Verschwörungstheorien: Eine philosophische Kritik der Unvernunft [2., unveränderte Auflage 2017] 9783839431023

Moon landing conspiracy, Illuminati conspiracy, 9/11 or Bielefeld conspiracy - those who want to know how conspiracy the

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Verschwörungstheorien: Eine philosophische Kritik der Unvernunft [2., unveränderte Auflage 2017]
 9783839431023

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Teil I
1.1 Einfache Erklärungen
Kustoden: Kommunikation im Untergrund
1.2 Theorie und Begriff
Nine/Eleven
1.3 Asymmetrische ›Beweise‹
Die Iden des März
1.4 Realität 2.0
Der Mond: Director’s Cut
1.5 Was gibt es?
Fichen (CH)
1.6 Zweifel und Wissen
… Kontrolle ist besser!
1.7 ›Wahrheit‹
Brot, Spiele, Schulden
1.8 Begründung
Dr. Dr. Uwe B.
1.9 Analogieschlüsse
Giftgas
1.10 Dogmen
Menschenversuche
1.11 Die Kraft der ›Beweise‹
Cult of AW
1.12 Theoretische Sparsamkeit
No smoking beyond this point!
1.13 Zwischenfazit
›Challenger‹
Teil II
2.1 Nutzen und Motive
Echelon
2.2 Allmacht und Unfehlbarkeit
Illuminaten
2.3 Die ›Rationalität‹ des Masterplans
›Functional Food‹
2.4 Virtualisierung
Bielefeld
2.5 Mythos
In Quintum Novembris
2.6 Wahn und politische Legitimation
Die Weltverschwörung der Freimaurer
2.7 Projektion
Chemtrails
2.8 Pragmatische Strategien der Plausibilisierung
Cotes du Rhone
2.9 ›Yesterday’s Tools‹
›Stammheim‹
2.10 Fazit
Catilina
Anhänge
Anhang 1: Absichten und Folgen — Karl Poppers Argument
Anhang 2: Kommentar
Anhang 3: Musterlösungen
›Functional Food‹
Das Net z — Totale Kontrolle
Anhang 4: Glossar
Literatur
Endnoten

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Karl Hepfer Verschwörungstheorien

Edition Moderne Postmoderne

Karl Hepfer (PD Dr.) ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Erfurt. Er hat zahlreiche Monographien zur Erkenntnistheorie, Ethik und zur Geschichte der Philosophie veröffentlicht.

Karl Hepfer

Verschwörungstheorien Eine philosophische Kritik der Unvernunft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Veronika Bartelt, Münster Satz: Justine Haida, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3102-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3102-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort  | 9 Einleitung  | 11

T eil I 1.1 Einfache Erklärungen  | 17 ≡ Kustoden: Kommunikation im Untergrund | 19 1.2 Theorie und Begriff  | 23 ≡ Nine/Eleven | 25 1.3 Asymmetrische ›Beweise‹  | 31 ≡ Die Iden des März | 34 1.4 Realität 2.0  | 37 ≡ Der Mond: Director’s Cut | 42 1.5 Was gibt es?  | 45 ≡ Fichen (CH) | 49 1.6 Zweifel und Wissen  | 51 ≡ … Kontrolle ist besser! | 56 1.7 ›Wahrheit‹  | 57 ≡ Brot, Spiele, Schulden | 59

1.8 Begründung  | 61 ≡ Dr. Dr. Uwe B.  | 64 1.9 Analogieschlüsse  | 69 ≡ Giftgas  | 71 1.10 Dogmen  | 75 ≡ Menschenversuche | 78 1.11 Die Kraft der ›Beweise‹  | 81 ≡ Cult of AW | 83 1.12 Theoretische Sparsamkeit  | 87 ≡ No smoking beyond this point! | 88 1.13 Zwischenfazit  | 91 ≡ ›Challenger‹ | 92

T eil II 2.1 Nutzen und Motive  | 97 ≡ Echelon | 101 2.2 Allmacht und Unfehlbarkeit  | 103 ≡ Illuminaten | 104 2.3 Die ›Rationalität‹ des Masterplans  | 107 ≡ ›Functional Food‹ | 111 2.4 Virtualisierung  | 113 ≡ Bielefeld  | 116 2.5 Mythos  | 119 ≡ In Quintum Novembris  | 122 2.6 Wahn und politische Legitimation  | 125 ≡ Die Weltverschwörung der Freimaurer | 127

2.7 Projektion  | 131 ≡ Chemtrails | 132 2.8 Pragmatische Strategien der Plausibilisierung  | 135 ≡ Cotes du Rhone  | 137 2.9 ›Yesterday’s Tools‹  | 139 ≡ ›Stammheim‹ | 141 2.10 Fazit  | 143 ≡ Catilina | 149

A nhänge Anhang 1: Absichten und Folgen — Karl Poppers Argument  | 153 Anhang 2: Kommentar  | 155 Anhang 3: Musterlösungen  | 161 ≡ ›Functional Food‹ | 161 ≡ Das Netz — Totale Kontrolle  | 163 Anhang 4: Glossar  | 167 Literatur  | 171 Endnoten  | 177

Der Weise richtet sich daher in seinen Meinungen nach den Fakten. David H ume, 1748

Fakten sind wie Kühe. Wenn man ihnen scharf genug ins Gesicht schaut, rennen sie im Allgemeinen weg. D orothy L. Sayers, 1927

Vorwort

Eine Untersuchung der philosophischen Eigenheiten von Verschwörungstheorien könnte wohl weitgehend ohne konkrete Beispiele auskommen. Allerdings würde dies das Unternehmen zu einer eher trockenen Übung machen. Deshalb steht nach jedem theoretischen Abschnitt eine Verschwörungstheorie. Wer Gefallen an Denksportaufgaben hat, kann diese Beispieltheorien (auf der Grundlage des gesamten Textes und ohne weitere historische Recherchen) selbst angehen – und in vielen Fällen bereits allein anhand der strukturellen Merkmale die frei erfundenen oder sehr unwahrscheinlichen von den echten oder wahrscheinlichen trennen. Die Einschätzungen des Autors gibt eine tabellarischen Übersicht in Anhang 2. Anhang 3 kommentiert einige der Beispiele ausführlicher. Wer dagegen nur an der philosophischen Analyse interessiert und nachsichtig mit längeren (und hin und wieder durchaus komplizierten) theoretischen Texten ist, kann die Beispiele ohne Verständnisverlust überspringen. Die philosophische Analyse selbst besteht aus zwei Teilen. Der erste legt den Schwerpunkt auf die wissenschaftstheoretischen Auffälligkeiten, der zweite beschäftigt sich mit typischen inhaltlichen und praktischen Kennzeichen von Verschwörungstheorien. Denn vor allem diese beiden Aspekte helfen uns, wenn wir entscheiden müssen, wie wahrscheinlich eine Theorie ist. Hannover, im November 2014

Einleitung

Das Netz erleichtert unser Leben. Es gibt uns Auskunft, es lässt uns in Kontakt bleiben, es eröffnet Möglichkeiten. Es begleitet uns und ist ständig für uns da. Doch in Wahrheit sind sie längst dabei, mit seiner Hilfe die Totale Kontrolle über unser Denken und Handeln zu übernehmen. Ihre Server kennen uns besser als wir uns selbst, und sie vergessen nichts. Sie wissen, was wir wollen. So können sie uns ›unsere‹ Musik, ›unsere‹ Filme, ›unsere‹ Meinungen und ›unsere‹ Gefühle verkaufen. Auf ihren Servern lagern unsere Urlaubsbilder, laufen unsere Blogs. Sie leiten Menschen auf unsere Seiten oder halten sie fern. Sie wählen ›unsere‹ Freunde für uns aus und sie wissen jederzeit, was wir tun. Ob wir online Monster jagen, im Büro die Quartalszahlen abarbeiten oder uns mit der letzten Steuererklärung plagen, sie haben uns im Blick. Ob wir im Café vor einem Espresso sitzen, auf der Autobahn im Stau hängen, oder beim Joggen vom Regen überrascht werden: ihre Webcams beobachten uns, ihre Funktürme orten uns. Sie bestimmen auch, was wir sehen dürfen. Denn einige Wege finden sich in keinem Navigationsprogramm, einige Inhalte in keiner Suchmaschine. Sie kennen unseren Kontostand und wissen, wo und wann wir für was Geld ausgeben. Manchmal lassen sie sogar Protest und Widerstand zu: doch nur, wenn dadurch ihr Netz am Ende stärker wird. Sie ertränken uns in einer Flut von ›Informationen‹, um auch die letzten Reste unseres eigenen Denkens lahmzulegen. Denn auf keinen Fall dürfen wir dahinter kommen, wie sich die Dinge wirklich verhalten … Verschwörungstheorien sind für gewöhnlich ein Thema der Sozialwissenschaften, der historischen Forschung und der Psychologie. Sie wecken pseudowissenschaftliche Begeisterung und gehen als Unterhaltung wie Eis an warmen Sommertagen. Kaum in Erscheinung treten sie dagegen als Gegenstand der Philosophie, obwohl doch gerade die Philosophie von Berufs wegen versucht, in der abstrakten Welt für Ordnung zu sorgen.1 Trotz vieler nützlicher Werkzeuge, die sie für die Bewertung

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

von Theorien über die Jahre entwickelt hat, bestimmt vornehme Zurückhaltung das Feld. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass das Thema auf den ersten Blick für eine seriöse Auseinandersetzung ungeeignet erscheint. Besonders die inhaltliche Extravaganz, die die meisten Verschwörungstheorien auszeichnet, sowie ein nicht unerheblicher Teil ihrer Anhängerschaft, machen es oft leicht, Verschwörungstheorien auf dem Haufen der wahnhaften und wirren Ideen abzuladen, mit denen eine ernsthafte Auseinandersetzung einfach nicht lohnt. Sie dort zu deponieren ist dennoch vorschnell. Denn erstens folgt aus der inhaltlichen Eigenheit allein noch nicht, dass eine Auseinandersetzung sinnlos ist. Weder verzichten Soziologen und Historiker nur deshalb auf die Diskussion radikaler Ideologien, weil sie deren Inhalte eigenwillig finden; noch meiden Physiker die Beschäftigung mit den Grundlagenfragen ihrer Disziplin allein deshalb, weil dort mitunter hochbizarre und kontraintuitive Inhalte verhandelt werden. Warum sollte man Verschwörungstheorien also nicht mit einer ähnlichen Aufgeschlossenheit begegnen? Zweitens berichtet uns die Geschichte von einer Vielzahl von echten Verschwörungen, vom klassischen Plot gegen den römischen Imperator Julius Cäsar bis hin zur Theorie, die Tabakindustrie habe über die Jahre gezielt und im Geheimen das Suchtpotenzial ihrer Produkte gesteigert. Und schließlich drittens: Verschwörungstheorien, ob eingebildet oder ›echt‹, sind oft weit weniger ›wirr‹ als es auf den ersten Blick aussieht. Im Gegenteil: zum Teil sind sie sogar hochgradig schlüssig und erfüllen viele der üblichen Kriterien für wissenschaftliche Theorien in vorbildlicher Weise. Ein zweiter Blick auf die Sache lohnt sich also und ist weniger abwegig, als es zunächst erscheint. Doch was genau kann die Philosophie zur Bewertung von Verschwörungstheorien beitragen? Was zeichnet ihren Blick auf die Sache vor anderen Betrachtungsweisen aus? Schauen wir, um diese Fragen zu beantworten, zunächst kurz auf die Konkurrenz: Historiker weisen nach, dass Verschwörungstheorien ein überholtes Geschichtsbild zugrunde liegt, welches die Bedeutung Einzelner oder kleiner Gruppen für den Lauf der Ereignisse viel zu hoch ansetzt; oder sie fahnden in vergilbten Dokumenten nach Belegen für oder gegen eine behauptete Verschwörung. Psychologen und Sozialwissenschaftlerinnen dagegen untersuchen den pathologischen Charakter des Verschwörungsdenkens und die Funktion entsprechender Theorien für den Einzelnen oder die Gesellschaft. In der philosophischen Auseinandersetzung dagegen treten diese Aspekte in

Einleitung

den Hintergrund. Hier geht es vielmehr um theoretische Grundstrukturen und um die systematische Frage, wie diese unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit formen, also um erkenntnistheoretische und ontologische Fragen, um Fragen nach unserem Wissen und dem, was es in der Welt gibt oder nicht gibt. Das bedeutet: die Philosophie diskutiert Aspekte von (Verschwörungs-)Theorien, die von den Gesellschaftswissenschaften allenfalls am Rand behandelt werden. Deshalb kann die philosophische Analyse die Überlegungen jener Disziplinen nicht nur ergänzen, sondern in einigen Punkten auch erheblich erweitern. Sie eröffnet einen frischen Zugang zum Thema.

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Teil I

1.1 Einfache Erklärungen

Verschwörungstheorien haben Konjunktur in Zeiten des Umbruchs. »Krisenzeiten sind Verschwörungszeiten«.2 Sie haben immer dann besonderen Zulauf, wenn traditionelle Deutungsmuster nicht mehr greifen. Kriege, politische, wirtschaftliche oder ideologische Umwälzungen, Naturkatastrophen und solche, die von Menschen selbst verursacht wurden, sind der Boden, auf dem sie gedeihen. Die sozialwissenschaftliche Untersuchung von Verschwörungstheorien hat sich deshalb besonders auf gesellschaftliche Umbruchperioden im Gefolge von Kriegen und Wirtschaftskrisen oder großen ideengeschichtlichen Neuerungen konzentriert, auf die Epidemien und die spektakulären Herrschaftswechsel der frühen Neuzeit, die Französische Revolution von 1789 und die Russische Revolution von 1917 und deren Folgen, auf die Situation nach den Weltkriegen und die Lage nach den spektakulären Terroranschlägen der letzten Jahre. Dabei ist jedoch eine Krise kaum in den Blick gekommen, die für die gegenwärtige Konjunktur des Verschwörungsdenkens wohl sehr viel wichtiger ist: die ›Krise des modernen Subjekts‹. Unter dieser Überschrift weisen Kunst, Literatur und (Sozial-)Psychologie zwar seit geraumer Zeit darauf hin, dass es für den Einzelnen zunehmend schwerer wird, eine einheitliche und befriedigende Selbstwahrnehmung auszubilden. Doch lange entfaltete die theoretische Feststellung keine nennenswerte Wirkung im Alltag. Dies hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. Moderne Arbeitsbiografien weisen immer häufiger massive Brüche auf. Unsere Aktivitäten verteilen sich zunehmend auf kaum noch miteinander zu verbindende Lebensbereiche. Der Druck zur Mobilität untergräbt die Beständigkeit traditioneller sozialer Bindungen. Moderne Kommunikationswege fördern die massenhafte, aber wenig verbindliche Kontaktaufnahme mit Menschen, denen wir im wirklichen Leben nie begegnen werden. Und schließlich: die Vielfalt

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

an Wahlmöglichkeiten zwischen weit auseinanderliegenden Wert- und Wirklichkeitsvorstellungen und die allgemeine Virtualisierung vieler Lebensbereiche, die eine direkte und unmittelbare Bekanntschaft mit den Dingen durch mittelbare ›Informationen‹ ersetzt, fordern unsere Urteilskraft und Orientierungsfähigkeit in einer bisher nicht gekannten Weise. Der Rückzug auf einfache Welterklärungen, wie Verschwörungstheorien sie anbieten, ist daher eine naheliegende Strategie der Gegenwehr gegen eine zunehmend unübersichtliche und unverbindliche Realität. Er ist die naheliegende Antwort auf eine Krise, die zugleich subtiler und tiefgreifender ist als ihre historischen Vorläufer. Denn deren auslösende Momente waren in den meisten Fällen noch überschaubar; heute dagegen ist die Lage viel verworrener. Doch wem es gelingt, sich davon zu überzeugen, dass eine einflussreiche Minderheit im Verborgenen das Weltgeschehen lenkt, gewinnt dadurch auch heute noch sofort ein Ordnungsmuster, das es ihm erlaubt, sich zurechtzufinden. Schließlich erlaubt die Überzeugung, die Geschicke der Menschheit oder auch nur das eigene Geschick lägen (zu weiten Teilen) in der Hand anderer, übermächtiger Akteure, die Ereignisse nach einem einfachen Gut-Böse-Schema zu interpretieren. Und selbstverständlich entlastet die Unterstellung der Fremdsteuerung auch von der Verantwortung für eigene Entscheidungen und Unterlassungen. Die Strategie, verwirrende und damit oft Angst einflößende Ereignisse durch eine Verschwörung zu ›erklären‹ und auf diese Weise zu entschärfen, hat tatsächlich eine lange Geschichte. Sie zieht sich von den Pestepidemien des Mittelalters, die der jüdischen Minderheit angelastet wurden, bis zu den Niederlagen auf dem Schlachtfeld, für die, wie etwa im Ersten Weltkrieg, Verschwörer an der Heimatfront verantwortlich gemacht wurden. Neu allerdings ist die heute deutlich größere inhaltliche Bandbreite: verschwörungstheoretische Deutungen gibt es inzwischen für fast jeden Anlass, vom internationalen Großereignis bis zur bizarren regionalen Begebenheit. Und obwohl der moderne Variantenreichtum es schwerer macht, die Grundmuster zu isolieren, die der Theoriebildung zugrunde liegen, so eröffnet die Vielfalt auf der anderen Seite doch auch eine sehr viel umfassendere Sicht auf die verschiedenen Strategien der Sinnkonstitution im Angesicht einer überkomplexen Lebenswirklichkeit, die sich anders kaum noch zu einem sinnvollen Ganzen fügen lässt. Über das eingangs vorgestellte Szenario mag man verschiedener Meinung sein – an der Schlussbehauptung dagegen gibt es nichts zu deuten:

1.1 Einfache Erklärungen

Zusammenhänge herzustellen und dabei Urteilskraft und Augenmaß zu beweisen sowie einen klaren Sinn für Sein und Schein zu bewahren, wird im aktuellen Dauerfeuer der Daten und ›Informationen‹ nicht eben leichter.

≡ K ustoden : K ommunikation im U ntergrund Nach dem Ende des Römischen Reiches und mit dem Niedergang seiner hervorragenden Infrastruktur war es schlecht bestellt um die Nachrichtenübermittlung über größere Distanzen. Vor allem für diejenigen, die nicht Teil der höfischen Herrschaftselite waren und keinen Zugang zu berittenen Kurieren und persönlichen Emissären hatten, gab es lange Jahrhunderte kaum einen Weg, sich über einige Entfernung zuverlässig abzusprechen. Kein Breitband-Netz, kein Telefon, noch nicht einmal elektrische Telegrafie oder ein auch nur im Ansatz zuverlässiges Postwesen. Doch einige unserer Vorfahren wussten sich zu helfen. Ihr System war ebenso einfach wie genial. Mit seiner Hilfe verbreiteten sie ihre subversiven Nachrichten und bereiteten Revolutionen vor. Mitglieder von Geheimgesellschaften blieben auf diese Weise sogar über den Atlantik hinweg in Kontakt: die Freimaurer bedienten sich dieser Methode ebenso wie die Illuminaten, deren Pyramide mit dem Auge ja noch heute den Greenback ziert. Die niederländischen Freiheitskämpfer (1566-1648) verdanken dieser Form der Nachrichtenübermittlung einen großen Teil ihres Erfolgs gegen Spanien, die englischen Parlamentarier griffen auf sie zurück, um dem britischen König in der ›Glorious Revolution‹ von 1688/9 mehr Mitsprache abzutrotzen, und ohne sie hätte auch der nordamerikanische Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) einen deutlich anderen Verlauf genommen. Zwar spielte sie nachweislich keine Rolle im deutschen Bauernkrieg von 1524/5, dafür aber weiß man um den Einfluss des geheimen Kommunikationsnetzes auf den Fortgang des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648). Und schließlich hatte diese Methode der Nachrichtenübermittlung auch wesentlichen Anteil am Sieg der Bürger über die Feudalherren in der Französischen Revolution von 1789.*

* | S. z.B. Tristero et al. 1997, bes. Kap. 3-7. Diese marxistisch-strukturalistische Untersuchung in drei Bänden (A. Tristero, L. Stern und Chr. Frey, Kustodenkommunikation und der klandestine Klassenkampf der Aufklärung. Leipzig, 1997), ist in ihrer Detailkenntnis bis heute unübertroffen. Besonders der zweite Band der interdisziplinär

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

Die Rede ist natürlich von der ›Geheimsprache der Kustoden‹. »›Kustos‹ (Plural: Kustoden) heißt ein Redezeichen genau dann, wenn es unter der letzten Zeile einer Seite steht und das erste (die ersten) Zeichen der ersten Zeile der nächsten Seite (im Umfang von 1-3 Silben) bezeichnet.«* Diese umständliche akademische Definition meint im Klartext: die ersten Silben der Folgeseite, die zusätzlich unter die letzte Zeile der vorigen gesetzt sind, meistens am rechten Rand. Für dieses Phänomen, das jeder kennt, der einmal ein älteres Buch aus der Zeit vom 15. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in den Händen gehalten hat, gibt es zwei ›offizielle‹ Erklärungen. Erstens, Kustoden seien ein Behelf für Buchbinder gewesen, um die Druckbögen richtig zusammenzusetzen; zweitens, sie dienten der Unterstützung der Lesenden, »damit das Auge während des Umblätterns wenigstens die ersten Silben der nächsten Seite voraus erfassen konnte.«** Beides falsch, wie Christian Wagenknecht und Ernst Peter Wieckenberg 1976 in ihrer wegweisenden Untersuchung (und erstmals in der neueren Forschung) schlüssig dargelegt haben. Ihr Hintergrund in der Literaturwissenschaft und ihr berufsbedingter Fokus auf intratextuelle Phänomene verstellten den beiden Autoren allerdings den Blick für die wahre Reichweite ihrer Entdeckung. So konnte die nachfolgende Forschung die Kommunikation mittels Kustoden inzwischen weit über den Bezug auf andere Texte hinaus zweifelsfrei nachweisen. Wo Wagenknecht und Wieckenberg vor fast vierzig Jahren nur Subtexte erkannten, die den jeweiligen Haupttext kommentierten, haben nachfolgende Forscher seitdem zahlreiche Fälle belegt, in denen die Kustodenkommunikation den Verlauf historischer Ereignisse nachhaltig beeinflusste. Dies gelang ihnen insbesondere durch den sorgfältigen Abgleich der Kustodierung von Erstausgaben und ihrer Verbreitung auf der einen Seite mit den revolutionären Aktivitäten auf der anderen.*** Obwohl ihr Fokus heute also als zu eng gelten muss, gebührt Wagenknecht und Wieckenberg auf jeden Fall das Verdienst, einen mustergültigen Nachweis für die Gestaltungsfreiheit der Setzer bei der Kustodierung von Normaltexten geführt zu haben. Diese konnten, folgt man den beiden Autoren, jeweils auf eine durchschnittliche Varianz von 40 Wörtern beim Seitenumbruch für die Verbreiangelegten Studie enthält eine Fülle sorgfältig recherchierten Materials, das u.a. die genannten Verbindungen erschöpfend belegt.

* | Wagenknecht/Wieckenberg 1976, 260. ** | Wagenknecht/Wieckenberg 1976, 262; unter Berufung auf Bohatta 1928. ***  |  S. dazu besonders Tristero et al. 1997 Bd. 2; sowie die Literaturliste am Ende des dritten Bandes.

1.1 Einfache Erklärungen

tung ihrer subversiven Botschaften zurückgreifen.* Und so galt: »Wer die Setzer kontrollierte, kontrollierte die Revolution«.** »Die Kustodensprache«, so fassen Tristero et al. es gegen Ende ihres dritten Bandes zusammen, »erlaubte daher den Wegbereitern und Kämpfern wider die feudale Repression in weitgehender Anonymität ihre Aktionen über große Distanzen zuverlässig und gleichzeitig klandestin zu koordinieren. Mit der Einführung der beweglichen Lettern im Buchdruck zur Mitte des 15. Jahrhunderts war die transzendent-dialektische *** Voraussetzung für die internationale Synchronisation revolutionärer Aktivitäten geschaffen. Die resultierende Kommunikationsstruktur wurde subversiv unter Umgehung der lange Zeit noch quasi-monopolistischen Produktions- und Distributionsbedingungen im Druckwesen durch die alleinige Initiation der Setzer, d.i. der am stärksten ausgebeuteten Fraktion, genutzt.«**** Bleibt noch anzumerken, dass auch abseits der Geschichtsforschung durchaus Hinweise auf die Geheimsprache der Kustoden zu finden sind. So inspirierte die getarnte Kommunikation der frühen Revolutionäre und Geheimbündler in einem öffentlich zugänglichen und verbreiteten Medium etwa den bekennenden Freimaurer Edgar Allan Poe zu einer seiner gelungensten Kurzgeschichten: The Purloined Letter.***** Ebenso kann inzwischen als gesichert gelten, dass sich der große amerikanische Gegenwartsautor Thomas Pynchon für seine Erzählung The Crying of Lot 49 von der Kustodenkommunikation inspirieren ließ.******

* | Wagenknecht/Wieckenberg 1976, 267. ** | Tristero et al. 1997, 1:42. ***  |  Hier handelt es sich offensichtlich um einen Druckfehler; richtig muss es heißen: ›transzendental-dialektisch‹, denn es geht hier offensichtlich um die ›Bedingungen der Möglichkeit‹ und nicht um den Bezug auf Jenseitiges. **** | Tristero et al. 1997, 3:1048; s. auch Maas 2008, 23-32. ***** | 1844, dt. Der entwendete Brief. Hier geht es um Dokumente, die bei einer gründlichen Hausdurchsuchung deshalb von den Inspektoren übersehen werden, weil der Täter sie in aller Offenheit in einer Ablage ›versteckt‹. ****** | 1966, dt. Die Versteigerung von Nr. 49. Zentral für dieses Werk ist die Entdeckung eines geheimen Netzes der Informationsübermittlung. Die literarische Verfremdung des Themas, u.a. durch die Verengung des Schauplatzes auf die sonnige Westküste Amerikas, ist wohl nicht zuletzt als Vorsichtsmaßnahme des Autors zu verstehen, durch die er sich gegen Vergeltungsmaßnahmen des in den USA auch heute noch aktiven und besonders skrupellosen Ablegers des Illuminatenordens (›Illuministen‹) absichern wollte – ebenso wie seine langjährige Zurückhaltung in der Öffentlichkeit.

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

Alles in allem ist festzuhalten: bei der konspirativen Geheimsprache der Kustoden handelt es sich um eine in der modernen Wahrnehmung lange unterschätzte Verschwörung, deren Nachwirkungen bis in die Jetztzeit reichen. Sie war – ähnlich wie die elektronischen Kurznachrichtendienste für verschiedene revolutionäre Bewegungen der letzten Jahre – unerlässliche Vorbedingung für den Erfolg zahlreicher großer gesellschaftlicher Umbrüche, die letztlich unsere modernen Gesellschaften nachhaltig geformt haben.

1.2 Theorie und Begriff

Nicht jede Vermutung, an einer Sache könnte mehr dran sein als auf den ersten Blick zu erkennen ist, nicht jeder Verdacht, es gehe nicht alles mit rechten Dingen zu, mündet zwangsläufig in eine Verschwörungstheorie. Im Gegenteil. Meistens sind derartige Vermutungen schlicht ein verdecktes Eingeständnis unserer Unwissenheit und weit von der Behauptung entfernt, die Undurchsichtigkeit einer Situation müsse dem planvollen Wirken verborgener Mächte zugeschrieben werden. Auch besteht eine ›Theorie‹ aus mehr als nur einer Vermutung. Und schließlich: nicht jede Schublade mit der Aufschrift ›Verschwörungstheorie‹ hat tatsächlich einen entsprechenden Inhalt; oft dient dieses Etikett nur dazu, die Konkurrenz herabzusetzen oder verkaufsfördernd mit einem hohen Unterhaltungswert zu werben.3 Betrachten wir die Angelegenheit daher genauer und beginnen mit einer Begriffsbestimmung. Erstens: ›Theorien‹ sind vereinfachte Modelle der Wirklichkeit. Sie bestehen aus einem System von Sätzen, die aufeinander verweisen und sich gegenseitig stützen und begründen. Ziel einer Theorie ist es (für gewöhnlich), durch Verallgemeinerung und durch die Konzentration auf einige Merkmale des zu erklärenden Phänomens klare und logisch folgerichtige Antworten auf bestimmte Fragen zu finden. Das können sehr allgemeine Fragen nach den Eigenschaften und dem Verhalten der uns umgebenden Natur sein, aber auch ganz spezielle Fragen, etwa nach dem Zustandekommen eines bestimmten Ereignisses. Theorien stellen wir also deshalb auf, weil wir neugierig sind und gleichzeitig, weil wir Angst vor dem Unbekannten und Unverstandenen haben. Die Antworten, die uns Theorien geben, erfüllen entsprechend einen doppelten Zweck. Indem sie uns mit Erklärungen für das Fremde und Unbekannte versorgen, mindern sie einerseits unsere Angst und befriedigen andererseits unsere Neugier. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Verschwörungstheorien

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

nicht wesentlich von unseren ›normalen‹ Theorien, ob im Alltag oder in den Wissenschaften. 4 Denn auch diese wollen uns die Angst vor dem Unbekannten nehmen und rücken unserer Unwissenheit mit Vereinfachungen und abstrakten Modellierungen zu Leibe. Dadurch werden Erklärungen möglich, die die Ereignisse und Beobachtungen in einen regelhaften Zusammenhang5 bringen. Kurz: Theorien treten allgemein mit dem Versprechen an, uns zu einem besseren Verständnis der Welt zu verhelfen und Verschwörungstheorien sind hier keine Ausnahme. Zweitens: einfacher, als den Unterschied von Verschwörungstheorien und ›normalen‹ Theorien an ihrer formalen Anlage festzumachen, scheint es daher auf den ersten Blick, ihn im Gegenstandsbereich zu suchen. Denn die inhaltliche Grundüberzeugung aller Verschwörungstheorien ist ja mehr oder weniger ausdrücklich immer die Behauptung einer Verschwörung. Doch was ist eine ›Verschwörung‹? Wenigstens zwei Merkmale liegen auf der Hand. Erstens sind an einer Verschwörung immer mehrere Personen beteiligt; und zweitens ist eine Verschwörung dadurch bestimmt, dass Vorgänge im Geheimen ablaufen. Eine ›offene Verschwörung‹ erscheint ebenso widersinnig, wie die Verschwörung einer einzigen Person. Darüber hinaus nehmen wir für gewöhnlich, und drittens, an, dass einer Verschwörung eine ›böse‹ Absicht zugrunde liegt – von einer Verschwörung zum Guten, das heißt zum Vorteil anderer, sprechen wir eher selten.6 Nimmt man diese Merkmale zusammen, so lässt sich eine ›Verschwörung‹ als das geheime Zusammenwirken einer (in der Regel überschaubaren) Gruppe von Personen definieren, deren Absprachen und Handeln darauf zielen, die Ereignisse zu ihrem eigenen Vorteil (und damit zugleich zum Nachteil der Allgemeinheit) zu beeinflussen. Eine Verschwörungstheorie ist entsprechend der Versuch, (wichtige) Ereignisse als Folge derartiger geheimer Absprachen und Aktionen zu erklären.7 Anhand ihrer inhaltlichen Grundannahme lassen sich Verschwörungstheorien in der Tat leicht von ›normalen‹ Theorien unterscheiden. Denn selbst wenn im Einzelfall der ausdrückliche Hinweis darauf fehlt, dass eine Theorie an zentraler Stelle das geheime Wirken finsterer Akteure in die Erklärung einfließen lässt, ist dies in der tatsächlichen Argumentation letztlich kaum zu verbergen. Wenn man sich von dem Reflex löst, eine Theorie allein deshalb nicht ernst zu nehmen, weil ihr Gegenstand eine Verschwörung ist, verlagert sich die spannende Diskussion daher in den Bereich der Verschwörungstheorien selbst: welchen liegt eine ›echte‹

1.2 Theorie und Begriff

Verschwörung zugrunde und welche entspringen allein der Phantasie? Denn anhand der inhaltlichen Grundüberzeugung lässt sich diese Frage offensichtlich nicht beantworten. Viele ›echte‹ Verschwörungstheorien klingen tatsächlich bis zu ihrer Aufdeckung (die manchmal erst lange Zeit später erfolgt) ebenso unglaublich wie ihre eingebildete Konkurrenz. Es sei in diesem Zusammenhang nur an ›Watergate‹ oder den ›11. September‹ erinnert; s. dazu auch Endnote 81 und den nächsten Abschnitt. Nur wenige hätten vor der Aufdeckung der entsprechenden Verschwörungen ernsthaft in Betracht gezogen, dass in einer demokratischen und offenen Gesellschaft Methoden gegen den politischen Gegner eingesetzt werden, die jeder Diktatur zu Ehre gereichten, oder dass es tatsächlich Menschen gibt, die Passagierflugzeuge als Waffe einsetzen.

≡ N ine /E le ven Die spektakulären Einschläge der Flugzeuge in die Türme des WTC haben unsere Welt verändert. Vielleicht mehr als das Ende des Kalten Krieges und der Mauerfall zusammen. Ihre Erklärung: neunzehn junge Männer konnten mit Teppichmessern gleichzeitig vier Flugzeuge in ihre Gewalt bringen, anschließend lässig die US-Luftabwehr ausmanövrieren und ihre Flieger schließlich in aller Ruhe in verschiedene Gebäude ihrer Wahl lenken. ›Erfolgsquote‹: drei zu vier.* Neunzehn junge Männer mit Teppichmessern? Gegen die modernste Luftwaffe der Welt?! – Doch damit nicht genug. Denn auch andere Ungereimtheiten springen ins Auge und sind hinlänglich bekannt. Warum zum Beispiel traf eine Maschine ausgerechnet den Flügel des Pentagon, der (wegen ›Renovierungsarbeiten‹) gerade geräumt war? Und warum gab es nie eine gründliche und unabhängige Untersuchung der Ereignisse, wie sie bei jedem gewöhnlichen Flugzeugabsturz Vorschrift und üblich ist? Warum brachen die Türme in sich zusammen wie bei einer kontrollierten Sprengung und kippten nicht oberhalb der Einschlagstelle zur Seite weg?** Usw. usw. Die Tatsa* | Selbst die vierte Maschine wurde (nach offizieller Darstellung) nicht etwa von Abfangjägern vom Himmel geholt, sondern stürzte nach einem Aufstand der Passagiere gegen ihre Hijacker in der Nähe des Ortes Shankesville ab. ** | Die Behauptung, dass die Türme (WTC 1 und 2) durch eine Energiewaffe aus Area 51 (dem Geheimlabor des Militärs in der Wüste von Nevada, das seit langem fester Teil der Verschwörungsfolklore ist) zerstört wurden, darf man getrost im Reich der Fiktion verorten. Anders steht es um die These der kontrollierten Sprengung, denn das Muster

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che, dass hier schon die ›offizielle‹ Version selbst eine Verschwörungstheorie ist (junge Männer mit Teppichmessern und im Auftrag sinistrer Hintermänner), macht die Sache nicht besser. Es zeigt nur: entweder halten sie uns für so dumm, dass wir sie nicht durchschauen, oder sie fühlen sich schon so stark, dass es ihnen gleich ist, ob wir ihnen auf die Schliche kommen. Doch sehen wir uns die Sache etwas genauer an. Da die Faktenlage wegen der widersprüchlichen ›Beweise‹ in vielen Punkten mehr als undurchsichtig ist, bleiben uns für die Einschätzung vor allem die Motive. Die Frage ist also: Wem nützt die Aktion? Hier gibt es offensichtlich eine Reihe von mehr oder weniger wahrscheinlichen Kandidaten. Personen mit Wurzeln im Islam stehen, auch als Hintermänner der vermeintlichen Attentäter, dabei nicht unbedingt an erster Stelle. (Warum sollte jemand seinen Glaubensbrüdern auf der ganzen Welt das Leben auf Jahre hinaus besonders schwer machen wollen?) Bei anderen Kandidaten liegt der Nutzen zwar auf der Hand, aber es fehlen ihnen offensichtlich die Mittel und die Expertise oder die kriminelle Energie. In diese Gruppe gehören etwa Meteorologen und Bauindustrie. Die Wetterbeobachtung am flugzeugfreien Himmel mag für Wissenschaftler durchaus verlockend sein, schon wegen der vielen neuen Einsichten, die sie dann auf Tagungen ausbreiten können. Doch traut man ihnen den Zynismus zu, für einige Aufsätze in Fachzeitschriften über Leichen zu gehen? Ähnlich bei der Baubranche. Zwar gehören Durchstechereien hier zum Geschäft. Doch für die Hoffnung auf ein paar Aufträge beim Wiederaufbau scheint eine solche Aktion dann doch eine Nummer zu groß – selbst wenn man außer Acht lässt, dass sie weit jenseits der Kernkompetenzen dieser Branchen liegt. Nicht so leicht von der Hand zu weisen hingegen ist die Vermutung, hier könnte die amerikanische Rüstungsindustrie (beziehungsweise der spätestens seit ›Vietnam‹ im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit fest etablierte ›MilitärischIndustrielle-Komplex‹) die Finger im Spiel haben. Denn offensichtlich brauchte es nach dem Ende des Kalten Krieges einen neuen Feind, um Kürzungen im Militäretat abzuwenden. Was läge da näher, als mit einer spektakulären Aktion an die langjährigen Vorarbeiten amerikanischer Außenpolitik anzuschließen. So könnte man aus der systematischen Aufrüstung der damals noch offiziell so genannten ›Freiheitskämpfer‹ in Afghanistan in den 1990ern tatsächlich einen doppelten Nutzen ziehen. Da der Ruf der Vereinigten Staaten im Nahen Osten ohnehin andes Zusammensturzes ist schon auffällig. Ebenso wie die Tatsache, dass ein weiteres Gebäude auf dem Gelände (WTC 7) ebenfalls in dieser Weise zusammenbrach – ganz ohne, dass es von einem Flugzeug getroffen wurde; auffällig auch, dass andere Gebäude, die den Türmen viel näher waren, so gut wie unbeschädigt blieben.

1.2 Theorie und Begriff

geschlagen ist, warum nicht gleich ›Terroristen‹ aus dieser Region als die neuen Angstgegner präsentieren? An Mutlosigkeit bei der Umsetzung kühner Vorhaben leiden die strategischen Drahtzieher der Tötungsindustrie jedenfalls nicht. Und der Einwand, dass hohe Ausgaben den Staatshaushalt auf den Abgrund zutreiben, kann allenfalls für Hardcore-Patrioten ein Argument sein, die das allgemeine Wohlergehen ihres Landes über die Aussicht stellen, die eigene Firma auf Jahre zu sanieren. Oder steckt etwa doch die US-Regierung (oder wenigstens Teile von ihr) selbst hinter dem Anschlag? Auch dieser Verdacht lässt sich nicht so leicht ausräumen, wie man es gern hätte. In einem ersten möglichen Szenario wäre das Regierungshandeln von der Absicht geleitet, sich die Zustimmung der Bevölkerung für einen langwierigen Waffengang im Nahen Osten zu verschaffen, um mit einem Krieg am anderen Ende der Welt von Versäumnissen in der Innenpolitik (Armut, Gewalt, marode Infrastruktur) abzulenken. Ein ähnliches Vorgehen der US-Regierung in der Vergangenheit ist ja hinlänglich dokumentiert.* Doch zurück in die Gegenwart: bemerkenswert im Hinblick auf die These, die US-Regierung selbst sei in die Ereignisse des 11. September verstrickt, ist auf jeden Fall, dass Nine-Eleven-Präsident * | Für diejenigen, denen dies schon etwas aus dem Gedächtnis geraten ist: den ›Überraschungsangriff‹ des japanischen Kaiserreiches auf den amerikanischen Marine-Stützpunkt Pearl Harbour ließ der 32. US-Präsident und Freimaurer Franklin Delano Roosevelt damals wenigstens wissentlich zu – wenn er ihn nicht durch seine Haltung sogar provozierte. Bekannt ist, dass Roosevelt bereits zwei Wochen vor dem Überfall (am 25. November 1941) seinem engsten Kreis mitteilte, dass der Eintritt der USA in Kampfhandlungen nunmehr nur noch eine Frage von Tagen sei – und dies, obwohl die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung einen aktiven Kriegseintritt immer noch entschieden ablehnte. Der japanische Angriff erfolgte am 7. Dezember 1941, die offizielle US-amerikanische Kriegserklärung dann einen Tag später. Hartgesottene Verschwörungsanhänger können problemlos mit der Ähnlichkeit der Opferzahlen operieren: getötete eigene Bürger in der Größenordnung von 2.500-3.500 scheinen damals wie heute für die amerikanische Regierung ein akzeptabler Preis, wenn es um die Durchsetzung ihrer politischen Interessen gegen Widerstände geht. Zur Erinnerung: Roosevelt selbst verdankte seinen Sieg bei der Präsidentschaftswahl nicht zuletzt seinem Versprechen, die Vereinigten Staaten dauerhaft aus dem ›europäischen Krieg‹ herauszuhalten. Um die isolationistische Stimmung seiner Landsleute zu überwinden und die formale ›Neutralität‹ der USA zu beenden (die Vereinigten Staaten ›liehen‹ Großbritannien, Frankreich und anderen Verbündeten zwar Waffen, kämpften aber selbst eben bis dahin nicht mit), war der japanische Luftangriff auf Pearl Harbour in der Tat ein ›Geschenk des Himmels‹.

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

George Walker Bush zusammen mit seinem Vize Richard Cheney jeden Versuch einer raschen und unabhängigen Untersuchung gezielt hintertrieb. Ein zweites denkbares Szenario legt die Betonung nicht so sehr auf das Motiv der US-Militärpräsenz an den Ölbrunnen des Nahen Ostens und die Hoffnung, so indirekt von heimischen Problemen ablenken zu können, sondern stellt gleich die innenpolitische Komponente als Motiv heraus. Es geht so: im festen Glauben, ein dramatisches Großereignis würde sowohl den Zusammenhalt des amerikanischen Volkes wieder herstellen als auch den Bürgern die Dringlichkeit eines militarisierten Überwachungsstaates und der Abschaffung wesentlicher Bürgerrechte vor Augen führen, inszenierten einflussreiche regierungsnahe Kreise (oder Teile der Regierung selbst) den Anschlag auf die Türme – in der festen Absicht, ›Gottes eigenes Land‹ wieder zu alter Größe zu führen. Anstatt den drohenden Verfall des Landes und seinen Bedeutungsverlust in einer globalisierten Wirtschaft mühsam innenpolitisch abzufangen, sollte es also – im Geist der zupackenden frühen Siedler – die schnelle Hau-Ruck-Lösung richten. Dass sich die Erwartungen bisher noch nicht vollständig erfüllt haben, liegt daran, dass selbst Hau-Ruck-Aktionen ihre Zeit brauchen, wenn sie die Versäumnisse von Jahrzehnten aufarbeiten müssen. Die ›offizielle‹ Darstellung (junge Männer mit Teppichmessern), die ja auch darauf hinausläuft, dass die nahöstlichen Hintermänner des Attentats möglicherweise einen unliebsamen Herrscher in ihrem Hinterhof loswerden wollten und hofften, die USA würden dies nach einer solchen ›Einladung‹ gern für sie erledigen, ist so gesehen nur eine unter vielen.* Sie mag etwas plausibler werden, wenn man annimmt, dass es das vorrangige Motiv des Anschlags war, klare Fronten zu schaffen und der Bevölkerung des an Konflikten nicht eben armen Nahen Ostens zu einer neuer Geschlossenheit gegen einen gemeinsamen Feind zu verhelfen. Doch auch dies räumt die oben genannten Merkwürdigkeiten bedauerlicherweise nicht aus. Vor allem die Widerwilligkeit der damaligen US-Regierung, die Umstände des Anschlags öffentlich und umfassend aufzuklären, setzt ein unübersehbares Fra-

* | Tatsächlich dauerten die offiziellen Kampfhandlungen bis zur Niederlage Saddam Husseins im dritten Golfkrieg keine zwei Monate (vom 20. März bis 2. Mai 2003). In diesem Zusammenhang sei auch kurz an weitere Durchstechereien der US-Regierung und ihrer Verbündeten erinnert. Die ›Massenvernichtungswaffen‹ des Irak sind bis heute nicht gefunden worden, und selbst wenn George W. Bush und der damalige britische Premier Tony Blair mit ihrem unerschütterlichen Glauben an deren Vorhandensein persönlich auf Schnitzeljagd gegangen wären: auch sie hätten sie wohl nicht gefunden.

1.2 Theorie und Begriff

gezeichen hinter die offizielle Version.* Es bleiben Fragen wie die, warum es der modernsten Luftabwehr der Welt nicht gelang, vier Flugzeuge, die offensichtlich und gleichzeitig ihren Kurs verließen, davon abzuhalten, spektakulär im Zentrum von Millionenstädten niederzugehen; und auch viele andere, die in der inzwischen fast unüberschaubaren Verschwörungsliteratur zu diesem Thema in großer Detailfülle ausgebreitet werden.

*  |  Die von der amerikanischen Regierung sehr viel später dann doch noch eingesetzte Alibi-Kommission zur Untersuchung der Ereignisse hat die Öffentlichkeit einer Antwort jedenfalls nicht den erhofften Schritt näher gebracht. Im Gegenteil: ihr Abschlussbericht steckt ebenfalls voller Merkwürdigkeiten und Lücken.

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1.3 Asymmetrische ›Beweise‹

Obwohl auf den ersten Blick keine großen strukturellen Unterschiede zwischen Verschwörungstheorien und normalen Theorien zu erkennen sind, zeigen sich bei genauerer Betrachtung durchaus einige aufschlussreiche Abweichungen. Eine davon besteht in der Asymmetrie bei der Berücksichtigung der ›Beweise‹ für und wider. Denn an diesem Punkt weichen Verschwörungstheorien deutlich von ›normalen‹ Theorien ab: wo wissenschaftliche Theorien die Anhaltspunkte, die sie bestätigen, und solche, die gegen sie sprechen, gleichberechtigt würdigen, nehmen Verschwörungstheorien klare Wertungen vor. Normale Theorien leiten aus der Tatsache, dass keine Belege für oder gegen ihre Behauptungen zu finden sind, ab, dass weitere Forschung nötig ist, oder aber die Theorie aufgegeben und durch eine andere ersetzt werden muss. Anders Verschwörungstheorien. Die bloße Vermutung beispielsweise, dass die Zustimmung der Siegermächte zur Wiedervereinigung von einer geheimen Absprache über die Aufgabe der Deutschen Mark und die Einführung einer europäischen Gemeinschaftswährung abhing, kann dadurch, dass bei der Auswertung von Archivmaterial entsprechende Belege auftauchen, für Verschwörungstheoretiker zwar schnell zur Gewissheit werden. Die Abwesenheit entsprechender Dokumente jedoch stützt für diejenigen, die hier eine Verschwörung vermuten, keineswegs die gegenteilige Vermutung. Sie belegt in ihren Augen allenfalls, wie lang der Arm der Verschwörer ist. Denn wie sonst könnte es ihnen gelingen, ihre Spuren derart erfolgreich zu verwischen? In gleicher Weise wird denjenigen, der ernsthaft an den Mondlandungen des vergangenen Jahrhunderts zweifelt, auch das Vorhandensein noch so vieler Belege für das Ereignis nicht überzeugen können. Selbst der Fund zurückgelassener Artefakte bei einer (irgendwann vielleicht möglichen) eigenen ›Tatortbesichtigung‹ wäre ihm nur ein weiterer Beweis für ihre Macht, dafür, dass sie die ›Be-

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weisstücke‹ inzwischen heimlich platzieren konnten. Und schließlich: wer meint, die gottlose Verschwörung der Physiker, dem Plan des Schöpfers mit ihren Teilchenbeschleunigern die letzten Rätsel zu entreißen, erzeuge Anomalien im Gefüge der Welt, die unseren Planeten vernichten werden, den kann nicht einmal seine fortgesetzte eigene Existenz vom Gegenteil überzeugen. Denn was bedeutet schon die Tatsache, dass das eigene Ableben auf sich warten lässt? Doch offensichtlich nur, dass der Schöpfer in seiner unendlichen Güte dem blasphemischen Treiben bisher den Erfolg versagt hat. Der Punkt ist: in keinem dieser Fälle scheint es möglich zu sein, das Nichtvorhandensein einer Verschwörung für diejenigen überzeugend nachzuweisen, die hier fest an das Wirken dunkler Mächte glauben. In dieser Hinsicht gleichen sich die genannten Beispiele. Interessanter als die Ähnlichkeiten sind allerdings auch hier die Unterschiede in der jeweiligen Argumentation. So ist im ersten Fall die Bereitschaft deutlich größer, das Vorhandensein von Dokumenten als Bestätigung für eine Verschwörung gegen unsere ehemalige Währung zu nehmen, als die Bereitschaft dafür, in ihrer Abwesenheit einen Beleg dafür zu sehen, dass bei der deutschen Zustimmung zur Gemeinschaftswährung alles mit rechten Dingen zuging. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass kaum jemand Material fälscht, um sich selbst zu belasten, die Motivation, belastendes Material zu unterschlagen, dagegen oft durchaus stark ist. Nur 007 trifft im Dienste ihrer Majestät auf Schurken, die sich auch ausdrücklich und gern als solche ausgeben. 8 Anders im zweiten Fall. Hier beschwichtigt das Vorliegen von ›Beweisen‹ den Zweifel genau deshalb nicht, weil – aus Sicht derjenigen, die die Mondlandung für eine Inszenierung aus dem Filmstudio halten – den Verschwörern ein starkes Interesse an der anhaltenden Vertuschung unterstellt werden kann: sie wären entsprechend motiviert, erheblichen Aufwand zur Aufrechterhaltung ihrer Täuschung zu treiben. Im dritten Beispiel schließlich spielt eine prinzipiell unbeweisbare Annahme die tragende Rolle. Denn ob es einen Gott gibt oder nicht, ist aufgrund seiner Definition als Wesen jenseits unserer Fassungskraft prinzipiell nicht zu klären. Wer den ausbleibenden Weltuntergang Seinem Eingreifen zuschreibt, den können deshalb weder Argumente noch Tatsachen erreichen. Die drei Beispiele sind nicht ohne Hintergedanken so gewählt. Denn neben der Asymmetrie bei der Würdigung empirischer Belege, durch die sie sich vom normalen wissenschaftlichen Vorgehen unterscheiden,

1.3 Asymmetrische ›Beweise‹

illustrieren sie zugleich einige der oben genannten Grundfunktionen von Verschwörungstheorien. So erhalten wir im ersten Fall eine einfache und verständliche Erklärung für den Eindruck, dass die Kaufkraft des Gehaltsschecks seit der Währungsumstellung erheblich gelitten hat. Zugleich eröffnet diese ›Erklärung‹ die Möglichkeit, diesen Eindruck in einen Bewertungszusammenhang einzuordnen, der, je nach Einstellung zur deutschen Wiedervereinigung, den Unmut steigert oder mit der Situation versöhnt. Der zweite Fall dagegen gibt einem diffusen Unbehagen Ausdruck, das uns angesichts einer Wirklichkeit befällt, die sich immer stärker auf mittelbare Informationen stützt. Gleichzeitig formuliert er ein Misstrauen, mit dem wir nicht nur den Verkündigungen von Diktatoren begegnen, sondern inzwischen auch den offiziellen Darstellungen demokratisch legitimierter Machthaber. Denn auch demokratische Regierungen täuschen ihre Bürger gewohnheitsmäßig in wichtigen Angelegenheiten – sei es, dass sie Schulden in ›Sondervermögen‹ verstecken, oder sei es, dass sie systematisch Fehlinformationen über die Sicherheit der Renten und die Gründe für Kriegseinsätze verbreiten. Deshalb darf man ihnen wohl auch zutrauen, dass sie dankbar für jede Hilfe bei der Ablenkung der Öffentlichkeit von den eigentlichen Problemen des Landes sind. Wenn eine solche zum Discountpreis zu haben ist – wie vor einem halben Jahrhundert eben das nur vorgetäuschte Mondlandungsevent –, umso besser. Das dritte Beispiel schließlich führt vor Augen, wie ein komplexer und für den physikalischen Laien allenfalls im Ansatz verständlicher Zusammenhang durch starke Vereinfachung und seine Einbettung in einen alternativen Erklärungsrahmen einiges von seiner Undurchsichtigkeit und vielleicht sogar von seiner Bedrohlichkeit verlieren kann. Dass vermutlich die allermeisten Menschen dennoch weder ernsthaft an die zweite noch an die dritte ›Erklärung‹ glauben und an die erste nur unter dem Vorbehalt nachprüf barer und gut gesicherter Belege glauben würden, hängt mit unserem Wirklichkeitsverständnis zusammen und damit, wie wir die Ereignisse um uns herum mit ›Bedeutung‹ versehen. Es hängt davon ab, wann wir etwas für gut begründet halten und wann wir meinen, einer Sache gewiss sein zu dürfen. Es lohnt deshalb, diesen Themen kurz nachzugehen, um zu einem besseren Verständnis der Funktionsweise von Verschwörungstheorien zu kommen.

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≡ D ie I den des M ärz 44 v. Chr., das Römische Reich steht am Übergang von der Republik zur Monarchie. Gaius Julius Caesar, 55 Jahre alt, beginnende Glatze und charismatischer Anführer von altem Adel,* steht auf dem Höhepunkt seiner Macht und greift nach der Königswürde. Dem ebenso brillanten wie gebildeten Feldherrn wird allerdings seine Eitelkeit zum Verhängnis: dass er seinen Haarausfall in dieser Zeit gewohnheitsmäßig mit dem Lorbeerkranz des Imperators kaschiert, ist ja hinlänglich bekannt. Warum er sich trotz einer unguten Erkältung in die Senatssitzung schleppte, die ihm zum Verhängnis werden wird, allerdings weniger. Dies war in der Tat das Verdienst der Verschwörer. Es gelang ihnen nämlich, den Imperator mit dem Versprechen weiterer Ehrungen doch noch in jene denkwürdige Versammlung zu locken, der er eigentlich fern bleiben wollte. Als er dort eintrifft, umringen ihn flugs einige Senatoren und strecken ihn in einer gemeinsamen Aktion mit 23 Messerstichen nieder. Caesars Strategie, sich die Mehrheiten im römischen Senat über die Aufnahme ihm wohlgesonnener Emporkömmlinge und Aufsteiger zu sichern, mag ihren Teil dazu beigetragen haben, dass die gedemütigten Vertreter der alten Ordnung ihn ausgerechnet vor den Augen dieses höchsten römischen Gremiums ermordeten und nicht in einer dunklen Gasse auf ihre Gelegenheit warteten. Jedenfalls beteiligten sich unter Führung seiner Gegner Marcus Iunius Brutus und Gaius Cassius Longinus** etwa sechzig Senatoren und andere Entscheider aus Verwaltung und Militär an der Verschwörung. Doch anders als von den Verschwörern wohl beabsichtigt, führte die Ermordung des ›Diktators auf Lebenszeit‹, zu dem der Senat Caesar noch kurz zuvor ernennen durfte, allerdings nicht zur Wiederherstellung der Republik. Dafür war nicht zuletzt das PR-Genie J.C. selbst verantwortlich. Denn in seinem Testament hatte der begnadete Demagoge vorausschauend das Volk von Rom derart großzügig mit Geschenken bedacht, dass es seinen Anhängern leicht fiel, die Stimmung nach der Ermordung ihres Anführers zu ihren Gunsten zu drehen. Erleichtert wurde ihnen dies auch dadurch, dass die Verschwörer keine konkreten Pläne für die Zeit nach dem Attentat vorbereitet hatten. Mit dem Ergebnis, dass sie in der Folge selbst zu Gejagten wurden (nachdem * | Der römische Dichter Vergil führt in seinem Auftragswerk Aeneis den Stammbaum der Julier bis auf den trojanischen Anführer Aeneas zurück, welcher der Sage nach ein Sohn der Göttin Venus war. ** | Ironischerweise hatte Caesar in einem Umarmungsversuch lange die Karrieren auch dieser beiden gefördert; offensichtlich konnte er sich aber ihre Loyalität eben nicht dauerhaft sichern.

1.3 Asymmetrische ›Beweise‹

sie der Republik durch ihre Aktion indirekt den endgültigen Todesstoß versetzt hatten). Am Ende der Nachfolgekämpfe bestieg schließlich Caesars Adoptivsohn Octavian den römischen Thron: als erster offizieller Kaiser.

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1.4 Realität 2.0

Verschwörungstheorien führen wichtige Ereignisse auf nur eine einzige entscheidende Ursache zurück, und ihre ›Erklärungen‹ teilen die Welt klar in Gut und Böse. Auch hier unterscheiden sie sich von ›normalen‹ Theorien. Denn diese nennen eine Vielzahl von Faktoren für das Zustandekommen eines Ereignisses, und klare moralische Wertungen sind für sie die Ausnahme. Entsprechend unterschiedlich ist die ›Wirklichkeit‹ derjenigen, die an eine verschwörungstheoretische Erklärung der Ereignisse glauben, und derjenigen, die einer komplexeren Erklärung den Vorzug geben. Doch was überhaupt ist die ›Wirklichkeit‹? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Philosophie bereits seit ihren Anfängen, und seit einiger Zeit erhalten ihre Überlegungen Unterstützung von anderen Disziplinen. Vor allem die Neurowissenschaften versuchen, durch Experimente, Beobachtung und die Vermessung von geistigen Vorgängen den Mechanismen auf die Spur zu kommen, mit denen wir uns der ›Wirklichkeit‹ nähern. Die Geschwindigkeit moderner Rechenmaschinen erlaubt es außerdem, die Brauchbarkeit von Hypothesen über die Datenverarbeitung im Hirn an komplexen Modellen zu ›testen‹. Das (vorläufige) Fazit der gemeinsamen Anstrengungen lautet, dass unsere Wirklichkeit zu großen Teilen eine Funktion unseres Erkenntnisvermögens ist. Oder anders: unser Gehirn bearbeitet die Eindrücke der Sinne und errechnet aus ihnen ein (stark vereinfachtes) Modell der Welt. So selbstverständlich diese Einsicht heute klingt, geistesgeschichtlich ist sie relativ jung. Denn bis zum Ende des Mittelalters hoffte man, mit Forschergeist und entsprechender Sorgfalt die eine richtige Sicht der Dinge ermitteln zu können. Grundlage dafür war die bereits von Aristoteles vorgebrachte Behauptung, dass der menschliche Geist die äußere Wirklichkeit weitgehend unverfälscht ›abbilde‹.9 Tatsächlich gab der Erfolg, den Isaac Newton zu Beginn der wissenschaftlichen Moderne bei der Entschlüsse-

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lung der Naturgesetze hatte,10 dieser These des großen griechischen Philosophen zunächst erheblichen Auftrieb, sodass auch in den Humanwissenschaften die Überzeugung wuchs, das Versprechen von der verbindlichen und einzig richtigen Weltsicht stehe kurz vor seiner Einlösung – und die neue Methodik Newtons sei der Weg, auf dem es erfüllt werden könne. Doch der Optimismus hielt nicht lange. Er wich – in den Humanwissenschaften schneller noch als in den Naturwissenschaften – dem Verdacht, dass sich die Angelegenheit weitaus komplizierter verhalte. So legte Thomas Hobbes, der Begründer der modernen politischen Philosophie, etwa 60 Jahre nach der Veröffentlichung von Newtons epochalen Prinzipien der Physik, überzeugend dar, dass wenigstens die Regeln und die Institutionen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens willkürliche Festlegungen des Menschen sind – und der gegenteilige Glaube, dass die Herrschaftsverhältnisse zeitlos und gottgegeben seien, durch nichts zu begründen ist.11 Kurze Zeit später schon stellte der schottische Philosoph David Hume dann fest, dass dieser Befund nicht nur für den sozialen Bereich, sondern weit darüber hinaus gilt. Im Verlauf seiner Analyse unserer Erkenntnismöglichkeiten gelangte er zu dem Schluss, dass auch unser gesamtes Wissen auf willkürlichen Festlegungen beruht. Ja, nicht einmal ein so grundlegender Zusammenhang wie der zwischen Ursache und Wirkung sei davon ausgenommen, denn auch er lasse sich nicht ›absolut‹ und letztgültig begründen. Doch auch damit, dass das Kausalitätsprinzip zu einer bloßen Unterstellung degradiert wurde, die wir an die äußeren Verhältnisse anlegen,12 war es noch nicht genug. Denn abermals kurze Zeit später gibt der Königsberger Philosoph Immanuel Kant schließlich zu bedenken, dass auch die Einteilung der Erfahrungswelt in bestimmte ›Gegenstände‹ ein menschlicher Willkürakt ist.13 Welchen in der Sache selbst liegenden Grund könnte es beispielsweise dafür geben, die klare Flüssigkeit im Oberlauf eines Flusses und die undurchsichtige Mixtur an der Mündung unterschiedslos ›Wasser‹ zu nennen, wenn wir doch andererseits schon bei viel geringerer ›Verunreinigung‹ (vorzugsweise klaren Wassers) zwischen Tee und Kaffee unterscheiden? Schon dieser kurze Durchgang durch die Philosophiegeschichte macht deutlich, dass bereits seit geraumer Zeit die theoretische Auseinandersetzung damit stattfindet, dass das, was wir ›Wirklichkeit‹ nennen, zu großen Teilen durch eine aktive Eigenleistung des Gehirns erzeugt wird. Wenn dieser Gedanke richtig ist – und nicht nur die theoretische Analyse der Philosophie, sondern auch die Ergebnisse der jüngeren Erfahrungs-

1.4 Realität 2.0

wissenschaften, die sich mit dem Gehirn beschäftigen, sprechen dafür –, dann hat unsere Wirklichkeit in der Tat viele Gesichter. Die Feststellung, dass es die eine, absolut richtige Sicht der Welt nicht gibt, zwingt uns daher anzunehmen, dass in der Tat verschiedene Interpretationen derselben Daten die gleiche theoretische Berechtigung für sich in Anspruch nehmen können. Und dies gilt sowohl für solche Daten, die auf direkter Beobachtung beruhen, als auch für solche, die nur medial vermittelt sind. Abbildung 1

Abbildung 2

Veranschaulichen lässt sich diese Behauptung mit einer Überlegung aus der Geometrie. Angenommen in einem Cartesischen Koordinatenkreuz seien die Punkte (1,0) und (2,0) markiert. Diese Punkte können mit der gleichen Berechtigung durch eine Linie verbunden, d.h. als Werte einer linearen Funktion interpretiert werden (Abb. 1), als auch als Werte einer quadratischen Gleichung (Abb. 2); tatsächlich können sie sogar durch eine potenziell unendlichen Menge von Funktionen erfasst werden). Die Pointe ist: wer sie durch eine Linie verbindet, tut dies mit demsel-

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ben Recht wie derjenige, der an sie eine Parabel anlegt. Und selbst dann, wenn die Datenmenge erweitert wird, um eine bessere Ausganglage für eine Interpretation zu schaffen – etwa um die Punkte (3,0), (4,0) und (5,0) – ändert sich nicht grundsätzlich etwas an dieser Tatsache. Nur die Formeln werden komplexer (Abb. 3 und Abb. 4). Abbildung 3

Abbildung 4

In anderen Worten, die Menge der berechtigten Deutungen bleibt für eine beliebige Menge von Daten immer gleich groß, nämlich unendlich. Und dies bereits, wenn man sich innerhalb ein und desselben Referenzsystems bewegt, im Beispiel also im Bereich der Standardmathematik. Fällt dagegen diese Einschränkung, und verlässt man das Standardsystem, vermehrt dies die Menge der berechtigten Interpretationen erneut. Um im Bild zu bleiben: dieselbe mathematische Operation gibt uns auf einer Uhr gerechnet ein ganz anderes Ergebnis als im Standardmodell, denn dort ist etwa die Summe von ›20 + 51‹ eben nicht ›71‹, sondern ›23‹ (Abb. 5).

1.4 Realität 2.0

Abbildung 5

Und dieses Beispiel illustriert nun tatsächlich das Vorgehen vieler Verschwörungstheorien; sie halten sich nur oberflächlich damit auf, andere ›Formeln‹ desselben Interpretationssystems an den Phänomenbestand anzulegen. Sehr oft wechseln sie unter der Hand den Interpretationsrahmen und verwenden gleich die ›Formeln‹ eines anderen Systems. Dabei gehen sie in der Regel jedoch so geschickt vor, dass es schwer fällt, den Punkt zu bestimmen, an dem das gewohnte Bezugssystem durch ein anderes ersetzt wird.14 Doch auch wenn es im Einzelnen schwer fallen kann zu erkennen, an welcher Stelle der Wechsel stattfindet, ist die Angelegenheit nicht hoffnungslos. Denn letztlich sind es immer nur zwei Typen von Behauptungen, um die es hier geht. Unsere ›Wirklichkeit‹ erschaffen und strukturieren wir nämlich nur durch Existenzaussagen, also Behauptungen darüber, was es gibt, und durch epistemische Aussagen, also Behauptungen darüber, was wir wissen oder meinen zu wissen. Wenn Verschwörungstheorien unsere bisher für wahr gehaltenen Meinungen infrage stellen wollen (um den Boden für ihre alternativen ›Gewissheiten‹ zu bereiten), haben sie dafür also am Ende nur zwei Optionen. Entweder setzen sie bei den Existenzaussagen an und behaupten, es gebe bestimmte Dinge oder Phänomene (von denen bis dahin oft noch nie ein Normalsterblicher gehört hat); oder sie setzen bei den Tatsachen und unseren bisher für wahr gehaltenen Meinungen an. Auch hier ein Beispiel zur Veranschaulichung: um die wissenschaftlichpsychologische Erklärung für einen Amoklauf durch eine verschwörungstheoretische Erklärung zu ersetzen, könnten Verschwörungsanhänger das Ereignis etwa als Ergebnis der Manipulation des Täters durch ›Strahlen‹ präsentieren, die seine Gedanken aus der Ferne beeinflussen. Unterscheidet man zwischen Existenzaussagen und epistemischen Behauptungen, wird deutlich, dass sich darin zwei Aussagen zugleich verbergen; nämlich

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erstens die Behauptung derartige Strahlen existierten und zweitens die implizite Unterstellung, dass Kognitionsforschung, Psychologie und Physik (›die Wissenschaft‹) die Existenz dieser Strahlen bisher systematisch vor uns geheim gehalten haben müssen. Womit die Frage nach den Möglichkeiten der Gedankensteuerung aus der Ferne dann eben auch in Verbindung zu unserem ›Wissen‹ (oder in diesem Fall besser: zu unserem Nichtwissen) gebracht wird. Doch obwohl Existenzaussagen und Aussagen, die unser Wissen betreffen, auf diese und andere Weise eng miteinander verbunden sind, ist es sinnvoll, sie für Analysezwecke getrennt zu halten. Die vorläufige Vermutung an dieser Stelle ist: je ungewöhnlicher die Existenzaussagen, desto größer der Verdacht, dass es sich bei einer verschwörungstheoretischen Interpretation der Ereignisse um die fiktionale Variante handelt, um eine allein der Phantasie entsprungene Verschwörungstheorie. Um diesen Verdacht zu erhärten und der Sache auf den Grund zu gehen, müssen wir die Angelegenheit jedoch genauer betrachten.

≡ D er M ond : D irector ’s C ut Beep … Beep … Beep. Dieses schlichte Signal versetzte im Oktober 1957 viele Menschen in Begeisterung, Amerika allerdings in einen schweren Schock. Denn es kam aus dem All und stammte vom ersten Objekt, das Menschen in eine Umlaufbahn geschossen hatten, dem russischen Satelliten ›Sputnik 1‹, zu deutsch ›Satellit 1‹. Der künstliche Himmelskörper strahlte 21 Tage lang ein Kurzwellensignal aus, das von jedem Amateurfunker angepeilt werden konnte, und verglühte 92 Tage nach seinem Start beim Wiedereintritt in die Atmosphäre. Vollkommen überrascht vom großen propagandistischen Erfolg der Aktion, setzten die Sowjetherrscher in den kommenden Jahren nach, ließen allerhand Getier (Hunde, Ratten, Mäuse) in erdnahe Umlaufbahnen schicken und zeigten der Welt (ab Mission 5), dass sie ihre Passagiere auch lebendig zur Erde zurückbringen konnten. Im April 1961 folgte der erste Mensch im All: Juri Gagarin. Aus den geplanten Sputnik-Missionen zu Mars und Venus wurde wegen technischer Pannen zwar dann nichts, dies ging aber in der allgemeinen Aufregung um den ersten Menschen im All weitgehend unter. Die gesamte westliche Welt, allen voran die USA, starrte in dieser Zeit wie gebannt auf den technischen Vorsprung, den ihr das Sowjetreich mitten in der Lagerhysterie des Kalten Krieges so spektakulär vor Augen führte.* * | Schließlich hatten die UDSSR damit nebenbei bewiesen, dass sie nun in der Lage waren, Nordamerika mit ihren Atomsprengköpfen zu erreichen. Vor allem deshalb

1.4 Realität 2.0

Als sich die Schockstarre endlich löste, reagierte der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, John F. Kennedy, im Mai 1961 mit einer historischen Rede vor dem Kongress und der Ankündigung, noch im selben Jahrzehnt einen Menschen auf den Mond und sicher zurück zu bringen.* Im Sommer 1969 (am 21. Juli) setzte dann angeblich Neil Armstrong als erster Mensch einen Fuß auf den Mond. Den Ausspruch: »Dies ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Sprung für die Menschheit« schrieb ihm das Drehbuch an dieser Stelle vor. Denn die ganze Aktion war ein sorgfältig choreografierter Betrug. Alles, was nach dem Start der (unbemannten) Rakete von Cape Canaveral an Bildern um die Welt ging, stammte aus eigens eingerichteten Filmsets in Area 51 (Studios B und C).** Als der Zeitplan für die Dreharbeiten der Apollo-Filme dort aus dem Ruder zu laufen drohte, wurden einige der ursprünglich geplanten weiteren ›Missionen‹ einfach gestrichen, denn man brauchte den Platz für anderes.*** führte diese eigentlich friedliche Pioniertat zu einer beispiellosen Aufstockung der Militärausgaben; zunächst im Westen und in Reaktion darauf dann auch im Osten.

* | »Ich denke, dass diese Nation sich dem Ziel verpflichten sollte, noch vor Ablauf dieses Jahrzehnts einen Mann auf den Mond und wieder sicher zurück zu bringen« mit der ausdrücklichen Begründung: »Keine einzelne Unternehmung im All wird die Menschheit in diesem Zeitraum mehr beeindrucken oder wichtiger sein für die langfristige Erforschung des Raumes; und keine wird so schwierig oder kostspielig zu erreichen sein.« J.F. Kennedy, Rede vor dem US-Kongress am 25/05/1961. [I believe that this nation should commit itself to achieving the goal, before this decade is out, of landing a man on the moon and returning him safely back to the earth. No single space-project in this period will be more impressive to mankind, or more important for the long-range exploration of space; and none will be so difficult or expensive to accomplish.] ** | Parallel wurden in den Studios A und D bereits die Aufnahmen zu der ›DesasterMission‹ Apollo 13 (April 1970) vorbereitet, die das Interesse an den ›Missionen‹ dauerhaft wachhalten sollte. Im Hollywood-Remake dieses aufwendigsten Films aus der Apollo-Reihe spielt Tom Hanks 1995 den Missionskommandanten James Lovell. Die kommerzielle Filmindustrie griff das Thema der gefälschten Raummission außerdem im Spielfilm ›Capricorn One‹ (1978, dt. ›Unternehmen Capricorn‹) auf. Dort geht es, in leichter poetischer Verfremdung, nicht um eine fingierte Mondlandung, sondern um eine nur vorgetäuschte Mission zum Mars. ***  |  Die überschüssigen Raketen wurden später für andere Zwecke verwendet; die Sets mussten Laboren und Büros weichen, in denen dann mit Hochdruck an Möglichkeiten zur Gedankenkontrolle der Bevölkerung (s.u. ›Kontrolle ist besser‹) geforscht

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Die Rechnung ging auf: um das Selbstvertrauen des Landes als großartigster Nation auf Erden durch eine technische Großtat wieder herzustellen, genügte es tatsächlich, das Mondprogramm überzeugend zu simulieren und die Öffentlichkeit mit den entsprechenden Fernsehbildern zu versorgen. Sie hatten sich allerdings nicht nur deshalb für diese Variante entschieden, weil sie weitaus billiger war (im Mutterland des ungezügelten Kapitalismus schon immer ein starkes Argument), sondern auch, weil es den USA zu dieser Zeit technisch schlicht nicht möglich war, ein solches Projekt erfolgreich zum Abschluss zu bringen.* So kommt es, dass Verschwörungstheoretiker bis heute auf Ungereimtheiten hinweisen können, die sich leicht aus den Schlampigkeiten am Set erklären lassen. Um nur einige zu nennen: auf den angeblichen Mondaufnahmen fehlen die Sterne am tiefschwarzen Himmel, die vor der ›Landefähre‹ aufgepflanzte Fahne bewegt sich im Wind (den es auf einem Himmelskörper ohne Atmosphäre nicht geben kann), auf vielen Aufnahmen ist die Ausleuchtung fehlerhaft, was vor allem an den Schattenwürfen von Gegenständen und Personen deutlich wird, und auch die Perspektive und der Fluchtpunkt der Bilder weisen viele ›Unstimmigkeiten‹ auf. Außerdem haben sie sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Sprünge der Astronautendarsteller bei ihren ›Außenmissionen‹ der viel geringeren Schwerkraft des Mondes anzupassen, was auch schon damals tricktechnisch durchaus möglich gewesen wäre. Und auch andere Details, wie etwa die viel zu kleine Luke des Landefahrzeugs, durch die die Darsteller in ihren unförmigen Anzügen unmöglich hindurch klettern konnten, haben sie im endgültigen Schnitt nicht korrigiert. Später waren zudem die originalen Baupläne (der ›Mondrakete‹) und auch die Originale der angeblich auf dem Mond aufgenommenen Bilder nicht mehr auffindbar. Und so geht es munter weiter. – Aber wir wissen ja, was wirklich hinter diesem spektakulären ›Großereignis‹ steckt …

wurde. Schließlich galt es in den beginnenden 70er Jahren die nachwachsende Generation und die rebellische afro-amerikanische Minderheit des Landes wieder auf Kurs zu bringen.

* | Bezeichnenderweise stellte die in der Raumfahrt zu dieser Zeit um einiges erfahrenere Sowjetunion ihr analoges und zeitgleich gestartetes Programm (dessen Existenz allerdings erst Jahre später, zu Beginn der 1990er Jahre, im Westen bekannt wurde) Anfang der 1970er Jahre ein.

1.5 Was gibt es?

Gibt es die Jahre zwischen 614 und 911 unserer Zeitrechnung oder wurde diese ›Phantomzeit‹ von finsteren Geschichtsfälschern nur erfunden, wie eine Verschwörungstheorie behauptet?15 Gibt es, weggeschlossen in den Katakomben der großen Ölkonzerne, tatsächlich jene hypereffizienten Motoren, die mit einem halben Liter Sprit vom Nordkap bis Gibraltar kommen, wie eine andere meint? Und schließlich: was ist mit den Strahlen, mit denen sie unser Bewusstsein kontrollieren und unsere Gedanken steuern, was mit den UFOs über New Mexico oder den letzten Dinosauriern im Loch Ness? Ontologische Behauptungen, das heißt Behauptungen darüber, was es gibt oder nicht gibt, lösen Kontroversen aus. Das liegt nicht zuletzt daran, dass einem Gegenstand ›Existenz‹ zu- oder abzusprechen etwas anderes ist als zu behaupten, er sei blau, warm oder groß. Im Sprachgebrauch der Philosophie: ›Existenz‹ ist kein reales Prädikat. Das bedeutet, die Behauptung, ein Gegenstand ›existiere‹, fügt der Liste seiner Eigenschaften nichts hinzu. Denn offensichtlich können nur Dinge, die es gibt, auch reale Eigenschaften besitzen. Deshalb ist es beispielsweise eine völlig sinnlose Frage, ob die gegenwärtige Königin der Schweiz braune Augen hat oder nicht. Sie lässt sich mit dem gleichen Recht mit ›ja‹ wie mit ›nein‹ beantworten, weil aus Falschem, nach den Gesetzen der Logik, Beliebiges folgt. Kurz: die Existenz eines Gegenstandes darf als Voraussetzung dafür, dass diesem überhaupt sinnvoll Eigenschaften zugeschrieben werden können, offensichtlich nicht selbst zu dessen normalen Eigenschaften gezählt werden. Doch machen wir die Sache nicht unnötig kompliziert? Denn für gewöhnlich informieren uns doch unsere fünf Sinne recht zuverlässig darüber, was es gibt und was nicht, und dies selbst unter erschwerten Bedingungen. Der Kaffee auf dem Tisch vor uns nach der langen Nacht:

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echt oder vom Restalkohol ausgelöste Einbildung? – Ein Griff nach dem Becher entscheidet die Frage (für gewöhnlich). Was wir dagegen weder sehen, fühlen, riechen, schmecken noch hören können, das gibt es eben nicht. Knifflig wird die Angelegenheit dadurch, dass die ›Wirklichkeit‹ eben doch weit mehr als die Gesamtheit der Dinge ist, deren Existenz wir mit unseren fünf Sinnen direkt überprüfen können. Für Bakterien und Elektronen brauchen wir die Hilfe eines Mikroskops; anfassen können wir sie selbst im stocknüchternen Zustand nicht. Noch kleinere Bestandteile unserer Welt lassen sich sogar nur indirekt und mit erheblichen Aufwand nachweisen. Und auch bei entfernten Gegenständen stützen wir uns auf Informationen aus zweiter oder dritter Hand. Schließlich hat nicht jeder die Muße, sich schwitzend durch die Wüste zu kämpfen, um zu überprüfen, ob die Pyramiden mehr sind als ein clever erfundenes Postkartenmotiv, das ahnungslose Urlauber nach Ägypten locken soll – Urlauber, die nach ihrer Rückkehr natürlich voller Scham verschweigen, dass sie einem Schwindel aufgesessen sind. Ebenso werden die wenigsten ihren Jahresurlaub drangeben wollen, um sich selbst von der Existenz oder Nicht-Existenz eines Kontinents am Südpol zu überzeugen. Und schließlich werden auch noch so viele Urlaubstage nicht ausreichen, um eigenhändig zu erforschen, ob die leuchtenden Punkte am Nachthimmel wirklich die Lagerfeuer der Götter sind oder nicht doch nur Pixelfehler in der Hintergrundmatrix. Nicht viel anders geht es uns mit abstrakten Gegenständen, denn ihre Existenz lässt sich mit unseren Sinnen auch nicht so recht nachweisen. Wer könnte von sich schon behaupten, je eine Tatsache gesehen, wer ein Prinzip in freier Wildbahn erlegt zu haben? Wer weiß, wie Bedeutungen aussehen?16 Um dieses Durcheinander zu entwirren, empfiehlt sich der Umweg über negative Existenzaussagen und eine Paradoxie, die die Philosophie schon seit zweieinhalb Jahrtausenden umtreibt, denn dieser Umweg erlaubt es uns, der Angelegenheit auf recht elegante Weise auf die Schliche zu kommen. Betrachten wir das jahrtausendealte Rätsel in seiner ursprünglichen Fassung, in der der ›Held‹ der Geschichte eine Gestalt aus der griechischen Mythologie ist, nämlich Pegasus, das geflügelte Pferd, mit dem Bellerophon in den Kampf gegen die Chimäre zog. Die entscheidende Frage ist dabei diese: wie können wir von Pegasus behaupten, es existiere nicht? Müssen wir nicht, um ihm seine Existenz absprechen zu können, zunächst einmal voraussetzen, es gebe ein Wesen mit diesem Namen? Denn erst danach, im zweiten Schritt, können wir doch wohl

1.5 Was gibt es?

seine Existenz verneinen – weil wir uns ja schließlich auf irgendetwas beziehen müssen, dem wir die ›Existenz‹ absprechen. Bei dem Versuch, das Paradox zu lösen, hilft uns der oben erwähnte Gedanke, dass die Zuschreibung von Existenz etwas anderes ist als die Zuschreibung normaler Eigenschaften (s.o. S. 45). Denn mit dieser Einsicht im Rücken ist der Vorschlag leichter zu verstehen, mit dem die Sprachphilosophie das vermeintliche Paradox im letzten Jahrhundert aufgelöst hat. Der Eindruck, hier liege eine Paradoxie vor, hängt nämlich ganz wesentlich davon ab, dass wir es bei ›Pegasus‹ mit einem Gegenstand zu tun haben, der durch einen Eigennamen bezeichnet wird. Und dies erweckt den Anschein, hier müsse allein schon deshalb irgendetwas als ›existierend‹ angenommen werden, weil es einen Namen trägt. Genau diese Denkfalle gilt es jedoch zu vermeiden. Dass dies gar nicht einmal so schwer ist, führt der britische Philosoph Bertrand Russell vor. Er weist darauf hin, dass dazu letztlich der Eigenname nur in eine Beschreibung überführt werden muss. Wenn man sich auf dieses Manöver einlässt, so lautet die negative Existenzaussage in ihrer überarbeiteten Version: ›es gibt keinen Gegenstand, der die Eigenschaft hat, ein Pferd zu sein, Flügel zu besitzen und zusammen mit Bellerophon in den Kampf gegen die Chimäre gezogen zu sein‹. Damit verschwindet der Eindruck, hier läge ein Paradox vor. An diesen Vorschlag Russells schließt sein Kollege William van Orman Quine direkt eine weitere Überlegung an. Er nimmt Russells Strategie zum Umgang mit negativen Existenzaussagen zum Anlass, den ›logischen‹ Charakter von Existenzbehauptungen zu betonen, denn, so meint er, bei Existenzaussagen gehe es doch letztlich in erster Linie darum, den Geltungsbereich sprachlicher Zeichen abzustecken.17 – Was soll das heißen? Quine erklärt dies so: nehmen wir an, ›x‹ sei der Platzhalter für eine beliebige Gegenstandsbezeichnung, so besteht die eigentliche Funktion einer Existenzaussage in der Festlegung von ›x‹ nach einem der folgenden Muster: ›für alle x gilt …‹, ›für einige x gilt …‹, ›es gibt ein x, für das gilt …‹, oder eben ›es gibt kein x, für das gilt …‹. Obwohl dies zunächst wie ein philosophischer Taschenspielertrick aussieht, der nur dazu dient, der Frage auszuweichen, was es denn nun wirklich gibt, so ist die Verlagerung der Diskussion auf die logischsprachliche Ebene durchaus sinnvoll, denn sie lenkt die Aufmerksamkeit auf zwei wichtige Eigenschaften von Existenzbehauptungen. Erstens: Existenzbehauptungen sind immer Aussagen vor dem Hintergrund einer

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ganzen Theorie, weil der Geltungsbereich sprachlicher Zeichen sich eben nur vor einem solchen Hintergrund sinnvoll bestimmen lässt. Wenn dies zutrifft, so verraten uns Existenzaussagen und ihre Analyse in der Tat wenig über die Welt, dafür aber umso mehr über uns, genauer, über den Auf bau und die logische Struktur unserer Theorien über die Welt, indem sie anzeigen, welche Gegenstände wir in unseren Theorien zuzulassen bereit sind. Zweitens: die Behauptung von Existenz als einen Vorgang zu nehmen, der den Geltungsbereich sprachlicher Zeichen absteckt, erklärt, wie auch negative Existenzaussagen eine ›Bedeutung‹ haben können. Ebenso wie solche über abstrakte Gegenstände. Dieses Vorgehen lässt uns verstehen, wie Pegasus-Äußerungen und Äußerungen über ›Tatsachen‹, ›Bedeutungen‹ und fiktive Gegenstände falsch sein können, obwohl die sprachlichen Ausdrücke sich in diesen Fällen nicht auf ›normale‹, sinnlich wahrnehmbare Gegenstände beziehen. Ihre Bedeutung erlangen sie, folgt man Quines Vorschlag, nämlich als Teil einer Theorie, in die sie sich einfügen, ohne zu Brüchen und Widersprüchen zu führen. Doch kommen wir zurück zu unserem eigentlichen Thema. Die eben skizzierte sprachphilosophische Überlegung lässt sich tatsächlich gut auf die üblichen Existenzbehauptungen von Verschwörungstheorien anwenden. Behauptungen über geheimnisvolle Strahlen zur Bewusstseinskontrolle oder über Benzinmotoren mit phantastischem Wirkungsgrad erscheinen vor diesem Hintergrund nämlich weit weniger folgenlos, als es auf den ersten Blick aussieht. Offensichtlich erfordern sie weitaus mehr, als dass wir dem, was wir für wahr halten, nur eine einzige weitere Behauptung hinzufügen. Im Gegenteil: sie zwingen uns zu einer weitreichenden Anpassung unseres gesamten Meinungssystems, weil sie weitere Behauptungen nach sich ziehen, die sich mit unseren derzeitigen wissenschaftlichen Theorien oder unserer Alltagstheorie, in die sie angeblich eingebettet sind, nicht vertragen. So müssten wir in den eingangs genannten Beispielen viele unserer Meinungen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns grundsätzlich ändern, damit die Möglichkeit, seine Arbeitsweise durch eine technische Manipulation gezielt aus der Ferne zu steuern, auch nur eine anfängliche Überzeugungskraft erlangt; ebenso wie wir unsere Meinungen über die Eigenschaften von Werkstoffen und Wirkmechanismen (beziehungsweise über den gesamten Stand der Technik) revidieren müssten, um den behaupteten Wirkungsgrad von Benzinmotoren zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch nur für möglich zu halten.

1.5 Was gibt es?

Um es kurz zu machen: auch wenn es zunächst so scheint, als ob Verschwörungstheorien uns dazu aufforderten, unseren Existenzannahmen lediglich eine weitere hinzuzufügen, ohne dass dadurch größere Anpassungen in unserem Meinungsgefüge nötig würden, so trügt dieser Schein. Das Gegenteil ist der Fall: zusätzliche Existenzbehauptungen erfordern oft erhebliche Änderungen im gesamten System. Die Aufmerksamkeit auf den logischen Charakter von Existenzbehauptungen hilft uns so abzuschätzen, wie weit wir uns bereits durch eine einzige zusätzliche Existenzbehauptung von unserer gewohnten Interpretation der Realität entfernen (vorausgesetzt, dass wir in unserem revisionistischen Eifer nicht gleich auch noch die gesamte Logik über Bord werfen wollen). Deshalb lässt sich festhalten: ein wichtiges Kennzeichen von Verschwörungstheorien ist, dass schon ihre Ausgangsbehauptungen oft erhebliche ontologische Folgelasten generieren – auch wenn sie sich viel Mühe geben, diesen Umstand zu verschleiern. Will man andererseits dauerhaft an abseitigen Existenzbehauptungen festhalten, ohne sich dabei in Widersprüche zu verstricken, so müssen dafür über kurz oder lang immer mehr Meinungen ›angepasst‹ werden.

≡ F ichen (CH) Die Schweiz, Musterland der Demokratie, der Volksbefragung und des Bürgersinns. Insel der Vollbeschäftigung, Oase der Eintracht, Vorreiter in Umweltschutz und Autoverlad. Paradies der Ingenieure und Ferienparadies der Feinschmecker. – Aber eben auch: Land der Tunnelbauer und Maulwürfe, in dem rund zehn Prozent der Einwohner systematisch bespitzelt wurden.* Denn fleißig und akkurat hielten Mitarbeiter der kantonalen Polizei und von Bundesbehörden auf über 900.000 Karteikärtchen (Microfiches) fest, was die Bürger des Landes so trieben. Dabei ging es allerdings nicht so sehr um die Präferenz der Einzelnen bei Schoko, Wein und Käse und auch nicht darum, wer wohl

* | Die Tatsache, dass wir uns heute kaum über die totale elektronische Überwachung (PRISM, Tempora etc.) empören und oft sogar freiwillig die Details unsers Lebens ausführlich im Netz ausbreiten, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Zeiten gab, in denen das vorsorgliche und massenhafte Ausspähen unbescholtener Bürger in demokratischen Staaten noch Entrüstungsstürme auslöste.

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seine Ehe demnächst mit der Schusswaffe lösen wird;* Objekt der Fichierung waren vielmehr Gewerkschaftsmitglieder und Aktivisten des linken Spektrums, und das oberste Ziel bestand darin, die Schweiz vor kommunistischer Unterwanderung zu schützen. Wie stark diese bereits war, zeigte zeitnah zum Bekanntwerden der Volksbespitzelung die ›Eidgenössische Volksinitiative für eine Schweiz ohne Armee‹, die 1989 immerhin gut 35% Ja-Stimmen hinter sich bringen konnte. Hier hört der Spaß auf. Schluss mit der Konkordanzdemokratie. Glücklicherweise aber hatten sie jedoch auch für den Fall der Annahme des Referendums schon vorgesorgt. Ihre Geheimarmee unter dem Kürzel P-26, hinter dem Rücken des Parlaments aufgestellt, jedoch komplett aus staatlichen Töpfen finanziert, legte geheime Waffendepots an, bildete Soldaten für den Guerillakampf aus und bereitete sich auch sonst gewissenhaft auf die Rückeroberung der Eidgenossenschaft im Fall der linken Machtübernahme oder der Besetzung des Landes durch fremde Truppen vor. Unglücklicherweise kam ihnen dann genau die Kommission auf die Schliche, die zur Aufdeckung der Fichen-Verschwörung eingesetzt wurde. Dumm gelaufen.

*  |  Tatsächlich gilt die sonst so idyllische Schweiz als eines derjenigen Länder (der ersten Welt), in denen beim Ehestreit gern und ein für alle Mal reiner Tisch gemacht wird; der Griff zum Armeegewehr, das der wehrhafte Bürger unter den Socken im Schrank parat haben muss, spielt dabei wohl durchaus eine Rolle.

1.6 Zweifel und Wissen

Kommen wir nun zur zweiten Sorte von Behauptungen, mit denen wir unsere Wirklichkeit herstellen, nämlich zu den Behauptungen über das, was wir ›wissen‹. In dieser Perspektive ist ›Wirklichkeit‹ die Summe dessen, was wir (gerechtfertigterweise) für wahr halten.18 Verschwörungstheorien setzen an dieser Stelle an, indem sie unsere bisher für wahr gehaltenen Meinungen systematisch infrage stellen – um dann in einem zweiten Schritt ihre eigenen Gewissheiten zu verkünden. Damit steht ihr Vorgehen in der langen Tradition des philosophischen Skeptizismus, der ganz ähnlich vorgeht. Auch hier kann also ein kurzer Blick auf die Philosophiegeschichte dabei helfen, die Reichweite der verschwörungstheoretischen Argumentation zu bestimmen. Der philosophische Zweifel (Skeptizismus) lässt sich bis zu Pyrrho von Elis zurück verfolgen, der um das Jahr 300 vor unserer Zeitrechnung lebte. Durch seinen Schüler Timon wissen wir, dass es Pyrrho vor allem darum ging, seine Mitmenschen so weit zu verunsichern, dass ihnen als Ausweg schließlich nur die Urteilsenthaltung blieb. Auf die Frage nach der Farbe der Sonne etwa sollte von ihnen nach einer Begegnung mit Pyrrho nur noch ein zaghaftes und verwirrtes ›Ich bin mir nicht sicher‹ zu vernehmen zu sein. Zu Beginn der Neuzeit belebte der Mathematiker und Philosoph René Descartes diese Tradition neu. Dabei ging es ihm allerdings nicht mehr darum, seine Mitmenschen so lange zu verwirren, bis sie sich in allen Dingen unsicher waren, sondern darum, den Zweifel als Hilfsmittel für eine Überprüfung unserer Wissensansprüche zu nutzen. Dazu stellte er nicht einfach ins Blaue hinein beliebige Meinungen infrage, sondern suchte nach Gründen, die unsere Gewissheiten erschüttern können. So ist beispielsweise die Möglichkeit, dass unsere Sinne uns zuweilen täuschen, ein durchaus stichhaltiger Grund, an Meinungen zu zweifeln, die wir auf

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der Grundlage unserer Wahrnehmungen gebildet haben. Ein anderer triftiger Grund, bestimmten Meinungen zu misstrauen, ist die Tatsache, dass wir manchmal nicht entscheiden können, ob wir gerade wach sind oder träumen.19 Mit Gründen dieser Art formuliert Descartes den Zweifel also nicht an einzelnen Meinungen, sondern er stellt systematisch alle ähnlich gelagerten Fälle infrage. Die gerade genannten Gründe etwa lassen alle diejenigen Meinungen zweifelhaft werden, bei denen wir nicht sicher ausschließen können, dass sie auf einer Sinnestäuschung beruhen, und auch viele derjenigen, bei denen wir nicht sicher ausschließen können, dass wir gerade träumen. Zwar sind ›2+2‹ auch dann gleich ›4‹, wenn unsere Sinne uns täuschen oder wenn wir träumen, doch weder kann das auf einer Sinnestäuschung beruhende Glas Wasser den Durst löschen noch erspart uns der nur geträumte Lottogewinn die nächste Gehaltsverhandlung mit dem Chef – selbst wenn wir von unserem neuen Reichtum während des Traumes noch so überzeugt sein mögen. Traum und Sinnestäuschung sind in der Tat ernst zu nehmende Gründe, an der Richtigkeit unserer Meinungen zu zweifeln. Noch wichtiger ist in unserem Zusammenhang allerdings ein weiterer Vorbehalt, den Descartes im Anschluss an diese Möglichkeiten ins Spiel bringt. Könnte es nicht sein, so gibt er zu bedenken, dass uns ein böser Dämon systematisch über uns selbst und unsere Umgebung täuscht? Oder zeitgemäß formuliert: kann es nicht sein, dass ein Hochleistungsrechner unserem direkt mit ihm verbundenen Gehirn eine detailreiche und stimmige Scheinwelt vorgaukelt, deren Simulationscharakter wir prinzipiell nicht zu durchschauen in der Lage sind?20 Dass dieses Szenario längst nicht so abwegig ist, wie es auf den ersten Blick erscheint, zeigen zahlreiche literarische und filmische Umsetzungen – unter ihnen an erster Stelle wohl der 1999 erschienene Box-Office Hit ›Matrix‹. Wichtig und aufschlussreich ist diese Möglichkeit für unser Thema, weil die verschwörungstheoretische Argumentation streckenweise parallel verläuft (etwa wenn behauptet wird, dass das Fehlen von Beweisen nur ein Ausweis für die Macht der Verschwörer sei, ihr böses Treiben zu vertuschen) und weil die Reaktion der Philosophie auf Descartes’ Dämon zeigt, welche Antworten hier überhaupt gegeben werden können. Wenn an die Stelle des Dämons oder des Hochleistungsrechners in Verschwörungstheorien eine Gruppe undurchsichtiger Akteure tritt, die uns systematisch in die Irre führt, ohne dass wir eine Möglichkeit haben, ihnen je auf die Schliche

1.6 Zweifel und Wissen

zu kommen, so ähneln sich die Szenarien wenigstens so weit, dass die Antworten im ersten Fall Anhaltspunkte für die Behandlung des zweiten geben können. Der erste Versuch, auf das Szenario der absichtsvollen Täuschung durch eine übermächtige Instanz zu antworten, stammt von Descartes selbst und besteht in seinem berühmten ›Cogito‹-Argument, dem ›Ich denke, also bin ich‹. Es läuft darauf hinaus, dass ich mir im Fall der systematischen Täuschung durch eine überlegene Macht wenigstens der Tatsache absolut sicher sein kann, dass ich denke, allerdings nur während ich denke. Denn es führt kein Weg an der Trivialität vorbei, dass ich, um getäuscht werden beziehungsweise eine falsche Meinung haben zu können, wenigstens als ein Wesen ›existieren‹ muss, dass fähig ist, getäuscht zu werden, beziehungsweise überhaupt Meinungen zu haben (zu ›denken‹). Descartes selbst erweitert den Bereich der Gewissheit anschließend um einige weitere Behauptungen, die direkt oder indirekt aus dem ›Ich denke‹ folgen. Dazu gehören Tautologien (Aliens sind nicht von dieser Welt; jede Wirkung hat eine Ursache; a = a) und solche Meinungen, die sich auf Axiome (durch willkürliche Festlegung eingeführte Grundsätze) stützen. Bei ihnen kann ich ebenfalls sicher sein, dass sie selbst einer systematischen Täuschung trotzen (jedenfalls solange ich sie klar und deutlich erfasse); folgt ihre Gewissheit doch aus der Tatsache, dass es jemanden gibt, der fähig ist, sich durch Nachdenken seiner eigenen ›Existenz‹ zu versichern. Alles das hingegen, was wir über unsere Alltagswelt zu wissen glauben, so meinte jedenfalls Descartes, kann dem täuschenden Dämon zum Opfer fallen. Daher kann auch das Ich des Cogito nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass sein Körper (als ›Hardware‹ für seine Gedanken) tatsächlich so beschaffen ist, wie es ihn wahrnimmt. Doch sollte es tatsächlich unmöglich sein, sich auch nur einer einzigen Erfahrungstatsache uneingeschränkt zu versichern? Descartes’ Nachfolger jedenfalls wollten diese Austreibung aus dem Paradies der empirischen Gewissheiten nicht einfach hinnehmen. Auf verschiedenen Wegen versuchten sie deshalb, wenigstens einige (vorzugsweise grundlegende) Meinungen über die Welt als sicher auszuweisen. Ausführlich und umfassend diskutierten sie die verschiedenen Möglichkeiten, Descartes’ pessimistisches Fazit zu vermeiden – letztlich allerdings ohne Erfolg.21 So dauerte es zwar noch einige Zeit, bis die großen theoretischen Abwehrschlachten geschlagen waren, doch schließlich setzte sich in der Philosophie auf breiter Front die Einsicht durch, dass manchen skeptischen

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Einwänden in der Tat nichts entgegenzusetzen ist und wir mit einem Rest von Unsicherheit leben müssen – jedenfalls, wenn es um empirische Verhältnisse geht. Denn in der Erfahrungswelt ist immer ein Szenario denkbar (selbst wenn es unwahrscheinlich klingt), unter dem jede einzelne unserer Meinungen über die Welt falsch sein kann. Konkret: die Möglichkeit, dass wir von einer mächtigen Instanz systematisch getäuscht werden, ist nur dann auszuschließen, wenn es uns gelingt, einen Standpunkt jenseits unseres Wissenshorizonts einzunehmen. Doch das ist eben prinzipiell unmöglich. Jeder Standpunkt, den wir einnehmen, wird schließlich dadurch zu einem Standpunkt innerhalb dieses Horizonts. Wenn der Wissensbegriff also nicht leer oder sinnlos werden soll, muss die Reaktion auf Zweifel dieser Art deshalb die Ermäßigung der Anforderungen an unser Wissen sein. Das bedeutet: von ›Wissen‹ dürfen wir schon dann sprechen, wenn ein letzter Rest von Unsicherheit bleibt. Und das bedeutet: auch wenn wir es gern anders hätten, die Vorstellung, empirische Meinungen könnten absolut sicher sein, ist schlicht falsch. Doch was folgt aus diesen Überlegungen für unser Thema? Dreierlei. Erstens wird im Blick auf den philosophischen Skeptizismus deutlich, dass Verschwörungstheorien mit ihrem Zweifel an unseren Gewissheiten in der Tat in einer langen Tradition stehen, in der nicht einfach ins Blaue hinein Zweifel vorgebracht, sondern Vorbehalte mit Gründen untermauert werden (wobei die Stichhaltigkeit dieser Gründe bei der formalen Betrachtung noch keine Rolle spielt). Wenn Verschwörungstheorien unsere Aufmerksamkeit auf die Ungereimtheiten in der ›offiziellen‹ Darstellung und auf diejenigen Daten lenken, die sich in diese nicht ohne weiteres einfügen oder von der offiziellen Version (angeblich) außer Acht gelassen werden, gehen sie ganz ähnlich vor wie Descartes, wenn er auf die Unzuverlässigkeit unserer Wahrnehmung hinweist (oder auch auf unser gelegentliches Unvermögen, Wachen und Traum auseinanderzuhalten). Von Descartes selbst und von seinen Nachfolgern lernen wir auch, dass sich solche Vorbehalte durch eine genaue und vorurteilsfreie Untersuchung der Faktenlage ausräumen lassen. Anders formuliert: die Forderung nach rückhaltloser Aufklärung, die fester Bestandteil der verschwörungstheoretischen Argumentation ist, sollte in diesen Fällen die ›Wahrheit‹ ans Licht bringen, so sie denn erfüllt wird. Dies mag wohl der Grund dafür sein, warum viele Verschwörungstheorien diese Forderung auch nur dann erheben, wenn es darum geht, die offizielle Version zu untergraben, sie aber schnell vergessen, wenn es um ihre eigenen Behauptungen geht.

1.6 Zweifel und Wissen

Dabei ist eine gründliche und vorurteilsfreie Aufklärung selbstverständlich vor allem für fiktionale Theorien eher störend. Ganz anders als bei den Zweifeln, die ihre Kraft aus den Mängeln unseres Erkenntnisapparates beziehen, sieht die Sache aus, wenn es zweitens um den Verdacht geht, dass wir systematisch durch eine übermächtige Instanz getäuscht werden. Denn der Zweifel, der an diesen Verdacht anschließt, stellt nicht mehr nur einzelne Meinungen oder Klassen von Meinungen infrage, sondern betrifft alle unsere (empirischen) Meinungen zugleich. Doch obwohl wir diese Möglichkeit nicht ausschließen können, ist der Nutzen dieser Hypothese begrenzt. Ob es sich um Descartes’ Dämon oder eine Gruppe von Weltverschwörern handelt, ist für ihr Begründungspotenzial unerheblich, weil eine Behauptung, die wir aus prinzipiellen Gründen nicht bestätigen oder widerlegen können für die Argumentation in dieser Hinsicht wenig austrägt. Bei Verschwörungstheorien kommt noch hinzu, dass wer behauptet, dass es keine unumstößlich wahren Meinungen gibt, für sich selbst nicht überzeugend in Anspruch nehmen kann, uns mit der absoluten Wahrheit zu versorgen. Mit dem Hinweis auf die allgemeine Unsicherheit unseres empirischen Wissens kann offensichtlich nur derjenige Zweifel säen, der nicht gleichzeitig seine eigene (empirische) Erklärung von diesem Zweifel ausnimmt. Und schließlich, drittens, wirkt die Tatsache, dass der Brunnen der absoluten Wahrheit von der Philosophie bereits vor einiger Zeit trocken gelegt wurde, auch in die Gegenrichtung und gilt auch für diejenigen, die es unternehmen, eine Verschwörungstheorie ein für allemal zu widerlegen. Die Einsicht in die Relativität unserer Wissensansprüche verhindert bedauerlicherweise also auch den Erfolg eines solchen Unterfangens. Das heißt, es bleibt tatsächlich immer ein Restzweifel, ob eine verschwörungstheoretische Interpretation nicht doch zutrifft, selbst wenn sie zunächst noch so haarsträubend klingt. Und Beispiele für zunächst unwahrscheinlich klingende Szenarien, die sich später als zutreffend herausstellten gibt es in der historischen Forschung schließlich genug. Um es kurz zu machen: auch an Verschwörungstheorien können wir (so wie an alle empirischen Theorien) deshalb letztlich nur eine Messlatte anlegen, die von ›wahrscheinlich‹ über ›vielleicht zutreffend‹ bis ›abstrus‹ und ›sehr unwahrscheinlich‹ reicht.

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≡ … K ontrolle ist besser! Im Jahr 2004 erfolgte die erste amtliche Zulassung von Mikrochip-Implantaten – offiziell zur Ortung von Kindern und anderen geistig verwirrten Personen – durch die FDA. 22 Seither ist die bereits seit geraumer Zeit zur Erforschung der Lebensgewohnheiten von Wildtieren eingesetzte RFID-Technik (radio-frequency identification) auch am Menschen zugelassen. Armeen implantieren die kleinen Chips ihren Soldaten, um sie oder das, was von ihnen noch übrig ist, im Feld identifizieren zu können, Firmen setzen sie für die Regelung des Zugangs zu sensiblen Bereichen ein, Gefängnisse zur Überwachung ihrer Insassen. Die offene Präsentation gerade dieser Anwendungen und dieser Technik dient ihnen allerdings nur dazu, elegant von einer ähnlichen Technik abzulenken, die weitaus finsterer ist. Denn implantierte RFID-Chips, die gerade noch mit bloßem Auge zu erkennen sind, erzeugen vielleicht ein allgemeines Unwohlsein, doch geht es ihnen schließlich auch nur darum, uns daran zu gewöhnen, dass implantierte Elektronik nicht bedrohlich ist, sondern ein nützlicher Bestandteil unseres Alltags sein kann. Denn mit Ihren geheimen Forschungen sind sie schon längst viel weiter. Biokompatible Nanochips, die nicht einmal mehr unter einem normalen Mikroskop zu erkennen sind, stehen bereits bereit für ihren Einsatz. Beweise? In einigen Regionen der Welt liefen in den letzten Jahren Feldversuche mit dieser Technik. Wer die Nachrichten verfolgt, weiß Bescheid: Ihre neuen Chips zielen auf die totale Verhaltenskontrolle. Da trifft es sich dann auch gut, dass sie nicht mehr aufwendig chirurgisch eingepflanzt werden müssen, sondern einfach über das Trinkwasser oder Grundnahrungsmittel verabreicht werden können, auf dass sie sich im Metabolismus dauerhaft einnisten. Und auch wenn die Steuerungstechnik noch verbesserungsfähig ist, sind die ersten ›Erfolge‹ in den Revolutionen und Bürgerkriegen der letzten Zeit doch bereits zu beobachten. Als Faustregel gilt: je länger sich ein Konflikt hinzieht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass hier gleichstarke Wettbewerber ihre Produkte testen. Ist der Konflikt dagegen schnell beendet, arbeitet vermutlich nur eine Firma an der Perfektionierung ihres Produkts. Es steht stark zu vermuten dass, wenn die Testläufe in Afrika, Asien und Mittelamerika erst einmal abgeschlossen und ausgewertet sind, die neue Technik auch den Rest der Welt beglücken wird. Vorserientests liefen in unseren Breiten im Rahmen der von ihnen inszenierten ›Finanzkrise‹ (s.u. S. 59f.) vor nicht allzu langer Zeit bereits in Irland (›Befriedung‹), in Spanien und Griechenland (›Massenprotest und Kontrolle‹).

1.7 ›Wahrheit‹

Um den Ort von Behauptungen und Theorien auf der Skala von ›sehr unwahrscheinlich‹ bis ›vermutlich zutreffend‹ genauer ermitteln zu können, müssen wir noch einmal ein wenig ausholen. Denn in diesem Zusammenhang geht es darum herauszufinden, wann wir etwas für wahrscheinlich oder gar für ›wahr‹ halten und wann für unwahrscheinlich oder falsch. Deshalb wird einerseits die Grundlage wichtig, auf der wir die Wahrheit von Behauptungen beurteilen und andererseits ist ein Blick auf die Verfahren der Begründung von Aussagen nötig. Beginnen wir zunächst mit den Grundmodellen der Wahrheit. Auch hier gibt es, wie schon bei den Aussagen, mit denen wir unsere Wirklichkeit erschließen, im Wesentlichen zwei Optionen. Die erste beruht auf der Behauptung, etwas sei dann wahr, wenn es mit den Gegebenheiten der Welt übereinstimmt und sich in angemessener Weise auf die äußeren Verhältnisse bezieht. Die Philosophie kennt diesen Ansatz unter der Bezeichnung ›Korrespondenztheorie der Wahrheit‹, weil es die Wahrheit von Aussagen von deren Bezug auf die Gegebenheiten der Erfahrungswelt, eben der ›Korrespondenz‹ der Behauptungen mit diesen Gegebenheiten, abhängig macht. Die Alternative ist die ›Kohärenztheorie der Wahrheit‹. Obwohl der Ausdruck ›Kohärenz‹ (lat. cohaerentia: Zusammenhang) unterbestimmt ist, kann man dieses Modell näherungsweise so bestimmen, dass es für die Wahrheit von Aussagen (nur) deren widerspruchsfreies und stimmiges Zusammengehen mit anderen Behauptungen einer Theorie fordert. Der Abgleich mit den Gegebenheiten der Welt tritt dabei in den Hintergrund oder entfällt im Extremfall gleich ganz. Diese zweite Variante, also die Kohärenztheorie der Wahrheit, klingt zunächst abwegig, denn sie führt offensichtlich dazu, dass jede beliebige Fiktion, solange sie sich denn nur widerspruchsfrei und stimmig in unser Meinungsgefüge einpassen lässt, in den Genuss der Auszeichnung

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›wahr‹ kommen kann. Dennoch wird die Kohärenztheorie ernsthaft vertreten und ist in einigen Zusammenhängen auch längst nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheint. Dies hängt ein weiteres Mal damit zusammen, dass die vermeintlich so soliden ›äußeren Gegebenheiten‹ immer schon eine Interpretation sind und jeder Bezug auf sie durch unsere Wahrnehmung und die Struktur unseres Erkenntnisvermögens gefiltert ist (s.o. Abschnitt 1.4). Wenn die äußere ›Realität‹ ein (subjektives) Konstrukt ist, dann, so lautet der Schluss der Kohärenztheoretiker, bleibt eben nur die Möglichkeit, die ›Wahrheit‹ einer Behauptung in Abhängigkeit davon zu bestimmen, ob sie zu anderen Meinungen ›passt‹. Erneut kann der Blick auf die Mathematik dabei helfen, den Gedankengang zu verdeutlichen. Schließlich sind die Sätze dieser Disziplin nicht deshalb wahr, weil sie den Verhältnissen der Welt ›korrespondieren‹, sondern deshalb, weil sie widerspruchsfrei mit den übrigen Behauptungen der Theorie zusammenstimmen, beziehungsweise aus ihnen folgen. Allerdings ändert der Hinweis auf die Mathematik oder andere axiomatische Theorien, in denen Kohärenz tatsächlich das einzige Kriterium der Wahrheit sein kann, nichts daran, dass Für-wahr-Halten und Kohärenz kein Garant für die Wahrheit einer empirischen Meinung sein können. Das Ministerium für Zauberei mag anderer Meinung sein – schließlich beruht das Wirkprinzip von ›Zaubersprüchen‹ auf dem ganz ähnlichen Gedanken, dass durch bloße Absicht, verbunden mit ihrer sprachlichen Äußerung, die Verhältnisse der unbelebten Natur geändert werden können –, philosophisch jedoch ist ein ›magischer‹ Ansatz der sprachlichen Bezugnahme völlig verfehlt. Wenn es um die Wahrheit empirischer Meinungen geht, so spielt ›Korrespondenz‹ in der einen oder anderen Form immer eine Rolle. Und in der Tat liegt die Korrespondenztheorie der Wahrheit ja auch unserem gesamten neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis zugrunde. Denn dieses wird von der Hoffnung getragen, durch Beobachtung und Experimente – und das bedeutet, durch einen systematischen Bezug auf die Verhältnisse der Welt (Korrespondenz) – die Natur und den Menschen besser verstehen zu können. Allerdings erlebt die Kohärenztheorie, die ihre letzte philosophische Blütezeit im Deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts hatte, durch die zunehmende Virtualisierung vieler Lebensbereiche gerade ein erstaunliches Comeback. Gerade für medial vermittelte Informationen gilt: je weniger wir direkt mit den Ereignissen und Gegenständen der Erfahrungswelt in Kontakt treten, umso wichtiger wird es, Behauptungen wenigstens danach zu beurteilen, ob sie sich

1.7 ›Wahrheit‹

widerspruchslos und stimmig in unser Meinungssystem einfügen. Unschöner Nebeneffekt des kohärentistischen Ansatzes: die Menge der möglichen Versionen der Wirklichkeit erhöht sich deutlich. Man muss daher gar nicht erst, wie Winston Smith in George Orwells Klassiker 1984, Opfer einer Gehirnwäsche werden, an deren Ende man fünf Finger ›sieht‹, wo nur vier hochgehalten werden (weil ›Die Partei‹ es so verlangt), um die Schattenseiten eines exzessiven Kohärentismus zu erkennen.23 Und Soziologen bringen weitere Bedenken gegen die unbeschwerte Bereitschaft vor, Erklärungen schon dann für wahr zu halten, wenn sie denn nur stimmig erscheinen, wie dies eben auch bei clever formulierten Verschwörungstheorien der Fall ist. Sie weisen darauf hin, dass die kohärentistische Empfänglichkeit für verschwörungstheoretische Interpretationen die Funktionstüchtigkeit einer offenen Gesellschaft beeinträchtigen kann, weil sie die kollektive Urteilskraft in Mitleidenschaft zieht.24 Hinzu kommt außerdem, dass es im Zeitalter der globalen Vernetzung immer leichter wird, für noch so ausgefallene Ansichten eine virtuelle Gemeinschaft zu finden, in deren Meinungsgefüge sie sich ›kohärent‹ einpassen lassen. Eine Interpretation, die im engen persönlichen Umfeld auf wenig Gegenliebe stößt, lässt einen heute nicht mehr zwingend allein dastehen. – Trifft die soziologische These zu, ist das Ausmaß der kollektiven Bereitschaft, in dieser Weise an verschwörungstheoretische Erklärungen zu glauben, ein Gradmesser für das Wohlergehen eines Gemeinwesens: steigt die Bereitschaft zum Kohärentismus, erleichtert dies die Durchsetzung (totalitärer) Ideologien.25

≡ B rot, S piele , S chulden Sie wollen den wirtschaftlichen Zusammenbruch! Beweise für ihren Masterplan? Gibt es zuhauf. 1999/2001 Euro-Einführung (eine lumpige Tasse Kaffee für umgerechnet sieben Deutsche Mark? – außer in den Touristenfallen südlicher Urlaubsländer zu D-Mark Zeiten völlig undenkbar!). Gleichzeitig der gezielte Abschuss der ›New Economy‹ (Wertverlust gegenüber dem Höchststand: 95 %; ebenfalls 2001), und damit die Sache auch sicher vorankommt, lassen sie im gleichen Jahr auch noch die Türme der Welthandelsorganisation spektakulär in Schutt und Asche legen. Auch danach sind sie nicht zu stoppen. 2007 Immobilienkrise und Lehman (2008). Seitdem: weitere Banken, Immobilien, komplette Nationalökonomien. Ir-

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land, Portugal, Spanien, Italien, Griechenland – ›Hilfspakete‹, ›Rettungsschirme‹ und kein Ende. Seit 2008 ziehen sie, sogar vor aller Augen, zwölfstellige Beträge (›Billionen‹) aus dem internationalen Wirtschaftskreislauf. Geld, das es nicht gibt. Geld, das wir erst noch erarbeiten sollen. Sie brauchen es (so behaupten sie), unbedingt und sofort für Bonuszahlungen an Bankmanager. Denn sobald die ihre Yachten verkaufen müssen, brechen schließlich deren Institute zusammen. Und das ist dann ganz schlecht für uns. Sorglos spielen sie ›Wer wird Milliardär?‹. – Mit unserem Geld und unserer Zukunft! Und einer fadenscheinigen PR, die uns ruhig stellen soll. Doch im Ernst: wer kann schon schlüssig beweisen, dass Bildung und Forschung, staatliche Absicherung für Alter und Arbeitslosigkeit oder eine mit Steuergeldern gepflegte Infrastruktur für Strom, Wasser, Transport, Krankheit etc. wirklich nötig sind? Geben wir’s ruhig zu: hier lässt sich viel kürzen. Früher ging es doch auch ohne. Die Frage ist nur: ›warum tun sie das‹? Es mag zwar seltsam klingen, doch ihr Motiv ist der Neid auf die nachwachsenden Generationen. Der Beweis? Ebenfalls leicht: mit ihren sogenannten ›Rettungsschirmen‹ retten sie bei Licht besehen nur sich selbst und ihre eigenen Vermögenseinlagen. Den normalen Steuerzahler hingegen enteignen sie schleichend über die Inflation. Und wenn es ans Zurückzahlen der von ihnen heute so großzügig aufgenommenen Kredite geht, ruhen sie offensichtlich schon unter der Erde. Sollen also doch die schuften, die nach ihnen kommen und im Augenblick noch denken, das Leben sei eine einzige Party. Sie jedenfalls hatten es in ihrer Jugend auch nicht leicht. Damit die Youngster ihrem teuflischen Plan nicht vorzeitig auf die Spur kommen, beschwichtigen sie sie mit der Illusion produktiver Geschäftigkeit, mit ›Sozialen Netzwerken‹ und der Aufforderung zur ständigen medialen Selbstvermarktung und Lebenslaufoptimierung. Aufkommenden Protest kaufen sie ihnen mit kostenlosem Dauerentertainment ab und mit billigem Elektronikspielzeug. Ein willkommener Nebeneffekt, wenn durch dessen permanente Nutzung ihre Aufmerksamkeitsspanne auf wenige Sekunden sinkt. Denn: je dümmer die nachwachsende Generation, desto besser für sie. Und die paar Gestalten, die sie brauchen, um ihre Pools in Schuss zu halten, ihre Villen zu wienern und ihren Müll wegzuräumen, finden sich schließlich immer.

1.8 Begründung

Nachdem wir jetzt bereits eine Reihe von Begriffen und Gesichtspunkten betrachtet haben, die bei der Konstruktion unserer Wirklichkeit eine wichtige Rolle spielen, bleibt abschließend noch der Blick auf die Frage nach der Begründung dessen, woran wir glauben. Denn die Bestimmung, wann eine Meinung wahr ist, ist eine Sache, wie man ihre Wahrheit begründet, aber eine ganz andere. Schließlich lassen sich nicht alle wahren Behauptungen begründen, und nicht alle begründbaren Behauptungen sind wahr. Tatsächlich sind sogar nicht wenige unserer Meinungen wahr und unbegründet – oder gut begründet und falsch. So hat die Gewinnerin beim Schulfest vielleicht eine wahre Meinung über die Anzahl der Murmeln im großen Glaskrug in der Eingangshalle – bis zur Auszählung durch die eifrigen Helfer der Klasse 2b jedoch ist ihre Meinung unbegründet. Umgekehrt kann man etwa der gut begründeten Meinung sein, der Kollege besäße einen Geländewagen, denn schließlich hat er die ganze Belegschaft ausdauernd an den Freuden seiner Neuerwerbung teilhaben lassen und keine Gelegenheit versäumt, das gute Stück auf dem Firmenparkplatz optisch und akustisch zur Geltung zu bringen. Gut begründet, aber dennoch falsch ist diese Meinung an dem Tag, an dem er unter dem verbalen Dauerfeuer seiner umweltbewegten Kinder in die Knie gegangen ist und die 15-Liter Maschine heimlich für einen Hybridwagen in Zahlung gegeben hat.26 Echte Verschwörungstheorien entsprechen strukturell dem ersten Fall; ihre Anhänger haben zwar eine wahre Meinung, bis zur Aufdeckung der Verschwörung fehlt ihnen aber die Rechtfertigung. Fiktionale Verschwörungstheorien dagegen folgen durchgängig dem zweiten Muster. Ihre Anhänger stützen ihre Behauptungen mit zahllosen ›Begründungen‹, doch ihre Meinung entspricht eben nicht der Wahrheit – außer für Anhänger eines durchgängigen Kohärentismus.

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Um besser einschätzen zu können, wie weit eine Begründung tatsächlich trägt, das heißt, um zu sehen, wann Belege eine Behauptung stützen und wann sie nur den Anschein erwecken, dies zu tun, lohnt deshalb auch hier ein kurzer Blick auf die philosophischen Optionen. Wie schon in der Frage der Wahrheit gibt es auch bei der Absicherung von Behauptungen nämlich grundsätzlich zwei Möglichkeiten: ›Deduktion‹ und ›Induktion‹. Üblicherweise verläuft die deduktive Begründung von allgemeinen Behauptungen zu spezifischen Aussagen, die Induktion in umgekehrter Richtung, von einzelnen Aussagen zu allgemeinen Behauptungen. Dazu gleich mehr. Der wesentliche Unterschied der beiden Begründungsverfahren besteht, soviel vorweg, in der Sicherheit ihrer Ergebnisse: deduktiv begründete Aussagen gelten mit Notwendigkeit, induktiv begründete Aussagen mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit. Betrachten wir zunächst die Deduktion etwas genauer. Hier wird mit Hilfe einer allgemeinen Aussage und mindestens eines weiteren Satzes, der nähere Umstände aufführt, eine spezielle Aussage begründet. Die zu begründende Aussage ist genau dann mit Notwendigkeit wahr, wenn die Voraussetzungen des Arguments – also die allgemeine Behauptung und die Spezifikation(en) der näheren Umstände – wahr sind. Aus ›Alle Politiker sind Muster an Aufrichtigkeit‹ und ›Theodor ist ein Politiker‹ folgt hier also mit Notwendigkeit: ›Theodor ist ein Muster an Aufrichtigkeit‹; ebenso wie aus ›Verbrauchssteuern sind gerecht‹ und ›Die Mehrwertsteuer ist eine Verbrauchssteuer‹ notwendig folgt: ›Die Mehrwertsteuer ist gerecht‹. Überprüfen lässt sich der Zusammenhang durch die Verneinung des Schlusssatzes: sie führt unvermeidlich zum Widerspruch mit einer der Voraussetzungen. Will man den Schluss eines deduktiven Arguments anzweifeln, gibt es daher nur die Möglichkeit, die Wahrheit der Voraussetzungen anzuzweifeln. Wer den Schlusssatz, Theodor sei ein Muster an Aufrichtigkeit, nicht teilt, muss in unserem Beispiel also entweder die spezielle Behauptung ›Theodor ist ein Politiker‹ infrage stellen oder den allgemeinen Satz, ›Alle Politiker sind Muster an Aufrichtigkeit‹. Ganz analog im Fall der Mehrwertsteuer: wer glaubt, die Mehrwertsteuer sei ungerecht, muss entweder die Richtigkeit des allgemeinen Satzes ›Verbrauchssteuern sind gerecht‹ anzweifeln oder aber die spezielle Aussage, dass die Mehrwertsteuer eine Verbrauchssteuer ist. Auf die naheliegende Frage, was denn die allgemeinen Sätze deduktiver Rechtfertigungen begründe, gibt es erneut zwei Antworten: entweder ist die allgemeine Aussage Schlussfolgerung einer induktiven Begründung, oder der allgemeine

1.8 Begründung

Satz ist unmittelbar einsichtig beispielsweise aufgrund der verwendeten Begriffe: ›Tiger sind Raubtiere‹, ›Eis ist kalt‹. Induktive Begründungen dagegen unterscheiden sich nicht nur in ihrer Argumentationsrichtung von deduktiven, sondern auch dadurch, dass selbst wenn alle Voraussetzungen wahr sind, der Schlusssatz nicht mit Notwendigkeit folgt. Denn eine induktive Argumentation beruht auf einer Menge einzelner Aussagen über einen bestimmten Gegenstandsbereich. Ihr Schluss ist dagegen immer eine allgemeine Behauptung. Dabei ist die Menge der betrachteten Fälle in der Regel kleiner als die Menge der Fälle, auf die die allgemeine Behauptung sich erstrecken soll. Auch hier ein Beispiel: die wiederholte Beobachtung, dass noch jedes Mal, wenn Regierungen ihre Absicht verkünden, Bürokratie abzubauen, zuverlässig die Regelwerke umfangreicher werden und der Verwaltungsaufwand steigt, lässt uns auf einen direkten Zusammenhang zwischen erklärter Absicht und gegenteiliger Wirkung schließen. Doch selbst wenn sich die allgemeine Aussage ›die lautstarke Ankündigung ihres Abbaus führt unvermeidlich zur Vermehrung der Bürokratie‹ auf eine beträchtliche Menge relevanter Einzelbeobachtungen stützen kann, ist der Zusammenhang (glücklicherweise) nicht notwendig; weshalb wir ja auch die Hoffnung nicht aufgeben, diesmal werde es vielleicht doch anders laufen. Generell sind alle Regeln des Alltags von dieser Art. Erwartungen wie: das Auto werde problemlos anspringen, ein Becher Kaffee uns wieder ins Spiel bringen und der Lichtschutzfaktor 50 zuverlässig den Sonnenbrand verhindern, liegen durch Induktion gewonnene allgemeine Aussagen zugrunde – auf die aber genau deshalb eben nicht immer Verlass ist. In dem Moment, in dem die Zündkerzen durchgebrannt sind, der Praktikant die Maschine mit koffeinfreiem Pulver befüllt oder die Sonnencreme ihr Haltbarkeitsdatum deutlich überschritten hat, werden unsere Erwartungen enttäuscht. Hier unterscheiden sich diese Fälle nicht von der (ebenfalls induktiven) Alltagsregel, auf die Verspätung der Bahn sei Verlass und Eile deshalb unnötig – deren ›Ausnahmen‹ wir stets bei besonders wichtigen Terminen zu spüren bekommen. Also: induktiv begründete allgemeine Aussagen ermöglichen zwar Prognosen, die sogar mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit zutreffen können, doch sie lassen, im Gegensatz zu deduktiv gerechtfertigten Grundsätzen, Ausnahmen ausdrücklich zu. Normale Begründungsstrategien greifen sowohl auf das induktive als auch auf das deduktive Verfahren der Absicherung zurück. Verschwörungstheorien sind hier keine Ausnahme. Auf der einen Seite ist ihre

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allgemeine Behauptung, hinter bestimmten Ereignissen stecke eine Verschwörung, die Voraussetzung für eine Reihe von deduktiven Ableitungen. Dabei legt diese ontologische Grundbehauptung, wie wir gesehen haben, unter Umständen bereits eine beträchtliche Menge von Aussagen fest, auf die wir bereit sind uns einzulassen. Auf der anderen Seite spielt der Versuch, der Theorie durch induktive Begründung Überzeugungskraft zu verschaffen, hier ebenfalls eine erhebliche Rolle. So wird der Zweifel an der offiziellen Version gern durch eine möglichst umfangreiche Sammlung von induktiven ›Beobachtungen‹ gestützt, die sich auf den ersten Blick nur schwer mit der gewohnten Interpretation der Ereignisse vereinbaren lassen. Und auch die verschwörungstheoretische Deutung selbst gewinnt in dem Maß zusätzliche Überzeugungskraft, in dem es ihr gelingt, induktive empirische ›Belege‹ zu ihrer Absicherung beizubringen. Dabei profitiert die Beweisführung zunehmend von den neuen Möglichkeiten des weltumspannenden Datentauschs, denn je größer die Gemeinschaft ist, die entsprechende ›Beobachtungen‹ zusammenträgt, desto besser gelingt es, die offizielle Version in Zweifel zu ziehen. Und desto überzeugender erscheint denn auch die alternative Interpretation der Ereignisse, sofern sie auch diese Daten ›erklären‹ kann. Dies ist also der Grund dafür, dass ausgearbeitete Verschwörungstheorien uns oft mit einem beeindruckenden Fußnotenapparat versorgen. Doch Vorsicht: geht man den Quellen und Querverweisen nach, stellt sich schnell Ernüchterung ein: A verweist auf B, B auf C und C (über weitere Zwischenstationen), schließlich wieder auf A. Anders als bei normalen Plagiaten, bei denen nur in eine Richtung abgeschrieben wird, lässt sich in diesem Kreislauf oft nicht feststellen, an welcher Stelle die ›Beobachtungen‹, die die Theorie induktiv absichern sollen, eingespeist wurden. Und selbst wenn es wider Erwarten doch einmal gelingt, eine Quelle dingfest zu machen, erhöht dieser Tatbestand allein ihre Zuverlässigkeit selbstverständlich noch nicht.

≡ D r . D r . U we B. Nein, nein, hier soll es nicht um einen oder zwei abgeschriebene Doktortitel in der Politik gehen. Das Folgende ist vielmehr eine Geschichte über Bespitzelung in den höchsten Etagen der Politik, über ein Ehrenwort und eine prominente Leiche in einer Badewanne. Bespitzelt wurde der SPD-Spitzenkandidat für die Landtagswahl 1987 in Schleswig-Holstein, Björn Engholm. Das ›Ehrenwort‹ gab am

1.8 Begründung

18. September 1987, einige Tage nach der Landtagswahl (bei der seine Partei, die seit 1950 ununterbrochen regierende CDU, deutlich verlor), der noch amtierende Ministerpräsident desselben Bundeslandes, Uwe Barschel. Und zwar gab er dieses Ehrenwort »den Bürgerinnen und Bürgern des Landes Schleswig-Holstein und der gesamten deutschen Öffentlichkeit«. Der Tote, der am 11. Oktober 1987 in der Badewanne eines Hotelzimmers am Genfer See (ausgerechnet von Reportern) entdeckt wurde, war dann ebenfalls der Ehrenwortmann – Uwe Barschel. So weit, so klar. Doch ab da wird es undurchsichtig. Hat der tablettenabhängige Dr. Dr. B., der, so hieß es, insbesondere ein Fan von ›Tavor‹ war,* sich selbst mit einem Medikamenten-Mix vergiftet,** oder kam er durch Fremdeinwirkung zu Tode? Und wie viel wusste er überhaupt von den Machenschaften seines Medienreferenten Pfeiffer – der, obwohl ›mit drei F‹ geschrieben, in dieser Geschichte doch eine weit weniger sympathische Figur macht als der Held der ›Feuerzangenbowle‹? Denn dieser Propagandahelfer, dem amtierenden Ministerpräsidenten vom Axel-Springer-Verlag vermittelt, war bereits wegen Verleumdung vorbestraft. Daher ist auch nicht klar, was man von seiner eidesstattlichen Versicherung im Nachrichtenmagazin ›Der Spiegel‹ halten soll, er habe bei der Bespitzelung Engholms im Wissen und Auftrag des Uwe B. gehandelt.*** Doch selbst wenn dies eine weitere Unwahrheit ist, so dürfte dem Mann mit den zwei Doktortiteln jedenfalls die allgemeine Verunglimpfung seines Mitbewerbers um den Stuhl des Ministerpräsidenten wohl kaum entgangen sein, auf die sich seine Partei im Wahlkampf eingeschossen hatte.**** Der Untersuchungsausschuss, der die Vorgänge später * | ›Tavor‹, ein Lorazepam aus der Gruppe der Benzodiazepine ist das Mittel der Wahl gegen Panik und Unruhe. Dummerweise kann es stark abhängig machen; der plötzliche Entzug liegt auf der Ebene des Entzugs von Alkohol und Heroin; und die Einnahme über längere Zeit führt zu ›kognitiven Defiziten‹, vulgo: macht blöd. ** | So die Todesursache laut Gerichtsmedizin. Neben ›Tavor‹-Spuren wurden bei der Obduktion auch noch eine Reihe von Abbauprodukten anderer medizinischer Substanzen gefunden (Barbiturate, Schlafmittel, Antihistamine). *** | Der Spiegel berichtet dies in seiner Ausgabe vom 14. September 1987. U.a. zeigte Pfeiffer den SPD-Spitzenkandidaten Björn Engholm anonym (wenngleich ohne Erfolg) wegen Steuerhinterziehung an; er hetzte ihm zudem Detektive auf den Hals und verbreitete öffentlich Lügen über ihn. **** | In ihren Werbebroschüren zur Landtagswahl fand die CDU so schmeichelhafte Ausdrücke für den Gegner von der SPD wie »geländegängiger Opportunist« und »rückgratlos«. – Keine Frage: Björn Engholm bemühte sich später redlich, den durch den Werbeprospekt des politischen Gegners geweckten Erwartungen gerecht zu werden.

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aufarbeitete, sah die Mitwisserschaft Barschels jedenfalls als erwiesen an, unter anderem auch deshalb, weil einige Zeugen auftraten, die ihn in dieser Angelegenheit schwer belasteten. Doch hat sich Dr. Dr. B. der Verleumdungskampagne gegen seinen Kontrahenten wirklich so geschämt (oder schämte er sich nur dafür, dass er sich erwischen ließ?), dass er dafür eigens nach Genf reiste, um mit einem ChemieCocktail seinem Leben ein Ende zu machen? In einer Badewanne? Oder war er, einen Tag bevor er vor dem Untersuchungsausschuss aussagen sollte, doch nur zu einem Geschäftstermin in der schweizer Stadt (anstatt sich zu Hause konzentriert mit der Wiederherstellung seines öffentlichen Ansehens zu beschäftigen),* und wurde er dann, weil die Möglichkeit zur Vertuschung so verlockend war, bei dieser Gelegenheit von jemandem ermordet, der mit ihm noch eine offene Rechnung hatte? Diese Fragen sind bis heute nicht beantwortet, und sie beschäftigen, weil es sich bei dem Toten ja nicht um irgendeine namenlose Hartz-IV-Nummer handelt, immer mal wieder das deutsche Feuilleton. Anhänger der These von der Verschwörung mit Todesfolge weisen darauf hin, dass B. in der Mordnacht Gesellschaft in seinem Hotelzimmer hatte,** dass er in Waffengeschäfte verstrickt war, bei denen es nicht nur (aber eben auch) um viel Geld ging,*** sich zudem an dem Tag mehrere deutsche Geheimdienstleute im So nahm er nach seinem Ausscheiden aus der Politik einen Beratervertrag bei einem Stromversorger an, der damals noch klar auf Atomkraft setzte; pikant unter anderem deshalb, weil er sich in der Regierungsverantwortung stets entschieden gegen die Kernkraft ausgesprochen hatte.

* | Die Behauptung, er sei genau deshalb in Genf gewesen, weil er dort auf die Übergabe entlastender Unterlagen hoffte, ist wenig plausibel. Hätte sich seine Hoffnung erfüllt, so könnte er zu Recht als erster Mensch in die Geschichte eingehen, der durch Dokumente eine Nichtexistenz schlüssig nachweisen kann (d.i. das Nichtvorhandensein seines Wissens um die Machenschaften seines umtriebigen Medienreferenten). Die Frage ist: trauen wir ihm, wegen seiner beiden Doktortitel, dieses innovative Kunststück zu? **  |  Allerdings folgt daraus, dass sich mehrere Menschen in einem Hotelzimmer aufhalten, nicht notwendig, dass einer von ihnen am nächsten Morgen tot in der Badewanne liegt – selbst dann nicht, wenn man wegen eines ›Geschäftstermins‹ unterwegs ist, von dem die Öffentlichkeit nicht unbedingt etwas erfahren soll – und bis heute auch nichts Genaueres erfahren hat. *** | In diesem Zusammenhang wird auch gern auf die zahlreichen Reisen des Uwe B. in die DDR hingewiesen, deren Hintergründe bis heute ungeklärt sind. War dies eine

1.8 Begründung

selben Hotel oder in der Nähe B.s rumtrieben und ein CIA-Agent mit ihm im selben Flugzeug nach Genf saß. Sie weisen außerdem darauf hin, dass im Umfeld der Ermittlungen immer mal wieder aussagewillige Personen unter nicht ganz geklärten Umständen zu Tode gekommen sind, bevor sie die ganze Wahrheit enthüllen konnten. Und als wäre das alles noch nicht Beweis genug, veröffentlichte 1994 ein ehemaliger Agent des israelischen Geheimdienstes ein Buch,* in dem er mit seinem ›Insiderwissen‹ die Mord-These bekräftigt. Ebenfalls zu Gunsten der Verschwörungstheoretiker wirken diverse Schlampigkeiten bei der Beweissicherung, sowohl am Tatort selbst als auch danach.** Wie dem auch sei: die Geschichte des Todes des Dr. B. in Genf enthält alle Zutaten für nicht nur eine, sondern mindestens für zwei Verschwörungstheorien.*** Nämlich auf der einen Seite die Zutaten für eine Verschwörung gegen den guten Ruf des damaligen Herausforderers für das Amt des Ministerpräsidenten im nördlichsten Bundesland der Republik, Björn Engholm. Auf der anderen Seite alle Zutaten für eine Verschwörung zur Ermordung des damals amtierenden Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Uwe B.; wobei es hier den Hintermännern und -frauen bis heute gelungen ist, im Dunkeln zu bleiben – so es sie denn gab. Lügen,

der Stationen, an denen konspirativ Waffenlieferungen in den Nahen Osten eingefädelt wurden (u.a. in den Iran, der damals noch zur Achse der Guten gehörte)?

* | Victor Ostrovsky, The Other Side of Deception: A Rogue Exposes the Mossad’s Secret Agenda. New York, 1994; dt. bei Bertelsmann als: Geheimakte Mossad. Die schmutzigen Geschäfte des israelischen Geheimdienstes. München, 1994. ** | So stammen die einzigen verwertbaren Fotos von den Reportern, die die Leiche ›fanden‹, weil die Erstermittler den Tatort mit defekter Kamera ›ablichteten‹; und auch sonst scheint es sowohl um die ursprüngliche Beweissicherung durch die Welschschweizer Behörden als auch um die Sorgfalt, mit der die Asservate behandelt wurden, nicht allzu gut bestellt gewesen zu sein, denn wichtige Stücke sind heute nicht mehr auffindbar. *** | Und sie hat durchaus noch das Zeug zu mehr: das ursprüngliche Opfer der Geschichte, Björn Engholm, der im Anschluss an die Verleumdungskampagne gegen ihn mehrere Jahre Ministerpräsident des nördlichsten Bundeslandes war, trat im Jahr 1993 deshalb von seinen Ämtern zurück, weil ihm zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, dass er wesentlich früher von der gegen ihn gerichteten Bespitzelung wusste, als er bis dahin immer wieder öffentlich betont hatte. Die Frage in diesem Zusammenhang ist offensichtlich: wer brachte diesen Stein ins Rollen und warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt?

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Verschleierung, intrigantes Verhalten, das ganze Repertoire des unfeinen Umgangs miteinander, finden sich dabei jedenfalls auf beiden Seiten.

1.9 Analogieschlüsse

Die Tatsache, dass Verschwörungstheorien oft mit einer umfangreichen induktiven Absicherung aufwarten, legt den Verdacht nahe, dass ihnen wenigstens der äußere Anschein der Wissenschaftlichkeit wichtig ist. Und dieser Verdacht verstärkt sich, wenn man genauer hinsieht. Denn anders als etwa bei ihren pseudowissenschaftlichen Verwandten aus der Esoterik hält sich die verschwörungstheoretische Argumentation an die Regeln der zweiwertigen Standardlogik (nach denen etwas entweder wahr oder falsch, aber nicht beides zugleich sein kann) und sie bewegt sich innerhalb des Schemas von Ursache und Wirkung. Verschwörungstheoretische Erklärungen sind ihrem Anspruch nach Kausalerklärungen und keine Glaubenssätze, die auf übernatürliche Prinzipien zurückgreifen. Unter den Werkzeugen der ›normalen‹ Wissenschaften tritt dabei ein Instrument in der verschwörungstheoretischen Argumentation besonders hervor: der Analogieschluss. Wenn es um die wissenschaftliche Erklärung natürlicher Phänomene geht, mag er nicht die erste Wahl sein, doch in den Händen von Verschwörungstheoretikern erweist sich der Analogieschluss als beliebtes und überaus mächtiges Werkzeug. Schon die Begründung seiner Zulässigkeit in der verschwörungstheoretischen Argumentation ist selbst ein erster Anwendungsfall dieses Prinzips. Denn warum, so der Gedanke, sollte ein Vorgehen, das in den Naturwissenschaften üblich und erlaubt ist, in der verschwörungstheoretischen Argumentation verboten sein? Ist etwa der physikalische Schluss von der Beschleunigung zur Erde fallender Äpfel auf die Beschleunigung von zur Erde fallenden Birnen so verschieden von dem verschwörungstheoretischen Schluss auf das zukünftige Verhalten von Menschen auf der Grundlage ihres Verhaltens in der Vergangenheit? Konkreter: muss man etwa von einer Regierung, die aus ›wissenschaftlicher‹ Neugier Menschen in großem Stil eine lebens-

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rettende Behandlung vorenthält (›Tuskegee‹)27 oder Soldaten durch radioaktiven Fallout marschieren lässt, nicht fast schon erwarten, dass sie etwas später auch eine gezielt entwickelte tödliche Seuche (AIDS) an missliebigen Teilen der eigenen Bevölkerung erprobt?28 Auf den ersten Blick ist an dieser Überlegung wenig auszusetzen. Sieht man jedoch genauer hin, wird deutlich, dass hier tatsächlich die sprichwörtlichen Äpfel mit Birnen verglichen werden. Denn unzulässig ist der verschwörungstheoretische Analogieschluss deshalb, weil sich die Gegenstandsbereiche in einem zentralen Punkt unterscheiden. Im einen Fall geht es um Entscheidungen und Handlungen und im anderen um Kausalzusammenhänge der unbewussten Natur. Hier gibt es gibt es klar zu formulierende Gesetze, dort jedoch nur statistische Abhängigkeiten und Wahrscheinlichkeitsaussagen; hier sind Experimente mit eindeutigem Ausgang möglich, dort allenfalls Versuchsanordnungen, die selbst bei gleichen allgemeinen Rahmenbedingungen oft zu sehr verschiedenen Ergebnissen führen. Und dies nicht nur, weil menschliches Verhalten sehr viel komplexer ist, als das Verhalten der unbelebten Natur, sondern auch weil unklar ist, in welcher Form wir bei der Erklärung menschlicher Handlungen den ›Freien Willen‹ berücksichtigen müssen.29 Schlüsse und Vorhersagen auf der Grundlage von psychologischen oder soziologischen ›Gesetzen‹ sind deshalb mit einer erheblichen Unsicherheit verbunden und weit davon entfernt, sicher zu sein. Verschwörungstheoretiker stört dies allerdings wenig. Sie meinen, der Analogieschluss von vergangenen auf zukünftige Handlungen sei bereits durch die allgemeine Zulässigkeit von Analogien in der wissenschaftlichen Argumentation hinreichend gedeckt. So verhilft der Analogieschluss bei cleverer Anwendung auch noch den unsinnigsten Behauptungen schnell zu einer erstaunlichen Plausibilität. Nicht ohne Grund ist er deshalb das Schweizer Taschenmesser der verschwörungstheoretischen Argumentation.

1.9 Analogieschlüsse

≡ G iftgas Wann wurden in Europa das letzte Mal C-Waffen eingesetzt? An der Westfront im ersten Weltkrieg vor bald hundert Jahren? Falsch! Trotz der internationalen Ächtung der chemischen Kriegsführung,* die sie auf eine Stufe mit bakteriologischen (und atomaren) Angriffen stellt, findet der Chemie-Krieg heute und direkt in unseren Wohnzimmern statt. Besonders perfide ist: sie lassen uns für den Angriff auf unsere Gesundheit und unser Leben auch noch selbst bezahlen. Denn seit einiger Zeit zwingen sie uns, Kompaktleuchtstofflampen zu benutzen und die gute alte Glühbirne durch so genannte ›Energiesparlampen‹ zu ersetzen. Natürlich zu einem Vielfachen des Preises der alten Glühbirne. Diese Leuchtkörper funktionieren durch ein Gas, das in Schwingung versetzt wird, um Licht zu erzeugen. Und dieses Gas hat es in sich. Es handelt sich dabei nämlich um Quecksilberdampf (Symbol: Hg, chemische Ordnungszahl 80), ein hochgiftiges Schwermetall. Neben Brom ist Quecksilber zudem das einzige Metall, das bei Zimmertemperatur bereits in den gasförmigen Zustand übergeht. Unglücklicherweise nimmt der menschliche Körper solche Dämpfe leicht auf. Sie verursachen zunächst Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel, schädigen dann das zentrale Nervensystem** und zersetzen schließlich die inneren Organe. Am Ende steht ein langsamer und qualvoller Tod. Doch damit noch nicht genug. Ihre Giftgaslampen funktionieren nur mit einer elektronischen Steuerung, welche die Verdampfung und Zündung des Quecksilbers reguliert.*** Was sie allerdings an Funktionen noch alles in dieser Steuerung * | Herstellung, Besitz, Weitergabe und Einsatz chemischer Waffen sind inzwischen international (auch in Deutschland!) geächtet – doch für sie gelten, wie wir gleich sehen werden, andere Spielregeln. Gemäß der Genfer Chemiewaffenkonvention von 1992 (CWK), Nachfolgerin des Genfer Protokolls von 1925, enthalten chemische Waffen solche Stoffe, die durch ihre chemische Wirkung den Tod, eine vorübergehende Handlungsunfähigkeit oder einen Dauerschaden bei Mensch und Tier herbeiführen können (s. CWK § 2.2). **  | Lewis Carroll setzte in seinen Alice-Büchern der chronischen Quecksilbervergiftung mit dem ›verrückten Hutmacher‹ das wohl bekannteste literarische Denkmal. Damals wurde Quecksilber bedenkenlos als Hilfsmittel in der Textilverarbeitung eingesetzt. ***  |  Angesichts der Tatsache, dass ein offizielles ›Argument‹ gegen die bewährte Glühbirne deren schlechte Energieausbeute durch übermäßige Erwärmung war, nimmt es sich schon etwas seltsam aus, dass die neuen Birnen aufwendig vorgeheizt werden

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untergebracht haben, werden wir wohl erst erfahren, wenn der Austausch der alten Glühbirnen flächendeckend vollzogen ist. Was wir aber heute schon sicher wissen, ist dies: ihre sogenannten Energiesparlampen erzeugen eine ordentliche Menge Elektrosmog* und zermürben uns außerdem durch ein konstantes niederfrequentes ›Brummen‹.** Dennoch ist es ihnen durch cleveres Marketing gelungen, ihre Aktion als Beitrag zum Umweltschutz zu tarnen. Damit verkaufen sie uns endgültig für dumm. Ihre zentrale Behauptung, ihre Giftgaslampen hielten sehr viel länger als die herkömmliche Glühbirne und bräuchten insgesamt weniger Energie, ist frei erfunden. Erstens wurde die Lebensdauer der alten Glühbirne schon früh künstlich begrenzt.*** Zweitens haben sich ihre Angaben über die Lebensdauer ihrer Giftgaslampen bisher noch in jedem unabhängigen Praxistest als völlig überzogen erwiesen. Im günstigen Fall beträgt sie allenfalls das Drei- bis Fünffache der (künstlich verschlechterten) Glühbirne. Schaltet man das Licht dagegen häufiger ein und aus, wandern sie im ungünstigen Fall sogar schon nach ein paar Tagen in die Tonne. Drittens kostet die Herstellung im Vergleich zur alten Birne glatt das Zehnfache an Energie. Und viertens fällt bei ihrer Entsorgung nicht nur eine Menge hochgiftigen Quecksilbers an, sondern wegen der Steuerchips eben auch eine Menge Elektro-

müssen. – Auch leuchten die Giftgaslampen deutlich schlechter, wenn im Winter die Heizung nicht wenigstens auf 20 Grad hochgedreht wird. Wird’s ihnen andererseits zu warm, geben sie ebenfalls schnell den Geist auf. Und schließlich wird auch die Lichtausbeute der giftigen Birnen im Laufe der Zeit von selbst rapide schlechter.

* | Die offiziellen Grenzwerte für die elektromagnetische Abstrahlung (so der Fachbegriff) orientieren sich im Übrigen nicht an der möglichen Gesundheitsgefährdung für den Menschen (weil darüber keine aussagekräftigen Daten vorliegen), sondern daran, wann andere elektronische Geräte durch sie gestört werden. ** | Die Drosselspule meldet sich (oft gut hörbar) im Bereich von 50 beziehungsweise 100 Hz. ***  |  1924 schlossen sich die international führenden Glühlampenhersteller (globaler Marktanteil damals: über 80 %) in Genf zum sogenannten ›Phoebus-Kartell‹ zusammen. Neben der klaren regionalen Aufteilung des Marktes, um Verkaufszahlen und Gewinne zu optimieren, sah die Vereinbarung empfindliche Strafen für alle Beteiligten vor, deren Produkte das durchschnittliche Maximum von 1.000 Stunden Lebendauer überschritten. Und obwohl dieses Kartell angeblich während des Zweiten Weltkriegs aufgelöst wurde, gilt die 1.000-Stunden-Regel seltsamerweise bis heute.

1.9 Analogieschlüsse

nikschrott.* Wobei das Quecksilber natürlich nur dann ein Entsorgungsproblem darstellt, wenn es uns mit Umsicht gelungen ist, ihre finstere Absicht zu durchkreuzen, das heißt, wenn wir ihre Giftgasbehälter nicht bereits durch Glasbruch vollständig in unseren Wohnzimmern entleert haben.**

* | Eine Diskussion um Endlagerstätten für diesen Sondermüll, die vergleichbar der Auseinandersetzung um die Endlagerung von Atommüll wäre, ist allerdings bislang nicht einmal am Horizont zu sehen. ** | Wem das zu weit hergeholt erscheint, darf natürlich weiterhin daran festhalten, dass hinter der zwangsweisen Einführung der Giftgaslampen eine Verschwörung von Außerirdischen mit den Entscheidern der führenden Leuchtmittelkonzerne steht, die uns – genau wie beim sogenannten ›Biosprit‹ E10, der durch erhöhten Einsatz von Dünger, Pestiziden, Monokulturen, erhöhten Kraftstoff-Verbrauch etc. die Umwelt verändert – nur dabei helfen wollen, durch weitreichende Änderungen der Umweltbedingungen unseren Planeten ihren Bedürfnissen anzupassen (s. auch unten S. 132f.; ›Chemtrails‹). – Dass in den Chefetagen internationaler Konzerne nicht wenige Aliens sitzen, ist schließlich Allgemeinwissen.

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1.10 Dogmen

Neben dem weiträumigen Einsatz des Analogieschlusses gibt es weitere strukturelle Eigenheiten, die erst bei genauerer Betrachtung die verschwörungstheoretische Argumentation von den in der Wissenschaft gängigen Standards entfernen. So ist der springende Punkt für die Tragfähigkeit eines Arguments die einschränkende Bedingung: ›sofern dessen Voraussetzungen wahr sind‹. Oben hatten wir bereits gesehen, mit welchen Strategien Verschwörungstheorien versuchen, die Erfüllung dieser Bedingung zu simulieren und die Voraussetzungen ihrer Argumentation wahr erscheinen zu lassen: durch eine Mischung aus kohärentistischer Verweisstruktur, in der ein Beleg den anderen in zirkulärer Weise absichert, und einem selektiven Erfahrungsbezug, der nur solche Beobachtungen gelten lässt, die die Theorie stützen. Dagegen werden Daten, die der Annahme einer Verschwörung zuwiderlaufen, konsequent umgedeutet oder ausgeblendet (s. Abschnitt 1.3). Hier geht es nun um das noch fehlende Element in dieser Absicherungsstrategie, die Kernaussage selbst, genauer ihre Stellung und Funktion innerhalb der Argumentation. Läuft bereits die Doppelstrategie aus Kohärentismus und selektivem Erfahrungsbezug darauf hinaus, dass Verschwörungstheorien sich von jeder widerständigen Erfahrung befreien können, so gilt dies in noch größerem Maß für das regulative Prinzip, dem alle anderen Aussagen untergeordnet werden: die Annahme einer Verschwörung. Ihre quasi-definitorische Setzung macht diese Behauptung zum ›Dogma‹.30 Dogmatische Begründungen, das heißt Begründungen, die sich auf einen Grundsatz beziehen, der von keiner Erfahrung zu widerlegen ist, kennen wir auch aus anderen Bereichen unseres Lebens. Nicht immer sind sie von vornherein unzulässig. Betrachten wir hierzu erneut einige Beispiele: Mathematik, Religion und Wirtschaftswissenschaften.

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Erstens, die Mathematik, die hier exemplarisch für nicht-empirische wissenschaftliche Theorien steht, kann gar nicht anders, als ihre Aussagen ›dogmatisch‹ zu begründen. Im Unterschied zu Verschwörungstheorien hat diese Disziplin aber auch keine Schwierigkeiten damit, ihren dogmatischen Charakter einzugestehen. Sie ist sich heute ihrer Modellhaftigkeit und Beschränkungen bewusst und die Zeit, in der sie noch mit dem Anspruch auftrat, letztgültige ›Wahrheiten‹ über die Erfahrungswelt zu verkünden, ist seit dem Rationalismus der frühen Neuzeit vorbei.31 Anders sieht es, zweitens, für die klassische religiöse Argumentation aus. Sie steht hier beispielhaft für alle Ansätze, die ihre Prinzipien und deren Gültigkeit auf eine Welt jenseits unserer Erfahrung zurückführen. Zwar haben gerade die großen Religionen erheblich zur Popularisierung der dogmatischen Argumentation beigetragen, doch dies ist ein eher zweifelhaftes Verdienst. Der ausdrückliche Bezug auf Jenseitiges jedenfalls lässt ihre ›Begründungen‹ schon von vornherein verdächtig erscheinen. Die weltliche Variante des Dogmatismus lässt sich dagegen, drittens, gut mit dem Mainstream ökonomischer Begründungen illustrieren. Die Ökonomie steht hier stellvertretend für viele ›normale‹ Theorien, die uns alltäglich begegnen. Ihren Verfechtern ist es gelungen, über die Jahre ihr Dogma, der ›Markt‹ sei die absolute Norm für alle ökonomischen Entscheidungen und Handlungen, fest im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Insbesondere konnten sie diesen Grundsatz trotz massiver Gegenevidenzen bis heute aufrechterhalten. Dennoch wird keine dieser Begründungen dadurch richtiger, dass sie solange wiederholt wird, bis sie uns nicht nur vertraut sondern oft sogar plausibel erscheint. Wann eine dogmatische Begründung unproblematisch ist und wann nicht, zeigt sich erst in ihrem Umgang mit Kritik. Und hier reagieren die genannten Disziplinen ganz unterschiedlich. Wenn das Modell die zu erklärenden Phänomene nicht trifft, dann antwortet die Mathematik nämlich mit der Anpassung ihrer Dogmen (die hier Axiome heißen) und der Änderung des Modells. Das historisch eindrucksvollste Beispiel dafür ist die mathematische Modellierung der Relativitätstheorie. Die Religion dagegen hält bei mangelnder Übereinstimmung mit der Lebenswirklichkeit unbeirrt an ihrem Dogma fest und versucht, jeden Verdacht gegen ihr Prinzip durch die noch entschiedenere Aufforderung zum Glauben zum Schweigen zu bringen – oder mit dem Hinweis auf die Unergründlichkeit jenseitiger Vorgänge, die einzusehen unsere Erkenntnismöglichkeiten einfach übersteige, niederzuringen. Derartigen

1.10 Dogmen

Begründungen begegnet die Moderne mit Zurückhaltung, denn was hier behauptet wird, lässt sich mit unserem heutigen Wissenschaftsverständnis kaum vereinbaren. Schwer schließlich macht es uns die MainstreamÖkonomie. Ihr Dogma ist, anders als der transzendente Grundsatz der Religion, einer empirischen und wissenschaftlichen Überprüfung zwar durchaus zugänglich. Doch hier weckt bereits die Reaktion der Verfechter des Grundsatzes von der allein selig machenden Kraft des Marktes unser Misstrauen, weil jene auch noch das offensichtlichste Versagen ihres Ansatzes stets und mit großer Überzeugung auf Faktoren außerhalb der Theorie und nie auf das Modell selbst schieben. Und dies bringt uns zurück zu unserem Thema. Denn genau dies ist auch das Verhalten von Verschwörungstheoretikern. Ungereimtheiten und Widersprüche führen auch für sie, ebenso wie schon für die glühenden Anhänger eines ungezügelten Kapitalismus, zuverlässig zum Ruf nach einer noch konsequenteren Anwendung ihrer Prinzipien, in diesem Fall also der verschwörungstheoretischen Interpretation der Ereignisse. Ob es sich um die Glaubensgewissheit handelt, der Mensch müsse dem Markt dienen (und nicht umgekehrt) oder um die Glaubensgewissheit, die Mondlandungen des letzten Jahrhunderts hätten nie stattgefunden: schon das Verhalten, das ihre treuen Anhänger zeigen, wenn ihre Sicht der Welt in die Kritik gerät, sollte uns ein Grund zur Vorsicht sein.32 Der Rückzug auf eine kohärentistische Position, die die Wahrheit ihrer Aussagen auf ein Dogma zurückführt, hat im Übrigen auch einen metatheoretischen Preis. Denn gerade bei Verschwörungstheorien (wie auch bei Religionen) gibt es häufig eine ganze Reihe von rivalisierenden Modellen für denselben ›Phänomenbestand‹. Verschwörungstheorien konkurrieren daher oft nicht nur mit der offiziellen Version, sondern auch mit anderen Verschwörungstheorien, die ebenfalls mit dem Anspruch auftreten, sämtliche Daten in einem schlüssigen Modell zu erklären. Ein naheliegendes Beispiel ist die Vielzahl unterschiedlicher Theorien, die sich um die Ermordung des 35. amerikanischen Präsidenten am 22. November 1963 in Dallas ranken.33 Sprachlich überaus eindrucksvoll weist deshalb schon der große schottische Philosoph David Hume in seiner Kritik des Wunderglaubens, mit der er seinem Publikum einen »unvergänglichen Prüfstein für alle Arten der abergläubischen Verirrungen«34 an die Hand geben möchte, darauf hin, dass rivalisierende (Wahn-)Systeme sich auf diese Weise gegenseitig ›zerstören‹.35

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

Der selektive Erfahrungsbezug unter Hinweis auf ein Dogma, beziehungsweise der Rückzug auf eine kohärentistische Position, wird Verschwörungstheorien allerdings nicht nur dadurch erleichtert, dass in anderen Bereichen ähnlich argumentiert wird und wir uns an diese Art der Argumentation gewöhnt haben, sondern auch durch ein Problem, mit dem alle empirischen Theorien zu kämpfen haben. Es steckt in der Frage, wann eine Theorie auf widerspenstige Beobachtungen mit Änderungen am Modell reagieren muss, wann der Punkt erreicht ist, an dem die Suche nach Fehlern im Datenbestand abbrechen sollte und mit der Anpassung der Theorie begonnen werden muss. Diesen Punkt zu bestimmen ist in jeder theoretischen Auseinandersetzung mit (empirischen) Daten schwierig. Schon weil die Gegenstandsbereiche so verschieden sind, dass es keine allgemeine Regel geben kann, die festlegt, wie viele (gegenläufige) Beobachtungen nötig sind und von welcher Art sie sein müssen, bevor eine Theorie aufgegeben und durch eine andere ersetzt werden sollte.36 Die Tatsache, dass jede wissenschaftliche Theorie hier ein Problem hat, nach allgemeingültigen Kriterien zu entscheiden, erschwert es also, Verschwörungstheorien allein deshalb zurückzuweisen, weil sie versuchen, widerspenstige Daten in ihrem Sinn umzudeuten. Die Tatsache, dass sich die Art und Weise, wie Verschwörungstheorien mit Beobachtungen umgehen, die der Theorie offensichtlich widersprechen, bei genauerem Hinsehen deutlich vom Vorgehen wissenschaftlicher Theorien unterscheidet, wenn sie in eine ähnliche Lage geraten, gibt uns allerdings dann doch einen Anhaltspunkt für ihre Zurückweisung. Denn wer Erfahrung nur dann gelten lässt, wenn sie seine Behauptung stützt, macht deutlich, dass es ihm nicht um eine ernsthafte Auseinandersetzung geht.

≡ M enschenversuche ›Tuskegee‹ war nur die Spitze des Eisbergs. Hier durften skrupellose ›Ärzte‹ mit amtlicher Billigung über Jahre beobachten, wie sich eine unbehandelte Syphilis entwickelt, obwohl diese Infektionskrankheit seit der Erfindung des Penicillins besonders in ihrem Frühstadium gut zu behandeln ist. Dass auch die Immunschwächekrankheit AIDS der Experimentierfreude skrupelloser US-amerikanischer ›Wissenschaftler‹ zu verdanken ist, die ihre im Labor gezüchteten Viren zunächst gezielt unter bestimmten Bevölkerungsgruppen (und nicht nur in den USA) freisetzten, ist ebenfalls bekannt. Nicht so bekannt dagegen sind viele ihrer anderen

1.10 Dogmen

Langzeitversuche an Menschen. Unter ihnen z.B. die global angelegten Versuchsreihen von Psychologen zur Steigerung des Aggressivitätsniveaus (Stichworte: Großraumbüro; TV-Dauerberichterstattung), von Genetikern zur Mutationsrate bei Mensch (Gen-Food, radioaktive Strahlung)* und Tier (sog. ›Unfälle‹ von Öltankern und Bohrinseln,** sowie in der Chemieindustrie)***, von Werbe- und PR-Forschern zur Akzeptanz simpler Slogans und zur Steuerung durch direkte und indirekte Gedankenkontrolle. Wer die Augen offen hält, erkennt ihre bösen Absichten überall.

* | Die weltumspannende Experimentierfreude in Auswahl: Windscale/Sellafield (GB) 1957 und 1973, Three Mile Island (USA) 1973, Tschernobyl (UDSSR) 1982 und 1986, Fukushima (Japan) 2011. **  |  In Auswahl: Torrey Canyon (1967, England, Südküste), Amoco Cadiz (1978, Frankreich, Westküste), Ixtoc I (1979, Golf von Mexiko), Exxon Valdez (1989, vor Alaska), Deepwater Horizon (2010, Golf von Mexiko). *** | In Auswahl: Seveso/Italien (1976), Bhopal/Indien (1984), Schweizerhalle/ Schweiz (1986).

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1.11 Die Kraft der ›Beweise‹

Vor dem Hintergrund ihres selektiven Erfahrungsbezugs ist das Bestreben von Verschwörungstheorien besonders bemerkenswert, vielen weiteren Kriterien des wissenschaftlichen Vorgehens gerecht zu werden. Rekapitulieren wir kurz: (ausgearbeitete) Verschwörungstheorien betreiben erheblichen Aufwand, um sowohl ihre Zweifel an der offiziellen Version als auch ihre eigenen Behauptungen zu begründen; die Beobachtungen, Belege und Querverweise, die sie zur Untermauerung ihrer Aussagen anführen, machen jeder wissenschaftlichen Abhandlung Ehre – solange man denn nur auf ihre Quantität sieht. Verschwörungstheorien sind darüber hinaus bemüht, Widersprüche in der Argumentation zu vermeiden, und sie richten sich auch sonst nach den Vorgaben der zweiwertigen Logik. Dabei übertreffen sie in dieser Beziehung oft jede ›normale‹ Theorie und auch »die Wirklichkeit an logischer Konsistenz und Kohärenz«.37 Ihre Begründungen bewegen sich zudem innerhalb des Ursache-Wirkung-Schemas. Und: ihre Erklärungen sind fast immer ›vollständiger‹ als diejenigen, die die offiziellen Versionen präsentieren. Denn sie nehmen auch solche Daten auf, die in der offiziellen Version außer Acht gelassen werden.38 So sind Verschwörungstheorien, wenn es um die formalen Anforderungen an eine seriöse Theoriebildung geht, klare ›Übererfüller‹ – jedenfalls dem ersten Anschein nach. Doch ebenso wie das Verhalten von Mitmenschen fragwürdig ist, die mit ihrem überbordenden Eifer noch vor dem Frühstück einen Großbetrieb oder ein ganzes Land in den Ruin treiben, so ist auch dieses Vorgehen von Verschwörungstheorien auf den zweiten Blick problematisch. Denn erstens sind erhebliche Zweifel angebracht, ob sie den Datenbestand tatsächlich unvoreingenommen sichten, weil es ihnen (im Unterschied zu wissenschaftlichen Theorien) ja darum geht, eine bereits vorgefasste Meinung zu belegen, sodass schon die Auswahl der ›Daten‹ nicht

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

vorurteilsfrei erfolgt. Zweitens erschweren Verschwörungstheorien oft gezielt die Überprüfung ihrer Behauptungen und ›Beweise‹. Die Mittel, die sie dabei einsetzen, umspannen die kunstvolle Verschleierung von Quellen ebenso wie Hilfsmittel aus der rhetorischen Trickkiste, die es erlauben die Glaubwürdigkeit des Gegners durch geschickte Angriffe auf die Person zu untergraben. Das heißt: die unpersönliche Vernebelung, etwa durch eine zirkuläre Verweisstruktur von Belegen mit zweifelhaftem Erfahrungsbezug, wird hier durch den persönlichen Angriff auf diejenigen unterstützt, die Zweifel äußern: Kritiker sind naiv, oder Mitwisser, oder werden von ihnen unter Druck gesetzt. Drittens entstehen die Phänomene, für die die offizielle Geschichte keine Erklärung gibt, oft tatsächlich erst dadurch, dass die Ereignisse unter verschwörungstheoretischen Vorzeichen interpretiert werden. So erhält man zwar mit einer Verschwörungstheorie eine Erklärung, die umfassender ist als die offizielle Version, weil sie auch diese ›Daten‹ aufnimmt. Da Verschwörungstheorien diese ›Daten‹ aber selbst generieren, ist die ›größere Erklärungsleistung‹ eben ein mehr als zweifelhafter Erfolg. Eine weitere Auffälligkeit von Verschwörungstheorien, wenn es um die Absicherung ihrer Behauptungen geht, entsteht, viertens, durch das Vermögen ihrer Architekten, außerordentlich unterschiedliche Dinge elegant39 zusammenzubringen. Denn so entstehen dort, wo andere nur den Zufall am Werk sehen, plötzlich ›zwingende‹ Verbindungen und undurchsichtige oder vormals völlig zufällige Ereignisse fügen sich auf einmal zu einem ›schlüssigen‹ Sinnzusammenhang. Ein fünftes und letztes Charakteristikum der verschwörungstheoretischen ›Beweisführung‹ schließlich ist leicht zu übersehen – vermutlich weil es so offen auf der Hand liegt. Dennoch ist es nicht unwichtig, weil es zum Standardrepertoire der Absicherung verschwörungstheoretischer Behauptungen gehört. Normale wissenschaftliche Theorien gründen sich seit der Neuzeit auf der Hoffnung, dass sie den Gegenständen ihrer Neugier durch Experiment, Beobachtung, Ausdauer und gewissenhafte Forschung näher kommen können. Anders dagegen Verschwörungstheorien. Hier entzieht sich das Objekt der Neugier (zweckmässigerweise) von vornherein aktiv seiner Erforschung. Schließlich bemühen sich die Verschwörer per Definition Beweise zu beseitigen, zu vertuschen, falsche Fährten zu legen und nach Kräften zu täuschen. Wenn deshalb trotz aller Bemühungen und Nachforschung die Aufdeckung einer Verschwörung

1.11 Die Kraf t der ›Beweise‹

nicht vorankommt, gibt es dafür also eine ganz naheliegende Erklärung: die Verschwörer wehren sich. Ja, mehr noch: die Abwesenheit von Beweisen kann sogar zum entscheidenden Beleg für die Theorie werden, belegt ihr Fehlen doch, wie erfolgreich sie ihr finsteres Treiben vertuschen.

≡ C ult of AW Neben den bekannteren Geheimgesellschaften, wie den Illuminaten und den Freimaurern (s.u. S. 104ff. und 127ff.), sind viele andere blass in der öffentlichen Wahrnehmung. Wenn auch oft sehr viel einflussreicher. Einer der Geheimbünde, von denen Öffentlichkeit und Forschung wenig wissen, ist der Cult of AW. Er geht auf Alerik of Winton* zurück, eine Gestalt, deren historischer Status lange so zweifelhaft war wie die Existenz des Yeti. Allerdings änderte sich dies in den letzten Jahren. Vor allem neue Zuordnungen von Manuskripten durch die computergestützte Textanalyse sowie die Fortschritte bei der Entzifferung von Palimpsesten** sind dafür verantwortlich, dass Alerik in den letzten Jahren mehr und mehr aus dem Kreis der Mythologie heraustritt und zur historischen Person wird. Da die Anhänger Aleriks zu keiner Zeit öffentliche Aufmerksamkeit suchten, ist über den Kult selbst bedauerlicher Weise noch weniger bekannt, als über seinen Ahnherrn. Für ihre Zurückhaltung in der Öffentlichkeit haben die Anhänger Aleriks allerdings auch einen guten Grund, denn, selbst vorsichtig ausgedrückt, scheint Alerik von wirklichem seherischen Talent beseelt gewesen zu sein, sodass er ein Erbe hinterließ, das seinesgleichen sucht. Tatsächlich enthalten viele der mit neuesten Analysemethoden nun Alerik zugeschriebenen Handschriften*** nämlich verblüffend exakte Voraussagen kommender Ereignisse. Neben dem Einfall der ›Normannen‹ in Britannien (1066), dem Ausbruch des Krakatau im Jahr 1883**** sowie * | Winton ist einer der alten Namen der ehemaligen englischen Hauptstadt Winchester. Seit der Eisenzeit besiedelt, war Winton/Winchester bereits im Mittelalter ein bedeutendes Handelszentrum. **  |  Dass Pergamente gereinigt und wieder beschrieben wurden, war vor der industriellen Fertigung von Papier gängige Praxis. Durch die Fluoreszenzfotografie lassen sich viele ältere Textschichten heute wieder sichtbar machen. ***  |  Oft handelt es sich dabei um Fragmente, Notizen, beziehungsweise Bruchstücke von oder Vorarbeiten zu längeren Texten. **** | Der Ausbruch des indonesischen Vulkans im 19. Jahrhundert wird wegen seiner weltweiten Folgen oft als das erste globale (Natur-)Ereignis der Neuzeit bezeich-

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

den beiden Weltkriegen mit ihrem jeweiligen Ausgang, sind der Forschung trotz der Geheimniskrämerei des Kults inzwischen sogar eine Reihe von Behauptungen bekannt, die sich auf unsere Zeit oder die nähere Zukunft beziehen.* Bemerkenswert ist dabei, dass sich der frühmittelalterliche Autor keiner der unter ›Propheten‹ sonst üblichen Techniken zur Erhöhung der Treffsicherheit seiner Voraussagen bedient. Seine Aussagen sind frei von der Vagheit, die ›Prophezeiungen‹ sonst auszeichnet; manchmal legt er sich sogar zeitlich präzise fest. Da die Manuskripte und Textfragmente mit heutigen Verfahren gut zu datieren sind, ist auch eine nachträgliche Neuzuordnung oder die ›Anpassung‹ von Vorhersagen an die Ereignisse – beides gern gewählte Mittel der Anhänger selbst ernannter ›Propheten‹ – so gut wie ausgeschlossen. Und sogar das zu allen Zeiten beliebte Mittel ›Masse statt Klasse‹ tritt bei Alerik in den Hintergrund. Anstatt darauf zu vertrauen, dass unter Tausenden von Vorhersagen schon aus Zufall einige richtig sind, sind alle bis heute allgemein bekannten Textfragmente von erstaunlicher Treffsicherheit. Kurz: im Vergleich mit Alerik war das delphische Orakel ein Ort pompöser Verneblung und Nostradamus** mit seinen ›Jahrbüchern‹ nicht mehr als ein begnadeter Amateur. net; die Asche verteilte sich in der oberen Atmosphäre rund um die Welt und senkte die Durchschnittstemperatur auch im Norden auf Jahre hinaus; die Ausläufer der Flutwelle vom anderen Ende der Welt konnten ebenfalls noch in Europa gemessen werden; und selbst die Explosionsgeräusche waren Tausende von Kilometern weit zu hören, von Australien bis Mauritius.

* | Zu den ›Prophezeiungen‹, die bisher nicht oder nur zum Teil eingetroffen sind, gehören unter anderem Behauptungen über die Entwicklung der maschinellen Intelligenz (Alerik of Winton. The Extant Remains. Transl. from the Ancient Cornish by C. Rapp. Oxford, 2013; Frag. 101; ein trotz seines jungen Erscheinungsdatums wundersamerweise schwer erhältliches Werk), die Nanotechnik (Frag. 42), und den Aufbruch ins All (Frag. 69). Eher auf seine eigene Situation dagegen scheint einer seiner bekanntesten Äußerungen zugeschnitten zu sein: ›… the Arrow turn[s] [c.] to the Bowe. History [must?] confront its shadow.‹ (Frag. 1002). Trotz einiger Auslassungen durch den Verfall des Textes, die in der englischen Version durch ein ›c.‹ für ›corrupted‹ gekennzeichnet sind, erschließt sich der Sinn in den meisten Fällen mit hinreichender Deutlichkeit. ** | Eigentlich Michel de Nostredame (1503-1566). – Der historische Merlin (Myrddin Wyllt) dagegen (ein walisischer Barde und ›Prophet‹ des 6. Jahrhunderts, der Geoffrey of Monmouth als Vorlage für seine fiktionale Figur diente), muss die Prophezeiungen Aleriks wohl wenigstens zum Teil gekannt haben; s. dazu Geoffrey of Monmouth. The History of the Kings of Britain [De Gestis Britonum]. Woodbridge, 2009; Das Leben des Zauberers Merlin [Vita Merlini]. Amsterdam, 1978; für spätere Ausarbeitungen s. Ro-

1.11 Die Kraf t der ›Beweise‹

Obwohl die Voraussagen Aleriks großenteils in Cornish, einem keltischen Dialekt, verfasst sind, bereitet die Übersetzung der neueren Forschung kaum Probleme. Anders als der Versuch, zu einigermaßen haltbaren Aussagen über die Anhänger des Geheimbunds zu gelangen, der sich auf Aleriks Vorhersagen beruft. Einzig die Vermutung, dass seine Mitglieder im Besitz weiterer Vorhersagen sein müssen als der modernen Forschung bisher zugänglich sind, lässt sich mit einiger Sicherheit aufstellen. Denn mit ihrem Wissen waren sie über einige Großereignisse der Menschheitsgeschichte im Voraus so gut informiert, dass sie gezielt und wohl nicht zu ihrem Nachteil in den Lauf des Geschehens eingreifen konnten.* Dennoch ist es bis heute nicht gelungen, einflussreichen Entscheidern oder vermögenden Einzelpersonen ihre Verbindung zum Cult of AW auch nur in einem einzigen Fall zweifelsfrei nachzuweisen. Und auch gelegentliche Hinweise auf den Cult in der Popkultur haben die allgemeine Geheimhaltung bisher nicht ernsthaft in Gefahr gebracht;** auch wenn sie vielleicht dafür sorgten, dass die Existenz dieser verschwiegenen Truppe nie ganz in Vergessenheit geriet. bert de Boron. Die Geschichte des Heiligen Gral [Le roman du Saint Graal]. Stuttgart, 1979; Sir Thomas Malory. Le Morte d’Arthur, or The Hole Book of Kyng Arthur and of his Noble Knythes of the Round Table. New York, 2004.

* | Als weitgehend gesichert gilt, dass die frühen Zusammenkünfte des Kults an einem Ort in Südengland stattfanden, der inzwischen ein Fixpunkt der Esoterik-Szene ist und an dem die mythologische Überlieferung schon von alters her einen Ort geheimer Macht vermutet. Der ›Tor‹ von Glastonbury, ein eindrucksvoller Hügel in der Mitte der Summerland Meadows, ist auch heute noch von sieben gewaltigen Terrassenringen umgeben, für die weder die historische noch die archäologische Forschung bisher einen erkennbaren Zweck ausmachen kann (der Sage nach symbolisieren diese Ringe die ›sieben Kreise der Weisheit‹). Fest steht auch, dass die häufigen Luftspiegelungen über der einstigen Sumpfebene, aus der sich der Tor erhebt, der ›Fata Morgana‹ ihren Namen gaben (nach der landläufig ebenfalls mit diesem Ort verbundenen Sagengestalt Morgan le Fey). **  |  Der bekannteste in jüngerer Zeit ist vermutlich die Hommage Son of Alerik (1984) der britischen Band Deep Purple. Es dürfte kein Zufall sein, dass das Stück keinen Text enthält (denn was lässt sich über einen derart im Verborgenen wirkenden Kult auch sagen?) und auch nicht, dass der Song in seiner Studioversion genau 10 Minuten und 2 Sekunden läuft (10:02); schließlich gehört das Fragment 1002 (s.o.) zu den bekannteren und rätselhaftesten Bemerkungen Aleriks. Vermutlich stießen Deep Purple bei den Recherchen zu ihrem zweiten Album auf das Thema. Es ist vom Mystizismus des walisischen Book of Taliesyn inspiriert und kam auch unter diesem Namen auf den Markt.

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1.12 Theoretische Sparsamkeit

Das Vermögen, umfassende Erklärungen von hoher Stimmigkeit zu generieren, verhindert die Anwendung eines naheliegenden Prinzips des Theorienvergleichs auf die Diskussion um die Validität von Verschwörungstheorien. Die Rede ist vom ›Sparsamkeitsprinzip‹. Es wird oft William von Ockham, einem Denker des 13. Jahrhunderts, zugeschrieben und es legt uns nahe, unsere Theorien nicht mit mehr Annahmen, Grundsätzen und Gegenständen zu bevölkern, als zur Erklärung der Ereignisse unbedingt erforderlich sind. Für den direkten Vergleich verschiedener Erklärungsmodelle bedeutet das: von zwei Theorien, die denselben Phänomenbestand erklären, ist (nach ›Ockham‹) diejenige vorzuziehen, die eine geringere Menge an Annahmen benötigt, beziehungsweise mit derselben Menge von Annahmen die größere Erklärungsleistung erreicht. Das Sparsamkeitsprinzip bringt also in knapper Form die wichtige Intuition auf den Punkt, dass weniger in der Theoriebildung oft mehr ist. Dabei zeigt sich, dass wir, wenn wir bei der Analyse von Verschwörungstheorien dieser Intuition bedenkenlos vertrauen, weil sie uns in vielen anderen theoretischen Kontexten gute Dienste leistet, in eine Denkfalle laufen. Denn im direkten Vergleich wird eine Verschwörungstheorie immer die ›einfachere‹ Theorie sein, weil sie nur ein einziges Prinzip benötigt, um alle Ereignisse schlüssig zu ›erklären‹ (nämlich nur die Annahme einer Gruppe von mächtigen Personen, die im Verborgenen den Lauf der Ereignisse bestimmt). Dennoch ist in diesem Fall die kompliziertere Theorie eben oft die ›bessere‹. Ockhams Direktive auch bei der Entscheidung über die Validität von Verschwörungstheorien zu folgen, würde dagegen zu dem bizarren Ergebnis führen, Verschwörungstheorien in jedem Fall den Vorzug vor der offiziellen Version zu geben. Zwar gilt, dass jede Theorie Vereinfachungen vornehmen und Einzelfallbetrachtungen ausblenden muss, damit sie den Datenbestand überhaupt in

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

einem Modell abbilden kann, doch schießen Verschwörungstheorien – ähnlich wie religiöse ›Erklärungen‹ – dabei eben deutlich über das Ziel hinaus. In ihrem Bestreben, die Welt aus nur einem einzigen Prinzip zu erklären, vereinfachen sie so stark, dass ihre Behauptungen allein schon aus diesem Grund oft zweifelhaft erscheinen. Die Beschäftigung mit Verschwörungstheorien macht an dieser Stelle deutlich, dass eine wichtige Randbedingung des in der Wissenschaftstheorie so beliebten Sparsamkeitsprinzips die Forderung sein muss: ›Misstraue jeder Idee, die alles aus einem einzigen Prinzip erklärt‹.

≡ N o smoking be yond this point ! Flieger, Zug und Taxi; Ämter, Behörden und Bars: Rauchen verboten! Was steckt dahinter? Vordergründig ist die Antwort klar: sie sorgen sich um unser Wohl. Doch Gesundheitsminister und -ministerinnen mühten sich lange vergeblich, uns mit launigen Packungsaufdrucken von unserem eigenen Wohl zu überzeugen: wer vom Zigarettenkonsum nicht gleich impotent wurde, wem bei seinen Raucherbekannten nicht Scharen behinderter Kinder entgegenwuselten, der konnte über die Behördenpoesie nur lachen. Deshalb also helfen nur Verbote (wobei sie hier durchaus auf die tatkräftige Hilfe der Bevölkerung und das Blockwart-Gen zählen können: pöbeln, denunzieren, vor Gericht zerren). Soweit die offizielle Story. Und gruselig genug. Doch ihr eigentlicher Plan ist weitaus finsterer. Er hat zu tun mit dem leicht rückläufigen Umsatz harter Drogen in Europa* und mit einer Alterssicherung, die absehbar aus dem Ruder läuft. Erstens: wer dem Nikotin verfallen ist, hat nachweislich weniger übrig für illegale Substanzen.** Zweitens: obwohl die Nikotinfreunde ihrer Gesundheit nichts Gutes tun, treten sie doch immer noch viel zu spät ab. Manche belasten noch fast unglaubliche vierzig Jahre lang die Rentenkasse. Deutlich schneller geht es mit ›harten‹ Drogen. Und wie so oft, macht es auch hier der richtige ›Mix‹. Mit ein paar Beimengungen aus ihren Geheimlaboren können sie inzwischen (nach gewissen * | Vgl. hierzu die umfangreiche Studie von T. Grey und A. Rayle. Drugs: Factoring the ROI. Birmingham und London, 2003. Bes. Abschnitte 2f. ** | Statistisches Handbuch der interdependenten pathologischen Suchtformen. Hg. von der Klinischen Vereinigung zur Evaluierung präventiver Maßnahmen im Gesundheitswesen (KVEMG). Frankfurt, 1994. Für einen schnellen Überblick s. die Kurzzusammenfassung der Ergebnisse, S. 788-859.

1.12 Theoretische Sparsamkeit

Anlaufschwierigkeiten) die Konsumenten ziemlich genau dann abtreten lassen, wenn diese ihre ökonomische Schuldigkeit getan haben* – und das heißt eben auch: bevor sie die Rentenkasse belasten. ›Die Renten sind sicher!‹ Dieser schöne Spruch aus dem Poesiealbum der deutschen Politik dürfte also vielleicht bald sogar stimmen… Angenehmer Nebeneffekt: wer regelmäßig harte Drogen braucht und deshalb bereits aktenkundig und vorbestraft ist, lässt sich allein schon deshalb besser steuern und unter Druck setzen. Schließlich bleiben die Substanzen aus dem Giftschrank ja auch weiterhin illegal. Und es gibt noch einen weiteren, ebenfalls hoch willkommenen Zusatznutzen: gegen die in diesem Umfeld üblichen Gewinnmargen sind die Einnahmen aus der Tabaksteuer ›Peanuts‹. Das also ist die Wahrheit hinter ihrem Kreuzzug gegen die Raucher. Klingt weit hergeholt? Nicht viel weiter als es einst die Vorstellung war, dass Leute absichtlich Flugzeuge in Hochhäuser steuern. Und natürlich stellt sich auch die Frage, warum sie seit Jahrzehnten Krieg führen lassen im Goldenen Halbmond. Oder weshalb sie immer noch große Mengen an ›Entwicklungshilfe‹ gezielt in andere Erzeugerländer leiten** – und dies sogar gegen einen anschwellenden Protest aus eben diesen Ländern selbst. Die Antwort ist klar: weil sie sicherstellen müssen, dass die Produktion reibungslos läuft und in der heimischen Versorgung keine Lücken entstehen. Und schließlich und am offensichtlichsten: wie anders lässt sich der lautstarke Gleichmut erklären, mit dem sie die gewaltigen Fehlbeträge der Rentenkasse in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ignorieren? Denn außer Lippenbekenntnissen und ausgefeilten Modellen zur noch eleganteren Abschöpfung des Bürgers (Stichwort: ›Private Altersvorsorge‹) hat sich hier in den letzten Jahrzehnten so gut wie nichts getan.

* | Die aus der aktuellen medizinischen Diskussion bekannte Abkürzung QALY (Qualitatively Adjusted Life Years), erfährt in diesem Zusammenhang eine ganz eigene Zuspitzung. In der offiziellen Medizin geht es um die Abwägung der Qualität der zusätzlichen Lebenszeit gegen die Kosten einer medizinischen Maßnahme. Liegt das Verhältnis unter einem Grenzwert, wird auf die Maßnahme verzichtet. Anders in unserem Zusammenhang. Denn hier wird noch sehr viel konsequenter nach ökonomischen Gesichtspunkten entschieden und verfahren; sobald der Nutzen von Menschen, d.h. ihr positiver Beitrag zum BSP, unter die Kosten fällt, die sie verursachen, werden sie aktiv eliminiert.

** | S. dazu abermals Grey und Rayle 2003, S. 42ff.

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1.13 Zwischenfazit

Es wird Zeit für ein kurzes Zwischenfazit. Erstens: die Grundlage von Verschwörungstheorien ist ein vormodernes Weltbild. Ihr Anspruch, absolute und letztgültige Antworten auf die Fragen der Welt zu geben, ist eine Vorstellung, die schon seit einiger Zeit in den Archiven der Ideengeschichte Staub ansetzt. Weil sich die psychologische Sehnsucht nach dem Absoluten aber von den theoretischen Überlegungen der Philosophie nur bedingt beeindrucken lässt, entfalten Theorien, die letztgültige Antworten versprechen, auch heute noch ihre Anziehungskraft – besonders dann, wenn sie komplexe Zusammenhänge aus schlichten Grundsätzen erklären. 40 Zweitens: meistens betreiben Verschwörungstheorien einigen Aufwand, um die Normen der wissenschaftlichen Argumentation dem Anschein nach zu erfüllen. So ›begründen‹ sie ihre Zweifel, ›belegen‹ ihre Behauptungen und halten sich an die Regeln der Logik. Darüber hinaus bemühen sie sich, mit ihren Erklärungen nicht über unser modernes Weltbild hinaus zu gehen, das jedem Ereignis (außerhalb der Quantenphysik) eine Ursache zuschreibt. Verschwörungstheorien bedienen, drittens, ein menschliches Grundbedürfnis, das weder Alltagstheorien noch wissenschaftliche Erklärungsmodelle hinreichend abdecken. Sie liefern einfache und umfassende ›Erklärungen‹ und teilen die Welt klar in Gut und Böse. Damit erzeugen sie bei ihren Anhängern die Illusion, die Vorgänge in ihrer Umgebung seien zu verstehen und geben ihnen das Gefühl, ansonsten unverständliche Ereignisse ließen sich in einen Sinnzusammenhang einordnen. Beides hilft bei der Lebensbewältigung. Darüber hinaus können diejenigen, die die Ursache für die Dinge, die ihnen zustoßen, in einer Verschwörung sehen, sich selbst mit gutem Gewissen aus der Verantwortung für ›ihre‹ Entscheidungen und Handlungen und deren Folgen entlassen. Zwar unter-

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

gräbt die verschwörungstheoretische Interpretation der Welt auf die Dauer die Urteilskraft, sodass eine erfolgreiche Interaktion mit der eigenen Umgebung zunehmend schwieriger wird; doch ist dies aus Sicht der Anhänger von Verschwörungstheorien vermutlich ein geringer Preis dafür, dass sie einer einfachen und absolut sicheren Erklärung einer komplizierten Wirklichkeit anhängen, einer Erklärung, die ihnen Orientierung gibt und sie weitgehend von der Verantwortung für das eigene Leben befreit. Und schließlich, viertens, gibt es neben der inhaltlichen Grundbehauptung auch wenigstens ein formales Merkmal, das Verschwörungstheorien recht sicher von den meisten anderen Theorien über die Welt unterscheidet, nämlich ihr selektiver Kohärentismus. Unglücklicherweise stehen sie mit diesem Merkmal jedoch nicht allein. Selbst völlig seriöse wissenschaftliche Disziplinen (wie etwa die Mathematik) können kohärentistisch angelegt sein. Deshalb reicht es zur eindeutigen Identifizierung von Verschwörungstheorien nicht aus, darauf hinzuweisen, dass ihre Anhänger Behauptungen allein deshalb für ›wahr‹ halten, weil sie sich ohne Brüche und Widersprüche in ihre Theorie einfügen und hier außerdem jede ernsthafte Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der Erfahrungswelt entfällt.

≡ ›C hallenger ‹ 28. Januar 1986, 16:38:00. Die Triebwerke zünden. Majestätisch hebt sich die Challenger für ihre zehnte Mission im All von der Rampe in Cape Canaveral, gewinnt an Höhe – und explodiert eine gute Minute nach dem Start in einem gigantischen Feuerball. Wrackteile fallen noch eine gefühlte Ewigkeit aus dem tiefen Blau in 15 Kilometern Höhe zur Erde oder versinken in den Fluten vor der Küste. Offizielles Missionsziel der siebenköpfigen Besatzung war das Aussetzen eines Kommunikationssatelliten (TDRS-2). Nach eingehender Untersuchung kommt eine – hier anders als im Fall der Türme zeitnah eingesetzte – Kommission zu dem Schluss, ein Bauteil für ein paar Euro sei Ursache für die dramatische Explosion eines der teuersten Transportmittel gewesen, das die Menschheit je gebaut hat. Für wie dumm halten sie uns? Wollen sie uns ernsthaft verkaufen, der Defekt in einem billigen Dichtungsring sei Ursache des Höhenfeuerwerks gewesen? Bei einem System, bei dem es dem durchschnittlichen Steuerzahler schon schwer fällt, die Zehnerstellen des Kaufpreises auf Anhieb zu überblicken? Lächerlich!

1.13 Zwischenfazit

Viel naheliegender ist dagegen eine andere Version. Die Raumfähre war vollgestopft mit geheimer Militärtechnik, die helfen sollte, beliebige Ziele auf der Erde aus dem All zu vernichten. Nur waren einige der Komponenten des Systems eben hochexplosiv und überstanden die enormen Beschleunigungskräfte beim Start nicht so gut. Daher die farbenfrohe Explosion. Beweise? Es fängt schon beim Namen der Raumfähre an: Challenger, zu deutsch: Herausforderer. Wer sollte denn hier herausgefordert werden, wenn nicht der Gegner im zu dieser Zeit noch sehr lebendigen Kalten Krieg? Weiter geht es mit der offiziellen Katalognummer der Mission: STS-51-L. ›51‹?! – Wie in ›Area 51‹, dem sagenumwobenen Geheimlabor für die Technik von Übermorgen, das das US-Militär in der Wüste von Nevada betreibt; und ›L‹ wie in Laser(technik). Denn wir erinnern uns: der Schauspieler und 40. Präsident der Vereinigten Staaten, Ronald R., war damals gerade dabei, in Anlehnung an George Lucas’ Kino-Epos, sein eigenes ›Star Wars‹-Programm umzusetzen.* Seine Version der Laserschwerter von Obi-Wan und Yoda waren Satellitenplattformen, die mit Hochenergie-Lasern jede feindliche Rakete schon beim Start abschießen können. Dies war, nebenbei bemerkt, derselbe Präsident, der seinen Landsleuten zwei Jahre zuvor in bester Darth-Vader-Diktion erklärt hatte: »Erfreut teile ich Ihnen heute mit, dass ich Gesetze unterschrieben habe, die Russland auf ewig für vogelfrei erklären. In fünf Minuten beginnen wir mit der Bombardierung.«**

*  |  Der offizielle Name des geplanten ›Verteidigungssystems‹ im Weltall war SDI (Strategic Defense Initiative); die öffentliche Diskussion brachte diese sperrige Bezeichnung aber schnell auf die Formel vom ›Krieg der Sterne‹. ** | »My fellow Americans, I am pleased to tell you today that I’ve signed legislation that will outlaw Russia forever. We begin bombing in five minutes«, so Ronald Reagan am 13. August 1984. Zwar war dies offiziell eine Mikrophonprobe, allerdings war der markige Spruch wohl von Anfang an für die Ohren der breiten Öffentlichkeit bestimmt… What a man!

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Ich bin überzeugt, dass Menschen, sobald sie äußerst sicher und überheblich auftreten, für gewöhnlich schwer im Irrtum sind und sich ihren Affekten überlassen haben, ohne die angemessene Vorsicht und den Zweifel, die allein sie vor den schlimmsten Widersinnigkeiten bewahren können. David Hume, 1751

Lebe nach den Foma [harmlosen Unwahrheiten], die dich mutig und milde und gesund und glücklich machen. The Book of Bokonon I:5. K urt Vonnegut, 1963

Teil II

2.1 Nutzen und Motive

Echte Verschwörungen sind ein »typisches soziales Phänomen«, wie der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper feststellt, 41 und Verschwörungstheorien sind »eine historische Konstante«. 42 Schon der Renaissancegelehrte Niccolò Machiavelli widmete der Verschwörung in seinem klassischen Politikratgeber, den Discorsi, ein eigenes Kapitel. 43 Seine Einschätzung, dass es »großer Klugheit und besonderen Glücks bedarf, wenn eine Verschwörung nicht herauskommen soll« 44, traf im 16. Jahrhundert nicht weniger zu, als sie heute richtig ist. Die Gründe, die Machiavelli für seine Behauptung anführt, haben sich schließlich kaum geändert. Verschwörungen sind nach wie vor »ein sehr verwegenes Unterfangen […] gefahrvoll und schwierig«, 45 »man läuft Gefahr bei der Anstiftung, während der Ausführung und nach ihr«. 46 Auch seine Begründung, vor der »Bosheit« von Konkurrenten, vor »Unvorsichtigkeit« oder »Leichtsinn«, die zur Aufdeckung einer Verschwörung führen, »[könne] man sich nicht schützen, sobald die Zahl der Mitwisser drei oder vier übersteigt« 47, trifft auch heute noch den Kern der Sache. Über kurz oder lang kommen, so meint er deshalb, die meisten echten Verschwörungen zwangsläufig ans Licht. 48 Wenn dies zutrifft – und die Erfahrung scheint dafür zu sprechen, dass jedenfalls ein großer Kreis von Mitwissern und ein weiter Zeitrahmen gegen eine langfristige Geheimhaltung arbeiten –, so bedeutet dies im Umkehrschluss: eine andauernde (angebliche) ›Geheimhaltung‹ ist wenigstens bei denjenigen Verschwörungen, die die ganze Welt umspannen oder durch die Jahrhunderte reichen sollen, ein Indiz dafür, dass diese vor allem in der Einbildung existieren. Verschwörungstheoretiker lassen sich davon aber nicht beeindrucken, denn sie sind schließlich der festen Überzeugung, den Verschwörern bereits auf der Spur zu sein, und fehlende Beweise bestärken sie, wie wir gesehen haben, eher in ihrem Glauben, als dass sie ihn erschüttern.

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Als mögliche Motive für eine Verschwörung identifiziert Machiavelli vor allem drei: das Bedürfnis nach Rache, das Streben nach Freiheit und die Gier nach Macht. Damit lenkt er den Blick auf eine weitere Frage, die bei der Einschätzung der Plausibilität einer verschwörungstheoretischen Deutung der Ereignisse helfen kann, nämlich auf die Frage danach, wer einen Nutzen von der behaupteten Verschwörung hat. Diese Frage ist mehrdeutig, denn, wie bereits deutlich wurde, nützt die Annahme einer Verschwörung einerseits dem Einzelnen, der hofft, sich dadurch in einer unübersichtlichen Wirklichkeit besser zurechtzufinden, oder meint, damit endlich die Gründe für das Unrecht, das im widerfährt, zu kennen. Da dieser Aspekt bei vielen Verschwörungstheorien im Vordergrund steht, kann dies leicht überdecken, dass auch diejenigen, die konspirativ gegen die Interessen der Allgemeinheit vorgehen, einen nachvollziehbaren Nutzen aus ihrem Tun ziehen müssen – andernfalls verliert die Annahme einer Verschwörung schon zu Anfang viel von ihrer Überzeugungskraft. Wenig überraschend ist diese Seite der Frage tatsächlich oft die grundlegendere, wenn es um die Einschätzung geht, wie wahrscheinlich eine verschwörungstheoretische Interpretation der Ereignisse ist. Denn je nachdem, wie überzeugend dargestellt werden kann, dass Menschen einen größeren Nutzen daraus ziehen, mit einigem Aufwand im Verborgenen zu agieren, als in aller Öffentlichkeit ihre Ziele zu verfolgen, erscheint die Annahme, bestimmte Ereignisse seien Folgen einer Verschwörung, mehr oder weniger plausibel. So steht und fällt beispielsweise die Überzeugungskraft der verschiedenen Verschwörungsszenarien, die sich um das tödliche Attentat auf den 35. amerikanischen Präsidenten in Dallas ranken, auch damit, wie überzeugend sich der Nutzen für die Hintermänner darstellen lässt. Weitgehende Einigkeit besteht zwar darüber, dass der Schütze tatsächlich Lee Harvey Oswald war, der in der offiziellen Version als der alleinige Attentäter präsentiert wurde. Bis heute gibt es jedoch viele, die meinen, er habe am 22. November 1963 nicht auf eigene Rechnung oder nicht allein gehandelt. Und tatsächlich lassen sich einige Kandidaten ausmachen, denen ein Wechsel im Weißen Haus sehr entgegenkam. So weckte J.F. Kennedys Meinungsumschwung in der Vietnamfrage und seine Absicht, bis Ende 1965 das amerikanische Engagement dort weitgehend zu beenden (nachdem er zunächst die amerikanische Truppenpräsenz noch deutlich verstärkt hatte) weder bei der heimischen Rüstungsindustrie noch beim militärischen Apparat ungeteilte Freude. Einige Verschwörungstheoretiker glauben deshalb, dies sei das Umfeld, in dem die Auf-

2.1 Nut zen und Motive

traggeber Oswalds gesucht werden müssen. Um ihrem Verdacht zusätzliche Überzeugungskraft zu verleihen, weisen sie gern darauf hin, dass der nachgerückte Vizepräsident Lyndon B. Johnson umgehend Kennedys Weisung für den Rückzug aus Vietnam zurücknahm. Neben der heimischen Rüstungsindustrie und der Militärbürokratie kommt, wenn man fragt, für wen ein Präsidentenwechsel Vorteile gebracht hätte, auch die amerikanische Mafia als Auftraggeberin infrage. Ihr Interesse daran, die Kennedy-Regierung durch eine spektakuläre Aktion zu destabilisieren, hat schon deshalb eine gewisse Anfangsplausibilität, weil Robert Kennedy, Justizminister unter seinem Bruder John Fitzgerald, zu dieser Zeit gerade begonnen hatte, das erste Mal seit langer Zeit die Staatsmacht ernsthaft gegen das organisierte Verbrechen in Stellung zu bringen. Bis heute hat auch diese Variante ihre Fangemeinde. Nicht rundweg von der Hand zu weisen ist weiterhin die Behauptung, Auftraggeber Oswalds sei der russische Geheimdienst gewesen. Ein starkes Interesse am Zusammenbruch des kapitalistischen Erzfeindes hatte Russland zweifelsohne, denn es ging auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges schließlich um nicht weniger als darum, die absolute Überlegenheit des eigenen Systems zu beweisen. Hier passt es gut, dass Lee Harvey Oswald Kommunist mit Kontakten nach Moskau war. Eher bizarr ist zwar die durchaus ernsthaft vorgebrachte These, dass der ›kommunistische Agent J.F. Kennedy‹ Amerika nicht schnell genug für die kommunistische Übernahme vorbereitete und deshalb beseitigt werden musste, 49 aber die Missstimmungen zwischen Amerika und der Sowjetunion im direkten Gefolge der Kuba-Krise von 1962 (in der Moskau auf die amerikanische Seeblockade Kubas hin einlenkte und seine Mittelstreckenraketen von dort wieder abzog), bietet hinreichend Stoff für weniger abseitige Spekulationen in dieser Richtung. Ein Motiv, die Ermordung des amerikanischen Präsidenten anzuordnen, hätte zweifellos auch der kubanische Revolutionsführer Fidel Castro gehabt: zwar war die amerikanische Invasion seines Landes, mit dem erklärten Ziel, den Maximo Líder zu stürzen, im April 1961 kläglich gescheitert; die guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern förderte diese Aktion aber nicht unbedingt. Die endgültige Zerrüttung der bilateralen Beziehungen wurde, im Nachlauf des militärischen Desasters, durch das Handelsembargo erreicht, das die Kennedy-Regierung im Februar 1962 gegen die Insel verhängte – also ebenfalls noch vor den Ereignissen in Dallas.

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Eine treue Anhängerschaft hat auch die These einer Verstrickung der amerikanischen Geheimdienste in die Ermordung des 35. Präsidenten. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache zuzuschreiben, dass FBI, CIA und Secret Service der Warren-Kommission, die zur Aufklärung des Attentats eingesetzt worden war, weiträumig Informationen vorenthielten. Anders als in den anderen Fällen, die sich tatsächlich weitgehend auf die von Machiavelli genannten Motivationen zurückführen lassen – Befriedigung von Gier, von Rachegefühlen oder das Streben nach Freiheit – liegt hier allerdings der mögliche Nutzen für die Verschwörer nicht so offen auf der Hand. Verschwörungstheoretiker hat dies nicht davon abgehalten, entsprechende Szenarien zu entwerfen.50 Die Vermittlung von neuen und ungewohnten Inhalten und Betrachtungsweisen ist immer eine Überwindung von oft erheblichen Widerständen. Dies hängt wesentlich mit der in der Psychologie und der Kognitionsforschung wohlbekannten Tatsache zusammen, dass Menschen gerne denjenigen Erklärungen Glauben schenken, die ihrem Weltbild, ihrem Vorwissen und ihren gewohnten Meinungen entgegenkommen, und andererseits an Erklärungen zweifeln, die dies nicht tun. Dies ist im Hinblick auf die Motive, die von den Anhängern einer Verschwörungstheorie hinter der Verschwörung vermutet werden, nicht anders. Wer sich Mitte des letzten Jahrhunderts von der antikommunistischen Hysterie seiner Ära anstecken ließ, wollte hinter der Ermordung des 35. amerikanische Präsidenten der USA eher kommunistische Schurken am Werk sehen (wie den russischen Geheimdienst oder die kubanischen Kommunisten). Wer davon überzeugt ist, dass auch in demokratischen Gemeinwesen die Kontrolle der Geheimdienste oft sehr unzureichend ist, oder wer die amerikanische Regierung in erster Linie als den verlängerten Arm einer großindustriellen Lobby sieht, wird dagegen den entsprechenden Alternativen den Vorzug geben. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass, wer bereits in einem Fall an eine verschwörungstheoretische Erklärung glaubt, eher bereit ist, dies auch in weiteren Fällen zu tun.51 Der Nutzen, den der Einzelne von einer Deutung beängstigender, verstörender oder einfach nur unerklärlicher Ereignisse anhand einer Verschwörungstheorie hat, steht also auch in direkter Beziehung dazu, welchen Nutzen er auf der Seite der Verschwörer sieht. Ein Ereignis, das wie das Attentat in Dallas nicht nur Amerika in einen Schockzustand versetzte, lässt sich dann am befriedigendsten in einen Sinnzusammenhang einordnen, wenn es gelingt, diejenigen finsteren Mächte dafür verantwort-

2.1 Nut zen und Motive

lich zu machen, gegen die man schon immer Vorbehalte hatte. Als Aktion eines geistig gestörten Einzeltäters jedenfalls bleibt es befremdlich, unverständlich und verstörend, mehr oder weniger ein Werk des Zufalls. Kann dagegen ein Schuldiger identifiziert und benannt werden, dann erschließen sich die Ereignisse klar nach dem Schema von Gut und Böse und dies kann für den Einzelnen den Glauben daran wieder herstellen, dass die Geschichte einem Plan folgt und einen ›Sinn‹ hat. Das gilt für die Ereignisse des 22. November 1963 nicht weniger als für die Anschläge vom 11. September 2001, die Pestepidemien des Mittelalters oder persönliche ›Schicksalsschläge‹ wie den Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund einer ›Verschwörung‹ der Kollegen oder der Chefetage. Allerdings bringt die Gewissheit, die Verantwortlichen benennen zu können, nur solange Erleichterung und Entlastung, wie der Glaube an eine Verschwörung nicht in ein zwanghaftes Bedürfnis nach ihrer Aufklärung umschlägt. Denn in diesem Fall wendet sich die ursprüngliche Entlastung und die gefühlte Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten in ihr Gegenteil, weil es nun gilt, mit aller Kraft und vollem Einsatz die absolute Herrschaft des Bösen abzuwenden. Am Ende sind überall Verschwörer am Werk und es geht schließlich auch noch der letzte Rest Vertrauen in die eigene Umgebung verloren.52

≡ E chelon Jahrzehnte lang war es nur ein Gerücht. Wer es äußerte, kam schnell in den Verdacht der Spinnerei: »Amerikanische Schnüffler betreiben zusammen mit ihren Geheimdienst-Kollegen aus Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland ein gigantisches Abhörsystem, mit dem sie weltweit alle Kommunikation überwachen, die über den Äther geht.« Inzwischen ist, nicht zuletzt durch eine Untersuchung des Europaparlaments um die Jahrtausendwende, aus dem Gerücht Gewissheit geworden:* schon vor den Enthüllungen von PRISM und ›Tempora‹ wurde unsere Telekommunikation jahrzehntelang flächendeckend ausspioniert. Bereits * | Gerhard Schmid. On the existence of a global system for the interception of private and commercial communication (ECHELON interception system). 2001; Bericht des nichtständigen Ausschusses des Europäischen Parlaments über das Abhörsystem Echelon; AS-0264/2001, einzusehen auf der Homepage des Europaparlaments (www. europaparl.europa.eu).

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seit den 1960er Jahren fingen die Schlapphüte jede elektronische Kommunikation ab, die nicht ausschließlich durch Landleitungen ging, und werteten sie aus. Ihr ›Echelon‹ genanntes System bestand aus hochempfindlichen Antennen, die unter golfballähnlichen Kuppeln über den ganzen Erdball verteilt waren. Standorte in Deutschland waren Bad Aibling in Bayern (nahe Rosenheim) und ein ehemaliger Flugplatz in der Nähe von Darmstadt. Das offizielle Ziel der Aktion war damals der Schutz der Freien Welt vor der endgültigen kommunistischen Übernahme. Inoffiziell waren die Daten, die über die Wirtschaftsbetriebe der Konkurrenz (auch in ›befreundeten‹ Staaten) und die (eigenen) Bürger im elektronischen Schleppnetz hängen blieben, wenigstens ein hochwillkommener Beifang. Mit der massiven Zunahme des Daten-Exhibitionismus im Netz und der Möglichkeit, sich mit etwas Aufwand Zugang zu sämtlichen wichtigen Zahlen und Fakten auf den oft schlampig gesicherten Servern großer Firmen und Organisationen zu verschaffen, wurde das Echelon-System gegen Ende des letzten Jahrzehnts abgeschaltet, da die frei werdenden Mittel inzwischen effizienter an anderer Stelle eingesetzt werden können, s. PRISM. Auf dem Gelände der bereits 2004 geschlossenen Echelon-Station in Bayern findet seit 2009 »in besonderer Atmosphäre« (Eigenwerbung der Veranstalter) jährlich das ›Echelon Open Air & Indoor Festival‹ statt, mit einem Schwerpunkt auf House und ElectroMusic und inzwischen mehr als 15.000 Fans. Auch eine in ihrer Erzähllogik etwas angestrengte Hollywood-Produktion* dient der nachträglichen Verharmlosung dieser bis dahin beispiellosen globalen Bespitzelung demokratischer Untertanen.

* | Echelon-Conspiracy (dt. Die Echelon Verschwörung), 2009.

2.2 Allmacht und Unfehlbarkeit

In ihrem Bestreben, die komplexe Wirklichkeit aus einem einfachen Prinzip zu erklären, das die Ereignisse in einen klaren Bedeutungs- und Bewertungskontext einordnet, verringern Verschwörungstheorien, wie schon mehrfach angesprochen, die Reibungsflächen mit der Erfahrung. Sie können sich in dieser Hinsicht auf die Einsicht berufen, dass das, was wir ›Wirklichkeit‹ nennen, zu einem großen Teil eine Funktion unseres Gehirns und damit individuell verschieden ist und es unzählige Versionen der Wirklichkeit gibt (s.o. Abschnitt 1.4). Der gleichzeitig erhobene Anspruch, ihre Theorie präsentiere letztgültige Antworten darüber, wie sich die Dinge verhalten, steht dazu offensichtlich im Widerspruch. Die Entscheidung, an verschwörungstheoretische Erklärungen zu glauben, ist aber, wie wir gesehen haben, gleichzeitig auch der Versuch, Frieden mit der Einsicht zu schließen, dass das Leben keinen tieferen Sinn hat und der Lauf der Geschichte, nach allem was wir wissen, keinem Plan folgt.53 Verschwörungstheorien reagieren auf diesen Befund mit verbindlichen Angeboten der Sinnstiftung. Sie sind daher nur eine unter mehreren Möglichkeiten: viele weltanschauliche Ideologien, die großen Religionen und heute auch die interaktiven Szenarien virtueller Umgebungen mit ihren wohlgeordneten und übersichtlichen Interpretationsumgebungen, verfolgen dasselbe Geschäftsmodell. Zwar unterscheiden sich alle diese Systeme, sofern man nur ihre Oberfläche betrachtet, erheblich voneinander, doch teilen sie auf einer tieferen Ebene ein wichtiges Strukturmerkmal: sie alle reagieren mit radikaler Vereinfachung und dem Versprechen absoluter Gewissheiten auf die existenzielle Verunsicherung des modernen Individuums. Fatalerweise werden dabei Philosophie und Wissenschaften ungewollt zu Rekrutierungshelfern solcher Ansätze, je mehr sie unserer Hoffnung auf klare Deutungen und die übergeordnete Bedeutung der Ereig-

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nisse eine Absage erteilen: »Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«.54 Schließlich sind die Antworten von Philosophie und Wissenschaften, gerade wenn sie sich mit letzten Fragen beschäftigen, ja oft nicht nur sehr vage, sondern darüber hinaus auch so kompliziert, dass sie sich dem Laien meistens kaum erschließen. Wer im Angesicht seiner Endlichkeit dem eigenen Leben und den größeren Ereignissen der Welt einen Sinn geben möchte, für den ist es deshalb durchaus attraktiv, sich bei einem Erklärungsersatz aus dem Fundus simpler Deutungsmodelle zu bedienen. Wer die Aufforderung, seinem Leben selbst eine Bedeutung geben zu müssen, als Zumutung empfindet, ist leichter dafür zu gewinnen, sich auf ideologische oder religiöse Lehren einzulassen, die ihm dies durch ihre klaren Vorgaben und Verhaltensregeln erleichtern oder ganz abnehmen – oder eben auf das Angebot, den Lauf der Geschichte und (widrige) Verstrickungen des eigenen Lebens als den Plan einer Gruppe von Personen zu deuten, die im Geheimen (und zu seinem persönlichen oder dem allgemeinen Schaden) die Geschicke der Welt manipuliert. Die Tatsache, dass Verschwörungstheorien hier in enger Nachbarschaft zu anderen Welterklärungen mit Totalitätsanspruch stehen, erklärt jedenfalls, warum die Verschwörer sowohl der eingebildeten als auch der echten Verschwörungstheorien oft mit zwei Eigenschaften ausgestattet werden, die traditionell den Göttern vorbehalten sind: Allmacht und Unfehlbarkeit. Denn in diesseitigen Erklärungen treten die Verschwörer an deren Stelle und übernehmen auch deren Aufgabe, mit letzten Wahrheiten das individuelle und auch das kollektive Identitätsbewusstsein zu stabilisieren. Nur wenn die Verschwörer mit diesen Attributen ausgestattet sind, können sie der »einigende Faktor« sein, der der Gesellschaft »einen Bedeutungsgehalt liefert und diesen mit den symbolischen Strukturen verknüpft«.55 Eine verbindliche, wenn auch negative, Definitionsmacht kommt ihnen schließlich nur dann zu, wenn sie nicht den Beschränkungen unterliegen, unter denen normale Akteure stehen.56

≡ I lluminaten Wir schreiben das Jahr 1776. An der von Jesuiten gegründeten Universität in Ingolstadt stellt sich ein Professor gegen den Mainstream: Johann Adam Weishaupt (1748-1830). Von seinem Lehrstuhl für Praktische Philosophie und Kirchenrecht

2.2 Allmacht und Unfehlbarkeit

aus versucht er, mitten unter den ebenso spitzfindigen wie reaktionären jesuitischen Glaubenskriegern, seinen Studenten die Ideale der neuen Zeit nahezubringen. Das Mittel seiner Wahl ist – ganz im Geist der Aufklärung – der Lesezirkel, sein ›Geheimer Weisheitsbund‹. So kann er seinen Studenten Ideen vermitteln, die im jesuitischen Curriculum seiner Lehranstalt nicht vorgesehen sind. Diesen Geheimzirkel erweitert Weishaupt später zum nicht weniger konspirativen ›Illuminatenorden‹, den er von Beginn an mit einem Anspruch aufbaut, der weit über den akademischen Elfenbeinturm und die Mauern der Universität hinausreicht. Denn der Illuminatenorden tritt mit der festen Absicht an, durch Unterwanderung nach und nach die Entscheiderpositionen im Land mit eigenen Leuten zu besetzen – um schließlich einen utopischen ›Vernunftstaat‹ zu errichten. Weishaupt und seine Mitverschwörer versuchen so, die Revolution gegen die absolutistische Ordnung in den Köpfen (und nicht auf dem Schlachtfeld) zu gewinnen. Mit den Mitteln der Personalpolitik wollen er und seine Anhänger die machtpolitischen Voraussetzungen für eine weiträumige Umsetzung aufklärerischer Gedanken im öffentlichen Leben schaffen. Die hochfliegenden Pläne der Illuminaten für die Erziehung und Bildung ihrer Mitmenschen mündeten dann allerdings schnell in einem Programm der ›Umerziehung‹. Dessen Mittel reichten von der gezielten Täuschung der eigenen Mitglieder und der Öffentlichkeit, über Techniken der Gehirnwäsche, bis zur totalitären Kontrolle und Methoden der Gewissenserforschung, die vom jesuitischen Gegner übernommen waren und innovativ weiterentwickelt wurden. Kurz: in der moralischen Flexibilität bei der Durchsetzung ihrer Ideale eiferten die Illuminaten den Gutmenschen, Sektierern und ›Revolutionären‹ aller Zeiten nach. Frei nach der Devise: es darf nachgeholfen werden, wenn jemand nicht mit derselben Begeisterung bei der Sache ist. Denn schließlich heiligt der gute Zweck noch jedes Mittel. Und die Illuminaten hatten Erfolg mit ihrer Masche. Sie breiteten sich rasch aus, vor allem in Bayern, Thüringen und in der Schweiz. Bei der Rekrutierung von Neumitgliedern waren sie bei ihrer Zielgruppe, den Funktionsträgern des Staates,* sogar derart erfolgreich, dass der bayrische Kurfürst Karl Theodor sich genötigt sah, 1784 ein allgemeines Verbot für alle (Geheim-)Gesellschaften zu erlassen – sofern er sie denn nicht selbst ausdrücklich genehmigte. Zwei weitere Verbote, in

* | Allerdings handelte es sich hier vor allem um die B-Prominenz, die sich von der konspirativen Vernetzung Karrierevorteile erhoffte; oder sich vielleicht auch davon einfangen ließ, dass »das vielen Versagte [i.e. das Geheimwissen des Ordens] etwas besonders Wertvolles sein müsse«, Simmel 1907, 185.

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denen die Illuminaten (und die Freimaurer)* schließlich auch explizit beim Namen genannt wurden, folgten 1785 und 1787. Dies war nötig, weil es anhaltende Gerüchte gab, dass die Illuminaten, statt ihre Sekte aufzulösen, ihre Tätigkeit nun vollständig in den Untergrund verlegt hatten. Nicht zuletzt diese Gerüchte und die wiederholten Versuche späterer Gruppen, sich als Erben der Illuminaten auszugeben, begründen deren legendären Ruf als geheime Kraft hinter verschiedenen historischen Großereignissen. Von der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika und der maßgeblichen Steuerung der Französischen Revolution, spannt sich der Bogen zur modernen Unterhaltungsliteratur, in der die Illuminaten auch für Ereignisse unserer Zeit in Haftung genommen werden. Nicht unwesentlichen Anteil an ihrer bis heute ungebrochenen Popularität haben dabei die Romantrilogie von Robert Anton Wilson und Robert Shea (Illuminatus! 1969-71) und der Bestseller von Dan Brown (Illuminati, Originaltitel: Angels and Demons, 2000), in denen die historische Genauigkeit allerdings jeweils stark hinter die dichterische Gestaltung zurücktritt. – Wobei es auf der Hand liegt, dass eine historisch belegte Sekte, der es nachweisbar gelang, das helle Licht der Aufklärung zur Energiesparfunzel zu dimmen und die im allgemeinen Bewusstsein bis heute aktiv ist, in der Tat die ideale Kulisse für jegliche Art von Verschwörungsplot abgibt.

* | Die Freimaurer traf es namentlich auch wegen der personellen Überschneidungen: etwa ein Drittel der Illuminaten scheinen gleichzeitig Mitglied bei den Freimaurern gewesen zu sein; wobei die Freimaurer sich, im Gegensatz zu den Illuminaten, ausdrücklich von jeder Politik fernzuhalten versuchten.

2.3 Die ›Rationalität‹ des Masterplans

Verschwörungstheorien liefern uns einen Masterplan, der die Ereignisse wesentlich anders deutet als die offizielle Version, oder ihnen überhaupt erst eine Bedeutung gibt und sie den Fängen des Zufalls entreißt. Um ihrem Masterplan Überzeugungskraft zu verschaffen, müssen vor allem die fiktionalen Verschwörungstheorien die Diskussion um die Rationalität von Zielen ausblenden. Denn was, beispielsweise, sollte daran vernünftig sein, dreihundert Jahre ›Mittelalter‹ zu erfinden, nur um dies dann mit großem Aufwand geheim zu halten?57 Oder daran, die Landung von Aliens (in New Mexico) zu vertuschen – wo dies doch, wie Hollywood uns ein ums andere Mal nahebringt, ein Vorbote der Entscheidungsschlacht um den Fortbestand der Menschheit ist, auf die wir uns doch wohl alle vorbereiten sollten?58 Die Tatsache, dass Verschwörungstheorien oft von einem Nachdenken über die Rationalität der Ziele (der Verschwörer) ablenken müssen, um die Plausibilität ihrer Behauptungen nicht von vornherein zu schwächen, versuchen sie geschickt durch einen besonderen Aufwand im Hinblick auf andere Aspekte der Vernunft vergessen zu machen. Sie verkürzen Rationalität auf die Fähigkeit, Mittel und Zwecke folgerichtig und effizient zusammenzubringen und versuchen, dieser Konzeption dann besonders gut zu entsprechen. Wenn man in dieser Weise zwischen den instrumentellen Aspekten der Vernunft und der Rationalität von Zwecken unterscheidet, wird zwar deutlich, wie die verschwörungstheoretische Argumentation durch die Befolgung allgemein anerkannter Methoden der wissenschaftlichen Rationalität den Anschein der Vernünftigkeit erwecken kann, ohne im Kern wirklich ›vernünftig‹ zu sein. Offen bleibt jedoch, wie Verschwörungstheorien uns mitunter derart leicht von der elementaren Frage ablenken können, ob die Absichten und Ziele, die sie den Verschwörern unterstellen, einer vernünftigen Überprüfung standhalten.

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Sehen wir uns dazu kurz den Vernunftbegriff und seine Geschichte an. Schon in der Antike galt die Vernunft als das Vermögen, das den Menschen am zuverlässigsten von anderen Tieren unterscheidet und schon in der Antike beginnt denn auch die Auseinandersetzung darüber, wie diese Fähigkeit genauer zu bestimmen sei. Da inzwischen einige Zeit vergangen ist und die Debatte kontinuierlich weitergeführt wurde, überrascht es nicht, dass die Menge unterschiedlicher Auffassungen darüber, was die Vernunft eigentlich ausmacht, heute nahezu unüberschaubar ist. Zwar gibt es einen Kernbereich, in dem weitgehend Einigkeit besteht – Vernunft ist diejenige Fähigkeit, die es uns erlaubt zu argumentieren, Schlüsse zu ziehen und zu allgemeinen und abstrakten Aussagen über die Welt zu gelangen –, doch abgesehen davon setzte noch jede Epoche hier die Akzente anders. Die moderne Wahrnehmung der Vernunft geht dabei maßgeblich auf eine wirkungsmächtige, philosophiegeschichtlich allerdings relativ junge Abhandlung aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zurück.59 Die Autoren dieser Abhandlung, die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, wollten mit ihrem Beitrag vor allem das Bewusstsein für die enorme Macht schärfen, die uns die Vernunft über die Natur verleiht. Nicht zuletzt deshalb stand für sie an erster Stelle, dass die Vernunft den Menschen befähigt, Zusammenhänge zwischen den Zielen und den Mitteln herzustellen, die er ergreifen muss, um diese Ziele zu erreichen. Entsprechend argumentieren sie, dass der Mensch vor allem deshalb, weil er Kraft seiner Vernunft in der Lage ist, Mittel-Zweck-Verhältnisse zu durchschauen und gemäß der so gewonnenen Einsichten zu handeln, bei der Manipulation seiner Umwelt so unglaublich erfolgreich ist. Diese einprägsame Behauptung, die die beiden Philosophen in ihrer Schrift Dialektik der Auf klärung kurz nach Kriegsende (1947) einem breiteren Publikum vorstellten, ist von vielen Denkern und weit über die Philosophie hinaus eifrig aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Mit dem Ergebnis, dass die Vernunft heute tatsächlich oft nur noch als die Fähigkeit der ›Methoden‹ und ›Verfahren‹ wahrgenommen wird.60 Besonders präsent ist diese Konzeption in der aktuellen ökonomischen Modellbildung – die weite Teile unseres Denkens direkt oder indirekt beeinflusst: die idealtypischen ›rationalen‹ Akteure wirtschaftswissenschaftlicher Szenarien wählen stets die effizientesten und kostengünstigsten Mittel zum Ziel, ob es nun um Konsumentscheidungen oder die Befriedigung ihrer sonstigen Bedürfnisse geht. Und auch die ›Optimierung‹ ökono-

2.3 Die ›Rationalität‹ des Masterplans

mischer Prozesse läuft letztlich immer auf die Suche nach dem effizientesten Einsatz der zur Verfügung stehenden Ressourcen und die Minimierung von Umwegen und Ausschuss hinaus. Die Zufriedenheit der Akteure mit ihren Verhältnissen und die Sinnfrage dagegen spielen in solchen Modellen keine Rolle. Adorno und Horkheimer entwickelten ihre These entlang des griechischen Odysseus-Mythos, weil sie in dem antiken Helden bereits den Prototyp des modernen Menschen erkannten: schließlich erreichte Odysseus seine Ziele vor allem durch Triebverzicht und -umleitung sowie durch Überlegung, und handelte, gemäß der Bestimmung des Rationalen als des Rationellen, deshalb hochgradig ›vernünftig‹. Sein überlegtes Verhalten, das ihn in der griechischen Mythologie noch weit über seine ›triebgesteuerten‹ Mitmenschen erhebt, ist allerdings, und das ist der Kerngedanke der Analyse, bereits damals nicht unproblematisch. Und in der Neuzeit, so argumentieren Adorno und Horkheimer, führt die Fixierung auf ›Effizienz‹ dann direkt zum industriell organisierten Massenmord in den Gaskammern und zur totalen ökonomischen Verwertung des Menschen. Sie ziehen deshalb eine direkte Linie vom Vernunftglauben der antiken und später der neuzeitlichen ›Aufklärung‹ zum nationalsozialistischen Genozid und lasten die Verwerfungen unserer Lebenswelt pauschal der Vernunft an.61 Richtig an dieser Überlegung ist: eine Vernunft, die ausschließlich Mittel in Beziehung zu Zwecken setzt, eine Vernunft, die stets nach wirkungsvolleren Methoden und effizienteren Verfahren zur Verwirklichung vorgegebener Zwecke sucht und dabei alles andere aus den Augen verliert, ebnet den Weg in den Abgrund. Dieser Gedanke bedarf heute, wo die Auswirkungen des zweckrationalen Umgangs mit unserer Natur immer deutlicher zu Tage treten, kaum mehr der Begründung; die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen im Namen von Wachstum und Wohlstand, der zynische Einsatz von ›Humankapital‹ in der Wertschöpfungskette, oder auch die Entwicklung von technischen Geräten zur immer ›effizienteren‹ Kriegsführung sprechen für sich. Fragwürdig ist das Pauschalurteil der beiden Denker. Denn gerade die ›Aufklärung‹ des 17. und 18. Jahrhunderts sah in der Vernunft immer schon mehr, als nur ein Mittel ›kostengünstig‹ zum Ziel zu kommen und die großen Philosophen jener Zeit verbanden ihre Forderung nach mehr (und nicht nach weniger) ›Vernunft‹ unauflöslich mit der Aufforderung, die Ziele selbst einer ›vernünftigen‹ Prüfung zu unterziehen.

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Von Adorno und Horkheimer in den Vordergrund gestellt und desavouiert, von den Ökonomen und vielen anderen dagegen positiv aufgegriffen, dominiert die Bestimmung der Vernunft als instrumentelles Vermögen heute jedenfalls die Diskussion auf breiter Front. Und dies ist wohl tatsächlich der Hauptgrund dafür, dass es Verschwörungstheorien so leicht gelingt, von der oft geringen Plausibilität der Ziele abzulenken, die sie den Verschwörern unterstellen. So bedarf es heute erst der Erinnerung an das umfassendere Vernunftideal der Aufklärung, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass die Zwecke, welche unsere Vernunft uns zu verwirklichen hilft, weder beliebig sind noch außerhalb der vernünftigen Bewertung stehen. Für die Einschätzung von Verschwörungstheorien bedeutet das: erst wenn auch die von ihnen behaupteten Ziele oder Zwecke der Verschwörer einer rationalen Kritik standhalten, können die ›Beobachtungen‹, Zitate und sonstige ›Belege‹, die sie mit großem Aufwand und meistens logisch korrekt und vermeintlich ›rational‹ präsentieren, die Überzeugungskraft der Theorie steigern. Wenn es um die Vernunft und um die Vernünftigkeit von Theorien geht, ist zudem noch ein weiterer Gedanke erwähnenswert. Schließlich hat nichts den Glauben daran, dass die Welt und unser Leben einen tieferen Sinn haben, mehr erschüttert als die Entzauberung der Natur im Zeichen des Mittel-Zweck-Denkens. Wenn unsere Wissenschaften uns darüber informieren, dass der Mensch und die ganze belebte Natur nur eine Ansammlung chemischer Elemente ist, zusammengesetzt nach einem Bauplan, der entschlüsselt und verändert werden kann; wenn sie uns mitteilen, dass sich sogar hinter unserem Selbstbewusstsein kein grundsätzliches Geheimnis verbirgt, dann zerstören sie damit den Glauben an unsere Besonderheit. Ihre nüchterne instrumentell-rationale Betrachtung erhöht die Sehnsucht nach Geschichten und ›Theorien‹, die den Ereignissen und unserem Leben wenigstens den Anschein eines tieferen Sinns zurückgeben. Verschwörungstheorien befriedigen diese Sehnsucht. Sie sind zwar nur eine Möglichkeit unter anderen – etwa aus dem Bereich der Religion, des Sektenwesens oder der Esoterik –, zeichnen sich aber vor vielen Konkurrenzunternehmungen dadurch aus, dass sie dies im Rahmen und unter Berufung auf genau die verkürzte Vernunftkonzeption tun, die das normale wissenschaftliche Vorgehen in weiten Teilen bestimmt. So ist denn auch die Tatsache, dass Verschwörungstheorien in ihrer Argumentation großen Wert auf ein wissenschaftliches Vorgehen legen, nicht ohne Ironie; denn das Rezept gegen die Kränkung unseres

2.3 Die ›Rationalität‹ des Masterplans

Selbstwertgefühls besteht aus derselben Zutat, eben der wissenschaftlichen Rationalität, deren konsequente Verabreichung, sie überhaupt erst entstehen ließ. So führen denn Verschwörungstheorien die Hoffnungen, welche die Vordenker der Aufklärung mit ihrer Forderung nach einer Stärkung unserer Vernunft verbanden, ad absurdum – weil diejenigen, die sich ernsthaft auf eine verschwörungstheoretische Interpretation der Ereignisse einlassen, schnell an den Punkt kommen, an dem ihr Handeln pathologische Züge annimmt. Das aufklärerische Ideal der Selbstbestimmung wird abgelöst von einem selbst verschuldeten Zwang. Und die Stärkung der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, die sich die großen Denker der Aufklärung von der Vernunftorientierung erhofften, verkehrt sich in ihr Gegenteil: wer unerschütterlich daran glaubt, dass auch dort immer schon böse Absichten am Werk sind, wo andere nur den blinden Zufall erkennen können,62 ist bereits auf halbem Weg zum Wahn. Aus diesem Grund liegt gerade dem Versuch, verschwörungstheoretischen Erklärungen durch die Berufung auf ›vernünftige‹ Verfahren der Begründung größere Überzeugungskraft zu verschaffen, ein im Ergebnis zutiefst antiaufklärerischer Impuls zugrunde.

≡ ›F unctional F ood ‹ Ihr System ist in seiner Schlichtheit ebenso genial wie perfide. Sie kippen haufenweise Chemie in unser Essen und wer hin und wieder die offizielle Deklaration auf der Verpackung studiert, weiß, dass sie sich nicht einmal Mühe geben, dies zu verschleiern. Werden wir krank von ihrem Chemie-Cocktail und laufen zum Arzt, dann schreibt der uns einige Mittel auf, um den Effekt für einige Zeit zu neutralisieren. Natürlich sind auch dies Chemikalien aus ihren Labors. So verdienen sie in jedem Fall. Entweder an der Supermarktkasse oder am Tresen der Apotheke. Beweise? Kaum ein großer Chemiebetrieb, der nicht zugleich Nahrung (oder wenigstens Nahrungszusätze und entsprechende Grundstoffe) und pharmazeutische Substanzen herstellen und vertreiben würde. Und werden wir von ihnen nicht auch ständig mit neuen, angeblich gesund machenden Wirkstoffen beglückt (Stichwort: ›functional food‹)? Komplizen bei dieser optimalen Forschungsverwertung, bei der sowohl die krank machende Substanz als auch das Gegenmittel die Kasse klingeln lässt, sind natürlich die Verschreibungsärzte. Selbstverständlich haben sie kein Interesse daran, uns gesund zu machen, sondern nur daran, dass wir im finanziell optimalen

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Rhythmus in ihren Praxen vorbeischauen.* Bleiben wir zu lange fern, sinkt nicht nur ihr Einkommen, sondern sie erreichen auch ihr Verschreibungssoll nicht mehr. Und: keine Verschreibungen, keine Kongresse in der Südsee. So einfach ist das. Weitere Merkwürdigkeit in diesem System: die Analogpräparate. Der Markt ist riesig** und eine Lizenz zum Gelddrucken.*** Seltsam ist, dass die Zulassungsstellen**** dieses Spiel mitmachen. Dürfen die denn wirklich alle auf unsere Kosten (machen wir uns nichts vor: die Einnahmen der Hersteller sind am Ende unsere Kassenbeiträge) zur ›Fortbildung‹ auf die Seychellen und nach Mauritius fahren? Doch zurück zum verhängnisvollen Kreislauf der Chemie: Gift im Essen, Gegengift auf Rezept. Vermutlich steckt auch die Fitnessindustrie unter dieser Decke – obwohl hier die Beweisführung schwerer fällt. Denn wenn wir ob des chemischen Overkills schwächeln, bekommen wir (nicht zuletzt vom Hausarzt) zu hören: »Mehr Sport!«. Das beschert den Ausrüstern, den Wellness- und den Fitness-Anbietern verlässliche Einnahmen – und, wenn wir uns dann richtig sportlich reingehängt haben, später auch der Unfallchirurgie.

* | Bei Kassenpatienten ist das pro codierbarer Haupt-Abrechnungsziffer genau einmal pro Quartal; die PKV-Kunden dürfen öfter reinschauen. ** | Das Umsatzvolumen übersteigt allein in Deutschland zuverlässig die Marke von einer Milliarde Euro pro Jahr. ***  |  Medikamente, die durch geringfügige Änderungen bekannter und lange erforschter Wirkstoffe erneuten Patentschutz erhalten, machen etwa bei ihrer ›Neueinführung‹ zuverlässig einen Preissprung, wie wir ihn sonst nur von den Zapfsäulen kennen. **** | Allen voran das IQWiG, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit (!) im Gesundheitswesen. Es führt in unserem Land offiziell die Forschung zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln (§ 351 SGB V) durch und trifft die Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit.

2.4 Virtualisierung

Die weltweite elektronische Vernetzung erleichtert die Beschaffung und Verbreitung von Informationen in einem Ausmaß, das in der Geschichte der Kommunikation beispiellos ist. Das Vermögen, diese Informationen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen und ihre Glaubwürdigkeit zu beurteilen, wird durch ihre Verfügbarkeit und die Geschwindigkeit, mit der sie sich vermehren, allerdings nicht unbedingt begünstigt. Im Gegenteil, je größer die Menge an Daten und je leichter der Zugang, desto mehr Aufwand ist nötig, um das Wichtige in der Masse des Unwichtigen zu erkennen und sich nicht in Details zu verlieren. Hellsichtig schrieb der Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan schon 1967 und lange vor der Geburt des Internets, die elektronischen Medien beeinflussten unser Leben »in ihren persönlichen, politischen, wirtschaftlichen, ästhetischen, psychologischen, moralischen, ethischen und sozialen Folgen so umfassend, dass sie keinen Teil von uns unberührt, gleichgültig und unverändert lassen«.63 Was im Originalkontext vor allem auf das damals noch neue Medium Fernsehen zielte, trifft heute noch mehr auf das globale Netz zu. Dabei hat die einfache, schnelle und billige Verbreitung von Inhalten vor allem drei Folgen, die hier von Bedeutung sind. Erstens: die weltumspannende Kommunikation stabilisiert den Glauben an Verschwörungstheorien. Ideen, die unter schwierigeren Kommunikationsbedingungen kaum weitere Verbreitung gefunden hätten, können heute ohne großen Aufwand der gesamten Welt präsentiert werden. Dadurch können sie andere Menschen mit ähnlichen Vorstellungen erreichen, Menschen, die diese Ideen aufnehmen, entwickeln und wieder weiter verbreiten.64 So bestätigt und bestärkt die Kommunikationskultur des Netzes Anhänger von Verschwörungstheorien in ihrer Sicht der Dinge und fördert zugleich den gemeinsamen Ausbau der entsprechenden Gedankengebäude.

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Zweitens bietet das Netz die Möglichkeit, Inhalte unter Umgehung der traditionellen Filter, ohne nennenswerte Kosten und weitgehend anonym zu verbreiten. Musste, wer seine Gedanken einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren wollte, vor kurzem noch tief in die eigene Tasche greifen oder sich bereits vor der Veröffentlichung dem Urteil von Lektoren und Redaktionen stellen, die eine Entscheidung über die Qualität der Gedankenführung und der Recherche trafen, so genügt heute ein beliebiger Netzzugang, um die eigenen Theorien der ganzen Welt vorzustellen. Und die Tatsache, dass auf diesem Weg niemand mehr mit seinem Namen für seine Behauptungen einstehen muss, ist dabei offenbar ein starker Anreiz, jede noch so abwegige Hypothese öffentlich zu machen. Die elektronische Form erlaubt es zudem, Daten ohne großen Aufwand zu erzeugen und zu manipulieren. Dies kommt Verschwörungsanhängern offensichtlich entgegen, weil es ihre ›Beweisführung‹ erheblich erleichtert.65 So ist das Netz für sie vor allem eine Quelle von Belegen und zugleich das Medium der Wahl für die Verbreitung und Vermehrung beliebiger Behauptungen, einschließlich der Möglichkeit, diese in Kooperation mit Gleichgesinnten ›kohärentistisch‹ abzusichern. Und drittens schließlich eröffnet das Netz jedem, der möchte, eine unüberschaubare Vielfalt an Meinungen, Standpunkten und Blickwinkeln auf ›die Wirklichkeit‹. So relativiert sich die Behauptung einer von allen oder doch von einer großen Mehrheit geteilten Sicht der Dinge (sofern es sie denn je gab; s. dazu auch Abschnitt 1.4). Für die Anhänger von Verschwörungstheorien hat dies den Vorteil, dass sie sich nach Bedarf bei verschiedenen Meinungssystemen bedienen und konsequent im Umkreis derjenigen Erklärungsmodelle bewegen können, die ihren Ansichten entsprechen. Paradoxerweise befördert der einfache Zugang zu einer Vielzahl von Standpunkten so auch diejenigen Theorien, die ihren Anhängern das Denken abnehmen – paradoxerweise, weil es heute leichter als je zuvor wäre, verschiedene Standpunkte gegeneinander abzuwägen und sich auf dieser Grundlage eine wohlbegründete eigene Meinung zu bilden. Allein die Möglichkeit, sich umfassend informieren zu können, führt aber eben nicht notwendig zu gründlicherer Recherche, sondern heute wohl oft eher zu einem Gefühl der Überforderung – und begünstigt damit den Wunsch nach verbindlichen Vorgaben. Wer die Beliebtheit von Verschwörungstheorien dem Wiederaufleben des Dämonenglaubens und der esoterischen Verlängerung des Wunderglaubens vergangener Zeiten zuschreibt, verfehlt daher den Kern der Sache.66 Denn auch wenn die tra-

2.4 Vir tualisierung

dierten Interpretationsmuster in Verschwörungstheorien in zeitgemäßen Gewändern wieder auftauchen, so scheinen sie vor diesem Hintergrund eher Begleiterscheinungen als Hauptmotiv der Bereitschaft zu sein, sich ernsthaft auf Verschwörungstheorien mit ihrer radikal vereinfachenden Einteilung der Welt in Gut und Böse einzulassen. Und auch in anderer Hinsicht stellt die mediale Verfügbarkeit beliebiger Informationen hohe Anforderungen an die Urteilskraft. Denn im Netz tritt der indirekte Zugang mehr und mehr an die Stelle der direkten Bekanntschaft mit den Verhältnissen. Anders als in der Welt der Dinge, die immerhin noch den ›Naturgesetzen‹ unterliegt, gilt in der virtuellen Welt der medial vermittelten Daten das Motto: ›anything goes‹. Was immer sich denken lässt, kann hier konstruiert werden. Die einzigen Rahmenbedingungen sind der Aufwand, den es kostet, die Daten so zu manipulieren, dass sie authentisch und plausibel erscheinen, sowie der Platz, den sie auf den Servern der Rechenzentren einnehmen. In einem solchen Umfeld dauernd das Wahrscheinliche gegen das Unwahrscheinliche und Widersinnige abzuwägen, bringt unsere Urteilkraft in der Tat schnell an den Rand ihrer Möglichkeiten. Einen bildlichen Eindruck davon, wie viele Facetten die Entscheidung haben kann, ob es unter diesen Bedingungen noch sinnvoll ist, sich mühsam einen Weg durch unbegrenzte (Interpretations-)Möglichkeiten zu bahnen, oder ob die Kapitulation und die Unterordnung unter die Einfachheit eines totalitären Wirklichkeitsentwurfs letztlich die angemessenere Reaktion ist, gibt die filmische Umsetzung dieses Themas in der Schlusssequenz des ersten Teils des Kultfilms ›Matrix‹. Dort verkündet die messianische Hauptfigur Neo (nicht zufällig anagrammatisch ›the One‹) ihre Gedanken vor der langsam größer werdenden Einblendung des Schriftzugs ›system failure‹ auf einem Bildschirm. Bezeichnenderweise hören wir den Helden nur mittelbar durch ein Telefon, wenn er seine Vision einer Welt ohne Grenzen und Regeln als Rettung der Menschheit anbietet: »Und dann werde ich diesen Menschen zeigen, was ihr [die in dem Film weltbeherrschenden Rechenmaschinen] sie nicht sehen lassen wollt. Ich werde ihnen einen Welt ohne euch [die Maschinen] zeigen. Eine Welt ohne Regeln und Kontrollen, ohne Grenzen und Beschränkungen. Eine Welt, in der alles möglich ist. Wohin wir vor dort aus gehen, ist eine Entscheidung, die ich euch [den Menschen] überlasse.«67 Wobei es hier die Welt der Physik ist, die als Welt der unbegrenzten Möglichkeiten angepriesen wird, und gerade nicht die simulierte Welt der Bits und Bytes.

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Der Judas der Geschichte hat sich angesichts dieses verwirrenden Durcheinanders zu diesem Zeitpunkt übrigens schon längst mit schwirrendem Kopf wieder in die (von den Maschinen) reglementierte Totalität des schönen Scheins abgesetzt.

≡ B ielefeld »Der Informatiker Achim Held veröffentlichte im Jahr 1994 einen satirischen Beitrag mit dem Titel Die Bielefeld-Verschwörung, in dem er die Existenz Bielefelds anzweifelte und ihre Vortäuschung als Verschwörung bezeichnete. Im Internet hält sich bis heute der Scherz, Bielefeld gebe es nicht.«* – Das hätten sie wohl gern! So klingt es, wenn sie uns mit einer Umarmungsstrategie für dumm verkaufen wollen. Denn dieser schöne Zweizeiler findet sich, gleich im Anschluss an den Unterpunkt ›Kulinarische Spezialitäten‹ (zu denen offensichtlich hauptsächlich harte Alkoholika gehören), wenn man über den Suchbegriff ›Bielefeld‹ bei dem von ih nen gepflegten Auftritt ›Bielefelds‹ im Online-Nachschlagewerk Wikipedia landet. Auch unter der Web-Adresse ›bielefeld.de‹ präsentieren sie Bielefeld ausführlich, unter anderem mit Links zu Lokalnachrichten über erfundene Morde.** Eine Suche in ihrem Netzauftritt wirft für ›Verschwörung‹ als einziges Ergebnis zwanzigmal den identischen Verweis ausgerechnet auf ein Theater-Projekt aus.*** Darüber hinaus erfährt der Besucher: »Alle Zugriffe auf den Webserver www.bielefeld.de werden registriert. Es werden Datum, Rechneradresse und gelesenes Dokument gespeichert. … [Es] kommen Javascript und Cookies zum Einsatz. Die Cookies ermöglichen die Wiedererkennung ihres Internetbrowsers.« Als inhaltlich Verantwortliche für diese Aktion zeichnet, wenig überraschend, eine ›Stadt Bielefeld‹. Und weiter: »Die Speicherung der Daten findet ausschließlich auf Servern der IT-On.NET GmbH statt, die auch die Webserver der Stadt Bielefeld betreibt.«**** Diese Firma gibt als Kontaktadresse wohl nicht ganz zufällig eine Anschrift in Düsseldorf an und eben nicht in ›Bielefeld‹. Dazu passt auch, dass die Seiteninformation von bielefeld.de mit der Auskunft aufwartet: »This website does not supply owner-

* | Wikipedia, Stichwort: ›Bielefeld‹, abgerufen im September 2012. **  | www.radiobielefeld.de/nachrichten/lokalnachrichten/detail-ansicht/article/ mord-erfunden-um-affaere-zu vertuschen.html; abgerufen am 26/09/2012. *** | Stand: September 2012. **** |wWww.bielefeld.de, Stand: September 2012.

2.4 Vir tualisierung

ship information«.* Eine Anfrage bei der deutschen Domainverwaltung (denic.de) bringt uns leider auch nicht weiter, denn sie zeigt nur, dass sie auch hier ihre Charade aufrechterhalten. Doch worum geht es eigentlich? Sehen wir uns die Sache genauer an. Obwohl in einer Vielzahl verschiedener Medien, von denen wir ja schon lange ahnen, dass sie allesamt unter ihrer Kontrolle stehen, immer wieder ein Ort namens ›Bielefeld‹ erwähnt wird, kennt niemand jemanden, der von dort kommt. Soweit sinngemäß die Ausgangsbehauptung des von ihnen erfundenen Informatikers ›Achim Held‹.** Und je mehr man sich mit anderen darüber unterhält, desto merkwürdiger werde die Sache, behauptet der fiktive Erfinder der Verwirrungsaktion. Recht hat er (auch wenn es ihn eben in dieser Form nicht gibt)! Denn obwohl sie sich viel Mühe gegeben haben, ›Bielefeld‹ im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern – die Deutsche Bahn hat ›Bielefeld‹ in ihre Fahrpläne aufgenommen, die Post für ›Bielefeld‹ eigene Postleitzahlen angelegt, der DFB ist mit einem Phantomverein namens ›Arminia Bielefeld‹ eingebunden, das Verkehrsministerium veranstaltet eine ausgeklügelte Beschilderung von Landstraßen und Autobahnen –, obwohl sie sich also tatsächlich viel Mühe machen, gibt es dennoch anscheinend niemanden, der tatsächlich aus ›Bielefeld‹ kommt. Und findet sich doch einmal jemand, der dies von sich behauptet, so sieht man ihm in aller Regel die Strapazen der letzten Gehirnwäsche noch deutlich an.*** Doch warum tun sie das alles? Der Grund für die Verschwörung ist einfach. Sie soll davon ablenken, dass in der Region zwischen Ravensberger Mulde, Teutoburger Wald und den Tälern des Kammgebirges, in der schon die Legionen des römischen Heerführers Varus spurlos (!) verschwanden, das einzige stabile Wurmloch in eine andere Welt liegt, das bis heute entdeckt wurde. Und diesen Umstand müssen sie begreiflicherweise geheim halten. Deshalb das Ablenkungsmanöver. Allerdings bringt es schon der Volksmund (wenngleich nur hinter vorgehaltener Hand) auf den Punkt, wenn er treffsicher formuliert: ›Trifft man sich nicht in dieser Welt, so trifft man sich in Bielefeld‹.

* | Zu deutsch: »Diese Seite gibt keine Auskunft über den Inhaber«. ** | I hre Erfindung dieser Person, es sei noch einmal deutlich gesagt, ist in der Tat ein eher schlampig ausgeführter Versuch, den Glauben an die Verschwörung zu unterlaufen. ***  |  Leicht zu erkennen sind etwa die unkontrollierten Zuckungen und die allgemeine Orientierungslosigkeit.

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2.5 Mythos

Verschwörungstheorien stehen in enger Verwandtschaft zu umlaufenden Volkserzählungen und Großstadtmythen, die mündlich weitergegeben wurden und sich heute vor allem elektronisch verbreiten. Der Ausdruck ›Großstadtmythen‹ ist (in Übersetzung des englischen Begriffs ›urban myths‹) zwar etwas ungenau, weil es in diesen Erzählungen, anders als in klassischen ›Mythen‹, nicht länger um das Verhältnis von Menschen und Göttern geht.68 Andererseits spiegeln sich in ihnen, genau wie in klassischen Mythen, das Welt-, und Selbstverständnis und das Wertesystem von einzelnen Menschen oder ganzen Gesellschaften. Kennzeichnend für beide ist ebenfalls der Blick auf die Vergangenheit, der von einem klaren (›Erkenntnis-‹)Interesse geleitet wird. Typisches Beispiel sind Schöpfungsmythen, deren Szenarien verständlich machen sollen, wie die Vergangenheit die Gegenwart formt. Im klassischen Mythos geht es um die Grunderfahrungen des Menschen und um das allgemeine Verhältnis, in dem er zu seinen Mitmenschen und seiner Umgebung steht. Eine mythologische Deutung der Wirklichkeit versucht also, oft im Bezug auf jenseitige Prinzipien, diesen Themen eine Ordnung zu geben, um dem Einzelnen seine Entscheidungen und sein Handeln zu erleichtern. Das ›Wissen‹, das der klassische Mythos vermittelt, ist entsprechend kein Fakten-, sondern ein Orientierungswissen. Großstadtmythen dagegen erzählen zwar weder Geschichten über den Ursprung der Menschheit, noch schildern sie das Verhältnis von Menschen und Göttern, doch auch sie beschäftigen sich mit Erfahrungen und Situationen, die zentral und typisch für unser (Zusammen-)Leben sind. Und auch ihnen geht es darum, Befürchtungen und Vorurteile, angstauslösende Entwicklungen und Ereignisse durch die Einbettung in den Sinnzusammenhang einer Erzählung fasslich zu machen und ihnen dadurch ihre Bedrohlichkeit zu nehmen. Dabei werden alte Stoffe an die

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aktuellen Gegebenheiten angepasst: die Angst vor dem Fremden und Undurchsichtigen, die Vorbehalte gegen gesellschaftliche Veränderungen und moderne Technik, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den herrschenden Verhältnissen und gegenüber der weitgehenden Fremdbestimmung des eigenen Lebens, werden in neue Gewänder gekleidet.69 Ein weiteres wichtiges Merkmal, das Mythen und Großstadtmythen teilen, ist ihr Anspruch, ›wahr‹ zu sein. Anders als die fiktionalen Erzählungen etwa der Unterhaltungsliteratur, die gemeinhin nicht mit diesem Anspruch antreten, bekräftigen diese Erzählungen gern, die Dinge hätten sich tatsächlich so zugetragen, und dies auch gerade dann, wenn die Ereignisse, die sie schildern, vor dem Hintergrund unserer alltäglichen Erfahrung wenig glaubwürdig und manchmal sogar haarsträubend klingen. Um ihren Wahrheitsanspruch zu untermauern, werden moderne Mythen dabei häufig mit der Behauptung weitergegeben, die Geschichte sei durch Bekannte oder Bekannte von Bekannten verbürgt. Auch geben Großstadtmythen sich große Mühe, ihre Kernbehauptung mit alltäglichen Handlungsmustern zu verbinden: Alligatoren in der New Yorker Kanalisation! Klingt unwahrscheinlich? Aber nur dann, wenn man nicht weiß, dass es in den 1960ern unter wohlhabenden Bürgern Mode war, aus ihrem Urlaub unter der südlichen Sonne Floridas, Alligatorenbabys als Souvenir mitzubringen. Wenn die zunächst putzigen Kerlchen später zu tückischen Räubern mit gefährlicher Beißkraft mutierten, hieß es für sie dann schnell und unsentimental: ›Kochtopf oder Gully‹. Im feuchtwarmen Klima des Abwassersystems fühlten sich die Krokos, die dem Kochtopf entgangen waren, tatsächlich so wohl, dass sie sich fröhlich vermehrten. – Und mal ehrlich: welchen anderen Grund könnte es für weltbekannte New Yorker Modelabel schon geben, erhebliche Summen in stadtkampferfahrene Abschussteams zu stecken, wenn nicht den, günstig an das Material für ihre Handtaschen und Schuhe zu kommen (auch wenn dies aus Imagegründen natürlich nur hinter vorgehaltener Hand zu erfahren ist)?70 So wie der klassische Mythos ein »Strukturschema für […] Fakten und Belege« ist, ein »ein dynamisches Prinzip der Sinnstiftung«,71 das es überhaupt erst erlaubt, die Menschheitsgeschichte im Nachhinein als Ergebnis des Handelns guter und böser Akteure zu interpretieren,72 so unternehmen Großstadtmythen eine solche Deutung für kleinere und überschaubare Ausschnitte der Wirklichkeit. Und der Bedarf an derartigen Interpretationen scheint groß zu sein, was allein schon die Menge entsprechender

2.5 Mythos

Erzählungen nahelegt, die sich im kollektiven Gedächtnis eingenistet haben. Da überrascht es kaum, dass diejenigen, die diese Geschichten weitergeben, sich oft nur widerwillig von der Vorstellung verabschieden, dass sich die beschriebenen Begebenheiten tatsächlich ereignet haben. Selbst der nachdrückliche Hinweis der modernen Erzählforschung, dass dieselbe Geschichte auch an anderen Orten und oft seit vielen Jahren in Umlauf ist und dort mit anderen Akteuren, aber ebenfalls mit dem Anspruch absoluter Glaubwürdigkeit weitergegeben wird, kann ihre Anhänger in vielen Fällen nicht umstimmen73 – niemand verzichtet schließlich gern auf vertraute Orientierungspunkte. In diesem Sinn beklagte schon Friedrich Nietzsche in seiner wirkungsreichen Abhandlung über die Geburt der Tragödie,74 dass der große Erfolg wissenschaftlicher Erklärungen die narrative Sinnstiftung mehr und mehr an den Rand drängt. Denn tatsächlich nimmt die Reduktion unserer Welt auf wissenschaftliche Fakten (s. auch Abschnitt 2.3) dem Einzelnen die Möglichkeit, existenzielle Erfahrungen, die ihn überlasten, anhand einer Erzählung zu strukturieren und demontiert damit ein wichtiges Verfahren zur »Entängstigung des Menschen«.75 Die Weigerung ihrer Anhänger, den fiktionalen Charakter von Großstadtmythen anzuerkennen, ist so gesehen vor allem ein Ausdruck der Sehnsucht nach einer einfachen Orientierungsstrategie zur Lebensbewältigung. Doch zurück zu unserem Thema: Verschwörungstheorien kommt die strukturelle und thematische Verwandtschaft zum traditionellen Mythos und vor allem zu den beliebten und weit verbreiteten Großstadtmythen gleich doppelt zugute. Denn zum einen unterstützt der umlaufende und durch derartige Geschichten genährte Glaube, hinter der Fassade des Alltags ereigneten sich die abenteuerlichsten Dinge, die Neigung, den verschwörungstheoretischen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit offizieller Versionen Glauben zu schenken. Zum anderen lassen die in Großstadtmythen weitergegebenen Geschichten die Ausgangsbehauptungen vieler Verschwörungstheorien vergleichsweise harmlos erscheinen und stärken gerade auch durch den Kontrast die Überzeugung, dass diese die Wirklichkeit zuverlässiger deuten. Großstadtmythen und Verschwörungstheorien treffen sich außerdem in ihrer Stoßrichtung. Denn beiden geht es darum, unbegreifliche Vorgänge, die Angst vor dem Fremden und Neuen, das Gefühl der Fremdbestimmung und der Ohnmacht angesichts der äußeren Verhältnisse durch einen erzählerischen Ordnungsrahmen tragbarer zu machen.76 Der Ausblick von Verschwörungstheorien ist dabei

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allerdings weiter als der begrenzte Blick der Großstadtmythen. Während diese jeweils nur ein Ereignis oder eine Situation, nur einen sehr begrenzten Ausschnitt der Welt in den Blick nehmen, versuchen Verschwörungstheorien für gewöhnlich, eine Interpretation für größere Bereiche unserer Wirklichkeit zu geben. So stehen sie in ihrer sozialen Wirkung eher dem klassischen Mythos nahe als der verkürzten modernen Variante. Denn so wie jener erzeugen auch sie unter ihren Anhängern eine Gruppenidentität durch eine ähnliche Interpretation der Wirklichkeit und können dadurch entsprechende (Sub-)Kulturen legitimieren. Wenig überraschend ist es daher, dass sich Verschwörungstheorien ebenso wie die Mythen vergangener Zeiten auch gezielt als ideologisches Werkzeug einsetzen lassen, etwa zur Rechtfertigung von Unterdrückungsmaßnahmen oder zur Diskreditierung politischer Gegner oder eben ganz allgemein zum Zweck des Machterhalts.

≡ I n Q uintum N ovembris Remember, remember the Fifth of November. Gunpowder, treason and plot; I know of no reason why gunpowder treason should ever be forgot.*

Am 4. November wurde der englische Soldat Guy Fawkes dabei ertappt, wie er 36 Fässer mit Schießpulver bewachte – in einem gemieteten Lagerraum direkt unter dem britischen Parlamentsgebäude von Westminster. Der Sprengstoff war für den englischen König James I. und seine Familie bestimmt. Er sollte am nächsten Tag, dem fünften November 1605, das in Anwesenheit des Königs in gemeinsamer Sitzung tagende britische Ober- und Unterhaus pulverisieren. Die Menge an Schwarzpulver, die Fawkes und seine Mitstreiter unter der Führung eines gewissen Robert Catesby zu diesem Zweck zusammengetragen hatten, hätte dazu jedenfalls mehr als ausgereicht; vermutlich wären im Erfolgsfall sogar weite Teile der Londoner Innenstadt eingeebnet worden. Doch einer der Mitverschwörer verriet die Aktion, sodass Abgeordnete und König dem Attentat entkamen. Unter der vom König persönlich angeordneten Folter in den Verliesen des Towers gab der aufgegriffene Attentäter schnell die Namen vieler Mitverschwörer preis. Sofern sie dem Urteil * | Dies ist die Anfangszeile eines englischen Kinderliedes zu den Ereignissen des 5. November 1605.

2.5 Mythos

nicht durch einen Suizid zuvorkamen, wurden sie, wie auch Fawkes selbst, später öffentlich ausgeweidet und gevierteilt. James I., obwohl in Religionsfragen durchaus moderat, war als Oberhaupt der mit Rom zerstrittenen Anglikanischen Kirche eine willkommene Zielscheibe katholischen Unmuts. Die Verschwörer, unter ihnen viele Jesuiten und andere katholische Geistliche, planten die Beseitigung des Königs entsprechend als Auftakt zu einer Revolte, die die katholische Herrschaft in England wieder herstellen sollte. In der Durchführung verließen sich die Prediger allerdings, so wie es auch heute noch üblich ist, auf fanatisierte junge Männer (anstatt selbst den Kopf hinzuhalten): der verhinderte Attentäter Guy Fawkes etwa war im Alter von 16 Jahren zum Katholizismus konvertiert. Die gescheiterte Verschwörung im Jahr 1605 jedenfalls erschwerte noch lange den entspannten Umgang mit der römischen Kirche und dem katholischen Glauben im englischen Königreich. Bis auf den heutigen Tag wird am Jahrestag des vereitelten Attentats an vielen Orten Englands die ›Bonfire Night‹ mit Fackelumzügen, Feuerwerk und der Verbrennung von Guy-Fawkes-Puppen begangen. Und die Pop-Kultur setzte Fawkes mit dem Comic V wie Vendetta und dem gleichnamigen Film* erst kürzlich ein Denkmal. Ironischerweise tritt in der populären Version der Protagonist in Guy-FawkesVerkleidung als ›Freiheitskämpfer‹ an. Der totalitäre Überwachungsstaat, den es im Film zu bekämpfen gilt, wird denn auch mit allen einschlägigen Merkmalen des Unrechtsregimes ausgestattet,** damit die unter der Maske des Gotteskriegers Fawkes kämpfende Hauptfigur überhaupt zur Identifikation taugt.***

* | 2005. Das Drehbuch stammt von den Machern der Matrix. **  |  Ein gnadenloser ›Führer‹, Untermenschen, Konzentrationslager, gewissenlose Mediziner, die an Menschen experimentieren etc. ***  |  Die vom Comiczeichner David Lloyd kreierte Fawkes-Maske, die auch in der filmischen Umsetzung eine zentrale Rolle spielt, wurde, ebenfalls nicht ohne eine gewisse Ironie, zum Erkennungszeichen einer weltweiten Protestbewegung (Anonymous).

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2.6 Wahn und politische Legitimation

Gerade im Hinblick auf die zuletzt genannte Funktion von Verschwörungstheorien, den gezielten Einsatz zu politischen Zwecken, prägte der Politologe Richard Hofstadter bereits vor etwa fünfzig Jahren einen Begriff, der sich bis heute in diesem Zusammenhang gehalten hat. In seiner wirkungsmächtigen Analyse der politischen Argumentationskultur in den Vereinigten Staaten bezeichnet er diejenigen, die dunkle Kräfte von fast ›jenseitiger Macht‹ als die treibende Kraft hinter der gesamten Menschheitsgeschichte postulieren, griffig als die Vertreter eines »paranoiden Stils«.77 Herausragendes Kennzeichen dieses Stils sei es, die jeweiligen (politischen) Gegner als »amoralische Übermenschen« von unglaublicher Bösartigkeit und Macht darzustellen, die sich zudem außerhalb der Beschränkungen des normalen menschlichen Lebens bewegten. Weder ihre Vergangenheit, noch menschliche Grundbedürfnisse stünden ihnen bei ihrem finsteren Treiben im Weg. Im Gegenteil: die Verschwörer werden als vollkommen »freie, aktive, dämonische Akteure« vorgestellt78 und sollen zudem über unbegrenzte Ressourcen und unglaubliche Fähigkeiten der Manipulation verfügen. Diese wahnhafte Zuspitzung der Eigenschaften von Gegnern in den Verschwörungstheorien ›von oben‹ (s. auch o. Abschnitt 2.2) wird zur Grundlage dafür, auch solche (Regierungs-)Maßnahmen zu legitimieren, die unter normalen Umständen kaum eine Zustimmung fänden. Ein Beispiel für die Argumentation mit einem derartig dämonisierten Gegner ist für Hofstadter die sogenannte ›McCarthy-Ära‹ mit ihrem hysterischen Glauben an eine ›kommunistische Verschwörung gegen die freie Welt‹.79 Außerhalb der Vereinigten Staaten liegen Beispiele von der nationalsozialistischen Behauptung einer ›jüdischen Weltverschwörung‹ bis zum stalinistischen Verschwörungswahn auf der Hand. Ob allerdings aktuelle Hinweise auf ›Die Globalisierung‹, ›Den Terrorismus‹ oder ›Brüs-

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sel‹, mit denen heute gern (vermeintliche) Sachzwänge wie Massenentlassungen, die systematische Abschaffung von Bürgerfreiheiten, die Militarisierung der Gesellschaft, oder desaströses Regierungsversagen legitimiert werden, tatsächlich mehr sind, als der schwache Reflex eines derartigen ›paranoiden Stils‹, sei dahingestellt. Ohne Zweifel jedoch hängt der Erfolg der entsprechenden Argumentation davon ab, wie gut es ihr gelingt, eine kollektive Hysterie zu erzeugen: die besinnungslose Kommunistenfurcht in den Vereinigten Staaten in der Mitte des letzten Jahrhunderts, die enthemmten Massen unter dem Hakenkreuz etwas früher, oder auch die in Geschichte und Gegenwart gelegentlich zum Massenwahn gesteigerte Verfolgung religiöser ›Ketzer‹ oder Andersdenkender sind nicht umsonst eindrucksvolle Beispiele dafür, welche soziale Dynamik eine clever inszenierte verschwörungsbasierte Propaganda entfalten kann.80 Doch folgen wir Hofstadters Analyse noch etwas weiter. Der wahnhafte Glaube (›Paranoia‹) zeichnet sich besonders durch das unerschütterliche Festhalten an fragwürdigen oder sogar offensichtlich falschen Annahmen und Meinungen unter Missachtung sämtlicher Gegenevidenzen aus. Damit ist er eine inhaltliche Denkstörung, bei der die formalen Funktionen des Denkens weitgehend intakt bleiben. Denn tatsächlich weisen wahnhafte Gedankengebäude oft einen erstaunlichen Grad logischer oder formaler Stimmigkeit auf. Beides nun trifft auch auf das Verschwörungsdenken zu: es ist unbeirrbar in den Inhalten, korrekt und stimmig, wenn es um die formale Ableitung geht, sodass seine Einordnung unter dieser Überschrift in der Tat naheliegt. Dennoch greift Hofstadters umstandslose Gleichsetzung mit einer pathologischen Störung zu kurz. Denn selbst wenn die Grundlage eines Verschwörungsglaubens durchaus ein klinisches Bild sein kann (wie beim Verfolgungswahn), so gilt dies wohl nicht für die Mehrheit der Fälle. Am deutlichsten lässt sich dies an echten Verschwörungen sehen. Denn auch wenn diejenigen, die an ihrer Aufdeckung arbeiten, dies unter Umständen mit einer gewissen Besessenheit tun, so werden sie, wenn es ihnen gelungen ist, ein Komplott zu enthüllen, eher geehrt als eingewiesen.81 An dieser Stelle ist auch die Unterscheidung zwischen kollektiven ›Wahnvorstellungen‹ und der individuellen pathologischen Störung nützlich, weil es hier eben nicht um ein klinisches Bild geht, sondern um ein gemeinschaftliches Festhalten an Inhalten. Hofstadter selbst betont denn auch, dass seine Analyse auf kollektive Verhaltensmuster zielt, die zwar viele Merkmale der individuellen Paranoia (d.i. anhaltender Wahnvor-

2.6 Wahn und politische Legitimation

stellungen)82 aufweisen, jedoch nicht auf die einzelne Person mit einer pathologischen Störung.83 Das Etikett ›paranoid‹ wird bei ihm deshalb vor allem zur griffigen Überschrift für »die Art und Weise wie Ideen [kollektiv] geglaubt und vertreten werden«, 84 und soll die Aufmerksamkeit auf ein in der Tat charakteristisches Merkmal des Verschwörungsdenkens lenken, nämlich das unbeirrbare Festhalten an einer Behauptung ohne Rücksicht auf empirische Fakten. Dennoch: auch dieses Merkmal grenzt das Verschwörungsdenken leider nicht so eindeutig von anderen nicht-pathologischen Haltungen ab, wie es wünschenswert wäre. Denn genau diese Haltung steht etwa auch hinter vielen großen Durchbrüchen in den Wissenschaften: wenn nicht innovative Denker unbeirrbar an ihren Ideen festgehalten hätten (oft gegen Widerstände und den Spott ihrer Mitmenschen), würden wir heute offensichtlich in einer deutlich anderen Welt leben.

≡ D ie W elt verschwörung der F reimaurer Jahrhunderte lang zogen sie Europas Kathedralen hoch. Doch irgendwann begann ihr ehemaliger Auftraggeber, die römische Kirche, die Freimaurer zu verleumden und zu verfolgen. Und das nicht wegen überzogener Lohnforderungen. Was war geschehen? Am Anfang standen Steinmetze und Bauhütten, die ihr Fachwissen nur an ihre Mitglieder weitergaben. In einer Zeit geringer sozialer Durchlässigkeit und ohne ein staatliches Ausbildungswesen eigentlich nichts Besonderes. Die Bauleute zogen von einer (kirchlichen) Großbaustelle zur nächsten, gewannen Auslandserfahrung und knüpften internationale Kontakte. Sie errichteten ein ›social network‹, komplett mit Passwörtern, Erkennungszeichen und einer eigenen ›Sprache‹. Später begannen sich Personen den Maurerlogen anzuschließen, die mit dem Bauhandwerk nichts zu tun hatten. Sie vor allem waren es, die den Logen dann ein theoretisches Gerüst mit Riten und Symbolen einzogen. Für ihren ideologischen Überbau bedienten sie sich dabei bei den Programmideen der Aufklärung, für die kultischen Elemente dagegen bei ägyptischen und griechischen Mysterienkulten, der Kabbala und dem Gnostizismus. Im Jahr 1717, am 24. Juni, wurde in London die erste moderne Großloge gegründet. Die derart kultisch und ideell unterlegte Freimaurerei wurde sofort zum Exportschlager: in rascher Folge gab es Logengründungen mit ähnlichem Anspruch auf dem Kontinent u.a. in Frankreich, Deutschland, Spanien und Italien.

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Das Aufnahmekriterium der Logen, in denen das Bauhandwerk nun mehr und mehr in den Hintergrund zu treten begann, war nicht Adel oder Stand, sondern die individuelle Eignung der prospektiven Mitglieder. In einer Zeit, in der normalerweise der richtige Stammbaum über Karrieren entschied, formten die Freimaurer bereits einen Bund der Gleichen. Schon vor der Gründung der ersten Großloge ließen sie auch Frauen in ihren Reihen zu (was allerdings in der Folgezeit noch lange Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen war). In Zeiten vererbter Machtansprüche organisierten die Freimaurer sich bereits weitgehend demokratisch und folgten den Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, stimmten ein in die aufklärerische Forderung, sich von der ›selbst verschuldeten Unmündigkeit‹ zu befreien, übten Toleranz gegen andere Standpunkte und Denkweisen. Von ihrem Hang zur Geheimniskrämerei allerdings hat sich diese Vereinigung bis heute nicht gelöst. Doch nicht ihre Geheimniskrämerei, sondern ihr Bekenntnis zu den Idealen der Aufklärung und ihre Sympathie für okkulte heidnische Rituale machte die Freimaurer der römischen Kirche verdächtig. Sie war in der neuen Epoche ohnehin schon damit beschäftigt, an allen Fronten und mit allen Mitteln um den Erhalt ihrer politischen Macht und gegen den Verlust ihres Einflusses auf die Herrscherhäuser Europas zu ringen. Da spielte ein weiterer Kandidat auf der langen Liste ihrer Gegenspieler dann auch keine große Rolle mehr. 1738 jedenfalls wird die katholische Abwehr gegen die Freimaurer mit einer päpstlichen Bulle (In eminenti) offiziell, wenig später schon stehen die Freimaurer im Fadenkreuz der Heiligen Inquisition. Damit gibt Rom den Ton an für den späteren Umgang mit dem Orden. Denn vielen autoritären Bewegungen sind sie auch heute noch mit ihrem Eintreten für Menschenrechtsideen, ideelle und ethnische Toleranz und mit ihrem karitativen Engagement hochgradig suspekt. Die Faschisten verfolgten und verboten sie in Hitlerdeutschland, in Mussolinis Italien und im Spanien der Francozeit; die kommunistischen Länder verfolgten und verboten sie (wegen ›bürgerlicher‹ Umtriebe; Ausnahme: Kuba); ebenso wie sie in der großen Mehrheit der islamischen Länder unerwünscht waren und bis heute unerwünscht sind. Von der Behauptung, die Freimaurer seien Anstifter der Französischen Revolution und Keimzelle einer ›jüdischen Weltverschwörung‹, die mit massiver kirchlicher Propaganda (und auch unter Einsatz von gefälschten Dokumenten) schnell die Runde macht, spannt sich der Bogen also bis zu den Einpeitschern der totalitären Regime der Neuzeit. Sie alle verbreiteten, die menschenfreundliche Fassade der Freimaurer sei nur Tarnung, denn in Wahrheit bereiteten die finsteren Gesellen in den oberen Rängen schon seit Jahrhunderten die Unterjochung der gesamten Menschheit vor und seien bereits dabei, eine weltumspannende Diktatur zu errichten. Eine wahrhaft gigantische Verschwörung.

2.6 Wahn und politische Legitimation

Die ursprünglich von den Scharfmachern Roms angestoßenen PR-Feldzüge gegen die Freimaurer jedenfalls waren über die Zeit so erfolgreich, dass bis heute viele, wenn sie das Wort ›Freimaurer‹ hören, sofort an die große ›Weltverschwörung‹ denken. Damit stellen sie sich in gemütliche Gesellschaft: der letzte deutsche Kaisers Wilhelm II. war ebenso ein fester Anhänger dieser Verschwörungstheorie wie Erich Ludendorff oder Heinrich Himmler. Und es lässt sich ja nicht leugnen: die Liste der bekennenden Freimaurer allein in den oberen Rängen der Politik liest sich durchaus eindrucksvoll. George Washington, Benjamin Franklin, Theodore und Franklin Delano Roosevelt sind nur einige der bekannteren Namen auf ihr. Im Verein mit der Geheimnistuerei und der Tatsache, dass die bewegte Geschichte der Freimaurer auch den einen oder anderen Übernahmeversuch und Sekten-Spin-Off gesehen hat (›Rosenkreuzer‹, ›Illuminaten‹), ist dies eine Steilvorlage, die Verschwörungstheoretiker wohl einfach verwerten müssen.

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2.7 Projektion

In Untersuchungen, die sich mit der psychologischen Seite von Verschwörungstheorien beschäftigen, wird oft darauf hingewiesen, dass die Charakterzüge und Fähigkeiten, die den Verschwörern zugeschrieben werden, eine ›Projektion‹ eigener Wünsche und Fehler sind.85 Dies hilft zu erklären, warum Verschwörer häufig mit Persönlichkeitsmerkmalen ausgestattet werden, die sich unter normalen Sterblichen in dieser Perfektion und Kombination nicht finden (s. dazu auch Abschnitt 2.2). Für die Psychoanalyse ist die ›Projektion‹ (neben ›Verdrängung‹ und ›Sublimierung‹) einer der klassischen Abwehrmechanismen, mit denen wir versuchen, innere Konflikte zu bewältigen. Der Konflikt wird nach außen getragen, und der Einzelne überträgt (projiziert) seine Absichten und Wünsche, die mit den eigenen oder den gesellschaftlichen Normen im Widerspruch stehen, auf andere.86 Diese Übertragung unerwünschter (manchmal auch idealer) Anteile der eigenen Persönlichkeit findet oft unbewusst statt. Für Verschwörungstheorien bedeutet das: ihre Verfechter statten die Verschwörer auch deshalb gern mit einer phantastischen Machtfülle und unermesslichem Wissen aus und lassen sie zudem übermenschlich clever und hervorragend organisiert erscheinen. In der Projektion werden sie zu vollkommen skrupellosen, verschlagenen, grausamen und zugleich zu nahezu unfehlbaren und omnipräsenten Akteuren. Gern wird zudem unterstellt, sie verfügten über geheime Mittel zur Verhaltens- und Gedankenkontrolle, von denen der Rest der Menschheit allenfalls eine vage Vorstellung hat. Weil bei realen Verschwörungen aber immer noch echte Menschen mit all ihren Schwächen und Unvollkommenheiten am Werk sind, auch wenn dies im Aufdeckungseifer in Vergessenheit geraten kann, lässt sich in diesem Zusammenhang als Maxime festhalten: je nachdrücklicher die Verschwörer als perfekte und allmächtige Muster des Bösen präsentiert

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

werden, desto stärker sollte unser Verdacht sein, dass die dahinter stehende Verschwörungstheorie der Einbildung entspringt. Und umgekehrt: wer glaubt, einer realen Verschwörung auf der Spur zu sein, muss seine Gegner nicht dämonisieren. Sie bleiben auch dann echte Menschen, wenn sie im Verborgenen und zum Nachteil der Gesellschaft handeln, sind weder übermenschlich clever noch allwissend und ihre ›Gedankenkontrolle‹ entspringt allenfalls dem besonders virtuosen Einsatz von Kommunikationstechniken und nicht der Science Fiction. Wo die dämonisierten Verschwörer erfundener Verschwörungstheorien es erlauben, Teile der Wirklichkeit auszublenden und ihre Anhänger davor bewahren, »sich auf beunruhigende und verstörende Überlegungen einlassen zu müssen, die [die eigenen] Vorstellungen nicht bestätigen«,87 sind die fehlbaren Verschwörer echter Theorien Menschen mit einem klaren eigenen Vorteil vor Augen, denen durchaus das Handwerk gelegt werden kann.

≡ C hemtr ails Haben die Reichen und Mächtigen dieser Welt ein geheimes Bündnis mit Außerirdischen geschlossen, um die Lebensbedingungen auf unserem Planeten den Bedürfnissen ihrer Freunde aus dem All anzupassen? Und werden dazu (neben anderen Maßnahmen, wie dem Kahlschlag des Regenwalds, der Vergiftung der Meere, der radioaktiven Verseuchung an Land, der Zersetzung der Ozonschicht etc.) begleitend von Flugzeugen gezielt chemisch oder biologisch hochaktive Substanzen in die oberen Schichten der Atmosphäre verbracht? Schließlich kann jeder ihre ›Chemtrails‹ am blauen Himmel sehen:* sie sind gut zu erkennen an ihrer ungewöhnlichen Färbung in allen Tönen des Regenbogens und daran, dass sie manchmal bis zu einem halben Tag am Himmel stehen. Anders als die normalen weißen Kondensstreifen aus (kondensiertem) Wasser, müssen diese also Beimischungen enthalten – und das heißt: Substanzen aus ihren Geheimlabors, die die Zusammensetzung der oberen Atmosphäre verändern sollen, damit ihre Alienfreunde sich hier wohl fühlen. Denn: warum werden die Meldungen lokaler Medien über das Auftreten dieses Phänomens jeweils nach kurzer Zeit zurückgezogen? Und warum sonst folgt auf entsprechende Meldungen stets nicht nur ein offizielles Dementi, sondern * | Der Ausdruck ist eine Bildung in Anlehnung an die normalen Kondensstreifen von Flugzeugen (engl. ›contrails‹).

2.7 Projektion

oft auch eine ausführliche ›wissenschaftliche‹ Erklärung dafür, wie Wetterbedingungen das Aussehen normaler Kondensstreifen beeinflussen können? Und: was haben sie ihnen im Gegenzug für den Ausverkauf unseres Planeten geboten? Privilegien oder Technologien jenseits jeder Vorstellungskraft? Ewiges Leben auf einem anderen Planten? Weisen sie deshalb immer wieder darauf hin, dass UFOSichtungen ganz natürlich zu erklären sind (Wetterphänomene, geheime militärische Testflüge)? Oder ist alles viel einfacher und ihre Chemtrails dienen doch nur einer gezielten Geburtenkontrolle?

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2.8 Pragmatische Strategien der Plausibilisierung

Kommen wir zum Schluss auf eine Frage zurück, die uns bisher stets nur im Hintergrund begleitet hat, ohne wirklich explizit zu werden, nämlich: Was verschafft Verschwörungstheorien ihre Überzeugungskraft? Als praktische Frage steht sie zwar nicht im Zentrum einer theoretischen Analyse der Struktur von Verschwörungstheorien, dennoch gebührt ihr schon aus Gründen der Vollständigkeit in diesem Zusammenhang ein eigener Abschnitt. Schließlich möchten wir erfahren, warum Verschwörungstheorien unser Vermögen, Fakten und Fiktion zu unterscheiden, so leicht unterlaufen können und wie es ihnen gelingt, uns sogar hin und wieder von der Richtigkeit ihrer Behauptungen zu überzeugen. Also: wie schaffen sie es, unsere Urteilkraft zu überlisten? Die kurze Antwort lautet: dadurch, dass sie in kleinen Schritten vorgehen. Eine gute Verschwörungstheorie präsentiert sukzessive Behauptungen, die für sich genommen unverdächtig und intuitiv plausibel erscheinen, um dann auf einmal zu einer ungewöhnlichen These zu gelangen, die wir ohne diese Vorbereitung und Einstimmung aus dem Stand kaum akzeptiert hätten. Und auch die Zutaten für eine ausführlichere Antwort haben wir inzwischen beieinander, sodass sie hier nur noch einmal zusammengefasst werden müssen. Erstens: Verschwörungstheorien beginnen damit, Zweifel an der offiziellen Erklärung zu säen. Unter Umständen können sie auch auf bereits vorhanden Zweifel an der offiziellen Version aufsetzen, die sie dann nur geschickt verstärken. Das Mittel der Wahl ist an dieser Stelle, gezielt nach Dingen zu fragen, auf die die offizielle Version keine Antworten geben kann sowie der beharrliche Hinweis auf (vermeintliche) Ungereimtheiten und Brüche in der offiziellen Version. In dieser Phase greifen Verschwörungstheorien auf allgemein bekannte und wenig strit-

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

tige Sachverhalte zurück, heben aber mit Blick auf ihr Argumentationsziel schon bestimmte Daten hervor und spielen die Wichtigkeit anderer herunter oder verschweigen sie gleich ganz. Um die Überzeugungskraft des Zweifels an der offiziellen Version zu erhöhen, werden außerdem ›Belege‹ und ›Beweise‹ präsentiert, die den Zweifel stützen. Bereits hier setzt die Vermengung von weitgehend unstrittigen Aussagen aus unverdächtigen und seriösen Quellen und solchen Behauptungen ein, deren Status bestenfalls fragwürdig ist. Eine weitere unterstützende Maßnahme ist der direkte Angriff auf die Verteidiger der offiziellen Linie. Diese werden nach allen Regeln der Rhetorik als voreingenommen, unglaubwürdig und borniert attackiert. In einem zweiten Schritt geht es darum, die Verdachtsmomente gegen eine offizielle Erklärung, diffuse Bedenken und Ängste und vielleicht sogar bereits vorhandene alternative Erklärungen in einer logisch schlüssigen Weise zu bündeln und aus den Zweifeln und Verdachtsmomenten gegen die etablierte Sicht sowie den eigenen Behauptungen eine überzeugende Theorie zu schmieden. Diese wird nach Möglichkeit mit weiteren ›Beweisen‹ nach dem gerade erwähnten Schema abgesichert. Dabei ist der Verweis auf Belege aus dem Netz nützlich, auf Zitate aus Radiosendungen und Zeitungsmeldungen, auf Interviews und Berichte von ›Augenzeugen‹; kurz: auf solche ›Quellen‹, die nur mit erheblichem Aufwand zu überprüfen sind. Wenn es darüber hinaus gelingt, diese mit vergleichsweise leicht zu überprüfenden ›seriösen‹ Belegen zu verbinden, dann ist die verschwörungstheoretische Argumentation schon fast am Ziel. Ein Kennzeichen des Vorgehens auf dieser Stufe ist der Versuch, Dinge und Ereignisse miteinander in Verbindung zu bringen, die normalerweise wenig bis nichts miteinander zu tun haben. Wenn verschwörungstheoretische Assoziationen ausgreifender und gewagter sind als diejenigen ›normaler‹ Theorien, so ist dies nur dem Umstand zu verdanken, dass sie Vorgänge aufdecken müssen, die jenseits unserer ›normalen‹ Erklärungen liegen. Dennoch gilt: wenn die Theorie überzeugen soll, müssen sich die ›Daten‹ und Behauptungen am Ende schlüssig und stimmig zu einer Theorie fügen. Deshalb sind an dieser Stelle rhetorisches Können, erzählerische Phantasie und Formulierungskunst gefragt. Wenn der fertigen Theorie schließlich nicht mehr anzusehen ist, was als gesichert gelten kann, was tendenziöse Unterstellung und was reine Fiktion ist, sind die wichtigsten Hürden für die Umgehung unserer Urteilkraft genommen.

2.8 Pragmatische Strategien der Plausibilisierung

Gelingt es selbst durch die gezielte Auswahl und die tendenziöse Uminterpretation seriöser Quellen nicht, hinreichend viele ›Autoritätsbeweise‹ beizubringen, so bedeutet dies jedoch nicht zwangsläufig das Aus. Im Gegenteil: die Tatsache, dass bestimmte Zusammenhänge auch bei entsprechender tendenziöser Auslegung nur vage sichtbar werden, spricht selbstverständlich ebenfalls für die verschwörungstheoretische Erklärung. Man muss sich nur daran erinnern, dass das Fehlen eindeutiger Beweise immer noch der beste Beweis dafür ist, dass hier Menschen von ihnen daran gehindert werden, ihr Wissen offen zu verbreiten, und ein Ausweis ihrer Macht, ihre finsteren Machenschaften zu vertuschen. Und schließlich lässt sich der Erfolg einer Verschwörungstheorie dadurch steigern, dass den Verschwörern ein überzeugendes Motiv unterstellt wird. Manche Verschwörungstheorien verzichten zwar auf diesen letzten Schliff und vertrauen auf die Fähigkeit des Menschen, in jeder noch so unsinnigen Zusammenstellung von ›Daten‹ sinnvolle Muster zu entdecken.88 Dennoch kann der Hinweis darauf, welche Absicht die Verschwörer mit ihrem Tun verfolgen und welche Vorteile es ihnen bringt, dies im Verborgenen und nicht offen zu tun, die innovativen Gedankenverbindungen vieler Verschwörungstheorien erheblich stabilisieren. Das Bedürfnis, hinter jedem menschlichen Handeln ein Motiv zu suchen, gehört nicht umsonst zu den Konstanten unserer sozialen Erklärungen. Wenn die Theorie ihrem Anspruch gerecht werden will, keine Fragen offen zu lassen und in ihrer Stimmigkeit und Erklärungsleistung die offizielle Version zuverlässig zu übertreffen, sollte sie daher auch den ›Nutzen‹ für die Verschwörer wenigstens andeuten, um ihre Überzeugungskraft durch Auslassungen an dieser Stelle nicht unnötig zu unterlaufen.89

≡ C otes du R hone Wer schon einmal durch das französische Rhonetal gefahren ist, weiß Bescheid: streckenweise kein einziger Weinberg, weder am West- noch am Ostufer. Dabei wird die Welt jährlich mit über 400.000.000 Litern Wein beliefert, der die Ursprungsbezeichnung Cotes du Rhone (AOC; offiziell kontrollierte Herkunft) trägt. Doch woher kommt der Inhalt der Flaschen im Kaufhausregal wirklich? Haben die cleveren ›Weinbauern‹ der Region schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine Methode perfektioniert, ihren Rotwein unter Umgehung von Weinbau

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

und Kelterei im Labor herzustellen?* War dies ein Pilotprojekt aus der wilden Experimentierphase der chemischen Industrie, das dann so profitabel lief, dass es bald in die unbefristete Verlängerung ging? Und welche Beträge fließen an die internationale Elite der Önologen, damit die so tun, als ginge hier alles mit rechten Dingen zu? Also: aufgepasst beim nächsten Griff ins Weinregal.

* | Das AOC-Siegel stammt von 1937.

2.9 ›Yesterday’s Tools‹

Der bereits erwähnte Medienforscher Marshall McLuhan stellte Mitte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts fest: »Unser ›Zeitalter der Angst‹ ist, zu einem großen Teil, die Folge unseres Versuchs, Probleme von heute mit den Werkzeugen von gestern zu bearbeiten – mit Begriffen von gestern«.90 Diese Einsicht, die ähnlich auch von der Evolutionsbiologie formuliert wird, ist in ihrer allgemeinen Form inzwischen weit verbreitet und wir wissen heute, dass die Evolution den Menschen physisch und psychisch schlecht auf die Anforderungen des modernen Lebens vorbereitet hat. Ebenso wie sich in den Genen angelegte Ernährungsstrategien, die früher das Überleben sicherten, im Büroalltag verhängnisvoll auswirken, so sind auch einst lebenswichtige Denkstrategien, die uns auf der Grundlage einfacher Mustererkennung schnelle Reaktionen ermöglichen, nicht hilfreich, wenn es darum geht, sich erfolgreich in der hochkomplexen Umgebung unserer Zeit zu bewegen. Und ebenso wenig wie functional food einen Mangel an körperlicher Betätigung beheben kann, helfen aufwendig auf die mentalen Bedürfnisse der Empfänger zugeschnittene (einfache) Antworten dauerhaft in einer unübersichtlichen Welt – vor allem, wenn weder die Gefahrenabwehr noch die Nahrungsbeschaffung im Alltag die schnellen Reaktionen von einst erfordern. Ackerbau und Industrialisierung haben in der Vergangenheit unsere Lebensumstände jeweils grundlegend revolutioniert. Das allgemeine Überangebot an Information ist gerade erst dabei, dies ein weiteres Mal zu tun. Mit einem wesentlichen Unterschied. Denn bei dieser Revolution betrifft die Veränderung nicht mehr die physischen Bedingungen unserer Existenz, sondern vor allem unsere ›psychische‹ Umgebung. Der Überfluss an Informationen und ihre universelle Zugänglichkeit machen unser Leben aber offensichtlich nicht nur leichter, so wie der Ackerbau die Nahrungsversorgung und die Industrialisierung die Versorgung mit Konsumgütern

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

erleichtert haben, sondern zwingen uns im Gegenzug zu größerer Anstrengung im Denken. Einfache Denkmuster jedenfalls, die die Welt nach dem traditionellen Schema klar in Gut und Böse teilen, führen unter aktuellen Bedingungen leicht zu persönlichen und gesellschaftlichen Folgeschäden, vom individuellen Zwangsverhalten bis zur kollektiven Hysterie. Unter den komplexen Bedingungen des modernen Lebens liegt die Hinwendung zu Heilslehren, die eine radikale Vereinfachung und ewige Wahrheiten versprechen, selbst für diejenigen nahe, die schon ahnen, dass dies keine dauerhaft erfolgreiche Strategie sein kann. Sicher: der Imperativ der Aufklärung ›Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!‹ war schon in seiner Entstehungszeit ein Ansinnen. Und heute, wo die Verhältnisse erheblich unübersichtlicher sind, ist es noch einmal deutlich anstrengender, ihm nachzukommen. Die gute Nachricht ist allerdings, dass uns die moderne Forschung einen Vorteil verschafft, denn wir können wenigstens die Hindernisse deutlicher benennen als noch in der Hochzeit der Aufklärung. Die Aufforderung, selbst zu denken, richtet sich an ein Gehirn, dem sich heute mit ausgeklügelten Verfahren der Kognitionsforschung nachweisen lässt, wie sehr es seine gedanklichen Abkürzungen liebt, wie begeistert es einfachen Erklärungen den Vorzug vor komplexen gibt und was es alles unternimmt, um den Strapazen einer gründlichen Abwägung aus dem Weg zu gehen. Andererseits kennen diejenigen, die versuchen, uns in die Fallen ihrer einfachen Erklärungen zu locken, diese Befunde natürlich ebenfalls. So können sie ihr Versprechen endgültiger Gewissheit, ihre Verheißung, komplizierte Sachverhalte einfach auf den Punkt zu bringen, ihr Angebot der schnellen Orientierung und ihre Zusicherung, wir könnten unserem Leben wieder einen tieferen Sinn geben, wenn wir uns nur auf entsprechende Deutungsmuster einlassen, ebenfalls besser unter die Leute bringen. So durchschauen wir heute zwar die mentalen Routinen deutlich besser, die unseren Vorfahren einst das Überleben sicherten, doch wenn wir nicht auf der Hut sind, dann werden sie unter Umständen eben auch effizienter gegen uns eingesetzt. Wenn diesseitige Ideologien, religiöse oder esoterische Deutungsmuster, oder eben Verschwörungstheorien durch Reduktion und Vereinfachung, durch schnelle Verallgemeinerungen und rasche Werturteile die Welt nach simplen Mustern ordnen und versprechen, den Ereignissen einen ›Sinn‹ zu geben, können sie uns daher, wenn wir der gedanklichen Anstrengung aus dem Weg gehen, noch schneller überrumpeln und in ihren Bann schlagen.

2.9 ›Yesterday’s Tools‹

In praktischer Perspektive gilt zudem: wer Zusammenhänge unterstellt, wo der Zufall am Werk ist, wer die Verantwortung für die herrschenden Verhältnisse und sein eigenes Leben auf die undurchsichtigen Machenschaften finsterer Gestalten schiebt, verwendet vielleicht beträchtliche Zeit und Mühe auf die Aufdeckung der großen Weltverschwörung. Viel Engagement bei der Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Ursachen für die Fehlsteuerungen des eigenen Lebens und den allgemeinen Missständen sind von ihm dagegen nicht zu erwarten, noch auch entsprechende Tatkraft bei deren Beseitigung. Denn gemäß seiner Überzeugung von der Fremdsteuerung der Ereignisse müssen zuerst alle Verschwörer entlarvt und ihre geheimen Pläne restlos aufgedeckt werden, bevor überhaupt daran zu denken ist, an den herrschenden Verhältnissen etwas zu ändern.

≡ ›S tammheim ‹ In jener längst vergangenen Epoche, als die Terroristen noch Staatsfeinde hießen und nicht Islamisten und die Gefängnisse, die die Republik bewegten, noch keine fremdländischen Zungenbrecher wie Guantanamo und Abu Ghuraib waren, sondern solide deutsche Namen trugen, führte die Bundesrepublik Deutschland einen der teuersten Prozesse ihrer Geschichte. Nachdem die Staatsmacht die führenden Köpfe der ersten Generation der Rote Armee Fraktion (RAF) endlich eingefangen hatte, sperrte sie sie in den Hochsicherheitstrakt von Stammheim, änderte nebenbei noch flugs die Strafprozessordnung und erließ im Eilverfahren ein ›Kontaktsperrengesetz‹. Auch ließen offizielle Stellen, nach allem was man heute weiß, Andreas Baader, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Irmgard Möller in ihren Zellen abhören – ohne jede Rücksicht auf unsere Verfassung. Zugegeben: die Emotionen gingen hoch in jener Zeit.* Die Gefangenen versuchten, ihre Anschläge auf die ›Unterstützer‹ des Vietnamkriegs (unter ihnen amerikanische Armeeangehörige, US-Militäreinrichtungen auf deutschem Boden und das Gebäude des Springerverlags) wortgewaltig, mit dem Hinweis auf das völkerrechtlich garantierte Widerstandsrecht, als Krieg gegen den Staat zu rechtfertigen und unternahmen viel, um die deutsche Staatsmacht und ihre Handlanger als totalitäre und gewissenlose Unterdrücker vorzuführen. Nachdem es ihnen * | Der Prozess dauerte von Mai 1975 bis zum April 1977.

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allerdings immer weniger gelang, den Gerichtssaal zur Bühne für ihre Auftritte zu nutzen, versuchten die Unterstützer der RAF, ihre Gesinnungsgenossen durch Geiselnahmen (Hanns Martin Schleyer; ›Landshut‹) freizupressen. Als dies scheiterte, nahmen sich drei der vier Inhaftierten am 18. Oktober 1977 angeblich selbst das Leben (Irmgard Möller überlebte ihren ›Suizid‹-Versuch). Baader schoss sich, so die offizielle Version, selbst mit einer Pistole in den Nacken, Raspe mit einer (anderen) Pistole in die Schläfe, Ensslin erhängte sich am Fensterkreuz und Möller brachte sich diverse Stichwunden bei… Häftlinge im Besitz von Pistolen und Messern? Im Hochsicherheitstrakt? Wer dies für normal hält, wird sicher auch nichts weiter dabei finden, dass ausgerechnet in der Nacht zum 18. Oktober in weiten Teilen der Vollzugsanstalt der Strom ausfiel (sodass der unbemerkte Zutritt zu den Zellen möglich war). Bis heute jedenfalls hält sich das wahrhaft haarsträubende Gerücht, dass hier entweder in staatlichem Auftrag gemordet wurde oder man die Häftlinge doch bei ihrem gemeinsamen Selbstmord wenigstens gewähren ließ wenn nicht sogar aktiv unterstützte. Denn schließlich wäre das eine elegante Lösung gewesen, um weitere Agitation zu unterbinden sowie neue Versuche zu vereiteln, die Gefangenen freizupressen. Schwer vorzustellen ist es jedenfalls, dass die illegale Abhöraktion (s.o.) weder Hinweise auf die Schusswaffen in den Zellen noch auf die Verabredung zum gemeinschaftlichen Suizid ergeben haben soll.

2.10 Fazit

Fassen wir zusammen. Die reflexhafte Ablehnung von Verschwörungstheorien sowie intellektueller Snobismus im Umgang mit ihnen sind wenigstens vorschnell. Vor allem aus drei Gründen. Erstens gibt es tatsächlich kein Argument, um sie pauschal zu widerlegen. Dies liegt abgesehen von dem Restzweifel, mit dem jedes empirische Wissen behaftet ist, vor allem daran, dass sich fiktive Verschwörungstheorien nicht grundsätzlich von solchen Theorien unterscheiden lassen, denen eine reale Verschwörung zugrunde liegt. Weist man alle Verschwörungstheorien pauschal zurück, schlösse man damit offensichtlich zugleich die Möglichkeit aus, dass Ereignisse überhaupt die Folge einer Verschwörung sein können – was schon angesichts einer historischen Überlieferung, die uns über unzählige folgenreiche reale Verschwörungen informiert, absurd ist.91 Zweitens ergibt die Beschäftigung mit dem Auf bau und den theoretischen Strukturmerkmalen von Verschwörungstheorien (anders als die inhaltliche Auseinandersetzung mit Einzelfällen) eine Reihe interessanter Einsichten auch für unsere gewöhnliche Theoriebildung. Oder anders formuliert: Es gilt nicht nur die Formel: ›Aufklärung schlägt in Mythologie zurück‹, sondern eben auch deren Umkehrung »Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos«.92 So kann die Analyse des Mythos – oder in unserem Fall eben der funktional sehr ähnlichen verschwörungstheoretischen Argumentation – durchaus das Verständnis für die Reichweite unserer ›normalen‹ Erklärungen und Begründungen schärfen. Sie führt uns vor, welche Strategien der Absicherung unserer Wissensansprüche unproblematisch sind und an welchen Stellen Vorsicht und Zurückhaltung angebracht sind. Darüber hinaus erlaubt uns die theoretische Analyse, drittens, eine Standortbestimmung des individuellen und des kollektiven Bewusst-

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seins. Wenn man die Bereitschaft, an Verschwörungstheorien zu glauben, nicht in erster Linie als die Verlängerung des traditionellen Dämonenglaubens betrachtet oder ausschließlich auf ein Bedürfnis nach Unterhaltung zurückführt, wird der Blick frei für die spannendere Hypothese, dass ihre Popularität zu einem nicht geringen Teil Ausdruck einer neuen Krisensituation ist. Die anhaltende Beliebtheit und auch die Zunahme verschwörungstheoretischer Erklärungen sind, so wurde hier versucht darzustellen, eine Abwehrreaktion auf die modernen Verhältnisse, die den Einzelnen durch ihre Unübersichtlichkeit und die Geschwindigkeit des Wandels zunehmend theoretisch überfordern und ihm damit gleichzeitig die praktische Orientierung nehmen.93 Aus diesem Grund scheint auch die in der akademischen Beschäftigung vorherrschende Fixierung auf die ›Widerlegung‹ von Verschwörungstheorien verfehlt. Eine Unterscheidung zwischen eingebildeten Verschwörungstheorien und solchen, denen tatsächlich eine Verschwörung zugrunde liegt, ist, wie gesagt, nur in einigen Fällen und selbst dann nur im Nachhinein sicher zu treffen. Und dabei ist denn auch allenfalls die Bestätigung einer echten Verschwörung möglich; eine endgültige (empirische) Widerlegung dagegen gelingt in keinem Fall. Dies hängt, neben den gerade erwähnten Faktoren, auch noch mit einer weiteren Besonderheit des Untersuchungsgegenstands zusammen. Denn im Gegensatz zu den Gegenständen ›normaler‹ Theorien entzieht dieser sich per Definition und aktiv der Erforschung: Verschwörer vernebeln, verschleiern, legen falsche Fährten und unternehmen auch sonst alles, um der Entdeckung zu entgehen. So kann jede Beobachtung, jede Überlegung, die gegen eine Verschwörungstheorie ins Feld geführt wird, leicht als Folge der aktiven Gegenwehr der Verschwörer gedeutet werden. Dennoch gibt es, wie wir gesehen haben, einige Auffälligkeiten, die bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der entsprechenden Behauptungen und der Unterscheidung von echten und eingebildeten Verschwörungstheorien helfen können. Neben dem selektiven Kohärentismus bei der Würdigung empirischer Belege (die Erfahrung zählt nur dann, wenn sie die Theorie stützt, und nicht, wenn sie ihr zuwider läuft), steht hier an herausragender Stelle das Bemühen fiktiver Verschwörungstheorien, akzeptierte Normen des wissenschaftlichen Vorgehens besonders gut zu erfüllen. In dieser Beziehung übertreffen sie unsere ›normalen‹ Theorien oft um Längen, weil ihre innere Stimmigkeit und ihre Erklärungsleistung einen Grad von Vollkommenheit und Vollständigkeit erreichen, der

2.10 Fazit

für unsere normalen empirischen Theorien unrealistisch ist. Sie sind zu schön, um wahr zu sein. Zweitens sind die Existenzaussagen, die einer verschwörungstheoretischen Argumentation zugrunde liegen, sehr viel folgenreicher, als man es bei oberflächlicher Betrachtung zunächst vermuten würde. Denn um auch nur halbwegs plausibel zu sein, erfordern Existenzaussagen bei genauerem Hinsehen oft durchaus weitreichende Anpassungen an anderen Meinungen über das, was der Fall ist. Der geschärfte Blick auf die ontologischen Festlegungen, d.h. die Existenzaussagen und das, was aus ihnen folgt, gibt uns so bereits einen wichtigen Hinweis für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit verschwörungstheoretischer Behauptungen. Eine drittes Merkmal, das besonders die fiktiven Verschwörungstheorien sowohl von echten Verschwörungstheorien als auch von normalen wissenschaftlich Theorien unterscheidet, ist die Dämonisierung ihres Untersuchungsgegenstandes. Je mehr die Verschwörer zu übermenschlichen Mustern des Bösen werden, desto stärker sollte unser Verdacht sein, dass die Theorie allein der Einbildung entspringt. Mit der Bewertung ihres Gegenstands nach ›moralischen‹ Gesichtspunkten, verlassen Verschwörungstheorien zugleich den Bereich einer deskriptiven Wissenschaft (also einer Wissenschaft, die versucht, sich ihrem Untersuchungsgegenstand ohne Wertungen zu nähern) und bewegen sich im Umfeld normativer Theorien. Viertens operieren viele fiktive Verschwörungstheorien mit einer verkürzten Vernunftkonzeption, die von der Überprüfung des Argumentationsziels auf seine Rationalität aktiv ablenkt. Dass Verschwörungstheorien sich dabei auf ein Verständnis der Vernunft stützen können, das heute oft unhinterfragt auch in vielen anderen Zusammenhängen zugrunde gelegt wird, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Verzicht auf eine rationale Abwägung der Ziele ein weiteres Indiz dafür ist, dass wir es mit einer fiktiven Theorie zu tun haben. Schließlich haben echte Verschwörer ein handfestes Ziel, das sich mit etwas Überlegung in Beziehung dazu setzen lässt, was wir über die Wünsche, die Antriebe und die Reichweite menschlichen Handelns allgemein wissen. Außerdem kann es vor dem Hintergrund des Aufwands erwogen werden, den Menschen für ihre Ziele normalerweise treiben oder überhaupt zu treiben in der Lage sind. Die philosophische Analyse hilft dabei, die Argumentationsschritte und Bestandteile der verschwörungstheoretischen Theoriebildung zu

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

isolieren, um deren Glaubwürdigkeit besser einschätzen zu können. Die Nähe des verschwörungstheoretischen Zweifels zum philosophischen Skeptizismus etwa macht deutlich, wie es um die Verlässlichkeit unserer Meinungen insgesamt bestellt ist, welcher Preis für absolute Gewissheit zu zahlen wäre (nämlich der Verlust des Erfahrungsbezugs) und wie fiktive Verschwörungstheorien sich hier auf kreative Weise philosophischer Versatzstücke bedienen, um ihre Argumentation plausibel erscheinen zu lassen. Denn einerseits greifen sie konkurrierende Theorien mit dem Hinweis auf die prinzipielle Unsicherheit von (empirischen Behauptungen) an, andererseits machen sie für sich selbst in dieser Beziehung gern eine Ausnahme; oft treten sie ausdrücklich mit dem Anspruch auf, letzte Wahrheiten zu verkünden – obwohl sie an anderer Stelle (nämlich um ihren Zweifel an der offiziellen Version zu stützen) selten vergessen, darauf hinzuweisen, dass es in der Erfahrungswelt eben nur Wahrscheinlichkeiten gibt. Ein weiteres Prinzip der Philosophie, das Sparsamkeitsprinzip, stößt bei Verschwörungstheorien dagegen an die Grenzen seiner Anwendbarkeit. Der für den direkten Vergleich von Theorien sonst überaus nützliche Grundsatz, mit so wenigen Prinzipien und Existenzbehauptungen wie möglich auszukommen, versagt bei Verschwörungstheorien, weil diese sich, ähnlich wie theologische ›Erklärungen‹, auf nur eine einzige Grundbehauptung stützen und deshalb aus Gründen der ›Einfachheit‹ den komplizierteren wissenschaftlichen Theorien vorzuziehen wären. Um diese absurde Konsequenz zu vermeiden, sollte man die wichtige Faustregel »Vorsicht vor allen Ideen, die zu viel erklären« als Randbedingung für die Anwendung von Ockhams Maxime im Hinterkopf behalten. Das Versagen eines philosophischen Prinzips in diesem einen Fall wird durch weitere positive Ergebnisse der theoretischen Untersuchung allerdings mehr als ausgeglichen. Erstens: die Tatsache, dass wir uns bei der Interpretation unserer Wirklichkeit heute mehr und mehr auf bloße ›Informationen‹ und mittelbare Daten verlassen und mit vielen empirischen Phänomenen nur noch ›virtuell‹ in Kontakt treten, treibt uns zwar in die Arme einer kohärentistischen Auffassung der Wahrheit. Doch die philosophische Analyse zeigt, dass empirische Meinungen eben nicht in dieser Weise abgesichert werden können. Wenn also Verschwörungstheorien versuchen, die Mittelbarkeit unserer modernen Erkenntnissituation für ihre Zwecke auszunutzen – durch die ›Absicherung‹ ihrer Behauptungen in ausgefeilten Verweissystemen, deren empirische Anbindung

2.10 Fazit

im besten Fall fragwürdig ist, und durch einen selektiven Erfahrungsbezug, bei dem nur die ›bestätigenden‹ Momente zählen – so untergraben sie damit letztlich selbst ihre Legitimität. Zweitens: Verschwörungstheorien sind in ihrem Selbstverständnis deskriptiv. Bei unvoreingenommener Betrachtung stellt sich dies allerdings anders dar. Hier zeigt sich nämlich schnell, dass sie oft starke Wertungen vornehmen, weil sie die Welt klar in Kategorien von Gut und Böse einteilen, und dass sie deshalb in Wahrheit auf dem Feld der normativen Theorien spielen. Anders könnten sie auch ihr Versprechen gar nicht einlösen, Orientierung im Denken und Handeln zu bieten. Willkommener Nebeneffekt ihrer Aufteilung der Welt in Gut und Böse: wer die Weltsicht einer Verschwörungstheorie und ihre klaren Schuldzuweisungen übernimmt, kann sich damit elegant der Verantwortung für seine Entscheidungen und deren Folgen entledigen. Drittens: Verschwörungstheorien – hier steht die fiktive Variante deutlich im Vordergrund – ordnen durch ihre Interpretation der Ereignisse die Wirklichkeit (oder Teile davon) zu einem sinnvollen Ganzen, das einem Plan folgt. Sie machen uns damit ein Angebot, auf den Sinnverlust zu reagieren, der sich im Gefolge der wissenschaftlichen Vermessung der Welt eingestellt hat. Denn diese informiert uns darüber, dass unser Dasein sehr wahrscheinlich keinem großen Plan folgt. Verschwörungstheorien erscheinen in dieser Perspektive als eine diesseitige Variante der traditionellen ›Sinnstifter‹ Mythos und Religion. Die Annahme einer konspirativen Fremdsteuerung stabilisiert, ähnlich wie früher Mythos und Religion, sowohl die Lebensgeschichte des Einzelnen als auch den Zusammenhalt einer Gemeinschaft – wenn es ihr denn gelingt, sich als kollektives Interpretationsmuster zu etablieren. Dadurch, dass die herrschenden Verhältnisse als Ergebnis einer Verschwörung der ›Feinde‹ einer Gesellschaft interpretiert werden – in der europäischen Geschichte waren (und sind dies zum Teil auch heute noch) vor allem Juden, Freimaurer, Illuminaten, Islamisten, Sozialisten, Kommunisten, internationale Hochfinanz und politisch motivierte Terroristen – liegt die Verantwortung für Mangelzustände, Misswirtschaft, soziale Verwerfungen und Katastrophen klar außerhalb der Gemeinschaft selbst. Und die Frage nach eigenen Versäumnissen stellt sich für ihre Mitglieder nicht. Dabei funktionieren Verschwörungstheorien, viertens, nicht zuletzt deshalb so hervorragend, weil sie gekonnt an entwicklungsgeschichtlich ältere und unter anderen Bedingungen einst sehr erfolgreiche Be-

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wältigungsstrategien des Menschen anknüpfen. In diesem Punkt unterscheiden sie sich nicht von Fast Food und Volksmusik. Sie setzen auf die evolutionsbedingten Defizite unseres Erkenntnisvermögens, um ihre Interpretationen in unseren Köpfen zu verankern: unseren Hang zu schnellen Verallgemeinerungen, unsere Vorliebe für einfache Erklärungen, unsere Begeisterung für absolute Gewissheiten und unsere Neigung zur mentalen Ökonomie. Dennoch oder vielleicht auch gerade weil ihre alternativen Erklärungen im Einzelfall oft so griffig und einleuchtend sind, tragen sie damit (ungewollt) zur Verbesserung unserer gesellschaftlichen Theoriebildung bei. Denn besonders in einer Zeit, in der die Zahl der ›offen‹ im Geheimen agierenden Alphabet-Agencies kaum noch zu überschauen ist, erinnert uns die verschwörungstheoretische Konkurrenz zu den offiziellen Verlautbarungen mit Nachdruck daran, die offiziellen Versionen jeweils sorgfältig zu prüfen. Sie legen den Finger auf die Brüche und Ungereimtheiten in den offiziellen Geschichten und fordern uns immer aufs Neue dazu auf, über das Maß und die Gründe des Vertrauens nachzudenken, mit denen wir unseren sozialen Institutionen und unseren Mitmenschen begegnen. Und schließlich: Verschwörungstheorien leisten zwar Erste Hilfe im Umgang mit Krisensituationen, weil sie einen Sinnkontext zur Bewältigung verstörender Ereignisse liefern. Wer allerdings das eigene Verständnis der Welt gewohnheitsmäßig auf dieser Grundlage betreibt, verschlimmert über kurz oder lang seine Situation. Denn wenn sich die anfängliche Klarheit der verschwörungstheoretischen Interpretation später doch als trügerisch herausstellt, sind die Ereignisse am Ende noch viel undurchsichtiger, und die ursprüngliche Verwirrung und das Gefühl der Sinnlosigkeit verstärken sich weiter. Oder aber die eigenen Handlungsspielräume verengen sich auf die Zwangsvorstellung, alle Kraft auf die Aufdeckung einer Verschwörung verwenden zu müssen. Wer der mühsamen Auseinandersetzung mit der Unübersichtlichkeit des modernen Lebens und den Wechselfällen des Schicksals dauerhaft (und nicht nur punktuell) durch die gedankliche Abkürzung eines umfassenden Verschwörungsglaubens zu entgehen versucht, ist irgendwann in einer eigenen Gedankenwelt gefangen, die keiner philosophischen Therapie mehr zugänglich ist.

2.10 Fazit

≡ C atilina Zum Schluss noch ein Klassiker: Amtsmissbrauch, durchkreuzter Ehrgeiz und ein versuchter Umsturz. Im Jahr 66 v. Chr. ließ man die Bewerbung des römischen Senators Lucius Sergius Catilina auf das Amt des Konsuls nicht zu, weil gegen ihn gerade ein Prozess (wegen Missbrauch eines früheren Amtes) lief. Mit den Folgen leben unzählige Lateinschüler und Lateinschülerinnen bis heute; denn sowohl Sallusts De coniuratione Catilinae* als auch Ciceros Orationes in Catilinam** gehören immer noch zum Kanon des Lateinunterrichts. Im Jahr 63 v. Chr., das Gerichtsverfahren war inzwischen vom Tisch, vereitelte Cicero ein weiteres Mal Catilinas Chancen, mit legalen Mitteln an die Macht zu gelangen. Darauf hin versuchte der von Ehrgeiz getriebene Mann aus altem Stadtadel mit einigen Militärs den Staatsstreich in Rom. Er fühlte sich sicher in der Vorbereitung dieser Unternehmung, weil dem Senat außer Gerüchten über den bevorstehenden Umsturz und die geplante Ermordung prominenter Politiker lange Zeit nichts Handfestes vorlag. Selbst als sich der mit Catilina verbündete Heerführer Gaius Manlius in der Nähe von Rom erhob, ließ sich die Verbindung zu Catilina nicht hieb- und stichfest nachweisen. Erst als es Cicero durch eine List gelang, endlich einige Schriftstücke in die Hand zu bekommen, die Catilina und seine Mitverschwörer in Rom eindeutig belasteten, gab der Senat grünes Licht für die Verfolgung und Verhaftung der Verschwörer. Obwohl ihnen eigentlich ein ordentliches Gerichtsverfahren zustand, wurden diejenigen Mitwisser, die man in Rom festnehmen konnte, ohne Prozess hingerichtet. Catilina selbst allerdings war nicht unter ihnen. Er konnte rechtzeitig aus der Stadt fliehen und fiel erst nach zähem Widerstand in einer letzten Schlacht, die sich die schwindende Zahl seiner Anhänger mit einem vom Senat ausgesandten Heer lieferte.

* | Sallustius, Gaius Crispus. Die Verschwörung Catilinas/Catilinae Coniuratio. Lat./ dt. Hg. J. Lindauer. Berlin, 2012. **  |  Cicero, Marcus Tullius. Vier Reden gegen Catilina/Orationes in Catilinam. Lat./dt. Hg. D. Klose. Stuttgart, 2009.

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Anhänge

Anhang 1: Absichten und Folgen — Karl Poppers Argument

Eine beliebte Behauptung von Verschwörungstheoretikern ist die Unterstellung, dass sämtliche Folgen der Entscheidungen und Handlungen den Verschwörern nicht nur bewusst, sondern von ihnen tatsächlich beabsichtigt sind. Diese Annahme ist mit unserer Alltagserfahrung nur schwer in Einklang zu bringen. Denn bereits die vorherige Abwägung auch nur sämtlicher relevanter Folgen einer Handlung erfordert in der Regel einen derart großen Aufwand, dass schon unter dieser Bedingung an menschliches Handeln kaum noch zu denken ist. Wenn wir tatsächlich in einer Welt leben, in der der Lauf der Ereignisse nicht bis ins Letzte kausal festgelegt ist (und vieles spricht dafür), untergräbt darüber hinaus der Zufall jeden Versuch, sämtliche Folgen im Voraus abzuschätzen. Den Sozialwissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker Karl Popper hat dies allerdings nicht davon abgehalten, die verschwörungstheoretische Unterstellung zum Ausgangspunkt eines pauschalen Widerlegungsversuchs einer »Verschwörungstheorie der Gesellschaft« zu machen.94 Er definiert diese Verschwörungstheorie so, »dass die Erklärung eines sozialen Phänomens in der Entdeckung besteht, dass Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses Ereignisses interessiert waren und dass sie konspiriert haben, um es herbeizuführen (wobei ihre Interessen manchmal verborgen sind und erst enthüllt werden müssen) […] Besonders Ereignisse wie Krieg, Arbeitslosigkeit, Armut, Knappheit, also Ereignisse, die wir als unangenehm empfinden, werden von dieser Theorie als gewollt und geplant erklärt«.95 Ob sich derart charakterisierte Verschwörungstheorien aufgrund der Fragwürdigkeit der Annahme, alle Handlungsfolgen seien von den Verschwörern geplant, tatsächlich pauschal widerlegen lassen, sei dahinge-

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stellt. Klar ist jedenfalls, dass Poppers Bestimmung so umfassend und zugleich so vage ist, dass sie entweder einen Zusammenhang formuliert, der trivialerweise zutrifft (innerhalb eines Gemeinwesens gibt es immer Absprachen, von denen nicht alle wissen), oder aber an der Sache vorbei geht. Denn darauf beharren, dass Verschwörer sämtliche Folgen ihres Handeln abschätzen und sie auch wollen, müssen Verschwörungstheoretiker natürlich nicht. Die Behauptung, sie hätten diejenigen Folgen durchdacht und gewollt, die direkt für das von ihnen gewünschte Ergebnis relevant sind, reicht eigentlich schon aus um die Bösartigkeit der Verschwörer hinreichend herauszustellen. Und es fällt ihnen im Zweifelsfall auch nicht schwer zuzugeben, dass diese oder jene Folge von den Verschwörern übersehen wurde – ohne dass dies die Glaubwürdigkeit ihrer Theorie nachhaltig untergraben muss. In diesem Fall liefe Poppers Widerlegungsversuch einfach ins Leere.96 Andererseits ist es natürlich durchaus plausibel anzunehmen, dass reale Verschwörer wegen des Risikos ihrer Unternehmung in der Regel tatsächlich weit über das normale Maß hinaus motiviert sind, die Folgen ihrer Handlungen abzuschätzen (und analog lässt sich dies auch den eingebildeten Verschwörern fiktiver Verschwörungstheorien unterstellen).97

Anhang 2: Kommentar

Theorie/ Behauptung Aliens in New Mexico

Alligatoren in NY

Bielefeld

Kommentar

VerschwörungsBarometer

Hätte es einen solchen Absturz tatsächlich gegeben, würde man selbst bei aller Vorsicht der Vertuscher wenigstens erwarten, dass inzwischen die eine oder andere technische Innovation, deren Entstehung sich aus unserer Wissenschaftsgeschichte tatsächlich nicht erklären lässt, ihren Weg an die Öffentlichkeit gefunden hätte. Großstadtmythos. Den Krokos wäre es schlicht zu kalt. Die Stadt liegt zwar ungefähr auf der Höhe von Rom (430 nördlicher Breite); aber bei einer Durchschnittstemperatur von 12.50 Celsius und extrem kalten Wintern bis minus 400 hält kein Kroko auf Dauer durch. Zum Vergleich: Rom liegt im Jahresdurchschnitt bei 15.50, und die Temperaturen bleiben auch im kältesten Monat über Null. Obwohl nach Jahren der Anti-BielefeldPropaganda außerhalb seiner Stadtgrenzen wohl kaum noch jemand ernsthaft von der Existenz Bielefelds überzeugt ist: grandioser und kompletter Humbug.98

sehr unwahrscheinlich

frei erfunden

frei erfunden

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Brot, Spiele, Schulden

Catilina ›Challenger‹

Cotes du Rhone Cult of AW

Das Netz – Totale Kontrolle

Auch wenn es keinen konspirativen Masterplan gibt: die Gier der heutigen Entscheider und ihr Hang, die nächsten Generationen mit den Folgen zu belasten, kann tatsächlich den Eindruck einer gigantischen Verschwörung erwecken. Dabei ist die gegenwärtige Lage aller Wahrscheinlichkeit nach nur das Ergebnis von Inkompetenz, Zahlenblindheit, Unwillen und Rücksichtlosigkeit. Aufgedeckt. Nachzulesen schon bei Sallust und Cicero. Ein leiser Zweifel beschleicht einen oft bei offiziellen Erklärungen für grandios in den Sand gesetzte Mega-Projekte. Ein Dichtungsring für ein paar Cent? Klingt so lächerlich, dass es fast deshalb schon wahr sein muss – vor allem wenn man sich daran erinnert, dass das Ingenieurwesen eine weitgehend humorfreie Zone ist. Wenn dahinter Chemiekonzerne mit unterirdischen Labors stecken, so machen sie ihre Sache jedenfalls großartig. Esoterische Montage; willkürliche Vermischung von Fiktion und Fakten, bei der nicht einmal die Fußnoten die Behauptungen stützen. Bisher standen hinter der Ausspähung der Nutzer vor allem wirtschaftliche Interessen. Gerade erfahren wir allerdings, dass die Datensammelwut der Firmen auch bei den Geheimdiensten Begehrlichkeiten geweckt hat. Dennoch: nur wer den Kapitalismus insgesamt für eine Verschwörung gegen das Wohlergehen der Menschheit hält, erkennt hier einen konspirativen Masterplan. Schließlich haben wir es immer noch mit gegeneinander arbeitenden Firmen zu tun, die sich einen Vorteil im Konkurrenzkampf erhoffen und ihre Praktiken meistens durchaus öffentlich machen (wenn vielleicht auch nur im Kleingedruckten ihrer AGBs). – Wer seine Daten sorglos für ein paar Gratisanwendungen verschleudert, dem ist nicht zu helfen.

sehr unwahrscheinlich

aufgedeckt unwahrscheinlich

frei erfunden

frei erfunden

unwahrscheinlich

Anhang 2: Kommentar

Der Mond: Director’s Cut Die Iden des März Erfundenes Mittelalter

Euro vs. D-Mark

Freimaurer

Ausgemachter Blödsinn: die ›Beweise‹ entstehen nur durch eine bewusst verzerrende Interpretation der Daten. So oder ähnlich, gemäß der historischen Forschung. Ausgemachter Humbug: es fehlen nicht nur ein plausibles Motiv und ein glaubwürdiger Nutzen, sondern schon der Behauptung, man könne fast dreihundert Jahre ›Phantomzeit‹ erfinden und dies über tausend Jahre lang geheim halten, lässt sich mit Machiavelli entgegenhalten: vor der »Bosheit« von Konkurrenten, vor »Unvorsichtigkeit« oder »Leichtsinn«, die zur Aufdeckung einer Verschwörung führen, »kann man sich nicht schützen, sobald die Zahl der Mitwisser drei oder vier übersteigt« (s.o. Abschnitt 2.1). Die ›Wiedervereinigung‹ scheint tatsächlich in sehr viel größerem Maß von der (geheimen) Zusicherung abhängig gewesen zu sein, die D-Mark rasch durch eine europäische Gemeinschaftswährung zu ersetzen, als es im ersten Einheitstaumel zu vermuten gewesen wäre. Wenn überhaupt, so liegt hier wohl am ehesten eine ›Verschwörung‹ zum Guten vor. Nach allem, was der historischen Forschung über das Wirken der Freimaurer bekannt ist, streben deren politische Ambitionen gegen Null. Die Behauptung, sie seien eine Keimzelle der ›Jüdischen Weltverschwörung‹ ist also ein Fall von katholischem und faschistischem Mobbing. Man muss sich daran erinnern, dass das ideologisch unterlegte Freimaurertum in einer Zeit großer Umwälzungen entstand, in einem Klima also, das die Suche nach konspirativen Drahtziehern stark begünstigte.

sehr unwahrscheinlich aufgedeckt frei erfunden

wahrscheinlich (und inzwischen z.T. durch Dokumente zu belegen)

sehr unwahrscheinlich

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›Functional Food‹

Giftgas

Illuminaten

In Quintum Novembris JFK

Dass im Gesundheitswesen Vieles nicht mit rechten Dingen zugeht, kann man wohl ohne Übertreibung behaupten. Neben der Unfähigkeit unserer gewählten Volksvertreter, der Mauschelei beim Patentschutz ein Ende zu setzen (›Evergreening‹), scheint es hierzulande nicht einmal möglich, eine Positivliste durchzusetzen oder das Problem der Überbürokratisierung auch nur im Ansatz anzugehen. Im Gegenteil: was Big Pharma will, wird gemacht. Vieles davon ist allerdings öffentlich bekannt. Deshalb: von einer Verschwörung kann man in diesem Fall kaum sprechen. Das Phoebus-Kartell von 1924 gab es wirklich. Und die zwangsweise Einführung hochgiftiger Leuchtmittel mit sehr zweifelhaften ›Vorteilen‹ gegenüber einer bewährten und ungefährlichen Technik trägt tatsächlich viele Anzeichen einer Verschwörung mit dem Ziel der Gewinnmaximierung. Aufgedeckt. – Aufgrund vielfacher historischer Wiederbelebungsversuche sind die Gerüchte um anhaltende Aktivitäten der Illuminaten dennoch nicht tot zu kriegen. Aufgedeckt (durch Verrat). Die Darstellung orientiert sich an den Fakten der historischen Forschung.

unwahrscheinlich

Da wichtige Dokumente von der US-Regierung immer noch unter Verschluss gehalten werden, ist es bis auf weiteres schwer, sich ein unvoreingenommenes Urteil darüber zu bilden, ob hinter dem Anschlag in Dallas nun konspirative Hintermänner steckten oder nicht. An Auffälligkeiten (vor allem in den Bereichen Ballistik und Forensik), die in diesem Fall tatsächlich relativ gut dokumentiert sind, ist die offizielle Geschichte jedenfalls nicht eben arm.

bis heute unentscheidbar

wahrscheinlich (in ähnlicher Form)

aufgedeckt

aufgedeckt

Anhang 2: Kommentar

…Kontrolle ist besser! Kustoden: Kommunikation im Untergrund

Menschenversuche

Nine/ Eleven

No smoking beyond this point!

›Stammheim‹

So wie es oben ausgearbeitet ist, ist das weitgehend Zukunftsmusik; die RFID-Technik wird allerdings bereits heute in der eingangs dargestellten Weise eingesetzt. Eleganter Humbug (der akademischen Art). Sinnvoll wäre eine solche Kommunikationsform wohl nur, wenn es, erstens, keine andere Möglichkeit der Nachrichtenübermittlung gäbe und wenn es, zweitens, bei den Botschaften auf einige Jahrzehnte mehr oder weniger nicht ankäme. Auch wenn Firmen und Regierungen gern ultimative Antworten auf die Frage nach der optimalen Absicherung ihrer Macht oder nach der optimalen Vermarktung ihrer Produkte hätten, so scheinen Aktionen à la Tuskegee in demokratischen Staaten immer noch eher die Ausnahme zu sein. Ungereimtheiten en masse; dass die offizielle Geschichte so stimmt, wie sie erzählt wird, ist sehr unwahrscheinlich – die alternativen Verschwörungsszenarien sind allerdings ebenfalls nicht wasserdicht. Denunziatorischer Eifer, wenn es darum geht, sich anderen ›moralisch‹ überlegen zu fühlen, mag ein Grundzug des menschlichen Charakters sein – die Verschwörung liegt hier dennoch auf der Seite der Tabakindustrie, die die Gefahren ihrer Produkte über Jahrzehnte wider besseren Wissens heruntergespielt hat. Hier passt einiges nicht zusammen; weshalb sich auch die Zweifel an der offiziellen Version bis heute halten. Und selbst die Tatsache, dass viele Dokumente kurz vor der Jahrtausendwende für die Öffentlichkeit zugänglich wurden, konnte daran bisher nicht viel ändern.

unwahrscheinlich

frei erfunden

unwahrscheinlich

wahrscheinlich

frei erfunden

wahrscheinlich

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Anhang 3: Musterlösungen ≡ ›F unctional F ood ‹ Betrachten wir zunächst die unstrittigen Prämissen des Arguments: • Unser Essen steckt voller Chemie Diese Aussage ist trivial. Ohne ›Chemie‹ gäbe es kein Leben auf der Erde. Selbst wenn man spezifischer formuliert, dass es um ›künstliche‹ chemische Verbindungen geht, die bei der modernen Massenproduktion von Nahrungsmitteln entweder als Rückstände des Produktionsprozesses in ›natürlichen‹ Nahrungsmitteln bleiben, oder als Geschmacksverstärker, für bessere Haltbarkeit etc. absichtlich zugefügt wurden, bleibt die Aussage unproblematisch. Allerdings ist die Grenze zwischen ›natürlich‹ und ›künstlich‹ fließend. Fallen bereits die Rückstände einer ›natürlichen‹ Düngung, wie sie seit Jahrhunderten praktiziert wird, darunter? Oder tun sie es erst dann, wenn im Stall großzügig mit Antibiotika und manipuliertem Futter hantiert wurde, deren Reste und Abbauprodukte dann auch auf die Äcker (und unsere Teller) gelangen? Egal wie man diese Fragen beantwortet: an dieser Prämisse ist nichts auszusetzen. • Arzneimittel enthalten chemische Substanzen Im Rahmen unseres normalen Weltverständnisses ist dies ebenfalls eine triviale Behauptung. Ebenso wie die spezifischere Behauptung, dass diese Substanzen Einfluss auf den Stoffwechsel haben – denn schließlich beruht die Wirkung der meisten Arzneimittel genau darauf. • Vielen Fertigprodukten werden (angeblich) gesundheitsfördernde Substanzen zugesetzt Vitamine, Spurenelemente, ›probiotische‹ Bakterien etc. Auch ohne selbst über ein vollausgestattetes Labor zu verfügen, darf man annehmen, das einiges von dem, was auf der Verpackung als ›wertvoller‹ Funktionszusatz deklariert wird, auch drin ist – ob diese Substanzen allerdings tatsächlich so ›wertvoll‹ sind, wie behauptet, sei dahingestellt.

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• Argo-Chemikalien, pharmakologisch wirksame Substanzen und Nahrungszusätze werden oft von denselben (Groß-)Konzernen hergestellt Auch hier haben wir es mit einer unstrittigen Behauptung zu tun, die sich mit vergleichsweise geringem Rechercheaufwand überprüfen lässt. • Viele Arztpraxen stehen unter finanziellem Druck, was gezielt von den Medikamentenherstellern ausgenutzt wird Spätestens seit der Umstellung der Vergütungen in der Branche auf die Regeln des Gesundheitsreformgesetzes von 2000/1 wird in den Praxen schärfer gerechnet. Das ›leistungsorientierte‹ und pauschalierte Abrechnungssystem wurde aus dem australischen Bundesstaat Victoria importiert und nimmt unter der Überschrift ›Diagnosis Related Groups‹ (DRG), eine Klassifizierung von Patienten primär nach ökonomischen Gesichtspunkten vor. Erstattet werden den Ärzten seitdem Fallpauschalen für eine Behandlung, die unabhängig vom Aufwand ist, den sie im Einzelfall treiben müssen. Da ist eigentlich nur verwunderlich, dass immer noch viele von ihnen gegen die Verlockungen der Pharmavertreter (von Gratisproben bis zu geldwerten Sachleistungen) und die Beeinflussung ihres Urteils durch Fortbildungen in der Südsee weitgehend immun zu sein scheinen – und mit ihrem Patientenstamm nicht in großem Stil konspirativ an Gefälligkeitsstudien teilnehmen oder bei der Verschreibung unsinnig teurer Analogpräparate mitmachen. • Der Markt für Analogpräparate ist riesig Die in der Fußnote genannte Zahl ist korrekt: auch wenn wir uns im Rahmen der Finanzkrise der letzten Jahre an das Jonglieren mit Milliarden gewöhnt haben: eine Milliarde Euro sind noch immer keine Peanuts. Wenn es an diesen Behauptungen nichts auszusetzen gibt, wo liegt dann der Haken? Problematisch ist die folgende Unterstellung: • Moderne Nahrungsmittel werden absichtlich mit krankmachenden Substanzen angereichert Auch wenn moderne Nahrungsmittel oft Dinge enthalten, deren Unbedenklichkeit zweifelhaft ist (Antibiotika, Pestizidrückstände, genetisch manipulierte Organismen etc.), so scheint dies doch nur ein bedenkenlos in Kauf genommener Nebeneffekt der allerdings durchaus absichtsvollen ›Optimierung‹ des Produktionsprozesses zu sein. Es steht außer Frage, dass vielerorts wirtschaftliche Interessen die Abläufe in ›ungesundem‹ Maß diktieren, aber dass die Zulieferer im Geheimen einen derart ausgeklügelten Kreislauf von Aground Pharmachemie installiert hätten, ist nicht sehr wahrscheinlich. Schließ-

Anhang 3: Musterlösungen

lich profitieren sie auch so. Hier lässt sich also mit dem Sparsamkeitsprinzip argumentieren und fragen, was denn der zusätzliche Nutzen einer Verschwörung und deren aufwendiger Geheimhaltung wäre, wenn das System schon von selbst hervorragend funktioniert. Und schließlich: trotz des wirtschaftlichen Drucks in der Gesundheitsindustrie (und einer Reihe von ›Skandalen‹ in der Branche) dürften die meisten Ärzte immer noch zu ihrem Eid stehen, der ihnen derartige Mauscheleien klar verbietet. Fazit: die Theorie setzt auf ein verbreitetes Unwohlsein auf, das uns sowohl im Hinblick auf unsere Nahrungsmittel als auch im Hinblick auf die Machenschaften von Big Pharma und im Gesundheitswesen allgemein befällt. Für beides gibt es Anlässe genug. Spektakuläre Lebensmittelskandale (vom Frostschutzmittel im Wein bis zum Dioxin in Hühnereiern) beglücken uns in schöner Regelmäßigkeit. Und in einem der lukrativsten Arzneimittelmärkte der Welt erleben wir nicht nur, dass Medikamente so teuer sind, wie sonst fast nirgendwo anders, sondern auch, wie eine gut finanzierte und wohl organisierte Lobby noch jeden unserer Entscheider in die Zange nimmt, der ihr mit der Wegnahme von Vergünstigen droht. Hier wird getrickst was das Zeug hält, um Positivlisten zu verhindern, Zulassungen für angeblich ›neue‹ Präparate mit exorbitanten Preisaufschlägen durchzudrücken, Konkurrenz vom deutschen Markt fernzuhalten und Transparenz zu verhindern. Doch auch wenn die Ausplünderung der Allgemeinheit hier in großem Stil und mit System betrieben wird: vieles ist so geheim dann doch nicht.

≡ D as N e t z — Totale K ontrolle Auch hier sind die meisten Behauptungen nah an der Wahrheit. Dennoch besteht wenig Grund, an eine Verschwörung zu glauben: die Absichten und Fakten hinter der Datensammelei sind nicht geheim. Betrachten wir auch hier zunächst die unstrittigen Prämissen: • Wir sind auf dem Weg in die totale globale Überwachung In den industrialisierten Ländern jedenfalls werden inzwischen viele Lebensäußerungen des Einzelnen elektronisch festgehalten. Auch wer sich weitgehend von der aktiven Nutzung moderner Kommunikationsmedien fernhält (was inzwischen schon mit erheblichem Aufwand verbunden ist), kann kaum verhindern, im Alltag von einer Vielzahl von Überwachungssystemen erfasst zu

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werden (Kameras im öffentlichen Raum, Chipkartenzugänge, Profile, die über Kunden und Bürger elektronisch angelegt werden, Voyeure der Geheimdienste etc.) und dass andere Menschen Informationen über sie netzöffentlich machen. Wer Navigationssysteme und Telefon nutzt, bargeldlos bezahlt, oder hin und wieder im Internet unterwegs ist, hinterlässt eine noch deutlichere Datenspur, die seiner Person zugeordnet werden kann, und zwar lange bevor er selbst in ›social networks‹ über sich Auskunft gibt oder persönliche Daten auf externen Servern ablegt. Alles, was es für eine umfassende Überwachung des Einzelnen heute noch braucht, ist der Wille, die massenhaften elektronischen Spuren zusammenzuführen, eine clevere Software, die dies bewerkstelligt und ein wenig Rechenkapazität. • Sie wählen aus, was wir sehen sollen Dies gilt auf jeden Fall für die derzeit größte und beliebteste Suchmaschine. Allerdings machen deren Betreiber auch keinerlei Geheimnis daraus, dass sie die Inhalte des Netzes bewerten und (nach für den Nutzer undurchsichtigen Prinzipien) vorsortieren – angeblich zu unserem Vorteil. Ob man sich dieser Fürsorglichkeit unterwerfen will oder nicht, ist aber bisher noch eine Entscheidung des Benutzers. Der Unterschied liegt hier in der Differenz von ›sollen‹ und ›müssen‹. Niemand zwingt uns bis jetzt, den vorsortierten Verweisen zu folgen; so wie uns auch bis heute niemand zwingt, eine bestimmte Software zu verwenden. • Sie verkaufen uns ›unsere‹ Musik, Meinungen etc. Hier gilt, ›ihre‹ Vorschläge sollen uns helfen, und zwar vor allem bei unseren Konsumentscheidungen: ›Personen, die folgendes betrachtet oder gekauft haben, haben sich auch hierfür interessiert‹. Bisher geht es an dieser Stelle nur darum, dem Imperativ des modernen Menschen (›Du sollst konsumieren!‹) nachdrücklichere Geltung zu verschaffen und noch nicht darum, abweichendes Verhalten zu ahnden. • Hinter all dem steht ein Masterplan Ebenfalls richtig. Speziell hinter der Maxime des derzeitigen Suchmaschinen-Marktführers, ›die Welt der Information zu organisieren und allen überall zugänglich zu machen‹, steht, glaubt man ihren Gründern, nicht nur die Absicht Geld zu verdienen. Der eine (Larry Page) betont seit Jahrzenten bei jeder Gelegenheit, dass es bei der Datensammlung und Ausspähung des Nutzers darum geht, die Grundlage für eine ›Künstliche Intelligenz‹ zu schaffen, die die Nutzeranfragen (und auch sich selbst) tatsächlich ›versteht‹. »We are not scanning all those books to be read by people. We are scanning them to be read by an A.I.« 99 Der andere (Sergey Brin) sagt Dinge wie: »Certainly if you

Anhang 3: Musterlösungen

had all the world’s information directly attached to your brain, or an artificial brain that was smarter than your brain, you’d be better off.« 100 Strittig ist vor allem die Behauptung einer gezielten Verdummungsabsicht. Das vorrangige Interesse der großen Softwareanbieter bei der Ausspähung ihrer Nutzer ist ja nach wie vor ein finanzielles. Dass sie dazu eigene Forschungsabteilungen unterhalten, die ihnen immer bessere Möglichkeiten zur Verknüpfung der anfallenden Daten zur Verfügung stellen, ist da nicht verwunderlich. Schließlich agieren sie in einem Markt, in dem die Regeln des Wettbewerbs noch nicht vollständig außer Kraft gesetzt sind; und nur indem sie die Treffsicherheit ihrer Anzeigenplatzierungen, ihrer Vorhersagen von Trends etc. erhöhen, können sie die Nase im Konkurrenzkampf vornbehalten. Dass uns die entstehende Netzkultur mit ihrem informationellen Dauerfeuer kaum mehr zum gründlichen Nachdenken kommen lässt, ist dabei tatsächlich nur ein Nebeneffekt, den wir aus reiner Bequemlichkeit auch noch selbst befördern. Fazit: hier kann man nur dann zu Recht von einer Verschwörung sprechen, wenn man den Kapitalismus selbst als eine Verschwörung gegen das Wohl der Menschheit versteht. 101 Ob die Absicht, eine künstliche Intelligenz zu erschaffen, die alles über jeden weiß und ›jede Frage beantworten kann‹ (Page), zum Beispiel auch die, ob ein Bewerber eingestellt, ein Straftäter hingerichtet, oder ein Krieg erklärt werden soll, wirklich so clever ist, steht auf einem anderen Blatt. Viele haben in diesem Zusammenhang naheliegenderweise den mörderischen HAL 9000 aus Stanley Kubricks Film A Space Odyssey, Endzeitmaschinen wie Skynet (Terminator) oder die Matrix (Matrix) vor Augen. Auf jeden Fall liegt dem Bestreben, ›Big Data‹ den Vorzug vor menschlicher Urteilskraft geben zu wollen, ein zutiefst antiaufklärerischer Impuls zugrunde.

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Anhang 4: Glossar

Argument

in der Philosophie: nach logischen Regeln aufeinander bezogenes Gefüge von Sätzen

Axiom

nicht weiter zu rechtfertigender Grundsatz (einer Theorie)

deduktiv

eine Argumentation, in der die →Konklusion mit Notwendigkeit aus den →Prämissen folgt; Gegenbegriff: →induktiv

deskriptiv

von lat. de-scribere: beschreiben: beschreibend; Gegenbegriff: →normativ

Dogma

Glaubenssatz; ein unbeweisbarer Satz, der prinzipiell durch keine Erfahrung zu widerlegen ist

Empirie

Erfahrung; von griech. empeiria; Adjektiv: empirisch

epistemisch

Adjektiv zu griech. epistēmē: Wissen

Existenzbehauptung

in der analytischen Philosophie: die Festlegung des Anwendungsbereichs (→Quantifizierung) eines sprachlichen Zeichens

induktiv

eine Argumentation, die von einer Menge von Einzelfällen ausgeht und in der die →Konklusion nur mit Wahrscheinlichkeit aus den →Prämissen folgt; Gegenbegriff: →deduktiv

kausal

von lat. causa: Grund, Ursache; nach dem Grundsatz von Ursache und Wirkung

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Kohärenztheorie

von lat. cohaerentia: Zusammenhang; diese Theorie be-

der Wahrheit

hauptet, dass sich die Wahrheit von Aussagen (allein) an deren widerspruchsfreiem und stimmigen Zusammengehen mit anderen Behauptungen einer Theorie bemisst. Der Abgleich mit den Gegebenheiten der Welt tritt hier in den Hintergrund oder entfällt im Extremfall gleich ganz

Konklusion

Schlusssatz in einem →Argument

Korrespondenztheorie diese Theorie behauptet, ausschlaggebend für die der Wahrheit

Wahrheit von Aussagen sei deren Bezug auf die Gegebenheiten der Welt

Krise

von griech. krịsis/krịno: Entscheidung, Urteil; Entscheidungssituation

Kritik

von griech. kritēs/krịno: Richter, Beurteiler; Überprüfung

Logik

in der Philosophie: Wissenschaft vom (richtigen) Schließen

normativ

von lat. norma: Maßstab, Richtschnur, Regel: beschreibend; Gegenbegriff: →deskriptiv

Ockhams Regel

→Sparsamkeitsprinzip

Ontologie

von griech. on und lọgos: seiend und Wort, Lehre; philosophische Disziplin, die sich mit Seinsfragen beschäftigt; Adjektiv: ontologisch, →Existenzbehauptung

Paradox; Paradoxie

von griech. parạdoxon: Seltenheit, Ausnahme; widersprüchliche Aussage oder Überlegung. Eine der bekannten philosophischen Paradoxien handelt von dem Barbier, der ausschließlich denen im Dorf den Bart abnimmt, die sich nicht selbst rasieren. Dies bringt ihn offensichtlich in eine ungute Lage, sofern er seinen Mitmenschen nicht ständig unrasiert begegnen möchte

praktisch

von griech. prāgma, prāxis: Handlung; in der Philosophie: auf unsere Handlungen bezogen; Gegenbegriff: →theoretisch

Prämisse

von lat. prae-mittere: vorausschicken; Voraussetzung in einem philosophischen →Argument

Prinzip

von lat. principium: Anfang, Ursprung, Grundlage: Grundsatz

Anhang 4: Glossar

Quantifizierung

durch Quantifizierung wird aus einer ungebundenen Variable eine ›gebundene‹ Variable, d.h. eine Variable, deren Anwendungsbereich festgelegt ist; →Quantor

Quantor

Zeichen, das den Anwendungsbereich einer Variable (x) festlegt. Die zweiwertige Standardlogik kennt zwei Quantoren, den Allquantor ›∀‹ (für alle x gilt…) und den Existenzquantor ›∃ ‹ (für einige x gilt…)

rational

von lat. ratio (Vernunft): vernünftig; oft als Gegenbegriff zu →empirisch

Skeptizismus

von griech. skẹpsis: Betrachtung, Untersuchung. In der modernen Philosophie: Sammelbegriff für Positionen, die darauf zielen, durch stichhaltige Gründe Zweifel an einer Theorie oder einer ihrer zentralen Behauptungen zu wecken

Sparsamkeitsprinzip

das Sparsamkeitsprinzip fordert uns auf, in unsere Theorien nicht mehr Annahmen, Grundsätze und Gegenstände aufzunehmen, als zur Erklärung des Phänomenbestands unbedingt erforderlich sind (Ockhams Regel)

Tautologie

von griech. ta auta und lọgos: auf dieselbe Weise und Aussage, Wort; Bezeichnung derselben Sache durch mehrere Ausdrücke mit gleicher Bedeutung. Tautologische Aussagen sind immer wahr; z.B. ›eine Rose ist eine Rose ist eine Rose‹, ›2+2 = 1+3‹; Adjektiv: tautologisch

theoretisch

in der Philosophie: auf unser Wissen bezogen; Gegenbegriff: →praktisch

Theorie

ein vereinfachtes Modell der Wirklichkeit. Eine Theorie bestehen aus einem System von Sätzen, die aufeinander verweisen und sich gegenseitig stützen und begründen

Wahrheit

→Kohärenztheorie; →Korrespondenztheorie

zweckrational

Vernunft, sofern sie sich darauf beschränkt, durch Überlegung die geeigneten Mittel zu vorgegebenen Zwecken zu finden; alternativ: ›instrumentelle Rationalität‹

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Literatur

Adorno, Th. W./Horkheimer, M. (1947): Dialektik der Auf klärung. Frankfurt, 2004. Aristoteles: De anima/Über die Seele. Gr./dt. Übers. H. Seidl. Hamburg, 1995. Basham, L. (2001): »Living with the Conspiracy«. In: The Philosophical Forum 32, 265-80. Abgedruckt in Coady 2006, 61-75. — (2003): »Malevolent Global Conspiracy«. In: Journal of Social Philosophy 34, 91-103. Abgedruckt in Coady 2006, 93-105. Bernstein, C./Woodward, B. (1974): All the President’s Men. New York. Blumenberg, H. (19791): Arbeit am Mythos. Frankfurt, 2006 . Bohatta, H. (19282): Einführung in die Buchkunde: ein Handbuch für Bibliothekare, Bücherliebhaber und Antiquare. Wien. Brednich, R. W. (19901): Die Spinne in der Yucca-Palme. München, 2009. Carroll, L. (2000): Alice’s Adventures in Wonderland & Through the LookingGlass. New York. [Dt. Alice im Wunderland; Alice hinter den Spiegeln] Castoriadis, C. (19751): Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt, 1997. Cicero, M. T.: Vier Reden gegen Catilina/Orationes in Catilinam. Lat./dt. Hg. D. Klose. Stuttgart, 2009. Coady, D. (2006): Conspiracy Theories. The Philosophical Debate. Aldershot. — (2003): »Conspiracy Theories and Official Stories«. In: Coady 2006, 115127. CWK. (1992): Chemiewaffenkonvention: Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen. Den Haag. S. www.opcw.org de Boron, R. (1979): Die Geschichte des Heiligen Gral [Le roman du Saint Graal]. Stuttgart.

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Eine Ausnahme bilden der Sammelband von Coady (Coady 2006) sowie einige dort nicht verzeichnete Aufsätze der dort versammelten Autoren. S. Wippermann 2007, 160. Der Sozialphilosoph Georg Simmel bringt den Mechanismus der aufmerksamkeitssteigernden Wirkung des gezielten ›Verbergens und Enthüllens‹ bereits um die vorletzte Jahrhundertwende methodisch auf den Punkt, wenn er feststellt: »Aus dem Geheimnis nun, das alles Tiefere und Bedeutendere beschattet, wächst die typische Irrung: alles Geheimnisvolle ist etwas Wesentliches und Bedeutsames« und die Wirkung dieses Trugschluss besteht letztlich darin, einen Sachverhalt »durch die Phantasie zu steigern und ihm einen Aufmerksamkeitston zuzuwenden, den die offenbarte Wirklichkeit meistens nicht gewonnen hätte«. Und weiter: »Mit diesen Attraktionen des Geheimnisses vereinigen sich nun eigentümlicherweise die seines logischen Gegensatzes: des Verrates. Das Geheimnis enthält eine Spannung, die im Augenblick der Offenbarung ihre Lösung findet.« Simmel 1907, 186. Wenn man die Kriterien der Theoriebildung allerdings enger fasst, lässt sich bereits an dieser Stelle ein entscheidender Unterschied zwischen ›normalen‹ Theorien und Verschwörungstheorien feststellen. So kann man fordern, dass als ›Theorie‹ im engeren Sinn nur solche Modelle gelten sollen, für die sich klar angeben lässt, durch welche Beobachtungen sie widerlegt würden. Der Nachteil eines derart engen Theoriebegriffs ist, dass damit alle Bereiche, deren Erfahrungsbezug stark unterbestimmt ist, ausgeschlossen werden – von der Literaturwissenschaft bis zur Mathematik. Und es scheint auch fraglich, ob ein Streit um Worte hier überhaupt weiter-

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hilft; denn damit, dass man Gedankengebäuden, die mit dem Anspruch auftreten, Teile unserer Lebenswirklichkeit zu erklären, den Theorienstatus schlicht aberkennt, weil ihr empirischer Gehalt zu vage oder zu gering ist, ist schließlich in der Sache nichts gewonnen. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung s. die Abschnitte 1.8-1.12. Unsere Beobachtungen nach Regeln zu ordnen hilft uns dabei, Vorhersagen über das Verhalten unserer Umgebung zu machen, wobei auch hier die Bandbreite groß ist. Ein Beispiel für eine sehr allgemeine ›prognostische‹ Regel ist die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Ereignissen und ihren ›Wirkungen‹, Beispiel für eine spezifische Regel dagegen etwa eine Formel der Statik, die uns darüber Auskunft gibt, ob sich dieser oder jener Werkstoff für ein Bauvorhaben eignet. So würde man die Mitarbeiter der meisten Entwicklungsabteilungen von Großkonzernen, obwohl sie den ersten beiden Kriterien entsprechen, nur dann als Verschwörer bezeichnen, wenn sie unter strenger Geheimhaltung an neuen Produkten arbeiteten, deren ausdrückliche Absicht ein Nachteil der Allgemeinheit ist (s. auch den Abschnitt ›Functional Food‹ und das Eingangsszenario zur ›Totalen Kontrolle‹). – Ein anderer Gesichtspunkt ist, dass Verschwörer in ihrem Selbstverständnis oft für die gute Sache kämpfen. Selbst wenn ihre Aktionen – etwa der Versuch, einen Tyrannen zu stürzen – mit hohem persönlichen Risiko und Opfern behaftet sind, so ist es im Einzelfall durchaus schwierig zu entscheiden, inwieweit Selbsteinschätzung und der Blick von außen übereinstimmen. S. dazu beispielsweise die historisch gut belegte Verschwörung der römischen Führungsschicht gegen Julius Cäsar (s. ›Die Iden des März‹). Neben gekränktem Ehrgeiz und der Furcht vor Machtverlust mag hier das Bestreben, einen Anführer auf dem Weg zur Alleinherrschaft zu beseitigen, durchaus eine Rolle gespielt haben. Doch anstatt die römische Republik zu retten, erreichten die Verschwörer mit ihren unausgegorenen Plänen am Ende das genaue Gegenteil und wurden mit ihrer zunächst erfolgreichen Verschwörung zur Ermordung Cäsars letztlich zu Steigbügelhaltern für die endgültige Beseitigung der Republik. Sind ›Verschwörer‹ zum Wohl der Allgemeinheit erfolgreich, werden sie dagegen sprachlich schnell zu ›Revolutionären‹, ›Freiheitskämpfern‹ etc.

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Für weitere Definitionen s. Pigden 1995, 20; Basham 2001, 61; Basham 2003, 93; Keeley 1999, 116; und Coady 2003. ›Verschwörung‹ mit seiner Wortherkunft im ›Schwören‹ verweist dabei auf eine ›magische‹ Theorie der Bedeutung; denn dem Schwur liegt die Annahme zugrunde, dass sich die Verhältnisse der Welt allein durch eine sprachliche Aktion festlegen lassen. Deshalb muss der Schwur auch Wort für Wort nachgesprochen werden, um seine (vermeintliche) Wirkung zu entfalten. Ironischerweise ist die Annahme, die Welt richte sich weitgehend nach unserem Für-wahr-Halten (und nicht umgekehrt), gleichzeitig ein wesentliches Merkmal von Verschwörungstheorien; auch dazu unten mehr; s. bes. Abschnitt 1.7). Zwar bestünde hier theoretisch immer noch die Möglichkeit, das Vorhandensein belastenden Materials darauf zurückzuführen, dass es von unbekannter Seite untergeschoben wurde – in unserem ersten Beispiel ist allerdings weder ein entsprechender Gegenspieler in Sicht, noch ein offensichtliches Ziel, das den enormen Aufwand lohnte. Vgl. Aristoteles De anima, bes. 428a f. Vgl. Newton, I. Philosophiae naturalis principia mathematica [Die mathematischen Prinzipien der Physik], 1687, heutige Ausgaben folgen der vierten Auflage von 1730; und Opticks, 1704. Eindrucksvoll entwickelt er diesen Gedanken in seiner bis heute einflussreichen Schrift Leviathan or the Matter, Forme, and Power of a Commonwealth Ecclasiasticall and Civil von 1651. Vgl. Hume, D. A Treatise of Human Nature, 1739/40. S. dazu auch Hepfer 2011. Vgl. Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, 1781 und 1787. Ausführlich dazu Hepfer 2006, Abschnitt 2.3. Die Strategie des Wechsels des Bezugsrahmens ist tatsächlich einer der wichtigen Gründe dafür, warum sich die verschwörungstheoretische ›Wirklichkeit‹ häufig erheblich von der ›offiziellen‹ Interpretation unterscheidet. Vgl. dazu Illig 1998. Um die Verwirrung komplett zu machen, kann man an dieser Stelle natürlich noch weiter fragen, beispielsweise nach den Figuren und Gegenständen ›virtueller‹ Umgebungen. Denn obwohl wir mit dem virtuellen Schwert problemlos den ebenso virtuellen Drachen erschlagen können, so schreckt die auf dem Bildschirm so wirksame

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Menge von Bits und Bytes den realen Einbrecher eben nicht im Geringsten. In welcher Weise ›existieren‹ also Drache und Schwert? Die im folgenden vorgeschlagene Weise des Umgangs mit Existenzaussagen bringt Licht auch in dieses Dunkel. 17 Vgl. Quine 1948. 18 Die Bestimmung von ›Wissen‹ als ›gerechtfertigte, wahre Meinung‹ reicht zurück bis zu Platons Dialog Theätet; Anstoß für eine längere Diskussion in der Fachphilosophie der jüngeren Zeit war ein kurzer Aufsatz von Paul Gettier, der mit einigen Beispielen die Unvollständigkeit dieser Definition zeigte; vgl. Gettier 1963. 19 Vgl. Descartes 1641. 20 Vgl. dazu Putnam 1981, Kap. 1. 21 Ebenso berühmt wie komplex ist etwa die Theorie, die der englische Philosoph John Locke in seinem Essay concerning Human Understanding entwickelt. Der Grundgedanke seiner Theorie ist, dass neben den bereits genannten Vorstellungen auch diejenigen immun gegen den Zweifel sind, die die Struktureigenschaften der Erfahrungswelt betreffen. 22 ›Food and Drug Administration‹ – die amerikanische Prüfstelle für Medizinprodukte und Lebensmittel. 23 Vgl. Orwell 1949, 312f.; 320. Darauf, dass totalitäre Ideologien tatsächlich viele Züge von Verschwörungstheorien tragen, sei an dieser Stelle nur hingewiesen. 24 S. z.B. McArthur 1995, 38 und Hofstadters Analyse (Hofstadter 1965) des von verschwörungstheoretischen Unterstellungen geprägten Stils der öffentlichen Diskussion (›paranoid style‹), der etwa in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts – in der nach einem der Hauptakteure, Senator Joseph McCarthy, sogenannten McCarthyÄra – zu einer beispiellosen Jagd auf vermeintliche Kommunisten in Amerika führte, s. auch u. Abschnitt 2.6. – Auch das erwähnte Werk von George Orwell illustriert den sachlichen Gedanken, dass ein gesellschaftsweiter Kohärentismus einem totalitären Regime zuarbeitet und offenen Gesellschaftsvorstellungen abträglich ist. 25 McArthur vergleicht die soziale Frühwarnfunktion von Verschwörungstheorien anschaulich mit dem Kanarienvogel der Bergleute, der unter Tage frühzeitig vor Gefahren warnt, vgl. McArthur 1995, 46. 26 Vgl. Gettier 1963.

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Hier handelt es sich um eine inzwischen gut dokumentierte amerikanische ›Studie‹, deren Zweck die ›Erforschung‹ der Langzeitauswirkungen einer unbehandelten Syphilisinfektion war (1932-1972); vgl. Reverby 2009. 28 Besonders unter der afroamerikanischen und homosexuellen Bevölkerung Nordamerikas ist der Glaube an einen solchen Zusammenhang im Hinblick auf das AIDS-Virus in der Tat weit verbreitet, vgl. Goertzel 1994, 731f.; sowie die dort angeführten statistischen Erhebungen. 29 Zur Willensfreiheit vgl. Hepfer 2008, Abschnitt 2.6 und die dort angegebene Literatur. 30 Wie der bereits zitierte Wissenschaftstheoretiker W.O. Quine feststellt, ist es letztlich nur eine Frage des Aufwands, eine Behauptung gegen alle Kritik aufrechtzuerhalten: »Jede Behauptung [in diesem Fall also die verschwörungstheoretische Ausgangshypothese] lässt sich gegen alle Kritik aufrechterhalten, solange wir nur hinreichend rigorose Anpassungen an anderen Stellen des Systems vornehmen.« S. Quine 1951, 43. 31 Tatsächlich wird die Debatte über den genauen Status der Mathematik bis heute kontrovers geführt. 32 Ein weiteres anschauliches Beispiel für einen derartigen Umgang mit Kritik liefern seit einigen Jahrzehnten auch große Teile der ›Gender-Forschung‹; ihre Strategie gegen den Einbruch der Erfahrung in die kuschelige Welt der ideologischen Gewissheiten verläuft nach einem ganz ähnlichen Muster. 33 Für verschiedene Versionen s. beispielsweise Tuckett 2006, 121–135; Hofstadter 1965, 7 Fn. 5; sowie die filmische Aufarbeitung von Oliver Stone in JFK – Tatort Dallas, 1991; und Abschnitt 2.1. 34 Hume 1748, §10.2. 35 Vgl. Hume 1748, §10.24. 36 Dass gegenläufige Evidenzen nur eine notwendige aber oft noch keine hinreichende Bedingung für die Aufgabe einer Theorie sind, führt Thomas Kuhn in seinem wissenschaftstheoretischen Klassiker Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen vor, vgl. Kuhn 1962. 37 Groh 1992, 272. 38 S. dazu Keeley 1999, 119. 39 Obwohl ›Eleganz‹ ein naturgemäß außerordentlich unscharfes Kriterium ist, scheint die Eleganz einer Erklärung tatsächlich ein Grad-

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messer für unsere Bereitschaft zu sein, einer Theorie Glauben zu schenken, oder, wie es W.O. Quine treffend formuliert: »Eleganz kann den Unterschied machen zwischen einer Theorie (›conceptual scheme‹), die wir psychologisch bewältigen können und einer, die zu sperrig für unsere armseligen Gehirne (›minds‹) ist.« Quine 1953, 79. 40 Eine exemplarische Auseinandersetzung um Meinungen, von denen wir zwar durch sorgfältige philosophische Analyse einsehen können, dass sie »tatsächlich falsch« sind, an denen wir dennoch aus einem psychologischen Zwang heraus weiter festhalten, führt schon der schottische Philosoph David Hume vor, Hume 1739/40, 1.4.2.43. Bei ihm geht es um unseren Glauben an das unserer gesamten empirischen Erkenntnis zugrunde liegende Kausalitätsprinzip, vgl. Hume, 1739/40, bes. 1.4. Er versucht dazu theoretisch-spekulativ nachzuweisen, dass die Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens uns in bestimmte Denkmuster verfallen lässt, obwohl wir es besser wissen (können) – und nimmt damit bereits im 18. Jahrhundert die empirische Bestätigung dieser Hypothese durch die Kognitionswissenschaften des 20. Jahrhunderts vorweg. 41 Popper 1945, 112. Dies gilt umso mehr, wenn man auch die ›amateur conspiracies‹ unter dieser Überschrift fasst, also geheime Verabredungen im privaten Bereich, unter Geschäftspartnern, etc., s. Basham 2003, 98. 42 Groh 1992, 301; vgl. 304. 43 Vgl. Machiavelli 1531, Kap 3.6. 44 Machiavelli 1531, 309. 45 Machiavelli 1531, 303. 46 Machiavelli 1531, 306. 47 Machiavelli 1531, 311. 48 »Das erste und beste, oder besser gesagt das einzige [Mittel um einer Entdeckung zu entgehen] ist, den Mitverschworenen keine Zeit zu lassen, dich zu verraten«, Machiavelli 1531, 311. Es liegt in der Natur des Untersuchungsgegenstandes, dass sich der Optimismus Machiavellis, die meisten echten Verschwörungen kämen über kurz oder lang ans Licht, empirisch weder bestätigen noch widerlegen lässt. Denn wie sollten wir auch die Zahl der nicht-aufgedeckten echten Verschwörungen ermitteln? 49 Vgl. Oliver 1964, zitiert in Hofstadter 1965, 7, Fn. 5.

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Ein besonders hübsches Beispiel ist die Verbindung mit einem anderen verschwörungstheoretischen Topos, dem Vorfall in Roswell/ New Mexico. Dort sind, nach Überzeugung von Verschwörungsanhängern, im Jahr 1947 außerirdische Lebewesen abgestürzt. Die Verschwörung zu den Hintergründen des Attentats auf den amerikanischen Präsidenten liest sich in dieser Perspektive so: J.F. Kennedy, der 1961 verkündete, vor Ablauf des Jahrzehnts einen Menschen auf den Mond zu bringen, trieb mit seinem Weltraumprogramm den Auf bruch der Menschheit zu den Sternen voran. Die Geheimdienste mussten deshalb befürchten, dass er im Zuge seines ehrgeizigen Programms früher oder später die Öffentlichkeit auch umfassend über die Ereignisse in Roswell ins Bild setzen würde, ohne Rücksicht darauf, dass dadurch die unrühmliche Vertuschungsaktion der Dienste ans Licht kommen würde, vgl. Tuckett 2006, 126. Allerdings verträgt sich diese ›Erklärung‹ der Ereignisse nicht sehr gut mit der unter Verschwörungstheoretikern ebenfalls beliebten These, dass die Mondlandungen selbst eine Inszenierung aus dem Filmstudio sind und in Wahrheit niemals stattgefunden haben; s. ›Der Mond: Director’s Cut‹. Denn träfe dies zu, hätten die Geheimdienste offensichtlich nichts zu fürchten gehabt (weil es eben gar nicht darum ging, mit Hilfe außerirdischer Technik nach den Sternen zu greifen, sondern nur darum, dies der Welt vorzutäuschen) – es sei denn, sie wären dem Roswell-Schwindel ebenso aufgesessen wie der Durchschnittsbürger. 51 Informative statistische Korrelationen zwischen verschiedenen Meinungssystemen und dem Hang, an Verschwörungstheorien zu glauben, finden sich in Goertzel 1994; s. dazu auch Graumann 1987. 52 Der Historiker Dieter Groh illustriert diesen Zusammenhang mit dem historischen Hexenwahn in Europa, als dessen theoretisches Fundament er den »christlichen Platonismus von Augustinus« ausmacht, Groh 1992, 268. Denn zunächst mindert hier die gemeinsame Verfolgung der vermeintlich Verantwortlichen für Krankheit, Missernten und schlimme Ereignisse aller Art offensichtlich die Angst jedes Einzelnen. In der Endphase der kollektiven Hexenverfolgung jedoch, in der plötzlich jeder potenziell unter Verdacht steht, produzierte die Hexenverfolgung »Belastungen in höherem Maße als je zuvor und ließ den Handlungsspielraum schrumpfen [...] Der

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Versuch, die verkehrte Welt durch Ausrottung ihrer verschworenen Verderber zu heilen, führt in eine wahrhaft pathologische Krise der gesamten Gesellschaft – von der mittelalterlichen Judenverfolgung über die Ketzerinquisition und die Hexenprozesse bis zur Endphase des Dritten Reiches und darüber hinaus.« S. Groh 1992, 277. S. dazu auch Keeley 1999, 125. Adorno/Horkheimer 1947, 6. Castoriadis 1975, 275; ohne einen solchen ›einigenden Faktor‹, so argumentiert Castoriadis, könne keine Gemeinschaft auf Dauer bestehen. S. dazu z.B. Goertzel 1994. Er bemerkt: »Verschwörungstheorien liefern auch Antworten auf offene Fragen und helfen, Widersprüche zwischen bekannten ›Tatsachen‹ und dem Meinungssystem des Einzelnen aufzulösen. [...] Der Glaube an Verschwörungen ist nützlich in monologischen Meinungssystemen, weil er eine einfache, automatische Erklärung für jedes neue Phänomen liefert, das ein Meinungssystem bedrohen könnte.« Goertzel 1994, 739f.; meine Übersetzung. Zur Frage der Motivation für die konspirative Erfindung der ›fiktiven Zeit‹ zwischen 614 und 911 äußert sich Heribert Illig unter der Überschrift ›Cui bono‹ auf gerade mal drei von über vierhundert Seiten der Realienkompilation, mit der er versucht, diese These plausibel zu machen. Dort nennt er vor allem das Bedürfnis, Ansprüche und Privilegien (wie Marktrechte, Gebietsansprüche oder Ähnliches) z.B. durch »respektable Gründungsbriefe« (s. Illig 1998, 370) rückwirkend abzusichern, d.i. durch Urkunden, die angeblich von Königen und Kaisern ausgestellt wurden (s. Illig 1998, 343). Auch wenn er einige Seiten später noch einmal mit der Behauptung nachlegt: »Der Forschung ist längst ins Bewusstsein getreten, daß im 12. Jahrhundert die Urkundenfälschung Hochkonjunktur hatte« (Illig 1998, 364), einer Behauptung, die er im Übrigen nicht weiter belegt, ist nicht nachvollziehbar, warum eine gefälschte Urkunde gerade dadurch besonders glaubwürdig sein soll, dass ihr vermeintlicher Aussteller gleich mitgefälscht wurde. Im Gegenteil: an einen Herrscher, den es nicht gab, kann sich schließlich auch niemand erinnern. Selbst wenn ihm gefahrlos beliebige Taten zugeschrieben werden können (eben weil es ihn nicht gab und nach den Grundsätzen der Logik aus Falschem Beliebiges folgt), kann dies die Glaub-

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würdigkeit von Urkunden also nicht krisenfest machen. Illigs Suggestion, wer Urkunden fälscht, der fälscht auch gleich ein ganzes Zeitalter inklusive Personal, erfasst weder einen logisch folgerichtigen Zusammenhang, noch ist sie bei etwas genauerer Betrachtung auch nur ansatzweise plausibel. Ganz nebenbei bemerkt ist dies im Übrigen ein hübsches Beispiel dafür, wie Behauptungen nach dem Analogieprinzip schnell eine gewisse Anfangsplausibilität erlangen können. – Die Fixierung seiner ›Kollegen‹ auf Urkunden ist für Illig darüber hinaus auch der wahre Grund, warum die konspirative Vermehrung unseres Kalenders um etwa dreihundert Jahre bisher von der modernen historischen Forschung nicht aufgedeckt wurde. 58 In der Popkultur ist dies inzwischen ein Topos, der seinen bisher wohl prominentesten Auftritt in Roland Emmerichs HollywoodBlockbuster Independence Day von 1996 (20th Century Fox) hatte. 59 Adorno/Horkheimer 1947. 60 Vgl. Adorno/Horkheimer 1947, bes. 10f.; 74ff. 61 Vgl. Adorno/Horkheimer 1947, 19. 62 S. dazu Keeley 1999, 126. Die empirische Sozialforschung informiert uns zudem darüber, dass wer bereit ist in einem Fall an eine Verschwörung zu glauben, eine stark erhöhte Neigung hat, dies auch in weiteren Fällen zu tun, vgl. Goertzel 1994, 731. 63 McLuhan/Fiore 1967, 26; meine Übersetzung. 64 Eine große Zahl entsprechender Beispiele findet sich in Freyermuth 1998. 65 Wie z.B. Wippermann 2007, 141. 66 Vgl. Wippermann 2007, 143ff. 67 Matrix, Warner Bros. 1999, Abschnitt 37. 68 Die deutsche Erzählforschung spricht, ebenfalls nicht ganz zutreffend, oft auch von modernen ›Sagen‹; gemeint sind »Erzählungen und Berichte von außergewöhnlichen Erlebnissen, Ereignissen oder Erscheinungen, die mit dem Anspruch auf Glaubwürdigkeit erzählt werden«, Geschichten, deren Kern »das Unheimliche, das Unerklärliche, und Angsterregende« ist, das durch die Erzählung »gebannt« werden soll, Brednich 1990, 6. 69 Vgl. Brednich 1990, 16; vgl. 8f.; 14. 70 Neben den klassischen Sammlungen in Buchform – im deutschen Sprachraum an erster Stelle Rolf Brednichs Kompilationen (Brednich, 1990 ff.) und Bernd Harders Lexikon der Großstadtmythen

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(Harder, 2005) – gibt es im Netz zahllose Seiten, die sich dem Thema widmen, wie z.B. urbanlegends.about.com. 71 Blumenberg 1979, 198. 72 Vgl. Blumenberg 1979, 199: »[M]oderne dualistische Remythisierungen [liefern] die Geschichte als von ihnen gedeutete nach: Immer ist die jeweils gegenwärtige Weltlage der erwartete Schnitt quer durch den Gesamtprozess des Kampfs der die Wirklichkeit bestimmenden Mächte. Nur so kann die Geschichte als eine Geschichte, in der Gut und Böse ihre Repräsentanten haben, erzählt werden.« 73 Vgl. die Einleitung zu Brednich (1990). In Europa setzt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Großstadtmythen etwa in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein. 74 Nietzsche 1872. 75 Blumenberg 1979, 18. In seiner weiteren Auseinandersetzung mit den Funktionen des Mythos weist Blumenberg mehrfach und mit Nachdruck darauf hin, dass »die Geschichten, von denen hier zu reden ist, [...] eben nicht erzählt [wurden], um Fragen zu beantworten, sondern um Unbehagen und Ungenügen zu vertreiben«, s. Blumenberg 1979, 203f. 76 S. dazu auch Blumenberg 1979, 38. 77 Hofstadter 1965, 29ff. 78 S. Hofstadter 1965, 32. 79 S.o. Anm. 1. 80 S. dazu auch Groh 1992, 268f. 81 Um nur einige Beispiele zu nennen, sei hier an Bob Woodward und Carl Bernstein sowie John Kerry und Klaus Traube erinnert. Robert (Bob) Woodward und Carl Bernstein, Mitarbeiter der Washington Post, erhielten 1973 den renommierten Pulitzer­-Preis für ihre Beteiligung an der Aufdeckung der ›Watergate‹-Verschwörung. Der Name geht zurück auf das Watergate-Gebäude, in dem sich das Hauptquartier der US-amerikanischen Demokraten befand. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im Herbst 1972 wurden sie dort, auf Geheiß des amtierenden (republikanischen) Präsidenten Richard Nixon, abgehört und bespitzelt – was damals fast niemand für möglich halten mochte, weil es so weit außerhalb demokratischer Gepflogenheiten lag. Woodward und Bernstein ließen sich von dieser Annahme allerdings nicht beirren, und ihre Enthüllung der Regierungsverschwörung führte schließlich zum bisher einzi-

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gen Amtsenthebungsverfahren gegen einen amerikanischen Präsidenten (das mit dem ›freiwilligen‹ Rücktritt Nixons im August 1974 endete); s. dazu Bernstein/Woodward 1974. – In ähnlicher Weise ist auch US-Senator John Kerry international vor allem in Erinnerung für seine Beharrlichkeit bei der Aufdeckung der Iran-Contra-Affäre. Hier ging es um einen ebenfalls zunächst kaum zu glaubenden Sachverhalt, nämlich die geheime US-amerikanische Unterstützung nicaraguanischer Kämpfer mit großen Summen (aus illegalen Waffenverkäufen) und um geheime Absprachen der US-Regierung (unter Ronald-we-begin-bombing-Russia-in-five-minutes-Reagan) mit mittelamerikanischen Kokainkartellen. – Und schließlich, um den Blick nicht so weit in die Ferne zu richten: auch die geheime Abhöraktion deutscher Regierungsstellen gegen den vom AtomkraftManager zum entschiedenen Gegner der Atomenergie gewandelten Klaus Traube Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts endete damit, dass dieser, in einer späten offiziellen Würdigung, 2009 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen bekam. 82 Für klinische Definitionen s. das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV-TR); dt. Saß 2003. 83 Vgl. Hofstadter 1965, 3f. 84 Hofstadter 1965, 5; meine Übersetzung und Hervorhebung. Zur philosophischen Unterscheidung zwischen dem Inhalt einer Meinung und der Art und Weise, wie sie vertreten, behauptet oder für wahr gehalten wird s. Hume 1739/40, bes. § 1.3.7; und Frege 1891 und 1892. 85 S. z.B. Graumann 1987, 249f.; Hofstadter 1965, 29ff. 86 Die klassische Untersuchung zu den psychischen Abwehrmechanismen stammt von Anna Freud, der Tochter des Begründers der Psychoanalyse; vgl. Freud 1936. 87 Hofstadter 1965, 38. 88 Für ein ›Experiment‹, das diese Eigenschaft eindrücklich illustriert, s. Hofstadter 1985, bes. 105-109. 89 S. dazu auch Hofstadter 1965, 36. 90 S. McLuhan 1967, 8f. »Our ›Age of Anxiety‹ is, in great part, the result of trying to do today’s job with yesterday’s tools – with yesterday’s concepts.« 91 Für den Versuch einer Typologisierung s. etwa Pigden 2006, bes. 160ff.; vgl. auch Basham 2003, 98ff.

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Verschwörungstheorien — Eine philosophische Kritik der Unvernunf t

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Blumenberg 1979, 18; vgl. 34. Verstärkend wirkt hier selbstverständlich, dass erst die weiträumige Ablösung der Tausch- durch die Geldwirtschaft eine früher »unerreichbare Heimlichkeit« möglich macht. Hier sind, nach Simmel, vor allem drei Faktoren wichtig: die Möglichkeit des weitgehend unsichtbaren Transfers von Besitz, die ›Abstraktheit‹ des Eigentumswechsels, und die ›Fernwirkung‹ dieses Vorgangs, durch den man ihn »dem Auge der nächsten Umgebung ganz entziehen kann«, s. Simmel 1907, 188. 94 Popper 1945, 113; 1972, 123f. 95 Popper 1945, 112. 96 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit Popper s. Pigden 1995, 20f. 97 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Theorien über tatsächliche Verschwörungen bis zu ihrer Aufdeckung nicht von denjenigen zu unterscheiden sind, die eine nur eingebildete Verschwörung zum Inhalt haben. 98 Wen es befremdet, dass eine philosophische Untersuchung von Verschwörungstheorien ausgerechnet von einem Verlag verbreitet wird, der angeblich in ›Bielefeld‹ seinen Sitz hat, sei daran erinnert, dass die »Wirklichkeit« eben viele Facetten hat – und nichts und niemand einem die Mühe des eigenen Denkens wirklich abnehmen kann. 99 Dies bereits 2005: »Wir scannen all diese Bücher nicht, damit sie von Menschen, sondern damit sie von einer KI (künstlichen Intelligenz) gelesen werden.« Warum sich ein milliardenschwerer Konzern, der es sich nun wirklich leisten könnte, ohne Bezahlung die Leistung anderer verwerten und sich am geistigen Eigentum anderer bereichern darf, ohne dafür bestraft zu werden, bleibt offen. Einzelne Nutzer, die ein ähnlich unbeschwertes Verhältnis zu copyrightgeschütztem Material haben, müssen schließlich mit hohen Geldstrafen oder Freiheitsentzug rechnen, wenn sie erwischt werden. Daten sind das Rohöl des Informationszeitalters und dass hier bei Diebstahl mit zweierlei Maß gemessen wird, stimmt nachdenklich. Oder anders: stellen wir uns vor, die solchermaßen bestohlenen Urheber künstlerischer und wissenschaftlicher Texte und deren Verlage würden mit ähnlicher krimineller Energie die

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Konten der Google-Gründer leerräumen. Kein Zweifel: die Staatsanwaltschaft wäre ihnen schnell auf den Fersen. 100 »Es steht außer Frage, dass man besser dran wäre, wenn die Information der ganzen Welt direkt mit dem eigenen Gehirn, oder einem künstlichen Gehirn, das klüger ist als das eigene, verbunden wäre.«, s. Brin 2004. 101 Wer dies für eine hergeholte Behauptung aus einem untergegangenen Zeitalter hält, in dem die Propagandamaschine des real existierenden Sozialismus solche Weisheiten unter die Leute brachte, sollte sich vor Augen halten, dass jedes auf fortwährendes Wachstum ausgelegte System vor dem Hintergrund endlicher Ressourcen trivialerweise (langfristig) gegen das Wohl der Menschheit arbeitet.

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Edition Moderne Postmoderne Stefan Deines Situierte Kritik Modelle kritischer Praxis in Hermeneutik, Poststrukturalismus und Pragmatismus Oktober 2015, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3018-3

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Sozialphilosophische Studien Marcel Hénaff

Die Gabe der Philosophen Gegenseitigkeit neu denken (übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer)

2014, 280 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2385-7 Der philosophische Diskurs um die Gabe erfährt seit geraumer Zeit eine Renaissance. Trotz vieler Unterschiede sind sich Philosophen wie Derrida, Levinas, Ricoeur und andere in einem zentralen Punkt einig: In ihren Augen ist die einzige wirkliche Gabe eine Gabe ohne Erwiderung. Jedwede Gegenseitigkeit scheint ihnen von vornherein mit einem ökonomischen Tausch verbunden zu sein und damit das Wesen der »reinen« Gabe zu verfehlen. Doch können wir die Stiftung des sozialen Bandes gänzlich ohne ein Verhältnis der Gegenseitigkeit denken. Marcel Hénaff interveniert in diesen Diskurs, indem er zeigt, dass verschiedene Arten der Gabe unterschieden werden müssen. Die wohltätige Gabe und die solidarische Gabe kennen die Forderung nach Gegenseitigkeit nicht. Diese steht jedoch im Mittelpunkt der zeremoniellen Gabe, die in erster Linie eine Entscheidung für das Bündnis ist, eine Geste gegenseitig gewährter öffentlicher Anerkennung, wodurch sich das typisch menschliche soziale Band als politisch erweist.

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