Das halbwegs Soziale: Eine Kritik der Vernetzungskultur [1. Aufl.] 9783839419571

Während die meisten Facebook-User noch mit Freund-Werden, »Liken« und Kommentieren beschäftigt sind, ist es an der Zeit,

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Das halbwegs Soziale: Eine Kritik der Vernetzungskultur [1. Aufl.]
 9783839419571

Table of contents :
Inhalt
Danksagungen
Einleitung: Ein letzter Blick auf das Web 2.0
Psychopathologie der Informationsüberflutung
Facebook, Anonymität und die Krise des multiplen Selbst
Traktat über die Kommentarkultur
Abhandlung der Internetkritik
Medienwissenschaften: Diagnose einer gescheiterten Fusion
Bloggen nach dem Hype: Deutschland, Frankreich, Irak
Das Radio nach dem Radio: Von Piraten- zu Internet-Experimenten
Online-Videoästhetik oder die Kunst des Datenbankenschauens
Die Gesellschaft der Suche: Fragen oder Googeln
Die Organisation von Netzwerken in Kultur und Politik
Technopolitik mit WikiLeaks

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Geert Lovink Das halbwegs Soziale

X T E X T E

Geert Lovink (PhD), niederländisch-australischer Medientheoretiker, Internetaktivist und Netzkritiker, ist Leiter des Institute of Network Cultures an der Hochschule von Amsterdam, Associate Professor für Media Studies an der Universität Amsterdam und Professor für Medientheorie an der European Graduate School. Bei transcript ist von ihm erschienen: »Zero Comments. Elemente einer kritischen Internetkultur« (2008).

Geert Lovink

Das halbwegs Soziale Eine Kritik der Vernetzungskultur (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz)

Die Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche kam mit finanzieller Unterstützung des Institute of Network Cultures an der Hochschule von Amsterdam zustande.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © für die dt. Ausgabe transcript Verlag, Bielefeld 2012 sowie der Autor

Originalausgabe: Geert Lovink, Networks Without a Cause, A Critique of Social Media, Polity Press, Cambridge 2012 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Jennifer Niediek, Bielefeld Übersetzung aus dem Englischen: Andreas Kallfelz Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8376-1957-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagungen | 7 Einleitung: Ein letzter Blick auf das Web 2.0 | 9 Psychopathologie der Informationsüberflutung | 37 Facebook, Anonymität und die Krise des multiplen Selbst | 53 Traktat über die Kommentarkultur | 69 Abhandlung der Internetkritik | 87 Medienwissenschaften: Diagnose einer gescheiterten Fusion | 103 Bloggen nach dem Hype: Deutschland, Frankreich, Irak | 125 Das Radio nach dem Radio: Von Piraten- zu Internet-Experimenten | 157 Online-Videoästhetik oder die Kunst des Datenbankenschauens | 171 Die Gesellschaft der Suche: Fragen oder Googeln | 185 Die Organisation von Netzwerken in Kultur und Politik | 199 Technopolitik mit WikiLeaks | 221

Danksagungen

Über vier Jahre sind zwischen meiner »Berliner« Untersuchung Zero Comments und der Fertigstellung dieses jüngsten Buchs vergangen. Es ist eine Amsterdamer Produktion geworden, Teil IV meiner Untersuchungen zur kritischen Internetkultur. Während Dark Fiber 2001 in Sydney geschrieben wurde und Themen wie Cyberkultur und Dotcom-Manie behandelte, ging es in My First Recession, 2003 in Brisbane fertiggestellt, um die Übergangsphase vom New EconomyCrash zur frühen Blogger-Ära. Das halbwegs Soziale (Networks Without a Cause) ähnelt den vorangegangenen Studien insofern, als es wieder eine Mischung aus Theorie, Reflexionen über herrschende Themen, Ausarbeitungen von Konzepten, kritischen Essays und Fallstudien ist. Es ist naheliegend, dass sich diese Arbeit nun der späten Web-2.0-Ära widmet, die nicht nur von Google, Twitter, YouTube und Wikipedia geprägt ist, sondern jüngst vor allem auch von WikiLeaks, Facebook und den Twitter-Revolutionen in Nordafrika und dem Mittleren Osten. Für mich selbst lässt sich diese Periode am besten beschreiben als die Ära des von mir 2004 ins Leben gerufenen Institute of Network Cultures und seiner Forschungsaktivitäten, Konferenzen und Publikationen zu Themen wie Wikipedia (Critical Point of View), Online-Video (Video Vortex), Kritik der Creative Industries (My Creativity), Urban Screens, Internetsuche (Society of the Query) und ein großes Vor-Ort-Experiment zu Organisierten Netzwerken (Winter Camp). In diese Schreibphase fiel auch das Ausscheiden Emilie Randoes, der Gründerin der School of Interactive Media, an das unser Institute of Network Cultures angegliedert ist, ein Ergebnis der Zentralisierung und der veränderten institutionellen Politik an der Hochschule von Amsterdam (HVA). An der Universität von Amsterdam hingegen, wo ich unterrichte, erlebte das Neue Medien Master-Programm eine wachsende Popularität. Zu ihm gehört auch das kollaborative studentische Blog Masters of Media, das ich im September 2006 einrichtete. Aufgrund des großen Interesses an meinem Essay »Blogging, der nihilistische Impuls« entwickelte ich dieses Thema weiter. Eine Zusammenarbeit mit Jodi Dean führte zwar nicht zu einer gemeinsamen Publikation, dafür aber schrieb Jodi sein Buch Blog Theory (2010), und das größte Kapitel in diesem Buch handelt hiervon.

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Das halbwegs Soziale — Eine Kritik der Vernetzungskultur

Im Februar 2009 habe ich verschiedene Kapitel in einem Mini-Seminar im Rahmen des Critical Theory Emphasis Programms an der University of California, Irvine, zur Diskussion gestellt. Ich danke Elisabeth Losch dafür, dass sie dies ermöglicht hat. Ebenfalls hilfreich war die Zusammenarbeit mit dem Eurozine Netzwerk, das nicht nur einige meiner Essays zur Veröffentlichung brachte, sondern mich auch zu seiner Konferenz im September 2008 nach Paris einlud, um einen Vortrag über die Rolle der Sprache im Internet zu halten. Die Unterstützung durch Sabine Niederer und Margreet Riphagen am Institute of Network Cultures war von unschätzbarem Wert, um eine Atmosphäre zu schaffen, die es mir möglich machte, trotz aller Produktionsaktivitäten, Besuche, Anfragen und Fristen zum Schreiben zu kommen. Meine Freundschaft und Zusammenarbeit mit Ned Rossiter zieht sich durch das ganze Buch. Für seine fortlaufende Unterstützung, seine Vorschläge und seine redaktionelle Mitarbeit, besonders bei der Einleitung, bin ich ihm äußerst dankbar. Morgan Currie, mit dem ich bei den Konferenzen Economies of the Commons II und The Unbound Book zusammenarbeiten durfte, trug wesentlich zur Entwicklung der Argumente bei. Danke, Morgan, für alle Verbesserungen bei der Struktur des Materials und der Rohfassung. Auch Linda Wallace ist bei der Herstellung der englischsprachigen Endfassung noch eingesprungen und hat viel Zeit investiert, um den Text in seine letzte Form zu bringen. Meine verschiedenen Kommentatoren werden in den einzelnen Kapiteln erwähnt. Erneut eine sehr engagierte und gewissenhafte Arbeit leistete der transcriptVerlag, wofür ich u.a. Karin Werner, Kai Reinhardt und insbesondere Jennifer Niediek für ihre umsichtige editorische Betreuung zu Dank verpflichtet bin. Für die vom Institute of Network Cultures finanzierte Übersetzung ins Deutsche danke ich Andreas Kallfelz, aber auch all denen, die mit ihren Vorübersetzungen bereits früher erschienener Kapitel oder durch ihre Mitwirkung bei der Erstellung der Endfassung dazu beigetragen haben: Marie-Sophie Adeoso, Ulrich Gutmair, Michael Schmidt, Ekkehard Knörer, David Pachali, Christian Schlüter, Natalie Soondrum, Wolfram Wessels und Michaela Wünsch. Dieses Buch ist meinen Liebsten gewidmet, Linda und unserem Sohn Kazimir, die mich so sehr unterstützt haben.

Einleitung: Ein letzter Blick auf das Web 2.0 »Die Einleitung ist vorbei, das Kapitel fängt an.« Johan Sjerpstra

Einst hat das Internet die Welt verändert; jetzt verändert die Welt das Internet. Seine Einführungsphase ist längst vorbei, und die belanglose Web-2.0-Saga ist an ihr Ende gelangt. Plötzlich findet sich das partizipatorische Publikum in einer Situation voller Spannung und Konflikt – eine unerfreuliche Lage für die pragmatistische Klasse, die die Entwicklung des Internets seit Beginn in der Hand hatte. Die Kritik an Google und an Facebooks Umgang mit der Privatsphäre nimmt zu. Die Kämpfe um Netzneutralität und WikiLeaks zeigen, dass die reibungslosen Tage der Führung durch diverse Interessengruppen – einer lockeren Allianz von Firmen, NGOs und Ingenieuren, die die Staatsvertreter und Telekoms der alten Schule in Schach hielten, insbesondere bei den Weltgipfel-Treffen zur Informationsgesellschaft – vorbei sind. Wieder ist eine Blase geplatzt, diesmal jedoch durch den Zusammenbruch des libertären Konsensmodells. Internetregulierer, denen es primär um die Geschäftswelt und die Verhinderung staatlicher Eingriffe ging, sind auf dem Rückzug. Während die Gesellschaft deren sorglose Ethik ablehnt, verflüchtigt sich auch die Idee des Internets als einer einzigartigen, von Regulierungen ausgenommenen Sphäre. Der Moment der Entscheidung rückt näher: Auf welcher Seite stehst du? Lange hat man geglaubt, dass das Internet als verteilte Many-to-many-Kommunikations-Infrastruktur die Asymmetrie der klassischen Breitband-Medien – und sogar der repräsentativen Demokratie selbst – überwinden würde. Die Antriebskraft der Vielen würde die rostigen Institutionen Stück für Stück auflösen. Anfangs schien es auch viele bekannte Defizite der alten »öffentlichen Sphäre« beheben zu können, und die frühen Untersuchungen zu online entstehenden Formen des öffentlichen Diskurses waren noch stark von dieser scheintoten Tradition geprägt. Plattformen wie Blogs, Diskussionsforen und partizipatorische, den »Bürgerjournalismus« befördernde Nachrichten-Websites wurden als neue Front der freien Rede betrachtet, wo jeder, der eine Internetverbindung besaß, an der politischen Kommunikation teilnehmen konnte. So viel zur kriti-

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Das halbwegs Soziale — Eine Kritik der Vernetzungskultur

schen Vorstellungskraft. Es ist immer möglich, solche Ansprüche zu erheben, aber das Internet ist nicht in ein Vakuum getreten. Einige Kritiker haben die Idee, dass der öffentliche Diskurs auf Online-Foren und Blogs die »demokratische Partizipation« erhöht, inzwischen widerlegt. Partizipation woran? An Online-Petitionen, mag sein. Aber entscheidungsrelevant? Viele Blognutzer entsprechen den hohen Idealen nicht, sondern pflegen nur eine Kultur des »beteiligungslosen Engagements«. Jodi Dean behauptet, dass sich eine neue Form des »kommunikativen Kapitalismus« herausgebildet hat, in der der Diskurs zwar mehr Raum einnimmt, aber überhaupt keine echte politische Macht hat.1 Zudem neigen Online-Diskussionen auch dazu, weniger ein neues öffentliches Engagement zu beleben als in »Echo-Kammern« auszuweichen, in denen Gruppen von Gleichgesinnten, bewusst oder nicht, sich der Debatte mit ihren kulturellen oder politischen Widersachern entziehen. Die Gesellschaft hat mit dem Internet gleichgezogen und die Technoträume vom Cyberspace als einer parallelen künstlichen Realität zerplatzen lassen. Als Oliver Burkeman vom Guardian 2011 das South by Southwest Festival (SSXW) besuchte, bemerkte er auf einmal überrascht, »[…] dass das Internet vorbei ist. Für Außenstehende ist genau das das große Hindernis, zu verstehen, wohin sich die Technologiekultur entwickelt: dass es bei ihr zunehmend um alles geht.«2 Anders gesagt, das Internet als Projekt mit einem eigenständigen Satz an Protokollen, losgelöst von unserem übrigen Leben mit seinen ganzen Konflikten und ambivalenten Verhältnissen, hat seinen Sinn und Zweck verloren. Wenn Kinder heute schon mit vier Jahren online sind, muss man nicht mehr erklären, wie Computernetze funktionieren. Aber wie kann ein Medium, das so akzeptiert und vereinnahmt wird, solche Reibungen erzeugen? Die neuen Medien haben endgültig ihre Einführungsphase hinter sich, trotzdem geraten sie weiterhin mit den existierenden sozialen und politischen Strukturen in Konflikt, wenn zum Beispiel Firmen oder traditionelle Wissensinstitutionen sich mit den umwälzenden Auswirkungen der Vernetzung konfrontiert sehen. Während die Einführung von Computernetzen im letzten Jahrzehnt zu drastischen Veränderungen bei Geschäftsabläufen und Arbeitsprozessen geführt hat, bleiben die Vorgänge auf der Entscheidungsebene weiter in ihren alten hierarchischen Organisationsstrukturen gefangen. Man nehme nur den zentralisierten Informationsdienst Twitter: ein gutes PR-Instrument für Politiker, das aber nicht half, die politische Legitimationskrise abzuwenden oder die Politik überhaupt zu einer offeneren Auseinandersetzung zu bewegen. Durchläuft das Medium gerade seine Adoleszenzphase – und wird es dann am Ende einmal 1 | Jodi Dean, John W. Anderson, Geert Lovink (Hg.), Reformatting Politics: Information Society and Global Civil Society, New York: Routledge, 2006. 2 | Oliver Burkeman, »SXSW 2011: the internet is over«, in: The Guardian, 15. März 2011. www.guardian.co.uk/technology/2011/mar/15/sxsw-2011-internet-online

Einleitung: Ein letzter Blick auf das Web 2.0

erwachsen werden? Oder wird die Webkultur, wie die meisten ihrer männlichen Akteure, im Stadium der ewigen Kindheit verharren? Diese Studie betrachtet eine Internetkultur, die zwischen Selbstreferentialität und institutionellen Arrangements gefangen ist. Es hilft nicht mehr, sich über die Dysfunktionalitäten der Netzwerkgesellschaft in Bezug auf Nutzerfreundlichkeit, Zugang, Privatsphäre oder Copyright zu beklagen. Vielmehr muss man die heikle Verknüpfung zwischen einerseits der Verstärkung von Machtstrukturen durch das Internet und andererseits den parallelen – und zunehmend Einfluss gewinnenden – Welten, in denen die Kontrolle sich verflüchtigt, untersuchen. Ideologiekritik, verbunden mit moralischer Empörung über Machenschaften wie politische Zensur oder Kinderpornografie, greift zu kurz und wird zu schnell vom 24-Stunden-Nachrichtenspektakel eingeholt. Allzu oft münden Web-2.0-Debatten in bedächtige Abwägungen, was Journalismus leisten sollte, aber nicht schafft, wie man es auf dem Höhepunkt der Blog-Welle verfolgen konnte. Auch der Versuch, den Hype zu dekonstruieren und der übertrieben optimistischen Berichterstattung den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist wirkungslos geblieben. Die Web-2.0-Kulturen sind ausgesprochen resistent gegen Manipulationen der öffentlichen Meinung. Sie haben abgeschlossene Online-Umgebungen geschaffen, in denen buchstäblich zig Millionen User arbeiten, abhängen, chatten und spielen, ohne sich darum zu kümmern, was Eltern, Lehrer, Kolumnisten oder sonstige Prominente über soziale Vernetzung zu sagen haben. Ob Wall Street Journal, The Australian, Der Spiegel oder The Guardian, hier lesen wir, was die großen Nachrichtenmärkte aus dem Internetphänomen machen, nicht, was tatsächlich in den Foren diskutiert und in Peerto-Peer-Netzwerken ausgetauscht wird oder wie die Leute die Suchmaschinen nutzen. In der Regel passen Netzwerkkulturen nicht ins System. Über Jahrzehnte haben Beratergurus nach »change« gerufen, aber als ein »perfect storm« wie WikiLeaks aufzog, zeigten die Technooptimisten plötzlich ein sichtliches Unbehagen. Wir erleben eine »deep penetration« der Netzwerktechnologien in die Gesellschaft, aber das Ergebnis ist nicht das, was der MBA-Club erwartet hatte. Warum? Dieser komplexe Prozess lässt sich nicht verstehen, indem man einfach die Zeichen der Zeit liest. Wir brauchen einen sechsten Sinn jenseits des Zeitgeists, für unerwartete Konfigurationen, die aus dem Nichts kommen und nach oben schießen wie ein G6-Privatjet. Netzräume sind Ereignisse ohne Verpflichtung, die man exzessiv auskostet, um anschließend unbeirrt weiterzuziehen, als ob nie eine Sucht bestanden hätte. Es macht keinen Sinn, aus der gebrochenen Selbstwahrnehmung der Digital Natives ein Weltbild abzuleiten. Wir sollten einfach damit aufhören, ständig die optimistischen Vorstellungen eines nie endenden Stroms von Start-ups, die auf TechnoCrunch an uns vorbeirasen, nachzubeten, sondern uns stattdessen mit den realen Konflikten auseinandersetzen, die aus der Situation der Vernetzung entstehen. Wollen wir vergeblich

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Das halbwegs Soziale — Eine Kritik der Vernetzungskultur

auf die schmerzliche, perfekte Geschichte unseres betäubten Lebens auf Facebook warten? Wenn es nicht ein Roman werden soll, wonach suchen wir sonst?

E INE KURZE G ESCHICHTE DES W EB 2.0 »Sozialität ist die Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig zu sein.« G.H. Mead

Lasst uns ein für alle Mal mit dem Web 2.0 abschließen, bevor diese Episode ohnehin ausläuft. 2004 in Umlauf gebracht vom Verleger Tim O’Reilly, gab der Begriff »Web 2.0« der fast zum Erliegen gekommenen Start-up-Szene der amerikanischen Westküste das Signal, sich in der Folge des Dotcom-Crashs wieder neu zu formieren. Die Geschichte lautet etwa so: 1998 wurde die coole Cyberworld der Geeks, Künstler, Designer und Kleinunternehmer von den Anzugträgern überrollt: Managern und Buchhaltern, die hinter dem großen Geld her waren, das von Banken, Pensionsfonds und Risikokapitalfirmen bereitgestellt wurde. Auf dem Höhepunkt der Dotcom-Manie konzentrierte sich alle Aufmerksamkeit auf E-Commerce, laut propagiert als New Economy. Die Nutzer galten in erster Linie als potentielle Kunden und mussten überzeugt werden, Waren und Dienstleistungen online zu kaufen. Symbolischer Höhepunkt der Dotcom-Ära war die Fusion von AOL und Time Warner im Januar 2000. Das plötzliche Eindringen der Anzugträger versetzte der frühen Cyberkultur und anderen kreativen Enklaven einen schweren Schlag und führte zum verdienten Verlust ihrer Avantgardeposition. Als die New-Economy-Blase in einer Wolke von Skandalen und Pleiten im März 2000 zerplatzte, verließen die gehypten Dotcom-Entrepreneurs die Szene ebenso schnell, wie sie gekommen waren, die Aktien haben sich jedoch nie mehr ganz erholt. Wir sollten das Web 2.0 als das behandeln, was es ist: eine Renaissance des Silicon Valley, das infolge der Finanzkrise 2000-01, der politischen Neuausrichtung im Zuge der Wahl G.W. Bushs, der Anschläge von 9/11 und der darauffolgenden Invasionen in Afghanistan und im Irak so gut wie verschwunden war. Wenn die Westküsten-Startups 2003 – als das Enron-WorldCom-Drama zum größten Teil überstanden war – ihre (globale) Marktmacht wiedergewinnen wollten, mussten sie ihre Ausrichtung verändern, von E-Commerce und schnellen, raffgierigen Börsengängen hin zu einer stärker »partizipatorischen Kultur« (Jenkins), in der die User (auch genannt Prosumer), und nicht die Risikokapitalisten und Banker, das letzte Wort haben. Mit der Übernahme der besten Startups durch große Marktteilnehmer wie Yahoo und auch Newscorp trat das Geschäftsmodell des »Freien und Offenen« auf den Plan. Die unantastbare Haltung der Vergangenheit musste neu verpackt werden, und Silicon Valley fand

Einleitung: Ein letzter Blick auf das Web 2.0

seine frische Inspiration vor allem in zwei Projekten: dem voller vitaler Energie steckenden Such-Startup Google und der sich rasant entwickelnden Blogszene, die sich auf Plattformen wie blogger.com, Blogspot und LiveJournal versammelte. Als ich Anfang 2003 in Sunnyvale war und an den verlassenen Büros von Silicon Graphics vorbeifuhr, lag die Situation offen zutage: Der einzige volle Parkplatz war der von Google.3 Googles Suchalgorithmus, der im späteren Kapitel »Gesellschaft der Suche« genauer betrachtet wird, wie auch David Winers Erfindung der RSS-Technologie (auf der die Blogs basieren) stammen aus den Jahren 1997-98, schafften es aber, sich dem Dotcom-Wahn zu entziehen, um als Doppelherz der Web-2.0-Welle wieder aufzutauchen. Während die Blogs den nicht-kommerziellen, selbstermächtigenden Aspekt individueller Positionen, die sich um einen Link gruppieren, verkörperten, entwickelte Google parasitäre Technologien, um die Inhalte Anderer auszubeuten, auch bekannt als »die Informationen der Welt zu organisieren«. Sogenannter »nutzergenerierter Content« erzeugt individuelle Profile, die an Werbekunden als direkte Marketingdaten verkauft werden können, und Google merkte schnell, wie so aus den ganzen frei fließenden Informationen im offenen Internet, von Amateurvideos bis zu Nachrichtenseiten, Gewinne zu generieren waren. Googles späten Börsengang im Jahr 2004, sechs Jahre nach seiner Gründung, kann man durchaus als symbolischen Einführungsakt des Web 2.0 sehen: eines umfassenden Baukastens von Web-Anwendungen, angetrieben von einem rapiden Zuwachs an Usern mit Breitbandzugang. Das Web 2.0 zeichnet sich durch drei entscheidende Funktionen aus: Es ist einfach zu bedienen, es erleichtert den sozialen Austausch, und es gibt Usern über freie Publikations- und Produktionsplattformen die Möglichkeit, Inhalte jeglicher Art, seien es Bilder, Videos oder Texte, ins Netz zu stellen. Suchen und Teilen: Die Nutzer selbst geben die Empfehlungen, nicht mehr die Professionellen. Die darauf erfolgte Ausrichtung, Gewinne aus den freien, usergenerierten Inhalten zu ziehen, kann insofern als unmittelbare Antwort auf den DotcomCrash gelten. Die Killer-Anwendungen basierten nicht auf direkten finanziellen Transaktionen (E-Commerce), sondern auf personalisierten Anzeigen, die indirekte Informationen lieferten, und auf der Datenanalyse demografisch signifikanter Nutzerprofile, die an Dritte verkauft wurden. Die Firmen machen ihre Profite also nicht mehr auf der Ebene der Produktion, sondern durch die Kontrolle der Verteilungswege, wobei die Nutzer gar nicht registrieren, wie ihre unbezahlte Arbeit und ihr Online-Sozialleben von Apple, Amazon, eBay und Google, den größten Gewinnern in diesem Spiel, zu Geld gemacht wird. Nun, da der IT-Sektor die Medienindustrie übernimmt, erscheint der Kult des Freien

3 | http://techcrunch.com/2009/02/21/andreessen-in-realtime/ und www.roughtype. com/archives/2009/02/the_free_arts_a.php

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Das halbwegs Soziale — Eine Kritik der Vernetzungskultur

und Offenen nur noch als ironische Rache am E-Commerce-Wahn, der das Internet fast ruiniert hätte. Eine andere Konsequenz des Web 2.0 ist, dass die Nachrichtenmedien heute bestenfalls noch sekundäre Quellen sind. Dies ist eine ironische Umkehrung von Habermas’ Beschreibung des Internets als informeller öffentlicher Sphäre, die der höheren Autorität der etablierten Anbieter wie Verlagen, Zeitungen und Kulturzeitschriften unterliegt.4 Letzten Endes ist Habermas’ Paradigma aber nichts anderes als ein moralisches Urteil, wie die Welt funktionieren sollte, während für die meisten Jüngeren die »alten Medien« ihre Berechtigung schon lange verloren haben. Doch beide Positionen scheinen absolut gültig zu sein – Netzwerke sind ebenso mächtig, wie sie auch Macht auflösen. Das Internet kann »sekundär« und gleichzeitig dominant sein: Whirlpool-Dialektik. Genau dies ist der Grund, weshalb »führende« Intellektuelle die gegenwärtigen Transformationen weiterhin nicht wahrnehmen. Die ältere Generation liest ihre Tageszeitungen, sitzt vor ihrem Fernseher, schaut sich ihre Lieblings-Talkshows an und fragt sich, was die ganze Aufregung eigentlich soll; ist da wirklich irgendwas dramatisch an all diesen unsichtbaren Veränderungen? Nur ein paar Meinungsführer haben den Mut, ihre Abneigung gegenüber dem ganzen nutzlosen Twittern und Chatten öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Inzwischen: willkommen im Sozialen. Heutzutage ist das Soziale ein Ausstattungsmerkmal. Es ist kein Problem mehr (das »soziale Problem«, wie es das 19. und 20. Jahrhundert beherrschte) oder ein gesellschaftlicher Sektor, der der Fürsorge andersartiger, kranker oder alter Menschen gewidmet ist. Bis vor kurzem war es undenkbar, eine nicht-moralische Definition des Sozialen zu gebrauchen. Das Soziale war entweder ein Ideal, dem man sich in lebenslanger Hingabe verschrieb, eine Religion, die Millionen eine gesicherte Identität verschaffte, oder eine Schreckensvision: die Invasion der Anderen, die es auf unsere Ersparnisse und Besitztümer abgesehen hatten. Nun ist die Bestie gezähmt worden. In der langen Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1989 wurde das Soziale neutralisiert und kommt im 21. Jahrhundert als Spezialeffekt technologischer Abläufe zurück, eingelassen in Protokolle und von der Gemeinschaft abgetrennt. Das Soziale hat seine geheimnisvolle potentielle Energie verloren, um plötzlich über die Straße hereinzubrechen und die Macht zu übernehmen. Wir mögen uns von katholischen oder Gramsci’schen Bildern gewöhnlicher Leute, die sich auf Plätzen versammeln und ihre Einigkeit feiern, bewegen lassen, aber diese Empfindung ist von kurzer Dauer und kann das ungute Gefühl nicht verdrängen, dass die Gesellschaft, wie Margaret Thatcher richtig feststellte, nicht mehr existiert. Schiebt die Schuld auf Neoliberalismus, Individualismus, 4 | Siehe seine Vorlesung im März 2006 in Wien, in der Habermas die Auffassung vertritt, das Internet stelle eine sekundäre Form von Öffentlichkeit dar: www.renner-institut. at/download/texte/habermas2006-03-09.pdf

Einleitung: Ein letzter Blick auf das Web 2.0

Konsumismus, Globalisierung und neue Medien. Sie alle haben das homogene Gefühl von Gemeinschaft zerstört, vor dem so viele in der Nachkriegszeit davongelaufen sind. Soziale Medien als Schlagwort der auslaufenden Web-2.0-Ära ist nur ein Produkt von Geschäftsstrategien und sollte dementsprechend bewertet werden. Der Bürger-als-User, eingekapselt in Flickr, Wikipedia, MySpace, Twitter, Facebook oder YouTube, hat die Epoche der Sozialen Medien noch nicht hinter sich gelassen. Die Plattformen kommen und gehen (erinnert sich noch jemand an Bebo, Orkut oder Friendster?), aber der Trend ist klar: die Netzwerke ohne Grund sind Zeitfresser, und wir werden immer nur tiefer in die Höhle des Sozialen gezogen, ohne zu wissen, wonach wir eigentlich suchen.

W AS IST KRITISCHE W EB -2.0-F ORSCHUNG HEUTE ? Es gibt kaum gründliche und kritische Studien zum Web 2.0, aber das ist keine Überraschung. Die akademische Forschung kommt mit der Geschwindigkeit der Veränderungen nicht mit und beschränkt sich darauf, Netzwerke und kulturelle Muster festzuhalten, die schon im Verschwinden sind. Seit den frühen neunziger Jahren tauchen Nutzerkulturen aus dem Nichts auf, und den Forschern gelingt es einfach nicht, das Tempo, in dem diese großen Strukturen kommen und gehen, zu antizipieren und zu begreifen. Die Nutzerkulturen haben die Vorstellungskraft der IT-Journalisten schon lange überholt, und die Gesellschaft ist ihren Theoretikern (einschließlich des Autors) weit voraus. Als Reaktion verfällt man entweder in Panik oder kehrt dem Thema der neuen Medien generell den Rücken. Der Untersuchungsgegenstand ist permanent im Fluss und wird bald verschwinden. Die Erkenntnis, dass Theorie in Form detaillierter Fallstudien dazu verurteilt ist, sich auf Geschichtsschreibung zu beschränken, kann depressive Stimmungen wecken und uns immer weiter in einen pharmakologischen Geisteszustand hineinziehen, wie es Bernard Stiegler ausdrückt.5 Verstärkt durch den Niedergang der französischen Philosophie, tut sich ein Mangel an Orientierung auf. Kolumnisten und Stand-up-Comedians befassen sich mit neuen Medien als Gadgets, aber Smartphones sind keine Handtaschen. Wir brauchen kompetente Debatten voller Witz und Ironie, stattdessen 5 | Siehe Bernard Stiegler, Taking Care of Youth and the Generations, Stanford: Stanford University Press, 2010 und For a New Critique of Political Economy, Cambridge: Polity Press, 2010. Beide Bücher beinhalten Verweise und ganze Abschnitte zum Verhältnis von ausgiebigen Internet- und Game-Aktivitäten und depressiven Zuständen bei Jugendlichen, was Stiegler als »Schlacht um die Intelligenz« charakterisiert. Stiegler fordert den Kampf gegen die Infantilisierung und spricht sich für die Wiederherstellung des Minderheitenschutzes für Kinder aus. Nur durch beständige Aufmerksamkeit kann das kulturelle Gedächtnis bewahrt werden.

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Das halbwegs Soziale — Eine Kritik der Vernetzungskultur

diskutieren wir das Zeitgeschehen so, wie es uns die Nachrichtenmedien vorgeben. Ein möglicher Ausweg könnte die Entwicklung kritischer Konzepte sein, die über einzelne Generationen von Anwendungen hinausreichen und nicht in eine spekulative Theorie zurückfallen, die lediglich die befreienden Potentiale von Schlagworten feiert und darauf hofft, in Marktwert übersetzt zu werden. Betrachten wir den Stand der Web-2.0-Kritik (und lassen dabei mal das Datenschutz-Thema beiseite, das schon ausführlich von Autoren wie danah boyd behandelt wurde). The Cult of the Amateur von Andrew Keen gilt als eine der ersten kritischen Betrachtungen des Web-2.0-Glaubenssystems. »Was passiert«, fragt Keen, »wenn Unwissen, Egoismus, schlechter Geschmack und Mobregeln zusammenkommen? Der Affe übernimmt die Regie.« Wenn jeder sendet, hört keiner zu. In diesem Zustand des »digitalen Darwinismus« überleben nur die lautesten und rechthaberischsten Stimmen. Das Web 2.0 »dezimiert die Reihen der kulturellen Gatekeeper«.6 Während Keen als mürrischer und eifersüchtiger Vertreter der Klasse der alten Medien daherkommt, kann man das von Nicholas Carr nicht behaupten, dessen Buch The Big Switch (2008) den Aufstieg des Cloud Computings analysiert. Für Carr (dem wir auch in dem Kapitel »Psychopathologie der Informationsüberflutung« wieder begegnen) signalisiert diese zentralisierte Infrastruktur das Ende des autonomen PCs als Knoten in einem verteilten Netzwerk. Das letzte Kapitel in Carrs Buch mit dem Titel »iGod« weist auf einen »Neurological Turn« der Web-2.0-Kritik hin. Ausgehend von der Beobachtung, dass Google seit jeher die Intention hat, seine Aktivität in Künstliche Intelligenz zu verwandeln, »ein künstliches Gehirn, das klüger ist als Dein eigenes« (Google-Gründer Sergey Brin gegenüber Newsweek), richtet Carr seine Aufmerksamkeit auf die Zukunft der menschlichen Kognition: »Das Medium ist nicht nur die Message. Das Medium ist der Geist. Es bestimmt, was wir sehen und wie wir es sehen.« Mit der Herrschaft der Geschwindigkeit im Internet werden wir zu dessen Neuronen: »Je mehr Links wir klicken, Seiten wir anschauen und Transaktionen wir machen, desto mehr ökonomischen Wert gewinnt und Profit generiert es.«7 In seinem berühmten The-Atlantic-Essay von 2008, »Is Google Making Us Stupid? What The Internet is Doing to Our Brains«, schärft Carr dieses Argument und zeigt, wie das ständige Switchen zwischen Fenstern und Websites und die fieberhafte Nutzung der Suchmaschinen uns letztlich verdummt. Ist das einzelne Individuum selbst dafür verantwortlich, eine Langzeitwirkung auf seine Kognitionsfähigkeiten zu verhindern? In einem ausführlichen Text über die nachfolgende Debatte verweist Wikipedia auf Sven Birkerts’ Studie von 6 | Andrew Keen, The Cult of the Amateur: How Today’s Internet is Killing Our Culture and Assaulting Our Economy, London: Nicholas Brealey Publishing, 2007. 7 | Nicholas Carr, The Big Switch: Rewiring the World, From Edison to Google, New York: W.W. Norton & Company, 2008.

Einleitung: Ein letzter Blick auf das Web 2.0

1994, Die Gutenberg Elegien: Lesen im Elektronischen Zeitalter, und auf das spätere Werk der Entwicklungspsychologin Maryanne Wolf, die auf den Verlust der Fähigkeit des »tiefgehenden Lesens« verweist. Die hochorientierten Nutzer des Internets, bemerkt sie, scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, dicke Romane oder umfangreiche Monografien zu lesen. Carr und andere bedienen sich clever der angloamerikanischen Begeisterung für alles, was mit Geist, Gehirn und Bewusstsein zu tun hat. An populärem Wissenschaftsjournalismus kann es mittlerweile gar nicht genug geben. Eine gründliche ökonomische (geschweige denn marxistische) Analyse von Google und dem Komplex des Freien und Offenen ist dagegen bedenklich uncool. Die Kulturkritiker sollen bitte im Gleichklang singen mit den Daniel Dennetts dieser Welt (locker versammelt bei edge.org), wenn sie ihre Bedenken zu Gehör bringen wollen. Frank Schirrmacher, FAZ-Herausgeber und Edge-Mitglied, befasst sich in seinem Buch Payback8 ebenfalls mit dem Einfluss des Internets auf das Gehirn. Während Carrs Blick auf den Zusammenbruch der Multitasking-Fähigkeiten in der männlichen Weißenkultur die couleur locale eines US-IT-Businessexperten in Verkleidung eines East-Coast-Intellektuellen besitzt, rückt Schirrmacher die Debatte in den kontinentaleuropäischen Kontext einer alternden Mittelklasse, die eine bange Abwehrhaltung gegenüber islamischem Fundamentalismus und asiatischer Hypermodernität eingenommen hat. Wie Carr sucht Schirrmacher Belege für den Abbau der menschlichen Geisteskräfte, die mit iPhones, Twitter und Facebook – zusätzlich zu den schon vorhandenen Informationsströmen des Fernsehens, Radios und der Printmedien – nicht mehr Schritt halten können. In einen permanenten Alarmzustand versetzt, unterwerfen wir uns der Logik der Geschwindigkeit und dauernden Verfügbarkeit. Schirrmacher spricht von »Ich-Erschöpfung«. Die meisten Deutschen haben auf Payback ablehnend reagiert. Neben faktischen Irrtümern bezogen sie sich dabei vor allem auf Schirrmachers impliziten anti-digitalen Kulturpessimismus (den er abstreitet) und den Interessenskonflikt zwischen seiner Rolle als Zeitungsherausgeber und der als Zeitgeistkritiker. Wie auch immer die Kulturdebatte über die Medien sich weiterentwickelt, Schirrmachers Weckruf wird uns noch einige Zeit begleiten. Welche Bedeutung sollen wir den digitalen Geräten und Anwendungen in unserem Alltagsleben einräumen? Wird das Internet unsere Sinne überwältigen und uns unsere Weltsicht diktieren? Oder werden wir den Willen und die Vision entwickeln, diese Werkzeuge zu beherrschen? In You Are Not a Gadget (2010) fragt Jaron Lanier: »Was passiert, wenn nicht mehr wir die Technologie gestalten, sondern die Technologie beginnt, uns zu gestalten?«9 Lanier ist ein Sonderfall. Er ist weder Journalist noch Akademi8 | Frank Schirrmacher, Payback, München: Blessing Verlag, 2009. 9 | Jaron Lanier, You Are Not a Gadget: A Manifesto, New York: Alfred A. Knopf, 2010. Siehe auch: www.edge.org/discourse/digital_maoism.html

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Das halbwegs Soziale — Eine Kritik der Vernetzungskultur

ker, sondern ein Mega-Nerd, ein Computerwissenschaftler aus der Prä-Web»Hippie«-Cyberkultur. Politisch ist er schwer zu fassen und läuft am ehesten vielleicht noch unter dem Etikett gegenkulturell und anti-kapitalistisch (wobei man letzteres für die amerikanische Westküstenkultur immer nur unter Vorbehalt sagen kann). Was Laniers Geschichte speziell macht, ist sein Status als Silicon-Valley-Insider, und wir sollten sein lang erwartetes Buch etwa so lesen, wie Kreml-Beobachter einst die offiziellen Zentralorgane dechiffrierten. Auf seine eigene Art ist Lanier die heutige Version des sowjetischen Dissidenten. Ähnlich wie Andrew Keen verweist er in seiner Verteidigung des Individuums auf den Intelligenzverlust durch die »Weisheit der Menge«, die eigenständige Positionen, zum Beispiel bei Wikipedia, zugunsten der Mob-Regeln unterdrückt. Lanier fragt, warum die letzten zwei Jahrzehnte keine neuen Musikstile und Subkulturen hervorgebracht haben, und beklagt die Vorherrschaft von Retro in der gegenwärtigen remixgeprägten Musikkultur. Die Kultur des Freien dezimiert nicht nur das Einkommen der Bühnenkünstler, sondern hält sie auch davon ab, mit neuen Klängen zu experimentieren. Die Demokratisierung der digitalen Tools war kein Vorbote irgendwelcher »Super-Gershwins«; stattdessen sieht Lanier eine »Erschöpfung der Muster«, das Phänomen, dass einer Kultur die Variationen traditioneller Muster ausgehen und ein genereller Kreativitätsverlust stattfindet. »Wir durchlaufen keine vorübergehende Flaute vor dem Sturm. Stattdessen sind wir in eine dauerhafte Schläfrigkeit geraten, und ich bin mittlerweile überzeugt, dass wir dieser nur entkommen, wenn wir den ganzen Bienenstock ausräuchern.«10 Ob wir Lanier zustimmen oder nicht, wir sollten seine Kritik zumindest aufgreifen und genau differenzieren, welche Art von Experimenten und Erfindungen im Online-Raum der elektronischen Musik oder der Hackerkultur tatsächlich stattfinden. Thierry Chervel vom deutschen Online-Kulturmagazin Perlentaucher: »Das Internet zermanscht das Hirn, sekundiert Frank Schirrmacher. Er will die Kontrolle zurückgewinnen. Aber die ist perdu. Die Revolution frisst ihre Kinder, ihre Väter und ihre Verächter.«11 Wird dies das Schicksal der neuen Welle von Netzkritikern wie Siva Vaidhyanathan, Sherry Turkle oder gar Evgene Morozov sein?12 Die Internet- und Gesellschaftsdebatte sollte weder »medikamentiert«

10 | Lanier, ebd., S. 45. 11 | Tierry Chervel, »Fantasie über die Zukunft des Schreibens«, www.perlentaucher. de/blog/134_fantasie_ueber_die_zukunft_des_schreibens#521 12 | Diese Titel der drei Netzkritiker erschienen Anfang 2011: Siva Vaidhyanathan, Googlization of Everything (And Why We Should Worry). Los Angeles: University of California Press, 2011; Sherry Turkle, Alone Together: Why We Expect More Technology and Less From Each Other. New York: Basic Books, 2011; und Evgene Morozov, Net Delusion: the Dark Side of Internet Freedom. New York: PublicAffairs, 2011.

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noch moralisiert werden, sondern lieber die Politik und Ästhetik der NetzwerkArchitektur in den Vordergrund stellen. Anstatt zu wiederholen, was Carr, Schirrmacher und andere proklamieren, behaupte ich, dass die Kritik des Web 2.0 ganz andere Wege einschlagen muss. Hören wir auf, mentale Wirkungen nachzuzeichnen, über den Einfluss des Netzes auf unser Leben zu grübeln oder immer wieder das Schicksal der Nachrichten- und Verlagsindustrie zu beschwören, sondern untersuchen wir lieber die weniger offensichtlichen neu entstehenden kulturellen Logiken, die über spezielle Plattformen oder Körperschaften hinausgehen – wie Echtzeit, Linking vs. Liking und den Aufstieg der nationalen Webs. Hier liegt der netzkritische Ansatz, dem ich in den folgenden Kapiteln des Buches nachgehen werde. Ich möchte Aspekte des alltäglichen Internetgebrauchs ins Blickfeld rücken, die oft unbeachtet bleiben. Im Fokus steht der unsichtbare Übergang vom Gebrauch des Internets als einem Tool hin zur Schaffung kollaborativer, ausgedehnter »Nutzerkulturen«, die jeweils eigene, unterschiedliche Ausprägungen entwickeln und das Leben im Raum der Technologie wiederum durchdringen. In diesem relativ neuen Ökosystem können Konzepte unmittelbar über Try and Error entwickelt werden. Konzepte lassen sich zwar als abstrakte Ideen verstehen, aber im Kontext lebendiger Netzkulturen werden sie von innen heraus gebildet und fallen nicht vom Himmel. In meinem Ansatz geht es sowohl darum, die Adaption von Konzepten genau zu bestimmen, als auch neue Konzepte vorzuschlagen, die eine produktive Rolle spielen können. Für mich ist der InternetKontext immer noch im Fluss; warum sollte man sich sonst damit auch auseinandersetzen und nicht zu wichtigeren und interessanteren Themen wechseln. Der Kampf um das Internet ist noch nicht vorbei. Solange es noch um etwas geht, werden neue Umzäunungen zu neuen Generationen von Gesetzlosen führen – und zu kritischen Positionen, die ihre Projekte voranbringen. Slogans und Zitate für die vernetzten Vielen: Keine Idee? Kein Problem (Werbung) – Sich wieder schlau fühlen – Ja, wir kommentieren – Wenn Du gelangweilt bist, langweilst Du – Sehnsucht nach dem Gemeinwohl – Herbst der Digitalen Herrschaft – Die Verzweiflung des Massendandyismus – Melden Sie sich hier an, um Partisan zu werden – Die amerikanische Leere auffüllen – Die wachsende interne Distanz – Erfahre die Schönheit der indirekten Intensität© – Eine stille Ekstase – Ich diene als leerer Bildschirm – Der Beobachter ist allein – Das ist die Einsamkeit des freien Menschen – Glaube als rationale Entscheidung – … überlegene Software für die verwirrten Multitudes … – »Frankreich war das Zentrum der Welt, und heute leidet es unter einem Mangel an großen historischen Ereignissen. Dies ist der Grund, warum es in radikalen Posen schwelgt. Es ist die lyrische, neurotische Erwartung einer großen Tat aus sich selbst heraus, die jedoch nie kommt und nie kommen wird.« (Milan Kundera) – Den Leuten ihr verlässlichstes Gut wiedergeben, die Theorie (Werbetafel) – Wir lechzen nicht nach Investments – »Er ist ein Google-Mitläufer. Weniger wert als

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ein Tier« – Wir genießen Unabhängigkeit (Chatroulette) – Multitasking ist für die Armen – Schicksal Technik (Mini-Serie) – Noble Lügen für Soziale Medien – Ich denke gerne über mich selbst nach – Die ungeplanten Revolten verknüpfen – »Überprogrammiert, wütend, einsam.« (Zadie Smith) – Lieblingsfarbe: opak – Aus Machtlosigkeit entsteht auch keine Verantwortung.

Die Kolonisierung der Echtzeit Vergiss den Browser, Echtzeit ist das neue Crack.13 Dave Winer propagiert sie auf Scripting News und Nicholas Carr schreibt darüber in seiner Blog-Reihe The Real Time Chronicles. Wir entdecken den fluiden, sich ständig verändernden Trend in Metaphern wie Google-Welle und Twitter (dem sichtbarsten Phänomen dieser Übergangstendenz), aber man findet ihn ebenso in Chatrooms und in der Internet-Telephonie à la Skype wie auch bei der automatischen Überwachung von Internet-Traffic (Deep Pocket Inspection) oder von Kursbewegungen im Börsenhandel sowie im Video-Streaming. Im Dezember 2009 führte Google ein Echtzeit-Suchinterface ein, das Suchergebnisse automatisch aktualisiert, ohne dass das Browserfenster neu geladen werden muss. Echtzeit steht für eine fundamentale Verschiebung vom statischen Archiv hin zum »Fluss« und zum »Strom«. Wen kümmern noch die Koordinaten von gestern? Die Zeit beschleunigt sich, und wir schütteln die Geschichte ab. In einer 24/7-Ökonomie kommuniziert man über Tweets, während der sichtbare Teil des Archivs gleichzeitig auf die letzten Stunden zusammenschrumpft.14 Silicon Valley macht sich bereit zur Kolonisierung der Echtzeit und löst sich von der statischen Web-»Seite«, die nur mehr als Referenz an die Zeitung fortlebt. Warum einen Fluss speichern? Den Nutzern ist es nicht mehr wichtig, Informationen offline auf ihren Geräten zu speichern, und die »Cloud«, in Verbindung mit neuen Hardware-Entwicklungen (siehe MacAir und seine diversen technischen Einschränkungen), fördert diese befreiende Bewegung. Wir lagern unsere Archive aus und vertrauen ihre Verwaltung externen Institutionen an. Wenn Google die Dateien aufbewahrt, kann man den klobigen Allround-PC entsorgen. Weg mit dem großen, hässlichen, grauen Büromobiliar. Das Web ist zu einer flüchtigen Umgebung geworden, die wir in unseren Taschen mit uns herumtragen. Manche haben sich von der Idee einer wirklichen »Suche« schon verabschiedet, da diese zu zeitaufwendig ist und oft nur zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Das könnte der Punkt werden, an dem das Google-Imperium zu bröckeln beginnt, weshalb es auch unbedingt versucht, an der Spitze 13 | Sagt Steve Gillmor auf TechCrunch, 21. Februar 2009. 14 | Siehe mein Kapitel über Internet-Zeit in Zero Comments, auch veröffentlicht in 24/7, Time and Temporality in the Network Society, hg. von Robert Hassan und Ronald Purser, Stanford: Stanford University Press, 2007.

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einer Entwicklung zu bleiben, die der französische Geschwindigkeitsphilosoph Paul Virilio schon vor Langem vorausgesagt hat. Heute ist das Fernsehen zu langsam, und so greifen die Nachrichten bei sekundenaktuellen Informationen auf Twitter zurück. Der televisuelle Apparat selbst mag schnell genug sein, seine Signale bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit, aber inzwischen werden multiple und omnipräsente Blickwinkel verlangt. Der reale Raum des Fernsehstudios muss sich auflösen. Wenn CNN, einst ein mächtiges, globales Unternehmen, seine vielfachen Live-Kanäle mobilisiert, zeigt sich, wie hoffnungslos langsam es geworden ist und wie eng sein Blickfeld. Selbst Echtzeit ist relativ. Genauso wie die Finanzindustrie ist auch die Medienindustrie dazu gezwungen, die Millisekunden auszunutzen, um den Überschuss zu steigern. Die Industrie kann nur dann noch Gewinne machen, wenn sie die Kolonisierung dieser Ströme im planetarischen Maßstab und in verteilten Strukturen nutzt. Im Mai 2009 wurde Google Wave als Online-Plattform für kollaboratives Echtzeit-Editing eingeführt. Sie verschmolz E-Mail, Instant Messages, Wikis und Soziale Netzwerke und kann so zum Beispiel Facebook-Daten einspeisen. Ein Meta-Online-Tool für Echtzeit-Kommunikation, das kontextuelle Rechtschreib- und Grammatikprüfung und automatisierte Übersetzung zwischen 40 Sprachen anbot. Vom Dashboard aus konnte man Wave erleben, als ob man am Ufer eines Flusses säße und sein Vorbeifließen beobachtet. Ein Jahr später wurde Wave wieder eingestellt, mit dem Hinweis auf mangelndes Interesse und Beschwerden, dass der Dienst so kompliziert und wenig nutzerfreundlich sei, dass »die Leute überfordert sein könnten, ihn überhaupt zu verstehen«.15 Sollen wir uns damit quälen, Multichannel-Live-Streams zu erfassen? Für welchen Zweck eigentlich? Hast du schon dein Personal Intelligence Dashboard installiert, das dir hilft, das Informationsüberflutungsproblem zu lösen, und kannst du es auch noch bedienen?16 Utopische Versprechen suggerieren, dass wir nicht mehr warten müssen, während der PC unsere Fragen verarbeitet. Das Internet nähert sich dem Durch15 | http://en.wikipedia.org/wiki/Google_Wave. Ende 2010 ging das Projekt zur Apache Foundation über, die es in Apache Wave umbenannte. 16 | In diesem Kontext sind die Webvideos von Howard Rheingold über intelligente Dashboards, Nachrichten-Radarsysteme und Informationsfilter aufschlussreich: http://vlog.rheingold.com/index.php/site/video/infotention-par t-one-introducingdashboards-radars-filters/. Für Rheingold handelt es sich um wesentliche Bildungstools des 21. Jahrhunderts. Um mit der Informationsüberflutung zurechtzukommen, muss man mehr Kompetenzen beherrschen als Schreiben und Lesen. Und es ist nicht nur wichtig zu wissen, welche Informationen man abblockt, sondern auch, welche man hineinlässt. Für Rheingold bedeutet »mindful infotention« (ein von ihm selbst geprägter Begriff) teils disziplinierte Aufmerksamkeit und teils technische Kompetenz.

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einander und der Komplexität unserer sozialen Lebenswelt an. Dennoch, in Bezug auf das Design bedeutet ein Schritt vorwärts auch zwei Schritte zurück. Man schaue sich nur Twitter auf dem Smartphone an; es sieht aus wie Ascii-EMails oder SMS-Messages auf dem Handy von 2001. In welchem Maß ist dies ein bewusster visueller Effekt? Der rohe, typo-lastige HTML-Stil steht vielleicht gar nicht für technische Unzulänglichkeit, sondern ist eher eine Bezugnahme auf die Unvollständigkeit des Ewigen Jetzt, in dem wir gefangen sind. Man hat einfach zu wenig Zeit, um langsame Medien zu genießen. Wieder im ToskanaModus, ist es dann angenehm, sich zurückzulehnen und der Offline-Stille zu lauschen, aber das ist eine den Qualitätsmomenten vorbehaltene Ausnahme. Der Tempomacher des Echtzeit-Internets ist das Mikroblogging, aber wir können es auch von der umgekehrten Seite der Sozialen Medien aus betrachten, die ihre Nutzer dazu drängen, so viel wie möglich preiszugeben. Twitter hat zuerst gefragt: »Was machst du?«, »Woran denkst du?«, »Was passiert gerade?«. Wenn die Maschine deine Gedanken nicht lesen kann, wirst du freundlich gebeten, sie mitzuteilen. Schließ dich dem Programm an. Gib uns deinen besten Self-Shot. Zeige deine Impulse. Als Resultat erleben wir fieberhaft upgedatete Blogs, ständig aktualisierte Nachrichten-Sites und Petabytes an Mikromeinungen. Die treibende Technologie hinter diesen Applikationen ist dabei die permanente Kaskade von RSS-Feeds, die sofortige Updates von allem, was irgendwo sonst im Web geschieht, bereitstellen. Eine wesentliche Rolle, was die »Mobilisierung« von Computer, sozialem Netzwerk, Video und Fotokamera, Audiotechnik und letztendlich auch des Fernsehens betrifft, spielt die Verbreitung von Mobiltelefonen. Durch Miniaturisierung der Hardware und drahtlose Anbindung wird die Technologie zu einem unsichtbaren Element des Alltagslebens. Web-2.0-Anwendungen reagieren auf diesen Trend, indem sie versuchen, aus jeder Situation einen Wert zu ziehen. Die Maschine will andauernd wissen, was los ist, welche Entscheidungen wir treffen, wohin wir gehen und mit wem wir reden. In der Zwischenzeit werden unsere Daten ausgekundschaftet, ohne dass wir uns Gedanken darum machen, dass unsere halb-privaten und weitgehend öffentlichen Identitäten den Eigentümern der Sozialen Medien zu fröhlichem Reichtum verhelfen. Dies ist der Preis des Freien, und wir scheinen mehr als gewillt zu sein, ihn zu zahlen. Die Cyber-Propheten lagen falsch: Es gibt keinen Beweis, dass die Welt virtueller wird. Eher wird das Virtuelle realer; es will in unsere realen Leben und sozialen Beziehungen eindringen und sie offenlegen. Selbstmanagement und Techno-Modellieren werden essentiell: Wie gestalten wir das Selbst in EchtzeitFlüssen? Wir werden nicht mehr angespornt, eine Rolle zu spielen, sondern gezwungen, »wir selbst« zu sein (was nicht weniger theatralisch und artifiziell ist). Permanent loggen wir uns ein, legen Profile an und posten Status-Updates, um unser Selbst auf dem globalen Anstellungs-, Freundschafts- und Liebesmarkt zu präsentieren. Wir dürfen zwar multiple Leidenschaften haben, aber nur eine beglaubigte Facebook-ID, denn die Rückmeldungen des Systems sind nicht auf

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Ambivalenz eingestellt. Vertrauen ist das Öl des globalen Kapitalismus und des Sicherheitsstaats und wird von diesen bei jeder Transaktion und jedem Kontrollpunkt verlangt, um den Durchlass unserer Körper und Informationen zu genehmigen. Die Idee, dass das Virtuelle einen von seinem alten Selbst befreit, ist gescheitert. Es gibt keine alternative Identität. Das Web-2.0-Selbst ist insofern postkosmetisch. Das Ideal ist weder der Andere noch der bessere Mensch. Mehrmensch, nicht Übermensch. Die perfekt aufpolierte Persönlichkeit hat keine Empathie und ist rundum suspekt. Es sind die Fehler der Stars (Affären, Drogenkonsum, peinliche Kleidung, Gewichtsprobleme, schlechte Haut), die sie so unwiderstehlich machen. Besser zu werden bedeutet heute auch, dass man zeigt, wer man ist, und so fordern die Sozialen Medien ihre Nutzer auf, ihre allzu menschlichen Dimensionen zu »verwalten« statt kontroverse Seiten einfach nur zu verstecken oder preiszugeben. Unsere Profile bleiben kalt und unvollständig, wenn wir nicht wenigstens irgendeinen Aspekt unseres Privatlebens offenbaren. Sonst sind wir Roboter, anonyme Teilnehmer der vergehenden Massenkultur des 20. Jahrhunderts. In Cold Intimacies bringt Eva Illouz ein Problem der Online-Identität zur Sprache, auf das wir in einem späteren Kapitel, »Facebook, Anonymität und die Krise des multiplen Selbst«, zurückkommen werden. »Mit Blick auf den von mir beschriebenen Prozess ist es so gut wie unmöglich, die Rationalisierung und Kommodifizierung des Selbstseins von der Fähigkeit des Selbst zu trennen, sich zu formen, sich zu helfen und kommunikativ sowie deliberativ mit anderen in Kontakt zu treten.«17 Und so wird jede Minute des Lebens in »Arbeit« umgewandelt, oder wenigstens in einen Zustand der Verfügbarkeit, eine immer währende OnlinePräsenz, die verwandt ist mit dem, was Tiziana Terranova »soziale Wertschöpfung«18 nennt. Doch während wir die Technologie in Besitz nehmen und sie in unsere Leben einbauen, schaffen wir gleichzeitig Räume, um uns zurückzuziehen und einen Moment für uns selbst zu sein. Wie finden wir die Balance? Es ist unmöglich, im selben Moment zu beschleunigen und zu verlangsamen, aber genau so führen die Leute ihr Leben. Wir entscheiden uns entweder für schnelle oder langsame Aufgaben, je nach Charakter, Fähigkeiten und Geschmack – und den Rest lagern wir aus. 17 | Eva Illouz, Cold Intimacies: The Making of Emotional Capitalism, Cambridge: Polity Press, 2007, S. 109, dt. Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006, S. 161 f. 18 | Tiziana Terranova, »Another Life: the Nature of Political Economy in Foucault’s Genealogy of Biopolitics«, in: Theory, Culture & Society 26.6 (2009): S. 234-262. Siehe auch Tiziana Terranova, »New Economy, Financialization and Social Production in the Web 2.0«, in: Andrea Fumagalli und Sandro Mezzadra (Hg.), Crisis in the Global Economy: Financial Markets, Social Struggles, and New Political Scenarios, übers. v. Jason Francis McGimsey, Los Angeles: Semiotext(e), 2010, S. 153-170.

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Zitate von keinem und jedem: Sorgen über einen unerwarteten Anstieg der Ego-Inflation (Schlagzeile) – Schau nur, meine Verteilte Großartigkeit – Kritik des hyper-koffeinierten Marxismus – »Haben Sie jemals herausgefunden, was unwichtig ist?« – Empfohlene Kaskadeneffekte – sich von Geliebten entfreunden – Mach mit bei der Abschaffung der Selbst-Realisierung – Wichtige E-Mails – Prinzessin werden – Designe Deinen Kampf mit uns ($ 150/Jahr) – Natural-Born Dissident – »Etwas zu kreieren, das einem das Gefühl gibt, intelligenter zu sein, ohne viel Arbeit hineinstecken zu müssen, war immer schwierig. Nur ein paar Ideen haben sich bei den Weißen jemals durchgesetzt, wobei Dokumentarfilm und öffentliches Radio die bedeutendsten sind. Doch im letzten Jahrzehnt ist ein neues Element zu dieser Auswahl dazugekommen: TED-Konferenzen.« (Dinge, die weiße Leute mögen) – »Einfach ignorieren, was man nicht versteht.« (XML) – Es gibt nicht so etwas wie eine neutrale Mahlzeit. – »›Downvoten‹ ist gut für Dich.« (Wissenschaftliche Skeptizismus-Website)

Von Link zu Like Man lasse sich folgenden Satz durch den Kopf gehen: »Ich bin für Deine Website nicht verantwortlich.« Er entspringt einer Gedankenkette, der von einer anderen Bemerkung angestoßen wurde: »Dieser Link ist keine Empfehlung.«19 Aber Moment mal, genau das ist er. Und deshalb streiten sich Anwälte in Gerichtsverhandlungen über das Link-Thema. »Es ist nicht gestattet, ohne vorherige schriftliche Einwilligung Links zu dieser Website einzurichten und/oder zu betreiben […]«, sagt Ryanair. »Eine solche Einwilligung kann jederzeit nach Ryanairs Ermessen zurückgenommen werden.«20 Verlinken macht einen zum Komplizen. Geeks und Cyber-Optimisten sind da allerdings anderer Meinung, wenn sie leidenschaftliche Erläuterungen des wertfreien Verlinkens geben. Wikipedia definiert den Hyperlink als »Referenz in einem Dokument auf ein externes Informationselement«, doch was in dieser Definition fehlt, ist der Handlungsaspekt. Wenn man einer Behauptung nicht zustimmt, ignoriert man sie. 19 | Ein Beispiel: »DASHlink verlinkt auf Websites, die von anderen öffentlichen und/ oder privaten Organisationen generiert und betrieben werden. Dieser Link kann von einem Community-Mitglied oder vom NASA DASHlink Team bereitgestellt worden sein; trotzdem bedeutet der Link keine Empfehlung der Website durch die NASA oder uns. Wenn User einem externen Link folgen, verlassen sie DASHlink und unterliegen den Datenschutz- und Sicherheitsrichtlinien der Eigentümer/Sponsoren der externen Website(s). NASA und DASHlink sind für die Methoden der Informationssammlung externer Websites nicht verantwortlich.« 20 | www.malcolmcoles.co.uk/blog/links-banned-2011/

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Man macht einen Nicht-Link. Wenn ein Video uncool ist, empfiehlt man es nicht weiter. Man überspringt langweilige Bilder und hört keiner schlechten Musik zu. Warum soll diese grundlegende Regel nicht auch für das Web gelten? Außerdem, Links animieren die Besucher einer Website dazu, die Seite zu wechseln, und machen klar, weshalb die meisten »rechnenden« Internauten gegenüber zu vielen Links auf ihren Seiten auch misstrauisch sind.21 Hin und her zu springen ist ein grundlegender Verhaltensmodus in postmodernen Gesellschaften. Wenn sie überhaupt eingesetzt werden, sollten Links für eine Idee oder ein Geschäft von Nutzen sein. Links sind »Bande«, die für einen »guten Leumund« stehen (der dann bemessen und abgebildet werden kann), und sie sind die Basis für Googles Suchalgorithmus. Googles Grundlage ist positive Affirmation. Bis vor kurzem gab es keine unterbewussten Links, sondern nur das öde HTML-Format. Dies änderte sich mit Social-Bookmarking-Buttons, die von Anne Helmond beschrieben wurden als »präkonfigurierte Links, die einen, wenn man sie anklickt, auf die ›Mutter‹-Plattform zurückleiten. Der auf Facebook so beliebte, mit einem Klick aktivierte ›Like‹-Button ist weit weniger absichtsvoll als das Verlinken, denn die hergestellte Verbindung besteht eher in einer aufwandlosen affektiven Assoziierung als in einer tatsächlichen Bezugnahme.«22 Wenn man sich nicht der Habermas’schen Debatte einer interessefreien Öffentlichkeit verschrieben hat oder ein rechtspopulistischer Schockblogger ist, dessen Hobby Provokationen und offene Angriffe sind, warum

21 | Nicholas Carr: »Links sind eine wunderbare Annehmlichkeit, wie wir alle wissen (vom zwanghaften Klicken tagein tagaus). Aber sie bedeuten auch Ablenkung, manchmal eine sehr große Ablenkung — wir klicken auf einen Link, dann einen weiteren und noch einen weiteren, und schon haben wir vergessen, was wir ursprünglich eigentlich tun oder lesen wollten. Ein andermal sind sie nur kleine Ablenkungen, kleine Text-Mücken, die um den Kopf herumsirren. Auch wenn man nicht auf den Link klickt, nehmen ihn die Augen wahr, und der frontale Kortex muss einen Schwarm an Neutronen abfeuern, um zu entscheiden, ob man nun klickt oder nicht. [ ] Der Link ist gewissermaßen eine technologisch fortschrittliche Form der Fußnote. Er ist, was seinen Ablenkungscharakter betrifft, auch eine gewaltsamere Form von Fußnote.« Carr bezeichnet das Buch als ein Experiment in Entlinkifizierung. www.roughtype.com/archives/2010/05/ experiments_in.php 22 | Entnommen einer E-Mail vom 10. Januar 2011. Siehe auch Anne Helmond und Carolin Gerlitz, »Hit, Link, Like and Share. Organizing the social and the fabric of the web in a Like economy«, als Paper präsentiert auf der DMI Mini-Konferenz an der Universität von Amsterdam, 24.-25. Januar 2011. www.annehelmond.nl/2011/04/16/ paper-hit-link-like-and-share-organizing-the-social-and-the-fabric-of-the-web-in-alike-economy/

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sollte man dann Links zu Wettbewerbern, Schundseiten, falschen Informationen, politischen oder gesellschaftlichen Feinden setzen? Dies sind die Fallen, in denen sich die Link-Rhetorik wiederfindet. Die »Freiheit des Verlinkens« negiert willentlich die Gegenseite, zu der verlinkt wird. Da wäre es doch nicht schlecht, eine »Anti-Verlinkungs-Software« zu haben, die automatisch einen Denial-of-Service-Angriff auf einen Server startet, der ohne Erlaubnis einen Link zu mir setzt (inklusive der Suchmaschinen). Gibt es auch die Freiheit des Unlinkings? Links erzeugen Traffic, der wiederum Einnahmen generiert. Würden Millionen die Google-Links zu ihren Seiten löschen, könnte das Ende dieses Dienstes eingeläutet werden – die Säule eines Imperiums. Das Problem ist, bislang macht das keiner. Externe Links werden akzeptiert, toleriert und im Wesentlichen ignoriert, oder sie sind gar nicht bekannt. Techno-Materialisten sagen, dass Links Maschinen füttern, die für den cybernetischen Konsum geschaffen wurden. Blog-Spam mit seinen langen Linklisten zeigt perfekt, wie die Ökonomie massenproduzierter Verlinkung funktioniert. Links sind die Grundeinheit für die Informationsökonomie, um ihre eigene Existenz zu erforschen, zu kartografieren und zu reproduzieren. Googles Imperium ist auf die Verlinkungsarbeit gegründet, die Andere in ihre Websites und Dokumente stecken. Der Anfang von Pages und Brins Analyse der Weblinks (1996) wurzelt in der Idee der Verlinkung als positive Unterstützung des Anderen. In David Vises Buch über Google lesen wir, dass »eine Methode, die Beliebtheit einer Website zu messen, im Zählen der Links auf sie lag«. Page erläutert es so: »Wenn eine wissenschaftliche Arbeit oft zitiert wird, deutet das auf ihre Wichtigkeit hin, denn andere Leute fanden sie wert, erwähnt zu werden.«23 Wenn man anderer Meinung ist und die Beliebtheit einer Arbeit nicht noch weiter fördern möchte, liegt die beste Möglichkeit, diesen Prozess umzukehren, darin, auf ihre Erwähnung oder Verlinkung zu verzichten. Doch wie wir später sehen werden, bringt diese Logik die Kategorie der Kritik selbst in Gefahr. Betrachten wir den Fall des US-amerikanischen Richters Richard Posner und seinen Vorschlag, Links auf Zeitungsartikel oder jegliches geschützte Material, die nicht vom Urheberrechts-Inhaber genehmigt sind, generell zu verbieten. Posner schreibt: »Es kann nötig sein, das Urheberrecht auf die Blockierung des Onlinezugangs auf geschützte Inhalte ohne Genehmigung des Rechteinhabers, ebenso wie auf die Verlinkung auf geschütztes Material oder auf seine Paraphrasierung, auszuweiten, damit das Trittbrettfahren mit Inhalten, die von Online-Zeitungen finanziert werden, nicht den Anreiz erstickt, teure Strukturen der Nachrichtenerstellung zu schaffen, wodurch am Ende nur

23 | David A. Vise, The Google Story, New York, Pan Books, 2005, S. 37 (beide Zitate).

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große Nachrichtendienste wie Reuters oder Associated Press als einzige professionelle, nichtstaatliche Informations- und Meinungsquellen übrig blieben.« 24

TechCrunch antwortete darauf: »Es tut mir leid, Richter Posner, aber ich muss nicht nach Ihrer Erlaubnis fragen, um auf Ihren Blog-Eintrag oder einen Online-Zeitungsartikel zu verlinken. So funktioniert das Web eben. Wenn den Zeitungen das nicht gefällt, müssen sie ja auch nicht im Web erscheinen.«

Blogs und andere Websites übernehmen Inhalte aus Zeitungen, aber beteiligen sich nicht an den Kosten der Nachrichtenerstellung, sagt Posner. TechCrunch: »Diese pauschale Aussage ist einfach nicht richtig. Immer mehr Blogs, einschließlich TechCrunch, betreiben ihre eigene Nachrichtenrecherche und beauftragen Autoren, über Geschehnisse zu berichten, auf eigene Kosten. Aber selbst wenn wir die Diskussion auf Cut&Paste-Sites eingrenzen, ist das Trittbrettfahrer-Argument nicht tragfähig. Man kann kein Trittbrettfahrer sein, wenn man einen Wert zurückgibt. Ein Link stellt als solcher einen Wert dar. […] Woher, denkt Richter Posner, bekommen diese ganzen Zeitungs-Websites eigentlich ihre Leser? Hauptsächlich durch Links und nicht durch den direkten Traffic. Die Links zu löschen würde die Online-Leserschaft vieler Zeitungen dezimieren.« 25

Man muss den gegenwärtigen Bedeutungsverlust des Links als einen graduellen, unterschwelligen, fast unsichtbaren Prozess betrachten. Zunächst einmal wurde durch die Suchmaschinen ihr Status gesenkt. Wir klicken nicht mehr von Seite zu Seite und benutzen die dortigen Links, um irgendwo hinzukommen, sondern nehmen gleich den Weg über die Suchanfrage. Wenn man weitergeht, kann man feststellen, dass die Suchmaschinen den Links gegenüber eine parasitäre Haltung haben. Die Maschinen sind die größten Nutznießer der Links, während gleichzeitig die Macht der Links erodiert. In der Untersuchung Blogging for Engines von Anne Helmond wird der Mechanismus treffend beschrieben: »Im Hintergrund findet aufgrund der Suchmaschinen ein zweiter Verlinkungsprozess statt. Die Blogger verlinken immer noch auf andere Blogger, aber verwenden auch viel Zeit und Mühe darauf, ihre Inhalte so zu formatieren, dass sie von den Suchmaschinen leicht verarbeitet werden können.«26 Dies ist ein 24 | http://www.becker-posner-blog.com/2009/06/the-future-of-newspapers-posner. html 25 | www.techcrunch.com/2009/06/28/how-to-save-the-newspapers-vol-xii-out law-linking/ 26 | www.annehelmond.nl/2008/09/23/blogging-for-engines-blogs-under-the-influ ence-of-software-engine-relations/

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klares Beispiel für das Scheitern der verteilten Struktur der Links. Links fügen sich weder in Clay Shirkys Machtgesetze, noch leiden sie unter einer Tyrannei der Netzknoten, wie sie Ulises Mejias beschreibt, sondern werden von Anfang an erzeugt, um das Blog in den Suchlisten nach oben zu schieben. Links zu produzieren ist nicht mehr nur ein Mittel, sondern wird zum Selbstzweck. Dieser Prozess setzt sich fort in den ummauerten Gärten der Social-Networking-Plattformen, wo Linking durch Liking ersetzt wurde. Im April 2010 eingeführt, setzt der Like-Button von Facebook den jüngsten Standard in der Blog-Promotion. Die Idee ist, dass ein Blog-Eintrag auf Facebook »geteilt« wird. Der Like-Button ermöglicht Nutzern, Verbindungen zu anderen Seiten herzustellen, mit einem Klick Freunde an Inhalten teilhaben zu lassen und anderen eingeloggten Nutzern zu zeigen, welche Freunde die Seite schon »gemocht« haben. Es geht um die Politik des Netzverkehrs. Innerhalb der Sozialen Medien ist der Link reduziert auf eine Empfehlung von besuchten Inhalten, mit der klaren Zielvorstellung, dass man auf die Plattform zurückkehrt, etwas dazu äußert oder es zum Beispiel anderen weitergibt. Die Bewegung von Link zu Like als vorherrschender Web-Währung symbolisiert gleichzeitig eine Verschiebung in der Aufmerksamkeits-Ökonomie von der suchgesteuerten Navigation zum selbstreferentiellen bzw. geschlossenen Wohnen in den Sozialen Medien.27

»N E TIZENS « UND DER A NSTIEG DER E X TREMEN M EINUNGEN Nach wohlerzogenen Teilnehmern können wir im Web 2.0 lange suchen. Das Internet ist ein Nährboden für extreme Meinungen und Nutzer, die es darauf anlegen, Grenzen auszutesten. Wenn dieser virtuelle Raum angeblich eine Oase der Freiheit ist, dann schauen wir mal, was wir uns hier so leisten können. Diese Haltung verweigert einen echten Dialog, der uns schließlich zu der Kommunikationsutopie von Habermas zurückführen würde. Wir werden nie herausfinden, ob die Einzeiler meist anonymer Autoren wahr sind. Kontinuierlicher Austausch findet woanders statt, in versteckteren, quasi-privaten Foren. Das öffentliche Internet hat sich in eine Kampfzone verwandelt, was den Erfolg der ummauerten Gärten wie Facebook und Twitter erklärt, die den aggressiven Anderen aussperren (oder zumindest diesen Eindruck machen, denn mit dem Aufkommen von Facebook-Stalkern, -Rüpeln oder sogar -Killern kündigt sich das Vordringen des gewalttätigen Anderen auch in der hygienischen Sicherheit der Social-Media-Plattformen an). Das Web 2.0 gibt den Nutzern deshalb Tools zum Herausfiltern von Inhalten und anderen Nutzern zur Hand. Obwohl es beim Web 1.0 auch abgeschlossene Bereiche gab, hatte man vom öffentlichen Internet zu dieser Zeit noch nicht den Eindruck einer toxischen 27 | http://wiki.digitalmethods.net/Dmi/WebCurrencies

Einleitung: Ein letzter Blick auf das Web 2.0

Umgebung. Die Idee des »Netizen« ist eine Reaktion der mittleren neunziger Jahre auf die erste Welle von gewöhnlichen Usern, die sich im Netz breitmachten. Der ideale Netzbürger moderiert, kühlt heißlaufende Debatten herunter und reagiert auf freundliche und nicht-repressive Weise. Man dachte sich den Netzbürger als etwas Ähnliches wie einen »guten Polizisten« in einem Methadon-Programm. Er verkörpert die Idee eines Regierens von unten, ist kein Vertreter des Gesetzes und handelt wie ein persönlicher Ratgeber, ein Führer in einer neuen Welt. Der Netzbürger agiert im Geist eines guten Benehmens und gemeinsamer Bürgerschaft. Ähnlich wie beim neoliberalen Bürgertum werden die Nutzer aufgefordert, selbst soziale Verantwortung zu übernehmen – das Netz war explizit darauf ausgelegt, staatliche Regulierung draußen zu halten. Bis in die frühen neunziger Jahre, in der späten akademischen Phase des Netzes, konnte man davon ausgehen, dass alle User die Regeln (auch bekannt als Netiquette) kannten und sich entsprechend verhielten. Natürlich war das nicht immer der Fall (in den frühen Tagen des Usenets gab es gar keine Netzbürger, sondern jeder war pervers). Aber wenn ein Fehlverhalten bemerkt wurde, konnte die jeweilige Person zum Beispiel dazu gebracht werden, ihr Spammen oder Pöbeln einzustellen. Nach 1995, als das Internet für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich wurde, war das nicht mehr möglich. Mit dem rapiden Wachstum des World Wide Web und seinen einfach zu bedienenden Browsern konnte der Verhaltenskodex, den IT-Ingenieure und Wissenschaftler entwickelt hatten, nicht mehr vom einen zum nächsten Nutzer weitergegeben werden. Zu dieser Zeit wurde das Netz als globales Medium gesehen, das durch nationale Gesetze kaum kontrollierbar war, und da lag man vielleicht nicht mal falsch. Der Cyberspace war außer Kontrolle, jedoch auf eine nette und unschuldige Art. Dass die Behörden eine Spezialeinheit direkt neben dem Büro des bayerischen Ministerpräsidenten einrichteten, um den bayerischen Teil des Internets zu überwachen, gab ein niedliches und etwas verzweifeltes Bild ab. Damals konnten wir uns über diese vorhersehbar deutsche Maßnahme gut amüsieren, doch 9/11 und der Dotcom-Crash ließen das Lachen verstummen. Ein Jahrzehnt später gibt es meterweise Gesetzesbände, ganze Polizeieinheiten, die sich nur mit Cyberkriminalität befassen, und ein komplettes Arsenal an Software-Tools, um das Nationale Web, wie es heute genannt wird, zu überwachen. Rückblickend übersehen wir leicht, dass der rationale Netzbürger eine libertäre Gestalt war, eine Figur des neoliberalen Zeitalters der Deregulierung. Trotzdem, er war erfunden worden, um auf Themen zu reagieren, die exponentiell gewachsen waren. Heutzutage werden sie im Rahmen von Unterrichtsprogrammen in Schulen oder breiterer Aufklärungskampagnen formuliert. Identitätsdiebstahl ist eine ernste Sache. Eltern und Lehrer müssen wissen, wie sie Cybermobbing unter Kindern erkennen und darauf reagieren können. Ähnlich wie in den mittleren neunziger Jahren haben wir immer noch das Problem der »Massifizierung«. Das Bild, das das Web 2.0 charakterisiert, müsste eine Daten-Visuali-

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sierung seines Hyperwachstums sein. Die schiere Anzahl an Nutzern rund um den Globus und das Ausmaß, in dem sich die Leute auf das Internet einlassen, ist für Insider immer noch überwältigend, und viele glauben nicht mehr, dass die Internetgemeinschaft diese Themen selbst klären kann. In Zeiten der globalen Rezession, eines wachsenden Nationalismus, ethnischer Spannung und der kollektiven Fixierung auf die Islamfrage werden die Kommentarkulturen im Web 2.0 für Medienaufsicht und Polizei zu einem ernstzunehmenden Thema. Blogs, Foren und Social-Network-Plattformen bieten ihren Nutzern die Möglichkeit, kurze Botschaften zu hinterlassen, und junge Leute entwickeln zu den (Nachrichten-)Ereignissen oft ausgesprochen heftige Reaktionen, die bis zu Todesdrohungen gegenüber Politikern und Prominenten gehen, ohne zu realisieren, was sie eigentlich tun. Die professionelle Kommentar-Überwachung erfordert inzwischen einen beträchtlichen Arbeitsaufwand. Um nur einige niederländische Beispiele zu nennen, Marokko.nl durchforstet täglich 50.000 Beiträge, und die rechtslastige Telegraaf-Nachrichtenseite erhält zu ihren ausgewählten Berichten pro Tag 15.000 Kommentare. Populistische Blogs wie Geen Stijl animieren derweil ihre Nutzer geradezu, extreme Positionen zu beziehen, eine bewährte Taktik, Aufmerksamkeit auf die Website zu ziehen. Während einige Sites interne Richtlinien haben, Todesdrohungen und beleidigende Inhalte zu löschen, ermuntern andere ihre Mitglieder sogar noch in diese Richtung, alles im Namen der freien Rede. Die aktuelle Software lädt Nutzer zwar dazu ein, kurze Stellungnahmen abzugeben, bietet für andere oft aber keine Möglichkeit zu antworten. Das Web 2.0 war nicht dafür ausgelegt worden, Diskussionen mit tausenden von Beiträgen zu organisieren. Wo das Web auf Echtzeit schaltet, gibt es immer weniger Raum für Reflexion und stattdessen umso mehr Technologie für die Produktion von hitzköpfigem Geschwätz (ein Thema, auf das wir im »Traktat über die Kommentarkultur« zurückkommen werden). Die Back-Office-Software ist lediglich damit beschäftigt, »Reaktivität« zu messen: Anders ausgedrückt, so und so viele Nutzer waren da, so viele Meinungen und so wenig Diskussion. Diese Entwicklung bestärkt die Behörden natürlich darin, sich in die wenigen Online-Massengespräche, die es noch gibt, einzumischen. Kann (Interface-)Design für dieses in alle Richtungen wuchernde Hyperwachstum eine Lösung bieten? Wikipedia ist ein gutes Beispiel für ein Projekt, das erfolgreich eine kritische Masse aufrechterhalten hat, ohne in lauter Fragmente zu zerfallen. Doch auch auf Wikipedia gewinnen Bots eine wachsende Bedeutung bei der automatisierten Überwachung der Website. Bots arbeiten nur im Hintergrund, während sie ihre lautlose Aufgabe für ihren Meister erledigen. Wie können die User die Kontrolle zurückgewinnen und komplexe Threads nachvollziehen? Sollten sie ihre eigenen Bots trainieren und Anzeigetafeln installieren, um wieder einen Überblick à la Google Wave zu bekommen, oder sich einfach zurückziehen und wiederkehren, wenn das Problem gelöst ist?

Einleitung: Ein letzter Blick auf das Web 2.0

Sloganize with Us: Introvertiertes Einkaufen – Low-noise-Networking – Vereint euch im Selbstmanagement – Die Gesellschaft stilllegen – Freunde sind toxisch – Keine geistlose Aufregung mehr – Sei der erste, dem das nicht gefällt – Mahnmal für den Terror der Empfehlung – Für das Archiv arbeiten – Wahrnehmung minus MyReality – Ich habe Facebook verlassen. Ich bin kein Niemand – »PHP ist ungefähr so spannend wie deine Zahnbürste. Du benutzt es täglich, es erfüllt seine Aufgabe, es ist ein einfaches Hilfsmittel, wo ist das Problem? Wer würde was über Zahnbürsten lesen wollen?« (Rasmus Lerdorf, Erfinder von PHP) – Error, stellt Verbindung zu Funkopolis her – Jede Generation wird ihre eigenen Medien schaffen müssen (nach Marinetti) – Mobiler, sozialer Echtzeit-Bürgerkrieg – Traue nicht der Datenbank – Unbestimmte Organisationen – Meine Zeit ist wertvoller als deine – Ziel: scholastische Übertragungen bis 2010 um 10 Prozent reduzieren – Service-Sicherheit – Aus Fehlern lernen wird überbewertet – like. com ist von Google gekauft worden – »Ideen machen nicht reich. Die richtige Umsetzung von Ideen allerdings schon.« (Felix Dennis)

D ER A UFSTIEG DER NATIONALEN W EBS Während das »Digital Rights Management« durch Kopierkulturen wie die Peerto-peer-Netzwerke in die Krise geraten ist, befinden sich die Kontrollmechanismen in den Nationalstaaten eindeutig im Aufwind. Bei Gesamtzahlen von etwa zwei Billionen Nutzern hat sich der Fokus von der »globalen Governance« auf die nationalen oder lokalen Ebenen des Geschehens verlagert. Die Leute achten auf das, was in ihrer unmittelbaren Umgebung passiert, eine Binsenweisheit, die man schon in den neunziger Jahren kannte; es hat nur eine Weile gedauert, auch einen Weg für ihre technische Umsetzung zu finden. Wenn 42,6 Prozent der Internetnutzer inzwischen aus Asien kommen, ist die transatlantische Ära vorbei. Im August 2008 wurde erstmals berichtet, dass die Anzahl chinesischer Nutzer die der US-amerikanischen übertroffen hat. Inzwischen ist nur noch 25 Prozent des Web-Inhalts englisch. Der technische Hintergrund der nationalen Webs liegt in der Entwicklung von Tools zur Überwachung und Eingrenzung des IP-Bereichs (der einem Land zugeteilten IP-Adressen). Diese geosensitiven Technologien können in zwei Richtungen eingesetzt werden. Einerseits blockieren sie (zum Beispiel in Norwegen, Großbritannien und Australien) den Zugang ausländischer Nutzer auf Online-Fernsehkanäle, deren Inhalte durch Steuergelder oder Fernsehgebühren finanziert sind, womit sie eine Ideologie des kulturellen Nationalismus wieder aufleben lassen. Aus ähnlichen Gründen wird ebenfalls der Zugang zu Websites öffentlicher Bibliotheken, auf denen sich copyrightgeschütztes kultu-

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relles Erbe befindet, eingeschränkt. Andererseits können Bürger, die innerhalb der geotechnischen Grenzen eines Landes leben, auch daran gehindert werden, ausländische Websites zu besuchen (Festlandchinesen haben zum Beispiel keinen Zugang zu YouTube, Facebook oder Twitter). Jüngst hat China seine nationale (mit Hilfe zahlreicher westlicher IT-Firmen entwickelte) Firewall-Technologie sogar nach Sri Lanka exportiert, wo sie nun »feindliche Websites« von ins Exil gegangenen tamilischen Tiger-Gruppen blockiert. Während China in seiner Haltung früher als rückschrittliche Ausnahme galt, wird diese nun zur Norm, selbst in OECD-Ländern, die behaupten, die Internetfreiheit zu unterstützen. Kulturell ist die Sprache das Hauptvehikel, um diese »nationalen Webs« zu schaffen. Sehr wichtig für diesen Prozess war die Entwicklung eines Systems mit der Bezeichnung Unicode, ein Protokoll, das allen Symbolen in jeder Sprache der Welt einen eigenen Code zuweist. Unicode ermöglicht es, Symbole vieler wichtiger Sprachen zu lesen und zu schreiben. Die Software hinkt diesen Lokalisierungsbemühungen jedoch hinterher. Es gibt immer noch Fälle älterer Webbrowser und Betriebssysteme, die einige japanische und Hindi-Buchstaben nicht darstellen können. An einem bestimmten Punkt begann Blogger.com, sich an der Entwicklung einer speziellen Software zu beteiligen, die das Bloggen in Hindi ermöglichte. Mit der Zeit hat die Blogkultur so angefangen, eigene nationale Charakteristiken auszubilden, worauf ich im Blog-Kapitel dieses Buchs näher eingehe. Google ist, nachdem es auf dem ganzen afrikanischen Kontinent Büros eröffnet hat, immer noch mit der Anpassung der Google-Suchmaschine an die jeweiligen afrikanischen Sprachen beschäftigt. Inzwischen ist es schon möglich, Mandarin-Buchstaben in die URL einzusetzen, und wir werden vielleicht schon bald erleben, dass Programme nicht mehr nur in Englisch geschrieben werden. Politisch gesehen ist der Aufstieg der nationalen Webs jedoch ambivalent. Während die Kommunikation in der eigenen Sprache gegenüber der Beschränkung von Tastaturen und Domainnamen auf die lateinischen Schriftzeichen als Befreiung erscheint und auch nötig ist, um die verbliebenen 80  Prozent der Weltbevölkerung ins Netz zu bringen, bedeuten die neuen digitalen Umgrenzungen auch eine direkte Bedrohung für den freien und offenen Austausch, den das Internet einmal hervorbrachte. National definierte Räume erlauben Geheimdiensten, die Telekommunikation innerhalb staatlicher Grenzen genau zu überwachen. Wie ich im Kapitel über die Organisation von Netzwerken darstelle, nutzen autoritäre Regimes wie der Iran das Web zunehmend taktisch, um gegen die Opposition vorzugehen, und erinnern uns daran, dass das »arglose« Internet nur schwerlich als revolutionäres Werkzeug taugt. Allen Voraussagen zum Trotz funktioniert die mit dem westlichen Fachwissen von Cisco28 erbaute Große Chinesische Firewall bei der Abwehr unerwünschter Inhalte und der bei28 | www.wired.com/threatlevel/2008/05/leaked-cisco-do/

Einleitung: Ein letzter Blick auf das Web 2.0

spiellosen Überwachung der eigenen Bevölkerung bemerkenswert gut. Dieser Erfolg zeigt, dass Macht heute nicht mehr absolut, sondern dynamisch ist und sich auf die Kontrolle der gesamten Bevölkerung ausrichtet. Cyber-Dissidenten, die mit ihren eigenen Proxy-Servern die Mauer zu umgehen versuchen, bleiben, solange sie ihre Meme nicht in einen größeren sozialen Kontext transportieren können, marginal. Wenn es Proteste und Aufstände gibt (und davon gibt es viele), scheinen sie aus dem Nichts zu kommen, erreichen kurz eine unglaubliche Intensität und verschwinden dann wieder, um noch eben eine »planetarische Schockwelle durch die Netzwerke [zu] schicken«.29 Wie es im Jargon heißt: Egal wie groß und mit welchem Ziel, es geht nur um Gouvernementalität. Wie beherrscht man Komplexität? Der einzige Weg, diesem administrativen Ansatz entgegenzutreten, liegt darin, sich zu organisieren: Soziale Veränderung läuft nicht mehr über die Techno-Kriegsführung von Filtern und Gegen-Filtern, sondern ist eine Frage organisierter Netzwerke, die einen Marathon von Ereignissen in Bewegung setzen.

W ARTEN AUF DIE N E T Z WERK THEORIE Diese Gedanken und die folgenden Kapitel gehören zu einem »Netzkritik«-Projekt, dem es darum geht, nachhaltige Konzepte zu entwickeln. Ein eigenes Kapitel »Abhandlung der Internetkritik«, das auf frühere Überlegungen in meinem Buch My First Recession von 2003 zurückgeht, widmet sich dem aktuellen Stand dieses im Aufbau befindlichen Genres. Als vorangegangene Beispiele können die Konzepte der Souveränen Medien, Organisierten Netzwerke, Verteilten Ästhetik und – als bekanntestem – der Taktischen Medien gelten. Die Überlegung hierbei ist, dass mit der Verwendung von Konzepten als einzelnen Bausteinen, die in endlosen Dialogen und Diskussionen zusammengesetzt werden, die gemeinsamen Anstrengungen letztlich in eine umfassende materialistische (an Hard- und Software orientierte) und affektbezogene Theorie münden. Dies hat bislang in einem großen Rahmen noch nicht stattgefunden, aber vielleicht sollten wir einfach einen Gang runterschalten, uns entspannen und Geduld haben. Als die wissenschaftliche Netzwerktheorie auftauchte, wurde sie von Forschern aller Disziplinen erwartungsvoll aufgegriffen, denn ihre übergreifenden Generalisierungen schienen genau das anzubieten, worauf Analytiker der »Sozialphysik« der Netzwerkgesellschaft lange gewartet hatten. Aufgrund seiner allzu humanen Perspektive und eines mangelnden Interesses an Technik erwies sich der soziologische Fokus bei der Analyse der interpersonellen Dynamik sozialer Netzwerke aber als ungeeignet, den Widersprüchen der Netz29 | »The Invisible Committee«, The Coming Insurrection, Los Angeles: Semiotext(e), 2009, S. 131.

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werkgesellschaft gerecht werden zu können. Das Ergebnis ist eine nachlassende Begeisterung für allgemeine Netzwerktheorien, die nur ein Einheitsmodell bieten, was übrigens auch für die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) gilt. Wenn wir die Nutzung von Netzwerken durch große Institutionen oder durch Bots als Beispiel für autonomes Softwareverhalten studieren wollen, kann die ANT vielleicht sinnvoll sein. Aber was, wenn wir den Bereich der Webästhetik oder der Politik der Sozialen Medien betrachten? Online-Subjektivitäten? Großes Schweigen. Während »Internet-Studien«, wie sie von der AoIR, der Association of Internet Researchers, betrieben werden, sich auf soziologische Methoden verlassen, wird das Fehlen eines größeren geisteswissenschaftlichen Projekts in diesem Feld umso offensichtlicher. Wie ich im Kapitel »Medienwissenschaften: Diagnose einer gescheiterten Fusion« darlege, ist es Zeit, nach Elementen zu suchen, die zu einer Netzwerktheorie jenseits der identitätsfixierten Cultural Studies und des ethnografischen oder quantitativen sozialwissenschaftlichen Ansatzes führen können. Was wir benötigen, sind spannende kritische Konzepte, die als stabile Meme überleben und sich in sozio-technische Regeln verwandeln werden. Wenn man die internetspezifische Theorieentwicklung betrachtet, sieht man, dass der Forschungsgegenstand von virtuellen Gemeinschaften (Rheingold), einem Raum von Flüssen (Castells), Smart Mobs (wieder Rheingold), schwachen Bindungen und Umschlagpunkten (Gladwell), Crowdsourcing, Partizipationskultur (Jenkins) und Weisheit der Mengen (Surowiecki) zu allgemeinen Labels wie Web 2.0 (O’Reilly) und Soziale Medien erstarrte. Oft beschreiben diese Theorien einleuchtend, wie Netzwerke sich herausbilden, wachsen, und welche Form und Größe sie annehmen, aber sie schweigen dazu, wie sie in die Gesellschaft eingebettet werden und welche Konflikte daraus entstehen. Warum gibt es nach gut zwei Jahrzehnten noch keine (allgemeine) »Internettheorie«? Sind wir alle schuld daran? Wir brauchen eine zeitgemäße Netzwerktheorie, die die schnellen Veränderungen reflektiert und die kritischen und kulturellen Implikationen der technischen Medien ernst nimmt. Im Moment steht in der Theorie immer noch eine wissenschaftlich ausgerichtete »einheitliche Netzwerktheorie«, um die Diktion von Albert-László Barabási zu paraphrasieren, im Vordergrund. Aber man kann Leistungsfähigkeit und Wachstumsmuster nicht einfach nur als pseudo-natürliche Phänomene untersuchen. Die Hoffnung ist: Wir können gegen die mathematischen Formen von Netzwerken revoltieren. Die Geisteswissenschaften sollten mehr leisten, als nur die Zeiten zu beschreiben, in denen wir gerade leben. Wir können vorzeitige Aphorismen mit Planungen zukünftiger Szenarien verknüpfen, spekulatives Denken mit Datenjournalismus und Computerprogrammierung mit visuellen Studien. Das übergreifende Ziel ist, einen spekulativen Futurismus zu entfachen und singulären Ausdrucksformen mehr Gewicht zu geben als institutionellen Machtspielen. Viele wollen wissen, wie Netzwerke »Vertrauen« garantieren können,

Einleitung: Ein letzter Blick auf das Web 2.0

während sie offen, flach und demokratisch bleiben. Wie kann man den rapide sich entwickelnden Machtkonzentrationen entgegensteuern? Wenn Netzwerke in ihrer Natur so verteilt und dezentralisiert sind, warum widersetzt man sich dann nicht den Ökonomien der Größe, durch die Google und Facebook hervorgebracht werden? Die Lösung mag in dem Konzept der organisierten Netzwerke liegen, das in Zero Comments eingeführt wurde und nun Fallstudien hervorbringt, die im letzten Kapitel dargestellt werden. In jedem Fall ist der »grobe Konsens« verschwunden.30 Bist Du bereit für das Konflikt-Zeitalter?

30 | Eine Referenz auf die berühmte Formel der Internet Engineering Taskforce, die Teil ihrer Glaubensgrundsätze ist und in ihrem »tao«-Dokument so beschrieben wird: »Die IETF gründet sich auf die Überzeugungen ihrer Mitglieder.« Einer dieser Glaubensgrundsätze wird in einem frühen Zitat über die IETF von David Clark zum Ausdruck gebracht: »Wir lehnen Könige, Präsidenten und Wahlen ab. Wir vertrauen auf groben Konsens und das Ausführen des Codes.« Ein anderes frühes Zitat, das zu einem allgemeinen Glaubenssatz in der IETF geworden ist, stammt von Jon Postel: »Sei konservativ bei dem, was du versendest, und liberal bei dem, was du annimmst.« www.ietf.org/tao.html

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Psychopathologie der Informationsüberflutung »Das Leben ist so aufregend, dass es kaum Zeit für irgendwas anderes lässt.« Emily Dickinson »Alles ergreifend, sich überall ausbreitend, auswuchernd und hypertelisch: das ist die Verdammung einer saturierten Welt zur Trägheit. Ist es nicht auch Bestandteil des Wachstumsprozesses des Krebses, das eigene Ziel durch Hyperfinalität zu leugnen? Die Rache des Wachstums innerhalb der Auswucherung. Die Rache und das Gipfeln der Geschwindigkeit in der Trägheit.« Jean Baudrillard

Die Informationsüberflutung beschäftigt uns schon eine ganze Weile. Bereits in den sechziger Jahren wurde sie von Marshall McLuhan und Herbert Simon diskutiert. Erst war es das unübersehbare Angebot an Fernsehkanälen und Büchern, später die gigantische Speicherkapazität, die für Aufmerksamkeitsstörungen sorgte, doch die Symptome waren immer gleich: Man kommt mit dem Verarbeiten nicht mehr nach, die eingehenden Informationen türmen sich auf, und irgendwann bricht das System zusammen. Inzwischen sind Milliarden mit der Datenexplosion konfrontiert, rund um die Uhr online und auf immer kleineren Displays im Netz unterwegs. Wenn täglich hunderte von Mails gelesen und beantwortet werden müssen, hilft einem die Paradoxie der Wahl oder die Losung »weniger ist mehr« auch nicht weiter. Hier herrscht keine »Tyrannei der kleinen Entscheidungen«. Es ist schlicht Arbeit.1 1 | Ein US-Amerikaner schrieb mir: »Ich muss 163 Theoriepapiere, 25 Abschlussprojekte in Digital Media und 48 Abschlussprojekte im vierten Jahr begutachten. Ich fühle mich gerade halbtot. […] Ich bin nicht besonders gut in Multitasking. Was meinen Output betrifft, bin ich etwas zwangsgestört – ich mache jeweils eine Sache, und die ziem-

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Als beliebtes Medienthema spiegelt die Informationsüberflutung vor allem die Technik-Wahrnehmung der unbeweglichen Mittelklassen wider. Dabei sollte sie eher im Kontext von wachsenden Arbeitslasten, verlängerten Arbeitszeiten und schlechterer Entlohnung diskutiert werden. Doch während Kommunikation und Medien für die Armen der Welt eine Möglichkeit – und Notwendigkeit – darstellen können, verursachen sie in den wohlhabenderen Segmenten der Gesellschaft Kopfschmerzen. Da die Unzufriedenheit aber nicht auf einer politischen Ebene zum Ausdruck gebracht wird, übersetzen wir das Problem in einen medizinischen Diskurs. Der zum Patienten gewordene User muss die sensuelle Überlastung durch Offline-Qualitätszeit kompensieren. Oft wird das Unvermögen, an der Wissensgesellschaft teilzuhaben, auch als Generationenproblem dargestellt. Während frische Synapsen und leere Gehirne Gigabytes verschiedener Informationsströme aufsaugen können, drehen die grauen Anzugträger in den Führungsetagen früher oder später am Rad. Und es kommt noch schlimmer: Wegen ihrer begrenzten Multitasking-Fähigkeiten ist die Wahrscheinlichkeit für Männer, unter Info-Overload zu leiden, höher als für Frauen. Die Möchtegern-Digital-Natives vernachlässigen ihre Diät und erleiden eine Datenattacke. Wenn ihr Blackberry gestohlen wird, ihr Laptop zusammenbricht, ihr E-Mail-Account überquillt oder Anfragen von Freunden unbeantwortet bleiben, rasten sie aus. In der 1901 erschienenen Psychopathologie des Alltagslebens schreibt Freud über das Vergessen von Namen, Vertauschen von Buchstaben und andere Fehlleistungen des Gehirns. Irritiert fragen wir uns nach der Ursache solcher Fehler und Verwechslungen. Unsere Sinne spielen uns einen Streich. Genauso unzufrieden wie im letzten Jahrhundert, machen wir uns auch im Informationszeitalter selbst dafür verantwortlich, ohne zu wissen, warum wir eigentlich schuld sind. Ist es die Erziehung, sind es sozioökonomische Strukturen oder einfach menschliche Unzulänglichkeiten, mit denen wir uns noch versöhnen müssen? Der Unterschied liegt in der plötzlichen Verschiebung der Aufmerksamkeit von der menschlichen Gedächtniskapazität auf die Architektur der Informationssysteme. Ein Jahrhundert nach Freud gilt die Sorge weniger dem Vergessen als dem Finden. Wir haben kein Problem mehr damit, Namen von Freunden oder Familienmitgliedern zu vergessen, aber regen uns darüber auf, wenn wir nicht den richtigen Datenordner finden oder unzureichende Suchbegriffe eingeben. Die Nutzer schauen in die Welt und fangen an, Listen zu machen. Wir fühlen uns geehrt, von einer Maschine zur Abgabe unserer Meinungen und Vorlich intensiv. Als Künstler habe ich immer versucht, in der ›Zone‹ zu sein – dem kreativen Raum, wo die Zeit verrinnt und man am Ende eine fertige (oder sagen wir fertiggestellte) Arbeit hat. Mit Fulltime-Job, Dissertation und Familie bin ich schon voll ausgelastet. Der Tag hat nur soundso viele Stunden. Aber wenn ich meine Ziele festlege, kann ich sie meist auch erreichen.«

Psychopathologie der Informationsüberflutung

lieben aufgefordert zu werden. In welche Kategorie würdest du dich einordnen? Nachdem wir die Datenbanken gefüttert haben, muss es zur Belohnung wenigstens etwas Qualitäts-Content geben. Und wenn wir selbst über etwas Wertvolles stolpern, fangen wir gleich an, unsere neuesten Fundstücke weiterzuleiten, zu bloggen, twittern oder zu verlinken. Solange es Content gibt, gibt es auch Hoffnung. Wir geben dem Druck, Daten zu kategorisieren, nach und schließen uns Schwärmen »kollektiver Intelligenz« an. Spende deine Weisheit den Massen. Websites sagen uns, welche Inhalte am meisten gelesen, gesehen und verschickt werden und geben uns Hinweise, was gleichgesinnte Nutzer gedacht und gekauft haben. Faszinierend ist nicht der Fluss der Meinungen, wie Jean Baudrillard einmal die Demokratie im Medienzeitalter bezeichnet hat, sondern die Bereitschaft, sich auf die Angleichung an die anderen einzulassen. Wir werden aufgefordert, Bücherlisten anzufertigen, Musik-Rankings zu erstellen und Produkte, die wir gekauft haben, zu empfehlen. Nutzer-Bienen, die für die Königin Google arbeiten. Es ist so verführerisch, an der Welt der Online-»Bestäubung«, wie es der französische Ökonom Yann Moulier Boutang genannt hat, teilzuhaben, mit Milliarden von Nutzern, die wie Bienen von einer Website zur nächsten fliegen und so deren Wert für ihre Eigentümer vergrößern.

S ANF TE N ARKOSE DES VERNE T Z TEN D ASEINS Im April 2010 besuchte ich in Bologna den italienischen Medientheoretiker Franco »Bifo« Berardi. Er gehörte mit Antonio Negri, Paolo Virno und Weiteren der 1977 gegründeten postoperaistischen Bewegung an, gründete den Piratensender Radio Alice, beteiligte sich an der Taktische-Medien-Bewegung Tele-Street und moderierte das Webforum Recombinant. Der Anfang Sechzigjährige, der an einer Mailänder Kunstakademie unterrichtet, hat einen scharfen Blick für die heutigen »prekären« Verhältnisse, die von Überlastung, befristeten Jobs, Antidepressiva, Blackberries und Kreditkartenschulden geprägt sind. Berardis Arbeiten liegen seit kurzem auch auf Englisch vor. The Soul at Work (2009) zeichnet die Verschiebungen der letzten 30, 40 Jahre nach – von Entfremdung zu Autonomie, von Repression zu hyperaktiver Selbstdarstellung, von den Hoffnungen und Wünschen des Schizo-Aktivismus zur diffusen, wenn nicht gar depressiven Subjektivität des pharmakologischen Web-2.0-Bürgers.2 In seiner Aufsatzsammlung Precarious Rhapsody (2009) schreibt Berardi: »Der Cyberspace ist theoretisch unendlich, die Cyberzeit ist es nicht. Als Cyberzeit bezeichne ich die Fähigkeit des bewussten Organismus, Informationen

2 | Franco »Bifo« Berardi, The Soul at Work, Los Angeles: Semiotext(e), 2009.

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(aus dem Cyberspace) zu verarbeiten.«3 Flexibilität hat in der Netzökonomie zu einer Fraktalisierung der Arbeit geführt, welche nur noch auf Basis gelegentlicher und befristeter Leistungen bezahlt wird. Die Fragmentierung unserer aktiv genutzten Zeit ist uns allen wohl bekannt. Berardi: »Psychopathologische Störungen treten heutzutage immer klarer als soziale Epidemie auf, genauer als soziokommunikative Epidemie. Wer überleben will, muss konkurrenzfähig sein, und wer konkurrenzfähig sein will, muss vernetzt sein, eine riesige und ständig wachsende Datenflut aufnehmen und verarbeiten. Das führt zu permanentem Aufmerksamkeitsstress, für das Gefühlsleben bleibt immer weniger Zeit.« 4 Um den Körper auf die Anforderungen einzustellen, greifen die Leute zu Prozac, Viagra, Kokain oder Amphetamin. Wenn wir die Analyse auf das Internet übertragen, sehen wir, wie diese zwei Entwicklungen – die Erweiterung der Speicherkapazität und die Verdichtung von Zeit – das Online-Arbeiten so aufreibend machen. Da liegt der »Ursprung für das Chaos unserer Zeit«. Ein Chaos, das sich einstellt, wenn die Welt für unser Gehirn einfach zu schnell wird. Laut Berardi müssen wir uns auf die »Digital Natives« konzentrieren, wenn wir die Informationsüberflutung wirklich verstehen wollen. Ob ältere Generationen unter einem Zuviel an Information leiden, ist für unsere Analyse dagegen nicht entscheidend. »Frage dich nicht, ob du der Flut gewachsen bist oder nicht. Es geht nicht um Anpassung oder Auswahl. Pan, der griechische Gott des Waldes und der Natur steht für Überfluss und Fülle, wurde deshalb aber nie zum Problem erklärt. Die Menschheit war immer fasziniert vom sternenübersäten Nachthimmel – und ist aufgrund seiner Fülle nie in Panik geraten.« 5 Für Berardi ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, wie Menschen in der Infosphäre aufwachsen. Als Nonkonformist hinterfragt er das gegenwärtige Interesse der zeitgenössischen Kunst und anderer angesagter Kreise am »Werden«, einem zentralen Begriff seiner Lehrer Gilles Deleuze und Felix Guattari, mit denen er zusammengearbeitet und über die er ein Buch geschrieben hat. Das Begehren war immer etwas Positives, aber das gilt so pauschal heute nicht mehr. Es geht nicht mehr darum, digital zu »werden«, wir sind mitten im Netzparadigma – und da geht es ziemlich hektisch zu. 3 | Franco »Bifo« Berardi, Precarious Rhapsody, London: Minor Compositions, 2009, S. 44, siehe auch S. 69-71 und S. 143. 4 | Ebd. 5 | Dieses und die anderen Zitate Berardis entstammen einem Interview, das ich im Mai 2010 in seinem Haus in Bologna aufgezeichnet habe.

Psychopathologie der Informationsüberflutung

Berardi empfahl mir Mark Fishers Studie Capitalist Realism (2009), die aufzeigt, was es bedeutet, wenn die Postmoderne zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Fisher definiert diese unausgesprochene Weltsicht als »reflexive Impotenz«. »Sie wissen, dass die Dinge schlecht laufen, aber ebenso, dass sie daran nichts ändern können. Aber dieses ›Wissen‹, diese ›Reflexivität‹ ist keine passive Wahrnehmung eines gegebenen Zustands. Es ist eine selbsterfüllende Prophezeiung.« Ein Grund, weshalb dieser Flut an Content wenig entgegengesetzt wird, ist, dass man sich immer auf eine Position der Indifferenz zurückziehen kann. Die Jugend erlebt eine Welt, in der nichts mehr möglich ist. Sie spürt, dass die Gesellschaft auseinanderbricht und sich nichts ändern wird. Für Fisher steht diese Ohnmacht im Zusammenhang mit einer verbreiteten Pathologisierung, die eine mögliche Politisierung verhindert. »Viele junge Studenten, denen ich begegnete«, schreibt Fisher, »schienen sich in einem Zustand depressiver Hedonie zu befinden, in dem sie sich nichts anderem widmen konnten als dem eigenen Vergnügen.« Junge Leute reagieren auf die Freiheit, die ihnen post-disziplinäre Systeme gewähren, »nicht, indem sie Projekte verwirklichen, sondern indem sie in eine hedonistische Apathie verfallen: die sanfte Narkose, das bequeme, seinsvergessene Konsumieren von Playstation, nächtlichem Fernsehen und Marihuana.«6 Berardi, psychoanalytisch ausgebildet, verbindet die von Fisher beschriebene Situation mit der Verschiebung von mütterlicher Liebe und väterlicher Stimme zur Maschinenwelt von Fernsehen und Computer als wichtigster Quelle für den Spracherwerb. Wenn man die Schlagzeilen der Nachrichten nicht mehr vermisst, wird Trägheit zu einer Tugend. Dies ist die Strategie des Netzwerk-Souveräns. Keiner ruft mehr nach Einschränkungen oder nach Maßnahmen, den Müll zu filtern, um die entscheidenden Info-Juwelen finden zu können. Stattdessen surfen und suchen wir – die Augen weit geschlossen – nach dem perfekten Zufallsfund. Wir sind komplett angeschlossen, aber es bedeutet uns nichts. Auch die glitzernden visuellen Verführungen der PR-Firmen und Software-Entwickler perlen an dieser Grundhaltung ab. Die Datenflüsse dringen nicht mehr in das mentale Gerüst ein, unsere Schutzschilder erledigen das schon. Berardi behauptet, dass wir nicht in einer »Aufmerksamkeitsökonomie« leben, einem Konzept, das auf der von den liberalen und konservativen älteren Generationen gehegten Vorstellung der freien Entscheidung beruht. Als ob es immer noch eine freie Entscheidung gäbe, bei Facebook und Twitter teilzunehmen und 24 Stunden am Tag mobil erreichbar zu sein. Für die im kapitalistischen Realismus aufgewachsene Post-Babyboomer-Generation X ist dies einfach nicht der Fall. Berardi: »Das Problem liegt nicht in der Technologie. Damit müssen wir zurechtkommen. Das Mörderische ist die Kombination von 6 | Mark Fisher, Capitalist Realism, Is There No Alternative? Winchester: Zero Books, 2009, alle Zitate auf S. 21-23.

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Das halbwegs Soziale — Eine Kritik der Vernetzungskultur

Informationsstress und Konkurrenz. Wir müssen die ersten sein, und wir müssen gewinnen. Die wirklich pathogene Wirkung liegt im neoliberalen Druck, der die Netzbedingungen so lebensfeindlich macht – nicht im Informationsüberfluss selbst.«

D IE (S ELBST-)H ERRSCHAF T ÜBER DIE I NFORMATION Sollten wir Informationssouveränität verlangen? Der Netz-Guru David d’Heilly aus Tokyo beschrieb diese Forderung einmal als Weg zur »persönlichen Informationsautonomie«, der Fähigkeit, seine eigene Datencloud zu bestimmen. Ähnlich wie bei anderen Suchterkrankungen und Abhängigkeiten muss man stark genug sein, das iPhone auszuschalten. Dies erfordert Training, Selbstbeschränkung und Erziehung, genau wie in vielen anderen Lebensbereichen. Was wir benötigen, ist eine ernsthafte Neubewertung dessen, was Medienkompetenz bedeutet, nicht allein in Bezug auf Informationsethik, Beherrschung der Gadgets oder »Medien-Weisheit« (wie sich die Regeln zur Medienkompetenz in den Niederlanden nennen, wo inzwischen die gesamte Bevölkerung online ist), sondern in Hinblick auf Selbstbestimmung. Ein wichtiger Aspekt dieser Kompetenz liegt in der Fähigkeit, den Bildschirm zu verlassen. Man wird die Werkzeuge erst beherrschen, wenn man nicht nur weiß, wie man sie benutzt, sondern auch, wann man sie beiseitelegt. Man muss lernen einzuschätzen, wie viel E-Mail, Twitter und SMS wirklich wichtig ist, welche Arbeiten später gemacht werden können, was noch Unterhaltung ist und was bloße Zerstreuung. Das Problem dieser Strategie der Verweigerung und des Rückzugs ist nicht mangelnde Wahrheit, sondern mangelnde Popularität. Die post-aufklärerische Position ist nicht gerade in Mode. Wir können keinen Nietzscheanischen Lebensstil pflegen und dafür breite Unterstützung erwarten. Die Welt funktioniert, weil sie normal und langweilig, nicht weil sie außergewöhnlich ist. Differenz bleibt auf die verschiedenen Auswahlmöglichkeiten des Pull-down-Menüs beschränkt. In der öffentlichen Diskussion grenzt Selbstbeschränkung beim Informationskonsum oft ans Pädagogische und Moralistische – und in Regeln übertragen kann das leicht zu einer sanften Form der Überwachung führen. Für Besserverdienende und ethisch Flexible könnte die »Lösung« vielleicht darin liegen, das Informationsmanagement an einen persönlichen Assistenten in China auszugliedern. Gamer kaufen ihre Avatar-Updates bei »Goldfarmern«; warum nicht auch jemanden engagieren, der jeden Morgen den Spam löscht? Es wird nicht ausreichen, die Informationsübersättigung mit entsprechenden »Diäten« zu bekämpfen. Eine Anatomie des beschleunigten Informationsaustauschs muss dieses Systemversagen wie einen Film dekonstruieren und in Zeitlupe abspielen, um die entscheidenden Mikrosekunden zu erfassen, in denen sich die Panik manifestiert. Wenn wir Info-Souveränität erlangen wollen,

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ist es von strategischer Bedeutung, dass wir unseren Anspruch auf Zeit reklamieren. Vergleichbar der Fair-Trade-Bewegung erleben wir bald vielleicht auch eine Fair-Time-Bewegung. Als erstes müssen wir uns den »Echtzeit«-Strategien von Google und Twitter widersetzen und die Arbeitsabläufe auseinanderziehen. Man denke hier an Hakim Beys »temporär autonome Zonen« (TAZ). In der Vergangenheit ging es vor allem um Räume (Parties oder Hausbesetzungen), doch die TAZ der Gegenwart betont ihr erstes Element, ihre zeitliche Natur, und feiert Chronos, die Kunst der longue durée. Nach Slow Food also Slow Communication? Doch diesmal geht es nicht um eine reformistische Lifestyle-Bewegung, die vor allem auf ihr eigenes Positiv-Image fixiert ist. Die Reparatur dessen, was Clay Shirky »Filterversagen« nennt, dürfte nicht reichen. Zeit verweist auf den Kern der kapitalistischen Ausbeutung, und »Zeitmanagement« zu sabotieren ist absolut keine unschuldige Geste. Doch Franco Berardi hat seine Zweifel am klassischen, proletarisch-revolutionären Störszenario. Virilios Plädoyer für die Wiedereinführung der Zeit, des Intervalls und der Momente der Reflexion mangelt es wiederum an einer politischen Position. Es fehlt die Auseinandersetzung mit den real existierenden Arbeitsbedingungen im Neoliberalismus – Verinnerlichung des Konkurrenzprinzips, freiwillige Ableistung überlanger Arbeitszeiten und der Einsatz von Medikamenten und Drogen zur Bekämpfung struktureller Krankheiten wie Panik und Depression. Wie Mark Fisher fordert auch Berardi, das durch den »Semiokapitalismus« erzeugte Unbehagen zu analysieren, bevor wir anfangen, wieder von revolutionären Subjekten und der Befreiung der kollektiven Phantasie zu träumen. Zurück in den Niederlanden nahm ich den Zug nach Delft, um dort Wim Nijenhuis, den Architekturtheoretiker und Virilio-Experten, zu treffen. Glaubt Nijenhuis, dass wir die Tendenz zur Echtzeit aufhalten oder ihr widerstehen und die Zeit wieder ausdehnen können, um wieder einen Raum der Reflexion zu schaffen? Er antwortete, dass nach Virilio die absolute Geschwindigkeit dazu tendiert, einen »polaren Stillstand« zu erzeugen. Je mehr wir der Kommunikation mit Lichtgeschwindigkeit ausgesetzt sind, desto mehr erreichen wir einen relativen Zustand der Reglosigkeit, der es unmöglich macht, in Bezug zu den Systemen der Kommunikation und Überwachung noch eigene Bewegungen auszuführen. In der Ära der Lichtgeschwindigkeit können alle deine Schritte zurückverfolgt werden. Der Trend zur Kommunikation in Echtzeit, d.h. die sofortige Verdopplung realer Bewegungen, Ereignisse und der Objekte unserer Erfahrung in der abbildhaften Sphäre der Medien, wird uns von der essentiellen Zeit abschneiden, die wir für unser Handeln, unsere Chronologie und unsere Geschichte benötigen, und uns in das einbinden, was Peter Sloterdijk »sphärische Zeit« nennt. Statt mit der Welt wird sich das einzelne Individuum verstärkt mit dem eigenen Körper beschäftigen. Gleichzeitig werden wir angesichts der durch die

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Echtzeitbeschleunigung erhöhten Arbeitsanforderungen Versagensgefühle erleben. Nijenhuis empfahl, die realen körperlichen Reaktionen auf die Informationsüberflutung wie Panik, Stress, Burnout und Traumatisierungen in den Blick zu nehmen, als Teil dessen, was er »die Strategie der negativen Antizipation« nennt, die nicht vom Bewusstsein eines Individuums, sondern von seinem lebendigen Körper ausgeht. Alle, die die chronologische Zeit des Handelns und der konkreten Gegenstände aufgeben, werden nach und nach zu »fragilen Persönlichkeiten« und von Depersonalisation, Auflösungssymptomen, einem verletzlichen Ego und geschwächtem Selbstwertgefühl betroffen sein. Diese Rückbildung oder Regression ist die prägende Erfahrung der neoliberalen Gesellschaft und erzeugt das Gefühl, dass jeder schon von vorneherein ein Versager ist. Dahin müssen wir blicken, wenn wir uns fragen, was angesichts der Informationsüberflutung »getan werden muss«. Bezugnehmend auf Peter Sloterdijks 2009 erschienenes Buch Du musst dein Leben ändern spricht sich Nijenhuis für die »Askese« aus, wie jener sie neu formuliert und gegen Foucaults Ästhetik der Existenz gesetzt hat. Für Sloterdijk bedeutet Askese wesentlich mehr als Beschränkung oder Resignation. Er sieht sie als eine Kunst des Rückzugs und als Überkompensation ursprünglicher Defizite wie körperlicher Behinderungen oder psychologischer Versagensgefühle durch Übung und Training, ausgerichtet auf eine neue post-Kantische Anthropologie: der sich übende Mensch, der seine Distanz zur Informationsflut geltend macht. Aber Askese weckt auch Reminiszenzen an einen anderen post-Kantischen Denker: Arthur Schopenhauer. Nijenhuis: »Was können wir von Schopenhauers Gleichgültigkeit gegenüber dem Fortschreiten der Zeit und seiner Philosophie der Erleichterung lernen?« Es geht nicht darum, sich als Opfer von Geschwindigkeitspolitik oder Verfügbarkeitsökonomie hinzustellen oder einfach mal langsamer zu machen und eine Pause einzulegen. Entscheidend ist vielmehr, etwas, das wie privates Versagen erscheint, zu einer öffentlichen Angelegenheit zu erklären und uns bewusst zu werden, was es bedeutet, von Echtzeit-Medien abhängig zu sein. »Mein Telefon ist für dich abgeschaltet.«7 Es mag eine Vielzahl an Stimmen geben, aber gleichzeitig gibt es auch null Zeit, um den konstanten Strom eingehender Informationen zu reflektieren. Howard Rheingold schlägt das Konzept einer »bedachten Informations-Aufmerksamkeit« (mindful infotention) vor und ermutigt uns zur stärkeren Nutzung von User-Interfaces, die helfen, den Überblick zu behalten. Auf der Suche nach einer Alternative erklärt das Slow Media Manifest, dass es »analog zu Slow Food […] bei Slow Media nicht um schnelle Konsumierbarkeit, sondern um Aufmerksamkeit bei der Wahl der Zutaten und um Konzentration in der Zubereitung [geht]«.8 Ein anderer in dem 7 | www.frameweb.com/news/my-phone-is-off-for-you 8 | Das Slow Media Manifest: www.slow-media.net/manifest

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Manifest diskutierter Aspekt ist Monotasking und dessen Bedeutung für gehaltvolle Gespräche. Ned Rossiter hat es in einer E-Mail auf den Punkt gebracht: »Langsame Medien sind wichtig in dem Maße, in dem sie der Monotemporalität der Echtzeit Einhalt gebieten.« War es nicht Alan Ginsburg, der sagte, dass es nur darum gehe, das Leben erträglich zu machen? Ein konkreter Schritt könnte sein, aus Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter auszutreten und sich so der Verfügbarkeitsökonomie wieder zu entziehen. Zusammen mit zehntausenden anderen habe ich am 31. Mai 2010 am Quit-Facebook-Aktionstag teilgenommen und mein Profil mitsamt aller Daten gelöscht – nicht die erste und sicher auch nicht die letzte Initiative dieser Art. Es war nicht wegen der Zeit, die ich brauchte, um mich um meine fast 2000 »Freunde« zu kümmern, oder wegen der Sorge um die Sicherheit meiner privaten Daten; meine Hauptmotivation, mich dem Exodus anzuschließen, war, die wachsende Rolle zentralisierter Internet-Dienste in Frage zu stellen, die uns im Tausch mit unseren Daten, Profilen, Musikgeschmäckern, sozialen Verhaltensmustern und Meinungen kostenlos angeboten werden. Es geht nicht darum, dass wir etwas zu verstecken hätten. Was wir verteidigen müssen, ist das grundsätzliche Prinzip dezentralisierter, verteilter Netzwerke. Und dies wird von Firmen wie Google und Facebook oder staatlichen Behörden, die meinen, unsere Kommunikation und die Daten-Infrastruktur insgesamt kontrollieren zu müssen, angegriffen. Es zeigt sich ein wachsendes Bewusstsein, dass wir die Architektur der sozialen Vernetzung selbst in die Hand nehmen müssen. Dieser Trend begann vor einer Weile mit Ning, initiiert von Netscape-Gründer Marc Andreessen, das aber immer noch ein zentralisiertes und kommerzielles Projekt ist. Dazu kommen Free Software und Open Source Communities mit Initiativen wie Diaspora, Crabgrass und GNU Social. Es gibt politische Gründe, diese Ansätze zu unterstützen. Ich will die Rolle der CIA nicht überbewerten, aber es ist bekannt, dass politische Aktivisten bei der Nutzung von Facebook sehr vorsichtig sein sollten. Eine Zeitlang war es möglich, über Facebook Messages für diese oder jene Kampagne zu verbreiten, aber als interner Kanal für organisierten zivilen Ungehorsam ist es zu unsicher geworden. Jugendliche einfach vor dem Hochladen kompromittierender Party-Fotos auf Social-Network-Plattformen zu warnen, reicht nicht. Wir sollten alle vorsichtiger sein und uns auf die effektivsten Formen politischer Äußerung konzentrieren. Lasst uns die Selbstbestimmung der Knoten gegen die zentrale Autorität der Datenwolke stärken und das dezentralisierte Web erhalten.

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D IE K ANONFR AGE Eng verknüpft mit dem populistischen Rechtsruck nach 9/11 entwickelte sich plötzlich ein breites Interesse an der gemeinsamen Erstellung von Ranglisten der besten Romane, historischen Gebäude oder Modedesigner. Wenn der Westen angegriffen wird, ist es gut zu wissen, was man verteidigen muss. Die Notwendigkeit eines »Kanons« entstand aus der Vorstellung, dass das allgemeine Wissen über nationale Geschichte, Literatur und Kunst gesunken sei. Die Kulturinstitutionen begannen, ihre Meisterwerke herauszusuchen. Noch beunruhigender als lückenhafte Geschichtskenntnisse oder sinkende wissenschaftliche Standards war, dass Leute, die in einem bestimmten Land leben oder in einem gemeinsamen Fachgebiet arbeiten, kein gemeinsames Wissen teilen, was als Fehlen von »Gemeinschaft« gedeutet wurde. Ein Land definiert sich durch das Wissen, das tief in uns verankert ist. Die Überlieferung ist ein Teil des aktiven Gedächtnisses und kann nicht auf eine Suchmaschine ausgelagert werden. In diesem Sinne ist der Nationalstaat ein lebendiger Körper von geteiltem, gemeinschaftlichem Wissen. Die kollektive Auswahl der »Werke ewiger Schönheit« wird in Zeiten von wachsenden ethnischen Spannungen, Rezession und Arbeitslosigkeit zu einem therapeutischen Moment. Die Idee ist, dass je mehr »wir« wissen, woher »wir« kommen, »wir« auch umso besser mit den Risiken und Misserfolgen neoliberaler Politik umgehen können. Mit dem Aufstieg der Cultural Studies innerhalb der Kunst- und Geisteswissenschaften geriet der »Kanon«, wie Ronan McDonald in The Death of the Critic behauptet, bei liberal-progressiven Intellektuellen unter Verdacht. »Aus ihrer neo-marxistischen Perspektive betrachten die Cultural Studies das ›Beste‹ als eine politisch fragwürdige Kategorie, denn die in ihrem Namen vorgenommene Auswahl unterstützt oft verborgene und hierarchische Programme.«9 Wie Pierre Bourdieu schrieb, ist Geschmack eine auf Klassenverhältnissen basierende Kategorie und ein wichtiges Schlachtfeld, und trotz aller Tendenzen, die Hochkultur durch die Popkultur aufzubrechen, bleiben die Eliten der westlichen Gesellschaft weiter auf eine kleine Zahl hauptsächlich weißer, männlicher Künstler fixiert. Popkultur, Massenmedien und eine Demokratisierung der höheren Bildung haben bislang zu keiner Auflösung der kulturellen Enklaven geführt, die der selbstreferentiellen Autonomie der Kunst huldigen. Und dies trotz der Tatsache, dass sich in den wachstumsgetriebenen westlichen Gesellschaften die Unterteilung in vulgären Pop-Trash und ernsthafte Elitekunst als falsch herausgestellt hat. Selbst in Zeiten von Budgetkürzungen geht es nicht um die Wahl zwischen Hoch- und Trivialkultur. Sponsorings, Spenden, hohe Konzertgagen und indirekte Förderungen verwischen allesamt den Gegensatz von Staat und Markt bei der Kulturfinanzierung. Aus dieser Perspektive ist eine 9 | Ronan MacDonald, The Death of the Critic, London: Continuum, 2007, S. ix.

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»freie Kultur«, die von Risikokapitalisten unterstützt wird, eigentlich als ein kommunistisches Projekt zu betrachten. Es geht hier nicht darum, einen inklusiven Kanon vorzuschlagen, sondern neue Kriterien zur Bestimmung der Beziehungen in informationsreichen Umfeldern zu suchen, die die Rolle der traditionellen Kulturkritik übernehmen. Der Aufstieg der von Fachleuten oder Fans ausgewählten Klassiker ist ein Spiegel der ausufernden Masse an Online-Inhalten. Aber statt sich für ein besseres Verständnis des »quantitativen Turns« in unserer Kultur zu interessieren, wie es zum Beispiel Lev Manovichs »Kulturanalysen« vormachen, bleiben die Kanoniker bei der Idee einer »Leitkultur« stehen, um uns den Weg zu weisen. Laut Wikipedia ist der Begriff Leitkultur ein »politisch umstrittenes Konzept, das zuerst 1998 von dem deutsch-arabischen Soziologen Bassan Tibi eingeführt wurde«. Der Kanon-Ansatz entfernt sich von einem zeitgenössischen Verständnis von Massenkultur, für das zum Beispiel Chris Andersons Long Tail steht, und bringt das Bedürfnis zum Ausdruck, sich in einer Zeit der kulturellen Diffusion an »leitenden Inhalten« zu orientieren. Die selbsternannten kulturellen Meinungsführer aus den »alten Medien« wie Zeitung, Radio und Fernsehen bringen dabei ihre eigene Unfähigkeit zum Ausdruck, mit komplexen, vielschichtigen Prozessen der Hybridisierung, Dislozierung und computererzeugter Differenz umzugehen. »Es macht keinen Sinn mehr, von einer einzigen öffentlichen Sphäre zu sprechen – vielmehr gibt es jetzt multiple Öffentlichkeiten, die auf verschiedenen Ebenen vermittelt werden, manchmal geographisch, manchmal innerhalb eines nationalen oder urbanen Raums; und das Individuum kann an verschiedenen Öffentlichkeiten teilhaben.«10 Kritiker brauchen heute eine außerordentliche »kulturelle Kompetenz«, was Sprachkenntnisse, disziplinübergreifende Methoden, technisches Training und globale Wahrnehmung betrifft. Der nostalgische Ruf nach einem Kanon schränkt unsere Fähigkeit ein, persönliche Stile zu entwickeln, und reduziert die Rolle der wachsenden Klasse von Kreativarbeitern auf die von Soldaten im Rahmen eines nationalen Programms. In einem Interview auf der New Yorker »Digirati«-Website edge.org stellt der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher die Frage der Filterung von Inhalten in Zusammenhang mit dem Verlust an Konzentrationsfähigkeit.11 Ein Computer, der anfängt, für uns zu denken, überwältigt die Menschen. »Das Denken selbst verlässt das Gehirn und nutzt eine Plattform außerhalb des menschlichen Körpers. Und das ist natürlich das Internet, und es ist die Wolke.« Oder steckt hierin eine verborgene Botschaft: Die Deutschen als ängstliche, selbstbezogene Technikhasser? Schirrmacher: 10 | Michael Newman in: The State of Art Criticism, New York: Routledge, 2008, S. 43. 11 | Zu Frank Schirrmachers Buch Payback, erschienen 2009, siehe Matthias Schwenks Blog-Posting: http://carta.info/18537/algoritmenstuermer-schirrmacher-payback/

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»Die Frage, welche Idee überlebt und welche Idee untergeht, ist in unserem ganzen Denkmodell sehr bekannt, es ist immer ein großes Thema. Was ist wichtig und was nicht? Was muss man wissen? Können wir noch entscheiden, was wichtig ist? Es beginnt bereits mit diesen ganz normalen, alltäglichen Nachrichten. Aber jetzt begegnet man, zumindest in Europa, vielen Leuten, die sich fragen, was ist in meinem Leben wichtig, was ist für mich nicht wichtig, was ist die Information meines Lebens. Und manche sagen, ja das steht in Facebook. Und andere sagen, nun, das ist alles in meinem Blog. Und anscheinend fällt es vielen Leuten sehr schwer zu behaupten, das ist irgendwo in meinem Leben, meinem gelebten Leben.«

Schirrmachers Bedenken gehen dahin, dass wir zwar viel über andere wissen, aber nichts über uns selbst. Und genau darum geht es in der Debatte über Überflutung und Filtern letztlich: den Verlust des Selbst. Das autonome westliche Individuum delegiert Fähigkeiten und Wissen an das, was Clay Shirky die algorithmische Autorität nennt, und statt ihm zu neuen Kräften zu verhelfen, bringt dieser Akt der Auslagerung nur eine weitere Schwächung des Subjekts. Übrig bleibt die Kunst sich selbst zu kuratieren, vergleichbar mit Foucaults »Technologien des Selbst«, die darauf zielt, sich ständig wandelnde temporäre Sammlungen auf unseren Netbooks und iPhones anzulegen. Der Datendandyismus der Agentur Bilwet als Massenphänomen.12 Wir filtern, vergessen, hören und sehen von Natur aus selektiv, aber das heißt nicht, dass wir das Filtern anderen überlassen wollen. Die Gefahr von Filtern ist ihre Unsichtbarkeit. Deshalb brauchen wir ein stärkeres Bewusstsein für das Vorhandensein und die Architektur der Filter, die uns umgeben. Wir müssen uns unserer kulturellen Voreinstellungen bewusst werden, statt ihnen auszuweichen. »Das Problem ist Filterversagen, nicht Informationsüberflutung«, ist der Titel eines von Clay Shirkys Vorträgen, der auch online abgerufen werden kann. Ich würde es umformulieren und die mangelnde Wahrnehmung der Filterarchitektur als Ursache für das Gefühl der Informationsüberflutung bezeichnen. Googles Absicht, »die Information der Welt zu organisieren«, ist zu misstrauen, wir sollten darin eher eine weltweite Bewegung in Richtung Datenmanipulation sehen, angetrieben von einer merkwürdigen Verbindung von staatlicher Kontrolle und Unternehmensinteressen. Doch bevor wir anfangen, die zukünftigen Mächte zu verdammen, müssen wir uns einige grundsätzliche Fragen stellen: Wie können wir diese paradoxe Ära des gefeierten Individuums, die geradewegs in die algorithmische Auslagerung des Selbst mündet, eigentlich überwinden. Wie bestimmen wir Signifikanz jenseits vom Paradigma des gerade Angesagten und nutzen stattdessen unsere Intelligenz, um herauszufinden, was wichtig ist?

12 | Siehe Agentur Bilwet, Der Datendandy, Mannheim: Bollmann, 1994.

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D ER C ARR -E FFEK T In The Shallows, What the Internet is Doing to our Brains13 von 2010 entpuppt sich Nicholas Carr überraschend als Weltuntergangsprediger. Im Kontrast zu seiner früheren IT-Insiderkritik an den großen Akteuren des Internet-Spiels hat sich Carr nun zu einem öffentlichen Intellektuellen gewandelt, der allgemeinen Sorgen über die gesellschaftlichen Langzeitfolgen Gehör verschafft. Es ist interessant zu sehen, wie Carr vom Business-Review-Redakteur zum amerikanischen Technologie-Philosophen in der Erblinie von Lewis Mumford und Langdon Winner wurde. In jedem Fall ist The Shallows, das 2011 für den Pulitzerpreis nominiert wurde, ein wohldurchdachtes und gründlich recherchiertes Buch. Es kann dazu beitragen, der geschäftigen und gebildeten Mittelklasse bewusst zu machen, wie sehr die Technologie gerade ihre Gehirne umformt. Aber diejenigen, die Carrs Blog Rough Type verfolgten, durften erstaunt feststellen, dass sich seine messerscharfe Google-Kritik in Populärwissenschaft verwandelt hatte. In The Shallows hat Carr seinen berühmten Essay Is Google Making Us Stupid auf die Ebene einer umfassenden Bestandsaufnahme gehoben, in der auch Texte aus neurowissenschaftlichen Fachzeitschriften behandelt werden. Nicholas Carrs möglicherweise gespaltene Persönlichkeit ist ein Hinweis darauf, in welch unterschiedliche Richtungen die Internetkritik gehen kann. Auf seinem Blog sind Carrs Beiträge witzig, zynisch, auf den Punkt genau und Jeff Jarvis’ apologetischem Schreibstil als Google-Evangelist wie auch Clay Shirkys standardmäßiger Würdigung von Anything 2.0 weit voraus. In seiner Gutenberg-Inkarnation dagegen fällt er zurück auf die Stufe eines populärwissenschaftlichen Autors der John-Brockman-Schule. Man kann die relevante neurowissenschaftliche Literatur zusammenfassen und für die Allgemeinheit aufbereiten, aber darf dann nicht überrascht sein, wenn richtige Neurowissenschaftler zu gegenteiligen Forschungsergebnissen kommen. Carr schreibt: »Wir können annehmen, dass die für das Überfliegen, Durchsuchen und Multitasking zuständigen neuronalen Netze erweitert und gestärkt werden, während diejenigen, die bei längerem Lesen und konzentriertem Denken benötigt werden, immer schwächer und lückenhafter werden.«14

13 | Nicholas Carr, The Shallows, What the Internet is Doing to our Brains, New York: W.W. Norton, 2010; dt.: Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange?, München: Blessing, 2010. 14 | Nicholas Carr, Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange?, S. 224.

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Nein, das können wir nicht annehmen. Die Diskussion über unsere manipulierten Neuronen ist eine Sackgasse, die Veränderungen blockiert. Im besten Falle etabliert dieses Mem Regime der Schuld und von Ängsten gesteuerte Nutzungseinschränkungen. Carr: »Was durch das Netz verringert wird, ist das von Johnson angesprochene Primärwissen: die Fähigkeit, sich selbst gründliche Kenntnisse zu einem Thema anzueignen und in unserem eigenen Geist jene reichen und spezifischen Verbindungen herzustellen, die das Grundgerüst der Intelligenz jedes Einzelnen bilden.« 15

Aber die User saugen nicht wahllos Irrelevantes auf. In den falschen Kontext gestellt, kann eine solche Darstellung leicht als »Arroganz der Besseren« verstanden werden. Wir alle haben unsere Mühe, diese neuen Tools sinnvoll einzusetzen. Zeit auf nutzlose Vorgänge zu verschwenden, ist eine universale Gabe der Menschheit. Wir sind geboren, um zu warten (bis wir sterben). So eine Schande, all diese Stunden, die mit dem »tiefen Nachdenken« über das falsche Thema vertan werden! Es gibt immer noch eine Menge Leute, die eine Therapie brauchen, um diese Gewohnheit loszuwerden. Merkwürdigerweise kommt Carr aber gar nicht explizit auf Internetsucht zu sprechen. Hier könnte ein Klassenaspekt vorliegen. Informationsarbeiter entwickeln als soziale Gruppe Widerstände dagegen, sich selbst als (potentielle) Patienten zu diagnostizieren, denn intensive Computernutzung wird immer noch als ermächtigende Aktivität gesehen, die zu erweiterten Fähigkeiten und verstärkter sozialer Mobilität führt. Was, wenn man sich in Richard Foremans Bild von uns als »Pfannkuchenmenschen – breit und dünn ausgewalzt, während wir uns durch einen einfachen Knopfdruck mit dem weitläufigen Netzwerk der Informationen verbinden«,16 einfach nicht wiedererkennt? Ich würde stattdessen eine befreiende und souveräne Sicht auf die Beherrschung des Internets vorschlagen. The Shallows bietet eine Reihe von Hinweisen in diese Richtung. Ähnlich wie Frank Schirrmacher in Payback beginnt Carr mit dem offenen Eingeständnis eines aktiven Mannes im mittleren Alter, mit den Multitasking-Anforderungen der Echtzeitkommunikation nicht mehr mitzuhalten. Während er The Shallows schrieb, hat Carr Facebook, RSS und Twitter abgeschaltet und seine E-Mails deutlich reduziert. Zum Ende hin, gibt er zu, lockerte er seine Diät aber wieder und kam zur ursprünglichen intensiven Internetnutzung zurück. In Übereinstimmung mit Sloterdijks Philosophie des 15 | Ebd., S. 226. 16 | Zitiert in Nicolas Carr, The Big Switch, Rewiring the World, From Edison to Google, W.W.Norton, New York, 2008, S. 227.

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»lebenslangen Lernens« sollten wir unseren Geist nicht nur darauf trainieren, sich weniger ablenken zu lassen. Wir brauchen vor allem Tools, die weniger auf Echtzeit ausgerichtet sind, sondern auf Bedingungen, unter denen ein gegenintuitives Denken entstehen kann. Der fortwährende Zustand der Ablenkung lässt sich überwinden, wenn wir dem Kult des Multitaskens und Updatens seinen Coolness- und Designfaktor nehmen. Die Bewegung des Offline-Gehens wird weniger gegen Technik als gegen Echtzeit gerichtet sein. Die Technologie muss wieder unser Helfer werden. Wie kann ein Design aussehen, das aufmerksames Denken unterstützt? Was The Shallows nicht voraussah, war der »Carr-Effekt«. Die massive Berichterstattung über die Schattenseiten des Multitaskings, die Konzentrationsstörungen durch E-Mail und Twitter, die Informationsüberflutung und die Auswirkung der Suchmaschinen auf das Lernen hat selbst einen Einfluss auf die allgemeine Nutzung der neuen Medien. Man stelle sich vor, nachts von zuhause keine dienstlichen E-Mails mehr zu schreiben, das Smartphone während des Essens auszuschalten oder sogar die Bildschirmzeit für die Kinder zu begrenzen. Der Bote ist kein neutraler Außenstehender, der lediglich beobachtet. Die Popularität des Buchs und der Eifer, mit dem die Kritiker über Carrs Thesen berichtet und Stellung zu ihnen bezogen haben, belegt, wie sehr er den Zeitgeist getroffen hat. Nach der Einführungsphase des Webs mit ein paar wenigen Wissenschaftlern, die bis 1993 stattfand, dem anschließenden Dotcom-Hype, der im Jahr 2000 platzte, seiner Wiedergeburt um 2003 als Web 2.0 und seiner Entwicklung zum Massenmedium, wie wir es 2011 sehen, steigen wir nun in die vierte Phase der Internetkultur ein, die durch den Konflikt in der öffentlichen Sphäre und die Frage der (Selbst-)Beherrschung auf der individuellen Ebene geprägt ist. In dieser nächsten Phase wird das Internet seinen Platz im Alltagsleben finden, das Fernsehen übernehmen, sich im Kühlschrank einnisten, auf Mobiltelefonen ausbreiten, als Kochassistent in der Küche nützlich machen usw. Was nach noch intensiverer Nutzung klingt, könnte in Wirklichkeit geringere Aufmerksamkeit von uns verlangen. Sobald einmal die Funktionen und Grenzen verstanden sind, können die User weitergehen und die belastenden Jahre idiosynkratischer Software, zusammengebrochener Breitbandverbindungen, hartnäckiger Viren und endloser Upgrades hinter sich lassen. Der therapeutische Weg zur (Selbst-)Beherrschung, wie ihn Sloterdijk vorschlägt, mag nicht nur für diejenigen notwendig sein, die für spezielle Gadget- oder Plattformabhängigkeiten anfällig sind, sondern sollte auch Teil der schulischen Erziehung werden. Die Internetkultur befindet sich im rapiden Übergang in das Staubsaugerstadium. Alle Technologien, egal wie disruptiv sie sind, verschwinden schließlich im Hintergrund, wo sie dann auf der Ebene des kollektiven Unbewussten noch mehr Macht haben. Mitte des letzten Jahrhunderts revolutionierte die weiße Ware unser Alltagsleben. Geräte, die die Hausarbeit effizienter machten und nach einer Weile ganz selbstverständlich

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waren. Wir nutzen sie immer noch, aber reden nicht mehr darüber und setzen uns schon gar nicht mit den Plänen von Mikrowellen-Schalttafeln auseinander (sollten wir vielleicht!). Es gibt keine hitzigen Debatten von Mitgliedern zivilgesellschaftlicher Delegationen, die an globalen Foren zur Beherrschung des Toasters teilnehmen. Eines Tages wird die »Internet-Debatte« auf ähnliche Weise zu Ende gegangen sein.

Facebook, Anonymität und die Krise des multiplen Selbst »Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er für sich selbst spricht. Gib ihm eine Maske, und er wird dir die Wahrheit sagen.« (Aphorismus von Oscar Wilde, ausgewählt von Julian Assange)

In Jeff Kinneys Gregs Tagebuch von 2007 finden wir folgenden Eintrag: »In der Schule gab es heute eine Vollversammlung, und wir sahen den Film It’s Awesome to Be Me, den sie uns jedes Jahr zeigen. In diesem Film geht es nur darum, mit dem, was man ist, glücklich zu sein, und dass man nichts an sich ändern soll. Ehrlich gesagt, finde ich, das ist eine echt doofe Botschaft für Kinder, besonders für die an meiner Schule.«1

Für viele Menschen stellt das Internet einen lebendigen Austausch von Argumenten und Dateien dar. Wir unterhalten uns über Skype, versenden Bilder, fragen den Wetterbericht ab und laden Software herunter. Erst mit dem Aufkommen der Blogosphäre um 2003/2004 wurde das Internet mit Selbstdarstellungen überschwemmt. Es bildete sich eine Kultur der »Selbstpreisgabe«. Die Soziale Netzwerke, die kurz darauf entstanden, lösten eine obsessive Beschäftigung mit »Identitätsmanagement« aus. Insbesondere die massive Nutzung von Facebook führte zu einer Identitätskrise von bislang unbekannten Dimensionen, die um die Frage kreist, wer wir sind und wie wir uns online darstellen sollen. Im Zeitalter der Sozialen Medien suchen wir nicht die Externalisierung eines möglichen anderen Selbst, sondern die des wahren Selbst tief in uns. Aber hier geht es nicht um Seelensuche – was als Adressbuch begann, um verlorene

1 | Jeff Kinney, Diary of a Wimpy Kid, New York: Amulet Books, 2007, dt.: Gregs Tagebuch, Köln: Bastei Lübbe, 2011.

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Freunde und Schulkameraden wiederzufinden, hat sich zur gewaltigen Eigenwerbung gewandelt: »It’s awesome to be me.« Aber wer genau bin ich?2 In einem Interview mit der niederländischen Tageszeitung NRC-Handelsblad bemerkte die Porträtfotografin Rineke Dijkstra, zwischen 2005 und 2010 hätten Europäer, insbesondere Jugendliche »zwei Gesichter entwickelt: ein privates, dem man ansieht, wie sie sich wirklich fühlen, und ein öffentliches Gesicht für die Außenwelt, das sie auf YouTube und Facebook perfektionieren. Das öffentliche Gesicht scheint an Bedeutung zu gewinnen, als ob es einen Instinkt gäbe, es aufzusetzen, eine evolutionäre Entwicklung, um zu überleben.«3 Die Verwirrung um das, was wir sind und wie viel wir über unser Privatleben und unsere persönlichen Meinungen preisgeben sollen, nimmt zu, genauso wie der wachsende Druck, »man selbst zu sein«, zunehmend mit dem sozialen Konformismus in Konflikt gerät. Wenn es stimmt, dass die Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Virtuellen schwindet und dass offline und online ineinander übergehen, heißt dies dann auch, dass wir im Internet nicht mehr so tun können, als seien wir jemand anderes? Und wenn die Privatsphäre bedroht ist, wie unterscheiden wir dann zwischen privat und öffentlich? Was ist »das Selbst« eigentlich noch in einer Gesellschaft, in der Millionen nach Einzigartigkeit streben, doch von identischen Wünschen gesteuert werden? Vielleicht stellt der Begriff der »Massenanonymität« einen möglichen Ausweg dar.

L OB DER MULTIPLEN I DENTITÄTEN Alles begann so harmlos in den letzten Jahren des Kalten Krieges. Die erste Internetgeneration, die hinter den Mauern des akademischen Betriebs so gut geschützt war, wählte einen beliebigen Nutzernamen, und das Ergebnis war eine wilde Hippiekultur, die sich im Usenet und in Mailboxen tummelte. Die frühe Cyberkultur beseelte der gemeinsame Wunsch, jemand anderes zu werden. In Leben im Netz von 1995 beschreibt Sherry Turkle, wie sich die Übernahme einer anderen Persönlichkeit online sogar therapeutisch auswirken konnte. Seinerzeit wurden Computernetzwerke als Vehikel genutzt, um der »offiziellen 2 | Max Blecher: »Die schreckliche Frage ›Wer genau bin ich?‹ hat sich in mir eingerichtet wie ein komplett neuer Körper, mit eigener Haut und Organen, die mir völlig fremd sind. Es ist eine tiefere und maßgeblichere Klarheit als die des Gehirns, die auf die Antwort drängt. Was auch immer in der Lage ist, sich in meinem Körper zu bewegen, windet sich, ringt und rebelliert heftiger und elementarer als im Alltagsleben. Alles bettelt um eine Auflösung.« Occurrence in the Immediate Unreality, Plymouth: University of Plymouth Press, 2009, S. 26. 3 | »Kwetsbaarheid is niks voor mij,« Interview von Hans den Hartog Jager mit Rineke Dijkstra, NRC-Handelsblad, 7. Dezember 2010.

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Wirklichkeit« zu entkommen, eine alternative Zukunft zu entwerfen, den Körper zu erweitern und das Bewusstsein auszudehnen. Das Burning-Man-Festival, Energy-Drinks, George Gilder, Ray Kurzweil und Mondo 2000 waren die kulturellen Wahrzeichen, die die Werte der ersten Bewohner des Internets verkörperten. Damals, in den aufregenden neunziger Jahren, galt als Gegner nicht mehr die Sowjetunion, sondern der träge Konzern, in dem bürokratische »Organisationsmenschen« (William H. Whyte) aus den Vororten auf die Befehle von oben warteten. Im Gegensatz dazu stand das Internet für verteilte Macht: geprägt von einer flexiblen, sich ständig verändernden Offenheit gegenüber der Welt und wachsam gegenüber kontrollfixierten Orwell࣭schen Institutionen. Fast ein Jahrzehnt lang beherrschte das Internetremake des Flower-Power-Selbst die Außenwahrnehmung, wie sie durch die »alten« Print- und Rundfunkmedien vermittelt wurde. Die technolibertäre Utopie war ein starkes Mem. Sie verschaffte künftigen Generationen die Vorstellung vom Internet als Instrument der persönlichen Freiheit, ein Konzept, das eher früher als später mit dem bürokratischen Sicherheitsregime des Web-2.0-Zeitalters zusammenprallte. Die weiße männliche Geek-Kultur, der man auf Internetseiten wie Slashdot begegnet, vermengt obsessives Spielen und Hacken immer noch mit einem ironischen postideologischen Medienkonsum. Auch die Benutzung von Aliasnamen ist in Online-Game-Communities weiterhin verbreitet. Diesen Subkulturen ist das techno-mittelalterliche Rollenspiel genauso wichtig wie Verschlüsselungs-Software, die ihre Mitglieder vor staatlichem Zugang schützt. Die »Egal-Haltung« ist hier eine von überlegener Distanz, cool und gelassen. Das multiple Selbst wird nicht als Akt der Befreiung verstanden, sondern ist schlicht ein Resultat technologischer Gegebenheiten. Was diese Subkulturen miteinander verbindet, ist ihre Distanz sowohl gegenüber der alten »Hochkultur« wie gegenüber politisch korrekten Projekten, die sich Phänomenen wie Klasse, Gender, Rasse, Ökologie und imperialistischen Kriegen widmen. Innerhalb dieser Techno-Kulturen wird das Selbst als fundamentale Lüge begriffen (ich bin nicht ich), als ein Antagonismus, dessen man sich schon vor langer Zeit hätte entledigen sollen. Wenn man tausend Leben lebt, kann man leicht in eine andere Identität wechseln. Es gibt kein wahres Selbst, nur eine endlose Reihe austauschbarer Masken. Ein Relikt dieses pionierhaften Glaubenssystems ist die in technischen Kreisen oft gehörte Behauptung, so etwas wie Privatsphäre existiere nicht – das sei unwichtig. Stattdessen kann sich die entkernte Persönlichkeit mit dem endlosen Spiel beschäftigen. Die hedonistischen Dotcom-Exzesse um die Jahrtausendwende fanden mit der Finanzkrise von 2001 und den Anschlägen des 11. September ein jähes Ende. Durch den Krieg gegen den Terror wurde der Wunsch nach einer echten Parallelkultur des »zweiten Selbst« erstickt, stattdessen entstand eine globale Überwachungs- und Kontrollindustrie. Auf diesen Angriff auf die Freiheit reagierte das Web 2.0 taktisch mit kohärenten, singulären Identitäten, die mit den Daten

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der Polizei wie der Sicherheits- und Finanzinstitutionen übereinstimmten. Dank der Ideologie des »Vertrauens« und der mit ihr einhergehenden »Walled Gardens« und Online-Malls für den sicheren E-Commerce ermöglicht es das billige, zentralisierte Cloud Computing, dass man »die Dinge, die einem wichtig sind, alle an einem Ort hat«4 – einem Ort, an dem der normale Nutzer seine Freunde treffen kann und vor dem wilden, anarchischen Netz mit seinen Viren, Spam-Mails und Online-Betrügereien geschützt ist. Statt gegen die Macht der Konzerne Widerstand zu leisten und staatliche Regulierungen zu fordern, gaben sich die Techno-Libertären selbstbewusst: Wir stehen auf der richtigen Seite der Geschichte. Ihre privaten Daten werden nicht gegen Sie verwendet werden. Es wird keinen Tag des Jüngsten Gerichts oder eine zweite nationalsozialistische Machtergreifung geben. Entweder haben wir schon seit Jahrzehnten unter dem Zeichen des Großen Bruders gelebt, ohne zu merken, dass die Übernahme bereits vor einer Ewigkeit geschah, oder die Machtergreifung durch das Ungeheuer, das wir alle fürchten, wird nie stattfinden. Bei Facebook gibt es keine Hippie-Aussteiger, sondern bloß ein übermäßiges Bekenntnis zum echten Selbst, das Hand in Hand geht mit der Annehmlichkeit, sich nur unter Freunden und in einer sicheren, kontrollierten Umgebung zu befinden. Es gibt auch keine Punks und keine kriminelle migrantische Straßenkultur. Abweichende Entscheidungen werden so lange begrüßt, wie sie sich auf eine Identität beschränken. Mark Zuckerberg, CEO von Facebook, hat es so formuliert: »Zwei Identitäten zu haben, ist ein Zeichen für einen Mangel an Integrität.«5 Dazu der Risikokapitalgeber Peter Thiel: »Bei Facebooks Rivale MySpace geht es darum, dass man sich im Internet eine aufgesetzte Identität zulegt – jeder könnte ein Filmstar sein.« Thiel hält es für »sehr gesund, dass die echten Menschen über die falschen Menschen gesiegt haben«.6 Die Folge ist, dass es heute kaum mehr Möglichkeiten gibt, sich in multipler Weise online zu präsentieren. Die Sozialen Netzwerke, die dieses Streben nach 4 | Werbeformel von Flipboard für das iPad: »dein personalisiertes soziales Magazin«. 5 | Siehe zum Beispiel Michael Zimmer unter: http://michaelzimmer.org/2010/05/14/ facebooks-zuckerberg-having-two-identities-for-yourself-is-an-example-of-a-lack-ofintegrity/und danah boyd unter: www.zephoria.org/thoughts/archives/2010/05/14/ facebook-and-radical-transparency-a-rant.html 6 | Wall Street Journal, 11. Oktober 2010. Ein anderes Beispiel findet sich in den LEGO-ID-Nutzungsbedingungen: »Als Inhaber eines LEGO Profils erklärst du dich damit einverstanden, dass du nicht mehr als ein Benutzer-Konto anlegen wirst, und dass die Benutzung unsittlicher Namen, die Verletzung religiöser Gefühle sowie die Verwendung generell obszöner und ungebührlicher Sprache und Bilder nicht toleriert wird. Es ist untersagt, die Spiel-, Chat- oder Mail-Umgebungen von LEGO.com zu manipulieren, ungemäßer Benutzung zu unterziehen sowie Software oder den Programmiercode von LEGO.com zu verändern.«

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Sicherheit (durch eine einzige Identität), verbunden mit unserer persönlichen Neigung zur Bequemlichkeit, vorwegnahmen, bieten ihren Usern begrenzte und benutzerfreundliche Wahlmöglichkeiten, wie sie ihre privaten und beruflichen Daten der Welt mitteilen können. In ihrer Filmkritik von The Social Network (David Fincher, 2010) zieht Zadie Smith eine direkte Verbindung zwischen der Normalität von Facebook und seinen autistischen Computer-Nerd-Gründern. »Vielleicht wird das ganze Internet einfach wie Facebook: gespielt fröhlich, vorgetäuscht freundschaftlich, voller Eigenlob, routiniert verlogen.« Die Generation Web 2.0 verdiene etwas Besseres. »Facebook ist der Wilde Westen des Internets, gezähmt für die Vorstadtphantasien einer Vorstadtseele.« Smith fragt, ob wir uns gegen diese Befriedung nicht zur Wehr setzen sollten. »Wir waren dabei, online zu leben. Es sollte außergewöhnlich werden. Doch was für ein Leben ist das? Treten Sie mal kurz von Ihrer Facebook-Pinnwand zurück: Sieht es nicht plötzlich ein wenig lächerlich aus? Ihr Leben in diesem Format?«7 Sollten wir nach einem Ausweg aus diesem engen Szenario suchen? Sollten wir alle einfach wieder einmal spielerisch anonym werden? Bevor wir uns ein paar mögliche Exit-Strategien ansehen, müssen wir aber die Entstehung des modernen Selbst begreifen und warum es so unbekümmert das begrenzte soziale Milieu des Web 2.0 unterstützt hat.

V ON DER S ELBST-O FFENBARUNG ZUR S ELBST-P ROMOTION Dem öffentlichen Druck, auf Anonymität zu verzichten, kann man sich nicht widersetzen, wenn man kein besseres Verständnis der »Selbstmanagement«Welle gewinnt, wie sie sich in Online-Portfolios, auf Dating-Sites und auf Facebook manifestiert.8 Im Zeitalter des Web 2.0 ist der Drang zur Selbstverwirklichung tief in der Gesellschaft verwurzelt. Der israelischen Soziologin Eva Illouz zufolge ist das moderne Selbst ein autonomes Wesen, das infolge seiner Verstrickung in die sozialen und politischen Strukturen nicht zur eigenen Wertschätzung fähig ist. Die Sozialen Medien seien nur als die jüngste Inkarnation dieser Institutionen zu verstehen. In ihrem 2007 erschienenen Buch Cold Intimacies veranschaulicht Illouz, wie der Kapitalismus sich zu einer »emotionalen Kultur« gewandelt hat, im Gegensatz zur landläufigen Ansicht, dass Facebook, Anonymität, die Krise der multiplen Selbst-Kommodifizierung, Lohnarbeit und profitorientierte Aktivitäten »kalte« und kalkulierte Beziehungen erzeugen. Sie 7 | Beide Zitate aus Zadie Smith, »Generation Why?«, in: New York Review of Books, 25. November 2010, S. 57-60; www.nybooks.com/articles/archives/2010/nov/25/ generation-why/ 8 | Eine gute Zusammenfassung dieser Selbstmanagement-These liefert Ramón Reichert in Amateure im Netz, Bielefeld: transcript, 2008.

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stellt den Aufstieg des »emotionalen Kapitalismus« in den Kontext einer öffentlichen Sphäre, in der die Offenlegung des Privatlebens allgegenwärtig ist. Durch die Dienstleistungsindustrie wird der Affekt zu einem essentiellen Aspekt des wirtschaftlichen Verhaltens – und ein Modegegenstand der zeitgenössischen Theorie. Illouz zufolge »ist es so gut wie unmöglich, die Rationalisierung und Kommodifizierung des Selbstseins von der Fähigkeit des Selbst zu trennen, sich zu formen, sich zu helfen und kommunikativ sowie deliberativ mit anderen in Kontakt zu treten«.9 Illouz sieht die Entwicklung eines Narrativs, das auf Selbstverwirklichung ausgerichtet ist und auf institutionellen und halböffentlichen Schauplätzen wie dem Selbsthilfesektor und den Online-Plattformen in Szene gesetzt wird. »Die Dominanz und Fortdauer dieses Narrativs, das wir als verkürztes Narrativ der Anerkennung behandeln können, ist auf die materiellen und ideellen Interessen einer Vielzahl von Gruppen bezogen, die innerhalb des Markts, der Zivilgesellschaft und der institutionellen Grenzen des Staats operieren.« Illouz betont, dass es immer schwerer wird, zwischen unserem beruflichen und unserem privaten Selbst zu unterscheiden. Im vernetzten Konkurrenzkontext der Arbeit sind wir darauf trainiert, uns als die Besten, Schnellsten und Schlauesten darzustellen. Gleichzeitig wissen wir, dass das nur ein künstliches, erfundenes Bild von uns ist, welches sich mit unserem »wirklichen« Selbst nicht deckt, ein Widerspruch, mit dem Prominente seit Jahrzehnten zu kämpfen haben. Essentiell ist diese Unterscheidung auch, wenn man online nach intimen Beziehungen oder Lebenspartnern sucht. Auf Dating-Sites etwa geht es den Menschen um authentische Erlebnisse, selbst wenn, laut Illouz, die Technik, derer sie sich bedienen, die verzweifelt gesuchte Intimität nur zerstört. In einem Skype-Interview, das ich mit Illouz führte, betonte sie die langfristige Entkopplung des Privatlebens von der Privatsphäre. »Wir sollten die Schuld am Verlust des Privatlebens nicht der Technik geben. Die Pornofizierung der Kultur und das politisch-ökonomische Drängen nach zunehmender Transparenz des Privatlebens nehmen seit Jahrzehnten zu, und das Internet hat diese Trends nur institutionalisiert.« Illouz zufolge stellt die Vernetzung über Websites wie Facebook zwei Formen des sozialen Kapitals zur Schau: »Es zeigt, dass man geliebt wird und mit wem wir verbunden sind. Mit der eigenen Position in der Hierarchie anzugeben ist natürlich nicht nur ein modernes Phänomen. Wir könnten die gegenwärtige Angst vor Sozialen Netzwerken als Wiederkehr des für das späte 19. Jahrhundert typischen Motivs des liberal-bourgeoisen Subjekts verstehen, das von den Massen auf den Straßen der industriellen Welt überwältigt wird. In der Moderne ging und geht es noch immer ebenso sehr darum, die Grenzen zwischen hoch 9 | Beide Zitate aus: Eva Illouz, Cold Intimacies, Cambridge: Polity Press, 2007, S. 109, 4, dt.: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006, S. 162, 13.

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und niedrig, öffentlich und privat zu ziehen, wie sie zu verwischen. Der Ruf nach mehr Regulierung und Kontrolle steht oft in Verbindung mit kulturellen Ängsten vor dem Niederreißen von Grenzen. Diese Reaktion ist normal. Wir sollten uns daran erinnern, dass das Patrouillieren an den Grenzen eine Kultur am Leben erhält.«

D IE R ELIGION DES P OSITIVEN Es könnte drei Möglichkeiten geben, der Maschinerie der Eigenwerbung zu begegnen. Zum einen könnten wir ihre Selbstverständlichkeit durchbrechen. Wenn wir über die dunkle Seite des positiven Denkens sprechen, ist das ein erster Schritt, uns vom Massenwahn des »Smile or die« zu erholen, und wirkungsvoller, als sich über das Fehlen eines »Dislike«-Buttons auf Facebook oder über die eindimensionale Darstellung von Beziehungen mit »Befreunden« als einziger Option lustig zu machen. In ihrem 2009 erschienenen Buch BrightSided: How the Relentless Promotion of Positive Thinking Has Undermined America zeigt Barbara Ehrenreich auf, wie der ständige Druck, die Dinge positiv zu sehen, »eine bewusste Selbsttäuschung sowie das unablässige Bemühen, unerfreuliche Ereignisse und ›negative‹ Gedanken auszublenden oder zu verdrängen erfordert«.10 Im Kontext der Sozialen Netzwerke können wir zwar nicht sagen, dass die optimistische Voreingenommenheit die Reaktionsfähigkeit untergräbt und Katastrophen begünstigt (wie Karen Cerulo meint), doch tatsächlich nivelliert sie die Alltagserfahrung, indem sie komplexere Gefühle verdrängt. Zweideutigkeiten sind nicht erlaubt. Sorgloser Optimismus setzt das Vermögen, die Regeln in Frage zu stellen, praktisch außer Kraft. Wir müssen diese neuen Beschränkungen im Sinne einer »pharmakologischen Kritik der libidinösen Ökonomie« studieren, von der der französische Philosoph Bernard Stiegler spricht.11 Reduzierte Wahlmöglichkeiten steuern und desensibilisie10 | Barbara Ehrenreich, Bright-sided: How the Relentless Promotion of Positive Thinking Has Underminded America, New York: Metropolitan Books, 2009, S. 5.; dt.: Smile or Die: Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt, München: Antje Kunstmann, 2010, S. 14. 11 | Bernard Stiegler, For a New Critique of Political Economy, Cambridge: Polity, 2010, S. 41. In den derzeitigen interaktiven Dialogsystemen stellen Facebook und Twitter Fragen wie: »Was machst du gerade?« und »Was gibt es Neues?« Brian Solis hat dies kritisiert: »Es interessiert doch niemanden, was du gerade tust. Eine Tasse Kaffee trinken? Ins Bett gehen? Aufstehen? Behalte es für dich! Die Frage, die du beantworten solltest, lautet: ›Was inspiriert dich?‹ oder ›Was hast du heute gelernt?‹« www.briansolis. com/2009/11/on-twitter-what-are-you-doing-is-the-wrong-question. Statt zu antworten, sollten wir, ganz im Geist von Joseph Weizenbaum, den Prozess selbst umkehren: Die Nutzer sollten zu fragen beginnen.

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ren letztendlich die Nutzer, die, positiv gesehen, dann diese Plattformen auf der Suche nach besseren Alternativen verlassen werden. Für den Rest der Welt wäre es kein Problem, wenn sich fröhliche Amerikaner untereinander mit ihrer optimistischen Folklore belästigen würden. Das Problem ist jedoch, dass diese Designprinzipien bei Software angewandt werden, die weltweit von Milliarden genutzt wird. Im Endeffekt bleibt einem keine andere Wahl, als sich zu verweigern, sich abzumelden und das Nutzerprofil zu löschen. Das Selbst als kreativer und kenntnisreicher Akteur sitzt in der Falle, aus dem einfachen Grund, weil es kein eines, wahres Selbst gibt, das wir unbedingt entschleiern müssen. Jenseits der Dualität des Selbst und des Anderen ist auch das fraktionalisierte Selbst, wie Zygmunt Bauman gesagt hat, hoch fiktionalisiert, aussichtslos und illusionär.12 Sogar auf Facebook, unter »Freunden«, spielen wir Theater, tun wir so, als würden wir uns selbst spielen. Dies ist kein Akt der »Selbstbeherrschung«, sondern vielmehr eine technische Übersetzung von Daten, um den banalen Alltag zu verdecken. Allein die Anzahl paradoxer Erfahrungen beweist, dass man nicht ein Einziger ist, also müssen wir uns fragen, warum wir noch immer eine Synthese vollziehen sollen. Eine Vielfalt von Plattformen und Funktionalitäten ermöglicht die Herausbildung verschiedener Facetten des Selbst, solange sie sich an gesellschaftliche Normen halten und einander nicht offen widersprechen. In Sozialen Netzwerken geht es nicht darum, etwas als Wahrheit zu bekräftigen, sondern vielmehr um die Herstellung von Wahrheit durch endloses Klicken. Als Ausweg genügt das Bekenntnis »Ich bin nicht der, der ich bin«. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung – der moderne Mensch als jemand, der sich selbst (neu) zu erfinden versucht.

D ER TRIUMPH DER H OHLKÖPFE Ein anderer Ausweg besteht darin, das Konsumbedürfnis herunterzufahren, den primären Antrieb für die Maschinerie der Eigenwerbung. Diesem Gedanken zufolge ist die Vermarktung des Selbst nicht so sehr ein narzisstisches Unterfangen, das darauf abzielt, die eigenen inneren Bedürfnisse zu befriedigen, sondern wird vor allem vom schnellen Konsum externer Objekte bestimmt, vom unaufhaltsamen Trieb, immer mehr zu sammeln – von Freunden und Geliebten bis zu Markenprodukten, Dienstleistungen und anderen quasi-exklusiven und kurzlebigen Erfahrungen. Mittlerweile ist es verlockend geworden, sich nicht anzumelden, und das hat zum Teil mit der skrupellosen Art und Weise zu tun, wie der Facebook-Algorithmus potentielle neue Nutzer kontaktiert, etwa über importierte E-Mail-Adressbücher, um die Adressaten dann aufzufordern, 12 | Zygmunt Bauman, »The Self in a Consumer Society«, in: The Hedgehog Review, Herbst 1999, S. 35.

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Ihr »Freund« zu werden. Das ist das naive Modell ewigen Wachstums, wie es Facebook oder Twitter propagieren, und das einen unaufhörlich anhand der Menge von Tweets bemisst. Ein Leben ohne Tweets ist demnach gar kein Leben. Drei zwischen 2005 und 2007 erschienene australische Publikationen befassen sich mit dieser spezifischen Unzufriedenheit in Hyperkonsumgesellschaften, welche von Verschuldung, Überarbeitung und damit zusammenhängenden Krankheiten geprägt sind. Obwohl keiner der drei Autoren explizit das Web 2.0 untersucht, könnten die Mechanismen, die sie beschreiben, durchaus dessen Kult der Selbstpreisgabe mit seinen eingebauten Algorithmen, immer mehr »Freunde« zu sammeln, erklären. Zunächst einmal können Soziale Medien als Ursache wie als Symptom dessen verstanden werden, was Clive Hamilton 2005 mit dem Kunstwort »Affluenza« bezeichnete – der Überfluss, der krank macht. In Affluenza. When Too Much is Never Enough hat Hamilton hierfür folgende Definition gegeben: »1. das aufgeblähte, träge und unerfüllte Gefühl, das entsteht, wenn man mit den Nachbarn mithalten will. 2. Eine Epidemie von Stress, Überarbeitung, Verschwendung und Verschuldung. 3. Eine auf Dauer unhaltbare Abhängigkeit von wirtschaftlichem Wachstum.«13 Bei den Sozialen Medien erleben wir, wie sie den McLifestyle weiter beschleunigen, während sie sich gleichzeitig als Kanal ausgeben, der die in unseren Gefängnissen des Komforts sich aufbauende Spannung ableitet. In Blubberland. The Dangers of Happiness (2007) präsentiert die Architekturkritikerin Elizabeth Farrelly weitere Variationen zum Thema »Affluenza«. Laut Klappentext will ihre Kritik am westlichen Lebensstil »Verbindungslinien ziehen zwischen Konsumdenken, Zersiedelung, Fettleibigkeit, Depression, ›McMansions‹ (billigen Protzbauten), Nachhaltigkeit und Begehren«. Wenn wir nach einem allgemeinen kulturellen Bezugssystem der Sozialen Medien suchen, dann ist dies eine der möglichen Richtungen. »Speck (blubber) ist ungenutzte Energie, an sich weder gut noch schlecht, aber bebend vor Potential, jeder Ersatz oder Überschuss, die ganze vertane Zeit jeden Tag.«14 Da gibt es auch noch die physischen Seifenblasen der Supermall, des Allradantriebs, der Megakirchen der Pfingstbewegung, des Heimkinos und des MP3-Players. Wir wollen alles, und das sofort. Handschmeichlerische Geräte wie das Smartphone voller Apps leiten uns durch formlose urbane Räume, während sie uns schmerzlich daran erinnern, wer wir eigentlich sein sollten. »Big is beautiful« führt zu Diabetes, Depressionen und Verzweiflung. Farrelly schreibt, dass »die (virtuelle) Schale wie die Höhle ebenso Falle und Schutzschild ist. Je dicker die Maske, desto mehr schließt sie uns ein, wobei sie gerade die Interaktion blockiert, die wir brauchen, 13 | Clive Hamilton und Richard Denniss, Affluenza: When Too Much is Never Enough, Sydney: Allen & Unwin, 2005, S. 3. 14 | Elizabeth Farrelly, Blubberland: The Dangers of Happiness, Sydney: University of New South Wales Press, 2007, S. 9.

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um das Trauma zu heilen.«15 Farrellys Kritik an der gebauten Umwelt lässt sich ohne weiteres auf die Medien des getrennten Zusammenlebens übertragen. Das 2006 erschienene Buch The Triumph of the Airheads and the Retreat from Commonsense der Journalistin Shelley Gare nimmt die Kritik von Keen, Carr und Lanier an den »neuen Medien als Popkultur« vorweg. In diesen Teflonzeiten schwärmen »Hohlköpfe« für Luxusmarken und lesen hauptsächlich Hochglanzmagazine und Selbsthilfebücher, »die sie für Jargon, Slang und Managementsprache so empfänglich machen«.16 Sie sind frei von jedem Selbstzweifel und so von sich eingenommen, dass sie nicht bemerken, wie die öffentlichen Infrastrukturen um sie herum zerbröckeln. Stell dir vor, du könntest die ganzen Steuern für dich behalten! Die »Kinder der Echtzeitrevolution« interessiert nur, was in den nächsten fünf Minuten passiert. Sie verstehen nicht den Unterschied zwischen etwas und nichts und haben gelernt, es sei ihr gutes Recht, zu allem ihren Senf dazuzugeben. Laut Gare »hat die Theorie im Hohlkopfuniversum oberste Priorität«, und »die Theorie liegt zwar oft falsch, doch Hohlköpfe haben das Gedächtnis von Goldfischen, und darum ist es ihnen egal, und sie müssen sich im Nachhinein keine Sorgen machen.«17 Gare wendet sich gegen den postmodernen Relativismus, der die Bildungsstandards reduzierte. Sie warnt vor den langfristigen Auswirkungen, wenn Stil über Substanz oder PR-Botschaften über Fachwissen gestellt werden. Prägnant beschreibt Shelley Gare den Geisteszustand eines frei schwebenden Subjekts, das ständig ohne Sinn, Zweck oder Engagement surft, checkt und updatet. Eine moralistische Zeitgeistkritik wie die von Hamilton, Farrelly und Gare lässt sich leicht als mürrisches Nörgeln von alt gewordenen, »bodenständigen« Babyboomern abtun, die in den Spiegel der Mainstream-Medien starren, aus denen sie all ihre Informationen beziehen. Doch im Kontext der »Netzkritik« ist sie wichtig, da sie einen außerakademischen kulturellen Rahmen liefern, mit dessen Hilfe sich nicht nur die Architektur, sondern auch der Erfolg der Sozialen Medien verstehen lässt. Böse zu sein, ist immer viel sexier als gut zu sein, doch bei einer Gesellschaft, die den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat, geht es, wie Gare anmerkt, weniger darum, dass sie böse ist, als vielmehr »dumm, gedankenlos und unverantwortlich«. Die Sozialen Medien haben die Sprachlosigkeit, wie sie durch Reality-TV und Shows wie Big Brother verbreitet wird, nur weiter verstärkt. Wir sollten die zornigen Auslassungen dieser Autoren zu solchen leeren Kulturangeboten gegen den Strich lesen, um daraus eine nichtmoralisierende Analyse als Ausweg aus der Konsumfalle zu entwickeln.

15 | Ebd., S. 136. 16 | Sherry Gare, The Triumph of the Airheads and the Retreat from Commonsense, Sydney: Park Street Press, 2006, S. 11. 17 | Ebd.

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D IE W IEDEREINFÜHRUNG DER A NONYMITÄT Die dritte Möglichkeit, den Trend zur Selbstdarstellung und Selbstpreisgabe zu demontieren, besteht darin, über Anonymität im heutigen Kontext neu nachzudenken. Wie gewinnen wir eine Vorstellung von Anonymität zurück, in der es nicht um einen erreichbaren kategorialen Zustand geht, sondern darum, die Energie der Metamorphose und das Begehren, ein anderer zu werden, zu reaktivieren? Doch in der politischen Sphäre, erklärt man uns, haben wir überhaupt nicht mehr das Recht auf vollkommene Anonymität. 2009 verkündete der damalige deutsche Innenminister Thomas de Maizière in seinen »14 Thesen zu den Grundlagen einer gemeinsamen Netzpolitik der Zukunft«: »Der freie Bürger zeigt sein Gesicht, nennt seinen Namen, hat eine Adresse […]. Eine schrankenlose Anonymität kann es […] im Internet nicht geben.«18 – eine perfekte Zusammenfassung der Kultur der Selbstpreisgabe, die wir bei Facebook finden. In einer lebhaften Debatte fragte die deutsche Website Carta ihre Leser, ob es so etwas wie das Recht auf Anonymität gebe. Journalisten machen Schlagzeilen, wenn sie gewisse Identitäten enthüllen, während sie in anderen Fällen ihre anonymen Quellen schützen müssen. Es gibt Verhaltenskodizes zur Regelung dieser Fälle, aber wie steht es um die Rechte von Bürgern, die das Internet nutzen? Was geschähe mit dem demokratisierten Selbst, wenn seine Wahlentscheidungen öffentlich gemacht würden? Wäre das nicht der Augenblick für das Selbst, sich zu teilen und ein Double zu kreieren? Der amerikanische E-Demokratie-Aktivist Steven Clift ist besorgt über »die tiefgreifende Vergiftung von lokaler Demokratie und Gemeinschaften durch die anonymen Kommentare in Online-Zeitungen«.19 Für Clift ist die Verwendung echter Namen in lokalen Auseinandersetzungen ganz entscheidend. Dennoch ist nicht klar, wie wir mit denen umgehen würden, die unsere (politisch korrekte) Konsens-Kultur in Frage stellen. In einem System, das darauf abzielt, die Ausbreitung von Nonkonformismus zu verhindern, werden offene Persönlichkeiten und fließende Identitäten nur mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Die meisten Nutzer fühlen sich ohnehin nicht wohl mit einer parallelen Existenz; sie wollen sie selbst bleiben und sich in der schweigenden Mehrheit verstecken, während sie sich an informellen Dialogen innerhalb des »Walled Garden« beteiligen. Ich bin keine andere Version von mir selbst – und Facebook weiß das nur zu gut auszunutzen, was seinen Erfolg bei über einer halben Milliarde Mitgliedern Anfang 2011 erklärt. Doch unter gewissen kritischen politischen Umständen kann die aktivistische Nutzung von Facebook eine Reaktion von Thermidorianern her18 | www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2010/mitMarginalspal te/06/netzpolitik.html 19 | ht tp://groups.dowire.org /groups/newswire/messages/topic/6Qhy7BTkL XG XAr16uCarxs

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vorrufen,20 wie ich im Kapitel »Die Organisation von Netzwerken in Kultur und Politik« erläutere. Nichtsdestotrotz gibt es ein Jahrzehnt nach dem 11. September 2001 noch immer Hochburgen, in denen sich unterschiedliche Varianten von Anonymität gehalten haben, von Blogs, Wikipedia, P2P, Tor, Chatroulette bis zum Imageboard 4chan. Kurze, gehässige Bemerkungen sind schick und zunehmend anonym. Man kann diese Online-Kulturen auch als Ausdrucksformen von »Pseudonymität« interpretieren, die dem Anderen Selbst unter einem konstanten Nutzernamen einen ehrbaren Ruf verschaffen, zum Beispiel bei einem Wikipedia-Redakteur. Dieser »Status des Selbst« hat aber immer weniger Spielraum. Wir können uns zwar bei Second Life anmelden und den Avatar unserer Fantasien erstellen, indem wir eine virtuelle Welt nach unserem Geschmack entwerfen, doch solche Parallelidentitäten lassen sich nicht in andere Zusammenhänge übertragen. Chatroulette hat schließlich seine Regeln geändert. Klatsch und Tratsch kann ja gesund sein, aber auch tödlich in Milieus, in denen jeder dem anderen nachspürt. Während die alte – immer noch Mainstream- – Internetideologie behauptete, eine sichere Grundlage für die freie Rede zu bieten, beweist die Post-9/11-Wirklichkeit das Gegenteil. Raffinierte Verfolgungstechnologien, die von polizeilichen Ermittlern und Sicherheitsdiensten eingesetzt werden und die Internetprotokolladressen der User identifizieren, haben erfolgreich jede Online-Anonymität zerstört. Und doch, trotz dieser Tatsachen, hält die überwiegende Mehrheit der Internetbewohner das Netz noch immer für einen unkontrollierten und für jeden freien Spielplatz, auf dem man alles sagen kann, was man will.

A NONYMOUS IST NICHT DEIN F REUND »Wir sind anonym. Wir sind Legion. Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. Rechnet mit uns.« (Anonymous)

Hier wird ein gefährliches Szenario aufgebaut. Kollektives Selbstbewusstsein kann zu ernsthaften Fehleinschätzungen führen, wie es geschah, als die Gruppe, die sich selbst Anonymous nennt, die »Operation Payback« organisierte. Es handelte sich um eine Solidaritätskampagne für WikiLeaks, die die Internetseiten von Mastercard, PayPal und Visa lahmlegen sollte. Nach der Veröffentlichung geheimer Depeschen von US-Diplomaten im Dezember 2010 unternahmen Anhänger von Anonymous DDoS-Attacken gegen Internetseiten von Banken, die die Konten von WikiLeaks gesperrt hatten. Eine Internetsicher20 | http://en.wikipedia.org/wiki/Thermidorian_Reaction

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heits-Website meldete: »Zum ersten Mal handelten Personen mit minimalen technischen Kenntnissen wie professionelle Hacker und beteiligten sich an der Massenvernichtung technischer Infrastrukturen.«21 Oft junge und unerfahrene Nutzer luden Software auf ihren Computer (sogenannte Botnets), und ihre Identität (IP-Adresse) war für die Behörden natürlich leicht zu ermitteln. Eine Nachricht, die ursprünglich auf 4chan erschien, warnte jeden, der sich in IRCKanälen von Anonymous aufhielt oder das LOIC-Tool für DDoS-Attacken herunterlud und verwendete, dass die Strafverfolger seine IP-Adresse ermitteln könnten. Die Leute hinter der »Operation Payback« ließen sich einfach aufspüren. »Wenn man eine Presseerklärung im Namen von Anonymous versendet und die identifizierbaren Metadaten in der PDF-Datei lässt, kann man sich kaum noch vor der Polizei verstecken. Jemand namens Alex Tapanaris hat diesen unfassbaren Fehler begangen.«22 Solche Geschichten stehen exemplarisch für die Kluft zwischen Sicherheitshackern der alten Schule (um Gruppen wie 2600 und CCC), die DDoS-Attacken skeptisch gegenüberstehen, und der nihilistischen Popkultur von 4chan, die sich ausdrücklich von der Hackernomenklatur distanziert. Was wir hier erleben, ist eine Reprise der Debatten Ende der neunziger Jahre zwischen Programmierern und Aktivisten über die Strategien von »Hacktivisten«, diesmal jedoch in einem viel größeren Maßstab geführt. Letztendlich ist auch WikiLeaks nicht anonym.23 Die »Operation Payback« offenbart, wie schwierig es ist, der Online-Massenkultur grundlegende Sicherheitsbelange beizubringen. Die Gruppe Anonymous mag ja als geheimnisvolle Bewegung sexy sein, doch warum interessiert sie sich nicht für die Anonymität ihrer Mitglieder und 21 | www.netforttechnologies.com 22 | Jay Hathaway, »WikiLeaks Infowar Update – Assange Bail Stalled by Swedish Appeal, Anonymous Prepares for Arrests«, gepostet am 14. Dezember 2010. www.urles que.com/2010/12/14/WikiLeaks-infowar-assange-bail-anonymous-arrests/ 23 | In einem Interview-Chat mit Lesern des Guardian schrieb WikiLeaks-Gründer Julian Assange: »Ich habe mich ursprünglich hart dafür eingesetzt, dass die Organisation kein Gesicht bekommt, denn ich wollte nicht, dass Egos bei unseren Aktivitäten eine Rolle spielen. Darin folgten wir der Tradition der französischen anonymen reinen Mathematiker [sic!], die ihre Beiträge unter dem kollektiven Allonym ›Der Bourbaki‹ schrieben. Dies rief jedoch bald eine extrem störende Neugier hervor und führte dazu, dass irgendwelche Leute behaupteten, uns zu repräsentieren. Am Ende muss doch jemand gegenüber dem Publikum die Verantwortung übernehmen, und nur eine Führung, die bereit ist, öffentlich Mut zu beweisen, kann wirklich bewirken, dass Informationsquellen ein Risiko für das größere Anliegen auf sich nehmen. In diesem Prozess bin ich der Blitzableiter geworden. Ich erlebe unangemessene Angriffe auf jeden Bereich meines Lebens, aber dann bekomme ich zum Ausgleich auch wieder unwahrscheinlich viel Anerkennung.« www.guardian.co.uk/world/blog/2010/dec/03/julian-assange-WikiLeaks

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Unterstützer? Wir können diese Frage umgekehrt auch Hackern stellen: Wäre es nicht klüger, zuzugeben, dass es keine absolute Anonymität mehr gibt – falls es sie je gegeben hat? Es gibt eben Risiken, wenn man sich auf Akte zivilen Ungehorsams einlässt. Der weißrussisch-amerikanische Netzkritiker Evgene Morozov nannte die DDoS-Attacken »einen legitimen Ausdruck von Widerspruch«.24 Das mag ja der Fall sein, auch wenn virtuelle Sit-ins vielleicht nicht den gleichen rechtlichen Status wie Streiks oder Demonstrationen haben. Es stellt sich aber die Frage, ob anonymer Protest wirklich ein grundlegendes Bürgerrecht ist. Wenn Wahlen anonym bleiben – eines der Argumente gegen zweifelhafte elektronische Wählmaschinen –, welche Aktionen bringen uns dann dazu, aufzustehen und öffentlich unsere Meinung zu äußern? Oder ist das zu gefährlich geworden, wie wir es in heutigen autoritären Regimes erleben? Wenn wir die Selbstverständlichkeit von Facebook und seines Algorithmus des »Befreundens« in Frage stellen, tun wir bereits einen ersten Schritt hin zur Ablehnung konzernkontrollierter Social-Media-Plattformen: »Ich möchte lieber nicht.« Der nächste Schritt könnte darin bestehen, aktiv neue Manifestationen kollektiven anonymen Handelns zu gestalten: »Ich muss anonym werden. Um präsent zu sein.«25 Anonymität als Spielübung kann eine notwendige Illusion sein, um einen vor der Idee des wahren Selbst zu bewahren, das Facebook als einzig mögliche Option propagiert. Man will uns glauben lassen, dass es hinter der Maske kein wahres Gesicht gebe, oder uns vielmehr fragen lassen, was die Maske verbirgt, und nicht, was ihr Träger darstellt. Demgegenüber müssen wir das Potential des Internets für die Performance des Selbst und das kreative Spiel deutlich machen. Es genügt nicht mehr, ein Verfassungsrecht für eine anonyme Wahl zu verlangen. Trolle, Zombies und andere Pseudopersonen vereinigen sich in Bewegungen wie Anonymous. Egal, ob man Proteste für WikiLeaks oder gegen Scientology organisiert – Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass »Sichtbarkeit und Transparenz nicht mehr Zeichen für demokratische Offenheit sind, sondern von administrativer Verfügbarkeit«. Wie hängen öffentliche Sichtbarkeit und strategische Camouflage in einem Online-Kontext zusammen? Werden wir »zwischen der Hyperpräsenz einer Maske und visueller Redundanz oszillieren«?26 Was können wir tun, um unsichtbar, unentdeckbar zu werden? Dazu Matthew Fuller: »Dies impliziert die Erzeugung einer umgekehrt strukturel24 | http://neteffect.foreignpolicy.com/posts/2010/12/16/should_we_ban_sit _ ins_because_crazy_people_can_abuse_them_too 25 | Tiqqun, How is it to be done?, http: tiqqunista.jottit.com/how_is_it_to_be_done %3F. 26 | Nachwort von Andreas Broeckmann und Knowbotic Research, in Andreas Broeckmann und Knowbotic Research (Hg.), Opaque Presence, Manual of Latent Invisibilities, Edition Jardin des Pilotes, Zürich: Diaphanes, 2010, S. 148.

Facebook, Anonymität und die Krise des multiplen Selbst

len Kopplung zwischen dem, was als ungesehen existiert, und dem, was noch blind dafür ist, eine wechselseitige Entfaltung von Unempfindlichkeit, in der beides voneinander wegdrängt.« Fuller nennt dies die »Ästhetik unempfindlicher Dinge«.27 Das Gegenmodell zu dieser Strategie des Verschwimmens im Hintergrund ist die Burka als künstlerisches Mittel zur Einmischung in den öffentlichen Raum. Die Burka erweist sich als ultimative Provokation der westlichen Transparenz als Kulturideal und Norm des universalen Lebensstils.28 1929 schrieb Virginia Woolf in Ein eigenes Zimmer: »Ich wage zu vermuten, dass Anon, die so viele Gedichte schrieb, ohne sie zu signieren, oft eine Frau war.« Im Kontext der Sozialen Medien stellt sich die Frage, wie sich OfflineHandlungen in die Gleichung integrieren lassen, ohne aus der realen Welt die nächste snobistische Welle zu machen. Können die existierenden Plattformen nur im Schatten künftiger Ereignisse genutzt werden? Netzwerke leisten durch ihre »weak ties« die Vorarbeit; genau darin sind sie gut. Ihre Rolle in der Echtzeitkommunikation, wenn die Ereignisse stattfinden, wird überschätzt. Wenn alles funktionierte, hätten Netzwerke längst die Erosion existierender Machtstrukturen in Gang gesetzt. Was wird geschehen, wenn wir einmal die Angst vor Überwachung und Kontrolle verlieren? Wird anonymes Handeln, wie das Abstimmen bei öffentlichen Wahlen, nicht mehr nötig sein, weil diese Informationen durch andere Mittel öffentlich zur Verfügung gestellt werden? Oder sollten wir vorsichtig bleiben und den Maskenball als vorübergehenden Ausnahmezustand betrachten?

27 | Ebd., S. 44. 28 | Siehe das Tele-Trust-Projekt von Karen Lancel und Herman Maat, bei dem die niederländischen Künstler sich in einer (vernetzten) Burka bewegen. Das Projekt will sich damit auseinandersetzen, wie wir uns untereinander als vernetzte Körper vertrauen können. »Musst du meine Augen sehen, um mir zu vertrauen? Müssen wir uns berühren?« www.v2.nl/archive/works/tele_trust

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Traktat über die Kommentarkultur In Erinnerung an die deutsche Medientheoretikerin Cornelia Vismann (1961-2010) »In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden.« Friedrich Nietzsche »Wo kommt Information her? Es gibt nur eine Quelle, und das ist der lebende Mensch. Eine Nachricht, die ich erhalte, verwandele ich zu Information. indem ich sie interpretiere. Die Interpretation ist die Arbeit, die aufgewandt werden muss, um eine Nachricht, eine Signal- oder Bitkette, in Information zu verwandeln.« Joseph Weizenbaum

Es steckt nicht mehr viel Leben im Long Tail. Liest irgendjemand noch Blogs? Persönliche Blogs erhalten selten Kommentare, ein Aspekt, den ich in dem Essay Blogging, der nihilistische Impuls untersucht habe.1 Entweder haben die Blogbetreiber die Möglichkeit, Kommentare zu hinterlassen, abgeschaltet, ihr Blog auf Moderationsmodus eingestellt oder einfach vergessen, die aufgelaufenen Antworten freizugeben. Kommentare sind schwer von Spam zu unterscheiden. Außerdem haben Blogs nur wenig Traffic. Es gibt vielleicht neun Anhänger, rund ein Dutzend Freunde und 43 Aufrufe des YouTube-Videos. Das ist die harte Realität, wie sie im »Power Law« dargelegt ist. Der Long Tail und die »meistbesuchten Seiten« sind keine Gegensätze, wie Clay Shirky 2003 in seinem Posting Powerlaws, Weblogs, and Inequality schreibt: »Ein neues soziales System entsteht, und es scheint erfreulich frei vom Elitedenken und der Cliquenwirtschaft der existierenden Systeme zu sein. Dann treten, während das 1 | In: Geert Lovink, Zero Comments, Elemente einer kritischen Internetkultur, Bielefeld: transcript, 2008.

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neue System wächst, Probleme mit der Größe auf. Nicht jeder kann an jeder Konversation teilnehmen. Nicht jeder wird gehört. Manche Kerngruppe scheint besser angeschlossen zu sein als die Übrigen.«2 Während mein letztes Buch, Zero Comments, die durchschnittlichen Blogs behandelte, untersucht der erste Teil dieser Abhandlung das andere Ende des »Power-Law«-Modells und entwickelt eine Theorie der Kommentarkulturen, die eine kritische Masse erreicht haben. Antworten locken neugierige Besucher an und lösen weitere Reaktionen aus. Die Grundregel für das Zusammenkommen großer Menschenmengen, wie Massenpsychologen sie beschreiben, gilt auch für das Internet und scheint damit zu tun zu haben, dass die Massen ihre eigene Präsenz feiern, indem sie einfach ihre schiere Quantität demonstrieren. Wie wir in Elias Canettis Hauptwerk Masse und Macht lesen, entwickelt sich das Anschwellen und die Dichte der von Gerüchten angeheizten Masse scheinbar unaufhaltsam. Der Mob wird unbesiegbar. Im Web sehen wir ähnliche Konzentrationen von Usern. Statt sich über das gesamte Netz zu verteilen, bündelt sich die Debattenkultur auf ein paar Websites, oft bezogen auf bestimmte Autoren, Themen und ausgedehnte Diskussionsstränge. Je mehr Neuigkeiten und je schneller der Wechsel der Postings, desto mehr Nutzer neigen auch dazu, eigene Kommentare abzugeben. Man sieht dieses Muster überall, von Foren, Blogs über Twitter bis zu Nachrichten-Websites.

TALKING B ACK TO THE W EB Die Freiheit zu antworten ist schon lange ein zentrales Feature des Internets, vergleichbar mit File Sharing und dem Online-Publizieren selbst. Netzwerkkulturen sind überwältigend »diskursiv« und haben Kommentarmengen in bislang ungekanntem Ausmaß hervorgebracht. Partizipation hat sich von einem Sonderfall, für den man erst kämpfen musste, zur völligen Normalität entwickelt und wird auf kommerziellen Plattformen nicht nur erwartet, sondern sogar aktiv eingefordert. Als eine der verbreitetsten (da einfachsten) Formen der Kommunikation gehört die Praxis des Kommentierens nicht nur zum Kernbestand von Blogs und Foren, sondern bestimmt auch die Erfahrungen beim Social Networking und Twittern (auch bezeichnet als Micro-Blogging), die ganz auf Antworten ausgerichtet sind. Diese unzähligen profanen Formen des öffentlichen Diskurses beherrschen zunehmend die täglichen Interaktionen der Online-Milliarden. Im Kontrast zu den traditionellen Medien, die ihre Inhalte in hierarchischer Manier »pushen«, wird das Internet als sich ewig wandelnder, aber doch auf Gleichberechtigung basierender sozialer Raum wahrgenommen. Die klassi2 | Clay Shirky, »Power Laws, Weblogs, and Inequality«, 8. Februar 2003.

Traktat über die Kommentarkultur

schen Leserbriefe der Zeitungen weckten dagegen – als eine Art »produzierte Unzufriedenheit« – eher Misstrauen. Ihre Wirkung war zudem gering, weil sie vor allem als Beleg für die »repressive Toleranz« der Herausgeber gelesen wurden, zudem war für die Lesermeinungen auch nur wenig Raum reserviert. Im Unterschied dazu sind Online-Inhalte von einer lebendigen sozialen Sphäre begleitet, die sich um die Postings gruppiert, nicht allein auf der Ebene von Kommentaren, sondern auch durch Verlinkung zu anderen Postings, Tweets und ähnlichem, ergänzt durch die »Share«- und »Recommend«-Buttons der Sozialen Medien. Das ist zumindest die Ideologie, und für manche reicht es auch schon, auf die technologische Möglichkeit zu verweisen. Die Wirklichkeit sieht aber oft anders aus. Selten erlebt man, dass die Leute in ihren Stellungnahmen tatsächlich miteinander kommunizieren. Lebendige Debatten sind die Ausnahme und hängen oft von der arbeitsintensiven Lenkung durch Moderatoren im Hintergrund ab. Kommentarkulturen sind keine aus sich selbst heraus entstehenden Systeme, sondern orchestrierte Arrangements. Das ist, selbst für Insider, nicht immer offensichtlich. Die meisten von uns lassen sich gerne von ihrem Techno-Optimismus blenden und glauben, dass die bloße Verfügbarkeit offener Antwortfunktionen zu angeregten Diskussionen führt und ein tieferes, höheres und reicheres Verständnis des jeweiligen Themas hervorbringt. Der Aufbau einer aktiven Kommentarkultur würde jedoch ohne eingebundene Autoren, Redakteure und Moderatoren gar nicht funktionieren. Immer wieder hat das Denken des 20. Jahrhunderts bewiesen, dass Texte und Leser ein und dasselbe sind, da der Text sich erst durch interpretative Konventionen konstituiert. Hier ging es aber noch um einen imaginativen Prozess, der in den Köpfen der Leser stattfand. Inzwischen ist die Interaktion mit dem Publikum eine Tatsache, nicht nur in Bezug auf den Text oder das Kunstwerk, sondern sogar mit dem Autor selbst, über Twitter, Blogs, Call-ins, oder live bei Konferenzen, Festivals und Talkshows.3 Wir dürfen nicht vergessen, dass in 3 | Ein Beispiel: »Während der letzten fünfzig Jahre haben Künstler die Präsenz des Publikums zunehmend in die Konzeption, Produktion und Präsentation ihrer Arbeit einbezogen. Without You I’m Nothing: Art and its Audiences umfasst Arbeiten aus der Sammlung des MCA, die eine kulturelle Verschiebung hin zu einer stärkeren Einbindung des Einzelnen in den Bereich des Öffentlichen verdeutlichen.« Diese Ausstellung im Chicagoer MCA zeigte Künstler, »deren multidimensionale Arbeit die Interaktion mit dem Publikum in Anspruch nahm, um zu reflektieren, wie Architektur und Internettechnologie eine stärkere Vernetzung der sozialen Sphäre gefördert haben. In den vergangenen Jahren haben sogar Künstler, die mit Film und Video arbeiten, etwa Aeronaut Mik, die Idee des klassischen Zuschauerraums aufgegeben und stellen ihre kinematischen Narrative in den Rahmen einer architektonischen oder skulpturalen Präsentation, die der Betrachter ablaufen muss, um sie ganz erfahren zu können.« E-Flux, 25. Dezember 2010.

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diesem Zeitalter der Selbstrepräsentation Kommentare oft gar nicht in direkte Konfrontation mit dem Text oder dem Kunstwerk treten. Das heutige Antwortverhalten sucht keinen Eins-zu-Eins-Dialog mit dem Urheber. Die Kommentarkultur muss dabei von Online-Dialogen und -Diskursen unterschieden werden. Eine andere Lesart ihres Florierens wäre auch, dass sie Traffic s(t)imuliert. In erster Linie aber sind Kommentare eine Softwarefunktion (die man an- und ausschalten kann) und stehen letztlich in Zusammenhang mit den Gewinnzuflüssen der Service-Provider, die uns dazu ermuntern, etwas gegenüber anderen auszusprechen, allerdings weniger, mit ihnen zu sprechen. Die User sind sich dieses zugrundeliegenden Wirtschaftsprinzips durchaus bewusst, und ihre oft zynischen Beiträge spiegeln wider, dass sie genau wissen, wie ihre Kommentare zur Bekanntheit der Plattform beisteuern, und im Speziellen zur Anteilnahme am jeweiligen Thema oder Diskussionsstrang. Die Kommentarkultur im Internet ist das Gegenteil dessen, was Adorno als den »Jargon der Eigentlichkeit« beschrieb. Statt ihre Sprache als »Kennmarke vergesellschafteten Erwähltseins, edel und anheimelnd in eins«4 zu verstehen, orientieren die User sich am niedrigsten Niveau, oft im Namen der Kürze. Häufig hören wir auch, dass Online-Kommentare die unverfälschte Stimme der Menschen wiedergeben. »Bedenken« dazu sollen hier nicht geäußert werden. Das wäre eine zu freundliche Darstellung. Wir können den Aufstieg der »Online-Re:Aktionen« nur als eine zunehmende Bereitschaft verstehen, öffentlich Feindseligkeiten zu verbreiten. In einem Mix aus Slang, werbeähnlichen Slogans und halbfertigen Urteilen vermischen die User lauter Phrasen und Behauptungen, die sie irgendwo mal gehört oder gelesen haben. Small Talk wäre der falsche Begriff dafür. Was hier vorgeführt wird, ist der verzweifelte Versuch, gehört zu werden, irgendwie Einfluss zu nehmen und eine Markierung zu hinterlassen. Diskussionsbeiträge dienen nicht mehr dazu, den Autor zu »korrigieren« oder zum »General Intellect« beizutragen – sie sollen Wirkung zeigen. Warum sollte man nun bei den Kommentarschreibern mitmachen? Wenn man einen Artikel gelesen, ein Foto gesehen oder ein Status-Update entdeckt hat und darauf gerne reagieren möchte, muss man sich registrieren (falls man nicht innerhalb der Facebook-Mauern ist), den Identitäts-Check absolvieren (Echtname, zweimal die E-Mail-Adresse, URL oder Website eingeben) und dann einfach seine 2 Cent eintippen und auf »fertig« drücken. Einmal »aktualisieren« anklicken, und schon ist sie da: die eigene Mikromeinung. Etwas später kehrt man vielleicht noch mal zum Artikel zurück und schaut nach, ob irgendwas passiert ist, und wenn, ob der Autor, ein Moderator oder andere bekannte Teilnehmer den Punkt aufgegriffen haben (falls es einen gab). Man wartet noch auf weitere, aber ihr dringend benötigter Beitrag kommt nicht, oder leider, wie 4 | Theodor W. Adorno, Der Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1964, S. 5.

Traktat über die Kommentarkultur

es Bob Stein in seinem »umgekehrten Gesetz des Kommentierens im offenen Web« formuliert hat, »je mehr man sich wünscht, die Kommentare von jemandem zu seinem Text zu lesen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass derjenige auch gewillt ist, an einem offenen Forum teilzunehmen.«5 Obwohl frühe Internetkulturen wie Usenet, Mailinglisten und Foren schon mit Trollen, Anonymität und Gewaltdrohungen zu tun hatten, sind Größenordnung und Sichtbarkeit der heutigen Massenkommentare von einer ganz anderen Kategorie. Das Schreien und Johlen als Niedergang der Zivilisation anzusehen, ist dabei eine zu simple Betrachtung. Aus meiner Sicht könnte man die heutigen Kommentarkulturen eher als Perpetuum mobile verstehen. Was besonders an ihnen auffällt, sind ihre unberechenbaren Sprünge. Unwahrscheinlich, dass man alle Kommentare liest – 54? 156? 262? –, aber es bleibt die Faszination und der Schrecken der nackten Zahlen. Willkommen im Zeitalter der Massenhermeneutik – aber wie gewinnen wir solchen Mengen einen Sinn ab? Können wir neue Wege finden, um diese Beiträge zu interpretieren, oder sind sie einfach nur Lebenszeichen einzelner User, Special Effects des interaktiven Systems, die nicht weiter beachtet werden müssen? Auch wenn wir nicht auf den Informationsüberflutungszug aufspringen und diese Daten mit Clay Shirky als »Filterversagen« interpretieren – sollen wir das alles ignorieren und einfach weitermachen? Um nur zwei Beispiele zu nennen: An einem beliebig ausgewählten Tag verzeichnete die vor allem von Nerds frequentierte Slashdot-Homepage 15 Berichte und im Durchschnitt 135 Kommentare pro Bericht; am selben Tag gab es auf dem populistischen niederländischen Schockblog Geen Stijl pro Bericht durchschnittlich 223 Kommentare, bei einem Maximum von 835.6 Allerdings besteht keine Möglichkeit, herauszufinden, wie viele Kommentare von denselben Leuten, aber unter verschiedenen Usernamen, abgegeben wurden. E-Mails der amerikanischen CybersecurityFirma HBGary Federal, die in den Besitz der Anonymous-Gruppe kamen, bestätigen, dass Unternehmen »Persona Management Software« einsetzen, die die Aktivitäten jedes bei ihnen angestellten »Users« bei der Förderung oder Bekämpfung einer bestimmten Angelegenheit vervielfachen, sodass der Eindruck einer gewaltigen Unterstützung des Anliegens ihrer Klienten (Firmen oder Regierungen) geschaffen wird. Die Software erzeugt alle Online-Features, die auch eine reale Person besäße: Name, E-Mail-Adresse, Webseite und Social-

5 | Bob Stein, Posting auf dem if:book blog, 10. November 2010. http://www.future ofthebook.org/blog/archives/2010/11/ 6 | Zahlen vom 27. Dezember 2010.

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Media-Identität.7 Und hat vielleicht auch schon jemand vom »YouTube Comment Poster Bot« gehört?8 Entweder ignorieren wir den Inhalt, oder wir beteiligen uns, aber was ist eigentlich die Politik der Kommentare? Welchen Stellenwert genießen sie in der Aufmerksamkeitsökonomie? Wissen wird durch Dialog und Antworten überprüft, und vermutlich erreicht es durch diesen Prozess des Nachhakens und Abklopfens einen höheren Rationalitätsgrad. Kybernetik für alle: Feedback und Input sind heute die Standardverfahren fast aller institutionellen Aktivitäten. Feindseligkeit und schlechte Laune gehören bei diesem prozesshaften Denken dazu. Auf Nachrichten-Websites, wo Kommentare Pflicht sind, gilt das sogar noch mehr. Wie entkommen wir der zynischen Deutung von Kommentaren als einem notwendigen und doch vergeudeten menschlichen Zwang?

E INE A RCHÄOLOGIE DES K OMMENTARS Vergleichen wir einmal die Online-Kommentarkultur mit der Tradition der Hermeneutik und der Philologie, um so vielleicht ihre zugrundeliegende Architektur zu Tage zu fördern. Gibt es eine durchgängige Linie in der Tradition des Interpretierens? Ein Vergleich mit den Tora-Kommentaren in der jüdischen Tradition liegt auf der Hand, aber wollen wir eine solche direkte Gegenüberstellung? In der Hermeneutik, also der philosophischen Praxis, die sich der »Auslegung« verschiedener literarischer Texte widmet, stehen die Kommentare fast ausschließlich in Zusammenhang mit Papierausgaben kanonischer Schriften. Das spricht jedoch nicht dagegen, uns Erkenntnisse und Kategorien auszuleihen oder sogar die Philologie selbst als eine Metapher zu lesen. Ein paar Mal Suchen und Ersetzen eingeben, und wir erhalten interessante, aber auch vorhersehbare Ergebnisse. Wenn wir zum Beispiel über die wachsende Bedeutung von Antwortgebern reden, ist die Bezugnahme auf die Rolle des Chors im griechischem Drama allzu sinnfällig. Die Mediengeschichte zeichnet sich nicht durch einen linearen Fortschritt hin zu offenen Texten aus. Stattdessen sehen wir Wellen von Intensitäten, die sich um die Plattform des Tages versammeln. Dies gilt besonders für den Kom7 | Diese Information ist George Monbiots Blog entnommen, Eintrag vom 23. Februar 2011. www.monbiot.com/2011/02/23/robot-wars/ 8 | »Entdecken Sie den Bot, der einem hunderte, ja tausende Besucher jeden Tag bringt. Mit dem YouTube-Kommentar-Poster-Bot bekommt man absolut sicher die Aufmerksamkeit, die man sich wünscht. Durch die Zusammenarbeit mit einigen der TopInternetmarketing-Gurus und Super-Partner im heutigen Business haben wir endlich eine einfache Lösung gefunden, wie wir Ihre Websites mit gezieltem Traffic fluten können.« http://youtubecommentposterbot.com/

Traktat über die Kommentarkultur

mentar. Die Anthologie, die uns direkt nach Mesopotamien und in die Zeit des alten Ägyptens zurückführt, ist Jan Assmanns und Burkhard Gladigows Text und Kommentar von 1995. Sie entspringt dem »althistorischen« Flügel der deutschen Medientheorie, der sich mit der Archäologie der literarischen Kommunikation beschäftigt. In der Einführung führt Assmann als früheste Erscheinungsform eines Textes die von einem Boten gelieferte und somit von der unmittelbaren Sprechsituation abgelöste »wiederaufgenommene Mitteilung« an.9 Er berichtet von einer Konferenz von 1987, die allein den frühesten Formen der Kanonisierung gewidmet war: Ist ein Text einmal fixiert, ohne dass ihm noch etwas hinzugefügt oder etwas geändert wird, kann dann diese Schrift zu einem »Gründungstext« werden, der bestimmte Praktiken oder Abläufe (etwa Gesetze) definiert? Erst nach dem Abschluss des Textes sehen wir das Aufkommen von Kommentaren, und dann wird er offen für die Interpretation. Assmann greift auf einen breiten, kulturübergreifenden Textbegriff zurück. Das lateinische Wort textus (das für ein Gewebe von sprachlichen Zeichen steht) gerät in Gegensatz zu commentarius. Was den frühen Text definiert, ist nicht seine materielle Speicherform, sondern die Übertragung von Verbindlichkeit. Kulturelle Texte, die sich von zugangsbeschränkten heiligen Texten unterscheiden, sind allgemeiner Besitz des Volkes, deren Exegese erlaubt ist. Die Kommentare kommen dann zustande, wenn diese Texte von einer zur nächsten Generation im Kontext von Unterrichten, Lernen und Lesen weitergegeben werden. In diesem Prozess interpretiert der Schüler den Text als Teil seiner Erfahrung des Lernens. Verstehen hingegen, wie Assmann herausstellt, setzt die mündliche Erklärung voraus, die er auch Hodegetik nennt.10 Wie werden Kommentare zu Texten über längere Zeit aufbewahrt und von einer Generation zur nächsten weitergegeben? In der späten Gutenberg-Ära geschah dies vor allem durch kritische Editionen. Mit der Produktion kommentierter Gesamtausgaben im 19. Jahrhundert verschob sich der Schwerpunkt aber vom Kommentar zur Entstehungsgeschichte und zur Kritik. Diese Entwicklung spiegelt sich wider in der Trennung der Profession des Herausgebers klassischer Texte von der des literaturgeschichtlichen Kommentators. Nach 9 | Jan Assmann in der Einführung von Text und Kommentar, München: Wilhelm Fink Verlag, 1995, S. 9. 10 | Die Hodegetik unterrichtet Studenten in der Theorie des Studierens, die noch nicht in der Lage sind, selbständig zu studieren, und der Lehrer unterstützt sie dabei durch das Kommentieren des Textes. Hermeneutik auf der anderen Seite ist die Kunst des eigenständigen Lesens. Assmann schließt seine Einleitung so: »Der Kommentar entsteht als schriftliche Kodifizierung der zunächst mündlich gegebenen Erläuterungen im Übergang zum einsamen Lesen.« (S. 31) Damit wird klar, warum Assmann Hodegetik, Hermeneutik und Dekonstruktion als drei aufeinander bezogene Stufen im Umgang mit dem Text versteht.

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Bodo Plachta fand der Schritt, Kommentare wieder mit einzubeziehen, um 1970 herum statt (mit den neuen Kleist- und Heine-Ausgaben), wie er in der »Kommentar«-Ausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte von 200911 schreibt. Es ist ebenfalls Plachta, der auf die Relevanz der Kommentare jenseits der akademischen Welt hinweist, den grenzenlosen Raum der digitalen Medien, und wie einfach es heute ist, Veränderungen vorzunehmen. In ihrem Essay »Kommentar, Code und Kodifikation«12 betonen Markus Krajewski und Cornelia Vismann den kurzzeitigen und lebendigen Aspekt von Kommentaren. Natürlich sind Kommentare auch Text – so wie Dekonstruktion selbst eine Form des Kommentars.13 Aber was sie von anderen Texten unterscheidet, ist ihre unfertige Natur. Sie haben keinen Abschluss. Während andere Texte als hermetisch oder endgültig begriffen werden können, versteht man den Kommentar eher als oral, informell, schnell und fluid. Kommentare kreisen um den statischen, unflexiblen Quellentext. Seit Manuskripte Ränder haben, ist dort auch Platz für Kommentare vorgesehen, die das stille Original zum Leben erwecken. Um den Internet-Kommentar besser zu verstehen, könnten wir aber auch seinen oralen Hintergrund genauer ausleuchten. In einer aufgeheizten Diskussion hören wir oft nicht mehr genau, was andere sagen. Etwas Ähnliches passiert auch, wenn wir Texte überfliegen oder uns durch Kommentare klicken. Der Anteil an Informationen, die wir nicht »hören«, ist bei der Benutzung von Suchmaschinen sogar noch höher. Krajewski und Vismann geben einen Überblick über die Geschichte des römischen Rechts, seine einst lebendige Kultur des Kommentars, und wie 533 n. Chr. alles im Codex »kodifiziert« wurde. Von da an waren keine zusätzlichen Kommentare mehr erlaubt. Das Buch wurde nach dem Gesetz zu einem abgeschlossenen Gegenstand. Diese Aufspaltung zwischen eingefrorenem Text und unerwünschtem Geplauder hat die westliche Diskursproduktion seitdem verfolgt: Ist ein Text einmal abgetrennt und kodifiziert, kann er nicht mehr in einen zwanglosen Austausch zurückgeführt werden. Was innerhalb des Rechtssystems abgewürgt wurde, hat die Computerindustrie aber mit der Wiedereinführung der Kommentare als effektivem Bestandteil der Softwareproduktion wieder aufgegriffen. Ganz ähnlich wie die Gesetzgebung im 6. Jahrhundert ist es nun der Compiler, der den Quellcode kodifiziert. Der Text besteht wortwörtlich aus Quelle und Code. Kommentare werden nicht ausgegrenzt, sondern 11 | Bodo Plachta, »Philologie als Brückenbau«, Zeitschrift für Ideengeschichte. Kommentieren. Heft III/1, München: C.H.Beck, 2009, S. 17-32. 12 |Markus Krajewski, Cornelia Vismann, »Kommentar, Code und Kodifikation«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte. Kommentieren, S. 5-17. 13 | Zumindest bis zu Seesmics Einführung von Video-Threads, zum Beispiel auf vlogs (Video-Blogs), wo User ihre Stellungnahmen von ihrer Webcam oder ihrem Smartphone aus abschicken.

Traktat über die Kommentarkultur

sind in Verbindung mit dem ausführbaren Code lesbar. Nur durch den Compiler werden sie voneinander getrennt. Dann machen Krajewski und Vissmann einen überraschenden Sprung und gehen auf das »Request for Comments«-Verfahren (RFC) der Internet Engineering Task Force (IETF) ein. Gemäß der offiziellen Geschichte des Internets erzeugt diese Feedback-Schleife von Kommentaren einen Netzwerk-Code (oder ein Protokoll, wie es Alex Galloway versteht), der im Gegenzug eine nächste Welle von Kommentaren auslöst, die wiederum in neuem Code kulminieren. Die Autoren schließen daraus, dass auch in diesen Fällen die Macht des Codierens, wie unsichtbar auch immer, noch da ist. Wenn, technisch gesehen, der Compiler einen Quellcode kodifiziert, wie kann man sich dann die Mechanismen vorstellen, die Blog-Kommentare in einen Folgetext verwandeln? Für den gewöhnlichen User gibt es – noch – keine Kodifikationsverfahren. Das ist auch der Punkt, an dem für Krajewski und Vismann die Kittler’sche Analogie mit ihrer Betonung auf der Vorherrschaft des Betriebssystems enden muss. Während die Verwobenheit von Code und Kommentar für Programmierer offenkundig ist, gilt für die Nutzer grafischer Interfaces das Gegenteil. Zwischen Donald Knuths »Literate Programming«-Prinzip, das die Vorteile der unmittelbaren »Kommunikation« des Programmierers mit dem Computer herausstellt, und extrem abgeschirmten Umgebungen wie Facebook, wo absolut gar nichts mehr programmiert werden kann (aber die User sich ständig untereinander kommentieren), gibt es einen tiefen Riss. Aus der Perspektive der gegenwärtigen chaotischen Situation sind Programmierer, die die besten Kommentare herausfischen und auf die nächste Ebene des Diskurses heben (wie es Krajewski und Vismann für den Juristen Tribonian [† 542] beschreiben, der diese Methode anwandte, um die gesetzlichen Regeln des römischen Reichs zu überarbeiten), Wesen aus einer fernen Zukunft. Vielleicht könnte man eine solche Aufgabe bei der Gestaltung des Web 3.0 in Betracht ziehen. Im Editorial zur Kommentar-Ausgabe der Zeitschrift bemerken Vismann und Krajewski, dass bis zur Zeit Hegels das Kommentieren klassischer Texte in das Repertoire der Philosophie fiel. Anmerkungen zu machen war keine bloße Fertigkeit, es war Teil einer Lebenskunst. Im 19. und 20. Jahrhundert verschwand das Schreiben von Kommentaren jedoch aus dem Blickfeld der Wissenschaft und wurde bis zum Erscheinen des Internets nur noch von Rechtsgelehrten, Theologen und Herausgebern von Werkausgaben praktiziert. Trotzdem hat, wie sie betonen, der Kommentar seine Kraft, signifikante Texte hervorzubringen, nicht verloren. Und hier werfen wir unseren Anker, um die Rolle der Kommentare in der zeitgenössischen Internetkultur weiter zu untersuchen.

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N ACH DER Z ÄHMUNG DER K OMMENTATOREN Wir sollten nun nicht dem Irrtum erliegen und glauben, dass nur alte Gesellschaften uns einen Einblick verschaffen, wie eine einst reine und medienfreie Menschheit die Geburt des Kommentars erlebte. Allerdings können wir bestimmte Elemente aus den Erzählungen der Historiker verwenden, etwa die Rolle des kulturellen Gedächtnisses, und sie auf das Zeitalter der demokratisierten Mediennutzung übertragen. Im Gegensatz zum gedruckten Kommentar ist die heutige Kommentarkultur das Produkt einer techno-säkularen Ära. Ihr Zweck besteht in einer amoralischen Form der Partizipation, die entwickelt wurde, um herauszufinden, was in den Leuten vorgeht und worauf sie reagieren. Die Textströme werden von neuen Autoritäten gestaltet und eingerichtet, nicht mehr von Lehrern oder Priestern, sondern von Ingenieuren. Sie haben Systeme geschaffen, die nicht mehr allein auf die Interpretation des Textes selbst ausgerichtet sind. Nicht was der Text genau »sagt«, interessiert uns, als vielmehr seine weitere Ökologie. Statt in genauem Lesen üben wir uns in intuitivem Scannen. Wenn wir einen Kommentar abgeben, handelt es sich oft um eine ironische Meta-Bemerkung, eine Beobachtung, welche möglichen Implikationen das jeweilige Posting haben könnte – oder was der Star-Autor meinen könnte. Inhalte werden nicht mehr in einem leeren Raum betrachtet, sondern automatisch innerhalb ihrer politischen, kulturellen und medialen Kontexte gelesen. Das ganze mediale System von Texten, bewegten Bildern und dem LiveMedienerlebnis wird abgespeichert und durch Wiederverwendung und Remixen vervielfältigt. Wir müssen die Unterscheidung in Hoch- und Trivialkultur überwinden und den Internet-Angriff der Kommentare gegen den Strich lesen, als Blaupause für eine Gesellschaft, in der das Kommentieren ein fest eingebautes Ausstattungsmerkmal aller Kommunikationsgeräte und Dienste sein wird. Schauen wir doch noch einmal beim deutschen Meister der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts nach, der aktualisierte Hans-Georg Gadamer 2.0 könnte es nämlich so sehen: Wenn die Ontologie des Verstehens und die Hermeneutik der Interpretation miteinander verwoben sind, wie Paul Ricœur behauptet, und wir uns ernsthaft bemühen wollen, »die Medien zu verstehen«, können wir die OnlineExegese nicht länger als bloßes Rauschen beiseiteschieben. Manche sehen in einem solchen Projekt sogar eine Zukunftsperspektive für die gefährdeten Geisteswissenschaften.14 In einer Studie über die Gedichte Bertolt Brechts betont Walter Benjamin die Rolle des Kommentars bei der Entstehung von klassischen Texten. Heute bestimmen Online-Kommentare zu einem wesentlichen Teil die

14 | Siehe Hans-Ulrich Gumbrecht, Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

Traktat über die Kommentarkultur

Wirkung des Netzes, und sie zu ignorieren oder dieses Element zu übersehen heißt, dass man nur die Hälfte verstanden hat. »Keine Geschichte ohne Mediengeschichte« schrieben die Herausgeber der Zeitschrift. Wir sollten diese Einsicht in zukünftige Szenarien implementieren. Auf welchen Designkonzepten könnte eine reiche, vielfältige und kontroverse Kommentarkultur aufgebaut werden? Wie sähe ein zeitgenössisches Text-Kuratorium aus – eines, das aktiv die quantitative Wende der Internet-Kommentarkultur annimmt und daraus etwas macht? Wie können wir den abgedroschenen Klagen über »Trash« und »Informationsüberflutung« entkommen? Die Frage, die es zu beantworten gilt, ist, wie eine »verteilte Schrift« aussehen würde. Einen Zugang bietet hier die Tradition des Hypertexts. Wissen ist heute in einem Netz von Hyperlinks organisiert und dabei offen für Kommentare und Kollaborationen. Das mag banal und utopisch zugleich klingen. Die Beziehungen zwischen primären und sekundären Texten verschieben sich, mit enormen Implikationen.15 Wie können Kommentare, selbst wenn sie von Millionen gepostet werden, den (Seiten-)Rändern entkommen und in die Quelle integriert werden? Oder sollten wir die zwei voneinander trennen? Dieses Thema ist nicht bloß ein wissenschaftliches, sondern auch Teil einer wachsenden Bewegung, radikale Medienkompetenzen zu konzipieren. Es reicht nicht, Listen mit Gegenklassikern anzufertigen, um sich nationalen Kampagnen zur Kanonisierung des kulturellen und wissenschaftlichen Erbes zu widersetzen. Der reaktionäre Ruf nach nationalen Kanons, den man weltweit in so vielen Zusammenhängen vernimmt, ist eindeutig eine Reaktion auf die lautlose Explosion des ungezähmten Kommentars und den Verlust der Autorität des Künstlers, der früher Autor genannt wurde. Auf der anderen Seite ist es auch nicht nötig, hier die zahlreichen Kritiken am Mem der Weisheit der Vielen zu wiederholen. Viel eher interessant – und beunruhigend – an den Internet-Kommentarkulturen des frühen 21. Jahrhunderts ist der feindselige Eifer, mit dem andere Stimmen attackiert werden. Der real existierende Mangel an Rationalität führt zu einer Lawine wahlloser und repetitiver Kommentare. Es herrscht ein weitverbreiteter Unwille, einen Konsens zu finden und Diskussionen mit einem Ergebnis abzuschließen. Neue An15 | Dieses Unterfangen könnte mit einem Update des virtuellen Intellektuellen beginnen, einer imaginären Figur, die im Juli 1997 auf der Documenta X vorgestellt wurde (www.thing.desk.nl/bilwet/Geert/100.LEX). Siehe auch die zur gleichen Zeit geführte Nettime-Debatte über die Frage, wie »kollaborative Filter« entwickelt werden können, um aus diese aus vielfachen Autoren-Perspektiven zusammengesetzte Welt verstehbar zu machen (zu beiden Texten gibt es nähere Ausführungen in meinem Buch Dark Fiber. Auf den Spuren einer kritischen Internetkultur, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2003).

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sätze könnte die Software liefern, zum Beispiel mittels Mindmaps oder durch Erfassen der Häufigkeit von benutzten Wörtern und deren Visualisierung in »Clouds«, aber weder für Blogs noch für Foren sind hier seit Mitte der neunziger Jahre größere Fortschritte zu verzeichnen. Der Einsatz der grob gestrickten sogenannten »Decision Making Software« (DMS)16 bei überfüllten und chaotischen Debatten hat keine Akzeptanz gefunden, und zwar zu Recht. Kommentar-Rating wäre auch noch eine Möglichkeit, ebenso wie das Löschen durch Editoren oder die Community, aber die Bienen-Ökonomie des Web 2.0 benötigt, wie Yann Moulier Boutang es darstellt, Plattformen, die die Massenteilnahme ausbeuten können, nicht eindämmen.17 Datenfunken fliegen überall herum und verlocken uns zum Kommentieren. Was für manche Information ist, ist für andere Interpretation und für die meisten nutzloser Ballast. Bitte sag etwas über mich, vermittle mich weiter, verlinke auf mich und klicke auf den »Like«Button. Aber wenn die Debatte erst am Toben ist, wissen wir nicht mehr recht, welche Interpretation wir aus den Äußerungen der Leute gewinnen sollen.

D IE G ESTALTUNG DER M ASSENHERMENEUTIK Um von der radikalen Banalität wegzukommen, mit der man es zu tun hat, wenn man versucht, Online-Kommentarkulturen zu verstehen, könnten wir einige Elemente aus Leo Strauss’ 1952 erschienenem Aufsatz Persecution and the Art of Writing aufgreifen. Verfolgung, schreibt er, »lässt eine besondere Technik des Schreibens entstehen und damit einen speziellen Typus von Literatur, in dem die Wahrheit über alle wesentlichen Dinge ausschließlich zwischen den Zeilen vermittelt wird«. Eine ähnliche Taktik sollte angewandt werden, wenn wir die Kontrolle über kollaborative Formen der Online-Bedeutungsproduktion 16 | DMS, liebe es oder hasse es! Laut Wikipedia ist »›decision making software‹ ein Begriff, unter dem Tools zur Entscheidungsanalyse erfasst werden, die den Entscheidungsprozess einer Person erleichtern sollen, was in der Auswahl einer Handlungsstrategie oder einer Variante unter verschiedenen Alternativen hinausläuft. DMS gehört zur Kategorie von Systemen zur Entscheidungshilfe, die eingesetzt werden, um Informationen zu strukturieren, Probleme zu identifizieren und zu lösen sowie Entscheidungen zu treffen. DM-Software basiert auf Multi-Kriterien-Entscheidungs-Analyse (MKEA) und deren Varianten: Analytischer Hierarchie-Prozess (AHP), Analytischer NetzwerkProzess (ANP – eine Erweiterung des AHP), PROMETHEE, Multi-Attribut-Wert-Theorie (MAWT), Multi-Attribut-Nutzen-Theorie (MANT), Globale Multi-Attribut-Qualitäts-Interferenz (GMAQI) etc.« 17 | Siehe http://networkcultures.org/wpmu/query/2009/11/13/yann-moulier-boutang -asks-are-we-all-just-googles-worker-bees/ und sein neues Buch Cognitive Capitalism, Cambridge: Polity Press, 2011.

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wiedergewinnen wollen. Strauss: »Diese Literatur ist genau adressiert, und zwar nicht an alle Leser, sondern nur an vertrauenswürdige und intelligente.« Wenn man mal den offenkundigen Elitismus beiseitelässt, liegt hier auf jeden Fall ein entscheidender Punkt: »Sie weist alle Vorteile der privaten Kommunikation auf, aber nicht ihren gewichtigsten Nachteil – dass sie nur die persönlichen Bekannten des Autors erreicht.« Für Strauss liegt die Lösung im Axiom, »dass gedankenlose Leute nachlässige Leser sind, und nur gedankenreiche Leute auch aufmerksame Leser«.18 Wir könnten Strauss’ Axiom nun in Code übersetzen. Wie wir wissen, reicht es nicht, offline zu gehen und irgendeine Geheimgesellschaft zu gründen. Sich auszutragen ist eine Geste der Muße und denjenigen vorbehalten, die sich die Delegierung ihres »Relationship Managements« an ihre privaten Angestellten leisten können, die für die Pflege von PR-Pflichten wie Facebook-Status-Updates, Twittern, Blog-Postings und Geschäfts-E-Mails zuständig sind. (Kurios genug, dass Smartphones als private, persönliche Kommunikationsmittel betrachtet werden, wie bei US-Präsident Obama, der es nach seiner Wahl ablehnte, sein Blackberry abzugeben.19) In Michel Foucaults Die Ordnung des Diskurses lesen wir über die Einschränkungen, die die Gesellschaft dem Austausch von Texten auferlegt: »Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses gleichzeitig kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.«20 Welche Einschränkungen werden dem Textaustausch vom Web 2.0 auferlegt? Die vereinfachende Ideologie der Partizipationskultur mit ihrem Anspruch allgemeiner Inklusion verschleiert ihre eigenen editorischen Selektionsmechanismen (Wikipedia ist hier das klassische Beispiel). Wie viele Einträge und Kommentare werden gelöscht? Ist es kompliziert, sich einzuloggen? Muss man sich als User erst bei Facebook angemeldet haben, bevor man anfangen kann? Wie erschaffen wir eine internetspezifische

18 | Leo Strauss, Persecution and the Art of Writing, Chicago: The University of Chicago Press, 1988; dt.: Die Kunst des Schreibens, Berlin: Merve Verlag, 2009, S. 19 | »Barack Obama kämpfte hart darum, auch als Präsident sein Blackberry behalten zu können, gab aber zu, dass es ›keinen Spaß‹ macht, wenn nur 10 Leute autorisiert sind, an das hoch verschlüsselte Gerät Nachrichten zu senden. [ ] ›Ich muss zugeben, es macht keinen Spaß, denn sie denken, dass alles in die Präsidentenakten kommt, also will mir keiner mehr was Deftiges schicken.‹« The Telegraph, 20. Juli 2010. www.tele graph.co.uk/news/worldnews/barackobama/7917368/Barack-Obamas-BlackBerryno-fun.html 20 | Michel Foucalt, L’ordre du discours, Paris: Gallimard, 1971; dt.: Die Ordnung des Diskurses, München: Hanser Verlag, 1974, S. 10f.

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Hermeneutik als »eine Disziplin, die darauf zielt, einen Text zu verstehen« – die Intention des Textes, seine Aussage? Für Paul Ricœur »zeigt jede Interpretation ein tiefer liegendes Streben danach, Distanz und kulturelle Unterschiede zu überwinden«.21 Aber was, wenn wir nicht einmal die hermeneutischen Maschinen verstehen, die wir zur Verfügung haben? Wir könnten unsere Erwartungen ebenso an die Softwareentwickler zurückspielen und von der nächsten Software- und Interfacedesign-Generation einfordern, dass sie Verstehen und Interpretation zusammenbringt. Nach Günter Figal bedeutet Verstehen, »in der Lage zu sein, auf etwas zurückzukommen«.22 Wir müssen uns auf Daten beziehen und sie aus dem Archiv herausholen, um zwischen Gegenständen neue Beziehungen herzustellen. Zu verstehen bedeutet, zu einem vorherigen Thema zurückzukehren. Aber wie sollen wir das machen, wenn »re:sponding« zu einer kurzen Impression reduziert wird? Die strenge Behauptung, dass es nur Antworten geben kann, wenn sie eine ernste Analyse beinhalten, die auf zeitlich verzögerter Reflexion basiert, ist zu einfach. Es muss vielmehr eine »re:search« der Echtzeit-Flüsse eingeführt werden, um uns einen besseren Zugang zu den relevanten Archiven innerhalb wie außerhalb des aktuellen Threads zu ermöglichen. Eine Suchmaschine nutzen und einen Link einsetzen zu können, reicht nicht. Was wir brauchen, ist Kontextualisierung, zum Beispiel durch Referenzen zu anderen Diskussionsteilnehmern oder Hintergrundtexte, die mehr über Zeit und Ort des Ursprungseintrags erklären. Diese Debatte zur Software-Architektur sollte von der Vorgabe der Freiheit des Interpreten ausgehen, die, wie Figel betont, in Wirklichkeit die Freiheit des Textes selbst ist.23 Es gibt eine Freiheit der Interpretation, die sich auf die Ambiguität der Bedeutung gründet, und sie gedeiht durch die Energie, die mit der Trennung von Autor und Rezipient freigesetzt wird. Dies ist der Moment, wo wir uns von den Spannungen verabschieden müssen, die mit der Privilegierung des klassischen Texts gegenüber der Interpretation geschaffen wurden, und wo das Projekt der »Massenhermeneutik« beginnt. Es ist nicht länger die Mehrheit, die schweigt, sondern ihre angeblichen Führer und intellektuellen Kader, die nicht in der Lage sind, sich zu äußern, wenn sie mit plötzlichen Veränderungen in der Gesellschaft konfrontiert sind. Die modernen Souveräne in der Politik, 21 | Paul Ricœur, Der Konflikt der Interpretationen, München: Verlag Karl Alber, 2010, S. 24. 22 | Günter Figal, Der Sinn des Verstehens, Stuttgart: Reclam, 1996, S. 7. Signifikant ist hier ein Bezug zu Walter Benjamin, der sagte: »Ausdauernd hebt das Denken stets von neuen an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation.« Wie lässt sich das in Software umwandeln? 23 | Figal, S. 18.

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den Künsten und der Popkultur sind oft stumm, aber die Interpretation ihrer leeren (gleichwohl »korrekten«) Stellungnahmen ist relativ dumpf und führt nicht sehr weit. Statt sich auf die Ängste der großen Ego-Schöpfer (der Autor als standardmäßige Berühmtheit) zu richten, wird der Leser zum standardmäßigen Kommentator. In Hans Ulrich Gumbrechts Die Macht der Philologie von 2003 finden wir einen Abschnitt, der sich direkt mit der Frage beschäftigt, wie sich die editorische Tradition der Erstellung und des Verständnisses gesammelter Werke von kanonischen Autoren im digitalen Zeitalter ändern wird. Er sieht eine historische Verbindung zwischen der »Rückkehr des Kommentars« und dem Aufstieg des Hypertexts, die in einer »High Tech Philologie«24 kulminiert. Für Gumbrecht steht es außer Frage, dass in kurzer Zeit alle Texte der Menschheit, einschließlich aller festgehaltenen Kommentare, online verfügbar sein werden. Google Books, Europeana und andere Digitalisierungsprojekte haben schon den Anfang gemacht. Das wird dann das Ende des beschränkten Raums bedeuten, den es einmal in Form der Grenzen eines Buches gab. Die Frage aber ist, welche Langzeitwirkungen diese Überfülle und gleichzeitig strukturelle Leere der Grenzen für die fünf Haupttätigkeiten der Philologen haben wird: die Sammlung von Fragmenten, die Editierung von Texten, die Produktion von Kommentaren, die Historisierung und die Lehre. Können wir uns dasselbe für große Sammlungen von Internetkommentaren vorstellen? Bodo Plachta schließt auch die multimediale Dimension ein: Beim E-Book fügen wir auch noch Videodateien, Radiointerviews und Vorlesungen hinzu.25 Wenn wir auf die Kommentare 2.0 schauen, ist es leicht, die nötigen Schritte anzugeben: Wir verarbeiten die Kommentare durch gründliche Interpretation und später wird alles zu einem Kanon. Es lässt sich vorhersagen, dass es zu einem radikalen Schlussstrich für Kommentare innerhalb gedruckter Gesamtausgaben kommt und einer Verschiebung hin zu einem neuen Kult großer privater Sammlungen digitaler (Buch-)Dateien, die möglicher- aber nicht notwendigerweise (Online-) Kommentare mit einschließen. Die Zeichen sind allgegenwärtig: der Text erwacht (wieder?) zum Leben. Um zu zeigen, dass »Sozialer Text« bereits ein brauchbares Konzept ist, muss man sich nur einmal Commentpress anschauen, das von Bob Stein und seinen Kollegen am Institute for the Future of the Book entwickelt wurde. Es ist ein PlugIn für fertige Dokumente ebenso wie für laufende Blogs, das es »den Lesern erlaubt, einen Text Absatz für Absatz an den Rändern zu kommentieren. Notizen, Anmerkungen, Workshops oder Debatten: mit Commentpress kann man all dies viel genauer tun und ein Dokument in einen Dialog umwandeln.«26 Mit 24 | Gumbrecht, a.a.O., S. 85f. 25 | Plachta, a.a.O., S. 25-26. 26 | www.futureofthebook.org/commentpress/

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Commentpress werden Kommentare zu »kollaborativem Denken und Schreiben«. »Social reading« und »social writing« vermischen sich – mit all den möglichen Konsequenzen für den kollektiven Besitz von Ideen. Commentpress ist ein pragmatisches Beispiel für ein Entwickeln von Code, das von dem Wunsch getragen ist, die Ökologie des Kommentars zu gestalten – und noch ein weiterer Beweis für die These, dass Software nicht in einem Glaubensbekenntnis oder einem Satz von Dogmen mündet, sondern in einer sozialen Ordnung. »Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst«, ist das Resümee Susan Sontags in ihrem 1964 erschienenen Essay Against Interpretation. Sie forderte vom Kommentar, dass er Kunstwerke realer mache. Kritik solle weniger Bedeutung produzieren und den Inhalt stattdessen zurechtstutzen, damit wir wieder beginnen können, das Objekt selbst zu sehen. Würden wir auch sagen, »wie die Abgase der Autos und der Schwerindustrie, die die Luft der Städte verunreinigen, vergiftet heute der Strom der Kunstinterpretationen unser Empfindungsvermögen«?27 Nein. Die Gefahr, dass Politiker, Firmen und Geschmackspolizei sich in das Internet einmischen, um Websites abzuschalten, ist viel zu real. Freiheit ist ein absoluter Wert und sollte nicht von Fall zu Fall verhandelt werden. Sonst gäbe es keine Whistleblower-Websites wie WikiLeaks, Imageboards wie 4chan oder Sammlungen gescannter Theorieliteratur wie aaaarg. Aber einfach liberal sein können wir auch nicht, das hieße, unseren Verstand außer Kraft zu setzen. Wir müssen weiter Fragen stellen. Wie können wilde Kommentarkulturen kultiviert werden, die dem Philistertum der Interpretation widerstehen, von dem Susan Sontag spricht? Was würde in unserer Situation heißen, unsere Sinne zu erholen, außer einfach offline zu gehen, langsame Medien einzuführen oder andere nachhaltige Maßnahmen? Die gegenwärtig exzessiven Online-Kommentarkulturen werfen die Frage auf, wie in einer zutiefst quantitativen Welt kreative Singularität aussehen kann. Was, wenn die Kommentarkultur ihre ganzen Anstrengungen nur auf die Massenproduktion von Aphorismen verwendete? Projekt Dada für das 21. Jahrhundert? Weißt du schon, wie sich Slogans zu Poesie morphen lassen und wie sich ein Kommentar in einen Aphorismus verwandeln kann? Die Tatsache, dass es da draußen keine Metaerzählungen mehr gibt, ist kein poststrukturalistischer Allgemeinplatz mehr, sondern festverdrahtete Realität. Die heutigen Raster der Interpretation, gegen die Sontag sich zur Wehr setzte, sind technologischer Natur. Die Macht der Berufskritiker, die sie brechen wollte, ist bereits wirksam reduziert worden. Die Speicherrevolution, die wir gerade erleben, eliminiert sämtlichen Inhalt und führt in die Gefahr des uneingeschränkten Datenrelativismus. Sontag schreibt: »Indem man das Kunstwerk auf seinen Inhalt redu27 | Alle Zitate aus Susan Sontag, Against Interpretation, New York: Dell Publishing, 1966, S. 3-14; dt.: Gegen Interpretation, in: Susan Sontag, Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. München: Hanser, 1980, S. 9-18.

Traktat über die Kommentarkultur

ziert und diesen dann interpretiert, zähmt man es.« In welchen Fällen würden wir der Versuchung der Interpretation widerstehen und stattdessen einer Online-Debatte eine zusätzliche Dimension hinzufügen sowie auch öffentlich ein Ende der »Kultur der Beschwerde« fordern, die nur Ideologien vervielfältigt? Wir müssen uns den Kommentarkulturen offen stellen, nicht mit dem Loblied auf die Interpretation, sondern um wach und in Verbindung mit den Zeichen der Zeit zu bleiben – egal wie unerfreulich sie manchmal sein mögen.

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»Ich glaube, dass man Menschen nicht ausrechnen kann und die Verhältnisse auch nicht. Planwirtschaften haben noch nie funktioniert. Die Menschen werden automatisch zur Gegenwehr übergehen. Nach der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg setzte eine Schwemme von Informationen ein: Alles konnte man drucken, und das meiste waren Pamphlete, also: Aufruf zum Bürgerkrieg, Aufruf zum Religionskrieg, Aufruf zur Intoleranz. Und dagegen wehren sich die Menschen, indem sie die Kritik erfinden. Kant ist gleichsam die Antwort auf die Übermacht an Gedrucktem. Dirk Baecker hat das untersucht. Und Sie können heute beobachten, dass Menschen, die das Netz nutzen, fast immun sind gegen die Fülle der Informationen, die nehmen die ersten 40 Worte und lassen 1.800 aus. Dieser Reduktionismus hat etwas Gutes und etwas Schlechtes. So ein User wird sich nicht bei Abendlicht hinsetzen und Anna Karenina lesen. Er wird aber auch nicht in Information ertrinken. Der Mensch schafft sich seine eigene Übersichtlichkeit.«1 Alexander Kluge

Dieses Kapitel wirft die Frage nach dem Genre der »Internetkritik« und ihrer analytischen Umrisse auf. Angesichts des Zwangs, immer leicht und positiv zu sein, gilt es als Zeichen von Kulturpessimismus, Mainstream-Internetkonzepte in Zweifel zu ziehen:2 bitte keine negativen Gedankengänge. Ist Kritik dann mit Zivilcourage gleichzusetzen? Wir müssen im Auge behalten, dass Kritik eine notwendige, aber lästige Aufgabe ist; eine stringente Argumentation zu entwickeln, in der verschiedene Gedanken miteinander verknüpft werden, kann absolut unsexy sein. Die Kritik muss immer wieder neu aufgebaut werden und lässt sich, trotz ihrer reichen Geschichte, nicht einfach aus der Schublade ziehen. Wie können wir eine Rhetorik entwickeln, die in die Fußstapfen

1 | Im Interview mit der Wochenzeitung Der Freitag, 24. Dezember 2009. www.freitag. de/kultur/0952-zukunft-netz-kluge-interview 2 | Argumente gegen negative Kritik und für einen anderen Stil findet man zum Beispiel bei Rosi Braidotti, Op doorreis, nomadisch denken in de 21ste eeuw, Amsterdam: Boom, 2004, S. 7-9.

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der Literatur- und Theaterkritik tritt, aber auf die technologischen Spezifiken des Internets und die globalen Bedingungen des 21. Jahrhunderts zugeschnitten ist? Wird die Netzkritik einen eigenen literarischen Stil ausbilden, ähnlich wie die Rezension oder der Essay mit ihren Verbindungen zur aufkommenden Buchkultur im 18. Jahrhundert? Wir müssen nicht ganz von vorne beginnen. Es gibt bereits Anfänge, bei Nettime oder Nicholas Carr, aber wir können uns ebenso auch bei den Stimmen aus Afrika, indischen Facebook-Kritiken und radikalen brasilianischen Konzepten umschauen. Internetkritik kann auch neue Formen annehmen, die sich von altbekannten Gattungen wie Artikel, Rezension, Essay oder Buch unterscheiden. Unter Softwareaspekten könnte man zum Beispiel an E-Mail-Threads, Forendiskussionen, Blog Postings, Tweets oder andere Kommentarkulturen denken. Bevor wir aber auf die Grundlagen der neu entstehenden Gattung eingehen, müssen wir erst die Wüste des Realen durchqueren und uns mit der vermeintlichen Krisensituation der Kritik in benachbarten Feldern wie der Bildenden Kunst, dem Film und der Buchkultur beschäftigen. Machen wir also mit bei der niemals endenden Suche nach dem Verbleib der Kritik.

K RITIK IM Z EITALTER DES Ü BER ANGEBOTS In The Death of the Critic schlägt Rónán McDonald vor, Kritik historisch als Relikt der modernistischen Ära einzuordnen. Der Kritiker leitete in seinem Streben nach einem besseren Geschmack das Publikum an. Vor den kulturellen Umbrüchen der späten sechziger Jahre war es die allgemein akzeptierte Aufgabe des Kritikers, den Kanon zu definieren – nicht unter restriktiven Vorzeichen, sondern aus der Perspektive einer emanzipatorischen Aufklärung. Die Kritiker hatten sich zu bemühen, das Beste, was die Welt kannte und dachte, zu finden und zu verbreiten. Der Geschmack der Elite wurde mit den Massen geteilt – und ihnen verschrieben –, als bildungspolitische Maßnahme, um das Niveau der gewöhnlichen Leute zu heben und sie in die westliche Zivilisation einzubinden. Schönheit mit einer Message. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein war es immer noch der Kritiker, der Geschmack definierte und über die Authentizität kultureller Schöpfungen entschied. Schaut man zurück, dann lag die Blütezeit der Kritik genau in der Ära der Zeitungen, Magazine und Journale – mit Massenauflagen, die die kollektive Aufmerksamkeit einfingen, zentralisierten, steuerten und die lesenden Bürger in der Diskussion des jüngsten Romans oder des Theaterstücks vom letzten Abend vereinten. In der Kritik trafen sich Gefühl und Verstand. Nach Rónán McDonald folgte der Niedergang mit der »Demokratisierung des Geschmacks« in den siebziger Jahren. Als Reaktion auf den Aufstieg der Popkultur zog sich die Kritik hinter die Mauern der akademischen Welt zurück.

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Ästhetische Studien waren »zunehmend nach innen gerichtet und wertneutral«.3 Während der letzten Jahrzehnte ist die Kluft zwischen akademischer Theoretisierung und der journalistischen Berichterstattung über gefeierte Künstler noch größer geworden und hat zum Mem des »Todes der Kritik« geführt. Michael Schreyach schreibt, dass Kunstkritik heutzutage »wenig mehr tun kann, als für die betrachtete Kunst einen gewissen Kontext zu schaffen und einige Bemerkungen über ihren Marktwert, Beliebtheit und soziale Signifikanz (oder deren Fehlen) anzubieten«.4 Im besten Falle ist die Kritik zu einer Flaschenpost geworden. Diese beiden zusammenhängenden Einflüsse – Popkultur und der Wechsel der Literaturkritik in die akademische Welt – untergruben gemeinsam die Autorität des Kritikers. Die Geschwindigkeit der »nicht-autorisierten« Kritik, der man in Blogs und bei Amazon begegnet, und der Rückzug in die Universitäten, wo die Fachleute einen selbstreferentiellen Kampf der Diskurse führen, sind zwei Seiten derselben Medaille. In Bezug auf das Internet erhält man Statements wie dieses von John Sutherland: »Da gibt es jene Leute, die die WebKritik als Entwicklung in Richtung einer ›Macht des Lesers‹ sehen – die Demokratisierung eines traditionell von literarischen Mandarinen monopolisierten Bereichs. Und dann gibt es andere, die in ihr den Niedergang des literarischen Geschmacks erkennen.«5 Für McDonald schwankt die Kritik zwischen Medien und Akademie: »Die Demokratisierung objektiver kritischer Standards mag teilweise eine Folge der antiautoritären und antihierarchischen kulturellen Strömungen in den Sechzigern und Siebzigern sein. Sowohl in der Breitenkultur als auch in den Akademien sieht man die Aufgabe der Kritik nicht mehr darin, Werturteile abzugeben.«6 Im Internetzeitalter operieren wir immer noch unter denselben Bedingungen. Sowohl die barocke postmoderne Sprache wie die knapperen Antworten der Amateure auf den Kommentarseiten vermeiden die traditionellen normativen Darstellungen des Berufskritikers. Wir brauchen kein Urteil mehr, aber was sollen die Kritiker mit dem dauernden Ansturm von neuen Anwendungen, Publikationstools und Sozialen Medien anfangen? In die Defensive gedrängt, müssen sie auf einen ständigen Fluss neuer Produkte, Dienste und Kommunikationsmuster reagieren, die es schwerer machen, die allgemeinen Trends zu sehen. 3 | Rónán McDonald, The Death of the Critic, London/New York: Continuum, 2007, S. ix. 4 | Michael Schreyach, »The Recovery of Criticism«, in: James Elkins, Michael Newman (Hg.) The State of Art Criticism, New York: Routledge, 2007, S. 3. 5 | Im Sunday Telegraph vom 12. November 2006; zitiert in: Rónán MacDonald, The Death of the Critic, S. 6. 6 | Rónán McDonald, a.a.O., S. 36.

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Während im Netz die Kommentarkriege toben, sind sich die meisten Insider aus den traditionellen Disziplinen über die Krise ihrer Art von Kritik einig. Die 2007 von James Elkins und Michael Newman herausgegebene Anthologie The State of Art Criticism, die eine Fülle von Ausgangspositionen, Seminarprotokollen und Einschätzungen enthält, bringt diese Unsicherheit zum Ausdruck. Die Kunstkritik »ist sich über ihren Platz und ihre Funktion in der Gesellschaft im Unklaren«.7 Laut Schreyach wird sie »sowohl massiv produziert als auch massiv ignoriert und ist zugleich in einem Zustand strotzender Gesundheit und unheilbarer Krankheit«.8 Es gibt eine Überproduktion an kurzlebiger Kritik, die vielerlei Sichtweisen von »Bedeutung« und einen Mangel an Codifizierung mit sich bringt. »Jeder, der einen Zugang zum Internet hat, kann Kritiker werden. Jetzt gibt es vielfache Öffentlichkeiten, die auf verschiedensten Wegen erreicht werden«, schreibt Newman und folgert, dass »die Rolle des kritischen Urteils wieder infrage gestellt [wird], wie in den sechziger und siebziger Jahren. Aber mussten reflektierte Urteile nicht immer ihre eigenen Kriterien herausfinden, die nie schon vorab gegeben sind?«9 In der Online-Ausgabe des Guardian vom 22. Februar 2010 schrieb Jonathan Jones, es sei die Aufgabe des Kritikers, »den Relativismus und Pluralismus des modernen Lebens zurückzuweisen. Die ganze Zeit über, aus Millionen Quellen, werden wir mit kulturellen Informationen bombardiert. Jeder neue Film, jede Musik, die gerade aktuell ist, kann in unsere Köpfe eindringen, unabhängig von ihrer Qualität oder ob wir überhaupt Interesse an ihnen haben. Tatsächlich ist in diesem Zeitalter des Überangebots die wahrscheinlichste Wirkung so vieler miteinander konkurrierender Bilder Indifferenz. Wenn wir keine ästhetische Wahl treffen, wird es vermutlich eine konsumistische sein, ein vorübergehender Geschmack, der vergessen und im nächsten Moment ersetzt wird.«10

Ende 2009 war ich als Co-Kurator an einer Veranstaltung im De Balie, Zentrum für Kultur und Politik in Amsterdam, über die Krise der Kritik beteiligt, die gemeinsam mit der niederländischen Sektion des internationalen Kunstkritikerverbandes (AICA) organisiert wurde. Unter dem Titel Critics Floating in the Virtual Sphere: Will Art Criticism Survive? befasste sie sich mit dem Verhältnis zwischen Kunstkritik und dem Aufstieg des Webs. In ihrer Eröffnungsrede erinnerte die Kuratorin Maria Hlavajova das Publikum daran, dass der 1989 erklärte Tod der Kunstkritik mit dem Fall der Berliner Mauer und der Erfindung 7 | Michael Schreyach, in: The State of Art Criticism, S. 12. 8 | Ebd., S. 11. 9 | Michael Newman, in: The State of Art Criticism, S. 56. 10 | Jonathan Jones, »Critics? You need us more than ever«. http://www.guardian. co.uk/artanddesign/jonathanjonesblog/2010/feb/22/critics-need-us

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des World Wide Web zusammenfiel. Rednerin Regine Debatty, die auch das Blog We Make Money Not Art11 betreibt, erklärte gleich zu Beginn, dass sie Bloggerin sei und nicht Kunstkritikerin. Sie fragte, warum die Leute Blogs immer nur mit Begriffen wie »impressionistisch«, »subjektiv« und »populistisch« verknüpften, obwohl Art Forum und Art Review genauso ihre Klatschseiten haben. In der letzten Zeit habe die Kunstwelt angefangen, Blogs zu akzeptieren, und sehe bei den Texten in den Blogs inzwischen sogar einen Stil mit ganz eigener Qualität. Debatty wird oft angefragt, »ob sie im Stil ihres Blogs schreiben kann«. Dort ist sie immer positiv, schreibt nur über das, was sie mag, und bringt weder Verrisse noch Provokationen. Ihr Blog stellt keine Fragen. Es kann viel Traffic, aber nur wenige Kommentare verbuchen. Letzte Rednerin war die nordamerikanische Kunstkritikerin Jennifer Allen, die seit 1995 in Berlin lebt und u.a. für frieze, Monopol und die Süddeutsche Zeitung schreibt. Allen stellt vor allem fest, dass Kunstkritik immer schlechter bezahlt wird. Sie sei zu einem egozentrischen, auf Prominenz schielenden Reportageformat geworden, überschwemmt von Amateuren. Der Trend begann mit artforum.com, von wo er dann in Gestalt der »Seen & Heard«-Rubrik auch in das Heft selbst hineinkroch. Gleichzeitig sei seriöse Kunstkritik in Form von Büchern immer schwerer zu veröffentlichen, da die Verlage keine Lesereisen mehr finanzieren. Die Zeitschriften haben ihre Leser an die Online-Ausgaben verloren, obwohl »einen das Schreiben für die Online-Welt für den Rest des Lebens zeichnet und das Einkommen auf ein Drittel schrumpft«. Ein anderes Problem resultiert für sie aus der erhöhten Geschwindigkeit. Vor nicht allzu langer Zeit floppte der Film Brüno wegen schlechter Tweets während der Premierenvorstellung. Nach diesen Negativurteilen gingen schlagartig die Besucherzahlen zurück. Dazu kommt ein Mangel an Kritiker-Autorität. Blogs und Twitter mögen zwar beliebt sein, aber sie haben weder die Position eingenommen, die die führenden Zeitschriften einmal hatten, noch eine andere. Warum übernehmen sie nicht Christies, Artforum, die Biennalen und Kuratoren? Aus dem Netz kommt selten eine Antwort, resümierte Allen, und Online-Kritiken bringen keine Meinungen zum Ausdruck. Sie nehmen keine abweichenden Haltungen ein und ändern nichts an den elitären Machtstrukturen der zeitgenössischen Kunstwelt. Die Debatte verdeutlichte einige Trends. Die Kunstkritik ist in das informelle, vernetzte Medienzeitalter eingetreten, und es führt kein Weg zurück. Als Folge hat der persönliche Stil die formale Sprache der Theorie abgelöst. Leute, die immer noch diskutieren, wie man Kunstkritik und neue Medien vermischen soll, hinken hinterher. Wie Jennifer Allen herausgestellt hat, schafft es die Kunstkritik, ob online oder gedruckt, nicht, die Gesellschaft von der Relevanz der Kunst zu überzeugen: »Es gelingt uns nicht, die Begeisterung und Leidenschaft, die wir für die Kultur haben, zu vermitteln.« Die jungen Leute wüssten 11 | Siehe http://we-make-money-not-art.com/

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so genau über Sneakers und Handys Bescheid. »Warum nehmen wir die Kunst nicht so wahr, wie wir Handys wahrnehmen?«12 Können diese Beobachtungen für die Netzkritik von Nutzen sein? Warum sich die Mühe machen, ließe sich fragen. Worin liegt der Sinn einer Wiedereinführung von »Kritik«, einem Genre, das angeblich seine Lebenskraft verloren hat und vielleicht schon verschwunden ist. Sollen wir uns der »fatalen« Position Jean Baudrillards, die er als Gegenspieler der Kritik anbietet, annähern oder von ihr entfernen?13 Was würde es bedeuten, in einer Zeit, die durch die Abwesenheit des Urteils charakterisiert ist, eine neue Welle der Kritik vorzuschlagen? Warum das Objekt nicht einfach umarmen, um es zu erledigen? Führt der Vorschlag der Netzkritik nicht in die Falle, möglicherweise mit der historischen »kritischen Theorie« identifiziert zu werden? Dann müssten wir, bevor wir überhaupt anfangen können, erst einmal die eisigen Ebenen der Abstraktion durchqueren und mit Walter Benjamin reden, nachdem wir unsere Notizen mit Adorno, Horkheimer, Habermas und Axel Honneth verglichen haben.14 Statt einer produktiven Inspirationsquelle oder philosophischen Strömung, um Erläuterungen zu vergleichen, hat sich gezeigt, dass die Idee der Netzkritik als Fortsetzung der Frankfurter Schule eine Sackgasse ist. Allein die Erwähnung führt zum Gesprächsabbruch. Man kann kritisch sein, ohne kritisch zu sein – und das ist vielleicht der Hauptgrund, warum eine (öffentliche) Verbindung zur Frankfurter Schule möglichst vermieden werden sollte. Was bleibt, ist heimliche Lektüre, stille Bewunderung und eine informelle Interpretation ihrer Arbeit. 12 | Siehe meinen Blog-Eintrag zu dieser Veranstaltung: http://networkcultures.org/ wpmu/geert/2010/01/20/state-of-the-art-critic 13 | Mehr über diese Vorstellung findet sich in Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien, Berlin: Matthes & Seitz, 1991. 14 | In seiner Besprechung von Axel Honneths Pathologien der Vernunft, Geschichte und Gegenwart der kritischen Theorie (2009) kommt Barret Weber zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. In Adornos Arbeit herrsche »ein Mangel an irgendeiner erkennbaren soziologischen Grundlage oder einem Ort der Kritik. Entgegen Adornos besten Absichten wird die Kritik in seiner Arbeit stattdessen zu etwas Abstraktem und ist insofern in keinen erkennbaren soziologischen Raum einzuordnen [...] Honneths Kritik Adornos beginnt mit der Fragestellung, wieso das Projekt der ›Kritischen Theorie‹, durch Adorno zu großer Prominenz gelangt, von der 68er-Bewegung entschieden abgelehnt wurde und schließlich von allen anderen danach auch. Aus Honneths Sicht liegt der Grund, warum das klassische Projekt der Frankfurter Schule auch heute nicht weitergeführt werden kann, darin, dass seine Grundlagen zu abstrakt und dogmatisch bleiben; es kann weder die Praxis erklären noch klar seine Unterschiede zu anderen kritischen Projekten deutlich machen.« (www.long-sunday.net) Das lässt das Argument, dass wir erst auf Adorno zurückgehen müssen, bevor wir überhaupt mit einem kritischen Projekt anfangen können, nutzlos erscheinen.

Abhandlung der Internetkritik

K ONTUREN DER N E T ZKRITIK Der Diskurs schreitet nicht linear von einem Konzept zum nächsten fort. Warum sollte das Internet in all seiner Neuartigkeit und seinen unermesslichen Optionen das schwere Erbe dieser notleidenden Textgattung annehmen? Vielleicht ist Kritik eine historische Phase, die nun als angeblich coole Haltung wieder zu neuem Leben erwacht. Netzkritik könnte ein bloßer Schreibmodus unter vielen sein, eine Grundform der Reflexion, die auch als alternativer Lebensstil für den Rebellen, der gerne die Hierarchien infrage stellt, bekannt ist. Statt in diese zynische Richtung zu gehen, verstehe ich, ähnlich wie Rónán McDonald, Kritik nicht als ideologisches Programm, sondern als dringend benötigtes grundlegendes Handwerk, um literarische Stile zu entwickeln, sowie als Einladung, sich an einem radikalen Denken zu beteiligen, das mehr beinhaltet als die leichtfertigen Kommentare und das Geschwätz über den letzten Tweet. Wie könnte das zum Ausdruck gebracht werden? In diesem Internetzeitalter liegt der Gegenpol zur Kritik im Nachrichtenjargon und in der PRSprache, die auf oberflächliches Lesen zugeschnitten sind. Wenn der zukünftige Kritiker irgendeinem Widersacher entgegentreten müsste, dann wäre es der anonyme professionelle Informationsverteiler, bzw. ganze rasende KlonArmeen von ihnen, die das Text- und Bildmaterial empfangen, neu verpacken und auf die globalen, partizipatorischen User loslassen, von denen es dann verlinkt, geliked und weitergeleitet wird. Der Netzkritiker bewegt sich dagegen in einem kafkaesken Paralleluniversum, denn er will überhaupt nicht in Wettbewerb treten mit diesen Spindoktoren, deren traditionelle Spielfelder bislang das Fernsehen und die Printmedien waren und die nun mit aller Macht das Internet erobern. Machen wir uns nichts vor. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass das Internet inzwischen eine Mainstream-Technologie ist. Während uns seine sich ständig verändernden Eigenschaften weiter faszinieren, ist nichts mehr an ihm spektakulär. Wir befinden uns im Post-Spektakulären. Dies ist die Realität gewordene Informationsgesellschaft: willkommen in der Gesellschaft der Suche. Wir treten an die Macht mit einer Frage heran und warten, während die Cloud rechnet. Was genau passiert, ist ziemlich abstrakt und visuell unauffällig. Genau deshalb nehmen die führenden Intellektuellen und Theoretiker die gegenwärtigen Transformationen auch nicht wahr. Es ist in der Tat schwer, mit dem exponentiellen Anstieg der Anwendungen und Dienste mitzukommen. Auch die meisten Unternehmen und Institutionen sind noch vollauf damit beschäftigt, den Einfluss der Netzwerktechnologien auf ihre Organisationen überhaupt zu begreifen, integrieren hier einige Teile und schalten dort wieder andere aus (vor allem die interaktiven und Upstream-Elemente). Die Einführung von Computernetzwerken innerhalb solcher Apparate hat über das letzte Jahrzehnt zwar die Arbeitsabläufe verändert, aber nicht die Ebene der Entscheidungsträ-

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ger erreicht. Wir scheinen in einer Phase des permanenten Übergangs steckenzubleiben. Auf die Frage, ob die »neuen Medien« schon ein vollwertiger Teil unserer Kultur seien, kommen nur unklare Antworten. Selbst in Ländern mit hoher Nutzung von Breitbandverbindungen und Mobiltelefonen gibt es eine zögernde »Leitkultur«, die sich nicht entscheiden kann, ob neue Medien als eigene Sphäre institutionalisiert oder aufgelöst und in die vorhandenen traditionellen Sparten wie Film, Fernsehen, Printmedien und Radio integriert werden sollen. Und das Internet, das jetzt so beherrschend ist, ist als solches merkwürdig unsichtbar. Gemäß dieser Logik des Unsichtbaren nimmt die Netzkritik bislang in der akademischen Forschung auch eine Randposition ein, die der generell schwindenden Bedeutung von Kritik und Theorie in der Gesellschaft entspricht. Die meisten Forschungen weisen dem Internet immer noch eine Nebenrolle im Verhältnis zu Print- und Rundfunkmedien zu. Doch das Internet ist kein bloßes Tool mehr, sondern zu einem untrennbaren Teil der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Prozesse geworden. Inzwischen ist auch die akademische Welt selbst völlig von den vernetzten Informationstechnologien abhängig. Diese Verschiebung verlangt eine neue Ebene des Denkens, auf der die Geisteswissenschaftler bislang jedoch nicht aktiv in Erscheinung treten. Die Idee ist simpel. Genau wie Theater, Bildende Kunst, Film und Literatur verdient auch das Internet eine kenntnisreiche und anspruchsvolle Form der Kritik und Theorie, die über Journalismus und bloße Berichterstattung hinausgeht. Interessanterweise hat ihre marginale Position der Netzkritik aber ermöglicht, sich über die letzten Jahre in außerakademischen Räumen weiterzuentwickeln: im Rahmen zeitgenössischer Kunstprojekte, auf Online-Mailinglisten und in medienaktivistischen Netzwerken. Die Geschichte dieser Ära der kulturell-künstlerischen Zufluchtsorte muss noch geschrieben werden. Wie können wir das alte Paradigma der Nachrichten überwinden? Die Unsichtbarkeit des Internets lässt sich nicht verstehen, wenn man sich nur die Angebote der traditionellen Medieninstitutionen anschaut und im Wesentlichen die Agenda dieser Boten der alten Medien dekonstruiert. Wir verstehen das Web nicht, indem wir die New York Times dekonstruieren. Es hat sich immer wieder erwiesen, dass es nicht ausreicht, simplifizierende Floskeln zu analysieren und dann den Täuschungscharakter von Marketingtechniken zu beklagen. Wenn die Netzkritik mit dem Hype umgehen will, sollte sie lieber aufzeigen, wie normative Ideen in ihr Gegenteil verkehrt werden, nämlich in Herrschaftspraktiken. Die Netzkritik muss mehr leisten als Ideologiekritik oder Diskursanalyse. Ihr Ziel ist, die Selbstreflexivität in den Feedbackschleifen fest zu verdrahten und so die Architektur zu verändern. Langlebige Konzepte und Einsichten müssen entwickelt werden, die sich tief in die Netzwerkarchitekturen eingraben. Statt den Fokus auf die sich schnell verändernden sozialen Wirklichkeiten zu

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legen, wie Manuel Castells vorschlägt,15 habe ich mir zum Ziel gesetzt, genauer die Funktion zu analysieren, die Konzepte wie frei, offen, Gemeinschaft, Blog, Teilen, Veränderung, Freunde, Link und Like bei der Herausbildung der Netzwerkgesellschaft erfüllen. Wir müssen keine Idealisten sein, um die Bedeutung solcher Konzepte zu erkennen, die jahrelang vor sich hin köcheln, wie aus dem Nichts auftauchen und sich erst in kleinen Initiativen weiterentwickeln, um dann über Nacht zu Systemen anzuwachsen, die von Hunderten von Millionen Menschen genutzt werden. Die Art, wie Theorie verwendet und umgesetzt wird, muss neu durchdacht werden. Das Projekt der Internetkritik besteht in einer gemeinsamen Suche nach medienspezifischen Konzepten, die dann in Code, Regelwerke, Rhetorik und Nutzerkulturen implementiert werden können. Dies ist ein Trial-and-Error-Prozess. Erstaunlicherweise sind einige der Konzepte aus den Neunzigern, an denen ich beteiligt war, immer noch aussagekräftig, etwa Souveräne Medien, der Datendandy und vor allem Taktische Medien.16 Netzkritik, 1995 gemeinsam mit Pit Schultz entwickelt, ist ein anderes Beispiel. 15 | Manuel Castells ist stolz darauf, kein Theoretiker zu sein. In einem Interview mit Occupied London sagt er: »Ich finde es wichtig, dass man kein geschlossenes theoretisches System aufbaut, das doch nur dem Zweck dient, sich auf dem intellektuellen Markt der Gesellschaftstheorie seinen Anteil zu sichern. Ich gehe immer wieder ans Zeichenbrett zurück. Es macht viel mehr Spaß, neuen sozialen Formen und Prozessen nachzuspüren, als mit Worten zu spielen. Theoretiker sind meistens ziemliche Langweiler. Lauft nicht in so eine Falle. Lebt in der Praxis, nicht in euren Büchern. Bleibt nah an den Fakten, stellt eure eigenen Fragen, entwickelt euer eigenes Konzeptmodell und nehmt euch, was auch immer ihr dafür gebrauchen könnt. Worte oder Konzepte, die auch die Autoren selbst nur halb verstehen, solltet ihr einfach ignorieren. Flieht aus den Theoriekursen, der letzten Zuflucht des intellektuellen Landadels. Schaut euch um und versucht, die Welt zu verstehen, wie sie ist, eure Welt. Und verändert euch. An dem Tag, an dem ihr aufhört, euch zu verändern, seid ihr im Grunde tot. Leben ist Veränderung.« Er sagt weiter: »Ihr braucht keine kunstvollen Wörter. Macht die Dinge einfach, sie sind normalerweise einfacher als eure Konzepte. Einige Sozialwissenschaftler nutzen die Abstraktion nur, um ihren Status zu erhöhen, nicht ihr Wissen.« Während dieser Aufruf vielleicht sympathisch klingt und an anti-intellektuelle Ressentiments grenzt, ignoriert Castells aber, wo die Schlüsselkonzepte von Netzwerken herkommen. Hier gibt es keine Geistesgeschichte, keinen Ort für die Debatte und damit auch kein Verständnis, wie neue Konzepte überhaupt entstehen – außer durch Studieren der sozialen Realität. Die Welt ruft nach kritischen Konzepten, einschließlich der Weiterentwicklung von Castells eigener Theorie der »Netzwerkgesellschaft«. Ob diese wichtige Arbeit nun in einer offenen oder einer geschlossenen Weise getan wird, ob auf langweilige oder aufregende Art, liegt ganz in den Händen des Autors. http://www.occupiedlondon.org/castells/ 16 | Siehe Adilkno, The Media Archive, Brooklyn: Autonomedia, 1998; dt.: Agentur Bilwet, Medienarchiv, Bensheim: 1993, und Geert Lovink, Dark Fiber: Tracking Critical In-

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Zu den jüngeren Beispielen gehören Organisierte Netzwerke, Verteilte Ästhetik und das breiter angelegte Konzept der Netzkulturen. Manchmal ist es nützlich, Dutzende von ihnen zu entwickeln, nur um zu sehen, auf welchen Widerhall sie stoßen. In anderen Fällen lohnt sich auch die Mühe, viel (kollektive) Zeit zu investieren und eines von ihnen in eine gut funktionierende Maschine zu verwandeln. Natürlich ist diese Metapher von Deleuze und Guattari ausgeliehen, die diesen Prozess wie wenige vor ihnen theoretisch ergründet haben. Das pragmatische Denken droht, die Konzeptentwicklung in den Hintergrund zu verbannen. »Wildes Denken« bleibt aber wichtig, sei es in Form von Essays, Slogans, Fallstudien oder Diskussionen. Wenn die Geisteswissenschaften verlorenes Terrain zurückgewinnen wollen, müssen sie Konzepte entwickeln, die auch zum Handeln in der wirklichen Welt führen können, wozu politische Aktivitäten, Mobilität, Arbeitskulturen und soziale Beziehungen ebenso gehören wie ihre Einbettung in Programmcodes und Protokolle. Können aus kritischen Konzepten nicht auch Dienste, Software, Orgnets und Lehrmaterial entstehen? Kritik kann ein produktiver Akt sein, der ein Set von tatsächlich ausführbaren Konzepten hervorbringt. Durch Konzeptentwicklung kann das Projekt über das ständig seine Erscheinung verändernde, auf Berichte beschränkte Niveau des Internetdenkens hinausgehen und eine andere Ebene erreichen, wo das Verstehen in den Code übergeht. Die Kritik hängt hier von ihrer Fähigkeit ab, das Studienobjekt zu verändern.17 Der entscheidende Punkt ist, dass das Kritische in den Vernetzungsmodus selbst eingeht.

R EZENSIONSKULTUR IM I NTERNE T ZEITALTER Als Beispiel einer Strategie, eine Reihe lebendiger Praktiken einzuführen, könnte die »Netzkritik« analysieren, wie sich die kritische Praxis der Rezension im Rahmen der digitalen Online-Welt verändert. In anderen Kontexten wie Film, Literatur und Theater bedeutet Kritik in den meisten Fällen die Besprechung aktueller Arbeiten. Aber worin würde im Kontext des Internets eine ausführliche Rezension einer Website oder einer neuen Anwendung bestehen? Und ternet Culture, Cambridge, MA: MIT Press, 2002; dt.: Dark Fiber. Auf den Spuren einer kritischen Internetkultur, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2003. 17 | Irit Rogoff, die sich innerhalb des jahrhundertealten Kunstdiskurses bewegt, unterscheidet zwischen Kritizismus, Kritik und Kritikalität. Im ziemlich rauen und primitiven Internetkontext mag das wenig bewirken. Was mir aber gefällt, ist Rogoffs Betonung des Verlernens: »So wie ich ›Kritikalität‹ verstehe, stellt sie eben jene Operation dar, die Grenzen des eigenen Denkens anzuerkennen, da niemand etwas Neues lernt, ohne etwas Altes zu verlernen. Sonst addierte man nur Information, anstatt eine Struktur zu überdenken.« http://eipcp.net/transversal/0806/rogoff1/de

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wie ist es dazu gekommen, dass die Kriterien für »Benutzerfreundlichkeit« in der protestantisch-unternehmerischen Sprache eines Jakob Nielsen gefasst sind – und keiner an ihnen rüttelt. Können wir technisch hochspezifische SoftwareBesprechungen popularisieren? Was wäre eine gute App Review, über die reine Beschreibung der Funktionen hinaus? Über die Jahre konnten wir ein stetig steigendes intellektuelles Niveau im Bereich der von Film- und Cultural Studies beeinflussten Game-Kritiken feststellen, aber von der breiteren Internetkultur lässt sich das nicht behaupten. Rezensionen verbindet man allgemein mit einem langwierigen Lesevorgang, im Vergleich zur unmittelbaren Belohnung beim Suchprozess. Man könnte im Gegenzug aber behaupten, dass eine reiche und vielfältige Rezensionskultur die meisten unserer Suchanfragen überflüssig machen würde. Für die Kommentatoren der alten Schule jedoch, die sich von der rasanten Datenakkumulation überfordert fühlen, ist die radikale Demokratisierung von Rezensionen auf Websites wie Amazon offenbar Anlass zur Sorge. Gail Pools 2007 erschienenes Buch Faint Praise, The Plight of Book Reviewing in America beschäftigt sich mit dem kontinuierlichen Niedergang der traditionellen Buchrezensionen. »Rezensionen helfen uns zu entscheiden, was wir lesen sollen, und herauszufinden, was es überhaupt Interessantes zu lesen gibt. [ ] Wir lesen Rezensionen, weil wir eine Freude am Spiel der Ideen oder am Lesen über das Lesen haben, oder generell an gut geschriebenen Rezensionen als literarischer Form.«18 Laut Pool hat die klassische Rezensionskultur lange ihr Vertrauen in Generalisten gesetzt, die dabei auch Autorität als öffentliche Intellektuelle genießen, ganz im Gegensatz zu den Buchhandels- und Rezensions-Sites im Web, die »die demokratische Idee vertreten, dass jeder Leser etwas Wertvolles anzubieten habe«.19 Zwischen einem generalistischen Ansatz, Experten-Rezeption und den Eindrücken von Amateuren zu unterscheiden, ist hier wichtig. Die Netzkultur muss belesenen Experten, die komplexe Aspekte von technischen Protokollen einem breiteren Publikum vermitteln können, mehr Raum geben. Wie können wir den massenhaften Output von Produktrezensionen, die sich im Wesentlichen nur um Kommunikationspannen, Fabrikationsfehler und Lieferprobleme der neuesten Konsumartikel drehen, hinter uns lassen? Gail Pool beschreibt das klassische Navigationsproblem so: »Will sich wirklich irgendjemand durch 600 Rezensionen eines einzigen Buches lesen, jede mit ihrer eigenen Darstellung und Bewertung, um rauszufinden, welche von ihnen gut sind? Ich kann mir kaum Leseerfahrungen vorstellen, die unbefriedigender sind: das ganze Scrollen alleine wäre schon zermürbend, und bis ich ein paar Dutzend 18 | Gail Pool, Faint Praise: The Plight of Book Reviewing in America, Columbia, MO: University of Missouri Press, 2007, S. 4. 19 | Ebd., S. 56.

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von ihnen gelesen hätte, wäre mir die Lust auf das Buch selbst vermutlich auch schon vergangen.« 20

Die Frage ist, wo melden wir uns bei Martin Amis’ War Against Cliché an, der der Herrschaft der Banalität ein Ende setzen will? Sollte Amazon die Rezensionsfunktion ausschalten oder sollten die User sie herausfiltern? Man darf aber nicht nur die »selbsternannten Kritiker« verantwortlich machen. Am professionellen Ende sitzen die Verlage, die die Rezensenten als Werbemaschinen funktionalisieren: Schickt uns bitte kurze, knackige Statements, mit denen wir werben können. Der Aufstieg der Berichterstattung drängt anspruchsvolle Rezensionen an den Rand. Laut Pool »müssen wir bessere Wege finden, um die zu rezensierenden Bücher auszusuchen. Unser gegenwärtiges System führt unweigerlich dazu, dass wir gute Bücher übersehen, schlechte überbewerten und die Bücherseite untergraben.«21 Interessanterweise erwähnt Gail Pool Virginia Woolf, die in ihrem 1939 erschienenen Pamphlet Reviewing dafür plädierte, das Genre komplett abzuschaffen, und den Rezensenten als »eine Laus, eine verwirrte Schlaufe am Schwanz des politischen Drachens« bezeichnete. Eine diesem Text gewidmete Website sieht den Hintergrund in ihrer Sehnsucht nach »der Intransparenz der dunklen Werkstatt, wo Autoren respektiert und nicht lächerlich gemacht werden wie Mischwesen aus Pfau und Affe«.22 In unseren Hypertext-Zeiten ist es unmöglich geworden, solche Unterscheidungen zwischen Primärliteratur (Quelle) und Sekundärliteratur (Interpretation) zu treffen, wie George Steiner dargelegt hat, um dann vorzuschlagen, doch besser »den Mandarin-Wahnsinn des Sekundären vorzuziehen«.23 Für ähnlich denkende Autoren und Leser wird es zu einer Frage der »Internet-Beherrschung«, die Ablenkung – und Störung – durch die Torheit der Massen zu verhindern. Sich taktisch inner- und außerhalb der öffentlichen Arena zu bewegen als Überlebensstrategie. Die Öffentlichkeit der dreißiger Jahre, die Viriginia Woolf in den Wahnsinn getrieben hat, ist nichts im Vergleich mit den Fernseh- und Radiointerviews, Lesetouren, E-Mail-Anfragen und den 24/7-Social-Media-Verpflichtungen, denen Autoren gegenwärtig ausgesetzt sind. Und die heutigen Print-Rezensionen wiederum, egal wie kurz und schlampig sie sein mögen, sind immer noch eine Oase des Inhalts gegenüber den kruden und aufdringlichen Kurzmitteilungen in den Sozialen Medien. So stellt sich die Frage: Wie können Leser für sich selbst entscheiden, unbeeinflusst von Amazons Empfehlungsalgorithmen? Es ist zu einfach zu sagen, wie 20 | Ebd., S. 123. 21 | Ebd., S. 125. 22 | www.smith.edu/library/libs/rarebook/exhibitions/penandpress/case15a.htm 23 | Siehe George Steiner, Real Presences, Chicago, IL: University of Chicago Press, 1991.

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Pool es tut, dass wir »Formen von Kommentaren brauchen, die unparteiisch, informiert und kritisch sind«,24 ohne zu erwähnen, dass wir längst schon kollaborativ navigieren, suchen und filtern. Eine andere für unseren Zusammenhang relevante Quelle ist L.E. Sissmans 1978 erschienener Essay Reviewer’s Dues, in dem er die folgenden Regeln aufstellte: »Rezensiere nie die Arbeit eines Freundes. Rezensiere nie die Arbeit eines Feindes. Springe nie auf einen fahrenden Zug auf. Rezensiere nie ein Buch in einem Gebiet, das du nicht kennst oder das dich nicht interessiert.« Und zu guter Letzt: »Scheue dich nie, bei Urteilen ein Risiko einzugehen.«25 Welche unerlässlichen Regeln wären für den Cyberspace zu beachten? Ich würde folgende vorschlagen: Rezensiere nie einen Gegenstand, über den niemand sonst redet. Rezensiere nie irgendetwas, was online nicht zugänglich ist und worauf man nicht frei Bezug nehmen kann. Rezensiere nie eine Sache, über die man nicht in Online-Foren oder auf Mailinglisten diskutieren kann.

N E T Z WERKKULTUR ALS K ONZEP T UND A GENDA Um ein anderes Beispiel für praktische Netzkritik zu betrachten, gehen wir einmal näher auf das Konzept der »Netzwerkkultur« ein. Netzkritik kann nur dann entstehen, wenn zuerst eine lebendige, aktive Netzwerkkultur da ist. Diese Bedingung ist ein unverzichtbares Apriori und unterstreicht den subtilen Unterschied zwischen Anpassung und Entwicklung: Der Gebrauch allein wird nicht ausreichen. Damit die Netzkritik gedeihen kann, muss eine produktive Beziehung zur Technologie selbst gegeben sein. Sowohl »Netzwerkkulturen« als auch »Netzwerktheorie« verweisen auf größere Kontexte, die über die in der Populärliteratur verbreitete Dualität von real und virtuell hinausgehen.26 Diese Dualität war vor allem in den Neunzigern dominant, und ein jüngeres Beispiel war das Mem »real life« gegen Second Life. Die heutigen großen und komplexen Netzwerke heben diesen binären Gegensatz auf und führen Sozialität, Software, Schnittstellen und Router in einem System zusammen. Der Begriff »Netzwerk« hat eine spezifische Doppeldeutigkeit, da er sich gleichzeitig auf das Soziale und das Maschinische bezieht. Von Interesse ist hier eine soziale Struktur, deren Form von einer technologischen Infrastruktur bestimmt ist, denn es gibt inzwischen keine »reine Internettechnologie« mehr ohne riesige Nutzerschwärme. 24 | Gail Pool, Faint Praise, S. 124. 25 | L. E. Sissman, »Reviewer’s Dues«, in: Sylvia Kamerman (Hg.), Book Reviewing, Boston, MA: The Writer, 1978, S. 119-125. 26 | Mehr dazu in Richard Rogers, The End of the Virtual, Amsterdam: Vosius Press, 2009.

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Die Netzkritik, wie sie in Deutschland bekannt ist, wählt gezielt Themen und Fallstudien aus, einerseits in Bezug auf die speziellen Selbstreferentialität von Netzwerken, andererseits auf die Mainstream-Arrangements zwischen Medien und Organisationen. Mit letzteren, ihren institutionellen Verquickungen und sozialen Strukturen, ist die Internetkultur weiterhin im Widerstreit. Wir sollten uns dessen voll bewusst sein. Die Netzwerkkultur ist für die Akademien, Fördergremien, das Fernsehen, Kulturinstitutionen und die Kunst- und Performanceszene ein Störfaktor, und die Machtorgane stehen allerorten bereit, zurückzuschlagen, wie der WikiLeaks-Fall gezeigt hat. Wir leben nicht in einer progressiven Zeit. Gleichzeitig müssen wir verstehen, dass die »Neue-Medien-Netzwerke« (wer oder was das auch immer sein mag) nicht versuchen, Ressourcen zu stehlen und die Macht zu übernehmen, denn die Macht selbst muss neu definiert werden. Netzwerke sind informell, fluid und unsichtbar, was schließlich zu Panik und Verwirrung führt. Wie die Businessgurus predigen: Technologie ist disruptiv. Dieses Aufmischen des Bestehenden, kreativ oder nicht, lässt sich jedoch nicht als leichter Sieg des Neuen über das Alte deuten und scheint sich auch nie so zu entwickeln, wie es die Beraterklasse und die Think-Tank-Futuristen voraussagen. Die Netzwerkkultur ist sowohl ein verbreitetes Phänomen in der Gesellschaft als auch ein verbindendes Konzept, das für Forschung wie praktisches Handeln eingesetzt werden kann. Als offener Platzhalter suggeriert sie einen gegebenen Zustand und wird, was noch entscheidender ist, zu einem »seltsamen Attraktor«, der Leute zusammenbringt. 2004 wurde er in den Namen eines ganzen Programms eingeschrieben, als ich mit der Einrichtung meiner Forschungsprofessur an der Abteilung für interaktive Medien der Amsterdamer Hochschule für angewandte Wissenschaften das Institute of Network Cultures (INC) gründete. Diese Dozentenstellen wurden als kleine Einheiten betrachtet, die die innerhalb des niederländischen Systems der polytechnischen Hochschulen viel zu schwach ausgeprägte Forschung anstoßen sollten. Ned Rossiter, Sabine Niederer und Linda Wallace waren bei der Namensfindung beteiligt. Ins Jahr 2004 fiel auch die Veröffentlichung von Tiziana Terranovas Buch Network Cultures. Der Name ist ein gutes Beispiel für ein hybrides Konzept, das sowohl als seltsamer Attraktor wie auch als leerer Signifikant fungiert. Dieser Begriff zweiter Ordnung, Netzwerk + Kulturen, der der Technologie nachfolgt, verweist auf Verknüpfungen, die sich mit der Zeit herausbilden können, wenn die Begeisterung über das Neue sich gelegt hat. In einer Paraphrasierung der britischen Wissenschaftlerin Irit Rogoff könnten wir sagen, dass das INC als Marke eine Mischung von Kulturen zum Ausdruck bringt, die in hohem Maße der Wirkung der Technologie ausgesetzt sind und deshalb ihre »originäre Identität« verloren haben.27 Die behandelten Themenfelder – von Urban Screens über 27 | Ich paraphrasiere hier Irit Rogoff und ihren Essay »What is a Theorist?«, in: James Elkins und Michael Newman (Hg.), The State of Art Criticism, S. 107-109, und versuche

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Online-Video bis zu Suchmaschinen und Wikipedia – entwickeln sich jenseits des unmittelbaren Widerhalls weiter; was fasziniert, sind die Elemente, die sich dieser Logik entziehen. Die Forschung des INC erstreckt sich über Design, Aktivismus, Kunst, Philosophie, politische Theorie und Urbanismus und ist nicht allein auf das Internet beschränkt. Das Internet kann nur im Zusammenschluss dieser verschiedenen Untersuchungsfelder und -linien verstanden werden. Man darf es aber nicht durcheinanderbringen, dies ist kein naives multidisziplinäres Konzept mit völlig unterschiedlichen Beteiligten, egal welche Größe, Alter und Macht sie haben. Die Notwendigkeit, zur kritischen Erforschung des Internets (mit Ideen und Ressourcen) beizutragen, besteht für die anderen Disziplinen, nicht umgekehrt. »Netzwerkkulturen« sollte als strategischer Begriff für geisteswissenschaftlich fundierte Internetstudien gelesen werden, mit der Aufgabe, politische und ästhetische Entwicklungen in nutzergeprägten Kommunikationsprozessen zu verfolgen. Netzwerkkulturen können als sozio-technische Formationen im Aufbau verstanden werden. Sie schließen sich in kürzester Zeit zusammen, können ebenso schnell wieder verschwinden und erzeugen ein Gefühl von Spontaneität, Übergang und sogar Verunsicherung. Auch wenn es als Binsenweisheit erscheinen mag, die Grundlage von Netzwerkkulturen ist Kollaboration. Neu ist aber, dass das Zusammenarbeiten mit anderen in verteilten Online-Netzwerken oft Spannungen entstehen lässt, die nicht auf die traditionellen Regeln der Konfliktlösung zurückgreifen können. Seit seiner Gründung bildete das INC einen Rahmen, um ein vielfältiges Spektrum von Projekten zu verwirklichen, mit einer starken Betonung auf Forschung als Inhalt – nicht als Politik, Geschäftsentwicklung oder als Code. Sein Ziel war, offene Organisationsformen zu schaffen, die den Ideen von Individuen als auch Organisationen einen frühen institutionellen Kontext geben. Ein wesentlicher Schwerpunkt ist die Einrichtung (mehr oder weniger) nachhaltiger Forschungsnetzwerke um sich neu herausbildende Themen. Nach einigen Jahren werden diese Forschungsnetzwerke entweder wieder verschwinden, sich als eigenständige Organisationen etablieren oder von anderen übernommen werden. Diese Strategie lässt sich vielleicht in Begriffe fassen wie »Kritik in Aktion« oder »agierende Forschung«. Ein langfristiges Ziel der Netzkritik ist, den Aspekt der Bildung im Bereich neuer Medien zu stärken und weiterzuentwickeln. Der heutige »Gelehrte« ist eine umstrittene Figur. Lesen Digital Natives weniger oder mehr? Digitale Bildung ist bislang eher ein Thema für Forschungen im Bereich Creative Industries und Cultural Studies, die die gängige Internetnutzung mit dem Argument verteidigen, dass das Bildungssystem und die Berufswelt von der Undamit aufzuzeigen, dass es bestimmte Ähnlichkeiten zwischen den Programmen der Critical Internet Studies und der Visual Culture Studies gibt.

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terhaltungsindustrie und partizipatorischen neuen Medien, wie zum Beispiel Spielen, »lernen« sollten. Der Ansatz des INC bietet zu diesen wohlmeinenden Programmen, ohne dabei das progressive Potential des Internets aus den Augen zu verlieren, eine Alternative – eine, die sich vor allem auf die Neutralisierung von Ängsten richtet und für öffentliche Investitionen in die Digitalisierung, wie die Nutzung von Computern in Schulklassen, einsetzt, über den Weg der Reformierung von Regulierungsstrukturen und regierungspolitischen Rahmenbedingungen. Der Netzkritik geht es nicht um gesteigerte Computernutzung. Der Punkt hier ist, die Macht der Konzeptentwicklung als solcher zu verstehen und sich daran zu beteiligen. Es geht darum, Wege zu finden, wie die Konzeptentwicklung sowohl in Programmcode wie in die gelebte Praxis implementiert werden kann, von Bräuchen und Kultur bis zu neuen Formen von Organisation und Einkommen. Ein weiterer, sogar noch wichtigerer Aspekt von Netzwerkkulturen liegt in ihrer geopolitischen, postkolonialen Dimension: dem Hyperwachstum der Internetnutzerzahlen jenseits der westlichen Welt: Brasilien, China, Indien, Südostasien, Teile des mittleren Ostens und Afrika. Die Forschung des INC ist in diese Entwicklungen eingebettet und setzt sich das ehrgeizige Ziel, die Rolle der globalen Kulturtheorie zu stärken. Angestrebt wird, Kunst und Geisteswissenschaften zu einem festen Bestandteil der Internetkulturen zu machen und die gegenwärtige Apathie unter den Akademikern (die das Gefühl haben, der Technologie »hinterherzulaufen«) in eine lebendige internationale Bewegung der »kritischen Antizipation« zu verwandeln. Wir müssen dringend über das Interpretieren von Nachrichten hinausgehen und die Echtzeit-Flüsse, die uns umgeben, in den Griff bekommen. Um dorthin zu gelangen, sollten wir für den Input der »Digital Natives« und die Forschungsmethoden, die sich aus den vernetzten Technologien selbst heraus entwickeln, offen sein. Was bedeutet es, wenn wir sagen, dass Netzkritik selbst technisch werden muss? Das Technische muss in den Vordergrund gerückt werden, durch Negationen und Falsifikationen, nicht durch Behauptung einer positiven Wahrheit. Kritik wird nicht auf philosophische Aussagen gegründet, die dann auf den Gegenstand angewendet werden, in diesem Fall das Internet. Wir beginnen und enden mit einem großen Nein. Der Akt des Infragestellens selbst reicht bereits, um zu interessanten Ergebnissen zu kommen. Der Spaß an der Umkehr ist real. Deshalb nennen wir es Kritik.

Medienwissenschaften: Diagnose einer gescheiterten Fusion »Am Anfang steht das Ende, sonst wäre das Neue das Alte.« Aus dem Editorial der Zeitschrift Radikal 126/127, März 1984

Die Frage, wie man das Internet und die neuen Medien interpretieren soll, ist zu wichtig, um sie Universitätsbürokraten zu überlassen. Die aus den Geisteswissenschaften kommenden Medienwissenschaften haben die neuen Medien und die Aufklärungsarbeit im Bereich Internet nie in den Griff bekommen. Sie gehörten nie zu den Early Adoptern und haben so auch keinerlei prägenden Einfluss auf den Bereich der neuen Medien gewonnen. Über ineffektive, veraltete und uneinheitliche Verknüpfungen fasst das »Container-Konzept Medienwissenschaften« Literatur, Film, Radio und Fernsehen sowie Theater, Design, Bildende und Performancekunst gewaltsam mit neuen Medien unter einem verworrenen und undeutlichen Label zusammen. Die in den Geisteswissenschaften verankerten Medienwissenschaften haben sich dabei weder als Hort radikaler Kritik hervorgetan noch eine besondere Ausrichtung auf die Vergangenheit entwickelt, um den »medienarchäologischen« Ansatz voranzubringen. Dieses dialogische Manifest will den institutionellen Schutt abtragen. Unnötig zu sagen, dass dies zugunsten der neuen Medien, der digitalen Kultur, des Internets und der Software Studies geschehen soll. Die Zeiten, in denen wir von »den Medien« im Allgemeinen sprachen, sind vorbei. Der Begriff »Medien« ist zu einem leeren Signifikanten geworden. Dasselbe kann auch von »digitalen Medien« gesagt werden, denn es ist sowieso alles digital. In Zeiten von Budgetkürzungen, Kreativwirtschaft und geistiger Armut müssen wir die schwammigen Konvergenz-Ansätze beiseiteschieben und stattdessen gründliche Detailstudien zu Netzwerken und digitaler Kultur vorantreiben. Der mutmaßlich weite Überblick und die historische Tiefe, die im Begriff »Medium« suggeriert werden, reichen nicht mehr aus, um kritische Konzepte zu bilden. Es ist an der Zeit, dass die neuen Medien Autonomie und Ressourcen einfordern,

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um endlich die institutionelle Peripherie zu verlassen und Anschluss an die Gesellschaft zu finden. Mindestens drei größere Hindernisse liegen hier im Weg: Erstens hinkt die Theorie ihrem Gegenstand hinterher und fällt ihren eigenen Ansprüchen zum Opfer; zweitens sind die Medienwissenschaften immer noch von ihrem lästigen akademischen Erbe geprägt; und drittens verändert sich die Landschaft der neuen Medien so schnell, dass diese als Forschungsobjekt kaum zu fassen sind. Bevor wir einige unwahrscheinliche Zukunftsperspektiven für dieses Feld anbieten, befassen wir uns zunächst mit diesen Bedenken.

W ENN DIE THEORIE IHREN S TACHEL VERLIERT Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts haben die Medienwissenschaften in einem aussichtslosen Kampf versucht, mit der Geschwindigkeit der techno-kulturellen Veränderungen mitzuhalten. Wenn wir uns irgendeine Chance ausrechnen wollen, noch den Anschluss zu schaffen, müssen wir den digital vernetzten Raum als eine eigenständige Sphäre anerkennen, die eigene Begriffe und Methoden fordert. Forschungen zu digitalen Medien treten selten als besonders kritisches intellektuelles Projekt auf. Die manisch-impulsive Kultur des Pop hat sich als schwarzes Loch für zu viele Theorietalente erwiesen. Statt Konzepte in Twitter-Geschwindigkeit hervorzubringen, werden die meisten Ideen zu neuen Medien neutralisiert und in der allgemeinen Atmosphäre von Etatkürzungen und gemächlichem Wandel glattgebügelt. Das Personal an den Hochschulen ist der Reformen ohnehin müde. Die akademische Medienforschung tut zwar alles, um sich vom Feld der beruflichen Ausbildung fernzuhalten, ist bisher aber an der Aufgabe gescheitert, attraktive Denkschulen zu entwickeln. Angesichts der immer größer werdenden Kluft zwischen Theorie und Praxis haben Medienwissenschaftler mehr als genug damit zu tun, die bürokratischen Monster zu bekämpfen, die ihre wuchernde Metadisziplin herangezüchtet hat. Die Medienwissenschaften gleichen derzeit einer verlassenen Baustelle, die durch ihre eigene Vernachlässigung zerfällt. Wollen wir dieses gescheiterte Projekt starrsinnig weiterführen? Oder sollen wir die wachsenden Risse eingestehen und die Erfolge des Projekts feiern, indem wir alles dem Erdboden gleichmachen und noch mal neu anfangen? Allzu oft lautet die Frage: Wie passen neue Medien hinein? Aus pragmatischen Gründen haben die Wissenschaftler bislang damit argumentiert, dass ihr Gebiet eine »gewählte Verwandtschaft« mit Design, Fernsehen, Film, Management oder was auch immer habe … aber die hat es nie. Diese Strategie der Verschleierung hat sich inzwischen erschöpft. Die Ursache dieser konzeptionellen Stagnation liegt im Konzept Medienwissenschaften selbst. Statt Forschungsmethoden und grundlegende theoretische Konzepte zu einer ambitionierten philosophischen oder theoretischen Einheit zu verschmelzen, schleppen die allgemeinen Medienwissenschaften

Medienwissenschaften: Diagnose einer gescheiterten Fusion

die Last eines schweren Rucksacks voller heterogener Paradigmen des 20. Jahrhunderts mit sich, die von Hermeneutik und Massenkommunikation über Feminismus und Postkolonialismus bis hin zu Visual Studies reichen, je nach geisteswissenschaftlichem Hintergrund der einzelnen Länder. Wenn wir uns die Literatur anschauen, so blieb der Kanon über die letzten 15 Jahre hinweg stabil. Von Benjamin und Brecht über Innis und McLuhan, Williams, Baudrillard bis Kittler, mit persönlichen Vorlieben für Flusser und Virilio, Ronell oder Luhmann. Während keiner dieser Denker sich direkt mit aktuellen Problemen der digitalen Netzwerkumgebungen auseinandersetzt, gibt es genug konzeptuelle Bruchstücke oder Found Footage in diesen oft allgemeinen Theorien, um jüngere Wissenschaftler der neuen Medien zufriedenzustellen. Die häufig düsteren, negativen Sichtweisen wirkten wie Gegengifte zum unverbesserlichen Positivismus der Unternehmensgurus und -berater. Solange der theoretische Werkzeugkasten brauchbar war, gab es ein produktives Verhältnis. Es war eine machtvolle Geste, das Ende des Sozialen, des Politischen und der Geschichte zu feiern. Das begann sich um 2001 herum zu ändern, nach 9/11 und der Dotcom-Krise, als die Jahre der Spekulation zu Ende gingen. Allmählich wurde die Theorie historisch. Der Unterschied zwischen Medientheorie (als Reservoir von Konzepten) und »Medienarchäologie« begann sich aufzulösen. Das geisteswissenschaftliche Erbe, das früher einmal als Fundgrube schräger (nämlich irrelevanter, nicht-empirischer und unzeitgemäßer) schlagkräftiger Erkenntnisse galt, zeigte nun seine Defizite: das Soziale. Was einmal ein befreiendes Gefühl war, endlich nicht mehr über die konventionellen Themen der Sozialwissenschaften zu sprechen, kehrt nun zurück als Wiederentdeckung sozialer Formationen wie Communities, Mobs, Tribes, und eben auch … Sozialer Netzwerke. Unglücklicherweise sind diese Konzepte auf die fluiden Medienobjekte unserer Echtzeit-Ära schlecht vorbereitet. Solche Analysen bevorzugen üblicherweise visuelle Repräsentationen (weil es das ist, was in der Wissenschaft mit ihrem Film-, Fernseh- und Kunstgeschichtshintergrund zu analysieren geübt wurde), während sie die sozialen und interaktiven Dynamiken vernachlässigen. Erwarten wir ernsthaft aufregende Entdeckungen und brauchbare Einsichten, wenn wir YouTube mit Spivak »lesen«, Heroes mit Žižek aus unserem bevorzugten interpassiven Blickwinkel anschauen, mit Castells durch die Nationalbibliotheken schwärmen, Google à la Deleuze verstehen oder Twitter mit Butler deuten? Nicht nur werden die zu erwartenden Ergebnisse dieser »Cultural Studies« inadäquat sein – der Ansatz an sich ist schon falsch. Während diese Theoriekritik auf viele Felder zutrifft, gilt sie ganz besonders für die Medienwissenschaften. Die mechanische Anwendung von Theorie auf Objekte (X mit Y lesen) hat – obwohl sie auf abstrakte Art und Weise durchaus ihre subversiven und innovativen Momente haben kann – ihre kritische Schärfe schon vor einiger Zeit verloren. Eine der zentralen Funktionen von Theorie – gesellschaftlich entscheidende Fragestellungen hervorzubringen und zugleich denen, die die

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Theoriearbeit leisten, Unterstützung und Energie zu geben – wurde neutralisiert. Viele Medienpraktiker sind es nicht gewohnt, in theoretischen Bezugsrahmen zu denken, und noch weniger, damit herumzuspielen. Der amerikanische Wissenschaftler Henry Warwick, der an der Ryerson University Neue Medien unterrichtet, schreibt dazu: »Man ist immer in der Gefahr, sich von der gedankenlosen und unkritischen Akzeptanz populärer Denkfiguren blenden zu lassen, einem leeren und ignoranten Formalismus […]. Digitale Medien werden von einem nichttheoretischen Standpunkt aus betrachtet und auf instrumentelle Weise behandelt. Filminstitute beschäftigen sich oft gar nicht mehr mit Film, sondern produzieren tatsächlich Video. Studiengänge für Visuelle Kommunikation beschäftigen sich nicht mehr mit Farben, sondern unterrichten Photoshop. […] Ein ökonomisches Beispiel für die Auswirkungen der aus dieser Situation entstehenden Widersprüche ist der Canadian Television Fund, der seinen Namen in Canadian Media Fund geändert hat und nun von den Bewerbern verlangt, ihren Fernsehanträgen Online-Strategien beizulegen, wenn sie wollen, dass ihre Bewerbung überhaupt berücksichtigt wird.«1

Im Rahmen eines ähnlichen Schachzuges wurde der Niederländische Kulturund Rundfunk-Fonds (Stifo) in Medienfonds umbenannt.2 Das grundlegende Problem der Medienwissenschaften ist, dass »Theorie« niemanden mehr fasziniert. Sie hat ihre Fähigkeit verloren, die kollektive Imagination für sich zu gewinnen oder den festen Kern ihrer Anhänger zu begeistern. Einstmals progressive Inhalte ziehen kein Publikum mehr an, vor allem kein jüngeres. Manche Theorien waren in bestimmten Dekaden gleichauf mit dem Zeitgeist. Auf wundersame Weise schienen sie die Belange aller anzusprechen. Man lese sie 20 Jahre später und sie sind tot. Man komme in 50 Jahren nochmal auf sie zurück und ihre Verschrobenheit hat einen altmodischen Charme. Heutzutage werden die Heiligen Schriften der Pariser Theorie oft nur noch als indifferente Textmaschinen wahrgenommen, die nur aus einem einzigen Grund existieren: um akademische Karrieren zu legitimieren. Sie stellen das Offensichtliche in einem geheimen Code dar, der für Außerirdische geschrieben scheint. Wie konnten wir in eine so bedauerliche Situation geraten? Warum ist Medientheorie so ein Auslaufmodell? Aufgrund der sich ständig verändernden Definitionen von Medien veralteten »postmoderne« Theorien sehr schnell. Es macht zum Beispiel keinen Sinn, McLuhan oder Baudrillard auf Wikipedia anzuwenden. In der Vergangenheit bot die Medientheorie, wenn sie mit spekulativer Metaphysik und weiträumigen konzeptuellen Landschaften 1 | Aus einer privaten E-Mail-Korrespondenz vom 6. Juni 2009. 2 | www.mediafonds.nl/page.ocl?mode=&version=&pageid=10&MenuID=0

Medienwissenschaften: Diagnose einer gescheiterten Fusion

kombiniert wurde, einen Ausweg aus der spießigen Atmosphäre der Anglistikund Germanistikinstitute, doch dies ist nicht mehr die Situation, mit der die Medienwissenschaften sich beschäftigen müssen. Der entwurzelte, kontextlose Zusammenhang, der die textbasierte Hermeneutik der Literaturtheorie geprägt hat, wurde durch neoliberale Manager ersetzt, die die Forschungsergebnisse über akademische Fachzeitschriften säuberlich kontrollieren und experimentellere und spekulativere Formen des Schreibens, die Genres und Disziplinen überschreiten, zum Beispiel Essays, aussortieren. Der australisch-amerikanische Medientheoretiker McKenzie Wark, der an der New School in New York arbeitet, formuliert es so: »Leute können mit geringen Mitteln großartige Arbeit leisten, wenn sie nur daran glauben. Sie werden sogar eine bessere Arbeit leisten. Es ist kein Zufall, dass unser Kanon voll von Außenseitern ist: Marx, Benjamin, Debord, Baudrillard. Sie hatten keine Stipendien der National Science Foundation, aber sie hatten Leidenschaft. Sie hatten ›bunte Biografien‹.«3 Lev Manovich, der in San Diego (USA) ein Zentrum für Software-Studien leitet, erklärt, dass die Theorie der sechziger bis achtziger Jahre oft nicht besonders relevant ist, »weil die Geschäfts- und Computerkultur heutzutage auf vielen Prinzipien dieser Theorien beruht – von Ironie über Selbstreferentialität der Werbung bis hin zu »rhizomatischen« Netzwerken. Daher bedeutet die Benutzung solcher theoretischen Konzepte nur, das Offensichtliche festzustellen.«

D ER E XODUS AUS DEN M EDIENWISSENSCHAF TEN Wenn die Wissenschaft der neuen Medien erwachsen werden und ihr Potential entfalten will, den tatsächlichen Umfang und die Komplexität ihres Gegenstands zu meistern, muss sie sich von den »alten Medien« trennen und alleine weitermachen. Den Punkt, an dem wir technisch weniger versierten Gelehrten noch den Gebrauch des Computers, das Digitale und das Netz erklären mussten, haben wir schon lange hinter uns. Statt um schwindende Ressourcen zu streiten, wird es Zeit, die Vorsicht abzulegen und auf kompromisslose Entwicklung zu setzen. Die großen Synergien aus Multi-, Hyper- und Cross-Media-Ansätzen mögen als Geschäftsmodelle in der überdrehten »Demo-or-die«-Kultur funktioniert haben, aber in der »Publish-or-perish«-Kultur der akademischen Welt haben diese synthetisierenden Ansätze die Neue-Medien-Forschung bloß gebremst. Hollywoodfilme wie The Lawnmower Man oder The Matrix hatten niemals viel über die bestehende (globale) Kultur der neuen Medien zu sagen. Es waren bestenfalls interessante Phantasien, wie man aus dem langweiligen, geschäftigen, neoliberalen (»Es gibt keine Alternative«) Leben entfliehen mag, 3 | Aus einer privaten E-Mail-Korrespondenz vom 6. Juni 2009.

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in dem die Leute gefangen sind. Im Rückblick war die Cyberkultur eine subkulturelle Falle für diejenigen, die an Körperpolitik und visueller Repräsentation interessiert waren, und für Theorien des Internets und der neuen Medien eine Sackgasse. Wir müssen Nein sagen zur »Repräsentations«-Schule der Medienwissenschaften, die alle Probleme auf komparative Aspekte des Bildlichen reduziert – nicht weil wir die Medienfrage gelöst und all ihre Probleme hinter uns gelassen hätten, sondern weil wir die Geschwindigkeit und das Wachstum brauchen, das diese Unabhängigkeit gewährt. Um das Internet und andere schnell wachsende Bereiche wie Mobilkommunikation, Geo-Medien und Games angemessen zu erforschen, müssen wir das »Digitale« aus der Umklammerung der allgemeinen Medienwissenschaften befreien. Lehre und Forschung zu digitalen Netzwerken müssen ihre Unabhängigkeit erklären. Lassen wir die ermüdende Dialektik zwischen Alt und Neu hinter uns und vergessen wir die trübe Atmosphäre des Wettbewerbs mit Printmedien und Rundfunk. Statt ewig über weitgehende Ähnlichkeiten zu verhandeln, müssen wir das Spezifische dieser neu entstehenden Plattformen definieren. Literarische Analogien lassen sich nicht in aktuelles Wissen übertragen, das für die Politik und Ästhetik der täglichen »protokollistischen« Kämpfe, die um uns herum ablaufen, mobilisiert werden kann. Remediation gab es immer und wird es immer geben, sie gehört zum Digitalen dazu. Niemand behauptet, am Nullpunkt anzufangen, aber die Kindertage sind vorbei. Was den so oft beschworenen »Tod des Kinos« oder das »Ende des Fernsehens«4 ausmacht, darum sollen sich andere kümmern. Wir müssen uns präziser mit den Besonderheiten des Digitalen auseinandersetzen, mit vernetzten Arbeitsformen, den Zumutungen von Echtzeit und der mobilen Dimension gegenwärtiger Medienerfahrung. Es wird Zeit, dem Internet, Computerspielen und Mobiltelefonen, die heute lose unter dem breiten Label der neuen Medien zusammengefasst werden, unter ihren jeweils eigenen Bedingungen zu begegnen. Statt Zeit auf das Schicksal gedruckter Zeitungen zu verschwenden, wird unsere Aufmerksamkeit dringend für Phänomene wie ortsbezogene Dienste, Cloud Computing, Suchdienste, Onlinevideos und das »Internet der Dinge«5 benötigt. Die Debatte um »freie« und nachhaltige Modelle der Internetökonomie ist beim Mainstream-Publikum angekommen, aber die theoretischen Grundlagen – sei4 | »Ends of Television« lautete der Titel einer Konferenz an der Universität Amsterdam (UvA). Vgl. www.mediastudies.nl/vv-conferenties/conferenties-organisatie2006/End %20of %20television.html 5 | Mirko Tobias Schäfer, der Medienwissenschaften an der Universität Utrecht lehrt, widerspricht: »Seriöse Forschung würde sich mit der Analyse der Metaphern beschäftigen. Ich befürchte, dass die ständigen Versuche, mit der ›Marketingmaschinerie‹ mitzuhalten, zu schlechter Forschung führen und falsche, unangebrachte Forschungsgegenstände bestimmen werden.« (Aus einer privaten E-Mail-Korrespondenz, 18.9.2009)

Medienwissenschaften: Diagnose einer gescheiterten Fusion

en sie zustimmend oder ablehnend – sind zu schwach, um uns durch diese schwankenden Zeiten zu führen. Man muss auch einmal die grundlegende Metapher betrachten, die die Medienwissenschaften antreibt: die Idee der »Fusion«, in diesem Fall von Disziplinen und Plattformen, angetrieben von dem multidisziplinären Traum, dass »wir alle sowieso an demselben arbeiten«. Der CNET-Autor Steve Tobak fasste das Los der todgeweihten Fusionen in der Wirtschaftswelt treffend zusammen: »Manche scheiterten so spektakulär, dass die fusionierten Unternehmen ganz den Bach runtergingen, andere endeten im Rücktritt ihrer Geschäftsführer, einige stornierten sich selbst und andere waren einfach nur blöde Ideen, die von Anfang an keine Aussicht auf Erfolg hatten.«6 Was ist also das Schicksal der Medienwissenschaften? »Eine Studie von Bain & Company von 2004 belegt, dass 70 Prozent der Fusionen den Unternehmenswert nicht steigern konnten. Kürzlich stellte eine Studie der Hay Group und der Sorbonne von 2007 fest, dass mehr als 90 Prozent der Fusionen in Europa ihre finanziellen Ziele verfehlen.«7 Man mag die banale Übertragung der Businesssprache in die akademische Welt ablehnen, aber warum sollte es in der Bildung so anders sein? Wegen der ständigen Umstrukturierungen sind die Programme und Fakultäten, von denen wir sprechen, genau genommen keine Eheschließungen (die selbst eine Scheidungsrate von 40-50 Prozent haben). Was, wenn die angenommenen Gemeinsamkeiten und Synergien zwischen alten und neuen Medien sich einfach nicht realisieren? Man schaue nur, wie Time Warner seine Fusion mit AOL wieder auflöste, »wodurch Time Warner sich auf die Produktion von Fernsehshows, Filmen und anderen Inhalten konzentrieren konnte, ohne AOL ständig wie einen Albatros am Hals zu haben.«8 Angesichts des Trends in Richtung praktischer Berufsausbildung, einer Stagnation in den Cultural Studies und eines Widerwillens gegen Theorie im Allgemeinen bleiben film- und fernsehwissenschaftlichen Studiengängen nur Verteidigungsgesten gegen das sich immer weiter ausbreitende Reich des Digitalen. Wenn diese oder jene Fusion zwischen den Disziplinen und Studiengängen nicht funktioniert, ist schon alles verloren. Die Zukunft der Medienwissenschaften hängt von ihrer Fähigkeit ab, diese erzwungenen Synergien in Richtung »Screen Cultures« oder »Visual Studies« zu vermeiden und sich stattdessen der Entwicklung neuer institutioneller Formen zu widmen, die sich mit der kollaborativen und selbstorganisierten Kultur von Lehr- und Forschungsnetzwerken verbinden. Aber solange die Medienwissenschaften diesen Schritt nicht machen, werden sie eines dieser verschwindenden Objekte sein, die sie selbst gerne erforschen. Was genau würde man 6 | http://news.cnet.com/8301-13555_3-9796296-34.html 7 | http://edition.cnn.com/2009/BUSINESS/05/21/merger.marriage/ 8 | www.tvweek.com/blogs/tvbizwire/2009/05/time_warner_to_undo_aol_merger. php

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beim Ausprobieren eines neuen Ansatzes verlieren? Ist es nicht an der Zeit, sich zu verabschieden und weiterzuziehen? In manchen institutionellen Kontexten mag die Verschmelzung von Medien- und Kommunikationswissenschaften sinnvoll sein (ohnehin haben selbst die meisten Insider keine Ahnung, wo die Grenzen zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften zu ziehen sind). In anderen Fällen könnte es interessanter sein, sich mit den Kunst- und Kunstgeschichtsabteilungen zusammenzuschließen und dabei den immer noch schwachen »technischen« Arm der Bildwissenschaften zu verstärken. In seltenen Fällen könnte man sogar an eine Integration des Bereichs Neue Medien in die Informatik denken, aber bis jetzt gibt es weltweit noch kein Beispiel dafür, dass »kulturelle« Ansätze in diesem gut ausgestatteten und (deshalb) introvertierten und selbstzufriedenen Kontext willkommen wären. Leider zeigt die zeitgenössische Kulturtheorie eine unausgesprochene Attitüde der Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar Überheblichkeit gegenüber neuen Medien. Wiederholen wir hier erneut die Trennung in High und Low?9 Welcher Preis wird bezahlt, wenn die besonderen Erfordernisse eines Mediums ignoriert werden, indem man im verzweifelten Ringen um wissenschaftliche Anerkennung grobschlächtig die Arbeiten von Freud, Lacan und Foucault auf Medienprodukte anwendet?10 Dieser Rückgriff auf Theorie, der in Cultural-Studies-Programmen und Kunstakademien rund um den Globus praktiziert wird, kann als Erbe der neunziger Jahre gelesen werden, als es einen Überfluss von spekulativen Theorien und einen Mangel an empirischen Daten und (digitalen) Methoden gab. Ein Jahrzehnt später müssen wir erneut verhandeln, wie viele Programmierkenntnisse Geisteswissenschaftler als Grundausstattung benötigen. In welchem Maße sollte man selbst Software programmieren, um wirklich kreativ mit digitalen Medien umgehen zu können? Ist es nötig, im medienwissenschaftlichen Grundstudium Code zu schreiben? Erkläre es mal deinem

9 | Florian Cramer in einer privaten E-Mail vom 16.9.2009: »Das geschieht bereits. Wenn Du als Wissenschaftler nur online publizierst, giltst Du als ›lowbrow‹, wenn Du Bücher veröffentlichst, giltst Du als ›highbrow‹. Wenn Du als Filmemacher einen 35-mmFilm ins Kino bringst, bist Du ›highbrow‹. Wenn Du etwas auf YouTube veröffentlichst, bist Du ›lowbrow‹.« 10 | Das ist die Behauptung von Jordi Wijnalda, »What is Film? Manifest for a New Film Analysis«, in: Xi, Heft 17/4, S. 6, einer vierteljährlich erscheinenden studentischen Zeitschrift für Medienwissenschaft der Universität Amsterdam. Wijnalda verwirft die »Großen Theorien« und verlangt, bei der Auswahl des theoretischen Rahmens wählerischer zu sein. Sie fordert eine Renaissance der Filmästhetik gegen die eindimensionalen Ansätze, die Film auf Text reduzieren. Insgesamt sollten Kritiker ihre Forschungsgegenstände mehr respektieren. Film spricht eine andere Sprache, die sich von anderen Kunstformen und Medien unterscheidet.

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Neffen: Medienwissenschaften sind keine Kulturwissenschaften, keine Bildwissenschaften, keine Kommunikationswissenschaften. Aber was sind sie dann?

E IN VERSCHWOMMENES E RBE Was uns zum zweiten Problem bringt, eines, das im ersten impliziert ist: Die Medienwissenschaften hatten als Feld oder Diskurs von Anfang an eine geringe Kohärenz, dafür wurde ihnen ständig Launenhaftigkeit und heiße Luft bescheinigt, und das bereits, bevor sie eigentlich losgelegt hatten. Was ihnen fehlt, ist ein Geburtsmythos.11 Als akademisches Fach entsprangen sie den Köpfen von Bildungsbeauftragten und Bürokraten und vereinigten sich, um den Output zu erhöhen, mit Fakultäten und geistigen Kulturen, zu denen sie keinen Bezug hatten. Anders als die Cultural Studies, die aus den sozialen Konflikten und der Unruhe der Nachkriegszeit in Großbritannien entstanden, waren Medienwissenschaften von Anfang an ein Verwaltungskonstrukt, ein halbherzig errichtetes Top-Down-Konglomerat aus Literatur, Theater, Kommunikationswissenschaften und einigen anderen, je nach der Situation vor Ort.12 Aufgrund der Unbeholfenheit der frühen technologischen Entwicklungen wurden die Medienwissenschaften in der akademischen Gesellschaft zu Bürgern zweiter Klasse: Sie waren weder drinnen noch draußen. Sie sind genügend berufsbezogen, um für die Medienindustrie interessant zu sein; robust, aber im Vergleich mit der Philosophie wenig elaboriert. Im Nachhinein wäre es vielleicht ein besserer Plan gewesen, Medienwissenschaften als einen Ableger der Literaturwissenschaft zu installieren (wie es an manchen Orten noch passiert), die ja die Geburtsstätte der meisten Medientheorien, von McLuhan bis Kittler, ist. Die Medienwissenschaften existieren in einer Vielzahl von prekären Situationen: Sie finden sich angesiedelt bei Medien- und Kommunikationswissenschaften mit Betonung auf dem Sozialwissenschaftlichen, in der wachsenden und ökonomisch erfolgreichen praxisbezogenen Ausbildung an Fachhochschulen, die sich der zunehmenden Bedeutung des Business-Denkens bei der jüngsten Wiederbelebung der Sozialwissenschaften verdankt, und auch innerhalb des Paradigmas der Kreativwirtschaft. Nicht zuletzt aber auch in der In11 | Eine alternative Geschichte der Medienwissenschaften würde auf die Macy-Konferenzen und andere Quellen aus der Geschichte der Kybernetik hinweisen. Geschriebene Medienarchäologien haben diese Quellen jedoch noch nicht genügend einbezogen, und so werden eher die Film- und Theateraktivitäten der siebziger Jahre als Ausgangspunkt wahrgenommen (wenn man mal die sozialwissenschaftlichen Referenzen zum Medienund Kommunikationsbereich beiseite lässt). 12 | Der Wikipedia-Eintrag zu Media Studies ist ein interessanter Fall, der zeigt, wie dürftig diese derzeit definiert sind; siehe: http://en.wikipedia. org/wiki/Media_studies

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formatik, die trotz rückläufiger Studentenzahlen infolge der Auslagerung von IT-Dienstleistungen nach Indien immer noch hunderte Millionen von Euro an Fördergeldern erhält. Die Situation wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass nur wenige Menschen, wenn überhaupt jemand, die explosionsartige Ausdehnung der Informationstechnologie voraussahen, in deren Folge sich Software und Infrastrukturen über alle Gebiete der Gesellschaft ausbreiteten. Doch statt Debatten anzuheizen und kritische Konzepte zu entwickeln, wurde wertvolle Zeit mit der unproduktiven Frage verschwendet, wie die neuen Medien in die Fakultäten der alten Medien integriert werden sollten.13 Die Genealogie des Computers in der Mathematik, dem Militär und der Kybernetik hat noch kein Äquivalent zu dem kunsthistorischen Ansatz der Bildwissenschaft gefunden, die Malerei, Fotografie, Film und Internet alle in einer Analyse zusammenbringt. In deren Perspektive wird dem (technischen) Trägerkonzept nicht die gleiche Bedeutung beigemessen wie in den Medienwissenschaften. Und die nebeneinander verlaufenden Geschichten des Codes und des Bildes machen es unglaublich schwierig, sie in einem Curriculum zusammenzubringen, nur um den Studierenden vorzugaukeln, dass das alles dasselbe sei, nämlich »Medien«. Konvergenz, mit ihren letzten Inkarnationen als »Cross-Media«, »Screen Studies« oder »Trans Media«, wurde schon immer für ihren reduktionistischen, unternehmerischen Ansatz kritisiert. Nicht alles kann – oder sollte – auf Nullen und Einsen reduziert werden, ebenso wenig wie menschliche Erfahrung nicht auf »visuelle Kultur« reduziert werden kann. Medien sind weiter bestimmt als nur durch ihre Rezeption. Wie Matthew Fuller feststellt: »Wenn wir stattdessen die Produktion betonen, sei es als praxisbasierte Forschung oder als Deleuzianische Emphase der Expression, dann bekommt die Frage der Genealogie eine andere Wendung.«14 Würde ein gewöhnlicher Benutzer technischer Medien es jemals für eine schlaue Entscheidung halten, Fernsehen, Radio und Bildende Künste zusammen mit Mobiltelefonen, Twitter oder Google in einen Topf zu werfen? User nehmen aktiv teil und tauschen sich tagtäglich aus. Wohin wird eine solche Klassifizierung in unseren höchsten Bildungsinstitutionen sie wohl eher führen: zur Avantgarde der Experten oder in einen Ideensumpf am Arsch der Welt? 13 | In seinem Pamphlet »Media Studies 2.0« beobachtet David Gauntlett bei den alten »Media Studies 1.0«-Studiengängen eine »unbestimmte Kenntnisnahme des Internets und der neuen digitalen Medien als ›Erweiterung‹ zu den traditionellen Medien (mit der man wie mit einem in sich geschlossenen Segment umgeht, das an ein medienwissenschaftliches Modul, Buch oder einen akademischen Abschluss gehängt wird).« www. theory.org.uk/mediastudies2.htm, vgl. auch sein Forum http://twopointzeroforum.blog spot.com/ 14 | Aus einer privaten E-Mail-Korrespondenz vom 30.6.2009.

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Verglichen mit der wachsenden Nachfrage des Arbeitsmarkts nach Fachkompetenz in diesem Bereich hat sich die akademische Welt erschreckend wenig mit den neuen Medien oder deren Weiterentwicklung beschäftigt. Warum sollten die Kommunikationswissenschaften, literaturwissenschaftliche Programme, Film-, Fernseh- und Kulturwissenschaften, oft selbst erst wenige Jahrzehnte alt, ein so aggressives Raubtier auch willkommen heißen? Während auf der Ebene der technischen Infrastruktur viel geschehen ist, hat sich die öffentliche Wahrnehmung von »alten« und »neuen« Medien nur weiter auseinanderentwickelt. Überall in der Gesellschaft sind ernstzunehmende Spannungen und Konflikte um Themen wie geistiges Eigentum, Sprachpolitik im Netz und Techno-Libertarismus entstanden, doch die intellektuellen vermeintlichen Neue-Medien-Experten spielen in solchen Debatten nur kleine Nebenrollen. Dies ist erst recht besorgniserregend, weil sich die geisteswissenschaftlichen Fakultäten einer zunehmenden Konkurrenz aus den Bereichen Anthropologie, Soziologie, den Informationswissenschaften, Science-Technology-Society (STS)-Programmen und sogar betriebswirtschaftlichen Studiengängen gegenübersehen. Für die Community der mit neuen Medien befassten Geisteswissenschaftler wird es Zeit, Alarm zu schlagen. Es muss darum gehen, sich für Ansätze stark zu machen, die in der Ideengeschichte wurzeln, für Ansätze, welche die Bedeutung der Ästhetik und eines kritischen konzeptuellen Denkens betonen, das den aktuellen Stand der Dinge reflektiert. Die Gesellschaft stellt kritische Fragen, die direkt das Feld der neuen Medien betreffen: Was sind die sozialen Implikationen der Erzeugung von Online-Identitäten? Was sind die Politiken der Informationsvisualisierung? Wie können globale Beziehungen und lokale Kulturen mit der Flut an Informationen umgehen? Welche Auswirkungen haben wir von den »Walled Gardens« der großen Unternehmen und den nationalen Webs zu erwarten?15 Die schwindende Bedeutung der linguistischen Theorie bei gleichzeitig nachlassender Präsenz der Geisteswissenschaften und stagnierenden Personalzahlen hilft auch nicht gerade weiter. Wir können jetzt auf ein ganzes Jahrzehnt zurückblicken, in dem Pioniere der neuen Medien in harter Arbeit Programme 15 | Florian Cramer in einer E-Mail am 16. September 2009: »Das Problem ist, dass die Geisteswissenschaften durch ihre Orientierung am Kanon niemals daran interessiert waren, kurzzeitiges Wissen oder Inputs zu produzieren. Wenn man eine Dissertation oder eine Monografie schreibt, wird man als Akademiker immer einen Gegenstand wählen, der einem idealerweise ewige Reputation verschafft und eine ›zeitlos‹ gültige Kritik hervorbringt. Dies trifft auf alle Meilensteine der modernen Kritik zu, von Walter Benjamin über Auerbachs ›Mimesis‹ bis Northrop Frye, Harold Bloom usw. Mit diesem Ziel wirst Du niemals ein Buch über Twitter schreiben – jeder professionelle Betreuer wird Dich warnen, dass es zur Fertigstellung schon aus der Mode ist und Dir Deine Karriere ruinieren wird. Deshalb sind die Geisteswissenschaften strukturell konservativ und nicht an aktuellen kulturellen Themen interessiert.«

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ins Leben gerufen haben und am Ende doch nur bescheidene Ergebnisse hervorbrachten. Sie haben damit begonnen, einen umfassenden Korpus kritischer Konzepte und zugehöriger Fallstudien aufzubauen, dennoch sind zwischen 2001 und 2009 nur wenig klassische Texte entstanden. Unter den Büchern und Kunstwerken gibt es kaum welche, die es mit der Lebendigkeit und spekulativen Verrücktheit der neunziger Jahre aufnehmen können. Trotz mancher Mängel bleibt Manovichs Language of New Media von 1999 einer der wenigen kanonischen Texte, der auch Außenstehenden bekannt ist. Aber auch dieser Text lehrt uns aus heutiger Sicht mehr über die Multimedia-Kultur der Neunziger als über das Google-Zeitalter, über Blogs, Twitter und Soziale Netzwerke. Das Gleiche gilt für den New Media Reader, eine von Noah Wardrip-Fruin und Nick Montfort herausgegebene und eigentlich recht brauchbare Sammlung von Texten, die heute als historische Referenz dienen. Aber warum endet diese Anthologie mit der Erfindung des World Wide Web in den frühen neunziger Jahren? Es sagt einiges aus, dass meine persönliche Heldin des digitalen Zeitalters, Saskia Sassen, eine urbanistische Soziologin ist. Der Kanon der kritischen Internetstudien muss erst noch geschrieben werden, und zwar als wissenschaftliches Textbuch.16 Die vom Mute Magazine zusammengestellte Anthologie Proud to be Flesh ist sicherlich ein guter Anfang. Aber wer macht diese radikale Kritik, die sich in den letzten 15 Jahren innerhalb der vernetzten Welt entwickelt hat, auch in anderen Kontexten bekannt? Wird es am Ende wieder auf den gemeinsamen Nenner heruntergebrochen, dass unsere Gehirne und unsere Körper nicht mehr mithalten können und wir Gefahr laufen, unter der Informationsflut zusammenzubrechen? In Hinblick auf diese verfahrene Situation umgehen junge und ambitionierte Denker ganz bewusst die Medienwissenschaften, ob nun in Film, Fernsehen oder in den neuen Medien. Aus Karrieregründen ist es ratsamer, seinen Lebenslauf in den Visuellen Künsten oder der Philosophie zu verorten oder sich gleich auf die Geschichte von Printmedien, Film oder Fernsehen zu spezialisieren.17 16 | In seiner E-Mail-Antwort betont Mirko Tobias Schäfer die Notwendigkeit, schlechte Forschung, mangelhafte Lehre und inkompetente Administration namentlich zu nennen und nicht die Medienwissenschaften als solche für die derzeitige Situation verantwortlich zu machen. »Die Studierenden werden schlecht unterrichtet, Ted Talks werden auf einmal mit akademischen Konferenzen verwechselt, Blog-Einträge zitiert, als seien sie Essays, und Kommentare als Peer Review überschätzt. Als neue akademische Verdienste gelten Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit. Es ist interessant, wenn man die Blogrolle sogenannter akademischer Blogs durchgeht; sie sind voller populärer und zugegebenermaßen witziger Tagungsredner, aber Links zu First Monday, Arxiv oder anderen sind selten.« (18.9.2009) 17 | Florian Cramer in einer privaten E-Mail-Korrespondenz vom 16.9.2009: »Wenn ich ein Kind im Alter von 21 Jahren hätte, würde es jetzt mit der High School abschließen,

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In diesen Krisenzeiten hat der grüne New Deal die Rolle des Zukunftsprojekts von den Informations- und Kommunikationstechnologien übernommen, die außerdem, zumindest im Westen, zunehmend unter Outsourcing und ihrem schlechten Ruf in Genderfragen leiden. Forschungsgelder fließen in elektrische Autos, Windenergie und Ähnliches. Statt als Hotspot der Coolen gefeiert zu werden, werden die Medienwissenschaften heute als Deponie für versprengte und überarbeitete Akademiker mittleren Alters wahrgenommen, die allen Grund haben, sich über mangelnde Förderung und Inspiration zu beschweren. Für viele ist das Nerd-Image nicht mehr lustig. Den Leuten aus den schrumpfenden geisteswissenschaftlichen Fakultäten stand nur ein Weg offen – hinab in den Strudel des Malstroms. Und die Globalisierung der Hochschulschulausbildung und zunehmende Konkurrenz unter den Disziplinen um schwindende Fördergelder und begabte Studierende haben das Gefühl einer Krise in den Jugendjahren der Forschung und Lehre zu neuen Medien nur noch verstärkt. Wollen wir diese Herausforderungen bewältigen, benötigen wir eine Kultur der »kollektiven Förderung« von Wachstumsschüben, denn die nächste Metamorphose des Felds ist, während man noch mitten in einer Phase konzeptueller Schwäche und Unsicherheit steckt, bereits absehbar. Sind die Akteure der neuen Medien in diesem Klima des Erstarrens bereit für den nächsten großen Sprung nach vorn?

M IT DEN G OOGLES S CHRIT T HALTEN Unabhängig von der komplizierten Institutionenpolitik, die die Forschung zu neuen Medien beeinträchtigt, taucht auch ein anderes, allgemeineres Problem wieder auf. Wir gelangen zum dritten Element der Problematik, die den Stand der neuen Medien innerhalb der Medienwissenschaften charakterisiert: Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit neuen Medien hinkt dem Zeitgeist zunehmend hinterher und beschäftigt sich eher mit Geschichtsschreibung, anstatt kritische Theorien zu entwerfen, die auf neue Entwicklungen Einfluss nehmen könnten. Der Zeithorizont akademischer Forschung ist so langfristig und weiterhin so sehr auf die Produktion von Büchern fixiert, dass es immer weniund ich würde – falls man mich fragt – ihr oder ihm sehr dazu raten, statt Medienwissenschaften lieber Philosophie kombiniert mit Informatik und Literatur- oder Kunstgeschichte zu studieren. Dem ganzen Feld liegt eine Schizophrenie zugrunde. Alle guten Medienforscher haben klassische Geisteswissenschaften studiert und ich kenne keinen guten Medienwissenschaftler, der einen Abschluss in Medienwissenschaften hat. Das Problem beim Studium der Medientheorie ist, dass man üblicherweise mit einem zweitklassigen Theoriekanon mit McLuhan und allem anderen, was normalerweise auf den Literaturlisten der Medientheorie steht, ausgebildet wird.«

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ger Raum für unmittelbare Interventionen gibt – von geisteswissenschaftlichen Beiträgen zur Gestaltung der kommenden Technik und Gesellschaft ganz zu schweigen. Twitter ersetzt mal eben CNN und die globalen Nachrichtenagenturen, und die akademische Forschung hat sich schon vor Jahren aus dem technologischen Wettrennen verabschiedet. Was kann Forschung in einer Echtzeit-Gesellschaft sein? Wir können vor dieser Frage nicht weiter davonlaufen und uns mal wieder mit den institutionellen Zwängen entschuldigen, mit denen wir uns herumschlagen. Die Strategie der Naturwissenschaften, den größten Teil ihrer Gelder über »Grundlagenforschung« zu erwerben, klingt ermutigend, ist aber auch maßlos unrealistisch, da diese gar nicht ohne Weiteres zu unmittelbar praktischen Ergebnissen führen kann. Die Geisteswissenschaften leiden weiter, während die »exakten Wissenschaften« durchschnittlich 85  Prozent der Forschungsgelder für sich beanspruchen. Sind alle ethischen Probleme in Bezug auf CERN, Data Mining und Biotechnologie ausreichend diskutiert worden? Wollen wir es einfach den Regierungen und großen Unternehmen überlassen, sich selbst zu kontrollieren? Können Theorie und Ästhetik in diesem Klima ihre Führungsposition bei der Entfaltung von Visionen wiedererlangen, seien sie positiv oder negativ? Was für eine Ironie, dass in Zeiten, in denen so viel über die »kreative Stadt« oder »kreative Industrien« gesprochen wird, die Geisteswissenschaften immer weniger gefördert werden. Vielleicht sind es einfach nicht die richtigen Strategien, um die eigene Verbundenheit und die Dringlichkeit der Themen und Ansätze unter Beweis zu stellen. Wäre es da nicht besser, mit »unzeitgemäßer« Forschung zu beginnen? Henry Warwick bemerkte in unserem E-Mail-Austausch dazu: »Buchstäblich hunderte von medienwissenschaftlichen Instituten weltweit haben es mit der gleichen Dynamik zu tun: Die Idee, dass das Regime des Analogen, des Rundfunks und der Bildenden Künste im Zentrum steht, kann nicht mehr aufrechterhalten werden, denn tatsächlich wurde alles in Teilelemente zerlegt und jedes Element bildet nur einen einzelnen Strang im großen Medienverbund. Als Konsequenz werden ›störende‹ theoretische Bedenken beiseite geschoben, ignoriert oder bestraft. Das daraus resultierende Prekariat wird als ›Teil des Spiels‹ akzeptiert […]. Währenddessen bleibt unbemerkt, dass der Wechsel zur Betrachtung von Medien unter dem Aspekt der Berechenbarkeit – angesichts von billigem Speicherplatz und immer größerer Bandbreite – enorme und weitreichende theoretische, soziale, politische und ästhetische (und eine Menge anderer) Auswirkungen hat.«

Wenn man mit den Pionieren der Forschung und Lehre im Bereich Neue Medien spricht, bemerkt man jene abwartende Haltung, die sich mit dem Erwachsenwerden der Generation X eingeschlichen hat; eine Kultur der Beschwerde durchdringt die Gespräche. Die Kritik an Neoliberalismus und zügellosem Kapi-

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talismus mag scharf und richtig sein, aber zwischen den Zeilen vernehmen wir müde Stimmen. Nach zehn bis 15 Jahren harter Arbeit, um digitale und interaktive Forschungsprogramme aufzubauen, haben viele ihre Vitalität verloren und sind nicht mehr in der Lage, mutige Initiativen zu wagen und neue Wege zu beschreiten. Eine defensive Haltung stellt sich ein. Sollte man sich lieber um größere institutionelle Anerkennung bemühen oder die Institutionalisierung selbst als Ursache der Stagnation sehen? Das System zerstört die Lebensgeister derer, denen es nur ein paar Brotkrumen hinwirft. Der »digitale« Lehrkörper ist neu, nur mit befristeten Arbeitsverträgen ausgestattet und nicht durch Professuren oder Graduiertenprogramme gestützt, die Dozenten also von vorneherein in prekären Verhältnissen. Gebaut um umzufallen, wie man während der New Economy in den späten Neunzigern gesagt hätte. Die zugrundeliegende Annahme ist klar: Das Neuartige wird sich nicht halten; die digitale Mode wird wieder verschwinden. Die strukturelle Prekarität, die daraus erwächst, ist für die in der Lehre Tätigen unangenehm und bedrohlich. Was fehlt, ist eine langfristige Vision, wie diese Felder Einfluss gewinnen können, eine beängstigende Vorstellung. Während sie weder den großen Ritt auf dem Rücken das Kapitals wagen noch die radikale Verweigerung, werden die Perspektiven für Medienkünstler, Programmierer und Kritiker immer schlechter, zugleich dehnt sich das Feld insgesamt jenseits ihrer Reichweite aus. Wo liegt eigentlich unsere Kompetenz? Wenn wir der Stagnation entkommen wollen, müssen wir die maroden und ineffizienten Elemente und Praktiken ausfindig machen und sie abschaffen, bevor wir kollaborative Wikis eröffnen. Man braucht ein radikales Umdenken in der Kultur, um nicht immer automatisch in institutionellen Bahnen zu denken. Ist die Theorie, mit all der Last, die dieser Begriff mit sich trägt, ein notwendiges Grundelement der Arbeit, die gemacht werden muss?

D IE M EDIENWISSENSCHAF TEN IN DEN N IEDERL ANDEN Schauen wir uns die Niederlande genauer an, wo die Fachbereiche für neue Medien in Utrecht und Amsterdam ihre ganz eigenen mühsamen Kämpfe führen. Mit wenigen Ausnahmen hat die nationale akademische Forschungsgesellschaft NWO es versäumt, den neuen Medien (aus der Perspektive der Geisteswissenschaften) Priorität einzuräumen. Dies ist die Hauptursache dafür, dass die akademischen Forschungsprogramme zu neuen Medien geradezu winzig sind, wenn man sie mit den Ausbildungsprogrammen an den Fachhochschulen vergleicht. Um die Immatrikulationszahlen zu erhöhen, wurden letztere auch noch aktiv dabei unterstützt, eigene Abschlüsse anzubieten. Anstatt sich zu vergrößern, um mit dem Wachstum des Internets (einschließlich der Computerspiele und des Mobilfunks) Schritt zu halten, mussten die akademischen Initiativen im Bereich neue Medien sich in bereits existierende Fakultäten hin-

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einzwängen, die kaum Interesse daran hatten, die neuen Konkurrenten in Zeiten sinkender Mittel zu unterstützen. Auch der Sammelband Digital Material,18 der 2009 auf dem zehnten Jubiläum des medienwissenschaftlichen Instituts in Utrecht präsentiert wurde, behauptet keine eigene Programmatik. Er schlägt lediglich eine Zusammenfassung der Medienfrage in Form des pragmatischen und recht künstlichen Konzepts der »digital materiality« vor. Im Prinzip liegt die Abgrenzung eher bei bestimmten Methoden und Ansätzen, nicht in der Plattform. Während einige in typischer Manier die Heterogenität der Forschung feiern – dabei gibt es gar keine Utrechter oder Amsterdamer Schule der Neue-Medien-Forschung –, sehen andere im Mangel an Einheitlichkeit eine vergebene Chance, insbesondere für die unzähligen Studierenden, die das Land verlassen müssen, weil immer noch kein anständiges Promotionsprogramm oder wenigstens ein Masterabschluss für neue Medien existiert. Wenn wir die neuen Medien kleinhalten wollen, dann sollten wir weiterhin multidisziplinäre Forschungsgruppen mit disparaten Interessen schaffen – teile und herrsche! Was wir jetzt haben, ist eine langsam wachsende zusammengewürfelte Menge von Wissenschaftlern, die interessante, aber im Hinblick auf die Größe und auf die sozialen Implikationen des Feldes vergleichsweise wenig unterstützte Arbeit leisten. Wie kann die Erforschung der neuen Medien diesen Teufelskreis verlassen und in einer Art Quantensprung wieder zu den gesellschaftlichen Entwicklungen aufschließen? Was fehlt, ist die Fähigkeit oder der gemeinsame Wille, selbstbewusst und konsequent Programme, Institute und vielleicht ganze Schulen aufzubauen, mit Zukunftsszenarien, die eine nur zu offensichtliche Einsicht geltend machen: Digitalität und Vernetzung werden bleiben und nicht über Nacht wieder verschwinden. Gerade deshalb müssen wir, wenn Neue-Medien-Studiengänge eine kritische Funktion wahrnehmen sollen, den Raum einfordern, um eben solche beherzten Initiativen aufzubauen. Positiv lässt sich wohl vermerken, dass das Interesse an den Tools und Methoden der neuen Medien wächst (siehe Richard Rogers’ Digital Methods Initiative in Amsterdam und Lev Manovichs Cultural Analytics in San Diego), bei der Beobachtung der tatsächlichen gegenwärtigen technologischen Entwicklungen fällt dieses Interesse jedoch eher mager aus. Zudem liefern uns diese Tools und Methoden kaum die umfassendere Vision, die so dringend auf die Frage antworten müsste, wo die Wissenschaft

18 | Marianne van den Boomen u.a. (Hg.), Digital Material, Tracing New Media in Everyday Life and Technology, Amsterdam: Amsterdam University Press, 2009. Vgl. auch: http://www2.let.uu.nl/Solis/ogc/agendaitems/10th_anniversary_new_media.htm. Die Idee für den hier vorliegenden Text entstand aus einem kurzen Statement, das ich dort gemeinsam mit Florian Cramer präsentierte und das die Abnabelung der neuen Medien vom Kontext der Film- und Fernsehwissenschaften vorschlug.

Medienwissenschaften: Diagnose einer gescheiterten Fusion

der neuen Medien als Ganzes hingehen soll. Die Methode ist die Message. Wer weiß? Welche Vorschläge sind aus dem Feld selbst gekommen?

D IE QUANTITATIVE W ENDE Die »quantitative Wende«, die vielleicht am meisten verbreitete und in Anspruch genommene »beste Antwort« aus dem Arsenal der Medienwissenschaften, steht noch nicht für ein Programm; sie ist bestenfalls eine schlaue Reaktion innerhalb der digitalen Geisteswissenschaften, um die neuesten technologischen Angebote zu verstehen und nutzbar zu machen. Wenn wir sagen, dass »Text durchsuchbar geworden ist« und »Bilder berechenbar«, bedeutet dies, dass wir eine weitere Schicht des Wissens erforschen können, genauer: Muster, die im Vergleich mit anderen Arbeiten sichtbar werden. Dieser komparatistische Ansatz stellt eine jeweilige Arbeit in einen größeren Kontext, der den individuellen Ausdruck übersteigt. Bei Adorno und Horkheimer zeigt sich, dass quantitative Forschung, wie das Princeton Radio Project, und qualitative Analysen, wie die Dialektik der Aufklärung, sehr wohl von denselben Personen gemacht werden können. Man muss sich nicht entscheiden. Während es in der Kulturanalyse keine Notwendigkeit gibt, solche Tools zu benutzen (und noch nicht einmal sicher ist, ob die durch Data Mining und Visualisierungsverfahren gewonnenen Forschungsergebnisse überhaupt hilfreich sind), sollten wir ihre Entwicklung selbst als ein kulturelles Prototyping betrachten, das weder gut noch schlecht ist. Trotzdem bleiben viele Fragen offen. Brauchen wir diese Werkzeuge, um größere Trends zu verstehen? Gibt es andere Wege, um global zu denken? Warum brauchen wir überhaupt große Datensätze und Muster? Gibt es tatsächlich eine Krise der »Lesbarkeit« der Gesellschaft? Frühere Generationen dachten, sie könnten die Zeichen der Zeit anhand eines einzelnen Romans, Films oder Songs entschlüsseln, aber ist diese Methode noch gültig? Ist es nicht allzu einfach geworden, sofort die Gender-/ Class-/Race-Interessen im Werk eines Autors aufzudecken? Es ist nur eine Meinung; warum sollten wir uns mit nur einem einzigen Urteil (oder Symptom) abgeben? Die Unklarheit hinsichtlich der Bedeutung eines individuellen kulturellen Ausdrucks in der Massengesellschaft hat den Trend zum »größeren Bild« weiter vorangetrieben. Alex Galloway zufolge »dreht sich die Krise um die Sozialwissenschaften und die Sammlung von Daten, den sogenannten ›quantitativen Turn‹. Bislang hatten Wissenschaftler ein Monopol auf das Sammeln und Interpretieren von Information. Heute machen Google, Monsanto und Equifax diesen Job. Die Wissenschaftler werden inzwischen von der Industrie überflügelt und von der Bühne gedrängt. Deshalb muss das Konzept der Medienwissenschaf-

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ten annulliert und neu gedacht werden. Die Ironie besteht natürlich darin, dass die Universitäten genau der Ort sind, an dem dies niemals passieren wird, so konservativ, wie diese Art von Institutionen sind. Das ist die Armut des akademischen Lebens. Sollen wir die Universität also hinter uns lassen?«19

Während es in den wilden Mittneunzigern einen Hoffnungsschimmer gab, dass eine Bohème der neuen Medien die Rolle einnehmen würde, auf die Galloway verweist, hat die Dotcom-Welle fast jede unabhängige Theorieproduktion erstickt. Wie können wir in einem derartigen Umfeld die sich immer weiter ausbreitenden Coding-Aktivitäten, von Unconferencing bis zu Barcamps, von Bricolabs bis zu Book Sprints, am besten nutzen? Wollen wir wirklich hinnehmen, dass die höchste Sachkompetenz sich hinter den verschlossenen Türen von Google, Monsanto und Equifax befindet? Kann die quantitative oder rechnergestützte Wende die Medientheorie wiederbeleben? Lev Manovich: »Obwohl ich mich sehr über die Bandbreite an Möglichkeiten freue, die durch sie eröffnet wird (und das ist der Grund, warum ich während der letzten zwei Jahre all meine Energie in das Konzept der ›Kulturanalyse‹ gesteckt habe), bin ich mir über die Antwort auf die Frage nicht sicher. Zuerst einmal wird es etwa zehn Jahre dauern, bis Leute, die Medien studieren, so weit sein werden, diesen Ansatz zu übernehmen. Zweitens muss er mit einer anderen wichtigen konzeptionellen Verschiebung bei der Erforschung von Kultur einhergehen, als allem, was von allen geschaffen wird, im Gegensatz zur Beschränkung auf ausgewählte Objekte und Leute, die man aus bestimmten Gründen für wichtig hält. Dies ist wirklich ein sehr großer Paradigmenwechsel, bei dem ich nicht sicher bin, ob er überhaupt stattfinden wird. Ohne ihn werden wir einfach mit digitalen Geisteswissenschaften weitermachen, so wie sie bereits in den Literaturwissenschaften seit zwei Jahrzehnten praktiziert werden – als Analyse von Stil und von historischen Formationen, aber nur an bedeutsamen ›literarischen Texten‹.« 20

A USBLICK AUF EIN N EUES P ROGR AMM Statt immer wieder zu versuchen, den neuen Medien die Paradigmen des Films und des Fernsehens aufzuzwingen, könnten wir auch nach Disziplinen Ausschau halten, die in diesem Prozess bislang übersehen wurden. Für manche wären dies Informatik und Mathematik. Für Lev Manovich ist es Design:

19 | Aus einer privaten E-Mail-Korrespondenz vom 1.1.2010. 20 | Aus einer privaten E-Mail-Korrespondenz vom 9.6.2009.

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»Der Schlüssel zur Entwicklung einer autarken Theorie der Software-Kultur, oder wie immer wir es auch nennen wollen, liegt darin, das Design ernst zu nehmen. Weil Design im Allgemeinen ignoriert wird, lassen die Hochschulen rund 80 Prozent der zeitgenössischen Kultur unberücksichtigt. Wenn die Hochschulen beginnen, Design ernst zu nehmen – Grafikdesign, Webdesign, interaktives Design, Erlebnisdesign, Softwaredesign usw. –, kann das auch dazu führen, dass man sich die konkrete Hardware, Software und Web-Anwendungen genau anschaut – und sie detailliert analysiert, anstatt sie durch die Brille der ›hohen Theorie‹ zu betrachten.« 21

Statt künstliche Fusionen zu kreieren, haben Matthew Fuller und Andrew Goffey die faszinierenden »Evil Media Studies« ins Leben gerufen, die weniger eine Disziplin darstellen als eher »eine Weise, mit einem Set informeller Praktiken und Wissensbestände zu arbeiten«, die sie als »Strategeme« beschrieben haben.22 Hierzu machen sie folgende Vorschläge: »Umgehe die Repräsentation; beute Anachronismen aus, wecke Bösartigkeit, erzeuge maschinell Banalitäten, mache das Zufällige zum Wesentlichen, fordere Regress für Tricksereien, verkompliziere die Maschinerie, was für die natürliche Sprache gut ist, ist auch für die formale Sprache gut, kenne deine Daten, befreie den Determinismus, Unaufmerksamkeitsökonomie, Gehirne jenseits von Sprache, halte deine List so lange wie möglich geheim, achte auf die Symbole, der Sinn wird folgen, und die Kreativität der Materie.« Diese programmatischen Aussagen lassen sich ins Feld führen gegenüber Unternehmensliteratur, akademischen Konventionen und anderen selbstgerechten Befunden darüber, wie segensreich Medien sein können (aber in der chaotischen Realität des Alltags nicht sind). Böse oder nicht, es wird Zeit, die akademischen Beschränkungen hinter sich zu lassen und die kollektive Imagination zu öffnen. Allmählich sollte man damit aufhören, über lokale Grenzen zu sprechen, und schauen, was die gemeinsamen Ziele sind. Es gibt mehr als genug Hilfsmittel und Plattformen (obwohl nur wenige wissen, wie man sie geschickt nutzt). Allzu oft beschränken wir uns selbst aufgrund »ihrer« Regeln, in dem naiven Glauben, dass ein positiver Wille von unserer Seite den Raum für Verhandlungen erweitern wird. Dies wird gerade deutlich, wenn Theoretiker, Künstler und Aktivisten der neuen Medien mit den von der akademischen Welt und der unternehmerischen Publikationsindustrie erzwungenen, undurchlässigen Urheberrechtsregelungen konfrontiert sind. Wir beobachten, wie subversive Geister all ihre Rechte blind an SAGE, Elsevier Reed und andere Riesen abtreten. Warum? Wo die Open21 | Ebd. 22 | Matthew Fuller und Andrew Goffey, »Evil Media Studies«, in: Jussi Parikka, Tony Sampson (Hg.), The Spam Book: On Viruses, Porn, and other Anomalies from the Dark Side of Digital Culture, Cresskill: Hampton Press, 2009. Onlineversion: www.spc.org/ fuller/texts/10/

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Access-Bewegung so an Schwung gewinnt, fragt man sich, wann auf diesem Gebiet endlich auch ziviler Ungehorsam um sich greifen wird und wann die Fälle von Mikro-Widerstand (die bereits in Erscheinung treten) eine kritische Masse erreichen. Es ist an der Zeit, dass wir uns restriktiven Verlagsverträgen verweigern und uns selbst organisieren. Hören wir auf zu jammern und entwickeln selbst eine andere Publikationskultur, die auf der Höhe der Zeit ist. Lasst uns aktualisieren, wie wir selbst über unser Feld denken. Obwohl er die »Marke« Medienwissenschaften nicht vollständig preisgibt, schlägt McKenzie Wark eine alternative Sichtweise vor, um die Entwicklungen des Bereichs geschichtlich einzuordnen: »Etwas immer wieder für erledigt zu erklären ist verbunden mit der Verweigerung, es zu historisieren. Es gibt zwei Möglichkeiten, Medienwissenschaften historisch einzuordnen. Die eine ist, neue Medien als Zusatz oder Erweiterung der alten Medien zu betrachten. Zum Beispiel mit dem Kino zu beginnen und das Neue als ›das Gleiche, aber anders‹ im selben Denkraum und derselben disziplinären Zuordnung zu positionieren. Der andere Weg beginnt mit den Phänomenen, die vor uns liegen – Spiele, Mobilfunk, Internet –, inwieweit erzeugen sie gänzlich neue (weitreichende) Genealogien? Inwiefern fordern sie uns dazu auf, vorhandene Geschichten zurückzuweisen oder zu korrigieren? Man muss drei Methoden vereinigen: die konzeptuelle, die ethnografische und die experimentelle. Das bloße Lesen von ›Texten‹ hilft uns im Moment nicht weiter.« 23

Drüben in New York plant McKenzie Wark, die Medienwissenschaften zu revolutionieren. »Ich nehme an, dass es ein intellektueller Kampf innerhalb dieses Raums wird. Das Kindesalter ist vorüber und damit auch unsere Unschuld. Ein intellektuelles Projekt in Position zu bringen hat mit Ressourcen zu tun und damit, Kämpfe anzuzetteln und Verbündete zu finden.« Innerhalb dieses Dialogs sieht Toby Miller, Leiter des Cultural & Media Studies Department an der University of California, Riverside, die Medienwissenschaften von drei Themen beherrscht: Eigentum und dessen Kontrolle, Inhalt und Publikum. »Die Medienwissenschaften 1.0 geraten angesichts von Bürgern und Konsumenten als Publikum in Panik, während die Medienwissenschaften 2.0 sie feiern. Ich würde panikfreie, kritische und internationalisierte Medienwissenschaften 3.0 bevorzugen.« Für Miller sind die alten Versionen der Medienwissenschaften eng mit nativistischen und imperialistischen Epistemologien verbunden, die überwunden werden müssen. Er schlägt die Version Medienwissenschaften 3.0 vor, die »ethnographische, politisch-ökonomische und ästhetische Analysen auf globaler und lokaler Ebene zusammenführen, Verknüpfungen zwischen Schlüsselthemen der kul23 | Aus einer privaten E-Mail-Korrespondenz vom 9.6.2009.

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turellen Produktion in der ganzen Welt (Afrika, Nord- und Südamerika, Asien, Europa und den Mittleren Osten) herstellen und diasporische/enteignete Gemeinschaften und deren eigene kulturelle Produktion (eingeborene Völker, afrikanische und asiatische Diasporas, Latinos und Völker aus dem Mittleren Osten) mit einbeziehen. Die Medienwissenschaften 3.0 sollten eine medienzentrierte Version von Regionalwissenschaften sein, die die Diaspora genauso wichtig nehmen wie die Regionen selbst. Sie müssen sich auf kollektive Identität und Macht beziehen, auf die Art, wie menschliche Subjekte geformt werden und wie sie kulturelle und soziale Räume erfahren.« 24

Wir benötigen eine globale Perspektive für die Medienwissenschaften als einer produktiven Kraft, die über das bloße Studium der Wirkung von Medien an diesen Orten hinausgeht. Neue Medien sollten als integriertes System betrachtet werden, dessen Nutzer zum lebendigen Kern der Technologie selbst beitragen. Dieser Ansatz braucht nicht nur intellektuelle Unterstützung, sondern muss auch umgesetzt werden. Die geisteswissenschaftliche Perspektive macht zum Beispiel radikalere Schnitte und spricht andere Register an. Die Kritik stellt volle Autonomie als Bedingung (vom Bachelor- bis zum PhD-Programm, um es im Bildungsjargon zu sagen), um erneut über interdisziplinäre Zusammenarbeit sprechen zu können. Eine nochmals andere Herangehensweise wäre es, gänzlich neue Organisationsformen zu entwickeln. Welche taktischen Ressourcen werden benötigt, damit »Organisierte Netzwerke«, verteilte Think Tanks und temporäre Medien-Labore vernünftig arbeiten können? Ein Großteil der technischen Infrastruktur steht bereits zur Verfügung – manchmal umsonst, manchmal mit harter Währung angeschafft. Auch wenn das Fundament von der Theorie gelegt wird, kann dieser Weg nur durch die Praxis zu Ende gegangen werden. Alles hängt an Konzepten, Demos, Betas, Versionen und direkten persönlichen Begegnungen, dem teuersten und wertvollsten Teil der Unternehmung. Dem am Rotterdamer Piet Zwart Institute for Media Design lehrenden und forschenden deutschen Medientheoretiker Florian Cramer zufolge ist eine der fürchterlichsten Hinterlassenschaften der Medienwissenschaften das Prophezeiungs-/Futurologie-Spiel: »Leute wie Marshall McLuhan oder Norbert Bolz machten mit ihren ›Visionen‹ einer zukünftigen Kommunikationskultur eine Zweitkarriere als hochbezahlte Industrieberater. Medienkunst, wie sie von der Ars Electronica in Linz bis zum STRP-Festival in Eindhoven dargeboten wird, kommt immer noch mit dem Ausmalen von Bilderbüchern oder teuer 24 | Toby Miller, »Step Away from the Croissant, Media Studies 3.0«, in: David Hesmondhalgh und Jason Toynbee (Hg.), The Media and Social Theory. London: Routledge, 2008, S. 213-30; Toby Miller, »Media Studies 3.0«, in: Television & New Media 10/1, 2009, S. 5-6.

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produziertem, nicht-funktionierendem Technokunst-Müll aus ›Art Media Labs‹ durch, weil das irgendwie die Vision der zukünftigen Medien sein könnte (obwohl das nie eingelöst wurde), und beansprucht immer noch staatliche Fördermittel.«25

Was wir nach Cramer wirklich brauchen, sind kritische Studien zum zeitgenössischen Gebrauch und den Kulturen der elektronischen/digitalen Informationstechnologie. Wir müssen deshalb nicht gleich nach den Medienwissenschaften 2.0 oder 3.0 rufen. Wir reden nicht über die nächste Generation, nicht einmal von einem bloßen Upgrade des derzeitigen institutionellen Setups. Die Hauptakteure in den Medienwissenschaften brauchen nicht über die Möglichkeiten des Web 2.0 informiert zu werden; wir können voraussetzen, dass sie sich dieser voll bewusst sind. Es ist nicht die Zeit, Forderungen an diejenigen zu stellen, die derzeit »das Sagen haben«. Vielmehr müssen wir die sozialen Formen der philosophischen Forschung für uns selbst neu wiedergewinnen. Es ist bereits zu viel Energie auf die Frage verschwendet worden, wie neue Medien möglicherweise in die institutionellen Gegebenheiten passen könnten. Eine ganze Generation hat sich schon in einem verwirrenden und mühseligen Kampf durch die Institutionen verlaufen, während die ausgelassene Vitalität der Welt digital geworden ist. Was können wir für diese ganze verausgabte Energie vorweisen? Verschlingen die Computer und das Internet so viel kreative Libido, dass kaum etwas übrig bleibt, um die althergebrachten Umstände zu verändern, in denen das traditionelle Leben stattfand? Was passiert, wenn wir mehr Selbstbewusstsein unter den Theoretikern und Praktikern der neuen Medien entwickeln? Was passiert, wenn wir uns selbst als Akteure in das Heldenepos der neuen Medien einbringen und uns in einer offenen und schließlich souveränen Weise auf die uns umgebenden Medientechnologien beziehen?26

25 | Aus einer privaten E-Mail-Korrespondenz vom 16.9.2009. 26 | Dank an Matthew Fuller, Alexander Galloway, Josephine Berry, McKenzie Wark, Toby Miller, Florian Cramer, Mirko Tobias Schäfer und Lev Manovich für ihre Dialogbeiträge beim Text-in-Progress, sowie Henry Warwick und Tim Syth für ihre editorische Unterstützung.

Bloggen nach dem Hype: Deutschland, Frankreich, Irak »Ich bin versucht zu behaupten, dass wir zum Subjekt zurückkehren müssen – obwohl nicht zu einem rein rationalen kartesischen. Aus meiner Sicht ist das Subjekt inhärent politisch, in dem Sinne, dass ›Subjekt‹ für mich ein Stück Freiheit bezeichnet – wo man nicht mehr in einer festen Substanz verwurzelt ist, sondern sich in einer offenen Situation befindet. Wir können heute nicht einfach weiter die alten Regeln anwenden. Wir haben es mit Paradoxien zu tun, die keinen unmittelbaren Ausweg bieten. In diesem Sinn ist Subjektivität politisch.« Slavoj Žižek im Interview mit Spiked Online1

Ein Hoch auf die Blogs. Als Nachfolger der Internet-Homepages der Neunziger erschaffen Weblogs eine einzigartige Mischung aus Privatem (Online-Tagebuch) und Öffentlichem (PR-Management des Selbst). Sie bildeten das Software-Vehikel für den Übergang von der früheren utopischen Cyberkultur zum heutigen Internet als Massenkultur. Blogs und die Plattformen der Sozialen Netzwerke, mit denen sie untereinander im Datenaustausch stehen, sind zum neuen Medien-Mainstream geworden: die Blogger sind die digitale Multitude. Bei einer relativ stabilen Zahl von 150 Millionen Blogs (nach den Erhebungen von 2010), was ungefähr 10 Prozent der Netzbevölkerung entspricht, sind sie technisch gesehen weitgehend vereinheitlicht. Indem sie Publikum und Aufmerksamkeit fragmentieren, neutralisieren sie die zentralisierten Bedeutungsstrukturen des 20. Jahrhunderts, die uns von Zeitungen, Radio und Fernsehen bekannt sind. Blogger sind weder Journalisten noch Nerds. Mehr als alles andere verkörpern sie die Kultur des Web 2.0. Wenn wir Blogs untersuchen wollen, müssen wir verstehen, dass es um mehr geht, als den Output dieser oder jener Anwendung zu messen. Kritische Internetstudien sollten stattdessen davon ausgehen, dass Medien nicht bloß berichten, sondern eine zentrale Rolle bei der Zirkulation von Stimmungen 1 | Im Interview mit Sabine Reul und Thomas Deichmann, 15. November 2001, auf Spiked Online: www.spiked-online.com/Articles/00000002D2C4.htm

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spielen. Die Nutzer sind gefangen in einem Netz von Reizen und Gefühlen, die auf spezifische Weise kanalisiert werden. Jede Anwendung beeinflusst uns; sie bringt uns dazu, dies zu sagen und jenes nicht, und dann formt sie diese Stimmungen und verpackt sie auf eine neue und andere Weise. Wir müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, welche emotionalen Reaktionen unmittelbar von der Software selbst angesprochen werden. Soziale Netzwerke, MSN, Twitter, Blogs, IRC-Chats, Usenet und Webforen, sie alle tragen nicht gerade dazu bei, das Tier in uns zähmen. Statt seine Nutzer ausdrücklich zu einem zivilisierten Verhalten zu bewegen, lockt das Internet sie vielmehr in eine informelle Grauzone zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre. Einigen Plattformen gelingt es dabei besser, die emotionalen Äußerungen der Nutzer einzufangen, zu speichern und zu ordnen, als anderen. Früher einmal wurden Schreibmaschinen als Bedingung der Inspiration betrachtet, vorausgesetzt dem Schreiber stand eine (weibliche) Sekretärin zur Verfügung, der er seine Ströme des Unbewussten diktieren konnte. Heute erzeugt das Internet einen endlosen Fluss von Reaktionen des Nervensystems. E-Mail gilt als persönlicher und direkter als auf Papier geschriebene Briefe. Auf Facebook versuchen wir nett zu sein, denn wir sind ja unter »Freunden«. Bloggen dagegen ist von Beginn an eine einsame Übung, die hauptsächlich auf Informationsverarbeitung und -reflexion gerichtet ist, aber selten zu sozialem Austausch führt, selbst wenn andere reagieren. Auf Nietzsche zurückverwiesen, der erkannte, dass »unser Schreibzeug mit an unseren Gedanken arbeitet«,2 beobachten wir, wie jede Internetanwendung ihre ganz eigene Kombination menschlicher Eigenschaften adressiert.

W INER UND DAS BLOGGENDE I NDIVIDUUM Was macht ein Blog zu einem Blog? Die Einträge sind oft hastig geschriebene persönliche Reflexionen, die sich um einen Link oder ein Ereignis ranken. In den meisten Fällen haben Blogger nicht die Zeit, Fähigkeiten oder finanziellen Mittel für gründlichere Recherchen. Allerdings sind Blogs auch keine anonymen Nachrichtenseiten; sie sind zutiefst persönlich, selbst wenn niemand sich namentlich zu erkennen gibt. Blog-Software hat eine wunderbare Wirkung: Sie stellt Subjektivität her. Wenn wir bloggen, werden wir (wieder) zu Individuen. Und selbst wenn wir gemeinsam bloggen, antworten wir auf den Ruf des Codes immer noch, um etwas über uns selbst als einzigartige Person zu erzählen.

2 | Friedrich Nietzsche, Brief zum Ende des Februars, in: Friedrich Nietzsche, Briefwechsel: Kritische Gesamtausgabe, Hg. G. Colli und M. Montinari, Berlin, 1975-84, Kap. 3, 1, S. 172.

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Der Blog-Pionier und Erfinder des RSS-Feeds Dave Winer definiert ein Blog als die »unredigierte Stimme einer Person«. Es ist weniger die Form oder der Inhalt; es ist vielmehr »die Stimme«, die das Blog als eigenständige Medienform charakterisiert. »Wenn es eine Stimme ist, die nicht redigiert und durch Gruppendenken bestimmt wurde – dann ist es ein Blog, egal welche Form es annimmt. Wenn es sich hingegen um das Ergebnis eines Gruppenprozesses handelt, in dem man sich lieber bedeckt hält und Konfrontationen vermeidet, dann ist es keins.«3 Winer glaubt nicht, dass zur Definition von Blogs auch externe Kommentare gehören. »Das Coole bei Blogs ist, auch wenn sie still sein mögen und es vielleicht schwer ist, das zu finden, was man sucht, man kann wenigstens sagen was man denkt, ohne niedergebrüllt zu werden. So können auch unpopuläre Ideen zum Ausdruck gebracht werden. Und wenn man in die Geschichte schaut, waren die wichtigsten Ideen oft die unpopulären.« Während Soziale Netzwerke und die Mailinglisten-Kultur auf Vernetzung, Austausch und Diskurs gerichtet sind, ist Bloggen laut Winer zuallererst ein Akt der Introspektion, in dem ein Individuum über seine Gedanken und Eindrücke reflektiert. Als klassischer amerikanischer Technolibertärer versteht er Blogs als Ausdrucksformen der freien Rede und eines Individualismus, der davon ausgeht, dass alle ein Recht auf ihre eigene Meinung besitzen und den Mut haben sollen, sie zu sagen. Dave Winers Definition ist ein gutes Beispiel für eine besonders urwüchsige, heroische Form des westlichen Individualismus. »Ich liebe die Vielfalt der Meinungen. Ich lerne von den Extremen.«4 Der Blogger erscheint bei ihm als westlicher Dissident: der Einzelgänger, dem es wichtig ist, anders zu sein. Aber es verlangt überhaupt keinen besonderen Mut, um auf einem Blog zu äußern, was man denkt. Das Medium weiß es: was ermutigt und beklatscht wird, was die Kommentare anheizt und eine Kaskade an Crosspostings auslöst, ist das Schockierende, das Inakzeptable, das Extreme. Dabei macht es keinen Unterschied, ob irgendjemand den überzogenen Standpunkt unterstützt – er kann ohne Aufwand in den Raum gestellt werden, einfach zum Spaß und für den besonderen Kick, oder um Hits und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Winers Beschreibung führt uns zurück zu einer Erfahrung aus der Anfangsphase des Webs in den späten neunziger Jahren. Blogs waren noch durchdrungen von der ursprünglichen Erregung der Entwickler und Early Adopter, dort hinzugehen, wo niemand zuvor war, und die Grenzen von Ethik, Meinungsfreiheit, Sprache, des Publizierens und des allgemein Akzeptierten auszuloten. Sie waren die letzte Grenze, wo man schreiben konnte, was immer einem in den Sinn kam. Die User, die nun ein Jahrzehnt danach eintreffen, erleben dieses Gefühl nur selten. Sie sehen sich mit einem extrem belebten sozialen Um3 | Dave Winer, Scripting News: www.scripting.com/2007/01/01.html 4 | Ebd.

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feld konfrontiert und wissen nicht, wie sie dort ihren Platz finden können. Das Problem ist nicht, was sie in den Schacht hineinrufen, sondern wie sie sich in der geschäftigen Ameisenfarm, genannt »Blogosphäre«, überhaupt orientieren sollen. Bin ich eine visuelle Person und passe besser zu Tumblr oder Flickr, eher süchtig nach dem Community-Aspekt des Bloggens, den mir zum Beispiel LiveJournal und SkyBlog anbieten, oder gilt meine Leidenschaft dem sozialen Rauschen auf dem Mikroblogging-Dienst Twitter? Auch wenn ein Blog schnell aufzusetzen und einfach zu bedienen ist, dauert es eine Weile, bis die Nutzer mit den Spielregeln vertraut sind. Hier geht es weniger um den selbstbezogenen Moment, in dem man sich hinsetzt, um eine wichtige Geschichte zu schreiben. In Winers Ontologie liegt das Wesen der Blogerfahrung darin, ein Blog überhaupt anzufangen. Es ist nicht die Software oder der soziale Hype, sondern die Erregung, einen Account zu erstellen, dem Blog einen Namen zu geben und ein Template auszuwählen: »Bei einem Blog kommt es nicht darauf an, dass die Leute deine Ideen kommentieren können. Solange sie ihr eigenes Blog beginnen können, wird es keinen Mangel an Orten für Kommentare geben. Woran es aber immer einen Mangel geben wird, ist der Mut, das Außergewöhnliche zu sagen, ein Individuum zu sein, für die eigenen Überzeugungen aufzustehen, auch wenn sie nicht populär sind.« 5

Für Winer ist Bloggen ein mutiger Akt, da es ein authentisches Schreiben verlangt – ohne Überarbeitung und Einflussnahme durch eine Gruppe. Dieses scheint für ihn der reine Ausdruck des Individuums zu sein, während Kommentare ihn nur verwässern, Konformität erzeugen sollen. Letztlich geht Winers Betonung der Authentizität auf eine alte Idee der Romantik zurück, eine Idee, die in der postmodernen Gesellschaft von Konzepten wie Wiederholung, Mimesis und dem allseits beliebten »großen Anderen« abgelöst wurde. Was wir sagen und denken, ist demnach nur eine Wiederholung dessen, was wir schon gelesen oder gehört haben – und wir wissen das. Statt autonome Subjekte zu sein, die selbst kreativ Neues schaffen, lassen wir andere durch uns sprechen. Das ist nicht schlecht, negativ oder ein Anlass, sich Sorgen zu machen – wir können uns vom Fetischismus des Neuen lösen und ihn dem Konsumentenkapitalismus überlassen. Verschiebungen und Veränderungen, Wechsel in Ideen und Denken vollziehen sich ohnehin eher zufällig und im Nachhinein. Winers Verständnis der Stimme des Autors unterscheidet sich in gewissem Sinne von der des slowenischen Philosophen Mladen Dolar, einem Lacanianer und Autor des Buches A Voice and Nothing More. Wenn wir Dolars Vorstellung auf Blogs übertragen, könnten wir sagen, dass die Stimme des Blogs sich als ein unbeabsichtigter Effekt herausbildet. Sie kann durch das Schreiben hervor5 | Ebd.

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dringen, ohne dass der Autor sie bewusst erzeugen würde, und ließe sich dann als die Subjektivität des Blogs oder dessen Persona verstehen (die nun von dem Zwang, diese nachzuahmen, profitieren kann). Winers Fehler könnte sein, dass er diese Stimme oder Persona mit Authentizität und Mut assoziiert. Von Dolar ausgehend wäre es überzeugender, die Stimme mit der Kunst, eine Persona zu kreieren, zu verbinden. Bloggen ist von Natur aus eine Maskerade. Es ist Imitation, Präsentation und der Drang, gesehen, präsent, anerkannt, geschätzt zu werden – vielleicht einfach nur der Drang zu sein, Punkt. Um Winers Definition von Blogs zu präzisieren, müssen wir darüber hinaus verstehen, dass die Stimme des Bloggers auch auf eine gestiegene Bedeutung des Mündlichen in den neuen Medien hinweist. Die Bezüge zu Walter Ong und Marshall McLuhan sind in diesem Zusammenhang offenkundig. Blogs sind eher eine digitale Erweiterung oraler Traditionen als eine neue Form des Schreibens.6 Blogeinträge werden zu oft als eine Form von kreativem Schreiben betrachtet, dabei sollte man sie eher als aufgezeichnete Unterhaltungen sehen – die dann, in der nächsten Runde, kommodifiziert und als content vermarktet werden. Durch Bloggen gehen Neuigkeiten vom Vortrag in die Konversation über. Blogs geben Gerüchte und Klatsch, Unterhaltungen in Cafés, Bars, auf Plätzen und in Korridoren wieder. Sie zeichnen »die Ereignisse des Tages« auf, wie Jay Rosen, Professor an der New York University, sie definierte. Heute sind die Aufzeichnungsmöglichkeiten so weit entwickelt, dass wir uns schon gar nicht mehr darüber aufregen, wenn Computer alle unsere Bewegungen und Äußerungen (Klang, Bild, Text) »lesen« und sie in Reihen von Nullen und Einsen »schreiben«. In diesem Sinne stehen Blogs im Einklang mit dem allgemeinen Trend, dass alle unsere Bewegungen und Aktivitäten überwacht und gespeichert werden, hier allerdings nicht von einer unsichtbaren und abstrakten Autorität, sondern von den Menschen selbst, die ihr tägliches Leben aufnehmen.7 Ähnlich wie auch die SMS-Sprache bei Mobiltelefonen übernehmen Blogs die gesprochene Sprache des Alltags. Man sollte sie daher nicht als »degenerierte« Spielart der offiziellen Schriftsprache in der Literatur, im Journalismus oder in wissenschaftlichen Texten abtun, auch wenn dies auf den ersten Blick verwirrend scheint. Geht es bei Blogs nicht gerade um die Rückkehr des guten Schreibens unter den einfachen Bürgern? Jedenfalls sollten wir den informellen, unfertigen Stil des Bloggens im Kontext einer technologischen Entwicklung sehen, in der mehr und mehr Geräte 6 | Nick Gall: »Viele Medien glauben, dass Blogs eine neue Form des Publizierens sind, aber in Wirklichkeit sind sie eine neue Form von Konversation und eine neue Form von Gemeinschaft.« In: David Kline und Dan Burstein (Hg.), blog!, New York: CDS Books, 2005, S. 150. 7 | Aus Wolf-Dieter Roth, »Mein blog liest ja sowieso kein Schwein«, Telepolis, 27. Dezember 2005. www.heise.de/tp/artikel/21/21643/1.html

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Sprache aufzeichnen, einschließlich, paradoxerweise, auch Tastaturen. Nicht alles was neu ist, ist auch eine Neuigkeit. Wir sollten uns die Freiheit zurückerobern, unzeitgemäße Dinge zu tun. Nicht jede frisch hochgeladene Datei will in der Echtzeitökonomie kategorisiert und verwertet werden. Als sekundäres Aufzeichnungssystem lassen sich Blogs zwischen dem offiziell sanktionierten Schreiben in Büchern oder Zeitungen, das redigiert und auf Rechtschreibung überprüft wird, und der informellen Kommunikation per E-Mail, Text-Messaging und Chats verorten. Dabei sind sie dem sanktionierten Schreiben eine Stufe näher, denn sie stellen eine Form des Publizierens dar: In dem Moment, in dem wir auf »Veröffentlichen« klicken, fügen wir der Datenbank eine neue Datei hinzu. Gleichzeitig ist diese textbasierte Form, mit dem Bildschirm zu reden, ein persönlicher Weg, eine Kommunikation zu speichern, die wir mit uns selbst (und mit der Maschine) führen. Chatten ist Reden mit geschriebenen Worten; aber während wir über Chats und E-Mails mit einer anderen Person kommunizieren, ist bei Blogs oft weniger klar, wer eigentlich angesprochen wird. Besonders die Mainstream-Medien haben Probleme, diesen neuen Zwischenbereich zu verstehen. Als Folge dieser Missverständnisse werden Blogger zu Teilnehmern zweiter Klasse in einem Wettbewerb deklariert, für den sie sich gar nicht angemeldet haben.

B LOGS SIND SO 2004 Eins ist klar: Die Untersuchungen zu den frühen Blogs sind längst überholt. Die Millionen heutiger Weblogs, die in immer schnellerem Rhythmus auftauchen und wieder verschwinden, lassen sich nicht mehr am Beispiel der Pioniere von damals erklären. Ihre schiere Masse übersteigt einfach die bisherigen Begriffe, die auf die »A-Liste« der amerikanischen Blogger-Gurus, auf Katastrophen- und Event-Blogs und auf politische Schwärme gemünzt waren. Was einmal mit der Einführung von Bannern und Google-Ads begann, mündete schließlich in den Kauf der Huffington Post durch AOL, und die Entwicklung zu zentralistischer Aggregierung scheint weltweit unaufhaltsam fortzuschreiten. Angesichts der Ausdehnung der Blogosphäre und der Verschiedenheit der Einsatzzwecke, Schwerpunkte, Dateianhänge, Performances, Netzwerke und Inhalte, die die Praxis des Bloggens hervorgebracht hat, ist der Mangel an einer adäquaten Theoretisierung offenkundig. Die meiste Literatur stammt aus der Zeit zwischen 2004 und 2008, behandelt einige bekannte Blogger und begnügt sich ansonsten damit, das generelle Potential des Bloggens hervorzuheben. Aber es gibt kaum Diskursanalysen, die detailliert einzelne Blogs untersuchen. Nochmals, der Punkt ist hier nicht die (potentielle) Beziehung zur Nachrichtenindustrie, sondern die Selbstdarstellung in persönlichen Blogs. In welchem Verhältnis steht die unredigierte Stimme des Individuums zur zunehmenden

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und durch Software unterstützten Tendenz, das Subjekt in ein Gewebe von Nutzern und ihrer Links zu Dokumenten und Multimedia-Objekten einzubetten? Man könnte in diesem Zusammenhang bei Bloggern von einer »verteilten Subjektivität« sprechen. Wenn das Blog Teil eines bestehenden Sozialen Netzwerks ist, ist es einfach ein Knoten, wo Material (Texte, Bilder, Profile) gespeichert wird. Wenn die Linkliste fehlt oder nur auf die üblichen »Wahlverwandtschaften« mit A-List-Bloggern oder Nachrichtenmedien verweist, können wir vermuten, dass das Blog in einem hauptsächlich reflexiven und introspektiven Stil betrieben wird. Zunächst einmal stellen Blogs unsere »verteilte Subjektivität« in ein Wolkenfeld von »Freunden«, die man im Raum der Populärmedien findet. Während die Blogkultur sich weiterentwickelt und in ihr zweites Jahrzehnt tritt, sehen wir einen zunehmenden Druck auf die tieferliegende Software-Architektur, sich von der Kultur der insularen Rückschau auf die technische Verortung des Bloggers innerhalb von Netzwerken umzustellen, was durch die Suchmaschinen (sprich Google) noch gefördert wird. Von nun an erzeugt die Maschine soziale Beziehungen für uns automatisch, wir müssen nichts mehr selber machen, solange wir die Suchmaschine mit unseren persönlichen Daten füttern. Was wir als persönlich wahrnehmen, hat das System bereits in Arbeit für die Maschine umdefiniert. Blogs bezeugen und feiern das Persönliche, Individuelle und Einzigartige. Sie lassen Persönlichkeiten im Glanz erscheinen und fechten für die Sache des Individuums, selbst wenn die guten alten liberalen Bürgerrechte, zumindest in den USA, vom neoliberalen Kapital längst durch die Zustimmung für Folter, Sicherheit und Überwachung überschrieben und ausgehöhlt werden. In gewisser Weise dokumentieren Blogs einen Wandel im Status des Persönlichen, wobei das Persönliche sowohl mobilisiert als auch getilgt und eingeebnet wird (getilgt insofern, als Bloggen der Außendarstellung gegenüber der Selbstwahrnehmung den Vorrang gibt und zu einem Dokumentieren ohne Reflexion und einem Archivieren ohne Verinnerlichung verleitet). Das zur Außendarstellung erzeugte Persönliche entkoppelt sich von jeder Voraussetzung eines wahren oder tiefer liegenden Selbst – diese Frage ist einfach nicht relevant. Worauf es ankommt, ist das Erscheinungsbild. Der kommunikative Kapitalismus bildet keine Räume für Identitäten. Stattdessen nutzen die Leute die vernetzten Kommunikationsmedien, um Identitäten zu produzieren. Das Internet ist ein Medium für Massenerfahrung und gleichzeitig hoch differenziert und singularisiert. Bloggen präsentiert sich als die Technologie dieser Erfahrung. Dass Software Subjektivität erzeugt und gestaltet und den Nutzer innerhalb ihrer Architektur steuert, weiß man. Ich will nun der Blog-Analyse eine zusätzliche Ebene hinzufügen, indem ich danach frage, wie vermittelte Subjektivität auch durch kulturelle Differenzen geprägt wird. In Japan zum Beispiel kann man einen eindeutigen Trend in Richtung Anonymität beobachten, während es in der US-Blogosphäre vor allem um die Kultivierung und Darstellung des

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wahren Selbst geht. An einigen Orten sind Blogs selbständige Einheiten mit eigenen Webseiten, anderswo lösen sie sich in Chats und hoch beschleunigten Sozialen Netzwerken auf, wo die ästhetische Wiedergeburt von Tumblr zum Beispiel ganz den optischen Reiz des Bloggens betont. Wenn Blogs eine so wichtige Rolle bei der Verbindung von Internet und Gesellschaft und der globalen Verbreitung der Werte des Web 2.0 spielen, ist es an der Zeit, über die ausgiebig behandelte nordamerikanische Blogosphäre hinauszugehen und andere zu untersuchen. Ich habe drei Fälle ausgewählt, die mir besonders wichtig sind, und alle drei reichen, aus verschiedenen Gründen, über ihre nationalstaatlichen Grenzen hinaus: Deutschland, Frankreich und Irak.

E IN S TREIF ZUG DURCH DIE DEUTSCHE B LOGOSPHÄRE »Die großen deutschen Negativ-Blogger sind lange tot, und sie benutzten Papier: Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin, Karl Kraus. Vielleicht setzt sich in der Affirmation der Negation und dem vergnügten ›lieber nicht‹ der deutschen Blogkultur ein fröhlicher Nihilismus durch. Für viele ist Bloggen eine wirksame Form zu meckern und herumzunörgeln – als eine zusätzliche, wenn auch relativ stumpfe, Waffe im Arsenal der Kritik.« 8 Pit Schultz

Wenigen mag es aufgefallen sein, aber die deutsche Leidenschaft für das Bloggen ist über die Jahre sehr schwach geblieben. Das bedarf einer Erklärung, ist Deutsch doch die meistgesprochene Sprache in Europa und steht im Netz an weltweit sechster Stelle. Laut Statistik waren 75 von 98 Millionen der deutschsprachigen Bevölkerung (hauptsächlich aus Deutschland, der Schweiz und Österreich) im Jahr 2010 online,9 die deutsche Blogosphäre wird aber auf nicht einmal eine halbe Million Teilnehmer geschätzt. Blogcensus.de zählte alle aktiven deutschsprachigen Blogs, als solche gelten Blogs, die mindestens einen Eintrag in sechs Monaten aufweisen, und sicherte seine Zahlen durch direkte Überprüfungen ab. Ihre Schätzung vom Februar 2008 lag bei 204.500 aktiven Blogs. John Yunker von Byte Level Research meint, dass diese Zahl viel zu niedrig angesetzt sei. Das Nachrichtenmagazin Focus behauptet, ca. 1,1 Millionen deutsche Blogs gezählt zu haben, was aber laut Yunker wieder zu hoch liegt. Yunker: »Technoratis Statistik der Blogosphäre zählte 2006 50 Millionen Blogs und behauptete, dass ca. 1 % der Blog-Postings deutschsprachig seien. Wenn man von der groben Annahme ausgeht, dass die Aktivität der Blogs global etwa gleich hoch ist, käme man auf 8 | Aus einem E-Mail-Interview mit Pit Schultz im April 2008. 9 | www.internetworldstats.com/stats7.htm

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ungefähr 500.000 deutschsprachige Blogs. Dies scheint mir eine realistischere Größenordnung zu sein, die auch den Schätzungen aus anderen Quellen entspricht.«10

Yunker kommt zu dem Schluss: »Die deutsche Blogosphäre ist sowohl in absoluten wie in relativen Zahlen sehr, sehr klein.«11

M ISSTR AUE DEN Z AHLEN Was macht Blog-Software für Deutsche so unattraktiv? Anders ausgedrückt, gibt es eine technokulturelle Tendenz oder eine Art der Subjektivierung innerhalb der Blog-Software, die deutschsprachige Nutzer besonders unangenehm finden? Die Antwort auf diese Frage sollte uns etwas über den Charakter von Blogs verraten, nicht über die ethnografischen Eigenheiten von ein paar Kontinentaleuropäern. Könnte diese Weigerung, sich zu engagieren, einer kollektiven Sorge entspringen, die Obrigkeiten über den Mechanismus des Nutzerprofils mit persönlichen Daten zu beliefern? Tatsächlich geben Nutzer mit der Registrierung eines Blogs oftmals Informationen über ihren Musikgeschmack, ihre Lieblingsfilme oder ihre Leselisten preis. Doch fordert die Blog-Software wirklich dazu auf, mehr zu verraten, als man möchte? Sollten deutsche User also beim Kult um die Prominenz mitmachen, ihre Biografie aufmotzen und als Ich-AG performen? Ich habe darüber mit dem Autor und Fulltime-Blogger Oliver Gassner gesprochen. Aus seiner Sicht liegt die Ursache für die geringe Zahl von Bloggern in einem generellen Misstrauen gegenüber dem öffentlichen Diskurs, sowohl auf politischer wie auf privater Ebene. Die Geschichte habe die Deutschen gelehrt, dass es unvorhergesehene Konsequenzen haben kann, seinen Standpunkt offen zu vertreten. Die Zurückhaltung in der öffentlichen Rede gehe auf diese Erfahrung zurück. »Offen« hat im deutschen Kontext die Konnotation von »ungeschützt« – etwa gegen das Eindringen von Sicherheitskräften oder des Polizeistaats. Auch gebe es eine Tendenz zum Delegieren: Als zuständig für die öffentliche Meinung gelten Experten – Journalisten, Wissenschaftler und Politiker, nicht aber die Durchschnittsbürger, die, ob es stimmt oder nicht, für fremdenfeindlich und antisemitisch gehalten werden. Oliver Gassner: »Wir reden über eine Tätigkeit, die man öffentlich praktiziert. Debattieren ist eine weitverbreitete Praxis, bleibt jedoch streng innerhalb des Reichs der Vernunft. Im Ergebnis bleiben Kreativität und Individualismus außerhalb der Sphäre des Öffentlichen.« 10 | www.globalbydesign.com/blog/2007/12/05/marketing-oppor tunities-in-thegerman-blogosphere/ 11 | Ebd.

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Hinzu kommt die Impressumspflicht, die in der Regel auch für Blogs gilt. Ein Standardelement, das die Grenzen der Redefreiheit kontrolliert, die Haftung für vermeintliche Übertretungen festschreibt und die Leute davon abhält, alles, was sie denken, auch zu äußern. Aus genau solchen juristischen Gründen zögern auch viele deutsche Unternehmen, in die Web-2.0-Ära einzutreten. Es ist allerdings kaum überraschend, dass diese Konformitätsformel keinen Eindruck auf junge Leute macht, die scheinbar in aller Offenheit daherplappern. Trotzdem sind auch sie, laut Gassner, von der legalistischen Kultur, in der sie aufgewachsen sind, weiterhin beeinflusst. Statt sich ins Rampenlicht der Blogs und der Profile Sozialer Netzwerke zu begeben, fühlen sich die Deutschen im Schutz von Gruppen sicherer. Aus diesem Grund sind Online-Foren viel populärer, obwohl die meisten von ihnen im »Long Tail« des Webs untergehen. Im Gegensatz zu Blogs bedienen Foren ein standardisiertes Publikum und bieten ihren Usern klar definierte Einstiegspunkte und Kommunikationskulturen. Ohne eine Szene bilden oder sich um Verbindungen bemühen zu müssen, ist man bereits Teil eines sozialen Zusammenhangs. Foren sind nicht über Social Graphs vorprogrammiert (»die globale Karte von allen, und wie sie miteinander in Verbindung stehen«12) und vermitteln ein geschützteres, anonymeres Erscheinungsbild und Gefühl. Der Medientheoretiker Stefan Heidenreich sieht bei dieser vordefinierten Schnittstelle einen »Orchestereffekt«: Man zieht es vor, sich innerhalb geschlossener Gruppen auszudrücken. Florian Cramer, ein anderer Berliner Medientheoretiker, der in Rotterdam arbeitet, stimmt zu: »Die deutsche Bloggerprominenz, also diejenigen, die sich selbst als ›die Blogosphäre‹ betrachten, sind in einer typisch deutschen ›Vereinskultur‹, einer Art Briefmarkensammlermentalität gefangen. Es ist kein Wunder, dass die deutsche Blogosphäre die muffige Atmosphäre eines verstaubten Altherrenclubs verströmt. Man fühlt sich sofort an die ›Hyperfiction‹-Szene der Neunziger erinnert, die genauso abgeschottet, provinziell und irrelevant war.«13 In Deutschland zögern die Leute, sich öffentlich und mit eigenem Namen zu äußern, und tauchen lieber als Troll unter einem Pseudonym auf. Steht diese Tendenz für eine subversive Underdog-Mentalität oder ist sie ein Beispiel für die ewige Angst davor, sich zu erkennen zu geben? Was auch immer der Grund sein mag, ein solches User-Verhalten prägt jedenfalls die Art und Weise, in der in Deutschland in den neuen Medien über Gesetze zum Schutz der Privatsphäre gestritten wird. Als Fortsetzung der Volkszählungsboykott-Bewegung Mitte der achtziger Jahre wiederholt diese Haltung die Vorstellung, dass man den staatlichen Organen nicht trauen darf. Informationsfreiheit lässt sich im deutschen Kontext, so Cramer, in das Recht übersetzen »lieber keine« öffentliche Identität 12 | www.readwriteweb.com/archives/social_graph_concepts_and_issues.php 13 | Aus einem E-Mail-Austausch mit Florian Cramer.

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zu haben. Dies bestätigte sich auch 2010 bei den massiven Einsprüchen gegen Google Street View, die dazu führten, dass Google 300.000 Eingaben bearbeiten und Häuser und Wohnungen in Deutschland unkenntlich machen musste. Es ist insofern kein Wunder, dass deutsche Blogs entweder in Foren (Meinungen) oder in Nachrichten-Sites (Information) eingebettet sind. Laufen Blogs gut, sind sie eine Weiterführung der »ausgiebigen Gespräche« im Usenet und in den Webforen, wenn auch auf eine etwas dezentralere und privatere Art. Statt eine Erwiderung über die Antwort-Funktion einzutragen, übernehmen sie den Link. Mit den richtigen Algorithmen können User die verstreuten miteinander verlinkten Einträge und die Kommentarstränge der von Einzelautoren geführten Blogs in einem subjektbasierten Forenformat wieder neu zusammensetzen. Auf techmeme.com und dem deutschen Pendant rivva.de lesen sich die statistisch erfassten wechselseitigen Verlinkungen um zentrale Überschriften und Themenkaskaden fast wie ein dezentralisiertes Diskussionsforum. Die Frankfurter Medientheoretikerin Verena Kuni, die Special-InterestBlogs zu Kunst, Medienkultur, Wissenschaft, Video und Games, vor allem in der Schweiz, untersucht, stellt fest, dass die Blog-Kulturen verschiedener Länder sich stark unterscheiden, selbst wenn die Sprache die gleiche ist. Was Deutschland charakterisiert, ist laut Kuni »das Fehlen einer Kultur des Teilens, ein Mangel an Offenheit, sobald es um offenes Publizieren und Wissensaustausch geht. Das Misstrauen gegenüber dem Gemeingut ist real. Das sind nicht nur persönliche Beobachtungen. Soziologen, die sich mit Kultursponsoring beschäftigt haben, kamen zu ähnlichen Schlüssen. Verschärfend kommt noch die verbreitete Angst dazu, urheberrechtlich belangt werden zu können, wenn man kreatives Material anderer weiterverwendet.«14

A NTI - NATIONALE W EBS Die Deutschen haben anscheinend Bedenken, eine nationale Kultur zu schaffen, was teilweise daran liegen mag, dass sie sich der kulturellen Konnotationen des »hässlichen Deutschen« durchaus bewusst sind. Der »anti-deutsche« Impuls ist sogar in »rationalen« Wirtschaftsprozessen noch spürbar. Natürlich gibt es einen nationalen Markt, aber kulturelle Produzenten identifizieren sich lieber mit ihrer eigenen Region oder Stadt, oder sie stellen sich in internationale Bezüge. Man könnte es als eine Art Heimat-Kosmopolitentum für Kreativarbeiter bezeichnen. Diese Mischung aus hyperlokalen, dorfähnlichen Wechselbeziehungen und internationaler Marktorientierung ist für die neuen kreativen Branchen wie elektronische Musik, Architektur und zeitgenössische Kunst 14 | Aus einem E-Mail-Austausch mit Verena Kuni.

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charakteristisch. Doch das anti-nationale Gefühl bremst wiederum die Entwicklung einer sich intern vernetzenden deutschsprachigen Blogkultur. Selbst wenn sich ein Teil der Leute auf »deutsche Jobs« spezialisiert, sehen sie sich zwar wohl noch in einem lokalen Umfeld, aber eingebettet in eine europäische oder globale Diaspora der deutschen Sprache. Mit ihren oft sehr spezialisierten Inhalten müssen Kulturproduzenten ihr Nischenpublikum schon aus ökonomischen Gründen auf der internationalen Ebene suchen. Berliner Start-Ups und Softwarefirmen beschäftigen in der Regel gut 20-50  Prozent nicht-deutsche Mitarbeiter. Andererseits beziehen sich die Vorbehalte gegenüber einem »Krautnet« vor allem auf die spezialisierte »anonyme« Industriekultur kleiner und mittelgroßer deutscher Unternehmen, von denen die wenigsten je etwas gehört haben, da sie die verborgenen Elemente und Bausteine von Systeminfrastrukturen herstellen. Diese »Undurchsichtigkeit« teilen sie mit der obskuren Unternehmenssoftware SAP, die u.a. für die umständlichen Schnittstellen ihrer Supply-Chain-Managament-Programme für Supermärkte und Fluglinien bekannt ist; SAP ist das größte Softwareunternehmen Europas und das drittgrößte der Welt. Bloggen folgt einem poststrukturalistischen Impuls. Der ist in diesem Fall aber eher amerikanisch als französisch: ganz auf Karriere und Ego ausgerichtet. Nichtsdestotrotz zeigen sie das Regime einer sanften Macht der Netzwerke an, die auf Dezentralisierung und Heterogenität basieren, um darüber eine spezifische Form der Hegemonie zu entfalten, und zwar einer markt- und wettbewerbsorientierten Produktion von Subjektivität. Im Fall von Deutschland ist die Grundhaltung des Bloggens eher deleuzianisch und auf den »Lieber nicht«Modus eingestellt. Am internationalen Austausch nehmen die deutschen User meist nur lesend teil. Als Hauptressource dienen ihnen US-amerikanische Blogs, da diese bei Suchanfragen gleich am Anfang auftauchen und insofern oft als Referenz betrachtet werden. Für deutsche User stellen Blogs meist eine indirekte und »passive« Erfahrung dar und stehen somit in einer Nähe zu den anderen US-Kulturprodukten, die sie konsumieren. Aber während deutsche Filme merkliche Unterschiede zu Hollywoodfilmen aufweisen, ist es ziemlich schwierig, auch Blog-Software entsprechend zu adaptieren. Mit ihren beschränkten Parametern für die individuelle Anpassung hindern Blogs ihre Nutzer daran, kulturelle Differenzen zu modulieren, und setzen stattdessen Techniken durch, die die Kultur ihres Ursprungs immer wieder reproduzieren. Wer hat eigentlich behauptet, medienkultureller Imperialismus gehöre der Vergangenheit an? Die Voreinstellung der Suchmaschinen ist ein weiteres Grundelement für ein sprachliches Ghetto. Viele finden es lästig, dass google.de automatisch nach deutschsprachigen Inhalten sucht. Die werden oft nur bei lokalen Suchen nach Adressen, Geschäften oder ähnlichem benötigt. Es wäre interessant, einmal herauszufinden, wie viele User überhaupt Deutsch als Voreinstellung wählen. Warum gibt es nicht mehr deutsche Blogs in englischer Sprache? Und warum gibt

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es umgekehrt keine eigenständigere deutschsprachige Blogosphäre? Die Antwort könnte in Blogs wie Riesenmaschine, Spreeblick, Netzpolitik oder Carta zu finden sein. Diese Plattformen sind eng verwoben mit den Massenmedien, orientieren sich an der Mainstream-Kultur und verlangen keinerlei spezifisches Internet-Wissen. Die schlechte Gestaltung vieler Blogs ist nicht allein auf die Software zurückzuführen. In Hinblick auf die geografischen Verschiedenheiten der deutschen Identität, den kleinteiligen Regionalismus und die jeweils unterschiedlichen Mentalitäten erscheint der offene Publikationsansatz der Blogs nicht besonders vorteilhaft. Die Erfahrung zeigt, dass man, wenn man anfängt, auf nationaler Ebene zu schreiben, schnell zu einer offiziellen Figur wird, die einen spezifischen, aber dennoch großen Medienmarkt anspricht. Als Antwort auf diese immanente Gefahr (oder Möglichkeit, wenn man so will) versuchen die Sozialen Netzwerke und die Forenkultur vehement, die Idee der Hyperlokalität, also einer kulturellen Identität im Rahmen eines mehr oder weniger dezentralisierten Föderalstaats, wieder aufleben zu lassen, und betreiben einen erfolgreichen Insiderhandel mit Ereignissen, Idiomen, Witzen und Kultelementen.

H IGH VS . L OW Worunter Blogs angesichts fehlenden gesellschaftlichen Drucks oder ökonomischer Anreize für eine lebendige Blog-Kultur ebenfalls leiden, ist das fehlende Prestige. Es gibt eine bestimmte diskursive deutsche Sprachkultur, die auf der Dualität von Referenztexten und langatmigen Debatten beruht. Der »leichte« und subjektiv-journalistische Blog-Stil harmoniert einfach nicht mit dem deutschen Textverständnis, was erklären könnte, dass, laut Florian Cramer, deutsche Blogs und deutsche Zeitungen, insbesondere deren Feuilletons, sich gegenseitig blockieren. Diese klassischen deutschen Kulturbeilagen schrecken immer noch vor dem Eintritt in die Blogosphäre zurück. Die jüngere Generation des Kommentariats betreibt, wenn sie erfolgreich sein will, Magazine wie Monopol oder Vanity Fair und überlässt das Schreiben von Berichten freiberuflichen Akademikern, die sich als öffentliche Intellektuelle etablieren wollen. Florian Cramer: »Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung wettern fast jeden Tag gegen das Internet, vor allem das Bloggen, und machen es für den Untergang des Abendlandes verantwortlich, während die exponierten deutschen Blogger nichts anderes tun als wiederum gegen diese Tiraden zu wettern und zunehmend leere Versprechen eines Bürgerjournalismus abzugeben, die ernsthaft glauben machen sollen, der Web 2.0-Mist bilde eine soziale Bewegung.« 15 15 | Aus einem E-Mail-Austausch mit Florian Cramer.

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Cramer fällt kein einziges interessantes deutsches Blog ein: »Ein Grund dafür ist auch, dass einige deutsche Zeitschriftenverlage – vor allem Heise mit heise.de und Telepolis (einschließlich der angeschlossenen Diskussionsforen), aber in geringerem Umfang auch Spiegel Online, Netzeitung und Die Zeit, im Internet eine recht professionelle und z.T. sogar ausgezeichnete Arbeit leisten. Die Folge ist, dass weniger Blogger benötigt werden, um offene Nischen zu besetzen.«16

Die Mainstream-Medien haben das deutsche Blogdorf mit seinen prominenten Vertretern schon eingemeindet, wie Mercedes Bunz, die eine Zeit lang Tagesspiegel online leitete, Katharina Borchert, ehemals WAZ mit Der Westen.de, heute Spiegel online, und Katrin Bauerfeind, die ursprünglich das Videoblog Ehrensenf moderierte und nun Fernsehshows macht. Die deutsche Blogosphäre hat ihren Schwerpunkt auch weniger bei Suchfunktionen und Algorithmen als in der kooperativen und professionell ausgerichteten Redaktionsarbeit. Ein gutes Beispiel ist die von zwei ehemaligen TAZRedakteuren ins Leben gerufene Website perlentaucher.de, die einen täglichen Überblick über die Themen des deutschen Feuilletons gibt. Anders als Google News, das einen rein computergenerierten Eindruck macht, liefert Perlentaucher seinen Lesern kleine, einzeln geschriebene Zusammenfassungen der Feuilletons deutscher Tageszeitungen. Diese Website, die den Charakter eines täglichen elektronischen Newsletters hat, wirkt fast wie ein traditionell produziertes Äquivalent zu einem gut organisierten RSS-Feed. Ich fragte die Medienkritikerin Mercedes Bunz, einst Herausgeberin des Techno-Magazins DE:BUG und zwischenzeitlich Autorin beim Guardian, was ihr an deutschen Blogs gefällt. Vielleicht nicht, was die Menge betrifft, aber hinsichtlich ihrer Qualität setzt die deutsche Blogosphäre hohe Maßstäbe, von den Mediawatch-Blogs Stefan Niggemeiers17 über die wunderbaren poetischen Beobachtungen in KLAGE des deutschen Autors Rainald Goetz18 bis zum Hitler-Blog des jungen deutschen Journalisten Daniel Erk19 , um nur einige zu nennen. Die Einträge dieser Blogs sind wach, voller überraschender Beobachtungen und oft Ausgangspunkt von Debatten, die später in den Feuilletons der deutschen Zeitungen weitergeführt werden. Dennoch genießen Blogs in der öffentlichen Meinung in Deutschland keine besondere Wertschätzung. Warum? Mercedes Bunz:

16 | Ebd. 17 | bildblog.de and stefan-niggemeier.de/blog 18 | Von 2007 bis 2008 auf www.vanityfair.de 19 | http://taz.de/blogs/hitlerblog/

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»Blogs wird kein hoher kultureller Wert zugeschrieben, weil sie technologisch ausgerichtet sind. Technologie hat in Deutschland ein ernstes Problem. Seit die Kulturtheorie der Frankfurter Schule nach dem 2. Weltkrieg ihren starken Einfluss auf das deutsche Denken entfaltet hat, steht Technologie unter Verdacht und gilt als Gegenteil von Kultur und Authentizität. Die müden Diskussionen über Blogs folgen genau diesem Muster. Während der Journalismus nach dem Ideal der Wahrheit strebt, geht es in Blogs nur um den eigenen Narzissmus und darum, im verzweifelten Ringen um Aufmerksamkeit Gerüchte zu verbreiten.«

A UF DEM W EG ZUR DEUTSCHEN N E T ZKULTUR Wie viele andere Experten geht auch Pit Schultz bei seinen Analysen vom Beobachten und »Studieren« aus. Er ist freier Netzkritiker, Radiomacher und Programmierer, und als Mitbegründer von Nettime ist er auch ein leidenschaftlicher Beobachter des Web 2.0. Wenn man ernsthaft das Spiel der akademischen Legitimierung mitspielen will, muss man jedoch auf Englisch veröffentlichen, was für den Bereich des wissenschaftlichen Publizierens im Übrigen schon lange gilt. Nur dann hat man eine kleine Chance, in der angelsächsisch geprägten Ökonomie des Netzdiskurses als Experte wahrgenommen zu werden. Für Pit ist das eine ziemlich öde Perspektive. In Deutschland ist die Forschung zu Netzwerkkulturen und neuen Medien erwartungsgemäß recht überschaubar. Trotzdem gibt es auf der Ebene der Populärkultur eine »kollektive Intelligenz«, die sich der Herausbildung des – wenn man es so nennen will – »deutschen Webs« widmet. Ihr Spezialgebiet sind Nischenanwendungen, Software und Infrastruktur, die auf deutschsprachige Nutzer zugeschnitten sind. Diese engagierte Tüftlerszene wird vor allem in »Barcamps« und ähnlichen Veranstaltungen sichtbar, in denen Mainstreamkultur, Politik und Geschäft sich mit einem Geekfreundlichen Ambiente vermischen, am besten unter dem Banner des offenen Images von Berlin als ultimativer, cooler Low-Cost-Destination für Kulturtourismus und Clubszene. Die Organisatoren von re:publica, der seit 2007 alljährlich in Berlin stattfindenden Blogger-Konferenz, haben die produktive (aber auch inzestuöse) Dialektik zwischen etablierten Medien und Bloggern gut verstanden. Im Gegensatz zu Loïc Le Meurs Le-Web-Konferenzen in Paris (»the #1 European Internet Event«), die nur die kommerzielle Start-Up-Szene anlocken (mit über 3.000 Besuchern), ist re:publica kulturell ausgerichtet und beschränkt sich in ihrer Öffentlichkeitswirkung auf den deutschsprachigen Raum. Das erfolgreiche, wenn auch etwas unfokussierte Rezept der Konferenz stellt die Sozialen Medien in den Vordergrund und lenkt die Aufmerksamkeit von den Hackerthemen ab, die einige Monate vorher im Mittelpunkt des Chaos-Computer-Club-Kongresses stehen – wobei es bei beiden Veranstaltungen um Bürgerfreiheit geht. Unterstützt von

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Sponsoren und öffentlicher Förderung, konnte re:publica im Jahr 2010 2.500 Besucher anlocken, wobei ihr Nur-für-Blogger-Image allerdings nicht mehr ganz passt. Auf techno-kulturelle Akzeptanz und breit gestreute Resonanz ausgerichtet, laufen Ereignisse wie re:publica der Computerkultur eher hinterher, als dass sie sie definieren, erläutert Pit Schultz. Wenn wir den Blick auf Kulturproduktion und Popkultur im Allgemeinen erweitern, also zum Beispiel auch Musik, Fernsehen, Mode und Popliteratur einbeziehen, dehnt sich das Spielfeld für Blog-Konferenzen und Medienfestivals zusätzlich aus. Doch auf dieser Ebene spielen Blogs in Deutschland überraschenderweise kaum eine Rolle, auch wenn sie versuchen, in den Mainstream zu gelangen. Internet, neue Medien und Computerkultur werden in Deutschland immer noch als Terrain von Bastlern, Spezialisten, Hackern, Geeks und Künstlern wahrgenommen, trotz aller Bemühungen um eine größere Popularisierung der Technokultur. Selbst im Diskurs der deutschen Blogger-Szene gibt es wenig Interesse an Insiderthemen aus dem Hacker-Netzwerk des Chaos Computer Clubs, der Medienkunst auf der Transmediale, der etablierten »Minderheiten«-Kulturen in der elektronischen Musik, der Clubkultur oder der Kreativbranche, wie sie von Ableton oder Native Instruments vermittelt werden. Verweise auf die Magazine DE:BUG oder Spex oder auf Designer und Architekten wie Graft sind nicht zu finden. Stattdessen wird die Aufmerksamkeit von Fernseh- oder Nachrichtensites wie Spiegel Online beherrscht, in deren Websphäre sich all jene wiederfinden, die sich mit ihrem Englisch schwer tun. Die Idee von Subkulturen, die von Spezialisten erforscht und vermittelt werden und so etwas wie »Netzkultur« oder »Medienkunst« als Nischenprodukte hervorbringen, hat sich jedoch überholt. Ein Jahrzehnt nach der Dotcom-Manie ist das Web heute Mainstream und von der Populärkultur nicht mehr zu unterscheiden. In diesem Sinne gibt es für eine »Blogosphäre« als Gegenkultur, die sich von den kommerziellen Medien absetzt, keine Zukunft. Um dies zu erkennen reicht es schon, sich die Investitionen der deutschen Verlagshäuser in das Web 2.0 vor Augen zu halten, wie etwa den Kauf von StudiVZ, dem deutschen Pendant zu Facebook, durch Holtzbrinck im Januar 2007. Trotz aller Gegenkräfte: In der Habermas’schen Öffentlichkeit ist die deutsche Blogosphäre durchaus mit von der Partie. Ein Beispiel ist der Online-Aktivismus gegen staatliche Überwachung – die entsprechenden Gesetzesvorhaben wurden am Ende auch vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Dass zahllose Blogs und Websites sich zu einer Kampagne zusammenschlossen, hat sicher dazu beigetragen. Die Initiatoren und treibenden Kräfte waren keine namhaften Persönlichkeiten, sondern Unternehmungen wie Chaos Computer Club und netzpolitik.org – vergleichsweise anonyme, kollaborative Projekte, die unter dem Radar operieren und dennoch gelegentlich mit brillanten Publicity-Hacks die »Debatte« um Überwachung und Datenschutz untergraben. Ihre Kampag-

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nen zielten auf Wahrnehmung durch die Mainstream-Medien, die den »Alphabloggern« am Ende auch zuteil wurde – Aktionen, Artikel und Abendnachrichten wirkten daran mit. Während es also auch Schlüsselfiguren oder Autorenkult gab, folgten die Kampagnen dennoch nicht der Logik der Prominenz. Der Autor Rainald Goetz, der in den späten Neunzigern sein Online-Tagebuch Abfall für alle schrieb, liefert vielleicht ein Beispiel dafür, wie Blogs in Deutschland funktionieren könnten. In seinem letzten Blog (das von einem großen Printmagazin finanziert wurde) zelebrierte er die eigene Unmöglichkeit des Schreibens und brachte so seine angewiderte Haltung gegenüber dem stagnierenden kulturellen Klima in Deutschland umso stärker zum Ausdruck.20 Die deutsche Medienöffentlichkeit tut sich schwer damit, Blogs und das Web 2.0 in ihrer Landschaft einzuordnen. Alternative Projekte und »Bürgerjournalismus« erreichen keine kritische Masse, während die alten Medien der Blogosphäre gerne auch mit Spott begegnen. Das Internet lässt sich wohl schwer in eine Kultur integrieren, die auf Regeln und Regulierungen fixiert ist. Auf die riesigen Archive der öffentlichen deutschen Radio- und Fernsehstationen kann zum Beispiel nicht online zugegriffen werden, Änderungen an den komplizierten Bestimmungen würden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Am 20. April 2008 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen provokativen Artikel mit dem Titel »Ortsverein statt Bloggen«, in dem Simon Feldmer das Fehlen einer engagierten politischen Blogger-Szene beklagte.21 Er stellte fest, dass die Politiker keine Ahnung vom Internet hätten, während Blogger nur zu ihrer Anhängerschaft sprächen, und fragte, wo denn eigentlich Deutschlands Daily Kos, Huffington Post oder Moveon.org seien. Den politischen Parteien mangele es an einer grundlegenden Internet-Strategie, schrieb Feldmer. Die deutsche Blogosphäre lief sogleich Sturm, doch die Empörung demonstrierte nur erneut die enge, aber unproduktive Beziehung zwischen Nachrichtenmedien und Blogs – ein weiteres Beispiel für Deutschlands hochentwickelte Kultur der Stagnation.

D IE E RFOLGE DER FR ANZÖSISCHEN B LOGOSPHÄRE Frankreich ist eine der führenden Blog-Nationen. Laut International Herald Tribune »setzen sich die Franzosen in ihrer Begeisterung für Blogs, den persönlichen und öffentlichen Journalen des Internet-Zeitalters, sowohl statistisch als auch anekdotisch deutlich von Deutschen, Briten und sogar Amerikanern 20 | Das Blog Klage wurde von ihm zwischen Februar 2007 und Juni 2008 im Rahmen von www.vanityfair.de geführt und ist bald darauf in Buchform erschienen: Rainald Goetz, Klage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008. 21 | www.sueddeutsche.de/digital/politik-im-netz-or tsverein-statt-bloggen-1.182 567

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ab«.22 Ein Grund hierfür könnte sein, dass sie, anders als bei Minitel und CDROM, erst relativ spät ins Internet eingestiegen sind. Statt HTML oder gar das Befehlszeilen-Betriebssystem UNIX lernen zu müssen, haben die Franzosen den Kult um die Homepage einfach übersprungen und gleich mit Blogs begonnen. Ein spürbares Misstrauen gegenüber Printmedien, Radio und Fernsehen könnte ein weiterer Grund sein, im Verbund mit ihrer Neigung zu informellen, expressiven Formen der Kommunikation. »Es ist klar, dass wir in Frankreich große Egos haben und gerne über uns selbst sprechen«, sagt der Pionier des französischen (Video-)Bloggens, Eigentümer von LeWeb und Dotcom-Unternehmer Loïc Le Meur.23 Mitte 2006 hat CRM Metrix eine Erhebung durchgeführt und herausgefunden, dass über ein Viertel aller französischen Internetuser mindestens einmal im Monat ein Blog besuchen; ungefähr 20 Prozent posten auch Blog-Kommentare und etwa 5 Prozent betreiben selbst ein Blog. Die drei beliebtesten Typen von Blogs befassen sich mit Nachrichten, Musik und Freizeitgestaltung. Blogs sind in allererster Linie nutzerfreundliche Anwendungen. In dieser Hinsicht sind sie weder französisch noch angelsächsisch geprägt. Dazu bemerkte der Betreiber des Blogs Language Log: »Niemand hat der Entscheidung der Commission générale de terminologie et de néologie des französischen Kulturministeriums im Frühjahr 2005, dass der korrekte Ausdruck für Blog im Französischen ›bloc-notes‹ (Notizblock) sei, oder verkürzt ›bloc‹, irgendeine Beachtung geschenkt. Die Kanadier haben sich, etwas pragmatischer, dafür entschieden, von ›blogues‹ zu sprechen, als französische Alternative zum englischen Ausdruck.

22 | Thomas Crampton, France’s Mysterious Embrace of Blogs, 28. Juli 2006; www.iht. com/articles/2006/07/27/business/blogs.php 23 | Loïc Le Meur, bekannt als Organisator der LeWeb-Konferenzen und »französischer Joy Ito«, geriet 2007 durch seine Unterstützung Nicolas Sarkozys bei den Präsidentschaftswahlen in die Schlagzeilen. Da Sarkozy in Bezug auf digitale Belange eindeutig der repressivste und zugleich uninformierteste Kandidat war, wurde Le Meurs Parteinahme als Verrat wahrgenommen, als Beleg für die Rückeroberung oder gar Kolonialisierung des ehemals freien Raums des Internets durch Politiker, professionelle Journalisten und kommerzielle Vermarkter. Ein weiteres Kapitel dieser Sage ist die E-G8-Veranstaltung, die in Paris Ende Mai 2011 im Rahmen des G8-Gipfels stattfand. »Erstmals nimmt die Informationstechnologie formell einen Platz auf der Agenda eines Gipfels der Staatsführer ein – eine Anerkennung der entscheidenden Bedeutung dieser Bereiche für ein nachhaltiges und steigendes globales ökonomisches Wachstum.« Die Veranstaltung wurde später sehr kontrovers diskutiert, eben wegen der fortwährenden kritischen bis repressiven Haltung Sarkozys gegenüber dem Internet.

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Doch in sämtlichen Zeitungen wie auch in den Blogs selbst heißen Blogs einfach nur ›Blogs‹.« 24

Nationale Stereotypen sind ein Urthema von Blogs. Im gleichen Herald-TribuneArtikel stellte Laurent Florès, der aus Frankreich stammende und in New York lebende Vorstandsvorsitzende von CRM Metrix, fest: »Französische Blogs sind merklich länger, kritischer, negativer, egozentrischer und provokativer als die US-amerikanischen.«25 Loïc Le Meur: »Die Franzosen haben eine lange Tradition darin, sich selbst auszudrücken. Wir sind das Land der Revolution, sieh nur, wie viele Cafés voller Leute sind, die über Politik diskutieren, und wie viele Streiks es bei uns gibt. Blogs sind für die Franzosen eine großartige Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, und sie haben das verstanden.«26 Der Ökonom Yann Moulier Boutang arbeitet an der Technischen Universität von Compiègne und ist Herausgeber der Zeitschrift Multitude. Er sieht die französische Neigung zu Blogs als einen ähnlichen Indikator für Soziabilität wie auch die hohe Zahl an Vereinigungen, denen die Franzosen angehören, und die nirgendwo auf der Welt übertroffen wird: »Was man ›Zivilgesellschaft‹ nennt (Gewerkschaften, Unternehmen, lokale Behörden, politische Parteien) ist schwach, und die staatliche Macht ist jakobinisch und zentralisiert, genau wie die römisch-katholische Kirche. Vor dem digitalen Zeitalter wurden diese Vereinigungen – und sie werden es immer noch – als Orte wahrgenommen, an denen man sich der institutionellen Sphäre entziehen konnte.« Die User bevorzugten Blogs, so Moulier Boutang, weil die Chats und Foren zu anstrengend seien und keinen gemeinsamen Raum herstellten. In Frankreich gibt es im Verhältnis zum nördlichen Europa nur wenige alternative Räume wie besetzte Häuser, Cybercafés oder Buchläden, was neben Syndizierung und Verlinkung ein weiterer Faktor für die Ausbreitung der Blogs war. Moulier Boutang stellt aber auch fest: »In dem Moment, in dem die Journalisten und Politiker entdeckten, dass die Blog-Szene sich exponentiell ausdehnte, besetzten sie das Feld. Die Zeitungen sahen sofort, welche Vorteile sie boten, zumal die Höhe der verkauften Auflagen ständig zurückging. Bald setzten Journalisten ihre eigenen Blogs auf, und die Zeitungen machten sie zum Bestandteil ihrer Websites.«27 Der Pariser Philosoph Paul Mathias hält dagegen, dass es in Frankreich durchaus eine Tradition der Zusammenkunft gibt, und zwar im französischen »Bis24 | Language Log, 31. März 2007, http://itre.cis.upenn.edu/~myl/languagelog/archives /004352.html 25 | Siehe auch: www.customerlistening.com/ 26 | Loïc Le Meur im Gespräch mit dem deutschen Blogger Oliver Gassner, 15. September 2006: http://netzstimmen.blogg.de/eintrag.php?id=13> 27 | Aus einem E-Mail-Austausch vom 2. März 2008. Ein Beispiel für eine Website, die erfolgreich Blogs integriert hat, wäre etwa www.lemonde.fr

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trot«, wo – ob in der Stadt oder auf dem Land – die Bürger mehrmals am Tag zusammenkommen, um über lokale und nationale Themen zu diskutieren: »Man denke nur an das französische ›Heiligtum‹ des Mittagessens – um zu essen, vorzugsweise in Gesellschaft, lassen die Leute alles stehen und liegen. Ich glaube deshalb nicht, dass der Erfolg der Blogs in Frankreich mit einem Mangel an Orten der Zusammenkunft zu tun hat, sondern eher damit, dass sie die technologische Implementierung eines sehr alten kulturellen Musters bewerkstelligen, der berühmten französischen ›Missmutigkeit‹.« 28

Im September 2007 veröffentlichte Christophe Druaux eine »subjektive Karte« der frankophonen Blogosphäre.29 Druaux teilte die Blogs in Kategorien wie Jugend, Medien, Technorati, Kunst oder Frauen ein. Das ganze Verzeichnis wurde von Hand zusammengestellt. Christophe Druaux: »Auf globaler Ebene gibt es keine verlässliche Methode, die Größe der Blogosphäre einzuschätzen. Ich stellte fest, dass Technorati Blogs bevorzugt, die besonders unter Bloggern beliebt sind, zum Beispiel diejenigen, die sich mit Marketing, Geeks, Techno oder dem Web 2.0 befassen. Und nur wer selbst ein Blog hat, kann auf ein anderes verlinken. Mir ging es darum, eine komplementäre Bewertungsmethode zu finden und Blogs sichtbar zu machen, die von der Statistik übergangen werden. So habe ich entschieden, den Fokus auf veröffentlichte Kommentare zu legen. Diese Formel ist komplexer, denn sie bezieht die Häufigkeit von Blog-Postings mit ein und bewertet sie. Wenn man drei Postings am Tag veröffentlicht und pro Posting 100 Kommentare erhält, ist das etwas anderes, als 100 Kommentare auf ein Posting pro Woche zu bekommen.« 30

Laut Druaux gehören die Franzosen zu den leidenschaftlichsten bloggenden Internauten (gemessen an der Einwohnerzahl). Die Mainstream-Medien zitieren täglich aus Blogs, und Journalisten nutzen sie ganz selbstverständlich für ihre Ideensuche. Im selben E-Mail-Interview sagte Druaux: »Es mag zudem sein, dass Blogs das perfekte Vehikel für das mürrische Temperament der Franzosen sind, was die Debatten antreibt und gleichzeitig die Statistiken hochschraubt. Charakteristisch für die französischen Blogs ist auch, dass zu den beliebtesten diejenigen gehören, die sich mit Kochen oder mit Comics beschäftigen, so-

28 | E-Mail-Austausch vom 10. März 2008. 29 | Siehe: www.ouinon.Net/index.php?2007/09/24/215-cartograhie-blogospherefrancophone. Man kann die Karte als PDF-File herunterladen, und sie enthält neben Erläuterungen auch eine Liste mit den URLS von 200 ausgewählten Blogs. 30 | E-Mail-Interview vom 12. Februar 2008.

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wohl was ihre Anzahl betrifft als auch die ihrer Besucher. Sie werden sogar als Bücher veröffentlicht.«

Skyrock ist eine der größten europäischen Web-2.0-Plattformen. Obwohl außerhalb Frankreichs eher als »Social-networking«-Website bekannt, kann diese große Sammlung miteinander verbundener Blogs auch als Blog-Service gelten. Sie ging 2002 unter dem Namen Skyblog als Blog-Server an den Start und zielte dabei auf die Hörerschaft der 1986 gegründeten Radiostation Skyrock FM, die vor allem aus einem jungen Publikum zwischen 15 und 25 besteht. Ursprünglich handelte es sich bei diesem »Netzwerk für freie Menschen« also um einen einfachen Blog-Dienst, der mit Werbung finanziert wurde. Ab März 2007 begann man, Bloginhalte zu syndizieren, und mit der Umbenennung im Mai 2007 präsentierte sich die neue Plattform Skyrock.com als ausgewachsenes Soziales Netzwerk31 – und bot so ein interessantes Beispiel dafür, wie die Blogosphäre buchstäblich mit dem Paradigma der Sozialen Medien verschmelzen kann. Mit dem Slogan »blog, profile, chat« fordert Skyrock FM seine Hörer auf, sich zu registrieren, einzuloggen, zu chatten, den Messenger und den Kleinanzeigen-Dienst zu nutzen, Profile zu suchen und Kommentare zu hinterlassen (lâcher vos com). Als ich die Website im Februar 2008 besuchte, verzeichnete sie 5.275.173 Profile, und es waren 14.784 weibliche und 17.330 männliche User online. Mit monatlich 160 Millionen Nutzern ist Skyrock die meistbesuchte französische Website. Wie andere Soziale Netzwerke, etwa MySpace, ermuntert sie ihre Mitglieder, die Templates ihrer Blogs zu »personalisieren«. Skyrock dominiert das französischsprachige Blogopel. Laut Wikipedia wird sein Status als echter Blog-Dienst aber bezweifelt, da die »Skyblogger« ihren Account oft nur zur kommentarlosen Veröffentlichung von Photos, Videos und Links nutzen. Die meisten Skyblogger verwenden bei ihren Einträgen außerdem die kryptische SMS-Sprache, die man von Handys, Webforen und Chats kennt. »J’ai un chien« buchstabieren sie zum Beispiel »G 1 chi1«. Als französische Variante von MySpace, LiveJournal und Xanga rangiert Skyrock laut dem Ranking-Dienst Alexa unter den weltweit beliebtesten Websites auf Platz 20. Es ist zudem in Belgien, Marokko, Quebec, der Schweiz und anderen französischsprachigen Gegenden sehr verbreitet und steht auch auf Englisch, Deutsch, Holländisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch zur Verfügung. Druaux zufolge sind Skyblogs zwar wirkliche Blogs, bleiben aber trotzdem innerhalb des Kontexts eines populären Jugendradios. Das erklärt, warum die meisten Nutzer derselben Altersgruppe angehören und dieselben Interessen teilen (Musik, Tanzen, Kino und Dating). Ein außerhalb von Skyblog bloggender Teenager wäre ebenso verloren und isoliert wie ein Erwachsener, der ein 31 | Den Informationshintergrund hierzu liefert Wikipedia: http://en.wikipedia.org/ wiki/Skyrock

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Skyblog über Literatur betriebe. Druaux: »Ich wollte die Skyblogs gar nicht in meine Karte aufnehmen, da sie ohnehin schon 75 Prozent aller Blogs auf der allgemeinen Karte ausmachen. Wenn man gründlich sein wollte, müsste man eine eigene Karte extra für die Skyrock-Blogs anlegen.« Ich kontaktierte auch Laurence Allard von der Universität Lille, die sich mit Wikis und Blogs beschäftigt und das Buch Mythologie du Portable32 geschrieben hat. Ihre Antworten auf einige Fragen, die ich ihr schickte: »Skyrock war eine der ersten Quellen, die einen Einblick in die Lebensumstände der Migranten in den Vororten vermittelte. Die beliebtesten Stilrichtungen auf Skyrock Radio sind Rap und R&B. Man sollte die mächtige Skyrock-Kultur im Geist von Paul Gilroys Studie The Black Atlantic lesen. Wir müssen die Art verstehen, wie die Leute sich durch Rap-Musik, sowohl die Texte wie ihre Darbietung, vertreten fühlen. Darüber ist es möglich geworden, dass die Kinder und Enkel der Migranten, die in den armen Banlieus leben, sich bei Skyrock zuhause fühlen. Es gibt hier eine positive Identifikation, auch wenn die meisten französischen Intellektuellen keine Ahnung haben, wie angelsächsische Postkolonialismus-Theorien und Cultural Studies diese Beziehungen zwischen Medien, Populärkultur und Identität beschreiben sollen. […] Wenn es so etwas gibt wie eine ›französische‹ Blogosphäre, ist sie eng verbunden mit der französischen post-kolonialen Situation, in der man sich nicht zwischen Universalismus und Kommunitarismus entscheiden kann, den zwei Seiten desselben Problems. Die Skyrock-Blogs repräsentieren einen ›dritten Raum‹, wie er von Hhomi Bbaba in seinem Buch Die Verortung der Kultur beschrieben wird.« 33

Als im November 2005 die Unruhen in den Banlieus die Medien erreichten, wurden die Skyrock-Blogs zu einem interessanten Untersuchungsfeld, denn sie machten sichtbar, wie die im Fernsehen gezeigten Bilder von der Gruppe selbst diskutiert wurden. Allard: »Skyrock wurde zu einem Ort der Diskussion wie auch der Verbreitung von Gerüchten innerhalb einer geschlossenen Gemeinschaft, wobei es ein Team von ›Skycops‹ gab, die als Moderatoren fungierten. Da die Syndizierung von Inhalten zu der Zeit noch nicht möglich war, konnten sie Artikel und Kommentare zensieren. Heute stehen die User viel stärker in direktem Kontakt, aber Ende 2005 wurden viele Blogs brutal ausgeschaltet.« Insgesamt wurden zu jener Zeit etwa 10 Blogs pro Tag gelöscht und 6.500 Kommentare der Polizei gemeldet.

32 | Es gibt eine englischsprachige Besprechung dieses Buchs von Catalina Iorga auf dem Masters of Media Blog: http://mastersofmedia.hum.uva.nl/2010/09/20/ book-review-mythologie-du-portable-laurence-allard/ 33 | Auszug aus einem E-Mail-Interview mit Laurence Allard vom 20. Februar 2008.

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Allard beschreibt in einem gemeinsam mit Olivier Blondeau verfassten Text die Konversationen als »Spielgespräche«.34 Die jungen Leute haben eine Spielkompetenz, was bedeutet, dass sie auch spielerisch kombinieren und zwischen verschiedenen Plattformen wechseln können. Neben den beliebten Computerspielen gibt es die »ernsten Spiele«, die Fiktion und Realität auf subtilere Weise mischen.35 Blog-Gespräche sollten in diesem Kontext gesehen werden. Das spielerische Chatten erscheint als Produkt einer »detraditionalisierten Gesellschaft«. Was Blogger in diesem »expressiven Zeitalter« zeigen, ist ihre »stilisierte Existenz«. Die kompilierten Subjekte präsentieren ihre ganz eigene Kunst des Rekombinierens und mischen MTV-Videofragmente und die Ikonografie der Prominenz mit per Handy aufgenommenen Bildern von sich selbst und ihren Freunden. Identität wird nicht nur von Ethnizität, Sprache und Staatlichkeit bestimmt, sondern auch angereichert und verteilt durch einen fluiden Datenbestand, der sich aus Spielen, Musik, dem Fernsehen und dem Internet speist. Und diese heterogene Identität ist nicht bloß fragmentiert, sondern sie erlaubt den Leuten auch, leichter miteinander in Verbindung zu treten. Wenn die Identitätselemente aus dem großen, aber begrenzten Vorrat der Popkultur bezogen werden, ist es eben einfacher, sich zu verbinden und Netzwerke zu bilden. Das könnte ein Grund für den großen Erfolg von Skyblog sein. Um spezielle Interessen oder Ereignisse herum können sich dann ganz schnell Gruppen herausbilden, wie zum Beispiel bei den Aufständen im November 2005. In Abwandlung von Gayatri Spivak fragt Laurence Allard: »La racaille peutelle parler?« (»Kann der Pöbel sprechen?«). Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy verwendete den abwertenden Ausdruck »racaille«, um die aufständische Jugend als Abschaum zu brandmarken, der mit Hochdruckreinigern entfernt werden sollte. Wir können die Frage auch abändern: Kann der Pöbel durch individuelle Kanäle sprechen, die ihm von einem kommerziellen Medienkonzern bereitgestellt werden? Der »digitale Pöbel«, der auf seinen Skyblogs chattet, steht in einer Do-it-Yourself-Opposition zu den traditionellen Medienstrukturen, indem er Blogs besetzt und kultiviert, um sich seiner eigenen Kommunikation zu widmen. Für Paul Mathias ist die Gegenüberstellung von traditionellen, entfremdenden Medienstrukturen und befreienden Blogtechnologien aber zu simpel. »Ich würde den Wechsel von traditionellen zu vernetzten Medien eher als eine Internalisierung entfremdender Prozesse interpretieren. Die Leute werden nicht durch von Piloten gesteuerte Maschinen wie dem An-

34 | Laurence Allard und Olivier Blondeau, »Racaille digitale. Les émeutes de banlieue n’ont pas eu lieu«, in: Contemporary French Civilization 31/1, Université de Lille, Winter 2006. 35 | Siehe: http://parisriots.free.fr/page1/page1.html

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chorman-System eines TV-Senders entfremdet, sondern durch sich selbst steuernde Computerprogramme.«36

D ER N IEDERGANG DER B LOGOSPHÄRE IM I R AK Der Aufstieg der irakischen Blogosphäre fiel zusammen mit dem »Krieg gegen den Terror« nach 9/11 und dem unter amerikanischer Führung erfolgten Einmarsch in Afghanistan und den Irak. Viele haben vielleicht das Wort »Blog« zum ersten Mal im Zusammenhang mit den Berichten über einen anonymen Blogger namens Salam Pax gehört, der schon im September 2002 unter dem Regime Saddam Husseins begann, persönliche Einträge zu verfassen. In seinem englischsprachigen Blog schrieb er über den Krieg, seine Freunde, das Verschwinden von Leuten unter Hussein und über seine Arbeit als Übersetzer und Journalist. Die Bedeutung Salam Pax’ liegt wohl nicht nur darin, dass er der erste irakische Blogger war, er war auch Vorbild und Hoffnungsträger in der Geschichte des irakischen Bloggens ganz allgemein. Nach einer kurzen Karriere als internationaler Medienstar in der Zeit nach der Invasion im März 2003 gab er sein Blog Where is Raid? auf, dessen Inhalte danach allerdings als Buch veröffentlicht wurden. 2004 begann er noch einmal ein neues Blog unter dem Titel Shut Up You Fat Whiner!, daneben schrieb er für den Guardian, führte ein über die BBC ausgestrahltes Videotagebuch und zog 2007 nach London, um ein Masterstudium in Journalismus zu absolvieren. Seit 2009 ist er wieder in Bagdad, von wo aus er jetzt über Twitter gelegentlich noch kurze Nachrichten verschickt. Salam Pax gehörte zu einem Netzwerk von Freunden wie Abdul Ahad und Raed Jarrer, die auch Blogger der ersten Stunde waren. Auch Zeyad Kasin war dabei, mit seinem auch heute noch aktiven Blog Healing Irak, das unter dem Motto steht: »Es ist sinnlos zu versuchen, jemandem etwas auszureden, was ihm nie eingeredet worden ist« (ein Jonathan-Swift-Zitat). Sein jüngerer Bruder startete ebenfalls ein Blog, und einen Eintrag darin, wo er beschreibt, wie er bei der Aufnahme eines Cat-Stevens-Songs von einem Kugelhagel überrascht wurde, werden viele nicht so leicht vergessen.37 Eine andere wichtige Bloggerin ist Ri36 | Siehe die Lyon-Konferenz über die Arbeit von Jack Goody: http://barthes.enssib. fr/colloque08/programme.html und Paul Mathias, Des Libertés numériques, Paris: PUF, 2008. 37 | »Ich war gerade in meinem Zimmer, spielte wie üblich Gitarre und nahm das Lied ›Peace Train‹ von Cat Stevens auf, als ungefähr 30 Sekunden nach Beginn des Liedes, bei der ersten Zeile, ›Now I’ve been happy lately‹, eine verirrte Kugel durchs Fenster schoss und alles Glas zu Bruch gehen ließ, und dann ging ein heftiges Feuergefecht in der Straße los. Ich saß wie gelähmt in meinem Zimmer, völlig geschockt von der Schie-

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verbend mit ihrem Blog Baghdad Burning, eine Programmiererin, deren hervorragend geschriebene Blogeinträge in zwei Büchern veröffentlicht und auch als Theaterstück und Hörspiel adaptiert wurden.38 Obwohl Salam Pax anfangs mit ihr in Kontakt stand, bleibt ihre Identität bis heute ein wohlbehütetes Geheimnis. Nachdem sie mit ihrer Familie Ende 2007 nach Syrien geflohen war, stellte sie das Bloggen ein. Diese und andere Blogs sollten im Zusammenhang einer eingeschränkten sprachlichen Kommunikation gesehen werden, denn wir sind auf die englische Sprache angewiesen und können, wie auch die meisten internationalen Beobachter, kein Arabisch lesen. Das Problem stellt sich selbst bei internationalen Aggregator-Websites wie dem in Melbourne initiierten Iraqi Blog Count, der Links zu einer Vielzahl irakischer Blogs gesammelt hat, von denen die meisten aber nur in arabischer Sprache geführt werden. Zu den Ausnahmen zählen vielleicht Niqash, eine von Deutschland geförderte englisch-arabische Journalisten-Website, die auf internationalen Austausch spezialisiert ist, aber keinen spezifischen Fokus auf Blogs hat, und Global Voices, wo man englische Zusammenfassungen aus der irakischen Blogsphäre lesen kann.39 Über irakische Blogs und die Situation im Irak nach 2003 zu schreiben, kann ziemlich ernüchternd sein. Nach der extrem blutigen Phase zwischen 2006 und 2007 wurde es im Jahr darauf zwar etwas ruhiger, und es gab weniger Autobomben und zivile Opfer, aber eine politische Lösung kam nicht in Sicht. Mit der Wahl Barack Obamas und dem Teilabzug der ausländischen Truppen zwischen 2009 und 2010 verschwand die Situation weitgehend aus dem Blickfeld der globalen Nachrichtenredaktionen. Nur gelegentlich hören wir Berichte über nicht enden wollende Koalitionsgespräche unter der Leitung des Premierministers Nuri al-Maliki. Selbst heute mag es noch zu früh sein, um die Geschichte der irakischen Kriegsblogs aufzuschreiben. Trotzdem sollten wir den Zustand der Blogs nicht als Spiegel der täglichen Gewalt verstehen. Wir dürfen nicht die Anpassungsfähigkeit, die Ironie und den Humor der irakischen Blogger vergessen. Es ist dieser Lebensmut, der es so lohnend macht, sie zu lesen und zu unterstützen. ßerei. Ich stoppte die Aufnahme und ging erst mal vom Fenster weg, um nicht doch noch zufällig eine Kugel abzubekommen, und als der Spuk vorbei war, kam ich in das Zimmer zurück und hörte mir an, was ich aufgenommen hatte, und das Kuriose war, dass tatsächlich direkt nach den Worten ›I’ve been happy lately‹ die Kugel im Zimmer einschlug.« http://nabilsblog.blogspot.com/; 7. April 2007. 38 | Riverbend, Baghdad Burning: Girl Blog from Iraq, New York: The Feminist Press, 2005; und Baghdad Burning II: More Girl Blog from Iraq. New York: The Feminist Press, 2006. Dt.: Riverbend: Bagdad Burning. Ein Tagebuch. St. Pölten: Residenz 2006. 39 | Niqash: www.niqash.org/; Global Voices: http://globalvoicesonline.org/-/world/ middle-east-north-africa/iraq/

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Diese Fallstudie erzählt die Geschichte des täglich aktualisierten Aggregators Streamtime, einer Solidaritätskampagne aus Amsterdam, die 2004 von dem Radioaktivisten Jos van der Spek ins Leben gerufen und von der investigativen Journalistin Cecile Landmann redaktionell betreut wurde, mit technischer Unterstützung durch den Floss-Aktivisten und Künstler Jaromil. Anfangs handelte es sich um eine provisorische Webradio-trifft-Freie-Software-Initiative, die sich mit der Zeit aber zu einer internationalen Kampagne zur Unterstützung der irakischen Blogger entwickelte. Streamtime charakterisierte sich selbst als »loses Netzwerk von Medienaktivisten, das lokale Medien in der Anbindung an größere Informationsstrukturen unterstützt. Wir nutzen alte und neue Medien für die Produktion von Inhalten und die Entwicklung von Netzwerken in den Bereichen Musik, Kunst, Kultur und Aktivismus in Krisenregionen wie dem Irak.«40 Im Unterschied zum typischen trockenen Professionalismus von NGOs wurde eine poetische Strategie eingeschlagen. »Streamtime ist vor allem eine Geste der Solidarität: Es kann ebenso die Form einer Kampagne annehmen wie die eines kollaborativen Kunstwerks, ein Fluss ungehörter Klänge, unaussprechlicher Worte und ungesehener Vorstellungen.« Im Rückblick erscheint das erste Jahr nach der Invasion ruhig und stimmte optimistisch – besonders im Hinblick auf die Medien: Das Internet wurde auf breiter Ebene zugänglich, die Presse blühte auf, und in der irakischen Zivilgesellschaft entwickelte sich ein reger Austausch. Dies änderte sich aber schon im Frühjahr 2004, als nach dem (wahllosen) Gewalteinsatz der amerikanischen Truppen bei der Suche nach »Terroristen« und der Veröffentlichung der Folterfotos von Abu Ghraib zunehmend Aufstände ausbrachen. Genau zu diesem Zeitpunkt (Juni 2004) wurde Streamtime gestartet. Man spürte bereits, dass die gerade erst gewonnene Medienfreiheit unter Druck geriet. Journalisten wurden entführt und getötet, für Ausländer war der Besuch des Landes nicht mehr sicher. Die erste Phase der Invasion und der darauf folgenden Proteste gegen die Besetzung ging zu Ende, und immer weiter breitete sich die Gewalt aus. Doch am Anfang gab es noch keinen spürbaren Rückgang bei der Blog-Gemeinde oder den Einträgen. 2005 stieg die Zahl der Anschläge dann auf 34.131, nachdem es im Jahr davor noch 26.496 gewesen waren. In einem Interview, das ich mit Cecile Landmann im Jahr 2006 führte, beschrieb sie ihren täglichen Austausch mit der irakischen Blogosphäre so: »Als ich 2004 bei Streamtime anfing, beobachtete ich eine Vielzahl irakischer Blogs und, was am aufschlussreichsten war, ihre Kommentarbereiche. Sie waren offensichtlich der Ort, wo sich alles abspielte. Die Kommentare auf einzelne Einträge gingen in die Hunderte, und das jeden Tag oder, um genauer zu sein, jede Nacht. Am frappierendsten war der gewalttätige Ton, die gewalttätige Haltung in diesen Debatten. Ich war entsetzt, 40 | streamtime.org

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aber gleichzeitig auch fasziniert. Ich begann, vor allem um Streamline ins Gespräch zu bringen, mich unter die Teilnehmer zu mischen, bei den Diskussionen mitzumachen und ein paar Wellen zu schlagen. Das ging aber nicht lange so, denn meistens hatte man bei dieser Art der Interaktion schnell das Gefühl, als ob jemand mit einem Baseballschläger auf einen einschlägt. ›Das ist reiner Masochismus‹, sagten mir der Iraker Raed Jarrar und seine iranische Freundin Niki, beide Blogger, als sie mich im November 2004 in Amsterdam besuchten. Trotzdem erfuhr ich aus den Kommentarbereichen der Blogs sehr viel; von dort ging ich auch jeder Menge Links nach, von denen zwar 75 % uninteressant waren, der Rest aber sehr nützlich.« 41

Zu den Kontakten der Anfangstage zählte auch Abu Khaleel (jetzt auch wieder unter seinem richtigen Namen Ibrahim M. Al-Shawi aktiv), der zwei Blogs betrieb, Iraqui Letters und A Glimpse from Iraq. Wie Salam Pax und Riverbend hat auch er seine Blogeinträge in einem – über die Print-on-demand-Website Lulu selbst veröffentlichten – Buch zusammengestellt. Eine wichtige Rolle spielte in der Frühzeit auch die irakische Linux-Gruppe, der es schon gelungen war, die Kommunikationsbarrieren des Saddam-Regimes zu überwinden. Auch ohne direkten Kontakt zu den schreibenden Bloggern zu haben, waren es diese Techniker, die überhaupt erst die Infrastruktur für die Blogs schufen. Nach 2004 wurde die Zerbrechlichkeit der irakischen Blogosphäre offensichtlich. Wenn wir in die Zeit von Anfang 2006 weitergehen, müssen wir an die Veröffentlichung der dänischen Mohammed-Karikaturen erinnern, ein Thema, das auf irakischen Blogs intensiv diskutiert wurde, wobei gleichzeitig auch darüber gestritten wurde, ob man es überhaupt diskutieren solle. Viele Blogger aus dem Irak oder aus Afghanistan kommentierten die dänischen Karikaturen mit einer Menge Humor. Der Iraker Konfused Kid schrieb über den Fall »Mohammed vs. Laudrup« und kämpfte gegen dänische Butter in seinem Kühlschrank. Der saudi-arabische Blogger The Religious Policeman verfasste urkomische Einträge und entwickelte ein Bewertungssystem für »Moslem-Beleidigungsgrade«. Die Postings zu den Karikaturen wurden dann von den Berichten über den Sprengstoffanschlag auf den Al-Askari-Schrein in Samarra am 22. Februar 2006 überlagert, jenem Ereignis, das alle Zweifel, ob es möglicherweise zu einem Bürgerkrieg kommen könnte, beseitigte. Dieser Tag markierte einen gefährlichen Wendepunkt für die amerikanische Besatzungsmacht – und auch für die irakischen Blogger. Laut Iraq Body Count schnellte die durchschnittliche Zahl der täglichen Opfer von Schießereien und Exekutionen von 27 im Jahr 2005 auf 56 im Jahr 2006 hoch. Die Anzahl getöteter Zivilisten erreichte 2006 41 | Eintrag auf der Website des Institute of Network Cultures am 17. Januar 2006 und in der Nettime-Mailingliste am 16. Juni 2006. Eine leicht veränderte Version wurde im Sarai Reader 06, Delhi, 2006, veröffentlicht.

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mit insgesamt 26.000 Opfern ihren Höhepunkt, 2007 waren es noch einmal 23.000, und für die gesamte Zeit zwischen 2003 bis 2010 geht man von über 100.000 aus.42 In einem Eintrag auf seinem kenntnisreichen Kommentar-Blog, der unter dem Titel »Schiitische Proteste versetzen den Irak in Aufruhr« erschien und auf der Streamtime-Website zitiert wird, fasste Prof. Juan Cole die chaotische Faktenlage dieses schicksalhaften Tages zusammen: »Der Tag begann mit einer Demonstration von zehntausend Leuten in der heiligen schiitischen Stadt Karbala gegen die dänischen Karikaturen des Propheten Mohammed. An diesen Tagen weinen, klagen und geißeln sich die Schiiten in der Erinnerung an das Martyrium des Enkels des Propheten, Imam Husayn. Es ist also eine sehr emotionsreiche Zeit im rituellen Kalender, in der die Gefühle bei Themen wie der Beleidigung des Propheten schnell hochkochen können. Die anti-dänische Demonstration in Karbala ist ein Surrogat für antiamerikanische und gegen die Besetzung eingestellte Gefühle. Die Amerikaner werden nicht im Irak bleiben können, ohne diese Probleme zu verstärken.«

Etwas früher am selben Tag hatten Guerillakämpfer an einer schiitischen Ecke des hauptsächlich sunnitischen Viertels Dura eine Bombe gezündet, die 22 Todesopfer und 28 Verletzte forderte. Weitere neun Menschen wurden bei blutigen Zwischenfällen an anderen Orten im Irak getötet. Die Anschläge, so Cole, »waren die Manifestation eines nicht-konventionell geführten Bürgerkriegs«. Und dann kam mit der Sprengung des Al-Askari-Schreins in Samarra das eigentliche Desaster des Tages. Der Blogger Average Iraqi schrieb an diesem Tag: »Ich glaube, dass solch ein Anschlag einfach nur dazu dienen soll, den Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten anzuheizen. Außerdem trägt Al-Sadr natürlich überhaupt nichts dazu bei, die Lage zu entspannen. Seine Milizen rufen schon nach Rache und greifen nun sunnitische Moscheen an. Man sollte ihm sagen, dass auch die Sunniten diese Anschläge verurteilen und dass auch noch niemand die Verantwortung übernommen hat, warum sollte er davon ausgehen, dass es Sunniten waren?«

Jeder war in Angst. Es gab diverse weitere irakische Blogeinträge zur Sprengung des Schreins, alle in einem Tonfall schwer wie Blei. Average Iraqi stellte bald darauf das Bloggen ein und kehrte schließlich dem Irak den Rücken. Inzwischen mehrten sich Berichte und Fotos aus Bagdad über die »Men in Black«. Konfused Kid notierte: »Die Ereignisse kulminierten im Auftauchen der 42 | Detailliertere Schätzungen unter: www.iraqbodycount.org/analysis/numbers/ 2007/

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Männer in Schwarz, die mit ihren Pickups durch die Gegend fahren und angeblich zu Mahdis Armee gehören, obwohl Moqtada Sadr ihre Verbindung bestreitet. Viele Moscheen im Raum Bagdad wurden von ihnen eingenommen.« Ein im Independent am 6. März erschienener Artikel von Patrick Cockburn trug den Titel »Und jetzt kommen die Todesschwadronen«. Ich könnte weitere Berichte von der Streamtime-Website zitieren. Diese unruhige und fortwährende Umbruchszeit von Anfang 2006 schien kaum abzuebben, die heftigen Anschläge und zahlreichen Toten wurden nicht weniger. Die irakische Geschichte vom täglichen Terror überstieg so für viele allmählich das Maß des Erträglichen. Ein immer wieder auftauchendes Thema der Blogeinträge war deshalb auch die ständig wachsende Erschöpfung selbst, als Folge der ständigen Bomben, Morde, Entführungen, Todesschwadronen, bis hin zu Strom- und Benzinknappheit und zur allgemeinen politischen Idiotie mit ihren immensen, tödlichen Konsequenzen. Nun, warum haben wir seit 2007 nicht mehr viel von den irakischen Bloggern gehört? Nur ein paar von ihnen sind in Bagdad und Mosul geblieben und bloggen weiter, wie Sunshine in Mosul, die ihr Blog 2005 im Alter von 13 begann. Oder der sehr aktive Last-of-Iraqis in Bagdad, der mehrfach von Explosionen berichtete, die ihn um ein Haar zum Schweigen gebracht hätten. Eine Momentaufnahme mit Überschriften von Blogeinträgen auf Streamtime Ende 2007: »US-Militär in Gesprächen mit sunnitischen Erweckungsbewegungen; Zivilisten verwundet und getötet bei Feuergefecht an der türkischen Grenze; Kleine Hilfsaktion für irakische Flüchtlinge: ausländische Truppen wegen des Helmand Raid-Massakers beschuldigt. F**k al-Qaida, F**k die Almahdy-Truppen, F**k jeden Verantwortlichen.« Angesichts der fortlaufenden täglichen Gewalt kann man im Nachhinein nur verblüfft sein, dass einige irakische Blogger überhaupt noch den Mut und die Energie hatten, zu beschreiben, was um sie herum stattfindet. Streamtime war dabei nicht die einzige Initiative, um die Verbindung aufrechtzuerhalten; das von Amerikanern initiierte Projekt Alive in Baghdad stellte wöchentliche Berichte mit originalem Videomaterial aus dem Irak, manchmal auch aus Syrien oder Jordanien, zusammen. Ortsansässige Iraker wurden ausgebildet und darin unterstützt, Videos zu filmen und zu schneiden. Einer dieser Korrespondenten wurde in Bagdad erschossen, es war praktisch eine Exekution im eigenen Haus, wo er sich alleine aufhielt, als irgendwann kurz vor Mitternacht die irakische Nationalgarde an seine Tür »klopfte«. Nachdem sie gegen 3 Uhr morgens wieder gegangen waren, fanden Nachbarn Ali Shafeya mit 31 Kugeln im Leib. Unter all diesen Angriffen weiter zu bloggen, muss eine intensive und erschöpfende, aber auch betäubende Erfahrung gewesen sein. Die Liste der Todesopfer im unmittelbaren Umfeld dieser Blogger konnte nur immer länger werden. Wir vergessen zu leicht, welche schrecklichen Dinge im Irak stattfinden, da sie einfach immer weitergehen. Cecile Landmann:

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»Der anhaltende Gewaltpegel ist betäubend und unbegreiflich, für uns ›Außenseiter‹, und für die Leute im Irak noch mehr. Es gibt einen große ›Menge‹ an Nachrichten aus dem Irak, aber die sind nicht immer von hoher Qualität. Ein anderer Faktor, auf den in verschiedenen Berichten immer wieder hingewiesen wird, ist der Umstand, dass das ›irakische Individuum‹ in den umfangreichen (und oft auf Militärisches bezogenen) Nachrichten über den Irak so gut wie nicht existiert.«

Chats und Chatrooms spielten im Streamtime-Projekt eine große Rolle. Aber als Blogleser sehen wir nur die Einträge, die Cecile ausgewählt hat. »Ohne die Chats mit den Bloggern hätte ich mein Wissen über den Irak oder Streamtime als Kontaktmedium und die besondere Form von Irakkrieg-Blogarchiv, zu dem es auch geworden ist, nie entwickeln können. Meine ersten Chats mit irakischen Bloggern fanden Ende 2004, Anfang 2005 statt. Ende 2005 klopfte auch der erste afghanische Blogger an meine Chattür. Es ist ›normaler‹ Journalismus, soweit es so etwas gibt. Journalisten wissen meistens mehr über ein Thema, als sie in einem Artikel schreiben können. Das gilt auch für Blogeinträge. Journalisten chatten oder telefonieren mit ihrem Redakteur über ihr Thema, und Blogger chatten mit mir und anderen. Hinter dem, was tatsächlich veröffentlicht wird, stecken also noch eine Menge mehr Informationen. In einigen Fällen überarbeite ich englischsprachige Einträge, das geschieht aber ›hinter verschlossenen Chattüren‹ und bevor ein Eintrag veröffentlicht wird. Oft werde ich beim Chatten auf bestimmte Einträge aufmerksam gemacht, und manchmal veröffentliche ich Ausschnitte aus den Chats auf der Website, jedoch nie, ohne die Erlaubnis der betroffenen Person einzuholen.«

Hat sich der Schreibstil der irakischen Blogs mit den Jahren verändert? Cecile: »Die Qualität der Texte auf den irakischen Blogs ist zurückgegangen, was zum Teil damit zusammenhängt, dass der qualitativ herausragende ›geborene Blogger‹ Salam Pax aufgehört hat, über den Irak zu bloggen. Einige haben mit einer stärker journalistischen Ausrichtung weitergemacht, aber die meisten gingen in die USA, um dort Journalismus zu studieren, wodurch sich ihr Blick auf den Irak im Endeffekt natürlich verändert hat. Anderen, die aus Jordanien oder woanders im Mittleren Osten weiterbloggten, kamen die unmittelbaren Themen abhanden, was ihre Blogs aber auch wieder persönlicher machte. Aus Damaskus zu bloggen bringt neue Probleme mit sich, etwa die Blockade von Googles Dienst blogger.com, was bedeutet, dass man, wenn man sich in Syrien befindet, weder irakische – und andere – Blogs lesen noch den eigenen Blog aktualisieren kann. Außerhalb des Iraks können Blogger sich mehr auf ihr persönliches Leben konzentrieren. Im Hinblick auf die große Zahl irakischer Flüchtlinge wäre es vielleicht eine gute Idee gewesen, eine Exil-Blogger-Szene aufzubauen, was aber nicht geschehen ist.«

Bloggen nach dem Hype: Deutschland, Frankreich, Irak

Mitte 2009 hörte Cecile auf, tägliche Beiträge auf Streamtime zu posten, doch die Website ist bis heute aktiv. Wie die Menschen im Irak zwischen 2003 und 2004 das Internet entdeckten und die Möglichkeiten des Bloggens wahrnahmen, ist eine faszinierende Geschichte, die erzählt werden muss. Cecile Landmann plant, die wichtigen Beteiligten zu besuchen und ein Buch über das Schicksal all dieser Charaktere, von denen sie die meisten im realen Leben nie getroffen hat, zu schreiben, in der Hoffnung, diese spezielle Atmosphäre noch einmal einzufangen. Cecile: »Blogs vermitteln einen guten Einblick in das tägliche Leben der Leute, aber was passiert, wenn dein Wohnzimmer ständig beschädigt wird, weil nebenan eine Bombe hochgeht? Was, wenn der Strom für Stunden ausfällt und du deine Gedanken im Schein der Kerze aufschreiben musst, um deine Frustrationen später zu posten, in der Hoffnung, dass sich irgendjemand für die verzweifelte Lage der irakischen Bevölkerung interessiert? Obwohl sich einige Dinge vielleicht verbessert haben, ist der schwarze Humor noch da, wie zum Beispiel bei dem Blogger, der neulich chattete: ›Gewalt ist so 2005!‹«

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Das Radio nach dem Radio: Von Piraten- zu Internet-Experimenten

Was ist Radio im Internet-Zeitalter? Wird das Online-Hörerlebnis durch den interaktiven Live-Charakter des Streamings definiert? Es geht nicht mehr um die Übermittlung von Radioinhalten durch das Kabel statt über den Äther, sondern vielmehr um die Frage, ob das massenhaft über das Netz verbreitete Audiomaterial überhaupt noch als »Radio« betrachtet werden kann. Wird es »Radio« in ein paar Jahrzehnten als Medium noch geben? Einige von uns haben zum Radio als Format der Inhaltsvermittlung einen emotionalen und nostalgischen Bezug, aber spielt das eine Rolle? Wäre es vielleicht besser, das Wort »Radio« in »soziale Hörerfahrung« umzudeuten? Warum sich die Zukunft des Radios nicht analog zu Skype als Peer-to-Peer-Audio-Austausch vorstellen? Oder als ein gigantisches, gemeinsam genutztes Environment, das auf Empfehlungen und Gerüchten über das Neueste und Coolste beruht. Oder ist Radio etwa per Definition ein »One-to-many«-Kanal? Wenn wir Brechts Radiotheorie lesen und frühe Experimente mit Zweiweg-Systemen berücksichtigen, sicher nicht. Es hat immer Rückantworten und Phone-ins gegeben. Dieser Essay will jedoch nicht über die Zukunft spekulieren, sondern beschreibt und reflektiert den Übergang vom analogen über das digitale schließlich zum Online-Medium am konkreten Fall der Amsterdamer Piratenradio-Szene.

F REIE R ADIOTECHNIKEN IN A MSTERDAM Die holländische Radiokultur hatte immer ihre Ecken und Kanten. Es gibt hier eine reiche Geschichte der Piratenradios, von Radio Mokum der Squatter aus den frühen siebziger Jahren und kommerziellen, von der Nordsee aus sendenden Radioschiffen wie Radio Verona bis zu den freien Radios, die in den achtziger und neunziger Jahren aus den besetzten Häusern multikulturelle, IndiePop- und Techno-Sounds ausstrahlten, sowie zahlreichen weiteren mehr oder weniger kommerziellen Dance- und Pop-Sendern. Obwohl es solche lokalen

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Das halbwegs Soziale — Eine Kritik der Vernetzungskultur

Stationen überall gab, ob in Rotterdam, Den Haag, Nijmwegen oder Groningen, beschränkt sich diese Untersuchung wegen des biografischen Bezugs vor allem auf Amsterdam. Einer der Ausgangspunkte ist dabei Radio De Vrije Keyser, das seinen Sendebetrieb aus dem verbarrikadierten Prachtbau De Groote Keyser1 in den frühen Achtzigern aufnahm. Nach einer eher politisch geprägten Aktivisten-Phase rief De Vrije Keyser bald eine breite Gefolgschaft freier Radiosender auf den Plan, die gemeinsam zu weitläufigen Reisen in das Experimentierfeld musikalischer Stile und Formate aufbrachen. Die Zukunft des Radios in den Niederlanden angemessen zu erörtern, dürfte sich rasch als schwierig erweisen. Wie woanders auch, sind die kommerziellen, rechtlichen und politischen Modelle überholt, und als Reaktion darauf erklären die Podcaster ihren Sieg über den öffentlichen Rundfunk. Online-Radio-Enthusiasten sehen den »Tod des Radios« als einem Moment der Befreiung2 – die Demokratisierung des Mediums ist endlich erreicht. Aber die institutionelle Wirklichkeit sieht anders aus. Es gibt keine Revolution, keine Deregulierung der Frequenzen und keine grundsätzlichen Veränderungen bei der Finanzierung des öffentlichen Rundfunks. Trotz Krise läuft alles irgendwie weiter wie bisher. Ausgewogene Debatten zum Aufstieg des Internets und seinen Auswirkungen auf das Radio fassen erst die Vor- und Nachteile zusammen und kehren anschließend zur Tagesordnung zurück. Inzwischen kann ja jeder ins Internet gehen und dort fast alle Radiosender empfangen. Was will man mehr? Bereits vorhandene Signale lediglich über andere Kanäle zu verbreiten, kann die radikale Phantasie nicht beflügeln. Mediale Umlenkung ist eine Sackgasse. Künstler und Freaks, die Internet-Radio als einen wechselseitigen Prozess sehen, haben weniger Interesse an der Echtzeit-Wirkung von Twitter oder Facebook, sondern konzentrieren sich vielmehr auf den Aspekt der dehnbaren Zeit dieses sphärischen Mediums. Trotz seiner Endzeit-Propheten hat das Versprechen des Radios als lokaler Audio-Ekstase seine Anziehungskraft behalten. Radiowellen, die über den Stadthimmel schweben, hüpfen und tanzen – aber wie lässt es sich ein solches Bild in die Metaphern der neuen Medien übersetzen? In den letzten Jahrzehnten hat diese Energie ein reiches Netz freier Radiostationen befeuert, das sich inzwischen jedoch praktisch aufgelöst hat. Was bedeutet es, dass wir nun als Einzelindividuen von einer Klanglandschaft zur nächsten surfen? Das Radio braucht keine Freunde, es braucht neue soziale 1 | www.vrijekeyser.nl/ 2 | Dick Rijken, »Radio is dood, lang leve audio« (Radio ist tot, lang lebe das Radio). »Warum sprechen wir von Radio, wenn es in Wirklichkeit gar kein Radio ist?« Anstatt Podcasten einem (erweiterten) Begriff von Radio unterzuordnen, definiert Dick Rijken Podcasts als intelligentes Audio. »Der Hörer kann das Programm wählen, das er mag und es anhören, wann und wo immer es ihm passt.« www.denieuwereporter.nl/2006/06/radio-is-dood-lang-leve-audio/ (holländisch).

Das Radio nach dem Radio: Von Piraten- zu Internet-Experimenten

Strukturen, in denen die kommenden Radionauten frei senden können. Aber was ist das Radio nach dem Radio? Mein eigenes Schreiben über das Radio reicht schon einige Zeit zurück. Nach einer Krise existenziellen Ausmaßes im Sommer 1987, in meinem vierten Jahr der Arbeitslosigkeit, kam ich zur Entscheidung, trotz dürrer finanzieller Perspektiven meiner Bestimmung und meinem Bedürfnis zu folgen und mich zum »Medientheoretiker« zu erklären. Als frei schwebender Intellektueller und Aktivist, der sich hauptsächlich mit Schreiben und Publizieren befasste, kaufte ich mir meinen ersten PC (einen IBM-Klon mit Intel 8086-Prozessor) und schloss mich innerhalb der (abflauenden) Hausbesetzerbewegung der freien Amsterdamer Radio-Szene an.3 Gemeinsam bildeten Radio De Vrije Keyser, Radio 100, Radio Papatoe (ursprünglich Radio Dood) und ein paar weitere (ethnische) Programme, die über das legale SALTO-Kabel und einige UKW/MW-Frequenzen verbreitet wurden, eine feste und trotzdem wild zusammengewürfelte Szene von ungefähr 120 bis 150 Radiomachern. Alle Beteiligten hörten sich auch die Programme der anderen an und entwickelten so das Medium Radio weiter. Mit anderen Worten, durch das Erreichen einer kritischen Masse kam eine selbstreferentielle Dynamik auf, die eine dichte und umfassende Radiokultur hervorbrachte. Ich begann mit einer eigenen wöchentlichen Radiosendung auf Radio 100, Bilwet Portrait Gallery, in der radikale und unabhängige Köpfe eine Stunde lang und ohne von Fragen unterbrochen zu werden zu einem Thema sprachen. Das erklärte Ziel des Programms war pädagogisch: ein Selbstbewusstsein zu gewinnen, sich in öffentlicher Rede zu allen Fragen der Theorie und Geschichte zu äußern und die dunkle und trostlose Ära des Post-Punk-Anti-Intellektualismus zu überwinden. Der Ruf nach Aktion (»hör auf nachzudenken und fang an zu handeln«) hatte in blindem Aktivismus und einer unreflektierten Weiterführung von Bewegungen wie radikalem Feminismus, Hausbesetzerszene, Antimilitarismus, Anti-Atombewegung und Gay-Rights-Aktivismus gemündet. Es war eine der wenigen Sprechsendungen, und für mich war es relativ unwichtig, ob die Beiträge zu Themen wie Bataille und anderen französischen Denkern, der Geschichte des deutschen Faschismus, holländischer Architekturtheorie oder der Archäologie des Amoklaufs in Indonesien zusammenpassten oder nicht. Wie meine Piratenradio-Gefährten erkundete ich die Außengrenzen des Medienraums. Besonders bemerkenswert waren meine Begegnungen und Interviews mit Toek, Reinout und Chris von der Gruppe DFM (DeForMation). 1990 wechselte ich zum noch radikaleren und undurchsichtigeren Radio Pa-

3 | Das entscheidende Jahr 1987, in dem die Amsterdamer Hausbesetzerbewegung der achtziger Jahre dramatisch auseinanderbrach, wird im achten Kapitel von Agentur Bilwets Bewegungslehre, Berlin: Edition ID-Archiv, 1991, beschrieben.

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Das halbwegs Soziale — Eine Kritik der Vernetzungskultur

tapoe, wo ich mit Underground-Gruppen wie STORT und Audio-Personalities wie Evangelina, Agent B. und Wolf herumhing.

S OUVER ÄNES M IXEN Nachdem die Computer schon eine Weile Töne verarbeiten konnten, begann die Amsterdamer Radio-Szene um 1990, PCs mit dem Telefonnetz zu verbinden und mittels Bulletin-Board-Software Dateien zu übertragen. Die Hauptmission der neuen Medien war von Beginn an klar: das zentralisierte und kontrollierte System der Massenmedien aufzusprengen in eine »Landschaft von 1001 blühenden Antennen«. Die Amsterdamer Radionauten gaben das Konzept der Hörerschaft grundsätzlich auf und schifften sich frohen Mutes zu ihrem futuristischen Einsatz an den Grenzen des Audio-Universum ein. Meine Gedanken zur Radiotheorie habe ich erstmals in dem Essay »The Theory of Mixing« publiziert, der ursprünglich im Magazin Mediamatic erschien.4 Im selben Jahr entstand eine ganze Sammlung von Radiotexten, die ins Deutsche übersetzt wurden und unter dem Titel Hör zu – oder stirb! erschienen, dem ersten Buch, auf dem mein Name stand. In diesen Essays erklärte ich, warum Cut-Up und Live-Mix für den Amsterdamer Sound so charakteristisch waren. Solche Techniken waren viel radikaler als die Art, in der die DJs in der Club-Szene mixten. Im Gegensatz zum unhörbaren Übergleiten des einen Tracks in den nächsten und die Verdichtung des Sounds durch den Beat betonte die Amsterdamer Schule des Radio-Mixens den Riss, das Scratchen oder den brachialen Kontrast zwischen verschiedenen Stilen: Zum Beispiel Giuseppe Verdi zusammengeworfen mit der Punk-Band Crass. Der Amsterdamer Sound ging aber über das Musik-Mischen weiter zum Remixen von Informationsströmen; seine Stärke lag in seinem »Live«-Aspekt und nicht im professionellen Equipment oder seiner journalistischen Herangehensweise. Im Gegensatz zum zeitbegrenzten CD-Track nehmen sich freie Radiomacher Zeit. Speziell die Spätprogramme liefen open end. Mixer kreieren eigene Sounduniversen, die sich unendlich in alle Dimensionen ausdehnen und durch einen Ozean überschüssiger Zeit driften. Die Untersuchengen radikaler Radiolandschaften führten Bilwet schließlich zur Theorie der »Souveränen Medien«, denen es nicht mehr darum ging, die Wahrheit zu senden oder politische Botschaften mit Gegeninformationen.5 Ohne informieren, aufzuklären oder unterhalten zu wollen, machen sich Souveräne Medien auf ihre eigene Reise 4 | www.mediamatic.net/page/5750/nl 5 | Die ersten Hinweise auf Radiopraktiken als Souveräne Medien finden sich in Agentur Bilwets Bewegungslehre. Eric Kluitenberg behandelt dieses Thema eingehend im Kapitel »Media Without an Audience« seines Buchs Delusive Spaces, INC/NAi, Rotterdam,

Das Radio nach dem Radio: Von Piraten- zu Internet-Experimenten

– Sende-Monaden, die frei von jeder Hörerschaft oder Zielgruppe um Chris Andersons Long Tail herumstreifen.6 Das Faible für das Mixen verweist auf den Übergang von alternativen Medien, die immer noch darauf hoffen, eine Leerstelle im existierenden Repertoire zu besetzen, zu Souveränen Medien, die sich von ihrem potentiellen Publikum völlig losgelöst haben. Fernab von Medienzugang und Demokratisierung betritt man das unerforschte Terrain der Radiofreiheit. Ende der neunziger Jahre hatte die Amsterdamer Bewegung der freien Radios ihren Höhepunkt überschritten. Zwischen 1995 und 2001 erlebten die Niederlande das stärkste Wirtschaftswachstum seit Jahrzehnten, unter einer einmaligen »lila« Regierungskoalition von Sozialdemokraten und Liberal-Konservativen. Neoliberale Marktreformen nahmen das Land in den Griff. Diese Zeit markierte – zufällig oder nicht – auch den kommerziellen Durchbruch des Internets. Der holländische Immobilienmarkt boomte und die (Jugend-)Arbeitslosigkeit ging endlich zurück. Das bedeutete natürlich auch, dass das sorglose Leben auf Staatskosten schwieriger wurde und es immer weniger leerstehende Häuser gab. Eine Studie des englischen Forschers Lynn Owens zeichnet den Niedergang der Amsterdamer Hausbesetzerbewegung in dieser Zeit nach, an dessen Endpunkt schließlich auch alle drei freien Radiosender auf die Straße gesetzt wurden.7 Nur Radio Patapoe gelang es, eine neue Unterkunft zu finden und wieder auf Sendung zu gehen, allerdings mit einem viel schwächeren Signal. Man kann den Amsterdamer Radio-Fanatikern nicht den Vorwurf eines Mono-Medium-Fetischismus machen. Das Radio war für sie ein Werkzeug und kein Medium der Nostalgie. Schon in den späten Achtzigern hatten sie Verbindungen zu Hackergruppen wie Hacktic und tauschten über Bulletin Boards Audio-Files aus. Später, nachdem 1996 das Real-Player-Programm herausgekommen war, experimentierten sie mit der Verbindung von Radio und Internet und schufen Möglichkeiten, auch online Radio zu hören. Wo die Nutzer anfangs noch teure Point-to-Point-Verbindungen benötigten, eröffnete die Real Software das Zeitalter des »Streaming«. Der öffentliche holländische Sender VPRO gehörte zu den ersten, die RealAudio einsetzten. Einer der ersten InternetradioWebcasts fand während des Festivals für Taktische Medien Next Five Minutes 2 im Januar 1996 statt, als eine temporäre Radio-Crew mit Beteiligten von Radio 100, Patapoe und Vrije Keyser live aus dem Paradiso und DeBalie sendeten, was zum Teil auch über einen RealAudio-Server gestreamt wurde. Josephine Bosma 2008. Mehr zum Übergang von Radio zu Streaming siehe auch das Kapitel »Principles of Streaming Sovereignty«, in: Geert Lovink, My First Recession, V2/NAi, 2003. 6 | Der Kern von Chris Andersons These ist, dass die zahlreichen kleinen Firmen und einzelnen Produzenten mit geringem Umsatz dennoch von großer ökonomischer Bedeutung sind, auch im Vergleich mit den Mediengiganten. www.thelongtail.com/ 7 | Lynn Owens, Cracking under Pressure, Amsterdam University Press, 2008.

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erinnert sich: »Wir benutzten einen eigens dafür bestimmten Server, über den maximal fünf Hörer gleichzeitig mit dem Stream versorgt werden konnten.« Mit der Unterstützung von De Balie, xs4all und De Waag kam diese Technologie auch bei der Solidaritätskampagne für die Serbische Radiostation B92 zum Einsatz und ermöglichte deren Weiterbetrieb im Internet. Im Dezember 1996 schuf der Belgrader Provider OpenNet mit Hilfe von xs4all Vorkehrungen für den Fall, dass Milošević den terrestrischen Sendebetrieb abschaltet. Die globale Kampagne Help B92 erreichte ihren Höhepunkt während des KosovoKrieges und der Nato-Bombardements Serbiens von März bis Juni 1999. Help B92 hatte seine globale Einsatzzentrale in den Dachkammern von De Balie. Eine Sendeanlage auf dem Gebäude von De Waag am Nieuwmarkt sendete die Daten aus Belgrad über die Dächer von Amsterdam. Zu dieser Zeit konnten die meisten Computer noch keine Streams empfangen, denn die 14.4K- Modemverbindungen waren langsam und instabil, erst Anfang 2000 kamen ADSL und schnellere Computer. Ein anderes Hindernis war die begrenzte Kapazität der sogenannten Streaming-Server; wenn eine Onlinestation ein paar hundert Zuhörer versorgen konnte, war das schon außergewöhnlich. B92 wurde von Milošević tatsächlich mehrmals geschlossen, aber über die Internetschaltung wurde das Signal in und außerhalb von Serbien weiter erfolgreich übertragen.

D AS V ERSCHWINDEN DER FREIEN R ADIOWELLEN Symbolisch fiel der Vorhang für das freie Radio in Amsterdam mit dem Tod des Technikers Rob van Limburg im Juli 2003. Laut Insider Mauzz war dieser Allrounder praktisch der Einzige, der ohne Höhenangst die wackelnden Maste der legalen wie der illegalen Radiosender hochklettern und Antennen anbringen, reparieren oder ersetzen konnte. In dieser Zeit verlor Radio 100 im Zuge einer Neuverteilung seine Radiofrequenz, und De Vrije Keyser verlor sie sogar zweimal. Dann wurde die Antenne von Radio 100 auch noch Opfer eines Sturms. De Vrije Keyser erlebte ein ähnliches Schicksal, als der Privatsender 100 %NL seine neu gewählte Sendefrequenz übernahm und Interferenzen produzierte – nachdem die Amsterdamer freie Radioszene immer dem Grundsatz treu geblieben war, nie die Frequenz einer anderen Station zu stören. Die Folgen daraus, dass die Beteiligten nicht die gleichen Werte teilten und zudem die eigenen technischen Fertigkeiten fehlten, waren fatal. Mauzz: »Die Antenne muss für eine neue Frequenz jedes mal neu justiert werden, und offenkundig hatte niemand in der schrumpfenden Gruppe der Freiwilligen die Kenntnisse und den Mut, nach allen Entbehrungen auch noch diese Art von Stunts durchzuführen.«8 Das 8 | Dieses und weitere Statements von Beteiligten der freien Radioszene in Amsterdam stammen aus E-Mail-Interviews, die im Herbst 2004 für diesen Essay geführt wurden.

Das Radio nach dem Radio: Von Piraten- zu Internet-Experimenten

Verschwinden dieser einmaligen Radiokultur fiel auch mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus in den Niederlanden in der Folge von 9/11 zusammen, verknüpft mit den gewaltsamen Toden des Politikers Pim Fortuyn und des Filmemachers Theo van Gogh, sowie mit dem Emporkommen der Anti-Islam- und Anti-Integrations-Politiker Rita Verdonk, Ayaan Hirsi Ali und Geert Wilders. Im Jahr 2010 war Musik zu einem Lifestyle-Geschäft geworden und hatte alle Verbindungen zur Gegenkultur verloren. Die Atmosphäre war eine der Nostalgie, nicht nur für jegliche Art von Musik aus den vorangegangenen 50 Jahren, sondern auch für den wahren Vinyl-Sound und andere analogen Erfahrungen. Zeit für eine Renaissance des freien Radios? Francois Laureys, der aktiv bei De Vrije Keyser und Radio 100 beteiligt war und heute für das IICD arbeitet, eine Entwicklungsorganisation, die in Afrika ICT-Projekte umsetzt, glaubt nicht, dass noch einmal eine kollektive Bewegung entsteht, auch wenn viele kreative Leute Audio/Radio als Ausdrucksmedium benutzen. »Damals, in den frühen 1980ern, mussten wir schon wegen der knappen Kommunikationsmittel zusammenarbeiten und uns organisieren. Die Amsterdamer Sender, die sich nicht mit WHS, Rabotnik, DFM, Radio Got und RVZ zu Radio 100 zusammenschlossen, wurden von den Ermittlungsbehörden gnadenlos gejagt.« Heute kann jeder Podcasts produzieren und fast ohne Budget mit seinem eigenen Webradio beginnen. Um jedoch eine Gemeinschaft zu bilden, braucht man Treffpunkte wie ein Studio, ein Büro oder Café. Die frühere Patapoe-Radiomacherin und Netzkunst-Kritikerin Josephine Bosma stimmt zu: »Als Proeflokaal Marconi, das spätere Tesla, zumachte, verschwand mit ihm auch ein Treffpunkt für die Macher und Zuhörer des freien Radios, ein Ort, der eine Verbindung schuf. Plötzlich war das Radio wieder unsichtbar geworden und hatte keine direkte Verbindung zum Publikum mehr. Als das Rundfunk-Kabel zum Standard wurde, noch vor Internet-Radio und MP3, vergaßen die Leute, wie man einen Sender im Äther findet. Für den Durchschnittsbürger ist es schwer zu begreifen, dass das Kabel oder die Digitalisierung eine völlig andere Medienlandschaft hervorbringen. Ohne das Verschwinden der physischen Verbindung zum Publikum hätten die technischen Veränderungen die Situation nicht so drastisch beeinflusst.«

Dasselbe ließe sich auch über die wilden Sonntagabende sagen, die in den frühen neunziger Jahren in der Patapoe-Bar in einem besetzten Haus nahe dem Zeedijk stattfanden. Genau diese Ereignisse hielten Radio Patapoe zusammen. Die freie Radio-Szene ist von Natur aus nicht sehr nostalgisch. Wir produzieren alle für das Universale Archiv. Trotzdem ist es nicht zu übersehen, dass die Leidenschaft des wilden Live-Mixens und Ins-Leere-Quasselns im verschwindenden freien Äther sich nun auf die überwältigenden globalen Distributionsmöglichkeiten des Internets und seine begleitenden sozialen Vernetzungsrituale verlagert hat. Die freie Amsterdamer Radiokultur bildete 1989 eine radikal

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lokale Angelegenheit: ein einseitiges Geschenk an die Einwohner der Stadt im Geiste Jean Baudrillards, ohne irgendetwas zurückzuerwarten. Goldene Klänge für das große Nichts, das niemand direkt bestellt hat. Was übrig bleibt, ist ein Karton mit Audio-Kassetten und ein Ordner mit digitalen Dateien. Das macht aber nichts, denn Radio ist sowieso ein vergängliches, transitorisches Medium. Josephine Bosma: »Was ist geblieben? Infolge des Aufstiegs der digitalen Medien ist das Radio zu einer stärker individuellen Erfahrung geworden. Ich verwende bewusst nicht das Wort fragmentarisch, da ich es für zu negativ halte und zu sehr orientiert an traditionellen Machtstrukturen und dem Kampf gegen sie. In der Amsterdamer Szene war Radiomachen immer sehr individualistisch und liberal. Der Grund, weshalb ich nicht von einer fragmentarischen Erfahrung reden möchte ist, dass es für mich beim Radio nicht darum geht, mit der eigenen Stimme jeden zu erreichen oder große Massen zu mobilisieren. Es geht um eine ›Medien-Landschaft‹, die eine Vielförmigkeit beinhaltet – und bewahrt. In dieser Hinsicht hat sich nichts geändert. Das Publikum ist heute nicht größer, sondern verstreuter. Wir müssen nur darauf achten, dass es dabeibleibt, und auch, dass neue ›Radiomacher‹ und ›Hörerschaften‹ nachwachsen.«

Für Bosma war Radiomachen, ähnlich wie Kunst, eher expressiv als kommunikativ. Diese Tendenz zum Ausdruck dauert an, besonders bei Radio Patapoe, das immer noch ausgestrahlt wird, aber mit geringerer Reichweite als früher und einem zusätzlichen Live-Stream im Internet. Bosma: »Es ist ihnen völlig egal, dass sie ein paar Zuhörer weniger haben, sie machen einfach weiter. Patapoe macht immer noch dieselbe Art von Programm, und das nicht nur, weil ihnen nichts anderes einfällt, sondern weil das einfach die Art ist, wie sie immer Radio gemacht haben: als Tagebuch oder als Kunst. Ich sehe die alte Situation (mit hoher Reichweite und einem größeren Publikum) nun wie eine Art Sammlung von ›Radio-Blogs‹ avant la lettre, ein Portal im eigentlichen Sinne.«

L AGERFEUER -R ADIO ONLINE Beim von politischen Aktivisten betriebenen Radio De Vrije Keyser liegt der Fall anders.9 Mauzz schreibt: »De Vrije Keyser war vor allem eine alternative Informationsquelle für Aktivisten und die Hausbesetzerbewegung. Diese Arbeit wurde im Internet von Websites wie squat.net, kraken-post.nl, kraakforum.tk und besonders Indymedia.nl weitergeführt.« Laut Radiomacher Lizet, der bei De Vrije Keyser seit 1986 mitgemacht hat, haben sich die Möglichkeiten, Radio9 | www.vrijekeyser.nl/

Das Radio nach dem Radio: Von Piraten- zu Internet-Experimenten

sendungen zu produzieren, sogar verbessert. »Seit dem Internet ist es nicht mehr notwendig, als Kollektiv zu arbeiten. Und sporadisch gibt es auch UKW/ MW-Radioprojekte, mit unterschiedlichem Charakter und oft nur für ein kleines Publikum, wie Radio Rietveld.«10 Lizet weist auf einen anderen Trend hin: aus dem Studio rauszugehen und Livesendungen vor Ort zu machen, zum Beispiel beim jährlichen anarchistischen Festival Pinksterlanddagen. »Auch andere Medienkollektive arbeiteten so, wie etwa Mobile Radio, Ascii und squat. net, ebenso wie spontan gebildete Gruppen junger Radiomacher aus dem ganzen Land, die den Äther mit Informationen, Musik und Klanglandschaften füllten. Sie benutzten sowohl Radio als auch Internet und berichteten ›live‹ wie auch ›on demand‹. Die Radiosendungen hatten den Charakter einer Zusammenfassung des Tages.«

Bosma sieht die Fortsetzung der Arbeit von De Vrije Keyser bei M2M (Migrant to Migrant) Radio, ein »Taktische-Medien«-Projekt, das aus den Protesten nach der Feuerkatastrophe im Internierungsbereich des Flughafens Amsterdam Schiphol, bei der elf vor der Abschiebung stehende Migranten ums Leben kamen, hervorging. M2M nutzt den Streamtime.org-Server, der 2004 auch für Sendungen aus dem Irak eingesetzt wurde und einen Live-Stream aus dem Museum von Halabja übertrug.11 M2M ist das perfekte Beispiel eines souveränen Mediums, wenn auch mit einer situationsbezogenen Ausrichtung. Die Programme bestehen aus (live) Jam Sessions. M2M begann als »Narrowcasting«Initiative, die die Überlebenden des Schiphol-Feuers miteinander verbinden sollte. Radiomacher Jo van der Spek nennt es »Lagerfeuer-Radio«. »Das Motto ist: ›das Essen ist die Sendung‹. Das statische Interview-Format ist passé. Was zählt, ist nur Gespräch, Dialog und Kakaphonie. M2M testet eindeutig die Grenzen dessen, was man noch Radio nennen kann. Am ehesten ließen sich die Sendungen als eine Art Monitoring beschreiben – wir hören in bestimmten Momenten rein, während gleichzeitig das Aufnahmegerät läuft und der Live-Stream geschaltet ist.«

Aber sollte das im Internet gesendet werden? Was wollen wir mit diesem informellen Gespräch machen? Das väterliche Medium, strikt auf das unterwürfige 10 | www.myspace.com/rietveldradio. Siehe auch das Beispiel der Oltranszista-Initiative von 2007, die sich als temporär autonomer Radiosender versteht: »Wir haben ein kleines Medienstudio eingerichtet, wir geben Informationen weiter, wie man mit freier Software und billiger recycelter Hardware sein eigenes Radio machen kann, wir wollen uns in interessante Situationen einbringen und den Gradienten schaffen, um sie in den Himmel zu senden.« www.radioltranzista.net/ 11 | Mehr zu den Streamtime-Radioeinsätzen hier: http://streamtime.org/index. php?blogId=1&op=Template&show=mission

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Ohr gerichtet und akribisch von Regierung und Partei überwacht, mischt sich in das tägliche Leben ein. Van der Spek: »Die Stärke des Live-Streams ist, dass er intime Umgebungen sichtbar macht, die dann in die Welt übertragen werden.« Für die Workshops von M2M wird keine Radioausrüstung benötigt. Van der Spek: »Die Leute haben ihre Aufnahmegeräte in der Tasche, zum Beispiel ihr Mobiltelefon. Weitere Investitionen sind nicht nötig. Es geht um die Fähigkeit, sie zu nutzen. Mit den meisten Mobiltelefonen lassen sich Aufnahmen machen, in den seltsamsten Umgebungen, wo immer man ist. Man muss nur die Möglichkeiten der Hardware entdecken, die man mit sich herumträgt. Ich habe zum Beispiel einmal aufgenommen, wie ich verhaftet wurde. Das war in der Schiphol Shopping Mall. Und jetzt können die Leute sich das auf ihren Mobiltelefonen als Downloadfile anhören.«

Für M2M besteht das Grundmaterial nicht in Musik, sondern in der gesprochenen Sprache an den kosmopolitischen, multilingualen Randzonen. MP3-Recorder im Hosentaschen-Format, die überallhin mitgenommen werden, dienen als Dokumentations-Ausrüstung. Oder wir hören inhaftierte Migranten, die von ihren Handys aus anrufen. M2M übernimmt die Telefonkosten und sendet von öffentlichen Orten in der Stadt aus. Im Künstlerhaus Het Blauwe Huis im neuen, künstlich geschaffenen Stadtteil Ijburg wurde zum Beispiel freitagabends ein Radio-Café ins Leben gerufen. Später wurde es im Wereldhuis in der Nieuwe Herengracht weitergeführt, und zwischendurch fand es im temporären Szene-Treff Scub in der Nähe des Amsterdamer Hauptbahnhofs statt.

D AS P IR ATENR ADIO WIRD GLOBAL Das Verschwinden von Treffpunkten und der Mangel an größeren Radioveranstaltungen führen auch zu einem anderen Problem: das Wissen über die Radiotechniken wird nicht mehr weitergegeben. Bosma: »Immer weniger Leuten ist bewusst, wie einfach es ist, Radio oder Klanglandschaften zu produzieren, und das bedeutet weniger Nachwuchs und weniger Innovation. Die Modernisierung hat sich auf andere Bereiche verlagert, zum Beispiel die Tanz- und Techno-Szene. Jetzt bastelt man dort mit Technologie und Sound herum. In der Amsterdamer Radioszene hat es immer eine starke Verbindung zur alternativen Musikszene und Labels wie Staalplaat gegeben. Im Moment macht die Musik- und Neue-Medien-Plattform Worm ein Programm auf Patapoe. In dieser Szene gibt es jedoch kaum Interesse am gesprochenen Wort, egal ob auf Journalismus bezogen oder auf Literatur. Das sollten wir ändern.«

Das Radio nach dem Radio: Von Piraten- zu Internet-Experimenten

Nach den Fan-Mails in Patapoes Mailbox zu urteilen gibt es wohl noch ein Publikum, aber es ist jetzt über die ganze Welt verstreut und zu einem Nischenpublikum geworden. Es entwickelt sich nicht um eine Technologie herum, die immer wieder angepasst werden kann. In den Zeiten der früheren Repressionen gab es die Kassette, die vom einen zum nächsten wanderte (das heutige Pendant sind Podcast- und MP3-Sammlungen auf einem USB-Stick). Aber während massenhaft freier Speicherplatz vorhanden ist, fehlt heute die Community. Bosma macht Vorschläge, um diese Situation zu ändern. »Große Treffen, aufregende Veranstaltungen, Radiomachen als Teil des Lehrplans, all das ist möglich. Aber es kann nur dann erfolgreich sein, wenn es auch wirklich inspirierend ist. Wir brauchen eine neue Radiophilosophie. Ich habe nicht die Absicht, Radio nur um seiner selbst willen, isoliert von den anderen Medien, zu propagieren. Das ist wirklich überholt.« In einer Zeit, in der die sozialen Bewegungen zurückgehen, immer weniger demonstriert wird und eine Verschiebung auf virtuelle Organisationsformen stattfindet, hat das Radio, das nun schon zu den »kleineren Medien« zählt, Mühe, sich neu zu erfinden. Die Leute sitzen nicht mehr auf der Couch, um Radio zu hören oder fernzusehen; sie twittern und multitasken. Die Medien sind mobil und ständig miteinander verbunden. Dieser neuen Situation muss man Rechnung tragen, wenn man eine aktive Gemeinschaft von Radiomachern und Hörern entwickeln will. Laut der in London lebenden australischen Radio-Forscherin und Produzentin Anja Kanngieser muss eine Philosophie des Radios sich heute mit Radiogeografien und neuen relationalen Räumen und Orten, an denen Radio gemacht wird, auseinandersetzen. »Wie wir es machen, mit wem und auch die entstehenden neuen Klanggeografien haben damit zu tun, wie und wo wir hören. Dies bedeutet eine politische wie auch soziale Neukonfiguration, denn es hinterfragt unsere Vorstellung der Beziehungen, die die Rolle des Radios als kommunikatives und affektives Medium begründen. Es ist auch eine Neukonfiguration der Schnittpunkte zwischen den Imaginationen und Wünschen, die um das Radio als Form kreisen, und den materiellen Technologien und Organisationsformen des Sendens, Streamens und Podcastens, Schnittpunkte, die für das Verständnis von ebbs und den Strömen des DIY-Radiomachens entscheidend sind.«12

Die Gruppe DFM (DeForMation) besetzt in der Amsterdamer Radiolandschaft eine besondere Position. In der holländischen Tageszeitung Trouw schreibt der Musikkritiker und DJ Stan Rijvens: »Dies war nicht nur eine der ersten Webradio-Stationen in den Niederlanden, sie ist auch der einzige Nachfahre der in den achtziger Jahren so starken alternativen Radioszene.

12 | E-Mail-Korrespondenz mit Anja Kanngieser, 24. Januar 2011.

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Das halbwegs Soziale — Eine Kritik der Vernetzungskultur

DFM bringt die Stärke dessen, was Radio sein kann, zurück: illusionäres Theater für die Ohren. Genau das, was unsere öffentlichen Sender seit Jahren nicht mehr leisten.« 13

Toek, der schon in den frühen Neunzigern Radio machte, ist die treibende Kraft hinter DFM. Nachdem er jahrelang bei Radio 100 mitgearbeitet hatte, machte er später mit Erfolg die DFM-Website zu einer globalen Plattform für Hörer und Klangproduzenten, die während der Webcasts über einen Chatroom miteinander verbunden sind. Die Community spendet regelmäßig kleine Geldbeträge, um die (finanzielle) Unabhängigkeit des Projekts aufrechtzuerhalten. Zuschüsse oder Kommerz bleiben draußen. Mauzz weist darauf hin, dass der traditionelle UKW-Sendebetrieb noch nicht ganz verschwunden ist. »Es wird leicht vergessen, dass im westlichen Teil der Niederlande neben Patapoe noch eine andere Station aktiv ist: Dance Radio 992, das unregelmäßig auf der FM-Frequenz 99,2 sendet (gleich neben der 99,3-Frequenz, die Radio 100 aufgeben musste, nachdem SALTO im Zuge der Neuverteilung für die Privatsender die Frequenz 99,4 belegte). Ich chatte regelmäßig mit den Leuten, die diesen Sender betreiben. Sie sind nicht kommerziell, es ist reine Leidenschaft. Dabei verwenden sie die cleverste Technik, zum Beispiel chinesische ›Wegwerf-Sender‹, mit denen sie Übertragungen von bizarren Orten wie einem Hochspannungsmast in der Mitte des IJ [ein Amsterdamer Binnengewässer] aus realisieren. Das Studio leitet die Signale dann risikolos über das Internet weiter. Die Transmitter können aus der Ferne an- und ausgeschaltet werden.« 14

Mauzz hat eine Nische entdeckt, in der das Radio einen Neubeginn machen kann: die 3D-Internet-Umgebung Second Life (SL): »Personen und Szenen, von denen ich es nie erwartet hätte, sind begeistert dabei, MP3Streams live von ihrem Haus, Café oder ihrer Party aus an eine Gruppe von Leuten zu streamen und zu senden, die einen virtuellen Raum in Second Life teilen. Jeder Bereich in Second Life kann seinen eigenen MP3-Stream haben. Außerdem kann man virtuelle ›Radio Player‹ kaufen, auf denen sich die zahllosen Radiosender hören und die persönlichen Lieblingssender speichern lassen. Es gibt sogar kostenfreie Open-Source-Radioempfänger, und die User bringen sich gegenseitig das Radio-Streamen bei. Der Live-Aspekt ist von entscheidender Bedeutung. Es geht um das gemeinsame Erlebnis und die

13 | Stan Rijven, »DFM brengt avontuur terug in de digitale ether« (»DFM bringt das Abenteuer in den digitalen Äther zurück«), Trouw, 12. September 2009. Zu weiteren Informationen über die 24/7-Streams von DFM siehe: www.dfm.nu 14 | Siehe die Bilder auf ihrer Website: http://danceradio992.cz

Das Radio nach dem Radio: Von Piraten- zu Internet-Experimenten

Interaktion zwischen Zuhörern, DJs und anderen Radiomachern. Die Interaktion in SL ist dabei nicht nur verbal, sondern auch nonverbal und visuell.«

DFM zum Beispiel ist sehr aktiv in Second Life. Mauzz, der auch Medienkünstler ist, hat Second Life zweieinhalb Jahre lang ausgeforscht und zahlreiche nicht-kommerzielle Live-Streams gesammelt. »Es gibt verschiedene MP3 Stream-Server-Firmen, bei denen die Nutzer die gemieteten Speicherkapazitäten in Linden-Dollars bezahlen können. Neue Musikgruppen haben sich gebildet, deren Mitglieder geografisch überall verstreut sind, wie die Cover-Gruppe Virtual Live Band und das experimentelle Avatar-Orchester Metaverse, mit dem ich einige Male zusammengearbeitet habe. Sie entwickeln zum Beispiel virtuelle 3D-Instrumente, die sie und das virtuelle Publikum in den Live-Jam-Sessions benutzen können.«15

Second Life ist auch eine Plattform für Aktivisten wie die Second Life Left Unity, deren virtuelle Veranstaltungen auf Probleme in der Welt aufmerksam machen. Während des gut besuchten virtuellen Marathon-Festivals Teknival legten die DJs 66 Stunden lang auf sechs verschiedenen Bühnen alternativen Techno auf und nutzten die Veranstaltung gleichzeitig, um das Palästina-Problem ins Blickfeld zu rücken. Alle diese Aktivitäten sind nicht nur eine Folgeentwicklung des Mediums Radio. Solche Bottom-up-Technopolitiken verdanken sich auch den Entwicklungen bei Hardware, Software, Bandbreite und dem dramatischen Fall der Telekom-Tarife, die uns den Schritt von der Ära des Audio-Mixens in die Ära des Media-Mixens erlauben. Für Jo van der Spek ist Radio letzten Endes alles, was man mit Audio in einer Live-Situation macht. Radio animiert zu unvermuteten Störungen im gewohnten Fluss von Musik und Information. Überraschenderweise sind einige technische Crossover noch unerforscht, insbesondere die Nutzung von Skype und anderen freien Online-Telefondiensten. Mit Skype als freiem Dienst könnten Hörer eigene Programmbeiträge liefern. Man könnte ein Netzwerk von Skype-Korrespondenten aufbauen und weltweite Konferenzschaltungen zwischen vier oder fünf verschiedenen Orten machen, eine Konstellation, die sich am ehesten als Many-to-many-Mikroradio beschreiben ließe. Dieses Signal kann dann als Live-Stream verbreitet werden oder auch klassisch über den Äther. Wenige wissen, dass der Audio-Dienst von Linden Lab (dem Second-Life-Betreiber) der zweitgrößte seiner Art ist. Es ist auch Zeit, unsere Vorstellung von kollektiver Telephonie zu aktualisieren. Smartphones werden auch als »Zeugen«-Ausrüstung bezeichnet, allein wegen ihrer eingebauten Kamera, deren Bilder und Videos man auf Flickr und You15 | www.avatarorchestra.org

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Tube hochladen kann. Man stelle sich nur die taktischen Möglichkeiten von Smartphones in Verbindung mit freiem Radio vor. Last but not least, können wir bald auch die verlassenen UKW- und MW-Frequenzen besetzen. Wir haben den Punkt noch nicht erreicht, und wer weiß, ob und wann der digitale Radiobetrieb wirklich die Herrschaft übernimmt und was dann passieren wird, aber es gibt noch ein großes offenes Spektrum zu entdecken, wenn die Technologien einmal vergessen sind. Tune in and see you there.

Online-Videoästhetik oder die Kunst des Datenbankenschauens »Der automatische Wagenrücklauf der Schreibmaschine, Autos mit Zentralverriegelung: das sind die Dinge, die zählen. Der Rest ist nur Theorie und Literatur.« Jean Baudrillard

Wir schauen keine Filme und kein Fernsehen mehr; wir schauen Datenbanken.1 Statt vorgegebenen Programmen zu folgen, durchsuchen wir eine Liste nach der anderen und stoßen an die Grenzen unserer geistigen Kapazitäten. Welcher Suchbegriff bringt die besten Ergebnisse bei YouTube? Wie lautete der Titel nochmal? Kennt einer den Namen des Regisseurs? Erinnerst du dich an den Namen der Band? In welcher Kategorie fand sich das? Stand der Verweis in einem der Blogs? Wer weiß die URL? Stand das unter Haustiere oder Unterhaltung? Das ist der »Database Turn«. Wir sind der Gnade schlecht gelaunter Kritiker und der Monokultur der Multiplexe entronnen. Willkommen in der Snack-Kultur multitaskender Prosumer: schau den Clip und dann weiter. Bislang ist noch nicht völlig klar, was das Datenbankenschauen bedeutet. Wir sind glücklich, YouTube in unser bewegtes tägliches Leben zu integrieren und ignorieren die Folgen der Rund-um-die-Uhr-Computer-Betrachtung. Es ist bereits ein kulturelles Faktum, dass wir den Fernseher überallhin mitnehmen und zum Beispiel an der Bushaltestelle schnell einen Clip sehen. Was bedeutet es, dass unsere Aufmerksamkeit von Datenbank-Systemen gesteuert wird? Ist Suchen wirklich wichtiger als Finden? Warum ist die Durchsuchbarkeit solch 1 | Dieser Text basiert auf den zwei Einführungen, die ich für die Video-Vortex-Reader I + II (jeweils gemeinsam hg. mit Sabine Niederer) geschrieben habe, Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2008 und 2011. Zu einer umfassenden Theorie der Datenbanken aus geisteswissenschaftlicher Perspektive siehe auch David Gugleri, »Die Welt als Datenbank«, in: Nach Feierabend, Zürcher Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte, Zürich: Diaphanes, 2007, S. 11-36.

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ein zentrales Organisationsprinzip geworden? Warum entwickeln wir persönliche Beziehungen zu relationalen Datenbanken? Wer wird uns zu den Stichworten führen, die interessante Ergebnisse bringen? Sind wir tatsächlich im Dialog mit der Maschine? Erhalten wir auf demokratische Weise Antworten auf unsere Fragen, wie oft unterstellt wird, oder gibt es da Redakteure im Hintergrund, die »die beliebtesten Videos« empfehlen? Von einem kulturellen Bewusstsein, wie Algorithmen funktionieren, sind wir noch Welten entfernt. Der technologische Charakter des Suchprozesses verdient ebenfalls mehr Beachtung, da die Jagd nach und unter Bewegtbildern inzwischen genauso wichtig ist wie das Scannen von Suchergebnissen. Wir müssen die Myriaden von Smartphones, Notebooks, Laptops, LCDBildschirmen in Autos, Deckenmonitoren, tragbaren Videoplayern, Fernsehern und Taschen-PCs untersuchen, die uns ermöglichen, zeitgleich Bewegtbilder zu produzieren und zu konsumieren, wo immer wir uns gerade befinden. Der italienische Künstler Albert Figurt demonstriert es in seinem brillanten Video Notre-Cam de Paris.2 Touristen bewegen sich durch die Kathedrale Notre Dame in Paris, filmen dabei und fotografieren. Das Video beobachtet sehr genau die Laien bei ihren Aufnahmen, ihre Körper, die sich der Kamera anpassen: wie sie die Arme bewegen und strecken, um an die Skulpturen oder Glasfenster, die sie festhalten wollen, heran- oder von ihnen wieder wegzuzoomen. Figurt führt nicht nur die Massenproduktion des visuellen Materials vor, sondern auch den Status des Bildes als flexible Techno-Erweiterung des Körpers und die zwanghafte Natur der touristischen Bildproduktion. Jenseits der oft moralistischen Kritik des Gadget-Fetischismus und des Lobs auf technikungebundenes Sehen müssen wir unsere »Kunst des Sehens« (John Berger) und unsere Methoden zur Beschreibung der Komposition unserer Gegenwartskultur entwickeln und verfeinern.

N ACH DEM E NDE DER G ROSSEN E RZ ÄHLUNGEN »›Ein tanzender Knirps‹ auf YouTube lag im Rechtsstreit mit Popstar Prince und einer der größten Plattenfirmen der Welt. Stephanie Lenz hatte ein Video ihres Kleinkinds, das zum Prince-Hit ›Let’s Go Crazy‹ von 1980 auf und ab wippt, geschossen. In dem Video rennt der kleine Junge in der Küche herum, während der Song im Hintergrund spielt. Das fertige Video hatte Lenz auf YouTube hochgeladen, ›für Familie und Freunde zur Ansicht‹«. 3

2 | www.YouTube.com/watch?v=VIrjZYqJ640 3 | www.ctvnews.ca/mom-takes-on-prince-over-youtube-video-1.261886

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So stand es in einer Meldung zu lesen. Das Überraschende daran ist nicht der Copyright-Streit, sondern dass wir von diesem Faktoid überhaupt Kenntnis besitzen. Warum kümmern wir uns um Aufnahmen solcher Trivialitäten? Ich stelle diese Frage nicht aus einer Haltung der Arroganz oder Ablehnung heraus, sondern weil sie unser Online-Sein als solches betrifft: Warum musste ich das sehen? Wie kam ich hierher? Was ist ontologische Serendipität? Kommentare zu YouTube in den alten Medien reichen selten weiter als bis zu Beschwerden über den Niedergang des Abendlands im Allgemeinen und der Urheberrechte im Besonderen. Kulturpessimisten sind sich einig in ihrer Klage über das Ende der Großen Erzählung. Nicht nur lesen wir wenige oder keine Bücher, jetzt sehen wir auch noch zu wenig Filme und nicht genug fern. Wir sind, wie kleine Kinder, unfähig zum Stillsitzen und aufmerksamen Zuhören, während Papa Kino uns eine Geschichte erzählt. Der Spielfilm läuft noch, da haben wir schon unser Urteil getwittert. Freuds »moderne Neurose« zeigt sich als zerstreute Aufmerksamkeit im Cyberspace. Statt aufmerksamen Betrachtens und Hörens nur noch unkonzentriertes Multitasking. Kaum sitzen wir am Rechner, schon überfällt uns das ADHS. Beim Ansehen von Online-Videoclips, die im Schnitt zweieinhalb Minuten dauern, hüpfen wir auf und ab, singen mit und spielen Luftgitarre dazu. Wir benehmen uns wie hyperaktive Kinder, die zu wenig Aufmerksamkeit bekommen, und wenn uns etwas nicht gefällt, dann geht das Gezeter gleich los oder, sagen Psychologen, die das Online-Verhalten untersucht haben, wir wenden uns auf der Stelle etwas anderem zu. Der NBC-Moderator Brian Williams hat einmal gesagt: »Wenn wir alle den an der Toilettenspülung hängenden Katzen zusehen, was lesen wir währenddessen alles nicht? Welche großen Autoren verpassen wir? Welche großartige Geschichte ignorieren wir? Es ist die Gesellschaft, es ist die Kultur, ich kann es nicht ändern. Wie jeder andere kann ich eine Stunde bei YouTube verschwenden oder mit Paris Hilton, gar kein Problem. Und was alles habe ich währenddessen ignoriert, was ich vor zehn Jahren noch konsumiert hätte?« 4

Was kann man tun, wenn das Alltägliche kanonisch wird? Wir müssen das Schauen von Datenbanken ernst nehmen, dürfen es nicht als »Konsumieren von Videoclips« abtun. Online-Videos anschauen: damit verbringen nun mal die Leute ihre Zeit. 2010 hat jeder Nutzer im Schnitt 15 Minuten auf den Seiten von YouTube verbracht. 35 Stunden neues Material kommt zurzeit pro Minute neu auf den Server. Das Interface sorgt dafür, dass wir immer weitermachen, die Kette der Clips nimmt kein Ende. Sich von einer endlos verzweigten Daten4 | Zitiert aus einer 2007 gehaltenen Rede an der New York University; http://journa lism.nyu.edu/publishing/archives/bullpen/brian_williams/lecture_brian_w/

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bank leiten zu lassen, ist die kulturelle Konstante des frühen 21. Jahrhunderts. Die Online-Traumreise darf nicht enden. Die Kürze so vieler Online-Videos nimmt diesem ewigen Überspringen nichts. Ihre Kurzlebigkeit passt bestens zum dürftigen Maß an Konzentration, mit dem sich die Leute dem durchschnittlichen Medienprodukt widmen. Warum etwas ansehen, wenn wir die Botschaft schon im Vorhinein kennen? Stunden von Material könnten in ein paar Minuten Video gepackt werden und der Betrachter könnte Jahre damit verbringen, den tieferen Sinn zu entziffern. Freilich gilt: Time is the Message. Wie Maurizio Lazzarato in seiner Videophilosophie schreibt, »die Maschinen der Video- und Digitaltechnologie kristallisieren – wie der Geist – die Zeit.«5 Mit den Online-Videos konsumieren wir unseren eigenen Zeitmangel. Viel Spaß beim Decodieren der Bilder – nur kommt in Wahrheit keiner jemals dazu. Wir machen nur weiter und weiter und vergessen, auf »Verlauf löschen« zu klicken. Nach fünf Jahren YouTube sind wir Zeugen der notwendigen MainstreamWerdung des Angebots. Sowohl die Meinungsführer als auch die kulturellen Eliten haben sich erstaunlich schnell auf die Online-Videotheken mit Millionen von Minifilmen eingestellt, die totale Dokumentierbarkeit aller Situationen ist in die intimsten und fernsten Winkel, die die Kamera nur erreichen kann, vorgedrungen. In unserer »Was auch immer«-Kultur scheint nichts uns mehr zu überraschen. Verblüffende Statistiken zum Hyper-Wachstum beeindrucken uns längst nicht mehr. Riesige Nutzerzahlen haben mit Relevanz nichts zu tun, auch führen sie nicht automatisch zu gut finanzierter Forschung oder kritischer Praxis der Kunst. Die ständigen technologischen Revolutionen haben das Potential, uns zu betäuben. L – Ü – L: Langeweile – Überraschung – Langeweile. Statt einer Explosion der radikalen Einbildungskraft erleben wir die digitale Enttäuschung – vielleicht ist das der Grund, weshalb die Anfänge der Online-Theorie doch eher unspektakulär sind. Wird das Studium von Online-Videos, wie die meisten Neue-Medien-Themen, dazu verurteilt sein, eher eine Nischenaktivität zu bleiben, oder wird es einen konzeptuellen Quantensprung erleben, der den Milliarden an täglich betrachteten Clips entspricht? Die schlechte Qualität der beliebtesten YouTube-Videos verweist mit ziemlicher Sicherheit darauf, dass diese Plattform keine Brutstätte innovativer Ästhetiken ist – und bislang bleibt auch der dialektische Umschlag von Quantität zu Qualität aus. Es wird Zeit, »Reality Video« auf dem Versteckte-Kamera-Niveau des Spektakel-Fernsehens hinter uns zu lassen und neue und bislang unerforschte Formen einer dialogischen visuellen Kultur zu erkunden.

5 | Maurizio Lazzarato, Videophilosophie, Berlin: b_books, 2002, S. 9.

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P ROAK TIVITÄT UND S OCIAL V IE WING Obwohl mit dem proprietären Format RealVideo das Bewegtbild bereits seit 1997 im Internet existiert, wurden die kleinen Video-Bildschirme für den Nutzer erst 2005 oder 2006 zum vertrauten Phänomen. Das Geheimnis des Erfolgs von YouTube: reines Glück, eine Idee, die genau unter den richtigen Umständen implementiert wurde. 2005 ging es mit Internet-Startups wieder bergauf, die Zahl der Nutzer mit Breitbandanschlüssen wuchs, und die Verbindung von in Browsern schon eingebauten Videospielern und einer liberalen Haltung zum »Teilen« (sprich: der Copyright-Verletzung von Fernsehinhalten) ließen YouTube schnell eine kritische Masse sowohl von Inhalten wie von Nutzern erreichen. Es gab einen Wendepunkt, und von da an war das Hyperwachstum nicht mehr aufzuhalten. Google kaufte YouTube im Herbst 2006 für 1,65 Milliarden US-Dollar in Aktien. Die meiste Aufmerksamkeit bekamen in den ersten Jahren der Online-Video-Forschung Henry Jenkins’ unkritische Einschätzung der »Partizipationskultur« und der Kult um die Amateur-Produzenten. Trotz der Kritik von Sunstein, Keen und Lanier dominiert die Logik des »Am häufigsten geschauten«-Amateur-Contents den akademischen Cultural-Studies-Ansatz. Statt pessimistische Urteile gegen optimistisches Marketing-Gerede zu stellen, sollten wir jedoch die ungeordnete konzerngesteuerte Online-Realität selbst unter die Lupe nehmen. In den frühen Siebzigern hat Jean Baudrillard die Massenmedien als »Rede ohne Antwort« definiert. Heutzutage existieren Botschaften nur, wenn sie in Suchmaschinenergebnissen auftauchen, mit verkürzten URLs getwittert, per Mail und RSS-Feed weitergeleitet, bei Facebook mit »Gefällt mir« abgenickt, auf Digg empfohlen und, nicht zu vergessen, auf der Seite selbst kommentiert werden. An Medien ohne Antwort ist heute nicht mehr zu denken. Nun, da die Entertainment-als-Zerstreuung-Phase vorbei ist, zerstreuen wir uns buchstäblich und auch figurativ über das Netz. Der Wunsch der Cinéma-Verité-Generation nach einer Kamera als stylo hat sich erfüllt: Milliarden kritzeln mit wahrer Wonne vor sich hin. Beliebte YouTube-Videos mit ihrem eher begrenzten Unterhaltungswert sind nicht einfach beliebiger Müll oder die Ablenkung von etwas Wichtigem oder irgendwie Wirklicherem; sie berühren das Wesen des Internets, haben das, was John Hartley eine »Bardenfunktion« nennt: Greif nach der Harfe und sing!6 Der Kern des Projekts YouTube liegt in dieser einladenden Geste. Obwohl der YouTube-Slogan »Broadcast Yourself!« von weniger als einem Prozent der Nutzer auch wirklich befolgt wird – die meisten teilen bereits existierendes Medienmaterial –, fungiert das Internet dennoch 6 | John Hartley, »Uses of YouTube: Digital Literacy and the Growth of Knowledge«, in: Jean Burgess und Joshua Green, YouTube, Online Video an Participatory Culture, Cambridge: Polity, 2009, S. 132.

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als Spiegel und wir kommen kaum umhin, das subtile Spiel mit dem Affekt anzuerkennen. YouTube ist ein Gastlichkeits-Service, der uns die Energie zum Selbstausdruck und das warme Gefühl gibt, dass wir existieren und dass das wenigstens irgendwen kümmert. Diese zusätzliche Schicht beim Social Viewing bildet den Unterschied zum Film- und Fernsehzeitalter. Online-Videos zu untersuchen, heißt, diesen intimen Aspekt des Affekts zu untersuchen; es geht nicht um die Theorien der kommerziellen Umverpackung, mit denen uns die weit verbreitete Rhetorik zum Thema Remediation immer kommt. Das Soziale ist das konstitutive Kernelement der zeitgenössischen Videopraxis und nicht ein eher zufälliges Zusatzgeräusch zum audiovisuellen Inhalt. Während wir YouTube-Material betrachten, sind in aller Regel auch andere Fenster geöffnet. Der eine chattet oder skypt, schickt eine Mail oder liest ein Blog; die andere twittert, spielt oder telefoniert. Die Cultural Studies haben schon lange festgestellt, dass wir beim Filmeschauen und Abwaschen tagträumen, oder dass wir mit Freunden telefonieren, während gleichzeitig der Fernseher läuft; die totale Aufmerksamkeit gibt es nur noch im Seniorenheim. Diese Erkenntnis ist längst in die Architektur von Online-Videos eingegangen, die immer stärker auf Empfehlungssystemen aufruhen, die ihren Ort irgendwo anders in der Sphäre der Sozialen Medien haben. Während wir nach dem neuesten Status-Update bei Facebook sehen, spielt links ein Clip, der einem Freund »gefällt«, und »verwandte Videos« vom selben Uploader erscheinen rechts. Das Computerinterface funktioniert nach der Methode »Mehr vom Selben«. Antagonistische oder dialektische Programmierung scheint noch in weiter Ferne zu liegen. Ähnlich wie andere Soziale Netzwerke nehmen auch die Online-Video-Sites an, dass wir ein inzestuöses Begehren danach haben, genau wie unsere Freunde zu sein. Das essentielle Faktum der Postmoderne – nämlich, dass wir Differenz und nicht Ähnlichkeit suchen – hat die Entrepreneurs des Web 2.0 (noch) nicht überzeugt. Die im Code implementierte Maxime lautet: Ich will sehen, was du siehst. Was sehen meine Freunde? Was sind ihre Favoriten? Lass uns durch deine Listen klicken. Schau auf diesen Kanal! Assoziatives und suchgesteuertes Surfen ist out. Wer nach Tiefe sucht, ist auf dem Holzweg. Die vielen offenen Programme signalisieren intensive Beschäftigung, keineswegs eine verschwendete Jugend. Heute ist Multitasking die Essenz, nicht etwa eine unerwünschte Nebenwirkung der Medienerfahrung. Statt uns von und zu unterschiedlichen visuellen Erfahrungen wie dem Kino oder dem Desktop-PC zu bewegen, sehen wir Filme in der U-Bahn, im Auto oder im Flugzeug, um die Zeit totzuschlagen und unser alltägliches Leben zu intensivieren. Die totale Mobilmachung der visuellen Kultur, die vor Ewigkeiten schon prophezeit wurde, ist nun wirklich erreicht. Mit der Verbreitung von Bildschirmtelefonen und MP4-Playern reist der FilmVideo-Fernseh-Komplex mit uns, wird Teil der Intimsphäre unseres Selbst. Wir tragen die Bildträger in unseren Taschen, nahe am Körper, und halten sie beim Sehen direkt vors Gesicht. Die Intensität des einsamen Betrachtens, unterwegs,

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im Bett, am Küchentisch oder vor dem Heimkino-Plasmaschirm definiert die Online-Video-Erfahrung. In einem makro-ökonomischen Sinn ist das Medium Online-Video mit seinen Millionen täglich gesehener Filme für Google (den Eigentümer von YouTube) eine Fundgrube von Nutzerdaten. Was ist deine »Assoziations«-Ökonomie wert? Weiß ich wirklich, warum ich den einen Clip wegklicke, um den nächsten zu sehen? Wenn nicht, dann kann ich ja immer auf dem Zeitstrahl meiner eigenen YouTube-Geschichte zurückgehen. Wir können alles finden – zuletzt jedoch werden wir vor allem mehr über uns selbst erfahren. Irgendwann haben wir dann genug von den ganzen super-medienkundigen amerikanischen College-Studenten mit ihrem Mainstream-Rockgeschmack und klicken wieder weg. Am Ende steht die automatische Infantilisierung, denn eine Autorität ist nirgends in Sicht. Macht existiert, bleibt aber unsichtbar und unbenennbar. Google erlaubt alles, von Pornografie zu politisch nicht korrekten Witzen; es bemerkt ohnehin keiner (scheint es jedenfalls), bis die Videos entfernt sind. In dieser gefahrfreien Kommunikationszone, die selbst kaum raus ist aus den Windeln, durchleben wir ein weiteres Mal unsere Kindheit, während wir sehr wohl wissen, dass unbekannte Konzerne uns dabei über die Schulter sehen. Die Kontrollmacht ist so anonym, wie wir es zu sein glauben. Solange wir diese naive Phase immer weiter ausdehnen und das Netzwerk nicht als Autorität internalisieren, gibt es kein Problem. Das ist das Dilemma der radikalen YouTubeKritik: Warum Millionen von Leuten den Spaß verderben, die doch ohnehin immer schon wissen, dass sie aus nächster Nähe beobachtet werden?

Online-Video-Kritik: Video Vortex Schon kurz nach dem Aufkommen von Online-Video kamen Studenten zu uns ans Institute of Network Cultures, um sich Bücher über YouTube auszuleihen. Wir mögen über dieses Verlangen nach Sofortanalyse lachen, aber die Frage ist legitim: Wäre es möglich, eine kritische Theorie gegenwärtiger Entwicklungen auszuarbeiten? Wie kann künstlerische Recherche und politische Nutzung etwas zur Weiterentwicklung von Online-Video beitragen? Lassen sich Konzepte entwickeln, die über die von Henry Jenkins begrüßte unkritische Fankultur hinausreichen und die PR-Management-Rhetorik der Konzerne in Frage stellen, ohne dass dadurch die künstlerisch-kreative sowie sozial-politische Nutzung von Online-Video in den Hintergrund geraten? Diese Fragen faszinierten Seth Keen in Sydney und mich, als wir 2006 das Projekt Video Vortex ins Leben riefen. Video Vortex wurde ein lebendiges Forschungsnetzwerk für Künstler, Aktivisten, Programmierer, Kuratoren, Forscher und Kritiker mit Konferenzen in Brüssel (Oktober 2007), Amsterdam (Januar 2008), Ankara (Oktober 2008), Split (Mai 2009) und wieder Brüssel (November 2009) und Amsterdam (März

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2011): Das Ergebnis sind zwei Sammelbände, eine Website, eine Mailingliste und eine Reihe von Ausstellungen, Weiteres folgt.7 Nach den vielen Veränderungen im letzten Jahrzehnt ist nicht so klar, wie man den Status Quo von Online-Video einschätzen soll. Jenseits berechtigter Begeisterung und spontaner Befriedigung durch die blanken Daten (»Mai 2010: YouTube erstmals über zwei Milliarden Besucher am Tag«8) steht nun eine tiefergehende Forschung an. Das Folgende sind nur ein paar der Fragen, die das Video-Vortex-Netzwerk aufgeworfen hat: Welche plattform-spezifischen Konzepte können wir zur Beurteilung der ästhetischen, politischen und kulturellen Aspekte von Online-Video finden? Warum »gefallen« uns bestimmte Videos? Welche Rolle spielen die Nutzer, sei es durch Upload, Empfehlung und Auswahl oder Kommentierung und Tagging? Video Vortex hat das Ziel, die Ergebnisse aus den Konferenzen, die in den zwei INC-Readern von 2008 und 2011 und in The YouTube Reader, herausgegeben 2009 von Snickars und Vonderau,9 gesammelt wurden, weiter zu einer Systematik zu verbinden. Die Forschungen von Video Vortex versuchen zum Beispiel, den Datenbank-Stil von YouTube nicht nur als Erfolg zu verstehen, weil die Leute gerne durch kurze Clips browsen, sondern auch als Spezialeffekt seiner ursprünglichen technischen Grenzen. Man denke nur an das ursprüngliche Upload-Limit von drei Minuten, das die Tendenz zum Hochladen kurzer und ephemerer Inhalte stark begünstigt hat, oder an die Tatsache, dass obwohl Video-Plattformen den Nutzern erlauben, ihre eigenen Sammlungen anzulegen (die sogenannten »Kanäle«), sie auch weniger bekannte, mehr oder weniger automatisierte Einschränkungen haben. Während YouTube seinen Ruf dadurch schuf, dass es die Nutzer zum freizügigen »Teilen« ermutigte, greift es heute viel öfter ein und ist sehr streng in Sachen Jugendschutz und Copyright. Bald wird es damit beginnen, Inhalte entlang kuratierter »Kanäle« zu organisieren, die mit dem Fernsehen in Konkurrenz treten. Wie lässt sich eine Theorie des Filterns und »Flaggings« formulieren, wie sie Minke Kampman zu entwickeln versucht hat?10 Was ist die Rolle von Filter-Bots oder des Modells der »Selbst-Regulierung«, auch bekannt als nutzergenerierte Zensur? Was ist von der Verwirrung zu halten, die Millionen inkohärenter Tags schaffen? Wird das semantische Web diese Probleme lösen, bedenkt man, dass die Suchmaschine von YouTube nach Google immerhin die zweitgrößte der Welt ist? 7 | http://networkcultures.org/wpmu/videovortex/about 8 | http://mashable.com/2010/05/17/youtube-2-billion-views/ 9 | Pelle Snickars und Patrick Vonderau, The YouTube Reader, Stockholm: National Library of Sweden, 2009. 10 | Minke Kampman, University of Amsterdam, MA-Thesis, Media Studies/New Media Programm, September 2009. Siehe: www.minkekampman.nl/index.php/2009/09/ introduction/

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Zu den ersten Anliegen von Video Vortex gehörten die Auswahl, Kuratierung und Konservierung von Online-Videos auf unabhängigen (Kunst-)Servern. Diese Aspekte sind noch immer wichtig für Nutzer wie für Kunstexperten; sie sind eine Erweiterung der Welt der Videokunst und des Dokumentarfilmens, die eine Entwicklung von analog zu digital und von VHS über DVD zur OnlineDistribution hinter sich haben. Welche ästhetischen Strategien verfolgen Künstler wie Natalie Bookchin und Perry Bard,11 wenn sie »Crowd-Videos« in ihre Arbeiten integrieren? Ihre Frage ist eine strategische: Wie können von Nutzern generierte Inhalte über das bloß individuelle Niveau des remixenden, Kultur reappropriierenden Bürgers hinausgelangen und so zu einem wirklichen, in Kollaboration geschaffenen kohärenten Kunstwerk werden? Wenn wir darin übereinstimmen, dass alle Kunstwerke kollaborativ und von vielen Autoren produziert sind, wie können sie dann einen einzigartigen Stil und eine einzigartige Botschaft vermitteln? Bookchins Video-Installation Mass Ornament von 2009 ist hier paradigmatisch. Wir sehen Teenager, die ihre Wohnungen in Theater verwandeln, und jeder für sich, aber gemeinsam tanzen. Diese Solo-Aufführungen und Selbst-Porträts, ihrer Natur nach exhibitionistisch und von der Künstlerin digital bearbeitet, werden so Teil eines kollektiven Statements. »Mehr als nur Fragmente«, so formulierten die britischen Sozialfeministinnen Rowbotham, Segal und Wainwright in den späten Siebzigern im Zuge des Aufstiegs der neuen sozialen Bewegungen und des Niedergangs der Gewerkschaften und Parteien ihre Forderung.12 Diese Forderung hat heute den Kontext der digitalen Kultur erreicht. Wie kann ein Stückwerk aus Dateien ein einleuchtendes Kunstwerk werden? Wie kann eine Vielheit von individuellen Ausdrucksformen in ein überzeugendes Bild des Zeitgeists transformiert werden? Wir könnten dieselben Fragen hinsichtlich Lev Manowichs »Kulturanalytik« stellen.13 Kann eine Vielheit von Daten die Einheit der Kunst zum Ausdruck bringen? Wie können wir zwischen den einzelnen Stimmen und den daraus generierten allgemeinen Ergebnissen eine Balance finden? Gibt es einen Ort für die Anomalie und die flüchtige Wahrnehmung? An welchem Punkt mündet Komplexität in Verzerrung? Oder sollen wir einfach nur lernen, jene »technischen Bilder« zu lesen, die uns Vilém Flusser aufgezeigt hat?

11 | Natalie Bookchins Arbeit The Trip, Mass Ornament and the Testament (http:// bookchin.net/projects.html); und Perry Bards globales Remake von Dziga Vertovs Der Mann mit der Kamera von 1929 (http://dziga.perrybard.net/). 12 | Sheila Rowbotham, Lynne Segal und Hilary Wainwright, Beyond The Fragments: Feminism and the Making of Socialism, London: Merlin Press, 1979. 13 | http://lab.softwarestudies.com/2008/09/cultural-analytics.html

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V IDEO -V ORSCHAU Wohin wird uns all dies führen? In Beyond Viral: How to Attract Customers, Promote Your Brand, and Make Money with Online Video14 fasst der YouTube-Comedian – alias Vermarkter – Kevin Nalty, der behauptet, mit 800 Videos 160 Millionen Aufrufe erreicht zu haben, die Philosophie des Online-Video-Insiders, der die Spielregeln kennt, zusammen. Das Geheimnis ist aggressives Marketing, und das beginnt mit der Erkenntnis, dass niemand irgendwo im »Long Tail« steckenbleiben will. Das massenhaft konsumierte Genre der lustigen Videos erzeugt seine eigenen Profis. Die Zukunft aus der Perspektive von YouTube ist »Cross-Media« und wird von diesen aufstrebenden Professionals vorangetrieben, mit Unterstützung durch institutionelle Arrangements wie Content-Geschäfte und Sponsoring. Für die wachsende Gruppe der Ex-Amateure (»Weblebrity«) erklärt Nalty, wie man aus Videos Geld machen kann. Nach Nalty muss man zuerst einmal erkennen, dass »viral« nicht mehr funktioniert. Die Mund-zu-Mund-Strategie ist einfach zu langsam und bringt kein Einkommen. Seine Videos lässt er stattdessen von Fox MTV, Logitech, Microsoft, Holiday Inn Express, Crowne Plaza und Mentos sponsern. Die sogenannte »YouTube Next«-Initiative möchte über den »Long Tail« zu einer Art Kabelfernsehen kommen, jedoch mit einer Dimension der Publikums-Personalisierung, die die traditionellen Breitbandmedien nie erreichen könnten. Man muss jedoch noch abwarten, ob YouTube sich wirklich zu einer ernsthaften Größe im Kampf um die zukünftige Definition des Fernsehformats entwickelt. Wahrscheinlich wird es weitere Möglichkeiten erforschen und ausbeuten, mit den Inhalten anderer Leute Geld zu verdienen, indem es sie in Kanäle innerhalb eines Meta-Kanals bündelt und die Einnahmen mit den meistgeschauten Akteuren wie der WebComedyserie Annoying Orange (mit über 500 Millionen Aufrufen allein auf YouTube) teilt.15 Können wir noch auf eine interessantere Entwicklung spekulieren, die das »Live«-Element von Online-Videos einbezieht? Live-Streaming im großen Maßstab hat, obwohl technisch inzwischen möglich, noch keine großen Erfolge, was überrascht, da die Distribution von Live-Streaming eigentlich von Beginn an eines der großen Versprechen war. Wir sehen Clips, Berichte und Filme in den Raum-Zeit-Koordinaten unserer Wahl. Obwohl Video viral ist, ist es noch nicht tief in die Erfahrung der Sozialen Netzwerke eingedrungen. Sogar als eingebettetes Format gehört Video nicht zu dem, was wir empfehlen und was uns »gefällt«. Die Welten des nutzergenerierten Inhalts und des Video-over-IP sind 14 | Kevin Nalty, Beyond Viral: How to Attract Customers, Pomote your Brand, and Make Money with online Video: Hoboken: John Wiley, 2010. 15 | Informationen hierzu gab Andrew Clay bei seinem Vortrag im Rahmen von Video Vortex #6, Amsterdam, 11. März 2011.

Online-Videoästhetik oder die Kunst des Datenbankenschauens

noch getrennt, obwohl hunderte Millionen Nutzer beide sehr wohl verwenden. Die intime Banalität von Chatroulette, Skype und anderer Webcam-basierter Software gilt noch nicht als legitimes Video-Input-Signal für den Film- und Fernseh-Konsum. Man könnte die Schuld der schlechten Bildqualität und der hohen Ausfallrate geben, aber wahrscheinlicher ist, dass es an der dominierenden Single-Media-Ideologie (in diesem Fall aufgezeichneter Videosignale) liegt, die uns von der Herstellung abnormer Verbindungen abhält. Auch von den Technikern und Managern werden diese Verbindungen übersehen. Werden Dienste wie Seesmic (Video-Dialoge zwischen mehreren Nutzern) Erfolg haben, oder ist es noch zu früh, um (Live-)Video voll in die Welt der Sozialen Medien zu integrieren? Im April 2009 hat Seesmic seinen innovativen Video-Service überraschend eingestellt und ihn durch einen Social-NetworkAggregator ersetzt. Die Zukunft von Vlogs (Video-Blogs in Tagebuch-Form) ist ebenso unklar, diese Mode scheint ihren Höhepunkt am Ende der Blogwelle von 2006 erreicht zu haben. Obwohl die meisten technischen Probleme beseitigt sind, wer hat das Bedürfnis, ein Video-Tagebuch zu führen? Während immer mehr Laptops, PCs und Notebooks mit Webcams ausgestattet sind und auch Telefone immer häufiger eingebaute Kameras besitzen, bleibt der Gebrauch dieser Video-Tools für den öffentlichen Dialog unterentwickelt. Was will das Medium? Sollen wir uns stärker für nutzergenerierte Inhalte als für remedialisiertes Film- und Fernsehmaterial engagieren oder umgekehrt, oder ist es genau die komplementäre Sehweise, die die Plattform definiert? Wird Online-Video ein Jukebox-Element bleiben, das von einem Sozialen Netzwerk zum nächsten weitergereicht wird? Haben wir heute alle vom Zappen auf Suchen umgeschaltet? Sollten wir uns der YouTube-Kultur aus der Plasmabildschirm-Perspektive nähern? Ist das Endziel das Wohnzimmer, in dem die Online-Video-Logik mit Kabel- und Antennenfernsehen konkurriert? Befreit uns Online-Video von irgendwas? Statt einfach nur das sich ewig ändernde Feld zu vermessen, könnten wir auch Zukunftsszenarien bestimmen. Blicken wir mal in das Schicksal des Online-Videos und diskutieren drei mögliche Richtungen: 1. Mit Hilfe ihrer finanziellen und juristischen Machtmittel werden die Filmund Fernsehindustrien eine Koalition bilden, um Online-Video-Plattformen wie YouTube zu marginalisieren. Sie machen das nicht, indem sie YouTube, etwa mit Copyright-Klagen, aus dem Netz drängen, sondern indem sie attraktive Online-Anwendungen entwickeln, die den Komfort des Heimkinos mit der Beweglichkeit von Smartphones verbinden. Einfach gestaltete Bezahlsysteme und neue Werbemodelle werden, in Kombination mit neuen Faserverbindungen in die Wohnungen der Nutzer, zum Erfolg führen. Online-Video, wie wir es kennen, ist zu eng mit den Multitasking-Praktiken des an den Rechner gebundenen Nutzers verbunden, der wie ein kybernetischer Commander auf einem Stuhl und an einem Tisch sitzt. In diesem Szenario

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ist Online-Video eine holprige Übergangstechnologie, die zum Untergang verurteilt ist, weil sie zu sehr in einer weißen männlichen Geek-Kultur wurzelt und auch, weil sie nicht in das sonst schon anstrengende Leben der Milliarden Menschen passt, die bruchlose Schnittstellen und einfachen Zugang zum sofortigen Infotainment wollen. 2. Der heroischen Rhetorik von der Schlacht zwischen dem Alten und dem Neuen folgend, glauben dagegen viele Insider, dass Online-Video als großer Gewinner hervorgehen wird. Google, Facebook und Twitter sind die Medienkonzerne der Web 2.0-Ära. Wie wird sich diese ökonomische Tatsache auf die Zukunft des visuellen Eigentums auswirken? Cyber-Evangelisten betonen den Übergang von totem Inhalt zu Interaktion und Aggregation, zum Klicken, Linken und »Liken«, kurz: »dem Sozialen«, das Wert generiert. Je mehr das visuelle Material mit den Nutzern verbunden und zu »Bedeutungswolken« zusammengefügt wird (wie bei YouTube und Flickr), umso stärker werden sie die zukünftigen Medienmärkte bestimmen. Die parasitäre Strategie des »Freien« und »Offenen« hilft uns, in der Fülle der Bilder zu navigieren, und es spielt keine Rolle mehr, ob Inhalte alt oder neu sind, solange wir unsere Mikro-Impressionen austauschen. 3. Das dritte Szenario sieht sich in einem Hundertjährigen Krieg zwischen Plattformen und Konzernen im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer. Als unendliches Ereignis der Nicht-Kompatibilität und des eingebauten Veraltens ist dieses Techno-Medien-Drama eine Epoche ohne klare Gewinner, es sei denn, dass sich das Gesamtbild radikal wandelt. Im Moment garantiert das Wachstum in den aufstrebenden Märkten Asiens, Afrikas, des Nahen Ostens und Lateinamerikas noch eine Marktausweitung in alle Richtungen. Aber dieser spektakuläre Anstieg kann sehr wohl in die Irre führen. Der Krieg um Aufmerksamkeit ist real. Wir alle nehmen daran durch unsere Entscheidungen teil, und der Beitrag unserer Mikro-Daten zu Online-Video (oder eben der Verzicht auf einen Beitrag) ist nur eine der vielen Aktivitäten, mit denen wir unsere Zeit verbringen. Online-Video ist nur eine Manifestation von Hardware-, Software- und Netzwerk-Konfigurationen, eine endlose Spiralkette von Codecs, Protokollen und Modellen, die ihre eigene »autopoietische« Ästhetik erzeugen. In diesem Fall werden eine Unzahl von Neue-Medien-Plattformen (Pads, Pods und Smartphones) mit Fernsehen und Film noch für eine ganze Weile koexistieren. Konzepte wie Cross-, Trans-, Lokal- und Geo-Medien werden sich als kurzlebige Business-Meme erweisen. In dieser machiavellistischen Perspektive haben Medien kein »Telos«. Dieses zynische Spiel betrifft Macht und Ressourcen, von denen die meisten idealistischen und utopischen Akteure der neuen Medien nichts wissen und auf die sie schon gar nicht reagieren wollen.

Online-Videoästhetik oder die Kunst des Datenbankenschauens

Unabhängig vom Ausgang beruhen alle drei Szenarien auf Plattform-Spezifizität. Wie können wir neue Formen der Bewegtbildproduktion antizipieren, die unter der »Netzwerk-Kondition« entstehen? Was sind die einzigartigen Qualitäten von Online-Video? Sind wir offen für das Unvorhergesehene und Unerwartete, oder verlassen wir uns auf die sichere Wiederherstellungsthese, die behauptet, dass der Inhalt immer der gleiche bleibt und sich nur von einer Plattform zur nächsten bewegt? In An Introduction to Visual Culture fragt Nicholas Mirzoeff: »Können wir über die digitale Gegenwart und ihre implizite Zukunft nur schreiben, indem wir eine Gegengeschichte verfassen, die sich weigert, eine Geschichte des Fortschritts zu zeichnen? Wie können wir die Geschichte von etwas schreiben, das sich so schnell verändert, dass das bloße Dranbleiben schon ein Vollzeitjob ist, vom Erlernen der Software ganz zu schweigen?« Kann die Avantgarde in einer Zeit, die die Lücke zwischen Subkultur und Mainstream schließt, nur auf die Popkultur von gestern reagieren?

16 | Nicholas Mirzoeff, An Introduction to Visual Culture, 2. Aufl., New York: Routledge, 2009, S. 241.

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Die Gesellschaft der Suche Fragen oder Googeln

Im Gedenken an Joseph Weizenbaum

Seit dem Aufstieg der Suchmaschinen ist es nicht mehr möglich, zwischen patrizischen Einsichten und plebejischem Tratsch zu unterscheiden.1 Die Trennung von High und Low und ihre Vermischung während des Karnevals stammen aus vergangenen Zeiten und sollten uns nicht weiter berühren. Heute gibt ein völlig neues Phänomen Anlass zur Sorge: Die Listen der Suchmaschinen sortieren nach Popularität, nicht nach Wahrheit. Die Suche ist der techno-kulturelle Code, der unser gegenwärtiges Leben beherrscht. Wir merken uns nichts mehr, sondern schlagen einfach nach. Mit dem dramatischen Anwachsen aufrufbarer Information sind wir von den Tools der Informationsgewinnung abhängig geworden. Wir suchen nach Telefonnummern, Adressen, Öffnungszeiten, Namen von Personen, Flugdaten und Schnäppchen, und wenn uns das alles verrückt macht, deklarieren wir den stetig wachsenden Berg grauer Materie als »Datenmüll«. Bald werden wir beim Suchen nur noch verloren gehen. Das Gespenst der Informationsüberflutung verfolgt die intellektuellen Eliten der Welt. Das gemeine Volk hat sich die strategischen Ressourcen unter den Nagel gerissen und verstopft einst sorgfältig überwachte Medienkanäle. Vor dem Internet beruhte die Macht der Mandarinklasse auf der Vorstellung, dass man »Geschwätz« und »Wissen« trennen könne. Doch sind nicht nur die 1 | Dieses Kapitel ist die aktualisierte Version eines Essays, der im Juni 2008 im Internet-Magazin Eurozine veröffentlicht wurde. Er wurde wiederveröffentlicht in den englischen und deutschen Ausgaben von: Konrad Becker, Felix Stalder (Hg.), Deep Search – Politik des Suchens jenseits von Google, Innsbruck: Studienverlag, 2009. Dank an Ned Rossiter für seine Korrekturen und Ergänzungen. Der Artikel diente als Konzeptpapier für die Society-of-the-Query-Konferenz, die vom Institute of Network Cultures im November 2009 organisiert wurde. 2010 ging die Initiative in ein gemeinsam mit Partnern aus Wien aufgebautes Netzwerk zur kritischen Suchmaschinen-Forschung ein. Siehe: http://networkcultures.org/wpmu/re-search/

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alten Hierarchien der Kommunikation implodiert, die Kommunikation selbst hat eine Form angenommen, die einem Angriff auf das zerebrale System gleichkommt. Das Rauschen ist zu bemerkenswerter Stärke angeschwollen. Selbst freundliche Grüße von Familie und Freunden werden Teil im lästigen Chor derjenigen, die eine Antwort haben wollen. Was die gebildeten Klassen am meisten beschäftigt, ist die Tatsache, dass das Geplapper in die bis dahin geschützten Bereiche von Wissenschaft und Philosophie vorgedrungen ist, dabei sollten sie sich doch eher Gedanken darüber machen, wer das zunehmend zentralisierte Computernetz kontrolliert. Das Aufkommen der Suchmaschinen in den neunziger Jahren hat zu einer »Gesellschaft der Suchanfrage« geführt, die sich nicht sehr stark von Guy Debords »Gesellschaft des Spektakels« unterscheidet. Dessen situationistische Analyse aus den späten Sechzigern gründete sich auf den Aufstieg der Film-, Fernseh- und PR-Industrien. Der wichtigste Unterschied gegenüber heute besteht darin, dass wir ausdrücklich zur Interaktion aufgefordert werden. Wir werden nicht mehr als anonyme Masse passiver Konsumenten angesprochen, sondern sind zu »verteilten Mitspielern« geworden, die sich auf einer Vielzahl von Kanälen präsentieren. Debords Kritik der Kommodifizierung ist nicht mehr revolutionär. Die Freuden des Konsums sind so weit verbreitet, dass sie den Status eines universellen Menschenrechts erlangt haben. Wir alle lieben den Fetisch der Ware und der Marken und schwelgen im Glanz, den die globale Celebrity-Klasse für uns auf die Bühne bringt. Es gibt keine soziale Bewegung oder kulturelle Praxis, wie radikal auch immer, die der Warenlogik entkommen kann, und es wurde auch noch keine Strategie für das Leben im Zeitalter des Postspektakels ausgearbeitet. Stattdessen sorgt man sich um unsere Privatsphäre oder das, was davon übriggeblieben ist. Die Fähigkeit des Kapitalismus, Gegnerschaft zu absorbieren, ist so umfassend, dass es nahezu unmöglich ist, überhaupt Argumente für die Notwendigkeit von Kritik – in diesem Fall des Internets – zu finden, es sei denn, all unsere privaten Telefongespräche und übers Netz kommunizierten Botschaften werden eines Tages öffentlich gemacht. Selbst dann fiele das Plädoyer für eine Kritik schwer, würde sie am Ende doch wieder die Form einer organisierten Konsumentenklage annehmen – »Shareholder-Demokratie« im Vollzug. In diesem Fall könnte sich das sensible Thema der Privatsphäre zwar zu einem Katalysator für ein wachsendes Bewusstsein von Unternehmensinteressen entwickeln, doch seine Beteiligten wären sorgfältig segmentiert. Zutritt zu den Shareholder-Massen erhalten nur die Angehörigen der Mittelschicht und darüber. Das aber verstärkt nur die Notwendigkeit einer lebendigen und facettenreichen Öffentlichkeit, in der weder staatliche Überwachung noch Marktinteressen den Ton angeben.

Die Gesellschaft der Suche

W EIZENBAUMS I NSELN DER V ERNUNF T Mein Interesse an den Konzepten hinter den Suchmaschinen erwachte von neuem, als ich ein Buch mit Interviews des MIT-Professors und Computerkritikers Joseph Weizenbaum las, dessen Bekanntheit vor allem auf sein automatisches Therapieprogramm ELIZA von 1966 und sein Buch Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft2 von 1976 zurückgeht. Weizenbaum starb am 5. März 2008 im Alter von 84 Jahren. Einige Jahre zuvor war er von Boston nach Berlin zurückgekehrt, die Stadt, in der er aufgewachsen war, bevor er 1935 mit seinen Eltern vor den Nazis floh. Neben dem 2006 produzierten Dokumentarfilm Weizenbaum. Rebel at Work von Peter Haas und Silvia Holzinger, der einen Überblick über sein Leben vermittelt,3 gibt es das Buch, in dem die Münchner Journalistin Gunna Wendt ihre mit Weizenbaum geführten Interviews zusammengestellt hat4 . Einige Rezensenten auf Amazon beschwerten sich über Wendts unkritische Fragen und den freundlichen und oberflächlichen Charakter ihrer eigenen Beiträge, aber mich hat das nicht gestört – ich genoss die Einsichten eines der wenigen Kritiker der Computerwissenschaften, der sie wirklich von innen kennt. Besonders interessant sind Weizenbaums Geschichten über seine Jugend in Berlin, das Exil in den USA und darüber, wie er in den fünfziger Jahren mit Computern in Berührung kam. Das Buch liest sich wie die Summe der Weizenbaum’schen Kritik der Computerwissenschaften, insbesondere, dass Computer ihren Nutzern einen mechanistischen Blickwinkel aufzwingen, und dass sie, als autonome Maschinen, die Ebene der unmittelbaren Erfahrung negieren. Weizenbaum beharrt darauf, dass Berechnung nicht über Urteilsvermögen gestellt werden sollte.5 Was mich besonders interessierte, war die Art und Weise, wie der »Häretiker« Weizenbaum seine Argumente aus der Position des informierten und respektierten Insiders heraus formulierte – eine Position, die der »Netzkritik« ähnelt, die ich mit Pit Schultz im 1995 begonnenen Nettime-Projekt entwickelt habe. Titel und Untertitel des Buchs klingen faszinierend: Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom? Auswege aus der programmierten Gesellschaft. Weizenbaums Glaubenssystem kann man wie folgt zusammenfassen: »Nicht alle Aspekte der Realität sind berechenbar.« Seine Internet-Kritik ist allgemein ge2 | Joseph Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978. 3 | Für weitere Information zu dem Film siehe: www.ilmarefilm.org/W_E_1.htm 4 | Joseph Weizenbaum, Gunna Wendt, Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom, Auswege aus der programmierten Gesellschaft, Freiburg: Herder Verlag, 2006. 5 | Vorwort von 1983 in: Joseph Weizenbaum, Computer Power and Human Reason, London: Penguin, 1984, S. 11; urspr. San Francisco: W.H. Freeman, 1976; dt. Computermacht und Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977.

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halten, und wir müssen das akzeptieren. Wer sein Werk kennt, erfährt von diesem Skeptiker jeden Computerkults nichts Neues: Das Netz ist ein Müllhaufen, ein Massenmedium, das zu 95 Prozent aus Unsinn besteht – ganz so wie das Fernsehen, in dessen Richtung es sich unvermeidlich weiterentwickelt. Die sogenannte Informationsrevolution hat sich in eine Flut von Desinformation verkehrt. Ein Grund hierfür ist die Abwesenheit eines Redakteurs und überhaupt eines editorischen Prinzips. Das Buch gibt allerdings keine Antwort darauf, warum dieses entscheidende Medienprinzip nicht von den ersten Generationen der Computerprogrammierer, zu denen Weizenbaum als prominentes Mitglied zählt, eingebaut wurde. Die Antwort liegt vermutlich darin, dass der Computer ursprünglich als Recheninstrument eingesetzt wurde: Technodeterministen beharren darauf, dass die Essenz des Computers weiterhin im mathematischen Rechenprozess liegt. Der Ge- oder Missbrauch des Computers für mediale Zwecke wurde von den Mathematikern nicht vorausgesehen. Warum sollte man sich Schallplatten auf einem Computer anhören? Wenn man einen Film sehen will, geht man ins Kino. So können diejenigen, die die ersten Rechner entwarfen, natürlich nicht für die Plumpheit der Schnittstellen und des Informationsmanagements verantwortlich gemacht werden. Ursprünglich als Kriegsmaschine konzipiert, hat der digitale Rechner einen langen und gewundenen Weg zurückgelegt, um zu seinem neuen Zweck als universelles menschliches Werkzeug zu kommen, das unseren unendlich breiten und unterschiedlichen Informationsund Kommunikationsbedürfnissen und -interessen dient. Was Weizenbaums Interviews so interessant macht, wenn wir von seiner Infoangst einmal absehen, ist sein Beharren auf der Kunst, die richtigen Fragen zu stellen. Weizenbaum warnt vor dem unkritischen Gebrauch des Wortes »Information«6. »Die Signale im Computer sind keine Informationen. Sie sind ›nur‹ Signale. Und es gibt nur einen Weg, aus Signalen Informationen zu machen, nämlich die Signale zu interpretieren.« Hierfür sind wir auf die Arbeit des menschlichen Gehirns angewiesen. Das Problem des Internets ist laut Weizenbaum, dass wir dazu gebracht werden, es wie ein Orakel von Delphi zu sehen. Es wird uns die Antworten auf all unsere Fragen und Probleme schon liefern. Das Netz ist aber kein Verkaufsautomat, in den man Geld einwirft, um darauf das Gewünschte zu erhalten. Voraussetzung ist der Erwerb einer vernünftigen Bildung und der Kenntnisse, die es uns ermöglichen, die richtige Suchanfrage zu formulieren. Wir erreichen aber keinen höheren Bildungsstand nur, indem wir die Möglichkeiten verbessern, publizieren zu können. Weizenbaum: »Die Möglichkeit, dass jeder etwas ins Internet stellen kann, bedeutet noch nicht sehr viel. Das willkürliche Hineinwerfen bringt genauso wenig wie das willkürliche Fischen.«7 In diesem Zusammenhang zieht Weizenbaum einen Vergleich 6 | Weizenbaum, Wendt, a.a.O., S. 25. 7 | Ebd., S. 29.

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zwischen dem Internet und dem inzwischen verschwundenen CB-Funk. Kommunikation allein wird nicht zu nützlichem und nachhaltigem Wissen führen. Weizenbaum bringt den unwidersprochenen Glauben an SuchmaschinenAnfragen in Verbindung mit dem Aufkommen des »Problem-Diskurses«. Computer wurden als »allgemeine Problemlöser« propagiert, ihre Aufgabe war es, für alles eine Lösung zu finden. Den Menschen wurde nahegelegt, ihr Leben an den Computer zu delegieren. »Wir haben ein Problem«, so Weizenbaum, »und ein Problem verlangt nach einer Lösung.«8 Aber persönliche und soziale Spannungen können nicht gelöst werden, indem man sie einfach mal zum Problem erklärt. Was wir dringender als Google und Wikipedia brauchen, ist die Fähigkeit zu hinterfragen und kritisch zu denken, was für ihn gleichbedeutend ist mit dem Unterschied zwischen Hören und Zuhören. Ein kritisches Verständnis erfordert, dass wir uns zuerst einmal hinsetzen und zuhören – dann hören wir nicht nur irgendetwas, sondern lernen auch zu interpretieren und zu verstehen. Das Semantische Web oder auch Web 3.0 wird als technokratische Antwort auf Weizenbaums Kritik propagiert. Statt auf Googles auf Stichwörtern basierenden Algorithmen und nach Ranglisten ausgegebenen Suchergebnissen werden wir bald auf eine nächste Generation von Suchmaschinen, die natürliche Sprache verstehen, wie Powerset (das schnell mal von Microsoft übernommen und eingestellt wurde)9 und Wolfram Alpha, zurückgreifen können. Wir können aber schon jetzt davon ausgehen, dass Computerlinguisten den Frage-Antwort-Ansatz mit Skepsis betrachten und darauf achten werden, nicht in die Rolle einer »Inhaltspolizei« zu geraten, die darüber entscheidet, welche Informationen im Internet fundiert sind und welche nur Trash. Dasselbe gilt für die Semantic-Web-Initiativen und ähnliche Technologien der Künstlichen Intelligenz. Wir stecken mitten im Zeitalter der webbasierten Informationsabfrage. Während das Paradigma von Google in Link-Analyse und Page Rankings besteht, könnten die Suchmaschinen der nächsten Generation zum Beispiel visuell werden und beginnen, die Bilder der Welt zu indexieren. Nun aber nicht mehr aufgrund der Tags, die Nutzer diesen Bildern anhängen, sondern aufgrund der spezifischen Charakteristik der Bilder selbst. Willkommen in der Hierarchisierung des Realen, wo zukünftige Computerhandbücher die 8 | Ebd., S. 82. 9 | Laut Wikipedia hat »Powerset an der Entwicklung einer auf der Ebene der natürlichen Sprache operierenden Suchmaschine gearbeitet, die Fragen von Nutzern gezielt beantworten kann (im Gegensatz zur Suche per Suchbegriff). Wenn zum Beispiel eine Frage gestellt wird wie ›Which U.S. State has the highest income tax?‹ ignorieren konventionelle Suchmaschinen den Fragesatz und suchen einfach nur anhand der Suchbegriffe ›State‹, ›Highest‹, ›Income‹ und ›Tax‹. Powerset dagegen setzt auf die Verarbeitung natürlicher Sprache, um den Inhalt der Frage zu verstehen und Seiten auszugeben, auf denen sich die Antwort findet.«

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Programmierfreaks in die »Ästhetik und Kultur 101« einführen werden. Hobbyfotografen, die zu Programmierern geworden sind, werden dann als die neuen Verderber des »guten Geschmacks« dastehen. Bei verschiedenen Gelegenheiten habe ich eine Kritik der »Medienökologie« formuliert, welche auf das Herausfiltern »nützlicher« Informationen für den individuellen Gebrauch zielt.10 Hubert Dreyfus ist hier mit seinem 2001 erschienenen Buch On the Internet einer der Hauptschuldigen. Ich glaube nicht, dass es einem Professor, Redakteur oder Programmierer zusteht, für uns zu entscheiden, was Nonsens ist und was nicht. Dies sollte vielmehr eine verteilte Aufgabe sein, eingebettet in eine Kultur, die Meinungsunterschiede ermöglicht und respektiert. Wir sollten uns für Vielfalt einsetzen und neue Suchtechniken zu einem Teil unserer allgemeinen Kultur machen. Ein Weg dahin könnte über die weitere Revolutionierung der Suchtools und die Anhebung der allgemeinen Medienkompetenz führen. Wenn wir einen Buchladen oder eine Bibliothek betreten, dann hat uns unsere Kultur gelehrt, wie man sich unter tausenden von Titeln zurechtfindet. Anstatt uns beim Ladeninhaber oder beim Bibliothekar zu beschweren, dass sie zu viele Bücher führen, bitten wir um Hilfe oder versuchen, das Problem selbst zu lösen. Weizenbaum wünschte sich, dass wir dem, was wir auf unserem Bildschirm sehen, misstrauen – komme es aus dem Netz oder aus dem Fernsehen. Aber er kann uns nicht sagen, wer uns darin beraten soll, worauf wir vertrauen können, ob etwas wahr oder falsch ist und welche der Informationen, die wir gewinnen, am wichtigsten sind. Kurz gesagt, die Rolle des Vermittlers wird geopfert zugunsten der Aufrechterhaltung eines Generalverdachts.

D IE A GGREGATION VON ALLEM Was die heutigen Administratoren nobler Einfachheit und ruhiger Erhabenheit nicht sagen können, sollten wir an ihrer Stelle aussprechen: Es herrscht wachsende Unzufriedenheit mit Google und der Art, wie die Informationssuche im Internet organisiert ist. Das wissenschaftliche Establishment hat die Kontrolle über eines seiner Schlüsselprojekte verloren – die Gestaltung und Inhaberschaft der Computernetze, die heute von Milliarden von Menschen benutzt werden. Wie kam es dazu, dass so viele von einer einzigen Suchmaschine abhängig wurden? Warum wiederholt sich die Microsoft-Geschichte immer von Neuem? Man kommt sich dumm vor, über ein Monopol zu klagen, wenn dem durchschnittlichen Nutzer eine solche Vielzahl von Tools zur Verfügung steht, um Macht 10 | Zum Beispiel in Geert Lovink und Pit Schultz, »Academia Cybernetica«, in: Jugendjahre der Netzkritik, Amsterdam: Institute of Network Culture, 2010, S. 68-72; und Geert Lovink, My First Recession, Rotterdam: V2/NAi, 2003, S. 38-46.

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zu verteilen. Ein möglicher Weg, dieser Zwickmühle zu entkommen, liegt in der positiven Neudefinition des Heidegger’schen Geredes. Statt einer Kultur der Klage, die von einem ungestörten Offline-Leben und radikalen Filtermethoden gegen das Rauschen träumt, sollte man sich lieber offen mit den heutigen trivialen Formen des Daseins in Blogs, SMS-Nachrichten und Computerspielen auseinandersetzen. Es macht keinen Sinn, wenn Intellektuelle die Internetnutzer weiterhin als zweitrangige Amateure hinstellen, die von einer primären und ursprünglichen Beziehung zur Welt abgeschnitten sind. Die brennenderen Themen verlangen vielmehr, sich in die Politik des Lebens unter den Bedingungen der Informatik vorzuwagen. Und es ist Zeit, die Herausbildung eines neuen Unternehmenstyps anzusprechen, der das Internet zusehends überschreitet: Google. Das World Wide Web, das die unendliche Bibliothek wahrmachen sollte, wie Borges sie 1941 in seiner Kurzgeschichte Die Bibliothek von Babel beschrieben hat, wird heute von vielen Kritikern als bloße Variation von Orwells Big Brother von 1948 betrachtet. Der Herrscher ist in diesem Fall aber kein übles Monster, sondern eine Gruppe cooler Youngster, deren Leitspruch unternehmerischer Verantwortung »Don’t be evil« lautet. Angeleitet von einer älteren und erfahrenen Generation von IT-Gurus (Eric Schmidt), Internetpionieren (Vint Cerf) und Ökonomen (Hal Varian), ist Google so schnell und auf so vielfältigen Feldern gewachsen, dass es praktisch keine Kritiker, Akademiker oder Wirtschaftsjournalisten mehr gibt, die mit Umfang und Geschwindigkeit dieser Entwicklung hätten Schritt halten können.11 Neue Anwendungen und Dienste stapeln sich mit steigender Regelmäßigkeit wie ungewollte Weihnachtsgeschenke. Dazu zählen etwa Googles freier E-Mail-Dienst Google Mail, die Videoplattform YouTube, das soziale Netzwerk Orkut, Google Maps und Google Earth, seine Haupteinnahmequelle AdWords mit seinen Anzeigen, die per Klick bezahlt werden, sowie Büroanwendungen wie Calendar, Talks und Docs. Google konkurriert nicht nur mit Microsoft, Apple und Yahoo, sondern auch mit Unterhaltungskonzernen, Reise-Software-Firmen, öffentlichen Bibliotheken (durch das massenhafte Einlesen von Büchern), Telekom-Unternehmen und nicht zuletzt seinen Social-Media-Wettbewerbern Facebook und Twitter. Nach der Entwicklung und erfolgreichen Implementierung des Android-Betriebssystems für mobile Anwendungen schwanken die Gerüchte über Googles nächste Schritte zwischen der Einführung eines eigenen Smartphones als Herausforderer von Nokia, Samsung und iPhone und möglichen Ambitionen, selbst zu einem Telekom-Giganten wie AT&T, Verizon, T-Mobile und Vodafone zu werden. Wenn man alle mobilfunkbezogenen Aktivitäten dazurechnet, ist es leicht, Google 11 | Ein erfolgreicher Versuch, einen mehr oder weniger vollständigen Überblick über die Aktivitäten von Google zu geben, war das Buch des niederländischen IT-Journalisten Peter Olsthoorn, De Macht van Google, Utrecht: Kosmos Uitgeverij, 2010.

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als genialen Bösewicht darzustellen, der die Weltherrschaft und die Kontrolle des ganzen Spektrums anstrebt, von Cloud Computing bis Datenspeicherung, drahtlosen Infrastrukturen zu Apps, Betriebssystemen bis zum Chip-Aufbau der Geräte selbst. Ganz abgesehen von Notebooks und Tablet-Computern, die mit Googles Chrome Browser arbeiten, der die vielseitigen, aber schwerfälligen Windows- oder Linux-Systeme ersetzt. Es vergeht keine Woche, in der Google nicht eine neue Initiative in die Welt setzt. Selbst für Insider ist es praktisch unmöglich, den Masterplan dahinter zu erfassen. Wer erinnert sich noch an Google App Engine, das »Entwicklertool, das es Ihnen ermöglicht, Ihre Webanwendungen auf Googles Infrastruktur laufen zu lassen«? App Engine erlaubte es jungen Start-ups, Googles Webserver, Programmierschnittstellen und andere Entwicklungstools als primäre Architektur zur Erstellung neuer Webanwendungen zu nutzen. Wie Richard MacManus in seinem 2008 erschienenen Aufsatz »Google App Engine: Cloud Control to Major Tom« bemerkt: »Google hat eindeutig die Größe und Intelligenz, um Entwicklern diesen Plattform-Service anzubieten. Trotzdem stellt sich die Frage: Warum sollte ein Start-up sich so sehr unter die Kontrolle und in die Abhängigkeit eines großen Internetunternehmens begeben?«12 Aus der technischen Computerinfrastruktur wird zunehmend eine allgemeine Versorgungsdienstleistung, wie Google App Engine verdeutlicht. MacManus schließt mit einer rhetorischen Frage: »Würden Sie Google gerne die Kontrolle über Ihre gesamte Systementwicklungsumgebung überlassen? War es nicht genau das, wovor sich Entwickler bei Microsoft gefürchtet haben?« Die Antwort ist einfach: Der gar nicht so geheime Wunsch der Entwickler ist es, von Google gekauft zu werden. Millionen von Nutzern nehmen, willentlich oder nicht, an diesem Prozess teil, indem sie Unternehmen wie Google ihre Profile und ihre Aufmerksamkeit schenken – die Währung des Internets. 2008 hat Google auch eine Technologie patentieren lassen, die die Möglichkeiten verbesserte, »den Nutzer zu lesen«. Die Absicht war, aufgrund seines Verhaltens auf einer Webseite herauszufinden, an welchen Regionen und Themen ein Besucher interessiert ist – nur ein Beispiel der vielen Analysetechniken, die dieses Medienunternehmen entwickelt, um Nutzerverhalten zu studieren und kommerziell auszubeuten. Eines meiner weniger computeraffinen Familienmitglieder sagte, sie habe gehört, Google sei viel besser und einfacher zu benutzen als das Internet. Diese Fehldeutung hörte sich niedlich an, aber eigentlich hatte sie recht. Google ist nicht nur das bessere Internet geworden; es übernimmt auch Software-Aufgaben des persönlichen Computers, so dass man in der »Cloud« von jedem Terminal oder mobilen Gerät auf seine Daten zugreifen kann. Google untergräbt aktiv die Autonomie des Personal Computers als universalem Compu12 | Richard MacManus, »Google App Engine: Cloud Control to Major Tom«, ReadWriteWeb, 8. April 2008. www. readwriteweb.com/archives/google_cloud_control.php

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tertool und führt uns zurück in die dunklen Tage, als IBM-Präsident Thomas J. Watson dem PC einen Weltmarkt von fünf Geräten prophezeite. Die Nerds haben sich ja immer über die Starrköpfigkeit megalomaner Bürokraten lustig gemacht, die glaubten, die Zukunft voraussagen zu können, aber wenn wir dieses Bild auf jeweils ein großes Google-Datencenter pro Kontinent updaten, sind wir gar nicht weit weg von Watsons Schätzung. Die Mehrzahl der User wie auch der Universitäten und NGOs geben nur zu gerne die eigene Verwaltung ihrer Informationsressourcen ab. Verschwörung oder nicht, Google orientiert sich inzwischen auch in Richtung Kernenergie und Windturbinen. Sollte man sich langsam Gedanken machen? Der Menschenrechtsaktivist, Hacker und TOT-Entwickler Jacob Appelbaum, der auch bei WikiLeaks beteiligt ist, sagt es so: »Ich liebe Google, und ich liebe die Leute dort. Sergey Brin und Larry Page sind cool. Aber ich habe Angst, wenn die nächste Generation übernimmt. Eine wohlmeinende Diktatur ist immer noch eine Diktatur. Irgendwann werden die Leute merken, dass Google alles über jeden weiß. Vor allem, sie können sogar sehen, welche Fragen du stellst, in Echtzeit. Sie können buchstäblich deine Gedanken lesen.«13

G EGRUMMEL AUS E UROPA Bereits im Jahr 2005 veröffentlichte der Präsident der französischen Bibliothèque Nationale, Jean-Noël Jeanneney, ein kleines Buch, in dem er vor Googles Anspruch warnte, »die Informationen der Welt zu organisieren«.14 Es sei nicht Sache eines einzelnen privaten Unternehmens, eine solche Rolle zu übernehmen. Googles Herausforderung bleibt eines der wenigen Dokumente, das offen die sonst unbestrittene Hegemonie von Google infrage stellt. Jeanneney zielt dabei nur auf ein spezifisches Projekt, BookSearch, das darin besteht, Millionen von Büchern aus amerikanischen Bibliotheken zu digitalisieren. Jeanneneys Argument ist ein sehr französisch-europäisches: Weil die Auswahl der betreffenden Bücher durch Google sehr unsystematisch sei und keinerlei editorischen Prinzipien folge, werde das so entstehende Archiv die Giganten der nationalen Literaturen wie Hugo, Cervantes oder Goethe nicht richtig repräsentieren. Wegen seiner Tendenz, sich auf englische Quellen zu stützen, sei Google nicht der adäquate Partner, um ein Archiv des Weltkulturerbes aufzubauen. Die Auswahl 13 | Nathaniel Rich, »The American WikiLeaks Hacker«, in: Rolling Stone, 1. Dezember 2010. www.rollingstone.com/culture/news/meet-the-american-hacker-behind-Wikileaks20101201?page=5 14 | Jean-Noel Jeanneney, Google and the Myth of Universal Knowledge: A View from Europe, Chicago, IL: University of Chicago Press, 2007, dt. Googles Herausforderung: Für eine europäische Bibliothek, Berlin: Wagenbach, 2006.

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der zu digitalisierenden Bücher werde von der »angelsächsischen Atmosphäre« durchdrungen sein, meint Jeanneney. Für sich genommen ist das zwar ein legitimes Argument, das Problem ist jedoch, dass Google gar kein besonderes Interesse hat, ein Online-Archiv aufzubauen und zu verwalten. Google zielt in erster Linie auf Gewinn und nicht auf einen nachhaltigen (öffentlichen) Informationsservice. Es hat schon zahlreiche Fälle gegeben, dass solche Firmen buchstäblich über Nacht wertvolle Online-Dienste eingestellt haben. Als profitorientierte Organisationen haben sie das Recht zu solchen Entscheidungen. Google leidet an Datenfettsucht und ist gegenüber Forderungen zu deren sorgfältiger Sicherung und naiven Appellen an ihre kulturelle Verantwortung gleichgültig. Das primäre Interesse dieses zynischen Unternehmens besteht darin, das Verhalten von Nutzern zu beobachten, um Verbindungsdaten und Profile an interessierte Dritte zu verkaufen. Google geht es nicht um das Eigentum an Émile Zola. Seine Absicht besteht eher darin, den Proust-Fan vom Archiv wegzulocken. Vielleicht hat jemand Interesse an einer coolen Stendhal-Tasse, dem Flaubert-T-Shirt in XXL oder einem Sartre-Kauf bei Amazon. Für Google sind Balzacs gesammelte Werke abstrakter Datenmüll, ein Rohstoff, dessen einziger Sinn darin besteht, Gewinne zu machen, während sie für die Franzosen die Epiphanie ihrer Sprache und Kultur darstellen. Es bleibt ungewiss, ob die europäische Antwort auf Google, die Multimediasuchmaschine Quaero, jemals in Betrieb gehen wird – ganz abgesehen von der Frage, ob sie dann auch noch mit Jeanneneys Werten übereinstimmt. Bei der Einführung von Quaero wird der Markt der Suchmaschinen hinsichtlich Speicher- und Leistungskapazitäten bereits eine Generation weiter sein. Manche kommen daher zur Einschätzung, Herrn Chirac sei es mehr um den Stolz der Franzosen als um die globale Weiterentwicklung des Internets gegangen.15 Die Literatur zu Google in den ersten zehn Jahren lässt sich in drei Kategorien unterteilen. Zunächst gibt es da die gerne übersehenen Computer-Handbücher von Google for Dummies bis zu Search Engine Optimization: An Hour a Day. Das zweite Genre ist »corporate porn«, aus der Feder überenthusiastischer IT-Evangelisten wie John Batelle, Randall Stross, David Wise oder Jeff Jarvis. Die dritte Kategorie besteht in den verschrobenen europäischen Klagen über das Ungeheuer, die sich in Warnungen vor der neuesten Inkarnation von Big Brother ergehen. Gerald Reischls The Google Trap: The Internet’s Uncontrolled 15 | Siehe den Wikipedia-Eintrag: http://en.wikipedia.org/wiki/Quaero. Im Dezember 2006 zog sich Deutschland aus dem Quaero-Projekt zurück. Statt einer multimedialen Suchmaschine favorisierten die deutschen Programmierer ein textbasiertes System. Laut Wikipedia »scheuten sich viele deutsche Programmierer, an einem Projekt mitzuarbeiten, das ihrer Ansicht nach zu sehr gegen Google gerichtet war, statt sich von eigenen Idealen leiten zu lassen«.

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World Power nimmt für sich in Anspruch, das erste kritische europäische Buch über Google zu sein. Reischl spielt mit der Angst der Deutschen vor (amerikanischen) Unternehmen und ihrem unstillbaren Hunger auf private Daten – ähnlich wie Gestapo und Stasi weiß Google alles über Dich.16 Der 2009 erschienene Titel Klick: Strategien gegen die allgemeine Verdummung der Journalistin Susanne Gaschke verfolgt einen allgemeineren Ansatz à la Carr und warnt davor, dass der Computer, das Internet und die dahinterstehenden Unternehmen von unserem Leben Besitz ergreifen (insbesondere dem unserer Kinder).17 In Das Google-Copy-Paste-Syndrom, ebenfalls von 2009, weist Stefan Weber auf den Aufstieg des Plagiats in Klassenzimmern und akademischen Publikationen hin, dem Niedergang der Schreibfähigkeiten und der »Googleisierung der Bildung«. Warum etwas auswendig lernen, wenn man es sekundenschnell suchen kann?18

N ORDAMERIK ANISCHE S UCHMASCHINENKRITIK Trotz des Gegrummels aus Europa sind die meisten Google-Kritiker Nordamerikaner. Bislang haben die Europäer erstaunlich wenig Mittel für eine konzeptionelle Untersuchung der Suchkultur aufgebracht. Die EU ist bestenfalls erster Anwender von technischen Standards und Produkten, die anderswo entwickelt wurden. Was aber bei der Erforschung neuer Medien zählt, ist konzeptionelle Souveränität. Technologieforschung allein wird dafür nicht reichen, ganz egal, wie viel Geld die EU zukünftig in die Internetforschung stecken wird. Solange die Kluft zwischen der Kultur der neuen Medien und der Politik, zwischen privaten und öffentlichen kulturellen Institutionen erhalten bleibt, werden wir auch keine blühende technologische Kultur hervorbringen. Kurz, wir sollten aufhören, die Oper und andere schönen Künste als eine Form der Entschädigung für die unerträgliche Leichtigkeit des Cyberspace zu betrachten. Neben ihrer Phantasie, einem gemeinsamen Willen und einem ordentlichen Maß an Kreativität könnten die Europäer ihre einzigartige Fähigkeit des Nörgelns zu einer produktiven Form von Negativität mobilisieren. Ihre kollektive 16 | Gerald Reischl, Die Google Falle – Die unkontrollierte Weltmacht im Internet, Wien: Ueberreuter, 2008. Siehe auch Dennis Deickes Besprechung »Google Unleashed – The New Global Power?«, gepostet auf nettime, 2. Juli 2009. 17 | Susanne Gaschke, Klick – Strategien gegen die digitale Verdummung, Freiburg: Herder, 2009. Siehe auch Dennis Deickes Besprechung, gepostet auf nettime, 26. Juni 2009. 18 | Stefan Weber, Das Google-Copy-Paste-Syndrom, Hannover: Heise Verlag, 2009; siehe Dennis Deickes Besprechung »Brainless Text Culture and Mickey Mouse Science« unter http://networkcultures.org/wpmu/query/2009/06/19/brainless-text-culture-andmickey-mouse-science/

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Leidenschaft, zu reflektieren und zu kritisieren, könnte für eine Bewegung der »kritischen Antizipation« genutzt werden, die das Außenseitersyndrom überwindet, das sich in der Rolle des bloßen Nutzers und Konsumenten entwickelt. Jaron Lanier schrieb in seinem Nachruf auf Weizenbaum: »Wir würden es nicht zulassen, dass ein Student in der medizinischen Forschung arbeitet, der nichts über Doppelblindversuche, Kontrollgruppen, Placebos und den Abgleich von Ergebnissen gelernt hat. Warum erhält die Informatik einen Freibrief, der es uns erlaubt, so nachsichtig zu uns selbst zu sein? Jeder Informatikstudent sollte in Weizenbaum’scher Skepsis geschult werden und fortan versuchen, diese wertvolle Disziplin den Nutzern unserer Erfindungen zu vermitteln.« 19

Zwei Kritiker, die in Weizenbaums Fußstapfen treten, sind Nicholas Carr und Siva Vaidhyanathan. Carr, früherer Herausgeber der Harvard Business Review mit IT-Business-Hintergrund, hat sich mittlerweile zum idealen Insider-Kritiker weiterentwickelt. Sein Buch The Big Switch beschreibt Googles Strategie, die Infrastruktur des Netzes über sein Datencenter zu zentralisieren und zu kontrollieren.20 Computer werden immer kleiner, billiger und schneller. Diese »Economy of Scale« ermöglicht die Auslagerung von Speicherkapazität und Anwendungen zu geringen oder gar keinen Kosten. Unternehmen gehen dazu über, eigene IT-Abteilungen durch Netzwerk-Dienste zu ersetzen. Statt weiterer Dezentralisierung konzentriert sich die Internetnutzung nun zunehmend in wenigen, extrem energiehungrigen Datencentern.21 Carr: »Was das fiber-optische Internet für das Computerwesen bedeutet, entspricht genau dem, was der Wechselstrom für die Elektrizität bedeutete: der Standort der Geräte wird für den Nutzer unwichtig, denn die Maschinen sind nun in der Lage, zusammen als ein einziges System zu operieren.«22 Siva Vaidhyanathans Blog-Projekt The Googlization of Everything widmete sich der ambitionierten Zusammenstellung kritischer Google-Untersuchungen, die in einem 2011 publizierten Buch mündeten.23 Es behandelt Themen wie Google Street View, Google Book Search und die Beziehung des Unterneh19 | www.edge.org/3rd_culture/carr08/carr08_index.html 20 | Nicolas Carr, The Big Switch; Rewiring the World, From Edison to Google, New York: W.W.Norton & Company, 2008 21 | »Die Pläne von Googles Datencenter in The Dalles, Oregon beweisen, dass das Web kein ätherischer Ideenspeicher ist, der wie ein Nordlicht über unseren Köpfen schimmert. Es ist eine neue Schwerindustrie, ein Energiefresser, der immer nur noch hungriger wird.« (Ginger Strand, Harper’s Magazine, März 2008, S. 60) 22 | Nicolas Carr, The Big Switch, S. 60. 23 | www.googlizationofeverything.com/

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mens zu China. Sein Fazit, dass wir Google zu sehr vertrauen, ist überraschend unamerikanisch: »Wir sollten Suchsysteme aktiv und bewusst beeinflussen – und sogar regulieren – und so selbst dafür Verantwortung übernehmen, wie uns das Web Wissen vermittelt. Wir müssen ein Online-Ökosystem aufbauen, das der Welt langfristig zugute kommt, nicht eins, das den kurzfristigen Zielen eines mächtigen Unternehmens dient, egal wie brillant es ist.«24 Inzwischen versammelt sich hin und wieder ein informeller Kreis kritischer Such-Forscher unter Codenamen wie Deep Search, Society of the Query und The Shadow Search Project.25 Diese Initiativen bleiben nicht in einer moralistischen Kritik an Google als bösem Unternehmen stecken (»Caesar-Stil«, wie Vaidhyanathan es nennt), sondern treten aktiv für alternative Suchmaschinen ein, die sogar über das Prinzip der »Suche« selbst hinausgehen. Es existiert ein gemeinsames Bedürfnis, radikale Algorithmen zu entwickeln, verbunden mit einer Kritik unserer algorithmischen Technokultur, wie sie etwa vom italienischen IppolitaKollektiv formuliert wurde. Siva Vaidhyanathan zufolge zielt diese lockere Koalition darauf, Google auf seiner Ursprungsebene zu schlagen, durch Wissen, das innerhalb und außerhalb der Universitäten produziert und von Mathematikern, Künstlern, Aktivisten und Programmierern geschaffen und geprägt wird. Nicht nur wächst der Unmut gegenüber einem ungreifbaren datenhungrigen Unternehmensgiganten, sondern es werden auch Strategien sichtbar, Google einfach »uncool« zu machen. Die kapitalistische Antwort ist, den Markt seine Arbeit erledigen zu lassen. Der Aufstieg von Facebook ist der interessante Fall eines Wettbewerbers, der auf der gleichen Ebene von Googles Aufmerksamkeitsökonomie agiert, aber einen wohl noch übleren Fall von Verletzung der Privatsphäre darstellt. Hier sollte es nicht so schwer sein, dem Markenimage die Coolness zu nehmen. Wenn die Kids den machthungrigen Monopolen weglaufen, wäre das wahrscheinlich die wirkungsvollste Form politischer Aktion. Es könnte aber auch wirkungsvoll sein, wenn man damit beginnt, Google als Werbefirma zu bezeichnen – was es in Hinblick auf seine Einnahmen ja auch genau ist. Die Regulierungen aus Brüssel kommen ein Jahrzehnt zu spät. Der Vorschlag, Teile von Google zu verstaatlichen, zum Beispiel sein Buchprojekt, kann immer noch jede Debatte aufmischen, obwohl auch Schritte im Gange sind, das Scannen von Büchern im großen Maßstab an öffentliche Bibliotheken und Archive zu übertragen. Google in öffentlichen Debatten zu kritisieren und Jeff Jarvis’ »Publicness«Strategie auf die Firma selbst anzuwenden hat sicher Zukunft, denn viel von dem, was Google macht, ist geheimnisvoller Natur – wie die Datencenter, Ener24 | Siva Vaidhyanathan, The Googlization of Everything (and Why We Should Worry), Los Angeles, CA: University of California Press, 2011 S. xii. 25 | Siehe: http://northeastwestsouth.net/ und das in Fußnote 23 genannte Forschungs-Blog.

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giepolitik, Datenpolitiken, das Suchranking und die Zusammenarbeit mit Geheimdiensten. Im Falle von Google Books ist die profitorientierte Nutzung von Gemeingut so eindeutig, dass es Zeit ist, aufzustehen und die gemeinschaftlichen Güter zurückzufordern. Viel von dem, was Google entwickelt, sollte in Wirklichkeit zur öffentlichen Infrastruktur gehören, und hätte es auch sein können, wenn die Universitäten und Forschungsinstitute ihre öffentliche Aufgabe nur besser verstanden hätten. Man stelle sich Google nur als nicht-kommerziellen globalen Wissensspeicher vor. Schaut man auf Wikipedia, ist diese Vorstellung gar nicht so utopisch. Um auf die Suche zurückzukommen, wir beschäftigen uns zwar obsessiv mit der unbefriedigenden Ausbeute unserer Suchanfragen, aber nicht mit dem grundlegenden Problem der niedrigen Qualität unserer Bildung und der nachlassenden Fähigkeit zum kritischen Denken. Wie werden zukünftige Generationen sich zu Weizenbaums »Inseln der Vernunft« stellen – und diese gestalten? Eine Wiederaneignung der Zeit ist nötig. Gegenwärtig kann es sich eine »Kultur der Zeit« nicht mehr erlauben, wie ein Flaneur herumzuschlendern. Jede Information, einschließlich beliebiger Gegenstände oder Erfahrungen, muss sofort zur Hand sein. Die technokulturelle Grundhaltung ist zeitliche Intoleranz. Unsere Maschinen registrieren Softwareredundanz mit zunehmender Ungeduld und verlangen ständig nach Updates, und wir sind nur zu willig, dem zu entsprechen, aus Angst vor langsamerer Leistung. Benutzerfreundlichkeits-Experten messen die Sekundenbruchteile, in denen wir entscheiden, ob die Information auf dem Bildschirm dem entspricht, was wir suchen. Sind wir unzufrieden, klicken wir weiter. Wir könnten auch beginnen, die Zufälligkeit von Anfrageergebnissen schätzen zu lernen, aber praktizieren diese Tugend selbst kaum. Glückliche Zufälle benötigen viel Zeit. Wenn uns unsere Anfragen nicht mehr auf Inseln der Vernunft führen, können wir diese Fähigkeit auch selbst erwirken. Ich bin der Auffassung, dass wir neue Wege finden müssen, wie wir mit Informationen umgehen, sie darstellen und ihnen Sinn abgewinnen, pionierhafte Techniken wie etwa Lev Manovichs »Kulturanalysen«. Wie antworten Künstler, Designer und Architekten auf diese Herausforderungen? Hör auf zu suchen; fang an zu fragen. Statt zu versuchen, uns vor der Informationsüberflutung zu schützen, können wir der Situation auch kreativ begegnen, als Chance, neue Formen zu erfinden, die unserer informationsreichen Zeit entsprechen.

Die Organisation von Netzwerken in Kultur und Politik »Die Werkzeuge des Herrn werden niemals das Haus des Herrn niederreißen.« Audre Lorde »Das Entscheidende ist nicht, besser bewaffnet zu sein, sondern die Initiative zu ergreifen. Mut ist nichts, Vertrauen in den eigenen Mut alles. Die Initiative in der Hand zu halten hilft.« The Invisible Committee »Für Voltaire verdienten die dunklen Phasen der Menschheitsgeschichte einfach nicht die Aufmerksamkeit intelligenter Menschen. Der Sinn der Geschichte sei es, Wahrheit zu vermitteln, nicht nutzlose Neugier zu befriedigen, und das werde nur durch das Studium der Siege von Verstand und Phantasie erreicht, nicht deren Scheitern.« Isaiah Berlin

Wir können heute feststellen, dass das Internet nicht nur ein Werkzeug für den Aktivismus ist, sondern selbst zunehmend die Organisation von sozialen Bewegungen formt. In den neunziger Jahren wurde das Internet in kleinem Kreis genutzt, um Gruppierungen und NGOs zu vernetzen, während die breite Bevölkerung mit seiner Anwendung und der organisatorischen Logik noch nicht vertraut war. Dies hat sich mit dem Aufkommen von »usergeneriertem Content« grundsätzlich geändert. Das Internet bildet nicht mehr nur einen Koordinierungsmechanismus, vielmehr werden die Strukturen des Aktivismus und politischer Aktivitäten selbst durch seine Vernetzungsmöglichkeiten geprägt. Das Bewusstsein für Themen wird ebenso mobilisiert wie beschleunigt. Gleich-

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zeitig gibt es immer mehr Kampagnen, die Anspruch auf unsere Zeit und Ressourcen erheben. Jede Zeitung stellt inzwischen die Frage, ob Facebook und Twitter autoritäre Regime zu Fall bringen können. Wenn bekannte Autoren wie Malcolm Gladwell davor warnen, dass »die Revolution nicht getweetet wird«,1 sind wir offensichtlich in ein Stadium der Whirlpool-Dialektik eingetreten, wo das Reale und das Virtuelle beginnen, ihr eigenes verführerisches Spiel von Anziehung und Zerstreuung zu spielen. Einen Moment mal. Wie sind wir dahin gekommen? Seit wann ist InternetAktivismus so angesagt? Ein Grund liegt sicher im Verschwinden von realen Orten, wo man sich treffen kann. Die Knappheit des urbanen Raums infolge von Mietsteigerungen und Immobilienspekulation hat viele Aktivisten weiter online getrieben, wo sich verstreute Individuen viel leichter finden können. Allein dieser soziale Umstand konfrontiert uns mit der Web-2.0-Frage. Die Ruinen des industriellen Zeitalters wurden rekolonialisiert und in wertvolle Liegenschaften verwandelt. Die Besetzung leerstehender Büroflächen – der Symbole des postindustriellen Zeitalters – steht noch aus und findet vielleicht wegen der harten Rechts- und Überwachungsmaßnahmen auch niemals statt. Sogar verlassene Räume selbst sind knapp geworden – außer in der sich immer weiter ausdehnenden Wüste. Kritik an der Situation gibt es genug. Zunächst einmal müssen wir uns die strengere Trennung zwischen interner und externer Organisation bewusst machen. Aufgrund des reduzierten Datenschutzes und verstärkter Überwachung kann sich der (militante) Protest weder in den Vorbereitungsphasen noch in den entscheidenden Momenten sozio-ästhetischer Aktionen weiter auf elektronische Geräte stützen. Dies ist ein Problem, denn E-Mail zum Beispiel wird immer noch als Werkzeug der Mobilisierung und internen Kommunikation genutzt und Mobiltelefone bei der Koordinierung von Straßenaktionen. Auf diese Mittel im richtigen Moment zu verzichten, ist eine Kunst für sich, vergleichbar mit dem siebten Sinn, den man entwickeln muss, um Überwachungskameras zu orten. Der Aktivismus muss abermals hyperlokal werden und offline gehen, um seine Ziele erfolgreich zu treffen, ein Trend, der sich bald auch in größeren NGO-Organisationen durchsetzen dürfte. Evgene Morozovs berechtigte Kritik der Internetnutzung in autoritären Staaten wie dem Iran, Weißrussland, Russland und Moldawien hat vielleicht eine unerwünschte Nebenwirkung.2 Es ist zwar wichtig, die Schwächen des Techno1 | Malcolm Gladwell, »Small Change: Why the Revolution Will Not Be Tweeted«, in: The New Yorker, 4. Oktober 2010. www.newyorker.com/reporting/2010/10/04/Z10 1004fa_fact_gladwell 2 | Siehe Evgene Morozov, The Net Delusion, New York: PublicAffairs, 2011 sowie seine vielen mit der Buchveröffentlichung in Verbindung stehenden Artikel, wie »Why the World’s Secret Police Want You to Join Facebook«, in: The Sunday Times, 2. Januar 2011.

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Optimismus und die Grenzen der libertären Cyber-Agenda aufzuzeigen, aber das kann auch nach hinten losgehen und Aktivisten in Apathie und Gleichgültigkeit versetzen. Der RSS-Erfinder und Ur-Blogger Dave Winer: »Technologie ist wichtig, denn sie gibt den Leuten Macht. Genau da fängt man an. Nicht weil sie neu oder sauber ist, oder wegen der Tatsache, dass sie Dinge verändert, denn die Veränderung könnte auch darin liegen, dass sie sie schwächt. Veränderung als solche rechtfertigt erst einmal gar nichts.«3 Veränderung kann sich in alle möglichen Richtungen entwickeln, weshalb der Ruf nach »Veränderung« auch so wenig aussagt. Umgekehrt gilt das aber auch für Allgemeinplätze, wie dass Technologie selbst keine Antriebskraft zur Befreiung darstelle. Morozovs Kritik der Cyber-Utopie mit ihrem naiven Glauben an die emanzipatorische Natur der Online-Kommunikation muss mit kompetenten Einblicken von innen verbunden werden.4 Letzten Endes sorgt sich Morozov aber nur um die US-amerikanische Außenpolitik, nicht um die Schikanen und Strafverfahren gegen Medienaktivisten. Die Erkenntnis, dass das Internet für gute wie für schlechte Zwecke genutzt werden kann, macht uns nicht klüger, und der Hardcore-Aktivismus der alten Schule wird auch nicht wiederkommen. Selbst wenn wir zugeben, dass eine Kette von Offline-Ereignissen ein Geschehen ausgelöst hat (wie die Selbstverbrennung des tunesischen Straßenhändlers, in deren Folge im Januar 2011 das Ben-Ali-Regime unterging, oder bei der Kifaja-Bewegung in Ägypten), sollten wir deshalb nicht in eine Offline-Romantik zurückfallen. Wir brauchen eine dauerhafte Perspektive, wie wir vernetzte Technologien in die politische und kulturelle Praxis einbetten – und wie nicht. Es geht um eine Mischung aus langfristigen Zielen und Trial-and-Error-Experimenten. Auch wenn es bequem ist, kommerzielle Cloud-Anwendungen zu nutzen, müssen wir uns auf den Aufbau und Betrieb von unabhängigen Infrastrukturen konzentrieren, die die Verschlüsselung zum Schutz privater Informationen sicherstellen. Dazu gehört 3 | Dave Winer, »Why is Technology Important?«, in: Scripting News, 2. Dezember 2009. http://scripting.com/2009/12/02.html 4 | Wie Cory Doctorov in seiner Net-Delusion-Besprechung im Guardian vom 25. Januar 2011 schreibt: »Wenn Morozov von den Sicherheitsrisiken spricht, die für Dissidenten mit der Nutzung von Facebook verbunden sind, tut er das, ohne je die regelmäßigen und düsteren Warnungen vor genau diesem Problem zu erwähnen, die von der cyber-utopischen Avantgarde in Gestalt von Gruppen wie Electronic Frontier Foundation, NetzPolitik, Knowledge Ecology International, Bits of Freedom, Public Knowledge und Dutzender anderer ausgesprochen wurden.« Man könnte diese Liste noch ergänzen um Namen wie Tactical Tech, Engage Media, Hivos, Global Voices und insbesondere DigiActive, die Handbücher für Aktivisten zum Gebrauch von Facebook und Twitter herausgegeben haben. DigiActive verlor jedoch 2010 an Schwung, genau zu der Zeit, als das Thema zum Mainstream wurde.

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natürlich auch die Verwendung von freier und Open-Source-Software. Wenn die heutigen Technologien so schnell wachsen, warum stehen so viele Aktivisten immer noch am Rand? Die Fragen sind vielfältig. Wie können Aktivisten Hypes abwiegeln, die sonst irgendwann auf sie zurückschlagen? Wie können wir über die Straßenschlachten, auf die sich die Medien stürzen, hinausblicken und ein besseres Verständnis dafür entwickeln, warum (offene) Konflikte überhaupt entstehen? Reicht es, »wieder die Leidenschaft in die Politik einzuführen« oder auf Slavoj Žižeks Herausforderung, »die Ablehnung einer göttlichen Andersheit und das Element der bedingungslosen Verpflichtung zusammenzubringen«,5 mit der Übersetzung seines Aufrufs in Netzwerkprotokolle zu antworten?

S L ACK TIVISMUS Ungeachtet des keinen Aufschub duldenden Datenschutzthemas und auch unserer persönlichen Vorlieben (nutzen wir selbst Facebook oder nicht?) müssen wir bemerken, dass die Sozialen Medien eine wachsende Rolle bei der allgemeinen »Organisation der Information« spielen und mit Suchmaschinen, E-Mail und Webportalen in Konkurrenz treten. Wurden sie ursprünglich als bloße Online-Adressverzeichnisse abgetan, die inhaltlich nicht über informelle Chats zwischen »Freunden« hinausgingen, so stellen sie inzwischen für Millionen eine der wichtigsten Informationsquellen dar. Dies beeinflusst umgekehrt wieder die Art, wie wir Nachrichtenelemente in Themen verwandeln, die unser Handeln bestimmen. Wie entsteht diese Dringlichkeit? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir beim Medienaktivismus einen »kristallinen« und einen auf die Massen ausgerichteten auseinanderhalten. Analog zu Elias Canettis Masse und Macht können wir beobachten, wie sich kleine Kerneinheiten formieren, um die herum sich, oft von einem Augenblick zum anderen, Massen bilden. In den erhitzten Debatten über die »Facebook-Revolution« ist es wichtig zu unterscheiden, wie einerseits solche Kerngruppen und organisatorischen Einheiten entstehen und wie sie andererseits ihre Botschaft erfolgreich kommunizieren, um größere Ereignisse in Gang zu setzen. Was zählt, ist in beiden Fällen die tatsächliche Nutzung des Internets und nicht etwa, wie Leitartikler, Kolumnisten, Radiomoderatoren – oder auch Buchautoren – das Thema auffassen. Kunst, Kultur und politische Kampagnen binden die Sozialen Medien in hohem Maße in ihre Strategien ein, von der internen Organisation über die Mobilisierung bis zur eigentlichen Öffentlichkeitswirkung. Was zunächst wie eine weitere Erscheinungsform sozialer Beliebigkeit aussieht, ist in Wirklichkeit viel weniger informell und setzt grundsätzliche Ent5 | Slavoj Žižek, Living in the End Times, London: Verso, 2010, S. 352.

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scheidungen voraus. Die Moraldebatten, die das Web 2.0 als kurzlebigen Hype aburteilen und den Austritt fordern, haben bislang außer Acht gelassen, warum die vielen Millionen sich überhaupt um Facebook scharen. Aus den bisherigen Erfahrungen wissen wir, dass leicht zu bedienende und stabile Software mit einfachen Schnittstellen, die den Nutzer nicht mit Zusatzfunktionen überladen, erfolgreich ist. Der Drang, ein Bedürfnis mit etwas noch Reizvollerem zu befriedigen, bleibt immer mächtiger als der moralische Druck, auszusteigen. Die gehetzte Ideologiekritik hält uns außerdem davon ab, genaue Beobachtungen anzustellen. Die Sozialen Medien dringen in alle Aspekte unseres Lebens ein. Von der traditionellen »Untergrund«-Perspektive aus betrachtet mag es schwer vorstellbar sein, Facebook oder Twitter zu nutzen, so wie sich auch der Maquis nur »von Angesicht zu Angesicht« austauschte. Sicher. Aber die heutige chaotische Wirklichkeit lehrt uns etwas anderes. Wer hat schon mal versucht, auf Google, Facebook oder Smartphone für eine Woche zu verzichten? Die Wahrscheinlichkeit, diesen Test zu bestehen, liegt praktisch bei null. Das Problem mit den gängigen Strategien des Medienaktivismus im Zeitalter der Sozialen Netzwerke ist weniger ihre Unfähigkeit, die nötige Größenordnung zu erreichen – das gelingt ihnen ganz gut –, sondern der ausbleibende schmerzhafte Rückschlag durch die Begegnung mit den Machthabern. CyberKaskaden à la Avaaz.org, die Online-Petitionen mit Millionen von Unterzeichnern organisieren, erzeugen Signale einer massenhaften Wahrnehmung, aber scheitern beim Durchhaltevermögen. Widerstand bedeutet, dass der Kampf auch in einer realen Niederlage münden kann – und das klingt wirklich uncool. »Nein« gesagt zu bekommen ist überhaupt nicht sexy. Protestieren bedeutet heute nichts anderes als Party und Jobs für Eventmanager. Die Kultur, ob randständig oder Mainstream, zeigt sich in der Organisationsfrage weniger hilfreich als allgemein erwartet. Der Kulminationspunkt ist hier Heath und Potters The Rebel Sell, Why Culture Can’t be Jammed von 2005. Die PR-Experten der gegenwärtigen reformistischen Bewegungen, mit Tony Blair als ihrem Guru, beharren auf einer positiven Einstellung und nehmen für sich moralische Überlegenheit in Anspruch, während sie streitbare Kämpfer, die Rechte verteidigen, das System attackieren und sich wehren, zu Losern aus dem 20. Jahrhundert erklären. In der Vergangenheit trugen die Strategien des Hacker-Aktivismus bestimmte Elemente dieser radikalen Negativität in sich, wobei die Taktischen Medien ihnen als spielerisches Gegenstück dienten. Andere Modelle des inspirierten Widerstands finden wir rückblickend in der Literatur der fünfziger Jahre über den User als Rebell (Albert Camus) und als Außenseiter (Colin Wilson). Der heutige protestierende User ist weder der perfekte E-Bürger noch ein pathologischer, hirngeschädigter, weißer und multitaskender Einzelgänger. Wie können wir in der Post-Pop-Ära die Ästhetik des Online-Protests definieren?

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Des Slacktivismus überdrüssig, wissen wir es besser: Starke organisatorische Strukturen, die fest in der Wirklichkeit verankert sind und (finanzielle) Ressourcen mobilisieren können, werden das schwache Online-Engagement (»I like« deinen Aufstand) am Ende ausstechen. Folgt man den Marktvoraussagen, so werden wir zu Schnittstellen gelangen, die das Hyperlokale und das Globale virtuell vermischen und uns auf die nächste Ebene des politischen Engagements befördern. Wie Malcom Gladwell im New Yorker schon bemerkte, wird Twitter allein uns keine Demokratie bringen.6 Erfahrene Kämpfer werden denken: »Schön gesagt, Malcolm, aber wie kommen wir dahin? Es reicht nicht mehr, den Medienhype zu dekonstruieren: Kannst du uns bitte mal ein paar Vorschläge liefern, was wir tun sollen?«

A UF O FFLINE SCHALTEN Nach Slow Food haben die Öko-Vermarkter nun Slow Communication entdeckt.7 Werden wir im Namen eines neuen Freizeitlebensstils bald Lounges ohne Wireless-LAN bekommen? Wie wäre es mit »sanften« Schnittstellen für hyperaktive Kinder? Aber was für die eigene Gesundheit das Richtige sein mag, muss nicht unbedingt im Interesse der Allgemeinheit liegen. Tatsächlich spricht viel dafür, die Verbreitung von Informationen und die Einbeziehung bei wichtigen Debatten zu beschleunigen. In manchen Fällen werden wir die Geschwindigkeit erhöhen, in anderen werden wir das Tempo drosseln. Die willensstarke (Selbst-)Beherrschung der Technologie wird eine wichtige soziale und pädagogische Komponente enthalten, ist aber meilenweit entfernt von der Idee einer »Info-Diät«. Offline zu gehen, kann das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele verbessern, aber sollte nicht als neueste Glaubenslehre verbreitet werden. Die Notwendigkeit, Auseinandersetzungen zu mobilisieren, ist deshalb nicht mit ökologischen Trends wie regionalen Erzeugermärkten zu verwechseln. Das aktivistische Motiv steht in einem grundsätzlich anderen Zusammenhang als New-Age-Aufrufe, sich offline zu entspannen. Der strategische Schritt, die Verbindung (zeitweise?) zu kappen, sollte sich eher an danah boyd orientieren, die junge Leute speziell vor den Gefahren für die Privatsphäre warnt, die auf Sozialen Netzwerken drohen.8 Statt moralistischer Anweisungen, Kinder fernzuhalten, untersucht ihre Methode das reale Alltagsleben von Teenagern, um Eltern, Lehrern und den Kids selbst zu helfen, den Drang, online mit ihren 6 | Siehe: www.newyorker.com/reporting/2010/10/04/101004fa_fact_gladwell 7 | John Freeman, »Not So Fast, Sending and Receiving at Breakneck Speed Can Make Life Queasy: A Manifesto for Slow Communication«, in: Wall Street Journal, 21. August 2009. 8 | Siehe: www.zephoria.org/thoughts/

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Freunden abzuhängen, mit den berechtigten Sorgen um den Datenschutz unter einen Hut zu bringen. Technikfeindliche Offline-Strategien sind nur effektiv, wenn sie kollektiv in Form eines Generalstreiks praktiziert werden, losgelöst von individuell gestalteten Lebensstilen. Nachdem Facebook seine Datenschutzeinstellungen geändert hatte, rief die DigiActive-Website ihre Mitaktivisten dazu auf, sich untereinander zu entfreunden und politische Online-Gruppen zu verlassen. »Löscht politische Statusmeldungen, Aufzeichnungen und Links und fügt keine neuen hinzu, löscht eure Tags zu Fotos, auf denen ihr bei politischen Aktivitäten oder zusammen mit bekannten Aktivisten zu sehen seid und entfernt alle Verknüpfungen, die Euch mit politisch gefährlichen Leuten, Ideen und Organisationen in Verbindung bringen.«9 DigiActive weiter: »Aktivisten müssen für ihre politischen Aktivitäten gesonderte anonyme Profile erstellen, die keine korrekten persönlichen Informationen enthalten und absolut ohne Verbindung zu den tatsächlichen Freunden, Zusammenschlüssen und Orten sind. In manchen Fällen mag es sogar sinnvoll sein, einen ›Wegwerf-Account‹ zu erstellen, genau wie Aktivisten auch Wegwerf-Telefonkarten nutzen: Richte einen Fake-Account ein, um eine heikle Aktion durchzuführen, und verwende ihn dann niemals wieder. Damit keine einzelne IP-Adresse mit dem Aktivisten-Account in Verbindung gebracht werden kann, sollte man auf diesen Account nur von verschiedenen öffentlichen Computern in Cybercafés aus zugreifen und auf keinen Fall vom privaten Computer zuhause.«

Man kann nicht früh genug anfangen, sich damit zu beschäftigen, wie man die »Deep Packet Inspection«-Technologie ausschaltet, indem man PGP (für E-Mails), TrackMeNot (für den Browser) oder Tor Identity Cloakers installiert bzw. sein erstes Krypto-Handy kauft. Aktivisten-Komitees träumen heute nicht mehr vom Unsichtbarwerden, denn sie unterliegen derselben technischen Überwachung wie jeder andere. Im Gegenzug setzen weiche Subkulturen fröhlich neue Websites, Groups und Channels auf, in der Hoffnung, als Gemeinschaft in Ruhe gelassen zu werden. In der Tat kann es am Ende des langen Schwanzes sehr still sein.10 Aber die Massen haben noch nicht entdeckt, dass das Vorzeigen des neuesten Kulturguts auch nicht mehr hip ist, und dass es keine Avantgarde außerhalb der Sphäre des Marketings gibt. Wir alle haben die Gesetze der Coolness verstanden, doch wie können wir diese Logik wieder außer Kraft setzen? Es reicht nicht, sich auf coole Weise vom »Coolen« freizumachen (wenn wir Adbuster dieser Art einmal 9 | Mary Joyce, »What the New Facebook Privacy Rules Mean for Activists«, www.kabis sa.org/blog/how-new-facebook-privacy-rules-affect-activists 10 | Chris Anderson, The Long Tail: Why the Future of Business Is Selling Less of More, New York: Hyperion, 2006.

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so zusammenfassen dürfen). Kann man die iProdukte ignorieren? Die Sozialen Medien versprechen, unvermittelte, direkte Verbindungen zwischen den Leuten zu schaffen, und genau diese utopische Energie zieht uns immer tiefer in die Medienarrangements der Großunternehmen hinein. Aber was soll man tun, statt einfach zu fordern, solche Technologien ein für allemal abzulegen?

B EGEGNUNGEN MIT B EDEUTUNG Dass wir nicht alle »Freunde« sind, ist eine Plattitüde der späten Web-2.0-Ära, die Gespräche eher erlahmen lässt, als dass sie kollektive Phantasien entfachte, wie man eine »andere Vernetzung« schafft. Wie definieren wir dann zeitgenössische Beziehungen? Wie gestalten wir bleibende Beziehungen, die einen Wert haben und über die Freund-Feind-Einteilung und die symbolische Repräsentation affektiver Verbundenheit hinausgehen? Lasst uns unwahrscheinliche Beziehungen erträumen, spontane Begegnungen (und wie wir sie festigen) und Technologien, die aktiv die täglichen Gewohnheiten durcheinanderbringen. Die Smart Mobs waren zu unschuldig; 4chan hat radikale Elemente, die uns in Kontakt mit unbekannten Online-Usern bringen, aber nach ein paar Momenten der Begeisterung stecken wir schon in einem öden Voyeurismus. Was würde Solidarität à la 4chan oder Chat Roulette bedeuten – eine Art Peer-to-peer-Entwicklungshilfe-Projekt der Post-NGO-Ära, bei dem man durch den Computer mit einem Kameraden aus der Dritten Welt zusammengebracht wird? Von der Anonymous-Bewegung kann man viel lernen. Was dieser ironischen Web-2.0-Kultur allerdings fehlt, ist das »Sweet Stranger«-Element11, im Sinne dessen, was Jean Baudrillard Objektstrategien genannt hat. Draußen finden zufällige Begegnungen statt, die trotzdem etwas bedeuten. Um für radikal andere Möglichkeiten offen zu sein, müssen wir uns vom Paradigma des »Vertrauens« lösen, dessen Konzept paranoide Sicherheitssysteme fördert und in »ummauerte Gärten« mündet. Der »Risiko«-Diskurs sollte sich nicht mehr nur auf Unternehmer beziehen, die für ihre mutige Risikobereitschaft (mit dem Geld der anderen) gepriesen werden, während die überwiegende Mehrzahl der User in Käfigen des »Vertrauens« eingesperrt bleibt. Netzwerke sollten nicht nur die alten Abhängigkeiten reproduzieren. Sie haben ein anderes Potential.

11 | »Sweet stranger, sweet of you to come my way, tell me you have come to stay, sweet stranger. There’s danger every time I meet your glance, danger of a big romance, sweet stranger. You’re a brand new brand of honey from a brand new honeycomb. You could make life sweet & sunny. Won’t you step right in & make yourself at home. Sweet stranger, let me introduce you to someone who will be sweet to you, sweet stranger.« Liedtext von Glenn Miller, 1937.

Die Organisation von Netzwerken in Kultur und Politik

Wir müssen die Logik der »Freunde« abschütteln und anfangen, mit der Idee des gefährlichen Designs zu spielen. Was die aktivistischen Strategien betrifft, springen wir doch über unseren Schatten und lassen wir das Erbe der turbulent-spekulativen »Taktischen Medien« der neunziger Jahre hinter uns.12 Eine zentrale Frage ist, wie soziale Bewegungen, Kunstkollektive und Kulturinitiativen von den Sozialen Medien Gebrauch machen sollen. Dass wir uns unabhängiger machen von Googles Cloud und Facebooks Definitionen sozialer Beziehungen, ist ein Punkt. Das wirkliche Problem aber ist, wie wir an die Organisationsfrage herangehen. Žižek, Badiou und Agamben als die nächsten Marx, Lenin und Mao (entscheide selbst, wer von ihnen wer ist). Diese Philosophen, egal wie interessant ihre Arbeit sein mag, helfen uns nicht weiter, da sie immer wieder in eine überholte Lenin-Nostalgie zurückfallen. Ihre gemeinsame Weigerung, (neue) Organisationsformen zu diskutieren, spricht Bände. Im Zeitalter des vernetzten digitalen Austauschs ist das Soziale ambivalenter als je zuvor. Die Protokolle der menschlichen Zusammenarbeit sind nichts Gottgegebenes, sondern können frei bestimmt werden. Und diese Aufgabe liegt nicht länger exklusiv in der Hand der Kirche, des Dorfs, des Clans oder auch – der Partei. Sollen wir nun unkritisch unser Schicksal in die Hände von Palo Alto als nächstem Kreml-Vatikan legen? In einer Diskussion mit Clay Shirky bemerkt Evgeny Morozov: »Ich glaube, dass ein Massenprotest einen charismatischen Führer, einen Sacharow braucht, um sein Potential wirklich entfalten zu können. Meine Befürchtung ist, dass es im Twitter-Zeitalter keinen Solschenizyn mehr geben kann.«13 Dies wurde offenkundig vor dem Personenkult um Julian Assange formuliert. Dennoch, das, was Morozov als Mangel sieht, sollten wir als Gegebenheit betrachten: Netzwerke fördern eine informelle Führung, und die kann man schwerlich ersetzen. Die Massen der alten Schule auf den Straßen projizierten einst ihre Sehnsüchte auf charismatische Führer, aber die Aktivisten von heute stehen vor der Tatsache, dass neue Medien zwar mobilisieren, aber auch dekonstruieren, zerlegen, fragmentieren und die alten Schulen ignorieren. Der vernetzte Computer ist eine zutiefst postmoderne, lähmende Maschine des Kalten Krieges. Vergeblich suchen wir nach einem Weg, die Massen wieder zu vereinen, und nutzen Netzwerke, um formale Systeme der Repräsentation zu konstruieren. Morozovs Vorschlag könnte auch als ein neuer Ausgangspunkt gelesen werden: Es wird keine Massen geben, wenn wir bereits die Hervorbringung von Führern sabotieren. 12 | Mit der Weiterentwicklung des Konzepts der Taktischen Medien habe ich mich in Zero Comments (S. 185-206 der dt. Ausgabe) beschäftigt. Siehe auch Rita Raley, Tactical Media, Minneapolis, MN: University of Minnesota Press, 2009. 13 | »Das Unbehagen an der Digitalen Macht. Ein skeptischer Dialog«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. April 2010. www.faz.net/aktuell/feuilleton/internet-das-unbe hagen-an-der-digitalen-macht-1626460.html

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Das halbwegs Soziale — Eine Kritik der Vernetzungskultur

Statt Gegenmacht zu schaffen, haben wir Macht generell aufgelöst. Dies impliziert, dass wir tatsächlich das Foucault’sche Zeitalter erreicht – nein, realisiert – haben. Autonome Strategien sind unter solchen Bedingungen weniger »utopisch«, was erklärt, weshalb wir allerorten Anarchisten und Technolibertäre aus dem Boden schießen sehen. Ein Schlüsselmoment jeder sozialen Bewegung ist der erste Kontakt zwischen zwei oder mehr scheinbar autonomen Einheiten. Nennen wir es die Erotik der Berührung. Hat jemand mal die Metamorphose von lockeren Verbindungen, die sich in revolutionäre Bande verwandeln, erlebt? Es ist schwer vorstellbar, dass diese aufregende Phase aus der digitalen Gleichung herausgelöst werden kann. Neue Verbindungen zu schaffen, steht im Kern künstlerischpolitischer Prozesse. Es ist der Moment der »Veränderung«, wenn die Wüste der Konsensherrschaft zu einer blühenden Oase wird. Michael Hardt und Antonio Negri: »Der Übergang, von dem wir hier ausgehen, verlangt hingegen die zunehmende Autonomie der Multitude gegenüber staatlicher Kontrolle; die Metamorphose sozialer Subjekte mittels Ausbildung und Einübung in Kooperation, Kommunikation und Organisation gesellschaftlicher Begegnungen; und damit eine fortschreitende Akkumulation des Gemeinsamen.«14 Dies ist nichts anderes als die Wissenschaft der Revolution: das ultimative Objekt für das Studium von Organisationen und ihrer Gegenstücke im Untergrund. Wenn wir dort hingelangen wollen, reicht es nicht, den Zeitgeist richtig zu deuten. Wir müssen mit neuen Formen der Organisation experimentieren. Installieren, Updaten, Absturz, Neustart, Deinstallieren. Die Herzen der akademischen Revolutionäre sind vielleicht auf dem rechten Fleck, aber ihre Interpretationen sind unverblümt retro und lassen jede Neugier für zeitgenössische Formen der Organisation vermissen. Wo sind ihre Trial-and-Error-Geschichten? Das Web 2.0 bringt das Problem auf den Tisch, indem es die Frage stellt, wie man im digitalen Zeitalter Meinungsverschiedenheiten organisiert. Wie vollzieht sich heute die Herausbildung sozialer Bewegungen? Wenn man sich nirgendwo verstecken kann, sollten wir dann auf ein Modell der »offenen Konspiration« umsteigen? Gehen Bewegungen heute aus »Massenkristallen« hervor, wie es Elias Canetti ausdrückte, jenen kleinen und rigiden Gruppen, die wussten, wie man sich in Massen auf Straßen und Plätzen versammelt? Liegt es daran, dass wir so fasziniert sind von »viraler Kommunikation«15? Bislang fand die Neugier ihren Ausdruck vor allem im Akt der Duplizierung und des »viral Werdens«. Wie kann man jemanden jenseits loser Formen der Informations14 | Michael Hardt und Antonio Negri, Commonwealth, Cambridge, MA: Harvard University Press, 2009, S. 311. Dt. Common Wealth, Das Ende des Eigentums, Frankfurt a.M.: Campus, 2010, S. 320. 15 | Siehe zum Beispiel die »Viral Communication«-Konferenz in Rotterdam, die von Florian Cramer am 12./13. April 2010 organisiert wurde.

Die Organisation von Netzwerken in Kultur und Politik

verbreitung zum Handeln auffordern? Sind Organisierte Netzwerke die »Massenkristalle« des 21. Jahrhunderts?

O RGNE TS IN DER P R A XIS Eines der wenigen noch unerforschten Modelle der Kultur der neuen Medien ist das des Netzwerkens selbst. Wenn die Netzwerke gekommen sind, um zu bleiben, müssen wir sie ernster nehmen und ihre Form radikalisieren. Netzwerke werden immer noch als sekundäre, informelle Plattformen für den zwischenmenschlichen Austausch betrachtet. Anstatt uns auf die »Netzwerk-Organisation« auszurichten – die instrumentelle Perspektive auf Netzwerke als Werkzeuge für Organisationen, soziale Bewegungen oder Unternehmen, um Informationen und Erfahrungen auszutauschen –, sollten wir ein besseres Verständnis für »Organisierte Netzwerke« gewinnen, ein Konzept, das ich gemeinsam mit Ned Rossiter seit 2005 entwickelt habe.16 Bei diesen aufkommenden »Organisierten Netzwerken« zielt die Zusammenarbeit darauf, Projekte zu realisieren, Software zu schreiben und, kurz gesagt, kulturelle Güter herzustellen. Während Netzwerk-Organisationen locker verbunden sind und eher unverbindliche Beziehungen pflegen, die dem »Aufladen der Batterien« durch Informationsaustausch und inspirierende Gespräche dienen sollen, ist der Begriff »Organisierte Netzwerke« transformativer angelegt, indem er die Produktion von Kultur direkt auf das Netz verschiebt und so den eigentlichen Modus der Organisation selbst verändert. Die Entwicklung solcher Konzepte antwortet auf einen Mangel an benötigten Begriffen. Wie Simon Critchley schreibt: »Politik hat immer mit Benennung zu tun. Es geht darum, einer politischen Subjektivität einen Namen zu geben und sich politisch um diesen Namen herum zu organisieren.«17 Nach Critchley sollten wir unsere Hoffnungen nicht an eine Ontologie knüpfen, sondern versuchen, »Formen des Versammelns, der Koalition und der Vereinigung in Bezug zu einem wilderen und formloseren sozialen Wesen zu entwerfen«. Die Benennung, die ich hier diskutiere, kommt aus der Welt der Netzwerktechnologien. Warum zeitgenössische Denker diesen vitalen

16 | Mehr zu Orgnets und der Zusammenarbeit mit Ned Rossiter findet sich im Kapitel »Die Einführung organisierter Netzwerke«, in: Geert Lovink, Zero Comments, S. 301318, und in Ned Rossiter, Organized Networks, Rotterdam: Nai, 2006. Siehe auch: Geert Lovink und Ned Rossiter, »Urgent Aphorisms, Notes on Organized Networks for the Connected Multitudes«, in: Mark Deuze (Hg.), Managing Media Work, Thousand Oaks, CA: Sage, 2011, S. 279-290. 17 | Simon Critchley, Infinitely Demanding: Ethics of Commitment, Politics of Resistance, London: Verso, 2007, S. 103.

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Teil unseres gegenwärtigen Lebens übersehen, ist bemerkenswert, aber das ist eine andere Sache. Organisierte Netzwerke oder »Orgnets« sind neue institutionelle Formen der Zusammenarbeit, die entstehen, nachdem der Prozess der Digitalisierung und Informatisierung zum Abschluss gekommen ist, und die unter Forschungsgesichtspunkten vor allem auf die potentiell produktive Spannung zwischen Dezentralisierung und Institutionalisierung ausgerichtet sind. Ähnlich wie bei dem sich verschiebenden Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und NGOs vor zehn bis 15 Jahren sehen wir eine wachsende Spannung zwischen den etablierten Modellen »kultureller Organisationen«, die sich Kultur, Kunst und neuen Medien widmen, und informellen, von einzelnen Künstlern getragenen Netzwerken. Anders als vor einem Jahrzehnt kann der kulturelle Neue-Medien-Sektor keine »Avantgarde«-Position mehr für sich in Anspruch nehmen, denn die Avantgarde ist inzwischen vom Markt übernommen worden. Diese Situation hinterlässt eine Lücke. Inzwischen weder wirklich innovativ noch ausgesprochen kritisch, macht sich unter den nicht-kommerziellen Neue-Medien-Organisationen Verunsicherung breit. Welche Richtung sollen sie einschlagen? Wenn sie keine geeignete Forschung betreiben, die für Politiker oder die Wissenschaft von Nutzen sein könnte, was ist dann ihre Rolle? Da die Einführungsphase der neuen Medien zu Ende geht, sollen sie nun einfach ohne öffentliche Förderung auskommen oder sich auflösen? Die hoch subventionierte massive Digitalisierung von »kulturellem Erbe« hat sich für den NeueMedien-Sektor als fruchtlos erwiesen und vervielfältigt lediglich die existierende konservative kulturelle Landschaft mit ihren Museen, Opernhäusern und Konzertsälen. Ähnliches ließe sich auch über die »Media-wisdom«-Programme im Erziehungssektor sagen, die nur organisiert werden, um die schon hohe Computerkompetenz unter den Jugendlichen sowie die Ignoranz und Paranoia bei Eltern und Lehrern zu »managen« (sprich: zu kontrollieren). Statt sich der Agenda der Kreativwirtschaft anzupassen, müssen sich die aktuellen Organisationsmodelle in unterstützende Knotenpunkte verwandeln und die Organisierten Netzwerke stärken. Es geht nicht darum, weiter die losen Bande zu erforschen (und auszubeuten), vielmehr zielen Organisierte Netzwerke auf stärkere Bande innerhalb kleinerer Einheiten, die aus Peer-to-peerBegegnungen hervorgehen. Wir sollten uns weniger über den Niedergang des Engagements beklagen, als vielmehr damit beginnen, dichte Strukturen zu gestalten, die die kollaborative Arbeit an kulturellen, politischen und pädagogischen Projekten erleichtern können und koordinieren helfen. In der gleichen Weise sollten wir mit der Ausbeutung unbezahlter Arbeit aufhören und durch Entwicklung alternativer Ertragsmodelle und Bezahlsysteme auch entsprechende Einkommen für die neuen professionellen Arbeitsfelder gewährleisten. Welche Protokolle sind geeignet, Organisierte Netzwerke zu strukturieren? Wie sehen die Modalitäten der Selbstorganisation aus? Wie können sich Organisierte

Die Organisation von Netzwerken in Kultur und Politik

Netzwerke vergrößern? Und wie nachhaltig sind diese Netzwerke, wenn man davon ausgeht, dass sie fürs Erste keinen Zugang zu den üblichen (finanziellen) Ressourcen haben? Das Orgnet-Konzept entspringt einem aktiven, dynamischen Umfeld, das mehr Fragen aufwirft, als möglicherweise beantwortet werden können. Aktivisten organisieren online transnationale Kampagnen, und Web-2.0-Unternehmen profitieren von der Gratisarbeit und -aufmerksamkeit des Netzwerks ihrer User. Wenn wir diese Netzwerktechnologien ernst nehmen, müssen wir uns fragen, was denn nach dieser anfänglichen Begeisterung als nächstes kommt. Wird die Vernetzung eine verstreute und lockere Ebene von Sozialität erzeugen, oder werden die Beziehungen substantieller? Welche langfristigen Transformationen werden aus dem vernetzten Zusammenwirken hervorgehen? Wie können Netzwerke ihre kritische Schärfe beibehalten und gleichzeitig auf eine professionelle Ebene hinarbeiten? Waren die Inhalte, die im Kontext der »freien Kultur« erzeugt wurden, wirklich für die kostenlose Verbreitung konzipiert, oder geschah dies nur, weil »frei« die einzige Option war? Kehren wir in unser geschäftiges Alltagsleben zurück, wenn der Hype zurückgeht, oder streben wir dann nach einem noch stärkeren Engagement für das Soziale 2.0? Wenn Künstler, Forscher, Aktivisten, Pädagogen und Kulturarbeiter immer mehr in das Netzwerk-Paradigma hineingezogen werden, müssen wir uns dringend der Frage stellen, was es eigentlich bedeutet, wenn Netzwerke zur Antriebskraft sowohl im Bereich der Arbeit als auch dem der Freizeit werden. Selbst wenn sie nicht die real existierende Bürokultur ersetzen, wie werden sie kulturelle Organisationen umwandeln? Es sollte deshalb versucht werden, unabhängige Einkommensquellen und Organisationsformen zu erschließen, die die Bedingungen der Vernetzung reflektieren, die die kulturelle Arbeit bestimmen. Unter den Vorzeichen des neoliberalen Kapitalismus finden wir im chaotischen Alltagsleben lauter zugeschnittene Fertigideologien, aber wir können uns ebenso auch für neue strategische Designs öffnen. Netzwerkarchitekturen ermöglichen eine Freiheit der Wahl, und die Anlage ihrer sozialen Aspekte verspricht vage Möglichkeiten, sich (wieder) anzuschließen. Sich von einer Stadt oder einer professionellen Sphäre zur nächsten bewegen zu können, bringt sowohl Freiheit als auch Stress mit sich, die Freuden des Nomadisierens als auch seine Risiken. Wie finden wir ein Gleichgewicht zwischen dem Wunsch, weiterzuziehen, und der wichtigen Verteidigung von Rechten und Ressourcen? Der Zwang, sich gnadenlos selbst zu promoten, während man über Soziale Netzwerke gleichzeitig eine riskante Selbstoffenbarung betreibt, mündet in ein ähnliches Dilemma. Die Option, sich bei den Netzwerken nicht anzumelden, ist jedoch abgelaufen. Viele »prekäre« Kulturarbeiter merken, dass sie bei Gruppen, Listen oder professionellen Netzwerken wie LinkedIn mitmachen müssen, denn die soziale Online-Vernetzung hat sich als unverzichtbarer Aspekt der beruflichen Weiterentwicklung erwie-

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sen. In diesem McJob-Zeitalter sind Künstler und Kulturarbeiter gezwungen, eine Reihe paralleler Projekte in Planung zu haben, die vielleicht, aber vielleicht auch nicht, zu einer bezahlten Arbeit führen. Deshalb liegt keine moralische Weisheit darin, sich der Beteiligung auf kommerziellen Plattformen wie Facebook oder Twitter zu entziehen – obwohl die bessere Idee sicher wäre, aktiv alternative verteilte Social-Networking-Software zu fördern, die auf den Prinzipien von Freier Software und Open Source basiert. Man sollte den gegenwärtigen Einfluss der Ideologie des Freien und Offenen, wie sie von einigen Vertretern der »Free-Culture«-Bewegung vertreten wird, als potentielle Falle betrachten. Creative Commons, freie Software, Open Content und Open Access sind wunderbar, aber nur, wenn sie Teil einer größeren Bewegung werden, die auf die Entwicklung alternativer Einkommensmodelle zielt. In dieser Hinsicht benötigen wir auch eine neue Auffassung von Public Domain und insbesondere Public Broadcasting, die die neuen Medien mit Film, öffentlichem Radio, Fernsehen und Printmedien gleichstellt. Barcamps, Unconferences, Book Sprints, Hackathons, Contentfests und Bricolabs sind alles Manifestationen einer aufblühenden Kultur temporärer Media Labs. Statt danach zu fragen, wie diese neu entstehenden Praktiken zur »Politik« beitragen können, lässt sich die Frage auch umkehren: Wie kann die Kulturpolitik die Netzwerke stärken? Einer der Schritte, die wir unternehmen müssen, ist es, Netzwerken als eine kulturelle Logik zu verstehen, die im Widerspruch zu den gängigen demokratischen Mechanismen steht. Netzwerke gehen von einer post-repräsentativen Position aus. Ein Netzwerk kann nicht behaupten, für irgendjemand anderen zu sprechen als seine eigenen Mitglieder. Schauen wir auf drei Fälle Organisierter Netzwerke in Aktion. Da diese weder Religionen, Identitäten noch Qualitätsmanagementsysteme bilden, ist es irrelevant, ob die beteiligten Individuen oder Institutionen der »Orgnet«-Idee explizit zustimmen. Zumindest in dieser Anfangsphase sollte die Idee der Orgnets in erster Linie als Vorschlag verstanden werden, als kritisches Konzept und seltsamer Attraktor, der für ein Potential einen Raum schafft, Ereignisse auszulösen.

F ALL 1: C ULTUREMONDO Culturemondo ist ein Netzwerk von Kulturportalen mit Schwerpunkt »Kulturerbe«18, dem sowohl Forscher angehören, unter anderem Ilya Lee aus Taipeh und Alexandra Uzlac von CultureLink aus Kroatien, als auch politische Entscheidungsträger wie Frank Thinnes vom Luxemburger Kulturportal plurio.net und Jane Finnis von Culture24 aus Großbritannien, IT-Experten aus Museen 18 | Siehe: www.culturemondo.org/

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wie Seb Chan vom Powerhouse Museum in Sydney sowie weitere Akteure aus dem Bereich der Kulturvermittlung. Laut Ilya Lee vertrauen die CulturemondoMitglieder dem Wert des Peer Sharing mit Gleichgesinnten, die den Einfluss und die Sichtbarkeit ihrer Arbeit erhöhen und Kenntnisse der fortschreitenden Web-Entwicklung in ihre eigenen Felder weitertragen wollen. Ilya Lee: »Sie erkennen, dass das Internet lockere Verbindungen fördert, nicht offizielle Formen globaler bürokratischer Organisation. Es ist wirklich wichtig, sich zu koordinieren und den Wert der Zusammenarbeit im Bereich der kulturellen Vermittlung zu praktizieren.« Neben vielen anderen Themen wird bei Culturemondo auch diskutiert, wie man erreicht, dass die Kulturpolitik mit der Politik und den Strategien des Digitalen verknüpft wird. Die sechste Roundtable-Veranstaltung in Amsterdam, die zeitlich mit dem PICNIC-Festival zusammenfiel, hatte das Motto »Die Praxis in die digitale Kulturpolitik hineintragen«. Das Culturemondo-Netzwerk geht auf ein Teffen von Kulturportal-Betreibern im Juni 2004 im Rahmen der Minerva International Digitisation Conference in Dublin zurück. Jane Finnis vom englischen Kulturportal Culture24 und Vladimir Skok von culture.ca waren bei der Gründung federführend, und die ersten Jahre wurde Culturemondo mit Geldern aus Canada und des TELDAP-Programms aus Taiwan gefördert. Es handelt sich nicht um eine globale Organisation mit zahlreichen Niederlassungen oder eine Art Fachverband, sondern ein aktives informelles Netzwerk, das seinen Erfolg gerade aus den unterschiedlichen kulturellen Herangehensweisen bezieht. Culturemondo organisiert keine Konferenzen oder jährliche Treffen, sondern kreiert »Roundtables«. Bemerkenswert ist seine transdisziplinäre Ausrichtung und die Vielfalt unterschiedlicher Experten, die zusammengebracht werden: Kulturvermittler, Kulturpolitiker, Webentwickler, Designer, Lektoren und Content Producer. Sind Webportale nicht ein Überbleibsel aus den Dotcom-Neunzigern? Sie entsprechen nicht der Art, wie Content im Zeitalter des Web 2.0 verbreitet wird, nämlich über Empfehlungen, Verlinken und »Liking«. Die Culturemondo-Mitglieder sind sich dieser Verschiebungen durchaus bewusst. Das Etikett »Kulturportal« wird weiterverwendet, weil dieser Diskurs von Förderstellen und Ministerien verstanden wird. Und machen wir uns nichts vor, der Kulturvermittlungssektor ist bekanntermaßen träge. Die Culturemondo-Mitglieder reden darüber, wie man mit diesen althergebrachten institutionellen Strukturen umgeht. In einem Skype-Gespräch fragte ich Ilya Lee, ob er Culturemondo als »Organisiertes Netzwerk« betrachtet. Lee: »Culturemondo bringt Politikmacher mit Geeks zusammen. Wir legen den Schwerpunkt auf die persönliche Ebene, den informellen Austausch und die innere Entwicklung des Netzwerks. Die aktiven Mitglieder stammen aus 15 Ländern, und es gibt 250 beteiligte Organisationen. Wir entwickeln Culturemondo zu einer realen Organisation, in der Globales und Lokales sich treffen. In diesem Sinne könnte man schon sagen, dass es ›Orgnet‹-Eigenschaften hat.«

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Stimmt Culturemondo mit der Rhetorik der Kreativwirtschaft überein? Lee: »In Bezug auf Sponsoring ja. Aber zum Glück kommt der Druck hier mit Verzögerung. Während wir gerade reden, sind einige der Programme und Partner, mit denen wir zusammengearbeitet haben, bereits gezwungen aufzuhören. Überall steht die Frage nach dem Geschäftsmodell im Raum. Das manifestiert sich konkret im Druck von Seiten der Kreativwirtschaft, mobile Apps zu entwickeln, als Reaktion auf die von Chris Anderson, dem Chefredakteur von Wired, ausgehenden Gerüchte, dass das ›Web tot sei‹. Institutionen und Firmen halten viel auf ihren geschlossenen Charakter. Die eingezäunte Kultur ist auf dem Vormarsch. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, müssen wir über unsere Kernwerte sprechen. Wir brauchen hierzu Theorien. Wie können wir OpenSource-Praktiken in die Kulturpolitik einführen? Das reicht zurück bis zur Amsterdamer ›Practice to Policy‹-Agenda von 1997, und es würde sich lohnen, die Geschichte dieser Bemühungen einmal aufzuschreiben.«

Culturemondo kann leicht 5.000 »Freunde« bei Facebook aufbringen und hunderte neue Mitglieder sammeln, aber was hilft das? Im Dezember sprach ich beim vierten Culturemondo-Roundtable in Taipeh über die Beziehung zwischen Organisierten Netzwerken und dem Hype der Sozialen Medien. Mein Vortrag stellte der Ausbeutung der »schwachen Bande« durch Soziale Netzwerke wie Facebook und MySpace und dem Drang der Nutzer, immer mehr »Freunde« zu sammeln (ein Effekt, der durch Algorithmen hervorgerufen wird), die Tendenz gegenüber, vorhandene – aber auch sehr virtuelle – Bande innerhalb von Netzwerken zu stärken, die aus sich heraus nach intensivem Austausch und enger Zusammenarbeit streben. Der Unmut über Facebooks dreiste Datenschutzpolitik hat Künstler, Aktivisten und Hacker nicht nur zu Protesten veranlasst, mit Aktionen wie der vom Rotterdamer Moddr-Lab entwickelten Web-2.0-Selbstmordmaschine, sondern auch zur Entwicklung alternativer Social-NetworkingSoftware wie Crabgrass, Diaspora, Appleseed und GNUSocial. Das Bloggen nahm eine ähnliche Richtung, indem es von einer zentralisierten, kommerziellen und proprietären Plattform (blogger.com) auf eine Open-Source-Software (Wordpress) umstieg, die jedermann runterladen und auf dem eigenen Server installieren kann. Neben coolen und innovativen Nutzerschnittstellen könnte das »Open-Graph«-Prinzip zum Erfolg dieser Initiativen beitragen, durch das sich alle deine »Freunde« von einem in ein anderes Soziales Netzwerk übertragen lassen. Der deutsche Theoretiker Soenke Zehle war einer der Sprecher beim Culturemondo-Roundtable während des sechsten PICNIC-Festivals. Ich fragte ihn, wie er das Netzwerk beschreiben würde. »Culturemondo zieht Leute an, die nicht länger danach fragen, ob sich die Art und Weise, wie Netzwerke funktionieren, einmal ändern wird, sondern die (konzeptionellen und

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technologischen) Fähigkeiten haben, aktiv die institutionelle Transformation des kulturellen Sektors zu gestalten. Der nötige Einsatz für solche Verschiebungen in der Dynamik der Institutionalisierung wird hoch bleiben, solange das hehre Ziel der Kulturproduktion weiterhin das Museum ist. Culturemondo ist weder der einzige noch der erste Anlauf, die Art und Weise, in der die Grenzen innerhalb des kulturellen Feldes bestimmt werden, in Frage zu stellen, aber es ist in einer guten Position, den damit verbundenen Wandel seiner jeweiligen Öffentlichkeit zu erforschen, denn Online-Portale sind per Definition an den institutionellen Rändern verortet und eröffnen ein neues Milieu für ethisch-ästhetische Experimente, nicht zuletzt, weil hier die Schnittstelle selbst zum Hauptanliegen geworden ist. Deshalb bieten diese miteinander verbundenen Aktivitäten, gestützt gleichermaßen auf gemeinsame Forschungen wie auf Veranstaltungen, über ihre konkreten Netzwerk-Aktivitäten hinausgehend eher eine Logik der Zwischenräume und der Iteration als eine institutionelle – und dadurch das dringend benötigte Aufbrechen der Formen, wie die Herstellung und öffentliche Vermittlung von Kultur organisiert wird.«

F ALL 2: W INTERCAMP 09 Das Wintercamp 09 wurde im März 2009 vom Institute of Network Cultures organisiert: eine einwöchige Veranstaltung, zu der Künstler- und Aktivistennetzwerke nach Amsterdam eingeladen waren, um sich explizit mit der Frage zu beschäftigen, wie sie ihr Netzwerk »organisieren« sollen.19 Ziel war es, das Reale mit dem Virtuellen zu verbinden und herauszufinden, wie verteilte Soziale Netzwerke besser zusammenarbeiten können. Je mehr Leute gemeinsam online arbeiten, umso dringender wird die Frage nach tragfähigen Netzwerkmodellen. Sich direkt zu treffen, ist für (virtuelle) Netzwerke normalerweise sehr teuer. Ihre Mitglieder sind über Europa oder den Globus verteilt, und wenn sie sich treffen, geht es um kurze Koordinierungssitzungen am Rand einer Konferenz oder eines Festivals. Solche Workshops sollten deshalb vor allem von den größeren Akteuren in diesem Feld angeboten werden. Zu den 150 Teilnehmern des Wintercamps aus zwölf Netzwerken zählten Programmierer, Aktivisten, Wissenschaftler, Autoren, Designer, Kulturvermittler und Künstler. Einige der beteiligten Netzwerke waren aus dem Umfeld des INC hervorgegangen, etwa MyCreativity aus dem Kontext der kreativen Berufe. Manche waren bereits etabliert (Dyne.org und Upgrade!), während andere gerade im Begriff waren, sich zu einem Netzwerk formieren. Die Netzwerke bewegten sich zwischen äußerst informellen (Goto10) und recht formellen Strukturen (blender.org, FreeDimensional), die Teilnehmer kamen zum größten Teil aus Westeuropa und Nordamerika, und nur ein paar wenige aus anderen Teilen der Welt. 19 | Ein umfangreicher Bericht und Links zu Videos und Veröffentlichungen finden sich unter: http://networkcultures.org/wpmu/wintercamp/

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Das Format des Wintercamps bestand aus einer Mischung weitgehend improvisierter, konferenzartiger Präsentationen und Arbeitssitzungen, die darauf zielten, Dinge konkret voranzubringen, ob das Formulieren von Forschungsanträgen oder das Schreiben von Code. Dabei wurde versucht, eine Balance zwischen intensiven Gruppensitzungen, Plenarversammlungen und Treffen mittlerer Größe zu finden und gleichzeitig genügend Raum für den informellen Austausch zu lassen. Für die Programm- und Produktionsdetails der Veranstaltung war eine »Meta-Gruppe« verantwortlich, die wieder in enger Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Bloggern stand. Die Meta-Gruppe führte auch Interviews mit fast 30 Teilnehmern aus den verschiedenen Gruppen, die alle online auf Vimeo zur Verfügung stehen. In ihnen ging es um Aspekte wie das Spannungsverhältnis von Formellem und Informellem, finanzielle und materielle Ressourcen und die Beziehungen zu anderen Netzwerken und Gruppen. Im Wintercamp wurden zu verschiedenen Bereichen Erfahrungen ausgetauscht, von denen ich drei hervorheben möchte: Wachstum: Manchmal – ohne ersichtlichen Grund – bleiben Netzwerke zu klein oder sie wachsen zu schnell. Gibt es eine ideale Größe? Forschungen haben gezeigt, dass ein Netzwerk von 50-150 aktiven Mitgliedern lange Jahre funktionieren kann. Ist Expansion immer die richtige Antwort, wenn ein Netzwerk stagniert? Ist eine vernetzte Kommunikation mit mehr als 500 Teilnehmern zum Scheitern verurteilt, wie früher behauptet wurde? Wäre »small is beautiful« eine passende Antwort auf die Facebook-Massen? Konflikt: Netzwerke werden oft von wiederholten Konflikten unter ihren Mitgliedern eingeholt (Flamewars, Trollverhalten, Revieransprüche), die bis zum Zusammenbruch des gesamten Netzwerks führen können. Reicht es, einfach Zeit vergehen zu lassen und neue Leute hereinzuholen, in der Hoffnung, die laufenden Streitigkeiten damit aufzulösen? Welche Rolle könnten Verhaltenscodices oder andere Verfahren bei der Entschärfung dieser zwischenmenschlichen Konflikte spielen? In dieser Ära des »Vertrauens« unter »Freunden« ist es so einfach, wegzugehen, sich auszutragen, Leute, die man nicht mag, auszufiltern, E-Mails zu ignorieren oder Netzwerke zu verlassen. Netzwerke sind oft transnational, und damit sind gewaltige kulturelle Unterschiede verbunden, wie man mit der Ursache oder dem Ereignis des Konflikts am erfolgreichsten umgeht. Software und das Technologiedilemma: Es gibt tonnenweise geeignete Tools zum Zusammenarbeiten. Wo liegen die Grenzen der üblichen Kommunikationsprotokolle (E-Mail, Mailinglisten, Webseiten, Soziale Medien, Skype), und sind alternative Tools greifbar, die die Unabhängigkeit erhöhen könnten? Gibt es Möglichkeiten, komplexe Verfahren zu vereinfachen und die mögliche Infor-

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mationsflut zu reduzieren? Wie kann ein Netzwerk von Laien Programmieren und den Umgang mit Spezialsoftware erlernen? Ist Technologie eine Möglichkeit, das Netzwerk zu erweitern und mit ihm zu experimentieren, oder eher eine fehlerträchtige Frustrationsquelle, durch die Neuankömmlinge abgeschreckt werden?

F ALL 3: RIXC IN R IGA Beim letzten Beispiel geht es um ein Treffen, das, mit dem Schwerpunkt auf Netzwerken, sich unmittelbar Problemen der kulturellen Nachhaltigkeit widmete. Unter dem Titel »Organized Networks« fand im Dezember 2009 in der lettischen Hauptstadt Riga ein Ausbildungsprogramm für kulturelles Netzwerkmanagement statt.20 Die Veranstaltung brachte Vertreter von über 20 Kulturorganisationen, Neue-Medien-Zentren und Netzwerken aus den baltischen, nordischen und anderen europäischen Regionen sowie aus kaukasischen Ländern zusammen. Das Programm war vom RIXC, dem Zentrum für Neue-Medien-Kultur, in Lettland organisiert worden, gemeinsam mit weiteren Partnern aus Finnland, Norwegen, Island, Schweden, Dänemark, Litauen, Lettland, den Niederlanden, Armenien und Georgien. Für die Organisatoren sind Netzwerke nicht nur virtuelle Strukturen. »Hinter ihnen stecken Menschen und technische Infrastrukturen, und unsere Netzwerkkulturen haben auch mit den gleichen Nachhaltigkeitsproblemen zu tun.«21 Die Hauptfrage war, welche neuen Strategien und Methoden angewandt werden können, um zu einer nachhaltigeren translokalen Kooperationspraxis zu kommen. Wie entwickeln wir neue netzwerkbasierte Modelle, die sowohl für Einzelpersonen wie auch für lokale kulturelle Organisationen Unterstützung bieten? In welchem Verhältnis stehen Netzwerke und Knotenpunkte zueinander? Ähnlich wie Culturemondo verfolgte das Ausbildungsprogramm einen transdisziplinären Ansatz und vereinigte Künstler, Neue-Medien-Aktivisten, Forscher im Bereich effizienter Technologien, Social-Software-Entwickler, Open-Source-Aktivisten und Designer mit Fokus auf autonomen und alternativen Infrastrukturen, die gemeinsam diskutierten, wie man mit den Problemen der Nachhaltigkeit umgeht. Während Nachhaltigkeit typischerweise als metaphorisches Modewort verwandt wird, konnte man hier die unmittelbare Übertragung von Nachhaltigkeitskonzepten aus dem Zusammenhang der natürlichen Ressourcen in den kulturellen Bereich erleben.

20 | Siehe: http://orgnet.rixc.lv/ 21 | Siehe den Aufruf zur Veranstaltung unter: http://kyberia.sk/id/5041628

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Ich fragte Rasa Smite, die Organisatorin der Veranstaltung, im November 2010 über Skype, ob »Organisierte Netzwerke« tatsächlich existieren oder ob sie bloß ein nützliches, aber wenig realistisches Konstrukt bleiben: »Im Vergleich mit den wilden Neunzigern haben wir festgestellt, dass Netzwerke nicht mehr von alleine wachsen. Sind wir vielleicht nicht mehr so idealistisch? Wir können einfach nicht mehr erkennen, dass um uns herum lauter Rhizome wachsen. Aber trotzdem gibt es immer noch den Mythos von uns umgebenden sich selbst organisierenden Netzwerken, obwohl die Realität ziemlich anders aussieht. Es fehlt einfach eine Kontinuität. Wir hier bei RIXC mussten uns selbst auf diese neue Situation einstellen und anfangen, bessere Netzwerkmodelle auszuprobieren. Heute haben wir keine großen Erwartungen an andere Netzwerkteilnehmer mehr, was sich als befreiendes Moment erwies. Und hier kam die Orgnet-Idee auf. Das Modell bedeutet, die volle Verantwortung zu übernehmen − und da fängt es wirklich an zu funktionieren.«

Eine Inspirationsquelle für Rasa ist die von Michael Bauwens betriebene Peerto-Peer-Foundation. In den guten alten Zeiten, zwischen 2006 und 2008, als die Finanzkrise noch nicht mit aller Gewalt über Lettland hereingebrochen war, hatte RIXC acht bezahlte Mitarbeiter, Ende 2010 waren sie wieder auf drei geschrumpft. In der Zwischenzeit schloss Rasa Smite ihren PhD über die Frühzeit der kreativen Netzwerk-Communities ab. Um zu überleben, haben die RIXCGründer einen kommerziellen Bereich integriert und betreiben nun sowohl eine Non-Profit-Organisation als auch ein gewinnorientiertes Unternehmen. Die Frage ist vielleicht nicht, wie die Kulturpolitik Netzwerke stärken kann. Kurzfristig mag dies der Fall sein. Aber bald werden die Grenzen zwischen politischen und kulturellen Organisationen noch mehr zerfließen. Im Moment benötigen Netzwerke noch die alteingesessenen Institutionen, um dem Virtuellen zu entkommen und sich zu legitimieren. Aber was, wenn sich das Blatt wendet und die überwiegende Mehrheit der Akteure aus selbständigen, »prekären« Freiberuflern besteht? Vielleicht werden Netzwerke bald in der Lage ein, als virtuelle Einheiten Gestalt anzunehmen und ihre rechtlichen und finanziellen Angelegenheiten zu regeln, ohne noch eine Basis in einem bestimmten Land unterhalten zu müssen. An diesem Punkt werden Selbstorganisation, freie Kooperation und verteilte Ressourcen nicht länger am Rande stehen und an die schweren Türen einer sich verschanzenden Kultur klopfen, sondern sich aus ihrer untergeordneten Rolle lösen und zu Trägern der kulturellen Entwicklung werden. Slavoj Žižek denkt in die richtige Richtung, wenn er erklärt:

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»Es ist unzweckmäßig, oder zumindest zutiefst ambivalent, der verheerenden, weltauflösenden Wirkung der kapitalistischen Modernisierung entgegenzutreten, indem man neue Fiktionen erfindet und sich ›neue Welten‹ vorstellt: es hängt alles davon ab, in welcher Beziehung diese Fiktionen zum tieferliegenden Realen des Kapitalismus stehen – ergänzen sie ihn nur durch eine imaginäre Vielfalt, wie es die postmodernen ›lokalen Erzählungen‹ tun, oder stören sie auch seine Funktion?« 22

Konzeptuelles Wissen ist in Software eingebettet, und Konzepte wie die der »Organisierten Netzwerke« werden die Aufgabe haben, um es mit Žižeks Worten zu sagen, »eine symbolische Fiktion (eine Wahrheit) zu erzeugen, die in das Reale eingreift und Veränderungen in ihm bewirkt«.23 Können Organisierte Netzwerke zur Überwindung der (linken) Angst vor der direkten Auseinandersetzung mit der Staatsmacht beitragen? Die Orgnet-Praktiken, die hier diskutiert werden, gehen genau das an, was Žižek im Dialog mit Hardt und Negri aufwirft: »Welche Art der Repräsentation sollte den gegebenen liberal-demokratischen Repräsentationsstaat ersetzen?«24 Wenn die Netzwerk-Form in kurzer Zeit zum De-facto-Ausdruck des Sozialen wird, dann müssen wir in die Debatte der Critchleys, Mouffes und Badious »keine Netzwerke ohne Organisation« einwerfen und fragen, ob »kein Regieren ohne Bewegungen« (Negri) nicht durch »keine Bewegungen ohne Regieren« (Žižek) gekontert werden sollte. Statt die Debatten des 20. Jahrhunderts über das avantgardistische Lenin’sche Parteienmodell versus vitalistische anarchistische Selbstbestimmung zu wiederholen, sollten wir lieber mit neuen institutionellen Formen weiterexperimentieren, die aus der aktuellen Phase der Internetentwicklung, in der die Sozialen Medien ausreifen und ihr volles Potential erreichen, hervorgehen.

22 | Slavoj Žižek, In Defense of Lost Causes, London: Verso, 2008, S. 33. 23 | Ebd. 24 | Ebd., S. 375.

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Technopolitik mit WikiLeaks »Dies ist der erste echte Info-Krieg, und ihr seid die Soldaten.« John Perry Barlow

Enthüllungen und undichte Stellen hat es zu allen Zeiten gegeben, doch niemals zuvor hat eine nicht-staatliche und von Konzerninteressen unabhängige Organisation einen so großen Coup gelandet wie WikiLeaks.1 Ende 2006 gegründet, erlangte WikiLeaks im Jahr 2010 notorische Berühmtheit, und zwar über vier Stationen: Zuerst kam die Veröffentlichung eines aus einem US-Hubschrauber aufgenommenen Videos, das die Erschießung irakischer Zivilisten dokumentierte (Collateral Murder), dem folgten die Afghan War Logs (91.000 Dateien), später die Iraq War Logs (391.000 Dateien), und schließlich die Publikation von 250.000 US-amerikanischen Kabeldepeschen, die alles Vorhergehende in den Schatten stellte. Mit dem Cablegate-Posting verwandelten sich Millionen online gestellter Dokumente von einem quantitativen in ein qualitatives Leck. Es war das erste Mal, dass eine Netzaktivisten-Initiative Botschafter und Minister auf der ganzen Welt zum Rücktritt gezwungen hat. Als WikiLeaks im April 2010 im Mainstream ankam und sich zunehmender medialer Aufmerksamkeit erfreute, war diese Entwicklung noch nicht absehbar. Sein Netzwerk, das aus einer kleinen Kerngruppe und ein paar Dutzend locker 1 | Dies ist eine überarbeitete und erweiterte Version der »Zehn Thesen über WikiLeaks«, die gemeinsam mit Patrice Riemens verfasst und ursprünglich auf der NettimeMailingliste und dem INC-Blog am 30. August 2010 veröffentlicht wurden (http://www. nettime.org/Lists-Archives/nettime-l-1008/msg00037.html). Die Thesen wurden Anfang Dezember 2010, als Cablegate gerade im vollen Gange war, nochmals aktualisiert und erzielten mit Übersetzungen in niederländisch, deutsch, französisch, italienisch und spanisch als »12 Thesen« weite Verbreitung. Auf deutsch erschienen sie zunächst in der Frankfurter Rundschau am 6. Dezember 2010 (online: www.fr-online.de/debatte/ wikileaks-die-anarchie-der-transparenz,1473340,4900902.html) und um einige Passagen erweitert in der Anthologie Wikileaks und die Folgen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011.

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assoziierten Unterstützern bestand, besaß nicht einmal ein richtiges Büro. Gerade war eine größere Umstrukturierung überstanden, nachdem wegen drohenden Bankrotts zwischenzeitlich die Server vom Netz genommen werden mussten. Im Zuge dieser Wachstumsphase, oder sollten wir sagen Krise, wurde der »Wiki«-Aspekt aufgegeben, und WikiLeaks begann, sich um die Persönlichkeit seines Gründers, des australischen Hackers und Netzaktivisten Julian Assange, herum zu zentralisieren. Dieses Kapitel untersucht die Tragweite der in jenem Moment der Ruhe vor dem großen Mediensturm getroffenen Entscheidungen und argumentiert dafür, um auf einen Slogan der Anti-Globalisierungs-Bewegung zurückzugreifen, dass »ein anderes WikiLeaks möglich ist«. Nachdem ich zunächst auf die strategischen Aspekte eingehe, die für WikiLeaks spezifisch sind, werde ich weiterführend eine techno-materialistische Interpretation von Datenlecks in der späten Web-2.0-Ära zur Diskussion stellen.

D IE M ACHT DER WINZIGEN A K TEURE Die Enthüllungen von WikiLeaks hängen direkt mit der dramatischen Verbreitung der Informationstechnologie infolge fallender Kosten zusammen, die sich auf drei Elemente stützt: Prozessoren und Hardware, Bandbreite und – am wichtigsten – Speicherplatz.2 Man muss nicht dem Kult um Ray Kurzweil zugehören (»Singularität ist nah«) oder an die konservative Agenda von George Gilder glauben, um die Bedeutung ewig steigender Halbleitergeschwindigkeit, billiger Bandbreite und der verblüffenden Speicherkapazitäten kleiner Laufwerke und USB-Sticks zu begreifen, die ständig billiger werden.3 Ebenfalls zu WikiLeaks’ Erfolg beigetragen hat der Umstand, dass es in einem Zeitalter sofortiger Reproduzierbarkeit und Verbreitung immer schwieriger geworden ist, staatliche und firmeneigene Geheimnisse (von den privaten einmal ganz zu schweigen) vor unbefugtem Zugriff zu schützen. Dabei geht es nicht nur um die Sicherung geheimer Botschaftsdokumente, die offenbar schwer zu bewerkstelligen ist; ein überwältigender Anteil des nach außen gedrungenen Materials sind eher Rohdaten, chaotische Sammlungen von Ordnern in zahllosen Versionen, verlorene E-Mails, heruntergeladene PDFs, Excel Sheets und Power-Point-lose Präsentationen. Ein neuer Forschungszweig, der sich E-Discovery oder digitale Forensik nennt, hat sich bereits darauf speziali2 | Ein geschichtlicher Überblick über die Kostenentwicklung von Festplattenspeicherplatz findet sich hier: http://ns1758.ca/winch/winchest.html (mit Dank für den Hinweis an Henry Warwick) 3 | In den USA kosten USB-Sticks mit 4 GB zwischen 4,50 und 11 Dollar; 16-GB-Sticks kosten rund 20 Dollar, während USB-Sticks mit 32 GB bei 40-50 Dollar liegen (Stand Anfang 2011).

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siert, digitales Beweismaterial zu retten, öffnen und zu klassifizieren.4 WikiLeaks ist ein Symbol für diese Transformation der »Informationsgesellschaft« im Ganzen, ein Spiegel der kommenden Entwicklungen. Während man es einerseits als ein (politisches) Projekt betrachten und seine Vorgehensweisen kritisieren kann, lässt es sich andererseits auch als Pilotphase einer Entwicklung zu einer sehr viel breiteren Kultur der anarchischen Enthüllung sehen, die die traditionelle Politik der Offenheit und Transparenz hinter sich lässt. Ob nun zum Besseren oder Schlechteren: WikiLeaks hat sich selbst in die schwindelerregenden Höhen der internationalen Politik katapultiert. Wie aus dem Nichts tauchte die Internetplattform als ernstzunehmender Akteur nicht nur auf der Weltbühne auf, sondern spielt auch eine wichtige Rolle in einzelnen Staaten. Nur aufgrund seiner Enthüllungen gelang es WikiLeaks, so klein die »Organisation« auch sein mag, nunmehr als gewichtige politische Kraft in Erscheinung zu treten und Regierungen wie großen Konzernen auf Augenhöhe zu begegnen, jedenfalls im sensiblen Bereich des Sammelns und Veröffentlichens von Informationen. Dabei ist noch vollkommen unklar, ob wir es hierbei mit einem dauerhaften oder eher vorübergehenden Phänomen zu tun haben, mit einer konstanten politischen Größe oder einem bloßen Medienhype – WikiLeaks geht von ersterem aus und scheint damit recht zu haben. Wie auch immer, WikiLeaks, ein winziger, nicht-staatlicher und von Konzernen unabhängiger Akteur, glaubt tatsächlich, in derselben Gewichtsklasse zu kämpfen wie die US-Regierung – und verhält sich entsprechend. Man könnte dies vielleicht als die Talibanisierungsphase der postmodernen Theorie einer »flachen Welt« interpretieren, in der Größenordnung, Zeit und Ort zunehmend als irrelevant gelten. Was zählt, und bis zum Überdruss anödet, ist die Gier nach Berühmtheit und die intensive Verdichtung medialer Aufmerksamkeit. WikiLeaks hat es durch spektakuläres Informations-Hacking geschafft, diese Aufmerksamkeit zu erlangen, während andere Gruppen etwa aus dem Bereich der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte verzweifelt darum kämpfen, ihrer Botschaft Gehör zu verschaffen. Dank der Cablegate-Dokumente sind Themen, die jahrelang vor sich hin köchelten, wie zum Beispiel die Rolle von Shell in Hinblick auf Menschenrechte und Umweltzerstörung in Nigeria, plötzlich in die Schlagzeilen gekommen. Während zivilgesellschaftliche Organisationen normalerweise nach den vorgegebenen Regeln spielen und auf die Anerkennung der Institutionen hoffen, verfolgt WikiLeaks eine populistische Strategie und nutzt die Unzufriedenheit mit der etablierten Politik aus. Es umgeht die Machtstrukturen der alten Welt und sucht seine politische Legitimität dort, wo sie in der heutigen Informationsgesellschaft vornehmlich hergestellt wird: in der ekstatischen Banalität des Spektakels. Auf geniale Weise nutzt WikiLeaks dabei die »Fluchtgeschwin4 | Siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Electronic_discovery

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digkeit« der Informationstechnologien – indem es sich dieser bedient, um sie zugleich hinter sich zu lassen und auf unsanfte Weise in die wirkliche Welt der Politik einzudringen. WikiLeaks’ politische Legitimität ist kein gnädiges Zugeständnis seitens der Mächtigen. In der fortlaufenden Sage mit dem Titel »Der Untergang des US-Imperiums« erscheint WikiLeaks als Mörder eines eher weichen Ziels. Es wäre schwer vorstellbar, in gleicher Weise gegen die russische, chinesische oder selbst die Regierung Singapurs vorzugehen – ganz abgesehen von ihren Geschäftspartnern in der Wirtschaft. In Russland oder China müssten, unabhängig von den rein machtpolitischen, überhaupt erst einmal riesige kulturelle und sprachliche Hürden überwunden werden. In diesem Sinne bleibt WikiLeaks gegenwärtig ein typisch westliches Produkt und kann für sich keineswegs universelle oder globale Geltung beanspruchen.

J ENSEITS DER K ANAL-/I NHALTSDEBAT TE Einer der Hauptgründe, warum es so schwierig ist, WikiLeaks zu definieren, liegt darin, dass für uns, aber auch die Leute bei WikiLeaks selbst, nicht klar ist, ob es sich hier um einen Anbieter bestimmter Inhalte oder eine Art neutralen Kanal für durchgesickerte Daten handelt – dem Anschein nach fällt die Entscheidung für die eine oder andere Variante je nach den gegebenen Umständen. Dies ist übrigens ein generelles Problem, seit die Medien massenhaft online gingen und das Publikations- und Kommunikationsgeschäft sich zunehmend von Produkten auf Dienste verlagerte. Julian Assange zuckt jedes Mal zusammen, wenn er wieder einmal als Chefredakteur von WikiLeaks dargestellt wird, andererseits behauptet WikiLeaks, sein Material vor der Veröffentlichung zu editieren und die Dokumente mit Hilfe hunderter Freiwilliger auf ihre Echtheit zu überprüfen. Die Debatte Inhalt versus Träger findet unter Medienaktivisten seit Jahrzehnten statt und hat bislang zu keinen klaren Ergebnissen geführt. Deshalb empfiehlt es sich vielleicht, statt zu versuchen, die Inkonsistenzen aufzulösen, neue Ansätze und kritische Konzepte für eine hybride Publikationspraxis zu entwickeln, in der Akteure mitwirken, die mit den professionellen Nachrichtenmedien kaum etwas zu tun haben. Hier mag auch der Grund liegen, weshalb Assange und seine Mitarbeiter es ablehnen, nach den alten Kategorien (wie Hacker oder Journalist) etikettiert zu werden, und viel lieber von einer neuen »Gestalt« auf der Weltinformationsbühne sprechen. Der stete Niedergang des investigativen Journalismus infolge schlechter Finanzierung ist eine unbestreitbare Tatsache. Journalismus ist heutzutage oft nicht viel mehr als ausgelagerte PR-Aufbereitung. Die zunehmende Beschleunigung und die Überfüllung unserer sogenannten Aufmerksamkeitsökonomie lassen keinen Platz mehr für komplizierte Geschichten. Die privatwirtschaft-

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lichen Eigentümer der etablierten Massenmedien sind immer weniger bereit, eine ausführliche Diskussion der Funktionsweise und Politik des neoliberalen globalen Wirtschaftssystems zuzulassen. Auch viele Journalisten selbst tragen den Wechsel von Information zu Infotainment mit, was die öffentliche Vermittlung komplexer Zusammenhänge zusätzlich erschwert. In diese Situation platzt WikiLeaks hinein – wie ein Außenseiter aus dem hitzigen Ambiente des neuen Bürgerjournalismus, der Do-it-yourself-Reportagen aus der Blogosphäre und noch schnellerer Sozialer Medien à la Twitter. Worauf WikiLeaks hinausläuft, ohne es bisher aber organisieren zu können, ist der Einsatz von Crowd Sourcing bei der Interpretation der durchgesickerten Dokumente. Seit Mitte 2010 wird diese Aufgabe von Journalisten einiger »Qualitätsmedien« übernommen, die eine Auswahl der Depeschen für geplante Veröffentlichungen genauer untersuchen. Möglicherweise werden später einige Wissenschaftler die Reste aufsammeln und die Geschichten außerhalb der geschlossenen Verlagstüren erzählen. Aber wo ist das vernetzte kritische Kommentariat? Sicher sind wir alle mit unseren kleinen Kritiken beschäftigt, aber es bleibt die Tatsache, dass WikiLeaks seine Fähigkeit, die Mächtigen zu beeindrucken, gerade aus seiner transversalen und symbiotischen Beziehung zu den etablierten Medieninstitutionen bezieht. Dies ist die Lektion für die Multitudes – verlasst das Ghetto und verbindet euch mit dem ödipalen Anderen. Darin liegt das Konfliktfeld des Politischen. Der traditionelle investigative Journalismus bestand einst aus drei Phasen: Tatsachen ermitteln, Tatsachen prüfen und Tatsachen in einen durchschaubaren Kontext einbetten. WikiLeaks tut das erste und beansprucht, auch noch das zweite zu tun, das dritte allerdings findet nicht statt. Dies ist symptomatisch für einen bestimmten Bereich der Open-Access-Ideologie, in dem die eigentliche Content-Produktion auf unbekannte Wesen »dort draußen« verlagert wird. Waren die Massen diesmal vielleicht weise genug, nach ihren ersten Erfahrungen mit der »komplexen« Persönlichkeit des Anführers zu verschwinden? Wikipedia zeigt, dass es möglich ist, mit tausenden (wenn nicht Millionen) Freiwilligen zu arbeiten, aber es benötigt Zeit und bringt auch Konflikte mit sich, eine »Kultur der Zusammenarbeit« zu entwickeln, die auf Vertrauen und wechselseitigem Verständnis basiert. Dieser Prozess schließt Strukturen der Entscheidungsfindung ein, die auf die Online-Arbeit abgestimmt sind, mit klarer Arbeitsaufteilung zwischen denen, die einfache Überarbeitungen vornehmen, redaktionellen Experten, die auf bestimmte Bereiche und Einträge spezialisiert sind, und Funktionären, die oft nur mit der jeweiligen landesweiten Organisation befasst sind. Aus detaillierten Nachrichtenberichten wissen wir, dass die Zusammenarbeit zwischen WikiLeaks und dem Guardian (aber auch der New York Times) ebenfalls nicht gerade reibungslos verlief. Abgesehen vom Zusammenprall der Persönlichkeiten der zentralen Akteure traten auch die inkompatiblen Werte-

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systeme zwischen der Hackerethik Assanges und den journalistischen Gepflogenheiten der Mainstream-Nachrichtenorganisationen zutage.5 Die Krise des investigativen Journalismus wird hier weder verstanden noch überhaupt bemerkt. Wie sich die Produzenten der Inhalte überhaupt materiell tragen sollen, bleibt im Dunkeln: Es wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die traditionellen Nachrichtenmedien deren Analysen und Interpretationen einfach übernehmen können. Aber gemeinschaftlich erstellte Analysen erfolgen nicht von alleine. Die Sage von den Afghan War Logs und Cablegate macht deutlich, dass WikiLeaks auf die etablierten traditionellen Medien zugehen und mit ihnen zusammenarbeiten muss, um die eigene Glaubwürdigkeit zu sichern. Auf der anderen Seite haben diese Medienkonzerne gezeigt, dass sie nicht in der Lage sind, das Material richtig zu verarbeiten, sondern die Dokumente unvermeidlich nach ihren redaktionellen Vorgaben filtern.

G ALIONSFIGURENPOLITIK WikiLeaks ist eine typische SPO (Single-Person Organisation) oder UPO (Unique-Personality Organisation). Initiative, Entscheidungsfindung und Ausführungsprozess sind weitgehend zentralisiert: Sie liegen in der Hand eines einzigen Individuums. Ähnlich wie in kleinen und mittelständischen Unternehmen kann ihr Gründer nicht abgewählt werden, und anders als in vielen Kollektiven gibt es keine Rotation auf der Führungsebene. Das ist nichts Ungewöhnliches für Organisationen, unabhängig davon, ob sie auf dem Gebiet der Politik, Kultur oder Zivilgesellschaft operieren. SPOs haben einen hohen Wiedererkennungswert, sind aufregend, inspirierend und medial leicht darstellbar. Ihre Nachhaltigkeit hängt aber stark von den Handlungen ihrer charismatischen Führungsfigur ab, und ihre Funktionsweise ist kaum mit demokratischen Werten in Einklang zu bringen. Deshalb sind sie auch schwer zu kopieren und wachsen nur langsam. Wie unabhängige Medienprojekte ihre internen Entscheidungsprozesse strukturieren, ist eine Frage des Stils und der persönlichen Wahl. Das Problem beginnt, wenn die Hierarchien nicht klar kommuniziert und intern akzeptiert sind. Der Hacker-Souverän Julian Assange ist die Galionsfigur der Plattform WikiLeaks, deren notorischer Ruf sich mit dem seinen mischt. So zerfließen die Grenzen zwischen dem, was WikiLeaks tut und für was es steht, und Assanges bewegtem Privatleben sowie seinen etwas ungehobelten politischen Meinungen. Die Erinnerungen, die der deutsche Hacker Daniel Domscheit-Berg, zwischen 2008 und 2010 WikiLeaks’ zweiter Mann und Sprecher, Anfang 2011 veröffentlichte, beschreiben peinlich genau, wie amateurhaft die »bürofreie Or5 | www.guardian.co.uk/media/2010/21/julian-assange-defends-decision-sweden

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ganisation« bis zum September 2010 operierte, als Assange Domscheit-Berg »feuerte«, obwohl er rechtlich gesehen gar nicht sein Chef war. Die Kollektive der selbstorganisierten Projekte in den achtziger Jahren, die auf der Basis von Konsens und Egalität arbeiteten, waren vielleicht schon damals überholt und ärgerlich, aber das Chaos innerhalb von WikiLeaks hinsichtlich Mangel an Transparenz (selbst für die eigenen Mitglieder!), unklarer Finanzlage und eklatantem Demokratiedefizit ist noch mal ein anderes Extrem – so sehr, dass Domscheit-Berg den paranoiden, von Verfolgungswahn beherrschten Gründer beschuldigte, »sein« WikiLeaks wie einen Kult zu betreiben. Der antwortete: »Do not challenge leadership in times of crisis.«6 Domscheit-Berg gefiel es zudem nicht, als »Asset« bezeichnet zu werden. Als Assange Domscheit-Berg hinauswarf, beschuldigte er ihn der Illoyalität, Gehorsamsverweigerung und Destabilisierung: Begriffe aus der Militärsprache, die man benutzt, wenn man über Verräter spricht. Assange drohte damit, kompromittierendes Material über Domscheit-Berg zu veröffentlichen und schrieb in einem Chat: »If you threaten this organization again, you will be attended to. You are a criminal. [...] Our duties are bigger than this idiocy.«7 Und zu guter Letzt: »I’m running out of options that don’t destroy people.«8 Statt seine eigene Organisation, OpenLeaks, zu gründen, hätte Domscheit-Berg vielleicht ernsthaft die Möglichkeit ins Auge fassen sollen, WikiLeaks zu »gabeln«, d.h. das ganze Projekt per Copy & Paste einmal zu kopieren und anschließend getrennte Wege zu gehen, wie es laut Domscheit-Bergs Buch ein anderes WikiLeaks-Kernmitglied, genannt »der Architekt«, vorschlug.

D AS POST - REPR ÄSENTATIVE N E T Z WERK WikiLeaks wirft die Frage auf, was Hacker mit Geheimdiensten gemeinsam haben, denn eine punktuelle Affinität zwischen beiden ist unübersehbar. Ihre Hassliebe reicht zurück bis zu den frühen Anfängen des Informationszeitalters. Man braucht kein Anhänger des deutschen Medientheoretikers Friedrich Kittler oder irgendwelcher Verschwörungstheorien zu sein, um zu erkennen, dass Computer ein Geschöpf der Militärindustrie sind. Von Alan Turing, der Enigmaverschlüsselte Funksprüche der Nazis entzifferte, und der Rolle, die Computer bei der Erfindung der Atombombe spielten, über die Kybernetik-Bewegung bis 6 | Die Bemerkung fiel im Zusammenhang mit der Gruppe Anonymous, ihren Aktionen gegen die Scientology-Kirche und dem Material, das WikiLeaks von dieser Sekte veröffentlichte. Siehe: Daniel Domscheit-Berg, Inside WikiLeaks, Meine Zeit bei der gefährlichsten Webseite der Welt, Berlin: Econ Verlag, 2011, S. 202. 7 | Ebd., S. 239. 8 | Ebd., S. 253.

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hin zur Beteiligung des Pentagons an der Entwicklung des Internets, in allen Fällen ist die Wechselbeziehung zwischen Rechnerinformation und militärischindustriellem Komplex wohlbekannt. Informatiker und Programmierer haben die Informationsrevolution und eine Kultur der Offenheit geformt. Doch zugleich haben sie Codes (»Crypto«) entwickelt, die Nichteingeweihten den Datenzugriff verwehren. Was manche als »Bürgerjournalismus« sehen, bezeichnen andere als »Infokrieg«. WikiLeaks ist auch stark beeinflusst von der Hackerkultur der achtziger Jahre und den politischen Werten des in den Neunzigern aufkommenden Technolibertarismus. Dass WikiLeaks von Hardcore-Nerds gegründet wurde und auch heute noch größtenteils von ihnen betrieben wird, ist wichtig, um ihre Werte und Aktionen zu verstehen. Dazu kommt bedauerlicherweise eine kräftige Dosis der weniger appetitlichen Aspekte der Hackerkultur. Ein Weltverbesserungs-Idealismus ist bei WikiLeaks nicht von der Hand zu weisen, ganz im Gegenteil. Aber diese Sorte Idealismus (wenn man möchte auch: Anarchismus) ist gepaart mit einem Hang zu Verschwörungen, einer elitären Attitüde und einem Kult der Geheimhaltung (der an Herablassung grenzt). All dies ist der Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten wenig dienlich, sie werden auf die Rolle von Konsumenten des WikiLeaks-Outputs reduziert. Der missionarische Eifer, die verblödeten Massen aufzuklären und die Lügen von Regierungen, Militär und Konzernen »bloßzustellen«, erinnert dabei an das wohlbekannte (oder berüchtigte) Medienkultur-Muster der fünfziger Jahre. Der Mangel an Gemeinsamkeiten mit kongenialen »Eine andere Welt ist möglich«-Bewegungen treibt WikiLeaks dazu, mit zunehmend spektakulären – und immer riskanteren – Enthüllungen nach öffentlicher Aufmerksamkeit zu streben. Auf diese Weise schart die Organisation einen Kreis oft hochenthusiastischer, aber meist passiver Unterstützer um sich. Assange selbst hat gesagt, dass WikiLeaks sich entschieden von der »egozentrischen« Blogosphäre und den Sozialen Medien entfernt hat und mittlerweile nur noch mit professionellen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten zusammenarbeitet. Trotzdem, verfolgt man die Art und die Anzahl der WikiLeaks-Enthüllungen, von ihren Anfängen bis zum heutigen Tag, so fühlt man sich auf gespenstische Weise an ein Feuerwerk erinnert – mit dem großen Finale in Gestalt der sogenannten »Weltuntergangsmaschine«: dem noch unveröffentlichten »Lebensversicherungs«-Dokument (bekannt als »insurance.aes256«). Das wirft ernsthafte Zweifel an der Zukunftsfähigkeit von WikiLeaks auf, möglicherweise auch an seinem Modell als solchem. WikiLeaks operiert mit einer lächerlich kleinen Anzahl an Mitarbeitern – im Kern handelt es sich wahrscheinlich um weniger als ein Dutzend. Während Umfang und Sachverstand von WikiLeaks’ technischem Service schon durch seine schiere Existenz belegt wird, ist die Behauptung, mit einigen hundert ehrenamtlichen Analysten und Experten zu arbeiten, nicht zu verifizieren und, ehrlich gesagt, auch kaum glaubhaft. Hier liegt WikiLeaks’

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Achillesferse – nicht nur im Hinblick auf Risiko oder Nachhaltigkeit, sondern auch politisch gesehen. WikiLeaks’ interne Organisationsstrukturen sind erstaunlich intransparent. Mit Aussagen à la »WikiLeaks muss gänzlich undurchsichtig sein, um andere zu völliger Transparenz zu zwingen« lässt sich das nicht begründen. Macht das, und ihr bezwingt zwar den Gegner, seid am Ende aber auch nicht mehr von ihm zu unterscheiden. Sich hinterher moralisch im Recht zu fühlen, hilft da nicht wirklich weiter – Tony Blair hat sich in dieser Übung ebenfalls hervorgetan. Da WikiLeaks weder ein politisches Kollektiv ist noch eine Nichtregierungsorganisation im juristischen Sinne, eine Firma oder Teil einer sozialen Bewegung, müssen wir darüber nachdenken, mit was für einer Art von Organisation wir es hier denn wirklich zu tun haben. Ist WikiLeaks ein virtuelles Projekt? Immerhin existiert es in Form einer (gehosteten) Website mit einer Domain, das ist schon mal etwas. Aber hat WikiLeaks ein Ziel, das über die persönlichen Ambitionen seines(r) Gründer(s) hinausreicht? Ist WikiLeaks reproduzierbar? Werden wir die Entstehung nationaler oder lokaler Gruppen erleben, die den Namen beibehalten? Nach welchen Spielregeln werden sie operieren? Oder sollten wir WikiLeaks lieber als Konzept sehen, das sich von Kontext zu Kontext bewegt und sich dabei wie ein Mem in Zeit und Raum verwandelt? Organisiert sich WikiLeaks möglicherweise entlang einer eigenen Version des Internet-Engineering-Task-Force-Slogans »We believe in rough consensus and running code«? Projekte wie Wikipedia und Indymedia haben dieses Problem jeweils auf ihre Weise gelöst, aber nicht ohne Krisen, Konflikte und Spaltungen. Die Erfahrungen, die globale NGOs wie Greenpace, Amnesty International und George Soros’ Open Society Foundation mit ihren nationalen Ablegern machten, waren eher ernüchternd. Selbst Bottom-Up-Organisationen ohne zentrale globale Marke pflegen die internationale Zusammenarbeit. Diese Kritik ist nicht darauf gerichtet, WikiLeaks in ein traditionelles Format zu zwingen; im Gegenteil, sie will eruieren, inwieweit WikiLeaks (und seine künftigen Klone, Partner, Avatare und kongenialen Familienmitglieder) als Modell für neue Formen der Organisation und Zusammenarbeit dienen kann. Im Moment ist WikiLeaks alles andere als ein »Organisiertes Netzwerk«. Vielleicht haben sie schon längst eigene Ideen entwickelt, in welche Richtung es weitergehen soll – doch wo sind sie? Bislang jedenfalls sehen wir noch keine wirklichen Antworten, und es bleibt anderen überlassen, Fragen zu stellen, zum Beispiel über die Legalität von WikiLeaks’ Finanzierungsmodell (siehe die Headline des Wall Street Journals vom 23. August 2010: »WikiLeaks hält Finanzierung unter Verschluss.«) Wir dürfen vor der Herausforderung, mit post-repräsentativen Netzwerken zu experimentieren, nicht davonlaufen. Wie der Ur-Blogger Dave Winer einst über die Apple-Entwickler gesagt hat:

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»Es ist nicht so, dass sie schlechte Absichten hätten, sie sind bloß schlecht vorbereitet. Mehr noch als ihre Nutzer leben sie in einer realitätsverzerrten Welt, und die Leute, die den Computer für alle Übrigen entwickeln, haben keine Ahnung, wer alle Übrigen überhaupt sind und was sie tun. Aber das geht in Ordnung, es gibt eine Lösung. Recherchieren Sie, stellen Sie ein paar Fragen und hören Sie zu.« 9

D AS NEUE W HISTLEBLOWER -PAR ADIGMA Die weitverbreitete Kritik an Julian Assanges von ihm selbst ins Leben gerufenem Personenkult fordert dazu heraus, auch Alternativen zu formulieren. Wäre es nicht besser, WikiLeaks als anonymes Kollektiv oder als Organisiertes Netzwerk zu betreiben, ein Konzept, das im vorherigen Kapitel erörtert wurde und nach seiner Beta-Phase nun in die Wirklichkeit zu treten beginnt? Manche wünschen sich, dass es eine ganze Reihe von Websites geben möge, die dasselbe machten wie Wikileaks. Die Gruppe um Daniel Domscheit-Berg weiß nach den früheren Erfahrungen, »dass sie nicht gut skaliert haben«.10 Leicht übersehen wird beim Ruf nach einer Ausbreitung von WikiLeaks-Projekten allerdings, wie viel Expertenwissen nötig ist, um eine »Leak«-Site zu betreiben, die Whistleblowern die nötige Sicherheit garantiert. Wir brauchen einen ABC-Baukasten mit sicherer Software für die Weitergabe brisanter Dokumente. Und wer weiß, vielleicht wird WikiLeaks im Rückblick, wenn sich der aufgewirbelte Staub in den Medien und den Gerichten wieder gelegt hat, ja zum Prototyp einer ganz neuen Familie von Whistleblower-Software. Es ist vielleicht paradox, aber diese Art, Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen, hat viel mit Geheimhaltung zu tun. Wäre es realistisch, die Idee zu propagieren, dass gewöhnliche Internetnutzer das OpenLeaks-Softwarepaket herunterladen und einfach loslegen können? WikiLeaks ist keine Plug-andplay-Blog-Anwendung wie Wordpress, und das Wort »Wiki« in seinem Namen ist irreführend. Im Kontrast zur Philosophie der Kollaboration bei Wikipedia wurde WikiLeaks zu einer geschlossenen Gesellschaft, die nur wenige Akteure umfasste. Die tausenden Freiwilligen, von denen die Organisation 2009 und 2010 sprach, waren illusorisch, und der Schritt, mit dem Guardian und anderen Zeitungen zusammenzuarbeiten, war aufgrund des fehlenden Netzwerks befreundeter Editoren und Rechercheure einfach notwendig geworden.11 Man 9 | Dave Winer, Scripting News, 3. September 2010, http://scripting.com/stories/ 2010/09/03/appleIsGreen.html 10 | Zitiert aus dem Einführungsvideo auf der Homepage von OpenLeaks, 10. Januar 2010: www. OpenLeaks.org/ 11 | In WikiLeaks, Inside Julian Assange’s War on Secrecy der Guardian-Journalisten David Leigh und Luke Harding (New York: PublicAffairs, 2011) finden wir eine – mög-

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muss eingestehen, dass das nötige Know-how, um ein Projekt wie WikiLeaks zu betreiben, eher einer Geheimwissenschaft gleicht. Die Dokumente müssen nicht nur anonym entgegengenommen werden können, sondern auch weiter anonymisiert bleiben, bevor sie online gestellt werden können. Sie müssen auch zuerst editiert werden, bevor man sie an die Server internationaler Nachrichtenorganisationen oder anderer zuverlässiger Parteien wie NGOs oder Gewerkschaften weiterleiten kann. Es ist fraglich, ob sich solche sensiblen Aufgaben an die Massen auslagern lassen. Was WikiLeaks uns in dieser Hinsicht verrät, ist, wie man kollektive redaktionelle Abläufe nicht organisieren soll. WikiLeaks hat über die Jahre viel Vertrauen aufgebaut, und Neueinsteiger müssen genau denselben langwierigen Prozess absolvieren. Das Prinzip der »Leaks« liegt nicht im Hacken (von staatlichen oder privatwirtschaftlichen Netzwerken), sondern darin, Insidern aus großen Organisationen zu ermöglichen, sensible und geheime Daten zu kopieren und an die Öffentlichkeit weiterzuleiten, ohne ihre Anonymität zu verlieren. Wenn man also einen Leak-Node einrichten will, sollte man sich mit Prozessen wie OPSEC (»operations security«) vertraut machen, einem Schritt-für-Schritt-Verfahren, das laut Wikipedia »kritische Informationen identifiziert, um zu bestimmen, ob befreundete Aktionen von gegnerischen Nachrichtensystemen verfolgt werden können, feststellt, ob Informationen, die in deren Besitz gelangen, für sie von Nutzen sind, und dann ausgewählte Schritte durchführt, die die mögliche Auswertung befreundeter kritischer Informationen durch den Gegner einschränken oder ganz unterbinden.«12 Der Leitspruch von WikiLeaks lautet: »Mut ist ansteckend.« Aus Sicht von Experten brauchen Leute, die einen Dienst wie WikiLeaks betreiben wollen, Nerven aus Stahl. Bevor wir also nach einem, zehn, vielen WikiLeaks im Netz rufen, sollten wir uns klarmachen, welche Risiken die Beteiligten eingehen. Schutz der Whistleblower ist das oberste Gebot. Ein anderer Aspekt ist der Schutz der Leute, die in den Dokumenten erwähnt werden. Die Afghan War licherweise auch nicht ganz korrekte – Darstellung, wie Assange Anfang 2010 seine Haltung zum kollaborativen Wiki-Aspekt des Projekts geändert haben soll. »Assange hatte inzwischen zu seinem Ärger festgestellt, dass sich die Welt durch das Posten großer Mengen roher und ungeordneter Dokumente auf einer Website nicht verändern ließ. Er grübelte über den Fehlschlag seiner ursprünglichen Crowd-Sourcing-Vorstellungen nach. ›Unsere Ausgangsidee war »Guck dir die ganzen Leute an, die bei der redaktionellen Arbeit von Wikipedia beteiligt sind. Und guck dir den ganzen Müll an, den sie bearbeiten müssen « [...] sicher wollen die alle einen Schritt weiter gehen, wenn sie frisches Quellenmaterial bekommen, und aktiv werden.‹ Nein, das ist Unsinn. In Wirklichkeit schreiben die Leute über irgendwelche Sachen, weil sie gegenüber ihren Peers ihre Werte zur Schau stellen wollen. Das Material selbst ist ihnen im Grunde scheißegal.« (S. 61) 12 | http://en.wikipedia.org/wiki/Operations_security

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Logs zeigten, dass auch die Leaks selbst Kollateralschäden verursachen können. Editieren (und Weglassen) sind entscheidend – also nicht nur OPSEC, sondern auch OPETHIC! Wenn solche Veröffentlichungen nicht auf eine für alle Beteiligten absolut sichere Weise abgewickelt werden, besteht die Gefahr, dass die »journalistische Revolution« und die Politik, die von WikiLeaks losgetreten wurde, ein jähes Ende findet. Wir glauben nicht, dass es darum geht, sich für oder gegen WikiLeaks auszusprechen. Das WikiLeaks-Prinzip wird so lange bleiben, bis es sich entweder selbst versenkt oder von seinen Gegnern zerstört wird. Unser Interesse liegt eher darin, zu ermitteln und abzuschätzen, was WikiLeaks tun kann, könnte und vielleicht sogar sollte, und dabei herauszufinden, wie »wir« uns in Beziehung setzen und in Interaktion dazu treten könnten. Allen seinen Schwächen und Widrigkeiten zum Trotz hat WikiLeaks den Werten der Transparenz, Demokratie und Offenheit einen wirksamen Dienst erwiesen. Die quantitative – und, wie es aussieht, bald qualitative – Wende der Informationsüberflutung ist ein Bestandteil unserer Gegenwart. Und wir müssen die Systematisierung und Interpretation dieses Daten-Himalayas als kollektive Herausforderung begreifen, ob wir sie nun WikiLeaks nennen oder anders. Insgesamt betrachtet geht es hier um eine Verlagerung vom Hacken auf das Informations-»Leaking«, was ebenso mit einer Demokratisierung der IT-Tools über den Kreis der Nerds und Hacker hinaus wie mit wachsenden Legitimierungsproblemen angesichts von Finanzskandalen, Wirtschaftskrise und zunehmenden sozialen Unterschieden zu tun hat. Entrechtete Individuen, die spüren, dass sie nichts mehr zu verlieren haben, werden ihre Angst überwinden und die geheime Kommunikation der Machtapparate enthüllen. Plattformen kommen und gehen, aber was von der WikiLeaks-Sage bleibt, egal wie banal das Innenleben aussieht, ist die eigentliche Idee des Leakings. Werden die Leaks sich zu Kaskaden entwickeln?

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Sebastian Dullien, Hansjörg Herr, Christian Kellermann Der gute Kapitalismus ... und was sich dafür nach der Krise ändern müsste 2009, 248 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1346-9

Kai Hafez Heiliger Krieg und Demokratie Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich 2009, 282 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1256-1

Felix Hasler Neuromythologie Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung Oktober 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1580-7

Thomas Hecken 1968 Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik 2008, 182 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-741-7

Harald Lemke Politik des Essens Wovon die Welt von morgen lebt September 2012, 344 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1845-7

Werner Rügemer »Heuschrecken« im öffentlichen Raum Public Private Partnership – Anatomie eines globalen Finanzinstruments 2011, 204 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1741-2

Werner Rügemer Rating-Agenturen Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart April 2012, 200 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1977-5

Oliver Scheytt Kulturstaat Deutschland Plädoyer für eine aktivierende Kulturpolitik 2008, 310 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-400-3

Natan Sznaider Gedächtnisraum Europa Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive 2008, 156 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN 978-3-89942-692-2

Thomas Hecken Das Versagen der Intellektuellen Eine Verteidigung des Konsums gegen seine deutschen Verächter

Franz Walter Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration

2010, 250 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1495-4

2009, 136 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-8376-1141-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

polarkreis e.V. polar 13: Aufstand Vorher – Nachher 2012. Ca. 190 Seiten, kartoniert Einzelpreis € 14,– Abonnement € 12,– ISBN 978-3-593-39765-8

Ein neues globales ’68? In vielen Regionen der Welt nehmen die Jungen das Heft in die Hand, um Diktaturen zu stürzen oder Reformen zu erzwingen. Im »arabischen Frühling« wurden Regime mit Mut und Kreativität zu Fall gebracht. Aber auch in anderen Regionen und Ländern stehen die Menschen auf. In den wohlhabenden Gesellschaften des Westens wächst unter dem Druck der Wirtschafts- und Finanzkrise der Widerstand, verbunden mit der Forderung nach mehr demokratischer Beteiligung. Ein Heft über den neuen Protest, seine Gründe und seine Ziele, über Aufstände und Zwergenaufstände, Engagement und Enttäuschung, Parteien und Parteinahme, über Negation, Alternativen und die Zukunft unserer Demokratie.

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