigen Bereichen des Lebens weitgehend verschwunden sind.140 Durch die Umgebung der Kneipe und vor allem den Alkohol, der »die neueren zivilisierten Schichten des Bewußtseins weg[spüle] und […] jene archaische Schicht frei[lege]«141 , soll die bedrohliche magische Vorstellung eines unberechenbaren 135 136 137 138 139 140 141

Mauss: »Gift-Gift« (wie Anm. 131), S. 15 (Herv. im Orig.). Ebd., S. 16. Ebd.; ein Schreibfehler (sic!: »der delikate Zauber«) wurde vom Verfasser korrigiert. Ebd., S. 15. Schivelbusch: Das Paradies (wie Anm. 22), S. 183. Ebd., S. 184 f. (Herv. im Orig.). Ebd., S. 186.

6 Ambivalente Transsubstantiation oder: Kino trinken, Film essen

Getränkgeschenkes wieder aufleben, das potenziell vergiftet sein kann. Gerade um diese wiederbelebte uralte Vorstellung einer Bedrohlichkeit zu neutralisieren, werden die für das modern rationalistische Bewusstsein sinnlos erscheinenden Trinkrituale ausgeübt. In dieser Hinsicht regredieren die Trinker zeitweilig für die Dauer eines gemeinschaftlichen Trinkens gleichsam phylogenetisch in ein uraltes Zeitalter, in dem sich ein alkoholisches Getränk jederzeit in einen vergifteten Trunk zu verkehren drohte. Eine der Leitmetaphern des frühen Kinodiskurses, der Kinoalkohol, der eine durchaus bedrohliche, weil zweideutige Kippfigur darstellt, signalisiert ebenfalls eine regressive Tendenz der damaligen Filmzuschauer. Für sie bedeutet – zumindest unterschwellig – das Kino bzw. der ›Kientopp‹ regelrecht eine für Augen bestimmte Kneipe als ein »Reservat« der alten, vermeintlich längst überwundenen magischen Vorstellung. Auf dieser archaischen Stufe kann der filmische Alkohol genauso wie das ausgeschenkte Getränk potenziell entweder die oder das Gift sein. Die Metapher des Alkohols lässt sich insofern als die Spur einer im Kino vorübergehend stattfindenden inneren Regression auslegen, auf die der Kinodiskurs durch diesen Metapherngebrauch reflektierend Bezug nimmt.142 In dieser metaphorischen Rede erweist sich der Kinoraum als ein besonderes Gebiet oder eine Scharnierstelle der Progression und Regression, in der die uralte Imagination gerade durch die seinerzeit neueste technische Errungenschaft ein merkwürdiges Aufleben feiert.

142 Benns Reise (1916) gehört vor allem mit Blick auf die metaphorische Figur eines »Trunk[s]« gerade in diesen Zusammenhang hinein. Näheres zu dieser Novelle siehe oben in Kapitel 4.

241

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹. Stationen einer diskursiven Immunisierung gegen die ansteckende Krankheit des Kinos

7.1

›Kinodrama‹ – ein vergiftetes Geschenk des Erbfeindes?

Gerhart Hauptmann sah die Qualität eines Films durchaus von seinem wandelbaren Verhältnis zum jeweiligen Publikum abhängen. Oder für Ferdinand Avenarius bestand die »eigentliche Gefahr« des Kinos in der Unvorhersehbarkeit, dass ein und derselbe Film je nach den konkreten Aufführungskontexten entweder ›Nahrung‹ oder ›Gift‹ verbreiten könne. In dem hier einschlägigen Zeitraum von den 1910er und 1920er Jahren erreichen jedoch nur wenige diese Reflexionstiefe. Die ›funktionalisierende‹ Perspektive gegenüber dem Kino gehört seinerzeit noch zu den Ausnahmen. Viele glauben noch davon ausgehen zu können, dass das ›Geschenk‹ der Kinematographie aus dem ›substanziierenden‹ Standpunkt zu retten ist. So befürwortet man bestimmte filmische Objekte, während andere, vermeintlich verwerfliche oder ›vergiftete‹ kinematographische Gattungen rigoros bekämpft werden. In den frühen 1910er Jahren avanciert der Langfilm mit mehr oder minder ausdauernder und spannungsvoller Diegese zur hegemonialen filmischen Praxis. Vor dieser Negativfolie wird die naturwissenschaftliche bzw. dokumentarische Aufnahme häufig als kulturell lobenswert oder wissenschaftlich fortschrittlich erachtet. So steht der längere Film mit einem fiktionalen Inhalt, ›Kinodrama‹ genannt, weitgehend im Kreuzfeuer. Diese charakteristisch dichotomische Ausrichtung der Debatten schlägt sich bereits in der »erste[n] deutschsprachige[n] Monographie über Kino«1 nieder. Gemeint ist die im Jahre 1910 – d.h. am Vorabend der Langfilmzeit, die laut Corinna Müller »mit der Jahreswende 1910/11«2 anfängt – veröffentlichte Broschüre von Pastor Walther Conradt, Kirche und Kinematograph. Auch in dieser Publikation, die den Übergang von der Kurz- zur Langfilmzeit auf ihre 1 2

Diederichs, Helmut H.: »Frühgeschichte deutscher Filmtheorie. Ihre Entstehung und Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg«, S. 143. Müller, Corinna: »Variationen des Kinoprogramms. Filmform und Filmgeschichte«, S. 145.

244

Metaphorologie des Kinos

Weise dokumentiert, nimmt der Metapherngebrauch von »starke[m], berauschende[m] Gift3 « eine zentrale Rolle ein. In bemerkenswerter Weise behält sie zudem immer noch den Beiklang eines ›Geschenkes‹. Die Figur weist hier aber keine Ambivalenz auf und erscheint eindeutig verheerend. In dieser Hinsicht kann Conradt jenen empfindlichen Punkt vorauslaufend umgehen, auf den Avenarius 1916 in der metaphorischen Rede des wandelbaren Giftes bzw. ›Gift-Giftes‹ (Mauss) nachdrücklich hinweisen sollte. Operiert Conradt hier doch mit einer doppelten Reduktion der Komplexität. Zum einen identifiziert er das sittlich unheilvolle Gift restlos mit einer konkreten filmischen Gattung, dem ›Kinodrama‹, um dann die dezidierte Bekämpfung dieses eindeutigen Feindes leidenschaftlich zu propagieren. Darüber hinaus bringt Conradt hier den Kontext der Produktion, d.h. die – angeblich feindselige – nationale Herkunft von Filmen ins Spiel: Frankreich. Mit seiner Beobachtung, dass »[d]iese französischen Stücke […] unser deutsches Programm«4 beherrschen, hat Conradt wohl recht. In der Zeit von 1906 bis 1910/11 ist nach Müller »die französische Produktion weit vorherrschend« und hält »zweifellos mehr als die Hälfte des deutschen Kinomarktes«5 . Da der Name des Herkunftslandes Frankreich bei Conradt ein Synonym oder eine Metonymie für das dramatische ›Stück‹ im Allgemeinen darstellt, kritisiert er »den französischen Schmutz«6 umso schärfer. Die »Ethik« des dramatischen Kinos sei »nicht die des deutschen Volkes« und vergifte von daher »unser deutsches Volk«7 . Der ›dramatische‹ Film wird hier gleichsam als ein vergiftetes Geschenk aus Frankreich empfunden, das »die sittliche Zersetzung des deutschen Volkes«8 befördere. So behält der Doppelsinn des Wortes ›Gift‹ als »gift-Giftstoff« einerseits und »gift-Geschenk«9 andererseits, der Marcel Mauss zufolge tief in den altgermanischen Gebräuchen verwurzelt sei, zwar noch seinen Beiklang. Der semantische Pendelschlag der Giftmetapher bleibt aber infolge der Anfeindung gegenüber einem bestimmten ›vergifteten‹ filmischen Genre sowie aufgrund der national-geographischen Perspektive auf sein angeblich feindseliges Herkunftsland aus: »[D]as ist Vergiftung der tiefen Quellen unserer Volkskraft«10 . Die häufige Verwendung der Giftmetapher im Kinodiskurs wird jedoch im Grunde dadurch motiviert, dass das Kino und das Gift gleichermaßen die unberechenbare Verzögerung der Wirkung aufweisen sollen. Sie tritt erst dann sichtbar

3 4 5 6 7 8 9 10

Conradt, Walther: Kirche und Kinematograph. Eine Frage, S. 16. Ebd., S. 16. Müller, Corinna: »Der frühe Film, das frühe Kino und seine Gegner und Befürworter«, S. 65. Conradt: Kirche (wie Anm. 3), S. 16. Ebd., S. 33. Ebd., S. 41. Mauss, Marcel: »Gift-Gift«, S. 16. Conradt: Kirche (wie Anm. 3), S. 28.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

hervor, nachdem man die Gabe blindlings verschluckt hat. Hiervon geht zumindest die Vorstellung aus, die nach Mauss der Etymologie des ›Giftes‹ zugrunde liegt. Eben aus demselben Grund ist diese Figur sichtlich weniger präsent, wenn der angeblich schädliche Einfluss eines Films wegen seiner fremden, plebejischen oder vermeintlich feindseligen Herkunft von vornherein eindeutig sein soll.11 Der kulturpessimistische Gedanke in Bezug auf das Kino als den Anderen, der sich an das ›Wir‹, die Kulturnation oder einen ›Volkskörper‹ von außen bedrohlich heranschleicht, bedarf daher noch geeigneterer Metaphernformen. Der eindeutig unheilbringende Eindringling, der von außen her den Kollektivkörper heimsuchen will, lässt sich eher als ›Parasit‹ oder »Pest«12 bezeichnen. Schleicht er sich doch dem unsichtbaren Krankheitserreger gleich ans Innere der Gemeinschaft heran und höhlt diese wie Bazillen von innen her aus. Im vorliegenden Kapitel wird einer Leitmetapher nachgegangen, die in der Filmliteratur der 1910er und 1920er Jahre das Kino und den Film als das von außen drohende Andere charakterisiert: die ›Pest‹ bzw. ›Seuche‹. Diese Metaphernform stammt offenbar aus dem Gebiet der Physiologie und der Medizin und bezieht sich auf ein anderes, fremdes Lebewesen, welches das Subjekt von außen überfallen und in sein Inneres eindringen kann. Dies bedeutet bei der ›Pest‹-Metapher eine Infektion des Körperinneren als eines immunologisch definierten physischen Innenraums durch bestimmte unsichtbare Feinde. In der metaphorischen Rede der ›Seuche‹ lässt sich das Kino als ein gefährlicher Anderer metaphorisieren, der die innere Sicherheit ›unserer‹ kulturellen Gemeinschaft physisch wie psychisch zunichtezumachen droht. Es kommt keineswegs von ungefähr, dass gerade der Bildspender der ›Seuche‹ herangezogen wird, um den Störenfried Kino zu versinnbildlichen. In der Wissensgeschichte der Medizin markiert das ausgehende 19. Jahrhundert, an dessen Schwelle das Kino aufkommt, einen korrespondierenden Paradigmenwechsel. Es handelt sich hierbei um einen Wandel der ätiologischen Auffassung von epidemischen Krankheiten »[v]on Hygiene zur Bakteriologie«13 . Der Rekapitulation von

11

12 13

In dieser Hinsicht erscheint es gerade symptomatisch, dass in der Nachkriegszeit, in der eine Figur des feindseligen Anderen nicht mehr eindeutig auszumachen ist, mit Blick auf das Kino wieder von einer »vergiftete[n] Mandeltorte« gesprochen wird. Diese schmecke »doch gewiß großartig, süß, man möchte immer mehr davon, bekommt nicht genug, merkt aber nicht, daß eben gerade die Süßigkeit den erst nur leicht betäubenden, dann immer mehr berauschenden und hernach tödlichen Giftstoff in sich birgt«, vgl, Halter, Hermann: Die Kino-Frage. Ein Wort zur Aufklärung über das heutige Kinounwesen, Meiringen: Loepthien-Klein 1921, S. 27. Hierzu siehe unten. Conradt: Kirche (wie Anm. 3), S. 16. Sarasin, Philipp et al.: »Bakteriologie und Moderne. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 8-43, hier S. 15.

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Metaphorologie des Kinos

Philipp Sarasin et al. zufolge rechnete die Erstere »mit vielfältigen, schwer zu fassenden« lokalen Ursachen wie »Klima, Bodenbeschaffenheit usw.«. Im Kontrast hierzu geht die Letztere von »der einen Krankheitsursache« aus, auf die »einzig und allein«14 die Infektion zurückzuführen ist. Zu diesem »Bruch«15 der Bakteriologie trägt einerseits das damals neue Bildmedium wesentlich bei, das sich auch für die Kinematographie als konstitutiv erweist: die Photographie. Der Begründer der Bakteriologie, Robert Koch, nimmt mikroskopisch gewonnene photographische Aufnahmen des Krankheitserregers bevorzugt in Anspruch, um dieses Agens »sichtbar und identifizierbar zu machen«16 . Anhand des »Photogramm[s]« als eines »Beweisstück[s]«17 versucht Koch sein bakteriologisches »Postulat«18 glaubwürdig erscheinen zu lassen. Darüber hinaus dient auch die Kinematographie selbst als ein Veranschaulichungs- und Aufklärungsmittel, welches das Leben und Wirken der unsichtbaren Mikroben vor Augen zu führen vermag. In der metaphorischen Sichtweise jedoch figuriert im Kinodiskurs dieses Medium selbst ggf. dessen schwer fassbare Wirkung auf die Massen als eine Infektionskrankheit oder eine ›Kinopest‹, deren ›Bekämpfung‹ man mit Vehemenz propagieren sollte. Insbesondere in den frühen 1910er Jahren provoziert das Kino als ein plebejischer »Emporkömmling« (Willy Rath) die konservative Theaterfraktion. Ihre hysterische Angst scheint an eine paranoide Wahnvorstellung zu grenzen und mobilisiert sie zur Forderung von rigorosen medienhygienischen Abwehrmaßnahmen gegen die ›Kinoseuche‹. Aus der diachronischen Perspektive durchläuft die Leitmetapher jedoch eine bemerkenswerte semantische Wandlung. Die Figur des bedrohlichen Fremden unterliegt im Verlauf der betreffenden Zeit zunehmend der Logik des Eigenen, die anscheinend zuletzt in die Lage versetzt wird, den gefährlichen Eindringling erfolgreich zu überwältigen und zu zähmen. Statt der dämonisierenden Abwehrhaltung gegenüber dem Fremdkörper Kino tritt nun ein aufgeschlossenes, aktives Interesse am Medium in den Vordergrund. Vor allem die fortschreitende Institutionalisierung des Langfilms in den 1910er Jahren sowie die Entwicklung der inländischen Filmproduktion während des Ersten Weltkriegs bewirken die zunehmende Anerkennung des Kinos. Im Laufe dieser Eingliederung des Films in die Alltagskultur scheint das Publikum nunmehr gegenüber dem kinematographischen Bazillus immun zu sein. Die Metapher des Virulenten begleitet diesen Prozess einer Verinnerlichung des einst gefährlichen Anderen, ohne jedoch nach dieser kulturell-gesellschaftlichen Wandlung an Brisanz komplett einzubüßen. Im vorliegenden Kapitel soll dem semantischen Wandel dieser Metapher in den 1910er Jahren nachgegan-

14 15 16 17 18

Ebd., S. 18 f. (Herv. im Orig.). Ebd., S. 15. Ebd., S. 19. Ebd., S. 23. Ebd., S. 19.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

gen werden. Es versteht sich als eine Fallstudie, welche die diskursive Integration eines neuen Mediums aus metaphorologischer Sicht beleuchten soll.

7.2

Pest als Metapher, Metapher als Pest. Zur Einführung in die Fragestellung

Die Metapher definiert sich als eine ambivalente Prädikation. Dies gilt zweifelsohne auch für die Metapher der ansteckenden Krankheit – und sogar gleich doppelt. Zum einen bezieht sich die Metapher der Pest oder vergleichbarer infektiöser Krankheiten in der Regel auf die ästhetischen oder sittlichen und psychisch-psychologischen Aspekte der Filmrezeption. Dabei stammt der Bildspender eigentlich nicht aus dem geistigen oder seelischen, sondern aus dem biologischen und körperlichen, physisch-physiologischen Kontext. Der Unterschied zwischen der Herkunft und der Anwendung dieses Bildes bedeutet jedoch bei einer Metapher per definitionem überhaupt keine Hürde. Er begünstigt vielmehr eine metaphorische Rede als den übertragenen Gebrauch eines Terminus, der ursprünglich in einer anderen Sphäre verwendet werden sollte. Etwa bei der Figur der Suggestion im Kinodiskurs macht sich jene »Bewußtseinslage der doppelten Bedeutung« bisweilen nur noch schwindend bemerkbar. Dies ist unter anderem auf die inhaltliche Nähe zwischen der eigentlichen »Sphäre« und dem neuen »Zusammenhang«19 des Bildspenders zurückzuführen. Im Gegensatz hierzu tritt die Ambivalenz im Fall der Pestmetapher bei jedem Gebrauch deutlich hervor. Dieses Gefälle zwischen der »Sphäre« und dem »Zusammenhang« muss zum anderen überwunden werden, sodass eine übertragene Rede überhaupt existieren kann. Andernfalls könnte dieses fremde Bild eines bedrohlichen Anderen, das eigentlich in einem entfernten Bereich gebräuchlich sein soll, nicht als eine Metapher in den neuen Kontext herangezogen werden. Insofern lässt sich die Metapher grundsätzlich als ein Vorgang der Grenzüberschreitung verstehen, die durch ein fremdes Wort auf das Gebiet des Eigenen bzw. Eigentlichen hin vollzogen wird. In dieser Hinsicht definiert sich die Metapher im Allgemeinen gleichsam als ein anderes, ansteckendes Bild, das auf den eigenen Kontext von außen eindringt und mit diesem parasitär zusammenwohnt. In dieser Perspektive geht es bei der Pestmetapher im Besonderen folglich um einen doppelten Akt der Übertragung, d.h. sowohl auf der inhaltlichen als auch formalen Ebene. Die ansteckende Krankheit soll zum einen die Grenze zwischen der Außenwelt und dem Körperinneren porös machen und auf diese Weise überschreiten. In der metaphorischen Rede lässt sich

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Stählin, Wilhelm: »Zur Psychologie und Statistik der Metaphern. Eine methodologische Untersuchung«, S. 322.

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Metaphorologie des Kinos

dieses Bild selbst zum anderen aus dem ursprünglichen in einen neuen »Zusammenhang« überführen und – im emphatischen Sinne – ›übertragen‹. Diese ›Übertragung einer Übertragung‹ oder die übertragene Verwendung der ›Pest‹ ruft nicht nur das Ausmaß eines durch die Epidemie ausgelösten verheerenden Unheils in Erinnerung. Gleichzeitig muss hierbei auch ihr Ansteckungs- und Übertragungsweg selbst vorgestellt werden, der vom äußeren, anderen und fremden Bereich zum inneren, eigenen und eigentlichen führen soll. Dieses Verständnis der Infektionskrankheit als einer doppelten Metapher markiert einen methodischen Unterschied zu Susan Sontags bündigem und höchst geistreichem Essay über Krankheit als Metapher (1978). Dieser nimmt zwar, ähnlich wie die vorliegende Studie, bei der Beobachtung der häufigen »Verwendung der Krankheit als Bild oder Metapher« in der westlichen Diskursgeschichte seinen Anfang. Sontag verfolgt jedoch in ihrer Untersuchung nachdrücklich eine »Aufklärung dieser Metaphern und Befreiung von ihnen«. Geht sie doch davon aus, dass »Krankheit keine Metapher« sei. Von daher könne man sich laut Sontag »von metaphorischem Denken […] lösen«, um dann »die gesündeste Weise, krank zu sein«, herauszufinden.20 Diese gleichsam therapeutische Absicht soll konsequenterweise nicht nur auf dem diskursiven, sondern vielmehr auf dem medizinischen bzw. ätiologischen Weg erfolgen. Sontag zufolge komme der Metapher einer Krankheit dann die Radikalität abhanden, wenn deren »schlichte physische Ursache« geklärt wird und sie nicht mehr mysteriös und rätselhaft erscheint. So sei die Syphilis, wenn die Erkrankung auch »mit viel Entsetzen verbunden« bleibe, »als Metapher [doch] begrenzt«, denn ihre »Ursache war klar und wurde als einzigartig aufgefaßt«. Nach derselben Logik soll sich in der metaphorischen Rhetorik seit der Jahrhundertwende oder der kochschen Entdeckung der Tuberkelbakterien 1881 ein Übergang der Leitmetapher von der Tuberkulose auf den Krebs beobachten lassen. Der Krebs sei »ein ungelöstes Rätsel«, denn er sei »vielfach determiniert«. Und es seien »die Krankheiten, die als vielfach determiniert (d.h. mysteriös) gelten, die als Metaphern […] die größten Möglichkeiten haben«21 . Sontags Grundprämissen gemäß müsste die Metapher der Infektionskrankheit nicht »radikal«22 und infolgedessen auch nicht eigens untersuchenswert erscheinen. Demgegenüber widmet sie den Metaphern der »mysteriöse[n]« Krankheiten wie der Tuberkulose im 19. Jahrhundert und des Krebses im 20. Jahrhundert ihre Untersuchung, um die Erkrankungen gerade von deren »grauenhaften Metaphern«23 zu befreien. Aus der anderen, metaphorologischen Perspektive heraus ist man jedoch durchaus berechtigt, festzustellen, dass die »Aufklärung« der Metaphern nicht 20 21 22 23

Sontag, Susan: »Krankheit als Metapher« [1978], in: Dies., Krankheit als Metapher, Aids und seine Metaphern, 3. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2012, S. 5-74, hier S. 9 (Herv. im Orig.). Ebd., S. 53 f. Ebd., S. 73. Ebd., S. 9.

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immer in einer »Befreiung von ihnen« bestehen muss, wie es Sontag konstatiert. In Bezug auf das »metaphorische Denken«24 ist auch eine andere, reflexive und reflektierte Art der Aufklärung durchaus denkbar, die den Diskurs nicht gerade keim- oder metaphernfrei zu desinfizieren versucht, sondern in seiner komplexen Funktionalität zu erkennen trachtet. Aufgrund dieser Überlegungen geht die vorliegende Studie von einer anderen methodischen Voraussetzung aus. Hier zeichnet sich die Metapher nicht (mindestens: nicht allein) durch das rätselhafte Erscheinungsbild »mit zahllosen Ursachen«25 aus, das eine unübersichtliche, »absolute«26 Polysemie des Bildspenders ermöglichen soll. Vielmehr lässt sie sich in Bezug auf den »Vorgang der Übertragung« definieren, der »nicht eigens zum Ausdruck kommt«,27 und dessen man sich gleichwohl bei jedem Metapherngebrauch bewusst ist. Infolge dieser Voraussetzung verliert die Infektionsmetapher für die Fragestellung ›Krankheit als Metapher‹ ungeachtet oder gerade wegen ihrer klaren Ätiologie keineswegs an Relevanz. Vielmehr darf sie insofern sogar als eine »radikale« bzw. Leitmetapher angesprochen werden, als sie eine Metapher höherer Ordnung oder eine ›Übertragung der Übertragung‹ darstellt. Zumal ihr Bildspender selbst schon inhaltlich den Übertragungsvorgang einschließt, der sich in der Funktionsweise der Metapher schlechthin noch einmal – ohne jedoch »selbst sprachlich zum Ausdruck«28 zu kommen – abspielen soll.

7.3 7.3.1

Zwischen Sichtbarmachung und Unsichtbarkeit. Der Ort der frühen Kinematographie im bakteriologischen Diskurs Die Kinematographie als hygienische Aufklärerin

Es muss dahingestellt bleiben, ob der verstärkt ›übertragende‹ Charakter der Ansteckungsmetapher deren besonders häufiger Anwendung jemals zugutekommen – bzw. diese sogar motivieren – sollte. Abgesehen davon lassen sich im frühen deutschen Kinodiskurs um 1910 zweierlei besondere Anlässe ausmachen, diese Figur – insbesondere die ›Pest‹ oder die ›Seuche‹29  – bevorzugt einzusetzen. Die

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Ebd. Ebd., S. 53. Ebd., S. 72. Stählin: »Zur Psychologie« (wie Anm. 19), S. 310 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 321. Diese Metaphern, die im frühen Kinodiskurs häufig Verwendung finden, stuft Sontag in die »großen epidemischen Krankheiten der Vergangenheit« ein, die im Gegensatz zu »den modernen Krankheiten (einst Tb, jetzt Krebs)« »als Metaphern weniger gebräuchlich geworden« seien (Sontag: »Krankheit« [wie Anm. 20], S. 35, 42 u. 62). Diese letzte Feststellung konterkariert die hier einschlägige Sachlage.

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aufkommende Kinematographie bezieht seinerzeit gleichsam eine Scharnierposition, in der sich zwei gegensätzliche Assoziationen von infektiösen Krankheiten in eigentümlicher Weise überschneiden. Dieser diskursive Ort lässt sich als eine Schwelle zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit bezeichnen. Das Kino wird zum einen als ein Untersuchungs- und Aufklärungsmittel gegen ansteckende Krankheiten erachtet. Denn es ist imstande, diese mit bloßem Auge unsichtbaren Feinde medientechnisch sicht- und identifizierbar zu machen. Gleichzeitig stellt das Medium selbst – allerdings im übertragenen Sinne – einen bedrohlich virulenten ›Bazillus‹ dar, der die Publikumsmasse im Dunkeln des Zuschauerraumes unauffällig heimsuchen und infolgedessen verheerende Syndrome heraufbeschwören sollte. Die Kinematographie genießt einerseits als die einzig legitime Nachfolge der Photographie den Status einer medizinischen bzw. ätiologischen Aufklärerin. Seit ihrem offiziellen Aufkommen 1839 kommt der Photographie eine nie zuvor gewesene Objektivität und somit eine beinahe absolute Evidenz als »unverfälschte«30 , weil »Selbstabbildung«31 des Gegenstandes zu. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangt sie dann in vielfältigen naturwissenschaftlichen Bereichen und insbesondere in der Biologie und der Medizin zur Anwendung. Nicht zuletzt in der Gründungsphase der Bakteriologie wird sie von deren Begründer Robert Koch bevorzugt eingesetzt. Auf dem photographischen Wege verfolgt Koch das Ziel, den vermuteten, dem bloßen Auge unsichtbar bleibenden Krankheitserreger zusammen mit dem Mikroskop sowie der speziellen Technik des Einfärbens sichtbar zu machen, zu identifizieren und schließlich zu bezwingen. Diese Strategie der »Sichtbarmachung«32 des Unsichtbaren lässt Kochs Bakteriologie – so Philipp Sarasin et al. – gerade »emblematisch für Modernität«33 erscheinen. Für den Berliner Arzt verwirklicht diese aufgrund der photographischen Verfahren bewerkstelligte Vorgehensweise »ein schlagendes Argument«34 . Die Bildproduktion schaltet bis auf das apparative Setting bei der Aufnahme sowie die photochemische Behandlung bei der Entwicklung des Bildes menschlich willkürliche Eingriffe aus. Aus diesem Grund bedeutet die photographische Abbildung des Krankheitserregers für Koch »nicht allein eine Illustration, sondern in erster Linie ein Beweisstück«. Sie soll »gewissermassen ein Document« sein, »an dessen Glaubwürdigkeit

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Schlich, Thomas: »Repräsentationen von Krankheitserregern. Wie Robert Koch Bakterien als Krankheitsursache dargestellt hat«, in: Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner/Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin/Boston: de Gruyter 1996, S. 165-190, hier S. 172. Ebd., S. 173 f. Ebd., S. 184. Sarasin et al.: »Bakteriologie« (wie Anm. 13), S. 22. Schlich: »Repräsentationen« (wie Anm. 30), S. 170.

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auch nicht der geringste Zweifel haften darf«35 . So avanciert die Photographie bei Koch zur Stellvertreterin eines eigentlichen Gegenstandes mit derart vollkommener Geltung, dass sie nicht nur als ein Überzeugungsmittel dient, das »allseitiger Kritik«36 standhalten sollte. Sie stellt darüber hinaus ein »Untersuchungsobjekt«37 sui generis dar. Soll sie doch ermöglichen, »feine Objekte«, die durch »die direkte Betrachtung durchs Mikroskop« nicht wahrgenommen werden, »auf dem Negativ leicht«38 zu finden. Hiermit erweist sich das photographische Medium für Kochs Projekt der Bakteriologie als wahrhaft konstitutiv. Im Zusammenhang mit der bakteriologischen Lehre kommt dem Kino jedoch in dreierlei Hinsicht ein anderer Stellenwert zu. Die erst um die Jahrhundertwende aufkommende Kinematographie nimmt zum einen nicht den in der Entstehung der Bakteriologie zentralen Stellenwert ein, den die Photographie als ihre Vorgängerin innehatte. Im Kinodiskurs um 1910 heben einige Stimmen dennoch gewisse Verdienste hervor, die das Kino eher in der Phase der Verbreitung bakteriologischen Wissens habe. Es diene folglich – zum Zweiten – nicht als ätiologisches »Beweisstück«, um eine bakteriologische Entdeckung erstmals zu begründen. Ihm kommt vielmehr die Rolle eines Belehrungs- und Aufklärungsmittels in einer hygienisch-medizinischen Volksbildung zu. Die Kinematographie soll die unter der Bevölkerung bislang wenig bekannten, infolgedessen mysteriös anmutenden unsichtbaren Feinde sicht- und beobachtbar machen und dann über die wirksamen hygienischen Maßnahmen anschaulich informieren. Bei dieser Bildungsarbeit ist es schließlich besonders bedeutsam, dass die Kinematographie – anders als das photographisch stillstehende Bild – den Entwicklungsprozess bzw. das ›Leben‹ der Bazillen nun vor die Augen der Massen führen kann. Hanns Heinz Ewers, mit dem unauffälligen Schriftstellernamen »Spectator« getarnt, berichtet in einer Folge seiner Artikelserie Kino-Revue in der Deutschen Montags-Zeitung im März 1911 von einer Berliner Filmvorführung. Hier lobt Ewers einen Film überschwänglich als einen weiteren wissenschaftlich hochwertigen Beitrag der Kinematographie. Der besprochene »ganz neue Film« scheint wie ein französischer populärwissenschaftlicher Film zu sein, der die Pestepidemie in der Mandschurei im Winter 1910/11 thematisiert. Denn aus Ewers’ Beschreibung geht hervor, das filmische Pestserum werde »im Pasteurinstitut zu Paris bereitet«, 35

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Koch, Robert: »Zur Untersuchung von pathogenen Organismen«, in: Mittheilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte 1, S. 1-48, hier S. 14, zitiert nach Schlich, »Repräsentationen« (wie Anm. 30), S. 174. Vgl. auch Sarasin et al.: »Bakteriologie« (wie Anm. 13), S. 22, sowie Bredekamp, Horst/Brons, Franziska: »Fotografie als Medium der Wissenschaft. Kunstgeschichte, Biologie und das Elend der Illustration«, in: Christa Maar/Hubert Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, 3. Aufl., Köln: DuMont Literatur und Kunst 2005, S. 365-381, hier S. 373. Schlich: »Repräsentationen« (wie Anm. 30), S. 174. Sarasin et al.: »Bakteriologie« (wie Anm. 13), S. 23. Schlich: »Repräsentationen« (wie Anm. 30), S. 175.

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und bei der Erkrankung handle es sich um »asiatische Lungenpest«39 . Immerhin: »[A]uf der Bilderschaubühne des Unions-Theaters, Unter den Linden 21«, habe er »das Leben der Pesterreger und ihre Wirkungen auf Menschen und Tiere« kennenlernen dürfen: An der Milz eines verseuchten Tieres erblickt man eine Anzahl von Bakterien, und unter dem Mikroskop eines Arztes nimmt man den spezifischen Pestbazillus wahr, für dessen Entdeckung im Jahre 1894 man dem Schweizer Dr. Yersin und dem Japaner Kitasato, einem Schüler Robert Kochs, zu danken hat.40 Anders als das statische bzw. stationäre Bild eines kochschen »Photogramm[s]« demonstriert der Film nun den dynamischen Prozess oder das »Leben« und die »Wirkungen« der Pestbazillen. So verdiene »dieses Schicksalsgemälde« für Ewers »[n]icht nur vom wissenschaftlichen, auch vom ästhetischen Standpunkt […] Beachtung« und vermittle »etwas wie eine sachliche Tragödie«41 . Nahezu zeitgleich bringt Alfred Polgar eine kongeniale Beobachtung in einem Aufsatz, zu dessen Beginn er – im Einklang mit Victor Klemperer42  – »den Kinematographen mit dem Leben« vergleicht. Hier führt der Wiener Schriftsteller unter anderem die filmischen »Mikroben im Wassertropfen« als ein Paradebeispiel einer »Fülle von Lebendigkeit«43 auf der Leinwand an. Nicht nur ausgewiesene Kinoenthusiasten wie Ewers oder Filmsympathisanten wie Polgar sehen in der Kinematographie eine tüchtige hygienische Erzieherin. Auch einige Kinokritiker, die insbesondere die Verwendung des Mediums als Unterhaltungsmittel messerscharf verurteilen, erkennen offenbar rückhaltlos dessen wissenschaftliche bzw. volksbildende Anwendung an. Hierbei erwähnt man nachdrücklich als eine der aussichtsreichsten Domänen gerade die Bakteriologie. So macht etwa Ernst Schulze 1911 auf dem »gesundheitliche[n] Gebiet« einen besonderen Grad vom Bedarf an »systematische[r] Aufklärungsarbeit« aus. Denn hier seien »Aberglaube und Unverstand«, die er durch die »Gesundbeter« und »Kurpfuscherei« verkörpert sieht, immer noch »am Werke«. Sie würden, so Schulze, »bis in

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Spectator [= Ewers, Hanns Heinz]: »Kino-Revue. X. Pestbilder«, in: Deutsche MontagsZeitung vom 6. März 1911, unpaginiert. Immerhin kommt der Dokumentarfilm der französischen Firma Pathé-Frères, La Peste en Mandchourie (FR 1911), trotz seines Titels sowie Produktionsjahres nicht infrage. In diesem Streifen, der sich in erster Linie auf die desinfizierenden Maßnahmen wie Leichenverbrennung bezieht, kommt keine einzige Mikroskopaufnahme der Bakterien vor. Vgl. die Kopien dieses Films in den Gaumont Pathé Archives, Sign. SD 8 14 sowie SD 9 14. Spectator [= Ewers]: »Kino-Revue« (wie Anm. 39). Ebd. Klemperer, Victor: »Das Lichtspiel«, S. 77. Näheres hierzu siehe oben in Kapiteln 2 und 5. Polgar, Alfred: »Das Drama im Kinematographen« [1911/12], in: Fritz Güttinger (Hg.), Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, S. 57-61, hier S. 57.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

die vornehmsten Kreise hinein« praktiziert. »Amulette, Zaubertränke, Patentmedizinen aller Art werden noch heute von allen Völkern der Erde ohne Unterschied benutzt«. Der Aberglaube erweist sich für Schulze vor allem im Zusammenhang mit Infektionskrankheiten als derart wirkmächtig, dass er eigens hierüber jammern muss: »Welche merkwürdigen Ansichten sind z. B. über die Bakterien verbreitet!«44 Schulze, der sich 1900 mit dem grundlegenden Buch Die Schundliteratur an den Kontroversen um ›Schmutz und Schund‹ maßgeblich beteiligte, geht verständlicherweise zwar auch hier gegen die »flachsten und sentimentalsten Stücke«45 dezidiert an. Diese Art der »kinematographische[n] Darstellungen« hätte Schulze zufolge »ebenso bedenkliche Wirkungen wie die Schundliteratur«46 . Er wolle sich jedoch »absichtlich nicht darauf [beschränken], die Auswüchse festzustellen, die der Kinematograph gezeitigt hat«. Stattdessen verfolgt Schulze im neueren Buch 1911 unter anderem das Ziel, »seine [des Kinos] guten Seiten [als] ein Volksbildungsmittel aller ersten Ranges«47 hervorzuheben. Als solches vermöge »der Kinematograph«, meint Schulze, jene »Aufklärungsarbeit« zu leisten: »Ist er doch imstande, uns mit höchster Anschaulichkeit Dinge vorzuführen, von denen sich der naturwissenschaftlich nicht Durchgebildete kaum eine Vorstellung zu machen vermag, falls er nur davon liest oder hört.« Die Ursachen von Infektionskrankheiten, die für »uns« bislang unsichtbar, undefinierbar und infolgedessen rätselhaft erscheinen, neigen gerade deswegen dazu, die abergläubischen Phantasien um die Seuchen heraufzubeschwören. Durch die kinematographisch-bakteriologische Aufklärung sollen die Krankheitserreger nunmehr ihrer Mystifikationen entkleidet werden: »Von der Gefahr, die sie für den menschlichen Körper darstellen, erhält man ein ganz anderes Bild, wenn man sie lebend vor sich sieht und wenn uns doch gestattet ist, ihr Leben und ihre Tätigkeit auf dem Lichtschirm vor uns ablaufen zu sehen.«48 Diese »kinematographische[n] Darstellungen aus dem Gebiete der Bakteriologie«, die das »Leben« der Bazillen anschaulich vorführen sollen, seien außerdem, so Schulze, »bei dem Publikum der Lichtbildtheater recht beliebt«. Die durch das Kino erlangte Anschaulichkeit ermögliche es, »ärztliche, insbesondere hygienische Belehrungen auf dem Wege kinematographischer Darstellungen mit ganz anderer Eindringlichkeit und mit weit besserer Aussicht auf Erfolg zu geben als auf den bisher beschrittenen Wegen«49 . In dieser Hinsicht kann die Kinematographie ebenfalls am moder44

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Schulze, Ernst: Der Kinematograph als Bildungsmittel. Eine kulturpolitische Untersuchung, Halle an der Saale: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1911, S. 104 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 111. Ebd., S. 71 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 8. Ebd., S. 104. Ebd., S. 105.

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nen Projekt der Bakteriologie wesentlich mitarbeiten wie die Photographie. Nur dass die Erstere nicht in der Lage ist, eine absolut zuverlässige Zeugin der wissenschaftlichen Erkenntnisse darzustellen wie die Letztere. Die Kinematographie soll vielmehr als die bis dahin wirkungsvollste hygienische Aufklärerin fungieren, die in ihrer Weise grundsätzlich mit der Sichtbarmachung des Unsichtbaren operiert. Desgleichen unterscheidet der Kinoreformer Victor Noack 1912/13 zwei entgegengesetzte Seiten des Kinos und setzt dessen positiven Aspekt in Zusammenhang mit der Bakteriologie. So macht er »zwischen Kinematographie und ihrem entarteten Sprössling, dem ›Kientopp‹«, einen Kontrast aus, der hier bemerkenswerterweise als ein Generationskonflikt geschildert wird.50 Der letztere, der verwahrloste Sohn und »ein verbummeltes Genie aus bester Familie«51 , sei »in schlechte Gesellschaft« geraten und habe »ungebildete Menschen Macht über sich gewinnen« lassen. Diese »Menschen« hätten »seine reiche Begabung skrupellos« ausgebeutet, »um sich zu bereichern«. Der »Kinematograph« dagegen, der Vater und »ein würdiger, feinsinniger Gelehrter«, habe »sich um die Wissenschaft sehr verdient gemacht«. Ihm würden die »Medizin, insbesondere die Chirurgie (Rœntgen-Kinematographie), die Bakteriologie (Mikro-Kinematographie), die Geographie, Zoologie und Botanik, die Pädagogik, Technologie – um nur einige zu nennen – […] eine bedeutende Erweiterung ihrer Beobachtungs- und Anwendungsmöglichkeiten«52 verdanken. Die in diesen Beiträgen um 1910 vertretene Ansicht, im Kino eine gelehrte Anstalt bakteriologischer Aufklärung bzw. Erziehung zu sehen, findet auch in der zeitgenössischen Praxis einige Resonanz. Vom 6. Mai bis 31. Oktober 1911 wird im Großen Garten in Elbflorenz die erste ›Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden‹ veranstaltet, deren Besucherzahl 5,5 Millionen erreichen soll. Auf dem Gelände bekommt das Publikum bisweilen Filme zu sehen – allerdings nicht im Ausstellungsbereich für »Infektionskrankheiten des Menschen«53 . In der »Populäre[n] Abteilung«54 bringe ein »Kinematograph […] besondere Vorführungen aus dem Gebiet der Körperpflege«55 . Außerdem eröffnet die Jenaer Firma Zeiss in einer Halle für Industrie »eine imposante Sonderausstellung«. Hier werden »diejenigen Apparate vorgeführt […], mit denen die Photographie und die mit ihr verwandte Ki-

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In seiner frühen Phase lässt sich das filmische Medium, das von kindlichem wie jugendlichem Publikum inbrünstig konsumiert wird, seinerseits immer wieder als etwas Kindisches/Kindliches bzw. metaphorisch schlicht als ›Kind‹ ansprechen. Zu diesem Zusammenhang vgl. Kapitel 4. Noack, Victor: »Der Kientopp«, Sp. 907. Noack, Victor: Der Kino. Etwas über sein Wesen und seine Bedeutung, Kultur und Fortschritt, S. 3. Anonymus: Offizieller Katalog der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden, Berlin: Mosse 1911, S. 85. Ebd., S. 375. Ebd., S. 398.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

nematographie der hygienischen Wissenschaft dienen«56 sollen. Darüber hinaus berichtet E.O. Rasser 1913 in seiner dreiteiligen Artikelserie Tropische Krankheiten im Rahmen des Lichtbildes in Bild und Film über den Gebrauch der Diapositive und der Kinematographie in der Hygiene-Ausstellung: Großes leistete diese [Hygiene-]Ausstellung vor allem auch in technischer Beziehung durch die mannigfaltige Verwendung des Lichtbildes, des Kinematographen, insonderheit da, wo es sich um Materien handelte, die sonst nur wenigen bekannt waren, wie eben die Tropenhygiene mit ihren Begleit- und Folgeerscheinungen.57 Neben diesem Einsatz innerhalb der Ausstellung sei auf dem Gelände zusätzlich »ein Reformkinematographen-Theater für ungefähr 600 Personen, das den modernsten Ansprüchen entspricht, errichtet worden«. In dieser speziellen Einrichtung soll »vor allen Dingen« gezeigt werden, »wie auch der Kinematograph wissenschaftlichen Zwecken dienstbar gemacht wird«58 . Durch »ihre Fähigkeit, Prozesse objektiv zur Anschauung zu bringen«, erweckt die Kinematographie den Anschein, als wäre die »Prämisse der mechanischen Objektivität«59 endgültig eingelöst. Die Verwendung des Kinos zum Zweck der Volkserziehung hat aber zweierlei zur Folge, was den medizinischen Film von der bakteriologischen Photographie als »vollgültige[r] Stellvertreterin des Objekts«60 stark unterscheiden soll. Vor allem rührt die Differenz davon her, dass der populärwissenschaftliche Film das »Objektivitätsparadigma«61 unterläuft, das die Photographie für Koch verkörperte. Trotz ihrer ebenbürtigen medientechnologischen Basis ergibt sich zwischen den beiden filmisch-photographischen Medien ein wesentlicher Unterschied, der vor allem aus dem jeweiligen Anwendungskontext resultiert. Dieser Umstand soll die Perspektive einer ›technikzentrierten‹ Medienwissenschaft einmal mehr infrage stellen.62 Zum einen ist die Divergenz auf die Rezeption zurückzuführen. Der frühe populärwissenschaftliche Film soll nicht nur auf sachlichem bzw. nüchternem Wege das ›unwissende‹ Publikum erziehen. Gleichzeitig übt er auf den Zuschauer häufig eine Faszination aus, die seine eigentliche Zielsetzung der medizinischen Aufklärung konterkarieren kann. Dies lässt sich am Beispiel eines englischen Filmes bele56 57 58 59 60 61 62

Anonymus: Offizieller Führer durch die Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1911 und durch Dresden und Umgebung. Mit einem Plan von Dresden, Berlin: Mosse 1911, S. 37. Rasser, E.O.: »Tropische Krankheiten im Rahmen des Lichtbildes«, in: Bild und Film II (1913), S. 106-110, 160-164, 181-185, hier S. 185 (Herv. im Orig. gesperrt). Anonymus: Offizieller Führer (wie Anm. 56), S. 79 f. Flach, Sabine: Die WissensKünste der Avantgarden. Kunst, Wahrnehmungswissenschaft und Medien 1915-1930, Bielefeld: transcript 2016, S. 254. Bredekamp/Brons: »Fotografie« (wie Anm. 35), S. 378. Flach: Die WissensKünste (wie Anm. 59), S. 254. Vgl. Winkler, Hartmut: »Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte versus ›anthropologische‹ Mediengeschichtsschreibung«.

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Metaphorologie des Kinos

gen, der im Vorjahr der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden hergestellt wird. The Fly Pest (GB 1910)63 entsteht unter der Regie vom Filmmacher Frank Percy Smith, um später im Zuge des Anti-Fliegen-Feldzugs in den Vereinigten Staaten mit großem Erfolg aufgeführt zu werden. Der Film soll in doppelter Weise der Volksgesundheit dienen. In erster Linie soll er dafür sorgen, dass die Bevölkerung bzw. die durchschnittlichen Männer, Frauen und Kinder über die krankheitsübertragende Rolle der Fliege hinlänglich informiert werden. Mit reichen Bildern von umwerfender Qualität soll der kurze Streifen eindringlich von der Gefahr überzeugen, welche diese unscheinbare, doch ernsthafte Bedrohung der allgemeinen Hygiene mit sich bringt. Darüber hinaus stellt der Film eine reformerische Antwort auf den Status quo des Kinos dar, das so häufig als ›Vorbereitungsanstalt der Verbrecher‹ gebrandmarkt wird. In einem übertragenen, analogischen oder metaphorischen Sinne soll The Fly Pest im kulturpolitisch-sozialhygienischen Diskurs als mediale Impfmaßnahme64 fungieren. So wird erwartet, dass der populärwissenschaftliche Film die pestartig-abstoßenden Darbietungen in den Nickelodeons bekämpft und am Ende beseitigt. Auch beim naturwissenschaftlichen Film kommt jedoch unter Umständen jene ambivalente Logik eines ›Gift-Giftes‹ zum Tragen, denn die ›heilende‹ Wirkung des Kinos verbirgt hinter dieser Fassade mitunter den ›berauschenden‹ Effekt.65 So weist der Film The Fly Pest einerseits mittels der verfeinerten Verwendung der Schnitttechnik (›Kuleschow-Effekt‹) überzeugend auf, dass die Fliege eine unauffällige, freilich gerade deswegen gefährliche Kontaminationsquelle darstellt. Mit dieser logischen Montage, die für das klassische Kino oder ›the cinema of narrative integration‹ charakteristisch ist, verankert sich der Film im modernen hygienischen Diskurs. Für das Ziel der Popularisierung bakteriologischen Wissens legt der Streifen jedoch auch einen anders gelagerten Aspekt an den Tag, welcher der Ästhetik des Attraktionenkinos nahesteht. Dies geschieht vor allem in der bei weitem längsten Einstellung dieses kurzen Films, in der eine Fliege von der Spitze einer Nadel mit Honig gefüttert wird. Gegen einen unbestimmten Hintergrund hebt sich die Fliege im Bildfeld hervor. Anders als im Rest des Films wird sie zudem nicht im Schwarm, sondern individuell und mit Großaufnahme ins Bild gesetzt.

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Die folgenden Ausführungen stützen sich weitgehend auf Oliver Gayckens Studie. Vgl. Gaycken, Oliver: Devices of Curiosity. Early Cinema and Popular Science, New York: Oxford University Press 2015, S. 143-157. Diese metaphorische Bezeichnung von The Fly Pest als einer medienpolitischen Impfung (inoculation) geht jedoch nicht auf die hier thematische Zeit um 1910 zurück, sondern auf eine jüngst getroffene Feststellung des Filmwissenschaftlers Scott Curtis. Vgl. Gaycken: Devices (wie Anm. 63), S. 145 sowie 235, Anm. 68. Hierzu siehe oben in Kapitel 6. – Entgegen seiner Absicht unterstreicht Schulzes Beobachtung einer populären Beliebtheit des bakteriologischen Filmes offenbar dessen ›rauschhafte‹ Anziehung einer medialen Attraktion.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

Infolge dieser Bildkomposition wirkt die Fliege hier nicht als bedrohliche Masse, sondern explizit als eine faszinierende, weil außerordentliche Einzelerscheinung. Die darauffolgenden Einstellungen stellen die mikroskopisch gewonnenen Aufnahmen einer Fliegenzunge zur Schau und unterstreichen einmal mehr die Ästhetik des Erstaunens. Dieser ambige Eindruck des Films schlägt sich in den gemischten Reaktionen der Presse nieder. So pendelt die Beschreibung der filmischen Fliege dort zwischen einem ›gefährlichen kleinen Biest‹ und einer ›wundervollen Kreatur‹. Die krankheitsverbreitende Fliege wird auf dem kinematographischen Wege zwar mit wenigen menschlichen Eingriffen und in diesem Sinne objektiv wiedergegeben. Die veränderte Intention der filmischen Wissensverbreitung unter die Bevölkerung muss jedoch eine Anziehung mit sich bringen, die bei der Photographie als einem bakteriologischen ›Beweisstück‹ – wenn überhaupt – nur am Rande wirkte. Die bildliche Sensation richtet sich hier nicht primär auf die sachlich beurteilende Vernunft, sondern dezidiert auf die subjektive Instanz der Emotionalität. The Fly Pest regt die Neugier einer Jahrmarktsbude an, während der Film gleichzeitig aufgrund der Erkenntnisse der modernen Hygiene die Ansteckungsgefahr deduziert. Diese Mixtur erklärt einerseits die beträchtliche Zuschauerzahl, die dieser populärwissenschaftliche Film schließlich erreichen sollte. Infolge der gefühlsmäßigen Wirkung wird jedoch eine nüchterne und objektive Einschätzung der hygienischen Probleme womöglich sabotiert. Denn die filmische Inszenierung kann ggf. einen Attraktionseffekt ausüben, der über ihre eigentliche Zielsetzung einer sachgemäßen und in diesem Sinne objektiven Belehrung hinausschießt. Die spätere Praxis des Kulturfilmes zeigt, dass das »Paradigma der mechanischen Objektivität«66 auch auf der Produktionsebene ins Schwanken gerät. Am Beispiel des Filmes Die Ausbildung der Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen (DE 1924) weist Sabine Flach überzeugend auf, dass der populärwissenschaftliche Belehrungsfilm gerade zugunsten seiner Zielerreichung die menschlichen Eingriffe der Filmschaffenden in den Vordergrund stellt.67 Der Film von Nicholas Kaufmann, dem Begründer des Medizinischen Archives in der Kulturfilmabteilung der Ufa, verfolgt ein reflektiertes medienpädagogisches Ziel. Es ist nicht bloß ein Krankheitsverlauf, den der Film mechanisch abbildet und als Bewegtbild zur Schau stellt. Das »Paradigma der mechanischen Objektivität« wird hier bewusst relativiert, indem Kaufmann die medizinisch-kinematographischen Verfahren der Bildproduktion in den Film selbst integriert, um sie ostentativ zu demonstrieren. Der Film »präsentiert die technischen Bedingungen und notwendigen Apparaturen und verweist auf die äußerste Präzision, mit der die notwendigen

66 67

Flach: Die WissensKünste (wie Anm. 59), S. 254. Vgl. ebd., S. 241-265, insbes. S. 256-265.

257

258

Metaphorologie des Kinos

Arbeiten des Mediziners und des jeweiligen Herstellers des Bildmaterials verrichtet werden«68 . Statt der Idee einer passiven Wiedergabe bzw. »Selbstabbildung«69 des Objektes kommt hier deutlich die Vorstellung zum Tragen, dass das Bild durch mediale Visualisierungstechniken erst produziert wird. Die mechanisch erzeugten Bilder zeichnen sich trotz ihrer gezielten Herstellungsweise grundsätzlich dadurch aus, dass sie die Gegenstände abbilden können, ohne die Informationen willkürlich selektieren zu müssen. Damit der Zuschauer durch die Filmvorführung »von der Unwissenheit« befreit und in diesem Sinne »›geheilt‹ nach Hause entlassen«70 wird, muss er jedoch im Film bestimmte Wissensgehalte ausfindig machen. Zu diesem Zweck hat der Film »das Wesentliche und Interessante herauszufiltern und gleichzeitig alles Unnötige und Zufällige zum Verschwinden zu bringen«71 . Um dies zu bewerkstelligen, setzt Kaufmann die Zeichnung ein, die für Koch im Gegensatz zur Photographie den Inbegriff der »Willkür« oder gar »Lüge«72 bedeutete. Die animierte Zeichnung im Film soll die Informationen darstellen, die zum Begreifen der mikroskopischen Aufnahmen »zwar notwendig, am Körperbild selbst jedoch nicht sichtbar sind«. Zu solchen Auskünften zählt etwa der Prozess der Ansteckung selbst, der »generell außerhalb des Bildes«73 liegt, während sich die Information zum Verständnis der Ausbreitung der Krankheit als unabdingbar erweist. Diese Abstraktionsverfahren mittels Zeichnung basieren einerseits auf einer subjektiven Perspektive, die sich aber andererseits auf das Expertenwissen des Mediziners stützt. Der populärwissenschaftliche Film im Gebiet der Hygiene verdankt seinen Aussagewert zwar der Medienspezifik eines bewegten mechanischen Bildes, welches das ›Leben‹ der Krankheitserreger objektiv, ohne menschliche Willkür, abbilden und vor Augen führen kann. Um seine Zielsetzung erfolgreich umzusetzen, nimmt der Film selbst jedoch gleichsam eine ›Kontamination‹ vonseiten der Subjektivität in Kauf. Im Rezeptionskontext handelt es sich um einen historischen Rekurs auf die Ästhetik des Erstaunens in einer Jahrmarktsbude, in der mittels sensationeller Kuriositäten Affekt und Neugier des Zuschauers gereizt werden. Auf der Produktionsebene liegt hingegen eine intermediale ›Verseuchung‹ oder Einbeziehung des subjektiven Mediums der Zeichnung vor, welche die aktive Einflussnahme durch das Expertenwissen erlaubt.

68 69 70 71 72 73

Ebd., S. 256. Schlich: »Repräsentationen« (wie Anm. 30), S. 173 f. Flach: Die WissensKünste (wie Anm. 59), S. 258. Ebd., S. 260. Koch: »Zur Untersuchung« (wie Anm. 35), S. 11, zitiert nach Bredekamp/Brons, »Fotografie« (wie Anm. 35), S. 373. Vgl. auch Flach: Die WissensKünste (wie Anm. 59), S. 253. Ebd., S. 261.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

7.3.2

Die Geburt der ›Kinopest‹ aus den ›Bazillenbuden‹ der Kientöppe

Die vielfache, mehr oder weniger idealisierte Zuschreibung des Kinos als hygienisches und bakteriologisches Aufklärungsmittel hat in der seinerzeit weit verbreiteten Aufführungspraxis eine Kehrseite. Eines der vielfältigen Argumente in Ewers’ nachdrücklichem Werbetext für den Kientopp, er sei »hygienisch«74 , muss sich als erfolglos herausstellen. Denn das Ladenkino als die erste Form der ständigen Abspielstätte des Films hat in seiner Blütezeit um 1910 den durchaus schlechten Ruf, gesundheitlich schädigend zu sein. In den kinoreformerischen Publikationen, die sich mit dieser neuen Erscheinung kritisch befassen, kommen in der Regel drei Faktoren zur Sprache, die potenziell das Publikum körperlichen Gefahren aussetzen können. Das »Flimmern der Bilder« wirke zum einen »außerordentlich ungünstig auf die Augen«, da es diese bei wiederholten und lang andauernden Aufenthalten offensichtlich blende und überanstrenge. Das durch diesen technischen Mangel hervorgerufene »körperliche Mißbehagen« steigere sich »bei einzelnen Kindern bis zu Schwindel- und BrechAnfällen«75 . Hinzu kommen die »ohrenbetäubend« »lärmende Musik«76 des Orchestrions sowie das »irritierende«77 , »unangenehm rasselnde Geräusch«78 des Projektors. Die akustische Unruhe belästigt nicht nur das Ohr. Zusammen mit den genannten optischen Störungen durch die wackelnden Bilder müsste sie dem Publikum Kopfschmerzen verursachen. Diese beiden Mängel wiegen jedoch auch für die Kinoreformer nicht schwer, denn sie liegen lediglich an der im Werden befindlichen Technik der Kinematographie selbst. »Unhygienisch gewiss ist das Flimmern«, so ein anonymer Verteidiger des Kinos im Jahre 1909. Dies sei dennoch nur »ein Fehler des Kinematographen, der technisch korrigiert werden kann und es auch bereits nach eigener Erfahrung ist«79 . Der Psychiater Robert Gaupp, der über das Kino »vom medizinischen und psychologischen Standpunkt« ein rigoroses Urteil aussprechen will,80 teilt immer74 75 76 77 78 79 80

Ewers, Hanns Heinz: »Der Kientopp«, S. 12. Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens zu Hamburg: Bericht der Kommission für »Lebende Photographien« [1907], S. 23 (Herv. im Orig. fett gedruckt). Ebd., S. 33. Gaupp, Robert: »Der Kinematograph vom medizinischen und psychologischen Standpunkt«, S. 5 (Herv. im Orig. gesperrt). Gaupp, Robert: »Die Gefahren des Kino«, S. 64. Anonymus: »Vom Kinematograph«, in: Der Kinematograph. Organ für die gesamte Projektionskunst 143 (22. September 1909). Vor dieser Folie erscheint es bedeutungsschwer, dass der Dichter Jakob van Hoddis, der 1910 das frühe Erlebnis des Films als dynamische Bilderflut lyrisch verewigte und 1942 in einem Vernichtungslager ermordet werden sollte, 1927 geistesgestört zuerst in die Tübinger Universitätsnervenklinik eingeliefert wird. Gaupp ist der langjährige Leiter dieser Anstalt (19061936) und auch als der eifrige Befürworter der eugenischen Behandlung von Geisteskranken

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Metaphorologie des Kinos

hin diese optimistische Meinung. »Das Übel« der »schmerzliche[n] Empfindungen in den Augen und im Kopfe«, das auf »[d]as Flimmern und Wackeln der Bilder« zurückzuführen sei, hänge »mit der technischen Unvollkommenheit des Apparates zusammen«. Dasselbe gelte Gaupp zufolge ebenso für die akustische Störung wie »irritierende[s] Geräusch« oder »unerfreuliche Musik«81 . Insofern dürfe man hoffen, so Gaupp, »daß die Technik binnen kurzem dieser Übelstände ganz Herr werden wird«82 . Viel häufiger als diese unerheblichen bzw. kontingenten Unzulänglichkeiten wird vielmehr die »verbrauchte Luft«83 im Kinoraum getadelt, in dem das »atemlose Publikum«84 mehrere Stunden lang zubringe. Die Ursachen »schwüler, rauchgeschwängerter Luft«85 werden bald dem »Zigarren- und Zigaretten-Rauch«86 oder den »Tabaksdünste[n]«87 , bald dem »Biergeruch«88 , bald den »Ausdünstungen vieler Menschen«89 zugesprochen. Die Letztgenannte wird zusätzlich dadurch wesentlich verschlechtert, dass die Räume von den »übelriechenden Arbeitern«90 überfüllt seien. Diese sollen »oft direkt von ihrer Berufsarbeit […] den Theatersaal betreten«, üblicherweise »ohne die Garderobe abzulegen«91 . Die »[m]angelhafte Lüftung«92 , welche die Atmosphäre immer dunstiger und stickiger mache, erweise sich in den engen Sälen der Ladenkinos, in denen »kein Luftspielraum«93 bleibe, als ausgesprochen fatal. Als Ausweg griffen manche Kientoppbesitzer auf das

81 82 83 84 85 86 87 88

89 90 91

92 93

bekannt. Zu diesem Zusammenhang vgl. Hornbogen, Helmut: Jakob van Hoddis. Die Odyssee eines Verschollenen [1986], hg. von Wolfdietrich Müller, 2., überarb. Aufl., München: Allitera 2001, insbes. S. 59-61 sowie 137-147. Gaupp: »Der Kinematograph« (wie Anm. 77), S. 4 f. (Herv. im Orig. gesperrt). Gaupp: »Die Gefahren« (wie Anm. 78), S. 64. Noack: Der Kino (wie Anm. 52), S. 8. Vgl. auch Paech, Anne: »Das Aroma des Kinos«, in: Irmbert Schenk (Hg.), Erlebnisort Kino, S. 68-80, hier S. 75. Rauscher, Ulrich: »Die Welt im Film«, in: Güttinger, Kein Tag (wie Anm. 43), S. 133-137, hier S. 135. Vgl. A. Paech: »Das Aroma« (wie Anm. 83), S. 75. Sellmann, Adolf: Der Kinematograph als Volkserzieher?, S. 26. Gesellschaft der Freunde: Bericht (wie Anm. 75), S. 23. Ebd., S. 33. Anonymus: »Die Bremer Lehrerinnen und die Kinogefahr«, in: Die Lehrerin. Organ des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins vom 16. und 23. August 1913, S. 153-156, 161-164, hier S. 153. Moreck, Curt: Sittengeschichte des Kinos, Dresden: Aretz 1926, S. 214, zitiert nach A. Paech, »Das Aroma« (wie Anm. 83), S. 75. Döblin, Alfred: »Das Theater der kleinen Leute«, S. 72. Richter, Herbert: »Das Lichtspieltheater, sein Ursprung und sein Entwicklungsgang«, in: Rudolf Pabst (Hg.), Das deutsche Lichtspieltheater in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Berlin 1926, S. 8-63, hier S. 29, zitiert nach A. Paech, »Das Aroma« (wie Anm. 83), S. 75. Anonymus: »Die Bremer Lehrerinnen« (wie Anm. 88), S. 153. Noack: »Der Kientopp« (wie Anm. 51), Sp. 908; Ders: Der Kino (wie Anm. 52), S. 3.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

›Ozon‹ genannte »Kinoparfüm«94 zurück, das man »[a]us einer großen Spritze […] über die Köpfe der Lufthungrigen« stäube. Ohne ausreichende Lüftungen sei der Ausgang dieser Notmaßnahme jedoch durchaus vorhersehbar: »Durch den Wasserstaub wird die schon völlig verbrauchte Luft noch drückender.«95 Die schlechte Luft im ›Kientopp‹ stellt in der (besonders früheren) Kinoreform ein zentrales gesundheitliches Argument dar, von einem Besuch der ›Theater lebender Photographien‹ – vor allem jugendlichen – Zuschauern strikt abzuraten. Das Thema der Luft im Kino wird nicht nur von der Kinoreform ins Visier genommen. Ist im frühen Kinodiskurs vom Filmerlebnis die Rede, so findet das Thema der Luft und des Geruchs im Kinoraum immer wieder Erwähnung. Dies lässt sich besonders vor dem Paradigmenwechsel in der Filmliteratur vom ›Kino‹ zum ›Film‹ beobachten.96 Vor diesem Wandel erlangt der Kinoraum für viele Kinobesucher gleichsam noch nicht eine solche Transparenz, dass man das leibhaftige Erlebnis im Filmtheater vermeintlich als selbstverständlich hinnehmen könnte. Das Augenmerk müsste sich seinerzeit noch nicht ausschließlich auf das filmisch Dargebotene richten. Die Filmrezeption im Kinoraum bedeutet hierbei nicht nur eine auf das Sichtbare (oder höchstens auch auf das Hörbare) eingeschränkte Perzeption. Sie schließt als ein leibhaftiges Ereignis vielmehr – grundsätzlich gesprochen – alle Sinneswahrnehmungen ein und stellt demzufolge bis zu einem gewissen Grad auch ein olfaktorisches bzw. taktiles Erlebnis dar. Es liegt von daher wohl nahe, dass auch unterschiedliche Beobachter des frühen Kinos aus dem literarischen Milieu in der Beschreibung des Filmerlebnisses die Luft im Kinoraum bevorzugt kommentieren. So spricht der Journalist und Romancier Ulrich Rauscher 1912 in einem Artikel über seine »Rundreise«97 der Berliner Kinolandschaft von der »schaudervolle[n] Luft« in einem »Kintop«98 am Alexanderplatz, in dem das »Publikum […] schwer«99 atme. Im selben Jahr stellt Robert Gaupp einen optimistischen Befund, diese »Unzuträglichkeiten« seien zusammen mit dem optischen und akustischen Mangel »vermeidbar und im guten Kino auch schon fast ganz vermieden«100 . Ungeachtet dessen sind innerhalb weiterer Jahre auf dem kinematographisch-olfaktorischen Bereich keine flächendeckenden Fortschritte zu beobachten. So registriert Joseph Roth noch 1920 in einem »Praterkino«

Noack: »Der Kientopp« (wie Anm. 51), Sp. 908; Ders.: Der Kino (wie Anm. 52), S. 8 (»KientoppParfüm«). 95 Noack: Der Kino (wie Anm. 52), S. 8. 96 Wohlgemerkt, dass es sich bei diesem ›Wechsel‹ weniger um einen einmaligen und irreversiblen Umbruch als vielmehr um eine graduelle und relative Änderung der allgemeinen Einstellung im Kinodiskurs handelt. Vgl. diesbezügliche Ausführungen in Kapitel 2. 97 Rauscher: »Die Welt« (wie Anm. 84), S. 137. 98 Ebd., S. 135. 99 Ebd., S. 137. 100 Gaupp: »Der Kinematograph« (wie Anm. 77), S. 5 (Herv. im Orig. gesperrt). 94

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Metaphorologie des Kinos

einen »qualmend[en]« »Menschenfleischduft«, den die kurios aussehenden, beinahe an die »berüchtigtsten Slums«101 des filmischen Wilden Westens erinnernden Gestalten im Zuschauerraum ausdünsten. Die gesundheitliche Gefahr dieser »übelriechenden«, »schwülen Atmosphä102 re« des Kinos entgeht weder den Kinoreformern noch den Schriftstellern. Die Besorgnis schlägt sich verständlichermaßen häufig in den Ausdrücken nieder, die eng mit den infektiösen Krankheiten zusammenhängen. Assoziiert werden vor allem die Krankheiten, die durch Luft bzw. Tröpfchen übertragen werden. Für Noack atmen »[d]ie Menschen« – trotz oder gerade wegen jenes ›Ozon‹ –, »als wären sie allesamt asthmatisch«103 . Der Anblick der Zuschauermasse, deren »Lungen […] eingedrückt wie ein defekter Gummiball«104 würden, regt ihn zu der Aufforderung an: »Das ›Deutsche Zentral-Komitee zur Bekämpfung der Tuberkulose‹« solle sich »diese ›Bazillenbuden‹ recht genau ansehen«105 . Noack steht mit dieser Assoziation nicht allein. Der deckungsgleiche Verdacht auf das Kino als tuberkulöse Umgebung macht sich bereits in Döblins Beobachtungsreise von 1909 in das Theater der kleinen Leute zusammen mit einer Notiz des Körpergeruchs bemerkbar: »Phthisische Kinder atmen flach und schütteln sich leise in ihrem Abendfieber; den übelriechenden Arbeitern treten die Augen fast aus den Höhlen«106 . Die beiden Bilder des Kinoraums einerseits und der Tuberkulose andererseits scheinen sich in der damaligen Vorstellung derart nahezustehen, dass Thomas Mann gar seine tuberkulösen Protagonisten von dem Zauberberg (1924) in das »Bioskop-Theater« zum Davoser »›Platz‹« ›hinuntertreibt‹. Selbst die Tuberkulosekranken fühlen sich in der Kinoluft der Vorkriegsjahre so »schlecht«, dass diese sie »physisch stark befremdete«, »sich ihnen schwer auf die Brust legte und einen trüben Nebel in ihren Köpfen erzeugte«107 . Der Hersteller jenes ›Ozon‹ glaubt hier anscheinend eine große Erfolgschance zu wittern und beteuert die antiseptische Wunderwirkung seiner Ware in den »Bazillenbuden«: In 30 Sekunden wird jedes Theater, auch wenn dasselbe noch so überfüllt ist, von der, infolge Ausdünstung vieler Menschen naturgemäss entstandenen dumpfen, unreinen, übelriechenden und von Krankheitserregern durchsetzten Luft befreit 101 102 103 104 105 106 107

Roth, Joseph: »Praterkino« [1920], in: Ders., Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos, S. 32-35, hier S. 33. Noack: Der Kino (wie Anm. 52), S. 3. Noack: »Der Kientopp« (wie Anm. 51), Sp. 908; Ders.: Der Kino (wie Anm. 52), S. 8. Noack: Der Kino (wie Anm. 52), S. 8. Noack: »Der Kientopp« (wie Anm. 51), Sp. 908; Ders.: Der Kino (wie Anm. 52), S. 8. Döblin: »Das Theater« (wie Anm. 90), S. 72. Mann, Thomas: Der Zauberberg. Roman [1924], hg. von Michael Neumann, Frankfurt am Main: Fischer 2002 (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher 5.1), hier S. 479. Vgl. auch A. Paech: »Das Aroma« (wie Anm. 83), S. 77.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

und blitzschnell in einen gesunden, frischen, nach Ozon duftenden Aufenthaltsort verwandelt.108 Die »Ozonal-Luftreinigung-Apparate«, die angeblich »bereits in über 2000 Kinos im Betriebe«109 seien, stellen sich in der ohnehin »schlecht ventilierten«110 , »schwülen Sphäre des ›Kientopps‹«111 als nicht nur wirkungslos heraus, wie Noack bei seinem »›Spritzenmann‹«112 erlebt. Auch in Bezug auf die gefühlte Ansteckungsgefahr im Kino bringt die Ausstattung bisweilen eine umgekehrte Wirkung hervor, wie die aufdringliche Werbung verspricht. Denn etwa für Richard Guttmann bildet neben anderen dazugehörigen Einrichtungen wie verschlossenen Fenstern und Türen »die Luft« einen konstitutiven Bestandteil eines Kinos, die »durch feinverstäubte Desinfektionsflüssigkeiten verpestet«113 sei. Das Verb ›verpesten‹ weist zwar weniger auf den tödlichen Auslöser des Schwarzen Todes selbst hin, sondern stellt vielmehr einen rhetorisch übertreibenden Ausdruck für den unangenehm künstlichen, womöglich chemisch-synthetisierten Geruch im Zuschauerraum dar. Trotz alledem bezeugt diese Passage einmal mehr eine unterschwellige Angstvorstellung über den Kinobesuch zumindest unter den bürgerlichen Beobachtern. Demzufolge handle es sich beim Kino potenziell um einen unhygienischen Augiasstall bzw. eine »Bazillenbude«, in der man sich die ›Kinopest‹ zuziehe.

7.4

Metaphorisierung der ›Kinoseuche‹

Ob positiv als Anschauungsmittel für die Bekämpfung oder negativ als berüchtigte »Bazillenbude«: Die in der ersten Hälfte der 1910er Jahre naheliegende Assoziation des Kinos mit der Hygiene bzw. des Films mit der Infektionskrankheit tritt im Laufe der folgenden Dekaden in den Hintergrund. Wie aussichtsreich der Gebrauch der Kinematographie als Mittel für die hygienisch-bakteriologische Aufklärung seinerzeit auch erscheinen mag, der betreffende Anwendungsbereich bleibt in Wirklichkeit eng gesteckt, sodass dieser im Vergleich zum beinahe normativen Einsatz des Films als Unterhaltungsmittel und insbesondere als überaus populäres fiktionales Kino, das ›Kinodrama‹, nur noch eine vernachlässigbare Größe darstellt.114 108 Inserat für Ozonal-Luftreinigung-Apparate in Der Kinematograph (1912), zitiert nach A. Paech, »Das Aroma« (wie Anm. 83), S. 74. 109 Ebd. 110 Gesellschaft der Freunde: Bericht (wie Anm. 75), S. 30, 33. 111 Noack: »Der Kientopp« (wie Anm. 51), Sp. 908. 112 Ebd.; Ders.: Der Kino (wie Anm. 52), S. 8. 113 Guttmann, Richard: Die Kinomenschheit. Versuch einer prinzipiellen Analyse, Wien/Leipzig: Anzengruber/Suschitzky 1916, S. 6. 114 Der Kulturfilm im Allgemeinen behauptet sich allerdings weiterhin am Rande des Filmmarktes: »Seit den ersten Nachkriegsjahren [werden die Kulturfilme] als etwa 15-minütiges

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Metaphorologie des Kinos

Die von Kinoreformern getadelten hygienischen Mängel des Ladenkinos lassen sich im Laufe der schrittweisen Aufwertung der Abspielstätte hin zum Großkino oder dem ›Filmpalast‹ ständig verbessern, ohne dass das Kino seinen volkstümlichen oder ordinären Charakter komplett aufgäbe. Hinzu kommt schließlich jener Paradigmenwechsel im Kinodiskurs um 1920. Seitdem wird von der räumlichen Umgebung des Filmerlebnisses seltener die Rede als vom auf der Leinwand ausgetragenen Inhalt des jeweiligen Films. Dem Kino als hygienischem Erzieher oder aber als ominösem Seuchenherd muss mit Blick auf die schwindende thematische Verknüpfung des Kinos mit Krankheitserregern immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt werden. Diese Annahme trifft jedoch nur die halbe Wahrheit. Zumindest das Thema des Kinos als Ansteckungsquelle steht auch weiterhin zur Diskussion und rückt sogar zunehmend in deren Vordergrund. Dies geschieht allerdings weniger auf der wörtlichen, sondern weitgehend auf der übertragenen Ebene. Die Metapher der ›Kinoseuche‹ nimmt hierbei zweierlei Funktionen ein: die Verteuflung des fiktionalen Films einerseits und die hypostasierende Zuschreibung der rätselhaften Auswirkung des Kinos andererseits. Im Kinodiskurs seit den 1910er Jahren bzw. im Lauf des Siegeszuges der fiktionalen Gattung des Langfilms, des ›Kinodramas‹, werden Termini wie ›Seuche‹, ›Pest‹ oder ›Krankheit‹ in Metaphern umgemünzt. Auf diese Weise wird in der Regel der schwer fassbaren und unübersehbaren Wirkung des Spielfilms auf das Publikum eine klar konturierte Gestalt verliehen. Corinna Müller zufolge wird »die Zeit des Kurzfilms und Kurzfilmprogramms« von der »des Langfilms im Kurz-Langfilm-Mischprogramm […] mit der Jahreswende 1910/11« abgelöst. Das Aufkommen des Langfilms von rund 1.000 Metern Länge sowie einer »Dauer bis ca. eine Stunde«115 ermöglicht nun eine filmische Erzählung mit mehr oder minder komplexerem diegetischem Inhalt, das ›Kinodrama‹. Parallel hierzu ist eine zunehmende Aufwertung seiner Abspielstätte vom ›Kientopp‹ zum Großkino zu beobachten. Diese Entwicklung lässt das Kino nun der literarischen Intelligenz sowie den Theaterfachleuten gegenüber in einer besorgniserregenden Gestalt des angeblich wirkmächtigen Konkurrenten zum Theater und der Literatur erscheinen. Ihr bisweilen paranoides Krisenbewusstsein findet dann in der affektgeladenen metaphorischen Rede der ›Seuche‹ seinen Niederschlag. Vor allem die Pestmetapher kommt der kulturpolitischen Argumentation der Kritiker insofern zugute, als die Epidemie »[i]n der vormodernen Krankheitsauffassung« »für eine Bestrafung der Gemeinschaft« wegen ihrer »Sittenverderbnis« gehalten wird.116

115 116

Beiprogramm vor dem regulären Hauptfilm im Kino gezeigt« (Flach: Die WissensKünste [wie Anm. 59], S. 243). C. Müller: »Variationen« (wie Anm. 2), S. 45. Sontag: »Krankheit« (wie Anm. 20), S. 72 f.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

Darüber hinaus ist die Metapher, insbesondere die der Ansteckung, außerordentlich geeignet dafür, die rätselhaft anmutende Wirkung des ›Kinodramas‹ ausdrücklich zu benennen und diese einer bestimmten äußeren Ursache zuzuschreiben. Der Metapher des Virulenten kommt insofern eine andersartige, im gewissen Sinne gegenläufige Funktion wie jene zu, die Sontag den modernen, »radikalen« Krankheitsmetaphern der Tuberkulose und des Krebs beimisst. Anders formuliert: Bei der Ansteckungsmetapher lässt sich dasselbe Motiv feststellen, das dem kochschen bakteriologischen Projekt einer ›Sichtbarmachung des Unsichtbaren‹ auch zugrunde lag. Denn hier im Kinodiskurs wird angestrebt, die bislang unbegreiflich und mysteriös erscheinenden Phänomene, d.h. die angeblich heiklen Symptome bei den Kinozuschauern durch ein (sprachliches) Bild zu veranschaulichen. Als entscheidend zeigt sich hier der Wille, die schwer fassbaren inneren Probleme auf gewisse äußere Auslöser zurückzuführen bzw. zu projizieren, um sie hierdurch als schlag- oder wenigstens vermeidbar erscheinen zu lassen. Dies erklärt sich einigermaßen aus der seinerzeit aktuellen öffentlichen Situation. Die Erreger von mehreren infektiösen Krankheiten wurden gerade seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert »klar« erfasst. Beim Pestbazillus erfolgte dies bezeichnenderweise im Vorjahr der Geburt der Kinematographie. Die (häufig tödlichen) Folgen der Erkrankung hatten seitdem nichts mehr mit einer vermeintlich »mysteriösen, geheimnisvollen Heimsuchung«117 zu tun. Das Bild der ›Seuche‹ oder der ›Pest‹ wird in diesem diskursgeschichtlichen Zusammenhang bevorzugt eingesetzt, gerade um die rätselhafte Macht des Spielfilms überhaupt zu artikulieren, in dieser Weise begreiflich zu machen und schließlich bekämpfen zu können. So wird die Metapher – ebenso wie deren Bildspender selbst – einer Komplexitätsreduktion dienstbar gemacht.

7.4.1

Das krankheitserregende Fluidum aus der Leinwand. Zur ›Kinoseuche‹ als Metapher für die verhängnisvolle Intensität der Wirkung

Die Metapher der ›Kinoseuche‹ nimmt in erster Linie auf die Folgen der Filmrezeption für das Publikum Bezug. Durch diese metaphorische Bezugnahme werden in der Regel zwei Aspekte ausgedrückt. Einerseits soll die Metapher an den besorgniserregend verderbenden Effekt des Filmerlebnisses auf die konkreten Zuschauer im Kinoraum bzw. auf ihren Wirklichkeitssinn mahnen. Gewarnt wird zum anderen vor dem ungeheuren Ausmaß der massenhaften, ›epidemischen‹ Verbreitung der Kinoindustrie. Der Metapherngebrauch der ›Seuche‹ bringt beide Perspektiven, gleichsam die qualitativen und die quantitativen Seiten oder die Intensität

117

Ebd., S. 53.

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und die Extensität der kinematographischen Wirkung, jedoch oftmals im gleichen Atemzug zum Ausdruck. Durch die metaphorische Prädikation, ›Das Kino ist eine Infektionskrankheit‹, werden in erster Linie zwei subjektive Merkmale der filmischen bzw. kinodramatischen Wirkung auf die jeweiligen Zuschauer aktiviert. Zum einen soll der Einfluss des Films – dem unsichtbaren Krankheitserreger analog – im Dunkeln des Zuschauerraums gewissermaßen schleichend auf das Publikum ausgeübt werden. Ein Eindruck der mediendiskursiven Ironie drängt sich insofern auf, als diese schwer erkennbaren bis unsichtbaren Züge der Wirkung gerade dem Kino als einem visuellen und sichtbarmachenden Medium attestiert werden. Immerhin: Aufgrund dieser Charakteristik sollen die Zuschauer zum anderen der faszinierenden, jedoch bisweilen verderbenden Macht des Kinos nur schwer gegensteuern können. Der Kinoreformer Adolf Sellmann versucht 1912 »die Gründe der allgemeinen Beliebtheit der Lichtspielhäuser« zu erklären. Zuallererst zieht er »die Bevorzugung und Beliebtheit der Gesichtswahrnehmung« heran, als deren »klassischen Zeugen« Sellmann – in einem typisch bildungsbürgerlichen Gestus – sogar Aristoteles’ Metaphysik bemüht. Die hierin konstatierte angeborene Vorliebe des Menschen für das Sichtbare erscheint Sellmann jedoch unzureichend, um dem »besondere[n …] Reiz der ›lebenden Photographie‹« gerecht zu werden. Mitzuberücksichtigen sind ihm zufolge die Eigenschaften dieses neuartigen medialen Dispositivs. Zum einen gehöre die Form ihrer Aufführung hierher, die »unsere Aufmerksamkeit« sowie »unsere Phantasie« fesselt und erregt: Sobald die kinematographische Vorstellung beginnt, versinkt die Umgebung in dunkle Nacht, alle Störungen für die Blicke werden ausgeschieden. Die Augen aller Theaterbesucher heften sich gierig auf das lichte lebende Bild. Die Aufmerksamkeit muß andauernd bleiben, damit der Zusammenhang des Angeschauten nicht verloren geht.118 Hinzukommen soll dann der »Inhalt der aufeinanderfolgenden Bilder«, der »in ganz besonderer Weise Sensation und Aufregung« bringe. Alles in allem sieht Sellmann den Weg dafür geebnet, »daß der Kinematograph so schnelle und so weite Verbreitung fand«, ein Status quo, der in seinen Augen jedoch zu großer Skepsis Anlass gibt: »Das Besuchen der Kinos ist daher für viele so zur Gewohnheit geworden, daß man mit Fug und Recht heute von einer Leidenschaft, von einer ›Kinoseuche‹ sprechen kann.«119 Sellmann benennt mit der Metapher der ›Kinoseuche‹ sowohl den qualitativen wie den quantitativen Aspekt der schwerwiegenden Folgen der Kinorezeption. Der Schwerpunkt liegt jedoch offensichtlich auf der Intensität der filmischen Wirkung, da diese die logische Voraussetzung der Extensität 118 119

Sellmann: Der Kinematograph (wie Anm. 85), S. 7 f. (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

bzw. der »schnelle[n] und weite[n] Verbreitung« des Kinos darstellt. Besonders bedenklich erscheint Sellmann die »[i]n ganz besonderer Weise« intensive mediale Faszination des Kinos. Aus der »Sensation und Aufregung« von Aufmerksamkeit und Phantasie geht ihm zufolge eine suchtähnliche »Leidenschaft« hervor, die das nahezu krankhaft immer wiederholende »Besuchen der Kinos« zur Folge haben soll. Im Metapherngebrauch eines Aufsatzes, der 1912/13 in der auf Clara Zetkin zurückgehenden sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Die Gleichheit erscheint, wird auf die Kinogefahr ebenfalls vorwiegend in qualitativer Hinsicht Bezug genommen. Dem Verfasser des betreffenden Beitrages, Roland alias Henry Möhring, erscheinen die Filme, die »nur der Unterhaltung dienen wollen«, weitaus gefährlicher als die offensichtlich und absichtlich antisozialdemokratischen. Denn »[a]lle jene ›Dramen‹, die Tag für Tag die schaulustige Menge in die Kinos locken und sie mit Gier und Spannung nach der weißen Leinwand starren lassen, schaden dem gesunden Geiste der breiten Volksmassen und damit auch der Arbeiterbewegung«. Die geistige Gesundheit »der Arbeiterschaft und vor allem auch der proletarischen Jugend« soll durch »ein[en] breite[n] Strom des Häßlichen und Gemeinen, der Verlogenheit und Sensation« beeinträchtigt werden. Das »[v]on jenen Film[en]« ausgehende metaphorische Fluidum des »Kinoschund[s]« übe nicht nur einen »verderbliche[n] Einfluß« auf die Zuschauer aus. Kulturpolitisch noch schwerwiegender sei aber speziell »[f]ür uns Sozialdemokraten […] die unheilvollste Wirkung«, daß das Kino die Proletarier abzieht von den politischen und wirtschaftlichen Bestrebungen ihrer Klasse, daß es den Willen lähmt, im Kampfe um die Freiheit nicht zu rasten, daß es dem Arbeiter und der Arbeiterfrau die Zeit stiehlt, an ihrer geistigen Weiterbildung zu arbeiten, daß es die Köpfe unserer heranwachsenden Arbeiterjugend unheilvoll verwüstet.120 In dieser Hinsicht dürfe sich »[d]as kämpfende Proletariat […] nicht mit einer rohen Afterkunst [des Kinos] abspeisen lassen«. Stattdessen müsse »unser Bestreben dahin gehen, den Hunger nach wahrer Kunst in den Proletariern und Proletarierinnen immer mehr zu wecken«121 . Dem Kino wird der doppelt schädigende Einfluss zugesprochen, der nicht nur den künstlerischen Geschmack auf Abwege führen, sondern auch den politischen Willen abstumpfen soll. Angesichts dieser gravierenden Gefahr ist es gerade vonnöten, so Roland, »um so mehr Männer und Frauen […] dem verderblichen Filmschund abspenstig [zu machen] und […] damit der gegen-

120 Roland [= Möhring, Henry]: »Gegen die Frauenverblödung im Kino« [1912/13], in: Jörg Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, S. 127-130, hier S. 128 f. (Herv. im Orig.). 121 Ebd., S. 129 f.

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Metaphorologie des Kinos

wärtig grassierenden Kinoseuche Einhalt«122 zu gebieten. Ungeachtet der verstreut benutzten Nahrungsmetaphorik, die bekanntlich die Leitmetapher der ›positiven Reform‹ darstellt123  – ›Hunger‹, ›abspeisen‹ –, kommt hier nicht zuletzt die Seuchenmetapher zum Einsatz. Diese Metaphernform sorgt vor allem dafür, jenen im Dunkeln tätigen unsichtbaren Einfluss des Films bzw. das aus der Leinwandfläche in den Zuschauerraum einfließende Fluidum doch in die Domäne des Sichtbaren zu überführen. Indem das Kino als ›infektiöse Krankheit‹ Kontur gewinnt, soll es nunmehr als etwas Kontrollierbares und Bezwingbares erscheinen. Selbst nach dem Ersten Weltkrieg, wo die grundsätzliche Ablehnung des Spielfilms weit seltener auffällt als zuvor, existiert noch diese metaphorische Vorstellung der ›Kinoseuche‹ bezüglich der verwüstenden Wirkung der Filmrezeption. Hermann Halters Broschüre Die Kino-Frage (1921) nähert sich einer Bestandsaufnahme aller negativen Argumente gegen das »Kino-Unwesen«124 seit dem Aufkommen des deutschsprachigen Kinodiskurses. Trotz des jüngeren Erscheinungsjahres bleiben die Ausführungen beinahe auf der ganzen Linie noch innerhalb der ›negativen Reform‹ stecken. Der nachträgliche Charakter dieses Schreibens erklärt sich einigermaßen mit Blick auf die von Halter selbstgenannte Rückständigkeit seines Publikationslandes, der Schweiz. Dies zeige sich insbesondere im Vergleich zum in der einschlägigen Angelegenheit vorangehenden Deutschland, in dem bereits »unter Anführung hervorragender Männer eine mächtige Bewegung gegen die Exzesse der Filmspiele eingesetzt«125 habe. Diese gefühlte Zurückgebliebenheit der eidgenössischen Kinolandschaft scheint auch Ferdinand Avenarius zwar bereits fünf Jahre zuvor in der Polemik gegen Carl Spitteler flüchtig beschäftigt zu haben.126 Bei Halter reicht sie aber soweit, dass »man sehr oft fragen« höre: »›Gibt es […] keine einzige Schrift, die dazu angetan wäre, über diese wichtige Frage [nach dem wirksamen Mittel gegen das Kinounwesen] die nötige Aufklärung zu geben?‹«127 Um diese scheinbare Lücke zu füllen, lässt Halter eine ganze Reihe der Negativstichwörter aus der bisherigen Kinodiskussion Revue passieren. Und auch in dieser Schrift erweist sich die Krankheits- und Seuchenmetapher als regelrecht 122 123

Ebd., S. 130; ein offenkundiger Fehler (sic!: »Einheit«) wurde korrigiert. Hierzu siehe oben in Kapitel 6. – Allerdings verwendet Roland die Metaphorik offensichtlich für keine ›positive‹, sondern eine ›negative Reform‹, d.h.: um das Unterhaltungskino zu negieren. Zwar sieht Roland die »wahre Aufgabe« des Kinos darin, »ein Mittel der Aufklärung zu sein«, sucht aber das Kino von gerade bestehender Prägung pauschal zu beseitigen und wendet sich »mit Entschiedenheit gegen das Kino […], wie es heute ist, und nicht nur gegen einzelne Films« (ebd., S. 129; Herv. im Orig.). 124 Halter: Die Kino-Frage (wie Anm. 11), S. 20. 125 Ebd., S. 37 f. 126 »Das ist interessant, daß ein Spitteler ganz augenscheinlich von der ganzen Kinoreformbewegung nichts weiß.« A [= Avenarius, Ferdinand]: »Spittelers ›Bekehrung zum Kino‹«, S. 201. Näheres hierzu siehe oben in Kapitel 6. 127 Halter: Die Kino-Frage (wie Anm. 11), S. 7.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

zentral. Bereits im Vorwort kommt die metaphorische Rede der »Kinoseuche«128 zum Vorschein, die mit einer »immer mehr überbordende[n] Flut des verderblichen Kinostromes«129 identifiziert wird. An späterer Stelle spricht Halter wieder von der »Kino-Seuche und Kino-Sucht«: »Je spitzelnder, grausamer, schmutziger eine solche Nummer ist, desto mehr ›zieht‹ sie beim Publikum.«130 Von einem einzigen Besuch des Kinos, in dem man eine »Kino-Szene (›Kino-Schlager‹)«131 zu sehen bekommt, ist strikt abzuraten. Denn »in der heutigen Kino-Atmosphäre [erkenne er] eine heransuchende Gefahr, die eine nie geahnte Verheerung anrichten kann und bereits schon angerichtet hat«132 . In der Art der frühen Kinoreformer bezieht sich Halter mit seiner Warnung speziell auf die jugendlichen Zuschauer: In einigen wenigen Minuten – ich betone, in wenigen Minuten – können solche »Seuche-Bazillen-Bilder« einen unaustilgbaren giftigen Stachel in ein unbeflecktes Jünglingsherz hineinbringen, der für das ganze Leben lähmend, wenn nicht direkt faulend verderblich wirkt.133 Die »Kino-Atmosphäre« gleicht insofern einer ›Bazillenbude‹. Betritt man einmal den Kinoraum, so kann man sich sofort eine verhängnisvolle Krankheit zuziehen, deren schwerwiegender Einfluss selbst bis zum Tod nicht abklingen will. Es ist daher keineswegs zu verwundern, dass Halter in einer typischen dämonisierenden Redeweise das Kino gar als »das bisher Raffinierteste Werkzeug Satans«134 bezeichnet.

7.4.2

›Epidemie‹ des Kinos. Zur ›Kinoseuche‹ als Metapher für die Extensität der massenhaften Ausbreitung

Die satanische Krankheit des Kinos soll jedoch nicht nur individuelle Tragödien heraufbeschwören, sondern auch eine massenhafte Katastrophe auslösen. Um wiederum mit Susan Sontag zu sprechen: Die »moderne[n] Krankheiten«135 wie Tuberkulose und Krebs sollen als »mysteriöse Krankheit[en] von Individuen« gelten und jedes Opfer »von der Gemeinschaft isolier[en]«. Im Gegensatz hierzu treffen die Seuchen bzw. die »großen epidemischen Krankheiten der Vergangenheit« wie Pest u.a. »jeden einzelnen Menschen als Mitglied einer befallenen Gemeinschaft«136 . Sontag stellt fest, die »als einfach epidemisch verstanden[en]« Krankheiten seien

128 129 130 131 132 133 134 135 136

Ebd., S. 8 f., 20. Ebd., S. 7. Ebd., S. 14 (Herv. im Orig. fett gedruckt). Ebd., S. 12 (Herv. im Orig. fett gedruckt). Ebd., S. 9. Ebd., S. 31 (Herv. im Orig. gesperrt). Ebd., S. 32 (Herv. im Orig. fett gedruckt). Sontag: »Krankheit« (wie Anm. 20), S. 38. Ebd., S. 35.

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»als Metaphern weniger gebräuchlich geworden«137 . Ungeachtet dessen ist im Kinodiskurs von der »grassierenden Kinoseuche« häufig die Rede, und die Bazillenund Pestmetaphern werden gerade für den Ausdruck der Quantität oder der massenhaften Ausbreitung des Kinokonsums immer wieder eingesetzt. Mit der Seuchenmetapher kommt historisch gesehen die explosionsartige Ausbreitung des Kinokonsums zur Sprache. Zumal der Gründungsboom des Ladenkinos um 1906/07 geradezu ›epidemische‹ Züge annimmt. Die dem Kino zugestandene Vorstellung der Volkstümlichkeit wandelt sich ebenfalls gleichsam in eine imaginierte ›Epidemie‹ um, die – ihrer Etymologie entsprechend – ›im Volk verbreitet‹ wird. Die Seuchenmetapher ist auch in diesem Gebrauch erklärlich beinahe ausschließlich unter den Schriftstellern zu finden, die dem Kino im Grunde kritisch gegenüberstehen.138 Insbesondere die Exponenten der sogenannten ›negativen Reform‹ des Kinos ziehen die Metapher vor. Mit deren Hilfe versuchen sie die Gegenmaßnahmen wie ablenkende bzw. restriktive Eingriffe, auf die sie gegen die ›Kinoseuche‹ zurückgreifen wollen, in ein vorteilhaftes Licht zu rücken. Als Beispiele für die Vorschläge bekämpfender und eindämmender Maßnahmen gelten unter anderem drei Autoren, die oben bereits angeführt wurden. Der Sozialdemokrat Roland, der alle »Kinodramen« flächendeckend als »Afterkunst« ad acta legt, will »die Proletarier hinaufführen zu den Höhen der Kunst«. Zu diesem Zweck gelte es, »in den Proletariern und Proletarierinnen« das Interesse an der »wahre[n] Kunst […] immer mehr [zu] wecken«. So sollte man durch »Volkstheater«, »billige Konzerte und Vortragsabende«, »Kunsthallen und Gemäldesammlungen« und schließlich »gute Bücher«139 den arbeitenden Leuten gegenüber für die sanktionierte Kultur werben. Das Ziel dieser Grenzziehung zwischen der angeblich ›sterilisierten‹ Kunst und dem sogenannten »Kinoschund« sei es, dass die arbeitenden Leute »alles meiden und gering werten, was nach Afterkunst, nach gesellschaftlicher Mache aussieht. Machwerke sind und bleiben aber die Kinodramen«140 . Auf diese Weise könne die Kontaktfläche mit den ›Bazillen‹ auf ein Minimum reduziert werden, um die verhängnisvolle Kontagion der ›Kinoseuche‹ erfolgreich zu verhindern. Für Robert Gaupp, den prominenten Kinokritiker gerade in der »medizinischen und psychologischen« Angelegenheit, müsste Rolands Vorschlag jedoch einen allzu optimistischen Eindruck erwecken. Fordert er doch gegen die ›Kinoseuche‹ »vom Standpunkt der öffentlichen Hygiene« eine aktive und weitaus strengere Bekämpfungsmaßnahme gar von der staatlichen Seite. »Wir haben ja schon viele Seuchengesetze, warum nicht auch von Staats wegen eine Seuche bekämpfen, die mit er137 138

Ebd., S. 62. Allerdings mit einer augenfälligen Ausnahme von Walter Hasenclever. Näheres hierzu siehe unten in Kapitel 8. 139 Roland: »Gegen die Frauenverblödung« (wie Anm. 120), S. 130 (Herv. im Orig.). 140 Ebd., S. 130.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

schreckender Verbreitungskraft unser Volk, vor allem unsere heranwachsende Jugend heimsucht?«141 Die metaphorische Gleichung des Kinos mit der Seuche zieht ihm zufolge scheinbar stringent auch die Einführung einer juristischen Regelung des Ersteren mit sich, die mit der gesetzlichen Beseitigungsmaßnahme des Letzteren vergleichbar einschneidend ist. Diesen Kurzschluss ermöglicht nicht nur die Misere der einzelnen Opfer der beiden »Seuche[n]«, sondern auch deren massenhaftes Ausmaß bzw. die »erschreckende Verbreitungskraft«. Die Bedeutung des Wortes ›Bekämpfung‹ soll insofern sowohl in Bezug auf die wörtliche Epidemie als auch die metaphorische ›Kinoseuche‹ strikt identisch sein. Halter schließlich, in dessen Augen der »Kino-Schlager« nichts anderes bedeutet als die ›Kinoseuche‹, wendet sich seinerseits an den eidgenössischen Staat. Handle es sich beim Kino doch um eine »Landesgefahr«142 bzw. um eine »verheerende, immer mehr innere Fäulnis ausbreitende Seuche«143 . Zu diesem öffentlichhygienischen Zweck zählt er zu Ende seiner Broschüre in der Manier der ›negativen Reform‹ eine Reihe der Forderungen der beschränkenden Maßnahmen vor allem an die »Behörden«144 auf. Nur mit diesem dezidierten Vorgehen vermöge man – so Halter – die »Schäden«145 dieser »›Seuche, die im Finstern schleicht‹«146 , »zu lindern und die verderbende Flut ein[zu]dämmern«147 .

7.4.3

Die ›Kinopest‹ als der äußere Feind im Nationalismusdiskurs

Die dritte semantische Funktion der Ansteckungsmetapher bezieht sich anders als die ersten beiden nicht auf die direkten bzw. konkreten Folgen der Filmrezeption unter dem Publikum, sondern auf die gesellschaftlich-kulturelle Identitätspolitik. Diese Gebrauchsweise der Seuchenmetapher hängt gleichsam auf einer abstrakteren Ebene mit dem Kino zusammen. Sie besteht nämlich darin, dass man anhand der Metapher in der Lage ist, den unerfreulichen, ›krankhaften‹ Status quo einem bestimmten, eindeutig diagnostizierbaren äußeren Faktor zuzuschreiben. Sobald diese Metapher herangezogen wird, kommt nahezu automatisch und unmittelbar das räumlich-geometrische Deutungsmuster einer Ausgrenzung ins Spiel. Dieser nachhaltig routinierte Vorstellungsablauf muss spätestens seit dem Aufkommen der kochschen modernen Bakteriologie in den späten 1880er Jahren etabliert sein. Diese durch die Metapher ausgelöste Assoziation artikuliert sich vor allem in den folgenden vier wesentlichen Aspekten. Durch die Metapher der ›Seuche‹ wird

141 142 143 144 145 146 147

Gaupp: »Der Kinematograph« (wie Anm. 77), S. 12. Halter: Die Kino-Frage (wie Anm. 11), S. 9, 34. Ebd., S. 34. Ebd., S. 33. Ebd., S. 8. Ebd., S. 41. Ebd., S. 8.

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Metaphorologie des Kinos

zum einen innerhalb der gegebenen Situation ostentativ eine klare Grenze gezogen, die den Innenraum von dem äußeren strikt trennen und keinen einzigen Versuch des Überganges zulassen sollte. Zwischen den beiden Räumen regiert dann zum Zweiten ein asymmetrisches Verhältnis von ›uns‹ und ›den anderen‹. Die Seuchenmetapher stellt sich deswegen oftmals als ein wirkmächtiges (kultur-)politisches Instrument dar, weil diese Grenzziehung gleichzeitig eine Wertevorstellung mit sich bringt und eine Differenzierung von ›Freund‹ und ›Feind‹ unweigerlich impliziert. Diese oft paranoid eskalierte Vorstellung wird zum Dritten von vornherein motiviert, da ›wir‹ ›uns‹ in dieser bildlichen Rede von den äußeren anderen mit einer endgültigen Verneinung der Daseinsberechtigung bedroht fühlen. Dank dieser metaphorischen Rede der ›Seuche‹ kann sich das ›wir‹ als unschuldiges Opfer inszenieren, während sich die ganze Verantwortung für die aktuelle, für ›uns‹ miserable Sachlage auf die ›anderen‹, fremden ›Feinde‹ verschieben lässt. Mit der Einführung der Seuchenmetapher wird diese Schlussfolgerung tatsächlich so gut wie simultan vollzogen. Infolgedessen scheint das Folgende am Ende die alternativlose Lösung zu sein: diesen jetzt in den inneren Raum eingedrungenen Feind nachzuspüren, zu bezeichnen, auszugrenzen und schließlich zu bekämpfen. Auf diese Weise soll das ursprüngliche, intakte und gesunde ›wir‹, das es jedoch in Wirklichkeit so nicht gegeben haben kann, restauriert und zurückgewonnen werden. Dieses Bild – zusammen mit dem dazugehörigen politischen Deutungsmuster – ist um 1910 in Bezug auf das Kino insbesondere im Bereich des nationalistischen Kinodiskurses am Werk. Die Verwendung dieser Argumentation geht offensichtlich aus der Situation der deutschen Filmindustrie der Vorkriegszeit hervor, die von der ausländischen Filmproduktion dominiert ist. Für Conradt etwa steht das deutsche Kino um 1910 unter »dem entsittlichenden Einfluß französischer Firmen, die den Weltmarkt besitzen« sollen. Angesichts dieses »verpestet[en]«148 inländischen Marktes entwirft er nicht nur eine neue Filmproduktion mit dem »deutsche[n] Adler« als ihrem »Geschäftszeichen«149 . Darüber hinaus fordert er in erster Linie eine Einführung des »Reichsgesetz[es]« für die »obligatorische Kinematographenzensur«. Erst infolge dieser reichsweit verbindlichen Schutzmaßnahme würde »die französische Konkurrenz, die durch systematische Zensur stark betroffen [würde], […] lahmgelegt« und würden »die Sittlichkeit« sowie »die deutsche Industrie gehoben«150 . Auf diese Weise sollen ›wir‹, so Conradt, die »Pest«151 endlich loswerden.

148 149 150 151

Conradt: Kirche (wie Anm. 3), S. 16 f. Ebd., S. 65. Ebd., S. 50 f. Ebd., S. 16.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

Zweifelsohne mit Blick auf den rasanten Zuwachs an Ladenkinos spricht auch der junge Filmtheoretiker Herbert Tannenbaum 1912 von dem »Kinematographenbazillus«, der seit »kaum fünf Jahre[n] […] die ganze Kulturmenschheit befiel«. Dieses Wort münzt er wohl konkret auf die deutsche ›Kulturnation‹. Denn der Bazillus sei, so Tannenbaum, »[v]on Frankreich und Amerika […] langsam herüber zu uns« gekommen. Die Folgen der ›Ansteckung‹ bestünden Tannenbaum zufolge darin, dass das Kino trotz einer Reihe von »Kulturwerte[n]«, die »in ihm schlummerten«, nur für das »Amusement« umgesetzt worden sei. »Das schöne, aber äußerst gefahrvolle Instrument des Kinos« sei in den Gebieten des Verleihs sowie der Aufführung »in die Hände künstlerisch durchaus ungebildeter, gewinnsüchtiger Spekulanten, in die Hände von Schaustellern und Wirten gefallen«. Auch im Produktionsbereich hätten »[d]ie wenigen (meist französischen) Filmfabriken« die Oberhand gewonnen und dann den »an sich neutrale[n] Geschmack des Publikums […] verdorben«152 . Diese bereits »vielgeschmähte«153 , durch »Kinematographenbazillus« infizierte Lage der deutschen Filmlandschaft ist jedoch nicht nur auf den Krankheitserreger zurückzuführen. Liegt es doch vielmehr am Patienten selbst, d.h. der deutschen ›Kulturnation‹ bzw. ihrem Hang zur Xenophilie. So konstatiert Willy Rath in einem Aufsatz des folgenden Jahres: Die knalligen fremdländischen Aushängebilder und inwendig die rohen oder verlogen-sentimentalen Filmpantomimen der Fremde, die das draußen Versprochene treulich bis zur Grenze des Menschenmöglichen zu erfüllen trachten, all dies Fremdwesen miteinander übt fort und fort eine zwiefach schädliche Wirkung aus: erstlich verschlimmert es das Verschlampen des deutschen Empfindens in den Volksmassen und zweitens wirkt es kräftiglich all dem schönen Bemühen um ästhetische Volks- und Jugend-Erziehung entgegen.154 Rath zufolge herrsche »bei uns vielfach allem Ausländischen gegenüber eine Duldsamkeit, ja eine Vorliebe […], die schließlich gleichbedeutend mit nationaler Unsauberkeit ist«. Gerade dieser innere Grund oder, um im Bild zu bleiben, die besondere Anfälligkeit gegen den ›Kinematographenbazillus‹ der Deutschen sei es, infolge dessen »die wirkliche Ausrottung des Übels«155 schwer durchzusetzen ist. Diese Selbstreflexion lässt Raths Vorschlag einer ›positiven Reform‹156 umso einleuchtender erscheinen. In den Kriegsjahren jedoch verfestigt sich aus naheliegenden Gründen wieder jener ›negative‹ Gebrauch der Seuchenmetapher, der zur Ausgrenzung von 152 153 154 155 156

Tannenbaum, Herbert: Kino und Theater, S. 5 f. Ebd., S. 7. Rath, Willy: »Emporkömmling Kino«, S. 422. Ebd. Hierzu siehe oben in Kapitel 6.

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den im Inneren unauffällig tätigenden Feinden tendiert. Laut Wolfgang Schivelbusch gehöre »[d]ie Vorstellung von einem inneren Feind, der nur darauf wartete, die herrschende Ordnung umzustürzen, und gegen den der Einsatz jeden Mittels gerechtfertigt war, […] zum politisch-psychologischen Grundbestand des Wilhelminismus«157 . Diese Imagination sollte sich später in der Nachkriegszeit schließlich als jene folgenschwere ›Dolchstoß-Legende‹ herauskristallisieren. Dasselbe Bild bzw. mindset ruft im Kinodiskurs während des Krieges jedoch in erster Linie die Metapher der in den Innenraum eindringenden Bazillen bzw. Parasiten auf den Plan.158 Konrad Lange etwa behauptet, seine »Stellung gegenüber der ausländischen Kinoindustrie, die niemals günstig war«, sei »durch den Krieg und seine Nebenerscheinungen […] noch ablehnender geworden«159 . So nimmt er in Nationale Kinoreform (1918) einmal in Bezug auf die ausländische Filmproduktion die Metapher des Getränks in Anspruch. Hier erschallt zwar jene von Mauss erforschte Etymologie des Wortes ›Gift‹ offenbar immer noch lebhaft. Dessen ungeachtet handelt es sich bei dem von einem Erbfeind ausgeschenkten ›Geschenk‹ für Lange eindeutig um ›Giftstoff‹: »Mit Recht ertönt deshalb seit Beginn des Krieges der Ruf: Fort mit diesem wertlosen und kunstwidrigen Plunder! Weg mit diesem eklen Trank, der die deutsche Volksseele vergiftet!« Aus dieser kriegsbedingten Perspektive fordert Lange ausdrücklich, dass »die ausländischen Filme« in zweierlei Hinsicht aus den deutschen Lichtspieltheatern »verbannt bleiben« sollen. Gemeint sind hier konkret die »ausländischen Bildstreifen, die wir aus Frankreich und außerdem aus Amerika, England, Dänemark und Italien bezogen«. Für Lange entpuppen sie sich zum einen künstlerisch als »das sensationellste, rührseligste, kitschigste und roheste Zeug, was man sich nur denken kann«. Dem Tübinger Ästhetikprofessor erscheint der verderbende Einfluss des Kinos aber umso unerträglicher, als dieser aus den feindlichen bis neutralen Ländern entstammt: »Und von diesem ausländischen Gesindel ließ sich der deutsche Michel seinen Geschmack vorschreiben!«160 Lange verweist nicht nur auf die »körperliche und geistige Gesundheit des ganzen Volkes«, die durch den »regelmäßige[n] Besuch der Lichtspielhäuser« beeinträchtigt werde. Insbesondere fällt zum anderen die »geldliche Schädigung«161 der nationalen Ökonomie vordringlich auf: »Für diese Afterkunst floß das sauer verdiente Geld

Schivelbusch, Wolfgang: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, S. 245. 158 Das »Bild der Ansteckung und Verseuchung« werde, so Schivelbusch, »erstmals Anfang November 1918 von der militärischen Führung verwendet«. Zu diesem Zeitpunkt sei allerdings darunter »die Gefahr des Übergreifens der Revolution von der Heimat auf die Front« gemeint (ebd., S. 254). 159 Lange, Konrad: Nationale Kinoreform, S. 3. 160 Ebd., S. 10. 161 Ebd., S. 17. 157

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

des deutschen Kleinbürgers in die Taschen ausländischer Kinoaktionäre, die sich im Besitz ihrer Patente und Urheberrechte rühmten, die ganze Welt ausplündern zu können!«162 Angesichts dieser Notlage kommt ihm – ebenso wie anderen Kinoreformern wie Hermann Häfker163  – der Krieg ausgesprochen gelegen. Denn dieser biete »in der Tat für unsere Kinoindustrie eine einzige und wahrscheinlich nie wiederkehrende Gelegenheit, die schmachvolle Herrschaft der ausländischen Filmindustrie mit kräftigem Ruck abzuschütteln«. Diese Erkenntnis bewegt Lange zu einem Appell zum restriktiven Eingriff einer Parasitenbekämpfung: »Man lege die schwere Hand der wirtschaftlichen Repressalien auf das ganze ausländische oder internationale Kinokapital, diesen Schädling am Baume der deutschen Kultur!«164 Die Seuchen- und Parasitenmetapher unterstützt Langes Schuldspruch gegenüber dem ausländischen Film. Die metaphorische Komplexitätsreduktion stellt hier einen drastischen Kontrast her, der einem kriegsbedingten Freund-Feind-Denken zugutekommt. Denn sie setzt das unbefleckte, an sich gesunde Innere dem feindseligen, krankheitserregenden Äußeren entgegen, um den Letzteren zu verurteilen und gleichzeitig den Ersteren als eindeutig unschuldiges, schutz- und förderbedürftiges Opfer zu inszenieren.

7.4.4

Die Immunität gegen die ›Kinopest‹. Zur triumphalen Niederlage der ›positiven Reform‹ des Kinos

Die Metapher der grassierenden Seuche erscheint für die eindeutige Anfeindung gegen den Film als die von außen schleichende Gefahr geeignet. Trotz ihres schreckenerregenden Erscheinungsbildes findet sie im Kontext der nachdrücklich ›positiven Reform‹ ebenfalls Anwendung. Der aufgeschlosseneren Ausrichtung dieser Gesinnung entsprechend, kommt dieser Metapher der dämonisierende Zug allerdings seltener zu. Moritz Heimanns Aufsatz Der Kinematographen-Unfug (1913) kann in vielerlei Hinsicht als ein typisches Beispiel für die ›positive Reform‹ gelten. Er gibt auf der einen Seite – nicht ohne Anflug des Widerwillens – das faktische Bestehen des Kinos sowie seine Beliebtheit von weiten Schichten zu. Dies betrifft nicht nur die dokumentarischen Filme bzw. »die in das Gebiet der Naturwissenschaften gehörenden Aufnahmen«, die nach Heimann »an sich rühmlich und schön«165 seien. Diese Einschätzung teilen schon die meisten Anhänger der ›negativen Reform‹. Roland

162 163

Ebd., S. 10. Bekanntlich macht Häfker im gerade ausgebrochenen Weltkrieg den bisher »größte[n] Kinoreformer von allen« aus. Vgl. Diederichs: »Frühgeschichte« (wie Anm. 1), S. 201. 164 K. Lange: Nationale Kinoreform (wie Anm. 159), S. 10. 165 Heimann, Moritz: »Der Kinematographen-Unfug«, S. 125.

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beispielsweise sieht die »wahre Aufgabe« des Kinos darin, »ein Mittel der Aufklärung zu sein«166 . Auch Halter findet die dokumentarische Aufnahme von »alle[m], was sich bewegt, verändert in Weltall«, geeignet »für die Kinovorstellung«. Im Gegensatz zum »zurück[zu]dräng[enden]« Spielfilm soll sie den Geschmack »nicht verschlechtern, sondern bilden«167 . Heimann bleibt hingegen nicht bei der Abwehr der »Lichtspieldramen« und schreckt auch nicht vor positiven Vorschlägen für die Weiterentwicklung des Spielfilms zurück: »Zuerst versuche man festzustellen, was Gutes er [der Kinematograph] leisten könne; danach, wie er das Gute leiste«. Heimann erkennt dem Kino zum einen »ein paar phantastische und märchenhafte Möglichkeiten« zu, welche die »eigentlich einzigen legitimen«168 sein sollen. Ferner sei es zu erwarten, dass aus dem filmischen »Drama«, das unter den Kinokritikern im Generalverdacht der verderbenden Auswirkung steht, ein besonderer »Stil des Kinoschauspiels« herausgearbeitet wird. Um dies zu bewerkstelligen, sei die Filmproduktion Heimann zufolge darauf angewiesen, nicht mehr aus dem französischen Vorbild, sondern nun der Bildkomposition der »Amerikaner«169 zu lernen. In die Perspektive einer typisch ›positiven Reform‹ gelangt Heimann aufgrund seiner – gegenüber den Mitstreitern der ›negativen Reform‹ des Kinos – tieferen Reflektiertheit. So stellt er fest, dass »man den Kinematographen nicht aus der Welt schaffen kann«170 . Diese Einsicht steht im Zusammenhang mit den epidemischen, pestähnlichen Merkmalen, die das Kino Heimann zufolge in zweierlei Hinsicht aufweisen soll. Zum einen wiegt ihm der Umstand schwer, dass es sich beim Kino um »ein Vergnügen« handelt, welches sich »das Volk […] auf eigene Faust […] geschaffen« habe. Da das Kino im nachdrücklichen, etymologischen Sinne ›epidemisch‹ überhandnimmt bzw. ›im ganzen Volk verbreitet‹ ist, erweist sich die Predigt der »Lehrer des Volkes« am Ende als folgenlos. Dieser volksnahe oder plebejische Hintergrund des Kinos geht Hand in Hand mit der nahezu autonomen Logik der Ökonomie, die einen von außen manipulieren wollenden Eingriff oftmals tief enttäuscht. In die Kinoindustrie ist bereits »[s]oviel Kapital« investiert worden. Davon hängt »soviel Menschenarbeit […] und soviel Menschenexistenz« ab, dass der »automatisch[e] […] Selbstschutz des Kapitals«171 eintritt, falls dieser 166 Roland: »Gegen die Frauenverblödung« (wie Anm. 120), S. 130. 167 Halter: Die Kino-Frage (wie Anm. 11), S. 39 (Herv. im Orig. gesperrt). Halter kann im Rahmen der Vorführung zwar »auch etwa ein[en] einwandfreie[n] humoristische[n] oder dramatische[n] Film« dulden, doch höchstens »zur Abwechslung«. In seinen Ausführungen, welche die »Kino-Szene« im Allgemeinen durch eine ganze Reihe der Schreckensbilder verteufeln, wird über die akzeptable Art des fiktiven Films weitgehend kein Wort verloren, geschweige denn ein förderndes. 168 Heimann: »Der Kinematographen-Unfug« (wie Anm. 165), S. 125 f. (Herv. im Orig. gesperrt). 169 Ebd., S. 126 f. 170 Ebd., S. 126. 171 Ebd., S. 123 f.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

wirtschaftliche Prozess jemals angegriffen und bedroht wird. Das Kino soll man von daher als einen anderen, selbsttätigen Agenten verstehen: den Anderen, der von der intellektuellen Einflussnahme weder beliebig erreichbar noch kontrollierbar sein und das Volk im Ganzen erfasst haben soll. Die Absicht, diese »Pest« bekämpfen und austreiben zu wollen, stellt sich demzufolge als ein ungeheures, beinahe unzumutbares Unterfangen heraus. Wer gegen den als »unbesieglich« befundenen »Kinematographen« dennoch »kämpfen« will, ist trotz alledem wenigstens in der Lage, »gegen die Pest antiseptisch auf[zu]waschen«172 . Anders formuliert: Im Moment, d.h. im Zuge der »Wende zur Theatralisierung des Kinos« seit 1909,173 dränge »sich das Kinematographenschauspiel frech in die Sphäre des Dramas«. Das aufkommende »Lichtspieldram[a]« erscheint Heimann sowohl hinsichtlich der »Filmaufnahme« als auch der »Wirkung verwerflich«174 und entpuppt sich infolgedessen als ein entsetzenerregender, jedoch unschlagbarer »Teufel«. Gleichwohl: Selbst »wenn man den besagten Teufel nicht mehr austreiben kann, so soll man versuchen, ihn zu bekehren«, d.h. zu »zähmen«, »kritisch [zu] gängel[n]«175 bzw. positiv zu reformieren. Heimanns Aufsatz von 1913 bringt, so gelesen, den Kerngedanken der ›positiven Reform‹ des Kinos als einer ihrer Basistexte auf den Punkt. In Bezug auf den Metapherngebrauch der ›Seuche‹ oder ›Pest‹, der die vorliegende Studie in erster Linie interessiert, deutet er auf seinen bemerkenswert ambivalenten Standpunkt. Einerseits besagt der Wandel von der ›negativen‹ zur ›positiven Reform‹ eine beinah endgültige Niederlage der bildungsbürgerlichen Bekämpfungsinitiative gegen die ›Kinoseuche‹. Heimann nimmt die Unbezwingbarkeit der ›Pest‹ des »Kinematographen« weitgehend in Kauf. Nichtsdestotrotz vermag er die hysterische Dämonisierung des Kinos, welche die ›negative Reform‹ immer wieder ostentativ vornimmt, nicht zuletzt anhand der Pestmetapher zu relativieren. Die ›positive Reform‹ bedeutet insofern zwar keine Extermination der kinematographischen Krankheitserreger, aber markiert einen ersten Schritt zur Immunisierung gegen sie. Die Immunität gegen die ›Kinoseuche‹ resultiert bei Heimanns Beitrag aus der realistischen Erkenntnis, dass das Kino in der kulturellen und wirtschaftlichen Sphäre bereits festen Fuß gefasst hat. Nachdem sich der Filmkonsum ›im ganzen Volk verbreitet‹ hat, ist das Publikum bereits tief mit dem Kino verbunden. Die Frauenrechtlerin Helene Lange schlägt ein Jahr zuvor aus dem entgegengesetzten Gesichtspunkt vor, diesen Verlauf einer Immunisierung gegen die ›Kinoseuche‹ doch absichtlich einzuführen. In ihrer Antwort auf die Umfrage Vom Werte und 172 173

174 175

Ebd. Vgl. Diederichs: »Frühgeschichte« (wie Anm. 1), S. 40. Mit diesem Wechsel wird der »Kunstanspruch an die Produkte […] erhoben«, und man »genierte sich nicht mehr, von ›Kinodrama‹ zu reden«. Heimann: »Der Kinematographen-Unfug« (wie Anm. 165), S. 124 f. Ebd., S. 126 f.

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Unwerte des Kinos176 geht Lange nicht nur davon aus, dass die »Polizeibeschränkungen« gegen das Kino ungeachtet ihrer »Notwendigkeit« am Ende folgenlos bleiben. Es sei denn, man ließe »keine selbsterfundenen Nummern«, d.h. keinen »dichten[den]« Film mehr zu. Dies stelle die einzig empfehlenswerte »Zensur« dar, die jedoch, so Lange, »bei uns nicht zu denken« sei. Darüber hinaus attestiert sie diesen Restriktionen von der offiziellen Seite die unerwünschte »Nebenwirkung«: Je strenger die »Auswüchse« verboten werden, umso reizvoller und faszinierender wirken diese gegenüber dem Publikum. Angesichts dieses Effektes von verbotenen Früchten, durch den »die Kino-Seuche noch erheblich in die Breite«177 gehen müsse, ändert Lange ihren Blickwinkel radikal und macht nun den gewagten Vorschlag, dem Publikum weiterhin Kinodramen reichlich zu verabreichen: Nur damit kann man vielleicht rechnen; dass sich die Sache abnutzt. Das liegt etwas in ihrer Natur. Sicher werden viele von denen, die sich mit den »Schlagern« vollstopfen, einmal blasiert werden, zumal bei aller Unermesslichkeit der Filmzahl die Motive ziemlich einförmig sind.178 Langes Vorschlag setzt auf eine optimistische Aussicht, dass von den »Verderblichkeiten«179 des ›Kinodramas‹ dadurch letztlich Distanz zu gewinnen ist, dass man diesen regelrecht verfällt. Der paradoxe Eindruck lässt sich erst mit Blick auf die hier implizierte Entwicklung der bakteriologischen Forschung seit den 1880er Jahren revidieren. Dieser zufolge kann man gerade durch die (absichtlich kontrollierte) Ansteckung, d.h. die Impfung der Bazillen, die Seuche endlich bewältigen. »Diese Art der Überwindung der Kinokrankheit wird ja subjektiv einer Heilung nicht gleichzusetzen sein«180 , jedoch bedeutet de facto einen Erfolg der Impfmaßnahme, die nicht anders als auf dem Wege der Ansteckung der Krankheitserreger zustande kommt. Das Immunisierungsverfahren der ›Kinoseuche‹ mag unter Umständen sehr viel Zeit beanspruchen, kann sich jedoch laut dem Schriftsteller und Satiriker Alexander Moszkowski auf die Dauer als überaus erfolgreich erweisen. Derart erfolgreich, dass es sich letztendlich herausstellen kann, dass es beim Kinematographenbazillus nicht um einen Eindringling von außen, sondern um einen Faktor handelt, der im Grunde dem inneren System zugehört. In der einschlägigen Forschung ist Moszkowski unter anderem durch seinen Entwurf eines dreidimensionalen Kinos bekannt, das er in seinem utopischen Roman Die Inseln der Weisheit (1922) ins Spiel

176 177

Hierzu siehe oben in Kapitel 6. Lange, Helene: [Umfrageantwort zu:] »Vom Werte und Unwerte des Kinos«, in: Frankfurter Zeitung vom 30. Mai 1912, zitiert nach Anonymus, »Vom Werte und Unwerte des Kinos«, S. 9 f. 178 Ebd., S. 11. 179 Ebd., S. 9. 180 Ebd., S. 11.

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bringt. Schon früher, d.h. im Aufsatz Zukunfts-Kino im Berliner Tageblatt vom Februar 1914, nähert sich Moszkowski dem Kino anerkennend und mit Phantasie. Wie »[d]ie Schiefe der Ekliptik«, welche »die Jahreszeit« verderben würde, lasse sich auch das Kino grundsätzlich nicht verbessern. Denn »wir [müssten] die Welt von neuem erschaffen […], um solche Mißstände zu korrigieren«. Ist das Kino doch im Volk so fest verwurzelt, d.h. ›epidemisch‹ verbreitet, dass es bereits jedem absichtlichen Eingriff ebenso standhält wie das harte astronomische Faktum. Diese nicht mehr ausrottbare Beständigkeit des Kinos unter den Menschen schlägt sich Moszkowski zufolge in »der großen Zahl« nieder, die sich »bis ins Ueberdimensionale gereckt« habe. Gemeint ist hier nicht nur die Besucherzahl. Hinzu kommt die Zahl der Kinotheater, die weltweit bis hin zu »kulturfremden Ortschaften« bzw. »Einöden«181 unzählig zu finden seien.182 Und schließlich die Zahlen im Sinne von »metallische[r] Nahrung«, die der Film in »vielen Städten Deutschlands […] aus den Beuteln der Bewohner zieht«183 . Angesichts dieser Lage kommt die Vorgehensweise der ›negativen Reform‹ für Moszkowski nicht infrage. Sie suche einerseits auf diese »große Zahl« juristisch einschränkend zu reagieren und »die Klinke der Gesetzgebung in die Hand zu nehmen«. Oder die massenhafte Verbreitung des Kinos werde als »Schädlinge, […] Bazillen, […] Spaltpilze« oder ›Kinoseuche‹ gebrandmarkt und dadurch ausgegrenzt. Die Ansätze weist Moszkowski beide strikt zurück. Zum einen richte man »mit dem bloßen Händeringen gegen den positiven Erfolg nichts aus«. Denn »[h]inter dem Gesetz der großen Zahl steckt allemal ein organischer Grund, eine Lebensoffenbarung«184 . Insofern geht Moszkowski von derselben Erkenntnis aus wie Heimann. Einstimmig gehen die beiden davon aus, dass vonseiten der Intellektuellen keine Möglichkeit mehr übrig bleibt, die Wogen der Zuschauermassen zu reduzieren, geschweige denn zum Stillstand zu bringen. Statt dieser unmöglichen Eingriffe lädt Moszkowski in Bezug auf die Seuchenmetapher zu einer Umkehrung der Sichtweise ein. Es gibt zwar »wenig« Hoffnung einer Bekämpfung der ›Kinoseuche‹, d.h. »weder auf ein Erlöschen der Seuche im natürlichen Verlauf, noch auf hygienisch durchgreifende Paragraphen«. Dies sei

181

Moszkowski, Alexander: »Zukunfts-Kino«, in: Berliner Tageblatt vom 26. Februar 1914, unpaginiert. 182 Die globale ›Epidemie‹ des Kinos kann aus einer entgegengesetzten Perspektive ein dezidiert kinofeindliches Argument liefern. So warnt der Medizinalrat Paul Näcke in einer an Robert Gaupp erinnernden Diktion vor den Gefahren der Kinos und bemüht dabei eine Reihe der zeittypischen Schreckensbilder: »[W]ie eine Pest wendet sich das schlechte Kino gerade an den kleinen Mann. Und dies zwar bis nach Japan hin, bis in das elendste Dorf!« (Näcke, Paul: »Gefahren der Kinos«, in: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 52 [1913]), S. 197 f., hier S. 197). 183 Moszkowski: »Zukunfts-Kino« (wie Anm. 181). 184 Ebd.

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jedoch kein Grund für den Defätismus, dass die Welt in Zukunft etwa unter die unheilvolle Fremdherrschaft der ›Kinoseuche‹ geraten würde. Vielmehr malt Moszkowski ein optimistisches Zukunftsbild, das eine gewissermaßen verkehrte, jedoch zugleich deutlich höhere Reflexionsebene erfordert, um überhaupt verstanden zu werden. Denn Moszkowski möchte dem »Standhafte[n]«, der eine ›negative Reform‹ vertritt und »›eine Kinoseuche!‹ ruft«, doch »andere Hoffnungen erwecken, freilich nicht von heute auf morgen, vielmehr auf lange Sicht«: Die Annalen des Kinos sind kurz, und die Zeit ist lang, hundert Jahre spielen da keine Rolle. Und in hundert Jahren – ohne mich auf den Kalender festzulegen –, wird sich der Kunstschreiber darüber wundern, daß es zu unserer Zeit soviel tüchtige, gescheite Kollegen gegeben hat, die eine gesunde Evolution nicht von einer Pest unterscheiden wußten.185 Hier setzt Moszkowski in Anbetracht einer longue durée eine potenzierte bzw. erhöhte Reflexion um, die einem Science-Fiction-Autor wie ihm wohl von vornherein zur Verfügung steht. Aus dieser Perspektive soll etwas, das bei der unmittelbaren Beobachtung einen Fremdkörper darzustellen scheint, doch auf die Dauer als ein Akteur innerhalb des »gesunde[n]« beweglichen Systems einer künstlerischen »Evolution«186 zutage treten. Insofern stellen sich restriktive und ausgrenzende Maßnahmen gegen die ›Kinopest‹ als überflüssig heraus, da selbst der ›Bazillus‹ einen integralen Bestandteil des kulturellen Immunsystems bildet. In diesem zwar eigenartigen, aber doch im gewissen Sinne klugen Gedankenspiel verwirklicht und erübrigt sich gleichzeitig die Impfmaßnahme – geschweige denn die Bekämpfung – der ›Kinopest‹. Denn sie soll nun komplett verinnerlicht und im gewissen Grad domestiziert dastehen.

7.4.5

Die ›Kinoseuche‹ als Fiktion. Max Krells Kino. Eine Groteske

Ein Jahr vor Moszkowskis essayistischem Beitrag entwirft auch Max Krell in seiner Weise ein ›Zukunfts-Kino‹, allerdings auf der fiktionalen Ebene. Gemeint ist Krells kurze Geschichte Kino. Eine Groteske, die 1913 in der Zeitschrift Licht und Schatten erscheint. Im Gegensatz zu Moszkowskis optimistischer Vision schildert die Erzählung im Gewand der phantastischen Science-Fiction eine ins Extrem überspitzte Entwicklung der ›Kinoseuche‹. Trotz der satirisch-karikativen Übertreibung nimmt das Prosastück auf die aktuelle Diskussion um das Kino ausdrücklich Bezug. In seiner Groteske tritt Krell dem Kino gleichsam amphibolisch gegenüber. Dies lässt sich auch in seiner späteren Karriere als erfolgreicher Lektor bei Ullstein beobachten, der unter anderem mit Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) 185 Ebd. 186 Ebd.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

einen Welterfolg ernten sollte. Exemplarisch hierfür steht etwa der von ihm 1923 herausgegebene Sammelband Das deutsche Theater der Gegenwart. Für diese Publikation liefern zahlreiche prominente Exponenten der zeitgenössischen literarischen und theatralischen Intelligenz Beiträge. Der Autorenkreis reicht von Arnold Zweig über Rudolf Borchardt, Hans Poelzig, Kasimir Edschmid, Friedrich Sieburg, Carl Zuckmayer bis hin zu Bernhard Diebold. In seiner Vorbemerkung gibt sich Krell zwar besorgt über den Stand der Dinge in der aktuellen deutschen Theaterlandschaft, die gerade »den robusten Angriffen von Zirkus und Film, Geschäft und Politik«187 trotzen müsse, um überhaupt fortzubestehen. Von einer einseitigen Anfeindung gegen das Kino in der Art des ›Theater-Kino-Streites‹ scheint Krell jedoch weit entfernt zu sein. Dies wird von seiner ausgeglichenen Auswahl der Autoren angedeutet, welche die ausgesprochenen Kinoenthusiasten wie Carlo Mierendorff und Kurt Pinthus einschließen. Dieselbe ambivalente Haltung gegenüber dem Kino zeichnet auch die Groteske aus, die er bereits zehn Jahre zuvor publiziert. Aus der Erzählung lässt sich zwar eine im Grunde kinogegnerische Botschaft ablesen. Durch seine phantasievolle Fabulierkunst sowie in seiner Weise präzis detaillierte Beobachtung der kinematographischen Erscheinung lässt sich jedoch Krells Freude am Stoff unmissverständlich erkennen. So hängt Krells Groteske auch mit dem Immunisierungsverlauf der ›Kinoseuche‹ zusammen, nicht zuletzt dann, wenn man ihr vielsagendes Erscheinungsjahr von 1913 berücksichtigt. Denn dies soll besagen, dass die Novelle gleich nach dem Anbeginn der ›positiven Reform‹ im frühen Kinodiskurs erscheint. Es dürfte insbesondere ein Signal der Immunisierung gegen die ›Kinoseuche‹ sein, dass die Metapher innerhalb einer fiktionalen und satirischen Rede zum Tragen kommt. In solchen Fällen dient die Figur nicht mehr dem Zweck einer Dämonisierung des verderbenden Einflusses des Films. Die reflexartige hysterische Angst vor dem Eindringling gilt auf dieser diskurslogischen Ebene bereits so gut wie als überwunden. Die hier einschlägige distanziert karikaturartige Verwendung der ›Kinokrankheit‹ steht allerdings auch nicht für das ernst zu nehmende Plädoyer für eine ›positive Reform‹ zur Verfügung. Sie verleiht vielmehr der selbstironischen Anerkennung des Kinos einen Niederschlag. Die bewusst übertriebene Bezugnahme auf diese metaphorische Figur signalisiert einerseits, dass hier vom festen Bestand der kinematographischen Branche bereits ausgegangen wird. Hinter der luziden, mitunter possenhaft verzerrten Fassade verbirgt der Text andererseits einen sozialkritischen bzw. sarkastischen Blick auf den Siegeszug der Kulturindustrie des Kinos. Diese intellektuelle Doppelbödigkeit zeichnet Krells Fabel aus. Die Erzählung spielt sich in der Zeit einer fortgeschrittensten Zivilisation ab, in der »nur noch wenige Weltfragen von praktischer Bedeutung zu lösen« bleiben. 187

Krell, Max: »Vorbemerkung«, in: Ders. (Hg.), Das deutsche Theater der Gegenwart, München/Leipzig: Rösl 1923, S. 5-7, hier S. 6.

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Die Arbeiterfragen und die Ernährungsprobleme beispielsweise bestehen durch den »mechanische[n] Arbeiter aus Aluminium« einerseits und dank der »Kapselernährung der Menschen« andererseits längst nicht mehr. Der »unübertreffliche Zustand« der Zivilisation lässt die Kultur vollkommen entbehrlich erscheinen. »Zeitungen gab es auch nicht mehr«, da die Menschen »eben auf einer Erde der Selbstverständlichkeit« leben und sich zueinander gleichgültig zeigen. Mit Zeitungen stirbt »[d]er Feuilletonismus« logischerweise völlig ab, »und der letzte Feuilletonist wurde im Zoologischen Garten von Jerusalem gezeigt«188 . Vermöge der »aus Pflanzenzellen« entwickelten Ersatzstücke für jeden Körperteil sind nicht zuletzt »die Krankheiten […] ausgestorben, ausgedorrt«. Die einzige Ausnahme, die »sich hartnäckig« behauptet, stellt jedoch eine »naseweise Krankheit« des »Filmwahnsinn[s]« dar. Diese »Seuche« wird »nach eingehenden und schwierigen Studien [für] unheilbar erklärt«, dagegen ist kein »Serum« vorhanden. Das Krankheitsbild besteht aus einer »merkwürdige[n] Tendenz zu pantomimischen Bewegungen«, mit denen die ›Filmwahnsinnigen‹ höchstwahrscheinlich von den auf der Leinwand flimmernden Gestikulationen der Filmdarsteller ›angesteckt‹ sind. Da sich die Symptome »nur unter den Strahlenwirkungen der Lichtspieltheater« beruhigen, bleiben die »Befallenen […] tage-, wochen-, monatelang vor der weißen Wand sitzen«. Sie sind aus den Kinos »nicht einmal mit Brachialgewalt zu entfernen«. »[D]er Filmwahnsinn grassierte« derart »enorm«, dass man »im Erdgeschoß eines jeden Hauses […] ein Lichtspieltheater« einrichtet, in dem die Kranken bei Ausbruch eines Anfalls sogleich stationiert werden konnten. Die Bewohner ganzer Straßenzüge verfielen der Seuche. Die Kinos waren Tag und Nacht bis auf den letzten Platz besetzt. In solchen Theatern laufen unter anderem die Aktualitäten, die über Ereignisse der ganzen Welt berichten. Mittels einer »[r]adiotelegraphische[n] Übertragung« halten sie mit den »Extrablätter[n]« beinah Schritt, welche anstelle der nun abwesenden Zeitung die »neuesten Notizen […] in Fünfminutenabständen« bringen. So werden in den unzähligen »Lichtspieltheatern« den Massen der Filmwahnsinnigen nahezu in Echtzeit die Nachrichten kinematographisch vermeldet. Es geht mal um eine »Truppenrevue« des »Präsident[en] von Asien […] in Bombay«, mal um einen »Brückeneinsturz bei Malta«189 und mal um die Geburt eines Sohnes des Präsidenten von Europa.

188 Krell, Max: »Kino. Eine Groteske«, in: Licht und Schatten III (1912/13), unpaginiert. Auf diesen Text macht Leonardo Quaresima (»›Geil und gähnend‹. Der Schriftsteller als Filmzuschauer«, S. 59 f.) als Erster in der einschlägigen Forschung aufmerksam, jedoch nur, um aufgrund der Flutsequenz zu Fritz Langs Metropolis (DE 1927) einen Bezug herzustellen. 189 Krell: »Kino« (wie Anm. 188).

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

Gleichsam als die Krönung dieser unendlichen Serie von sensationellen »Radiofilm[en]« erstattet das Kino Bericht über das Riesenprojekt einer »Durchtunnelung der Erde«. Von dem »erste[n] Spatenstich in Jüterbog« an verfolgt man auf der Leinwand ununterbrochen »die einzelnen Phasen des großen technischen Werkes«. Der »fieberhafte Rapport hatte das Publikum enthusiasmiert und den Filmwahnsinn zu einer ungeheuren Ekstase gesteigert«. Infolge dieser maßlosen Faszination des Kinos verlieren die Menschen »völlig ihre klare Ueberlegung«. Da »[k]aum ein Mensch […] mehr unterwegs« ist, haben »[s]ämtliche Geschäfte […] den Betrieb eingestellt«, und »[d]ie Stadt war wie ausgestorben«: »Es gibt nur noch Kinematographentheater. Sonst ist Weltfeiertag. Und die ganze Erde liegt im Kinowahnsinn.«190 Es ist, als würde die darauffolgende Katastrophe durch die erheblich übersteigerte ›Epidemie‹ oder das »Fieber der Massen« heraufbeschworen, das an dem Tag, wo der »Durchstich« vorgesehen ist, »einen furchtbaren Grad erreicht«. Da man am Ende des Erdtunnels anscheinend aufgrund falscher Kalkulation »ins Meer […] gestoßen« ist, saust nun »eine furchtbare tobende Riesenwoge […] aus der Tiefe« empor. Das »Wasser steigt, rast mit einer noch nie erreichten Schnelligkeit den Schacht hinan«. Während das Wasser »[i]n kaum einer Stunde […] die 12700 Kilometer des Riesenkanals« zurücklegt, erwartet das Publikum »[m]it einer Totenruhe […] den Ausgang dieser grauenhaften Szene«, der wie folgt aussieht: Aus dem Schachtmund – auf den flimmernden Bildern – wälzt sich das Wasser in gewaltigen Stromstrahlen. Bricht aus der Leinwand in die Säle. Füllt die Säle aus. Schießt auf die Straße hinaus. Aus allen Kinos, Haus an Haus, jagt sich das Wasser in die Stadt. Trägt die kämpfenden, schreienden, zu Tode gequälten Menschen im Wirbel mit fort.191 In der Beschreibung fällt hier die der Normalität ausweichende Richtung des Wasserlaufes explizit auf. Der Logik der Tatsachen entsprechend müsste das Wasser eigentlich aus dem wirklichen »Schachtmund« draußen in Jüterbog hervorsprudeln, die Stadt überschwemmen und schließlich durch den Eingang im Erdgeschoss der Häuser »in die Säle« hereinbrechen. Die Groteske geht jedoch unmissverständlich von einer anderen, verkehrten Physik aus. Ungeachtet des offenbar Übernatürlichen am Phänomen muss sie mit Blick auf die inneren Wahrheiten der faszinierten Filmrezipienten bzw. -wahnsinnigen ungleich plausibler erscheinen. Für diese steht außer Frage, dass das Wasser – jenem von Roland angesprochenen Fluidum gleich – aus der Leinwand hervorstürzt und den Zuschauerraum überspült. Denn das bildliche Wasser sollte mit dem wirklichen restlos identisch sein.

190 Ebd. 191 Ebd. (Herv. des Verf.).

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Im weiteren Verlauf der Handlung geht die Welt aufgrund dieser Sintflut zugrunde. Die Katastrophe lässt das mit »Schwimmhäute[n] und Riemen« versehene Auto des einen der beiden Protagonisten – »Iwans 240 HP« – als »eine Arche Noah« erscheinen. Die Apokalypse, die alles »aufgelöst« habe, ist jedoch – aus der Beschreibung des Wassers kann man nichts anderes ableiten – nicht auf den gleichsam babylonischen Größenwahn am Projekt des Riesentunnels zurückzuführen. Das Schreckensszenario resultiert einzig aus der eingebildeten Identifizierung bzw. Verwechslung des filmischen Zeichens mit dem Bezeichneten, die neben der »Tendenz zu pantomimischen Bewegungen« als noch ein zentrales Symptom der »Seuche« des »Filmwahnsinn[s]« zu verstehen ist. Die Welt geht am Filmwahnsinn unter. Trotz dieser durch die übersteigerte Zivilisation verursachten Katastrophe bleibt am Schluss ein Hoffnungsschimmer. Wird in der Nähe von Jerusalem, das den Ursprung des kulturellen Erbes der Menschheit symbolisieren soll, doch jener »Feuilletonist aus dem Zoologischen Garten zu Jerusalem« aus dem Wasser herausgeholt. Er »[b]eleckt seinen Bleistift« und schreibt dann auf, was er von den Überlebenden erfragt. »Die Kultur ist gerettet.«192 Um in den metaphorologischen Kontext zurückzukommen: Krell operiert bei der Figur der ›Kinoseuche‹ mit einer doppelten Strategie. Zum einen entfaltet und übersetzt er diese gängige Metapher in die zeitliche Abfolge einer Handlung. Auf dieser Ebene lässt sich sein Text als eine Illustration der aktuellen öffentlichen kulturpessimistischen Diskussion verstehen, welche um die dort als ›Kinoseuche‹ bezeichnete Erscheinung ausgetragen wird. Innerhalb dieser Handlung geht dem Ausdruck der ›Kinoseuche‹ bzw. des »Filmwahnsinn[s]« die für eine Metapher konstitutive Eigenschaft der ›doppelten Bewusstseinslage‹ vorerst verloren. Der Film entfesselt im Rahmen des Textes – wie die Beschreibung des verkehrten Wasserlaufes zeigen sollte – tatsächlich eine innere Störung bei den ›filmwahnsinnigen‹ Menschen. Auf der anderen Seite überführt Krell diesen Vorgang jedoch in die übertrieben fiktive Welt der Groteske, in der jede wörtliche Beschreibung innerhalb dieses Textes automatisch auf die Ebene des ›Als-ob‹ übertragen werden muss. Infolge dieser verfremdenden Überführung ins Fiktive gewinnt die Figur der ›Kinoseuche‹ den metaphorischen, übertragenen Status zurück. Diese intellektuelle Operation setzt eine reflektierte Distanznahme von der hysterischen Angst und Überreaktion auf die Auswirkung des Kinos voraus. In dieser Perspektive lässt sich in dem bewusst fiktiven und übertragenen Rekurs ein unüberhörbares Signal der Immunität gegen die ›Kinoseuche‹ erkennen.

192

Ebd.

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

7.4.6

Um 1918: Vollendung der Immunität gegen die ›Kinoseuche‹? Zur »Kinokrankheit« und der »Flimmeritis«

Trotz der diskursiven und gesellschaftlichen Integration des Kinos in die kulturelle Sphäre bzw. der ›Immunisierung‹ gegen die ›Kinopest‹, ›Kinoseuche‹ oder ›Kinokrankheit‹ behält diese Metapher weiterhin ihre Bedeutung. Im Zuge der öffentlichen Anerkennung des Mediums als Unterhaltungs- und Kulturindustrie während des Ersten Weltkrieges erscheint sie allerdings in radikal entschärfter Gestalt im Rahmen einer humoristischen oder satirischen Prosa. Wie Krells Groteske ist sie zwar mehr oder minder sozialkritisch ausgerichtet, jedoch anders als diese mit keinem apokalyptischen Szenarium mehr versehen. Vielmehr kommt dieser Ausdruck in den meisten Fällen in der essayistischen Reportage nur noch als eine interessante, amüsante Episode zum Tragen. Die Darstellung soll aber dabei helfen, eine Beobachtung einiger typischer Phänomene der sich unter dem Zeichen des Kinos neu konturierenden massenhaften Konsum- und Mediengesellschaft pointiert und geistreich zu illustrieren. Im Folgenden wird zwei Beispielen der weitgehend harmlos im Alltag geisternden ›Kinokrankheit‹ aus der Zeit des Kriegsendes nachgegangen. In den beiden soll ein durchgängig domestiziertes Gesicht der ›Kinoseuche‹ gezeigt werden, das jedoch die in einer explosiven Entwicklung begriffene Massengesellschaft konstitutiv prägt. Um mit dem jüngeren Exempel anzufangen: In der Neuen Zürcher Zeitung vom Dezember 1920 liest man ein Feuilleton, das ›Die Kino-Krankheit‹ überschrieben ist. Der als »H.S.« zeichnende Autor führt eingangs den »aufreizenden, gelegentlich unheilvollen Einfluß« der »in fast allen öffentlichen Kinos der Welt als Zugstücke der Programme gegebenen Detektivdramen« auf die Zuschauer als »eine längst bekannte Tatsache« an. Diese Charakterisierung stellt die oben im Zusammenhang mit Halters Broschüre vorgeschlagene These der Rückständigkeit des eidgenössischen Kinodiskurses infrage. Immerhin wendet sich der Autor hier jedoch nicht dem »verheerenden Einfluß der Kinoschauerdramen« zu, sondern einer »höchst belustigende[n] Seite dieses Einflusses«193 , auf die ein mit ihm befreundeter Jurist aufmerksam macht. In dieser Themenwahl spiegelt sich bereits eine bewusste Distanznahme des Autors, der auf die ›Kinoseuche‹ nicht mehr obsessiv und hysterisch reagieren will. Bei diesem Text handelt es sich gleichsam um den Bericht eines Berichtes: Der Autor erzählt über die Erzählung seines Freundes von einem jüngst beobachteten Vorfall. Als Anwalt habe dieser »in einem Ehescheidungsprozeß ein zwanzigjähriges Mädchen, Ladentochter von Beruf, einvernehmen« müssen. Sie sei eine »Freundin und Vertraute der in Scheidung begriffenen Ehefrau«, und die beiden 193

S., H.: »Die Kino-Krankheit«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 19. Dezember 1920, unpaginiert (Herv. im Orig. gesperrt).

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seien »leidenschaftliche Kino-Besucherinnen«. Dies ist der Umstand, auf den der Ehemann neben anderen die »Zerrüttung seines Ehelebens« zurückführt. Die Ladentochter bezeugt ihrerseits die in ihren Augen unüberbrückbare Kluft zwischen ihrer Freundin und deren Ehemann, der eine dem Kino gegenüber desinteressierte, »prosaische Natur« verkörpert. Die beiden Freundinnen seien hingegen wegen der »Liebe zu dieser ›hohen Kunst‹« des Kinos »vollständig überzeugt […], ihren Beruf […] verfehlt zu haben«: »Es sei ihnen klar, daß die Kinobühne ihre einzige Bestimmung sei und daß ihnen, wären sie nur erst beim Kino, gewiß der Welterfolg einer Asta Nielsen oder Henny Porten beschieden wäre.«194 Dem Anwalt zufolge sei soweit »nichts Außerordentliches an der Geschichte« vorhanden. Einer eingehenden Beschreibung wert erscheinen ihm jedoch die Gesten bzw. die körperlichen Ausdrücke der Ladentochter auf der Zeugenbank: »[…] Was aber für mich neu war, das war die Art und Weise, wie die Zeugin ihre Aussagen mit sonderbaren Bewegungen der Arme, merkwürdigem Verzerren der Gesichtszüge aufs ausdrucksvollste illustrieren zu müssen glaubte. Kurz: der ganze Auftritt glich eher einer Kinoszene als einem Zeugenverhör. Mit langsamen, schleppenden Schritten, mit hängenden Armen, die Augen weit geöffnet, war sie eingetreten. Zum Teufel, wir sind doch nicht im Theater, dachte ich. […]«195 »[D]ieses Spiel« habe kulminiert, so der Anwalt, als die Zeugin behauptete, »den Beruf verfehlt zu haben«. »[W]ie etwa die Comtesse de Sauflechien im 7. Akt der dritten Abteilung eines Kinodramas« sei sie »[m]it zurückgebeugtem Oberkörper, die Arme seitlich ausgestreckt, die Finger gespreizt, das Gesicht zur Decke gewandt, den Mund schmerzlich verzerrt und die Augen halb geschlossen«196 dagestanden. Die »merkwürdige Tendenz zu pantomimischen Bewegungen« war die einzige, die Krell 1912 in seiner Groteske als das Symptom der ›Kinoseuche‹ bzw. des »Filmwahnsinns« ausdrücklich benannte. Das andere, in Krells Text nicht explizit bezogene, jedoch in der Beschreibung der Sintflut auffällig angedeutete Signum war es, dass die ›Filmwahnsinnigen‹ zwischen dem wirklichen Wasser und dessen filmischem Bild nicht mehr unterscheiden konnten. Die ›Kinoseuche‹ war von daher eine Störung des Wirklichkeitssinnes, infolge deren die Grenze zwischen der Scheinwelt und der Realität – im wahrsten Sinne des Wortes – ›ver-rückt‹ wurde. Im Gegensatz hierzu geht der Jurist jedoch davon aus, dass die Zeugin weder »mit Absicht gemimt« habe noch »verrückt« gewesen sei: »[…] Vielmehr haben wir es hier lediglich mit der Aeußerung eines überaus stark entwickelten und wohl auch überreizten Nachahmungstriebes zu tun, 194 Ebd. 195 Ebd. 196 Ebd.

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der die durch den reichlichen Kino-Genuß zugeführten Eindrücke mechanisch, unbewußt bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit reproduziert. […]«197 Seiner eigenen Beobachtung dieser relativ nachhaltigen »Beeinflussung des Nachahmungstriebes« durch das übertriebene Mienenspiel des Stummfilmes entsprechend, subsumiert der Jurist die Symptome unter die Diagnose der »KinoKrankheit«198 . Dieser Bezeichnung haftet keine Spur der hysterischen Abneigung bzw. Verteufelung an, geschweige denn ein einziges Anzeichen des apokalyptischen Unheils wie bei der ›Kinopest‹ oder ›-seuche‹. Dies zeigt sich in der weiteren Behandlung dieses Motivs in demselben Text. Durch die Entdeckung der »Kinokrankheit«, die sich im alltäglichen Gestikulieren der Mitmenschen bisweilen bemerkbar macht, soll der Jurist in »ein Gebiet köstlicher Unterhaltung« eingeweiht worden sein: »[…] Verlege dich einmal darauf, dir Rechenschaft zu geben, warum du, sei es auf der Straße, im Bureau, im Arbeitssaal oder in der Eisenbahn, in Versammlungen und bei gesellschaftlichen Anlässen gewisse Gebärden und gelegentlich das Mienenspiel einiger deiner Mitmenschen als lächerlich empfindest. Du wirst dir bei einigem Nachdenken sagen müssen, daß diese grotesken Bewegungen und Mienen lächerlich wirken, weil sie nicht echt sind, weil sie geborgt sind – weil sie vom Kino stammen. Sie sind die Kennzeichen der Kinokrankheit, welche die von ihr Befallenen zu unfreiwilligen Komikern macht. [… «]199 Am Ende des Artikels bekennt auch der Erzähler selbst, dass ihm seit dem Rat des Freundes »manche[r] lustige[r] Augenblick«200 zuteilgeworden sei. Die »Kinokrankheit« ist zwar ›epidemisch‹ unter dem Volk verbreitet, jedoch auf eine derart harmlose Gestalt reduziert, dass sie nicht nur keine Abwehr mehr erfordert, sondern selbst eine Quelle der alltäglichen Unterhaltung liefert. Ungeachtet dieser scheinbaren Überwältigung der »Kinokrankheit«, die sich nur noch unschädlich ausbreitet, stellt sie ein mit Krells »Filmwahnsinn« durchaus vergleichbares Syndrom dar. Die »Kinokrankheit« und der »Filmwahnsinn« verstehen sich in gleicher Weise als eine Störung des Wirklichkeitssinnes. Denn die beiden ›Epidemien‹ verwischen zumindest tendenziell die Grenze zwischen der Filmwelt und dem Zuschauerraum bzw. der Wirklichkeit. Darüber hinaus weisen die Befallenen beider Krankheiten ein gemeinsames Symptom auf, dass sie die

197

Ebd. Zum Motiv der körperlichen Mimesis in den frühen Filmtheorien vgl. Yanagibashi, Daisuke: »Immersion und Mimesis. Diskursanalyse der Filmrezeption im deutschsprachigen Raum in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts«, S. 33-35. 198 S.: »Die Kino-Krankheit« (wie Anm. 193; Herv. im Orig. gesperrt). 199 Ebd. 200 Ebd.

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körperlichen Bewegungen der Filmdarsteller oder -darstellerinnen auch im wirklichen Leben unbewusst nachahmen. Die ›Kinoseuche‹ greift gleichsam auf dem ersten Stadium ihrer Verbreitung im Medium der Gestikulation um sich, mit der die Patienten beider Leiden regelrecht ›angesteckt‹ werden. Insofern lassen sich die beiden Infektionskrankheiten als ein und dasselbe Syndrom auffassen. Der Unterschied besteht hingegen im Resultat ihrer massenhaften Verbreitung. Die eingebildete Identifizierung bzw. Verwechslung des filmischen Zeichens mit dem Bezeichneten beim »Filmwahnsinn« beschwört einerseits eine panische Reaktion im apokalyptischen Ausmaß herauf. Dies lässt sich als eine literarische Bearbeitung jener Legende der ersten Zuschauer des Cinématographe begreifen. Die »Kinokrankheit« führt andererseits eine radikale Ausweitung des filmischen Raumes in die Wirklichkeit herbei. Infolge dieser ›Ansteckung‹ verwandelt sich die Lebenswelt selbst in eine Domäne der Unterhaltung, die lediglich ein Lächeln bei den angeblich ›gesunden‹ Beobachtern auslösen soll. Es darf jedoch hierbei nicht übersehen werden, dass diese intellektuellen Beobachter im Feuilleton, welche die eigene Unversehrtheit in keinem Augenblick bezweifeln, unter Umständen gegen die ›Seuche‹ auch nicht gefeit sind. Waren sie doch selbst zumindest mehrmals Filmzuschauer, wie die Tatsache schon beweist, dass die Gestikulation der Mitmenschen sie an die filmischen Körperbilder erinnerten. Die »Kinokrankheit« veranlasst in dieser Hinsicht keinen Weltuntergang, sondern vielmehr die Ubiquität der konsumistisch-unterhaltenden Kinokultur potenziell auf der ganzen Welt. Auf dieser Stufe bedeutet das Kino keinen Eindringling von der bildlichen Außenwelt jenseits der Leinwand mehr, sondern überschneidet sich mit der Sphäre des menschlichen Zusammenlebens selbst. Konsequent weist die »Kinokrankheit« ein weiteres Erscheinungsbild auf, das beim »Filmwahnsinn« in der Groteske nicht vorkam. Es handelt sich um die weit verbreitete, in die massenhafte Mediengesellschaft zugehörige Tendenz zu einer Grenzüberschreitung in gleichsam umgekehrter Richtung. Die Befallenen an der »Kinokrankheit« gehen, wie die Patientinnen im Zürcher Feuilleton, mit fester, doch unbegründeter Überzeugung davon aus, auf die andere Seite der Leinwand hin gelangen zu können. Diese für die moderne konsumistische Medienkultur übliche Erscheinung findet bei Kriegsende in einer Publikation eine bemerkenswerte Prägung: die »Flimmeritis« – eine der letzten Spielarten der ›Kinoseuche‹. In den einleitenden Worten für die gleichnamige Broschüre 1918 definiert Egon Jacobsohn die »Flimmeritis« als eine Seuche, die eine akute Entzündung herbeiführen soll: Wissen Sie eigentlich, was »Flimmeritis« ist? Nein?! Schön. So lassen Sie es sich bitte von mir erklären: »Flimmeritis« ist eine moderne Seuche, die plötzlich sonst ziemlich harmlose und

7 Von der ›Kinopest‹ zur ›Flimmeritis‹

vernünftige Bürger überfällt, wilden Aufruhr und gemeingefährlichen Wahnsinn verbreitet. »Flimmeritis« ist der durch nichts abzuschreckende Wunsch, Filmstar zu werden.201 Dann schlägt Jacobsohn zwar »ein gutes Mittel zur Heilung jener schweren Krankheit« vor: »Der ›Flimmeritispatient‹ schließe sich in sein Kämmerlein ein und überlege ruhig: Was heißt denn überhaupt ›Filmschauspieler‹ sein?«202 Es verwundert demzufolge nicht, wenn das Buch im ersten Blick an eine Abhilfe aus diesem Leiden erinnern sollte. Jacobsohn selbst arbeitet aber seinerzeit als Filmkritiker unter anderem für Der Kinematograph und sollte später als ›Egon Jameson‹ weitere Sachbücher zum Thema Film verfassen. Die ernüchternden Worte eines Fachmanns klingen derart fragwürdig, dass man sie überhaupt nicht ernst nehmen kann. So stellt sich in der Lektüre unmissverständlich heraus, dass hier weder die Bekämpfung der »Flimmeritis« in der Art der Kinoreform noch die (psycho-)therapeutische Behandlung für die Befallenen der »Seuche« intendiert wird. Dieses Büchlein versteht sich vielmehr als eine praxisnahe Handreichung und Orientierungshilfe für die »Flimmeritiskranke[n]«203 , die in die Branche der Filmschaffenden Eingang finden wollen. Dies zeigt sich in der Darstellung der folgenden Seiten, in denen der Autor durch eine Artikelserie darlegt, [w]as jeder vom Kino wissen muß. Hier gibt Jacobsohn die ausführlichen Auskünfte über die Welt des Filmschaffens. Allerdings ist die Rede weniger von den Karrierechancen für die Möchtegernfilmstars, sondern eher vom praktischen Wissen für die angehenden Drehbuchautoren. So umfasst der Themenkreis unter anderem die Arbeitsweise und das Honorar des Drehbuchautors, die filmischen Tricktechniken und die Aufgaben des Filmregisseurs. Parallel zum längeren Literaturverzeichnis,204 anhand dessen man die Filmkunst theoretisch und wissenschaftlich kennenlernen kann, ist das Bändchen mit mehreren Anschriftenverzeichnissen versehen. Nicht nur die Filmproduktionsfirmen sind zusammengestellt, an die man seine Filmideen verschicken kann.205 Beigefügt sind sogar die Adressenlisten der »Filmkünstlerinnen« bzw. -darstellerinnen,206 der »Filmdarsteller«207 und der »Filmregisseure«208 , sodass die Leser mit diesen Eingeweihten der Filmwelt – womöglich persönlich – Kontakt aufnehmen können. Am Schluss wird 201 Jacobsohn, Egon: Flimmeritis. Was jeder vom Kino wissen muß [1918], 3. Aufl., Berlin: Verlag der Illustrierten Film-Woche 1919, S. 5. 202 Ebd. 203 Ebd., S. 6. 204 Ebd., S. 38-46. 205 Ebd., S. 18-21. 206 Ebd., S. 47 f. 207 Ebd., S. 48 f. 208 Ebd., S. 51 f.

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Metaphorologie des Kinos

die zweckmäßige Anleitung für die Bewerber nicht vergessen. Im letzten Teil »Wege zum Film«209 werden je nach dem Fachgebiet, in das man Aufnahme anstrebt, hilfreiche Geheimtipps großzügig zur Schau gestellt. Die thematische Bandbreite reicht von »Filmschauspieler« über »Filmstatist[en]«, »Kinoregisseur«, »Filmschriftsteller«, »Hilfsspielleiter« bis hin zu »Filmvorführer« und »Kinooperateur«. Insofern beabsichtigen Jacobsohns Ausführungen offensichtlich keine Heilung, sondern eine Verschärfung der »Flimmeritis« mit dem Ziel, den Beruf der Filmschaffenden für die ›Patienten‹ realistisch bzw. realisierbar erscheinen zu lassen. Dies hat für Jacobsohn selbst als einen der Insider sicherlich gute Gründe. Denn der (meistens nur fromme) Wunsch der Filmanhänger, in die Kreise der Eingeweihten aufgenommen zu werden, soll in der fortgeschrittenen kinematographischen Kulturindustrie eine wesentliche Quelle der Triebkraft darstellen. Diese Energie erweist sich neben anderem als unabdingbar, um den Filmmarkt weiter anzukurbeln. Bereits in der Einleitung beschreibt Jacobsohn in diesem Sinne die »Flimmeritis« mit einer gleichsam triumphalen Ironie als eine unheilbare Krankheit: »Nun sage mir einer, welcher Medizinmann kann die ›Flimmeritis‹ vollkommen heilen? Der könnte auch ohne Serum berühmt werden!«210 Es ist zwar naheliegend, jedoch vorerst dahingestellt, ob diese Seuchenmetaphorik – wie Sabine Hake konstatiert – zum Zweck der Verspottung der kinoreformerischen inflationären Rhetorik eingesetzt wird.211 Immerhin liegt mit Blick auf Jacobsohns Metapherngebrauch eines doch auf der Hand: Die ›Kinoseuche‹ bildet nun einen konstitutiven Bestandteil der massenmedialen Öffentlichkeit. In der harmlosen Gestalt der »Flimmeritis« ist sie spätestens ab der zweiten Hälfte der 1910er Jahre für den ›gesunden‹ Lauf der Unterhaltungskultur nicht mehr wegzudenken.

209 Ebd., S. 53-58. 210 Ebd., S. 7. 211 Vgl. Hake, Sabine: The Cinema’s Third Machine. Writings on Film in Germany 1907-1933, S. 19.

8 Die kinematographische ›Ansteckung‹ des Theaters. Zum ›intermedialen Bezug‹ der Literatur auf den Film

Im Kinodiskurs der 1910er Jahre geht ein diskursiver Prozess der Immunisierung gegen die ›Kinopest‹ vonstatten. Kino- bzw. filmhistorisch verläuft dieser kulturelle Vorgang weitgehend parallel zur gesellschaftlichen und industriellen Entwicklung des Kinos selbst. In dieser Hinsicht soll die diskursive Immunisierung dann zu einem Endpunkt gelangen, indem sich das Kino schrittweise in die Unterhaltungsindustrie eingliedert und schließlich an der gegebenen Konstellation der Massenkultur maßgeblich beteiligt. Nunmehr fasst es in der kulturellen Landschaft festen Fuß und etabliert sich als eine selbständige, industriell unterfütterte Branche, die mit vielfältigen anderen in einer regen wechselseitigen Beziehung steht. Insbesondere für die Weimarer Kultur nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erweist sich das Kino als wahrhaft konstitutiv. Infolge dieses Entwicklungsprozesses wird das Kino dann nicht mehr als ›krankheitserregender‹ Fremdkörper betrachtet, der die Kulturnation von außen anstecken und dann womöglich im Innern parasitär um sich greifen sollte. Im Gegenteil: Mit der Etablierung und Verankerung der Kinokultur selbst zusammenhängend erscheint die Metapher der ›Kinoseuche‹ in der öffentlichen Diskussion immer weniger unheilvoll und am Ende mutmaßlich bewältigt oder domestiziert. Die ›Bazillen‹ sind demzufolge gleichsam weder desinfiziert noch von Grund auf beseitigt worden. Mit ihnen ist der Volkskörper vielmehr schon längst infiziert. Sie existieren bereits im Innern der Gesellschaft, ohne jedoch noch nennenswerte Syndrome auszulösen. Es sei denn, dass es sich um eine annehmbare, gelegentlich unterhaltsame »Kinokrankheit« bzw. bisweilen unentbehrliche ›Entzündung‹ im Sinne von Begeisterung wie jene »Flimmeritis« bei Filmliebhabern handelt. Der Umstand lässt sich aus einer entgegengesetzten Perspektive folgendermaßen zugespitzt formulieren: Bis Ende des Ersten Weltkrieges vollendet sich der Prozess einer vollkommenen kinematographischen ›Kontamination‹, die gleichzeitig eine Immunisierung gegen die ›Kinopest‹ bedeutet.

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Metaphorologie des Kinos

Auch in denjenigen Teilen der Kinodebatte, die anders als deren kulturtheoretisches Lager weniger rezeptions-, sondern vielmehr produktionsästhetisch ausgerichtet sind, lässt sich im Verlauf der 1910er Jahre ebenfalls der Metapherngebrauch der ›Kinopest‹ bzw. ›-seuche‹ feststellen. Es ist für die vorliegende Studie bemerkenswert, dass man diesen Metaphernformen in den Texten von Bühnenfachleuten über das angeblich konkurrierende Verhältnis zwischen Kino und Theater verstärkt begegnet. Ab 1912 wird insbesondere unter den Theaterkritikern und Bühnenschriftstellern der ›Theater-Kino-Streit‹ heftig ausgetragen. In dieser Debatte lassen sich zwei Schwerpunkte ausmachen. Einerseits kommen hier die distributiven und rezeptionellen Aspekte zur Sprache. In dieser Hinsicht geht es im Streitgespräch um das Kino als den Erzrivalen gegen das traditionelle Theater. Auf dieser Ebene werden unter anderem die schweren wirtschaftlichen Verluste thematisiert, die das Theaterwesen angeblich wegen der Kinoindustrie erleidet. Darüber hinaus richtet sich die Kritik auch gegen den Film als Störenfried unter den Dramatikern oder Produzierenden der Theaterstücke. Hierbei fällt besonders auf, dass die Metapher der ›Kinopest‹ erst dann Verwendung findet, wenn sich die Diskussion um diese produktionelle Fragestellung dreht. In der Pestmetapher schlägt sich einerseits die Besorgnis der Theaterfachleute nieder, die – mitunter namhaften – Bühnenautoren würden vom Kino abspenstig gemacht. Dieselbe Figur verleiht andererseits der ernsten Befürchtung von Theaterkritikern einen markanten Ausdruck, die edle Gattung des Theaterstückes würde durch den Film endgültig ›kontaminiert‹. Im Folgenden soll dieser Verwendung der betreffenden Metapher nicht zuletzt anhand des Werks von Walter Hasenclever nachgegangen werden. Als erklärter »Filmenthusiast« thematisiert und praktiziert der Exponent des dramatischen Expressionismus wiederholt die Grenzüberschreitung zwischen den beiden Mediensystemen. Insbesondere soll hier auf sein Buch mit einem selbstreflexiven Titel, Die Pest. Ein Film (1917/20) eingegangen werden. Dieses Stück soll einen Schauplatz der ›Systemkontamination‹ bilden, auf dem sich ein extremer Fall der intermedialen ›Verseuchung‹ durch die ›Kinopest‹ beobachten lässt.

8.1

Vom ›Krebs‹ zur ›Pest‹. Der Wandel des Metapherngebrauches im ›Theater-Kino-Streit‹

Im ›Theater-Kino-Streit‹ wird der Gebrauch der Krankheitsmetapher durch die kulturpolitisch wie gattungsspezifisch vergleichbare Disposition der beiden angeblichen Konkurrenten besonders stark motiviert. Zum einen behaupten die Theaterleute, dass ihre soziale und ökonomische Existenzberechtigung angesichts der Herausforderung des ›Kinodramas‹ auf dem Spiel steht. In der damaligen Diskussion über die Kinematographie ist ein zweiteiliges Urteil Usus. Einerseits eine –

8 Die kinematographische ›Ansteckung‹ des Theaters

zuweilen ostentative – Würdigung des Kinos als wissenschaftlicher und kultureller Aufklärer, andererseits eine vernichtende Medienschelte des fiktional erzählenden, dichtenden ›Kinodramas‹. Seit der »Wende zur Theatralisierung des Kinos«1 um 1909 wird jedoch die gefühlte bzw. inszenierte Furcht der Literatur- und Theaterbranche vor der aufkommenden Kinoindustrie besonders virulent. Die kollektiven Angstvorstellungen betreffen sowohl das filmische Produkt als auch dessen Abspielstätten. Seitdem nimmt die Besorgnis zu, dass nicht nur die Besucher als Existenzbedingung verloren gingen. Es ist nicht zuletzt der soziale Status der tradierten Theaterkunst, der von dieser neu entstehenden Konkurrenz des ›Kinodramas‹ entzogen zu werden scheint. Das schutzbedürftige, unschuldige ›wir‹ weist diesmal von daher nicht nur auf die deutsche Kulturnation wie beim protektionistischen Nationalismusdiskurs hin. Es geht hier insbesondere um die kulturelle bzw. literarische Elite, die mehr oder minder mit der Theaterbranche in Berührung steht. Sie fühlt sich in Bezug auf den eigenen gesellschaftlichen Status sowie die wirtschaftliche Grundlage vom Theater abhängig. Die Kinoreformer sind um den aktuellen Stand der verwildernden Sittlichkeit oder des verwahrlosenden künstlerischen Geschmacks als solchen angeblich uneigennützig bekümmert. Im Gegensatz hierzu geht es für die Bühnenfachleute folglich zwar implizit und verdeckt, doch beharrlich und unaufhörlich auch – und eventuell hauptsächlich – um das gemeinsame Interesse der Theaterzunft. Das Aufkommen des längeren Spielfilms als direkten Konkurrenten erscheint den Interessengruppen der Bühnenfachleute so bedenklich und beängstigend, dass ab 1912 aus dem Krisenbewusstsein ein koordinierter Protest gegen die dramatisch fiktiven Filme resultiert. In diesem Ausmaß findet die Aktion nichts Vergleichbares bei anderen Berufsgruppen (etwa bei Dichtern bzw. Romanciers). Das Kino als der perniziöse Feind des Theaters, der sich nun in Gestalt des ›Kinodramas‹ – um wieder mit Heimann zu sprechen – »frech in die Sphäre des Dramas« dränge, weist lebensbedrohliche Züge auf. Angesichts dieser ernsten Gefahr scheint ein fester Zusammenhalt der Gleichgesinnten gerade vonnöten zu sein. In diesem kulturindustriellen Feldzug nimmt die Krankheitsmetapher eine regelrecht zentrale Stellung ein. Bei all diesen phobischen Reaktionen kann es sich jedoch sehr wahrscheinlich um einen projektiven Abwehrmechanismus handeln, der sich in der Krankheitsmetapher niederschlägt. Denn gegenständlich sehen die Schriftsteller der Theaterfraktion eigentlich nur die Tatsache eines »Besucherschwund[es]« vor sich. Siegfried Kracauer etwa berichtet rückblickend, dass »[u]m 1910 […] das Theater der

1

Diederichs, Helmut H.: »Frühgeschichte deutscher Filmtheorie. Ihre Entstehung und Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg«, S. 40. Hierzu siehe oben in Kapitel 7.

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Metaphorologie des Kinos

Provinzstadt Hildesheim den Ausfall von 50 Prozent der Besucher zu verzeichnen«2 habe. Diese Welle von Besucherrückgängen breitet sich anscheinend reichsweit aus und hält weiter an. So besingt 1912 der Rechtsanwalt Max Epstein, der selbst nächstes Jahr das ›Deutsche Künstlertheater‹ in Berlin-Tiergarten übernehmen sollte, in den beiden Aufsätzen vom Februar und dem März ein Klagelied über die Misere der deutschen Theaterlandschaft. Ihm zufolge »geht [es] in Berlin und auch in anderen großen deutschen Städten den Theatern augenblicklich schlecht, sogar sehr schlecht«3 : [D]er Direktor des Theaters in Naumburg [sei] nicht mehr imstande […], seine Bühne weiter zu führen, und dem Bühnenleiter in Chemnitz ist es jüngst ebenso ergangen. Vor einigen Tagen folgte das Neue Theater in Halle nach. Hier handelt es sich um Theater, die bisher sehr gut bestanden haben. Viele andre Beispiele ließen sich noch zufügen.4 Über die möglichen Gründe dieses »Theaterelend[s]« stellt Epstein eine Reihe von Überlegungen an. Der klimatische Faktor der sommerlichen »Hitze« und die politischen Ereignisse wie die zweite Marokkokrise (»Marokkofrage«) sowie der Ausbruch des Italienisch-Türkischen Krieges (»Tripolis«) des vergangenen Jahres können zwar nachteilig wirken. Am Ende führt Epstein jedoch »die Kinematographen« auf, diesen »allen Theatern« gegenüber »böseste[n] Feind«5 . Ohne etwa mit einer einzigen Statistik zu begründen, geht er davon aus, »daß nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland die Theaterdirektoren unter der Konkurrenz der Kinematographen schwer leiden« sollen. Wer über die aktuellen Zustände des deutschen Theaterwesens nachdenken will, komme »über die ›Kientöppe‹ nicht hinweg«6 , so Epstein. Da in seinen Augen ein »Kinematographenkrach« vor der Tür stehe, so gehöre es »zu den Aufgaben einer guten Polizei […], die berechtigten Interessen der Theater gegen eine Ueberhandnahme der Lichtspielhäuser zu schützen«7 . Dementsprechend richtet Epstein seinen zweiten Aufsatz als einen »[o]ffene[n] Brief an Herrn Oberregierungsrat von Glasenapp«8 . Hierin stellt Epstein eine Reihe von Forderungen nach rigoros restriktiven Maßnahmen gegen das Kino, weil die reichsweite 2 3 4 5 6 7 8

Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, S. 26 f. Epstein, Max: »Das Theatergeschäft. Theaterorganisation«, in: Die Schaubühne 8 (1912), S. 117-120, hier S. 117. Epstein, Max: »Das Theatergeschäft. Offener Brief an Herrn Oberregierungsrat von Glasenapp«, in: Ebd., S. 267-269, hier S. 267 f. Epstein: »Das Theatergeschäft. Theaterorganisation« (wie Anm. 3), S. 117. Epstein: »Das Theatergeschäft. Offener Brief« (wie Anm. 4), S. 269. Epstein: »Das Theatergeschäft. Theaterorganisation« (wie Anm. 3), S. 117. Der oberste Berliner Theaterzensor von Glasenapp bedeutet für die Kinoreformer und gegner anscheinend einen derartigen Hoffnungsträger, dass auch Hellwig ihm 1914 seine

8 Die kinematographische ›Ansteckung‹ des Theaters

Notlage der Theater ihm zufolge im Ganzen darauf zurückzuführen ist. Besonders hervorzuheben gilt es den Anspruch auf das Verbot der Ladenkinos bzw. der Kientöppe, die keine »selbständig gebaute[n] Theater« sind. »Verbieten Sie, bitte, alle Kinematographen in Läden und mitten in Häusern. Damit wäre ein Hauptunglück beseitigt«. Sind doch »die Kinematographen«, wie sie ihm erscheinen sollen, »[d]er Krebsschaden für alle Theater […]. Sie sind der Ruin für die gesunde Kunstentwicklung, sie untergraben nicht nur das Interesse des Publikums für ein richtiges Theater, sondern sie entziehen dem Publikum auch die Mittel, ein gutes Theater zu besuchen.« Um in diesem Bild zu bleiben: Frei von Konzessionspflichten, die für die herkömmlichen Theater reichsweit verbindlich sind, wuchert auf Schritt und Tritt die kinematographische Krebserkrankung, so Epstein. Dieser aktuell vonstattengehende beschleunigte Verlauf einer Metastasierung würde »alle Bühnenkunst […] bald vernichten«9 . Darum müsse man die bereits vom Krebs heimgesuchten Organe herausnehmen. Die Metaphernwahl des Krebses weist in diesem Zusammenhang mehrere bemerkenswerte Konnotationen auf. Zum einen ist die Krebsmetapher den politischen Intentionen der Theaterlobby von Nutzen. Epstein projiziert die inneren Ursachen von Problemen auf die krebsartigen Geschwülste an den gesellschaftlichen Faktoren oder Organ(isation)en. Indem diese sich durch administrativ-chirurgische Eingriffe unschwer entfernen lassen, muss man den eigenen bzw. eigentlichen Mängeln nicht ins Auge sehen. Ein Abschneiden der kulturellen Auswüchse oder eine Vivisektion des eigenen Kollektivleibes wird aber durch eine dafür zuständige öffentlich-amtliche Instanz erst möglich. Das Kino bietet hier eine willkommene Projektionsfläche an, mit deren Hilfe sich die Theaterzunft von der Schuld am eigenen Elend zu entlasten und günstige Regelungen von der offiziellen Seite anzuregen vermag. An der Stelle, an der Epstein vom Oberregierungsrat zudem eine Zurückzahlung des »Sperrfonds«10 verlangt, scheint ihm das Kino nur noch ein Vorwand zu sein, der für die Zwecke der Theaterbranche instrumentalisiert wird. Um wieder mit Susan Sontag zu sprechen, stellt Krebs – zum Zweiten – eine rätselhafte, »mysteriöse Krankheit von Individuen« dar, die ihre einzelnen Opfer nahezu grundlos und unmotiviert zu treffen scheint. Dieser akzidentelle Charakter der Erkrankung lässt einerseits die chirurgische Behandlung des Abschneidens umso plausibler wirken. Die Entfernung der an Krebs leidenden Organe setzt andererseits voraus, dass die Krankheit der Person des Befallenen – dem Individuum im nachdrücklichen Sinne – letztlich nichts anhaben kann. Mit Blick auf diese

9 10

Publikation Die Filmzensur zueignet, vgl. Hellwig, Albert: Die Filmzensur. Eine rechtsdogmatische und rechtspolitische Erörterung, S. 3. Epstein: »Das Theatergeschäft. Offener Brief« (wie Anm. 4), S. 268 f. Ebd., S. 269.

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Metaphorologie des Kinos

semantischen Register wird die Krebsmetapher in Epsteins Offene[m] Brief keineswegs von ungefähr gewählt. Denn die Interessengemeinschaft der Theaterfachleute wird hier nicht primär als eine Ansammlung der einzelnen Menschen aufgefasst. Sie stellt vielmehr gleichsam einen individuellen Patienten bzw. eine ›Körperschaft‹ im wahrsten Sinne des Wortes dar. Es ist daher nur konsequent, dass Epstein vom Oberregierungsrat Glasenapp ausdrücklich Beistand für die Vereinigungen von Theaterfachleuten verlangt: »Unterstützen Sie die Verbände der Direktoren und Schauspieler, die sich jetzt gegen den Unfug dieser geistestötenden Vorführung einer Unmasse von Schnellphotographien zusammentun.«11 In dieser Forderung wird offensichtlich auf einen bestimmten zeitgenössischen Vorfall im Erscheinungsmonat des Offene[n] Brief [es], im März 1912, angespielt. Der »Deutsche Bühnenverein« und die »Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger« beschließen zusammen mit dem »Verband deutscher Bühnenschriftsteller« auf dessen Generalversammlung, »jede Unterstützung der kinematographischen Werke durch die Angehörigen der drei großen Verbände bis auf weiteres«12 zu untersagen. Die zusammengeschlossenen Zweckverbände des deutschen Theaterwesens, die sich jetzt in einer einzigen ›Körperschaft‹ formieren, versuchen sich den kinematographischen Krebs so weit wie möglich vom Leibe zu halten. Dieser Zusammenhalt kommt jedoch durch einen Schicksalsschlag abrupt zum Ende. Gemeint ist der unerwartete Kartellvertrag zwischen dem ›Verband deutscher Bühnenschriftsteller‹ und einer der damals größten Filmfirmen Deutschlands, der Projektions-AG Union (PAGU), vom November desselben Jahres. Angesichts dieser Konversion der Dramatiker zum Kino steigert sich die Spannung des ›Theater-Kino-Streites‹ immer drastischer. Das Aufkommen des ›Autorenfilms‹13 mit der Premiere des Films Der Andere14 vom Januar 1913 bedeutet so gut wie einen Höhepunkt der Debatte. Durch diese beiden aufsehenerregenden Vorfälle wird das oben angeführte Verbot de facto aufgehoben bzw. zumindest sichtlich übertreten. Infolge des Ersteren sollen »die deutschen Dramatiker«, die ihre Filmidee an

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Ebd. Anonymus: »Die Bühnenwelt gegen die Kinokonkurrenz III«, in: Lichtbild-Bühne 14 (6. April 1912), S. 13, zitiert nach Diederichs, »Frühgeschichte« (wie Anm. 1), S. 44. Der Vorsitzende des Bühnenschriftstellerverbandes ist der Dichter Ludwig Fulda. Unter dieser Bezeichnung verstand man »ein mit direkter (Originaldrehbuch) oder indirekter (Lieferung der literarischen Vorlage) Schriftstellerbeteiligung entstandenes Kinodrama«, vgl. Diederichs: »Frühgeschichte« (wie Anm. 1), S. 35. Schon im November 1913 teilt die Nordische Films Co, die deutsche Filiale der Kopenhagener Nordisk, in einem Rundbrief mit, dass sie namhafte Schriftsteller, vor allem Gerhart Hauptmann und Arthur Schnitzler bereits für die Mitarbeit »gewonnen« habe. Vgl. Anonymus: »Rundschreiben der Nordischen Films Co«, zitiert nach Ludwig Greve/Margot Pehle/Heidi Westhoff (Hg.), Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm, S. 129.

8 Die kinematographische ›Ansteckung‹ des Theaters

die PAGU liefern, unter anderem »sofort 1000 M. à conto für jede Lieferung erhalten«15 . Die Bühnenschriftsteller können sich in Filmdichter verwandeln, die nun dafür zuständig sein sollen, die Kinodramen zu den ›Autorenfilmen‹ aufzuwerten und damit salonfähig zu machen. Der Film Der Andere stellt eines der ersten und prominentesten Beispiele dieser literarisch und künstlerisch ›veredelten‹ Filme dar. Zumal die Handlung des Filmes auf das Theaterstück des etablierten Dramatikers Paul Lindau zurückgeht, der sein eigenes Werk zudem in die Filmidee umarbeitet. Hinzu kommt der renommierte Bühnendarsteller und Ifflandringträger Albert Bassermann, der für den Film die Hauptrolle spielt. Es muss für die konservativen Literaten und Theaterleute schließlich einer Hiobsbotschaft gleichkommen, dass der vorjährige Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann bei der Verfilmung seines eigenen Romans Atlantis (1912) durch die Nordisk aktiv mitarbeitet.16 Die Interessengemeinschaft der literarischen und theatralischen Intelligenz galt bis dahin als Kraftzentrum der Protestbewegung gegen die Filmindustrie. Der Erklärungsbedarf zu ihrem plötzlichen Kurswechsel macht unter den Theaterfachleuten eine umso klarere, eindeutigere Zurückführung der Ursache unerlässlich. Als eine Reaktion auf diese heiklen Vorkommnisse wird das Image des Krebses, der die Theaterlandschaft von innen her erodieren soll, gleichsam nach außen projiziert und von der ›Kinopest‹ abgelöst. Diese soll die Theaterlobby nun im Schreckensbild der grassierenden Epidemie heimsuchen. Die verheerenden Folgen der Ansteckung durch die ›Kinopest‹ lassen sich in dieser metaphorischen Rede auf zweierlei Ebenen feststellen. Zum einen verbreitet sich die ›Pest‹ unter dem Publikum. Das Kino bedeutet hierbei nicht mehr die schlimmste unter vielen anderen Ursachen eines »Theaterelend[s]«, sondern stellt nunmehr den einzigen Todfeind des Theaters dar. So sieht Erich Oesterheld in seinem Aufsatz, der im Inhaltsverzeichnis des Heftes von Franz Pfemferts Aktion als Die Kinopest angeführt wird, »Theater und Kino [sich] als extreme Pole feindlich und unversöhnbar« gegenüberstehen. Denn, so konstatiert der »Leiter einer bekannten Bühnenvertriebsfirma«, »ein Hinströmen zum Kino heisst ein Abwenden vom Theater«17 . 15

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Bab, Julius: »Die ›Veredelung‹ des Kientopps«, in: Die Gegenwart 41 (1912), S. 740-742, zitiert nach der Onlineedition unter http://earlycinema.dch.phil-fak.uni-koeln.de/documents/create_rtf/1179 (zugegriffen am 1.3.2020), hier S. 1. Atlantis (DK 1913, R: August Blom). Karl Ludwig Schröder und Axel Garde übernehmen das Drehbuch, nachdem sich Hauptmanns Fassung als »unbrauchbar« herausstellte. Greve/Pehle/Westhoff (Hg.): Hätte ich das Kino! (wie Anm. 14), S. 132 (Herv. getilgt). Zur Verfilmung vgl. Göktürk, Deniz: »›Atlantis‹ (1912) oder: Vom Sinken der Kultur«. Keppler-Tasaki meint, dass Hauptmanns Renommee sogar den heiß umstrittenen ersten Autorenfilm, Der Andere, »rasch in den Schatten« stelle, vgl. Keppler(-Tasaki), Stefan: »›Bildersturm‹: Gerhart Hauptmann und das Kino«, S. 79. – Zu Hauptmanns Stellungnahme zum Kino als ›Volksnahrungsmittel‹ ausführlich in Kapitel 6. Oesterheld, Erich: »Wie die deutschen Dramatiker Barbaren wurden«, in: Die Aktion 3 (1913), Sp. 261-265, hier Sp. 264. Der Herausgeber Pfemfert, der in seinem Vorwort (Sp. 261) der Le-

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Um die tiefgreifenden Auswirkungen dieses Umschwungs, der im ›TheaterKino-Streit‹ auf die Pestmetapher zurückgreifen lässt, zu illustrieren, sei an den Theaterkritiker und Dramatiker Julius Bab erinnert. Die Wende zum Kino ergreift ihn so sehr, dass Bab aus diesem Anlass seine Überzeugung – zumindest teilweise – ins Gegenteil verkehren muss. Im Artikel Die Kinematographen-Frage vom September 1912 stellte Bab noch – wohl mit Recht – fest, dass das Kino »lokal und sozial Schichten der Bevölkerung erreicht, die das Theater bisher nie fassen konnte«18 . In der späteren Fassung desselben Aufsatzes vom Mai 1913 – also nach dem schicksalhaften Kartellvertrag sowie dem Autorenfilm Der Andere – verleiht er einer radikal veränderten Ansicht Ausdruck. So würden die »Kinematographenunternehmen«, »auf eine riesige Filmindustrie und viele tausend ›Lichtspielbühnen‹ gestützt, die geistige und geldmäßige Kraft von Massen« aufsaugen, »die bisher wohl für irgendeine Theaterkunst in Betracht kamen«19 . Seine höchst wandelbare Einstellung lässt das Ausmaß der Schockwirkung durch »diese[n] plötzliche[n] Umschwung der Dinge« vermuten. In einem anderen Artikel gleich nach dem Ereignis vom November 1912 bezeichnet Bab dies als »eine grosse Blamage der deutschen Dramatiker«: »Ihr habt eure Erstgeburt für ein Linsengericht verkauft.«20 Babs Fluch gegen seine abtrünnigen Kollegen weist auf eine weitere folgenschwere Implikation der neu gewählten Metapher der ›Pest‹ hin, die anders als der ›Krebs‹ eine epidemische Krankheit par excellence darstellt. Oesterheld verwendet die Metapher der Kinopest zwar in erster Linie auf der Ebene der Rezeption. So bezieht er die Figur auf das »Hinströmen zum Kino« oder »das immer grösser werdende Lichtspielpublikum«, das ihm zufolge in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur »Pleite«21 des Theaters stehe. Insofern bedeutet die Kinopest auch hier eine Infektionskrankheit, die ›epidemisch‹, i.e. ›im ganzen Volk verbreitet‹ wird. Bei näherem Hinsehen scheint die titelgebende Metapher des Virulenten im Artikel, der thematisch um den Sinneswandel des Verbandes der Bühnenschriftsteller bzw. die Frage kreist, [w]ie die deutschen Dramatiker Barbaren wurden,22

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serschaft den Autor vorstellt, ist seinerseits als der Verfasser des kinogegnerischen Aufsatzes Kino als Erzieher (1911) bekannt. Siehe unten. – Oesterhelds Artikel wird später abgedruckt in Kaes, Anton (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929, S. 96100. Gleichwohl wird hier wegen des alternativen Titels Die Kinopest im Inhaltsverzeichnis des Aktion-Heftes der Erstdruck bevorzugt. Bab, Julius: »Die Kinematographen-Frage« [1912], hier S. 311. Bab, Julius: »Die Kinematographen-Frage«, in: Die Hilfe 19 (1913), S. 280-283, hier S. 280. Vgl. Güttinger, Fritz: Der Stummfilm im Zitat der Zeit, S. 26 f. Bab: »Die ›Veredelung‹« (wie Anm. 15), S. 1. Oesterheld: »Wie die deutschen Dramatiker« (wie Anm. 17), Sp. 264 f. Die Überschrift des Artikels interessiert auch im Kontext der Regressionsmetapher. Sie scheint jedoch insofern einen Ausnahmefall zu bilden, als die phylogenetische Regression in die »Barbaren« im Gegensatz zu den in Teil II behandelten Beispielen hier nicht den Rezipienten, sondern den Autoren bzw. Produzierenden zugesprochen wird.

8 Die kinematographische ›Ansteckung‹ des Theaters

jedoch zumindest unterschwellig auch für die Produktion sowie die Produzierenden zu gelten. Eigentlich sei es »ernste Pflicht, besonders der Bühnenschriftsteller« gewesen, so Oesterheld, gegen die Kinopest energische Massregeln zu treffen, zumal da jene günstigerer Existenzbedingungen sich erfreuen, als die Theater sie je gekannt. Aber die moneymaker-Natur des Menschen nützt mit natürlicher Selbstverständlichkeit die Chancen aus, die äusseren Nutzen und Vorteil mit sich bringen.23 Mit dem »durch die Dramatiker und ihren Verband bewirkten Umschwung der Verhältnisse« steht der lawinenartigen Konversion der Dramatiker zum Kino nichts mehr im Weg. Denn infolge des Kurswechsels werden »die Bühnendichter […] aufgefordert«, »auch Kinodichter zu werden und ihre Tantiemen durch finanziell glänzende Abschlüsse mit ersten Filmfabriken zu erhöhen«24 . Hinzu kommt die entscheidende Schreckensnachricht, »dass die Bühnendichter von Rang und Wert von jetzt ab auch für’s Kino arbeiten würden«: Und ist es nicht schimpflich, dass Dramatiker, auf deren Fähigkeiten die Schaubühne bauen konnte, und die nicht mehr auf jeden Pfennig angewiesen sind, sich skrupellos in den Dienst der schlechten Sache stellen, dass ein Hauptmann, ein Schnitzler üblen Filmdichtern ihr mörderisches Handwerk sanktionieren?25 Für den Autor dieses Aufsatzes treibt die titelgebende ›Kinopest‹ nicht nur »das spärliche Theaterpublikum mit Gewalt aus dem Parterre«. Sie grassiert vielmehr gleichsam auch hinter der Leinwand bzw. unter dem »Volk von Dichtern und Denkern, das seine dramatischen Ideale in der Bilderreportage sieht«26 . Die ›Kinopest‹ lässt sich nunmehr auch als eine Epidemie der literarischen und dramatischen Produzenten verstehen, welche sich zunehmend in »Kinodichter« verwandeln. Insofern formiert die kulturelle Elite keine solidarische »Phalanx«27 mehr, die eine beinah unteilbar bzw. ›individuell‹ vereinigte ›Körperschaft‹ bedeuten soll. Sie erscheint vielmehr nur noch als eine Ansammlung von Personen mit verschiedenen Wert- und Zielvorstellungen: als eine Masse, die nunmehr auch die literarische Intelligenz einschließt und eventuell von einer ›Epidemie‹ als einer Krankheit des Volkes oder der Gemeinschaft befallen wird. Die neue Metapher der ›Kinopest‹ im ›Theater-Kino-Streit‹ weist auf das traumatische Erlebnis einer Spaltung hin, das das schockierende Ereignis vom Kurswechsel der Bühnenschriftsteller verursacht. Die Theaterlobbyisten müssen sich nun mit der Tatsache konfrontieren, dass selbst

23 24 25 26 27

Ebd., Sp. 264. Ebd., Sp. 265. Ebd. Ebd. Ebd., Sp. 263.

299

300

Metaphorologie des Kinos

die repräsentativen Dramatiker und die höchst bewunderten Dichter sich dem Kino zuwenden können. Die ›Kinopest‹ wird in diesem Kontext heraufbeschworen, um den unakzeptablen Umstand äußeren ›Bazillen‹ projizierend zuzuschreiben und auf diese Weise notgedrungen damit auszukommen.

8.2

Die Ansteckungswelle unter den Dramatikern. Zu Max Reinhardt als ›Infektionsträger‹ der ›Kinoseuche‹

Von der Auswirkung der um sich greifenden ›Kinopest‹ gegen die literarisch bzw. dramatisch Produzierenden lässt sich nicht nur in kulturpolitischer und -industrieller Hinsicht sprechen. Schon vor der – zumindest konstatierten – zunehmenden Bekehrung der Dramatiker zu den »Kinodichter[n]« findet die kinematographische ›Kontamination‹ gleichsam auf der gattungspoetologischen und intermedialen Ebene statt. So stellt der Schriftsteller und »selber dramatische Dichter«28 Paul Ernst in einem Aufsatz vom März 1912 fest, dass diese Konversion der Bühnendichter zum Kino längst ein offenes Geheimnis ist. Es erscheint außerdem bedeutungsschwer, dass dieser Text nahezu gleichzeitig mit der angesprochenen Generalversammlung der literarischen und theatralischen Interessengemeinschaft publiziert wird. Auf dieser Sitzung beschließt man zwar, dass jegliche Mitarbeit der Theaterleute am Film untersagt wird. Dem strengen Neoklassizisten zufolge verweisen die Theaterstücke der Zeit jedoch bereits auf eine latente, doch sichtbar vorhandene ›filmdramatische‹ Tendenz in der deutschen Theaterlandschaft. Auch für Ernst soll es eine gefühlte Konkurrenz des Kinematographen sein, welche »die meisten Theater zu den verzweifeltsten Kunststücken ihre Zuflucht nehmen« lassen, »um Zuschauer zu bekommen«29 : In der letzten, augenblicklich wohl zu ihrem Ausgang eilenden Phase des Berliner Theaterlebens, bei der Reinhardtschen Theaterleitung, war die letzte Konsequenz gezogen: man führte scheinbar Dichtwerke auf, aber die Art der Aufführung war so, dass vom Dichtwerk nicht viel mehr zu spüren war und nur eine Belustigung für den Zuschauer übrigblieb […].30 Auf diesen Trend reagiert Reinhardt endgültig, so Ernst, »indem er Pantomimen und ähnliches aufführt«. Mit dieser angeblich »verzweifeltsten« Strategie vollzieht sich jedoch unmerklich und ›verdeckt‹ eine intermediale Grenzüberschreitung.

28 29 30

Ernst, Paul: »Kinematograph und Theater« [1912], in: Fritz Güttinger (Hg.), Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, S. 66-69, hier S. 67. Ebd., S. 66. Ebd., S. 68.

8 Die kinematographische ›Ansteckung‹ des Theaters

Denn hier hört ein Theaterstück auf, ein »Dichtwerk« zu sein, und verlässt somit den Bereich von Dichtung hin zur Domäne von »Belustigung«. Diese in den Theaterstücken von Bühnendichtern erstrebten Effekte könne jedoch »der Kinematograph auch bieten, zum Teil besser bieten, jedenfalls aber immer billiger«31 . Mit Blick auf diesen Wandel bemerkt Ernst folgerichtig, dass auf den Brettern, welche die Welt bedeuten sollen, bereits – wenn nur in latenter Weise, so doch de facto – Filmstücke aufgeführt werden: Die Skribenten, welche die gewöhnlichen Theaterstücke schreiben, beginnen ja auch bereits, Stücke für den Kinematographen zu verfassen, und nur an ihrer gänzlichen Talentlosigkeit liegt es, dass die Vorteile des Kinematographen in diesen Stücken noch nicht ausgenutzt sind und wir in ihnen bis jetzt nur pantomimische Theaterstücke der alten Art sehen; […].32 Die »Skribenten« konvertieren zu diesem Zeitpunkt zwar scheinbar (noch) nicht zu den wirklichen »Kinodichter[n]« und »verkauf[en]« dem Filmunternehmen (noch) keine Filmideen. Die Skripte, die sie als »gewöhnliche Theaterstücke« ausgeben sollen, weisen in Ernsts Augen jedoch so explizit filmische Züge auf, dass sie an Filmideen oder »Stücke für den Kinematographen« erinnern. Wenn Ernst hier auch keine metaphorische Figur der ›Kinopest‹ oder ›-seuche‹ verwendet, diese Theaterstücke kommen ihm nichtsdestotrotz zumindest wie eine Mixtur bzw. Hybride zwischen Drama und Film33 vor. Ist von einer Mischung des Theaters mit dem Film die Rede, so drängen sich etwa Erwin Piscators berühmte Verfahren einer Filmprojektion in den Bühnenraum auf. Sein »Regietheater« will bei verschiedenen Aufführungen »unter Verwendung filmischer Elemente die monoperspektivische Geschlossenheit der Guckkasten-

31 32 33

Ebd. Ebd., S. 68 f. Das »Filmähnliche« konstatiert Theodor Wiesengrund Adorno zwar am wagnerschen Musikdrama, aber dies besagt nicht, dass er hier eine – gleichsam vorweggenommene – intermediale Grenzüberschreitung von der Musik hin zum Film erkennen würde (»Versuch über Wagner«, S. 98). Auch Irina Rajewskys Systematik des Intermedialen zufolge lässt sich aus Adornos Auslegung kein intermedialer Bezug des Musikdramas auf den Film ableiten. Im Gegensatz zu den Stücken der »Skribenten«, die gerade in der Zeit des heftigen ›TheaterKino-Streites‹ entstehen, werden wagnersche Musikdramen »längst vor der Erfindung der Kinematographie« ins Leben gerufen (ebd., S. 102). Es ist demnach logisch inkonsequent, wenn bei einem Musikdrama eine »Markierung« der intermedialen Bezugnahme bzw. ein »›Intermedialitätssignal‹« auf den Film überhaupt vorhanden wäre (Rajewsky: Intermedialität, S. 82). Adornos ideologiekritische Annahme, im Musikdrama »die Geburt des Films aus dem Geiste der Musik« auszumachen, verweist vielmehr auf die zugrundeliegende Logik der spätkapitalistischen Kulturindustrie, die über die Mediengrenze hinweg und in diesem Sinne transmedial zum Tragen kommt (Adorno: »Versuch«, S. 102).

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Metaphorologie des Kinos

bühne aufbrechen«34 . Um diese mediale Verknüpfung zu erleben, muss man jedoch nicht unbedingt das Aufkommen avantgardistischer Experimente der 1920er Jahre abwarten. Als ein frühes, bahnbrechendes Beispiel des theatralischen Einsatzes des projizierten Filmbildes ist die ›(Kino-)Bühnenschau‹ bzw. das ›Kinovarieté‹ anzuführen. Die Kombination von Film und Livedarbietungen wird erstmals im August 1913, sogar am selben Abend wie die Premiere des Autorenfilms Der Student von Prag, gleichsam als dessen Gegenpol aus der Unterhaltungsbranche in Deutschland eingeführt und »stürmisch gefeiert«35 . Vergleichbare Aufführungspraktiken beschränken sich indes nicht auf diesen vorwiegend humoristischen Einsatz für ein »Erlebnis des Medienwechsels«36 . In einem Artikel schlägt etwa der Schriftsteller Marx Möller nicht nur eine produktive Mitarbeit von Theater und Film vor: »Es ist aber möglich, daß nicht nur Schauspielkunst und Film lernen, wo ihre Wege sich scheiden, sondern daß sie gar hin und wieder einander helfend ergänzen!«37 Als einen konkreten Ansatzpunkt erwähnt Möller etwa eine Szene aus dem kanonischen Werk schlechthin, »wo der Erdgeist im ›Faust‹ in seltsam überlebensgroßer Art nicht gespielt, sondern projiziert würde«. Bereits im Artikel von 1913, d.h. demselben Jahr wie die erste Berliner Umsetzung der ›Bühnenschau‹, reicht die Infiltrierung des Theaters durch den Film so weit, dass Möller sogar festzustellen vermag: »Manche derartige Versuche haben ja schon Erfolg gehabt.«38 Diese Exemplare einer ›Medienkombination‹39 von Theater und Film scheinen weder eine gereizte Reaktion der konservativen Theaterleute noch eine affektge34 35

36 37 38

39

Heller, Heinz-Bernd: »Literatur und Film«, S. 185. Berg, Jan: »Die Bühnenschau – ein vergessenes Kapitel der Kinoprogrammgeschichte«, S. 25, sowie Müller, Corinna: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912, S. 227 u. 350, Anm. 297. – Zu Tucholskys innovativem und experimentellem Entwurf der ›Bühnenschau‹ siehe oben in Kapitel 5. Berg: »Die Bühnenschau« (wie Anm. 35), S. 26. Möller, Marx: »Film und Schauspielkunst. Eine Betrachtung«, in: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt (1913), S. 273 f., 276, hier S. 274. Ebd., S. 276. Sogar noch früher, 1909, wird – allerdings vonseiten der Kinobranche – ein Vorschlag gemacht, für »eine bedeutsame Verbesserung unserer Faustaufführungen« den Kinematographen einzusetzen. Weisse, Kurt: »Eine neue Aufgabe für den Kino«, in: Der Kinematograph nebst Beiblatt Aus dem Reiche der Töne. Fachzeitung für Kinematographie, Phonographie und Musik-Automaten 142 (15. September 1909), unpaginiert. 1910/11 wird dann über die Umsetzung dieses Plans berichtet: »Neuerdings wurde es versucht, Szenen wie die Walpurgisnacht im ›Faust‹ kinematographisch darzustellen.« Ichak, Frida: »Kinematograph und Wissenschaft«, in: Arena. Oktav-Ausgabe von Über Land und Meer 1910/11, S. 560-565, hier S. 562. Diese definiert Rajewsky als »die Konstellation des medialen Produkts, d.h. die Kombination bzw. das Resultat der Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, die in ihrer Materialität präsent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur (Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen« (Rajewsky: Intermedialität [wie Anm. 33], S. 15; Herv. getilgt).

8 Die kinematographische ›Ansteckung‹ des Theaters

ladene Verwendung der Metapher zu evozieren. Bei einer formalen Annäherung des Theaterstückes an ein fremdes Mediensystem des Films ist eher das Gegenteil der Fall. Dieser Umstand ist gerade auf die ›manifeste‹ Art der Intermedialität bei der ›Medienkombination‹ zurückzuführen, die zur ›verdeckten‹40 Bezugnahme kontrastiert. Es kommt metaphorologisch nicht von ungefähr, dass Irina Rajewsky für eine typische Sorte des ›verdeckten‹ intermedialen Bezuges den Terminus ›Systemkontamination‹ wählt. Denn anhand dieses Begriffes ist man in der Lage, die »Veränderung des kontaktnehmenden Systems durch Einbeziehung altermedialer Kommunikations- und Darstellungsprinzipien«41 hervorzukehren. Insofern leuchtet es ein, dass ein innerer Wandel, der von einem äußeren Agenten ausgelöst wird und ›verdeckt‹ unter der Hand vonstattengeht, die Imagination einer ›Kontamination‹ heraufbeschwört. Es ist zudem leicht nachzuvollziehen, dass diese intermediale ›Kontamination‹ für die konservativen Fürsprecher der theatralischen Interessengemeinschaft im ›Theater-Kino-Streit‹ an eine unauffällig schleichende und umso gefährlichere ›Verseuchung‹ erinnert. In diesem Sinne kann es wohl kein Zufall sein, dass Ernst die Beobachtung einer ›verdeckten‹ gattungsbezüglichen Grenzüberschreitung gerade im Kontext seines Eindrucks von den Theateraufführungen »bei der Reinhardtschen Theaterleitung« anstellt. Kongenial nennt P.E. Kipper zwei Jahre später, d.h. bereits nach jenem »Umschwung«, den Infektionsträger nun dezidiert beim Namen, der die ›Kinopest‹ unter den Dramatikern verbreiten soll: Max Reinhardt. In seinem Aufsatz Unser Theater und das Wort vom Mai 1914 geht Kipper von einer ähnlichen Voraussetzung wie Oesterheld aus und spricht zuerst einmal in Bezug auf die Rezeptionsebene von der »Kinoseuche«, die »das Theater zu verheeren droht«42 . Der Verfall des Theaters hängt jedoch auch für ihn mit der seuchenartig um sich greifenden Konversionswelle der Dichter zum Kino unauflöslich zusammen. Der Theaterkritiker beobachtet die »gähnende Leere in Berliner Theatern« sowie die »Zusammenbrüche von Direktionen infolge mangelhaften Theaterbesuchs«. Diese aufführungsbezogenen Phänomene sollen Hand in Hand gehen mit den »deutschen Dramatiker[n]«, die »ja schließlich Hals über Kopf, wie in einem Rausche, Fürsprecher des Films und Dienstvertragene des Lichtspielkapitals geworden«43 seien.

40

41 42 43

Die Differenzierung der ›manifesten‹ und der ›verdeckten Intermedialität geht auf Werner Wolf zurück. Das Unterscheidungskriterium liege darin, ob »die beteiligten Medien als solche an der Werkoberfläche […] erhalten und unmittelbar erkennbar« bleiben: Wolf, Werner: Art. »Intermedialität«, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 5., aktualis. u. erw. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 344-346, hier S. 345. Rajewsky: Intermedialität (wie Anm. 33), S. 133. Kipper, P.E.: »Unser Theater und das Wort«, in: Bühne und Welt. Halbmonatsschrift für Theater-Literatur-Musik 16 (1914), S. 124-126, hier S. 125. Ebd., S. 124.

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304

Metaphorologie des Kinos

Für den aktuellen »Niedergang des Theaters«44 soll kein Geringerer als Max Reinhardt verantwortlich sein, weil der Berliner Theaterleiter, Kipper zufolge, an einer tiefgreifenden inneren Spaltung leidet. Einerseits – so nimmt Kipper seinen Ausgangspunkt – besteht das Wesen der Theaterkunst nirgendwo anders als im Wort. Um dies zu begründen, rekurriert er sogar namentlich auf eine juristische Instanz, »den Vorsitzenden des Berliner Gewerbegerichts, Geheimrat Ludwig Schulz«. Zumal dieser ein Urteil gesprochen habe, dass »der Besitz des Wortes das wesentliche Kriterium des darstellenden Künstlers« sei. Dieses Credo müsse auch Reinhardt zweifellos unterschreiben. Denn dies wiesen »Reinhardts eigene Theaterleitungen« unmissverständlich aus, »zu denen gehört, daß er uns auch Schiller und Goethe in hoher Vollendung eben durch das Wort vermittelt hat, durch das allein diese Großen zur Menschheit ›sprechen‹ wollten«45 . Gleichwohl scheint Reinhardt dieses »wesentliche Kriterium« der Bühnenkunst, das Wort – für Kipper problematisch genug – gleichzeitig »unwesentlich«46 zu sein. Anhand des Zitats von Felix Holländer stellt der Kritiker dies nachdrücklich fest. Reinhardts »große Verdienste« um das Theater, d.h. seine »Regieverdienste« seien »in Absicht und Wirkung der Filmdramatisierung verwandt«. Denn seine Regiekunst wird durch die »schöne Versinnlichung der Idee« ausgezeichnet, während Reinhardt »vorzüglich aber dabei das Theater zur Schaubühne« gestalte und »unter den zu erregenden Sinnen das Gesicht« bevorzuge. Dies offenbare – in Kippers Augen geradezu skandalös – »Reinhardts nunmehr gewollte und bewußte Wertschätzung der ja einzig auf das Auge eingestellten Filmkunst«47 : Beruht die Schauspielkunst wesentlich überhaupt nicht auf der Mimik, sondern auf dem Worte – was Reinhardt ohne weiteres zugeben wird – so erhellt, daß Reinhardt dem Film gegenüber ein Opfer eigner Inkonsequenz zum Schaden des Ansehens und der Bestimmung des Theaters geworden ist. In Reinhardt dürfen wir einen recht maßgebenden Interpreten der Kreise unserer Schauspielkunst im weitesten Sinne erblicken. Und somit wird klar, daß das Theater heute mit seiner immer nur auf Inkonsequenz beruhen könnenden Mindereinschätzung der Wortkunst keine Abwehrkraft gegen die »Kinoseuche« besitzt, daß diese vielmehr das Theater zu verheeren droht.48 Um den hier angesprochenen Umstand zugespitzt zu formulieren: Reinhardts innerer Widerspruch bzw. seine für Kipper unbegreiflich schizophrene Attitüde lässt sich womöglich auch als ein Resultat der Infektion oder des Einbruchs von Bazillen der »Kinoseuche« verstehen. Dieser parasitäre Fremdkörper soll den Regisseur 44 45 46 47 48

Ebd., S. 126. Ebd., S. 125. Ebd. Ebd., S. 124 f. Ebd., S. 125.

8 Die kinematographische ›Ansteckung‹ des Theaters

gleichsam verführen, die Bühnenkunst nach der Art der »Filmdramatisierung« zu inszenieren und so jene mit dieser zu ›verseuchen‹. Immerhin verwandelt sich das Theater unter Reinhardts Hand »zur Schaubühne«, die stark an die »Filmkunst« erinnern soll. Darüber hinaus ist es für die Theaterbranche – zumindest aus Kippers Sicht – regelrecht ein Menetekel, dass es sich bei Reinhardt nicht um einen der vielen Intendanten handelt. Der Bühnenregisseur soll vielmehr derart einflussreich sein, dass er für die versammelten »Kreise unserer Schauspielkunst im weitesten Sinne« immer schon die Richtung weist. Aufgrund dieser hegemonialen Stellung soll er die »Kinoseuche« oder seine filmisch ›verseuchte‹ Regiekunst in der deutschen Theaterlandschaft verbreiten. Deren fehlende »Abwehrkraft« gegen die epidemische Ausbreitung der »Kinoseuche« führt Kipper angesichts von Reinhardts autoritativem Status auf diesen allein zurück. Denn der Direktor schwört – aus der Perspektive dieser metaphorischen Rede – nicht nur den Niedergang der Theaterbranche herauf, sondern vielmehr die intermediale ›Verseuchung‹ der Bühnenkunst selbst durch den Film.

8.3

›Pest = Film‹. Zu Walter Hasenclevers Die Pest. Ein Film als einer filmischen Inszenierung der ›Kinopest‹

Bemerkenswert erscheint, dass die metaphorische Figur der ›Kinopest‹ bzw. ›seuche‹ im ›Theater-Kino-Streit‹ erst dann Verwendung findet, wenn nicht nur von dem Massenpublikum des Kinos, sondern gerade von den Produzierenden, den dramatischen Dichtern und Spielleitern die Rede ist. Dies hängt offenbar damit eng zusammen, dass die Auswirkung des Films für die Theaterleute nicht nur auf der rezeptionellen und distributiven Ebene, d.h. mit Blick auf die »gähnende Leere« des Parketts bestehen soll. Das Aufkommen des Kinos oder – noch präziser – des ›Langfilms‹ mit fiktionalen Handlungen (›Kinodrama‹) löst darüber hinaus bei den literarisch und dramatisch Produzierenden in gewisser Hinsicht andersartige Vorgehensweisen aus. Diese neuen Methoden sollen sich in ihren filmisch oder kinematographisch ›verseuchten‹ Hervorbringungen selbst ausprägen. »Der Filmsehende liest Erzählungen anders. Aber auch der Erzählungen schreibt, ist seinerseits ein Filmesehender.«49  – Auf Brechts prägnante Sentenz, die zur vorliegenden Thematik immer wieder herangezogen wird, könnte infolgedessen auch hier Bezug genommen werden. Denn diese Beobachtung berührt zwar zweifelsohne ebenfalls die gerade in Diskussion stehende Problematik.

49

Brecht, Bertolt: »Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment« [1931], in: Ders., Schriften, Bd. 1: Schriften 1914-1933, hg. von Werner Hecht, Berlin/Weimar/Frankfurt am Main: Aufbau/Suhrkamp 1992 (= Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe 21), S. 448-514, hier S. 464.

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306

Metaphorologie des Kinos

Im Kontext des »soziologische[n] Experiment[es]« spielt bei Brecht jedoch nicht nur die gattungspoetologische bzw. intermediale Perspektive zwischen Literatur, Theater und (Spiel-)Film eine tragende Rolle. Den Ausschlag gibt hier vor allem das sozialwissenschaftliche Deutungsmuster. Entsprechend sieht er den betreffenden Umstand »als Ganzes«50 in den alles umfassenden kapitalistischen Prozess immer schon hineingeworfen. Im Gegensatz zu dieser späteren Sicht des Jahres 1931 steht beim produktionsbezogenen Kinodiskurs der 1910er Jahre die metaphorische Rede der ›Pest‹ oder ›Seuche‹ eindeutig im Vordergrund. Seinerzeit wird derselbe Sachverhalt, d.h. die Auswirkung der Filmrezeption auf die literarische und dramatische Produktion, nicht zuletzt anhand der Pest- und Seuchenmetapher diskutiert. Aus dieser metaphorischen Perspektive erscheint das Kino als bedrohlicher Eindringling, der ›frech‹ in die Sphäre der künstlerischen Produktion hereinbrechen und als innerer und lebendiger Fremdkörper auf die bis dahin unantastbare Autorschaft unerhörten Einfluss nehmen soll. Um die zentrale Stellung, welche die Pest- und Seuchenmetapher im produktionsästhetischen Diskurs der Literatur- bzw. Theater-Kino-Verhältnisse einnimmt, zu beleuchten, soll im Folgenden exemplarisch auf das Werk Walter Hasenclevers aus den 1910er und 1920er Jahren eingegangen werden. Insbesondere Die Pest. Ein Film (1917/20), nach eigenem Bekunden »der erste Filmtext, der in Buchform gedruckt wurde«51 , soll als ein radikaler Fall des ›intermedialen Bezugs‹ in Betracht kommen. In Irina Rajewskys Systematik des Intermedialen wird die hier einschlägige Grenzüberschreitung als ›Systemkontamination qua Translation‹ »im Sinne einer Modifikation des kontaktnehmenden in Richtung auf das kontaktgebende System«52 definiert. Wie unten verfolgt werden soll, interessiert bei dem »Film« als »eine neue, einem literarisch entworfenen Kinostil folgende Textgattung«53 darüber hinaus eine eigentümlich komplexe Gegebenheit. Eine intermediale ›Kontamination‹ oder ›Verseuchung‹ der Literatur durch den Film wird bei diesem Werk gerade dort durchgespielt, wo es thematisch ebenfalls um den Prozess einer pestepidemischen Ansteckung geht. Des Weiteren verweist dieser innerdiegetische Vorfall einer Infektion in Anbetracht einer Schlüsselszene auch selbstreflexiv auf eine mediale ›Verseuchung‹.

8.3.1

Vorgeschichte und Kontext

Die Arbeit an Die Pest. Ein Film (1917/20) lässt sich als ein durch deren Vorgeschichte vielfältig bedingtes Ereignis betrachten. Hasenclever, der neben Georg Kaiser

50 51 52 53

Ebd., S. 467. Hasenclever, Walter: Die Pest. Ein Film, Berlin: Cassirer 1920, S. 55. Rajewsky: Intermedialität (wie Anm. 33), S. 133. Keppler-Tasaki, Stefan: »Nachwort«, S. 642.

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als einer der prominentesten Exponenten des dramatischen Expressionismus bekannt ist, lernt nicht erst in den späten 1910er Jahren das filmische Medium kennen. Folglich verwandelt er sich auch nicht erst hiermit in einen »Kinodichter«. Sein andauerndes Interesse am Film dürfte zwar schon auf seine Aachener Kindheit um 1900 datieren, wo ihn sein Großvater in die »Lebende[n] Photographien«54 mitnimmt. Seine auf der praktischen wie theoretischen Ebene betätigte und mit Recht als leidenschaftlich zu charakterisierende Auseinandersetzung mit dem Kino nimmt jedoch erst in seiner Leipziger Zeit (1909-1914) ihren Anfang. Im Folgenden soll der Vorgeschichte der Pest ab diesen Jahren nachgegangen werden. Zunächst muss dafür die Biographie des Dichters, insbesondere seine Bekanntschaft mit Kurt Pinthus und Max Reinhardt, berücksichtigt werden. Denn die beiden üben auf Hasenclevers Filmarbeiten dieser Jahre scheinbar entscheidenden Einfluß aus. Anschließend soll auf seine einzelnen kinobezüglichen Texte der frühen 1910er Jahre inhaltlich eingegangen werden, von denen jeder rückblickend in seiner Weise Die Pest vorzubereiten scheint.

a

Kurt Pinthus und Max Reinhardt

1909 ist Hasenclever nach Oxford und einer ganzen Reihe anderer Stationen an der Leipziger Universität immatrikuliert. Die Stadt Leipzig beschert ihm unter anderem eine lebenslange Freundschaft, die »den Dichter« nicht nur »auf literarischem Gebiet nachhaltig prägt«55 , sondern vor allem im Bereich der kinobezüglichen Tätigkeit: Kurt Pinthus. Mit dem Germanisten, späten Theater- und Filmkritiker und bekennenden »wirklichen Verehrer des Kinos«56 verbindet ihn nicht zuletzt das rege Interesse am Film. In ihren Arbeiten zum Thema Kino in den 1910er Jahren – vor allem zwischen Hasenclevers Aufsatz Der Kintopp als Erzieher und den beiden Filmessays von Pinthus, Quo vadis – Kino? und Das Kinostück (alle 1913) – fallen vielfältige Berührungspunkte auf. Diese Beobachtung erweckt sogar den Eindruck, dass entweder ideeller Einfluss vom vier Jahre älteren Kritiker auf den Dichter oder alternativ ihr kooperatives Denken wahrscheinlich erscheint. Aus ihrem gemeinsamen Besuch eines Dessauer Ladenkinos und der anschließenden Diskussion zusammen mit anderen Exponenten »des jungen Expressionismus […] zu Beginn 1913«57 resultiert zudem der Sammelband der Filmideen junger Schriftsteller, Das Kinobuch. 54 55 56 57

Hasenclever, Walter: »Irrtum und Leidenschaft. Roman«, S. 43 f.; Ders: »Wandlungen«, S. 254 (»Lebende Bilder«). Näheres hierzu siehe weiter oben in Teil II. Kasties, Bert: Walter Hasenclever. Eine Biographie der Moderne, Tübingen: Niemeyer 1994, S. 60. Pinthus, Kurt: »Quo vadis – Kino? Zur Eröffnung des Königspavillon-Theaters«, in: Ders., Kurt Pinthus, Filmpublizist, S. 117-119, hier S. 117. Pinthus, Kurt: »Vorwort zur Neu-Ausgabe [1963]«, in: Ders. (Hg.), Das Kinobuch. Kinostücke von Bermann, Hasenclever, Langer, Lasker-Schüler, Keller, Asenijeff, Brod, Pinthus, Jolowicz, Ehrenstein, Pick, Rubiner, Zech, Höllriegel, Lautensack, und ein Brief von Franz Blei, Dokumentarische NeuAusgabe des ›Kinobuchs‹ von 1913/14, Zürich: Arche 1963, S. 7-17, hier S. 9.

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Metaphorologie des Kinos

Zu dieser von Pinthus herausgegebenen Publikation von 1913/1458 im Verlag seines weiteren Freundes Kurt Wolff liefert der Dichter auch seinen ersten Drehbuchentwurf: Die Hochzeitsnacht. Für die Entstehung der Pest erscheinen nicht nur der Text selbst, sondern vielmehr dessen Para- und Kontext in ihrer Weise prägend. Vor diesem ersten Versuch eines Filmskripts jedoch, der eine zentrale Arbeit in seiner initialen Schaffensphase hinsichtlich des Kinos darstellt, wird Hasenclever ein Schlüsselerlebnis zuteil. Es handelt sich um das Reinhardt-Erlebnis, das für seine Auseinandersetzung mit dem Film den Weg weist. Hasenclevers Verehrung des Theaterleiters geht auf das Jahr 1911 zurück, wo er in Berlin dessen »Großrauminszenierung des König Ödipus von Sophokles« als Zuschauer beiwohnt. Bert Kasties zufolge ist er dort »fasziniert von den […] präsentierten künstlerischen Möglichkeiten, die den Rahmen der sonst üblichen Regieführung sprengen und von Reinhardt virtuos genutzt werden«59 . Die für die Reinhardt-Bühnen typischen Effekte mithilfe des Arena-Theaters üben auf sein späteres Stück Antigone (1917) einen wesentlichen Einfluss aus. Zudem versucht er Reinhardt selbst zwar vergeblich, jedoch mehrmals und eifrig für die Uraufführung seiner Werke zu gewinnen. Noch 1921 spricht der Dichter vom Regisseur in Superlativen: »Sein Werk war die Geburt der Phantasie auf dem Theater; er wurde der kühnste Erfinder im Raum.« Wenn Hasenclever hier konstatiert, »ihm nahen darf nur, wer ihn geliebt hat«60 , stuft der Dichter sich selbst zweifellos in die Berechtigten ein. Zu Beginn seiner Faszination durch Reinhardt nimmt Hasenclever 1911 zusammen mit Pinthus eine exzeptionelle Gelegenheit wahr. Anders als die üblichen, unter dem Einfluss von Reinhardt stehenden »Skribenten« beteiligen sich die Freunde nicht nur passiv als Zuschauer an der Aufführung, sondern agieren auch aktiv auf der Bühne und erleben hautnah die Arbeitsweise dieses Regisseurs.61 In seinem Vorwort für die von ihm selbst gesammelten Gedichte, Dramen, Prosa (1963) von Hasenclever berichtet Pinthus über dieses gemeinsame außergewöhnliche Erlebnis. Rückblickend teilt Pinthus mit, dass die beiden Freunde bei einer Leipziger KönigÖdipus-Aufführung als Komparsen – vermutlich zum ersten Mal – auf der Bühne stehen.62 Nicht nur auf dem Parkett, sondern auch innerhalb der Inszenierung

58 59 60 61 62

Trotz der Angabe »1914« als Erscheinungsjahr soll der Sammelband Pinthus zufolge in Wirklichkeit »Ende 1913« publiziert werden, vgl. ebd., S. 7. Kasties: Walter Hasenclever (wie Anm. 55), S. 91. Hasenclever, Walter: »Max Reinhardt«, in: Ders., Kleine Schriften, hg. von Christoph Brauer et al., Mainz: v. Hase & Koehler 1997 (= Sämtliche Werke V), S. 279-281, hier S. 280. Der Kritiker selbst sollte übrigens von 1920 bis 1921 an den Berliner Reinhardt-Bühnen als Dramaturg arbeiten. Vgl. Pinthus, Kurt: »Walter Hasenclever. Leben und Werk«, in: Walter Hasenclever, Gedichte, Dramen, Prosa, hg. von dems., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1963, S. 6-62, hier S. 14 f.

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als Statist erlebt Hasenclever Reinhardts »Spektakel«63 und die ›ansteckende‹ Ausstrahlung aus dem »kleine[n] Gewaltmensch[en]«64 . Für die vorliegende Untersuchung erscheint zudem nicht uninteressant, dass den beiden späteren Cinephilen hierbei keine anderen Statistenrollen als eben die der »pestkranke[n] Thebaner«65 zugewiesen werden. Gewiss bleibt es Spekulation, wenn man Hasenclevers Arbeit am Kino sowie seine filmisch ›kontaminierten‹ Hervorbringungen direkt mit diesen frühen Kontakten mit den Reinhardt-Bühnen in Zusammenhang bringen will. Immerhin deutet der nachhaltige cineastische Eifer des Dichters gleichsam auf eine mögliche Folgeerscheinung der infizierten ›Kinoseuche‹ hin, gegen die das Theater – Kipper zufolge – »keine Abwehrkraft« mehr besitze. Die Ansteckung kann womöglich bei Hasenclever gar komplett im Sinne dieses Theaterkritikers vollzogen werden, der den Infektionsträger der ›Kinoseuche‹ in niemand anderem als in Max Reinhardt erblickt. In der Tat führt dieser bereits 1913/14 unter einem Vertrag mit der PAGU bei zwei Autorenfilmen Regie: Die Insel der Seligen (DE 1913) und Die venetianische Nacht (DE 1914).66 Später auch in Hollywood sollte er zusammen mit William (Wilhelm) Dieterle Shakespeares Ein Sommernachtstraum (A Midsummer Night’s Dream, US 1935) als Filmkomödie inszenieren. Hasenclevers spätere Laufbahn als Grenzgänger zwischen Literatur bzw. Theater und Film lässt sich in gewisser Hinsicht als eine Wiederholung der Karriere Reinhardts betrachten, der für den Dichter vor allem in seiner früheren Schaffensphase eine Sonderstellung einnimmt. Wie sein »Vorbild«67 Reinhardt befasst sich der bekennende »Filmenthusiast«68 Hasenclever auch später auf vielfältigen Ebenen mit dem Medium Film. Zum einen verfasst er in den 1930er Jahren mehrfach (meist unverwirklichte) Drehbücher und Filmdialoge. Dies reicht von Komm zu mir zum Rendezvous (1930) über Giganten der Landstraße (1931) bis hin zu den beiden Drehbuchentwürfen in Zusammenarbeit mit einem jeweils anderen Partner, nämlich Was geschah am 6. Mai? (1933; mit Harry Kahn) und Abenteuer in Lucca (1938; mit Georg Strauss). 1930 ist Hasenclever zum Zweiten an einen Vertrag mit den Studios von Metro-Goldwyn-Mayer gebunden. So muss er in Hollywood gegen »ein – für damalige deutsche Verhältnisse nahezu unvorstellbar hohes – wöchentliches 63 64 65 66

67 68

Kasties: Walter Hasenclever (wie Anm. 55), S. 91. Hasenclever: »Max Reinhardt« (wie Anm. 60), S. 280. Pinthus: »Walter Hasenclever« (wie Anm. 62), S. 14; vgl. Kasties: Walter Hasenclever (wie Anm. 55), S. 91 f. Allem Anschein nach dürfte dies Kipper merkwürdigerweise entgangen sein. Denn in seinem oben diskutierten Aufsatz, der im Mai 1914 in der Theaterzeitschrift Bühne und Welt erscheint, ist kein Signal zu finden, dass der Verfasser von den beiden bereits produzierten und aufgeführten Reinhardt-Filmen überhaupt Notiz nähme. Kasties: Walter Hasenclever (wie Anm. 55), S. 91. Hasenclever, Walter: »Für wen Filme schreiben?« [1929], in: Ders., Kleine Schriften (wie Anm. 60), S. 315.

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Metaphorologie des Kinos

Gehalt von 350 US-$«69 die deutsche Fassung von drei amerikanischen Filmen erstellen: Anna Christie (1930, R: Clarence Brown, dt. Fassung: Jacques Feyder), The Trial of Mary Dugan (1929, R: Bayard Veiller; dt.: Mordprozess Mary Dugan, 1931, R: Arthur Robison) und The Big House (1930, R: George W. Hill; dt.: Menschen hinter Gittern, 1931, R: Paul Fejos). Auf dem Hollywooder Studiogelände, für dessen »dramaturgisches Bureau« auch Paul Pauer in Höllriegels Roman Du sollst dir kein Bildnis machen (1928) engagiert wird,70 erlebt Hasenclever tiefe Frustrationen angesichts des »völligen Mangel[s] an künstlerischer Freiheit«71 . Später beklagt sich der Dichter über »die Hoffnungslosigkeit des Europäers«72 in Hollywood, die er etwa mit den befreundeten europäischen Filmkollegen wie Sergej Eisenstein (»mein Freund Eisenstein«73 ) und vor allem Greta Garbo – der Hauptdarstellerin von Anna Christie – teilt. Schließlich agiert Hasenclever sogar wie die »liebe Greta«74 selbst zweimal vor der Kamera. Zunächst für Brüder (DE 1922, R: Rochus Gliese; eine Verfilmung der Otto-Ludwig-Novelle Zwischen Himmel und Erde) und dann für Tagebuch einer Kokotte (DE 1929, R: Constantin David). Die beiden Erlebnisse hinterlassen ihre Spuren in zwei Aufsätzen, in denen Hasenclever seinem – nicht nur schauspielerischen, sondern vor allem schriftstellerischen – Verhältnis zum Kino reflexiv nachgeht: Wie ich Filmschauspieler wurde von 1923 und Für wen Filme schreiben? von 1929.

b

Der Kintopp als Erzieher und Die Hochzeitsnacht

Man ist versucht, Hasenclevers ›Kinopest‹ auf die persönliche Berührung mit Reinhardt um 1911 zurückzuführen. Abgesehen von dieser Spekulation erscheint es beachtenswert, dass Hasenclevers schriftstellerischer Umgang mit dem Kino in den 1910er Jahren immer im Zeichen des Virulenten steht. Dies betrifft nicht erst Die Pest, die 1917 beinah zeitgleich mit dem von Reinhardt-Bühnen inspirierten Stück Antigone verfasst und erst 1920 publiziert wird. Es geht vielmehr spätestens auf seinen Essay Der Kintopp als Erzieher. Eine Apologie von 1913 zurück. Wie Charles H. Helmetag wohl mit Recht vermutet, scheint der Aufsatz als eine Antwort bzw. Replik auf Franz Pfemferts Anklage gegen das Kino als Erzieher (1911) verfasst zu werden.75 Denn diese beiden nahezu gleichnamigen Texte stehen sich in einigen Argumenten 69 70 71 72 73

74 75

Kasties: Walter Hasenclever (wie Anm. 55), S. 278. Hierzu siehe oben in Kapitel 2. Kasties: Walter Hasenclever (wie Anm. 55), S. 280. Hasenclever, Walter: »Begegnungen mit Greta Garbo« [1931], in: Ders., Pariser Feuilletons 19271932, S. 279-282, hier S. 280. Hasenclever, Walter: [Entwurf zu einem Rundfunkgespräch zwischen Dr. Otto Alfred Palitzsch und Walter Hasenclever nach dessen Rückkehr aus den USA im Jahre 1930], in: Ders., Kleine Schriften (wie Anm. 60), S. 345-354, hier S. 347. Hasenclever: »Begegnungen« (wie Anm. 72), S. 279. Vgl. Helmetag, Charles H.: »Walter Hasenclever: A Playwright’s Evolution as a Film Writer«, in: The German Quarterly 64 (1991), S. 452-463, hier S. 462, Anm. 1.

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und gerade mit Blick auf die Ideenkombination von Film und Infektionskrankheit diametral gegenüber. Pfemfert geht hier von dem zweiteiligen Urteil aus, das in den damaligen kinokritischen Kreisen regelrecht Usus ist. Demnach stellt der »Kinematograph« im Sinne des dokumentarisch-wissenschaftlichen Kinos zum einen ein (sozial-)hygienisches Aufklärungsmittel ersten Ranges dar. Dem Film mit diegetisch-fiktionalen Handlungen (›Kinodrama‹) selbst kommen andererseits epidemisch unheilvolle Eigenschaften zu, welche die Kultur untergehen lassen sollen. Wird das Kino als – im übertragenen Sinne – bazillenähnlicher Agent strikt abgelehnt, so erntet der »Kinematograph« als bakteriologischer Zeuge viel Beifall. Trägt dieser doch am Ende dazu bei, die Kultur zu säubern bzw. zu desinfizieren. Auf diese Weise erblicke Pfemfert einerseits »in der Erfindung des Kinematographen einen Triumph des Menschengeistes«. Als ein »Beispiel« hierfür hebt er den Versuch von »Forscher[n]« hervor, »mit Hilfe des Mikroskops kinematographische Aufnahmen des Entwicklungsganges der verschiedenen Bazillen vorzunehmen«. Auf der anderen Seite helfe das Kino – »der Unterhalter der breiten Volksschichten« – »der Trivialität Siege feiern« und verwüste »den Geschmack des Volkes«. Das Kino müsse als »der gefährlichste Erzieher des Volkes« genannt werden, da es »die Phantasie […] vernichte« und so den »Kulturfortschritten« entgegentrete.76 »[U]nser Zeitalter«77 , dessen »passende[r] Ausdruck« gerade in »diese[m] Kino«78 bestehe, sollte nichts anderes »als Krankenhausgeschichte der Kultur« bedeuten. Es sei denn, dass »wir unermüdlich gegen jede Unkultur kämpfen« würden. Erst dann könnten »wir vor dem kritischen Auge des Historikers in sauberem Kulturgewande erscheinen«79 . So wird Pfemferts Stellungnahme weitgehend durch die Dichotomie von Sauberkeit und krankhafter Kontamination bzw. Verseuchung artikuliert. Zwei Jahre später setzt Hasenclever dieser öffentlichen Anfeindung mit seinem Aufsatz Widerstand entgegen. Dies erfolgt jedoch, ohne die Argumentation des AktionHerausgebers sämtlich zurückzuweisen und etwa zu behaupten, dass das Kino in Zukunft doch auch als ein Kulturfaktor oder eine eigenständige Kunst hervorträte. Legt Hasenclever mit dieser Apologie einen »response«80 auf Pfemferts Anklage ab, so nicht, weil Hasenclever an die Möglichkeit einer – in Pfemfert »Ekelempfindungen« erweckenden – »›Veredelung der Kinematographie‹« jemals glauben würde. Im Gegenteil: Genauso wie Pfemfert spricht auch Hasenclever dem »Kintopp« den

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Pfemfert, Franz: »Kino als Erzieher« [1911], in: Kaes, Kino-Debatte (wie Anm. 17), S. 59-62, hier S. 61 f. Ebd., S. 59. Ebd., S. 61. Ebd., S. 59. Helmetag: »Walter Hasenclever« (wie Anm. 75), S. 462, Anm. 1.

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»›Kunstwert‹«81  – zumindest zu diesem Zeitpunkt82  – grundsätzlich ab. In diesem früheren Kinoessay vertritt der Dichter nicht nur seine nachhaltige Überzeugung, die er später wieder aufgreifen sollte. Dieser zufolge hat der »Kintopp« mit der Theaterkunst nichts zu tun.83 Darüber hinaus charakterisiert er diesen – im Einklang mit den Gedanken von Kurt Pinthus84  – nicht als eine eigenständige Kunstform, sondern schlicht als eine »Kunstfertigkeit«85 , die über keine ideell-künstlerische Qualität verfügen soll. Aus diesem Grund bestreitet er auch keineswegs, dass das Kino etwas »Kitschiges«86 sein soll. Schließlich stimmt der Dichter selbst dann dem Publizisten zu, wenn er wie dieser Kinogegner dem »Kintopp« eine gewisse krankhafte Eigenschaft attestiert. Aus der insofern deckungsgleichen Feststellung leitet Hasenclever aber eine diametral entgegengesetzte Bewertung ab. Er erkennt den »Kintopp« umso lieber an, weil dieser »keine Kunst« ist und sich in seiner Auswirkung als infektiös und virulent erweist: Die Feindschaft gegen den Kintopp beruht auf einem Mißverständnis: er ist keine Kunst im Sinne des Theaters, keine sterilisierte Geistigkeit; er ist durchaus keine Idee. Deshalb läßt er sich auch nicht (wie immer wieder versucht wird) mit sphärischer Musik impfen: er würde trotzdem jedesmal die Pocken kriegen. Der Kintopp bleibt etwas Amerikanisches, Geniales, Kitschiges. Das ist seine Volkstümlichkeit; so ist er gut.87 81 82

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85 86 87

Pfemfert: »Kino« (wie Anm. 76), S. 61. Vor der Arbeit bzw. der Publikation der Pest (1917/20) scheint Hasenclever die Meinung zu revidieren, und spätestens 1923 muss die diesbezügliche Bekehrung endgültig vollzogen sein: »Es kann nicht mehr geleugnet werden, daß seit Jahrzehnten […] eine neue Kunstform entstanden ist, die in höchst eigenwilliger Weise nach spontanen Gesetzen die Welt als bewegtes Bild gestaltet«. Hasenclever, Walter: »Wie ich Filmschauspieler wurde«, in: Ders., Kleine Schriften (wie Anm. 60), S. 293-296, hier S. 294. Vgl. etwa den Artikel »Für wen« (wie Anm. 68), S. 315. Sieht Pinthus in der Filmkritik über Quo vadis? 1913 zwar eine Möglichkeit, dass sich »eine Kunst des Kinos« »sicherlich« entwickeln soll, so vertritt er im Vorwort zum Kinobuch (Das Kinostück, 1913/14) jedoch auch die Meinung, dem Kino fehle jegliche Kunsttauglichkeit: Der zufolge sei das Kino keine Kunst (S. 8) bzw. zumindest keine »hohe Kunst« (S. 11) oder sogar »ein Feind der höheren Kunst« (S. 7) und könne demnach »niemals« »edelste Kunst« geben (S. 11). Pinthus, Kurt: »Das Kinostück. Ernste Einleitung für Vor- und Nachdenkliche« [1913/14], in: Ders. (Hg.), Das Kinobuch. Kinodramen von Bermann, Hasenclever, Langer, Lasker-Schüler, Keller, Asenijeff, Brod, Pinthus, Jolowicz, Ehrenstein, Pick, Rubiner, Zech, Höllriegel, Lautensack. Einleitung von Kurt Pinthus und ein Brief von Franz Blei, Leipzig: Wolff 1914 [1913], S. 1-12. – Um des bewusst provokanten Nebentitels des Artikels willen wird hier ausnahmsweise auf die Erstausgabe verwiesen. Hasenclever, Walter: »Der Kintopp als Erzieher. Eine Apologie« [1913], in: Ders., Kleine Schriften (wie Anm. 60), S. 256-259, hier S. 257. Ebd., S. 258. Ebd.

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Wenn der »Kintopp« keine Kunst ist bzw. sein will, so begehen alle Kinogegner einschließlich Pfemfert in Hasenclevers Augen von vornherein einen logisch eindeutigen Fehler. Denn sie glauben, das Kino dessen bezichtigen zu können, dass die kinematographische Darbietung etwa »den Geschmack des Volkes verwüste«. Dieses »Mißverständnis« räumt Hasenclever dezidiert aus. Infolgedessen ist er nunmehr in der Lage, Pfemferts ausgeprägt kinofeindlichen Befund, den der Dichter zwar weitgehend bestätigt, doch ohne jede Ironie vollständig in ein zentrales Argument seiner »Apologie« für den »Kintopp« zu verkehren (»so ist er gut«). Gerade wegen des sonst beanstandeten Erscheinungsbildes des Kitschigen setzt sich Hasenclever für den »Kintopp« umso eifriger ein. Des Weiteren wählt er in seinem radikalen Umwertungsversuch für die Abspielstätte des Films zweifellos bewusst diese in der Regel verachtende Bezeichnung. Hasenclevers Apologie für den »Kintopp« beruht zuerst einmal auf der Lebendigkeit bzw. Lebhaftigkeit seiner Wirkung, zugunsten deren der Dichter die mitunter kitschige »Naivität« in filmischen Darbietungen bereitwillig in Kauf nimmt. So steht der »Kintopp« im Zeichen des Lebens im Gegensatz zur »gähnende[n] Leere« in Theatern. Denn hier könne man nur sanktionierte, »sterilisierte Geistigkeit« zu sehen bekommen: »Begreift man endlich, daß der Kintopp eine Steigerung von Lebensgenüssen, eine Bereicherung von Phantasien ist!«88 Ferner gilt es besonders hervorzuheben, dass Hasenclever in seiner verkehrten Verteidigung des Kinos zwar auf die Metapher des Virulenten89 rekurriert. Die Figur bezeichnet aber überhaupt keinen medialen Mangel, sondern steht vielmehr für die enorme Anziehungs- bzw. Ansteckungskraft des »Kintopp[s]«. Dieser bedeutet hier wohl eine ›Seuche‹, deren starke ›epidemische‹ Kontagiösität ihm jedoch zu einer »Volkstümlichkeit« verhelfen soll. So beschreibt Hasenclever den »Kintopp« als Infektionsträger, der etwa durch geschmackvolle musikalische ›Impfung‹ im Sinne von Untermalung unbesiegbar sein soll. Erkrankt sich der »Kintopp« doch trotz alledem an »Pocken« und bleibt dazu fähig, deren Reiz oder ›Symptom‹ auf das Massenpublikum – einer »Hypnose«90 gleich – zu übertragen: »[D]enn seine Modernität äußert sich darin, daß er Idioten und Geister in gleichem Maße, doch auf andere Art zu befriedigen vermag, jeden nach seiner seelischen Struktur«91 . Schließlich soll das Krankheitsbild dieser kinematographischen »Pocken« Hasenclever zufolge – nur scheinbar paradox – darin bestehen, die »Lebensgenüsse« der Zuschauer zu steigern und »Phantasien« zu bereichern. Bei dieser Apologie für das Kino 1913 handelt es sich um einen, wenn nicht einzigen, 88 89

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Ebd. Die filmtheoretische Entsprechung von Hasenclevers Aufsatz und den Pinthus-Texten hört bemerkenswerterweise an diesem Thema des Virulenten in der Wirkung des Kinos auf, das Pinthus seinerzeit nicht eigens in Rechnung zu stellen scheint. Hasenclever: »Der Kintopp« (wie Anm. 85), S. 257. Ebd., S. 258.

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so doch äußerst seltenen Fall im metaphorischen Diskurs der ›Kinoseuche‹. Zumal diese hier ein zentrales befürwortendes Argument für das Kino bietet. Hasenclevers nahezu simultan entstandener kinodramatischer Beitrag zum Kinobuch, Die Hochzeitsnacht, zeigt auf den ersten Blick keinen nennenswerten thematischen Bezug auf die ›Kinoseuche‹ bzw. die »Pocken« des »Kintopp[s]«. Diese Filmidee nimmt die beiden Teilmotive vom Virulenten und dem Visuellen vielmehr nur getrennt auf. Die lebensbedrohliche Tuberkuloseerkrankung des Protagonisten, des Malers Karl Heiden, spielt zwar diegetisch eine tragende Rolle und verleiht der Handlung das erste Movens. Die Krankheit hat jedoch mit dem kinematographischen Motiv gar nichts zu tun. Seine Braut Clarissa gilt jetzt als verschollen, hat sich in Wahrheit ohne sein Wissen für die Kurkosten ihres Bräutigams geopfert. Karls titelgebendes Porträt von ihr übt bei einer Ausstellung auf den Grafen Sokolski eine derart heftige Wirkung aus, dass er beim Anblick des Bildes zurückprallen muss. Denn der tscherkessische »Bösewicht«92 ist es, der für »fünf Tausendmarkscheine«93 Clarissa entführt hat und diese nun heimlich in seinem Harem einsperrt: Im großen Saale der Ausstellung hängt das Bild. Viele Leute gehen vorbei und bleiben davor stehen. Unter ihnen ist ein graumelierter Herr: Graf Dimitri Sokolski. Als er das Bild sieht, prallt er zurück. Er erkennt Clarissa, eilt hinaus und holt den Geschäftsführer. Sie verhandeln; er kauft das Bild.94 Die Macht des Visuellen findet jedoch ansonsten keine weitere Berücksichtigung und steht auch in keinem thematischen Zusammenhang mit dem Virulenten. Das ›Kinodrama‹ mit einer für die Gattung relativ typischen Handlung interessiert aber zumindest insofern die vorliegende Studie, weil aus diesem Text jener Gestus herauszulesen ist, der auch den Aufsatz Der Kintopp als Erzieher auszeichnet. Dies tritt einerseits an den Tag, wenn man den Paratext dieses Drehbuchentwurfes miteinbezieht. In der Vor- und Nachrede hebt der Autor seinen reflektierten Umgang nicht nur mit dem gängigen kinodramatischen Genre hervor, sondern vielmehr gegenüber dem »falschen Ehrgeiz«95 des künstlerisch verfeinerten Autorenfilms. Dem Ende dieses Filmtextes fügt Hasenclever zum einen eine satirische Bemerkung für den möglichen Regisseur hinzu, dass dieser »einen andern« Schluss wählen sollte, falls ihm das vorhandene Happy End »nicht gefällt«96 . Anschließend

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So steht es bereits auf dem Personenverzeichnis: »Graf Dimitri Sokolski, ein Bösewicht«, vgl. Hasenclever, Walter: »Die Hochzeitsnacht. Ein Film in drei Akten« [1913/14], in: Ders., Kleine Schriften (wie Anm. 60), S. 382-392, hier S. 382. Ebd., S. 386. Ebd., S. 389. Pinthus: »Vorwort« (wie Anm. 57), S. 9. Hasenclever: »Die Hochzeitsnacht« (wie Anm. 92), S. 392.

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zählt der Dichter nicht ohne Anflug des Scherzhaften diverse Vorschläge der alternativen Schlüsse auf. Deren ostentative Optionalität signalisiert Hasenclevers zynische Distanznahme sowohl gegenüber der gängigen kinodramatischen Produktion als auch der vermeintlich ernst zu nehmenden Ambition auf die ›Veredelung des Kientopps‹. Zum anderen kommt hier das sarkastische Vorwort in Betracht, das der Verlegerfreund Wolff gegen den ausdrücklichen Willen des Dichters nicht publiziert. Das Textstück zeugt auch nicht nur von der allzu offensichtlichen Tatsache, dass sein »Beitrag ›Die Hochzeitsnacht‹ […] kaum als ernsthafter Versuch zu werten [sei], das künstlerische Niveau des Films zu heben«97 . Deutet dieses Vorwort doch nichtsdestoweniger eine andere Art der Ernsthaftigkeit an. Der Filmtext versteht sich nicht (oder: nicht nur) als ein ziel- und zügelloser »Jux«. Er verweist vielmehr vor allem auf eine gewollte Provokation, die dem Tenor des Kintopps als Erzieher desselben Jahres exakt entspricht: »Deshalb schrieb er [der Autor] diese Geschichte: nicht etwa, weil er an die Veredelung des Kintopps glaubte, sondern weil sie so lustig ist.«98 Theorie und Praxis gehen bei Hasenclever im Jahre 1913 in seiner Weise Hand in Hand. Die Figur des Virulenten andererseits, die im Aufsatz eine lebendige »Volkstümlichkeit« des Mediums auszeichnen soll, ist weder im Text noch im Paratext dieses Kinostückes zu suchen. Das Motiv macht sich vielmehr gleichsam im Kontext bemerkbar. Im Kinobuch findet sich auch ein Filmskript, das unter dem Titel Die Seuche vom Schicksal eines Liebespaares vor dem Hintergrund einer sich ausbreitenden tödlichen Epidemie handelt, die in einem beinah ans Mittelalter erinnernden idyllischen Dorf alles vernichtend tobt. Der Autor, der Romancier und angehende Arzt Philipp Keller, gehört seit Hasenclevers Aachener Gymnasialzeit neben Ludwig Strauß und Karl Otten zum engen Freundeskreis. Pinthus berichtet, dass mit der Gruppe »ihn Liebe zur Dichtung verband«99 . Für Jahre danach zieht sich ihre literarisch motivierte Verbindung hin. Noch als Gymnasiast gibt Keller im Frühjahr 1910 eine Publikation Aachener Almanach heraus, für den Hasenclever, der jetzt in Leipzig immatrikuliert ist, vier Gedichte zur Verfügung stellt.100 Ferner besucht Keller den Dichter im Herbst 1912 während der Arbeit an Der Sohn im belgischen Heyst sur Mer.101 Das Jahr 1913, in dem Das Kinobuch publiziert wird,

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Mackowiak, Klaus: »Für wen Filme schreiben? Walter Hasenclever und der Film«, in: Jürgen Egyptien (Hg.), Walter-Hasenclever-Gesellschaft Jahrbuch 2005/2006, Aachen: Shaker 2007, S. 67-87, hier S. 70, sowie ders./Bürgerhausen, Corinna: »Nachwort« [1997], in: Hasenclever, Kleine Schriften (wie Anm. 60), S. 626-657, hier S. 646 f. (»das literarische Niveau«). 98 Dieses damals ungedruckte Nachwort wird im Anhang des betreffenden Bandes der Sämtlichen Werke wiedergegeben, vgl. Hasenclever: Kleine Schriften (wie Anm. 60), S. 624, Anm. 35. 99 Pinthus: »Walter Hasenclever« (wie Anm. 62), S. 10. 100 Vgl. Kasties: Walter Hasenclever (wie Anm. 55), S. 67-69. 101 Vgl. ebd., S. 114.

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markiert schließlich einen Höhepunkt ihres dichterischen Bündnisses. Denn dieses Jahr stellt sich für die beiden außer dem Sammelband vor allem wegen der Veröffentlichung von Kellers Roman Gemischte Gefühle als bedeutungsvoll heraus. Der Roman vom inzwischen an der Universität Freiburg im Breisgau eingeschriebenen Medizinstudenten102 erscheint im Ernst-Rowohlt-Verlag in Leipzig. Das Werk lektoriert der Dichter nicht nur, sondern er rezensiert und lobt es sogar zweimal (1913 und 1914) überschwänglich. Darüber hinaus zitiert Hasenclever sogar einen Satz aus dem »Buch« Kellers ausgerechnet am Schluss des im selben Jahr erschienenen Aufsatzes Der Kintopp als Erzieher 103 , bei dem es thematisch unter anderem um das Virulente des »Kintopp[s]« geht. Diese Indizien sowie die inhaltlichen Anspielungen in der Pest auf Die Seuche scheinen alle die Nähe und Bedeutsamkeit des jugendlichen Freundes für Hasenclever vielfach zu bestätigen. Es liegt zwar zugegebenermaßen kein evidenter Beleg vor, wirkt jedoch mit Blick darauf keineswegs unwahrscheinlich, dass bei der Stoffwahl seines zweiten Drehbuches 1917 Kellers kleines Filmskript dem Dichter erneut auffallen dürfte.

8.3.2

Die Pest. Ein Film

Den Hintergrund der Diegese vom »Filmtext« Die Pest bietet jedoch – anders als bei der Seuche Kellers – keine mittelalterliche Vergangenheit, wo die Epidemie etwa im 14. Jahrhundert tatsächlich von der Krim aus ganz Europa heimsucht. Sie spielt vielmehr in der Zukunft des Jahres 2000. Auf dem fortgeschrittenen Stand der Zivilisation ist nicht zuletzt infolge des chemisch synthetisierten »künstlichen Brotes« die »Armut« bereits verschwunden. Unter den Menschen herrschen nunmehr eine grenzenlose »Verbrüderung« und ein »[e]wiger Frieden«. Indem sich die Katastrophe gerade dann einstellt, wenn »die Welt dem Paradiese«104 gleicht, erinnert Die Pest an Krells Kino. Eine Groteske von 1912. Zwar ist es nicht der »Filmwahnsinn«, sondern die Pestepidemie, die von Indien aus auf dem »Riesendampfer« in die »vereinigten Staaten von Europa«105 gebracht wird und ein apokalyptisches

102 An der Universität Freiburg lernt Keller einen anderen Walter kennen, der sich inzwischen als eine ebenfalls prominente Figur in der deutschsprachigen Literatur etabliert: Walter Benjamin. Dieser gesteht zu einigen Gelegenheiten, dass die Prosa seines Freundes auf den eigenen Stil »starken Einfluß« genommen hat. Vgl. etwa Benjamin, Walter: »Moskauer Tagebuch« [1926/27], in: Ders., Fragmente, autobiographische Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985 (= Gesammelte Schriften VI), S. 292-409, hier S. 330. 103 Hasenclever: »Der Kintopp« (wie Anm. 85), S. 259. 104 Hasenclever, Walter: »Die Pest. Ein Film«, in: Ders., Kleine Schriften (wie Anm. 60), S. 393-415, hier S. 395 f. 105 Ebd., S. 396 f.

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Szenario heraufbeschwört. Es handelt sich jedoch bei den beiden Seuchen womöglich im Kern um ein und dasselbe Übel. Denn sie teilen ein zentrales Symptom, das die Befallenen aufweisen sollen. Nicht aber der diegetische Inhalt eines Weltunterganges durch die verhängnisvolle Epidemie, sondern in erster Linie die Form des Filmtextes ist es, die zur Zeit des Erscheinens 1920 Aufsehen erregt. Dies hat gute Gründe. Denn die Arbeit, deren Innovation auch in heutiger Sicht besticht, ruft de facto eine neue literarischfilmische Form – allerdings gerade keine dramatische, sondern eine epische Gattung des Filmes – zum ersten Mal ins Leben. Ihr formästhetisches Novum fällt insbesondere dann auf, wenn man sie mit dem früheren Versuch eines ›Kinostückes‹ des gleichen Autors von 1913, Die Hochzeitsnacht, vergleicht. Es ist, als wäre von Hasenclever und Kurt Pinthus in den frühen 1910er Jahren in Bezug auf die Gattungsfrage des Films bzw. ›Kinostückes‹ eine und dieselbe Ansicht geteilt. Schon früh verleiht Pinthus in seiner ersten Filmkritik vom März 1913, Quo vadis – Kino?, – d.h. noch vor dem Erscheinen des von ihm herausgegebenen Kinobuches – seiner Überzeugung einen expliziten Ausdruck, das Kino habe »im Grunde nichts mit dem Theater zu tun«106 . Die Auffassung sollte Hasenclever in seinem kurz danach publizierten Aufsatz Der Kintopp als Erzieher übernehmen. Der »Kintopp« sei, so der Dichter, »keine Kunst im Sinne des Theaters«. Als die literarische Gattung, die anstelle des Dramas einen Referenzpunkt für das neu zu konturierende Genre des Films oder ›Kinostückes‹ darstellen soll, nennt Pinthus im Vorwort zum Kinobuch den Roman. Einerseits müsse »[d]as Kinodrama, welches Theaterdramen verfilmt oder Romane dramatisiert«, zwar absterben, denn ein solcher Film beginne »sein eigentliches Wesen [zu] mißachten«107 . Auf der anderen Seite jedoch scheine der Roman, so der Kritiker, dem »Kinostück« näher zu sein als das Theater: Während im Drama die Personen auf der Bühne festgehalten sind, kann im Kino wie im Roman der Zuschauer sich mit den Handelnden fortbewegen, und in steter Bewegung, unabhängig von räumlicher Begrenzung, Handlungen ausführen sehen. Insbesondere mit Blick auf die kinematographische Befreiung von der Einheit des Ortes sei »[d]as Kinopublikum […] im wesentlichen ein Romanlesepublikum«108 . Angesichts dieser Auffassung Pinthus’ stellt Hasenclevers erste Filmarbeit, sein Kinobuch-Beitrag Die Hochzeitsnacht, beinahe einen Versuch dar, die Ideen des Freundes in seiner Weise in die Praxis umzusetzen. Der Dichter zieht dabei allerdings nicht – wie der Kritiker – ein bestimmtes Genre etwa des Romans o.Ä. als

106 Pinthus: »Quo vadis – Kino?« (wie Anm. 56), S. 117. 107 Pinthus: »Das Kinostück« (wie Anm. 84), S. 1. 108 Ebd., S. 3.

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einen gattungspoetologischen Referenzpunkt heran.109 »Dieser in Prosa verfaßte Drehbuchentwurf«110 gliedert sich zwar wie Drama in drei »Akt[e]«111 . Jeder von denen operiert aber abwechselnd mit mehreren Handlungsorten bzw. -ebenen – einschließlich einer eingebetteten Traumsequenz.112 Diese »formale Nähe zum Genre des Romans«113 weist nicht nur »die theoretischen Schwierigkeiten eines Schriftstellers mit dieser neuartigen Kunstform auf«114 . Sie zeugt vielmehr von dem gerade aktuellen Stand der filmtheoretischen Überlegungen des Dichters hinsichtlich der »Form«, »die in etwa aufgezeichnetes Kino«115 sein soll. Vier Jahre später bei der Pest (1917/20) geht diese formale Ähnlichkeit mit dem Roman zwar deutlich zurück, aber dies bedeutet selbstredend keine Wiederkehr zum Dramatischen. Der Film gehört für Hasenclever nach wie vor zum epischen Genre, und »die zwischenmenschliche Sprache [ist hier] völlig eliminiert«116 . Zu seinem konstitutiven Prinzip avanciert jedoch keine als kontinuierlicher Text niedergeschriebene Prosa mehr, sondern das Bild bzw. die Montage der »epischen Bildfolge«117 . Anstelle der abwesenden Worte stellt das Drehbuch nun »das Geschehen in einem fast ausschließlich visuell erfassbaren Zusammenhang dar«118 . Der Filmtext besteht immer noch aus Akten: Es gibt insgesamt fünf Akte und das Vorspiel. Jeder Akt spielt sich nicht mehr als beschreibende und erzählende Prosa ab, geschweige denn als eine sich durch den Dialog logisch entfaltende Handlung. Er setzt sich aus zahlreichen disparaten Bildern zusammen, die je nach Intention wahlweise geschnitten und miteinander verbunden oder montiert werden sollen. Weder ein Kontinuum der Prosa noch ein logischer Fortschritt des Dialogs, sondern eine Diskontinuität der Bilder – im heutigen Sprachgebrauch: Einstellungen – zeichnet den Film aus. Der wesentlich schnellere Wechsel dieser disparaten »Bilder« als die Veränderung der Kulissen bei der in Prosa verfassten früheren Filmarbeit ermöglicht ein bahnbrechendes Verfahren von Montage. Diesem methodischen Ansatz gebührt eindeutig der Titel einer Pionierarbeit, und seine Innovation soll etwa das unten angeführte Zitat aus dem ersten Akt vor Augen führen. Es handelt sich um einen

109 Im seinerzeit unveröffentlichten Vorwort spricht er vielmehr schlicht von »diese[r] Geschichte« (Hasenclever: Kleine Schriften [wie Anm. 60], S. 624, Anm. 35). 110 Kasties: Walter Hasenclever (wie Anm. 55), S. 109. 111 Allerdings gehört die Unterteilungsbezeichnung ab dem Asta-Nielsen-Film Abgründe (Afgrunden, DK 1910, R: Urban Gad; deutsche Uraufführung 1911) auch beim Kino zur Selbstverständlichkeit. Vgl. C. Müller: Frühe deutsche Kinematographie (wie Anm. 35), S. 115. 112 Hasenclever: »Die Hochzeitsnacht« (wie Anm. 92), S. 387 f. 113 Man vergleiche etwa den weiter oben angeführten Abschnitt. 114 Kasties: Walter Hasenclever (wie Anm. 55), S. 109. 115 Pinthus: »Das Kinostück« (wie Anm. 84), S. 12. 116 Kasties: Walter Hasenclever (wie Anm. 55), S. 21. 117 Hasenclever: [Entwurf] (wie Anm. 73), S. 352. 118 Mackowiak: »Für wen« (wie Anm. 97), S. 72.

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»Riesendampfer«, der gerade »die indischen Gewässer« (13. Bild)119 verlässt und von dort aus die Pestepidemie nach Europa bringen sollte. Im ganzen Schiff verbreiten die Ratten den Krankheitserreger, dessen Symptome der Schiffsarzt zuerst nicht erkennen kann: 25. Bild Schiffslazarett. Kranker mit schwarzen Flecken. Schiffsarzt nimmt Thermometer aus seinem Arm.   26. Bild Quecksilbersäule zeigt 42 Grad.   27. Bild Kapitänskajüte. Kapitän liest die Karte. Schiffsarzt, weiß, tritt ein. Leiche an Bord! Kapitän erschrickt, fragt. Schiffsarzt zuckt die Achseln.   28. Bild Schiffslazarett. Voll von Kranken. Schiffsarzt nimmt Präparat. Kranke werden dunkel. Schiffsarzt am Mikroskop.   29. Bild Deck erster Klasse. Liegestühle. Gesellschaftsspiel. Erschrecken. Eine Ratte läuft durch. Herren jagen sie mit Stöcken.   30. Bild Schiffsarzt am Mikroskop. Erschrickt. Sieht auf. Sieht ins Mikroskop. Faßt sich an den Kopf. Die Pest!! Schiffsarzt starr. Die Kranken werden hell.   31. Bild Speisesaal. Der beleibte Herr hebt das Glas. Schwindel. Glas zerbricht. Nachbar stützt ihn. Aufbruch.120 In der Sequenz wird die Ermittlung des Krankheitserregers durch den Schiffsarzt im Schiffslazarett gezeigt, während zwischendurch die Bilder der Kapitänskajüte

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Hasenclever: »Die Pest« (wie Anm. 104), S. 397. Nachfolgend wird auf jedes Zitat aus diesem Werk im laufenden Text mit Bildnummer verwiesen. 120 Ebd., S. 398 f.

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einerseits und der Räumlichkeiten für die erste Klasse andererseits eingefügt werden. Auf den ersten Blick sticht die äußerste Gedrängtheit der Beschreibung bzw. der Regieanweisung für Schauspieler sowie der hier kursiv wiedergegebenen Zwischentitel hervor. Der Text enthält jedoch bei genauerem Hinsehen bereits Anordnungen sowohl für Kameraeinstellung (wie eine Nahaufnahme des Thermometers im 26. Bild) oder für Beleuchtung (»Kranke werden dunkel«/»[…] hell«). Darüber hinaus zeichnet sich der Filmtext in erster Linie durch den rasanten Wechsel der Bilder aus, der zwischen dem Bereich der Schiffsmannschaft (Schiffslazarett und Kapitänskajüte) und dem »Deck erster Klasse« pendelt. Die rasch alternierende Montage stellt einen starken räumlichen, diegetischen und vor allem gesellschaftlichen Kontrast her. Zum einen erkennen und befürchten der Schiffsarzt und der Kapitän bereits die drohende Katastrophe. Auf der anderen Seite sind im luxuriösen oberen Geschoss alle ahnungslos wie üblich bis auf den Moment, an dem »[d]er beleibte Herr« ein Prodrom der Pest zeigt und hiermit einen »Aufbruch« andeuten soll. In der Forschung herrscht heute die Meinung, dass Hasenclever mit der Pest die Entwicklung vorwegnimmt, die erst ab Mitte der 1920er Jahre vor allem in den Filmen russischer Avantgarde durch Montagebilder zum Tragen kommen sollte. Dieselbe Feststellung vertritt bereits der Dichter selbst – ohne den Terminus ›Montage‹ zu verwenden – in einigen Gelegenheiten um 1930, nachdem er selbst die russischen Filme wohl kennengelernt hat: Vor zwölf Jahren schrieb ich einen Film »Die Pest«, der als erster deutscher Film in Buchform bei Paul Cassirer erschienen ist. Schon damals hatte ich erkannt, daß filmisches und dramatisches Geschehen nichts miteinander zu tun haben. Mein Film war ein provisorischer Versuch, auf theatralische Handlung zu verzichten und durch eine Bildfolge von Situationen der Wirklichkeit des Lebens näherzukommen. Meine Figuren waren nicht Träger, sondern Exponenten der Handlung. Dies Prinzip wurde zehn Jahre später durch die russische Filmkunst aufgenommen. Wir verdanken ihm die Resultate einer neuen Darstellungsmethode.121 Der bitteren Erfahrung des Jahres 1930 zum Trotz, die Hasenclever in Hollywood ertragen muss, erstarkt sein Selbstbewusstsein, mit der Pest für eine bestimmte Art des Films einen Weg geebnet zu haben. Darunter versteht der Dichter den Film, der keine »Unterhaltungsware« à la Hollywood, sondern dezidiert eine »Kunst«122 sein soll. Hasenclever fühlt sich vermutlich nicht zuletzt durch die Begegnung mit seinem »Freund Eisenstein« an der Westküste123 bestätigt. Der große Regisseur aus 121 122 123

Hasenclever: »Für wen« (wie Anm. 68), S. 315 (Herv. im Orig.). Hasenclever: [Entwurf] (wie Anm. 73), S. 346 f. Auch Eisenstein bereitet Hollywood Enttäuschungen. Hasenclever zufolge stimmt die Bemerkung eines Produktionsleiters zu einem »namhafte[n] Dichter«, man habe hier keine Kunst, sondern Ware zu liefern, Eisenstein nachdenklich, und dieser soll »mit dem Finger

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Riga setzt um 1925 mit seinen Filmen Streik (Statschka, SU 1924) und vor allem dem Panzerkreuzer Potemkin (Bronenosec Potemkin, SU 1925) seine Montagetheorie um. Der zufolge stellt die »grundsätzliche Beziehung zwischen Einstellungen« keine konsequente bzw. kontinuierliche Konstruktion eines dramatischen Baus dar, sondern einen »Konflikt« der disparaten »nebeneinanderstehende[n] Abschnitte«.124 In einem Rundfunkgespräch nach der Rückkehr aus den Vereinigten Staaten huldigt Hasenclever zwar dem »russische[n] Prinzip der epischen Bildfolge«. Dann fügt der Dichter jedoch nicht ohne Stolz einen eigenen Beitrag zu dieser Entwicklung ein. Sein Versuch »im Jahre 1917«, Die Pest, habe genauso wie der russische Film die »künstlerische Verwirrung« geklärt, Film und Drama ständen im Zusammenhang. »Die Substanz des Films ist und bleibt eine epische.«125 Ungeachtet seiner innovativen Aspekte soll der Filmtext, so Hasenclever, »von der damaligen ›Branche‹ totgeschwiegen« werden.126 Es liegen mehrere Besprechungen über Die Pest vorwiegend in literarischen Publikationen vor, und alle heute bekannten Rezensionen fallen einstimmig vernichtend aus. Diesen Artikeln, die 1920/21 nach dem Erscheinen der Filmarbeit publiziert werden, entgeht erwartungsgemäß die filmtheoretische Pionierleistung. Der Theaterkritiker Bernhard Diebold etwa verurteilt dieses Filmmanuskript, dass Hasenclevers »Phantasie […] träge und armselig vor den besten Möglichkeiten des lebendigen Kunstbildes« bleibe. In diesem Filmtext erblickt Diebold nur einen »klägliche[n] Sturz eines ehemals talentvollen Stürmers in die billigste Banalität, aus deren Niederung er zu Karl May oder Jules Vernes als zu erhabenen Klassikern aufblicken darf«127 . Im Kreuzfeuer steht aber weniger der angeblich banale Inhalt des Filmtextes als vielmehr der formale Aspekt des Werkes. Die Kritiker sehen den Text nicht primär als ein Drehbuch. Konsequent überprüfen sie ihn auch nicht auf dessen Brauchbarkeit für eine wirkliche Filmproduktion hin, sondern vor allem im Kontext von Hasenclevers literarischem und dramatischem Schaffen. Von daher verlieren sie kein Wort über einen direkten Vergleich mit dem ersten Filmtext des Autors, der Hochzeitsnacht. Stattdessen erscheint in den Augen der Kritiker die auf der formästhetischen Ebene vonstattengehende Anpassung der dramatischen Literatur an

aufs Meer« zeigend sagen: »Drüben liegt Japan.« (Ebd.) Die Bemerkung hängt wohl damit zusammen, dass die traditionelle japanische Bühnenkunst für Eisensteins Filmkunst eine wichtige Inspirationsquelle bietet. 124 Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, S. 36 f. 125 Hasenclever: [Entwurf] (wie Anm. 73), S. 352 f. 126 Hasenclever: »Für wen« (wie Anm. 68), S. 315. Eine einzige Ausnahme sei Hasenclever zufolge der Kultregisseur Richard Oswald, der »sich in einem begeisterten Artikel« (ebd.) für das Filmskript eingesetzt haben soll. Die Rezension ist jedoch bis heute nicht ermittelt. 127 Diebold, Bernhard: »Film, Papier und Hasenclever«, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt vom 30. Juli 1920, unpaginiert.

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das Filmische besonders problematisch. Die Pest verkörpert für die Rezensenten einen künstlerisch schwerwiegenden Verfall. Diese vorwiegend literaturkritische Ausrichtung der Besprechungen, Die Pest vor allem im Kontext der literarisch-dramatischen Werke zu betrachten, lässt sich in zweierlei Hinsicht gewissermaßen rechtfertigen. Zum einen wirkt es mit Blick auf das Erscheinungsformat des Textes »als Buchform« (vgl. Abb. 5) angemessen, sich mit diesem trotz seiner Gattungsbezeichnung nicht als ein Film, sondern als ein Theaterstück und folglich ein literarisches Werk zu befassen. Insbesondere die snobistisch anmutende aufwendige Ausstattung einer »numerierte[n] und vom Verfasser signierte[n] Vorzugsausgabe auf Büttenpapier«128 reizt die Rezensenten. Diebold hebt den »Eigenstolz« dieser »Prachtausgabe« hervor: »›Die Pest. Ein Film‹ von Walther [sic!] Hasenclever erschien in … in … Großquart! Doppeltes Lexikonformat! / Reichspapierstelle!!!«129 Zum anderen muss ein Rekurs auf Die Hochzeitsnacht in den Augen der Literatur- und Theaterkritiker für das Verständnis der Pest vermeintlich nicht viel zu versprechen scheinen. Denn zwischen den Veröffentlichungen beider Filmarbeiten liegen schließlich sieben lange Jahre, während deren Hasenclever an anderen, vor allem dramatischen Werken arbeitet und diese publiziert. Unter anderen sticht neben Antigone insbesondere das Stück Die Menschen (1918) hervor, das aus formästhetischer Sicht in der Tat ungleich mehr Gemeinsamkeiten mit der Pest aufweist als Die Hochzeitsnacht. Beziehen die Rezensenten die beiden vorangegangenen Dramen von Hasenclever mit ein, so machen sie in den neueren literarischen Arbeiten des Dichters im Rückblick einen ständigen Prozess hin zum Filmischen aus, an dessen Endpunkt Die Pest zu stehen scheint. Für Hans Franck sei Hasenclever mit der Pest endlich »dort gelandet, wohin er schon lange Kurs genommen hatte, obwohl er zur Irreführung der Zuschauer zwischendurch doch noch andere Stationen anlief: beim Film«130 . Während Diebold eigentlich »die dramatische Begabung des ›Sohn‹-Dichters« schätzt, wittert bereits in Antigone – mit einigem Recht – »viel zu viel Regiekunst« im Stile von Reinhardt-Bühnen: Eine völlig überflüssige Feuersbrunst von Theben mit sehr effektvollem bengalischen Rot, ebenso unnötige Gespensterparaden der verstümmelten Mitbürger, mit wieder sehr effektvollem bläulich-grünen Scheinwerfer. Ein sehr effektvolles Reinhardt-Volk, das schreit und steinigt; […].131

128 Hasenclever: Die Pest (wie Anm. 51), S. 55. 129 Diebold: »Film« (wie Anm. 127; Herv. im Orig. gesperrt). 130 Franck, Hans: [Rezension zu:] »Die Pest«, in: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde 25 (1921), S. 820 f., hier S. 820. 131 Diebold, Bernhard: »Hasenclevers Weg zum Kino«, in: Ders., Anarchie im Drama, Frankfurt am Main: Frankfurter Verlags-Anstalt 1921, S. 324-330, hier S. 327.

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Abb. 5: Buchumschlag für Walter Hasenclever: Die Pest. Ein Film, Berlin: Cassirer 1920

Gebührt dem Drama Antigone jedoch zumindest aufgrund der »versgewandte[n]«132 Diktion noch Anerkennung, so legt das Schauspiel Die Menschen – Diebold zufolge – »das beredteste Zeugnis von des Dichters innerem Verstummen« ab. Denn die Figuren dieses Stückes »kennen nur noch das Stichwort; kaum mehr den zeilenlangen Satz«133 . Dieses »sogenannte Drama« bestehe »nur noch aus einem Schlagwörterlexikon für sämtliche soziale und seelische Bedürfnisse der Zeit«,134 »dessen assoziative Verbindung durch die Bilderserie geleistet wird«135 . Angesichts dieses

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Diebold: »Film« (wie Anm. 127). Diebold: »Hasenclevers Weg« (wie Anm. 131), S. 324. Diebold: »Film« (wie Anm. 127). Diebold: »Hasenclevers Weg« (wie Anm. 131), S. 324.

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»Telegraphenstil[s]« erweckt das Stück einen Eindruck, dass es sich hierbei um ein »lallendes Kino«136 handelt. Mit Blick auf dieses vorangegangene Werk, Die Menschen, soll das Erscheinen der Pest die Kritiker nicht überraschen. Diebold bemerkt: »[W]ir sind am Ziel – das sich aus der Richtung der ›Menschen‹ notwendig ergab«137 . Franck sieht auch zwischen dem Theaterstück und dem Film keine nennenswerten Unterschiede: »Was er mit seiner letzten ›Dichtung‹ uneingestandenermaßen tat, das unternimmt er jetzt mit herausfordernder Geste.«138 So werfen die Rezensionen der Pest Hasenclever vor, sich schrittweise vertiefend an das Filmische anzunähern, was in den Augen der Kritiker einem plebejischen Verrat an der edlen Theaterkunst gleichkommt: Nachdem der Dichter Hasenclever sein Talent genugsam an das Wort verschwendet hatte, zerstörte er den Tempel Melpomenens, setzte sich mit Mariuswürde auf das erhabenste Trümmerstück und sann auf neue Ausdruckskunst.139 Es ist ein heikles Unterfangen, zu beurteilen, ob die von den Kritikern behauptete sukzessive Annäherung an das Filmische vom Dichter überhaupt intendiert wird. Zwar bestreitet Hasenclever selbst etwa in einem Paratext für Die Menschen, Die Aufgabe des Dramas, die Nähe dieses Stückes zum Filmischen. »Der Vergleich mit dem Film und der Pantomime wäre ebenso hinfällig wie die Behauptung, Shakespeare sei Spiritist gewesen, weil der Geist von Hamlets Vater erscheint.«140 Rückblickend bemerkt Pinthus ebenfalls, die Einworttechnik dieses Schauspiels entspringe eher literarischer Experimentierfreude des Dichters. »Hasenclever tendierte in dieser Epoche zu äußerster Konzentration des Worts [und …] zugleich zu weitgreifendster Simultaneität der Bilder«141 . Trotz dieser Belege lassen sich jedoch auch Indizien feststellen, die auf eine wohl absichtliche Parallele zwischen den Menschen und dem Filmischen hinzuweisen scheinen. Handelt es sich doch sowohl beim Schauspiel als auch beim Film um eine prekäre Verbindung der Disparaten. Dem oben angeführten, in einem 136 137 138 139

Ebd., S. 329. Ebd., S. 329 f. Franck: [Rezension zu:] »Die Pest« (wie Anm. 130), S. 820. Diebold: »Film« (wie Anm. 127; Herv. im Orig. gesperrt). In den 1930er Jahren gründet Diebold im Schweizer Exil »die Filmstoff-Zentrale, eine Art Maklerbüro für Filmdrehbücher«. Mit Blick auf den früheren Verriss des Kritikers muss es Hasenclever – wie er in einem Brief mit einem Anflug von Bitterkeit offenbart – wie »eine kleine Ironie des Schicksals« vorkommen, dass Diebold, der »vor nunmehr siebzehn Jahren […] mich des Verrats am Drama« »bezichtigte«, 1936 an ihn »mit der Aufforderung« herantritt, »Drehbuchexposés zu verfassen«. Vgl. Kasties: Walter Hasenclever (wie Anm. 55), S. 331 f. 140 Hasenclever, Walter: »Die Aufgabe des Dramas« [1920], in: Ders., Kleine Schriften (wie Anm. 60), S. 275-277, hier S. 276. 141 Pinthus: »Walter Hasenclever« (wie Anm. 62), S. 30.

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von Swedenborg inspirierten Sprachgebrauch verfassten Vorwort zu den Menschen zufolge soll in dem Stück intendiert sein, »die Welt der Lebenden und Toten zu verbinden«142 . Dies soll aber erst dann bewerkstelligt werden, wenn man eine »neue Dimension auf der Bühne«143 herstellt. In »der vierten Dimension«, deren Existenz die aktuelle Entwicklung verschiedenartiger Wissenschaften von der Chemie über die Physik und die Mathematik bis hin zur Medizin zu bestätigen scheint, sollen etwa die »Begriffe von Raum und Zeit, Energie und Materie« entfallen.144 Darüber hinaus sollen in dieser Dimension die »Geister« »[a]uf einer unsichtbaren Bewegungskurve […] zwischen Wort und Geste, Licht und Schatten, Zeit und Raum« arbeiten, damit diese »in einem Zauberspiel« »zu einem gemeinsamen Leben« »verknüpft«145 werden können. Im einige Jahre später entstandenen Aufsatz Wie ich Filmschauspieler wurde (1923) spricht Hasenclever wieder von einer »Zauberei«. Diese bezieht sich jedoch diesmal nicht auf das Drama, sondern auf das Kino. Beim Film wie beim Märchen »handelt es sich um den Ablauf des alltäglichen Lebens, gesteigert ins Phantastische; mit einem Worte: um Zauberei«: Wenn in diesen Märchen das Gesetz der Schwerkraft aufgehoben war, wenn Raum und Zeit zum Schemen versanken, bis ein vierdimensionales Geschehen entstand, so ist der Film in der Lage, diese wunderbare Magie in die Wirklichkeit zu übertragen; tatsächlich liegt in der Zeitlosigkeit der Bilder, in der Aufgabe von Raum und Schwerkraft die Überwindung der körperlichen Welt.146 Auch in dieser filmischen Dimension waltet ein unsichtbares Medium, das jedoch nicht spiritualistischer Natur wie jene »Geister« ist, sondern nun filmtechnischer. Der »Operateur« zählt beispielsweise zu solchen Mittlern, denn er ist etwa »imstande, durch Überblenden zwei zeitlich und räumlich von einander getrennte Vorgänge im bewegten Bild zu vereinigen«147 . Um genauer zu formulieren, ist es die Filmtechnik einer Montage, welche disparate Bilder aus verschiedenen Räumen bzw. Zeiten verknüpft und trotzdem ihrerseits unsichtbar bleibt. Mit Blick auf die vergleichbare Ausrichtung des Schauspiels Die Menschen und des Films Die Pest erscheint es einleuchtend, dass das Ziel, welches das Drama anstrebt, im Grunde nur mit der Filmmontage oder der »epischen Bildfolge« zu erreichen ist. In dieser Hinsicht muss in den Menschen, wie Diebold richtig konstatiert, trotz alledem eine Tendenz zum Film bereits angelegt sein, welche die folgende Arbeit am Filmtext notwendig wirken lässt. 142 143 144 145 146 147

Hasenclever: »Die Aufgabe« (wie Anm. 140), S. 275. Ebd., S. 276. Ebd., S. 275 f. Ebd., S. 276. Hasenclever: »Wie ich« (wie Anm. 82), S. 294. Ebd.

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Dies besagt aber keineswegs, dass mit der Pest jemals ein medialer Wandel bzw. Medienwechsel tatsächlich stattfände.148 Ungeachtet der Gattungsbezeichnung Ein Film wird Die Pest nicht verfilmt und in diesem Sinne nicht einmal verwirklicht. In dieser Hinsicht erscheint die Frage, die Diebold dem Autor gegenüber aufwerfen will, umso zutreffender. »›Wie können Sie, Herr, es wagen, einen Film für ein Buch oder ein Buch für einen Film auszugeben? […]‹«149 Franck behauptet ebenfalls, dass der Filmtext gleichzeitig zwei verschiedene Ziele verfolgt, um schließlich die beiden nicht bewältigen zu können. »Der in einem Riesenformat gedruckte Filmtext erhebt denn auch nicht nur den Anspruch, der erste Film zu sein, der als Buch gedruckt wurde, sondern den weitergehenden, als Wortkunstwerk beurteilt zu werden«150 . ›Ein Film, der als Buch gedruckt wird‹: Diese programmatische, jedoch zwiespältige Doppelseitigkeit haftet von Anfang an diesem Werk. Als Endprodukt liegt einerseits nichts anderes als ein Buch vor, mit dem man genauso wie mit einer im gewöhnlichen Sinne literarischen Arbeit umgehen muss, während es angeblich gleichzeitig Ein Film sein soll. Indem das Werk als Drehbuch konzipiert wird, konstituiert sich der Text naturgemäß durchgehend in Relation zum Film. Gleichwohl erscheint er im Literaturverlag bei Paul Cassirer »in Buchform«, um in erster Linie gelesen zu werden. Gerade dieser Zwiespalt ermöglicht eine formästhetische Sonderstellung dieser Arbeit. Die Leser haben es hier mit einer neuartigen literarischen Form zu tun, die, um mit Irina Rajewsky zu sprechen, fremdmedial – im vorliegenden Fall filmisch – »›kontaminiert‹«151 erscheint. Aus dieser Perspektive handelt es sich bei der Pest um einen extremen Fall von ›Systemkontamination qua Translation‹. Denn der im literarischen Format erscheinende Text eignet sich nicht nur die Regeln des Films an – vor allem die Darstellungsform der Montage oder der »epischen Bildfolge«. Er gibt sich darüber hinaus selbst als ein fremdmediales System – Ein Film – aus, ohne jedoch »in Ermangelung der entsprechenden Instrumente und Mittel […] tatsächlich in filmischen Bildern [zu] erzählen«152 . Die Genrezuordnung Ein Film stellt bei diesem – im Grunde – literarischen Text infolgedessen eine ›explizite Systemerwähnung‹ dar, die eine intermediale Bezugnahme auf den Film markiert. Sie soll zusammen mit einer »Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Text und Film« die Rezeption dieses literarischen Werkes lenken, sodass »in der Vorstellung des Lesers« »das filmische System […] evoziert […] wird«153 . Um bildlich zu formulieren: Der 148 Wolfs Terminologie zufolge bleibt Die Pest am Ende im Bereich der »verdeckten I[ntermedialität]«, ohne in die Domäne der »manifesten« überzugehen, vgl. Wolf: Art. »Intermedialität« (wie Anm. 40), hier S. 345. 149 Diebold: »Film« (wie Anm. 127). 150 Franck: [Rezension zu:] »Die Pest« (wie Anm. 130), S. 820. 151 Rajewsky: Intermedialität (wie Anm. 33), S. 128. 152 Ebd., S. 125. 153 Ebd., S. 129.

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Filmtext Die Pest. Ein Film selbst stellt den Schauplatz einer ›Kontamination‹ bzw. ›Infektion‹ dar, in dem das filmische System gleichsam als die ›Kinopest‹ in das literarische eindringt und in diesem parasitär zusammenlebt. Insofern besteht im Titel dieses Buches, d.h. zwischen dem Haupttitel (Die Pest) und der Gattungsbezeichnung (Ein Film) eine metaphorische Prädikation. Hier soll Film Pest sein, die auf den Text oder die »Buchform« übertragen wird. Der Titel Die Pest. Ein Film erweist sich nicht nur aus dem formästhetisch intermedialen Gesichtspunkt als selbstreflexiv. In Bezug auf den Inhalt bzw. die Diegese zeichnet sich der Filmtext in zweierlei Hinsicht durch das Virulente aus. Zum einen geht es um keinen inter-, sondern einen intramedialen Bezug, d.h. um einen intertextuellen. Weiter oben wurde vermutet, dass Philipp Kellers kleines Kinostück Die Seuche womöglich in der Stoffwahl von Die Pest eine Rolle spielen dürfte. Diese Annahme lässt sich zwar nicht bestätigen, zeigt sich jedoch zumindest umso wahrscheinlicher, wenn man auf die zweite Hälfte der Pest einen Blick wirft. Die beiden Figuren dieses Filmtextes, »Die Geliebte« und »Der Student«, erinnern an die zentralen Gestalten im Kinostück, Marfa und Alexander, denn in Bezug auf die beiden Liebespaare sticht die Parallele der Handlungen deutlich hervor. Infolge der vergleichenden Lektüre der beiden Filmtexte stellt sich auf der inhaltlichen Ebene eine Reihe von Entsprechungen bezüglich der Liebespaare heraus. Sowohl in der Pest als auch der Seuche wird nur die weibliche Figur mit dem Übel angesteckt. In der Seuche beabsichtigt Alexander zum einen für die verstorbene Geliebte Marfa des Nachts auf einem See hinter dem Wald die Bestattung. Er rudert »aus der Bucht das Boot […] und [wirft] einen weißen Packen gespenstig über Bord«. Zurück am Ufer, übt Alexander im Mondlicht »so süß wie seine Liebesspiele« ein Ritual der Trauer aus, »und plötzlich, ganz allein, sehen wir das Gesicht Marfas zwischen den Wellen vorsteigen«. Während Alexander von den im Wald belauernden Bauern, die ihn der Hexerei verdächtigen, umgebracht wird, kommt »[v]on ganz andrer Seite […] die Auflösung«. Vom Dorf aus bringt »[e]in kleiner Junge« eine Nachricht der angekommenen »Zigeuner«, die »mit alten Formeln und Lärm die Seuche zu beschwören gekommen sind«. Das Kinostück läuft auf eine schwarze Ironie hinaus, dass die »Dörfler zu hoffen« beginnen und »die Fahrenden voller Ehrfurcht« betrachten, »[o]bgleich sie noch niemanden geheilt haben«154 . Der Handlungsstrang der »Geliebte[n]« und des »Student[en]« in der Pest läuft zum anderen alternierend mit dem Verlauf der Entdeckung des Serums, die in einer spektakulären Enttäuschung enden sollte. Die beiden Vorgänge werden durch Parallelmontage effektvoll verbunden bzw. verflochten. Infolgedessen treffen der

154

Keller, Philipp: »Die Seuche« [1913/14], in: Pinthus (Hg.), Das Kinobuch. Dokumentarische NeuAusgabe (wie Anm. 57), S. 53-57, hier S. 56 f.

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Ausgang des Liebespaares, das Versagen des Serums in der öffentlichen Vorführung sowie der Bankrott der hierfür eingesetzten finanziellen Investition schließlich überein (104.-138. Bild). Vor den beiden jugendlichen Figuren, die jetzt unter dem Schock der herausgestellten Ansteckung der »Geliebte[n]« bewusstlos sind, tritt urplötzlich das »Kind« auf (110. Bild). Dieses erweckt das Paar und »geht voran«, während »Student und Geliebte folgen« (116. Bild). Indem an der Universität das öffentliche Experiment des Serums katastrophal misslingt, erreichen die beiden einen See: »See. Mond. Kind tritt aus dem Wald. Student und Geliebte folgen« (134. Bild, das den vierten Akt beschließt). Im darauffolgenden und letzten Akt, in dem ein »Weltuntergang« geschildert werden soll, wird mit Panik und »Wahnsinn« von Menschen alternierend und kontrastierend »Das Ende der Glücklichen«155 am See dargestellt. Hier findet zwar anders als bei der Seuche weder Bestattung noch Mord statt, doch ereignet sich zumindest der gemeinsame – allerdings hier erlösende – Tod des Liebespaares: See. Mond. Kind als Engel breitet die Arme aus. Flügel. Schwebt über den See. Student und Geliebte sehen ihm nach. Umschlingen sich. Schreiten in den See. (138. Bild) Nicht nur die Figurenkonstellation – ein junges Liebespaar und ein Kind –, sondern auch die Handlung der beiden Werke erweist sich als hochgradig vergleichbar. Während das Liebespaar in beiden am See den Tod findet, erfolgt ein mysteriöses Geschehen entweder in Gestalt des Engels (Die Pest) oder des auftauchenden Gesichts der toten Marfa im Mondlicht (Die Seuche). Hinzu kommt der szenische Hintergrund eines nächtlichen Seeufers hinter dem Wald und unter dem Mond. Auf diese Weise stellt es sich heraus, dass Die Pest – noch einmal bildlich gesprochen – inhaltlich bzw. diegetisch von der Seuche zwar intramedial, doch intertextuell ›kontaminiert‹ ist.156 In dieser Hinsicht erscheint Die Pest gleichsam ›verseucht‹ mit der Seuche. 155 156

Kursive Stellen in diesem Werk sollen darauf hinweisen, dass es sich um Zwischentitel handelt. Der Sprachgebrauch entspricht selbstverständlich nicht der Terminologie von Rajewskys Systematik: Der zufolge soll die vorliegende intramedial-intertextuelle Bezugnahme als keine ›Systemkontamination‹, die ausschließlich dem Intermedialen vorbehalten ist, sondern vielmehr als eine ›reproduzierende Systemerwähnung‹ bezeichnet werden, bei der ein bestimmter Einzeltext thematisiert und ›erwähnt‹ wird. Außerdem wird hier im »Hypertext auch das literarische Subsystem aktualisiert«, »welches der Hypotext aktualisiert« – gehören beide Werke doch gleichermaßen zur Gattung des Filmtextes. In solchem Fall lässt sich – so Rajewsky – »der intertextuelle Verweis […] als Markierung einer solchen Systemaktualisierung interpretieren«. Rajewsky: Intermedialität (wie Anm. 33), S. 72. Insofern soll der intertextuelle Rekurs auf Die Seuche den Umstand markieren bzw. nachdrücklich unterstreichen, dass Die Pest kein vereinzeltes Unternehmen darstellt, sondern eine Weiterführung des KinobuchExperimentes bedeutet.

8 Die kinematographische ›Ansteckung‹ des Theaters

Darüber hinaus macht Die Pest. Ein Film schließlich auf der diegetischen Ebene die ›Kinopest‹ bzw. das Virulente in der Wirkung des Films selbstreflexiv zum Gegenstand. Die aus Indien importierte Seuche verbreitet sich nicht nur durch die Ratten, sondern in symbolischer Gestalt eines indischen Kleides, das eine Tänzerin in der Hafenstadt bei einem Trödler erwirbt (48. Bild). Indem sie das Kleid mit dem Zug zur Hauptstadt bringt, erreicht die Krankheit ein epidemisches Ausmaß. Als ihr dies bewusst wird, gerät sie in Panik und wirft das Kleid in den Fluss (67. Bild), sodass nun der Pesterreger endgültig überhandnimmt. Für die vorliegende Studie sind in Bezug auf das Kleid zwei Aspekte besonders beachtenswert. Das Kleid taucht zum einen ausgerechnet an den Orten auf, an denen sich die Menschen massenhaft aufhalten. Außerdem wird in den Sequenzen der Ansteckung das Sehen des Kleides jedes Mal andeutungsweise hervorgehoben. Gleich nach der Anschaffung des Kleides begibt sich die Tänzerin in ein Varieté, auf dessen Bühne sie für eine Weile im Kleid vor dem Publikum tanzt. Nach ihrer Tanzvorführung liegt die Garderobenfrau, die vorhin die »Tänzerin im Kleid« gesehen hat, ohnmächtig am Boden (49.-51. Bild). Daraufhin reist sie mit dem Zug in die Hauptstadt: 55. Bild Abteil I. Klasse. Tänzerin mit Reisenden. Zug fährt. Tänzerin steht auf, öffnet Handkoffer. Ein Herr hilft ihr. Das Kleid wird sichtbar. Tänzerin nimmt Buch, liest. Herr greift an die Stirne, fällt in die Kissen. Aufregung. Tänzerin zieht Notbremse. Zug hält. Herr wird fortgetragen.157 In der Hauptstadt angekommen, betritt die Tänzerin ein Theater, um ihren Tanz wieder aufzuführen. Als sich ein Herzog in die Loge einschleicht, erscheint der Zwischentitel: Der Herzog sieht die Tänzerin (65. Bild). Nach der Vorstellung befinden sich die beiden zusammen in einem Nebenraum: 66. Bild Separé [sic!]. Blumen. Vorhang zum Restaurant geschlossen. Herzog am Tisch. Zigarette. Vorhang geht auf. Tänzerin im Mantel. Lächelt. Herzog küßt ihr die Hand. Tänzerin läßt Mantel fallen. Indisches Kleid. Öffnet Vorhang. Musik. Sie tanzen. Herzog taumelt. Tänzerin tanzt weiter. Herzog leblos. Tänzerin rast. Hält Leiche im Arm. Grauen. Flucht. Kellner bringt Sekt. Alarm. Gäste. Brust des Herzogs: Schwarzer Fleck. Schrei: Die Pest! Tische und Stühle fallen um. Alle fliehen.158

157 158

Hasenclever: »Die Pest« (wie Anm. 104), S. 402 (Herv. des Verf.). Ebd., S. 403 (die erste Herv. des Verf. [»Tänzerin …«], die zweite [»Die Pest!«] im Orig. [als Zwischentitel]).

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Metaphorologie des Kinos

Nachdem die Tänzerin entsetzt das Kleid weggeworfen hat, wird es am Fluss aufgefischt und im Jahrmarkt von »Braut und Bräutigam« erworben, deren Trauung sich infolgedessen in einen Albtraum verkehrt: »Die Hochzeit / Altar. Hochzeitszug. Brautpaar. Altar. Pfarrer ergreift ihre Hände. Braut wankt. Bräutigam fällt. Alle erstarren.« (77. Bild)159 Dieses durch die Pest verseuchte Kleid wird als ein merkwürdiges Schauobjekt inszeniert, das für die Menschenmenge bzw. Publikumsmasse bestimmt zu sein scheint. Das Kino selbst findet sich zwar nicht in der Handlung. Bei den Spielstätten, in die das Kleid mitgebracht wird – Varieté, Theater und Jahrmarkt –, handelt es sich jedoch um die Einrichtungen, die insbesondere vor der Einführung des ständigen Kinos für die Filmvorführung infrage kommen sollen. An jeder Station taucht das Kleid vor den Zuschauern auf, um dadurch auf diese die unheilvolle Krankheit zu übertragen und die Angesteckten in den Tod zu schicken – als würden die Ansteckung und das tödliche Symptom durch das Anschauen des Kleides ausgelöst. Diese Thematik des fatalen Sehens wird in der folgenden Sequenz unmissverständlich auf den Punkt gebracht. Während die Spuren dieses todbringenden Kleides in der Hochzeits- oder Trauerfeier endgültig verloren gehen, kommt es als ein buchstäbliches, gleichsam ins Extreme gewendetes Schauobjekt in die Handlung zurück. In der Sequenz, wo sich der Erfinder des Serums auf die öffentliche Vorführung seiner Entdeckung vorbereitet, bekommt er – mit Blick auf den Plot völlig unmotiviert und überflüssig – eine Photographie zu sehen: 117. Bild Laboratorium. Erfinder. Diener bringt Zeitungen. Erfinder liest: Die große Entdeckung! Der Erfinder wird das Heilmittel vorführen. Erfinder sieht befriedigt auf den Tisch:   118. Bild Kleine Flasche mit schwarzem Kreuz.   119. Bild Erfinder läßt Zeitung sinken, schlägt Zeitschrift auf. Stutzt, richtet sich in die Höhe.   120. Bild Photographie der Tänzerin. Indisches Kleid.

159

Ebd., S. 405 (Herv. im Orig. [als Zwischentitel]).

8 Die kinematographische ›Ansteckung‹ des Theaters

 121. Bild Erfinder wie hypnotisiert. Langer Blick. Liebe.160 Die Photographie der Tänzerin in jenem indischen Kleid, das jetzt ohne Materialität gleichsam als ein rein optisches Bild technisch reproduziert vorliegt, versetzt den Erfinder in eine Hypnose. In der unmittelbar darauffolgenden Sequenz, in der sich die Hoffnung auf die Bewältigung der Pest in ein entsetzliches Desaster verwandeln sollte, erweist sich das Sehen der Photographie als ausgesprochen letal: 122. Bild Die Häupter der Wissenschaft Universität. Hörsaal, amphitheatralisch. Unten Operationstisch. Davor Sessel. Professoren erscheinen. Bänke füllen sich. Bankier sitzt auf Sessel. Erfinder tritt ein, verbeugt sich, steht hinter Operationstisch. Pestkranker, verhüllt, weiße Tücher, wird hereingetragen. Rechte Hand sichtbar, leblos, wächsern. Träger legen Kranken auf Operationstisch. Das Experiment Erfinder zeigt leblose Hand des Kranken. Zieht die kleine Flasche aus der Brusttasche, nimmt Flüssigkeit in eine Spritze. Stutzt plötzlich, sieht ins Leere.   123. Bild Photographie der Tänzerin. Indisches Kleid.   124. Bild Erfinder wie abwesend, greift nach Hand des Kranken.   125. Bild Leblose Hand des Kranken. Lebendige Hand des Erfinders sticht mit der Spritze hinein, spritzt.   126. Bild Erfinder läßt plötzlich die Hand los, greift an die Stirne, Augen stier. Die Pest!! Erfinder fällt über den Kranken.   127. Bild Hand des Erfinders. Todeskrampf. Er zerdrückt die Flasche.161

160 Ebd., S. 410 f. 161 Ebd., S. 411 f.

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Metaphorologie des Kinos

Das Motiv des indischen Kleides scheint hier im Grunde irrelevant zu sein. Die Bazillen werden auf den Erfinder diesmal von dem Pestkranken übertragen und augenscheinlich nicht vom photographierten Kostüm, das als rein optische Abbildung keine Ansteckungskraft mehr besitzen soll. Insofern muss irgendeine Absicht dafür vorliegen, dass Hasenclever gleichwohl dieses Foto ins Spiel bringt. Durch die Sequenz soll der Eindruck entstehen, als ob der Erfinder infolge der Illusion stürbe, die sich beim Anblick der Photographie hypnotisch seinem Gehirn eingeprägt hat. Anders formuliert: Als besäße das photographisch reproduzierte Bild des Infektionsträgers trotz alledem eine solche Virulenz, dass die Krankheitserreger die Betrachter ausschließlich auf dem Weg des Visuellen heimsuchen und in den Tod schicken können. Die Denkfigur der Hypnose, die durch ein optisches Medium der Photographie auf die Zuschauer ausgeübt wird, kommt bei Hasenclever hier nicht zum ersten Mal zum Tragen. In dem vier Jahre zuvor verfassten Aufsatz Der Kintopp als Erzieher beschreibt der Dichter die Wirkung des »Kintopp[s]« als etwas Virulentes wie von »Pocken«. Auch hier spricht er bereits von der aus dem Kino ausgehenden »Hypnose«, die durch »Raum und Zeitlichkeit«162 im Film herbeigeführt werden soll. Hasenclever versteht den Film als »eine neue Kunstform«, die »durch das Medium der Photographie«163 ermöglicht wird. Insofern lässt sich die Behandlung dieses Motivs in Die Pest. Ein Film als ein Rückgriff auf die metaphorische Figur interpretieren, die gerade die hypnotisch ansteckende Wirkung des filmischen Mediums zum Thema hat. Die Metapher der ›Kinopest‹ sowie ›-seuche‹ wird ursprünglich zur Beschreibung der Filmrezeption bzw. deren Wirkung eingesetzt. Im Gegensatz hierzu findet sie diesmal – zumindest potenziell – Aufnahme auf die Leinwand selbst, um im Rahmen der filmischen Handlung in Szene gesetzt zu werden. Mit Blick auf diese selbstreflexive Sequenz lässt sich der Titel des Filmtextes, Die Pest. Ein Film, gleichsam appositionell oder metaphorisch auslegen. Demzufolge soll Film Pest bedeuten, welche die Zuschauer aufgrund ihres fatalen Effektes einer visuellen Hypnose untergehen lassen könnte.

162 163

Hasenclever: »Der Kintopp« (wie Anm. 85), S. 257. Hasenclever: »Wie ich« (wie Anm. 82), S. 294.

Die reflektierte ›Kinopest‹. Zur Ansteckungsmetapher in der Weimarer Zeit

Hasenclevers Rekurs auf die ›Kinopest‹ darf jedoch – abschließend bemerkt – selbstverständlich als kein Revival der kinoreformerischen Dämonisierung des Kinos aufgefasst werden. Nicht zuletzt angesichts der fortgeschrittenen Etablierung oder ›Kontamination‹ der Filmkultur erweist sich die Öffentlichkeit des Jahres 1917 bzw. 1920 weitgehend als immun gegen die ›Kinopest‹. Die Figur klingt jedoch im Kinodiskurs der Weimarer Zeit keineswegs aus, sondern findet weiterhin Verwendung. Allerdings wird sie hierbei aus einer hochgradig reflektierten Perspektive betrachtet. Die Pest. Ein Film greift dieses selbstreflexive Motiv als einen spektakulär wirkenden Stoff in der fiktiven Diegese auf. Auch etwa die gerade ab dem Ende des Ersten Weltkrieges aufkommende Filmtheorie setzt diesen Gedanken als ein metaphorisches Theorem ein, um den vorhandenen, jedoch begrifflich schwer zu erfassenden Effekt des Films treffend zu artikulieren. Béla Balázs nimmt in seinem zweiten Buch für die filmästhetische Theorie, Der Geist des Films (1930), dieses Motiv auf, um die Wirkung einer Großaufnahme anschaulich und gleichnishaft hervorzuheben. Die Rede ist hier von »den ersten Großaufnahmen« der Schauspieler und Schauspielerinnen des Stummfilmes – etwa eines Sessue Hayakawa oder einer Asta Nielsen. In ihrem Mienenspiel wird, so Balázs, etwas Unsichtbares ausgedrückt, während die Zuschauer ihrerseits gleichwohl glauben sollen, dies gesehen zu haben. »Jedoch – und das ist das Wunderbare – wir sehen deutlich an seinem [d.h. Hayakawas] Gesicht, daß wir etwas an seinem Gesicht nicht sehen. Es ist vorhanden, aber nicht zu lokalisieren. Ein unsichtbar deutlicher Ausdruck.«1 Balázs setzt fort: Schon diese ersten Großaufnahmen haben uns solche Subtilitäten des Mienenspiels wahrnehmbar gemacht. Es sind Ausdrucksnuancen, die mit dem bloßen

1

Balázs, Béla: Der Geist des Films [1930]. Mit einem Nachwort von Hanno Loewy und zeitgenössischen Rezensionen von Siegfried Kracauer und Rudolf Arnheim, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 19 (Herv. im Orig.).

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Metaphorologie des Kinos

Auge nicht festzustellen sind und doch durchs Auge entscheidend auf uns wirken, so wie etwa ein Bazillus, den wir beim Einatmen nicht spüren, uns doch töten kann.2 Hier handelt es sich folglich wie beim bakteriologischen Projekt kochscher Prägung wieder um das Spiel der Sicht- und Unsichtbarkeit. In diesen Großaufnahmen zeigt sich zwar etwas Unsichtbares, das sich doch auf die Zuschauer – umso stärker – auswirken soll. Balázs versucht diesen eigentümlichen Effekt anhand eines analogischen Gleichnisses – »so wie etwa ein Bazillus« – zu beschreiben. Nichtsdestotrotz intendiert er selbstredend keineswegs, wegen der in den Großaufnahmen nistenden ›Kinopest‹ den Film zu bekämpfen bzw. das Unsichtbare filmtechnisch sichtbar zu machen. Die filmisch bewerkstelligte »Mikrophysiognomie«, die nur die Großaufnahme »an den Tag« zu bringen vermag, ist Balázs’ Ansicht nach vielmehr eindeutig zu begrüßen. Denn sie soll ihm zufolge den »deutlichsten Ausdruck« »der Skepsis der heutigen Generation gegen die hergebrachten Ausdrucksformen des feudalen und altbürgerlichen Geistes« darstellen und aus diesem Grund »von großer ideologischer Bedeutung«3 sein. Auffallend ist hier nicht nur der veränderte, marxistisch stark gefärbte Sprachgebrauch, der zehn Jahre zuvor zur Seltenheit gezählt hätte. Das ins Positive gewendete Vorzeichen des metaphorischen (oder genauer: gleichnishaften) ›Kinopest-Bazillus‹ unterstreicht einmal mehr die ›Immunität‹ des Kinodiskurses. Das Virulente des Films wird zwar als paradox und prekär erachtet. Von diesem im Film inhärenten geheimnisvollen Aspekt soll hier jedoch trotzdem als etwas Einkalkulierbarem auszugehen sein. Denn er ist je nach der politischen bzw. ideologischen Perspektive womöglich als ein Mittel oder eine (in diesem Fall gleichsam biologische) ›Waffe‹ zu instrumentalisieren und als solche zu mobilisieren. In diesem Sinne steht Balázs’ Metapherngebrauch des Kinobazillus in einer Reihe mit den linken Parolen wie Hätte ich das Kino!4 oder Erobert den Film!5 , die eine Instrumentalisierung des Mediums zum Zweck der politischen Propaganda fordern. In den 1910er Jahren etabliert sich das Kino zwar schrittweise innerhalb der kulturellen Sphäre, und dieser Prozess wird auch als eine ständige ›Immunisierung‹ gegen die ›Kinopest‹ artikuliert. Trotz der scheinbaren Domestizierung des Films

2 3 4 5

Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Mierendorff, Carlo: »Hätte ich das Kino!« [1920], in: Fritz Güttinger (Hg.), Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm, S. 384-399. Münzenberg, Willi: Erobert den Film! Winke aus der Praxis für die Praxis proletarischer Filmpropaganda, Berlin: Neuer Deutscher Verlag 1925.

Die reflektierte ›Kinopest‹. Zur Ansteckungsmetapher in der Weimarer Zeit

als Mittel zum Zweck bleibt jedoch sein zweischneidiger Charakter – eines ›GiftGiftes‹ – bestehen. Demzufolge kann der Film einerseits der (kultur-)politischen Absicht einer Faszination und/oder Manipulation der Zuschauermassen dienen. Dies soll jedoch gleichzeitig besagen, dass sich das gewinnbringende Instrument zu einem Menetekel verkehren kann, falls es den feindlichen Lagern in die Hände kommen sollte. In dieser Hinsicht steht der linksorientierte Aufruf zur Filmpropaganda im Grunde nicht fern von der nationalistischen Instrumentalisierung des Kinos. Die prekäre Ambivalenz des Kinos, die im Zuge der ›Immunisierung‹ gegen die ›Kinopest‹ mit Erfolg unter Kontrolle gestellt zu werden scheint, setzt sich ab den 1920er Jahren bei einer weiteren Leitmetapher der ›Waffe‹ zwar in veränderter Form, jedoch mitunter in umso verhängnisvoller Weise fort.

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Schlussbetrachtung oder: Ausblick auf eine Metaphorologie des Films

Diskurse, wie sie sich gerade unter dem Eindruck eines neu aufkommenden Mediums organisieren, üben gelegentlich Rückwirkungen auf die neuen medialen Hervorbringungen selbst aus und nehmen an ihnen tätigen Anteil. Diese Rückkopplung vom Diskurs auf das Ereignis erfolgt beim frühen Kino vor allem über die Metaphern, die im Kinodiskurs entstehen, zirkulieren und unter Umständen in die filmtheoretische Terminologie Aufnahme finden. Indem sie den Praktiken der Filmproduktion ein Bildreservoir bieten, beteiligen sie sich an der Gestaltung der Filme als medialer Ereignisse – allerdings unabhängig von deren (kultur-)politischer Couleur. In dieser Perspektive fungiert die Metapher gleichsam als Vehikel, das zwischen Sprache bzw. Text einerseits und Bild oder Film andererseits beständig hin- und zurückfährt und infolgedessen wechselseitige Bezüge herstellt. In Walter Hasenclevers Die Pest geschieht dies durch die Ansteckungsmetapher, die der Autor auch in seinem Kinodebattenbeitrag herangezogen hat. Als Drehbuch, das für die damaligen Verhältnisse überaus praktikabel erscheint, bietet Die Pest ein Paradebeispiel der intermedialen Rückkopplung. Das Motiv des Virulenten, das diesem Skript sein Momentum gibt, lässt sich gerade in der Szene der Übertragung des Pestbazillus auf den Erfinder des Serums mit dem filmischen Medium selbst ausdrücklich in Verbindung bringen. Infolge dieser thematischen Verknüpfung wird die im Diskurs etablierte Metapher der ›Kinopest‹ hier vom Kino selbst aufgenommen. Wegen der schließlich ausgebliebenen Realisation als Film bleibt Die Pest allerdings innerhalb des Bereichs der Literatur stehen. Der Untertitel der Buchveröffentlichung, Ein Film, soll insofern vor allem eine neuartige literarische Gattung bezeichnen und folglich eher als eine Markierung der intermedialen Bezugnahme von der Literatur auf den Film verstanden werden. In der Zeit der Bearbeitung sowie Veröffentlichung dieses »erste[n] Filmtext[es], der in Buchform« erscheint, ist jedoch zu beobachten, dass eben dieses Motiv der Pest vielfältig im Filmischen aufgegriffen wird. Im damaligen deutschen Kino lässt sich sogar eine regelrechte Konjunktur des Pestmotives feststellen. Richard Oswald schildert etwa im ersten Stück seiner insgesamt fünf Episoden

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Metaphorologie des Kinos

umfassenden Unheimlichen Geschichten (DE 1919), »Die Erscheinung«1 , das rätselhafte Schicksal einer jungen holländischen Pestkranken, deren Existenz mitsamt ihrer Todesursache vom Hotelpersonal und von der Obrigkeit verheimlicht wird. In einem Historienfilm aus demselben Jahr, Die Pest in Florenz (DE 1919, R: Otto Rippert, B: Fritz Lang), taucht ebenfalls die Pest auf. Als abgemagerte Frau mit einer Geißel in der Hand2 personifiziert, terrorisiert sie die Bewohner der toskanischen Stadt. Hier sucht der Schwarze Tod – seiner von Sontag hervorgehobenen tradierten Vorstellung gemäß – die mittelalterlichen Florentiner gleichsam als die Strafe für ihre Sittenverderbnis heim. In Friedrich Wilhelm Murnaus Film Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens (DE 1921) verwandelt der titelgebende Untote und Wiedergänger seine Opfer nicht zu Vampiren, sondern infiziert sie mit Pestbazillen. In dieser Hinsicht weicht der Film von seiner direkten Vorlage, Bram Stokers Roman Dracula (1897), deutlich ab und greift auf »die Wurzeln des historischen Vampirismus […] vom Spätmittelalter bis ins 18. Jahrhundert«3 zurück. Das Szenario des Überseetransports der Pesterreger aus dem Osten erweckt indes den Eindruck, dass Hasenclevers 1920 erschienene Pest diesen Horrorfilmklassiker womöglich inspiriert hätte.4 Diese filmischen Rekurse auf die Pest können zwar aus derselben Bildlichkeit hervorgehen, die im frühen Kinodiskurs den häufigen Einsatz der Metapher der ›Kinopest‹ motiviert. In diesen Filmen hängt die Pestfigur jedoch kaum mit dem Kino zusammen, abgesehen davon, dass die Handlung als Film dargeboten wird. Im Fall von Nosferatu lässt sich zwar zu Recht konstatieren, beim Kino und bei dem Vampir handle es sich um »zwei Seelenverwandte«5 . Das Motiv der Pest weist 1

2

3

4 5

Diesem ersten Teil des Episodenfilmes liegt allerdings die gleichbetitelte Erzählung von Anselma Heine (1912) zugrunde. Zu diesem Film ausführlich: Kasten, Jürgen: »Dramatische Instinkte und das Spektakel der Aufklärung. Richard Oswalds Filme der 10er-Jahre«, in: Ders./Armin Loacker (Hg.), Richard Oswald. Kino zwischen Spektakel, Aufklärung und Unterhaltung, Wien: filmarchiv austria 2005, S. 15-139, insbes. S. 66-74, sowie Pietsch, Volker: »Die deutsche Twilight Zone. Richard Oswalds Unheimliche Geschichten 1919 und 1932«, in: Stefan Keppler-Tasaki/Fabienne Liptay (Hg.), Grauzonen. Positionen zwischen Literatur und Film 19101960, München: edition text + kritik 2010, S. 143-159. Ursula von Keitz führt die Ikonographie der personifizierten Pest auf Arnold Böcklins Gemälde Die Pest (1898) zurück. Vgl. Keitz, Ursula von: »Figuren der (Aus-)Löschung. Zum Bildfeld von Pest und Tod im deutschen Film um 1918«, in: Daniel Meyer/Bernard Dieterle (Hg.), Der Umbruchdiskurs im deutschsprachigen Raum zwischen 1900 und 1938, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, S. 139-161, hier S. 150 f. Ruthner, Clemens: »Vampirische Schattenspiele. Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1922)«, in: Stefan Keppler(-Tasaki)/Michael Will (Hg.), Der Vampirfilm. Klassiker des Genres in Einzelinterpretationen, S. 29-54, hier S. 36. Diese Ansicht wird etwa von Charles H. Helmetag vertreten: »Walter Hasenclever: A Playwright’s Evolution as a Film Writer«, S. 462. Keppler(-Tasaki), Stefan: »Prolog zum Vampir. Paradoxierung und mediale Selbstreflexion in Literatur und Film«, S. 16.

Schlussbetrachtung oder: Ausblick auf eine Metaphorologie des Films

bei einem Film, der in der Biedermeierzeit spielt, jedoch nur sehr vermittelt – wenn überhaupt – einen Bezug auf das kinematographische Medium auf. Insofern lässt sich die häufige Verwendung dieser Figur im Filmischen lediglich auf die Vorliebe für das transmediale Thema der Pest in der frühen Nachkriegszeit zurückführen. Tatsächlich sehen die einen in der wiederholten Erscheinung des Epidemiemotivs eine Ersatzfigur für die verdrängte traumatische Erfahrung des kriegerischen Massenmordes,6 während die anderen darin einen Ausdruck für die »gesellschaftliche Krise« bzw. für einen allgemeinen »Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg«7 finden. Um eine intermediale Grenzüberschreitung vom Literarischen bzw. Diskursiven auf das Filmisch-Bildliche durch die Metapher zu konstatieren, ist man auf eine präzisere Fragestellung angewiesen. Im Kinodiskurs zirkuliert nicht nur ein Bild bzw. Bildspender der ›Pest‹, sondern vielmehr eine Metapher der ›Kinopest‹ im Sinne der ambivalenten Prädikation: ›Das Kino ist die Pest‹. Von einem intermedialen Verkehr im metaphorischen Wege kann erst dann gesprochen werden, wenn die Pestfigur im Filmischen mehr oder minder ausdrücklich mit dem Medium selbst in Verbindung steht. Mit anderen Worten: Erforderlich ist eine Markierung des medialen Selbstbezuges, die im Fall von Hasenclevers Pest auf gleich mehreren Ebenen vorzuliegen scheint. Eine andere Leitfigur, die des ›Schattens‹, wird im Film aufgrund ihres synekdochisch motivierten Charakters immerhin leichter mit dem Kino assoziiert als die Pestfigur. In Nosferatu ist es ein Zwischentitel, der den Selbstbezug auf das filmische Medium durch die Figur des ›Schattens‹ markiert. Bei diesem Insert, das gleich zu Beginn des Films gezeigt wird, handelt es sich um die erste Seite des fiktiven Manuskripts Aufzeichnung über das große Sterben in Wisborg anno Domini 1838: »Nosferatu. Tönt dies Wort Dich nicht an wie der mitternächtige Ruf eines Totenvogels. Hüte Dich es zu sagen, sonst verblassen die Bilder des Lebens zu Schatten«8 . Hier der Nacht zugeordnet, soll Nosferatu das Leben in den Schatten verwandeln und somit den Tod heraufbeschwören. Mit diesen Zeilen signalisiert der Film den Bezug auf die Schattendämonologie im frühen Kinodiskurs. Wird dem Kino doch anhand der metaphorischen Rede des Schattens auch dort eine ähnlich magische

6 7

8

Kaes, Anton: Shell Shock Cinema. Weimar Culture and the Wounds of War, S. 96; vgl. auch Ruthner: »Vampirische Schattenspiele« (wie Anm. 3), S. 51 f. Keitz: »Figuren« (wie Anm. 2), S. 148. In der Forschung ist außerdem von der Spanischen Grippe, die gleich nach dem Ersten Weltkrieg ausbricht und unzählige Opfer in den Tod reißt, die Rede. Vgl. Kaes: Shell Shock Cinema (wie Anm. 6), S. 94, sowie Ruthner: »Vampirische Schattenspiele« (wie Anm. 3), S. 51. Am Anfang ihres Artikels (»Figuren« [wie Anm. 2], S. 143, Anm. 14) bringt Keitz die Statistik der Deutschen Filmographie (DEFI) ins Spiel, die »für die Produktion der Jahre 1918/19 bis 1921/22 insgesamt 148 Spielfilmtitel auf[führt], die an einer beliebigen syntaktischen Position die Morpheme ›Tod-‹ oder ›tot-‹ enthalten«. Dem Zitat liegt die 2005/06 restaurierte Fassung dieses Films zugrunde.

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Metaphorologie des Kinos

Umkehrung des Lebens ins Schattenbild attestiert. Murnaus berühmte Schattenregie unterstreicht einmal mehr die Nähe zum Metapherngebrauch der Kinodebatte. Unmittelbar vor der Schlusssequenz, der Selbstaufopferung der weiblichen Hauptfigur Ellen, nähert sich der Vampir durch die Treppen hinauf ihrem Schlafzimmer. Auf die Wand wird der riesenhaft vergrößerte Schatten des Untoten projiziert, ohne dass seine Gestalt als solche im Bildfeld erscheint. Auf diese Weise erweckt die Bildführung den Eindruck eines selbständigen Schattens, der ein paradoxes Eigenleben erlangen soll. Dieselbe widersprüchliche Vorstellung über das ›Leben der Schatten‹ im Kino lässt sich bis zu Gor’kijs Bericht seiner ersten Eindrücke im Cinématographe zurückverfolgen. Ein Selbstbezug des Filmes auf das Kino durch die Schattenfigur findet bei einem weiteren Streifen programmatischen Titels in ungleich markanterer Weise statt: Schatten. Eine nächtliche Halluzination (DE 1923, R: Arthur Robison). Die Handlung bietet ein Drama der Gier, Eifersucht und Rache, das sich bei einem festlichen Abendessen zwischen dem Ehemann und dessen Frau, ihrem Liebhaber, drei Nebenbuhlern sowie der Dienerschaft entrollt. Lotte Eisner weist auf »die beunruhigende Vielfalt« der Phänomene hin, die der Schatten in diesem Film hervorbringt. Ebenso wie in Nosferatu oder anderen Beispielen aus dem deutschen Kino dieser Zeit kündigt der Schatten auch in Robisons Film »vor allem […] das nahende Unheil« an. »Angstvoll wartet die junge Frau in ihrer Nische, und der Schatten des nahenden Dieners, der sie fesseln soll, kriecht vor, trifft jäh ihre weiße Gestalt.« Bei anderen Gelegenheiten agieren die Schatten als Zeichen, deren Zeigerichtung sich jedoch als unzuverlässig herausstellt. Denn sie wissen als eine Fata Morgana »auch das Auge zu täuschen«. Der eifersüchtige Gatte glaubt im Hinblick auf seine Frau und einen jungen Mann etwa »das geheimnisvolle Einverständnis schuldiger Hände«, »die sich halten«, auf frischer Tat identifizieren zu können. Es sind indes »nur die Schatten getrennter Hände, die ineinandergleiten«9 . Das Spiel der Schatten bietet so Visionen einer anderen Wirklichkeit, die aufgrund der psychischen Introjektion überzeugender erscheinen als die schattenwerfende Realität und infolgedessen mit dieser verwechselt werden. Das Schattenmotiv im Film Schatten verweist jedoch anders als die vergleichbaren Beispiele nicht nur auf indirekte Weise auf das Medium selbst. Denn das Spiel der Schatten kommt an zwei Stellen explizit mit dem kinematographischen Dispositiv in Berührung. Der dubiose und unheimlich virtuose Gaukler, der zur Unterhaltung in den Speisesaal eingelassen wird, führt auf der Leinwand vor den »leblos erstarrten Zuschauern« ein verblüffend wirklichkeitsnahes Schattenspiel10

9 10

Eisner, Lotte Henriette: Die dämonische Leinwand [1955], hg. von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert, überarb., erw. u. autoris. Neuaufl., Frankfurt am Main: Fischer 1975, hier S. 134. Die Figur des fahrenden Projektionisten bedeutet nicht nur eine Reminiszenz an die ambulante Ära der Kinematographie. Mit den nach oben gebogenen Schößen seines Frackes

Schlussbetrachtung oder: Ausblick auf eine Metaphorologie des Films

auf (vgl. Abb. 6), das dann den Inhalt der folgenden gut 30 Minuten ausmachen soll. In diesem ›Film im Film‹ entfaltet sich eine parallele Welt, in der »die Schleusen all ihrer geheimsten Begierden«11 geöffnet werden, wie es mit Blick auf die zuschauenden Protagonisten heißt. So verschwindet der Jüngling zusammen mit der Ehefrau in deren Schlafzimmer, und die Dreiecksgeschichte nimmt schließlich ein tödliches Ende. – Dank dieses Schattenspiels wird der fatale Ausgang der ausgelebten Leidenschaften von allen Beteiligten eingesehen. Aufgrund dieser ernüchternden Erkenntnis versöhnt sich das Ehepaar endgültig und vertreibt den potenziellen Liebhaber aus dem gemeinsamen Haus auf den Marktplatz, der in frischem Morgenlicht liegt. Indem der Film hier als das Schattenspiel aufgefasst wird, das die Zuschauer zur Reflexion über das eigene Leben einlädt, scheint Schatten mit Victor Klemperers Vorstellung vom Kino im Jahre 1911/12 exakt übereinzustimmen. Darüber hinaus macht sich der Selbstbezug des Kinos als Schattenspiel durch den innerfilmischen Vorhang bemerkbar, der zu Beginn des Filmes geöffnet und zu Ende geschlossen wird. Insbesondere der Vorspann unterstreicht unverkennbar die selbstreflexive Thematik des Films. Auf die Leinwand, die hinter dem geöffneten Vorhang erscheint, werfen die Hände des Taschenspielers ihren Schatten. Sie lassen die Filmfiguren entweder zuerst als Schattenriss und dann als Menschengestalt auftreten oder verwandeln die Protagonisten in die Silhouetten (vgl. Abb. 7). In diesem Film wird also die Metapher bzw. metaphorische Prädikation ›das Kino ist Schatten‹ als filmischer (und somit selbstbezüglicher) Ausdruck bearbeitet. Eisner zufolge soll es jedoch ein anderer Murnaufilm sein, der die Licht- und Schattenregie noch verfeinert und einen »Höhepunkt des Helldunkels« darstellt: Faust – Eine deutsche Volkssage (DE 1926). In diesem letzten Film vor Murnaus Übersiedlung nach Hollywood sind gleich mehrere Bildmotive versammelt, die in den bisherigen Ausführungen behandelt wurden. Gemeint sind nicht nur das Licht und der Schatten bzw. »die teuflische Dunkelheit [und] die göttliche Helle«12 , also die »Beleuchtungseffekte«13 , die insbesondere im »Auftakt«14 mit dem Erzengel und dem Dämon »an der Handlung teil[nehmen]«15 . Hinzu kommt die Pest, welche die zeitgenössische Affinität zu diesem Stoff einmal mehr zu unterstreichen scheint. Allerdings stellt sie hier – wie bei der Pest in Florenz (Rippert/Lang) – keine göttliche Strafe für den Sittenverfall der Gemeinschaft dar. Das kollektive

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deutet der Magier ferner etwas Teuflisches an, das auch dem frühen Kino häufig attestiert wird. In dieser Perspektive wird die Sequenz umso verständlicher, in der ein Bauer das Kreuz schlägt, nachdem der Illusionist zu Ende des Films, auf einem Schwein reitend, den Markt verlassen hat. Diese Art von Schwänken verankert sich ihrerseits in der Faust-Tradition. Eisner: Die dämonische Leinwand (wie Anm. 9), S. 134. Ebd., S. 297. Ebd., S. 299. Ebd., S. 297. Ebd., S. 299.

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Metaphorologie des Kinos

 

Abb. 6: Schattenspiel als das Kino; Abb. 7: Das filmische Kippspiel des Lebens und des Schattens: Schatten. Eine nächtliche Halluzination (DE 1923, R: Arthur Robison)

Unheil ist vielmehr dämonischen Ursprungs und geht auf den dunklen Nebel zurück, mit dem der Satan die ganze Stadt überzieht. Der Schwarze Tod gehört hier zur Intrige des Mephistopheles, um den alten Gelehrten Faust mit der Machtlosigkeit seines Wissens zu konfrontieren, die vor dem grassierenden Übel eklatant zum Vorschein kommt (vgl. Abb. 8). In der Folge kehrt sich Faust von der eigenen langjährigen Gelehrsamkeit entschieden ab, um dann den Pakt mit dem Teufel zu schließen. Dass sich dieses Szenario sinngemäß bereits in Faust I von Goethe ausmachen lässt, steht zwar außer Frage. Die Pestfigur wird dort jedoch nicht vordergründig in Szene gesetzt, sondern in einem Gespräch beim Osterspaziergang von Faust flüchtig als ein – allerdings folgenschweres – Jugenderlebnis in Erinnerung gerufen.16 Hier im Film wird das Motiv hingegen derart ausführlich thematisiert, dass es sich während der ersten 30 Filmminuten um die Pest dreht. Darüber hinaus wird Fausts komplette Abwendung von der Bildungstradition, die sich in der Hörsaal- und der Bibelszene des Films niederschlägt, schließlich durch diese teuflische Seuche ausgelöst. In diesem Sinne erinnert Murnaus Inszenierung an einen bildlichen Bezug auf jene kinoreformerische Argumentation, dass die ›Kinopest‹ den Zuschauer von der sanktionierten Kultur ein für alle Mal ablenken würde. Die bewusste Aufgabe des tradierten Kulturgutes findet bei Faust in jener Szene einen symbolischen Ausdruck, in der er »seine Bücher voll eitler Wissenschaft und das Wort Gottes« verbrennt. Fausts Abkehr von der Bildung wird – genauso wie bei

16

Goethe, Johann Wolfgang: Faust [1808/32]. Texte, hg. von Albrecht Schöne, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker 1994 (= Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche Abt. 1, Bd. 7.1), V. 1022-1055. Außerdem wird hier – im Gegensatz zu Murnaus Film – der Verursacher der Pest selbst nicht ausdrücklich genannt.

Schlussbetrachtung oder: Ausblick auf eine Metaphorologie des Films

 

Abb. 8: Der Satan überzieht die Stadt mit einem Pesthauch; Abb. 9: Fausts kinematographische Verjüngung: Faust – Eine deutsche Volkssage (DE 1926, R: Friedrich Wilhelm Murnau)

der Kinodebatte – mit der Regression in Zusammenhang gebracht, die auch hier im Zug des optischen Reizes der ›giftigen‹ Bewegtbilder stattfinden soll. Als Faust nach dem »Trank des Todes« greift, taucht auf dem »Spiegel des Giftes« in der flachen Schale – kraft des Illusionisten Mephisto – »langsam, wie aus magischer Ferne näherschwebend, das Gesicht des jungen Faust auf, ein Bild von vollkommener männlicher Schönheit« (vgl. Abb. 9). Vom hinreißenden Anblick der eigenen Jugend angezogen, stellt er die Forderung: »Gib mir die Jugend!«, woraufhin sich »des alten Faust Verjüngung«17 abspielt. Gleich nach dem Erwachen erblickt Faust die bewegte Illusion des »Muster[s] aller Frauen«18 , die im Raum schwebend an ihn herantritt. Angestachelt vom reizenden Schein, bricht Faust auf Mephistos Mantel auf, um in der weiten Welt das Leben von neuem auszukosten. Seine »Verjüngung« als solche ist zwar auch bei Goethe thematisiert, geht im Film aber abweichend von der namhaftesten unter den literarischen Vorlagen nicht in der Hexenküche, sondern in Fausts »Studierzimmer«19 vonstatten. Infolge dieses Schauplatzwechsels wird das Regressionsereignis des Gebildeten offenkundig mit der magischteuflischen Vision der Bewegtbilder sowie der Abwendung vom Buchwissen20 ver-

17 18 19 20

Kyser, Hans: »Des alten Faust Verjüngung. Ein Fragment aus dem Faustfilm-Manuskript«, in: Ufa-Magazin 1926/27, H. 9, unpaginiert (Herv. im Orig. gesperrt). Goethe: Faust (wie Anm. 16), V. 2601. Kyser: »Des alten Faust Verjüngung« (wie Anm. 17). In »[j]ede[r] Filmszene von Fausts Verjüngung« sieht Keppler-Tasaki »einen Meta-Kommentar zu dem, was das Medium mit dem Faust-Mythos vollziehen soll«. Keppler-Tasaki, Stefan: »Die faustische Leinwand. Faust in den ersten fünfzig Jahren der Filmgeschichte«, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 254 (2017), S. 259-323, hier S. 263.

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bunden. Der Pestausbruch, auf den Fausts Bekehrung zurückzuführen ist, deutet zudem das epidemische Ausmaß dieses symbolträchtigen Einzelphänomens an.   Von der ›Kinopest‹ über das Filmbild als das ›Leben des Schattens‹ oder als der ›giftige Trank‹ bis hin zum ›als Kind regredierten Zuschauer‹: In den oben behandelten Beispielen werden die Leitmetaphern des frühen deutschen Kinodiskurses zwar anschaulich in die Filme eingeführt und motivisch oder diegetisch bearbeitet. Demzufolge ist hier eine Rückkopplung vom Diskurs zum Medium bzw. eine intermediale Zirkulation der Figuren zwischen Sprache und Bild zu konstatieren, wobei ihre Komponenten jeweils anders konfiguriert sind. Genau genommen handelt es sich jedoch bei den Filmbeispielen um keine Metaphern im Sinne widersprüchlicher Prädikationen, sondern vielmehr um Bildallegorien. Denn die Filmsequenzen teilen in erster Linie innerdiegetische Handlungen mit und bieten nur dann – als doppeldeutige und ›anderssagende‹ Bilderfolgen – medial-selbstreflexive Kommentare, wenn sie aus einer veränderten Perspektive ausgelegt werden. Angesichts dieser Beobachtung drängt sich abschließend die Gretchenfrage auf, ob eine intermediale Übertragung der Metapher – im formal strengen Sinne – von der Sprache in die Filmbilder zu bewerkstelligen ist. Es handelt sich – mit anderen Worten – um die alte, jedoch immer noch aktuelle Frage nach der ›filmischen Metapher‹. In der filmwissenschaftlichen Diskussion ist man gegenüber Metaphern im Film auffällig skeptisch, was sich zum einen auf den für das Medium typischen Charakter eines Kurzschlusszeichens zurückführen lässt. Demnach sollen »filmische Metaphern«, die etwa »Liebe mit Rosen zu vergleichen« suchen, »meistens zu platt, statisch und aufdringlich« wirken. Dies führt James Monaco darauf zurück, dass »[d]ie Rose, das zweite Element der Metapher [d.h. der Bildspender] im Kino zu real, zu sehr präsent«21 sei. Die Filmbilder sollen auch in einem weiteren Sinne einer wesentlichen Bedingung der Metapher zuwiderlaufen. Dies legt Christian Metz anhand eines berühmten Beispiels dar, nämlich der Eröffnungssequenz von Chaplins Moderne Zeiten (Modern Times, US 1936). Hier wird zuerst die Einstellung auf eine Schafherde gezeigt, um dann das Bild einer den U-Bahnhof verlassenden Arbeitermenge folgen zu lassen (vgl. Abb. 10 und 11). Diese sogenannte filmische ›Metapher‹ verdient für Metz jedoch keineswegs diesen Namen. Denn trotz der scheinbar explizit vorhandenen Ähnlichkeitsbeziehung bestehe zwischen beiden Einstellungen kein klarer Bedeutungstransfer. Um dies in die Terminologie der vorliegenden Studie zu übersetzen: Sie formieren von vornherein keine prädikative Struktur, die einen grammatikalisch fundierten semantischen Zusammenhang gewährleisten soll. Dieser

21

Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien, S. 176.

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Beobachtung entsprechend stehen die Einstellungen nur noch in einer Linie nebeneinander, ohne dass der Vorgang einer Übertragung, die eine Metapher konstituiert, überhaupt stattfände: »The crowd remains a crowd, the sheep, sheep.« Metz zufolge sollte man diese syntaktische Konstruktion der Einstellungen demnach nicht als Metapher bezeichnen, sondern vielmehr lediglich als eine ›symbolische Nebeneinanderstellung‹. Aufgrund dieser Betrachtung warnt Metz mit Recht vor einer ›Begriffsverwirrung‹: Die Theoretiker, die von einer ›filmischen Metapher‹ sprechen, würden diese Bezeichnung im rein metaphorischen Sinne verwenden.22

 

Abb. 10: Schafherde; Abb. 11: Arbeitermenge: Moderne Zeiten (Modern Times, US 1936, R: C harles C haplin)

Um ein weiteres Filmbeispiel anzuführen: Sergej Eisenstein liefert in Panzerkreuzer Potemkin ein »klassische[s] Exempel für den sprunghaften Übergang des Bildes in eine neue Qualität, eine Metaphorizität«23 . Gemeint ist die Sequenz des steinernen ›Aufbrüllenden Löwen‹, die »nach der Salve des Panzerkreuzers gegen den Generalstab« abläuft. Angesichts dieser Montagebilder sei »die ganze Welt […] davon überzeugt, eine Metapher zu sehen«. Da der Potemkinangriff »als Antwort auf das Massaker an den friedlichen Demonstranten auf der Treppe in Odessa« vorgetragen wird, liegt zwar die Auslegung nahe, dass es sich bei der »›LöwenSequenz‹ [um den] Ausdruck des Zorns der Revolutionäre«24 handelt. Aufgrund

22

23

24

Metz, Christian : »Current Problems of Film Theory : Mitry’s L’Esthétique et psychologie du cinéma, Vol. II«, in: Bill Nichols (Hg.), Movies and Methods. An Anthology, Bd. I, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1976, S. 568-578, hier S. 570. Klejman, Naum Ichiljewitsch: »Der aufbrüllende Löwe. Zur Entstehung, Bedeutung und Funktion einer Montage-Metapher«, in: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 2 (1993), H. 2, S. 5-34, hier S. 22. Bulgakowa, Oksana: »Montagebilder bei Sergej Eisenstein«, in: Hans Beller (Hg.), Handbuch der Filmmontage. Praxis und Prinzipien des Filmschnitts, S. 49-77, hier S. 58.

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der fehlenden prädikativen Struktur zwischen beiden Sequenzen, d.h. dem ›aufbrüllenden Löwen‹ und der Kanonade des Panzerkreuzers, erlaubt die MontageVerknüpfung jedoch verschiedene Deutungen. Weil die Marmorlöwen »[d]em ›Material‹ nach«25 von der Villa eines Herrschers stammen, könnte daraus alternativ auf eine »Empörung der Reaktionäre«26 zu schließen sein. Eisenstein führt seinerseits, zumindest nachträglich, die filmische ›Metapher‹ auf eine tradierte sprachliche zurück: »Es brüllten die Steine!«27 Die Rede von der ›filmischen Metapher‹ erweist sich als unfundiert, denn zwischen beiden Bildern liegt kein grammatikalisches Bindeglied vor, das eine semantische Übertragung ermöglichen würde. Infolge dieser Diskontinuität ruft eine Assoziation der beiden schlicht nebeneinanderstehenden Elemente eher den Effekt eines ›symbolischen Sprungs‹ von einem zum anderen hervor,28 der durch keine grammatikalischen Gesetze gestützt wird. Bei einem Filmstreifen handelt es sich jedoch – grundsätzlich gesprochen – um lauter diskontinuierliche Einstellungen oder gar Einzelbilder, deren Zusammenhang schließlich nicht durch Grammatik, sondern durch menschliche, physiologisch-psychologische Perzeption bei jedem Filmerlebnis bewusst oder unbewusst hergestellt wird. Die prädikative Beziehung zwischen Einstellungen, die auch metaphorische einschließt, kommt insofern nur in der Filmrezeption oder – genauer gesagt – im Kopfkino zustande. Die ›filmische Metapher‹ ist infolgedessen nicht auf dem Zelluloid zu suchen, sondern vielmehr nur im Filmerlebnis vorhanden, das eventuell im Text seine Spuren hinterlassen kann. Der japanische Ästhetiker und Medienphilosoph Nakai Masakazu29  – ein Zeitgenosse von Tucholsky und Benjamin – bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt. Nakai versteht »die Struktur des Films« – kongenial zu Metz – als vergleichbar »mit einer ›Sprache ohne Grammatik und Konjugationen‹«. So ›spricht‹ der Film Nakai zufolge »eine Bildsprache, die ohne Kopula (keiji) wie ›ist‹ (de aru) oder ›ist nicht‹

25 26 27

28 29

Klejman: »Der aufbrüllende Löwe« (wie Anm. 23), S. 23. Bulgakowa: »Montagebilder« (wie Anm. 24), S. 58. Eisenstein, Sergej: »Dickens, Griffith und wir« [1942], in: Ders., Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie, hg. von Felix Lenz und Helmut H. Diederichs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 301-366, hier S. 364 (Herv. im Orig.). Vgl. Metz: »Current Problems« (wie Anm. 22), S. 570. Mit dem deutschen Idealismus bis hin zu den Neukantianern vertraut und insbesondere an Heidegger geschult, wendet sich Nakai Masakazu (1900-1952) dann der psychologischen Kunsttheorie und der konstruktivistischen Strömung zu. Als einer der Vertreter des linken Flügels der Kyōto-Schule entwickelt Nakai schon seit den 1920er und 1930er Jahren eigene medientheoretische Gedanken, die in einigen Aspekten die jüngeren medienphilosophischen Diskussionen vorwegnehmen. Zu Nakais »Filmtheorie als epistemologische[r] Medientheorie« vgl. Schäfer, Fabian: Medium als Vermittlung. Medien und Medientheorie in Japan, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2017, S. 65-73.

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(de nai) auskommt«30 . Anders gesagt: Es fehlt dem Film für Nakai gerade an dem grammatikalischen Element, das eine Prädikation zustande bringen soll: »Die Literatur besitzt Kopula wie ›ist‹ oder ›ist nicht‹, die einzelne Ausdrücke miteinander verbinden. Der Film kennt diese Kontinuität nicht.«31 Nakai fährt fort: »Das heißt, dass der Produzent die Interpretation der Einstellungen nicht im Voraus festlegen kann.«32 Vielmehr ist es »erst der Geist der zuschauenden Massen, der die Kontinuität der einzelnen Schnitte herstellt«33 . Nakai macht in einem Film keine Prädikation aus, sondern lauter nebeneinanderstehende Einstellungen. Mit dieser Feststellung radikalisiert Nakai Metz’ Beobachtung, bevor diese überhaupt angestellt wird. Die »Bedeutungslücke[n]«, die aus dem Fehlen der Kopula resultieren sollen, müssen demnach vom Zuschauer selbst spontan gefüllt werden. Der Rezipient agiert, so Nakai, auch als ein anderer Produzent, denn er sollte zwischen disparaten Einstellungen nach seiner eigenen Sichtweise Zusammenhänge herstellen. Dieses Subjekt versteht sich allerdings nicht als »ein ›hermeneutisches‹«, »das aus einzelnen Bedeutungsfragmenten kontemplativ eine kohärente Bedeutung oder Narration zusammensetzt«. Die abwesenden Beziehungen unter den Filmbildern sollen laut Nakai vielmehr »durch den beständigen ›Entwurf‹« oder das Einbildungsvermögen des Zuschauers schrittweise und produktiv ergänzt werden. Er »›durchschaut‹«34 einen Film als Fragmente bzw. Trümmer und entdeckt in den Lücken Wege, die sich durch die diskontinuierlichen Bilderfolgen hindurchziehen. Auf diese Weise eignet er sich die zerstreuten Bilder an, um zwischen ihnen Zusammenhänge hervorzubringen. Diese Beziehungen sollen selbstredend auch metaphorische Prädikationen einschließen.   Zusammenfassend gesagt: Nicht zuletzt aufgrund der fehlenden prädikativen Struktur ist es um die ›filmische Metapher‹ prekär bestellt. Denn die Suche nach einer genauen filmischen Entsprechung zur sprachlichen Metapher erweist sich wegen der medialen Verschiedenheit als nicht gerade aussichtsreich. Eine filmische Annäherung an die metaphorisch-prädikative Beziehung mittels Montage kann zwar sehr wahrscheinlich sein. Sie lässt sich außerdem nicht nur durch Schnitt, sondern vielmehr auch auf dem Wege der mise en scène bewerkstelligen.35 Zu die30 31

32 33 34 35

Ebd., S. 71 (Herv. im Orig.), wobei ein Schreibfehler (sic!: seiji) vom Verfasser korrigiert wurde. Nakai Masakazu: »Die Krise der modernen Ästhetik und die Filmtheorie« [Gendai bigaku no kiki to eiga riron; 1950], in: Ders., Gendai geijutsu no kūkan [Der Raum in der modernen Kunst], hg. von Kuno Osamu, Tokio: Bijutsu shuppan sha 1981 (= Zenshū [Gesamtausgabe] 3), S. 183-193, hier S. 192, zitiert nach F. Schäfer, Medium (wie Anm. 29), S. 71. Nakai: »Die Krise« (wie Anm. 31), S. 192; Übers. des Verf. Ebd., zitiert nach F. Schäfer, Medium (wie Anm. 29), S. 71. F. Schäfer: Medium (wie Anm. 29), S. 72. Im oben besprochenen Aufsatz von Metz bleibt dieser Aspekt beim Moderne ZeitenBeispiel merkwürdigerweise ausgeblendet. Hier bewegen sich die jeweiligen Objekte (Schafherde und Arbeitermenge) in einer ähnlichen Richtung vom oberen zum unteren Bildrand

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sem Zweck erscheint die weitere Erforschung der bildlichen Rhetorik angezeigt. Dabei verliert Metz’ Warnung vor der metaphorischen Verwendung der Bezeichnung ›Metapher‹ jedoch noch keineswegs an Nachdruck. Folglich ist man nicht auf eine Analyse der ›Bildmetapher‹, sondern vielmehr in erster Linie auf die Allegorese der filmischen Figurationen angewiesen, um eine intermediale Grenzüberschreitung der Sprachbilder/Bildersprache vom Diskurs ins filmische Ereignis zu verfolgen. Denn die Metaphern verwandeln sich in der filmischen Domäne in die Bildallegorien. Sie teilen in verschiedenen Konstellationen eine jeweils andere Botschaft mit, die von der vordergründigen diegetischen häufig abweicht und gleichwohl damit zusammenklingt. Außer der detaillierten Bilderanalyse erweist sich eine intermediale und -disziplinäre Kontextualisierung der betreffenden Figurationen als unabdingbar, wenn man nicht in zügellosen Überinterpretationen schwelgen will. Um doch noch einmal zur ›filmischen Metapher‹ zurückzukommen: Indem das konstitutive Element der Metapher, d.h. die prädikative Struktur, dem Film grundsätzlich fehlt, gibt ihr pragmatischer Charakter nunmehr den Ausschlag. Denn es ist schließlich der Aufführungskontext des Kinos bzw. dessen Rezipient, der zwischen disparaten Bildern (metaphorische) Bezüge herstellt. Die Metapher macht sich eventuell – allerdings nach wie vor in sprachlicher Gestalt – bemerkbar, wenn der Zuschauer seine eigene Version des soeben erlebten Films zu beschreiben versucht.

und werden beide aus Obersicht aufgenommen. Diese Bildkomposition betont eindringlich die Empfindung einer Parallelität oder gar einer inneren Kongruenz, welche die Ähnlichkeitsbeziehung emphatisch zum Vorschein bringen soll.

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Metaphorologie des Kinos

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Screenshot aus: The Dream of a Rarebit Fiend (US 1906, R: Edwin S. Porter, P: Edison Manufacturing Company). DVD: Early Cinema. Primitives and Pioneers, British Film Institute. Abb. 2: Titelbild des Programmheftes für den Film Die letzte Galavorstellung des Zirkus Wolfson (Il circo della morte, IT 1916/20, R: Alfred Lind), in: Fritz Güttinger: Der Stummfilm im Zitat der Zeit, Frankfurt am Main: Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main 1984, S. 103. Abb. 3: Screenshot aus: Das boxende Känguruh (DE 1895, R/P: Max Skladanowsky). Zitiert nach: Auge in Auge. Eine deutsche Filmgeschichte (DE 2008, R: Michael Althen/Hans Helmut Prinzler, P: Preview Production). DVD: Preview Production/absolut MEDIEN. Abb. 4: Screenshot aus: Babys Frühstück (Repas de Bébé, FR 1895, R/P: Auguste und Louis Lumière). DVD: Early Cinema. Primitives and Pioneers, British Film Institute. Abb. 5: Buchumschlag für Walter Hasenclever: Die Pest. Ein Film, Berlin: Cassirer 1920. Abb. 6 u. 7: Screenshots aus: Schatten. Eine nächtliche Halluzination (DE 1923, R: Arthur Robison, P: Pan-Film). DVD: ZDF/ARTE/absolut MEDIEN. Abb. 8 u. 9: Screenshots aus: Faust – Eine deutsche Volkssage (DE 1926, R: Friedrich Wilhelm Murnau, P: Universum Film AG). DVD: FriedrichWilhelm-Murnau-Stiftung/Transit Film. Abb. 10 u. 11: Screenshots aus: Moderne Zeiten (Modern Times, US 1936, R: Charles Chaplin, P: United Artists). DVD: Kinowelt.

Filmverzeichnis

Abgründe (Afgrunden, DK 1910, R: Urban Gad) Der Andere (DE 1913, R: Max Mack) Anna Christie (US 1930, R: Clarence Brown [dt. Fassung: Jacques Feyder]) Atlantis (DK 1913, R: August Blom) Die Ausbildung der Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen (DE 1924, R: Nicholas Kaufmann) Die Austreibung (DE 1923, R: Friedrich Wilhelm Murnau) Babys Frühstück (Repas de bébé, FR 1895, R: Auguste Lumière/Louis Lumière) Barque sortant du port (FR 1895, R: Auguste Lumière/Louis Lumière) Der begossene Gärtner (LʼArroseur arrosé, FR 1895, R: Auguste Lumière/Louis Lumière) Bei unseren Helden an der Somme (DE 1917, P: Bild- und Filmamt) Die Bekehrung des Trunkenbolds (A Drunkard’s Reformation, US 1909, R: David Wark Griffith) Ben Hur (Ben Hur – A Tale of the Christ, US 1925, R: Fred Niblo) The Big House (US 1930, R: George W. Hill); dt. Fassung: Menschen hinter Gittern (US 1931, R: Paul Fejos) Das boxende Känguruh (DE 1895, R: Max Skladanowsky) Brüder (DE 1922, R: Rochus Gliese) Das Cabinett des Dr. Caligari (DE 1919, R: Robert Wiene) The Countryman’s First Sight of the Animated Pictures (GB 1901, R: Robert Paul) Dream of a Rarebit Fiend (US 1906, R: Edwin S. Porter) Emil und die Detektive (DE 1931, R: Gerhard Lamprecht) Faust – Eine deutsche Volkssage (DE 1926, R: Friedrich Wilhelm Murnau) Die Firma heiratet (DE 1914, R: Carl Wilhelm) The Fly Pest (GB 1910, R: Frank Percy Smith) Hitlerjunge Quex (DE 1933, R: Hans Steinhoff) Die Insel der Seligen (DE 1913, R: Max Reinhardt) Intoleranz (Intolerance, US 1916, R: David Wark Griffith) Laura (Rōra, JP 1974, R: Terayama Shūji)

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Metaphorologie des Kinos

Die Letzte Galavorstellung des Zirkus Wolfson [Zirkus Wolfsons letzte Galavorstellung] (Il circo della morte, IT 1916, R: Alfred Lind) Metropolis (DE 1927, R: Fritz Lang) Moderne Zeiten (Modern Times, US 1936, R: Charles Chaplin) Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens (DE 1921, R: Friedrich Wilhelm Murnau) Panzerkreuzer Potemkin (Bronenosec Potemkin, SU 1925, R: Sergej Eisenstein) La Peste en Mandchourie (FR 1911, P: Pathé Frères) Die Pest in Florenz (DE 1919, R: Otto Rippert) Quo Vadis (IT 1912, R: Enrico Guazzoni) Rough Sea (GB 1900, R: James Bamforth) Rough Sea at Dover (GB 1895, R: Bert Acres) Schatten. Eine nächtliche Halluzination (DE 1923, R: Arthur Robison) Ein Sommernachtstraum (A Midsummer Night’s Dream, US 1935, R: William Dieterle/Max Reinhardt) Der Stolz der Firma (DE 1914, R: Carl Wilhelm) Streik (Statschka, SU 1924, R: Sergej Eisenstein) Der Student von Prag (DE 1913, R/B: Hanns Heinz Ewers) Tagebuch einer Kokotte (DE 1929, R: Constantin David) The Trial of Mary Dugan (US 1929, R: Bayard Veiller); dt. Fassung: Mordprozess Mary Dugan (US 1931, R: Arthur Robison) Uncle Josh at the Moving Picture Show (US 1902, R: Edwin S. Porter) Unheimliche Geschichten (DE 1919, R: Richard Oswald) Die venetianische Nacht (DE 1914, R: Max Reinhardt)

Index

A Acres, Bert 197 Adorno, Theodor Wiesengrund 148, 218, 301 Albrecht, Gerd 36, 38 Altenberg, Peter 137, 139, 140, 152 Altenloh, Emilie 129 Andriopoulos, Stefan 130 Anschütz, Ottomar 68 Arendt, Hans 236 Aristoteles 266 Arnheim, Rudolf 36, 37, 65 Avenarius, Ferdinand 121, 147, 195, 232–235, 243, 244, 268 Avenarius, Richard 195 B Bab, Julius 216, 217, 297, 298 Baer, Nicholas 16 Baeumler, Alfred 128 Balázs, Béla 151, 181, 187–189, 227, 333, 334 Bardolph 204 Barthes, Roland 39 Bassermann, Albert 173, 174, 297 Baudrillard, Jean 86 Baudry, Jean-Louis 62, 95, 97–101, 105, 106, 119, 127, 133, 138, 143, 144, 189 Becker, Sabina 29

Beller, Hans 61 Benjamin, Walter 39, 119, 137, 140, 159, 161, 164, 183, 184, 316, 346 Benn, Gottfried 141–149, 152, 156, 169, 197, 209, 241 Berg, Jan 174, 302 Berndt, Frauke 109, 111 Berthold, Werner 84 Black, Max 53 Blumenberg, Hans 21–25, 97 Bock, Hans-Michael 62 Boehm, Gottfried 16, 35 Böhme, Hartmut 153, 154 Bolter, Jay David 19 Borchardt, Rudolf 281 Bottomore, Stephen 50 Brandes, Georg 11 Brassat, Wolfgang 16, 35, 238 Brecht, Bertolt 305, 306 Bredekamp, Horst 251, 255, 258 Brennert, Hans 202, 204 Brons, Franziska 251, 255, 258 Bronsen, David 83 Brown, Clarence 310 Brunner, Karl 131, 172, 221, 222, 224, 225 Bulgakowa, Oksana 345, 346 Bürgerhausen, Corinna 315 Buschendorf, Bernhard 109

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Metaphorologie des Kinos C Capovilla, Andrea 74, 82, 83, 89 Cassirer, Ernst 109, 146 Cassirer, Paul 320, 326 Chamisso, Adelbert von 75 Chaplin, Charles 66, 171, 176–178, 184, 344, 345 Conradt, Walther 120, 147, 243–245, 272 Corell, Catrin 38 Cowan, Michael 16 Curtis, Scott 122, 126, 256 Curtius, Ernst Robert 20 D David, Constantin 310 Derrida, Jacques 238 Dickens, Charles 15 Diebold, Bernhard 281, 321–326 Diederichs, Helmut H. 28, 40, 64, 65, 134, 201, 203, 214, 216, 243, 275, 277, 293, 296 Dieterle, William [Wilhelm] 309 Döblin, Alfred 29, 147, 165, 167, 168, 207, 210–213, 215, 216, 220–224, 260, 262 Döring, Carl 199, 203, 204, 215 Dotzler, Bernhard J. 37 Drügh, Heinz Joachim 109, 111 Duenschmann, Hermann 13 Düllo, Thomas 83, 84 E Eckert, Brita 74, 83, 84 Edison, Thomas Alva 68 Edschmid, Kasimir 281 Eggs, Ekkehard 55 Eisenstein, Sergej 56, 310, 320, 321, 345, 346 Eisner, Lotte Henriette 45, 340, 341

Elsaesser, Thomas 28, 66, 67, 80, 99, 101, 144, 166, 171, 321 Engel, Fritz 137 Epstein, Max 214, 294–296 Ernst, Paul 300, 301, 303 Ewers, Hanns Heinz 11, 12, 14, 133, 134, 163, 174, 188, 201–204, 223, 224, 251, 252, 259 F Faulstich, Werner 37 Faulstich, Inge 37 Fejos, Paul 310 Ferenczi, Sándor 148, 149, 195, 196 Feyder, Jacques 310 Fischli, Bruno 46, 59 Flach, Sabine 255, 257, 258, 264 Fohrmann, Jürgen 19, 20, 100 Franck, Hans 322, 324, 326 Freksa, Friedrich 223–228, 230, 231 Freud, Sigmund 94, 104, 153, 193–197 Friedemann, Hermann 208, 213, 216 Fulda, Ludwig 215, 216, 296 G Gad, Urban 318 Garbo, Greta 310 Garde, Axel 297 Gaupp, Robert 127, 130, 259–261, 270, 271, 279 Gaycken, Oliver 256 Gess, Nicola 108, 158, 159, 184 Glasenapp, Kurt von 294, 296 Gliese, Rochus 310 Goebbels, Joseph 210 Goethe, Johann Wolfgang 114, 115, 167, 304, 342, 343 Goetz, Hans 133 Göktürk, Deniz 231, 297

Index Gor’kij, Maksim 47–52, 55, 58–60, 68, 72, 81, 340 Gregor, Ulrich 45 Greiner, Wilhelm 171, 172, 177 Greve, Ludwig 151, 178, 179, 296, 297 Griffith, David Wark 15, 206 Grunert, Carl 133 Grusin, Richard 19 Guazzoni, Enrico 201 Gunning, Tom 16, 105, 170, 179, 182, 183 Günther, Hans 204, 210 Güttinger, Fritz 17, 61, 199, 202, 203, 209, 298 Guttmann, Richard 263 Gutzkow, Karl 217, 218 H Habel, Frank-Burkhard 176 Haeckel, Ernst 106 Häfker, Hermann 275 Hagener, Malte 66, 67, 80, 99, 101, 144, 171, 321 Hake, Sabine 19, 62, 63, 72, 290 Halter, Hermann 245, 268, 269, 271, 276, 285 Hamann, Johann Georg 108 Hansen, Miriam 103, 129 Hardekopf, Ferdinand 137–139 Harms, Rudolf 187 Hasenclever, Walter 32, 102, 103, 106, 119, 168, 270, 292, 305–325, 329, 332, 333, 337–339 Hauptmann, Carl 141, 149–152, 156, 224, Hauptmann, Gerhart 132, 230–232, 234, 235, 239, 243, 296, 297, 299 Haverkamp, Anselm 22 Hayakawa, Sessue 333 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 109, 111

Heidegger, Martin 346 Heimann, Moritz 235, 236, 275–277, 279, 293 Heine, Anselma 338 Heller, Heinz-Bernd 19, 66, 122, 131, 132, 139, 166, 209, 210, 302 Hellwig, Albert 129, 130, 236, 237, 239, 294, 295 Helmetag, Charles H. 310, 311, 338 Herder, Johann Gottfried von 108 Hermsdorf, Daniel 21, 117 Hickethier, Knut 36–38 Hill, George W. 310 Hoddis, Jakob van 29, 165–167, 259 Hofmannsthal, Hugo von 11, 108, 152, 154–156, 177, 207, 216, 226 Hollaender, Friedrich 188 Holländer, Felix 173, 304 Höllriegel, Arnold [Bermann, Richard A.] 71, 74, 76, 80–87, 89, 98, 141, 310 Holz, Arno 216 Horaz 16 Hörisch, Jochen 67 Hornbogen, Helmut 260 Hughes, Jon 82 Huhtamo, Erkki 19, 20, 238 I Ichak, Frida 302 Ihering, Herbert 82 J Jacobsen, Wolfgang 61, 121, 202 Jacobsohn, Egon 288–290 Jäger, Georg 212, 216 Jäkel, F. 129 Jean Paul 108 Jesus [Christus] 111, 112, 189

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Metaphorologie des Kinos K Kaes, Anton 16, 28, 73, 298, 339 Kafka, Franz 137 Kahn, Harry 309 Kaiser, Georg 306 Kasten, Jürgen 338 Kasties, Bert 307–310, 315, 318, 324 Kästner, Erich 183 Kaufmann, Nicholas 257, 258 Kautsky, Karl 208 Keiner, Reinhold 11, 201 Keitz, Ursula von 338, 339 Keller, Philipp 315, 316, 327 Keppler-Tasaki, Stefan 17, 18, 38, 74, 132, 142, 144, 145, 167, 231, 297, 306, 338, 343 Kerr, Alfred 152–154, 156 Kiefer, Sascha 172 Kipper, P.E. 303–305, 309 Kisch, Egon Erwin 83 Kitasato Shibasaburō 252 Kittler, Friedrich Adolf 147 Kleinschmidt, Erich 167 Klejman, Naum Ichiljewitsch 345, 346 Klemperer, Victor 67, 69–71, 80, 119, 160–162, 236, 252, 341 Knickmann, Hanne 123, 124 Koch, Robert 246, 248, 250–252, 255, 258, 265, 271, 334 Koebner, Thomas 29, 131, 155 Körber, Willy 224 Korsakow [Korsakoff], Sergej Sergejewitsch 212, 213, 219 Köster, Udo 214 Kracauer, Siegfried 27, 63, 72, 123, 124, 293, 294 Krause, Markus 147, 211 Kreimeier, Klaus 28, 64, 163, 201 Krell, Max 209, 280–282, 284–287, 316 Kuleschow, Lew 56, 256

Külpe, Oswald 53 Kümmel, Albert 18–20, 220 Kurz, Gerhard 53, 55 Kyser, Hans 343 L Lacan, Jacques 100, 104 Lamprecht, Gerhard 38 Lang, Fritz 282, 338, 341 Lange, Helene 277, 278 Lange, Konrad 62, 120, 126–128, 130, 217, 224, 274, 275, Laplanche, Jean 89, 94, 194 Leberecht, Frank 210 Le Bon, Gustave 13 Lemke, Hermann 122 Lessing, Gotthold Ephraim 35 Lethen, Helmut 142 Levin, Tom 162 Lévy-Bruhl, Lucien 146 Lewin, Bertram 143 Lind, Alfred 178, 180 Lindau, Paul 173, 297 Linder, Max 175 Lindsay, Vachel 60 Loiperdinger, Martin 45, 46, 95, 102, 237 Lubitsch, Ernst 14, 225 Ludwig, Otto 310 Lukács, Georg 160–166, 177 Lumière, Auguste 17, 27, 44, 48, 50, 72, 81, 101, 103, 104, 133, 179, 181, 197 Lumière, Louis 17, 27, 44, 48, 50, 72, 81, 101, 103, 104, 133, 179, 181, 197 M Maase, Kaspar 212 Mack, Max 173 Mackowiak, Klaus 315, 318 Mann, Thomas 216, 262

Index Mannoni, Octave 104, 107, 153 Marbe, Karl 53, 54 Mauss, Marcel 238–240, 244, 245, 274 May, Karl 321 Mehring, Walter 183 Méliès, Georges 27 Metz, Christian 95, 97, 100, 101, 103– 107, 112, 153, 154, 344–348 Mierendorff, Carl 281, 334 Mitscherlich, Alexander 193 Möller, Marx 302 Monaco, James 73, 81, 344 Moreck, Curt 260 Moszkowski, Alexander 278–280 Mühl-Benninghaus, Alexander 28, 64 Müller, Corinna 28, 62, 64, 94, 125, 129, 130, 159, 166, 167, 174, 199, 200, 215, 243, 244, 264, 302, 318 Müller, Hans-Harald 74, 83, 84, Müller-Funk, Wolfgang 87 Müller-Tamm, Jutta 23, 25, 37, 94, 109, 110, 132, 195 Mulvey, Laura 143, 144 Münsterberg, Hugo 52, 56–60, 66 Münzenberg, Willi 334 Murnau, Friedrich Wilhelm 151, 230, 338, 340–343 N Näcke, Paul 279 Nakai Masakazu 346, 347 Niblo, Fred 183 Nielsen, Asta 286, 318, 333 Nietzsche, Friedrich 14, 132 Noack, Victor 121, 129, 215–217, 254, 260–263 Nürnberger, Helmuth 82, 85 O Oesterheld, Erich 297–299, 303

Olimsky, Fritz 69 Orphal, Stefanie 67 Oswald, Richard 321, 337 Otten, Karl 315 P Paech, Anne 46, 204, 260, 262, 263 Paech, Joachim 15, 37, 46, 204 Panofsky, Walter 207, 208 Patalas, Enno 45 Paul, Robert 103 Pawlow, Iwan Petrowitsch 147 Pehle, Margot 151, 178, 179, 296, 297 Peschina, Helmut 90, 169 Pethes, Nicolas 183, 184 Pfemfert, Franz 139, 140, 297, 310–313 Pfotenhauer, Helmut 16, 35, 37 Pias, Claus 97 Pieper, Lorenz 134, 135 Pietsch, Volker 338 Pinthus, Kurt 74, 123, 124, 151, 152, 281, 307–309, 312–315, 317, 318, 324 Piscator, Erwin 301 Platon 95, 237, 238 Poelzig, Hans 281 Polgar, Alfred 83, 252 Pontalis, Jean-Bertrand 89, 94, 194 Porten, Henny 286 Porter, Edwin S. 103, 163, 164 Postman, Neil 188 Prince, Charles [Moritz] 175 Prokop, Dieter 129 Prümm, Karl 65 Q Quaresima, Leonardo 166, 282 R Rajewsky, Irina O. 16, 301–303, 306, 326, 328

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Metaphorologie des Kinos Rapsilber, Maximilian 124, 125 Rasser, E.O. 255 Rath, Willy 147, 228–230, 232, 246, 273 Rauscher, Ulrich 260, 261 Regnault, Félix 44, 59 Reinhardt, Max 218, 225, 300, 303–305, 307–310, 322 Remarque, Erich Maria 280 Richards, Angela 193 Richter, Herbert 260 Riedel, Wolfgang 14, 108, 109, 132, 140, 142, 146–148, 196, 226, 227, 229 Rippert, Otto 338, 341 Robison, Arthur 310, 340, 342 Röhnert, Jan Volker 67 Röntgen [Rœntgen], Wilhelm Conrad 254 Roland [Möhring, Henry] 267, 268, 270, 275, 276, 283 Rolland, Romain 196 Roth, Joseph 71, 80–90, 94, 98, 165, 168–171, 239, 261, 262 Rousseau, Jean-Jacques 108 Ruthner, Clemens 338, 339 S Sabo, Oskar 173 Sadoul, Georges 45 Sarasin, Philipp 245, 246, 250, 251 Sattig, Ewald 43 Saunders, Thomas J. 73 Schäfer, Fabian 346, 347 Schäfer, Wilhelm 225 Scherpe, Klaus R. 22 Schiller, Friedrich 304 Schivelbusch, Wolfgang 122, 206, 208, 240, 274 Schlich, Thomas 250, 251, 258 Schlüpmann, Heide 13, 28, 214, 236 Schnitzler, Arthur 296, 299

Schoeller, Wilfried F. 212 Schopenhauer, Arthur 132 Schröder, Karl Ludwig 297 Schubring, Paul 226 Schulz, Ludwig 304 Schulze, Ernst 252, 253, 256 Schweinitz, Jörg 18, 28, 162, 223, 224 Segeberg, Harro 167 Sellmann, Adolf 136, 260, 266, 267 Serner, Walter 141 Shakespeare, William 324 Sieburg, Friedrich 281 Siegel, Rainer-Joachim 83, 90, 169 Siemsen, Hans 177, 180 Simmel, Georg 14, 132, 140, 229 Skladanowsky, Emil 17, 43, 179, 181 Skladanowsky, Max 17, 43, 179, 181 Smith, Frank Percy 256 Sombart, Werner 11 Sontag, Susan 248, 249, 264, 265, 269, 295, 338 Sophokles 308 Spitteler, Carl 233, 234, 268 Spode, Hasso 208 Stählin, Wilhelm 52–56, 247, 249 Steinhoff, Hans 204 Sternickel, August 126 Stiasny, Philipp 28, 29, 63, 64 Stiegler, Bernd 18 Stoker, Bram 338 Strachey, James 193 Strauss, Georg 309 Strauss, Richard 11 Strauß, Ludwig 315 Strobl, Karl Hans 220 Swedenborg, Emanuel 325 T Tannenbaum, Herbert 136, 216, 273 Terayama Shūji 174

Index Theweleit, Klaus 142 Traub, Hans 44 Tucholsky, Kurt 171–184, 188, 302, 346 Turszinsky, Walter 14, 15 V Valetti, Rosa 188 Vaughan, Dai 197 Veiller, Bayard 310 Vernes, Jules 321 Vico, Giambattista 108 Viertel, Berthold 121 Vischer, Friedrich Theodor 31, 96, 100, 106, 108–115, 117, 119, 128, 132, 143, 145–147, 156–158, 160, 161, 171, 193, 219, 237 Vischer, Robert 114 Volkmer, Ottomar 45 Volkner, Robert 225 W Wagner, Richard 148, 217, 218, 301 Walden, Herwarth 211, 212 Wegener, Paul 174, 228 Weinrich, Harald 23, 24, 26, 52, 53 Weisse, Kurt 302 Westhoff, Heidi 151, 178, 179, 296, 297 Wiene, Robert 175 Wilhelm, Carl 14 Willer, Stefan 53 Winckelmann, Johann Joachim 37 Winkler, Hartmut 100, 255 Winter, O. 50, 51 Witte, Karsten 163 Wolf, Werner 303, 326 Wolff, Kurt 308, 315 Y Yanagibashi, Daisuke 44, 126, 287 Yersin, Alexandre 252

Z Zehder, Hugo 149, 151 Zetkin, Clara 267 Zeul, Mechthild 138, 143–145 Zuckmayer, Carl 281 Zweig, Arnold 281 Zweig, Stefan 88

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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

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