Verlorene Illusionen: Eine Geschichte des deutschen Nationalismus
 9783412215323, 9783412208547

Citation preview

Jost Hermand

Verlorene Illusionen Eine Geschichte des deutschen Nationalismus

2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Germania von Philipp Veit, 1848. © Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Inv. Nr. Gm 608.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Peter Frommann Druck und Bindung: Finidr s.r.o., CZ-Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20854-7

Inhalt

7 Vorwort 18

Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

38

Nationalbetonter Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus im Zeitalter der bürgerlichen Aufklärung

61

Auswirkungen der Französischen Revolution

73

Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

100 Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik 118 Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848 133 Das Paulskirchenparlament 145 Die Nachmärz-Ära 161 Bismarcks Reichsnation 183 Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten

Kaiserreich

206 Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918 222 Die Weimarer Republik 251 Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten 268 Deutschbetonte Engagementsformen im Exil Inhalt  5

279 Die unmittelbare Nachkriegszeit 302 Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere

Deutschland“ zu sein

320 Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und

Staatsbürgernation

339 Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990 369 Auswahlbibliographie 379 Namenregister 390 Bildnachweise

6  Inhalt

Vorwort

I Was einmal den Bürgern vieler Staaten seit dem späten 18. Jahrhundert als das Höchste erschien, nämlich der Stolz auf die eigene „Nation“, hat in den meisten hochindustrialisierten Ländern der Welt im Laufe der letzten Jahrzehnte eine merkliche Bedeutungsverschlechterung erfahren. Daran sind nicht nur die Übersteigerungen des nationalen Prinzips ins Chauvinistische oder gar Faschistische schuld, welche sich in den letzten 150 Jahren abgespielt haben, sondern auch all jene Enthistorisierungs- und Entgesellschaftungsprozesse, durch die in vielen Ländern, in denen ein hoher Lebensstandard herrscht, eine Staatsvorstellung entstanden ist, die immer beiläufiger wirkt. Nicht mehr das Wohl Aller steht heute in solchen Ländern im Vordergrund, sondern eher das subjektorientierte Wohlbefinden des Einzelnen, dem es vornehmlich um individuelle Selbstrealisierungs- oder Erfolgserlebnisse geht. Immer mehr Menschen in der sogenannten Ersten Welt haben demzufolge eine tiefgehende Abneigung gegen alles Staatliche entwickelt, das sie als Einschränkung ihres persönlichen Wirkungsdranges empfinden. Selbst Wahlen oder parlamentarische Repräsentationsformen bedeuten ihnen bei weitem nicht mehr das, was sie noch vor 40 oder 50 Jahren damit verbanden. Demzufolge sind Begriffe wie „Staat“, „Volk“ oder „Nation“ für viele Bewohner und Bewohnerinnen derartiger Länder weitgehend zu Unwörtern geworden, die sie häufig nur noch mit einem ironisierenden Beiklang verwenden. Als Ablehnung irgendwelcher totalitaristischen Staatsvorstellungen wirkt diese Entwicklung durchaus positiv, ist aber heute zum Teil so eindimensional geworden, daß sie im Zuge des herrschenden Neoliberalismus häufig ins andere Extrem, nämlich einen sich ins Privatisierende zurückziehenden Egoismus umzuschlagen droht. Schließlich hat dieser Veränderungsschub nicht nur dazu beigetragen, viele der bisher chauvinistisch eingefärbten Feindbilder abzubauen, sondern zugleich einem rücksichtslosen Finanzmarktkapitalismus den Weg zu ebnen, bei dem Vorwort  7

im Zeichen internationaler Konzernverflechtungen fast nur noch die „Freiheit“ der finanziell Bessergestellten im Vordergrund steht, während die beiden anderen Komponenten des älteren Nationalliberalismus, nämlich „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“, mehr und mehr zu verschwinden drohen. Die Folgen dieser Entwicklung sind allen politisch einsichtsvollen Menschen bekannt. Im Hinblick auf den weiterhin ausbleibenden Mangel an „Gleichheit“, der auch durch den vielstrapazierten Begriff „Demokratie“, eigentlich „Volksherrschaft“, nicht übertüncht werden kann, hat dieser Gang der Ereignisse zu einer immer größeren Aufspaltung der Bevölkerung derartiger Staaten in eine kleine, aber höchst einflußreiche Schicht von Großverdienern, eine relativ breite Mittelschicht und eine nicht ab-, sondern eher zunehmende Klasse von Verarmten und Arbeitslosen geführt. Demzufolge ist in all diesen Ländern aufgrund der nicht verwirklichten „Brüderlichkeit“ oder besser „Mitmenschlichkeit“ eine in viele Segmente aufgespaltene Gesellschaft ohne irgendwelche Zusammen- oder Zugehörigkeitsgefühle entstanden, die lediglich ein ökonomisches Rahmengebilde darstellt, in dem es kaum noch irgendwelche sozialen, kulturellen oder geschichtsbewußten Wertvorstellungen gibt. Ludwig Erhard, der von den heutigen Neoliberalen noch immer vielgerühmte „Mr. Wirtschaftswunder“, hat dementsprechend schon 1955 in Westdeutschland erklärt, daß man innerhalb solcher Staaten keine Ideologien mehr benötige, sondern lediglich „dem ungehemmten Bereicherungsdrang des Einzelnen so wenige Schranken wie nur möglich entgegensetzen solle“. Wie stark diese Einstellung in der ehemaligen Bundesrepublik durch die ideologischen Konstellationen des Kalten Kriegs zwischen 1947 und 1989 mitbestimmt wurde, läßt sich wohl kaum leugnen. Solange der „Westen“ im „östlichen“ Kommunismus seinen politischen Hauptgegner sah, glaubte er sich völlig berechtigt, seine gesamte psychologische Kriegsführung auf die Propagierung der „Freiheit“ zu konzentrieren und irgendwelche Forderungen nach „Gleichheit“ oder „Brüderlichkeit“, die jenseits des „Eisernen Vorhangs“ zu zentralen Werten aufgestiegen seien, als totalitaristisch zu verwerfen. Doch diese Zeiten dürften jetzt endgültig vorbei sein. Nach dem Zusammenbruch des sogenannten Ostblocks sollten sich auch die hochindustrialisierten Länder der sich angeblich globalisierenden Welt wieder auf jene bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreichenden „demokratischen“ Traditionen besinnen und neben 8  Vorwort

der vielbeschworenen Freiheit auch die Postulate einer größeren Gleichheit und nationalen Verbrüderung nicht vergessen. Denn ohne eine verstärkte Gleichheit und Brüderlichkeit ist auch die vielgerühmte Freiheit relativ wertlos, wie uns die Geschichte der letzten 200 Jahre deutlich genug bewiesen hat. Nur so ließe sich den fatalen Auswirkungen einer ungehemmten ökonomischen Verfreiheitlichung mit einer Gesinnung entgegentreten, die nicht nur eine verantwortungslose Selbstsucht, sondern auch altruistische Impulse befördern würde, welche der Wohlfahrt aller Menschen eines bestimmten Staates zugute kämen. Und in diesem Zusammenhang sollte auch die Möglichkeit eines sozial gerechtfertigten Nationalismus neu bedacht werden, statt sich lediglich über seine ungerechtfertigten Auswüchse in der Vergangenheit zu erregen. Schließlich brauchte ein staatliches Zusammengehörigkeitsgefühl nicht von vornherein verdammenswert zu sein. Zugegeben, es bringt auch einige persönliche Einschränkungen mit sich, aber es könnte zugleich eine mitmenschliche Besorgtheit, ein verstärktes Gerechtigkeitsgefühl sowie ein auf gesamtgesellschaftlichen Vorstellungen beruhendes ökologisches Verantwortungsbewußtsein bewirken. Schließlich sind all dies Wertvorstellungen, die im Zuge der entnationalisierenden Globalisierungstendenzen der letzten 20 Jahre zwangsläufig in Gefahr geraten sind, von neoliberalistischen Slogans wie „Hauptsache ich“ oder „Nach mir die Sintflut“ verdrängt zu werden.

II Doch genug der „goldenen Worte“. Gehen wir endlich auf die in diesem Buch behandelten Problemkomplexe ein und fragen wir uns, wie kam es eigentlich zu dieser Entwicklung und wie wirkte sich diese im Hinblick auf jenes Land aus, das sich nach der Katastrophe des Nazifaschismus und der darauffolgenden Spaltung in zwei voneinander unabhängige Staaten seit rund 20 Jahren wieder „Deutschland“ nennen kann. Beginnen wir dabei mit einem kurzen historischen Rückblick. Welch eine wechselvolle Geschichte liegt diesem politischen Gebilde zugrunde, das man oft mit dem Diktum „Bewundert viel und viel gescholten schwankte sein Bild durch die Jahrhunderte“ umschrieben hat. Ob nun als Sacrum Imperium, als Heiliges Römisches Reich, als Land der proteVorwort   9

stantisch-katholischen Glaubensspaltung, als ein lange Zeit in Hunderte kleinerer und größerer Territorien zersplittertes Monstrum, als Land der höchsten Kultur, als Land der Romantik und der idealistischen Philosophie, als einflußreiche Wissenschaftsmacht, als Land des Weihnachtsmanns und des schlafmützigen deutschen Michels, als Ursprungsland des Marxismus, als waffenstrotzende Germania des Zweiten Kaiserreichs, als Weimarer Republik, als nazifaschistischer Führerstaat, als Land der Judenmörder, als „bleiche Mutter, besudelt vom Blut ihrer Söhne“, als zweigeteiltes Land des Kalten Kriegs, als Experimentierfeld des Sozialismus, als amerikanisiertes Wirtschaftswunderland, als demokratische Staatsbürgernation, als sogenannte Zivilgesellschaft und schließlich als exportbeflissener Industriestaat: immer wieder hat dieses Land bei seinen Nachbarn, wenn nicht in der ganzen Welt, sowohl Bewunderung als auch Neid und Abscheu hervorgerufen. Schon diese wenigen Stichworte mögen genügen, um all jene Bemühungen, im Hinblick auf „die Deutschen“ von einer besonderen, nur auf sie zutreffenden nationalen Identität zu sprechen, von vornherein ad absurdum zu führen. „Deutschland“ bzw. „die Deutschen“ hat es nie gegeben. Was es gegeben hat, ist lediglich eine höchst wechselvolle Abfolge bestimmter Klassensysteme und Staatsvorstellungen, die im Laufe der Geschichte dieses Landes einer Fülle tiefeingreifender Wandlungen unterworfen waren. Was als Sacrum Imperium Romanorum im 10. Jahrhundert begann, war keineswegs das gleiche, was sich seit 1495 als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation verstand. Aus einem vom Papst sanktionierten Lehensstaat größerer Stammesverbände war inzwischen ein in unzählige Territorien aufgespaltenes Gebilde geworden, in dem neben dem Kaiser nicht nur die Herzöge, Bischöfe, Grafen und Reichsritter, sondern – im Zuge des Humanismus und des Frühkapitalismus – auch die Bürger innerhalb der vielen freien Reichsstädte eine immer größere Rolle zu spielen begannen. Durch die lutherische Reformation setzte danach eine konfessionelle Spaltung ein, die zu einer erheblichen Schwächung der kaiserlichen Oberhoheit und des mit ihr verbundenen Reichspatriotismus führte. Das Ergebnis dieser Entwicklung war der Dreißigjährige Krieg, nach dem es im Jahr 1648 – aufgrund der Friedensverträge von Münster und Osnabrück – zu einer weiteren Einschränkung der kaiserlichen Gewalt und einer Stärkung der ohnehin schon halbautonomen Territorialherrscher kam. All das führte dazu, 10  Vorwort

daß jede Dynastie jetzt in ihrem Land so schalten und walten konnte, wie es ihr beliebte, was lange Zeit von ihren Gegnern als fürstliche Willkürherrschaft charakterisiert wurde. Vom Heiligen Römischen Reich oder gar einer deutschen Nation war danach kaum noch die Rede. Dieser Zustand nahm zwar im 18. Jahrhundert im Zuge eines reformbetonten Rationalismus allmählich die Form eines benevolenten Absolutismus an, hielt aber sonst an den einzelstaatlichen Herrschaftsrechten fest. Die bürgerliche Aufklärung blieb daher auf eine winzige Minderheit von Intellektuellen beschränkt, denen keine politische Mitbestimmung zugestanden wurde. Erst die Französische Revolution von 1789 mit ihren auf „Liberté, Égalité et Fraternité“ drängenden Parolen erweckte anfangs auch im deutsch­ sprachigen Bereich die Hoffnung, daß aus den Hunderten von real­ existierenden Territorialstaaten möglicherweise ein reformorientierter Nationalstaat werden könne. All jene deutschen Jakobiner bzw. Radikaldemokraten, die sich zu dieser Vorstellung bekannten, wurden jedoch auf Geheiß ihrer jeweiligen Landesherren sofort eingekerkert oder des Landes verwiesen. Zu einem neuen Anschwellen derartiger Stimmungen kam es erst, als Napoleon mit seiner Grande armée in das sich auflösende Heilige Römische Reich eindrang und einen Großteil der dortigen Fürsten in ihm hörige Vasallen verwandelte. Lediglich Preußen und das Habsburgerreich traten ihm entgegen, konnten aber sein selbstherrliches Vordringen nicht aufhalten. Neue Hoffnungen schöpfte man in diesen beiden Staaten erst wieder, als im Jahr 1812 Napoleons Rußlandfeldzug scheiterte. Danach griff der deutschbetonte Unmut über die „welschen Eindringlinge“ von Seiten defensiv eingestellter Regierungskreise sowie relativ kleiner Intellektuellencliquen auch auf immer breitere Bevölkerungsschichten über und erzeugte einen nationalen Enthusiasmus, den es im Heiligen Römischen Reich in dieser Form vorher nie gegeben hatte. Plötzlich war selbst hier allerorten von Freiheit, nationaler Einigung und Abschaffung der Fürstenwillkür die Rede. Doch diese Hoffnungen wurden 1815 durch den Wiener Kongreß und die 1819 auf ihn folgenden Karlsbader Beschlüsse so gewaltsam unterdrückt, daß es statt des erhofften deutschen Nationalstaats nur zu einem an Metternichs Restaurationspolitik orientierten Fürstenbund kam. Daher bedurfte es im Jahr 1848 nochmals einer französischen Revolution, um in den 39 Ländern des Deutschen Bunds erneut für die Vorwort   11

Errichtung eines brüderlich verbundenen Nationalstaats aller deutschsprechenden Menschen in die Schranken zu treten. Wegen der weiterbestehenden feudalistischen Gesellschaftsstruktur in den einzelnen deutschen Teilstaaten erwiesen sich jedoch diese Bemühungen als zu schwach. Und auch das wirtschaftlich erstarkende Bürgertum der Nachmärzära der fünfziger und sechziger Jahre brachte – trotz seiner nationalliberalen Einheitssehnsucht – nicht die Courage auf, den Deutschen Bund wenigstens in eine in sich geschlossene Wirtschaftsnation zu verwandeln, sondern unterstellte sich mehrheitlich dem mit „Blut und Eisen“ taktierenden preußischen Premierminister Otto von Bismarck. Das Ergebnis war die 1871 erfolgte Gründung des Zweiten Kaiserreichs, in dem zwar die wirtschaftliche Stärke der neureichen Bourgeoisie gewaltig anwuchs, jedoch die politische Macht weiterhin in den Händen der Hohenzollern, der Fürsten und des Adels lag. Als sich dieses Reich in der Novemberrevolution von 1918 auflöste und einer Republik weichen mußte, herrschte anfangs auf linksliberaler Seite durchaus die Hoffnung, daß dieser Staat die Form einer wahrhaften Demokratie annehmen würde. Die weiterbestehende Klassenspaltung und die Widersetzlichkeit der rechten und linken Parteien verhinderten jedoch, daß sich nach der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise die gesellschaftlichen Verhältnisse weiterhin auf parlamentarische Weise regeln ließen. Als Sieger aus dieser Krise ging stattdessen Adolf Hitler hervor, der zwar der deutschen Bevölkerung für die Zukunft das Blaue vom Himmel versprach, aber eher von großgermanischen als von deutschnationalen Wahnvorstellungen besessen war und damit „sein“ Volk in maßloser Überspanntheit in die Katastrophe führte. Was folgte, war der Kalte Krieg zwischen den USA und der UdSSR, der zu einer Teilung des Restterritoriums des ehemaligen deutschen Reiches führte. Während sich in Westdeutschland danach kein nennenswerter Nationalismus entwickelte und die dort amtierte CDU-Regierung lediglich nach einer wirtschaftlichen Machtstellung im Rahmen der westeuropäischen Vereinigungsbemühungen strebte, hielt die ostdeutsche Regierung noch eine Weile an der im Exil entwickelten antifaschistischen Volksfrontideologie fest und bemühte sich, wenigstens in ihrem Herrschaftsbereich ein „anderes, besseres Deutschland“ aufzubauen, in dem nicht die Übermacht der großen Konzerne, sondern ein sozialistisch ausgerichtetes Gemeinschaftsgefühl den letzten Ausschlag 12  Vorwort

in allen politischen Entscheidungen geben sollte. Doch dieser Traum scheiterte an der mangelhaften Konsumgüterversorgung innerhalb der DDR, was viele ihrer Bürger und Bürgerinnen schließlich im November 1989 bewegte, die Grenze nach Westdeutschland zu durchbrechen, um auch an den Vorteilen der dort herrschenden sozialen bzw. freien Marktwirtschaft teilzuhaben.

III Schon aus diesem skizzenhaft verkürzten Abriß des Nationalgedankens innerhalb der deutschen Geschichte ergibt sich zumindest eine Folgerung mit unwiderleglicher Klarheit, nämlich daß es unsinnig wäre, einfach schlechthin von einer „deutschen Nation“, einem „deutschen Volk“ oder einer anderen, angeblich identitätsstiftenden Qualifikation im Hinblick auf „die Deutschen“ zu sprechen. Wer immer in diesem Zusammenhang den Begriff „Nation“ gebraucht, sollte deshalb nie vergessen, diesen höchst abstrakten Begriff mit einem erläuternden Zusatz zu versehen, um ihn somit politisch, sozioökonomisch oder kulturell zu konkretisieren, statt sich mit völkerpsychologischen oder journalistischen Klischees zu begnügen. Wie auf allen anderen Gebieten begrifflicher Klärungen gesellschaftlicher Termini ist auch auf diesem Gebiet letztlich stets der historische Stellenwert von ausschlaggebender Be­deutung. So gesehen, folgte in Deutschland auf den ursprünglichen Reichspatriotismus der landesstaatliche Loyalitätspatriotismus, der germanophile Nationalismus der Pietisten und Klopstockianer, der anti­ französische Nationalismus der Befreiungskriege, der liberale Einigungsnationalismus der Achtundvierziger Revolutionäre, der allmählich immer stärker werdende Wirtschaftsnationalismus der Nachmärz-Periode, der preußisch überformte Reichsnationalismus der Bismarck-Ära, der ins Imperialistische tendierende Nationalismus der Völkischen Opposition der spätwilhelminischen Zeit, der Kriegsnationalismus der Alldeutschen und der Vaterlandspartei nach 1914, der Nationalismus der Deutschnationalen Volkspartei, der Neuen Rechten und der NSDAP während der Weimarer Republik, der weltballumspannende Imperialismus der arisch-orientierten Nazifaschisten, der antifaschistische Nationalismus der linksgerichteten Exilgruppen nach 1933, der Vorwort   13

Kulturnationalismus der Inneren Emigration, der gesamtdeutsch ausgerichtete Nationalismus der SED-Führungsspitze innerhalb der frühen DDR, der westdeutsche Staatsbürgernationalismus sowie der gegen ihn ankämpfende neonazistische Nationalismus in der ehemaligen BRD und der aus ihr hervorgehenden Berliner Republik. Angesichts der Aufeinanderfolge dieser höchst verschiedenen Formen eines deutschen Nationalismus weiterhin lediglich von einem „deutschen Sonderweg“, einer „verspäteten Nation“ oder einfach von einer „deutschen Nation“ zu sprechen, verbietet sich von selbst. Wie alle anderen europäischen Länder hat auch der deutschsprachige Bereich Mitteleuropas seine in viele Etappen unterteilte Geschichte, die sich nicht aus ins Philosophische abstrahierten Großprozessen und schon gar nicht aus irgendwelchen mystifizierten „Wesensgründen“ ableiten läßt, sondern stets höchst eindeutig mit bestimmten historischen Ereignissen und deren politischen, sozioökonomischen und kulturellen Auswirkungen zusammenhängt. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, so kompakt man sie auch konzipiert, läßt sich daher nur schreiben, wenn man dabei nicht nur die begrifflichen Verschiebungen im Hinblick auf den in den einzelnen Zeitabschnitten verwendeten Gebrauch des Terminus „Nation“ ins Auge faßt, sondern auch die dahinter stehenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungen mitberücksichtigt. Daß dies bei der Größe der gestellten Aufgabe eine nicht zu bewältigende Materialfülle voraussetzt, dürfte jedem sozial- oder kulturgeschichtlich orientierten Historiker bewußt sein. Dennoch sollte man angesichts dieses schier erdrückenden Faktenreichtums nicht von vornherein verzagen. Auch ein gewisser Mut zu einer verallgemeinernden Übersichtlichkeit kann bei einem so weitgespannten Thema manchmal ganz hilfreich sein. Jedenfalls ist ein solcher Mut stets sinnvoller, als von vorherein in entlegene, aber dafür leichter überschaubare Bereiche auszuweichen. Schließlich zählt in letzter Instanz stets die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des jeweils aufgegriffenen Forschungsthemas. Und was wäre momentan relevanter als die Frage, in was für einem Staat wir leben sollten und wie dieser Staat entstanden ist, da von diesen Fragen – genau genommen – fast alle anderen Fragen abhängen?

14  Vorwort

IV Wie wir wissen, lehnen viele Menschen im heutigen Deutschland den Begriff „Nationalstaat“ und alles, was damit zusammenhängt, im Hinblick auf ihr eigenes Land von vornherein kategorisch ab. In mancher Hinsicht haben sie, wenn sie in die Geschichte dieses Lands zurückblicken, auch allen Grund dazu. Schließlich hat dieser Staat im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege angezettelt. Obendrein ermöglichte die überwältigende Mehrheit seiner Bevölkerung einem Mann wie Adolf Hitler und seiner NSDAP, zwischen 1933 und 1945 ein mörderisches Terrorregime zu errichten, das sich zwar mit dem schönen Schein eines Nationalstaats umgab und dem angeblich ein „gesundes Volksempfinden“ zugrunde lag, aber dessen Führungseliten letztlich kein großdeutsches, sondern ein großarisches Weltreich ins Auge faßten. Und das hat auf vielen Gebieten eine Irritation hinterlassen, die bis heute nachwirkt. Die Folge davon ist, daß sich die ehemalige Bundesrepublik und die auf sie folgende Berliner Republik zu einem Staat entwickelten, der – Meinungsumfragen zufolge – am nachdrücklichsten für die europäische Vereinigungspolitik eingetreten ist und weiterhin für sie eintritt, um sich endlich von seiner nationalistischen Vergangenheit abzusetzen. Diesem Bestreben, das viele positive Züge aufweist, soll selbstverständlich nicht wiedersprochen werden. Im Gegenteil. Aber historisch geschulte Dialektiker sollten auch nicht vergessen, welche Verluste ein solcher Gewinn mit sich bringt. So wird wohl niemand leugnen wollen, daß nach Jahrhunderten innereuropäischer Kriege eine Union aller Staaten dieses Kontinents eine friedensstiftende Wirkung hat. Und aus dem Abbau des Militärs könnten sich zudem eine Entlastung der hohen steuerlichen Verpflichtungen sowie eine Verstärkung der sozialen Absicherung ergeben. Aber andererseits bringt ein solcher Zusammenschluß durch die Beseitigung der Zollschranken und die Ausweitung des Binnenmarkts auch die Gefahr mit sich, daß die wirtschaftlich Stärkeren noch dominierender werden und einen immer größeren Einfluß auf die politische, soziale und kulturelle Struktur der einzelnen Länder dieses Staatenbundes auszuüben beginnen. Doch wenn es bloß das wäre. Nicht nur die Europäische Union ist eine Gefahr für die geschichtlich gewachsene und soziokulturelle Besonderheit der in ihr zusammengeschlossenen Länder. Als fast noch folgenVorwort   15

reicher erweist sich die dahinterstehende finanzkapitalistische Verflechtung des gesamten Welthandels und die sich daraus ergebende Globalisierung, die schon in ihren ersten Ansätzen nur allzu deutlich zeigt, zu welchen Krisen das führen kann. Zugegeben, auch die Globalisierung hat ihre positiven Aspekte, indem sie – nach der Überwindung lokaler Kriege – im Rahmen der Vereinten Nationen zu einer weltweiten Friedenssicherung beitragen könnte. Aber auch ihre negativen Seiten sollten nicht übersehen werden. Indem sie die nationalen Eigenarten der verschiedenen Länder durch das ökonomische und massenmediale Übergewicht der bereits hochindustrialisierten Staaten immer stärker verwischt, könnte sich – nach einer kurzen Phase der durch die gegenwärtige Notstandsmigration ausgelösten Multikulturalität – weltweit eine gesichtslose Konsumgesellschaft entwickeln, in der alle Menschen vor den gleichen Computern sitzen, die gleichen Fast Food-Lokale aufsuchen, die gleichen Blue Jeans tragen, sich über die gleichen Filme und TV-Serien unterhalten, sich für die gleichen Sportsereignisse interessieren und vielleicht sogar das gleiche, ins Primitive verkümmerte PidginEnglisch sprechen. Darin den Sieg eines globalen „Demokratisierungsprozesses“ zu sehen, wäre mehr als verblendet. Derartigen Tendenzen ein gewisses nationales Beharrrungsstreben entgegenzusetzen, erscheint daher manchen Kritikern dieser Entwicklung keineswegs chauvinistisch. Was sie bei ihrem Widerstand gegen die negativen Auswirkungen der fortschreitenden Globalisierung bewegt, sind nämlich meist sozioökonomische, kulturelle oder naturerhaltende und nicht politisch verbohrte Gründe. Ihnen geht es eher darum, in ihrem Land ein gegen die skrupellose Profitgier des neoliberalistischen Finanzmarktkapitalismus gerichtetes gesamtgesellschaftliches Gerechtigkeitsgefühl, ein nationalgefärbtes Geschichtsbewußtsein, eine sich an politischen Kriterien orientierende Kultur sowie eine ökologische Nachhaltigkeit aufrecht zu erhalten, statt in einer rücksichtslosen Market Driven Society lediglich an Erfolgs- und Gewinnchancen interessiert zu sein. Und sie hoffen, daß sich das eher im Rahmen eines kleineren Staates als auf weltweiter Ebene durchsetzen läßt. So betrachtet, hat jeder Nationalismus etwas Janushaftes: entweder liegt ihm ein positiver Aufruf zu einer klassenlosen Solidarität oder die Verführung zu einer imperialistisch ausgerichteten Überheblichkeit 16  Vorwort

zugrunde. Gerechtfertigt ist also ein Nationalismus nur dann, wenn er als Sehnsucht zu einer verantwortungsbewußteren Form des staatlichen Zusammenlebens auftritt, sich also um ein demokratisch ausbalanciertes Gleichgewicht von subjektiven Selbstverwirklichungsbestrebungen und sozialen Gerechtigkeitsforderungen bemühen würde. Ungerechtfertigt ist er dagegen stets dann, wenn er das Eigenpersönliche rücksichtslos zu Gunsten wirtschaftlicher Profitbedürfnisse unterdrückt und sich zugleich expansiv nach außen wendet, das heißt auch andere Länder seinen Marktgesetzen zu unterwerfen versucht. Daß dies die entscheidende politökonomische Problemstellung der nächsten Jahrzehnte sein wird, steht wohl schon jetzt außer Frage. Hoffen wir, daß sich die Durchsetzung sozialer Gerechtigkeitsprinzipien und damit eines verstärkten lokalen oder nationalen Kommunitarismus nicht wie so viele frühere Bemühungen in dieser Richtung abermals als eine Illusion erweisen wird. Und hoffen wir zugleich, daß dazu nicht erst weitere Krisen und Katastrophen finanzpolitischer oder ökologischer Art nötig sein werden, sondern daß sich das auch durch eine demokratisch durchgeführte Konsensuspolitik erreichen läßt, die ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen kosmopolitischen und eigenstaatlichen Zielsetzungen anzustreben versucht.

Vorwort   17

Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

I Daß es unsinnig wäre, die ersten Ansätze einer deutschen Reichsideologie bereits in der germanischen Frühgeschichte oder der Völkerwanderungszeit des 5. Jahrhunderts aufspüren zu wollen, dürfte inzwischen ein allgemein akzeptierter Gemeinplatz geworden sein. Selbst als es Karl dem Großen gelang, den Franken zur politischen Vormachtstellung in Mitteleuropa zu verhelfen und sich im Jahr 800 in Rom von Papst Leo III. zum Kaiser krönen zu lassen, wurde er damit – im Zuge einer welthistorischen Translatio der römischen Cäsarenwürde auf einen germanischen „Barbarenkönig“ – kein deutscher Herrscher, sondern der Imperator eines neuerstandenen Romanum Imperium christlicher Prägung. Sogar als dieses Universalreich unter seinen Nachfolgern wieder zerfiel und die ostgermanischen Stämme im Jahr 919 den sächsischen Herzog Heinrich den Vogler zu ihrem König wählten, der sich daraufhin Heinrich I. nannte, war damit kein Reich der Deutschen, sondern lediglich ein Regnum Teutonicorum entstanden, dessen Hauptträgerstämme die Sachsen, Ostfranken, Bayern und Alemannen waren und das sich 921 endgültig vom westfränkischen Reich ablöste. Unter Otto I., seinem Nachfolger, der dieses neue Staatsgebilde sowohl nach Osten als auch nach Italien hinein erheblich erweiterte und sich am 2. Februar 962 in Rom von Papst Johann XII. zum Kaiser krönen ließ, büßte dagegen dieser Staat seinen ostgermanischen Charakter weitgehend ein und verstand sich wie zur Zeit Karls des Großen wiederum als zentraleuropäische Universalmonarchie, innerhalb derer Kaiser und Papst eine gemeinsame Oberhoheit für die gesamte abendländische Christenheit beanspruchten. Ja, sein Sohn Otto II. ließ sich 982 als Vertreter dieser Staatskonzeption, der nach wie vor die inzwischen zum festen Begriff gewordene Translatio zugrunde gelegt wurde, ausdrücklich als Romanorum Imperator Augustus bezeichnen und legte keinen besonderen Wert auf seine Deutschstämmigkeit. Und auch dessen Sohn Otto III. 18  Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

1 Meister der Reichenauer Schule: Slawinia, Germania, Gallia und Roma huldigen Kaiser Otto III. (um 1000). München, Bayerische Staatsbibliothek

strebte als Kaiser lediglich eine Renovatio Imperii Romanorum unter einem christlichen Herrscher an, das heißt wollte in erster Linie als Beschützer der weströmischen Kirche angesehen werden. Es gab zwar zu diesem Zeitpunkt schon den Begriff „natio“, aber damit war lediglich der Geburtsort oder das jeweilige Herkunftsland gemeint. Das gleiche gilt für die Stauferzeit, in der sich Friedrich I., genannt Barbarossa, noch immer als Herrscher über ein Sacrum Imperium Romanorum, also ein übernationales Gebilde, verstand, in dem zwar die deutschstämmigen Herzogtümer von zentraler Bedeutung waren, das aber zugleich als ein lehensrechtlicher Herrschaftsverband das Königreich Arelat, das Herzogtum Lothringen, das holländische Friesland, das Königreich Böhmen, das Königreich Sizilien, die Lombardei sowie die Toscana, Sardinien und Korsika in sich einschloß. Auch in der Folgezeit wurde im Hinblick auf dieses Reich trotz vieler innerer Zwistigkeiten Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts   19

und äußerer Eingriffe, die bekanntlich sogar Walther von der Vogelweide in einigen seiner Spruchdichtungen thematisierte, immer wieder von einer Renovatio Imperii Romanorum gesprochen. Erst nach dem Tode Friedrich II. im Jahr 1250 und der anschließenden Interregnums­ periode, die bis 1273 währte, trat der universalistische Anspruch der deutschen Kaiserherrschaft im Zuge wechselnder Machtverhältnisse und zugleich wegen der mangelhaften Infrastruktur innerhalb dieses weitgespannten Sacrum Imperium allmählich in den Hintergrund, was dazu führte, daß die partikularistischen, an bestimmte Dynastien gebundenen Eigeninteressen in den einzelnen deutschen Teilregionen allmählich immer stärker wurden. Obwohl mehrere Kleriker gegen Ende des 13. Jahrhunderts, wie etwa Jordanus von Osnabrück in seinem Tractatus super Romano imperio sowie Alexander von Roes in seiner Programmschrift Memoriale Prerogativa Imperii Romani, weiterhin an der christlichen Vormachtstellung der deutschen Kaiserwürde festzuhalten versuchten und dabei rückblickend auf Karl den Großen als den glorreichen Translator des Römischen Reichs auf die Franken verwiesen, kam es in den folgenden zwei Jahrhunderten zu einer merklichen Abschwächung der Kaisermacht sowie einer fortschreitenden Zersplitterung des Sacrum Imperium Romanorum Nationis Germanicae bzw. des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, wie sich dieser Staat seit 1495 nannte, in eine geradezu unübersehbare Fülle von Herzogtümern, Bistümern, Grafschaften, Deutschordensgebieten, Reichsritterterritorien, Reichsabteien, landgräflichen Herrschaften sowie freien Reichsstädten, die zusehends einen halbautonomen, das heißt vom Kaiser oder von machtvollen Territorialfürsten unabhängigen Status für sich beanspruchten. Im Zuge dieser Entwicklung wurde die Kaiserwürde schließlich vom Papsttum abgelöst und zugleich im Jahr 1500 auf dem Reichstag zu Augsburg ein sogenanntes Reichsregiment eingerichtet, das aus 20 fürstlichen und reichsstädtischen Mitgliedern bestand und vorübergehend sogar den Anspruch einer Mitregierung erhob. Außerdem setzte sich zusehends das Prinzip des Wahlkönigtums durch. König und zugleich Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation konnte nach diesem Zeitpunkt nur noch ein deutscher Fürst werden, der von den Erzbischöfen von Mainz, Trier und Köln sowie vier weltlichen Kurfürsten, das heißt dem Pfalzgraf bei Rhein, dem Herzog von Sachsen, dem 20  Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

Markgraf von Brandenburg und dem König von Böhmen, offiziell zum Thronfolger bestimmt wurde. Dementsprechend ließ sich Maximilian I. im Jahr 1508 ausdrücklich als Erwählter Römischer Kaiser feiern. Daß nach ihm fast alle deutschen Kaiser dem Hause Habsburg entstammten, ist allerdings kein Beleg für eine besonderes exponierte Machtstellung dieser Familie innerhalb des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, sondern beweist lediglich, wie stark sich inzwischen selbst bei der Kaiserwahl das dynastisch-partikularistische Prinzip durchgesetzt hatte. Auch daß 1512 auf einem Reichstag zu Köln entschieden wurde, daß die oberste Reichsgewalt in Zukunft nicht mehr vom Kaiser, sondern von den jeweils einberufenen Reichstagen ausgehen solle, läßt sich vornehmlich als eine Stärkung ständisch-dynastischer Interessen verstehen, wodurch sich die bisher vom Kaiser verliehenen Lehnsgebiete allmählich in von bestimmten Familien regierte „Vaterländer“ verwandelten. Ja, daß diese Familien ihre angeblich seit altersher bestehende Legitimität mit genealogischen Winkelzügen von den alten Goten, den Priamus-Trojanern oder Noahs drittem Sohn Japhet abzuleiten versuchten, verhinderte obendrein, daß sich in ihren Territorien ein überregionales Nationalgefühl entwickelte. Von jetzt ab bemühte sich fast jede Dynastie nur noch – koste es, was es wolle – den eigenen Herrschaftsbereich auf höchst eigennützige Weise ihrem Willen zu unterstellen und zugleich durch Fehden, Kleinkriege oder politische Heiratsabschlüsse zu vergrößern.

II Allerdings konnten derartige genealogische Ableitungstheorien, falls sie sich nicht an den nach Autonomie strebenden partikularistischen Herrschaftsinteressen orientierten, auch eine völlig entgegengesetzte Wirkung haben. Das bekannteste Beispiel dafür, dessen Folgen in nationalpolitischer Hinsicht kaum zu überschätzen sind, bietet die Wirkungsgeschichte der um 98 nach unserer Zeitrechnung geschriebenen Germania von Publius Cornelius Tacitus, deren einziges Exemplar im Jahr 1455 in einem Hersfelder Kloster aufgefunden wurde. Als treue Anhänger der römischen Kirche sandten die dortigen Mönche dieses Werk umgehend nach Rom, wo es in die Hände des Kardinals Enea SilVom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts   21

vio Piccolomini, des späteren Papst Paul II., geriet, der bereits zwei Jahre darauf einen Traktat unter dem Titel De ritu, situ, moribus et conditione Germania descriptio verfaßte. In ihm stellte er alles Negative über die Germanen aus der taciteischen Germania zusammen, um damit jenen Beschwerden des Mainzer Bischofs Martin Mayr entgegenzutreten, der 1440 in seinen Gravamina nationis Germaniae geschrieben hatte, daß das Heilige Römische Reich – nach seiner Blütezeit im 12. Jahrhundert – durch die zunehmende finanzielle Ausbeutung von Seiten der Kurie nicht nur dem materiellen Elend preisgegeben, sondern auch zu politischer Machtlosigkeit verurteilt worden sei. Indem Enea Silvio Piccolomini lediglich die kruden, ja geradezu „barbarischen“ Lebensbedingungen der alten Germanen akzentuierte, wollte er in der von ihm verfaßten Schrift vor allem beweisen, daß das heutige Deutschland seinen Wohlstand, seine Kultiviertheit sowie seine christliche Gesittung einzig und allein den Ermahnungen und Lehren der römischen Kirche verdanke. Dementsprechend heißt es in seiner Germania descriptio wörtlich: „Wenn einer jener alten Teutonen, der zu Julius Cäsars Zeiten lebte, auferstehen würde und durch Germanien wanderte: Er würde angesichts des Fortschritts behaupten, daß dies nicht sein Vaterland sei, das nunmehr sich auszeichnet durch den Glanz seiner Städte und nicht zuletzt durch die feinen geschliffenen Umgangsformen seiner Bürger. Dieser soziale Wandel hätte sich bei Euch nicht vollzogen, wenn nicht die christliche Religion und der Kultus unserer Kirche bei Euch jegliche Barbarei ausgetrieben hätten.“ Ja, diese Argumentation zugunsten des „Heiligen Stuhls in Rom“ verführte Enea Silvio Piccolomini sogar zu der Behauptung, daß die Deutschen ihre sich aus diesem Wandel ergebende Dankesschuld dem Papst gegenüber nur durch die Überweisung hoher Geldsummen gerecht werden könnten. Die in derartigen Sätzen enthaltene Provokation mußte unter den deutschen Humanisten dieser Jahre selbstverständlich zu heftigen Gegenreaktionen führen. Aufgrund ihres schon vorher bestehenden weltlich-politischen Interesses an nationalen Charakteristika und zugleich ihrer Kritik des von Enea Silvio Piccolomini als rein „segensreich“ herausgestrichenen Einflusses der römischen Kirche auf das deutsche Kaiserreich, legten sie deshalb in ihren Schriften – ob nun aus Überzeugung oder in polemischer Absicht – den Hauptakzent vor allem auf das Positive, was Tacitus über die Germanen gesagt hatte. Schließlich 22  Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

werden die Germanen in der taciteischen Germania – trotz ihrer Neigung zu Faulheit und Trunksucht, welche manche der deutschen Humanisten keineswegs unterschlugen – auf allen anderen Gebieten geradezu als nachahmenswerte Musterknaben hingestellt. Sie seien ein unvermischtes Volk, das heißt ein „Menschenschlag eigener Art“, hatte Tacitus gegen Ende des 1. Jahrhunderts geschrieben, der weder Prunk noch Verschwendung liebe, keinen Sinn für Erotisch-Aufreizendes habe, sondern „reine Sitten“ schätze und kaum „Ehebruch“ kenne, Frauen nicht als Hetären oder Sklavinnen mißbrauche, sondern überzeugt sei, daß in ihnen „etwas Heiliges und Seherisches wohne“, es gern sähe, wenn Frauen ihre Kinder an der eigenen Brust nährten, statt sie Ammen zu übergeben, überhaupt alles Einfache und Natürliche bevorzuge, „ohne Falsch und Trug“ lebe, sich ständig im Waffenspiel erprobe, um auf eventuelle Verteidigungskriege vorbereitet zu sein, seine Götter in heiligen Hainen, statt in dunklen Tempeln verehre, keine Diktatoren über sich erdulde, sondern bei seinen Thingversammlungen über alle gestellten Anträge „gemeinsam“ entscheide, nur Wahlkönige kenne – und was es sonst noch an Tugenden unter freien Menschen gebe. Daß Tacitus dieses Bild der Germanen hauptsächlich als ein Gegenbild zu der von ihm beklagten Dekadenz seiner eigenen Landsleute, also als eine Art „Sittenspiegel“, entworfen hatte, kümmerte die deutschen Humanisten wenig. Ob mit Absicht oder in nationaler Naivität: sie übernahmen dieses ins Positive stilisierte Germanenbild einfach so, wie es bei Tacitus stand. Nachdem sie sich den alten Römern, wie auch den zeitgenössischen Neurömern oder Italienern, lange Zeit kulturell unterlegen gefühlt hatten, fanden sie in dieser Schrift endlich eine Bestätigung ihres eigenen Selbstwertgefühls, kurzum: den „klassischen“ Beweis, ebenfalls eine glänzende Vergangenheit zu haben, ebenfalls ein welthistorisch hochqualifiziertes Volk zu sein, ebenfalls von moralisch und politisch bedeutsamen Altvordern abzustammen. Ja, in den kurz nach 1500 wieder aufgefundenen taciteischen Annalen sowie der Römischen Geschichte des Velleius Paterculus entdeckten sie zugleich den dort als „Befreier Germaniens“ rühmlich herausgestrichenen Arminius, den sie mit dem nötigen rhetorischen Nachdruck als eine nationale Heldenfigur hinstellten, die sich an Tapferkeit und Edelmut durchaus mit den Heroen der römischen Geschichte messen könne, wenn nicht diese als „liberissimus, invictissimus et Germanissimus“ zum Teil sogar übertreffe. Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts   23

Neben einem humanistisch gebildeten Reichsritter wie Ulrich von Hutten waren die Hauptvertreter dieser reichspatriotischen Gesinnung vor allem bürgerliche Gelehrte wie Andreas Althamer, Johannes Aventinus, Heinrich Bebel, Konrad Celtis, Johannes Chochlaeus, Franciscus Irenicus, Philipp Melanchthon, Sebastian Münster, Johannes Naukler, Heinrich Pantaleon, Beatus Rhenanus und Jakob Wimpfeling, die zum Teil mit dem antikatholischen Emanzipationsprogramm Martin Luthers sympathisierten oder sich offen zu ihm bekannten. In direkter oder indirekter Anlehnung an Tacitus stellten diese Autoren zwischen 1500 und 1540 in ihren Schriften die alten Germanen als ein ins Idealhistorische, wenn nicht gar Mythische erhobenes Wunsch- oder Traumvolk edler, mutiger, freiheitsliebender, sittenstrenger Menschen hin, das sich hinter keiner anderen Nation der Welt, nicht einmal hinter den vielgepriesenen Römern zu verstecken brauche. Ja, ihre Tugenden hätten sich, wie sie schrieben, im Vergleich zu den korrupten, dem Luxus und der Unmoral huldigenden neurömischen „Papisten“ bei den Deutschen bis auf den heutigen Tag erhalten. Und zwar stützten sie sich dabei gern auf die taciteische These, daß die Germanen die unvermischten Ureinwohner, das heißt die „Indigenae“ oder „Autochtoni“ des von ihnen bewohnten Territoriums seien. So behauptete etwa Heinrich Bebel 1501 in einer Rede vor Kaiser Maximilian I.: „Weder Fremdlinge noch ein zufällig verbundenes Völkergemisch gaben den Germanen ihren Ursprung, sondern wir sind auf demselben Boden geboren, den auch sie bewohnten.“ Im Gegensatz zu anderen Völkern, erklärten deshalb viele dieser Humanisten, seien die Germanen nie durch irgendwelche fremdvölkischen Eingriffe von ihrer angeborenen Wesensart abgewichen und hätten stets an ihren ursprünglichen Tugenden der Freiheitsliebe, Tapferkeit, Aufrichtigkeit, Sittenstrenge und Anspruchslosigkeit festgehalten, statt sich von den Anschauungen und Lebensweisen anderer Völker beeinflussen zu lassen. Nicht einmal die Tugend der „Nächstenliebe“, schrieb Jakob Wimpfeling in seiner Germania (1501) und seinen Epithoma rerum Germanicarum (1505), hätten sie aufgrund christlicher Belehrung, sondern aus eigenem Antrieb geübt. Manche dieser Autoren, wie etwa Althamer, Aventinus, Celtis, Irenicus und Pantaleon, beriefen sich dabei gern auf die von Annius von Viterbo im Anschluß an einen sagenhaften chaldäischen Autor namens Berosus im Jahr 1498 aufgestellte These, daß die Ureinwohner Zentral24  Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

europas auf den gottähnlichen Stammvater Tuisco zurückgingen und dementsprechend „Teutsche“ gewesen seien, um so die älteren, auf die Trojaner oder den Noah-Sohn Japhet zurückgehenden genealogischen Ableitungstheorien widerlegen zu können. Durch diese Origo-Theorie, auf die schon Tacitus kurz anspielt, hofften sie, den Germanen den Rang eines europäischen Urvolks zu verleihen, das sowohl auf seine weit zurückreichende Herkunft als auch seine unverfälschten Tugenden stolz sein könne und sich daher nicht einer von Rom beanspruchten Oberhoheit zu unterwerfen brauche. Neben Vorzügen wie der ethnischen Unverfälschtheit, der germanisch-teutschen Tugend und dem Willen, frei und niemanden untertan zu sein, die von den Parteigängern Luthers, wie etwa in der Klag und Vormahnung gegen die übermäßige unchristliche Gewalt des Papsts zu Rom, dem Vaterland Teutscher zu Nutz und Gut (1520) Ulrich von Huttens, immer wieder mit antiklerikaler Tendenz gegen die römisch-päpstliche Tyrannei, Prunksucht und Lasterhaftigkeit herausgestrichen wurden, spielte dabei auch der Stolz auf das Alter und die Besonderheit der deutschen Sprache eine wichtige Rolle. Obwohl sich viele der deutschen Humanisten selbst in ihren nationalbetonten Schriften weiterhin der lateinischen Sprache bedienten, verstanden sie unter dem von ihnen beschworenen Kaiserreich weitgehend jenes Land, „so weit die deutsche Zunge klingt“, und lehnten daher alle Fremdeinflüsse, die sich in der deutschen Sprache breit zu machen versuchten, entschieden ab. Wohl am stärksten engagierte sich in dieser Richtung Jakob Wimpfeling, der vor allem die Deutschsprachigkeit des Elsaß gegen den Einfluß des Französischen verteidigte. Bei ihm, wie auch bei anderen deutschen Humanisten dieser Ära, spürt man obendrein, daß diesem Patriotismus zugleich ein deutlich angestiegenes bürgerliches Selbstbewußtsein zugrunde lag, mit dem sich diese Gelehrtenschicht innerhalb der freien Reichsstädte sowohl gegen den Einfluß der römischen Kirche als auch gegen die dynastischen Übergriffe der angrenzenden Fürstentümer und Grafschaften zu verteidigen suchte. Überhaupt war dieser frühe Nationalismus – ideologiegeschichtlich gesehen – weniger antiquarisch-progermanisch als zeitgenössischantidynastisch und vor allem antiklerikal ausgerichtet. Im Sinne der frühbürgerlichen Tugendvorstellungen des beginnenden 16. Jahrhunderts entsprach er, von dem Sonderfall des Reichsritters Hutten einmal abgesehen, vornehmlich den politischen und sozioökonomischen VorVom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts   25

stellungen jener Klasse, die im Zuge der zu diesem Zeitpunkt erst allmählich einsetzenden Markt- und Handelswirtschaft noch vor allem für Einfachheit, Sparsamkeit und Sittenstrenge eintrat, um sich auf diese Weise – unter Berufung auf die Tugendvorstellungen der alten Germanen – gegen die sich im Ablaßhandel manifestierende römisch-katholische Geldgier und zugleich die anmaßlich-prunkvolle Fürstenwillkür als ein mit möglichst vielen Simplicitas-Tugenden ausgestatteter Stand ein gesellschaftliches Mitspracherecht zu verschaffen suchte. Außer den auf deutsch verfaßten Polemiken Huttens blieb jedoch der Wirkungsradius der von den anderen deutschen Humanisten publizierten lateinischen Traktate, mit denen sie eine kritisch gestimmte Öffentlichkeit begründen wollten, recht begrenzt. Dazu waren sie viel zu „gelahrt“ abgefaßt und lösten daher keine auf breitere Bevölkerungsschichten übergreifende national gestimmte Begeisterungswelle aus. Während die protestantische Reformation und die Bauernkriege während der gleichen Zeitspanne ganz Deutschland erschütterten, blieb demzufolge der Germanenkult und der daraus abgeleitete Reichspatriotismus zwischen 1500 und 1540 letztlich ein politisches Randphänomen, zumal sich Luther – statt nationalistisch aufzutreten – gegen die Bauernaufstände aussprach und sich politisch im Sinne seiner Zwei-Welten-Theorie eindeutig den dynastisch-gefärbten Obrigkeitsvorstellungen anpaßte. Daher wäre es verfehlt, schon diese Ära als eine wichtige Episode in der Herausbildung eines deutschen Nationalbewußtseins zu charakterisieren. Daß sich eine Handvoll hochgebildeter Humanisten gegen die bisherige Abhängigkeit vom Papsttum und für eine Verstärkung der „germanischen“ Ureigentümlichkeiten aller deutschsprachigen Menschen einsetzte, war zwar moralisch wohlgemeint, erwies sich aber politisch – angesichts der territorialen und zugleich konfessionellen Zersplitterung des Heiligen Römischen Reichs – als eine kurzlebige Illusion. Lediglich die intensive Auseinandersetzung dieser Autoren mit der taciteischen Germania sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, wenn sie auch im beginnenden 16. Jahrhundert weitgehend im Bereich akademischer Spekulationen blieb und erst viel später bei der Entstehung nationalbetonter Anschauungen eine politisch zentrale Rolle zu spielen begann.

26  Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

III Nachdem der humanistische Nationalismus, der protestantische Affekt gegen das römisch-katholische Papsttum sowie der bäuerliche Aufruhrgeist der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach dem Augsburger Religionsfrieden vom Jahr 1555, der den jeweiligen Reichsständen im Sinne der Regelung „Cuius regio, eius religio“ („Wessen die Herrschaft, dessen der Glaube“) das Recht zusicherte, in ihren Territorien die jeweilige Konfession selbst zu bestimmen, immer stärker abklangen, trat zwar im Heiligen Römischen Reich eine innenpolitische Beruhigung ein, die jedoch mit einem zunehmenden territorialen Partikularismus und einer Schwächung der kaiserlichen Oberhoheit erkauft war. Statt weiterhin einen an den alten Germanen orientierten nationalen Gemeinsinn zu beschwören, bezeichneten jetzt selbst viele Gelehrte das jeweilige staatliche Gebilde, in dem sie tätig waren, als ihr „Vaterland“ und den dort herrschenden Fürsten als ihren Arminius. Dieser Wandel hing allerdings nicht nur mit der konfessionellen Konsolidierung der einzelnen Reichsgebiete zusammen, sondern hatte auch sozioökonomische Gründe. Da um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert die älteren Reichsstädte, welche bis dahin die Zentren des Humanismus waren, allmählich an Bedeutung verloren, während die verschiedenen Territorialherren immer mächtiger wurden, trat an die Stelle der bisherigen, relativ eigenständig denkenden „Scholaren“ zusehends eine bürgerliche Beamtenschicht, die sich im Rahmen des sich entwickelnden frühabsolutistischen Zentralismus vornehmlich um einflußreiche Verwaltungsposten bemühte. Dadurch kam es zu einer immer stärkeren Auseinanderentwicklung des Bürgertums in eine kleinbürgerliche Handwerkerklasse, ein relativ begütertes Patriziat sowie eine von sozialen Aufstiegsgefühlen beflügelte Bildungselite, welche sich eine Förderung ihrer geistigen und literarischen Interessen vor allem von dem jeweiligen Landesherren oder den adligen Mitgliedern des ihn umgebenden Hofstaats versprach, denen sie sich als eine „Nobilitas mentis“ anzudienen versuchte. Dementsprechend unterstützte diese Schicht – im Gegensatz zu den bisherigen Humanisten – geradezu alles, was den eigenmächtigen Herrschaftsund Reformabsichten der jeweiligen Territorialherren dieser Ära entgegenkam, während sie irgendwelchen reichspatriotischen Gesinnungen kaum noch Beachtung schenkte. Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts   27

2 Anonym: Arminius ein Fürst zu Sachsen (um 1630), Berlin, Kunstbibliothek

28  Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

Ein gutes Beispiel dafür sind die verschiedenen deutschen Sprachgesellschaften, die zu Anfang des 17. Jahrhunderts, und zwar zumeist auf landesfürstliche Initiative gegründet wurden. Das Hauptbestreben dieser Gesellschaften bestand weitgehend darin, sich in Anlehnung an ausländische Sozietäten ähnlicher Art – wie die 1548 in Frankreich gegründete Pléiade, aus der später die Académie française hervorging, sowie die 1582 in Florenz ins Leben gerufene Accademia della Crusca, welche den Weizen von der Kleie (crusca) trennen wollte – um die Standardisierung bzw. Reinerhaltung einer allgemein verbindlichen Hochsprache zu bemühen und die dafür nötigen Wörterbücher, Grammatiken und Rhetoriksammlungen herauszugeben. Um endlich eine würdevolle, das heißt den „höheren“ Interessen dienende Sprache zu schaffen, verdammten deshalb die deutschen Sprachgesellschaften dieses Zeitraums sowohl alle sprachlichen „Ausrutscher“ ins Volkstümlich-Grobianische als auch die vielen Fremdwörter, die sich im Gefolge der Kavalierstouren des Adels sowie des Bildungshochmuts der älteren Gelehrtenschicht in der deutschen Sprache eingenistet hatten. Stattdessen befürworteten sie eine Modernisierung und zugleich Veredelung des durch Luther geschaffenen Bibeldeutschs, das sich zu diesem Zeitpunkt – vor allem im nordund mitteldeutschen Bereich, aber auch in den protestantischen Gebieten Süddeutschlands – immer stärker als die maßgebliche Hoch- oder Hauptsprache durchzusetzen begann. Die erste dieser Sprachgesellschaften wurde 1617 durch den Fürsten Ludwig von Anhalt-Köthen, der im Jahr 1600 während eines Italienaufenthalts Mitglied der Accademia della Crusca geworden war, als Fruchtbringende Gesellschaft ins Leben gerufen. Schon kurz nach ihrer Gründung wuchs diese Gesellschaft im mitteldeutschen Bereich der Ernestiner, Anhaltiner und Thüringer zu einer weithin respektierten Organisation an, grenzte sich jedoch in territorialer Beschränkung sowohl gegen die katholische Kaisermacht im Süden als auch gegen die Hohenzollern im Nordosten ab. Trotz ihrer vorher festgelegten Satzungen, nach denen in dieser Gesellschaft die Konfessions- und Standeszugehörigkeit keine Rolle spielen sollte, waren ihre Mitglieder fast alle Adlige und zugleich Protestanten. Obwohl an ihren Sitzungen von Zeit zu Zeit auch einige bürgerliche Dichter, wie Martin Opitz, Andreas Gryphius und Johann Rist, teilnahmen oder zumindest in den Rang von Ehrenmitgliedern erhoben wurden, überwog in ihnen noch weitgehend Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts   29

ein adliger Ehren- und Standeskodex. Allerdings waren die meisten nichtadligen Dichter eitel genug, sich die Aufnahme in diese „erlauchte“ Gesellschaft als eine hohe Ehre anzurechnen, statt sich bewußt zu machen, daß ihre Mitgliedschaft in diesem Kreis eher der geschickten Ästhetisierung einer protestantisch-adligen Herrscherclique als einer wahrhaft „teutschen“ Sprachveredelung dienen sollte. Noch stärker wurde dieses Desinteresse an irgendwelchen nationalen Belangen während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648), als der bisher schwelende Kalte Krieg zwischen den zwei christlichen Konfessionen die Form eines Heißen Krieges annahm, der zu Verwüstungen und Todesopfern führte, wie man sie innerhalb des Heiligen Römischen Reichs in diesem Ausmaß bisher noch nie erlebt hatte. Jetzt hieß es nur noch „Hie Protestantismus, hie Katholizismus“, weshalb irgendwelche gesamtdeutschen oder reichspatriotischen Tendenzen kaum noch Wirkungschancen hatten. Selbst als andere Nationen, wie die Schweden auf Seiten der protestantischen Union und die Franzosen auf Seiten der katholischen Liga, in diesen Krieg eingriffen, kam es nicht zu einem deutschbetonten Nationalismus. Wenn jetzt, wie in den Gedichten Georg Rudolf Weckherlins, Daniel von Czepkos, Diederichs von dem Werder oder Paul Flemings überhaupt noch von „Vaterland“ oder „teutscher Freiheit“ gesprochen wurde, war damit in den meisten Fällen nur die bedrohte Autonomie der protestantischen Reichsstände gemeint. Viele dieser Autoren riefen lediglich dazu auf, jenen „Fürsten zu folgen“, welche als gute Lutheraner die einzig „gerechte Sache“ verträten, während sich die katholischen Priester durch „Reichtum, Geilheit, Stolz und Pracht“ als des „Teufels Freunde“ erwiesen hätten. Sogar die aufständischen Bauern vertraten in diesen Jahren keine deutschbetonte Haltung, sondern erhofften sich eine Besserung ihrer Lage lediglich von einer möglichst schnellen Beendigung des Krieges oder gewissen Gnadenbeweisen der jeweiligen Fürsten. Auch als 1648 die dreißig Jahre währenden kriegerischen Auseinandersetzungen endlich aufhörten, bewirkte das keine neue Festigung der inneren Einheit des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Wie von allen Verhandlungspartnern beabsichtigt, führten die in Münster und Osnabrück beschlossenen Friedensverträge letztlich zu einer weiteren Abschwächung der kaiserlichen Eingriffsmöglichkeiten sowie einer sich daraus ergebenden Stärkung der einzelnen Territorialstaaten, denen 30  Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

3 Kaspar Merian: Beschreibung und Abbildung aller Königlichen und Kurfürstlichen Einzüge (Frankfurt, 1658)

in allen geistlichen und weltlichen Angelegenheiten eine uneingeschränkte Landeshoheit zugestanden wurde. Außerdem schieden die Nördlichen Niederlande und die Schweiz nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges als neue Eigenstaaten aus dem älteren Reichsverband aus, während die Schweden Vorpommern und die Franzosen das bisher zu Österreich gehörende Elsaß erhielten. Demzufolge war von der „Größe“ des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs danach kaum noch die Rede. Obwohl aus formalen Gründen weiterhin am Kaisertum und dem Wahlrecht der sieben Kurfürsten festgehalten wurde, waren jetzt die einzelnen Herrscher weitgehend nur noch sich selbst verantwortlich und nutzten ihre erweiterte „Freiheit“ lediglich im Sinne eigennütziger Territorialvorstellungen aus. Viele von ihnen sahen nicht einmal in dem kriegerischen Vordringen der Türken eine Gefahr für das Reich und überließen die Verteidigung der südlichen Marken fast ausschließlich den Habsburgern. Selbst als die Franzosen in den siebziger Jahren auf Betreiben Ludwig XIV. große Teile Lothringens eroberten, kam es nur zu relativ schwachen Gegenreaktionen von Seiten der deutschen FürVom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts   31

sten. Im Gegenteil, im Jahr 1675 unterstützte Friedrich Wilhelm von Preußen, der sogenannte Große Kurfürst, aus diplomatischen Gründen sogar die gegen das Reich gerichtete Eroberungspolitik der Franzosen. Und auch andere deutsche Potentaten wechselten in den folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen mehrfach die Fronten. Ja, viele dieser Territorialherren waren von der absolutistischen Politik Ludwig XIV. so beeindruckt, daß sie sich seine Herrschaftsallüren – direkt oder indirekt – zum Vorbild nahmen und sich weitgehend auf ihre dynastischen Eigeninteressen konzentrierten, das heißt ruhig zusahen, wie das Heilige Römische Reich immer weiter zerfiel und durch ständige Erbteilungen schließlich rund 100 Fürstentümer und 1 500 kleinere Herrschaftsgebiete aufwies, in denen jedes nationalpolitische Zusammengehörigkeitsgefühl zusehends in den Hintergrund trat. Daß es dazu auch Gegenreaktionen gab, sollte keineswegs unterschlagen werden. Allerdings blieben selbst diese vom neuen absolutistischen Zeitgeist nicht unbeeinflußt. So setzten sich zwar die meisten bürgerlichen Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft auch nach 1648 hartnäckig für die Reinerhaltung der „teutschen Hauptsprache“ ein, erhielten jedoch von jenen Fürsten, die in der Hofkultur von Versailles die höchste Manifestation eines aristokratischen Lebensgefühls sahen, immer weniger Unterstützung. Daher gaben selbst manche dieser Autoren ihrem Stil schließlich eine Wendung ins Prunkvolle, Panegyrische, Manierierte oder Schwülstige, kurz: Spätbarocke, um so mit ihren „hochlöblichen“ Gönnern Schritt zu halten und nicht als altmodisch oder gar bürgerlich-subaltern zu gelten. Selbst das Hochdeutsche Helikonische Rosenthal bzw. die Hochpreiswürdige Deutschgesinnte Genossenschaft, die 1643 auf Anregung Philipp von Zesens von Hans Christoph von Liebenau und Dietrich Petersohn in Hamburg – der zu diesem Zeitpunkt größten protestantischen Stadt des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation – gegründet wurde, bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme, obwohl ihre Mitglieder zu 85 Prozent aus dem Bürgertum und nicht aus dem Adel stammten. Auch in dieser Gesellschaft herrschte ein bildungsstolzer Gelahrtheitsdünkel, der sich durch seine bis zur Geschraubtheit gesteigerten Formulierungskünste vom geistig „ungelenken“ und weiterhin Plattdeutsch sprechenden Pöbel wie von einer anderen Spezies Mensch abzusetzen versuchte. Um sich nicht in ihren parnassischen Hochgefühlen beirren zu lassen, zu den 32  Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

vom „großen Haufen“ abgesonderten Olympiern zu gehören, rückten viele dieser Autoren ausschließlich ihre eigene Kunstfertigkeit in den Vordergrund, während sie Fragen ihrer gesellschaftlichen Umwelt, die sie in den Bereich der „Niedrigkeit“ heruntergezogen hätten, bewußt ausblendeten. Schließlich wollte im Rahmen dieser Vereinigung jeder in erster Linie ein Poeta laureatus, aber kein politisch gewappneter Mitbruder oder gar Mitstreiter sein, der sich die Durchsetzung irgendwelcher wahrhaft deutschgesinnten Ziele zur Aufgabe gemacht hätte. Und daher trug auch diese Gesellschaft – außer ihrer forcierten Hochsprachigkeit – nichts zur Wiederbelebung einer neuen nationalen Gesinnung bei.

IV Auf einen etwas vereinfachenden Nenner gebracht, blieb also nach 1648 das Gefühl einer nationalen Zusammengehörigkeit eher auf sprachlichkultureller als auf reichspatriotischer Ebene erhalten. Justus Georg Schottelius, ein Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft, faßte diese Überzeugung 1663 in seiner Ausführlichen Arbeit von der teutschen Hauptsprache in dem Satz zusammen, daß Deutschland zwar auf eine „Menge gelahrter Leute“ stolz sein könne wie auch durch die „Besitzung einer prächtigen, wortreichen und reinen Hauptsprache einen ansehnlichen Vortritt“ habe und deshalb wenigstens auf diesem Gebiet den „Welschen“ eher über- als unterlegen sei, aber ansonsten einen betrüblichen Zustand aufweise. Deshalb stellte er, wie schon Martin Opitz, Michael Moscherosch und andere Sprachpuristen vor ihm, als gesellschaftliche Leitbilder lediglich jene durch ihre elegant-gelehrte Sprache veredelten Deutschen hin, die sich mit kulturpatriotischem Impetus gegen die in der Mitte des 17. Jahrhunderts aufkommenden Formen der Sprachmengerei und Fremdsucht wenden sollten, durch die sich ein an Frankreich angelehntes À-la-Mode-Wesen verbreite, das nicht nur auf die deutsche Sprache, sondern auch auf die deutschen Sitten einen verderblichen Einfluß habe. Das Nationalgefühl, welches sich in solchen Forderungen ausdrückte, blieb demzufolge fast ausschließlich im Bereich sprachtheoretischer Überlegungen, wenn nicht gar eines bildungsbürgerlichen Dünkels befangen, ohne daß sich daraus irgendwelche politisch konkreten Folgerungen ergeben hätten. Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts   33

Allerdings sei nicht verschwiegen, daß es selbst auf diesem Gebiet einige Autoren gab, die ihrem Deutschsein auch eine ideologische Wertigkeit zuzusprechen versuchten. Dieser Trend begann bereits im Dreißigjährigen Krieg und erfuhr in den siebziger Jahren eine neue Belebung, als die französischen Truppen auf Geheiß Ludwig XIV. in die linksrheinischen Gebiete eindrangen und vor allem die Pfalz und das südliche Baden verwüsteten. Das bekannteste Beispiel dafür ist der 1689/90 aus dem Nachlaß Daniel Casper von Lohensteins herausgegebene Roman Großmütiger Feldherr Arminius oder Hermann / Als ein tapferer Beschirmer der deutschen Freiheit / Nebst seiner durchlauchtigen Thusnelda / In einer sinnreichen Staats-, Liebes- und Heldengeschichte / Dem Vaterland zu Liebe / Dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlichen Nachfolge, worin er, wie schon zuvor Martin Opitz in seinem Aristarchus (1617) und Andreas Heinrich Buchholtz in seinem Christlichen Teutschen Großfürsten Herkules (1659), im Gefolge älterer humanistischer Identitätsentwürfe noch einmal die weltgeschichtlich bedeutsame Rolle der Germanen in der europäischen Geschichte beschworen hatte, um so den „tapferen Teutschen“ ein Vorbild zu geben, sich weiterhin gegen fremdländische Übergriffe zu wehren. Unter Bezug auf das taciteische Lob der altgermanischen Freiheit und Tugend, das heißt in deutlicher Abgrenzung vom französischen Despotismus, der an die altrömische Knechtsgesinnung und Lasterhaftigkeit erinnere, spürt man zwar in diesem Werk – im Sinne einer Laudatio patriae – noch etwas von der älteren Reichsgesinnung, die jedoch nicht auf einem nationalgestimmten Volksbewußtsein beruhte, sondern wie der bekämpfte französische Absolutismus ebenfalls auf eine Verklärung herrscherlicher Gestalten hinauslief. Schon daß Lohenstein dieses Werk nicht der deutschen Nation, sondern Kaiser Leopold I., dem siegreichen Bekämpfer der Türken, widmete, spricht für diese Tendenz. Und auch Hans Assmann von Abschatz beschwor in seiner Schrift Alrunens Warnung an Deutschland, die 1704 nach seinem Tode herauskam, noch einmal die deutschen Fürsten, sich wieder auf „Ehr und Freiheit“ zu besinnen, sah aber den einzigen Garanten einer solchen Hoffnung lediglich in einem Herrscher, der wie der „Große Karl“ der Zwietracht und dem Egoismus der verschiedenen Territorialfürsten mit eiserner Hand entgegentreten würde, um so den „zerteilten Leib Germaniens wieder zusammenzubringen“. 34  Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

4 Johann Jacob von Sandrart: Hermann der Cherusker. Illustration in Daniel Casper von Lohensteins Großmütiger Feldherr Arminius oder Hermann / Als ein tapferer Beschirmer der deutschen Freiheit (1689)

Doch für ermahnende Forderungen dieser Art war es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bereits zu spät. Im Hinblick auf die fortschreitende territoriale Zersplitterung schrieb deshalb Veit Ludwig von Seckendorff schon 1656 in seinem Teutschen Fürstenstaat, daß von nun an „unsere Handlung vornehmlich auf ein jedes Land und Provinz des Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts   35

Römischen Reichs Teutscher Nation“ gerichtet sein solle. Wohl am klarsten erkannte diese Situation Samuel von Pufendorf, der es für unsinnig hielt, sich bei irgendwelchen Reichsvorstellungen auf Arminius oder Karl den Großen zu berufen, ja überhaupt noch von einer deutschen Nation zu sprechen. Bereits in seiner 1667 publizierten Schrift De statu imperii germanici erklärte er, daß man im Hinblick auf den weiterhin bestehenden deutschen Staat nicht mehr von einem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, sondern nur noch von einem neuartigen Gemeinwesen, einem „modernam Germanorum rempublicam“, sprechen könne, welches – nüchtern betrachtet – wegen seiner inneren Zerrissenheit einem „irregulare aliquod corpus et monstro simile“, also einem „unförmigen Körper“, wenn nicht gar einem „Monstrum“ gleiche. Statt sich nach wie vor irgendwelchen illusionären Reichsvorstellungen hinzugeben, erkannte also Pufendorf bereits vor dem überschwänglich drauflos schwadronierenden Lohenstein in aller Klarheit, daß aus dem germanischen Stammesreich der Franken und dem sich daran anschließenden Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation inzwischen ein in unzählige autonome oder halbautonome Partikularstaaten zerfallenes Gebilde geworden war, in dem die kaiserliche Oberhoheit keine entscheidende Rolle mehr spiele. Ja, andere Autoren dieser Ära, wie etwa Johannes Althusius, stellten bei derartigen Überlegungen sogar das zum „vulgus“ abgewertete Volk, das lediglich „unbeständig, des Urteils unfähig, leichtgläubig, mißgünstig, unzuverlässig, undankbar und neidisch auf die Lebensweise der Fürsten“ sei, als „unbrauchbar“ für die Herausbildung eines neuen Gemeinsinns unter den Deutschen hin. Und damit gingen selbst die ersten Ansätze eines möglichen Nationalgefühls innerhalb der verschiedenen deutschen Teilstaaten, denen die illusionären Hoffnungen der Humanisten des frühen 16. Jahrhunderts gegolten hatten, wieder verloren. Das Reich des späten 17. Jahrhunderts bestand lediglich aus einer Unmenge größerer oder kleinerer Territorialherrscher sowie einem „großen Haufen“ (multitudo) von Untertanen, neben denen nicht einmal die Intellektuellen und Schriftsteller so etwas wie ein reichspatriotisches Bewußtsein aufrecht zu erhalten suchten. Selbst der jeweils gewählte Kaiser war zu diesem Zeitpunkt kaum noch auf den Zusammenhalt des ehemaligen Reichsverbands bedacht und interessierte sich fast ausschließlich für die durch Kriege oder Heiratsverträge herbeigeführte Erweiterung seines unmittelbaren Herrschafts­ 36  Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

territoriums. Voltaire charakterisierte daher diesen Zustand später in dem höchst zutreffenden und deshalb vielzitierten Satz: „Dieser Korpus, der sich immer noch Heiliges Römisches Reich nennt, ist in keiner Weise heilig, noch römisch, noch ein Reich.“

Vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts   37

Nationalbetonter Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus im Zeitalter der bürgerlichen Aufklärung

I Eine Änderung dieser Verhältnisse trat erst im frühen 18. Jahrhundert ein, als sich eine Reihe deutscher Fürsten allmählich von den luxurierenden Prunkbedürfnissen der sogenannten Barockperiode abwandte und im Zuge rationalistischer Reformbestrebungen dazu überging, ihre Verwaltungsbürokratie zu erweitern und zugleich ihre finanziellen Ressourcen durch die Einführung strafferer Organisationsprinzipien – wie der Förderung merkantilistischer Produktionsmethoden sowie der Durchsetzung des französischen Physiokratismus in der Forst- und Landwirtschaft – zu steigern. Und in derartigen Wandlungen sahen auch die aufstiegsbedürftigen Gruppen innerhalb der bürgerlichen Bildungsund Beamtenschichten eine Chance, ebenfalls an den obrigkeitlichen Geschehnissen teilzuhaben. Allerdings erwies sich diese Hoffnung zum Teil als illusorisch, da ihnen weder staatlicherseits ein effektives Mitbestimmungsrecht eingeräumt wurde, noch sie bei den sogenannten breiten Massen der Bauern und städtischen Unterklassen eine wirksame Unterstützung fanden, von denen zu diesem Zeitpunkt noch immer 90 Prozent Analphabeten waren und daher für sie unerreichbar blieben. Demzufolge sahen sich diese Schichten, obwohl sie zum Teil ebenfalls in einem einzelstaatlichen Sinne reformbetont eingestellt waren, in ihren Bemühungen weitgehend auf den Bereich der Wissenschaft und Literatur angewiesen und mußten sich selbst hier häufig genug um eine höfische Unterstützung bemühen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Die meisten Vertreter dieser Richtung gingen dabei von der Erkenntnis aus, daß Deutschland durch den Dreißigjährigen Krieg und seine Nachwirkungen in akademischer und kultureller Hinsicht weit hinter westeuropäischen Ländern wie Frankreich und England zurückgeblieben sei. Um diesem für das Heilige Römische Reich beschämenden 38  Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus

Mißstand abzuhelfen, planten sie deshalb die Einrichtung wissenschaftlicher Akademien sowie allgemeinbildender Lesegesellschaften, um auch dem deutschen Geistesleben wieder zu einem neuen Aufschwung zu verhelfen. Einer der ersten, der einen solchen Versuch unternahm, war Gottfried Wilhelm Leibniz, der sich – nachdem er als international angesehener Universalgelehrter Mitglied der Académie française geworden war – am Wiener Hof für die Einrichtung einer Deutschen Akademie einsetzte, wofür jedoch die Habsburger kein Interesse aufbrachten. Deshalb regte er kurz darauf wenigstens die Gründung einer Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin an, der später weitere Akademiegründungen in Göttingen, München und Mannheim folgten, deren Wirkungskreis allerdings relativ begrenzt blieb. Nicht viel mehr Erfolg hatten jene bürgerlichen Reformer, die im frühen 18. Jahrhundert nach dem Vorbild der französischen Sociétés de pensée in mehreren deutschen Staaten eine Reihe von Lesegesellschaften gründeten, aber in ihren Bemühungen kaum über die bildungsbürgerlichen Schichten hinausdrangen. Das gleiche gilt für jene zur gleichen Zeit entstehenden nationalbetonten Deutschen Gesellschaften oder Patriotischen Sozietäten, die zwar wegen ihrer frühliberalen Programme in den aufklärungsfreundlichen Gebieten des Protestantismus anfangs sehr begrüßt wurden, jedoch unter dem Druck der politisch überwachten Verhältnisse relativ schnell dazu übergingen, sich auf die Reinerhaltung der deutschen Sprache sowie die Einführung neuer ästhetischer Kriterien zu beschränken und sich obendrein weitgehend in den Dienst fürstlich-absolutistischer Rationalisierungsmaßnahmen zu stellen. Die ersten Gesellschaften dieser Art entstanden 1715 in Hamburg und 1727 in Leipzig, den beiden größten Bürgerstädten des Heiligen Römischen Reichs, denen in den dreißiger und vierziger Jahren die Gründungen ähnlicher Gesellschaften in Jena, Nordhausen, Weimar, Göttingen, Königsberg, Halle und Helmstedt, also fast ausschließlich in protestantischen Universitätsstädten, folgten. Wohl den größten Erfolg innerhalb dieser vorwiegend akademisch orientierten Diskursnischen hatte anfänglich die von Johann Christoph Gottsched geleitete Leipziger Deutsche Gesellschaft. Nach dem „berühmten Exempel der vorlängst in Paris gestifteten französischen Akademie“ wollte Gottsched, wie er selber schrieb, dieser Gesellschaft in Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus   39

sozialer und nationaler Hinsicht eine weit über Leipzig hinausgehende Wirkung verleihen. Als reformbestrebter Frühaufklärer setzte er dabei im Hinblick auf die Aufnahmerituale durch, daß in Zukunft nicht mehr der gesellschaftliche Rang, sondern allein die einzelpersönliche Leistung über die Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft entscheiden sollte. Und das führte zwangsläufig zu einer fortschreitenden Verbürgerlichung dieses Kreises, in dem anfangs – allein wegen ihres sozialen Ansehens – auch „adlige Personen“ eine wichtige, wenn nicht gar entscheidende Rolle gespielt hatten. Vor allem im Hinblick auf die deutschbetonten Kulturkonzepte dieser Gesellschaft bewirkten diese Wandlungen eine unübersehbare Kursänderung. Wenn nämlich Gottsched von nationaler Kultur sprach, meinte er nicht mehr die aristokratische Hofkultur der Barock-Ära mit all ihren „Schwülstigkeiten“, wie er das nannte, sondern stets die Kultur des „mittleren Standes“. Was er dabei unter „deutsch“, das heißt „patriotisch-gesinnt“ verstand, waren allerdings – in humanistischer Tradition – weitgehend moralische und keine politischen Wertvorstellungen. Ihm ging es vornehmlich um die Durchsetzung bestimmter bürgerlicher Werte wie „Fleiß“ und „Redlichkeit“ und nicht um irgendwelche rebellischen Absichten. Demzufolge unterstützten seine Bemühungen zwar ein mittelständisches Selbstbewußtsein, enthielten aber noch keine soziale Sprengkraft. Was er und seine Gesinnungsgenossen anstrebten, war letzten Endes lediglich die Stärkung einer reformbetonten Gelehrten- bzw. Bildungsschicht, wodurch es dem rationalistisch eingestellten und sich zugleich benevolent gebenden landesherrlichen Absolutismus relativ leicht fiel, diese potentielle Opposition ohne große Schwierigkeiten in sein gesellschaftliches System einzugliedern. Um einen über die gebildeten bürgerlichen Oberschichten hinausgehenden Nationalismus in Gang zu setzen, dazu bedurfte es wesentlich breiterer Gesellschaftsschichten als jene sich als “res publica litteraria“ oder „Gelehrtenrepublik“ verstehenden Akademikergruppen, die an den von Gottsched eingeleiteten sprachpuristischen und wissenschaftlichen Reformbemühungen teilnahmen oder wenigstens mit ihnen sympathisierten. Eine der wichtigsten darunter war der sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausbreitende Pietismus.

40  Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus

II Im Gegensatz zu den Gottschedianern und ähnlich orientierten Frühaufklärern, wie etwa den Bremer Beiträgern, die mit ihren Reformvorstellungen ebenfalls auf das sich allmählich emanzipierende Bürgertum einzuwirken versuchten, beschlossen andere mittelständische Gruppen, sich aus den weiterhin bestehenden absolutistisch überformten Gesellschaftsverhältnissen in stille Enklaven religiös orientierter Konventikel zurückzuziehen. Das gilt, wie gesagt, vor allem für die Pietisten, die das Wesen des Christentums vornehmlich in seelisch vertieften Gefühlserlebnissen erblickten und daher innerhalb des halbwegs erstarrten und zugleich obrigkeitsverpflichteten Protestantismus in Form brüderlich verbundener Gemeinden eine neue Freundschafts- und Liebesethik einzuführen versuchten. Dementsprechend wandte sich diese Bewegung sowohl gegen die kalte Intrigenwelt des höfischen Absolutismus als auch gegen den ökonomischen Rationalismus innerhalb des heraufziehenden Merkantilismus und vertrat in strenger Abgeschiedenheit von allem „äußerlichen Getriebe“ bis dahin weithin unbekannte Solidaritätsvorstellungen. Statt sich in die realexistierende Gesellschaft einzufügen oder sie gar reformieren zu wollen, empfanden sich die pietistisch gesinnten Gruppen im Gefolge Philipp Jakob Speners als eine „ecclesiola in ecclesia“, die wegen der Unsicherheit und Vergänglichkeit aller irdischen Verhältnisse einen ungewöhnlich starken Nachdruck auf die innige Vertrautheit aller in ihrem Geiste verbundenen „Stillen im Lande“ legte. Das sieht auf den ersten Blick wie ein Rückzug in die Gefilde jener Inneren Emigration aus, der in vielen autoritär überformten Gesellschaftssystemen zu beobachten ist. Und das trifft auf manche Erscheinungsformen des Pietismus dieser Ära auch durchaus zu. Indem jedoch einige dieser Gruppen den Gemeinsinn weit über den Wunsch nach jener persönlichen Selbstrealisierung stellten, wie er im Rahmen des bürgerlichen Rationalismus propagiert wurde, bereiteten sie zugleich den Boden für ein Gemeinschaftsdenken, welches aus dem Bereich der religiösen Verbundenheit auch in das Bedürfnis nach einer nationalgefärbten Solidarität übergehen konnte. Demzufolge kam es in derartigen Kreisen immer wieder dazu, daß aus der liebenden Vertrautheit aller pietistisch gesinnten Glaubensgenossen auch eine Liebe zu ihrem jeweiliRationalismus, Pietismus und Frühliberalismus   41

gen Vaterland erwuchs, mit anderen Worten: die Hingegebenheit an den christlichen Glauben auf die Hingegebenheit an die Gesamtbevölkerung ihres eigenen Landes übertragen wurde. Dadurch entstand schließlich ein pietistischer Patriotismus, dem es weniger um die Wohlfahrt des Einzelmenschen als um das Gesamtwohl aller in einem Staat lebenden Menschen ging, was ein von dieser Entwicklung beeinflußter Autor wie Friedrich Carl von Moser später als „Nationalgeist“ bezeichnete. Ja, ein ebenfalls patriotisch gesinnter Pietist wie Johann Kaspar Lavater schieb sogar: „Wir seien arm, wir seien reich, / Der Große wie der Kleine, / sind Brüder, sind sich alle gleich, / Der Edle, der Gemeine! / Uns bindet all’ ein heilig Band! / Wir leben nur fürs Vaterland! / Das Vaterland soll leben!“ Und dieses Solidaritätskonzept, das letztlich auf die Gleichheit aller Menschen vor Gott zurückgeführt wurde, hatte – sozialhistorisch gesehen – beträchtliche Folgen. Während viele Vertreter der Frühaufklärung das einfache Volk bzw. den „großen Haufen“ noch vornehmlich als ein Objekt der Belehrung betrachtet hatten, verzichteten die Pietisten weitgehend auf alle Formen eines dünkelhaften Wissenshochmuts und sahen in den Angehörigen der gesellschaftlichen Unterklassen eher Menschen der Herzenseinfalt und Natürlichkeit, die für die Liebeslehre Christi ein wesentlich größeres Verständnis aufbrächten als jene nur ihr eigenes Ich im Auge habenden bürgerlichen Rationalisten. Selbst die Opfer- und Erlösungstat ihres Heilands, wie überhaupt alle Gefühle der „Hingabe an etwas Höheres“, behaupteten sie, beeindruckten derartige Menschen wesentlich stärker als die Reformvorstellungen irgendwelcher „Großkopfeten“, die in erster Linie nur an sich selber dächten, statt den Endzweck ihres Lebens in einer religiös erweckten Gemeinschaft mit anderen Menschen zu sehen.

III Von den bedeutenderen Dichtern dieser Ära wurde vor allem Friedrich Gottlieb Klopstock von solchen Vorstellungen beeinflußt. Davon zeugen schon die ersten drei Gesänge seines Messias, die 1748 erschienen. Neben dem Tempel der wahren Dichtkunst (1737) von Immanuel Jakob Pyra sahen viele pietistisch Gestimmte dieses Zeitraums in ihnen die wichtigsten literarischen Zeugnisse einer religiösen und zugleich neu42  Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus

deutschen „Seelenhaltung“, die sich endlich aus der gefühllosen Enge einer rationalistischen Gelahrtheit bzw. einer oberflächlichen, dem höfischen Geschmack angepaßten Rokokoidyllik zu einer dem innersten Wesen des Protestantismus entsprechenden „Tiefe“ durchgerungen habe. Auch die weiteren Gesänge dieses von pathetischer Gefühlsinbrunst erfüllten Werks sowie die ihnen folgenden Geistlichen Lieder und Oden Klopstocks, welche ebenfalls ins Weihevolle, ja geradezu Seherische tendierten, fanden bei seinen Anhängern die gleiche, ins Enthusiastische gesteigerte Zustimmung. Selbst als sich Klopstock in manchen seiner Oden wie auch seinen drei Hermann-Dramen (1769–1787) nationalbetonten Themen zuwandte, empfanden das die ReligiösErweckten unter seinen Lesern nicht als eine Wendung ins Säkulare, sondern eher als eine Erweiterung seiner das Gemeinschaftsbetonte verklärenden pietistischen Grundgesinnung. Schließlich sahen viele Vertreter dieser Kreise zwischen dem himmlischen und dem weltlichen Vaterland keinen grundsätzlichen Unterschied. Der Messias hatte für sie die Menschheit von der Sünde, Hermann der Cherusker die alten Germanen von der „welschen Tyrannei“ befreit. Der Märtyrer und der Heerführer: in beiden erblickten Klopstock und seine Anhänger charismatische Leitfiguren, die für eine „heilige Sache“ geblutet hätten – der eine auf dem Altar des inneren, der andere auf dem Altar des äußeren Vaterlandes. Statt also weiterhin in einer inzwischen obsolet gewordenen Humanistenmanier dem älteren Reichspatriotismus zu huldigen oder sich wie manche Vertreter der deutschen Frühaufklärung jene Franzosen zum Vorbild zu nehmen, die so stolz auf ihre rationalistischen, merkantilistischen, wenn nicht gar atheistischen Überzeugungen seien, unterstützte Klopstock eine christgermanische Erweckungsideologie, die sich sowohl in einem positiven Sinne als „national“ als auch in einem negativen Sinne als „nationalistisch“ interpretieren läßt. Positiv daran war, daß sie aufgrund ihres pietistischen Gemeinschaftsdenkens einen zutiefst antiabsolutistischen Charakter hatte. Im Gegensatz zu vielen Schriften der sich in den Dienst der jeweiligen Obrigkeiten stellenden frühliberalen Reformer unter seinen bürgerlichen Zeitgenossen finden sich daher in Klopstocks Werken keine die fürstlichen Potentaten dieser Ära verherrlichenden Panegyrika. Wenn er sich überhaupt auf Herrschergestalten berief, dann lediglich auf mittelalterliche Könige oder Kaiser wie Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus   43

Heinrich den Vogler, Friedrich Barbarossa oder Heinrich VI. Dagegen lehnte er Friedrich II. von Preußen, der von vielen reformbetont eingestellten Aufklärern aufgrund seiner benevolenten Attitüden häufig als der „Große“, wenn nicht gar der „Einzige“ gefeiert wurde, in aller Entschiedenheit ab, und zwar nicht nur wegen der kriegerischen Politik dieses Herrschers, sondern auch wegen der geradezu sklavischen Verehrung alles Französischen und der dementsprechenden Geringschätzung spezifisch deutscher Kulturbemühungen, mit der Friedrich vor allem in seinem berüchtigten Essay De la littérature allemande (1780) nicht hinterm Berge gehalten hatte. Allerdings sollte man im Hinblick auf Klopstocks erbitterte Reaktionen auf derartige Schriften nie seine pietistisch-nationale Gesinnung unterschlagen, statt sie allein auf seine gekränkte Eitelkeit zurückzuführen. Dennoch lassen sich in seinen Schriften auch einige „nationalistische“ Überschwänge nicht ganz übersehen. Vor allem dort, wo sich Klopstock – voller Empörung über den immer noch herrschenden Absolutismus seiner Zeit – bei der Behandlung germanischer oder mittelalterlicher Themen zu einem blutrünstigen Römer- oder Römlingshaß hinreißen ließ und das Deutsche unter strikter Ausgrenzung alles Fremden einfach schlichtweg mit moralischen Vorzügen wie „gut, edel und treu“ gleichsetzte, als ob solche Charakteristika nicht auch auf Menschen anderer Völker zutreffen könnten, findet sich in seinen Werken manches Problematische. Das gilt vor allem für seine Hermann-Dramen, in denen – neben ihrem pietistischen Blut- und Wundenkult – der zum Kampf anfeuernde Bardengesang sowie der Edelmut der beiden Hauptgestalten manchmal geradezu überpatriotische Züge annimmt, deren ideologische Folgeerscheinungen Klopstock später zu Recht als chauvinistisch angekreidet wurden. Doch viele seiner Zeitgenossen, die darin – frei aller historischen Einkleidung – lediglich einen Affront gegen den mangelnden nationalen Gemeinsinn unter der Bevölkerung ihrer eigenen Ära sahen, stimmten einer solchen Haltung durchaus zu. So wollte selbst ein Reformaufklärer wie Christoph Willibald Gluck gegen Ende seines Lebens, nachdem er in seinen bisherigen Werken „der französischen Nation die mehrsten Kräfte seines Geistes verschleudert“ habe, wie er selber schrieb, eine Oper nach Klopstocks Hermanns Schlacht komponieren, so sehr war er von der in diesem Werk zum Ausdruck kommenden Sehnsucht nach der „alten Freiheit“ der Germanen 44  Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus

5 Gerdt Hardorff: Klopstock als Barde (1790). Versailles, Musée national du Château de Versailles © bpk/RMN/Gérard Blot

begeistert. Und auch Anton Klein, der Librettist von Ignaz Holzbauers Oper Günther von Schwarzburg (1777), die allgemein als die erste deutsche Nationaloper gilt, verwandte bei der Textfassung dieses Werks eine beträchtliche Anzahl klopstockisierender Wendungen, um damit dem Ganzen einen Zug ins Patriotische zu geben. Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus   45

Die größte Breitenwirkung erzielte jedoch Klopstock durch die schnell populär werdenden Gedichte jenes auf ihn schwörenden Dichterbunds, der unter der Bezeichnung „Göttinger Hain“ in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen ist. Zu dieser Gruppe gehörten vor allem jene niedersächsisch-hannövrischen Studenten, deren wichtigstes Publikationsorgan der Göttinger Musenalmanach war. Sechs von ihnen schlossen sich am 12. September 1772 unter als heilig empfundenen Eichen zu einem „ewigen Bund“ der Freundschaft zusammen und wollten ihr Leben fortan ausschließlich in den Dienst der Tugend, der Freiheit und des teutschen Vaterlands stellen. Statt im Gefolge der von einem Frühaufklärer wie Johann Joachim Winckelmann entfachten Griechenschwärmerei oder der Rokokotändeleien des Halberstädter Dichterbunds den Kultort wahrer Dichtung weiterhin im musenbewohnten Parnaß zu sehen, empfanden sie in Anlehnung an Klopstocks Ode Der Hügel und der Hain von 1767 das auf die germanische Vorzeit zurückgehende Eichenwäldchen als den würdigsten Ort deutscher Dichtung. Ja, sie gaben sich sogar Namen wie Bardenhold, Haining, Minnehold, Sangrich, Teuthart und Werdomar, um auch auf dieser Ebene ihre innere Verbundenheit mit der nordisch-deutschen Bardentradition herauszustreichen. Den Dichter, welchen die Göttinger Hainbündler unter den deutschsprachigen Autoren ihrer Zeit am meisten verachteten, war der von ihnen als höfisch-galant und dementsprechend französelnd empfundene Rokoko-Poet Christoph Martin Wieland. Doch auch an den als zu „nüchtern“ hingestellten Rationalisten der ersten Jahrhunderthälfte ließen sie kaum ein gutes Haar. Um so inbrünstiger verehrten sie dagegen Klopstock, und zwar vor allem wegen seines protestantisch-pietistischen Tugendkults, seines nordisch gefärbten Nationalismus sowie seiner schroffen Ablehnung sämtlicher Formen der französischen Hofkultur. Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Johann Martin Miller, Friedrich Leopold zu Stolberg und Johann Heinrich Voß, die vier Hauptdichter dieses Kreises, schrieben daher vor allem Gedichte, die sich in den Dienst einer innigst herbeigesehnten patriotischen Erweckungsbewegung stellten. Ihre literarischen Motive, denen sie eine bewußt volkstümliche Note zu geben versuchten, übernahmen sie fast alle von Klopstock. Wie in seinen Oden oder Hermann-Dramen ist daher auch in ihren Gedichten ständig von den Gräbern der Altvordern, dem teutoni46  Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus

schen Gott Braga, den teutschen Eichen, von Wodan und Wittekind, den germanischen Harzbergen, von Heldengeist und verströmtem Patriotenblut, von der längst fälligen Rückkehr zur Urvätersitte, von den sittsam-keuschen Töchtern Germaniens, vom teutschen Rhein, von altteutscher Freiheit, vom Haß auf herrschsüchtige Despoten, vom angestammten Landleben, der Schlichtheit der bäuerlichen Hütten, von Vaterlandshelden wie Hermann dem Cherusker, Wilhelm Tell und Ulrich von Hutten, von teutscher Treue, ja von rückhaltsloser Todesbereitschaft fürs heilige Vaterland die Rede, während in ihnen andererseits ebenso häufig gegen „welsche“ Tücke, Sittenverderbnis, Frivolität, Flatterhaftigkeit, Prunksucht, höfisches Intrigantenwesen und buhlerische Liederlichkeit vom Leder gezogen wird. Mit anderen Worten: Bescheidenheit steht hier gegen Luxus, Tugend gegen Dekadenz, Germania gegen Lutetia, als dränge bereits alles auf einen Befreiungskampf der Söhne Teuts gegen die verderbenbringenden Römer bzw. Gallier hin. All das läßt sich auf den ersten Blick leicht als nationalistische Überspitzung „desavouieren“, wie sich Theodor W. Adorno ausgedrückt hätte. Und doch steckt hinter dem christgermanischen Hochmut und dem inbrünstigen Nationalismus dieser Gedichte, was man nicht übersehen sollte, auch eine damals durchaus gerechtfertigte bürgerliche Aversion gegen jene französelnd-luxurierende Hofmanier, der in diesen Jahren nicht nur viele deutsche Fürsten, sondern auch große Teile des Adels sowie die mit ihm liierte Großbourgeoisie huldigten. Schließlich wird in diesen Gedichten nicht nur die höfische Galanterie, der Flitterstaat, das übertriebene Prunkbedürfnis, kurzum: der gesamte „Franzosenbrauch“, sondern auch jene großbürgerliche Handels- und Bereicherungsgier verworfen, die sich damals in Westeuropa entwickelte und auch auf die deutschen Staaten überzugreifen begann. Als positive Gegenbilder zu den von ihnen verworfenen Repräsentanten der oberen Klassen mit all ihren Schranzen, Ohrenbläsern und Kokotten priesen deshalb die Göttinger Hainbündler geradezu pausenlos die einfachen Bauern, Dienstmädchen und kleinbürgerlichen Biedermänner, die zwar keine Ahnentafeln und keinen kulturellen Schliff, aber dafür einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, Beseelung und Bescheidenheit hätten. Nur jene Deutschen, die in „kleinen Hüttchen“ ein anspruchsloses, den Gesetzen der Natur entsprechendes Leben führten, erschienen ihnen als zutiefst „edel und gut“. Im Sinne dieser Vorstellungen glaubte ein Großteil der MitRationalismus, Pietismus und Frühliberalismus   47

glieder dieses Bundes anfangs tatsächlich, daß es möglich sei, wieder zu einem an germanischer oder altdeutscher Einfachheit orientierten Leben zurückzukehren, welches sich dem entsittlichenden Einfluß der oberen Klassen zu entziehen versuche, um nicht in den korrumpierenden Sog der höfischen Verschwendungssucht sowie irgendwelcher ökonomischen Modernisierungsschübe zu geraten. Aus diesem Grunde stellten die Göttinger Hainbündler solchen Tendenzen immer wieder das Leitbild des selbstgenügsamen Landmannes, des Simplex teutonicus, als des eigentlichen, an der Urvätersitte festhaltenden Menschen entgegen. Allerdings erkannten selbst sie schon kurze Zeit später, daß sich diese Hoffnung – angesichts der höfisch überformten politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse – als eine Illusion erwies, weshalb sich dieser nationalistisch gesinnte Bund schon in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wieder auflöste.

IV Im Gegensatz zum Gemeinschaftsdenken der protestantisch-pietistischen Kreise, das in den Schriften Friedrich Gottlieb Klopstocks und der Göttinger Hainbündler eine merkliche Zuspitzung ins Nationalpolitisch-Utopische erfuhr, äußerte sich die gesteigerte Freiheitssehnsucht der eher wirtschafts- oder bildungsbürgerlich eingestellten Schichten, wie sie sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in ihren diesbezüglichen Publikationen widerspiegelt, eher auf reformbetont-aufklärerische Weise. In ihnen stand nicht die Hinwendung zu einem archaischverklärten Landleben und schon gar nicht zum „großen Haufen“ des sogenannten niederen Volks, sondern meist in idealistischer Hoffnungserwartung eine Verbesserung, Vervollkommnung, wenn nicht gar Veredelung jener Menschen im Vordergrund, deren maßgebliche Vertreter diese Schichten in sich selber sahen. Zwar lehnten auch diese Kreise sowohl die fürstliche Willkürherrschaft als auch die Reste der alten Reichsverfassung ab, aber verbanden mit dieser Ablehnung keine nationalgestimmten Veränderungs- oder gar Umsturzvorstellungen, sondern versuchten – meist in Anlehnung an die als „landesväterlich“ bezeichneten Dynastien – sich in ihrem eigenen gesellschaftlichen Umfeld größere Rechte und Privilegien zu verschaffen, worunter sie in erster Linie eine 48  Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus

6 Johann Wilhelm Meil: Germanen. Frontispiz in Justus Mösers Osnabrückischer Geschichte (1768) Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus   49

erheblich erweiterte gewerbliche Freizügigkeit sowie eine Abschaffung der bisherigen einzelstaatlichen Zensurbestimmungen verstanden. Zu Anfang waren es relativ kleine Kreise, die solche Wünsche vortrugen. Obendrein blieben sie dabei meist im Bereich des TheoretischSpekulativen befangen, statt auch Forderungen aufzustellen, welche in die gesellschaftliche Praxis eingegriffen hätten. Doch im Laufe der Zeit – vor allem seit den vierziger und fünfziger Jahren – wurden die Forderungen, die sich in derartigen frühliberalen Schriften finden, zusehends konkreter. Dazu trugen nicht nur die politischen Ereignisse dieses Zeitraums, wie etwa der österreichische Erbfolgekrieg (1741–1748) und der Siebenjährige Krieg (1756–1763), die innerhalb des Heiligen Römischen Reichs eine verstärkte Politisierung der bürgerlichen Bevölkerungsschichten bewirkten, sondern auch eine Reihe sozioökonomischer Wandlungen bei, die zu einer allmählichen Lockerung der gewerblichen Restriktionen innerhalb des Zunftwesens sowie der staatlich überwachten merkantilistischen Produktionsweise führten. All das bewirkte zwar eine größere Teilnahme des Bürgertums an den öffentlichen Angelegenheiten, ob nun in fritzischer oder habsburgischer Gesinnung, wie man damals sagte, hatte jedoch kaum Folgen auf nationalpolitischer Ebene. Das hing zum Teil mit den konfessionellen Gegensätzen zwischen den verschiedenen Landesteilen zusammen, die nach wie vor eine beträchtliche Rolle spielten. Schließlich blieb die Aufklärung im Heiligen Römischen Reich weitgehend ein protestantisches Phänomen, während sie in den katholischen Gebieten – von den josephinischen Reformbestrebungen im Habsburgerreich einmal abgesehen – weitgehend auf kirchliche Gegenwehr stieß. Es waren daher in der Folgezeit fast nur protestantische Autoren, die sich in diesem Zeitraum – wenn auch noch ohne nationalbetonte Konzepte – zusehends für ein größeres Mitbestimmungsrecht in staatlichen Angelegenheiten einsetzten. Und zwar stellten sie dabei in ihrer Abneigung gegen den fürst­ lichen Absolutismus vor allem jene bürgerlichen Tugenden in den Vordergrund, mit denen sie ihre Vernunftbeflissenheit, ihre Arbeitsamkeit und ihren Bildungseifer unter Beweis stellen wollten. Einen besonders starken Nachdruck legten sie im Rahmen solcher Bestrebungen auf die pädagogischen Aspekte, da sie überzeugt waren, daß sich ein „besseres Menschsein“ nur im Rahmen einer bürgerlichen Ethik erreichen lasse, um so endlich jenen aristokratischen Wertekanon zu überwinden, der 50  Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus

sich weitgehend in höfischer Prunkentfaltung, übersteigertem Herrschaftsbewußtsein und sittenloser Mätressenwirtschaft manifestiere. Allerdings sahen sich hierbei viele Vertreter dieser Richtung darauf angewiesen, sich mit solchen Reform- und Erziehungsvorstellungen in den Dienst der von ihnen ansonsten abgelehnten Fürsten zu stellen, da es noch keine anderen Institutionen für derartige Bemühungen gab. Also verdingten sie sich entweder als Hofmeister bei halbwegs aufgeklärten Adligen oder als Hofangestellte bei sogenannten „guten Landesvätern“, die sie in ihrem Sinne zu beeinflussen suchten. Ja, einige von ihnen schrieben sogar althergebrachte Fürstenspiegel, mit denen sie den jeweiligen Herrschern einen Leitfaden zu einer besseren Regierungsausübung zur Hand geben wollten. Dafür sprechen unter anderem jene Romane zwischen Der redliche Mann am Hofe (1742) von Johann Michael Loen bis zu Der goldene Spiegel oder Die Könige von Scheschian (1772) von Christoph Martin Wieland, deren Protagonisten bei Hofe Reformen durchzusetzen versuchen, die auch dem niederen Adel und dem gehobenen Bürgertum eine Mitbeteiligung an den staatlichen Angelegenheiten ermöglichen würden, anstatt auf diesem Gebiet alle Entscheidungen weiterhin der absolutistischen Willkür des jeweils regierenden Fürsten zu überlassen. Bedingt durch die territoriale Zersplitterung des damaligen Heiligen Römischen Reichs, blieb allerdings diese Tendenz ins Erzieherische weitgehend partikularistisch und nahm keine nationalbetonte Richtung an. Und zwar gilt das selbst für jene Bemühungen, die sich auf literarischer Ebene als „deutsch“ oder „national“ ausgaben. Im Bereich des Theaters finden sich die ersten Ansätze dazu bei Johann Christoph Gottsched, der bereits zwischen 1740 und 1746 in den sechs Bänden seiner Buchreihe Deutsche Schaubühne eine stattliche Reihe von Musterdramen für ein das gebildete Bürgertum ansprechendes Theater veröffentlicht hatte. Ja, Johann Elias Schlegel, sein Schüler und Mitstreiter auf diesem Gebiet, war kurz darauf sogar dazu übergegangen, seinen Dramen eine betont nationale Tendenz zu geben, um so das Theater, das lange genug unter französischem Einfluß gestanden habe, in eine mit vaterländischem Geist erfüllte Institution zu verwandeln. Doch erst Johann Friedrich Löwen – von einer der vielen Deutschen Gesellschaften herkommend – faßte schließlich den Plan, ein Deutsches Nationaltheater zu gründen. Um sich dabei nicht aus finanziellen Gründen dem Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus   51

Geschmack der unterhaltungssüchtigen Bevölkerungsschichten anpassen zu müssen und sich stattdessen ausschließlich seiner erzieherischen Mission widmen zu können, hoffte er anfangs auf die Unterstützung eines benevolenten Landesherren. Als er diesen nicht fand, engagierte er schließlich – unter der Versicherung, nie ein „falscher Höfling“ zu werden, sondern stets ein „gewissenhafter Bürger“ zu bleiben, wie es in seinem Gebet eines Patrioten heißt – die Ackermannsche Schauspieltruppe in Hamburg und forderte 1767 alle „Dichter der Nation“ auf, ihm geeignete Stücke für sein Theater zu liefern. Doch selbst dieser Versuch, für den sich sogar Gotthold Ephraim Lessing mit seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767–1769) einsetzte, scheiterte schon nach zwei Jahren, zumal Löwen sogar vom dortigen Senat keine finanziellen Zuschüsse erhielt, da die Hamburger Kaufleute „wichtigere Dinge“ im Kopf hätten als eine Theaterreform, wie der Hamburger Correspondent ironisierend schrieb. Letztlich war der Bildungsstand selbst in einer relativ reichen Stadt wie Hamburg, in der auch das erste deutschsprachige Opernhaus drei Jahrzehnte zuvor Konkurs anmelden mußte, zu diesem Zeitpunkt einfach noch zu niedrig. Es war daher nur halbwegs richtig, wenn Lessing 1769 diesen Mißerfolg vornehmlich darauf schob, daß „die Deutschen noch keine Nation sind“, weshalb sie nach wie vor „die geschworenen Nachahmer alles Ausländischen“ seien. Der wahre Grund bestand eher darin, daß damals nur eine kleine Minderheit von Intellektuellen an solchen Bemühungen interessiert war, während sich das höfische Publikum vornehmlich an italienischen Opern delektierte und die Mehrheit der Bürgerklasse – neben Kirchgang und kruden Unterhaltungen – fast ausschließlich das Geschäftliche im Auge hatte. Und daher scheiterten auch jene Versuche, ähnlich geartete Deutsche Nationaltheater in Wien (1776), Mannheim (1777) oder Berlin (1786) zu gründen. Noch weniger Chancen hatten damalige Künstler, irgendwelche nationalbetonten Tendenzen in den bildenden Künsten oder der Musik durchzusetzen. Selbst innerhalb der zweiten Jahrhunderthälfte dominierten in der Malerei noch immer die französischen oder niederländischen Vorbilder. Sogar dort, wo sich einzelne norddeutsche Künstler, wie Pascha Weitsch oder Carl Wilhelm Kolbe, im Gefolge Klopstocks oder der Göttinger Hainbündler seit den achtziger Jahren der Darstellung spezifisch deutscher Landschaften oder als national empfundener 52  Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus

7 Carl Wilhelm Kolbe: Knorrige Eiche (um 1795). Dessau, Anhaltinische Gemäldegalerie

Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus   53

knorriger Eichbäume zuwandten, wurden solche Bemühungen kaum beachtet. Noch weniger deutschbetonte Werke finden sich in diesem Zeitraum auf musikalischem Gebiet, das fast ausschließlich der Kontrolle der Höfe und der Kirchen unterlag. Zugegeben, es gab auch eine Reihe deutschsprachiger Singspiele, die sich an ein mittelständisches Publikum wandten. Aber selbst diese verleugneten selten, daß sie sich musikalisch an italienischen oder französischen Vorbildern orientierten und obendrein in ihren Handlungen meist im Bereich des Unterhaltenden blieben. An den Höfen blieb dagegen bis zum Jahrhundertende, um nur ja keine nationalen Tendenzen aufkommen zu lassen, die italienische Opera seria oder Opera buffa vorherrschend.

V Lediglich auf dem Gebiet der Literatur, dem die aufklärerisch eingestellten Intellektuellen ohnehin eine größere Bedeutung zumaßen als der Malerei oder der Musik, lassen sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einige sich allmählich verstärkende Tendenzen ins Deutschbetonte beobachten. Allerdings blieben sie auch hier relativ begrenzt, da die meisten Höfe selbst auf diesem Sektor des kulturellen Lebens weitgehend ausländische Werke favorisierten, statt irgendwelche Autoren zu fördern, welche sie aufgrund ihrer nationalen Ausrichtung in ihren partikularistischen Herrschafts- und Besitzverhältnissen bedroht hätten. Ein radikaler „Patriot“ wie Klopstock wurde daher, wie gesagt, sogar von einem als benevolent geltenden König wie Friedrich II. von Preußen scharf angegriffen und mußte demzufolge einen Großteil seines Lebens am dänischen Hof und später in der freien Reichsstadt Hamburg verbringen. Und auch Lessing erhielt keine Anstellung in Berlin und konnte froh sein, wenigstens in Braunschweig-Wolfenbüttel – wenn auch unter gewissen Zensurbeschränkungen – als Bibliothekar angestellt zu werden. Wo also im Literaturbetrieb dieses Zeitraums – außerhalb der klop­stockisierenden Richtung – irgendwelche deutschbetonten Anschauungen zum Durchbruch kamen, äußerten sich diese, wie schon im 17. Jahrhundert, meist im Bereich relativ unverfänglich wirkender sprachtheoretischer Überlegungen, um nicht von vornherein auf den 54  Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus

Widerstand der Höfe zu stoßen. Während Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Verbesserung der Teutschen Sprache (1717) sowie Johann Christoph Gottsched in seiner Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst (1748) auf diesem Gebiet noch vornehmlich von rationalistischen Erwägungen ausgegangen waren, das heißt sich für einen Sprachpurismus bzw. die Vorrangstellung des Mitteldeutschen gegenüber den weiterbestehenden Dialekten eingesetzt hatten, erklärte Johann Georg Hamann nach einem pietistischen Erweckungserlebnis im Jahr 1758, daß jede Sprache auf einen göttlichen Ursprung zurückgehe und daher die von religiösen Impulsen inspirierte Poesie die höchste Ausdrucksform der verschiedenen europäischen und vorderasiatischen Völker sei. Eine nationale Vertiefung erfuhr dieses Sprachkonzept darauf in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) sowie in anderen Schriften Johann Gottfried Herders, der die dichterische Sprachgebung als ein seit Urzeiten vorgegebenes Medium charakterisierte, in dem sich der jeweilige Volksgeist der verschiedenen Nationen am reinsten manifestiere. „Ohne eine gemeinschaftliche Landes- und Muttersprache“, erklärte er immer wieder, „gibt es kein wahres Verständnis der Gemüter, keine gemeinsame patriotische Bildung, keine innige Mit- und Zusammenempfindung, kein vaterländisches Publikum.“ In solchen, mit pietistischen Anklängen durchsetzten Äußerungen bemühte sich Herder um eine patriotische Aufwertung der deutschen Sprache, die einen deutlich antifeudalistischen Charakter hat. „Mittels der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet, mittels der Sprache wird sie ordnungsund ehrliebend!“, heißt es dementsprechend bei ihm an anderer Stelle, „wer die Sprache einer Nation verachtet, entehrt ihr edelstes Publikum; er wird ihres Geistes, ihres inneren und äußeren Ruhms, ihrer Erfindungen, ihrer feineren Sittlichkeit und Betriebsamkeit gefährlichster Mörder.“ Daß mit einer derartigen Kritik jene aristokratischen Schichten gemeint waren, die ihren Lustschlössern Namen wie Mon repos, Eremitage oder Sanssouci gaben, Louis-Quinze-Möbel bevorzugten und auf französisch miteinander parlierten, während sie alles Deutsch-Bürgerliche als ungefüg, klotzig, wenn nicht gar barbarisch belächelten, steht wohl außer jedem Zweifel. Herders Argumentation gegen den affektierten Gebrauch einer fremden Sprache ist also nicht „ausländerfeindlich“ zu verstehen, sondern richtet sich lediglich gegen den Dünkel jener sich vom „gemeinen Volk“ absondernden gesellschaftlichen Oberschichten, Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus   55

der dazu führe, daß das „Herz veröde“ und die „Seele an dem Wesentlichsten leer gelassen“ werde. Immer dann, wenn er auf das Wesen der „Sprachseele“ einging, meinte er demzufolge stets die dahinterstehende „Volksseele“, wie sie sich im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung herausgebildet habe. So gesehen, lagen Herders Volksnationalismus weder preußischvaterländische Vorstellungen im Gefolge der Schrift Von dem Nationalstolze (1758) von Johann Georg Zimmermann noch längst hinfällig gewordene reichspatriotische Anschauungen, wie in jenem Traktat Von dem deutschen Nationalgeist (1765) von Friedrich Carl von Moser, zugrunde, in dem lediglich die „separatistische Denkungsart“ innerhalb der verschiedenen deutschen Teilstaaten bedauert wurde. Ihm ging es um wesentlich vertieftere Einsichten in die ursprünglich sozialharmonische Eigenart der verschiedenen europäischen Völker, die – seiner Meinung nach – erst durch die Herrschaftsformen des fürstlichen Absolutismus zu Klassengesellschaften entartet seien. Es wäre daher unrecht, Herder im Hinblick auf derartige Überlegungen eine nationalistische Überheblichkeit anzulasten. Selbst da, wo er die besondere Eigenart der deutschen Sprache und Poesie herausstrich, blieb er im Gefolge frühliberaler Anschauungen durchaus Kosmopolit, indem er die einzelnen europäischen Völker als eine zwar höchst verschiedenartige, aber in ihren Mitgliedern gleichrangige Familie interpretierte, in der im Sinne einer größtmöglichen Humanität das Prinzip der Toleranz herrschen solle. Ja, er hoffte sogar als reform- und fortschrittsbetonter Aufklärer, daß der friedliche Wettstreit dieser Völker den eigentlichen Reichtum der menschlichen Natur zu seiner vollen Entfaltung bringen würde. Allerdings erhielt durch diesen ideologischen Tiefgang die von Herder propagierte Volksvorstellung, die es bisher in dieser Form kaum gegeben hatte, eine ganz neue Sprengkraft. Sobald nämlich die Begriffe „Volk“ und „Nation“ immer ähnlicher wurden und schließlich ineinander übergingen, mußte sich – falls man hierbei Herders kosmopolitische Grundüberzeugung aufgab – zwangsläufig ein Nationalismus entwickeln, der höchst problematische Konsequenzen haben konnte. Doch dazu war es in den sechziger und siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts noch zu früh. Zu diesem Zeitpunkt herrschte selbst innerhalb der deutschbetonten Kreise der bildungsbürgerlich eingestellten Oberschicht fast durchgehend eine frühliberale Gesinnung, die allerdings 56  Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus

aufgrund der territorialen Zersplitterung des Heiligen Römischen Reichs noch nicht so vernetzt war, daß sich daraus ein politischer Gemeinsinn entwickelt hätte.

VI Falls daher in der Literatur dieses Zeitraums überhaupt nationale oder gar nationalistische Tendenzen auftauchten, waren diese meist nostalgischer Natur und beschworen mit Vorliebe jene „alte Freiheit“ der Germanen, die im Laufe der Dauerherrschaft der absolutistisch regierten Fürstentümer wieder verlorengegangen sei. Und zwar machten sich dafür nicht nur Klopstock und seine Anhänger, sondern auch andere, eher rationalistisch oder aufklärerisch eingestellte Autoren stark. So hatte beispielsweise schon Johann Elias Schlegel 1743 in seinem Arminius – im Gegensatz zu einigen Barockopern mit dem gleichen Thema – weniger die Liebeshandlung zwischen dem ruhmreichen Hermann und seiner blondgelockten Thusnelda als das nationale Einheitsstreben der germanischen Stämme akzentuiert. Ähnliche Rückbezüge auf die patriotische Vorbildlichkeit der „alten Deutschen“, die noch „gemeinfrei“, das heißt noch keinem Grundherren dienst- und zinspflichtig gewesen seien, finden sich in den Jahrzehnten danach auch bei anderen frühliberalen Autoren immer wieder. Manche griffen dabei nicht nur wie die Humanisten des frühen 16. Jahrhunderts auf Tacitus’ Germania zurück, sondern stützten sich zugleich auf die Lettres persanes (1721) sowie das Buch L’esprit des Lois (1748) von Charles-Louis de Montes­ quieu, in denen dieser Autor die „alten Germanen“ ebenfalls sowohl für ihre Tugendhaftigkeit als auch für ihre kriegerische Einsatzbereitschaft gepriesen hatte. Aufgrund dieser beiden Qualifikationen, konnte man dort lesen, sei es ihnen gelungen, im Zuge der Völkerwanderung der „römischen Despotie“ ein längst verdientes Ende zu bereiten. Die alten Germanen seien also alles andere als „Barbaren“ gewesen, sondern hätten einen vorbildlichen Freiheitssinn gehabt und seien erst später durch die mittelalterliche „Zwingherrschaft“ ihrem eigentlichen Wesen entfremdet worden. Solche Thesen waren für die nach mehr Freizügigkeit drängenden deutschen Frühliberalen selbstverständlich Wasser auf ihre ideologiRationalismus, Pietismus und Frühliberalismus   57

8 Illustration in Christoph Otto von Schönaichs Hermann oder Das befreite Deutschland (2. Aufl., 1753)

58  Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus

schen Mühlen. Von dem noch spätbarock überformten „Helden­ gedicht“ Hermann oder Das befreite Deutschland (1751) von Christoph Otto von Schönaich und Heinrich Wilhelm Gerstenbergs Lied eines Skalden (1766) bis hin zu Cornelius Hermann von Ayrenhoffs Hermann und Thusnelda (1768), Justus Mösers Osnabrückischer Geschichte (1768), Karl Friedrich Kretschmanns Gesang Ringulphs des Barden als Varus geschlagen war (1768) und Christian Friedrich Daniel Schubarts Hymnus An die Freiheit (1789) findet sich daher in diesem Zeitraum eine geradezu lückenlose Folge von Werken, in denen entweder Hermann der Cherusker als überragende Symbolfigur einer freiheitlichen Gesinnung oder das germanische Stammesbewußtsein als politisches Modell eines in sich gefestigten Staatsverbandes gepriesen wurden. Eine ideologische Flankierung erhielten solche Thesen nicht nur durch Berufungen auf Tacitus und Montesquieu, sondern auch durch die Begeisterung für das wiederentdeckte Nibelungenlied, von dem Johann Jakob Bodmer 1757 eine erste Teiledition herausgab, wodurch neben Hermann dem Cherusker auch der „hürnene“ Siegfried zum Leitbild eines tatkräftigen germanischen Recken aufstieg. In die gleiche Richtung zielten einige verstreute Äußerungen Herders, wie etwa seine These „Die ältesten Nordländer waren die Befreier der Welt, die von einer feigen, üppigen Knechtschaft unterjocht war“, die ebenfalls zur nationalgefärbten Vorstellung der freiheitlich gesinnten alten Germanen beitrugen. Neben das bis dahin von vielen Bildungsbürgern verehrte Bild der alten Griechen, wie es Johann Joachim Winckelmann aufgerichtet hatte, trat somit immer stärker ein Germanenkult, mit dem nicht nur die Klopstockianer, sondern auch viele der reformorientierten Frühliberalen ihre ihnen lange Zeit vorenthaltenen Rechte bei den herrschenden Dynastien einzuklagen versuchten. Ja, die von pietistischen Gemeinschaftsvorstellungen herkommenden Autoren wandten sich schließlich ganz offen gegen die bisherige Überschätzung der „uns fremden und entfernten Altertümer der Griechen und Römer“ und forderten ihre Anhänger auf, sich lieber dem reichen Schatz der älteren deutschen Kunst sowie dem ebenso unerschöpflichen Reichtum der älteren deutschen Popularkultur, wie etwa der Fülle der Volkslieder, zuzuwenden. Im Gefolge derartiger Sehweisen verschmolzen in den Anschauungen solcher Autoren die alten Germanen, die frühbürgerlichen Schichten der Hans-Sachs-Zeit sowie die liedersingenden und märchenerzählenRationalismus, Pietismus und Frühliberalismus   59

den Deutschen der darauffolgenden Ära schließlich zu vorbildlichen Verkörperungen eines noch immer im Hier und Jetzt existierenden „Volks“, dem sie nahelegten, sich wieder auf seine angestammten kulturellen und freiheitlichen Eigenschaften zu besinnen, statt weiterhin die fremdländische Herrschsucht der nur auf ihren Eigennutz bedachten Territorialherren zu ertragen. Auch die neueren Deutschen, schrieb beispielsweise Ewald Friedrich von Hertzberg 1782 im Sinne derartiger Sehweisen, seien eigentlich Germanen und sollten sich bemühen, es nach wie vor zu bleiben. Ebenso germanophil dachten manche jener frühliberalen Intellektuellen der sich seit Anfang der frühen siebziger Jahre in vielen Bereichen des Heiligen Römischen Reichs ausbreitenden sogenannten Sturm und Drang-Bewegung, deren nationalbetonten Charakter man nicht zu Gunsten ästhetischer oder mentalitätsgeschichtlicher Gesichtspunkte unterschlagen sollte. Daß jedoch diese auf eine verstärkte Eigenständigkeit und Freiheitlichkeit drängende Gesinnung auch breitere Bevölkerungsschichten ergreifen würde, dazu bedurfte es allerdings noch eines von außen kommenden Anstoßes. Und der erfolgte im Jahr 1789, als im Zuge einer bürgerlichen Revolution in Frankreich plötzlich der erste neuzeitliche Nationalstaat entstand, dessen programmatische Erklärungen und Manifeste zum Vorbild für viele der späteren nationalstaatlichen Regungen in Europa werden sollten.

60  Rationalismus, Pietismus und Frühliberalismus

Auswirkungen der Französischen Revolution

I Zugegeben, schon der 1776 begonnene Unabhängigkeitskrieg der dreizehn nordamerikanischen Kolonien gegen die britische Kronverwaltung hatte bei einigen deutschen Frühliberalen zu einer merklichen Verstärkung ihrer seit Jahrzehnten nur mühsam unterdrückten Freiheitsgesinnung beigetragen. Aber letztlich spielten sich die daran anschließenden Ereignisse in so weiter Ferne ab, daß sich die meisten davon nicht näher betroffen fühlten. Was dagegen 1789 jenseits des Rheins in Paris, das heißt in unmittelbarer Nähe zum Heiligen Römischen Reich geschah, löste eine wesentlich intensivere Begeisterungswelle unter den dafür Eingestimmten aus. Der Sturm auf die Bastille, der Ballhausschwur, die Abschaffung der Feudalordnung und die Erklärung der Menschenrechte, durch welche der bisher geringgeschätzte Dritte Stand erstmals zum entscheidenden Faktor innerhalb des politischen Lebens aufstieg, waren so revolutionär, daß sich daran auch diesseits des Rheins sofort lebhafte Debatten entzündeten. Vor allem die schlagkräftige Parole „Liberté, Égalité et Fraternité“, in der sich im Sinne des rousseauistischen Volonté générale ein Wille zu nationaler Verbrüderung manifestierte, machte demzufolge selbst im deutschsprachigen Bereich schnell die Runde. Schließlich war durch diesen Gesinnungsumbruch – inmitten des noch immer absolutistisch regierten Europa – in Frankreich ein konstitutionell regierter Nationalstaat entstanden, dessen Assemblée nationale sich als die maßgebliche Vertretung einer Staatsbürgernation ausgab, in der allen Menschen die gleichen Rechte zustehen sollten. Obwohl sich die französischen Revolutionäre dabei auch auf die wiedererweckten Tugenden der römischen Republikaner beriefen, stand bei diesen Umwälzungen – im Gegensatz zur nostalgischen Verklärung der freiheitsliebenden Germanen bei den deutschen Klopstockianern sowie manchen Frühliberalen – weniger das Rückwärtsgewandte als das Vorwärtsdrängende im Vordergrund. In Paris wollten die besonders radikal Gesinnten die Menschheitsgeschichte wieder mit dem Jahr Null neu Auswirkungen der Französischen Revolution   61

beginnen lassen und zugleich den anderen Völkern Europas ein „erleuchtetes“ Beispiel einer demokratisch organisierten Nation geben. Und das schien auch anfangs, das heißt zwischen 1789 und 1793, durchaus realisierbar. Schließlich vollzog sich die Französische Revolution in einem Staat, in dem bereits seit spätmittelalterlicher Zeit unter der Führung des dortigen Königtums eine nationale Politik geherrscht hatte, wo es also bereits einen gesamtvölkischen Zusammenhalt gab. In dem in über 1500 souveräne Territorien und Reichsritterschaften sowie 51 freie Reichsstädte zersplitterten Heiligen Römischen Reich, das keinen politischen Mittelpunkt besaß und in welchem sich durch die restriktiven sozioökonomischen Maßnahmen von Seiten der Fürsten sowie unzählige Zollschranken kein kraftvoller Dritter Stand entwickelt hatte, waren dagegen zu diesem Zeitpunkt alle Hoffnungen auf ähnlich geartete Umwälzungen noch illusorisch. Schließlich lebten in diesem Reich noch drei Viertel der Bevölkerung auf dem Lande, und zwar meist als Bauern in feudaler Abhängigkeit. Und auch die Bürger in den Städten, von denen nur Wien und Berlin über 100 000 Einwohner hatten, besaßen noch nicht das Privileg einer allgemeinen Gewerbefreiheit. Dennoch führte der Beginn der Französischen Revolution auch in einigen deutschen Teilstaaten zu einer merklichen Beschleunigung der Politisierung innerhalb der publizistischen Öffentlichkeit, sofern sich die jeweiligen Landesherren bereden ließen, diese vorübergehend zu tolerieren. Wie in Frankreich wurde daher zu Beginn der neunziger Jahre sogar im deutschsprachigen Bereich in einigen Zeitschriften und Broschüren über die mögliche Verwirklichung allgemeingültiger Befreiungspostulate diskutiert, das heißt die überlieferte Ständeordnung in Frage gestellt, ja manchmal sogar die Rolle der Volksmassen bei politischen Entscheidungsfragen in Betracht gezogen. Und zwar lassen sich in derartigen, auf die Vorgänge in Paris reagierenden Publikationen – einmal etwas vereinfacht gesprochen – vier Richtungen unterscheiden: eine gegenrevolutionär-konservative, eine jakobinisch-radikaldemokratische, eine reformistisch-liberale sowie eine vom Weimarer Kulturbewußtsein beeinflußte klassizistisch-erhabene, die zwar alle vier – wegen der fehlenden politischen und sozioökonomischen Voraussetzungen in den verschiedenen deutschen Territorien – nur wenig zur Herausbildung eines nationalen Gemeinwillens beitrugen, aber für die weitere Entwicklung in dieser Hinsicht von nicht zu unterschätzender Bedeutsamkeit waren. 62  Auswirkungen der Französischen Revolution

Über die gegenrevolutionär-konservative Richtung brauchen in diesem Zusammenhang nicht viele Worte verloren zu werden. Sie grassierte vor allem im habsburgischen Bereich, wo es nach dem Tod der relativ reformfreudigen Regenten Joseph II. und Leopold II. unter Franz II. – als Rückschlag auf die Auswirkungen der Französischen Revolution – zu einer massiven Wendung ins Reaktionäre kam. Da Österreich ein Vielvölkerstaat war, der nur durch die regierende Dynastie zusammengehalten wurde, erschien Franz II., der nach dem Ableben seines Vaters Leopold 1792 den Thron bestiegen hatte, jegliche Wendung zu den „breiten Massen“ und eine damit verbundene Tendenz ins Nationalbetonte von vornherein als staatsbedrohend. Er schreckte deshalb keineswegs davor zurück, irgendwelche rebellischen „Volksfreunde“, wie beispielsweise Franz Hebenstreit von Streitenfeld, in Wien öffentlich hinrichten zu lassen, während er andere sogenannte Französlinge zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilte. Ebenso scharf waren kurz zuvor die republikanisch gesinnten Illuminaten unter Adam Weishaupt in Bayern verfolgt worden. Ja, selbst die bis dahin weitgehend geduldeten Freimaurer sahen sich in Wien und München schon 1791/92 gezwungen, viele ihrer Logen zu schließen und sich fortan den Schein folgsamer Untertanen zu geben. Mit ähnlicher Schärfe schritten auch andere deutsche Fürsten gegen jene Kreise ein, die es aufgrund ihrer Begeisterung für die Französische Revolution wagten, sich zu nationaldemokratischen Vorstellungen zu bekennen und diese eventuell sogar in die Tat umsetzen zu wollen. Hierbei handelte es sich zumeist um kleinere Gruppen radikaler Patrioten, die nach 1789 mit überspannten Erwartungen gehofft hatten, daß jetzt endlich auch in den aufgeklärten Teilen des allmählich auseinanderfallenden Heiligen Römischen Reichs die Zeit gekommen sei, in der es wie in Paris zu einem „Levée en masse“ kommen würde. Es mangelte daher in den folgenden Jahren selbst im deutschsprachigen Bereich nicht an Aufrufen, die sich unter dem Motto „Frei leben oder sterben“ unmittelbar an das „gemeine Volk“, das heißt den bisher geringgeschätzten „großen Haufen“ der Nichtbesitzenden, wandten, sich endlich als „Nation“ zu fühlen und die Fürsten zum Teufel zu jagen. Im Gegensatz zu den Frühliberalen fühlten sich die Sprecher dieser Richtung nicht nur als Repräsentanten der auf eigensüchtige Reformen drängenden Vertreter der bildungsbürgerlichen Schichten, sondern zugleich als Anwälte aller Auswirkungen der Französischen Revolution   63

bisher unterdrückten oder bevormundeten Bevölkerungsschichten. Sie waren der Überzeugung, daß das deutsche Volk erst dann eine allgemeine Freiheit und Gleichheit erreichen könne, wenn sich ein gesellschaftlicher Gesamtwille oder gar eine nationale Verbrüderung herausbilden würde. So erklärte etwa Anton Joseph Dorsch 1791 in seinem Essay Über die Geschichte der Vaterlandsliebe mit apodiktischer Entschiedenheit, daß die „eigentlichen Sitze der Vaterlandsliebe“ stets Republiken gewesen seien, während sich in Monarchien oder Diktaturen, wo das Staatsgeschäft nur von „Einem“ ausgeübt werde, bei den „Anderen“ kein wirkliches Interesse für die öffentlichen Angelegenheiten entwickeln könne. Und auch Heinrich Christoph Albrecht, einer der Hamburger Jakobiner, erklärte 1793 in seinem Versuch über den Patriotismus, in dem er sich zu einer „nationalen Einheit Deutschlands ohne Standesunterschiede“ bekannte, mit gleicher Eindeutigkeit: „Patriotismus kann nur in Republiken Leidenschaft werden.“ Ja, der Kieler Professor Karl Friedrich Cramer schrieb zum gleichen Zeitpunkt sogar emphatisch: „Deutschland, ein Volk! Eine Brüdernation! nach gleichen Rechten durch Volksrepräsentation und ein freiwillig erwähltes, eingeschränktes Oberhaupt regiert! O, gibt es ein Herz, das nicht bei dieser Aussicht von Wonne erglüht?“ Diese ins Nationale zielende jakobinisch-radikaldemokratische Begeisterungswelle in einer Reihe deutscher Staaten währte jedoch nur wenige Jahre. Es wurden zwar zahlreiche Revolutionsaufrufe gedruckt und es erschienen auch einige Gedichte, Dramen und Romane, die durchaus den Ehrentitel einer deutschen Jakobinerliteratur verdienen, ja es kam sogar im März 1793 zu einer von Frankreich unterstützten Jakobinerrepublik in Mainz, aber das noch unaufgeklärte Volk, der „große Haufen“, stieg nicht wie in Frankreich auf die Barrikaden, das heißt erkämpfte sich nicht die von seinen Anführern erträumte „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Dafür waren in Deutschland – aufgrund der altertümlichen Kleinstaaterei, der konfessionellen Gegensätze und der zurückgebliebenen materiellen Produktionsbedingungen – die gesellschaftlichen Verhältnisse noch zu „unterentwickelt“. Es gab darum nur wenige aufrechte Demokraten, die auch nach dem Ende der sogenannten Schreckensherrschaft der Pariser Jakobiner unter Maximilien Robespierre und Antoine Saint-Just im Jahr 1794, welche in den konservativen Blättern weidlich zugunsten dynastischer Herrschaftsprinzipien 64  Auswirkungen der Französischen Revolution

9 Plakat mit republikanischen Emblemen, Elsaß 1793. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum

Auswirkungen der Französischen Revolution   65

ausgeschlachtet wurde, an den Ursprungsideen der Französischen Revolution sowie der Vorstellung einer deutschen Republik festhielten. Dazu gehörten unter anderem Autoren wie Karl Friedrich Cramer, Georg Friedrich Rebmann und Johann Gottfried Seume, die selbst unter dem Druck der dynastisch-absolutistischen Reaktion nicht davon abließen, sich weiterhin zu republikanischen Idealen zu bekennen. Doch realisierbare Utopien, die sich für ein Gesamtsystem nationaldemokratischer Gesellschaftverhältnisse eingesetzt hätten, wurden nach 1793/94 nicht mehr geschrieben.

II Auch die Sympathien, welche manche der bürgerlichen Frühliberalen kurz nach 1789 den zutiefst humanistisch klingenden Parolen der Französischen Revolution entgegengebracht hatten, flauten schon kurz darauf wieder ab. Schließlich war es dieser Schicht von vornherein vor allem um eine Erweiterung ihrer eigenen Freiheiten gegangen, während sie – im Gegensatz zu den deutschen Jakobinern – für die Forderungen nach mehr sozialer Gleichheit oder gar nationaler Verbrüderung wesentlich weniger Verständnis aufgebracht hatte. Nachdem einige von ihnen, wie etwa Joachim Heinrich Campe und Johann Friedrich Reichardt, anfangs umgehend nach Paris gereist waren, um als anteilnehmende Augenzeugen über die dortigen „Fortschritte der Menschheit“ berichten zu können, wagten auch andere derartige „Freiheitsfreunde“, sich öffentlich für eine größere „Liberté“ in staatsrechtlicher Hinsicht einzusetzen. Aber selbst solchen Autoren ging es, wie gesagt, meist nur um eine erweiterte Freizügigkeit in persönlicher oder wirtschaftlicher Hinsicht, während ihnen die Vorstellung eines auf einem „Gemeingeist“ gegründeten Nationalbewußtseins entweder noch gar nicht in den Sinn kam oder von ihnen – wegen der weiterbestehenden territorialen und konfessionellen Zersplitterung des deutschen Reichs – als „utopistisch“ abgelehnt wurde. Genau besehen, dachten die meisten dieser Frühliberalen noch landespatriotisch und erhofften sich eine Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände weitgehend von reformwilligen Fürsten, die sie mit ihren Schriften zu beeinflussen suchten. Sogar ein „kritisch“ eingestellter Philosoph wie Immanuel Kant ging daher – trotz aller Sympathien, die 66  Auswirkungen der Französischen Revolution

er anfangs einigen Ideen der Französischen Revolution entgegengebracht hatte – in seinen diesbezüglichen Überlegungen stets von einer Neuorientierung im menschlichen Erkenntnisvermögen aus, ohne daraus irgendwelche realpolitischen Folgerungen zu ziehen. Wie fast alle dieser frühliberalen Denker sah auch er als rationalistisch eingestellter Aufklärer den idealen Staat lediglich in einem Gemeinwesen, in dem zwar alle „freien“ Männer, die über „irgendein Eigentum“ verfügen, als Untertanen der jeweiligen Regierung einen „rechtsgleichen“ Status haben sollten, klammerte aber Probleme wie soziale Gleichheit oder mitmensch­ liche Verbrüderung weitgehend aus, um nicht einem von ihm in aller Schärfe abgelehnten „Nationalwahn“ zu verfallen. Allerdings gab es im Umkreis dieses frühliberalen Denkens auch einige Autoren, die sich in dieser Hinsicht etwas „engagierter“ ausdrückten. Einer davon war der Göttinger Professor für Weltgeschichte August Ludwig von Schlözer, der in den von ihm herausgegebenen Staatsanzeigen (1783–1795) mit aufklärerischem Nachdruck sowohl für Ständevertretungen mit Repräsentativcharakter als auch die Abschaffung der bestehenden Steuerprivilegien für den Adel sowie den gleichen Zugang zu allen Staatsämtern für jedermann eintrat. Um das zu erreichen, empfahl er jedoch in Übereinstimmung mit ähnlich gesinnten Freiheitsfreunden, sich lediglich um „sanfte Reformen“ zu bemühen, um so die Gesamtgesellschaft vor erschütternden Umwälzungen zu bewahren. „Unmöglich kann’s immer beim Alten bleiben“, erklärte er, „Reformen brauchen wir Deutschen; aber vor Revolutionen bewahr uns, lieber Herr Gott! Die brauchen wir nicht.“ Fast die gleichen frühliberalen Anschauungen – wenn auch unter einzelstaatlicher und zugleich ins Privatrechtliche verkürzter Perspektive – vertraten zu diesem Zeitpunkt auch einige höhere Beamte im preußischen Staatsdienst wie Theodor Gottlieb von Hippel und Christian Wilhelm von Dohm, die sich in ihren Schriften für die „bürgerliche Verbesserung der Weiber und Juden“ einsetzten. Etwas deutschbetonter verhielt sich dagegen Christoph Martin Wieland, der in seinem Neuen Teutschen Merkur (ab 1790) erklärte, daß derartigen Reformen stets ein „allgemeiner Patriotismus“ zugrunde liegen müsse, um so die „heilige Flamme der Vaterlandsliebe in jedem deutschen Herzen anzufachen“, da sich nur so die in „vielerlei ver­ schiedene Namen, Dialekte, Lebensweisen, religiöse und politische Verfassungen getrennten Einwohner Germaniens zu Einem lebendigen Auswirkungen der Französischen Revolution   67

Staatskörper vereinigen ließen“. Doch irgendwelche „revolutionären“ Folgerungen zog auch er aus dieser Anschauung nicht. Allerdings läßt sich nicht leugnen, daß es in den Anfangsjahren der Französischen Revolution selbst unter den hoffnungslos vereinzelten deutschen Frühliberalen auch einige „Freiheitsfreunde“ gab, die sich mit ins Utopische gesteigerten Erwartungen zu einer wesentlich entschiedeneren antidespotischen Gesinnung bekannten. So errichtete etwa der junge Friedrich Hölderlin mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Schelling 1790 in Tübingen einen Freiheitsbaum und ereiferte sich zu gleicher Zeit in seiner Hymne an die Freiheit – in Erwartung auf ein „freies kommendes Jahrhundert“ – gegen alle älteren und auch heute noch anzutreffenden „Tyrannen und Tyrannenknechte“. Nicht minder rebellisch gebärdete sich der trutzige Johann Heinrich Voß, der nach der Melodie des Marseillermarsches einen freiheitsbetonten Gesang der Neufranken dichtete, der Göttinger Demokrat Gottfried August Bürger, der in seinen Gedichten die Interventionspolitik der deutschen Fürsten gegen die französische Republik angriff, sowie der Elsässer Gottlieb Konrad Pfeffel, der ein Loblied auf jenen „freien Mann“ anstimmte, der sich von niemandem etwas sagen läßt, sondern nur das tut, „was er selber“ für richtig erachtet. Ja, sogar der alte Klopstock, dem die Pariser Assemblée nationale im August 1792 ein Ehrendekret verliehen hatte, erklärte in seinem Gedicht Sie, und nicht wir, wie beschämt er sei, daß nicht die Deutschen, sondern die „Neufranken“ der „Freiheit Gipfel erstiegen“ hätten.

III Als jedoch die französischen Jakobiner dazu übergingen, in den Jahren 1793/94 ihre auf Égalité und Fraternité gegründeten Ideale mit verschärften Gewaltmaßnahmen tatsächlich durchzusetzen, schlug bei vielen deutschen „Freiheitsfreunden“ ihr anfänglicher Enthusiasmus für die Französische Revolution schnell in eine tiefe Enttäuschung um. Dafür sprechen nicht nur Klopstocks Oden Die Jakobiner sowie Mein Irrtum von 1794, sondern auch einzelne Passagen in Friedrich Hölderlins Revolutionsroman Hyperion (1797), in welchem es zwar um den Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken geht, dem aber – bei genauerem 68  Auswirkungen der Französischen Revolution

Zusehen – letztlich eine auf Frankreich und Deutschland bezogene antijakobinische Ausrichtung zugrunde liegt. Doch den wirkungsmächtigsten Ausdruck dieses Gesinnungsumschlags gaben nach 1793/94, wie man leider zugeben muß, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, die beiden Dioskuren der Weimarer Hofklassik, welche zwar in ihren Anfängen ebenfalls frühliberale, ja geradezu rebellische Anschauungen vertreten hatten, jedoch angesichts der jakobinischen „Gräuel“– trotz einer beibehaltenen „humanistischen“ Fassade – im Gefolge ihres Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, der sich 1792 als Generalmajor in preußischen Diensten am 1. Koalitionskrieg gegen die französische Republik beteiligt hatte, ins gegenrevolutionäre Lager überwechselten. Von Schiller hätte man einen derartigen Gesinnungsumschwung am wenigsten erwartet. Schließlich hatte er sich in seinem ersten Drama Die Räuber (1781) – noch von der sogenannten Sturm- und Drangstimmung beeinflußt, der eine deutliche Wendung ins Nationalbetonte zugrunde lag – im „Geiste Hermanns“ zur Errichtung einer „deutschen Republik“ bekannt und dafür später das Ehrendekret der Französischen Revolution erhalten. Ja, im Jahr 1789 wollte er in einer momentanen Gefühlsaufwallung sogar ins „freie Gallien“ übersiedeln. Doch anschließend hatten ihn die auf Gleichheit und Brüderlichkeit drängenden Gewaltmaßnahmen der Pariser Jakobiner so verschreckt, daß er nach 1793/94 seine ins Nationalpolitische gerichteten Hoffnungen aufgab. Dafür sprechen vor allem seine an den Erbprinzen Christian Friedrich von Augustenburg gerichteten Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), in denen er sich gegen die durch die Französische Revolution entfesselten „rohen gesetzlosen Triebe“ der „niedern und zahlreichen Klassen“ wandte, welche lediglich danach trachteten, mit „unlenksamer Wut“ die „bürgerliche Ordnung“ zu zerstören, um allein der „tierischen Befriedigung“ ihrer elementarsten Bedürfnisse zu frönen. Was er dem entgegenstellte, war ein „Reich des ästhetischen Scheins“, wie es sich unter den gegenwärtig herrschenden Verhältnissen sicher nur „in der Nähe des Thrones“ oder in „wenigen auserlesenen Zirkeln“ verwirklichen lasse. „Kunst“, heißt es in seinen Schriften aus dieser Zeit an anderer Stelle, spreche nun einmal nur „Menschen von Geburt und besseren Sitten“ an.

Auswirkungen der Französischen Revolution   69

Daß solche Vorstellungen dem schon seit langem der höfischen Welt angepaßten Goethe gefallen mußten, läßt sich denken. Und so schlossen diese beiden Autoren, die sich vorher jahrelang so weit wie möglich aus dem Wege gegangen waren, 1794 jenen häufig als Freundschaftsbündnis ausgegebenen literarischen Pakt, der anfangs fast ausschließlich den Zweck hatte, mit Unterstützung ihres Herzogs die seit altersher bestehende Ständeordnung aufrecht zu erhalten, das heißt den besitzenden und bildungsbürgerlichen Schichten im Hinblick auf ihr Eigentum und ihre persönliche Freizügigkeit auch in Zukunft eine staatlich privilegierte Stellung zu garantieren. Obwohl der junge Goethe – ebenfalls unter dem Einfluß der von Herder ausgehenden Nationalvorstellungen – durchaus ein intensives Interesse am Volkslied, an altdeutscher Baukunst sowie der frühbürgerlichen Literatur der Hans Sachs-Ära an den Tag gelegt hatte, ja sogar, wie in seinem Götz von Berlichingen (1773) und seinem Egmont (1788), auf revolutionäre Themen eingegangen war, nahm er seit den frühen neunziger Jahren in schroffer Ablehnung aller Égalité- und Fraternité-Konzepte immer stärker eine aristokratische Haltung ein. Im Unterschied zu Herder verstand er jetzt unter „Volk“ keinen identitätsstiftenden Einheitskomplex mehr, wie er sich vor allem in geschichtlicher und sprachlicher Hinsicht äußere, sondern nur noch den „großen Haufen“ der „unteren, ungebildeten Volksklassen“, dem man keine die Oberschichten bedrohenden Rechte einräumen dürfe. Einen besonders scharfen Ausdruck verliehen Goethe und Schiller derartigen Überzeugungen nach dem Sturz der Pariser Jakobinerherrschaft im Juli 1794, den sie mit einem befreiten Aufatmen begrüßten. Dafür sprechen fast alle ihrer kurz darauf publizierten Schriften. Den Auftakt dazu bildete die von Schiller im gleichen Jahr gegründete Zeitschrift Die Horen, in der, wie es in ihrer Ankündigung hieß, nicht irgendwelche „politischen Meinungen“ oder „Beziehungen auf den jetzigen Weltlauf “, sondern lediglich ein „rein höheres, menschliches Interesse“ herrschen sollte, um so die „politisch geteilte Welt“ in „heiterer, leidenschaftsfreier Unterhaltung unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit zu vereinigen“. Das dahinterstehende literarische Konzept nannten sowohl Goethe als auch Schiller „klassisch“, womit sie – ideologiekritisch gesehen – das Gegenteil von „deutsch“ oder „national“ meinten. Da es in Deutschland keinen „Mittelpunkt einer gesellschaftlichen Lebens­ bildung“ gebe, erklärte Goethe in seinem Essay Literarischer Sans­ 70  Auswirkungen der Französischen Revolution

cülottismus, der 1795 in Abwehr irgendwelcher jakobinischen Tendenzen in den Horen erschien, werde sich in diesem Lande auch keine „Nationalliteratur“ entwickeln. Doch das meiste Aufsehen erregten Goethe und Schiller mit ihren im selben Jahr herauskommenden bitterbösen Xenien, in denen sie alle nationalbetonten Gleichheitsfreunde als „bornierte Köpfe“ oder „Narren mit roten Kappen“ attackierten. Im Gegenzug dazu riefen sie die bürgerlichen Schichten in den verschiedenen deutschen Staaten auf, nicht mehr irgendwelchen jakobinisch-verblendeten Fraternité-Parolen zu folgen, sondern sich wieder mit der altständischen Ordnung des Heiligen Römischen Reichs zufrieden zu geben. Für sie gab es weiterhin nur das „gelehrte“, aber nicht das „politische“ Deutschland. Ja, unter der Überschrift Deutscher Nationalcharakter lesen wir hier: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hofftet es, Deutsche, vergebens; / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.“ Worin allerdings diese „Menschlichkeit“ bestehen sollte, darüber schwiegen sich die Autoren dieser Zeilen aus. Aus dem Gesamtzusammenhang der Xenien geht jedoch deutlich genug hervor, daß sie damit die Freiheit jener gehobenen Bürgerschichten meinten, die sich unter dem Schutz ihrer jeweiligen Fürsten in schroffer Ablehnung irgendwelcher politischen und gesellschaftlichen Veränderungskonzepte auf den Bereich der Bildung und der schönen Künste beschränken sollten. Noch deutlicher hätten sich Goethe und Schiller als antidemokratisch gesinnte „Höflinge“ oder „Fürstenknechte“, denen man als guter Aufklärer nicht über den Weg trauen dürfe, wie ihre Gegner erklärten, kaum äußern können. Schließlich hatten sie Jakobiner wie Georg Forster oder Karl Friedrich Cramer in den auf sie bezogenen Xenien einfach als Klassenverräter abgetan, denen jeder „gesittete Bürger“ aus dem Wege gehen solle. „Sag“, heißt es im Hinblick auf derartige „Freiheitsapostel“ unter dem eindeutigen Titel Die drei Stände: „Wo steht in Deutschland der Sanscülott? In der Mitte; / Unten und oben besitzt jeglicher, was ihm behagt.“ Statt also solchen ideologischen Scharlatanen zu folgen, beschworen daher Goethe und Schiller in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ihre Leser immer wieder, ob nun in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), dem Kleinepos Hermann und Dorothea (1798) oder dem Lied von der Glocke (1799), an den bürgerlichen Tugenden jener Zeiten festzuhalten, in denen noch die Parole „Ruhe ist Auswirkungen der Französischen Revolution   71

die erste Bürgerpflicht“ geherrscht habe und noch niemand für irgendwelche sozialen Gleichheitsforderungen oder gar nationalen Belange eingetreten sei. Mit derartigen Erklärungen und den sie begleitenden Schriften leisteten Goethe und Schiller – entwicklungsgeschichtlich gesehen – vor allem jenem Konzept Vorschub, in den Deutschen lediglich eine „Kulturnation“ zu sehen, statt auch auf eine Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse zu drängen. Das gab zwar den bildungsbürgerlichen Schichten im Laufe des 19. Jahrhunderts ein gesteigertes kulturelles Selbstbewußtsein, verführte sie aber zugleich zu höchst problematischen Überheblichkeitsgefühlen, die selbst vor einer diffamierenden Geringschätzung nichtdeutscher Kulturleistungen keineswegs zurückschreckten. Und so kam es zu dem seltsamen Paradox, daß gerade die ins Klassisch-Erhabene zielende antinationale Tendenz dieser beiden Autoren – wie auch die Heranziehung anderer deutscher Kulturgrößen unter den Hauptvertretern der deutschen idealistischen Philosophie sowie den Komponisten der Wiener Klassik und der Romantik – immer wieder Anlaß zu nationalistischen Hochmutsstimmungen gab, die vor allem im Wilhelminismus und Nazifaschismus in einem chauvinistischen Sinne ausgeschlachtet wurden.

72  Auswirkungen der Französischen Revolution

Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

I Nachdem die deutschen Fürsten und die ihnen dienstbaren Intellektuellen in der Anfangsphase der Französischen Revolution den sie bedrohenden Freiheits-, Gleichheits- und Verbrüderungsparolen des Pariser Nationalkonvents erst einmal mit einer Flut reaktionärer Schriften und innerstaatlicher Verbote entgegengetreten waren, entschlossen sich Österreich und Preußen im Herbst 1792, dem französischen König Ludwig XVI. durch militärische Aktionen wieder auf den Thron zu verhelfen. Da jedoch ihre nur widerwillig dienenden Söldnerheere der von einem patriotischen Levée en masse angefeuerten französischen Volksmiliz in keiner Weise gewachsen waren, mußten sie eine Niederlage nach der anderen einstecken. Ja, anschließend drangen die Franzosen sogar bis in die linksrheinischen Gebiete des Heiligen Römischen Reichs vor und unterstützten Anfang 1793 eine von Georg Forster, Andreas Hofmann und Georg Wedekind angeführte Gruppe jakobinisch gesinnter „Freiheitsfreunde“, in Mainz eine kurzlebige deutsche Republik zu gründen. Erst als es der antifranzösischen Koalitionsarmee gelang, die linksrheinischen Gebiete wieder zurückzuerobern, ebbten die Kampfhandlungen merklich ab, zumal Preußen 1795 einen Sonderfrieden mit Frankreich abschloß. Napoleon, der unterdessen – nach dem Sieg der großbürgerlich eingestellten Gironde in Paris – zum Oberbefehlshaber der französischen Armee aufgestiegen war, besiegte deshalb ein Jahr später die inzwischen von den anderen deutschen Staaten in Stich gelassenen Österreicher in der Schlacht bei Lodi und setzte 1797 bei den Friedensverhandlungen in Campo Formio durch, daß die linksrheinischen Gebiete wieder an Frankreich abgetreten werden mußten. Danach beschränkten sich viele deutsche Fürsten eher darauf, gegen ihre inneren Feinde einzuschreiten, die sie in ihrer dynastischen Willkürherrschaft in Frage stellten, als einen gesamtdeutschen Widerstand gegen die imperialistischen Gelüste der Franzosen zu organisieren. So erließ etwa der Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   73

preußische König Friedrich Wilhelm II. im Oktober 1796 ein strenges Edikt gegen all jene reformbetonten Vereinigungen, welche sich wie die in Schlesien aktiv werdenden Evergeten (Wohltäter) bemühten, irgendwelche Änderungen in der Verfassung oder Verwaltung „seines“ Staates vorzunehmen. Ähnliche Erlasse hatte es in Österreich bereits 1792 gegeben, denen selbst die Freimaurer zum Opfer gefallen waren. Im zweiten Koalitionskrieg, der 1799 begann und 1802 endete, brach dann das Heilige Römische Reich zusehends auseinander. Preußen blieb weiterhin neutral, ja Bayern schloß sich sogar den Franzosen an. Da Napoleon auch in diesem Krieg abermals siegte, setzte er in den Friedensverhandlungen zu Lunéville (1801) und Amiens (1802) durch, daß ihm in allen innerdeutschen Entscheidungen von nun an ein Mitspracherecht zustehe. Darauf kam es aufgrund des von ihm ausgeübten Drucks 1803 zum sogenannten Reichsdeputationshauptschluß, auf dem die Säkularisierung aller geistlichen Gebiete sowie die Mediatisierung, das heißt die Aufhebung der Reichsunmittelbarkeit, vieler kleiner Fürstentümer, Grafschaften, Reichsritterschaften sowie ehemaliger freier Reichsstädte und Reichsdörfer beschlossen wurde, so daß von den über 1 000 Herrschaftsgebieten nur 40 übrigblieben. Damit hatte Napoleon im Hinblick auf Deutschland erst einmal einige seiner ersten außenpolitischen Ziele erreicht. Durch die Bildung wesentlich größerer Mittelstaaten, wie Bayern und Württemberg, die er kurz darauf zu Königreichen erhob, hatte er unter den deutschen Fürsten mehrere ihm günstig gestimmte Vasallen gewonnen, was zu einer fortschreitenden Desintegration des alten Reichs führte. Als es daher 1805 zum dritten Koalitionskrieg gegen Frankreich kam, blieb Preußen wiederum neutral, während sich die süddeutschen Staaten sogar ohne nationale Bedenken mit Frankreich verbündeten, wodurch es Napoleon relativ mühelos gelang, die allein kämpfenden Österreicher bei Austerlitz abermals vernichtend zu schlagen. Aufgrund dieser Niederlage war damit im Jahr 1806 das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation endgültig besiegelt. Fast alle übriggebliebenen deutschen Staaten – außer Österreich, Preußen und Sachsen – traten dem am 12. Juli 1806 gegründeten und sich dem Protektorat Napoleons unterwerfenden Rheinbund bei, wobei im Artikel I dieses Bunds erklärt wurde, daß diese „Confédération germanique“ bzw. dieses „Troisième Allemagne“ auf „ewig von dem Territorium des 74  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

deutschen Reichs getrennt bleiben solle“. Und dem stimmten die 35 Fürsten, welche diesem Bund beitraten, auch zu. Drei Wochen später verzichtete Franz II.– auf Druck Napoleons, der sich selbst immer stärker in der Tradition der römischen Cäsaren bzw. Karls des Großen sah – auf die inzwischen bedeutungslos gewordene deutsche Kaiserwürde und nannte sich fortan Franz I. von Österreich. Als kurz darauf Preußen und Sachsen gegen die inzwischen eingetretenen Neuregelungen protestierten und sich zu einem vierten Koalitionskrieg gegen Frankreich entschlossen, dem diesmal Österreich fernblieb, war es für Napoleon ein Leichtes, das preußisch-sächsische Heer im Oktober 1806 mit seiner Grande armée in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstädt zu besiegen und mit seinen Truppen bis Berlin vorzudringen. Obwohl es danach noch einmal zu Schlachten bei Preußisch-Eylau und Friedland kam, siegten wiederum die Franzosen gegen die Preußen und die mit ihnen verbündeten Russen. Damit erreichte Napoleon den Höhepunkt seiner Machtstellung in Zentraleuropa. 1807 mußte Preußen bei den Friedensverhandlungen in Tilsit auf alle linkselbischen Gebiete verzichten, hohe Reparationssummen in Form von 30 Millionen Talern zahlen und sich obendrein mit einer französischen Okkupation seines Restterritoriums abfinden. Zugleich errichtete Napoleon im Westen des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs das Königreich Westfalen unter seinem Bruder Jérôme und gründete im Osten Preußens das Großherzogtum Warschau. Die Reaktionen innerhalb der einzelnen deutschen Teilstaaten auf diese Kriege waren höchst verschiedenartig. Vor allem in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre kam es im Hinblick auf Napoleon zu einer merklichen Polarisierung in mehrere politische Lager. Die Reste der deutschen Jakobiner, die zumeist ins Elsaß oder nach Paris geflohen waren, lehnten ihn als herrschsüchtigen Girondisten und damit Repräsentanten der bürgerlichen Oberschichten von vornherein ab. Einige der deutschen Fürsten begrüßten dagegen Napoleon anfangs als den „Überwinder“ all jener Maßnahmen, womit die französischen Jakobiner eine soziale Gleichheit und nationale Verbrüderung erzwingen wollten, in denen ihre an der Vorstellungswelt des Ancien régime festhaltenden Gegner lediglich einen gewalttätigen „Terreur“ sahen. Auch viele der deutschen Wissenschaftler und Schriftsteller, falls sie sich überhaupt mit dem Phänomen Napoleon auseinandersetzten, teilten in diesem ZeitVom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   75

raum die Meinung ihrer jeweiligen „Landesherren“. Kurz nach 1789 hatten zwar manche von ihnen die humanistisch klingenden Freiheitsparolen der französischen Nationalversammlung noch durchaus begrüßt, waren aber dann durch die Égalité- und Fraternité-Vorstellungen der Pariser Jakobiner unter Robespierre so verstört worden, daß sie es vorzogen, sich mehrheitlich in unpolitische, wenn nicht gar reaktionäre Theoriebildungen zurückzuziehen. Da jedoch Napoleon nicht nur als herrschsüchtiger Feldherr auftrat, sondern sich zugleich als „Befreier“ aller bisher unterdrückten Völker, wie der Italiener, Spanier, Schweizer, Holländer und schließlich auch der Bewohner vieler Fürsten- und Bistümer des Heiligen Römischen Reichs, aufspielte, wandten ihm um 1800 auch einige Vertreter des frühliberalen deutschen Bürgertums ihre Sympathien zu. Ja, die etwas progressiver Eingestellten unter ihnen sahen in ihm geradezu einen kämpferischen Repräsentanten ihrer eigenen Klasse, der in der europäischen Gesellschaft endlich alle feudalistischen Rang- und Rechtsansprüche beseitigen wolle. Diese Schichten begrüßten daher den von Napoleon befürworteten Reichsdeputationshauptschluß als eine Befreiungsaktion von all jenen noch „mittelalterlich“ anmutenden Herrschaftsansprüchen derjenigen Könige, Kurfürsten, Herzöge, Bischöfe, Grafen und Reichsritter, unter denen sie bisher gelitten hatten. Nicht minder begeistert waren zahlreiche Bewohner der Rheinbundstaaten von der Einführung des Code Napoleon, in dem sie eine Magna Charta spezifisch bürgerlicher Rechtsvorstellungen erblickten. Unter dieser Perspektive erschien ihnen Napoleon als ein freiheitsstiftender „Flurbereiniger“, wie sich der Romancier Jean Paul Richter ausdrückte, der seinem Vornamen nicht ohne Grund eine französisch klingende Form gegeben hatte. Im Gegensatz zu einigen nostalgisch eingestellten Reaktionären, die in diesen Jahren – voller Abscheu vor den mittelständischen Zielen der Französischen Revolution – plötzlich die altdeutsche Kaiserzeit zu verherrlichen begannen und im Sinne der Schrift Die Christenheit oder Europa (1799) des Freiherrn Friedrich Leopold von Hardenberg, der sich als Autor Novalis nannte, von einer römisch-katholischen Universalmonarchie schwärmten, in welcher der Papst wieder als das geistige Oberhaupt Europas respektiert würde, glaubte anfangs, wie gesagt, eine Reihe bürgerlicher Freiheitsfreunde durchaus an die reformbetonte Mission Napoleons. Ein Wandel in dieser Hinsicht trat erst im Jahr 1804 76  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

10 Jean-Auguste-Dominique Ingres: Napoleon auf dem Kaiserthron (1806). Paris, Musée d‘Armée

Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   77

ein, als sich Napoleon in Paris auf selbstherrliche Weise zum Empereur krönte und damit seinen politischen Herrschaftsanspruch auf ganz Euro­pa ausdehnte. Erst jetzt strich beispielsweise Ludwig van Beet­ hoven, der vorher – aufgrund seiner rebellisch-frühliberalen Überzeugungen – zu den glühendsten Verehrern Napoleons gehört hatte, bekanntermaßen den Namen „Bonaparte“ auf dem Titelblatt seiner Eroica-Symphonie, die er ursprünglich in Paris uraufführen wollte, wieder aus. Die gleiche ideologische Ernüchterung läßt sich zu diesem Zeitpunkt auch bei anderen aufklärerisch eingestellten Bewunderern Napoleons beobachten, die plötzlich erkannten, daß sie sich im Hinblick auf die befreiende Wirkung der napoleonischen Parolen einer trügerischen Illusion hingegeben hatten. Ja, als Napoleon 1806 der preußischen Armee bei Jena und Auerstedt eine vernichtende Niederlage beibrachte und dann mit seinen Truppen bis nach Ostpreußen vorstieß, schlug diese Enttäuschung bei vielen fortschrittlich gesinnten Deutschen schließlich in einen erbitterten Napoleon-Haß um, zumal dieser nicht zögerte, einige der angeblich „befreiten“ Gebiete Europas ohne die geringsten Skrupel in Königreiche zu verwandeln, deren Throne er wie ein absolutistischer Herrscher mit Mitgliedern seiner eigenen Familie besetzte. Obendrein hörten sie, wie geringschätzig Napoleon von den Deutschen als einem „Volk ohne Vaterland“ dachte, das in serviler Untertänigkeit auf „leichtgläubige Weise in die von ihm aufgestellten Netze“ gelaufen sei. Es waren daher nicht nur die militärischen Niederlagen der Österreicher und dann der Preußen, sondern auch die imperialen Übermutsgesten, mit denen Napoleon in Deutschland auftrat und das er im Dienste der französischen Großbourgeoisie zum Teil auch ausplünderte, durch welche sich jene Form eines deutschen Nationalismus entwickelte, die in den Jahren 1812 bis 1815 ihren ersten Höhepunkt erlebte.

II Doch unterdessen mußten noch einige Jahre ins Land gehen, bis dieser Nationalismus – durch eine Reihe deutschbetonter Reden und Publikationen bürgerlicher Wissenschaftler und Schriftsteller sowie defensiv gemeinter Maßnahmen von Seiten einiger deutscher Fürsten und ihrer 78  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

hochadligen Minister – von den Oberklassen auch auf breitere Schichten der Bevölkerung überzugreifen begann, von denen damals noch 90 Prozent auf dem Lande oder in Gemeinden mit weniger als 5 000 Einwohner lebten. Das erste Aufsehen in dieser Hinsicht erregte die Flugschrift Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung (1806) des Nürnberger Buchhändlers Johann Philipp Palm, in der er die deutschen Fürsten in reichspatriotischer Gesinnung zum bewaffneten Widerstand gegen die französischen Eindringlinge aufrief. Ihn ließ Napoleon am 14. August 1806 verhaften und dann umgehend in Braunau standrechtlich erschießen. Kurz darauf kam es auch in Wien und Berlin auf hochadlig-ministerieller sowie bürgerlich-akademischer Ebene zu vielfachen Überlegungen, wie man den imperialen Herrschaftsallüren Napoleons am besten entgegentreten könne. Gedemütigt durch die militärischen Erfolge seiner von nationalistischen Sentiments angefeuerten Grande armée, faßten dabei die diesbezüglichen Regierungen zur Stärkung ihrer eigenen Staaten erst einmal durchgreifende Heeresreformen ins Auge, um ihre bisherigen, nur widerwillig kämpfenden Söldnerheere durch Armeen zu ersetzen, die ebenfalls aufgrund patriotischer Gefühle und nicht für einen vorher festgesetzten Sold für ihr jeweiliges Vaterland in den Krieg ziehen würden. In Wien gingen derartige Überlegungen vor allem von zwei Staatsmännern aus: dem Erzherzog Karl von Habsburg und dem österreichischen Außenminister Johann Philipp Graf von Stadion, die sich 1808 – sicher mitbeeinflußt durch die Meldungen über den spanischen Volksaufstand gegen die französischen Okkupationsarmeen – für die Aufstellung einer Landwehr und zugleich für eine verstärkte Volkserziehung engagierten. Im Rahmen der von ihnen in Gang gesetzten Propagandaaktivitäten kamen dabei neben österreichisch-vaterländischen auch einige deutschnationalen Gesinnungen zum Durchbruch. Während sich Joseph von Collin in seinen Wehrmannsliedern (1809) vornehmlich für die österreichisch-habsburgische Sache engagierte, begeisterte sich Ignaz Franz Castelli in seinen Kriegsliedern vom gleichen Jahr eher für allgemein-deutsche Zielsetzungen. Ja, Leonhard Graf von Rothkirch, ein Freund des Erzherzogs Karl, beschwor in diesem Zusammenhang sogar den bereits von Tacitus gepriesenen „Hermannsgeist“ der alten Germanen, welchen es im Ankampf gegen den an Varus erinnernden Napoleon wieder neu zu erwecken gelte. Doch alle diese BemühunVom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   79

gen erwiesen sich als fruchtlos. Der Tiroler Bauernaufstand unter Andreas Hofer im Jahr 1809 scheiterte und auch die österreichische Armee erlitt im gleichen Jahr bei Wagram gegen die Franzosen unter Napoleon eine empfindliche Schlappe, worauf das Habsburgerreich im Frieden zu Schönbrunn erhebliche Gebietsverluste hinnehmen mußte. Aufgrund dieser Ereignisse ersetzte Kaiser Franz I. den deutsch-patriotisch eingestellten Grafen Stadion durch den fast ausschließlich das Interesse Österreichs im Auge habenden Fürsten Klemens Wenzel von Metternich-Winneburg, den er nicht nur zum Außenminister ernannte, sondern dem er später sogar den Rang eines Staatskanzlers verlieh. Als entschiedener Gegner des Erzherzogs Karl wandte sich Metternich nachdrücklich gegen das Konzept einer nationalen Erhebung, da es unsinnig sei, wie er erklärte, dem „Pöbel“, das heißt der „gefährlichen Klasse der Unbesitzenden“, irgendwelche zum Aufstand reizende „Waffen in die Hände zu geben“. Dementsprechend unterdrückte Metternich alle Tendenzen, die eine Aufhebung der Standesunterschiede oder gar eine nationale Verbrüderung anstrebten. Aus denselben, von abwiegelnder Vorsicht diktierten Gründen vermittelte er sogar die Eheschließung zwischen Napoleon und Marie-Luise von Habsburg, einer Tochter Franz I., und unterstellte obendrein die österreichische Armee dem Oberbefehl Napoleons. Da es Metternich für höchst gefährlich hielt, im Habsburgerreich einen deutschbetonten Nationalgeist zu fördern, der zu einem Auseinanderfall dieses Vielvölkerstaats führen könnte, zu dem neben Deutschen auch Polen, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Ungarn, Kroaten und Italiener gehörten, unterstützte er als offiziöse Staatsideologie vor allem katholisch-universalistische Vorstellungen, wobei er selbst längst obsolet gewordene, an die Vorstellungswelt des inzwischen untergegangenen Sacrum Imperium erinnernde Argumente nicht verschmähte. Zu seinen staatstheoretischen Helfershelfern zog er in dieser Hinsicht unter anderem Publizisten wie Friedrich Gentz, Adam Müller und Friedrich Schlegel heran. Wie schon Friedrich Leopold von Hardenberg in seiner Schrift Die Christenheit oder Europa von 1799 lehnten diese drei Autoren, wie auch manche nazarenisch eingestellten Maler des 1809 in Wien gegründeten Lukasbunds, alle nationalbetonten Bestrebungen ab und sahen die „wahre Zukunft“ der von Österreich dominierten Teile Zentraleuropas allein in einer römisch-katholischen Universalherrschaft 80  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

sowie einer Stärkung der feudalistischen Rechte des Adels. Durch diese ideologischen Reorientierungen wurden im Habsburgerreich für Jahrzehnte hinaus alle gesamtdeutschen Tendenzen unterdrückt und somit Preußen die Initiative im Hinblick auf eine neue Reichsbildung überlassen, was in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts zu einer folgenreichen Auseinanderentwicklung dieser beiden deutschen Teilstaaten führte. In Berlin war die treibende Kraft hinter den zu dieser Zeit einsetzenden innerstaatlichen Reformbemühungen Karl August Fürst von Hardenberg, der seit 1804 dem preußischen Außenministerium vorstand, jedoch 1806 wegen seiner antifranzösischen Gesinnung diesen Posten auf Drängen Napoleons wieder aufgeben mußte. Darauf setzte er sich ins Zarenreich nach Riga ab, wo er 1807 eine Denkschrift verfaßte, in der er sich einerseits scharf gegen die „Raub- und Herrschsucht Napoleons und seiner begünstigten Gehilfen“ aussprach, jedoch andererseits ebenso nachdrücklich ein starres „Festhalten am Alten“ verwarf. Was er stattdessen befürwortete, war eine „Revolution im guten Sinne“, um so in einem „weisen monarchischen Staat“ eine „natürliche Freiheit und Gleichheit“ aller Bürger in die Wege zu leiten, auf die in ferner Zukunft, wie er schrieb, sogar einmal eine „demokratische“ Staatsverfassung folgen könne. Nach seiner Entlassung setzte der preußische Freiherr Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein für kurze Zeit das von Hardenberg begonnene Reformwerk fort. Wie dieser trat auch er sowohl für eine Befreiung der Bauern von ihrer bisherigen Erbuntertänigkeit als auch für eine bürgerliche Gewerbefreiheit und Selbstverwaltung der Städte ein, um so nicht nur dem Adel, sondern auch dem Landvolk und dem Mittelstand das Gefühl einer größeren Staatsverbundenheit zu geben. Doch auch Stein wurde – wiederum auf Druck Napoleons – schon 1808 von seinem Ministerposten entfernt und mußte wie Hardenberg ebenfalls ins Zarenreich fliehen, wo er in schroffer Ablehnung der versöhnlerisch einlenkenden Haltung Metternichs mehrere Denkschriften gegen die „erdrückende Übermacht Frankreichs“ verfaßte. In ihnen richtete er, wie vor ihm schon Hardenberg, als das Ziel einer möglichen „Insurrektion“ gegen die „ungebundene Herrschsucht Napoleons“ das Ideal einer „gemäßigten Monarchie“ auf, in der allen deutschen Bürgern die gleichen Rechte zustehen würden, statt nach der Befreiung von den Franzosen erneut zu einem „Bund kleiner Staaten“ zurückzuVom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   81

kehren, dessen „Despoten“, wie zu Zeiten des „Heiligen Römischen Reichs Undeutscher Nation“, wiederum lediglich nach „Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Vergrößerung“ ihrer dynastisch regierten Teilgebiete streben würden. Während Stein nach 1808 weiterhin im russischen Exil bleiben mußte, konnte Hardenberg ab 1810 als vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. ernannter Staatskanzler sein zwischen 1804 und 1806 begonnenes liberaldemokratisches, ja von ihm selbst als geradezu „jakobinisch“ empfundenes Reformwerk fortsetzen. Neben der Aufhebung der Erbuntertänigkeit der Bauern sowie der neuen Städteordnung trat er in den folgenden Jahren vor allem für eine durchgreifende Heeresreform ein, deren Durchführung er Hermann von Boyen, August Wilhelm Neidhardt von Gneisenau, Karl Wilhelm von Grolmann und Gerhard Johann von Scharnhorst anvertraute, die sich in einer Militärreorganisierungskommission für die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Abschaffung der bisher üblichen Prügelstrafe sowie die Zulassung von Bürgerlichen zur Offizierslaufbahn einsetzten, um so allen preußischen Bürgern das Gefühl einer Mitverantwortung für die politischen Angelegenheiten ihres Staates zu geben und sie zugleich im Rahmen eines vaterländisch gestimmten Volksheers auf eine mögliche Insurrektion gegen die französische Fremdherrschaft vorzubereiten.

III Welche Wirkung diese Reformbemühungen unter den liberal eingestellten preußischen Intellektuellen hatten, belegt schon der 1808 in Königsberg gegründete Tugendbund, eine Art freimaurerischer Geheimgesellschaft, dessen 750 Mitglieder sich im Gefolge der 1796 verbotenen Evergeten die „Aufsuchung des gemeinen Volks“ vornahmen, um demselben einen „sittlichen Enthusiasmus“ für das vaterländische Gemeinwohl einzuflößen. Zu diesem Zweck errichtete dieser Bund mit preußisch-patriotischem Eifer nicht nur Werkstätten und Armen­ speisehäuser, sondern gab auch ein Vereinsblatt unter dem Titel Der Volksfreund heraus, in welchem er sich – im Hinblick auf die als eine niederdrückende Schmach empfundene militärische Niederlage von 1806 – für eine moralische Wiederaufrichtung Preußens einsetzte. Da 82  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

sich jedoch derartige Aktivitäten nur schwer geheimhalten ließen und obendrein dem Napoleon gegenüber äußerst zögerlich taktierenden König Friedrich Wilhelm III. zu riskant erschienen, hob dieser den nur kurze Zeit aktiven Tugendbund schon Ende 1809 wieder auf. Und auch einzelne Intellektuelle, wie Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Daniel Schleiermacher und Friedrich Ludwig Jahn, die sich zum gleichen Zeitpunkt in ihren Reden oder Publikationen für die Stärkung eines vaterländisch-preußischen oder gar nationalen Gemeinsinns einsetzten und dabei ihre kritische Haltung gegenüber der französischen Fremdherrschaft keineswegs verhehlten, wurden vom preußischen König zwar geduldet, aber keineswegs tatkräftig unterstützt. Wohl der Mutigste von diesen Vieren war Fichte, der bereits im Winter von 1807 auf 1808 im Runden Saal des Berliner Akademiegebäudes seine später immer wieder zitierten Reden an die deutsche Nation vor einem ihm willig folgenden Publikum hielt. Angesichts der vaterländischen Misere versuchte er, seinen Zuhörern mit „kräftiger Begeisterung wieder Mut und Vertrauen“ einzuflößen, während draußen, wie Karl August Varnhagen von Ense schrieb, „die Trommeln vorbeiziehender französischer Truppen seinen Vortrag mehrfach unmittelbar hemmend“ unterbrochen hätten. Und zwar stützte sich Fichte dabei – im Einklang mit seiner von Herder herkommenden humanistischen Grundhaltung – vor allem auf die nachdrücklich herausgestellte These, daß die Germanen und damit die heutigen Deutschen das eigentliche „Ur- oder Stammvolk“ Europas seien, weil sie als die einzigen innerhalb der mittelalterlich-neuzeitlichen Kulturentwicklung an ihren „ursprünglichen Wohnsitzen“ sowie ihrer angestammten Sprache festgehalten hätten. Und daraus folgerte er mit rhetorischem Nachdruck, daß dieses Volk noch immer stark genug sei, sich nicht von irgendwelchen fremden Nationen unterdrücken zu lassen. Allerdings sei dazu eine nationalpä­ dagogische Erziehung nötig, wie Fichte erklärte, die alle Deutschen wieder in dem Gefühl bestärken würde, Angehörige eines seit altersher bedeutsamen Volkes zu sein. Nur so, betonte er, könne sich ein verstärkter nationaler Gemeinsinn entwickeln, der die Deutschen befähigen würde, sich nicht weiter mit jener territorialen Zersplitterung abzu­ finden, die im Zeitalter des dynastischen Absolutismus eine gegen das volkhafte Zusammengehörigkeitsgefühl gerichtete Form angenommen habe. Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   83

Ähnliche Anschauungen lagen den zwischen 1806 und 1810 in Halle und Berlin gehaltenen Patriotischen Predigten Schleiermachers zugrunde, worin sich dieser bemühte, sogar die Religion in den Dienst einer nationalen Erweckung zu stellen, indem er die Beteiligung am öffentlichen Leben als eine der zentralen Christenpflichten bezeichnete. Außerdem ermahnte er seine Zuhörer, sich nicht durch eine „verfehlte Anhänglichkeit an das Vergangene“ davon abhalten zu lassen, „dasjenige gerne und willig zu tun, was der gegenwärtige Zustand der Dinge von uns fordert“. Schließlich sei der „Widerwille“ gegen die „Ungleichheiten und Vorrechte im Staate“ so allgemein geworden, daß Preußen einer „vollständigen Wiedergeburt bedürfe“. Während jedoch Schleiermacher wegen seiner halb theologischen, halb philosophischen Sprachgebung keine allzu große Wirkung beschieden war, erwiesen sich die Schriften Arndts und Jahns – aufgrund ihrer wesentlich kruderen, selbst gewisse nationalistische Überspitzungen nicht verschmähenden Ausdrucksweise – innerhalb der vaterländisch oder gar gesamtdeutsch gesinnten Bevölkerungsschichten um so erfolgreicher. Arndt kam ursprünglich aus dem schwedischen Vorpommern, wechselte aber schnell ins preußische Reformlager über und schloß sich der vom Freiherrn vom Stein vertretenen Richtung an. Als dieser nach Rußland fliehen mußte, um dem Zorn Napoleons zu entgehen, begab sich Arndt ebenfalls nach Petersburg, wo ihn Stein zu seinem Privatsekretär machte. Schon in seiner Schrift Germanien und Europa (1803) hatte sich Arndt darüber erregt, wie sehr das deutsche Reich durch den Frieden zu Lunéville, auf dem Napoleon die Abtretung aller linksrheinischen Gebiete an Frankreich durchgesetzt hatte, unter die beschämende „Vormundschaft“ fremder Mächte geraten sei. In seinen folgenden Schriften, die ab 1806 meist unter dem Titel Geist der Zeit erschienen, nahm sein Haß auf den „hinterlistigen Despotismus“ Napoleons, ja das „Franzosenungeziefer“ im allgemeinen, immer schärfere Formen an. Was er dem entgegensetzte, waren folgende Konzepte: den „Hermannsgeist“ der alten Germanen, den es wiederzuerwecken gelte, den Stolz auf die deutsche „Muttersprache“ sowie ein christgermanisches Vertrauen in jenen Gott, „der Eisen wachsen ließ“ und der den Deutschen bei ihrem Ankampf gegen die Franzosen sicher den nötigen Beistand leisten werde. Um die damit Angesprochenen – nach Jahrhunderten der „Vielherrschaft“ einzelner Fürsten – endlich zu einem „einigen Volk“ werden 84  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

zu lassen, unterstützte daher Arndt nicht nur die von Hardenberg und Stein eingeleitete Bauernbefreiung sowie die Beteiligung der Bürger an der Städteverwaltung, sondern setzte sich ebenso nachdrücklich für die von Boyen, Gneisenau, Grolmann und Scharnhorst ins Auge gefaßte Heeresreform ein, um so jene „stehenden Heere“, die keinen Bezug zum wahren Volksgeist hätten, durch nationalgesinnte „Wehrmannschaften“ zu ersetzen, in denen sich jeder Landsturm- oder Landwehrmann als ein Verteidiger seines Vaterlands fühlen könne. Nur so werde es möglich sein, erklärte er zwischen 1808 und 1810 mehrfach mit „antiwelschem Grimme“, die französischen Besatzungstruppen wieder aus Deutschland zu vertreiben und mit der nötigen Wehrbereitschaft dafür zu sorgen, daß der Rhein – nach der Rückeroberung der linksrheinischen Gebiete – wieder mitten durch Deutschland fließe, statt Deutschlands Grenze zu sein. Erst dann, schrieb Arndt, könne man die verräterischen Rheinbündler endlich zum Teufel jagen und ein deutsches Reich errichten, in dem es nur noch einen Herrscher und ein freies Volk, aber nicht mehr eine Vielzahl von persönlichen Machtinteressen geleitete Fürsten und ihnen nur unwillig gehorchende Untertanen geben würde. Mit der gleichen Emphase setzte sich Friedrich Ludwig Jahn für alles ein, was er als spezifisch „deutsch“ empfand. Da er politisch aktiv werden wollte, zog es ihn – wie auch Fichte, Schleiermacher und Arndt – 1809 nach Berlin, das zu diesem Zeitpunkt als der Hauptort aller deutschgesinnten Patrioten galt. Schon ein Jahr später gründete Jahn – in scharfer Ablehnung der napoleonischen Fremdherrschaft auf deutschem Boden – dort einen Deutschen Bund, der wie die 1809 entstandene Lesende und schießende Gesellschaft des Verlegers Georg Andreas Reimer und die im gleichen Jahr gegründete Fechtbodengesellschaft Friedrich Friesens für die Verbreitung einer nationalen Gesinnung eintrat und seinen Mitgliedern das „Hinwirken zur endlichen Einheit unseres zersplitterten, geteilten und getrennten Volks“ zur Pflicht machte. Zur Unterstützung dieser Absichten publizierte Jahn 1810 sein Deutsches Volkstum, an dem er bereits seit 1808 gearbeitet hatte, das schnell zum populärsten Buch der damaligen patriotischen Richtung wurde. Unter Berufung auf Herder bezeichnete er in ihm die Deutschen als eine „ungewordene Nation“, die noch immer eine „zerstückelte“ Form aufweise und sich daher nicht zu einem wahren „Nationalstaat“ mit allgemein verbindlichen Bürgerrechten entwickelt habe. Erst wenn es dazu komme, heißt es Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   85

im Vorwort dieses Buchs mit halb christlichen, halb humanistischen Anklängen, könne aus Deutschland ein „Schutzengel der Menschheit“ und damit ein „Begründer des ewigen Friedens“ werden. Um jedoch eine derartige Rolle spielen zu können, müßten sich die Bewohner dieses Landes wieder auf ihre angestammten Werte besinnen, statt sich weiter von fremdvölkischen Vorstellungen, wie denen eines einzelfürstlichen Absolutismus, blenden zu lassen. Um das zu erreichen, erklärte Jahn in Anlehnung an Friedrich Gottlieb Klopstock und die Dichter des Göttinger Hains, sei es vor allem nötig, auf eine verstärkte „Volkstümlichkeit“, eine Achtung der „Muttersprache“, eine „Allgemeinmachung der schönen Künste“, eine Ablehnung des „geschraubten Gelehrtenjargons“ sowie ein „vaterländisches, bis auf Hermann den Cherusker zurückgehendes Geschichtsbewußtsein“ zu dringen. Außerdem legte er im Rahmen dieser Forderungen einen emphatischen Nachdruck auf die Einführung einer von allen Bürgern dieses Staates getragenen „Volkstracht“, auf „volkstümliche“ Schauspiele mit Themen aus der deutschen Geschichte, eine durch Leibesübungen geförderte Volksgesundung sowie die Aufstellung einer schlagkräftigen „Landwehr“, um so ein für alle Mal gegen fremdländische „Eroberer“ gewappnet zu sein. Trotz der Beibehaltung eines Monarchen und der verschiedenen Stände könne so ein deutsches Reich entstehen, wie er schrieb, das nicht mehr in absolutistisch regierte Fürstentümer, sondern in nationalgesinnte Marken und Gauen eingeteilt wäre und dessen Hauptstadt den Namen „Teutona“ erhalten solle. All das klingt nach einer altdeutsch gefärbten Utopie, die sich unter den damals herrschenden politischen und sozioökonomischen Verhältnissen kaum in die Realität umsetzen ließ. Und doch hoffte Jahn, damit ein durchaus praktikables Modell für ein zukünftiges Deutschland aufgestellt zu haben. Das gleiche dachten viele seiner patriotisch gesinnten Zeitgenossen. Auch sie glaubten, daß nach Jahrhunderten einer fürstlichen Willkürherrschaft und den Jahren der französischen Besetzung Deutschlands aus ihrem Land – im Zuge einer „Revolutio germanica“ – endlich ein Nationalstaat mit einer „festgefügten volkstümlichen Verfassung“ werden könne, in dem jedem Bürger ein politisches Mitspracherecht zustehe. Wie schon Rousseau, Herder und Fichte vertrat daher auch Jahn eine Reihe nationalerzieherischer Konzepte, mit denen er den politisch noch unmündigen breiten Massen der Bevölkerung zu einem verstärkten „Volksbewußtsein“ verhelfen wollte. Und er tat das nicht nur 86  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

publizistisch, sondern auch ganz konkret, indem er mit einer von ihm gegründeten und von preußischen Reformern wie Hardenberg durchaus mit Wohlwollen betrachteten Turngesellschaft die erste ausschließlich national eingestellte Organisation in Deutschland schuf, die schnell zu einem wichtigen Vorbild für weitere Assoziationen dieser Art werden sollte. Ihre ersten Übungen hielt diese Gesellschaft, deren Mitgliederzahl in wenigen Wochen von 300 auf 700 anstieg, im Frühjahr 1811 auf der Hasenheide bei Berlin ab. Auch in anderen deutschen Städten entstanden kurz darauf ähnliche Turnvereine mit Hunderten, ja Tausenden von Mitgliedern, was vor allem zu einer nationalen Mobilisierung der studentischen Jugend beitrug, die sich bereits zu diesem Zeitpunkt immer stärker von den älteren, noch landsmannschaftlich organisierten Zusammenschlüssen zu distanzieren begann und sich zu deutschbetonten Idealen bekannte.

IV Von ähnlichen Gefühlen wurde in diesem Zeitraum auch eine kaum zu übersehende Anzahl deutschnational eingestellter Wissenschaftler und Künstler ergriffen. Den Vortrupp bildeten hierbei einige LiterarischInteressierte. Da es das Fach Germanistik an den damaligen deutschen Universitäten noch nicht gab, waren es in diesen Jahren vor allem Publizisten und Schriftsteller, welche im Sinne vaterländischer Anschauungen für eine stärkere Beachtung der nationalen Merkmale innerhalb der deutschen Literatur eintraten. Einer der ersten, der sich dieser Aufgabe widmete, war August Wilhelm Schlegel, der 1803/04 in Berlin eine Reihe vielbeachteter Vorlesungen über die schöne Literatur und Kunst hielt, in denen er sich gegen die unter dem Einfluß der französischen Aufklärung entstandene deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts wandte und stattdessen die deutschen Dichtungen des Mittelalters, vor allem den Parzival und das Nibelungenlied, als maßgebliche Vorbilder einer neuen, sich auf die Vergangenheit stützenden spezifisch nationalen Literatur hinstellte. Ebenso eindeutig erklärte er am 20. Mai 1807 in einem Brief an Luise von Voß: „Für jetzt kenne ich als Schriftsteller nur ein einziges Ziel“, nämlich „den Deutschen das Bild ihres alten Ruhmes, ihrer alten Würde und Freiheit im Spiegel ihrer Vorzeit vorzuhalten und so Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   87

jeden Funken von Nationalgefühl, der irgendwo schlummern mag, anzufachen.“ Das gleiche tat Friedrich Heinrich von der Hagen, der 1807 im Vorwort seiner Neuausgabe des Nibelungenlied schrieb, daß dieses Werk sicher alle Leser mit der Hoffnung auf die „dereinstige Wiederkehr deutscher Glorie und Weltherrlichkeit“ erfüllen werde. Und auch Karl Besselstedt in Königsberg, Ludwig Christian Zimmermann in Gießen, Karl Schildener in Greifswald und Franz Joseph Mone in Heidelberg hielten im gleichen Zeitraum fast jedes Jahr eine Vorlesung über das gleiche Werk. Doch nicht nur das Nibelungenlied, auch eine Unzahl anderer „altdeutscher“ Schriften verschiedenster Herkunft wurden in diesen Jahren als richtungsweisende Werke des deutschen Volksgeists neu herausgegeben. Mit derartigen Publikationen versuchten ihre Editoren nicht nur die bildungsbürgerlichen Kreise, sondern – wie Achim von Arnim und Clemens Brentano mit ihrer Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1806–1808), Joseph Görres mit den Deutschen Volksbüchern (1807) und die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit ihren Kinder- und Hausmärchen (1812–1815), auf welche später sich bewußt volkstümlich gebende Neuausgaben der mittelalterlichen Minnelieder und des Meistergesangs des 16. Jahrhunderts folgten – auch die unteren Bevölkerungsschichten anzusprechen und in einem nationalgestimmten Sinne zu beeinflussen. Ja, einigen der entschieden antinapoleonisch auftretenden Dichter genügten selbst derartige Bemühungen nicht. Deshalb griffen sie in ihren eigenen Werken sogar noch hinter die Volkslied- und Märchentradition, ja sogar noch hinter das Nibelungenlied zurück und erhoben die durch Tacitus überlieferte Hermann-Figur zum wichtigsten Leitbild einer wahrhaft alt-neudeutschen Gesinnung. Sie sahen nicht in dem ins Mythische entrückten „hürnenen“ Siegfried, sondern in der historisch dokumentierten Befreiungsschlacht im Teutoburger Wald das wirkungsmächtigste Modell, wie man sich gegen fremdländische Eindringlinge erwehren könne, nämlich durch eine Mobilisierung der verschiedenen deutschen Stämme innerhalb einer kampfbereiten Volksfrontbewegung. Wohl das bekannteste Werk dieser Art lieferte Heinrich von Kleist 1808 mit seiner Hermannsschlacht, in der Varus mit seinen römischen Legionen indirekt mit Napoleon und seiner Grande armée gleichgesetzt wird sowie Hermann der Cherusker wie ein Staatsmann wirkt, der dem Freiherrn vom Stein ähnelt. Obwohl Kleist dabei auch einzelne Motive aus 88  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

11 Karl Russ: Hermann befreit Germania (1815). Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum

Klopstocks Hermanns Schlacht aufgriff, sollte sein Werk im Jahr 1808 vor allem dazu beitragen, die preußischen und österreichischen Propagandastrategien aufeinander abzustimmen, um so – angeregt durch den spanischen Freiheitskampf gegen Frankreich – die erhofften Insurrektionsbemühungen in einen nationalen Krieg zu überführen. Wie Stein, der am 21. August 1808 in einer Denkschrift an den preußischen König geschrieben hatte, daß der anstehende Krieg zur „Befreiung Deutschlands“ von allen Deutschen geführt werden müsse, geht es daher auch in diesem Stück weniger um „Cheruskas“ als um „Germaniens Befreiung“. Dementsprechend legte Kleist den Hauptnachdruck auf das gemeinsame Vorgehen Hermanns und Marbods, sprich: Preußens und Österreichs, gegen die eingedrungenen Römer, sprich: Franzosen. Daß sein Hermann dabei auch zu krassen Propagandatricks greift, soll nicht verschwiegen werden. Aber wie ließen sich Napoleon und seine Truppen anders aus Deutschland vertreiben als mit einer Propaganda, die auf solVom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   89

che Mittel verzichtet hätte? Mußte man nicht mit derartigen Strategiemanövern in allen Deutschen einen Widerstandswillen erwecken, der selbst den Gebrauch von Waffen nicht verschmähen würde, um endlich in einem „freien“ Land und nicht mehr unter dem Joch einer militärischen Besatzungsmacht zu leben, die auch vor weitgehenden Plünderungen nicht zurückschreckte? Zudem sollte man den postfaschistischen Kritikern dieses Werks entgegenhalten, daß in Kleists Hermannsschlacht den römischen Weltherrschaftsgelüsten keineswegs ein germanischer Weltherrschaftsanspruch entgegengesetzt wird. Im Gegenteil, schon zu Anfang heißt es in diesem Stück, daß sich die europäischen Nationen zur Niederhaltung aller nur denkbaren „Tyrannen“ zu einer Völkerfamilie zusammenschließen sollten, wobei es Kleist durchaus offenließ, ob in diesem Staatenbund ein Deutscher, ein Gallier oder ein Brite die jeweilige Führungsrolle übernehmen soll. Daß Kleist dieses Drama 1808 in Wien bei einem MetternichAnhänger wie Heinrich Joseph von Collin nicht unterbringen konnte, ist bei der dort herrschenden romantisch-universalistischen Stimmung begreiflich. Ebenso verständlich ist es, daß selbst die Berliner Bühnen, wegen der herrschenden Zensurbestimmungen vor der Aufführung dieses vaterländischen Agitpropdramas zurückschreckten und sich auch kein Verleger fand, der es gedruckt hätte. Auch die von Kleist 1809 in Prag geplante Zeitschrift Germania konnte aus den gleichen Gründen nicht erscheinen. Nach der Niederlage der Österreicher bei Wagram, dem Scheitern des Tiroler Aufstands unter Andreas Hofer, der mutigen, aber kurzlebigen Verteidigung Kolbergs durch Joachim Christian Nettelbeck sowie den erfolglosen Guerillataktiken eines von Ferdinand von Schill angeführten Freikorps im norddeutschen Bereich kehrte daher Kleist 1810 nach Berlin zurück, wo er die antinapoleonisch eingestellten Berliner Abendblätter herausgab, bis auch diese ein Jahr später von den dortigen Zensurbehörden verboten wurden. Darauf äußerte er sich noch positiv über einige der in Berlin ausgestellten deutschgesinnten Bilder Caspar David Friedrichs, in dessen Dresdner Atelier er 1808 den dortigen „Freiheitsfreunden“ Teile seiner Hermannsschlacht vorgelesen hatte. Anschließend nahm er an mehreren Sitzungen der am 18. Januar 1811 gegründeten Christlich-deutschen Tischgesellschaft teil, zu der neben Dichtern wie Achim von Arnim und Clemens Brentano, einem Komponisten wie Johann Friedrich Reichardt und einem Verleger wie 90  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

Georg Andreas Reimer sowohl reformbetonte als auch konservative preußische Politiker und Generäle wie Karl von Clausewitz, Leopold von Gerlach, August Wilhelm Neidhardt von Gneisenau, Fürst Anton von Radziwill, Joseph Maria von Radowitz und Friedrich August von Staegemann gehörten, bis er sich am 21. November 1811, da der Berliner Hof auch sein im Zusammenhang mit der preußischen Heeresreform geschriebenes Drama Prinz Friedrich von Homburg nicht zur Aufführung freigab, nach dem Scheitern all seiner politischen und dichterischen Hoffnungen am Berliner Wannsee das Leben nahm.

V Daher erlebte Kleist nicht mehr, wie es in den nächsten zwei Jahren endlich zu den von ihm erhofften Befreiungskriegen kam. Die Chance dazu ergab sich durch den Rußlandfeldzug Napoleons im Sommer 1812, der nach anfänglichen Erfolgen schon im November des gleichen Jahres kläglich scheiterte. Nachdem der Zar auf Drängen des Freiherrn vom Stein die Friedensangebote Napoleons abgelehnt hatte, gelang es den russischen Truppen, die französische Grande armée, in der auch zahlreiche preußische und österreichische Regimenter mitmarschieren mußten, beim Überqueren der Beresina vernichtend zu schlagen. Darauf entschloß sich der preußische General Ludwig York von Wartenburg, ohne sich vorher mit seinem zögerlich verhaltenden König verständigt zu haben, am 30. Dezember 1812 mit den siegreich vordringenden Russen in Tauroggen auf eigene Faust einen Bündnispakt abzuschließen, durch welchen er den Abfall Preußens von Napoleon einleitete. Im Auftrag des Zaren stellten daraufhin Stein und York in Ostpreußen die ersten Landwehreinheiten auf. Andere preußische Reformer – ungehalten über die ängstliche Einstellung ihres Königs – gingen in diesem Punkt sogar noch einen Schritt weiter. So dachte etwa Gneisenau vorübergehend daran, die weiterhin unentschlossenen deutschen Fürsten zu entthronen und durch Volkswahl neue Regenten an ihre Stelle zu berufen. Ja, selbst ein relativ konservativer Haudegen wie der preußische General Fürst Gebhard Leberecht Blücher von Wahlstatt, der spätere „Marschall Vorwärts“, den Friedrich Wilhelm III. 1812 auf Wunsch Napoleons seines Postens enthoben hatte, erklärte Anfang 1813: „Jetzo Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   91

ist es Zeit, die ganze Nation zu den Waffen anzurufen, und wann die Fürsten nicht wollen und sich dem entgegensetzen, sie samt dem Bonaparte wegzujagen. Denn nicht nur Preußen allein, sondern das ganze deutsche Vaterland muß wieder heraufgebracht und die Nation hergestellt werden.“ Aufgrund dieser Unmutsgefühle gelang es Hardenberg und Scharnhorst schließlich, ihren König zu bewegen, Frankreich den Krieg zu erklären und durch die Stiftung des Eisernen Kreuzes sowie seinen am 17. März 1813 bekannt gemachten Aufruf An mein Volk in allen Teilen Preußens eine antinapoleonische Stimmung zu entfachen. Der Erfolg dieser Taktiken ließ nicht lange auf sich warten. Ludwig Adolf von Lützow gründete kurz darauf ein Freikorps, das sich mit den Farben Schwarz-Rot-Gold zu einer gesamtdeutschen Gesinnung bekannte, wobei schwarz die Nacht der Fremdherrschaft, rot das für das Vaterland gegossene Blut und gold die Morgenröte der angestrebten Freiheit symbolisieren sollten, während Scharnhorst mit der Aufstellung eines preußischen Volksheers begann, dem sich sechs Prozent der männlichen Bevölkerung dieses Landes anschlossen und das schnell auf 280 000 Mann anwuchs. Trotz der Bemühungen Steins hielten sich die Rheinbundfürsten anfangs noch zurück und auch Metternich versuchte, lieber zwischen den zwei verfeindeten Mächten zu vermitteln. Erst im August 1813 gab er der allgemeinen Begeisterungswelle nach und schloß sich der russisch-preußischen Koalition an, die vom 16. bis 19. Oktober in der sogenannten Völkerschlacht von Leipzig den französischen Truppen eine vernichtende Niederlage beibrachte, worauf sich der Rheinbund auflöste und sich die Reste der napoleonischen Armee nach Frankreich zurückzogen. Im folgenden Winter drangen daraufhin die preußischen, österreichischen und russischen Regimenter in Frankreich ein, eroberten im März Paris, zwangen Napoleon zur Abdankung und setzten dafür vorläufig Charles-Maurice de Talleyrand als neuen Regenten ein.

VI Alle diese Ereignisse lösten in den meisten deutschen Teilstaaten einen nationalen Hoffnungssturm aus, den es in dieser Form vorher noch nie gegeben hatte. Nicht nur der Freiherr vom Stein glaubte in diesen Monaten, daß jetzt die Zeit für eine neue Reichsverfassung gekommen 92  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

sei, auch viele der vom Sieg über den „Landräuber“ Napoleon begeisterten adligen und bürgerlichen Liberalen gaben sich zu diesem Zeitpunkt der Hoffnung hin, daß die Befreiung vom französischen Joch zwangsläufig zu einer Abkehr von der noch bestehenden absolutistischen Fürstenherrschaft in Deutschland führen würde, so daß aus dem inzwischen verfallenen Heiligen Römischen Reich endlich eine konstitutionelle Monarchie und somit ein einheitlich regierter Nationalstaat werden könne. Die Jahre 1813 und 1814 gehören daher zu den großen Hoffnungsjahren eines gerechtfertigten, weil freiheitsgestimmten Nationalismus in Deutschland.

12 Abschied zweier freiwilliger Jäger von ihren Eltern. Aquatint von Friedrich Jügel nach einer Zeichnung von Heinrich Anton Dähling (1815). Schwerin, Staatliche Museen

Wie groß diese Begeisterungswelle war, demonstrieren vor allem die vielen „vaterländischen“ Lieder und Gedichte, welche zu diesem Zeitpunkt entstanden, die nicht nur die in den Krieg ziehenden Soldaten anfeuerten, sondern auch in breiten Schichten der Bevölkerung den erwünschVom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   93

ten Anklang fanden. Wohl die folgenreichste Wirkung erzielte Ernst Moritz Arndt mit seinen Liedern für Teutsche (1813), darunter dem Lied „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, / Drum gab er Säbel, Schwert und Spieß / Dem Mann in seine Rechte“, und vor allem mit seinem zwischen 1813 und 1815 in 29 Drucken erschienenen Gedicht „Was ist des Teutschen Vaterland? / Ist’s Preußenland, ist’s Schwabenland?“, das mit den Zeiten schließt: „O nein! O nein! / Das ganze Teutschland soll es sein.“ Fast ebenso beliebt waren jene Lieder des mit den Lützower Jägern ins Feld gezogenen Theodor Körner, der am 28. August 1813 in der Schlacht bei Gadebusch tödlich verwundet wurde und durch seinen Heldentod fast zum „Heiligen“ der Befreiungskriege aufstieg. Von ihm erschienen 1813 Zwölf freie deutsche Gedichte, nach denen 1814 seine posthum publizierte Anthologie Leier und Schwert herauskam. Besonders sein Jägerlied, Lützows wilde Jagd und Das Lied von der Rache machten schnell die Runde. Ebenso wirksam war sein in Verse gefaßter Aufruf von 1813, in dem sich die antifürstlichen Zeilen finden: „Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen; / Es ist ein Kreuzzug, ’s ist ein heiliger Krieg!“, der zutiefst der Stimmung vieler von der patriotischen Begeisterung dieses Jahres ergriffenen Soldaten entsprach. Doch auch die vaterländischen Gedichte in Friedrich Försters Kriegsgesängen für freie Deutsche (1813), Friedrich Ludwig Jahns Wehrliedern (1814), Friedrich August von Staegemanns Kriegsgesängen (1814) sowie eine Reihe anonym erschienener Gedichtsanthologien wie Ergießungen deutschen Gefühls (1814) und Schlachtenruf und Schlachtengesang an die erwachten Teutschen (1814) verfehlten – wegen ihres Franzosenhasses und ihrer Berufung auf den wiedererwachten „Hermannsgeist“ – nicht ihre Wirkung auf die dafür gestimmten Schichten der sich plötzlich als „Nation“ fühlenden Deutschen. Trotz dieses deutschbetonten Überschwangs hielten allerdings viele dieser Lyriker weiterhin am Konzept einer monarchischen Ordnung fest, statt eine als „französelnd“ empfundene Wendung ins Republikanische zu fordern. Das gleiche gilt für die zum gleichen Zeitpunkt verfaßten Denkschriften Hardenbergs und Steins, die Broschüre Über künftige Verfassungen in Teutschland, die Ernst Moritz Arndt 1814 publizierte, sowie jene Essays von Joseph Görres über die „eingeschränkte Hoheit“ der jeweiligem Landesfürsten, welche er für den von ihm im gleichen 94  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

Jahr gegründeten Rheinischen Merkur schrieb. Ähnliche Anschauungen vertraten die Mitglieder der auf Anregung Arndts 1814 im Rhein-MainGebiet entstandenen Deutschen Gesellschaften, die zwar weitgehend – unter der Leitung von Heinrich Luden und Wilhelm Snell– der bürgerlichen Bildungselite angehörten, aber trotz ihrer auf monarchischen Prinzipien beruhenden Verfassungsvorstellungen, wie der vorhergehende preußische Tugendbund, „das ganze Volk unsichtbar umfassen“ wollten. Ebenso stark kam dieser nationalliberale Geist im Sommer 1814 in den lautstarken Forderungen nach Deutschen Volksfesten zum Durchbruch, für die sich Jahn schon 1810 in seinem Buch Deutsches Volkstum eingesetzt hatte. Im Anschluß daran war Arndt im April 1814 in seinen Schriften Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht sowie Noch ein Wort über die Franzosen und uns nicht minder emphatisch für die Einführung solcher Feste eingetreten. Und zwar schlug er dafür als mögliche Feiertermine den noch herauszufindenden Jahrestag der Schlacht im Teutoburger Wald, den Todestag Andreas Hofers, des Anführers des Tiroler Bauernaufstandes, den die Franzosen am 20. Februar 1810 in Mantua hingerichtet hatten, sowie den 18. Oktober, den Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht, vor. Tatsächlich gefeiert wurde allerdings im Jahr 1814 in vielen deutschen Städten nur der Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig, zu dem nicht nur Jahn und Arndt, sondern auch Karl Heinrich Hoffmann, der Leiter eines im Herbst 1814 gegründeten Deutschen Bunds, sowie Joseph Görres in seinem Rheinischen Merkur wichtige Anstöße gegeben hatten, die umgehend von vielen der kurz zuvor entstandenen Deutschen Gesellschaften, denen sich vor allem antifeudalistisch ausgerichtete Historiker, Rechtsgeschichtler und Sprachwissenschaftler angeschlossen hatten, aufgegriffen wurden. Am Tag dieses „Nationalfests aller Teutschen“, dieses „teutschen Siegesfests“ oder „Geburtstagsfests teutscher Nation“, wie es hieß, versammelte sich in vielen deutschen Städten die Volksmenge meist am späten Nachmittag in festlichen Kleidern und mit Eichenlaub geschmückten Hüten vor dem jeweiligen Rathaus und zog dann unter Glockengeläut, militärischer Musik und Arndtsche Lieder singend hinaus ins Freie zu irgendwelchen Festplätzen, wo sie mitunter einen feierlichen, deutschpatriotischen Eid leistete, sich nie wieder einem fremden Volk zu unterwerfen, sondern stets im Geiste Hermann des Cheruskers zu den Waffen Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   95

zu greifen, wenn jemand erneut versuchen würde, das deutsche Volk seinem Willen gefügig zu machen. Anschließend wurden auf naheliegenden Bergen oder Hügeln meist hochauflodernde Freudenfeuer angezündet, das Lied „Flamme empor, Flamme empor. / Siehe, wir singenden Paare / Schwören am Flammenaltare, / Deutsche zu sein“ angestimmt, von den anwesenden Pfarrern, Lehrern oder höheren Beamten die entsprechenden Festreden gehalten und bei manchen dieser nationalen Verbrüderungsfeste, an denen oft Tausende von Menschen teilnahmen, an Napoleon erinnernde Strohpuppen, zerbrochene französische Waffen sowie der Code civile als Symbole der „Gewaltherrschaft“ des „verrohten Völkerwürgers“ oder „Freiheitsschänders“ Napoleon in die Flammen der aufgestellten Opferaltäre geworfen. So freiheitsbetont diese nationalen Verbrüderungsfeste auch waren, irgendwelche radikaldemokratischen Sentiments wurden dabei – im Gegensatz zu den Festen der Französischen Revolution auf dem Pariser Marsfeld, ob nun der Fête de la fédération oder der Fête de l’Être supreme – selten artikuliert. Letztlich herrschte bei fast allen dieser Feiern ein Gefühlsnationalismus, dem ein Politikverständnis zugrunde lag, das weitgehend im älteren Sinne „vaterländisch“ ausgerichtet war. Trotzdem nahm fast keiner der deutschen Fürsten oder höhergestellten Adligen an diesen Feierlichkeiten teil, da sie darin lediglich das Aufflackern eines Nationalismus sahen, der sie in ihren politischen und gesellschaftlichen Herrschaftsvorstellungen bedrohen könnte. Sie teilten zwar mehrheitlich die Freude, den „Bedrücker“ Napoleon endlich aus ihren Territorien vertrieben zu haben, und nahmen auch benevolent die Rückbesinnung auf die deutsche Kultur und Muttersprache zur Kenntnis, aber hofften ansonst, von nun an wieder zu den altgewohnten absolutistischen Zuständen zurückkehren zu können. Aus diesem Grunde lud der österreichische Außenminister Fürst Metternich die Hauptvertreter der europäischen Großmächte schon 1814 zu einem Kongreß nach Wien ein, um mit ihnen in allen bis dahin von Napoleon bedrohten oder besetzten Ländern die älteren Legitimitätsprinzipen zu restaurieren. Preußen wurde dabei von Fürst Hardenberg, Rußland von Zar Alexander I., England von Robert Stewart Castlereagh und Frankreich von Charles-Maurice de Talleyrand vertreten. Während der dort stattfindenden Verhandlungen landete Napoleon, dem man auf dem 1. Pariser Frieden das Fürstentum Elba zugestanden hatte, plötzlich im März 96  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

1815 in Cannes, stellte eine neue französische Armee auf, wurde aber schon 100 Tage später von den vereinigten englischen und preußischen Truppen unter Duke Arthur Wellesley Wellington und Fürst Gebhard Leberecht Blücher von Wahlstatt bei Waterloo vernichtend geschlagen und kurze Zeit später auf die Insel St. Helena vor der afrikanischen Küste im Atlantischen Ozean verbannt, wo er 1821 starb. Am 8. Juni 1815 wurden daraufhin von den in Wien versammelten Fürsten auf Druck Metternichs, der allen Wünschen nach einer Wiederherstellung des alten deutschen Reichsverbands energisch entgegentrat, folgende Beschlüsse gefaßt, mit denen er besonders jene Tendenzen, die verschiedenen deutschen Länder im Sinne des Freiherrn vom Stein zu einem monarchisch regierten Nationalstaat zusammenzuschließen, zu unterdrücken versuchte: Bayern, Württemberg und Sachsen blieben Königreiche, das Kurfürstentum Hannover wurde ebenfalls in ein selbständiges Königreich umgewandelt, Preußen erhielt Schwedisch-Vorpommern, Nordsachsen, die Rheinprovinz sowie Westfalen, während Österreich wieder die Herrschaft in Salzburg, Vorarlberg, Tirol, Kärnten, Venetien, Istrien, Dalmatien, Galizien und der Lombardei antreten konnte. An die Stelle des Heiligen Römischen Reichs trat somit ein staatliches Gebilde, das sich fortan – unter österreichischer Führung – Deutscher Bund nannte und aus 39 „selbständigen, unter sich unabhängigen Staaten“, einschließlich vier freier Reichsstädte, bestand, ja dem sogar der englische König als König von Hannover, der dänische König als Herzog von Holstein und der niederländische König als Großherzog von Luxemburg angehörten. Als deshalb der Freiherr vom Stein, noch immer für einen deutschen Einheitsstaat eintretend, auf diesem Kongreß dem österreichischen Kaiser Franz I. die provozierende Frage stellte: „Wollen sich Eure Majestät nicht an die Spitze der deutschen Nation stellen?“, antwortete dieser lediglich: „Nation – das klingt mir zu jakobinisch.“ Damit wurde von vornherein klargestellt, daß auch in Zukunft im Hinblick auf das Staatsverständnis nicht der „Volkswille“, sondern die jeweilige Dynastie den ausschlaggebenden Vorrang haben sollte. Außerdem entschieden die dort Versammelten, daß sich die Gesandten der einzelnen Bundesstaaten von Zeit zu Zeit auf einem noch einzurichtenden Bundestag in Frankfurt am Main treffen sollten, um bei irgendwelchen nationalistischen Regungen innerhalb der einzelnen Bundesländer die nötigen Unterdrückungsmaßnahmen einzuleiten. Um dem Ganzen sogar noch Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   97

13 J. C. Bock: Der heilige Bund von Zar Alexander I. von Rußland, Kaiser Franz I. von Österreich und Friedrich Wilhelm III. von Preußen am 26. September 1815

eine höhere Weihe zu geben, schlossen schließlich der russische Zar, der österreichische Kaiser und der preußische König eine Heilige Allianz, um so die unverbrüchliche Einheit von Thron und Altar – im Sinne des Ancien régime – als „gottgewollt“ hinzustellen. Wie viele nationalbetonte Hoffnungen sich damit als Illusionen herausstellten, ließe sich mit mannigfachen Dokumenten belegen. Die 98  Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß

meisten der von den Beschlüssen des Wiener Kongreß Enttäuschten konnten es, wie man ihren Briefen, Tagebüchern wie auch publizierten Äußerungen entnehmen kann, anfangs kaum glauben, welches infame Spiel die Fürsten mit ihnen in den zwei vorangegangenen Jahren getrieben hatten, in denen diese Potentaten ihren „Völkern“ nicht nur persönliche Freiheitsrechte, sondern auch demokratisch eingerichtete Verfassungen, ja vielleicht sogar einen nationalen Zusammenschluß aller deutschen Staaten versprochen hatten, um sie mit solchen Parolen gegen den „niederträchtigen Landräuber Napoleon“ zu mobilisieren. Nach der Schlußsitzung des Wiener Kongresses mußten diese bisher Gutgläubigen und nunmehr Enttäuschten plötzlich erkennen, daß all dies nur taktische Manöver waren, mit denen die Fürsten lediglich ihre in dem angeblichen „Freiheitskrieg“ verlorengegangenen Gebiete zurückerobern wollten und anschließend keineswegs gezögert hatten, wieder genau so absolutistisch zu regieren wie zuvor. Viele jener Freischärler, die in diesen Krieg mit überspannten Hoffnungen gezogen waren, zogen sich daher nach 1815 weitgehend in irgendwelche Schmollwinkel zurück. Es gab jedoch auch andere, die sich dieser Entwicklung widersetzten und glaubten, daß es möglich sei, gegen die militärische Übermacht der neu etablierten Regime und die von Metternich propagierte antinational eingestellte Interventionspolitik anzukämpfen. Und das löste innerhalb des Deutschen Bunds eine Reihe innenpolitischer Konflikte aus, welche im Laufe der folgenden drei Jahrzehnten nicht aufhören sollten und schließlich zur Märzrevolution des Jahres 1848 führten.

Vom Aufstieg Napoleons bis zum Wiener Kongreß   99

Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik

I Wohl die schärfsten Reaktionen auf die Beschlüsse des Wiener Kongresses erfolgten anfangs von Seiten der am 12. Juni 1815 in Jena gegründeten Urburschenschaft, die im Gefolge Johann Gottlieb Fichtes, Friedrich Ludwig Jahns und Ernst Moritz Arndts sowie in Fortführung der Bestrebungen des preußischen Tugendbunds und der Deutschen Gesellschaften von 1814 weiterhin für die Errichtung eines deutschen Nationalstaats sowie die „Belebung deutscher Art und deutschen Sinnes“ eintrat. Viele ihrer Initiatoren waren Studenten, die nach der Konvention von Tauroggen als Freiwillige mit der Schwarzen Schar der Lützower Jäger oder den verschiedenen Landwehrverbänden in den Krieg gezogen waren. Da sie in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen 1813 und 1815 nicht nur einen Befreiungskrieg gegen die napoleonische Fremdherrschaft, sondern zugleich einen Freiheitskrieg gegen alle älteren Formen der fürstlichen Willkürherrschaft gesehen hatten, drängten sie jetzt darauf, ihre hochgespannten Hoffnungen auf eine nationale Verbrüderung, welche von den seit 1814 in Wien versammelten Fürsten brutal unterdrückt worden waren, doch noch in die Tat umzusetzen. Vor allem die Gießener Burschenschaftsstudenten, die sich die „Unbedingten“ oder die „Schwarzen“ nannten, lehnten deshalb von Anfang an nicht nur das Konzept eines in 39 Einzelstaaten aufgespaltenen Deutschen Bunds, sondern auch die Vorstellung eines monarchisch regierten deutschen Einheitsstaates ab und traten stattdessen – im Gegensatz zu den sogenannten Romantikern – für die Gründung eines auf egalitären Prinzipien beruhenden deutschen „Freistaates“ ein. Statt die alte, geradezu mittelalterlich-feudalistische Ständeordnung aufrecht zu erhalten, bekannten sie sich zu einer politischen und sozialen Gleichstellung aller deutschen Bürger, um so eine uneingeschränkte Volkssouveränität durchzusetzen. Die besonders radikal Gesinnten unter ihnen machten dabei kein Hehl daraus, daß dazu nötigenfalls eine Revolution 100  Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik

erforderlich sein werde, die sie in enger Verbindung mit den bestehenden Turnerbünden, den patriotischen Gesellschaften sowie allen national denkenden Bürgern, ja vielleicht sogar mit Hilfe der Landbevölkerung in Gang zu setzen hofften. In den ideologischen Vorstellungen dieser Gruppen verschmolzen hierbei – wie schon bei Klopstock, den Göttinger Hainbündlern sowie bei Jahn und Arndt – ihre nationalpolitischen Erwartungen oft aufs Engste mit religiösen und germanophilen Konzepten, was ihren Reden, Schriften und Gedichten häufig einen ins Enthusiastisch-Irrationale überhöhten Charakter verlieh. Doch gerade diese Mischung übte auf junge Studenten eine zwar politisch unrealistische, aber sie desto begeisterndere Wirkung aus, die sich zum Teil auch auf andere Schichten des Bürgertums übertrug. Dennoch lassen sich dabei einige weltanschauliche Positionen ziemlich klar erkennen. Vor allem in dem, was sie ablehnten, waren sich die burschenschaftlichen Vereinigungen meist einig. Aufgrund der voraufgegangenen Befreiungskriege gehörten dazu erst einmal die Franzosen, in denen sie vornehmlich eine Rotte „herrschsüchtiger Verbrecher“ sahen, welche den Deutschen über zehn Jahre lang das Joch der Sklaverei auferlegt hätten. Doch ebenso sehr verachteten viele Burschenschafter jene deutschen Fürsten, die sich im Rahmen des 1806 gegründeten Rheinbunds mit diesen „frechen Eindringlingen“, wie sie sich ausdrückten, auf eine undeutsche Weise verbündet hätten, ja in Einzelfällen nicht einmal davor zurückgeschreckt seien, sich von ihnen in schmählicher Eitelkeit Königskronen anbieten zu lassen. In derartigen Potentaten sahen sie lediglich eine vom trügerischen Charme Napoleons geblendete Verräterschar, welche man 1815 auf dem Wiener Kongreß, statt sie aus Deutschland zu verjagen, im Zuge eines unwürdigen Länderschachers sogar noch mit erheblichen Gebietserweiterungen belohnt habe. Im Gegensatz dazu erblickten die burschenschaftlich organisierten Studenten und die mit ihnen sympathisierenden bürgerlichen Bevölkerungsschichten ihre zentralen Leitbilder fast ausschließlich in spezifisch nationalbetonten Vorstellungen. Darunter verstanden diese Gruppen vornehmlich eine Gesinnung, die sich sowohl von der servilen Untertanenmentalität als auch dem egoistischen bürgerlichen Selbstreali­ sierungdrang im Bereich des Kommerziellen distanzierte und ihren höchsten Wert in der patriotischen Verbrüderung aller Deutschen sah. Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik   101

Dementsprechend setzten die sich in solchen Vereinigungen zusammenschließenden Studenten im Umgang untereinander nicht nur die Anredeform „Du“ durch, sondern lehnten neben den auf einem aristokratischen Ehrenkodex beruhenden Mensuren und dem herkömmlichen Terror gegenüber Studienanfängern auch die landsmannschaftlichen Trinkgelage mit ihren zum Teil zotigen Gesängen auf das Entschiedenste ab. Stattdessen sangen sie bei ihren Treffen vor allem jene Lieder, welche kurz zuvor in den Anthologien Lieder für Teutsche (1813) von Ernst Moritz Arndt und Leier und Schwert (1814) von Theodor Körner erschienen waren, die zutiefst der patriotischen Stimmung der aus dem Befreiungskrieg zurückgekehrten Burschenschafter entsprachen. Um diese Gesinnung auch nach außen zu demonstrieren, trugen fast alle Burschenschafter die von Jahn und Arndt propagierte „altdeutsche“ Tracht, das heißt dunkelbraune Tuchröcke mit doppelter Knopfreihe, einen breiten Kragen und ein schwarzes Barett, unter dem sie ihre langen Haare hervorquellen ließen, um so gegen die damals noch herrschende ständestaatliche Kleiderordnung zu protestieren, die für Adlige und Bürgerliche höchst unterschiedliche Hüte, Mäntel und Frisuren vorsah. Zugleich wandten sie sich von der halb katholischen, halb kunstsinnig-romantischen Mittelalterschwärmerei ab und beriefen sich lieber mit antirömischen und antiwelschen Affekten auf die Tapferkeit der alten Germanen sowie den rebellischen Geist der lutherischen Reformation. Als daher 1817 in allen protestantischen deutschen Teilstaaten der dreihundertste Jahrestag des Beginns der Reformation gefeiert wurde, die im Oktober 1517 mit Luthers Thesenanschlag in Wittenberg angefangen hatte, und sich zugleich der Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig zum vierten Mal jährte, versammelten sich am 17. Oktober 1817 – auf Anregung der Jahnschen Turnergesellschaft in Jena – über 500 Burschenschafter in Eisenach, um sich auf der Wartburg, wo Luther die Bibel ins Deutsche übersetzt hatte, sowohl zu der reformatorischen „Freiheit eines Christenmenschen“ als auch zu den durch die Befreiungskriege geweckten Hoffnungen auf ein geeintes Deutschland zu bekennen. Wie bei den Nationalfesten von 1814 wurden an diesem und dem folgenden Tag eine Reihe patriotischer Reden gehalten, als „vaterländisch“ geltende Gesänge, wie Ein feste Burg ist unser Gott und Der Gott der Eisen wachsen ließ, angestimmt sowie hochauflodernde Freudenfeuer angezündet. Ja, einige der Festteilnehmer bekränzten sich sogar mit 102  Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik

Eichenlaub, während andere mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne an den Geist der Lützower Jäger erinnerten. Hans Ferdinand Maßmann, Heinrich Arminius Riemann und Ludwig Rödiger gedachten zwischendurch in ihren Ansprachen vor allem Schills, Scharnhorsts und Körners, der Märtyrer der Befreiungskriege, lobten die Vorbildlichkeit Jahns und Arndts, hielten den Fürsten vor, daß sie ihre 1813 gegebenen Versprechen, in ihren Ländern freiheitliche Verfassungen einzurichten, gebrochen hätten und schworen, wie schon viele deutschgesinnte Patrioten vor ihnen, den alten „Hermannsgeist“ neu zu erwecken. Außerdem verteilte der Burschenschafter Karl Ludwig Sand ein thesenartiges Manifest gegen „Römer, Möncherei und Soldaterei“, während die Berliner und Jenaer Burschenschaftsturner ihre wehrsportlichen Fertigkeiten demonstrierten.

14 Die Verbrennung reaktionärer Bücher beim burschenschaftlichen Wartburgfest von 1817

Einen der Höhepunkte dieses burschenschaftlichen Treffens bildete die öffentliche Verbrennung eines Militärzopfs sowie eines preußischen Ulanenschnürrocks und eines österreichischen Korporalstocks, die als Symbole der älteren, von den einzelnen Dynastien angeheuerten Söldnerheere galten. In der Nachfolge Luthers, der 1520 die päpstliche Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik   103

Bannbulle (Exurge Domini) sowie mehrere scholastische Schriften in Wittenberg öffentlich verbrannt hatte, wurden außerdem von den dort versammelten Studenten – nach einer Ansprache Maßmanns – am Abend des 18. Oktober auf dem Wartenberg etwa 25 bis 30 als besonders „reaktionär“ geltende Bücher jener Autoren ins Feuer geworfen, die sich aus eigenem Antrieb, aus Karrieregründen oder in obrigkeitlicher Servilität gegen die burschenschaftlichen Freiheitsbestrebungen gewandt hatten. Zu den Autoren derartiger Publikationen gehörten unter anderem der preußische Minister Johann Peter Friedrich Ancillon, der 1812/13 Friedrich Wilhelm III. voller Ängstlichkeit vor einer Konfrontation mit Napoleon abgeraten hatte und 1815 gegen Hardenbergs gesamtdeutsche Verfassungspläne aufgetreten war, der Berliner Polizeidirektor Karl Albert von Kamptz, den die damaligen Studenten vor allem wegen seines berüchtigten Codex der Gensdarmerie haßten, der Berliner Rechtsgelehrte Theodor Anton Heinrich Schmalz, der erst den preußisch-patriotischen Tugendbund und dann die Burschenschaft als revolutionäre Vereinigungen angegriffen hatte, der Hofrat August von Kotzebue, dessen Geschichte des deutschen Reichs von den Anfängen bis zu seinem Untergang (1814/15) sich wie ein von Metternich bestelltes Loblied auf die gesellschaftlichen Zustände des Absolutismus liest und der zwischen 1815 und 1817 mehrfach dafür eingetreten war, gegen die deutschnationalen und demokratischen Erklärungen der Burschenschaften polizeilich vorzugehen, der konservative Staatsrechtler Karl Ludwig von Haller, welcher sich in seiner Restauration der Staatswissenschaft (1816) für die Wiederherstellung mittelalterlicher Ständestaaten eingesetzt hatte, der jüdische Publizist Saul Ascher, der in seiner Schrift Germanomanie (1815) mit einer an Kant erinnernden kosmopolitischen Tendenz gegen den durch den Befreiungskrieg angefachten deutschpatriotischen Nationalismus aufgetreten war, sowie Karl Immermann, der – nach einer kurzlebigen Begeisterung für alles Deutschnationale – 1816 die Hallenser Burschenschaft Teutonia bei den Berliner Behörden denunziert hatte und 1817 in den preußischen Staatsdienst eingetreten war. Nach dieser Bücherverbrennung gründeten die dort anwesenden Studenten aus Protest gegen die weiterbestehende Kleinstaaterei die Allgemeine Deutsche Burschenschaft und verabschiedeten auf einer demokratisch durchgeführten Versammlung eine Reihe sich zur Errichtung eines deutschen Nationalstaats bekennender Grundsätze und Beschlüsse, wel104  Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik

che Heinrich Arminius Riemann und Karl Johann Heinrich Müller kurz darauf in folgenden Sätzen zusammenfaßten: „Die Lehre von der Spaltung Deutschlands in Norddeutschland und Süddeutschland, in das katholische und das protestantische Deutschland ist irrig, falsch, unglückselig. Der Wille des Fürsten ist nicht das Gesetz des Volkes, sondern das Gesetz des Volkes soll der Wille der Fürsten sein. Freiheit und Gleichheit ist das Höchste, wonach wir zu streben haben. Von dem Ländchen, in welchem wir geboren sind, wollen wir niemals das Wort ‚Vaterland‘ gebrauchen. Deutschland ist unser Vaterland.“

II Daß die Regenten der einzelnen deutschen Teilstaaten sowie die ihnen hörigen Verwaltungsorgane derartige Aktivitäten nicht einfach hinnehmen würden, war vorherzusehen. Und die ließen denn auch nicht lange auf sich warten. Schon im Dezember 1817 forderte der verschreckte Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. aufgrund verschiedener Geheimdienstberichte über die Wartburgfeier seinen Kulturminister Karl vom Stein zum Altenstein auf, sofort die „nachdrücklichsten Maßregeln“ zu ergreifen, falls es noch einmal zu einer solchen „Zügellosigkeit“ kommen sollte, welche sich auf den „Geist der Jugend“ äußerst „nachteilig“ auswirken könnte. Sein Polizeidirektor Karl Albert von Kamptz ging sogar noch weiter, indem er diejenigen Studenten, welche an der Bücherverbrennung beteiligt waren, als „Barbaren“ bezeichnete, die „den Doktorhut mit der Jakobinermütze vertauscht“ hätten. Ebenso sehr erregte sich der bayrische König Maximilian I. über die Wartburgfeier und betrachtete „die Sache als sehr ernsthaft und als der Souveränität der Fürsten sehr gefährlich“. Und auch Fürst Metternich in Wien war als entschiedener Befürworter der feudalstaatlichen Ordnung höchst besorgt, als er von seinen in Thüringen recherchierenden Polizeiagenten erfuhr, daß die „Freiwilligen aus der Kriegerkaste“ von 1813, besonders jene aus der „Turnerpartei“, die deutsche Jugend durch „Schwindeleien von Deutschheit, Freiheit, Verfassung, Einigkeit usw.“ zum „Jakobinismus“ zu verführen suchten. Der Druck der einzelnen Regierungen auf die Burschenschaft nahm daher in den folgenden Monaten schnell zu. Überall wurden nicht nur Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik   105

Verhöre angestellt, sondern auch diesbezügliche Publikationen verboten und stattdessen die Verbreitung reaktionärer Schriften wie Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswissenschaften (1819) von Adam Müller gefördert. Dadurch trat einerseits bei manchen Turnergesellschaften wie auch burschenschaftlichen Organisationen eine merkliche Ernüchterung bzw. Einschüchterung ein, während sich andererseits beim harten Kern dieser Verbände eine zunehmende Radikalisierung bemerkbar machte. So setzten sich etwa die Gießener Unbedingten im Sinne von Karl Follens Schrift Grundzüge für eine künftige Teutsche Reichsverfassung (1815) weiterhin dafür ein, den Deutschen Bund durch eine revolutionäre Umwälzung in einen von einem Volkskönig regierten Einheitsstaat zu verwandeln, in dem es keine absolutistisch regierten Einzelstaaten, sondern lediglich demokratisch organisierte Gaue sowie eine Hauptstadt namens „Aller Deutschen“ geben sollte. Einen besonders radikalen Ausdruck dieser Gesinnung gaben der Gießener Unbedingte Harro Paul Harring in seinem Bundeslied für freie Bürger sowie Karl Heinrich Hoffmann in seinen auf nationale Bruderliebe hindrängenden Gedichten, in denen es von Haßtiraden gegen alle „feilen Fürstenknechte“ nur so wimmelte und die sich zum Leitbild eines „freien Deutschen Reichs“ bekannten, dessen Bürger sich „an Rang und Stand“ völlig gleich sein würden. Nicht minder entschieden äußerten sich einige der deutschnational gesinnten Turner unter den JahnAnhängern, in deren frühen Liedern ein ebenso ungestümes Freiheitsund Gleichheitspathos vorherrschte. Aufgrund solcher Erklärungen forderte Metternich bereits im Herbst 1818 auf einem in Aachen abgehaltenen Kongreß den preußischen Polizeidirektor Kamptz auf, den „Unfug“ der Turngemeinden ein für alle Mal zu verbieten, um so das „Übel an der Wurzel zu ergreifen“. Darauf verfügte die preußische Regierung im März 1819 ein Verbot der Jahnschen Turngesellschaft in Berlin, was eine vorübergehende Lähmung der gesamten Turnbewegung bewirkte. Als Joseph Görres, dessen Rheinischer Merkur wegen seiner auf einen deutschnationalen „Gemeingeist“ hindrängenden Tendenz bereits 1816 von der preußischen Regierung verboten worden war, daraufhin 1819 in seiner Schrift Teutschland und die Revolution die deutschen Fürsten angriff, wegen „kleinlicher Eigensucht“ die Hoffnung vieler Deutschen auf ein „vereintes Vaterland“ vereitelt zu haben, wurde gegen ihn sofort 106  Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik

ein Haftbefehl erlassen, dem er sich nur durch eine überstürzte Flucht ins Elsaß entziehen konnte. Besonders erbittert waren die preußischen Behörden, daß Görres in diesem Buch den verschiedenen Dynastien vorwarf, wieder die längst obsolet gewordenen Vorrechte des Adels und des Klerus restauriert zu haben, statt in ihren Ländern bürgerlich-demokratische Zustände herbeizuführen. Obendrein hatte Görres geschrieben, daß es geradezu widersinnig wäre, sich im Rahmen des Deutschen Bunds an der mittelalterlichen Kaiserzeit oder dem absolutistischen Regierungsstil Ludwig XIV. zu orientieren, deren Staatskonzepte durch die Lutherische Reformation und die Französische Revolution endgültig hinfällig geworden seien. Stattdessen war er dafür eingetreten, kein neues Kaiserreich, sondern im Zuge einer nationaldemokratischen Volkserhebung eine „teutsche Republik“ zu schaffen, in der sich jeder Bürger – nach der „Zerbrechung aller kirchlichen Formen und der Ausrottung des Adels“ – als Vertreter eines nationalen „Gemeinsinns“ fühlen könne. Doch am weitesten unter diesen Radikalen ging der unter dem Einfluß Karl Follens stehende Burschenschafter und Theologiestudent Karl Ludwig Sand, der am 23. März 1819 – voller Empörung über den reaktionären Kurs der Metternichschen Politik – den von den deutschnationalen Studenten gehaßten „Schänder der deutschen Geschichte und russischen Spion im deutschen Vaterland“ August von Kotzebue in Mannheim kurzerhand niederstach und dafür zum Tode verurteilt wurde. Dieses aus politreligiösen Motiven erfolgte Attentat, das eine weite Aufmerksamkeit auf sich zog, gab den deutschen Fürsten endlich den erwünschten Anlaß, gegen die nationalgestimmten „Demagogen“, wie sie diese Gruppen fortan offiziellerweise nannten, mit sämtlichen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln einzuschreiten und in allen deutschen Teilstaaten ein scharfes Überwachungssystem einzurichten. Den Auftakt dazu bildete eine von Fürst Metternich im August 1819 nach Karlsbad einberufene Ministerkonferenz. An ihr nahmen die Repräsentanten von zehn deutschen Staaten teil, die nach längeren Beratungen die sogenannten Karlsbader Beschlüsse verabschiedeten, welche sie anschließend am 20. September dem Frankfurter Bundestag vorlegten, der sie einstimmig annahm. Diese Beschlüsse, zu deren Durchführung in Mainz eine Zentralkommission zur Untersuchung hochverräterischer Umtriebe eingerichtet wurde, bestanden aus drei Gesetzen. Ein Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik   107

Gesetz bestimmte, daß an jeder Universität fortan ein „landesherrlicher Bevollmächtiger“ alle Professoren und Studenten strengstens überwachen und die burschenschaftlichen Verbände unterdrücken solle. Ein weiteres Gesetz verfügte, daß in Zukunft sämtliche Publikationen „unter 20 Bogen“ vor der Drucklegung von einem staatlichen Zensor überprüft werden mußten. Ein drittes Gesetz gab dem Bund das Recht zu militärischen Eingriffen in allen Mitgliedstaaten, die nicht scharf genug gegen „revolutionäre Umtriebe“ in ihren Ländern vorgehen würden. Damit waren die entscheidenden Grundlagen für all jene Maßnahmen gegeben, die unter der Bezeichnung „Demagogenverfolgung“ in die deutsche Geschichtsschreibung eingegangen sind und gegen die selbst der eher liberal eingestellte preußische Staatskanzler Karl August Fürst von Hardenberg nicht viel ausrichten konnte, welcher ab 1819 von Friedrich Wilhelm III. – wie der schon zuvor als „preußischer Jakobiner“ geltende August Wilhelm Neidhardt von Gneisenau – weitgehend in den Hintergrund gedrängt wurde. Die Folgen dieser Beschlüsse wirkten sich auf allen Ebenen des politischen und gesellschaftlichen Lebens aus. Nicht nur daß von den einzelnen deutschen Regierungen keine weiteren Gedenkfeiern an die Völkerschlacht von Leipzig mehr genehmigt wurden, auch das Projekt einer nationalen Verkehrs-, Handels- und Zollpolitik, für das sich der 1819 auf der Frankfurter Frühjahrsmesse von Friedrich List gegründete Allgemeine Deutsche Handels- und Gewerbsverein einsetzte, wurde vom Deutschen Bundestag abgelehnt. Noch schärfer bekamen diese Wendung ins Reaktionäre ab 1820 Friedrich Ludwig Jahn, Ernst Moritz Arndt und die Sprecher der Burschenschaften zu spüren. Jahn wurde bis 1824 in Untersuchungshaft gehalten und dann wegen „aufrührerischer Gesinnung“ zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Arndt, der 1816 eine Professur an der neugegründeten preußischen Universität in Bonn erhalten hatte, entzog man im November 1820 wegen mehrfacher „Widersetzlichkeit“ seine Venia legendi. Auch die Bonner Burschenschaft, deren Vorsitzender Wolfgang Menzel war, wurde nach ihrer „Freudenfeier“ anläßlich des Jahrestags der Leipziger Völkerschlacht im Oktober 1819 systematisch bespitzelt und nach längeren Verhören schließlich verboten. Ähnliche Vorgänge spielten an anderen Universitäten – vor allem in Jena, Gießen, Berlin und Heidelberg – ab, wo der Einfluß der Burschenschaft besonders stark war. Erst nachdem die ver­ 108  Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik

schiedenen Regierungen gegen das Tragen der „altdeutschen“ Tracht polizeilich eingeschritten waren sowie viele der älteren Burschenschafter entweder relegiert oder zu Gefängnisstrafen verurteilt hatten, flaute der anfängliche Radikalismus dieser Bewegung allmählich ab. Um nicht eingekerkert zu werden, ging daher Karl Follen, der sich in Gießen auch als Turnwart betätigt hatte, erst nach Frankreich und dann in die Schweiz, bevor er 1824 in die USA auswanderte, während Adolf Ludwig Follen, sein älterer Bruder und Gesinnungsgenosse, verhaftet und dann längere Zeit in preußischen Gefängnissen festgehalten wurde. Aufgrund all dieser drakonischen Maßnahmen traten an den meisten deutschen Universitäten ab Mitte der zwanziger Jahre wieder die von den Regierungen gewünschten „normalen Zustände“, das heißt das Wiederaufblühen der Landesmannschaften, der Kneipzwang und das „Ochsen“ für die anstehenden Examina, ein.

III Selbst auf wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet hatten diese Maßnahmen fatale Folgen. Ein besonders lehrreiches Beispiel dafür bietet die sich zu diesem Zeitpunkt allmählich herausbildende Germanistik. Während im Berliner Wintersemester 1812 auf 1813 noch 300 nationalgesinnte Studenten, das heißt fast die Hälfte aller dortigen Studierenden, in der Vorlesung des Geographieprofessors August Zeune über das Nibelungenlied gesessen hatten, worauf derselbe Zeune 1815 in der letzten Phase der Befreiungskriege sogar eine „Feld- und Zeltausgabe“ dieses Werks für die gegen Napoleon kämpfenden Soldaten drucken ließ, und auch August Wilhelm Schlegel noch 1819 in seiner Bonner Nibelungenlied-Vorlesung viele der burschenschaftlich gesinnten Studenten, darunter Harry Heine, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Wolfgang Menzel, nach wie vor für dieses Werk begeistern konnte, flaute das Interesse an der deutschbetonten Note derartiger Werke im Laufe der zwanziger Jahre wieder merklich ab. Im Gegensatz zu Jacob Grimm und Ludwig Wachler, die selbst in diesem Zeitraum unter Germanischer Philologie weiterhin eine Wissenschaft verstanden, hinter der ein nationales Verantwortungsgefühl stehen solle, ging es beispielsweise Karl Lachmann im Zuge dieser Entwicklung ab 1825 bei seinen Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik   109

Editionen altdeutscher Texte nur noch um das rein Wissenschaftliche. Wie der Philologe Johann Andreas Schmeller lehnte er bei seiner Herausgebertätigkeit alle Tendenzen ins Nationalbewußte im Sinne einer „Revolutio germanica“ entschieden ab. In den nationalpädagogischen Bemühungen, die Friedrich Heinrich von der Hagen, Franz Joseph Mone und August Zeune mit ihren Neuausgaben derartiger Werke verbunden hatten, sah Lachmann jetzt nur noch eine zwar „wohlgemeinte, aber erfolglose Betriebsamkeit“. Ihm ging es bereits – in Übereinstimmung mit der Metternichschen Restaurationspolitik – nicht mehr um die „Achtung des Pöbels“, sondern allein um die „Achtung der Edlen“, wie er es nannte. Ähnliches ließe sich im Bereich der Rechtwissenschaft zeigen, wo sich Friedrich Carl von Savigny an der Berliner FriedrichWilhelms-Universität – im Gegensatz zur früheren Naturrechtslehre – für einen strengen, sich aller kritischen Urteile enthaltenden Historismus einsetzte, der sich in gleicher Form im Gefolge Leopold von Rankes auch im Bereich der Geschichtswissenschaft verbreitete. Nicht minder metternichianisch bis reaktionär gestimmte „Beruhigungserscheinungen“, für die sich später in konservativen Kreisen die bewußt verharmlosende Bezeichnung „biedermeierlich“ einbürgerte, lassen sich zu diesem Zeitpunkt im Bereich der Künste beobachten. Da innerhalb der Literatur nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 aus Zensurgründen keinerlei deutschbetonte Werke mehr erscheinen konnten, äußerte sich in ihr die Sehnsucht nach einem nationalen Einheitsstaat fast nur noch in Form einer Parteinahme für den sich in diesen Jahren abspielenden Befreiungskampf der Griechen gegen die Türken. Derartige Publikationen wurden zwar von den Zensurbehörden auch nicht gern gesehen, aber zumeist als relativ ungefährlich geduldet. Außer diesem Philhellenismus, der 1820/21 zur Gründung mehrerer liberal gesinnter Griechenvereine führte, kam die politische Frustrierung der nationalpolitisch denkenden Schichten gegen die von den Regierungen gnadenlos gehandhabten Unterdrückungsmaßnahmen vornehmlich in jener offen zur Schau gestellten Schwermut à la Lord Byron zum Durchbruch, die lange Zeit als „Weltschmerz“ charakterisiert worden ist, um sie, wie die Bezeichnung „biedermeierlich“, ins Unpolitische zu entschärfen. Um nur ja alle konkreten politischen und gesellschaftlichen Bezugnahmen auf die deutschen Verhältnisse zu vermeiden, wurde obendrein von manchen restaurativ eingestellten Literaturkritikern sowie den hin110  Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik

ter ihnen stehenden staatlichen Behörden der seit altersher bestehende literarische Themenbereich gern ins Außerdeutsche erweitert, ohne allerdings mit dieser Internationalisierung eine Wendung ins Kosmopolitische zu verbinden. Genauer besehen, sollten auf diese Weise lediglich die von den Fürsten als „bedrohlich“ empfundenen Tendenzen ins Deutschbetonte vermieden oder unterdrückt werden. Wohl der bekannteste Vertreter dieser Haltung war der alte Johann Wolfgang von Goethe. Er, der mit seinem Herzog bereits 1792 in den ersten Koalitionskrieg gegen die französische Republik gezogen war, ein Jahr darauf an der Belagerung von Mainz teilgenommen hatte und später zu den Bewunderern Napoleons gehörte, ließ sich nach 1813 selbst von seinem Sohn August nicht bewegen, ein Wohlwollen für die Befreiungskriege oder die nationalen Tendenzen innerhalb der burschenschaftlichen Bewegung aufzubringen. Heinrich von Kleists Drama Die Hermannsschlacht hätte er sicher, wenn es in gedruckter Form erschienen wäre, ins Feuer geworfen. Irgendwelche Sympathiegefühle für das deutsche „Volk“ oder für einen deutschen Einheitsstaat zu empfinden, lag ihm völlig fern. Unter „Volk“ verstand er lediglich die „einfachen Leute“, die sich nicht anmaßen sollten, sich auf die Stühle der Oberschichten zu setzen, wie es schon in seinen antijakobinischen Xenien von 1795 heißt. Und bei dieser Haltung blieb er auch nach 1815, besonders dann, wenn er auf die aufsässige Germanomanie Klopstocks oder des Wartburgfests zu sprechen kam. Im Gegensatz zu den Burschenschaftern träumte er weder von der Errichtung eines deutschen Nationalstaats noch irgend­ einer neuen „Verfreiheitlichung“. In Übereinstimmung mit der Restaurationspolitik Metternichs blieb sein „Vaterland“ weiterhin der Staat Sachsen-Weimar-Eisenach und sein Regent der dort herrschende Fürst Carl August. Für ihn gab es kein Deutschland, sondern nur Preußen, Österreich, Bayern und eben sein Land Sachsen-Weimar-Eisenach, wo er als Hofbeamter oder „Fürstenknecht“, wie ihn manche Burschenschafter oder auch liberal gesinnte Autoren wie Ludwig Börne nannten, eine ihm „behagende“ Anstellung gefunden hatte. Wenn sich Goethe daher 1827 in seinen Gesprächen mit Johann Peter Eckermann dafür aussprach, daß nach den Zeiten der Nationalliteratur jetzt eine Epoche der „Weltliteratur“ beginnen solle, so war das weniger in einem aufklärerisch-kosmopolitischen als in einem alle deutschnationalen Tendenzen bewußt abwiegelnden Sinn gemeint. Die gleiche Absicht lag seiner Kritik an der in Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik   111

den Befreiungskriegen aufgekommenen Schwärmerei für das Nibelungenlied zugrunde, der er – mit derselben abwehrenden Geste – in einem Brief an seinen ebenso konservativ eingestellten Berliner Intimus Carl Friedrich Zelter eine verwerfliche Neigung zu „Altertümelei und Vaterländelei“ vorwarf. Goethes Befürwortung des deutschen Föderalismus und seine Unterstützung von allen ins „Weltläufige“ zielenden literarischen Werken widersprechen sich daher nicht, sondern haben ihren Grund in der gleichen Abneigung gegen jene deutschbetonten Bestrebungen, durch die sein Herzog seinen Thron und er seine bevorzugte Stellung bei Hofe verloren hätten. Demzufolge ist sein Begriff „Weltliteratur“, wie auch der gleichzeitig entstehende Begriff „Weltschmerz“, politisch durchaus reaktionär und sollte nicht in einem liberaldemokratischen Sinne ausgelegt werden. Doch nicht nur in der Literatur, auch in den anderen Künsten wurde von Seiten der Höfe, so weit es ihnen möglich war, in den zwanziger Jahren jedwede Akzentuierung nationalbewußter Themen oder Stilformen bewußt unterdrückt und stattdessen entweder die Tendenz ins „Vaterländische“ im einzelstaatlichen Sinne oder der Ausgriff ins Weltläufige unterstützt. Dafür spricht in der Architektur dieses Zeitraums die

15 Karl Friedrich Schinkel: Entwurf zu einem Dom als Denkmal für die Befreiungskriege (1814)

112  Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik

Be­vorzugung klassizistischer Formelemente, während das Gotische bzw. Neogotische, das einigen antinapoleonisch eingestellten Architekten, wie schon einmal in der von Herder beeinflußten Sturm und DrangBewegung, als ein spezifisch deutschbetonter Baustil erschien, wieder in den Hintergrund gedrängt wurde. So konnte zwar Friedrich Karl Schinkel nach 1815 mit wohlwollender Billigung seines Königs seine klassizistische Neue Wache (1818) und sein ebenso klassizistisches Altes Museum (1830) in Berlin durchaus bauen, während sein 1814 entwor­ fener neogotischer Dom zur Erinnerung an die Befreiungskriege auf höheren Druck unausgeführt blieb. Und auch der Entwurf für ein Völkerschlachtsdenkmal auf dem Schlachtfeld von Leipzig, den Anton Radl 1815 vorlegte, stieß bei den antinational eingestellten Fürsten auf Ablehnung. Ebenso deutlich äußerte sich diese Trendwende in der Malerei des gleichen Zeitraums. Hier, wo sich zwischen 1806 und 1815 eine Vorliebe für die Darstellung als „germanisch“ verstandener Freiheitskämpfer sowie für spezifisch „deutsche“ Landschaften, wie den Harz, das Riesengebirge und die Ostseeküste, durchzusetzen versuchte, traten danach wieder Herrscherporträts, Campagnalandschaften sowie genrehafte Familienbilder in den Vordergrund, wobei das Klassizistische allmählich ins Biedermeierliche überging. Und die meisten Maler, noch immer abhängig von den Höfen und den adligen Schichten, paßten sich diesem Trend notgedrungenermaßen an. Lediglich ein hartnäckiger Außenseiter, wie Caspar David Friedrich in Dresden, blieb nach 1815 in seiner Themenwahl weiterhin seinen christgermanischen Motiven der Befreiungskriegsära treu und malte nach wie vor gotische Kirchenruinen, schneebedeckte Hünengräber sowie entlaubte Eichbäume, die wie emblematische Nachklänge der gescheiterten Hoffnung auf einen deutschen Einheitsstaat wirken. Um keinen Zweifel an seiner dahinter stehenden Gesinnung aufkommen zu lassen, stellte er die wenigen Figuren auf diesen Bildern meist in der „altdeutschen“ Tracht der Burschenschafter dar, um sie damit als die von den Höfen gefürchteten „Demagogen“ zu charakterisieren. Als daher 1824 an der Dresdner Akademie eine Stelle für Landschaftsmalerei frei wurde, für die er zweifellos die meisten Qualifikationen besaß, wurde er von den maßgeblichen Behörden bewußt übergangen, weil sein Einfluß auf die Jugend, wie es hieß, äußerst „ungünstig“ sei. Ja, der alte Goethe, voller Wut auf die „neudeutDie Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik   113

16 Caspar David Friedrich: Eichbaum im Schnee (1829). Berlin, Alte Nationalgalerie

114  Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik

sche, religiös-patriotische Kunst“ der Befreiungskriegsära, erklärte einmal höchst aggressiv, daß er die Bilder Friedrichs am liebsten „an der Tischkante zerschmettern“ würde. Nicht minder scharf äußerte sich diese Trendwende im Bereich der Musik. Während im Jahr 1813, das heißt zu Beginn des Befreiungskriegs, beim Deutschen Nationalfest im Oktober 1814 und dann innerhalb der burschenschaftlichen Bewegung nach 1815 fast nur nationalgestimmte Lieder, vor allem solche Körnerscher und Arndtscher Prägung, erklungen waren, setzte im Laufe der zwanziger Jahre auch auf diesem Gebiet eine von oben geförderte oder erzwungene Beruhigung ins Konservativ-Christliche oder Verharmlosend-Biedermeierliche ein. Dafür sprechen unter anderem die vielen Weihnachtslieder, die zwischen 1815 und 1825 entstanden, in denen diese Tendenz besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Demzufolge haben spätere Liberale das 1818 gedichtete und komponierte Lied Stille Nacht, heilige Nacht von Franz Xaver Gruber häufig als die „Antimarseillaise der Metternichschen Restauration“ bezeichnet. Doch auch in anderen musikalischen Gattungen lassen sich ähnliche Tendenzen beobachten. Allerorten wurden in der Musik dieser Jahre, ob nun von Anton Diabelli, Robert Franz, Johann Nepomuk Hummel oder Konradin Kreutzer, entweder bewußt fromme oder bewußst heiter klingende Töne angestimmt, um nicht ständig an die politische Misere dieser Jahre erinnert zu werden. Wie in der Malerei gab es allerdings auch in der Musik der frühen Metternich-Ära einige Widerstände gegen derartige Verharmlosungs­ tendenzen. So ist etwa Franz Schuberts 1827 komponierte Winterreise nicht nur ein bewegender Ausdruck seiner persönlichen, sondern auch seiner politischen Niedergedrücktheit. Ähnliches gilt für Ludwig van Beethoven. Nachdem er 1812 in seiner Schlachtensymphonie, 1814 in seinem Chorwerk „Germania! Germania! / Wie stehst Du jetzt im Glanze da“ sowie 1815 in seiner Begleitmusik zu dem Drama Leonore Prohaska von Johann Friedrich Leopold Duncker, in dem es um eine junge Frau geht, die sich den Lützower Jägern angeschlossen hatte und beim Gefecht an der Goerde tödlich verwundet wurde, seiner antinapoleonischen Gesinnung keine Zügel angelegt hatte, verstummte er nach den auch ihn empörenden Beschlüssen des Wiener Kongresses für mehrere Jahre. Erst nach 1820 raffte sich wieder auf und komponierte seine Neunte Symphonie, deren Schlußchor sich – aufgrund von Wendungen Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik   115

wie „Seid umschlungen, Millionen!“ sowie „Diesen Kuß der ganzen Welt“ – mit einigen ideologischen Winkelzügen nicht nur als „jakobinisch“, sondern auch als „antinational“ interpretieren ließ. Und wegen dieser angeblichen Tendenz ins „Weltläufige“ hatte Metternich nichts dagegen, sie in Wien aufführen zu lassen, während Dunckers und Beethovens Befreiungskriegssingspiel Leonore Prohaska aus Furcht vor obrigkeitlichen Eingriffen von keiner Bühne angenommen wurde, ja nicht einmal im Druck erschien, und daher unbekannt blieb. Ähnliche Zensurmaßnahmen befürchteten die deutschbetonten Opernkomponisten dieser Jahre, denen die Hoftheater – wegen der von den Regierungskreisen erwünschten „Weltläufigkeit“ – keine besonderen Sympathien entgegenbrachten und die deshalb meist hinter italienischen Komponisten zurückstehen mußten. Solange die nationale Enthusiasmuswelle den Fürsten geholfen hatte, ihre an Napoleon abgetretenen Gebiete mit Hilfe vaterländisch gesinnter Freischärler und Landwehrsoldaten zurückzuerobern, hatten sie selbst aufrührerisch gestimmte Kantaten und Lieder geduldet, wenn nicht sogar begrüßt. Doch als sie ihre dynastisch motivierten Ziele erreicht hatten, war damit wieder Schluß. Im Falle Carl Maria von Webers, der nicht nur Theodor Körners Schwertlied und Lützows wilde Jagd vertont hatte, sondern nach der Schlacht bei Waterloo im Herbst 1815 bei einem Musikfest in Frankenhausen, wo auch Ludwig Spohrs Tongemälde Das befreite Deutschland gespielt wurde, sogar seine national gestimmte Kantate Kampf und Sieg aufführen ließ, wirkte sich das folgendermaßen aus. Er konnte wegen dieser Trendwende froh sein, 1817 in Dresden, neben dem vom sächsischen König favorisierten Hofkapellmeister Francesco Morlacchi, wenigstens eine zweitrangige Anstellung zu finden. Und auch in Berlin winkte ihm kein Glück, da Friedrich Wilhelm III. – aus Abneigung gegen irgendwelche deutschbetonten Tendenzen – 1820 ebenfalls einen italienischen Opernkomponisten, und zwar Gaspare Luigi Pacifico Spontini, als seinen Hofkapellmeister angestellt hatte. Als daher Reichsgraf Karl von Brühl, einer der früheren preußischen Reformer, dennoch im Frühjahr 1821 Webers opernähnliches Singspiel Der Freischütz im Berliner Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt in Szene setzen ließ, kam es zu einer scharfen Konfrontation zwischen der mit Spontinis spätbarocker Prunkoper Olimpia sympathisierenden Hof- und Adelsgesellschaft einerseits und dem liberalgesinnten bürgerlichen Gegenpubli116  Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik

kum andererseits, bei dem zwar die Weber unterstützenden Schichten – schon aufgrund ihrer numerischen Überlegenheit – den Sieg davontrugen, aber ohne daß damit der Sache einer spezifisch deutschen Opernkultur wirklich geholfen wurde. Wie in allen anderen künstlerischen Bereichen setzte sich danach auch auf diesem Sektor letztlich das Biedermeierliche, Einzelstaatliebe oder Idealistisch-Weltläufige durch, während alle nationalbetonten Bemühungen sogar auf diesem Gebiet zu Gunsten der Aufrechterhaltung der dynastischen Machtverhältnisse bewußt unterdrückt wurden.

Die Folgen der Metternichschen Restaurationspolitik   117

Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848

I Allerdings erwiesen sich die Hoffnungen der Metternichianer, daß die Durchführungsbestimmungen der Karlsbader Beschlüsse von 1819 ausreichen würden, um allen nationalen Regungen in den verschiedenen deutschen Teilstaaten ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, schon gegen Ende der zwanziger Jahre als illusorisch. So schnell gaben die ehemaligen Turner und Burschenschafter, wie auch die vielen der in diesem Zeitraum entstehenden Männergesangs-, Preß- und Vaterlandsvereine sowie die in Stuttgart und Breslau gegründeten Schiller-Vereine ihren Willen nach nationalstaatlicher Einheit und politischer Freiheit nicht auf. Ja, als im Jahr 1830 die Pariser Julirevolution zum Sturz der reaktionären Bourbonenherrschaft führte, die von einer relativ liberalen konstitutionellen Monarchie unter dem „Bürgerkönig“ Louis-Philippe aus dem Hause Orleans abgelöst wurde, kam es daher in Sachsen, Kurhessen und Braunschweig zu politischen Unruhen, welche all jene aufmüpfig gesinnten Schichten innerhalb des Deutschen Bunds erneut darin bestärkten, sich nicht nur im Geheimen, sondern auch in aller Öffentlichkeit zu ihren nach „Einigkeit und Recht und Freiheit“ drängenden Zielen zu bekennen. Wohl die bekannteste Demonstration dieser Art war die als „Nationalfest der Deutschen“ ausgegebene Volksversammlung, welche vom 27. Mai bis zum 1. Juni 1832 rund um die Hambacher Schloßruine bei Neustadt in der Pfalz stattfand. Sie war ursprünglich als Feier der bayerischen Verfassung gedacht, wurde aber auf Einladung des ehemaligen Burschenschafters Philipp Jakob Siebenpfeiffer in ein „Allerdeutschenfest“ umfunktioniert, das dem „Kampf zur Abschüttelung innerer und äußerer Gewalt“ sowie der „Erstrebung gesetzlicher Freiheiten und deutscher Nationalwürde“ dienen sollte. Als dieses Fest daraufhin von den staatlichen Behörden verboten wurde, veranstaltete der kurz zuvor im badischen Zweibrücken gegründete Deutsche Vaterlandsverein zur Unterstützung der freien Presse eine umfangreiche Unterschriften118  Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848

17 Anonym: Das Hambacher Fest (1832), überarbeitet von Hans Mocznay (1952). Berlin, Deutsches Historisches Museum

sammlung, welche die pfälzischen Behörden veranlaßte, das ursprünglich verhängte Verbot wieder aufzuheben. Und so kamen an den besagten Tagen rund 20 000 Menschen aus allen Bevölkerungsschichten nach Hambach, bekrönten sich, wie schon beim Deutschen Nationalfest von 1814 und dem Wartburgfest von 1817, wiederum mit Eichenlaub und schwenkten schwarz-rot-goldene Fahnen mit der Aufschrift „Deutschlands Wiedergeburt“. Wie erwartet, sang die begeisterte Menge mehrfach das Arndtsche Lied Was ist des Deutschen Vaterland? sowie andere Lieder aus der Zeit der Befreiungskriege. Außerdem stimmten 300 Handwerksburschen, als sich der Festzug in Bewegung setzte, das von Siebenpfeiffer nach der Melodie von Schillers Reiterlied verfaßte Lied „Hinauf, Patrioten! Zum Schloß, zum Schloß! / Hoch flattern die deutschen Farben“ an, das auf die Zeilen hinauslief: „Wenn einer im Kampfe für alle steht / Und alle für einen, dann blühet / Des Volkes Kraft und Majestät.“ Der ebenfalls burschenschaftlich gesinnte Johann Georg August Wirth, neben Siebenpfeiffer einer der Hauptorganisatoren dieses Fests, setzte sich anschließend in seinen Ansprachen vehement für Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848   119

die Abschaffung des von ihm als „williges Werkzeug des Despotismus“ bezeichneten Deutschen Bunds sowie die Errichtung eines „konföderierten republikanischen Europas“ ein, in welchem sich Frankreich, Deutschland und Polen – zum Wohle aller Völker Europas – als gleichrangige Brudernationen schätzen würden. Andere Sprecher, wie Karl Heinrich Brüggemann und Johann Philipp Becker, traten sogar noch radikaler auf und forderten unter Berufung auf die Idee der „unbedingten Volkssouveränität“, daß man den gewaltsamen Unterdrückungs­ maßnahmen von Seiten der Fürsten notfalls mit einem bewaffneten Widerstand entgegentreten müsse, ohne den jedes Freiheits- und Einheitsgerede von vornherein sinnlos sei. Solche Forderungen, die sich eine demokratische Umwälzung nur von revolutionären Erhebungen versprachen, konnten die herrschenden Fürsten verständlicherweise nicht unwidersprochen hinnehmen. Schon im Juni 1832 verlangte deshalb Fürst Metternich von der bayerischen Regierung, den Belagerungszustand über die Rheinpfalz zu verhängen. Darauf beschloß der Bundestag am 5. Juli, die Bildung neuer politischer Vereine in allen deutschen Teilstaaten zu verbieten und zugleich die bisher geduldete Versammlungsfreiheit erheblich einzuschränken. Siebenpfeiffer und Wirth wurden kurze Zeit später verhaftet und abgeurteilt, während sich andere Mitglieder des Hambacher Vaterlandsvereins, wie der ehemalige Freimaurer und Burschenschafter Jakob Venedey, der Einkerkerung durch die Flucht ins Ausland entzogen. Zu noch drastischeren Maßnahmen griffen mehrere deutsche Regierungen, als am 3. April 1833 50 „Vaterlandsfreunde“, darunter 40 ehemalige Burschenschafter aus Heidelberg und Würzburg, einen Anschlag auf den Frankfurter Bundestag verübten, von dem sie sich eine Initialzündung für einen ganz Deutschland erschütternden Aufstand versprachen und der allgemein als der „Frankfurter Hauptwachensturm“ bezeichnet wird. Nachdem die Polizei diesen Putschversuch niedergeschlagen hatte, der bei den Frankfurter Bürgern nicht jene Resonanz fand, die sich die Aufständischen davon erhofft hatten, flohen einige seiner Rädelsführer in die Schweiz, während der Rest vor Gericht gestellt wurde. Danach verhörten die Vollzugsbeamten einer am 6. Juni 1833 vom Deutschen Bundestag eingesetzten Mainzer Zentraluntersuchungskommission der stattgehabten revolutionären Umtriebe, die eine Fülle von Zuträgern, Spitzeln und Denunzianten in ihren Dienst stellte, 120  Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848

mehr als 1 800 Verdächtige und verurteilten viele davon, darunter 192 burschenschaftlich gesinnte Studenten, zu kürzeren oder längeren Haftstrafen. Ebenso scharf gingen sie 1834 gegen Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig, die Verfasser des Hessischen Landboten, vor, in dem sich die Zeilen finden: „Deutschland, das jetzt die Fürsten schinden, wird als ein Freistaat mit einer vom Volk gewählten Obrigkeit wieder auferstehen.“ Während sich Büchner der steckbrieflichen Verfolgung durch eine Flucht ins Elsaß entzog, wurde Weidig ins Gefängnis geworfen und schließlich zu Tode gemartert. Ein Jahr später beschlossen die Vertreter der einzelnen Bundesländer auf einer in Wien stattfindenden Ministerkonferenz, die Kontrolle über die Universitäten sowie die Zensur des Pressewesens noch weiter zu verschärfen. Darauf entschied die Bundesversammlung in Frankfurt, sogar gegen die eher liberal als deutschnational eingestellten Autoren der sogenannten Jungdeutschen Schule, womit vor allem Heinrich Heine, Ludwig Börne, Karl Gutzkow, Heinrich Laube, Ludolf Wienbarg und Theodor Mundt gemeint waren, mit der gleichen Schärfe zu verfahren und forderte sämtliche deutschen Regierungen auf, gegen die Verbreitung der Schriften dieser Autorengruppe „mit allen ihnen gesetzlich zu Gebote stehenden Mitteln“ vorzugehen. All das führte dazu, daß danach kaum noch aufmüpfige Ideen, ob nun in nationaler oder liberaler Ausprägung, an die Öffentlichkeit gelangten und sich demzufolge, wie nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819, in den folgenden fünf Jahren im gesamten Bereich des Deutschen Bunds sowohl auf politischer als auch auf kultureller Ebene eine von oben erzwungene konservative, wenn nicht gar biedermeierlichphiliströse Ideologie verbreitete, welche sich eng an die von den Metternichschen Restaurationsbemühungen vorgegebenen Richtlinien hielt.

II Ein Wandel in dieser Beziehung trat erst wieder im Jahr 1840 ein. Und zwar hatte das vor allem folgende Gründe. Erstens wegen der Empörung, welche durch den erneuten französischen Anspruch auf alle linksrheinischen Gebiete ausgelöst wurde, der zur sogenannten Rheinkrise führte, die unter den weiterhin national gestimmten Schichten in Deutschland zwangsläufig einen heftigen Affekt gegen alles „Welsche“ Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848   121

18 Vincenz Statz: Vision der vollendeten Türme des Kölner Doms (1861). Köln, Wallraff-Richartz-Museum

122  Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848

hervorrief, der sich in seiner Intensität fast mit den leidenschaftserregten Nationalgefühlen der Befreiungskriege vergleichen läßt. Während die romantische Rheinschwärmerei eines Achim von Arnim und Clemens Brentano eher ein literarisches Phänomen geblieben war, ergriffen die an Arndt orientierten Rheinlieder „Sie sollen ihn nicht haben / Den freien deutschen Rhein“ von Nikolaus Becker sowie „Es braust ein Ruf wie Donnerhall, / Wie Schwertgeklirr und Wogenprall: / Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein“ von Max Schneckenburger, denen schnell 20 weitere Rheinlieder folgten, wesentlich breitere Bevölkerungsschichten und ließen die Herzen all jener wieder höher schlagen, die selbst in den vorausgegangenen Jahren der fürstlichen Repressionen an ihren Hoffnungen auf die Errichtung eines deutschen Nationalstaats festgehalten hatten. Zweitens wegen all der Erwartungen, welche sich in diesem Jahr mit der Thronbesteigung des als liberal geltenden Königs Friedrich Wilhelm IV. von Preußen verbanden, der bereits am 10. August dieses Jahres eine Amnestie für eine Reihe politischer Vergehen erließ und kurz darauf eine Lockerung der Zensurbestimmungen in seinem Staat verfügte. Drittens wegen der 1841 – mit Unterstützung des gleichen Königs – erfolgten Gründung des Kölner Dombauvereins, der umgehend daran ging, eine große Volkssammlung zu veranstalten, um die nötigen Mittel zur Vollendung dieser als Nationalmonument hingestellten Kathedrale aufzubringen. Und aufgrund der angeblich dahinter stehenden „patriotischen“ Absicht waren viele Deutsche durchaus willig, dieses Projekt mit größeren oder kleineren Geldsummen zu unterstützen. Viertens wegen der zu diesem Zeitpunkt aufkommenden Pläne, im Teutoburger Wald ein Hermannsdenkmal zu errichten, wofür sich besonders die burschenschaftlich gesinnten Turner, allen voran die Jahnund Maßmann-Anhänger einsetzten, welche ohnehin ganz Deutschland am liebsten wieder in ein wehrbereites Cheruskerland verwandelt hätten. Sowie fünftens wegen der durch die 1843 veranstaltete Tausendjahrfeier des deutschen Reichs ausgelösten Nationalgefühle, die alle Mittelalterschwärmer in ihren seit Jahrzehnten gehegten Hoffnungen auf die Wiederkehr eines neuen Barbarossa bestärkte, was zu einem wahren Fetischismus mit den Insignien des alten deutschen Reichs führte. Ja, selbst die von dem Volkswirtschaftler Friedrich List aufgestellten Pläne einer staatsübergreifenden, das heißt gemeinsam aufzubauenden deutschen Flotte wie auch seine Bemühungen um überregionale Steuer- und Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848   123

Zollvereinbarungen, wurden von vielen nationalgesinnten Bürgern als der Beginn eines allmählichen Zusammenwachsens der einzelnen Länder des Deutschen Bundes empfunden.

III Fast die gleichen innenpolitischen Hoffnungen beflügelten zahlreiche Deutsche in den frühen vierziger Jahren im Bereich der Wissenschaft und Kultur. Auf philosophischer Ebene äußerte sich diese neugeweckte Aufbruchsstimmung vor allem im intellektuellen Radikalismus der Links- oder Junghegelianer, die auf dem Gebiet der Rechts- und Religionsphilosophie mit dialektischer Schärfe gegen die Verquickung von Staat und Kirche wie überhaupt gegen jedwede staatliche Bevormundung des freien Geistes zu Felde zogen, allerdings ohne dabei irgendwelche betont nationalistischen Forderungen aufzustellen. Ihre Wirkung blieb jedoch auf eine relativ kleine Intellektuellenschicht begrenzt, zumal ihnen die preußische Zensur sofort mit unnachgiebigen Verboten entgegentrat und sie auch von ihnen verwandten Gesinnungsgenossen, wie Arnold Ruge und Karl Marx, als zu „theoretisierend“ angegriffen wurden. Innerhalb der kritisch gestimmten Germanistik wäre in diesem Umkreis vor allem auf Georg Gottfried Gervinus zu verweisen, der in seiner fünfbändigen Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen, dessen letzter, auf die Gegenwart bezogener Band im Jahr 1842 erschien und eine wesentlich größere Wirkung als die Schriften der Links- oder Junghegelianer erzielte. In schroffer Ablehnung jener pseudohistorischen Objektivität im Sinne Friedrich Karl von Savignys oder Leopold von Rankes, die sich im Rückblick auf die Geschichte lediglich damit begnügt hätten, herauszufinden „wie es eigentlich gewesen ist“, schreckte Gervinus keineswegs vor parteiischen Urteilen zurück. Statt sich lediglich an die kleine Schicht jener Akademiker zu wenden, die sich aus den zeitgenössischen Konflikten herauszuhalten versuchten, wollte er vor allem jene Menschen erreichen, denen der Gedanke einer neuen Reichsbildung ein zentrales Anliegen war. Entsprechend dieser Prämisse, war Gervinus weniger an der sogenannten schönen als an der nationalen Literatur interessiert. Was er im Rückblick auf die deutsche 124  Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848

Dichtung am schärfsten ablehnte, war daher – im Gegensatz zu den bisherigen Nibelungenlied-Schwärmern – vor allem die feudalistisch-exklusive Adelsliteratur des Mittelalters, während er die Durchbrüche zur frühbürgerlichen Volksliteratur im 16. Jahrhundert lebhaft begrüßte. Den eigentlichen Höhepunkt der deutschen Literatur sah er jedoch in der Dichtung des späten 18. Jahrhunderts, die ihm wie eine gelungene Synthese aus gelehrten und volkstümlichen Elementen erschien. Nach diesem Zenit der deutschen Literatur, auf den mit den Werken der Romantik und des Jungen Deutschland nur noch „Belanglosigkeiten“ gefolgt seien, müsse jetzt eine Zeit der Tat, das heißt der politischen Kultur folgen, in der nicht mehr das Dichten, sondern das Handeln im Vordergrund stehen solle. Daher mündet seine Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen zwangsläufig in die Aufforderung zu einem entschiedenen Aktivismus. Geschichte zu machen und nicht Geschichte zu schreiben, behauptete er, sei das eigentliche Gebot der Stunde. Demzufolge trat Gervinus bis 1848 – unter der Parole „Wir haben genug Literatur, aber keinen Staat“ – auch in seiner tagespolitischen Publizistik immer stärker für eine rechtsstaatliche Verfassung und schließlich für eine gesamtdeutsche konstitutionelle Monarchie ein, um somit jene Ausflüchte ins Ästhetisierende zu überwinden, gegen die Heinrich Heine bereits 1833 in seiner Schrift Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland mit dem polemisch gemeinten Begriff der „Kunstperiode“ zu Felde gezogen war. Aufgrund der Wirkung, welche Gervinus mit seiner Literaturgeschichte hatte, die besonders unter den Intellektuellen im liberalen Lager auf begeisterte Zustimmung stieß, ja wegen ihrer national ausgerichteten Sehweise von ihnen als die erste wahrhaft deutsche Literaturgeschichte schlechthin gelobt wurde, fühlten sich auch andere Literaturwissenschaftler, wie Robert Prutz in seinem Buch Die politische Poesie der Deutschen (1845) sowie Wilhelm Zimmermann in seiner Gervinus gewidmeten Geschichte der prosaischen und poetischen deutschen Nationalliteratur (1846), ermutigt, sich ebenfalls für die längst überfällige Beseitigung der Kluft zwischen den Gebildeten und dem immer intensiver umworbenen „Volk“ einzusetzen, das zu diesem Zeitpunkt bereits zu 90 Prozent lesefähig war, um der bisher als bildungsbürgerlich geltenden Literatur endlich einen in die Gesamtöffentlichkeit „eingreifenden“ Charakter zu geben. Um diese Gesinnung in die Tat umzusetzen, riefen Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848   125

daher führende „Germanisten“, worunter man zu diesem Zeitpunkt sowohl alle Vertreter der Germanischen Philologie als auch der Deutschen Rechts- und Geschichtswissenschaft verstand, zu denen also neben Georg Gottfried Gervinus und Jacob Grimm auch Ernst Moritz Arndt, Friedrich Christoph Dahlmann, Moritz Haupt und Ludwig Uhland gehörten, 1846 zum ersten deutschen Germanistentag auf. Um dem Ganzen einen möglichst symbolträchtigen Rahmen zu geben, fand diese Tagung im Kaisersaal des Frankfurter Römers statt, wo sich vom 24. bis 26. September des gleichen Jahres 200 Gelehrte und Verwaltungsbeamte versammelten. Da die neuere deutsche Literatur, wie gesagt, an den damaligen deutschen Universitäten noch kein Lehrgegenstand war, wurden auf dieser Tagung fast nur tagespolitische Themen, wie die Zurückweisung des dänischen Anspruchs auf Schleswig-Holstein, die Folgen der abermals verschärfte Pressezensur sowie die Einführung bürgerlicher Geschworenengerichte erörtert. Ähnliche Forderungen standen auf dem zweiten Germanistentag, der ein Jahr später in Lübeck stattfand, im Mittelpunkt. Auch hier kam es nicht nur zu Aufrufen für eine größere Lehr- und Lernfreiheit, sondern auch zu Bekenntnissen zu einem deutschen Nationalstaat im Sinne jenes allmählich erstarkenden Bildungs- und Industriebürgertums, das neben der Lockerung der Presse- und Zensurgesetze auch eine möglichst rasche Beseitigung der wirtschaftlichen Behinderungen verlangte, um endlich zu einer mitbestimmenden Gesellschaftsschicht in einem gesamtdeutschen Staat aufsteigen zu können. Nicht minder energisch, ja fast noch vehementer setzten sich in diesen Jahren einige Lyriker, wie Ferdinand Freiligrath, Georg Herwegh und August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, für derartige Forderungen ein. Und zwar gaben sie sich dabei bewußt volkstümlich, um mit ihren nationalbetonten Gedichten nicht nur die gebildeten und, wie sie hofften, ohnehin schon aufgeklärten Schichten, sondern auch die „breiten Massen“ des Volkes zu erreichen. Aus diesem Grund verzichteten sie auf all jene Formen einer geschniegelten Kulturlyrik, deren sich die Klassizisten, Romantiker und orientalisierenden Formalisten bedient hätten, und bevorzugten zumeist eine schlichte, wenn nicht gar krude Ausdrucksweise, von der sie sich eine agitatorisch-aufrüttelnde Wirkung versprachen. Wohl das bekannteste und folgenreichste derartiger Gedichte war jenes Lied der Deutschen, welches Hoffmann von Fallersle126  Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848

ben im Herbst 1841 auf der britischen Insel Helgoland verfaßte und das der Hamburger Verleger Julius Campe sofort als Einzeldruck herausbrachte, da er sich von ihm einen ähnlichen Erfolg wie von Nikolaus Beckers Rheinlied von 1840 versprach. Dieses Gedicht gehört in jenen Entwicklungsstrang, der spätestens mit der Arndtschen Frage „Was ist des Deutschen Vaterland?“ begann. Nicht nur sein Titel, sondern auch die Zeile „Einigkeit und Recht und Freiheit“ waren längst Allgemeingut innerhalb der patriotischen Lyrik geworden. Bereits Johann Gottfried Seume hatte um 1810 in seinen Apokryphen von „Einigkeit, Recht und Freiheit“ gesprochen. Auch bei Arndt findet sich kurze Zeit später die Formel „Freiheit, Vaterland und Recht“. In einem Gedicht Freiligraths kulminierte diese Gesinnung dann in dem Kehrreim „Deutschland und Freiheit über alles“. Selbst die Zeilen „Von der Maas bis an die Memel, / Von der Etsch bis an den Belt“ waren nicht unbedingt neu. So hatte Siebenpfeiffer schon 1832 in seiner Ansprache auf dem Hambacher Fest mit groß- oder gesamtdeutscher Tendenz erklärt, daß er sich an alle Deutschen „Vom Alpengebirge bis zur Nordsee“ wende. Ja, Herwegh war in seinem Gedicht Die deutsche Flotte, das ebenfalls 1841 als Einzeldruck herauskam, sogar soweit gegangen, die Deutschen als ein Volk hinzustellen, das „vom Po bis zum Sunde“ reiche. Damit verglichen, klingt Hoffmanns Text fast bescheiden. Schließlich war damals selbst der Hinweis auf die „Maas“ nicht imperialistisch gemeint, da der deutschsprachige Teil von Limburg beiderseits der Maas seit 1839 zum Deutschen Bund gehörte. Im Rahmen der damaligen Auseinandersetzungen über die Möglichkeit eines zu schaffenden deutschen Nationalstaats betrachtet, befürwortete also dieses Gedicht eines germanistischen Sprachwissenschaftlers lediglich die Gründung eines deutschen Staatsverbands, der sich auf jene Gebiete erstrecken würde, in denen „die deutsche Zunge klingt“, während andere vormärzliche Nationalisten in ihrer Reichsvorstellung auch an dem Herrschaftsanspruch über die nichtdeutschsprachigen Gebiete des früheren Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation festhalten wollten. So gesehen, wirkt der Nationalismus dieses Gedichts durchaus liberal und sollte nicht konservativ im Sinne der von Metternich vertretenen habsburgischen Universalpolitik verstanden werden. In ihm geht es ausschließlich um die Deutschen, während den anderssprachigen Polen, Böhmen, Ungarn und Italienern durchaus eine eigene Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848   127

Nationalstaatlichkeit zugestanden wird. Außerdem fehlen in ihm sowohl irgendwelche dynastischen Bezüge als auch ein Bekenntnis zu einer preußischen Vormachtstellung in dem noch zu errichtenden deutschen Reich. Die gleiche Intention äußert sich darin, daß Hoffmann seinem Lied der Deutschen die Melodie der berühmten Haydnschen Kaiserhymne unterlegte, um dem Ganzen nicht nur zu einer größeren Popularität zu verhelfen, sondern auch bei der Schaffung eines neuen Deutschlands einem nord-süddeutschen Konflikt vorzubeugen. Öffentlich gesungen wurde dieses Lied erstmals von der Hamburger Turnerschaft am 5. Oktober 1841 bei einem Fackelzug zu Ehren Karl Theodor Welckers, eines Vertreters des süddeutschen Liberalismus, der bereits Anfang der dreißiger Jahre in seiner Zeitschrift Der Freisinnige für Wahlen zu einer „Nationalrepräsentation“ eingetreten war, worauf dieses Blatt am 19. Juli 1832 durch Bundestagsbeschluß verboten wurde. Anschließend hatte Welcker mit dem ebenso freisinnig eingestellten Karl Wenzeslaus von Rotteck seit 1834 ein Staatslexikon herausgegeben, das innerhalb der nationalgesinnten Kreise eine weite Verbreitung fand. Beide büßten daraufhin ihre Professorenstellen ein und auch Hoffmann von Fallersleben mußte 1842 auf staatlichen Druck seine Breslauer Professur für deutsche Sprache und Literatur aufgeben, ja wurde sogar aus Preußen ausgewiesen und anschließend von Bundesstaat zu Bundesstaat gehetzt, weil er sich als singender Barde mit seinen aufmüpfigen Liedern an breitere Bevölkerungsschichten zu wenden versuchte. Die gleiche Erfahrung machte Georg Herwegh, der 1843 – nach einem kurzen Triumphzug durch mehrere deutsche Partikularstaaten – König Friedrich Wilhelm IV. bei einer Audienz in Berlin aufforderte, seinen Untertanen mehr „Gedankenfreiheit“ zu gewähren. Auch er wurde aus Preußen ausgewiesen und wich deshalb in die Schweiz aus, wo sich seit den Tagen Georg Büchners bereits eine größere Gruppe deutscher Exilanten befand. Noch schärfer als in Preußen wurden die Gedichte derartiger Lyriker im habsburgischen Herrschaftsbereich als „Geschrei nach Brandstiftung und Aufruhr“ verurteilt und im Gegenzug dazu das unverbrüchliche Vertrauen zwischen „Fürst und Volk“ als der beste Schutz vor einer falschen Nationalitätssucht oder gar einem möglichen Revolutionsterror hingestellt. Im Bereich der „gehobenen“ Musik sowie der bildenden Künste, wo die finanzielle und ideologische Abhängigkeit von irgendwelchen fürst128  Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848

lichen oder adligen Auftraggebern wesentlich größer war als auf dem privatwirtschaftlich operierenden Gebiet der Literatur, lassen sich dagegen in den Jahren nach 1840 kaum irgendwelche nationalengagierten oder gar rebellischen Tendenzen nachweisen. Von den bedeutenderen Komponisten dieser Ära ließ sich lediglich Robert Schumann im Jahr 1840 dazu hinreißen, einen vierstimmigen Männerchor auf den Text von Nikolaus Beckers Der deutsche Rhein zu komponieren, während fast alle anderen Musiker – unter wohlwollender Zustimmung ihrer jeweiligen Mäzene – in ihren Vokalwerken zumeist historisch-dynastische Themen aufgriffen sowie sich in ihren symphonischen und kammer­ musikalischen Werken weiterhin spätromantisch-verschwärmter oder biedermeierlich-verharmlosender Stilmittel bedienten. Auch in den bildenden Künsten, ob nun der Malerei, der Skulptur sowie der Schmuckdekoration, wo es sich häufig um die gleichen Auftraggeber handelte, blieb in den vierziger Jahren mehrheitlich ein biedermeierlich gefärbter Realismus oder ein ins Bläßliche tendierender Klassizismus vorherrschend. Lediglich die Vertreter der Düsseldorfer Malerschule gestatteten sich – trotz der Einsprüche des dortigen, vom Nazarenertum beeinflußten Akademiedirektors Wilhelm von Schadow – manchmal einige Ausflüge ins Aufrührerische, wenn auch eher, wie auf den Bildern Wilhelm Joseph Heines, Carl Wilhelm Hübners und Karl Friedrich Lessings, mit liberaler als mit nationaler Tendenz. Noch weniger Nationales in einem gesamtdeutschen Sinn findet sich in der Bildhauerkunst dieser Jahre. Vor allem monumentale Werke, wie die Münchner Bavaria (1840) von Ludwig Schwanthaler und das Berliner Reiterdenkmal Friedrichs II. (1840–1851) von Christian Daniel Rauch, entstanden – wie die Büsten in der von König Ludwig I. von Bayern in Auftrag gegebenen Walhalla (1830–1842) bei Regensburg – fast ausschließlich auf Wunsch der regierenden Dynastien.

IV Wenn man auch den Einfluß mancher vormärzlichen Wissenschaftler und Schriftsteller auf die Entstehung einer nationalbetonten Stimmung nicht unterschätzen sollte, letztlich blieben die meisten von Ihnen weitgehend gesellschaftliche Außenseiter, deren Werke vornehmlich von den Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848   129

bildungsbürger­lichen Schichten und weniger von den unteren Bevölkerungsklassen wahrgenommen wurden. Wesentlich wichtiger waren in dieser Hinsicht Massenorganisationen wie die vielen Turnergesellschaften, Schützengruppen, Vaterlandsbünde, Männergesangsvereine sowie einige deutschkatholische Gemeinden, die seit den dreißiger Jahren – trotz vieler staatlicher Behinderungen und zeitweiliger Verbote – immer mehr Mitglieder anzogen und sich nach 1840 zu einem beachtlichen Antriebsfaktor innerhalb der zusehends stärker werdenden nationalrevolutionären Tendenzen entwickelten. So wurden allein in Sachsen zwischen 1844 und 1848 über 100 Turnervereine gegründet. Doch auch anderswo, vor allem in Baden und Württemberg sowie im westlichen Preußen, entstand in diesem Zeitraum ein Turnverein nach dem anderen, so daß die Gesamtzahl der daran Teilnehmenden bis zum Jahr 1847 auf rund 90 000 anwuchs. Ja, in den patriotisch-deutschen Männergesangsvereinen stieg die Zahl ihrer Mitglieder im Laufe der vierziger Jahre auf über 100 000 an. Auf den zahlreichen Festen, welche von diesen Organisationen veranstaltet wurden, traten zugleich immer wieder Redner auf, die es wagten, bereits prophetisch auf jene Zeiten hinzuweisen, in denen es keine Könige, Großherzöge, Herzöge oder Grafen mehr geben würde, sondern wo „das deutsche Volk als ein Großes, ein Ganzes zur Selbstbestimmung berufen sein wird“. Wenn auch bei diesen Festen, die meist in städtischen Bürgersälen stattfanden, nicht mehr unentwegt an Hermann den Cherusker, die emphatischen Bardengesänge Friedrich Gottlieb Klopstocks oder die Heldentaten der Völkerschlacht von Leipzig erinnert wurde, die national-oppositionelle Haltung, welche sich zwischen 1806 und 1815 herausgebildet hatte, blieb bei solchen Anlässen weiterhin dominierend. Selbst die Tatsache, daß der Frankfurter Bundestag in einem seiner Beschlüsse die öffentliche Zurschaustellung der Farbkombination Schwarz-Rot-Gold strikt verboten hatte, hielt viele Turner-, Schützen- und Sängerverbände keineswegs davon ab, nach wie vor mit derartigen Fahnen aufzumarschieren oder damit ihre Festsäle auszuschmücken. Und auch die Arndtschen Vaterlandslieder, vor allem Was ist des Deutschen Vaterland? und Der Gott, der Eisen wachsen ließ, wurden wegen ihrer aufwühlenden Emotionalität und gemeinschaftsstiftenden Funktion weiterhin gesungen. Dazu kamen, wie gesagt, seit 1840 die agitatorisch klingenden Gedichte von Ferdinand Freiligrath, Georg 130  Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848

Herwegh und August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, welche innerhalb dieser Schichten ähnliche nationalgestimmte Begeisterungswellen auslösten. Um dabei eine möglichst intensive Fraternisierung zu erreichen, wurden bei solchen Festen, wie dem Deutschen Sängerfest von 1845, die hier Zusammenkommenden nicht als Sachsen, Bayern, Schwaben, Badenser oder Preußen, sondern als „deutsche Brüder“, „geliebte Brüder“ oder „Sangesbrüder“ empfangen, weil man auf diese Weise hoffte, sowohl die landsmannschaftlichen als auch die ständischen und konfessionellen Schranken zu überwinden, die damals noch erheblich waren. Fast die gleiche Stimmung herrschte in diesem Zeitraum auf all jenen Festen, die zu Ehren früherer deutscher Kulturgrößen stattfanden, bei denen ebenfalls ein nationalbetonter Überschwang herrschte. Das gilt vor allem für die vielen Schiller- und Gutenberg-Feiern, die bereits in den dreißiger Jahren begannen. Ihnen folgten 1840 die Dürer-Feier in Nürnberg, 1841 die Jean Paul-Feier in Bayreuth, 1843 die Bach-Feier in Leipzig und 1844 die Goethe-Feier in Frankfurt, wo sich die dort versammelten bildungsbürgerlichen Schichten auf mehr oder minder emphatische Weise zum unvergänglichen Ruhm ihrer „Klassiker“ und zugleich zur Einheit der deutschen Kulturnation bekannten. Im Zusammenwirken all dieser Impulse – ob nun der staatstheoretischen Erklärungen der nationalliberalen Wissenschaftler, der Bekenntnisse der deutschbewußten Germanisten, der aufwühlenden Gedichte der politischen Lyriker, der Versammlungen der patriotisch gesinnten Turner-, Schützen- und Sängervereine sowie der mannigfachen kulturpolitischen Aktivitäten anläßlich der Feiern zu Ehren der ins Klassische erhobenen älteren deutschen Dichter, Maler und Komponisten – entstand schließlich in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre in vielen deutschen Bundesländern ein politisches Klima, ohne welches es sicher nicht zu den revolutionären Erhebungen im März 1848 gekommen wäre. Daß dazu allerdings der entscheidende Anstoß von außen, und zwar durch die Pariser Februarrevolution des Jahres 1848 kommen mußte, weist zugleich darauf hin, wie übermächtig selbst in den vierziger Jahren der Druck der obrigkeitlichen Organe allen nationalbetonten Bestrebungen gegenüber gewesen sein muß. Und das verhieß – nach über dreißig Jahren Metternichscher Restaurationspolitik, der sich in Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848   131

diesem Zeitraum alle deutschen Fürsten angeschlossen hatten – für die kommende Revolution in den Ländern des Deutschen Bunds nicht viel Gutes.

132  Im Vorfeld der Märzrevolution von 1848

Das Paulskirchenparlament

I Den revolutionären Erhebungen, die gegen Ende der vierziger Jahre in mehreren europäischen Ländern stattfanden, lagen zum Teil höchst unterschiedliche Zielsetzungen zugrunde. Während es Ende 1847 im Schweizer Sonderbundkrieg vor allem um konfessionelle Gegensätze sowie eine nationaldemokratische Verfassungsreform ging, stand 1848 in der Französischen Februarrevolution, wie auch in den Juniaufständen des gleichen Jahres, eher die durch die Industrialisierung hervorgerufene soziale Frage im Vordergrund. In den unter dem Druck der Metternichschen Restaurationspolitik „zurückgebliebenen“ Staaten traten dagegen die Sprecher der revolutionären Bestrebungen erst einmal für bürgerliche Freiheit und nationale Einheit ein. Das gilt besonders für Südpolen, Italien und Ungarn, die ganz oder zu großen Teilen noch immer zur Habsburger Universalmonarchie gehörten und in denen bisher jede nationalstaatliche Regung brutal unterdrückt worden war. Im polnischen Bereich begannen derartige Erhebungen bereits im Februar 1846 in der Stadtrepublik Krakau, griffen aber dann auch auf andere Gebiete dieses Landes über, das im späten 18. Jahrhundert zwischen Rußland, Preußen und Österreich aufgeteilt worden war. In Italien setzten solche nationalbetonten Unruhen – angefeuert durch die Zeitung Il Risorgimento, die dieser Bewegung ihren Namen gab – sowohl im Königreich Piemont-Sardinien als auch im Königreich Sizilien ein, die sich entweder gegen die österreichische Oberhoheit in der Lombardei oder gegen die Herrschaft Ferdinand II. in Süditalien richteten. Und auch in Ungarn erfolgten die revolutionären Unruhen unter Ludwig Kossuth vor allem unter nationalstaatlicher Perspektive. Das gleiche gilt für all jene Aufstände in den einzelnen deutschen Teilstaaten, deren Fürsten seit dem Wiener Kongreß von 1815 aus dynastischem Eigeninteresse die Metternichsche Restaurationspolitik unterstützt hatten. Auch hier stand bei den Anfang 1848 ausbrechenden Unruhen als vordringlichstes Ziel erst einmal die Errichtung eines freiDas Paulskirchenparlament  133

19 Anonym: Das Palais des Prinzen von Preußen zu Berlin am 20. März 1848

heitlich gesinnten Nationalstaats im Vordergrund, um so die im Befreiungskrieg gegen Napoleon geweckten Hoffnungen endlich in die Tat umsetzen zu können. Nach den ersten Krawallen dieser Art in einigen rheinländischen Städten kam es anschließend gegen Mitte März dieses Jahres in fast allen Hauptstädten der größeren Staaten des Deutschen Bunds, vor allem in Österreich, Preußen, Sachsen, Bayern, Württemberg und Baden, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Bürgermilizen und dynastietreuen Soldaten, bei denen sich anfangs die vom Zorn auf die herrschende Obrigkeit angefeuerten kleinbürgerlichen Gesellen, Dienstboten, Krämer, Subalternbeamten und Studenten – trotz zahlreicher Todesopfer – als siegreich erwiesen. Daraufhin mußte beispielweise Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, einer der borniertesten Herrscher dieser Ära, seine Truppen aus Berlin abziehen, ein liberales Ministerium berufen, den 277 auf dem Gendarmenmarkt aufgebahrten Märzgefallenen seinen Respekt erweisen, die Bildung einer preußischen Nationalversammlung tolerieren und schließlich sogar mit geheuchelter Benevolenz öffentlich erklären, daß er sich „zur Rettung Deutschlands an die Spitze des Gesamt-Vaterlandes“ stellen werde. 134  Das Paulskirchenparlament

Auch in Wien triumphierte die revolutionär auftretende Bürgerwehr schon am 15. März über die kaiserlichen Truppen, worauf Fürst Metternich inkognito nach London floh und der Hof für kurze Zeit nach Innsbruck auswich. In München verliefen die Auseinandersetzungen zwar etwas ruhiger, führten jedoch dazu, daß sich König Ludwig I. am 20. März wegen seines autokratischen Auftretens und der als skandalös empfundenen Lola Montez-Affäre gezwungen sah, zugunsten seines Sohns Maximilian II. auf den Thron zu verzichten.

20 Barrikadenszene am Alexanderplatz in Berlin am 18. März 1848, Holzstich nach einer Zeichnung von Johann Jakob Kirchhoff Das Paulskirchenparlament  135

II Darauf tagte auf Anregung des badischen Politikers Friedrich Daniel Bassermann vom 31. März bis zum 3. April ein aus 500 sogenannten Vertrauensmännern aus allen deutschen Teilstaaten zusammengesetztes Vorparlament in der Frankfurter Paulskirche, wo es jedoch sofort zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Minderheit der republikanisch Gesinnten und der Mehrheit der auf eine konstitutionelle Monarchie hindrängenden Gruppen kam. Dieser Konflikt führte dazu, daß ein Radikaldemokrat wie Friedrich Hecker das Vorparlament unter Protest verließ, in Konstanz zur Gründung einer „Deutschen Republik“ aufrief und dann mit Gustav von Struve Ende April einen bewaffneten Aufstand in Südbaden anstiftete, der jedoch von den Truppen der dortigen Regierung niedergeschlagen wurde, worauf er mit seiner Freischar in die Schweiz auswich. Um weitere Aufstände dieser Art zu vermeiden, beschlossen anschließend die gemäßigt liberalen Vertreter des Frankfurter Vorparlaments unter Heinrich von Gagern, welche durchaus bereit waren, mit den reformwilligen Fürsten des Deutschen Bunds zusammenzuarbeiten, die Einberufung einer Frankfurter Nationalversammlung, um den weiteren Beratungen über die Gewährung von bürgerlichen Freiheitsrechten, die Errichtung liberaler Landesregierungen sowie die Form eines zu gründenden deutschen Nationalstaats eine wesentlich breitere Grundlage zu geben und setzten zugleich einen Fünfzigerausschuß zur Durchführung und Überwachung dementsprechender allgemeiner und direkter Wahlen ein. Alle diese Vorgänge, ob nun die Märzrevolution, die Gründung zahlloser National-, Volks- und Vaterlandsvereine sowie die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung, lösten unter den gesamtdeutsch eingestellten Bevölkerungsschichten, das heißt den kleinbürgerlichen Handwerkern, den Angehörigen der „arbeitenden Klassen“, wie man damals sagte, aber auch den Vertretern des linken Flügels der bildungsbürgerlichen Schichten eine nationale Begeisterungswelle aus, von der auch viele Schriftsteller, Graphiker und sogar einige Maler und Komponisten ergriffen wurden. Vor allem die bereits im Vormärz aufgetretenen „politischen Lyriker“ versuchten mit bewußt populär gehaltenen Liedtexten oder auf Flugblättern verbreiteten Gedichten die im März dieses Jahres zum Durchbruch gekommene Einheitssehnsucht mit leiden136  Das Paulskirchenparlament

21 Die von Philipp Veit für die Paulskirche gemalte Germania (1848). Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum Das Paulskirchenparlament  137

schaftserregten Strophen stets aufs Neue anzuheizen. Überall konnte man plötzlich Zeilen lesen wie: „O deutsches Volk! Wie lange noch / Wirst Du zersplittert sein! / Wie lang im Dreißig-FürstenJoch / Beugst Du den Nacken dein!“, „Herbei, herbei zum Siege! / Herbei zur guten Stund’: / Es sei ein Bund des Volkes / Und nicht ein Fürstenbund!“, „Ha, wie das blitzt und rauscht und rollte! / Hurra, du Schwarz, du Rot, du Gold“, „Wir haben lang die Schande / In uns zurückgepreßt – / Freiheit dem deutschen Lande! / Schmach, wer sein Volk vergißt!“ oder „Dreiunddreißig Jahre / Währt die Knechtschaft schon, / Nieder mit den Hunden / Von der Reaktion!“ Die meisten derartiger Aufrufe stammten von Lyrikern wie Ferdinand Freiligrath, Rudolf Gottschall, Anastasius Grün, Johann Gottfried Kinkel, Ludwig Pfau, Hermann Rollet und Robert Zimmermann – und blieben auch nicht unbeachtet, ja reizten sogar einige liberal gestimmte Komponisten, wie Albert Lortzing und Robert Schumann, an, sie zu vertonen. Als jedoch nach einem relativ ruhigen Wahlgang die Nationalversammlung am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche feierlich eröffnet wurde, war bei den meisten Abgeordneten von der Begeisterung der zweiten Märzhälfte sowie der politisch überschwänglichen Lyrikwelle der gleichen Zeitspanne nicht mehr viel zu spüren. Und zwar hing das weitgehend mit der sozialen Zusammensetzung dieses Parlaments zusammen. In ihm dominierten nicht die revolutionär gestimmten kleinbürgerlichen Barrikadenkämpfer der ersten Aufstände, sondern fast ausschließlich Vertreter des gehobenen Bürgertums, deren Zielutopie zwar auch ein auf erweiterten Freiheitsrechten beruhender deutscher Nationalstaat war, die dabei jedoch mehrheitlich eher eine gemäßigt konstitutionelle Monarchie als eine auf „nationaler Verbrüderung“ beruhende Republik ins Auge faßten. Schließlich hatten von ihren 585 Mitgliedern rund 95 Prozent das Gymnasium besucht und 87 Prozent ein Universitätsstudium absolviert, kurzum: 429 waren Akademiker, darunter 329 Professoren, Ärzte, Rechtsanwälte, Richter, höhere Verwaltungsbeamte und Landräte, 43 Adlige oder bürgerliche Großgrundbesitzer sowie 56 Unternehmer und Kaufleute, aber nur 4 Handwerksmeister und 3 Bauern, während die Arbeiterschaft überhaupt nicht vertreten war. Soziale Fragen, mit denen man sich dem „Druck der Straße“ ausgesetzt hätte, wie es hieß, standen daher fast gar nicht zur Debatte. Die meisten Mitglieder waren eher gewillt, sich – in Zusammenarbeit mit 138  Das Paulskirchenparlament

22 Die Abgeordneten der Paulskirche unter dem Vorsitz von Heinrich von Gagern (1848), Ausschnitt aus einer zeitgenössischen Graphik

den einzelstaatlichen Regierungen – für die Durchsetzung einer neuen Rechtsordnung einzusetzen, die ihnen größere Freiheiten innerhalb der Universitäten, der Gerichte, der Presse und des Gewerbelebens garantieren würden. Im Hinblick auf die Durchsetzung derartiger Ziele waren sich fast alle Mitglieder des Paulskirchenparlaments einig. Worüber sie sich jedoch zum Teil höchst erbittert in die Haare gerieten, war lediglich die Frage, welche Form man dem von allen erwünschten deutschen Nationalstaat geben sollte. Selbst am 8. August 1848, den die Mitglieder Das Paulskirchenparlament  139

dieses Parlaments zum „Tag der deutschen Einheit“ erklärten und an dem in manchen deutschen Städten feierliche Umzüge mit über der Volksmenge schwebenden Germania-Figuren stattfanden, setzte sich in dieser Hinsicht kein Konsensus durch.

III Da es in der Paulskirche noch keine auf ein bestimmtes Programm festgelegten Parteien, sondern lediglich locker zusammengesetzte Interessensgruppen sowie eine Reihe höchst eigenwillig auftretender Einzelgänger gab, muß man bei der ideologischen Einschätzung der verschiedenen Fraktionen etwas ins Detail gehen. Von vornherein in der Minderheit waren jene Gruppen, die sich als „Demokraten“ verstanden und im Hinblick auf die politische Zukunft Deutschlands eher eine Republik, in der eine uneingeschränkte Gleichheit aller Staatsbürger herrschen sollte, als eine konstitutionelle Monarchie ins Auge faßten. Zu ihnen gehörten drei vereinsähnliche Zusammenschlüsse, die nach den Versammlungslokalen benannt wurden, in denen sie sich außerhalb der in der Paulskirche stattfindenden Sitzungen trafen. Die eine Gruppe war der linksliberale Deutsche Hof, welche etwa 50 Mitglieder umfaßte und deren Hauptsprecher – neben dem Gießener Professor Carl Vogt – Robert Blum, der Vizepräsident des Frankfurter Vorparlaments, war. Blum begab sich im Oktober 1848 nach Österreich, um den dortigen Aufständischen zu ihrem Sieg über die kaiserlichen Truppen zu gratulieren, wurde jedoch kurz darauf, als die Konterrevolutionäre unter Fürst Felix zu Schwarzenberg wieder die Oberhand gewannen, in Wien standrechtlich erschossen. Etwas weiter „links“ im späteren Sinne waren die 50 Mitglieder der Gruppe Donnersberg eingestellt, deren wichtigster Repräsentant Julius Fröbel war, der während der Vormärz-Ära in Zürich eine Reihe vom Deutschen Bund verbotener Bücher von Georg Herwegh und August Heinrich Hoffmann von Fallersleben verlegt hatte. Die dritte Gruppe im linksliberalen Umfeld mit etwa 40 Mitgliedern nannte sich Westendhall. Ihre bekanntesten Vertreter waren Jakob Venedey, der nach dem Hambacher Fest nach Frankreich geflohen war und sich dort an der Gründung des Bundes der Geächteten beteiligt hatte, sowie Heinrich Simon, der 1845 als Richter wegen „Unbotmäßigkeit“ 140  Das Paulskirchenparlament

aus dem preußischen Staatsdienst entlassen worden war. Alle drei Fraktionen, wie man schon damals sagte, waren demokratisch-republikanisch und zugleich „großdeutsch“ gesinnt, das heißt lehnten sowohl die Wiedereinführung eines Erbkaisertums als auch – unter Ausschluß von Österreich – ein von Preußen beherrschtes „kleindeutsches“ Reich radikal ab. Lediglich 20 Mitglieder der Westendhall-Gruppe ließen sich schließlich von der Mehrheit der gemäßigt liberalen Abgeordneten dazu überreden, ein Erbkaisertum zu befürworten. Diese Mehrheit war ebenfalls in drei Fraktionen gespalten. Sie setzte sich vor allem aus Vertretern des gehobenen Bürgertums und des Adels zusammen, war weitgehend propreußisch eingestellt und befürwortete im Hinblick auf die nationale Frage entweder einen konstitutionellen Bundesstaat oder ein Erbkaisertum. Bei den rund 100 Mitgliedern der Gruppe Württemberger Hof, zu der Robert von Mohl, Gabriel Riesser und Friedrich Theodor Vischer gehörten, herrschte noch der liberalste Ton. Dagegen trat die Gruppe Augsburger Hof unter Alfred von Arneth von vornherein entschieden gegen alle ins Republikanische zielenden Vorstellungen auf. Noch eindeutiger verhielt sich in dieser Hinsicht die rechtsliberale Casino-Gruppe, die mit ihren 120 Mitgliedern die weitaus größte Fraktion innerhalb des Paulskirchenparlaments bildete. Ihre Hauptvertreter waren die preußischen Historiker Friedrich Christoph Dahlmann und Johann Gustav Droysen, der Industrielle Gustav von Mevissen sowie die badischen Politiker Friedrich Daniel Bassermann und Karl Mathy, die 1847 mit dem Literaturwissenschaftler Georg Gottfried Gervinus die nationalbetonte Deutsche Zeitung gegründet hatten. Ihre Mitglieder befürworteten fast ausschließlich eine preußische Vormachtstellung innerhalb des neu zu gründenden Deutschen Reichs. Noch weiter „rechts“ stand jene relativ kleine hochadlige Gruppe, die sich im Café Milani traf und zu der Felix von Lichnowsky, Joseph Maria von Radowitz und Georg von Vincke gehörten. Außerdem gab es in der Frankfurter Paulskirche noch etwa 150 Abgeordnete, darunter so bekannte wie Ernst Moritz Arndt, Jacob Grimm und Ludwig Uhland, die sich keiner der angeführten Fraktionen anschlossen.

Das Paulskirchenparlament  141

IV Als es daher nach lang hinausgezogenen Debatten über die Grundrechte des deutschen Volks am 27. März 1849 endlich zur Abstimmung über eine mögliche Reichsverfassung kam, setzte sich die Mehrheit, wie zu erwarten, für ein preußisches Erbkaisertum ein, während die übrigen Abgeordneten entweder am Konzept einer großdeutschen demokratischen Republik, einer konstitutionellen Monarchie oder eines Wahlkaisertums festhielten. Darauf erfolgte die Wahl des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. als eines möglichen Erbkaisers, der jedoch die ihm am 3. April in Berlin von einer Deputation des Paulskirchenparlaments angebotene Krone, weil sie mit dem „Ludergeruch der Revolution“ behaftet sei und ihm das eiserne „Halsband der Knechtschaft“ umlegen würde, höchst ungnädig ablehnte. Anschließend riefen Preußen und Österreich ihre Abgeordneten aus Frankfurt ab, was am 31. Mai 1849 zwangsläufig zur Auflösung des Paulskirchenparlaments führte. Am 6. Juni kam es zwar noch zur Bildung eines Stuttgarter Rumpfparlaments und auch am Rhein, in Dresden, in Baden und in der Pfalz brachen erneut revolutionäre Unruhen aus, die jedoch nach kurzer Zeit – unter dem Motto „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“ – auf Befehl der jeweiligen Fürsten niedergeschlagen wurden. Besonders blutig spielten sich diese Auseinandersetzungen in Baden und der Pfalz ab, wo auf Wunsch des badischen Großherzogs und des bayerischen Königs der preußische Prinz Wilhelm, der jüngere Bruder Friedrich Wilhelm IV., mit seinen Truppen selbst vor Standgerichten und Massenerschießungen nicht zurückschreckte, um so all dem „revolutionären Unfug“, wie sich dieser „Kartätschenprinz“ ausdrückte, ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Damit hörten alle Hoffnungen auf die möglichst umgehende Schaffung eines deutschen Nationalstaats erst einmal auf. Selbst vereinzelte Barrikadenkämpfe oder wagemutige Einzelaktionen wie die Ausstellung des Bildes Washington überquert den Delaware in mehreren deutschen Städten, mit dem der Düsseldorfer Maler Emanuel Leutze noch im Herbst 1849 seine Landsleute anfeuern wollte, wie der auf diesem Bild Dargestellte auch in scheinbar hoffnungsloser Situation den Kampf um nationale Einheit und Freiheit nicht aufzugeben, konnten daran nichts mehr ändern.

142  Das Paulskirchenparlament

Warum diese Revolution, die im März 1848 so vielversprechend begonnen hatte, schließlich doch kläglich scheiterte, ist – ideologiekritisch gesehen – schwer auf einen Nenner zu bringen. Dafür lassen sich sicher mehrere Gründe anführen. Zum einen stand dem die traditionelle Obrigkeitstreue des Heeres und des Beamtentums entgegen, die in der über 30 Jahre währenden Metternichschen Restaurationsperiode eher zu- als abgenommen hatte. Zum anderen herrschte in den „biedermeierlich“ eingestellten Schichten des gehobenen und mittleren Bürgertums eine verbreitete Angst vor irgendwelchen drastischen Umwälzungen, welche sie aus ihren gewohnten beruflichen und familiären Bindungen herausgerissen hätten. Statt sich vom „Pöbel“ unter Druck setzen lassen, hielt man sich in diesem sozialen Umfeld lieber an die herkömmliche Parole „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“. Da dieser bürgerliche Quietismus den Fürsten wohlvertraut war, erwarteten sie nach all dem „Barrikadenrummel der ersten Schreckenswochen“ im März und April 1848 schon in den darauffolgenden Monaten – trotz der Wahlen zum Frankfurter Paulskirchenparlament – wieder eine baldige Rückkehr zu „geregelten Verhältnissen“. Und dazu kam es denn ja auch, da das dortige Parlament zwar Ende Juni 1848 die Bildung einer provisorischen Zentralgewalt unter Heinrich von Gagern beschloß, diese jedoch nicht mit einer dazu nötigen Exekutivvollmacht ausstattete und obendrein den relativ konservativen österreichischen Erzherzog Johann, über den sich Heinrich Heine in einem seiner Gedichte als „Hans ohne Land“ lustig machte, zum sogenannten Reichsverweser wählte. Gagern erklärte zwar großsprecherisch: „Wir wollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation. Deutschland will Eins sein, ein Reich, regiert vom Willen des Volkes“, aber wie sollten solche Forderungen ohne irgendeinen rechtlichen oder militärischen Rückhalt in die gesellschaftliche Realität umgesetzt werden? Als es daher im September 1848 aus Unmut über die Tatenlosigkeit der Paulskirchenabgeordneten in Frankfurt zu einem überstürzten Aufstand einiger Linksextremisten kam, bei dem Felix von Lichnowsky sowie General Hans von Auerswald, zwei Vertreter der äußersten „Rechten“, ermordet wurden, gingen Österreich und Preußen sofort dazu über, eine militärische Strafaktion gegen dieses wiederum als „jakobinisch“ verteufelte Attentat einzuleiten, zumal sie wußten, daß Das Paulskirchenparlament  143

ein solcher Eingriff von weiten Schichten des Bürgertums, die wie die Fürsten primär an der Aufrechterhaltung „geregelter Zustände“ interessiert waren, durchaus begrüßt würde. Im Gegensatz zu den kleinbürgerlichen Handwerkern, Dienstboten und Arbeitern wollten die meisten Vertreter des gehobenen und mittleren Bürgertums von irgendwelchen sozialen Umwälzungen oder gar nationalen Verbrüderungstendenzen selbst in den Jahren 1848/49 nichts hören. Sie behielten lieber ihre eigenen Geschäfts- und Bildungsinteressen im Auge. Besonders scharf verwarfen sie demzufolge die Schriften der im Frühjahr 1848 aus dem Londoner Exil zurückgekehrten Sozialagitatoren Karl Marx und Friedrich Engels, obwohl sich diese beiden, die im Ausland erkannt hatten, wie sehr die einzelnen Staaten des deutschen Bunds in politischer und sozioökonomischer Hinsicht hinter Frankreich und England zurückgeblieben waren, 1848/49 in den Rheinlanden eher für linksliberale Konzepte engagierten, als für jene Ziele einzutreten, die sie kurz zuvor in ihrem Kommunistischen Manifest niedergelegt hatten. Doch selbst ihr den deutschen Voraussetzungen angepaßtes Verhalten erschien den staatlichen Obrigkeiten und dem mit ihnen liierten Bürgertum noch zu radikal. Daher protestierte fast niemand, als sie, wie auch andere „linke Aufrührer“, im Mai 1849 als Staatenlose aus den preußischen Rheinlanden ausgewiesen wurden, worauf beide wieder nach England zurückkehrten. Und damit erwies sich – nach der Niederschlagung der letzten Aufstände sowie der Flucht, Ausweisung oder Einkerkerung aller wahrhaften „Demokraten“ – die gerechtfertigte Hoffnung auf die Schaffung eines deutschen Nationalstaats, wie schon nach dem Wiener Kongreß von 1815, als eine zwar noble, aber aufgrund der weiterbestehenden ständestaatlichen Verhältnisse nicht in die politische Praxis umzusetzende Illusion. Der gesellschaftliche Unterschied zwischen den adligen, bildungsbürgerlich-liberalen, kleinbürgerlichen, niedrigarbeitenden und bäuerlichen Bevölkerungsschichten war zu diesem Zeitpunkt einfach noch zu groß, um ein Nationalbewußtsein in Gang zu setzen, das alle diese höchst verschiedenen Bevölkerungsschichten ergriffen und zu einer gemeinsamen Aktion angefeuert hätte.

144  Das Paulskirchenparlament

Die Nachmärz-Ära

I Wie zu erwarten, zögerten die einzelstaatlichen Regierungen des Deutschen Bunds schon im Herbst 1848 und dann verstärkt im Frühjahr und Sommer 1849 keineswegs, die durch die Märzrevolution geweckten Hoffnungen auf die Errichtung eines deutschen Nationalstaats so schnell wie möglich mit äußerst drakonischen Maßnahmen zu unterdrücken. Fast alle, die sich an exponierter Stelle in Wort und Tat für derartige Hoffnungen eingesetzt hatten, wurden daher von ihnen nach der Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung und dann des Stuttgarter Rumpfparlaments im Mai/Juni 1849 entweder umgehend verhört, ausgewiesen, vor Kriegsgerichte gestellt, eingekerkert, zum Teil sogar hingerichtet oder zumindest jahrelang polizeilich überwacht. Allein in Rastatt, der letzten Zuflucht der aufständischen Demokraten, entschieden die Offiziere des konterrevolutionären Militärs im Juli 1849, 17 Revolutionäre sofort standrechtlich erschießen zu lassen. Nicht minder gnadenlos verfuhren darauf in Freiburg und Mannheim die Revolutionsgegner mit neun anderen „Freiheitsfreunden“. Wie viele ihrer Gesinnungsgenossen anschließend langjährige Gefängnisstrafen verbüßen mußten, läßt sich aufgrund mangelnder Dokumente nur erahnen. Radikaldemokratisch gesinnte Freischärler wie Friedrich Hecker und Gustav von Struve flohen deshalb schon 1848 in die Schweiz und emigrierten dann, wie Karl Schurz, der vorher noch den Linksliberalen Johann Gottfried Kinkel aus dem Spandauer Gefängnis befreit hatte, in die USA. Ihnen folgte anschließend das Paulskirchen- und Rumpfparlamentsmitglied Julius Fröbel, der den Behörden wegen seines Dramas Die Republikaner verhaßt war. Andere Abgeordnete des gleichen Parlaments, darunter Moritz Hartmann, Heinrich Simon, Ludwig Simon und Friedrich Theodor Vischer wichen dagegen vorübergehend oder für immer nach Zürich aus. Von den revolutionär gesinnten Lyrikern flüchteten vor allem Georg Herwegh und Ludwig Pfau in die Schweiz, Die Nachmärz-Ära   145

während sich Ferdinand Freiligrath – nach vielen Polizeischikanen – 1853 zu seinem Freund Karl Marx nach London begab. Ähnlichen Drangsalen sahen sich einige der national eingestellten Professoren ausgesetzt. Joseph Hillebrand und Carl Vogt verloren schon 1850 ihre Stellen an der Gießener Universität. Ebenso erging es dem Sprachwissenschaftler Moritz Haupt, der 1848 in Leipzig nicht nur einen Deutschen Verein gegründet, sondern auch zu rebellisch gesinnten Volksversammlungen aufgerufen hatte. 1852 wurde in Rostock gegen den Germanisten Christian Wilbrandt ein Hochverratsprozeß angestrengt, worauf er seine Professur einbüßte und eine zweijährige Gefängnisstrafe erhielt. Einen ähnlichen Prozeß führte die badische Regierung gegen Georg Gottfried Gervinus, worauf dieser 1853 seine Venia legendi an der Heidelberger Universität verlor. Ja, manche Gerichte strengten sogar gegen die ins Ausland Geflüchteten strafrechtliche Verfahren an. So wurde Ludwig Simon bereits Ende 1849 in Trier in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Die gleiche Strafe verhängte 1851 ein Breslauer Gericht gegen Heinrich Simon. Im selben Jahr erfuhr Ludwig Pfau im Schweizer Exil, das man ihn in Württemberg zu 21 Jahren Zuchthaus verurteilt habe – um nur ein paar prominente Beispiele herauszugreifen. Die Fülle der anderen, die in den gleichen Jahren in den einzelnen deutschen Teilstaaten als Hochverräter vor Gericht gestellt wurden, „geht ins Aschgraue“, wie sich der ehemalige Achtundvierziger Adolf Glaßbrenner später ausdrückte. Doch nicht nur viele Schriftsteller, Professoren, Paulskirchenabgeordnete oder Freischärler, sondern auch weniger profilierte Achtundvierziger kehrten nach 1849/50 ihren bisherigen „Vaterländern“ den Rücken und wanderten in die Vereinigten Staaten bzw. nach Brasilien, Südchile oder Südafrika aus. Wie viele es waren, läßt sich auch hier nur schätzen. Allein aus dem Großherzogtum Baden verließen schon in den frühen fünfziger Jahren etwa 80 000 Menschen, das heißt jeder zwanzigste Badenser, ihr Heimatland und gingen in die USA. Insgesamt emigrierten zwischen 1850 und 1860 schätzungsweise fast eine Million Deutsche in die Vereinigten Staaten, und zwar neben vielen, welche sich dazu aus Abenteuerlust oder wirtschaftlicher Notlage entschlossen, auch zahlreiche ehemalige Achtundvierziger, die wegen der unablässigen staatlichen Bevormundungs- und Unterdrückungsmaßnahmen endlich in einem „Land der Freiheit“ leben wollten. Und damit verloren die ver146  Die Nachmärz-Ära

schiedenen deutschen Bundesländer einen Großteil ihrer liberalen oder gar radikaldemokratisch denkenden Bevölkerungsschichten, was sich auf das politische Klima der Folgezeit höchst ungünstig auswirkte.

II Schon die Bezeichnung „Nachmärz“, die sich für diese Ära eingebürgert hat, deutet an, daß in ihr die konterrevolutionären Tendenzen die Oberhand hatten. Wie aus zahlreichen Zeugnissen dieser Zeit hervorgeht, verbreitete sich seit dem Spätherbst 1849 unter den Zurückgebliebenen eine Stimmung der Enttäuschung und Ermattung, die bereits damals als „politischer Katzenjammer“ bezeichnet wurde. Wer sich nicht als aufsässiger Linksliberaler oder Demokrat bloßstellen wollte, zog sich darum in der Folgezeit entweder in irgendwelche stillen provinziellen Winkel zurück oder paßte sich dem herrschenden Zeitgeist an. Rein oberflächlich gesehen, setzte demzufolge auf privater Ebene – wie schon in der Metternich-Ära – fast eine „biedermeierliche“ Stimmung ein. Doch dieser Schein war höchst trügerisch. Schließlich wurde jeder, der weiterhin öffentlich für die Durchsetzung nationaler Belange eintrat, in den besonders reaktionären deutschen Teilstaaten sofort verhört oder gar eingesperrt. Also schwiegen viele lieber, um nicht in irgendwelche als hochverräterisch geltende „Affären“ hineingezogen zu werden. In Heinrich Heines Gedicht Im Oktober 1849 heißt es demnach so treffend wie möglich: „Gelegt hat sich der starke Wind, / Und wieder stille wirds daheime, / Germania, das große Kind, / Erfreut sich wieder seiner Weihnachtsbäume. // Wir treiben jetzt Familienglück – / Was höher lockt, das ist vom Übel – // Gemütlich ruhen Wald und Fluß, / Vom sanften Mondschein übergossen, / Nur manchmal knallts – ist das ein Schuß? / Es ist vielleicht ein Freund, den man erschossen.“ Angesichts dieser Situation trat unter den Enttäuschten innerhalb der bürgerlichen Schichten auf kulturideologischer Ebene eine Spaltung in zwei Lager ein. Manche der Gebildeten gaben ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft einfach auf und ließen sich wie Richard Wagner in seiner Tristan und Isolde-Oper vorübergehend von Arthur Schopenhauers Pessimismus verführen, sich weltentsagenden Nirwana-Stimmungen hinzugeben. Andere schraubten ihre kulturpolitischen Erwartungen Die Nachmärz-Ära   147

23 Alfred Rethel (zugeschrieben): Allegorie auf die Niederschlagung der deutschen Revolution (1848/49)

148  Die Nachmärz-Ära

einfach zurück und lasen stattdessen harmlose Gesellschaftsromane oder blätterten in der 1853 von Ernst Keil gegründeten Gartenlaube, die aufgrund ihres „überparteilichen“ Charakters schnell das beliebteste Familienblatt innerhalb der bürgerlichen Schichten dieser Ära wurde. Ja, selbst auf der Ebene der „höheren“ Literatur setzte in den fünfziger Jahren ein unübersehbarer Trend ein, auf alles Zeitkritische zu verzichten und stattdessen im Gefolge Otto Ludwigs und Friedrich Theodor Vischers einen „poetischen Realismus“ zu propagieren, bei dem – im Gegensatz zu der mit kritischen Ausfällen durchsetzten Literatur des Vormärz – fast ausschließlich das Individualpsychologische und Deskriptive im Vordergrund stehen sollte. Von den kurz zuvor stattgefundenen Märzereignissen war daher in Werken dieser Art fast keine Rede mehr. Selbst in einem relativ freisinnigen literarischen Klub, wie dem „Tunnel über der Spree“, der Anfang der fünfziger Jahre in Berlin gegründet wurde und zu dem unter anderem Theodor Fontane, Emanuel Geibel, Paul Heyse, Franz Kugler, Adolph Menzel und Theodor Storm gehörten, vermied man es ausdrücklich, über die „garstige Politik“ zu sprechen, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, demokratisch oder gar gesamtdeutsch eingestellt zu sein. Als daher Wilhelm Raabe Mitte der fünfziger Jahre in Berlin seinen Roman Die Chronik der Sperlingsgasse schrieb, begann er ihn mit den Sätzen: „Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzer gar wohlfeil.“ Von den wenigen Autoren, die weiterhin ihrer Verbitterung über die politische Misere Ausdruck zu geben versuchten, wurde darum kaum noch Notiz genommen. Dazu gehörte – neben Romanciers wie Karl Gutzkow und Friedrich Spielhagen – beispielsweise der in die Schweiz geflüchtete Moritz Hartmann, einer der ehemaligen republikanisch eingestellten Donnersberger, der Ende 1849 in Frankfurt ohne Namens­ angabe seine Reimchronik des Pfaffen Maurizius erscheinen ließ, in der sich Zeilen wie die folgenden finden: „Verrat! O teures deutsches Land! / Ja, man verrät dich, teure Mutter, / Du Mutter der Hutten und Luther, / Du wirst verschachert und feil geboten / Von deinen adligen Patrioten.“ Doch derart aufsässige Töne wurden in der Folgezeit immer seltener. Selbst Robert Prutz, einer der revolutionären Lyriker der Vormärzzeit, schrieb 1859 in seinem Buch Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848–1858 in betont kritischer Distanz zu seinen früheren Die Nachmärz-Ära   149

Gedichten, daß er damals mit dem „Bilde der Revolution“ leichtsinnigerweise wie „das Kind mit dem Feuer gespielt“ habe. Über viele Gedichte der bisher revolutionär gestimmten Freiheitsdichter lächelten daher die meisten Nachmärzler nur noch. Als zeittypisch und damit repräsentativ galt unter den apolitisch eingestellten Bildungsbürgern nunmehr eher ein Verseschmied wie Emanuel Geibel, der sich mit der Aristokratie arrangierte, ja sogar stolz darauf war, Vorleser des bayerischen Königs Maximilian II. sein zu dürfen und zugleich eine prominente Rolle in dem forciert humoristisch gestimmten Münchner Dichterkreis „Das Krokodil“ zu spielen.

III Eine derartige Literatur, die keine nationalrevolutionären Züge mehr aufwies, wurde nicht nur vom Münchner Hof, sondern auch in anderen deutschen Residenzstädten als harmlos und damit ideologisch ablenkend begrüßt. Doch es gab auch andere Reaktionen. So nahmen etwa manche der klügeren Regierungen in den Jahren 1849/50 die unter der Oberfläche weiterschwelenden nationalen Einheitsvorstellungen der Vormärzler und Achtundvierziger durchaus zum Anlaß, sie in ihrem Sinne auszunutzen, statt sie lediglich kurzerhand zu unterdrücken. Als daher Preußen, Sachsen und Hannover gegen Ende 1849 ein sogenanntes Dreikönigsbündnis zur Stärkung ihrer Machtposition im norddeutschen Raum abschlossen, welches sie als Vorstufe einer nationalen Vereinigungsbemühung ausgaben, waren sie überzeugt, daß dies sicher den Beifall der weiterhin gesamtdeutsch empfindenden Bevölkerungsschichten finden würde. Und darin täuschten sie sich keineswegs. Demzufolge kam es schon kurz darauf zu Wahlen zum Erfurter Unionsparlament, welches unter preußischer Regie, das heißt unter Ausschluß Österreichs, Bayerns, Württembergs, Holsteins und Luxemburgs, vom 20. März bis zum 29. April 1850 seine Beratungen über eine mögliche neue Reichsverfassung in der dortigen Augustinerkirche abhielt. Da die letzten der übriggebliebenen Demokraten die Wahl zu diesem Parlament boykottiert hatten, bildeten die Erbkaiserlichen unter Friedrich Daniel Bassermann, Ludolf und Otto Camphausen, Friedrich Christoph Dahlmann, Heinrich von Gagern, Karl Mathy, Martin Eduard von Simson und 150  Die Nachmärz-Ära

Georg von Vincke diesmal die „linke“ Fraktion, während zu den „Rechten“ vor allem Otto von Bismarck, Joseph von Buß, Ernst Ludwig von Gerlach, Hans Hugo von Kleist-Retzow, Peter Franz Reichensperger und Friedrich Julius Stahl gehörten. Als die Linken ihren gesamtdeutschen Verfassungsentwurf gegen den vehementen Widerstand der preußisch-monarchistischen Fraktion schließlich durchgesetzt hatten, scheiterte dieser Vorstoß Ende November 1850 am Einspruch Österreichs. Auch die beiden Bundesreformkonferenzen, die im Dezember 1850 und im Mai 1851 in Dresden stattfanden, auf denen Preußen darauf drang, neben Österreich als zweite Hauptmacht in Deutschland anerkannt zu werden, führten zu keinen greifbaren Ergebnissen, da sich die meisten anderen Staaten gegen einen derartigen Anspruch sperrten. Und so kam es schließlich 1851 zur Wiederherstellung des auf dem Wiener Kongreß gegründeten Deutschen Bunds unter österreichischer Führung. Die Folgen dieser Regression machten sich auf allen Ebenen bemerkbar. In Preußen trat dafür vor allem der seit 1850 amtierende Ministerpräsident Otto Theodor von Manteuffel ein, der nicht nur jede ins Gesamtdeutsche zielende Unionspolitik ablehnte, sondern auch auf dem reaktionären Dreiklassenwahlrecht bestand und in allen außenpolitischen Fragen auf die konservativen Ratschläge Otto von Bismarcks hörte. Staatstheoretisch wurde er dabei vor allem von dem Berliner Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl unterstützt, der 1848 im Ankampf gegen irgendwelche „revolutionären Umtriebe“ die aristokratisch-christliche Kreuzzeitung gegründet hatte und im Erfurter Unionsparlament als „vaterländisch“ gestimmter Preuße gegen die Errichtung eines großdeutschen Reichs aufgetreten war. Die gleiche Haltung nahm Ernst Ludwig von Gerlach ein, der wie Metternich immer wieder behauptete, daß der jeweils realexistierende „Staat eher und mehr ist als die Nation, die aus dem Staate überhaupt erst entsteht“. Auch der preußische Historiker Johann Gustav Droysen vertrat ähnliche Anschauungen, welcher sich zwar im Frankfurter Paulskirchenparlament als Mitglied der Erbkaiserpartei für die Schaffung eines gesamtdeutschen Reichs eingesetzt hatte, aber dabei von der Voraussetzung ausgegangen war, daß dies nur unter der Führung Preußens, das heißt unter Ausschluß Österreichs, geschehen könne. Was bei all diesen Konzepten dominierte, war also stets das monarchische Prinzip, während auf Seiten der Fürsten sowie der von ihnen eingesetzten Regierungen von demoDie Nachmärz-Ära   151

kratischer Mitbestimmung oder gar nationaler Verbrüderung kaum noch die Rede war.

IV Was der bürgerlichen Klasse unter diesen Umständen übrig blieb, war entweder der besagte Rückzug ins Private oder eine stärkere Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen Interessen, für welche die aristokratische Oberschicht – aufgrund ihrer feudalistisch-landjunkerlichen Gesinnung – ohnehin wenig Verständnis aufbrachte. Wegen dieser Einstellung kam es in weiten Teilen der einzelnen Bundesstaaten nach 1850 zur ersten industriellen Revolution in Deutschland, die weitgehend vom gehobenen Bürgertum ausging, das sich – nach dem Scheitern seiner staatspolitischen Hoffnungen – wenigstens in dieser Hinsicht gewisse gesellschaftliche Aufstiegschancen versprach. Im Zuge dieser Entwicklung entstanden plötzlich überall größere Fabrikanlagen, was zu einem rapiden Entwicklungsschub innerhalb der Bergbau-, Eisen-, Elektro- und Maschinenindustrie führte und zugleich eine erhebliche Ausweitung des Banken-, Versicherungs-, Verkehrs- und Nachrichtenwesens bewirkte, wodurch – im Gegensatz zur bisherigen landwirtschaftlichen Struktur der einzelnen deutschen Staaten – die freie Lohnarbeit für immer größere Bevölkerungsschichten zur maßgeblichen Erwerbsform wurde. Daß sich daraus auch politische Folgerungen ergeben würden, war geradezu unausweichlich. Denn durch diese sozioökonomischen Modernisierungsschübe, wie man das später nannte, die in der Metternich-Ära bis weit in die vierziger Jahre noch eine untergeordnete Rolle gespielt hatten, wurde das Bürgertum auch in nationaler Hinsicht immer stärker zum Leitfaktor der gesellschaftlichen Entwicklung. Vor allem durch den forciert vorangetriebenen Eisenbahnbau, aber auch durch die kommerzielle Verflechtung der einzelnen Industriezweige, veränderte sich der politisch unterteilte Deutsche Staatenbund in einen allmählich zusammenwachsenden Wirtschaftsraum, was den sich finanziell bereichernden Schichten des gehobenen und mittleren Bürgertums nicht nur ein gesteigertes Selbstbewußtsein, sondern auch ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl verlieh. Demzufolge gingen von dieser Schicht zusehends national gestimmte Impulse aus, die von der älteren, 152  Die Nachmärz-Ära

noch immer einzelstaatlich denkenden Oberschicht kaum noch einzudämmen waren. Schließlich fuhr man jetzt mit der Eisenbahn in wenigen Stunden von Berlin nach Leipzig, wofür man früher mit der Postkutsche zwei Tage benötigt hatte. Allerdings nahm das gehobene Bürgertum seine sich daraus ergebende politische Bedeutsamkeit anfangs noch kaum wahr. Es begnügte sich erst einmal mit der Erweiterung seiner wirtschaftlichen Macht und überließ die politische Führungsrolle weiterhin der feudalen Oberschicht. Dem entspricht, daß Gustav Freytag seinen 1855 veröffentlichten Roman Soll und Haben, der sich schnell als das erfolgreichste Buch dieser Ära erweisen sollte, zwar das bürgerlich-fleißbetonte Motto „Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es bei seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit“ voranstellte, aber auf den folgenden zwei Seiten dieses Werk „ehrfurchtsvoll“ seinem „ritterlichen Herrn“, dem Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha, widmete. Und auch der Erzählverlauf dieses Romans entspricht derselben Einstellung. Während es in ihm dem bürgerlichen Handlungsgehilfen Anton Wohlfart gelingt, durch seinen ausgeprägten Geschäftssinn zum Teilhaber eines großen Handelshauses aufzusteigen, kann der Freiherr von Rothsattel – noch unerfahren in den neuen Wirtschaftspraktiken – nur mit bürgerlicher Hilfe vor dem drohenden Bankrott gerettet werden, bleibt aber dennoch die führende politische Figur in der mit allen Stilmitteln des nachmärzlichen Realismus dargestellten preußisch-schlesischen Region. Damit wird zwar gezeigt, wie sich Deutschland in diesen Jahren zu einer Wirtschaftsnation entwickelt, in der das bürgerliche Arbeitsethos eine nicht zu übersehende Rolle zu spielen beginnt, aber der Adel im Bereich der politischen Entscheidungen nach wie vor die zentrale Befehlsgewalt behält. Die gleiche Haltung vertrat Freytag in der von ihm und dem Literaturkritiker Julian Schmidt herausgegebenen Zeitschrift Die Grenzboten, die zwischen 1848 und 1870 erschien und schnell zum publizistisch einflußreichsten Blatt innerhalb jener wirtschaftlich aufstrebenden und zugleich gebildeten bürgerlichen Schichten wurde, die sich immer stärker von den demokratisch-republikanischen oder gar sozialistischen Tendenzen der bisherigen Linken distanzierten und im Zuge eines Klassenkompromisses zwischen Adel und gehobenem Bürgertum danach strebten, die sie noch immer beengenden Grenzen zwischen den einzelDie Nachmärz-Ära   153

nen Bundesstaaten unter preußischer Führung endlich niederzureißen. Ihre ideologischen Anschauungen umschrieben Freytag und Schmidt dabei meist mit dem Begriff „Nationalliberalismus“. Die erste Vereinigung dieser Art schufen sich diese Schichten im Bund der Volkswirte, der ab 1858 seine Kongresse unter dem selbstbewußten Motto „Reform im Wirtschaftsleben der Nation“ abhielt. Auch der 1859 in Frankfurt gegründete Deutsche Nationalverein hatte eine ähnliche Ausrichtung. Daher zögerten selbst jene Vertreter der bis dahin weitgehend unpolitisch eingestellten Bildungsbourgeoisie keineswegs, sich im gleichen Jahr bei den in vielen deutschen Städten mit großem Gepränge aufgezogenen Schiller-Festen zu einem gesamtdeutschen Kulturbewußtsein zu bekennen, indem sie diesen Dichter – unter Berufung auf die Zeilen „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, / In keiner Not uns trennen und Gefahr“ sowie „Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an“ aus seinem aus dem Eidgenössischen ins Deutschnationale umgedeuteten Tell-Drama – als Herold der bürgerlichen Freiheit und zugleich Vorkämpfer der deutschen Einheit hinstellten.

V In Preußen trug zu diesem Stimmungswandel vor allem der Regierungsantritt Wilhelm I. bei, der 1858 für seinen durch Krankheit regierungsunfähig gewordenen Bruder Friedrich Wilhelm IV. die Regentschaft übernahm und den Bürgern seines Staates eine „Neue Ära“ versprach, von der er sich aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs in den Rheinlanden und in Berlin eine Vormachtstellung Preußens im Rahmen des Deutschen Bunds erhoffte. Den Auftakt dazu bildeten die Entlassung des konservativen Ministeriums unter Otto Theodor von Manteuffel und die Berufung neuer Minister, die als gemäßigt liberal galten. Auch als er 1861 nach dem Tode seines Bruders als Wilhelm I. preußischer König wurde und sogar einen als freisinnig geltenden Maler wie Adolph Menzel aufforderte, das entsprechende Krönungsbild zu malen, fand er bei den begüterten Schichten in Preußen eine weitgehende Zustimmung, die ihrem neuen König sogar verziehen, daß er sich bei der Niederschlagung der Achtundvierziger Revolution vor allem als unnachsichtiger „Kartätschenprinz“ einen Namen gemacht hatte. Selbst 154  Die Nachmärz-Ära

die im gleichen Jahr durch Theodor Mommsen, Werner Siemens und Rudolf Virchow in Berlin gegründete Liberale Fortschrittspartei lehnte im Zuge dieser Entwicklung alle radikalen Veränderungskonzepte ab und bekannte sich im Zeichen der „Neuen Ära“ zu reformistischen Vorstellungen. Erst als der preußische Landtag 1862 die von Wilhelm I. geforderte Heeresverstärkung ablehnte, in der die bürgerlichen Liberalen eine übertriebene Stärkung des monarchischen Prinzips sahen, kam es zu einer innenpolitischen Krise. Darauf löste der König den Landtag auf und ließ Neuwahlen ausschreiben, bei denen jedoch die Liberalen wiederum die Mehrheit erhielten. Im Gegenzug dazu berief der ver­ ärgerte König den als erzkonservativ geltenden Otto von Bismarck zu seinem neuen Ministerpräsidenten, der sich bereit erklärte, die Regierungsgeschäfte auch ohne die ausdrückliche Zustimmung der parlamentarischen Mehrheit zu übernehmen. Bismarck erkannte jedoch schon nach kurzer Zeit, daß es politisch wesentlich klüger wäre, all jene durch die nationalliberal eingestellten Schichten, mit anderen Worten: die bürgerlichen Vertreter von Besitz und Bildung, geweckten Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenschluß Deutschlands so zu nutzen, daß sie schließlich zur Einigung Deutschlands unter preußischer Prärogative führen würden. Statt also im Rahmen des 1859 in Coburg gegründeten Nationalvereins eine Reform des Deutschen Bunds anzustreben, wandte sich Bismarck immer schärfer gegen alle Vorschläge, auch Österreich in irgendwelche nationalbetonten Pläne einzubeziehen, was zwangsläufig zu einer Beeinträchtigung der preußischen Vormachtstellung in Deutschland geführt hätte. Und zwar setzte er dabei – in Übereinstimmung mit Wilhelm I. und dem preußischen Kriegsminister Albrecht von Roon – seine Hoffnung in erster Linie auf eine Verstärkung und zugleich Modernisierung des preußischen Militärs, um bei politischen Konflikten sofort eine schlagkräftige Armee einsetzen zu können. Dementsprechend erklärte er schon kurz nach seiner Machtübernahme vor den nationalliberal eingestellten Abgeordneten des preußischen Landtags: „Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht.“ Ja, noch bekannter wurde sein Ausspruch: „Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 gewesen – sondern durch Blut und Eisen.“ Die Nachmärz-Ära   155

Schon auf einer Zusammenkunft des Frankfurter Bundestags im Januar 1863 trat deshalb Bismarck allen großdeutsch orientierten Vorschlägen einer möglichen Reichseinigung entschieden entgegen. Obendrein bewegte er den preußischen König im August des gleichen Jahres, nicht an jenem Deutschen Fürstentag in Frankfurt teilzunehmen, auf dem noch einmal über eine Reform des Deutschen Bunds unter Einschluß Österreichs diskutiert werden sollte. Worauf Bismarck danach seine Erwartungen setzte, waren nur noch kriegerische Auseinandersetzungen, bei denen Preußen aufgrund seiner militärischen Überlegenheit sicher den Sieg davontragen würde. Die erste Chance in dieser Hinsicht bot sich für ihn bereits 1864 im Rahmen der durch die dänische Regierung ausgelösten Schleswig-Holstein-Krise, in der Bismarck allerdings auf Drängen des Deutschen Bunds eine aus preußischen und österreichischen Truppen bestehende Armee akzeptieren mußte, jedoch durchsetzte, daß diese dem Oberbefehl des als reaktionären Haudegen bekannten preußischen Generals Friedrich Heinrich von Wrangel unterstellt wurde. Danach spitzte sich die innenpolitische Spannung zwischen Preußen und Österreich so scharf zu, daß es Bismarck am 10. Juni 1866 schließlich wagte, den Ausschluß der Habsburgermonarchie aus dem Deutschen Bund zu fordern. Da Österreich diesen Affront nicht dulden konnte, führte dieser Eklat kurz darauf zum sogenannten Deutschen Bundeskrieg zwischen diesen beiden Mächten, bei dem sich Bayern, Württemberg, Baden, Sachsen, Kurhessen, Nassau und Frankfurt auf die Seite Österreichs stellten, jedoch die preußischen Truppen unter dem Grafen Helmuth von Moltke am 3. Juli der habsburgischen Hauptarmee bei Königgrätz in Böhmen eine entscheidende Niederlage beibrachten. Darauf kam es am 23. August zur Auflösung des Deutschen Bunds sowie zur territorialen Einverleibung Schleswig-Holsteins, des Königreichs Hannover, des Kurfürstentums Hessen-Kassel, des Herzogtums Nassau und der Freien Stadt Frankfurt in den auf Seiten der Sieger gern als „Borussia“ hingestellten Staatsverband, womit eine weitere Weiche zur Errichtung eines kleindeutschen Einheitsstaats unter preußischer Führung gestellt wurde. Im Hinblick auf diese Ereignisse schrieb ein enttäuschter Österreicher wie Franz Grillparzer 1866 resigniert: „Ihr glaubt, Ihr habt ein Reich gegründet, / Und habt doch nur ein Volk zerstört“, während die Berliner National-Zeitung das Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund im gleichen Jahr mit den Worten 156  Die Nachmärz-Ära

begrüßte: „Wir haben jetzt die Möglichkeit, einen deutschen Nationalstaat zu errichten“, ja „wir können deutscher sein, als es unseren Vorfahren vergönnt war.“

VI Alles Weitere erfolgte darauf mit geradezu zwangsläufiger Konsequenz. Die Mehrheit des nationalliberalen Bürgertums, geblendet von dem preußischen Sieg bei Königgrätz und der in der Presse vielfach herausgestrichenen Führungsqualität Bismarcks, gab nach diesem Zeitpunkt ihre letzten Bedenken gegen den neuen, auf Gewaltpolitik beruhenden Kurs auf und stellte sich voll und ganz hinter „ihren“ Kanzler. Selbst viele der Intellektuellen, darunter die bisher eher großdeutsch eingestellten Germanisten, sprachen sich jetzt für eine nationale Einigung unter Preußens Führung aus und erhoben zugleich die Wehrtüchtigkeit zu einem ihrer obersten Werte. Es war daher für Bismarck ein Leichtes, den aus 29 Staaten bestehenden Norddeutschen Bund zu gründen, der sich am 12. Februar 1867 konstituierte und in dem nach allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht die Nationalliberalen und die Freikonservativen über die ausschlaggebenden Stimmen verfügten. Allerdings mußte das Besitz- und Bildungsbürgertum Bismarck zugestehen, daß neben der parlamentarischen Volksvertretung im norddeutschen Reichstag auch ein Bundesrat der Fürsten mit weitreichenden Vollmachten eingerichtet wurde. Obwohl sich einige konservativ eingestellte preußische Abgeordnete, wie Ernst Ludwig von Gerlach und Leopold Graf zur Lippe-Biesterfeld-Weißenfeld, weiterhin gegen alle „nationalen Schwärmereien“ aussprachen und auf einer monarchisch gelenkten Autonomie der einzelnen Bundesstaaten bestanden, war damit ein staatliches Gebilde entstanden, das auf jenem Klassenkompromiß zwischen Adel und Bürgertum beruhte, den schon die Erbkaiserpartei im Frankfurter Paulskirchenparlament angestrebt hatte, während die demokratisch-republikanische Minderheit wieder einmal leer ausging. Daher stimmte fast niemand dagegen, daß dieser Reichstag im Hinblick auf seine Bundesfarben nicht an Schwarz-RotGold, den Farben des Frankfurter Paulskirchenparlaments, festhielt, sondern sich für Schwarz-Weiß-Rot, eine Verbindung der Farben PreuDie Nachmärz-Ära   157

ßens und der sich dem Norddeutschen Bund angeschlossenen Hansestädte, entschied. All das, ob nun der Klassenkompromiß sowie die Anlehnung an Preußen, entsprach durchaus jener Stimmung, die bereits 1859 bei den Schiller-Feiern und dann in der ersten Hälfte der sechziger Jahre bei den verschiedenen Nationalfesten, wie dem Deutschen Schützenfest (1862) in Frankfurt, dem Deutschen Turnfest (1863) in Leipzig und dem Deutschen Sängerfest (1865) in Dresden, geherrscht hatte, wo es – neben der üblichen Vereinsmeierei – wiederholt zu emphatischen Bekenntnissen zu einem deutschen Gesamtwillen gekommen war. Eine wichtige Rolle als Anreger und Organisator spielte in dieser Hinsicht der reformorientierte Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha, dem der national­ liberal auftretende Gustav Freytag schon 1855 seinen Roman Soll und Haben gewidmet hatte, worin er, wie bereits ausgeführt, schon damals für einen Klassenkompromiß zwischen Adel und Bürgertum eingetreten war. Auf der gleichen ideologischen Linie liegt die zwischen 1862 und 1867 entstandene Oper Die Meistersinger von Nürnberg von Richard Wagner, in der am Schluß der Ritter Walther von Stolzing und der Bürger Hans Sachs – nach mancherlei Zwistigkeiten – als gleichberechtigte Partner nebeneinander stehen. Doch nicht nur das. Diese Szene spielt zugleich auf einer feierlich dekorierten Festwiese, wozu Wagner sicher durch die vielen Nationalfeste der frühen sechziger Jahre angeregt wurde, ja kulminiert schließlich in einer Festrede von Hans Sachs, die von einem gewaltig angewachsenen Nationalbewußtsein zeugt und selbst vor einer mit aktuellen Akzenten versehenen Verächtlichmachung des „welschen Tands“ nicht zurückschreckt. Derartige Bekenntnisse paßten dem realpolitisch taktierenden Bismarck selbstverständlich in sein Konzept, nicht nur die Fürsten, sondern auch die von ihm anfangs kaum ernstgenommenen Schichten von Besitz und Bildung, die ihm nach 1866 nur allzu willig entgegen kamen, in seine Einigungspläne einzuspannen. Um also keine weiteren innenpolitischen oder sozialpolitischen Konflikte heraufzubeschwören, die eine Vereinigung der verschiedenen deutschen Teilstaaten unter Preußens Führung verhindern könnten, setzte er sich anschließend sowohl für eine möglichst rasche Verständigung mit Österreich und den süd­ deutschen Staaten als auch für den von weiten Teilen der Wirtschaftsbourgeoisie gewünschten Zollvereinigungsvertrag zwischen Nord- und 158  Die Nachmärz-Ära

Süddeutschland ein, dessen Ausführungsbestimmungen er einem gesamtdeutschen Zollparlament überließ. Lediglich die Spannung zwischen dem von Preußen dominierten Norddeutschen Bund und dem französischen Kaiserreich, das ein weiteres Anwachsen des deutschen Nationalismus befürchtete, blieb nach wie vor bestehen. Aber gerade darin sah Bismarck eine willkommene Chance, dieses seit den Befreiungskriegen als „Erzfeind“ geltende Land durch eine außenpolitische Provokation derart zu reizen, daß es einen Krieg gegen Preußen vom Zaune brechen würde, in dem er alle deutschen Staaten zu einem nationalgestimmten Gesamtverband zu vereinigen hoffte. Und diese Möglichkeit bot sich ihm, als im Streit um die spanische Thronnachfolge, bei dem Prinz Leopold von HohenzollernSigmaringen als der aussichtsreichste Kandidat galt, König Wilhelm I. im Herbst 1870 in Bad Ems bei einem Gespräch mit dem französischen Botschafter einige undiplomatische Äußerungen machte, die Bismarck sofort in verschärfter Form veröffentlichen ließ, worauf Frankreich dem Norddeutschen Bund umgehend den Krieg erklärte. Der inzwischen immer stärker gewordene Nationalismus breitester Bevölkerungsschichten bewegte in dieser Situation – wie von Bismarck vorhergesehen – sogar die süddeutschen Staaten, an der Seite Preußens in diesen Krieg zu ziehen. In dem darauffolgenden Feldzug besiegten die gesamtdeutschen Truppen die Franzosen in den Schlachten von Wörth, Weißenburg, Vionville und Gravelotte, umzingelten die französische Hauptarmee bei Sedan, nahmen Kaiser Napoleon III. gefangen und marschierten schließlich in Paris ein. Damit hatte Bismarck sein erstes Ziel erreicht. Was jetzt noch anstand, war die endgültige Durchsetzung eines kleindeutschen Reichs unter preußischer Führung. Er erreichte dies, indem er Ludwig II. von Bayern überredete, in einem von ihm selber entworfenen Schreiben Wilhelm I. um die Annahme des Kaisertitels zu bitten. Als Wilhelm zögerte, gelang es Bismarck, auch diesen von der Notwendigkeit eines solchen Schritts zu überzeugen. Und so kam es am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal zu Versailles zu der sattsam bekannten Kaiserproklamierung, die lediglich von den deutschen Fürsten ausging. Damit erfüllte sich zwar der über 60 Jahre immer wieder unterdrückte oder gescheiterte Traum eines deutschen Nationalstaates, aber nicht auf jene Weise wie die nationalitätssüchtigen Befreiungskrieger, die Unbedingten unter den Die Nachmärz-Ära   159

24 Anton von Werner: Die Proklamierung des deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles (1885). Friedrichsruh, Bismarck-Museum

Burschenschaftern oder die revolutionären Demokraten im Frankfurter Paulskirchenparlament gehofft hatten, sondern in einer weitgehend ins Autoritäre korrumpierten Form. Es gab zwar jetzt wieder ein neues Reich, aber unter einer Vielzahl von Königen, Großherzögen und Herzögen sowie einem eigenmächtig auftretenden Kanzler, der sein aus taktischen Gründen geschlossenes Bündnis mit den bürgerlichen Nationalliberalen schon kurze Zeit später wieder aufgab und sich – im Vollbesitz der Macht – skrupellos zu seiner früheren preußisch-konservativen Junkermentalität bekannte.

160  Die Nachmärz-Ära

Bismarcks Reichsnation

I Trotz einiger ideologischer Vorbehalte war im Jahr 1871 die Zustimmung zur Kaiserproklamation erst einmal allgemein. Endlich konnten breite Bevölkerungsschichten wieder von „Deutschland“ sprechen, wenn sie das eigene Vaterland meinten. Endlich hatte das eben gegründete „Reich“ in Wilhelm I. jenen preußischen Erbkaiser erhalten, dem sich schon die konservativ gesinnte Mehrheit des Frankfurter Paulskirchenparlaments unterstellen wollte. Endlich – nach den bedrückenden Jahren der Nachmärzära – schien sich politisch alles zum Besseren zu wenden. Was gab es da noch weiter zu hoffen? War nicht damit jener Traum eines nationalen Zusammenschlusses schließlich doch in Erfüllung gegangen, auf dessen staatspolitische Verwirklichung die meisten Deutschen seit „Anno Leipzig“ gewartet hatten? Selbst viele der bisherigen Fortschrittler und Freisinnigen nahmen deshalb die Mängel dieses Reichs erst einmal in Kauf. Sich überhaupt als Deutsche und nicht mehr als Untertanen kleinstaatlicher Fürstentümer, wie Oldenburg, CoburgGotha, Sachsen-Weimar-Eisenach oder Lippe-Detmold, zu fühlen, erschien ihnen wichtiger, als sofort auf die uneingelösten liberalen oder gar demokratischen Erwartungen hinzuweisen, die sich in diesem Zweiten Deutschen Kaiserreich, das letztlich auf „Blut und Eisen“ beruhte, nicht erfüllt hatten. Doch was für ein Reich war da entstanden, wenn man es mit anderen Nationalstaaten, wie Frankreich oder England, verglich? Herrschte in ihm wirklich jene rechtliche Gleichstellung aller Menschen, die in anderen westeuropäischen Ländern – im Zuge der sich ausbreitenden Industrialisierung und Verbürgerlichung – bereits mehr oder weniger erreicht war? Oder war das Zweite Deutsche Kaiserreich nicht nach wie vor ein „ewiger Bund deutscher Fürsten“, in dem es noch immer 25 Teilstaaten gab, deren monarchische Regierungen weiterhin auf einem halbautonomen Status ihrer Länder bestanden? Und erinnerte das nicht in manchem an jenen älteren Deutschen Bund Metternichscher Prägung, auf Bismarcks Reichsnation   161

dessen Beseitigung vor allem die liberalgesinnten Bevölkerungsschichten seit langem gehofft hatten? Zugegeben, das traf in vieler Hinsicht durchaus zu. Allerdings hatte sich seit 1866, nach dem preußischen Sieg über Österreich und der gewaltsamen Einverleibung mehrerer mitteldeutscher Staaten in den von Bismarck regierten Hohenzollernstaat, an der älteren Länderstruktur inzwischen einiges erheblich verändert. Schließlich umfaßte Preußen in dem 1871 entstandenen kleindeutschen Kaiserreich etwa zwei Drittel der Gesamtfläche und zugleich zwei Drittel der Bevölkerung. Ebenso überlegen war es den anderen deutschen Staaten in wirtschaftlicher Hinsicht. Daher besaß es von vornherein ein politisches Übergewicht, das es weidlich auszunutzen verstand. Hinzu kam, daß der preußische König zugleich deutscher Kaiser und die preußische Hauptstadt Berlin zugleich die Hauptstadt des Gesamtreichs war. Ja, noch mehr. Bismarck hatte als preußischer Ministerpräsident obendrein – mit vielen exekutiven Vollmachten – das Amt des Reichskanzlers übernommen. Aufgrund all dieser Fakten nahm Preußen von Anfang an eine hegemoniale Stellung innerhalb des neugegründeten Reichs ein. Und da in Preußen ein starker, im eigenen Landtag sogar auf der Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts bestehender Konservativismus herrschte, hatte auch die Reichspolitik von vornherein einen reaktionären Charakter, der sowohl von den auf die Bismarck-Linie eingeschwenkten großbürgerlichen Nationalliberalen als auch von den deutschkonservativen Großagrariern, den zwei einflußreichsten Gruppen im Reichstag, unterstützt wurde. Wegen der sich daraus ergebenden innenpolitischen Verhältnisse blieb das Zweite Kaiserreich zwangsläufig ein prussifizierter Staat, in welchem – trotz der parlamentarischen Struktur des Reichstags – dem Kaiser und dem von ihm ernannten Reichskanzler in allen politisch entscheidenden Fragen die maßgebliche Befehlsgewalt zustand. Schließlich war der Kaiser nicht nur der Oberbefehlshaber der gesamtdeutschen Armee, sondern entschied zugleich über die Einberufung bzw. Auflösung des Reichstags. Und da die Mehrheit der 397 Reichstagsabgeordneten aus Preußen stammte, entstand so ein autoritär überformtes Reich, das kein vom Volke ausgehender Nationalstaat, sondern ein weitgehend von Wilhelm I. und Bismarck regiertes Preußenreich war. Dem entsprach, daß für die Fahnen dieses Reichs nicht die achtundvierziger Farben Schwarz-Rot-Gold, sondern die Farben Schwarz-Weiß-Rot des 162  Bismarcks Reichsnation

Norddeutschen Bunds gewählt wurden. Ebenso bezeichnend ist, daß sich der preußisch dominierte Reichstag nicht für eine gesamtdeutsche Nationalhymne entschied, sondern diese Frage einfach offen ließ. Weil das noch großdeutsch orientierte Lied der Deutschen von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben in dieser Hinsicht ohnehin nicht in Frage kam, wurden bei irgendwelchen politischen Anlässen mit gründerzeitlichem Überschwang meist Lieder wie „Heil Dir im Siegerkranz, / Herrscher des Vaterlands, / Heil, Kaiser / Dir!“ oder „Es braust ein Ruf wie Donnerhall, / Wie Schwertgeklirr und Wogenprall: / Zum Rhein! zum Rhein! zum deutschen Rhein!“ angestimmt.

II Die ideologischen und kulturpolitischen Folgen dieses affirmativen Reichspatriotismus, der häufig ins Chauvinistische ausartete, sind leicht vorherzusehen. Da wäre erst einmal die durch den militärischen Sieg über Frankreich weitverbreitete Überzeugung, daß sich die Verwirklichung politischer Ziele nicht auf demokratischem Wege, sondern nur durch kriegerische Auseinandersetzungen erreichen lasse. Auf vielen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens war deshalb nach 1871 plötzlich von Durchsetzungsdrang, Aggressivität, ja gnadenlosem Konkurrenzkampf die Rede, um sich so zu einem gesteigerten Machtverlangen zu bekennen, dem das geradezu unbändige Verlangen nach nationaler Größe zugrunde lag. Den wortgewaltigsten Ausdruck dieses „Willens zur Macht“ gaben – neben Bismarck – die Historiker und Philosophen dieser Ära, allen voran Heinrich von Treitschke, Paul de Lagarde und Friedrich Nietzsche. Statt wie die „gebildeten Menschenfreunde“ der Aufklärung und des frühen 19. Jahrhunderts weiterhin vom „ewigen Frieden“ zu träumen, schrieb Treitschke, einer der führenden Nationalliberalen, „glaubten jetzt die Deutschen wieder an den Gott, der Eisen wachsen ließ und jene einfachen Tugenden, die bis ans Ende der Geschichte der feste Grund aller Größe der Völker bleiben“ würden, nämlich „den kriegerischen Mut, die frische Kraft des begeisterten Willens und die Wahrhaftigkeit des Hasses“. Mit gleicher Emphase erklärte Lagarde 1878 in seinen Deutschen Schriften: „Geistiges Leben erwacht nur durch die Notwendigkeit des Kampfes.“ Ja, Nietzsche, der sich 1870 Bismarcks Reichsnation   163

– obwohl in Basel lehrend – sofort freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte und später im Hinblick auf dieses Jahr gern von „meiner Heldenzeit“ sprach, drückte sich ebenso unzweideutig aus: „Der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.“ Von Freiheit, Gleichheit und Verbrüderung wollten deshalb die meisten herrschaftsbetonten Ideologen dieser Ära immer weniger hören. Nach dem Scheitern der Achtundvierziger Revolution waren sie mehr als bereit, den Weg zur Unfreiheit, das heißt zur Befehlsgewalt eines „Starken von oben“ , bis zum Äußersten zurückzugehen, indem sie den Willen zur Macht als den einzig entscheidenden Lebenswillen hinstellten. War nicht Bismarcks Auftreten Beweis genug, daß nicht das Volk, sondern der große Einzelne der entscheidende Akteur auf der politischen Bühne war? Sowohl die Geschichtsbücher als auch die literarischen Werke der siebziger und frühen achtziger Jahre sind daher voller Usurpatoren, Thronräuber und Gewaltnaturen, die es verstehen, durch einen geschickten Coup die Macht an sich zu reißen. Schließlich hatten ihre Autoren selbst erlebt, wie skrupellos es Bismarck gelungen war, durch zwei von ihm provozierte Kriege den alten Traum eines deutschen Nationalstaats – nach so vielen gescheiterten Ansätzen – endlich in die Tat umzusetzen. Zudem klang vielen Geistaristokraten dieser Jahre ständig das Treitschke-Motto „Männer machen die Geschichte“ in den Ohren. Doch gerade in ihrer Neigung zu bonapartistischen Gewalttätigkeiten offenbarte sich die ideologische Gebrochenheit dieser bürgerlichen Macht- und Kriegsbegeisterung. Indem nämlich die hiermit gemeinte Bevölkerungsschicht nicht mehr als selbstbewußte Klasse auftrat, sondern kriegerisch eingestellte Führernaturen verherrlichte, lief das Ganze auf eine Verehrung Bismarcks und damit Entmündigung der eigenen politischen Wunschvorstellungen hinaus. So nannte zwar Nietzsche den mehrheitlich hochverehrten Bismarck abschätzig „Deutschlands Schneider“, der 1871 lediglich einen „Flickenteppich“ zusammengenäht habe, sprach aber zugleich voller Bewunderung von jenen „Herrennaturen“, die unter dem Motto „Das Volk wird erst Volk, wenn es folgt“ ihre „furchtbaren Tatzen“ auf eine noch „gestaltlose Bevölkerung“ gelegt und damit neue Reiche errichtet hätten. Da ihm jedoch Bismarck, dem genau dies gelungen war, noch zu nah, zu „menschlichallzumenschlich“ erschien, sah er solche Genies, die mit dem Recht des Stärkeren über Leichen gegangen seien, lieber in bereits durch den 164  Bismarcks Reichsnation

geschichtlichen Abstand ins Monumentale, wenn nicht gar Mythische verklärten Gestalten wie Alexander den Großen, Alarich, Cesare Borgia oder Napoleon Bonaparte. Aber es gab auch genug gründerzeitliche Autoren, die sich in dieser Hinsicht wesentlich zeitbezogener ausdrückten. Von Hermann Linggs Zeitgedichten (1870) bis zu der Sammlung Aus dem Felde (1891) von Julius Wolff kamen in dieser Ära geradezu Hekatomben reichspatriotischer Lyrik auf den Markt, in denen überschwängliche Loblieder auf das durch den Sieg über Frankreich entstandene Kaiser- und Kanzlerreich angestimmt wurden. Ob nun Emanuel Geibel, Wilhelm Jensen, Wilhelm Jordan, Oskar von Redwitz, Adolf Friedrich Graf von Schack, Adolf von Wilbrandt oder Ernst von Wildenbruch: alle diese Autoren schwärmten plötzlich „mit Gott für Kaiser und Reich“ und berauschten sich an Ruhm, Ehre und Vaterland. Überall setzten sich in ihren Gedichten nach 1870 unermeßliche Heerscharen in Gang, überall stieg der „Preußenaar“ auf und überall wurde ein „tausendjähriges Reich“ gegründet. Moltke mit dem „Wotansaug“, Kaiser Wilhelm der „edle Greis“, Bismarck der „getreue Eckehard“: vor allen lagen derartige Hurrapatrioten auf den Knien, um ihnen stammelnd Dank zu sagen, daß sie den Deutschen endlich ein „ einig Vaterland“ geschenkt hätten. Was sich daraus entwickelte, war ein nationaler Maximalismus, der schließlich in dem Aufschrei „Ein Land – ein Volk – ein Kaiser“ gipfelte. Ja, ein Mann wie Wildenbruch betonte ausdrücklich, daß die Schlacht bei Sedan selbst die Schlacht im Teutoburger Wald an Größe und welthistorischer Perspektive weit übertroffen habe. Eng verbunden mit diesem „Furor teutonicus“ waren die aufgepeitschten Affektentladungen gegen Frankreich, den „Erbfeind, den tückisch schlau’n“ und „prahlerischen Lügenschmieder“, den es zu unterdrücken oder gar auszurotten gelte. Demzufolge wurden in solchen Gedichten und Traktaten auf infam übersteigerte Weise Paris gern als das moderne Gomorrha, Napoleon III. als eroberungslüsterner Nero und Kaiserin Eugenie als die große Hure von Babylon hingestellt. So schrieb etwa Schack einmal haßgeifernd unter dem Titel An die Franzosen: „Denn enden wird der Kampf erst, ob Millionen / Von Leben auch das Schlachtschwert frißt, / Wenn ausgetilgt im Buche der Nationen / Der Name der Franzosen ist.“ Wie ansteckend diese nationale Hochstimmung war, zeigt sich selbst bei den „deutsch“ empfindenden Schweizern und Österreichern dieser Bismarcks Reichsnation   165

Jahre. Auch ein Grazer wie Robert Hamerling sah in Bismarck den größten „Held in germanischen Landen“, dem das „Herz Deutschösterreichs“ begeistert entgegenschlage. Ins gleiche Horn stieß ein Schweizer wie Heinrich Leuthold, der sich 1871 in seinem Gedicht Am Genfersee zu folgendem Bekenntnis hinreißen ließ: „Hier begrüß ich freudig die jüngsten Siege / Deutscher Waffen über welsche Tücke, / Und den jähen Fall des gewissenlosen Pseudocäsaren. // Was an Sitten, Wissen und Kunst wir Schweizer / Gutes haben, kommt uns vom Brudervolke;  / Doch verderblich war uns zu allen Zeiten Gallische Freundschaft.“ Sogar Conrad Ferdinand Meyer wurde von den Ereignissen von 1870/71 aufs Tiefste ergriffen und schrieb in seiner Autobiographischen Skizze: „Der große Krieg, der bei uns in der Schweiz die Gemüter zwiespältig aufgeregt, entschied auch einen Krieg in meiner Seele. Von einem unmerklich gereiften Stammesgefühl jetzt mächtig ergriffen, tat ich bei diesem weltgeschichtlichen Anlasse das französische Wesen ab, und innerlich genötigt, dieser Sinnesänderung Ausdruck zu geben, dichtete ich ‚Huttens letzte Tage‘.“ Der gleiche „Furor teutonicus“ findet sich in den bildenden Künsten dieser Ära, in der es ebenfalls von genialischen Schlachtenlenkern und heroischen Kriegsszenen nur so wimmelt. Vor allem bei jenen Gemälden, die für die 1876 in Berlin eröffnete Nationalgalerie ausgesucht wurden, handelte es sich meist um historische Großereignisse, und zwar gleichviel, ob aus der Antike, der Völkerwanderungsära, dem Mittelalter oder der Frühen Neuzeit, auf denen bei genauerem Zusehen lediglich „der Herren eigener Geist“ zu herrschen schien. Gerade im Historismus dieser Kunst offenbarte sich zumeist das Verlangen, den kurz zuvor erlebten militärischen Siegen den Anstrich des Heroischen, Erhabenen bzw. Einmalig-Genialischen zu geben, um nicht in die plattrealistische Ma-nier älterer Heroen- oder Schlachtenbilder zurückzufallen. Und zwar gilt das nicht nur für die zahlreichen ins Antikische oder Mittelalterliche stilisierten Kriegsszenen Arnold Böcklins, Anselm Feuerbachs und Hans Thomas, sondern auch für die vielen Denkmäler, die in diesen Jahren auf zentralen Plätzen oder entlang sogenannter Siegesalleen aufgestellt wurden. Die meisten Monumente dieser Art, wie das HermannDenkmal (1875) bei Detmold von Ernst von Bandel oder das Niederwalddenkmal der wehrhaften Germania (1883) von Johannes Schilling, waren überlebensgroß und sollten die sie Betrachtenden in den Zustand 166  Bismarcks Reichsnation

25 Die Germania auf dem Niederwald von Johannes Schilling als Titelillustration eines Buchs von Johannes Scherr (1876)

Bismarcks Reichsnation   167

verehrender Bewunderung versetzen. Das gleiche gilt für die vielen Denkmäler, mit denen die Regierungskreise Wilhelm I., Bismarck und Moltke als die wichtigsten Leitbilder des neuen Reichs herauszustellen versuchten. Trotz aller vordergründigen Realistik, was vor allem die Nachbildung der preußischen Uniformen betrifft, wurde auch hier selten auf ins Erhabene steigernde Analogien verzichtet. So stellte man das monumentale Reiterdenkmal Wilhelm I. von Hohenzollern, des Barba­ blanca, auf dem Freiplatz vor der restaurierten Kaiserpfalz in Goslar direkt neben ein ebenso monumentales Reiterdenkmal Friedrich I. von Hohenstaufen, des Barbarossa, um so – im Sinne der nationalkonservativen Wiederherstellungsideologie des Zweiten Reichs – auf die vergleichbare Bedeutsamkeit dieser beiden Kaiser hinzuweisen. Mit der selben ideologischen Absicht wurde Bismarck bei dementsprechenden Denkmälern gern mit Schwert und Schild als der deutsche Roland charakterisiert, um auch ihn ins Zeitlos-Erhabene, ja Übermenschliche zu erheben. Ähnlich historistisch verbrämte Analogien finden sich auf all jenen Fresken oder Gemäldezyklen, die unter staatsbürokratischer Lenkung für Rathaussäle, Universitätsaulas und ähnliche Versammlungsräume in Auftrag gegeben wurden. Doch auch das nationalliberale oder deutsch-konservative Bürgertum griff solche Anregungen auf, wobei vor allem der 1872 gegründete Deutsche Kriegerbund eine wichtige Rolle spielte, aus dem später der über 2 000 000 Mitglieder umfassende Kyffhäuserbund hervorging. So wurden nach dem Tode Wilhelm I. im Jahr 1888 – aus „Dankbarkeit dem Gründer eines neuen deutschen Reichs“ gegenüber – rund 300 Kaiser Wilhelm-Denkmäler errichtet, darunter das berühmte Kyffhäuser-Denkmal (1896) im Thüringer Wald, die Porta Westfalica (1896) bei Minden und das Deutsche Eck (1897) in Koblenz, wobei meist bürgerliche Honoratioren oder Vereine des lokalen Handels- oder Bildungsbürgertums für die anfallenden Kosten aufkamen. Für die Bismarck-Denkmäler, deren Zahl nach seiner Amtsentlassung im Jahr 1890 schnell auf 700 anwuchs, machten sich vor allem die 300 Bismarck-Vereine und der Deutsche Studentenbund stark, welche in der Folgezeit wiederholt dazu aufriefen, für den „trutzigen Gründer und Hüter“ des ersten deutschen Nationalstaats möglichst viele respektheischende BismarckTürme zu errichten oder zumindest Bismarck-Säulen aufzustellen. Dieselbe prussifizierende Absicht lag den unzähligen Kaisergeburtstagsfesten, Regierungsjubiläen sowie dem jeweils am 2. September als 168  Bismarcks Reichsnation

Nationalfeiertag stattfindenden Sedanfest zugrunde. Bei den dort gehaltenen Reden wurde zwischen den Begriffen „Monarchie“ und „Nation“ meist kein besonders klarer Grenzstrich gezogen. Demzufolge verschmolzen in der Festrhetorik derartiger Feiern die Vorstellungen von Einheit, Größe und Macht häufig zu einem kaum auseinander zu dividierenden Gesamtkomplex, der gerade wegen seiner ideologischen Unklarheit breite bürgerliche Schichten zu einer steigenden Identifikation mit der neuen Kaiser- und Kanzlerherrschaft bewegte, ja geradezu hinriß. Und daraus ergab sich jene unheilvolle Spaltung in chauvinistische Überheblichkeit und servile Gehorsamspflicht, deren Vertreter, wie es später Heinrich Mann in seinem Roman Der Untertan (1918) in aller Schärfe verurteilt hat, nach oben dienerten und nach unten trampelten. Vom demokratischen Liberalismus der Achtundvierziger Revolution blieb deshalb in diesen Schichten nicht viel übrig. Falls überhaupt noch davon gesprochen wurde, stellte sich jetzt meist die abschätzige Formel vom „tollen Jahr“ ein. Im Gefolge dieser politischen Reorientierungen schrieb beispielsweise ein ehemals progressiv gesinnter Vormärzler wie Victor Hehn im Jahr 1880 mit zeittypischer Arroganz: „Vor 40 Jahren war der stumpfen Masse gegenüber jeder reichere, umfassender gebildete Geist liberal; jetzt ist jede tiefe und vornehme Natur konservativ und überläßt den ‚Fortschritt‘ den Männern von der Bierbank.“ Zugegeben, es gab auch in den siebziger und achtziger Jahren noch einige Fortschrittler und Freisinnige, aber selbst sie zogen sich häufig in jene gesellschaftlichen Enklaven zurück, die Thomas Mann nach 1900 als die Bereiche der „machtgeschützten Innerlichkeit“ charakterisierte, oder gaben ihr bisheriges Ressentiment gegen den autokratischen Regierungsstil Bismarcks allmählich auf und liefen schließlich – außer jenen, die sich später in der Fortschrittlichen Volkspartei zusammenschlossen – zu den Rechtsliberalen oder Deutschkonservativen über.

III Um es auf den Punkt zu bringen: die ideologische Orientierung des gründerzeitlichen Bürgertums basierte mehrheitlich auf den von Wilhelm I. und Bismarck ausgegebenen Parolen. Daraus ergab sich, wie gesagt, ein Bekenntnis zum Kriegerischen, ein Kaiser- und Kanzlerkult Bismarcks Reichsnation   169

sowie ein Nationalismus, bei dem die lange Zeit unterdrückte Sehnsucht nach einem deutschen Einheitsstaat zusehens ins Chauvinistische pervertierte. Im Gegensatz zu den Befreiungskriegern und den Achtundvierzigern, obwohl auch sie weitgehend aus dem Bürgertum stammten, war daher in den Verlautbarungen der gründerzeitlichen Nationalliberalen vom „gemeinen Volk“ fast nirgends mehr die Rede. Als daher Bismarck 1873 in einer Reichsttagsrede die Forderungen der „sogenannten Volksrechtler“ als „deklamatorische Redensarten“ abtat, fand das durchaus ihre Zustimmung. Überhaupt begannen sich die bürger­ lichen Oberschichten nach der Reichsgründung unter dem Motto „Handarbeit schändet“ immer stärker von den Unterschichten zu distanzieren. In Angleichung an den aristokratischen Ehrenkodex, wie etwa in der Übernahme des Duellwesens, versuchten sie sich ebenfalls als Mitglieder der wilhelminischen Führungsschichten auszugeben und waren stolz darauf, wenn sie in den Adelsstand erhoben wurden und sich „von Schulze“ nennen durften oder auf ihren Visitenkarten hinter ihren Namen wenigstens die Auszeichnung „Leutnant a. D.“ setzen konnten. Allerdings gab es außer jenen Bürgervertretern, welche sich bemühten, diesen gesellschaftlichen Status durch finanzielle Bereicherung bzw. wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen zu erringen, auch solche, die neben derartigen Erhöhungsbemühungen auch gewisse gesamtvölkische Konzepte nicht verschmähten. Schließlich war der Begriff „Nation“ – genauer besehen – ohne eine Bezugnahme auf das dahinterstehende Volk kaum zu rechtfertigen. Um sich dabei von der ständig anwachsenden Masse der Industriearbeiter und Bedienstetenschichten abzusetzen, griff deshalb eine Reihe gründerzeitlicher Ideologen in dieser Hinsicht wieder einmal in die Rumpelkammer der älteren, von germanophilen Vorstellungen beeinflußten Geschichtsforschung zurück. Indem sie auf heroisierende Weise von den alten Germanen sprachen, glaubten sie, ein nationales Leitbild beschwören zu können, das schon wegen seiner historischen Distanz eine verehrungswürdige Patina angesetzt habe und in seiner taciteischen Version besonders gut in die Vorstellung des deutschen Volks als einer Nation von Kriegern passen würde, was abermals zu einer merklichen Aufwertung der Cherusker, Franken, Sachsen, Burgunder und anderer „teutonischer“ Stammesverbände als den Vertretern einer deutschen „Urrasse“ beitrug. 170  Bismarcks Reichsnation

26 Mannengruppe bei der Uraufführung von Richard Wagners Götterdämmerung in Bayreuth (1876)

Doch bezeichnenderweise waren es häufig gar nicht die Germanen schlechthin, welche derartige Autoren glorifizierten, sondern fast ausschließlich Siegfried den Drachentöter oder Hermann den Cherusker, also ihre Führergestalten, die sie als „Starke von oben“ direkt neben Bismarck stellten. Während dabei viele Bildungsbürger – aus kulturästhetischen Gründen – eher für jene Siegfried-Figur schwärmten, die 1876 bei der Eröffnung des Bayreuther Operntempels in Richard Wagners Der Ring des Nibelungen im Zentrum stand und die noch Wilhelm Dilthey als die „wahrste Verkörperung des deutschen Heldentums“ pries, konnten die gründerzeitlichen Führungsschichten mit dieser Oper, die keinen direkten Bezug zur bismarckschen Reichsgründung hatte und obendrein in der Figur des scheiternden Wotans so gar nicht in den forcierten Fortschrittsoptimismus dieser Ära paßte, nur wenig anfangen. Ihr historisches Leitbild war eher der Cheruskerfürst Hermann, der im Jahr 9 nach unserer Zeitrechnung den römischen Legionen, sprich: den „Welschen“, eine entscheidende Niederlage beigebracht hatte. Der Krieg der Cherusker und anderer germanischer Stämme gegen Rom wurde daher Bismarcks Reichsnation   171

immer wieder in eine direkte oder indirekte Analogie zu dem Krieg der Preußen und anderer deutscher Staaten gegen Frankreich gesetzt. Schließlich sei damals, wie sie behaupteten, der nationale Gründungsakt ebenfalls aus einer militärischen Aktion hervorgegangen. Aufgrund dieser Einstellung war Kaiser Wilhelm I. einer der wichtigsten Förderer des Bildhauers Ernst von Bandel, dem er schon in den späten sechziger Jahren finanziell unter die Arme gegriffen hatte, um sein überdimensionales Hermann-Denkmal bei Detmold fertigstellen zu können. Dem neuen Kaiser war sicher bekannt, daß Bandel, der ursprünglich die großdeutsche Sache unterstützt hatte, nach der Schlacht bei Königgrätz, wie so viele ehemalige Liberale, auf die preußisch-kleindeutsche Linie eingeschwenkt war. Aufgrund dieses Gesinnungswandels zögerte deshalb Bandel nach 1871 keineswegs, Hermann den Cherusker, den „Retter Germaniens“ auf einem bronzenen Porträtrelief mit Wilhelm I., dem Gründer des Zweiten Kaiserreichs, gleichzusetzen, dessen Heroismus er in folgenden Zeilen herausstrich: „Der lang getrennte Stämme vereint mit starker Hand, / Der welsche Macht und Tücke überwand, / Der längst verlorne Söhne heimgeführt zum deutschen Reich. / Armin, dem Retter, ist er gleich.“ In den siebziger Jahren fanden daher neben diesem Denkmal mehrfach Sedanfeiern statt, bei denen die schwarz-weiß-rote Fahne gehißt und die Wacht am Rhein angestimmt wurde. Zu ähnlichen Vergleichen oder zumindest Analogien kam es im gleichen Zeitraum bei Aufführungen der Kleistschen Hermannsschlacht. Dieser Dichter, der lange Zeit als ein „pathologischer Fall“ gegolten hatte, erhielt dadurch immer stärker den Rang eines „preußischen Klassikers“, wofür sich vor allem Wilhelm Scherer einsetzte, der 1877 – im Jahr des Kleist-Jubiläums – als wichtigster deutschnationaler Germanist auf den Berliner Lehrstuhl berufen wurde. Doch nicht nur Hermann der Cherusker, auch andere Germanenkönige wurden in der Gründerzeit gern als Reichsgründer oder zumindest als vorbildliche Führernaturen hingestellt. So widmete etwa Felix Dahn seinen Germanenroman Die Bataver (1890) mit aufdringlicher Servilität „Otto dem Großen, dem Fürsten Bismarck“. In seinem Drama Markgraf Rüdiger von Bechelaren (1875) verherrlichte er Dietrich von Bern, der im Verlauf der Handlung die germanische Uneinigkeit überwindet, den Hunnenkönig Etzel zum Rückzug zwingt und alles Volk „mit goldenem Haar und blauem Aug“ zu einem neuen Weltreich zusammen172  Bismarcks Reichsnation

27 H. Lüdery: König Wilhelm I. besucht Ernst von Bandel. Illustration in der Zeitschrift Daheim vom 31. Juli 1869

Bismarcks Reichsnation   173

schweißt. Ein anschließender Festakt im Spiegelsaal zu Versailles hätte bei einer Aufführung dieses Werks kaum anachronistisch gewirkt. Ebenso deutlich stellte Dahn die gleiche ideologische Zielsetzung in seinem Drama Sühne (1879) heraus, wo sich vier Gaufürsten der Semnonen – nach vielen Zwistigkeiten – entscheiden, einen germanischen Einheitsstaat zu gründen. Nicht minder emphatisch charaktisierte Hermann Lingg das Germanische in seinen Vaterländischen Balladen und Gesängen (1869) als jenen Geist, mit dem „wir gemeinsam und in Einheit stark / Der Weg zur Macht uns und zur Größe bahnen“ werden. Ja, Wilhelm Jordan ließ in seinen Nibelungen (1867–1874), einem in Stabreimen gedichteten „Sang gewaltiger Helden“, keinen Zweifel daran aufkommen, daß die Germanen von allen europäischen Völkern das welthistorisch bedeutsamste sind, das nicht nur eine große Vergangenheit hat, sondern dem auch eine ebenso glorreiche Zukunft bevorsteht. Aufgrund dieser weitverbreiteten Germanenschwärmerei trat das bisher – im Gefolge Winckelmanns und Goethes – humanistisch verklärte Bild der griechisch-römischen Antike bei vielen gründerzeitlichen Autoren zusehends in den Hintergrund oder wurde, wie bei Nietzsche, mit gründerzeitlicher Emphase ins Gewaltbetonte, ja Kriegerische uminterpretiert. Anstelle friedenstiftender Iphigenien-Gestalten traten daher in ihren Werken von nun an eher Gotenkönige wie Alarich oder Theoderich der Große, und zwar nicht nur als machtbetonte Reichsgründer, sondern auch als Vorbilder einer neuen Staatsvorstellung, die sich durch eine untrennbare Symbiose von Führer und Volk auszeichnet. Indem die meisten Befürworter derartiger Anschauungen dabei „germanisch“ einfach mit „deutsch“ gleichsetzten, kam es vor allem im Schul- und Universitätswesen zu einer wesentlich stärkeren Betonung des bisher „sträflich vernachlässigten“ Nationalgeistes. Nicht nur, daß die gründerzeitlichen Regierungen in den siebziger und achtziger Jahren an den deutschen Universitäten überall germanistische Institute einrichten ließen, selbst im Gymnasialbereich wurde plötzlich ein wesentlich größerer Wert auf die Erlernung eines fremdwortarmen Deutsch und eine genauere Kenntnis der deutschen „Klassiker“ gelegt. Diese Tendenz erlebte einen ihrer ersten Höhepunkte in jener gegen die humanistische Verklärung der Antike gerichteten Rede Kaiser Wilhelm II., die dieser am 4. Dezember 1890 auf einer preußischen Schulkonferenz hielt, worin er erklärte: „Wir müssen als Grundlage das Deutsche nehmen, wir 174  Bismarcks Reichsnation

wollen nationale junge Deutsche erziehen, und nicht junge Griechen oder Römer.“ Kein Wunder, daß dadurch das zweibändige Werk Germania. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens, welches der Literaturhistoriker Johannes Scherr 1876–1878 herausgab, fast zu einem nationalen Hausbuch des gründerzeitlich gestimmten Bürgertums wurde.

IV Nicht minder eindeutig waren die ideologischen Feindbilder vieler gründerzeitlicher Politiker, Wissenschaftler und Schriftsteller. Auch das war kaum anders zu erwarten. Schließlich haben immer dann, wenn ein neuer Staat entsteht, seine jeweiligen Meinungsträgerschichten zu seiner politischen Legitimierung erst einmal versucht, all das auszugrenzen, was seine nationale Identität gefährden würde. Im späten 19. Jahrhundert, als der Nationalismus in Gesamteuropa ohnehin noch die allesbeherrschende Staatsideologie war, mußte das in dem durch einen bewußt provozierten Krieg entstandene Zweite Deutsche Kaiserreich zwangsläufig dazu führen, all jene, welche die eben errungene Einheit – ob nun in außen- oder innenpolitischer Hinsicht – in Frage stellen könnten, zu „Reichsfeinden“ zu erklären. Als der gefährlichste äußere Feind galt weiterhin das unter Napoleon I. und Napoleon III. zweimal militärisch besiegte Frankreich, zumal es in diesem Land – vor allem wegen des Verlusts von Elsaß-Lothringen – in der Folgezeit auf Betreiben des französischen Kriegsministers Georges Boulanger immer wieder zu unverhohlenen Revanchegelüsten kam. Um einen möglichen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Rußland zu vermeiden, schloß daher Bismarck im Jahr 1887 mit realpolitischem Geschick einen Rückversicherungsvertrag mit dem Zarenreich ab, der beide Staaten im Falle eines Krieges zur Neutralität verpflichtete. Aus dem gleichen Grund bemühte er sich um ein wesentlich verbessertes Verhältnis zu Österreich, was schließlich zum sogenannten Zweibundvertrag führte. Damit hatte Bismarck einige der außenpolitischen Gefahren, welche die Existenz des Deutschen Reichs gefährden könnten, erst einmal gebannt. Als wesentlich schwieriger erwies sich dagegen, die innenpolitischen Spannungen möglichst schnell aus der Welt zu schaffen, um den neu geschaffenen Staat in ein durchgehend nationalgestimmtes Reich zu Bismarcks Reichsnation   175

verwandeln. Zugegeben, Bismarck konnte sich bei derartigen Bemühungen auf eine starke Allianz von konservativ eingestellten Monarchisten und besitzbürgerlich orientierten Nationalliberalen stützen. Aber daneben gab es nicht nur nationale Minderheiten wie die Polen in Westpreußen, die Litauer und Masuren in Ostpreußen, die Dänen in Nordschleswig und die Franzosen in Elsaß-Lothringen, welche sich keineswegs als „Deutsche“ fühlten, sondern auch die weiterbestehenden antipreußischen Ressentiments in den süddeutschen Staaten, die auf Mitbestimmung drängenden Katholiken in den Rheinlanden, Bayern und Baden, die aus der älteren Arbeiterbewegung hervorgegangene Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht, die nach wie vor auf mehr demokratische Rechte pochenden Fortschrittler und Freisinnigen unter Eugen Richter sowie die sich erst allmählich assimilierenden deutschen Juden, deren wichtigste Sprecher ebenfalls für eine in die gesellschaftliche Praxis eingreifende Liberalisierung der bestehenden Rechtsordnung eintraten. Was Bismarck fast allen diesen Gruppen, die er wiederholt mit unverhohlener Entschiedenheit als „Reichsfeinde“ bezeichnete, entgegensetzte, war ein auf massive Integration bedachtes autokratisches Staatskonzept preußisch-protestantischer Prägung, das er mit sämtlichen ihm zur Verfügung stehenden gesetzlichen Druckmitteln, ja sogar mit Staatsstreichdrohungen durchzusetzen versuchte. Die erste Gruppe, die er sich dabei aufs Korn nahm, war die sich zu katholischen Wertvorstellungen bekennende Zentrumspartei unter Ludwig Windthorst, die auf eine stärkere Berücksichtigung der föderalistischen Struktur des neuen Reichs bestand, um damit der katholischen Kirche in den Rheinlanden, Bayern und Baden ein größeres Einspruchsrecht zu gewährleisten. Gegen sie entfesselte Bismarck – als Befürworter eines „evangelischen Kaistertums“ – bereits 1871 den sogenannten Kulturkampf, der vor allem durch das 1870 von Papst Pius IX. verkündete Unfehlbarkeitsdogma ausgelöst wurde, welches das deutsche Episkopat stärker als bisher der Oberhoheit der römischen Kurie unterstellte. Bismarck nannte darum die Vertreter der Zentrumspartei, die diese Entscheidung begrüßt hatten, kurzentschlossen die „Ultramontanen“, welche ihre höchste Autorität nicht in der preußischen Staatsführung, sondern im Vatikan sähen. Deshalb setzte er schon im Dezember 1871 den sogenannten Kanzelparagraphen durch, der allen katholischen Geistlichen verbot, 176  Bismarcks Reichsnation

sich in der Öffentlichkeit in politische Angelegenheiten einzumischen. Was folgte, waren das Schulaufsichtsgesetz, das Jesuitenverbot, die Einführung der Zivilehe sowie das Klostergesetz, die zu einer erheblichen Schwächung des Einflusses der katholischen Kirche führten, auf welche der katholische Böttchergeselle Eduard Kullmann 1874 mit einem Attentat auf Bismarck reagierte, bei dem er allerdings diesen nur leicht verletzte. Die meisten preußisch gesinnten Schriftsteller begrüßten jedoch die von Bismarck durchgesetzten Maßnahmen gegen jene sich widerspenstisch gebenden Katholiken, welche die Berliner National-Zeitung eine „schwarze Schar vaterlandsloser Römlinge“ nannte. Dafür sprechen all jene Romane, Kleinepen, Novellen und Dramen, die Ludwig Anzengruber, Wilhelm Busch, Paul Heyse, Heinrich Leuthold, Conrad Ferdinand Meyer, Oskar von Redwitz und Adolf Friedrich Graf von Schack in den siebziger Jahren publizierten, in denen sie die katholischen Heiligen und papistischen Priester auf eine Weise angriffen, in der jede andere Zeit nach dem Ketzerrichter oder Staatsanwalt gerufen hätte. Auf eine besonders prägnante Weise brachte Eduard Griesebach diese kulturkämpferische Absicht in seinem Tannhäuser in Rom (1875) zum Ausdruck, wo es an einer Stelle heißt: „Deutschland gehorcht nur einem Herrn, / Dem Sohn des Zollern dient es gern, / Wie es den Staufen untertan, / Doch Fluch dem Knecht des Vatikan! / Fluch jenen welschen Seelen allen, / Die von dem Kaiser abgefallen! / Die Seelen ohne Vaterland, / Sie sei’n aus deutschem Land verbannt.“ Aufgrund der Fülle derartiger Äußerungen fühlte sich Bismarck durchaus berechtigt, in dieser Hinsicht so scharf wie möglich durchzugreifen. Erst nachdem er zahlreiche katholische Bischöfe und Geistliche, die sich seinen Anordnungen widersetzten, zu Haftstrafen verurteilen ließ, lenkte er auf Wunsch Wilhelm I., der ihm erklärte „Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben“, 1878 schließlich ein und erließ ab 1880 eine Reihe von Milderungsgesetzen, durch die den katholischen Geistlichen ihre vorherige Eidesleistung auf die preußischen Staatsgesetze erlassen wurde, was eine merkliche Entspannung der zeitweilig äußerst brisanten Konfliktsituation zwischen Staat und katholischer Kirche bewirkte. Noch schärfer wandte sich Bismarck gegen die im Osten Deutschlands lebenden Polen, welche rund 10 Prozent der preußischen Bevölkerung bildeten, die er wegen der dort herrschenden katholischen und Bismarcks Reichsnation   177

28 Friedrich Emil Klein: Bismarck verkündet 1878 das Sozialistengesetz im deutschen Reichstag (1909). Friedrichsruh, Bismarck-Museum

nationalpolnischen Ressentiments ebenfalls als „Reichsfeinde“ einstufte. Sie hätte Bismarck, wie er 1861 mit ungezügeltem Haß erklärte, am liebsten „ausgerottet“. In diesen Gebieten wurde darum bereits 1873 das Deutsche als alleinige Volksschulsprache durchgesetzt. Am 26. April 1886 gründete die Reichsregierung auf seinen Wunsch außerdem in den dortigen Landesteilen, das heißt in Westpreußen und der Provinz Posen, eine mit hundert Millionen Reichsmark ausgestattete Staatskommission 178  Bismarcks Reichsnation

zum Ankauf von Land zugunsten deutscher Bauern, um damit jene verstärkte „Germanisierung des Bodens“ durchzuführen, für die sich Paul de Lagarde mit chauvinistischem Eifer schon 1875 eingesetzt hatte. Ja, der am 3. November 1894 in Posen gegründete Ostmarkenverein drängte sogar auf eine Umsiedlung oder Ausweisung der dort lebenden „subgermanischen“ Polen, um damit Freiräume für deutsche Siedler zu schaffen und somit, wie es hieß, einen „Wall gegen die slawische Flut“ zu errichten. Etwas milder, aber nicht viel anders verfuhren die von Bismarck eingesetzten Behörden zum Teil mit den in Nordschleswig lebenden Dänen, den Litauern und Masuren in Ostpreußen sowie der französisch sprechenden Bevölkerung in Elsaß-Lothringen. So viel zu den antikatholischen und ethnischen Maßnahmen, mit denen Bismarck seine ihm notwendig erscheinenden nationalen Integrationsbemühungen zu befördern suchte. Doch nicht nur in den Ultramontanen und nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen sah Bismarck die innere Einheit „seines“ Staates bedrohende „Reichsfeinde“, auch die durch die rapide Industrialisierung schnell anwachsende Arbeiterbewegung, welche sich in der Sozialdemokratie ihr wichtigstes Sprachrohr geschaffen hatte, erschien ihm als „staatsgefährdend“. Schon daß sich die Anhänger der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), diese „Mörder und Mordbrenner“, diese „Ratten im Lande“ bzw. diese „bedrohliche Räuberbande“, wie er sich ausdrückte, gegen den deutsch-französischen Krieg ausgesprochen und sich obendrein der II. Internationale der europäischen Arbeiterparteien angeschlossen hatten, empfand er als nicht zu duldende Affronthandlungen gegen seine auf nationale Vereinheitlichung bedachte Politik. Als daher 1878 ein relativ unbekannter Anarchist ein Attentat auf Kaiser Wilhelm I. verübte, ergriff Bismarck – zumal er zwischen Anarchisten und Sozialdemokraten ohnehin keinen Unterschied machte – diese Chance, um jene gegen die „gemeingefährlichen Bestrebungen“ der SAP gerichteten Antisozialistengesetze zu erlassen, welche diese Partei unter Polizeiaufsicht stellte, ihr jegliche Publikations- und Versammlungstätigkeit untersagte und gegen ihre Hauptvertreter immer wieder Geld- und Gefängnisstrafen verhängte. Erst als es 1890 zur Aufhebung der von Bismarck verfügten Antisozialistengesetze kam, entschärfte sich das äußerst gespannte Verhältnis zwischen der Reichsregierung und der inzwischen in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umbenannten SAP etwas, zumal diese Partei Bismarcks Reichsnation   179

danach einen evolutionären Kurs einschlug, den Eduard Bernstein, einer ihrer wichtigsten Sprecher, in die Formel faßte, daß die deutschen Arbeiter in Zukunft sowohl das „Klasseninteresse als auch das nationale Interesse gleich entschieden wahrnehmen“ sollten. Dennoch ließen später Kaiser Wilhelm II. und der 1904 gegründete Reichsverband gegen die Sozialdemokratie, der vor allem von den ostelbischen Junkern und der Großindustrie finanziert wurde, nicht nach, die Sozialdemokraten weiterhin als „vaterlandslose Gesellen“ hinzustellen, die keine „Treue zu Kaiser und Reich“ besäßen. Nicht ganz so scharf wie in Österreich wirkte sich dieser übersteigerte Nationalismus gegen die im Zweiten Kaiserreich lebenden Juden aus. Und doch kam es auch hier zu Erscheinungen, die in ihren antisemitischen Ausdrucksformen bereits unverkennbar präfaschistische Züge aufwiesen. Obwohl durch die Reichsverfassung von 1871 alle jüdischen Einwohner zu rechtlich gleichgestellten Bürgern des deutschen Nationalstaates geworden waren, traten im Zuge des ständig neu angeheizten Chauvinismus der siebziger und achtziger Jahre immer wieder reaktionär eingestellte Professoren und Publizisten wie Hermann Ahlwardt, Eugen Dühring, Paul de Lagarde, Friedrich Lange, Wilhelm Marr oder auch führende Nationalliberale wie Heinrich von Treitschke auf, die in ihren antisemitischen Warnschriften denen sie Titel wie Der Sieg des Judentum über das Germanentum, Die Judenfrage als Rassen-, Sitten-, und Kulturfrage, Die Judenfrage als Frage des Rassencharakters und seiner Schädlichkeit für die Existenz und Kultur der Völker oder Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum gaben, in Juden und Germanen einen nicht zu überbrückenden Gegensatz sahen. Während der ältere Antisemitismus vor allem religiöse Gründe gehabt hatte, traten jetzt bei solchen Erklärungen eher kommerzielle und rassistische Vorstellungen in den Vordergrund, mit denen derartige Autoren und ihre Anhänger die Ausgrenzung der Juden aus dem deutschen Reichsverband zu rechtfertigen suchten. Ihre politische Ausprägung erlebte diese Form des Antisemitismus erstmals in der 1878 auftretenden ChristlichSozialen Arbeiterpartei Adolf Stöckers, auf die nach 1881 die Gründung eine Reihe weiterer antisemitischer Parteien oder Vereine erfolgte, und zwar des Deutschen Volksvereins unter Bernhard Förster und Max Liebermann von Sonnenberg, der Sozialen Reichspartei unter Ernst Henrici, des Leipziger Reformvereins unter Theodor Fritsch und der Antise180  Bismarcks Reichsnation

mitischen Volkspartei unter Otto Böckel, die sich – in Konkurrenz zu den „vaterlandslosen“ Sozialdemokraten – zumeist an die unteren Bevölkerungsschichten wandten, um diese für eine deutschnationale Reichsgesinnung zu gewinnen. Und zwar taten sie das, indem sie den Juden einen kapitalistischen Wucher- und Mammonsgeist vorwarfen, der zu der 1873 erfolgten Wirtschaftskrise sowie der darauffolgenden ökonomischen Depression geführt habe. Aufgrund dieser Propaganda kam es kurz nach 1890 sogar zu pogromartigen Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte in Berlin, die erst wieder nachließen, als gegen Mitte der neunziger Jahre ein wirtschaftlicher Aufschwung einsetzte, durch den das neue Reich binnen zweier Jahrzehnte in der Rangliste der führenden Industrienationen der Welt – nach den USA – den zweiten Platz einnehmen konnte. Daher blieb die Zahl derer, die nach 1900 bei den jeweiligen Wahlen für die genannten antisemitischen Parteien oder die aus ihren Spaltungen hervorgehenden Vereinigungen stimmten, stets unter 300 000. Und so bewahrheitete sich in spätwilhelminischer Zeit wieder einmal ein oft zu beobachtender Vorgang: Während in ökonomischen Krisenzeiten die Schuld an der herrschenden Misere gern irgendwelchen internen Sündenböcken gegeben wird, verlagert sich in Hochkonjunkturperioden – auf der Suche nach neuen Rohstoffquellen und zugleich neuen Absatzmärkten – die nationale Militanz meist nach außen. Und das kam um 1900 nicht nur den sich dieser Entwicklungsphase anpassenden Sozialdemokraten, sondern auch den sich immer stärker assimilierenden Juden zugute, welche sich sowohl politisch als auch kulturell auf die gegebenen Verhältnisse einzustimmen versuchten und in dem von ihrer Mehrheit unterstützten Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens durchaus „reichsverbunden“ auftraten. Das bewahrte sie zwar nicht vor vereinzelten antisemitischen Ausfällen, die allerdings nach der Jahrhundertwende nicht mehr so aggressiv ausfielen wie in der gründerzeitlichen Anfangsphase des Zweiten Kaiserreichs. Deshalb gaben sich die meisten deutschen Juden zwischen 1895 und 1914 der trügerischen Illusion hin, in einem Rechts- und Kulturstaat zu leben, in dem sie sich eher geborgen fühlten, als in den von ihnen – im Gefolge von Karl Emil Franzos – als „Halbasien“ empfundenen osteuropäischen Gebieten, wo es in den achtziger und neunziger Jahren zu blutigen Pogromen gekommen war. Also verzichteten sie mehrheitlich auf ihre bisherigen religiBismarcks Reichsnation   181

ösen Überzeugungen, versuchten sich deutschklingende Namen zu geben, gingen Mischehen ein oder schlossen sich jüdischen Reformsyna­ gogen an, in denen nur noch deutsch, aber nicht mehr jiddisch oder hebräisch gesprochen wurde. Wie wenig ihnen all das nützen würde, auch in der Folgezeit als vollgültige Staatsbürger anerkannt zu werden, war vielen deutschen Juden zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich bewußt und erwies sich erst später als eine der bittersten Täuschungen innerhalb der an vielen verlorenen Illusionen so überreichen deutschen Geschichte.

182  Bismarcks Reichsnation

Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich

I Trotz der chauvinistischen Begeisterung, die 1871 nach dem militärischen Sieg über Frankreich in weiten Schichten der deutschen Bevölkerung herrschte, kam es, wie gesagt, in dem durch Bismarck gegründeten Zweiten Kaiserreich keineswegs über Nacht zu einer einheitlichen Reichsgesinnung. Schließlich war dieser Staat weder jene von vielen Vormärzlern und Achtundvierzigern erträumte Deutsche Demokratische Republik noch jene konstitutionelle Monarchie, in denen die obrigkeitlichen Organe auch dem Bürgertum eine mitbestimmende Verfügungsgewalt eingeräumt hätten. Es gab zwar einen „frei, geheim und allgemein“ gewählten Reichstag, aber die politische Souveränität lag nicht in den Händen der Vertreter von Besitz und Bildung, sondern weiterhin in den Händen der Fürsten und den mit ihnen liierten Adelsschichten. Dafür sorgte vor allem die Machtstellung, die nach der neuen Verfassung dem Kaiser und dem Kanzler zufiel. Und so folgte, nachdem die erste Begeisterungswelle über den frisch errungenen Sieg über den Erzfeind Frankreich und die spektakuläre Gründung des Zweiten Kaiserreichs wieder abebbte, innerhalb jener Schichten, die mehr wollten als eine kleindeutsche Reichsnation, allmählich eine Periode der Ernüchterung, in der immer wieder die gleiche Frage auftauchte, ob dieses neue Reich, das als Hohenzollernreich in Analogie zur Hohenstauferära konzipiert worden war, wirklich die Erfüllung jenes Traums sei, den sowohl die handelstreibenden Mittelschichten als auch die Bildungsbürger lange Zeit als ihren vordringlichsten empfunden hatten. Noch am zufriedensten mit dem neuen Reich waren anfänglich jene neureichen Bevölkerungsteile, die bereits in den fünfziger und sechziger Jahren, wie Ludwig von Rochau in seinen Grundsätzen der Realpolitik (1853), der Idee eines demokratischen „Volksstaats“ abgeschworen hatten und zu den politisch ernüchterten Pragmatikern übergelaufen waren. Angesichts der kläglichen Niederlage der Revolution von 1848/49 hielVölkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich  183

ten diese Schichten nichts mehr von hochgespannten republikanischen Hoffnungen, sondern sympathisierten – vor allem in Preußen, aber auch in anderen deutschen Staaten – immer stärker mit jener Nationalliberalen Partei, die sich nicht mehr als eine alle Schichten der Bevölkerung umfassende Volkspartei, sondern als eine spezifisch besitzbürgerliche Partei verstand. „Im Lichte unserer Erfahrungen“, wie es jetzt hieß, hatten sich die maßgeblichen Sprecher dieser Partei seit 1866 in aller Entschiedenheit von der in der Märzrevolution aufgetauchten Gefahr einer „Pöbelrevolte“ distanziert und einen realpolitischen Kompromiß mit der herrschenden preußischen Aristokratie geschlossen, um so an der Herbeiführung eines Reiches mitzuwirken, in dem der deutschen Bourgeoisie wenigstens in den Bereichen Besitz und Bildung gewisse Mitbestimmungsrechte eingeräumt würden. Doch selbst die Reichsbegeisterung dieser Schichten hielt nicht lange an, da Bismarck sein in den späten sechziger Jahren mit den Nationalliberalen eingegangenes Zweckbündnis nach 1871 allmählich lockerte und schließlich 1878 in aller Offenheit zu den Konservativen überging. Danach brach diese Partei, die vornehmlich wirtschaftliche und kulturelle Interessen vertrat, aber aufgrund ihrer klassenkom­ promißlerischen Haltung in Sachen „Politik“ keine neuen Fortschrittskonzepte mehr entwickelte, schnell auseinander. Auf der einen Seite standen jetzt Gruppen, die sich weiterhin als Fortschritts- oder Freisinnsparteien ausgaben, auf der anderen die sich den adligen Führungsschichten anschließenden Vertreter des rechten Flügels der Nationalliberalen. Beide dieser Gruppen fanden in der offiziellen Politik des Bismarcks-Reichs und der auf sie folgenden wilhelminischen Ära kein wirkliches Genügen. Die einen verlangten mehr soziales Mitgefühl, ja sympathisierten auf ihrem linken Flügel sogar mit den von der politischen Macht ausgeschlossenen unteren Bevölkerungsschichten, die anderen wollten mehr Rücksichtslosigkeit auf ökonomischer Ebene, indem sie einen Annexionismus befürworteten, der weit über die außenpolitischen Ambitionen der Bismarckschen Politik hinausging. Daher waren beide Fraktionen mit den tagespolitischen Ereignissen zwar unzufrieden, entwickelten jedoch aufgrund ihrer unentschiedenen Mittelstellung zwischen Aristokratie und Proletariat keine spezifisch liberal gefärbten Reichsvorstellungen mehr, die im Wunschbild einer deutschen Republik kulminiert hätten. 184  Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich

Ebenso unzufrieden mit dem neuen Reich waren, wie bereits ausgeführt, die in der Zentrumspartei vertretenen katholischen Bevölkerungsteile sowie das von der Sozialistischen Arbeiterpartei vertretene Proletariat, das im Zuge der rapiden Industrialisierung der fünfziger und sechziger Jahre numerisch immer größer geworden war und unter der nach 1873 einsetzenden wirtschaftlichen Depression besonders zu leiden hatte. Beiden trat Bismarck mit einer von ihm als „reichspatriotisch“ gerechtfertigten Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“ entgegen, indem er nach dem hart durchgeführten „Kulturkampf “ gegen die Katholiken einige Milderungsgesetze erließ, während er die Parolen der Sozialdemokratie mit einer patriarchalisch gehandhabten Sozialgesetzgebung zu unterlaufen versuchte. Und wie von ihm erhofft, führten diese zwei Taktiken zu einer vorübergehenden Beruhigung der reichsinternen Verhältnisse. Doch eine wirkliche Entspannung auf innen- und sozialpolitischer Ebene trat erst nach seiner Entlassung im Jahr 1890 ein, als sich die ökonomische Situation merklich verbesserte und schließlich eine Hochkunjunktur ersten Ranges einsetzte, durch die Deutschland in den folgenden zwei Jahrzehnten zur zweitstärksten Industriemacht der Welt aufstieg und bereits ein Fünftel seiner Industrieprodukte mit erheblichem Gewinn zu exportieren begann. All das bewirkte, wie immer in solchen Konjunkturperioden, eine relativ „sozialfriedliche“ Stimmung. Selbst viele der Sozialdemokraten, die bis dahin revolutionär eingestellt waren, begnügten sich nach 1890 zusehends mit einem evolutionär eingestellten Revisionismus, das heißt gaben sich mit jenem „Stück vom großen Kuchen“ zufrieden, welches auf Grund dieser Entwicklung auch für die deutsche Arbeiterklasse abfiel.

II Doch gerade der rapide wirtschaftliche Aufschwung seit den frühen neunziger Jahren setzte eine ideologische Dialektik in Gang, die sich für die Hauptvertreter der wilhelminischen Politik nicht nur günstig auswirkte, sondern auch zu neuen, bis dahin noch ungeahnten Gegenpositionen führte. So kam es zwar einerseits durch die ökonomische Hochkonjunktur innerhalb weiter Kreise der deutschen Bourgeoisie zu einem unverhohlenen Stolz auf die Stärke und Bedeutung des neuen Reiches, Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich  185

der sich in einer hurrapatriotischen Bejahung der imperialistischen Politik Wilhelm II. äußerte, andererseits verführte jedoch diese neue Stärke manche Vertreter der bürgerlichen Schichten auch zu einer Überschätzung der politischen Möglichkeiten des Zweiten Kaiserreichs, die rasch ins Utopistische, ja geradezu Wahnhafte eskalierte. Neben jenen Hurrapatrioten, welche sich lediglich für eine Verstärkung der Armee, einen Ausbau der Kriegsmarine sowie eine gewaltbetonte Kolonialpolitik in Afrika und der Südsee einsetzten, traten daher im gleichen Zeitraum auch von grandiosen staatspolitischen Gegenentwürfen besessene Führernaturen auf, die mehr, wesentlich mehr als nur eine Verstärkung der im Bismarck-Reich vorgegebenen Tendenzen ins Nationalistische wollten. Während also die patriotisch Gestimmten vornehmlich in den frühen neunziger Jahren gegründete Organisationen wie den Verein der Deutschen im Ausland, den Deutschen Kriegerverein, den WehrkraftVerein, den Deutschen Ostmarkenverein und den von Friedrich Lange angeführten Deutschbund unterstützten, riefen manche der zusehends aggressiver auftretenden Gruppen dieser Ära, wie der Deutschnationale Flottenverein, die Deutsche Kolonialgesellschaft sowie der Alldeutsche Verband unter Heinrich Claß, Ernst Hasse, Emil Kirdorf und Carl Peters immer nachdrücklicher dazu auf, in dem neugegründeten Reich nicht nur ein zentraleuropäisches Staatsgebilde zu sehen, sondern endlich daran zu gehen, ihm eine seiner Größe und Bedeutsamkeit entsprechende ökonomische und politische Weltmachtstellung zu verleihen. Die ideologischen Zielsetzungen der hurrapatriotisch eingestellten Kreise waren so eindeutig, daß es kaum nötig ist, detailliert darauf einzugehen. In ihren Reihen herrschte ein bedenkenloser Nationalismus, der sich vor allem auf die militärische Stärke des neuen Reiches stützte. Hier rasselte man mit deutschbetontem Übermut ständig mit dem Säbel, stimmte Lieder wie Heil Dir im Siegerkranz oder Es braust ein Ruf wie Donnerhall an und blickte zugleich verächtlich auf die 1870/71 gedemütigten, ja als dekadent empfundenen Franzosen herunter. Allerdings läßt sich selbst im Rahmen dieser Haltung beim Übergang von den achtziger zu den neunziger Jahren eine allmähliche Verschiebung ins Chauvinistisch-Auftrumpfende beobachten. Während unter Bismarck noch ein weitgehend „saturierter“, das heißt nach innen gekehrter Nationalismus geherrscht hatte, nahm im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs der Folgezeit sogar in diesen Schichten der maßlos aufgeputschte Stolz 186  Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich

29 Max Johann Bernhart Koner: Kaiser Wilhelm II. (1890). Kriegsverlust

Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich  187

auf das neue Kaiserreich zusehends ins Arrogante gesteigerte Züge an, die Wilhelm II. ständig mit Parolen wie „Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen“ oder „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ anzuheizen versuchte. Doch selbst eine derartige Stimmungsmache reichte manchen der von wesentlich „höheren“ Ambitionen besessenen Führernaturen der neunziger Jahre keineswegs aus. Ihnen ging es nicht nur um einen ins Kraftstrotzende veräußerlichten Hohenzollernkult, sondern um eine Reichsvorstellung, die in indirekter Identifikation mit der Großmannssucht der neureichen Industrieverbände immer stärker ins Besitzgierige, Selbstherrliche, ja geradezu Wahnhaft-Imperialistische tendierte. Zu Anfang wurden dafür von einigen sozialdarwinistisch orientierten Vertretern dieser Richtung vornehmlich Friedrich Nietzsches Vorstellungen der Fernstenliebe, der Höherzüchtung des Menschen sowie des Durchbruchs neuer Vitalkräfte aufgeboten, wobei manche, wie Alfred Ploetz und Wilhelm Schallmayer, selbst Konzepte wie Eugenik, Rassenhygiene und sogar Euthanasie nicht verschmähten, um so – in unverhohlener Frontstellung gegen die „abgelebten“ Fürsten- und Adelsschichten wie auch das biologisch „minderwertige“ Proletariat – die rassenbiologische Züchtung einer neuen Führungsschicht zu befördern. Im Rahmen dieser Gruppe machte vor allem Alexander Tille von sich reden, der in seinem Manifest Von Darwin zu Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik (1895), wie schon der Zarathustra-Dichter, alle „christlich-human-demokratischen“ Ideologien schärfstens verwarf und sich zu einer Auslese der Fähigsten im Sinne einer „Hebung ins Herrlichergestaltete“ bekannte. Statt einem libertären „Glücksutilitarismus“, das heißt einer auch die unteren Klassen einbeziehenden „Volksverbrüderung“ zu huldigen, trat Tille in diesem Buch energisch für das Recht der biologisch Stärkeren ein, die er in ideologischer Korrumpierung der bisherigen Nationalkonzepte einfach mit den „Edelmenschen“ unter den Deutschen gleichsetzte. Ja, er erklärte sogar, daß den rassisch, sprich: wirtschaftlich Stärkeren nicht nur das Recht auf Herrschaft über das eigene Volk, sondern auch das Recht auf „Eroberung“ fremder Länder sowie die „Ausrottung“ der dortigen Bevölkerung zustehe, um so die Menschheit vor einem Absinken ins Schwächliche und damit biologisch Minderwertige zu bewahren. Aufgrund solcher Thesen avancierte Tille, der seine Karriere als Germanistikdozent angefangen hatte, schließlich 188  Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich

zum Geschäftsführer und Syndikus mehrerer Industriellenverbände und bekannte sich immer offener zu einem ungezügelten Wirtschaftsannexionismus, für den das sozialdarwinistische Gedankengut nur noch ein Feigenblatt eines ins Maßlose gesteigerten Imperialismus war. Doch nicht nur Tille, auch andere Vertreter des Sozialdarwinismus stellten sich seit Anfang der neunziger Jahre immer offener in den Dienst einer von den Großindustriellen unterstützten Annexionspolitik, ja spielten sich zeitweilig geradezu als Gegner der wilhelminischen Reichspolitik auf, die ihnen als zu zahm, zu gemäßigt, zu saturiert erschien, um Deutschland – aufgrund seiner ökonomischen und wissenschaftlichen Großleistungen – endlich die ihm zustehende Weltmachtstellung zu verschaffen. Die militantesten Vertreter dieser Gruppe gingen sogar dazu über, im Zweiten Kaiserreich nur ein Zwischen- oder Interimsreich zu sehen, auf das in nicht allzu ferner Zukunft ein neues, alle diese Hoffnungen einlösendes Drittes Reich folgen müsse, um dem deutschen Volk endlich die Chance zu geben, alle anderen Völker politisch und wirtschaftlich zu überflügeln. Als die Haupthindernisse auf diesem Weg betrachteten die maßgeblichen Sprecher dieser Richtung einerseits die mit der Hohenzollerndynastie liierte Landjunkerelite, durch welche die deutsche Politik immer wieder in höchst traditionelle, kontinentaleuropäische Bahnen zurückgelenkt werde, andererseits jene „vaterlandslosen Gesellen“, welche sich unter dem Banner der Sozialdemokratie versammelt hätten und wegen ihrer anarchischen Aufmüpfigkeit, ihres hochverräterischen Internationalismus sowie ihrer minderwertigen Rassevoraussetzungen eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die großbürgerlichen Führungsschichten und die von ihnen erhoffte Weltmachtstellung der Deutschen seien. Was sie als politisches Leitziel ins Auge faßten, war nicht mehr jenes kleindeutsche Reich, das lediglich „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ reiche, von dem August Heinrich Hoffmann von Fallersleben in den frühen vierziger Jahren geträumt hatte, sondern ein Deutschland, das sich aufgrund seiner neuen Stärke auf alle Kontinente ausdehnen würde. Sie hielten sich demzufolge lieber an ein um 1900 von Arthur von Wallach verfaßtes Gedicht, das mit den Zeilen beginnt: „Wohlan, ein Gott, ein Volk, ein Reich, / Vom Kapland bis zum Friesendeich, / Von Argentiniens Weizenflur / Bis in die Wolganiederung nur! / Ein Deutschland ohne Schranken!“ Zur Rechtfertigung solcher Visionen wurde dabei vor Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich  189

allem von den Alldeutschen innerhalb dieser Richtung immer wieder jenes sozialdarwinistische Konzept herangezogen, nachdem der „Kampf ums Dasein“ die Grundlage aller gesunden Entwicklung und deshalb die „Pflicht zum Krieg“ eine geradezu biologischen Notwendigkeit sei, was Friedrich von Bernhardi schließlich 1912 in seinem vielbeachteten Buch Deutschland und der nächste Krieg in die Formel „Weltmacht oder Untergang“ kleidete.

III Die Traktate, Manifeste, Gedichte und Romane dieser Richtung, die sich gern als „Völkische Opposition“ ausgab, waren schon in den neunziger Jahren geradezu Legion. Um im Rahmen der in diesem Buch gesetzten Grenzen zu bleiben, sollen im Folgenden nur jene Schriften herausgegriffen werden, in denen dieser besitzbürgerliche Führungsanspruch in besonders deutlicher Form zum Ausdruck kam und schließlich in die Ideologie eines „großdeutschen“ Reichs überging. Wie unverhohlen dabei oft die Klassenperspektive des neureichen Bürgertums herausgestellt wurde, belegt selbst ein nur indirekt in diesen Zusammenhang gehörendes Pamphlet wie Sozialdemokratische Zukunftsbilder (1893) von Eugen Richter, eines als Kritiker Bismarcks bekannt gewordenen Repräsentanten der Fortschrittspartei, in dem dieser ein Bild Deutschlands entwarf, wo nach einer sozialdemokratischen Machtübernahme – gegen die sich das wilhelminische Regime als hilflos erweist – ein Zustand der „Anarchie und vollständigen Auflösung“ eintritt. Doch schon gegen Ende der neunziger Jahre ließen die Vertreter dieser Richtung bei solchen dystopischen Zukunftsbildern auf die schwarz in schwarz gemalten Untergänge bereits erste Visionen einer völkischen Wiedererweckung folgen. So wandte sich etwa der Nationalökonom Max Haushofer in seinem Zukunftsroman Planetenfeuer (1899) in Form einer apokalyptischen Bilderfolge gegen jene undeutschen, sprich: verwestlichenden Tendenzen innerhalb des wilhelminischen Reiches, die seiner Meinung nach eine fortschreitende Verkrüppelung aller kraftbetonten Urinstinkte der dort lebenden Menschen bewirkt hätten. Und zwar entwarf Haushofer in diesem Roman ein Bild Münchens im Jahr 1999, wo nach Jahrzehnten einer sozialliberalen Koalition, durch die 190  Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich

jede vitale Regung erstickt worden sei, eine in jeder Weise erschlaffte, drogensüchtige und gebärfaule Bevölkerung aufgrund einer planetarischen Katastrophe, die zu einem mörderischen Meteorregen führt, wieder einen Sinn für ins Heldenhafte zielende Instinkte bekommt. Die gesellschaftliche Perspektive geht dabei eindeutig von den bürgerlichen Oberschichten, den Edelmenschen und Volksführern, aus. Nur unter ihnen finden sich wahrhaft „national“ Denkende, während das niedere Volk, wie Friedrich Nietzsches „letzte Menschen“, in einem dumpfen Materialismus vor sich hinvegetiert. Es sind daher die „Ausnahmemenschen“, die am Schluß dieses Romans der allgemeinen Entnationalisierung, Entvolkung und „Versumpfung“ mit dem Rufe „Es lebe Deutschland und seine Zukunft“ entgegenzutreten versuchen. Als ein weiteres Beispiel dieser schleichenden Faschisierung ins Antisozialistische, Sozialdarwinistische und schließlich Rassistische innerhalb der Literatur der Völkischen Opposition vor 1914 sei auf Hanns Ludwig Roseggers Zukunftsroman Der Golfstrom (1913) hingewiesen, dem wie Haushofers Planetenfeuer das gleiche dystopische Katastrophenmodell zugrunde liegt. Auch hier werden als die Hauptgegner des wilhelminischen Reichs jene sich überall bildenden Arbeiterparteien hingestellt, die „den Kommunismus oder den Kollektivismus an die Stelle des Kapitals setzen wollen“, um so „die bestehende ökonomische und gesellschaftliche Ordnung zu Fall zu bringen“. Aufgrund dieser Entwicklung kommt es in diesem Roman schließlich zur Herrschaft jenes „lichtscheuen Gesindels“ aus den „untersten Schichten des Proletariats“, die sich nur mit Hilfe militärischer Einsatzgruppen wieder beseitigen läßt. Und auf diesen „politischen Reinigungsprozeß“ folgt dann, nach dem Hereinbrechen einer neuen Eiszeit, eine „biologisch-sozialdarwinistische“ Entbastardisierung des deutschen Volks, indem sich die Rassisch-Gestärkten entschließen, alle „Schwächeren und Schlechteren zu versklaven, wenn nicht gar auszutilgen“. Die Mehrheit dieser Romane versprach sich das kommende Heil bezeichnenderweise nicht von irgendeinem neuen Friedrich oder Wilhelm, sondern nur von einem völkisch legitimierten Führer, einem Starken von oben, einem germanischen Lykurg, der die Deutschen endlich in das gelobte Dritte Reich führen werde. Und zwar beriefen sich ihre Autoren hierbei gern auf Paul de Lagarde, der bereits 1876 in seinen Deutschen Schriften geschrieben hatte: „Nur eines Mannes großer, fester, Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich  191

reiner Wille kann uns helfen, nicht Parlamente, Gesetze, nicht das Streben machtloser Einzelner. Dieser Mann fehlt uns.“ Daher erschienen gerade in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, als es immer deutlicher wurde, daß Wilhelm II. in seiner Außenpolitik „kläglich versagt“ habe, eine stattliche Reihe imperialistischer Manifeste, die ihrer Sehnsucht nach einem anderen, stärkeren Herrscher Ausdruck verliehen. Das bekannteste Buch dieser Art war das Manifest Wenn ich Kaiser wär’ (1912) von Heinrich Claß, der 1908 den Vorsitz des 1891 gegründeten Alldeutschen Verbands übernommen hatte. In Übereinstimmung mit allen sozialdarwinistisch eingestellten „Unzufriedenen“ forderte Claß in ihm eine Reichspolitik, die sich – im Sinne der Völkischen Opposition – vor allem zwei Ziele setzen würde: einen verschärften Antisozialismus und einen verschärften Imperialismus. Dem entspricht, daß sich Claß im Hinblick auf die sozioökonomischen Verhältnisse innerhalb Deutschlands vor allem gegen die „unterminierenden Tendenzen“ der Sozialdemokraten, die „verhängnisvolle Rolle“ der Juden, die „gewaltige Binnenwanderung von Ost nach West“ sowie die daraus resultierende Einschleusung „volksfremder Industrie- und Landarbeiter“ wandte. In außenpolitischer Hinsicht forderte Claß dementsprechend sowohl eine aggressive „Ausdehnung nach Südosten“ als auch die Gewinnung neuer Kolonien in Übersee, um den Deutschen endlich genug „Land zur Ansiedlung“ zu verschaffen. Doch um eine solche Politik voranzutreiben, die sich einzig und allein zu völkischen Zielen bekenne, müsse man erst die bestehenden Parlamente, ja vielleicht sogar den Kaiser abschaffen, erklärte Claß immer wieder, und nach einem wahrhaft deutschnationalen „Führer“ Ausschau halten, der nichts anderes wolle, als das deutsche Volk so groß und stark zu machen, daß es zu einer von allen anderen Völkern anerkannten, wenn nicht gar gefürchteten Weltmacht aufsteigen könne. Fast mit den gleichen Zielsetzungen wie Claß setzte sich Heinrich Teut in seinem Traktat Neudeutschland (1913) für die Schaffung eines großdeutschen Imperiums ein, das außer dem wilhelminischen Staatsgebilde sowohl Deutschösterreich, Holland, Nordbelgien, Böhmen und Luxemburg als auch die deutschsprachige Schweiz umfassen sollte. Bismarck, heißt es hier, sei zwar der „Schöpfer des deutschen Reichs, aber nicht des Reichs der Deutschen“ gewesen. Diese Tat könne nur ein künftiger „Volksheld“ vollbringen. Erst ein solcher Mann werde Deutschland 192  Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich

genug Siedelboden verschaffen und es innerlich so stärken, daß es in den kommenden weltpolitischen Auseinandersetzungen die zivilisierten Länder des Nordens vor der Eroberungsgier der „asiatisch-mongolischen Horden“ bewahren könne. Nicht minder rassistisch trat Ernst Wachler in seinem Roman Osning (1914) auf. Wie viele Werke dieser Richtung gipfelt dieser Roman in der Forderung, Deutschland ein zweites Mal von „Rom“ zu befreien, diesmal von der Romhörigkeit der Katholiken sowie der „westlichen Überfremdung“, durch die das deutschgermanische Wesen zu verkümmern drohe. Auch Wachler war davon überzeugt, daß eine solche Wiedergeburt nur durch einen jungen Ario-Heroiker, einen wahrhaften „Führer“ erfolgen könne, welchen er in der Figur des jungen Asbrant zu schildern versuchte, der einen Geheimorden der „Hermann-Söhne“ gründet, dessen höchstes Ziel die Herrschaft der germanischen Nordländer über alle anderen Völker der Erde ist. Obwohl in derartigen völkischen Tod- und Auferstehungsutopien manches durchaus aufs Konto des Kolportagehaften geht, legt gerade diese Art von Literatur ein besonders aufschlußreiches Zeugnis davon ab, wie stark bereits in dieser Zeit jene Kräfte waren, die mit plebiszitären Suggestivformeln wie „wir“, „uns“ oder „wir Deutschen“ – in bewußter oder unbewußter Identifizierung mit der Ideologie der führenden Industriellenverbände – an breiteste Leserschichten appellierten, ihre politischen Hoffnungen nicht mehr auf einen vordergründigen Hohenzollernkult, sondern auf ein das Zweite Reich weit überbietendes Dritte Reich zu setzen, in dem das Leben wieder einen Zug ins Große, Kraftbetonte, Heroische bekommen werde. Und daraus ergaben sich folgende Konsequenzen. Da den imperialistisch eingestellten Vertretern der Völkischen Opposition der offizielle Kurs der wilhelminischen Regierung sowohl in ihrer Haltung den Sozialdemokraten gegenüber als auch in ihrer laschen Kolonialpolitik als zu „milde“ erschien, empfanden sie das Zweite Reich, wie gesagt, bereits in den neunziger Jahren als ein bloßes Übergangsreich auf dem Wege zu einer Diktatur der bürgerlichen Führungsschichten unter einem „Starken von oben“. Dieser müsse den aufmüpfigen Kulis und Untermenschen erst einmal klar machen, wo sie hingehören, und dann – aufgrund der wachsenden Stärke des neuen Reichs – die uneingeschränkte Führungsrolle Deutschlands in Europa, wenn nicht der ganzen Welt anstreben. Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich  193

IV Allerdings blieben solche Wunschvorstellungen, die den wilhelminischen Chauvinismus mit noch aggressiveren Weltherrschaftsphantasien zu überbieten versuchten, weitgehend auf den „niederen“ Bereich der Literatur oder gewisser pseudowissenschaftlicher Traktate beschränkt. In den „höheren Regionen“ derartiger Publikationen gaben sich die völkisch-orientierten Schichten dieser Ära selbstredend wesentlich vornehmer. Hier versuchten sie solche Fragestellungen auf einer betont geistigen, religiösen, kulturphilosophischen, kurz: ins Idealische erhobenen Ebene abzuhandeln. Und aus solchen Bemühungen entwickelte sich schließlich seit den späten neunziger Jahren eine neoromantisch-konservative Richtung, deren Ideologie weitgehend im Zeichen jener „Fortschrittlichen Reaktion“ stand, in der später sowohl die Vertreter der „Konservativen Revolution“ als auch viele Präfaschisten eine ebenso wichtige Grundlage ihrer eigenen Gedankengebäude sahen wie in den Parolen eines Max Haushofer oder Heinrich Claß. Verglichen mit den kruden Wortführern der „Völkischen Opposition“ wirken allerdings die frühen Repräsentanten der „Fortschrittlichen Reaktion“ um 1900 wesentlich kultivierter, indem sie unentwegs behaupteten, nur das „Höhere“ im Auge zu haben, um so zu einer längst fälligen „Reichsbeseelung“ beizutragen, die im Zuge der politischen und wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung nach 1871 viel zu kurz gekommen sei. In ihren Schriften finden sich daher kaum real zu verwirklichende Macht- oder Herrschaftsansprüche, sondern eher ins weltanschaulich Prätentiöse verklärte Kultur- und Gesellschaftskonzepte, die auf den ersten Blick fast einen Zug ins Geistutopische haben. Statt sich schamlos in den Dienst der kapitalstarken Kreise zu stellen, versuchten diese Autoren den von ihnen als „verheerend“ empfundenen Auswirkungen der rapiden Industrialisierung und Verstädterung Deutschlands eher das Bild eines deutschen Reichs entgegenzusetzen, das nicht auf einer nackten Besitzgier und einem ebenso unverhüllten Herrschaftswillen, sondern auf Wertvorstellungen wie Geistigkeit, Glauben und Bindung beruht, bei denen also weniger ein ins Weltpolitische ausgreifender Ausdehnungsdrang als eine Stärkung der innerdeutschen „Wesenzüge“ im Vordergrund stehen würde. Aus diesem Grund neigten die meisten Vertreter dieser Richtung, die den wahren Fortschritt lediglich in einer 194  Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich

Wiedererweckung des Alten oder gar Ältesten sahen, oft zu romantischreaktionären Wertvorstellungen, welche sie als Ausdruck spezifisch mittelständischer Intelligenzanschauungen sowohl antisozialistisch als auch antikapitalistisch empfanden. Als ihre fünf Hauptschlagworte verwandten diese Kreise hierbei gern Slogans wie „Idealismus statt Materialismus“, „Kultur statt Zivilisation“, „Religio statt Liberatio“, „Volk statt Masse“ oder „Nationale Eigenart statt Völkerchaos“. Noch am harmlosesten äußerte sich dieser Drang ins „Wesensbetonte“ in jenen Schriften, in denen um 1900 dem herrschenden Materialismus im Zuge neokantianischer, neofichteanischer oder neohegelianischer Anschauungen ein neuer Idealismus oder gar Wertaktivismus entgegengesetzt wurde. Allerdings trat auch in ihnen zum Teil eine merkliche Nationalisierung des älteren deutschen Idealismus ein, indem ihre Vertreter der angeblichen „Oberflächlichkeit“ der Franzosen eine durch nichts bewiesene deutsche „Tiefe“ entgegenhielten. Jedoch wurden aus solchen Thesen meist nur geistidealistisch-verblasene Folgerungen gezogen, in denen zwar von einem „Deutschen Weltreich des Geistes“, aber nicht von einem deutschen Kolonialimperium die Rede war. Ähnliches trifft auf jene Schriften von Julius Langbehn, Eugen Diederichs oder Arthur Moeller van den Bruck zu, wo der westlichen „Zivilisation“ die deutsche „Kultur“ entgegengehalten wurde. Während in Ländern wie Frankreich und England ein linear-progressives Denken und damit eine Tendenz zur Veräußerlichung aller bisherigen Kulturwerte vorherrsche, hieß es hier, hätten sich die meisten Deutschen seit altersher zu einem zyklischen Denken bekannt, das immer wieder zu den angestammten Grundwerten der nationalen Überlieferung zurückkehre. Deutschsein wurde deshalb in diesen Kreisen gern als kulturkonservativ, das heißt als Wiederaufleben des ewig-einen Status quo, hingestellt. Jene Gruppen, welche das Motto „Religio statt Liberatio“ auf ihre Fahnen schrieben, setzten dagegen der liberalistischen Veräußerlichung innerhalb der westlichen Demokratien gern die althergebrachte deutsche Neigung zu mystischer Wesensschau oder artgemäßer Glaubensgewißheit entgegen, wobei sie entweder im Gefolge Paul de Lagardes eine „Eindeutschung des Christentums“ propagierten oder im Rahmen synkretistisch-neureligiöser Bünde, Kreise und Orden, wie dem WerdandiBund, dem Mittgart-Bund, dem Vortrupp, dem St. Georgs-Bund, dem Sera-Kreis, dem Wälsungen-Orden, der Deutschen ErneuerungsgeVölkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich  195

meinde, dem Deutschen Skaldenorden oder den Nordungen, eine Reihe von Organisationen zu schaffen versuchten, die im Zuge der von ihnen angestrebten Remythisierung zum Teil nicht zögerten, auch national klingende Konzepte in ihre Religionsvorstellungen einzubeziehen. Da derartige geistidealistischen, kulturellen und religiösen Theoriebildungen selten mit konkreten politischen oder gesellschaftlichen Vorstellungen verbunden wurden, waren auf der Grundlage dieser drei Konzepte kaum irgendwelche praktikablen Staatsvorstellungen zu erwarten. Vor allem in den literarischen Darstellungen solcher Tendenzen handelt es sich meist nur um anspruchsvolle Einzelgänger, mystisch vergrübelte Hinterweltler oder geistig Auserwählte, die zwar stets „auf dem Wege“ sind, aber nie das ersehnte Ziel erreichen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Protagonist in Hermann Burtes Wiltfeber (1912), der als „urdeutscher Fürsichmann“, wie er sich in Anlehnung an Nietzsches Zarathustra nennt, voller Abscheu vor der „Mischmaschwelt der Krämer und Kaufleute“ in gläubiger Selbstgewißheit ein „Neues Reich“ ins Auge faßt, jedoch an der Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse scheitert, da seine national-religiösen Forderungen so hochgespannt sind, daß sie die gegebene Situation einfach übergreifen. Und auch der Romanheld in Friedrich Lienhards Der Spielmann (1913), der sich als Befürworter einer durchgreifenden „Reichsbeseelung“ ausgibt, die auf einer seltsamen Mischung klassisch-humanistischer, protestantisch-neureligiöser sowie hybrid-nationalistischer Ideen beruht, zieht sich am Schluß dieses Romans auf die Wartburg zurück, um von der Höhe dieses christgermanischen Wertbergs aus den anderen, bereits dem Materialismus verfallenen Deutschen ein singuläres Beispiel wahren Geistesadels zu geben. Als wesentlich problematischer erwies sich diese Fortschrittliche Reaktion dagegen stets da, wo sie aus dem Bereich des idealistisch, kulturell oder religiös Vereinzelten ins Gesellschaftsbetonte vorstieß, wo also solchen Führergestalten um einer besseren Zukunft willen die nötigen Volksmassen zugeordnet wurden, um ihre Ideen in die Tat umsetzen zu können. All jene, die sich hierbei auf die Formel „Volk statt Masse“ beriefen, legten dementsprechend ihren Hauptakzent auf einen nationalen Gesamtwillen, den sie im Sinne des für diese Richtung bezeichnenden romantischen Antisozialismus und zugleich romantischen Antikapitalismus über allen realexistierenden Parteien anzusiedeln versuchten. Im Gefolge solcher Anschauungsweisen wandten sie sich zumeist voller 196  Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich

Ekel gegen den herrschenden Liberalismus, Parlamentarismus und Konstitutionalismus, das heißt stellten den Dienst am Staat wesentlich höher als die Interessen der Einzelnen oder auch gewisser gesellschaftlicher Kasten. Manche Vertreter dieser Richtung gingen dabei, wie die Anhänger der Völkischen Opposition, in ihren deutschbetonten Hoffnungen bereits ebenfalls über das wilhelminische Zwischenreich hinaus und faßten eine nationale Wiedergesundung ins Auge, die sich eindeutig gegen den Sozialismus, das Großstadtwesen und die Hierarchie der katholischen Kirche wandte, die sie als antideutsche Ausprägungen der „roten, grauen und schwarzen Internationale“ anprangerten. Derartige Gedankengänge kulminierten letztlich in einem nationalen Gemeinschaftsdenken, dem eine geradezu religiöse Hingabe an einen „Zwingherrn zum Deutschtum“ zugrunde lag, wie ihn Julius Langbehn bereits in seinem bereits 1890 erschienenen Buch Rembrandt als Erzieher gefordert hatte. An Beispielen dafür besteht zwischen 1900 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs kein Mangel. Nicht nur betont reaktionäre Autoren wie Arthur Moeller van den Bruck oder Oswald Spengler, auch viele geistidealistische Autoren bekannten sich damals zu mit „faustischen“ Kräften begabten Führernaturen, die das deutsche Volk wieder zu neuen Höhen emporführen würden. So schrieb etwa Ernst Horneffer im Jahr 1909 in der kulturkonservativen Zeitschrift Die Tat: „Der Deutsche haßt es, sich Kollegien, beschließenden Körperschaften, Parteien zu unterwerfen, weil er deutlich fühlt und weiß, daß dies der Sieg der Masse, der Dummheit über den begabten Einzelnen ist! Aber gern folgt er einer überragenden Persönlichkeit, die sein Vertrauen genießt.“ Im Bereich des Literarischen fand diese Gesinnung eine ihrer markantesten Ausprägungen in den Schriften Stefan Georges und seiner Jünger. Dieser Kreis bezeichnete sich nach 1900 gern als die Vertretung des „Geheimen Deutschland“ und wollte in seiner Betonung von „Herrschaft und Dienst“ das ideologische Leitbild eines nur dem Höchsten verschriebenen Deutschen Reiches sein, das sich weit über den niedrigen Materialismus der wilhelminischen Ära erhebt. George-Anhänger wie Friedrich Wolters und Friedrich Gundolf wandten sich deshalb in dem von ihnen herausgegebenen Jahrbuch für die geistige Bewegung unter dem Motto „Der herrscher tut not! Darum nehmen wir nicht von der menschheit, sondern nur vom Manne gebot und bild“ scharf gegen die „flach rationalistischen tendenzen“ innerhalb der Frauenbewegung, die Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich  197

unkriegerische Haltung der Sozialdemokraten wie überhaupt gegen alle „feigen knechte der humanität“, deren Bestrebungen lediglich zu einer allgemeinen „artverschlechterung“ beigetragen hätten. Wohl ihre gefährlichste Vision eines solchen Zukunftsstaats findet sich in Georges Gedicht Der Dichter in Zeiten der Wirren, in dem dieses antiliberale und antihumanistische Führer- und Volk-Konzept zugleich Elemente in sich aufnimmt, die sich später durchaus als präfaschistisch verstehen ließen: „Ein jung geschlecht / das schön und ernst / Froh seiner einzigkeit, vor fremden stolz / Sich gleich entfernt von klippen dreisten dünkels / Wie seichtem sumpf erlogner brüderei / Das von sich spie was mürb und feig und lau / Den einzigen der hilft den Mann gebiert. / Der sprengt die ketten fegt auf trümmerstätten / Die ordnung, geißelt die verlaufnen heim / Ins ewige recht wo großes wiederum groß ist / Herr wiederum herr, zucht wieder zucht, er heftet / Das wahre sinnbild auf das völkische banner / Er führt durch sturm und grausige Signale / Des frührots seine treue schar zum werk / Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich.“

V Ihre folgenreichste Manifestation erlebten jedoch derartige Anschauungen bei jenen hochgestochenen Führernaturen der „Fortschrittlichen Reaktion“, die ihrer Ideologie – im Sinne einer ario-germanischen Erwähltheitsgesinnung – das Motto „Rasse statt Völkerchaos“ zugrunde legten. Während die Teutschheitsschwärmer des späten 18. Jahrhunderts und der Befreiungskriege mit dem Bild der Germanen noch antifeudalistische, ja geradezu ins Demokratische zielende Freiheitsvorstellungen verbunden hatten, ging es den arischen Rassefanatikern um 1900 fast nur noch um massive Herrschaftsansprüche. Obwohl sich dabei – ideologiekritisch betrachtet – mehrere Richtungen unterscheiden lassen, stimmten diese Gruppen in ihren Endzielen, nämlich der Zurückdrängung der rassisch minderwertigen Tschandala-Ideologie der Sozialdemokraten sowie der aggressiven Befürwortung germanischer Landnahmekonzepte, weltanschaulich weitgehend überein. In Adelskreisen berief man sich bei solchen Vorstellungen meist auf den Grafen Arthur de Gobineau, der in seinem Essai sur l’inégalité des races humaines (1854) die Gesellschaftsformationen der mitteleuropä198  Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich

30 Karl Bauer: Stefan George (um 1900)

ischen Völker in drei Gruppen eingeteilt hatte: Adel gleich reine Rasse, Bürgertum gleich Mischrasse und Proletariat gleich niedere Rasse. Analog dazu führte der Wiener Rassentheoretiker Guido von List in seinem Buch Die Armanenschaft der Ario-Germanen (1908) den deutschen Adel auf einen altgermanisch-aristokratischen Geheimbund zurück, der sich im Rahmen einer kraftvollen Sippengliederung nur unter einem nordischen Führerkaiser wohlgefühlt habe. In der „Tschandala-Rasse“ der Proletarier sah List dagegen lediglich eine „untergeordnete Herdenmenschheit“. Um Deutschland wieder in ein starkes „Ariogermanien“ zurückzuverwandeln, schlug er darum vor, die Sozialdemokratische Proletarierpartei zu „zertrümmern“, die Mischlingsrassen durch strengste „Fremdengesetze“ aus dem deutschen Reich auszuschließen und anschließend mit der „Zucht einer neuen Edelrasse“ zu beginnen. Ähnliche Anschauungen finden sich bei dem in Bayreuth lebenden Houston Stewart Chamberlain, der jedoch in seinen Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899) den Gobineauschen Feudaladel durch einen Adel des GeiVölkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich  199

stes ersetzte. Ob in religiösen, kulturellen oder staatlichen Leistungen: in allem sah Chamberlain lediglich das Werk arischer Herrenschichten, während bei niederen Rassen allein die Neigung zu einem alles nivellierenden „Völkerchaos“, einer „Cloaca gentium“ dominiere. Aufgrund dieser Anschauung entwickelte er eine Ideologie, nach welcher die Germanen, als der letzte Sproß der Arier, von der Vorsehung zur Weltherrschaft berufen seien, um die Menschheit vor einer völligen „Bastardisierung“ zu retten. Wie verbreitet derartige Anschauungen waren, ließe sich mit den Schriften vieler germanophilen Autoren dieser Ära belegen. Einer davon war Adolf Bartels, der sich unter dem Einfluß Julius Langbehns in den frühen neunziger Jahren erst als Mitbegründer des nationalistischen Flügels der Heimatkunstbewegung betätigte und sich dann nach 1900 als Germanist, Dramatiker und Romancier für den kulturellen Führungsansprung der nordischen Rasse einsetzte, wobei er zugleich das Klischee der „Gelben Gefahr“ heranzog, um damit, wie die Vertreter der Völkischen Opposition, den imperialistischen Ausdehnungsdrang der Deutschen nach Osten zu unterstützen. So erklärte er etwa 1908 in seinem Aufsatz Rassenzucht ohne große Umschweife: „Im besonderen unser deutsch-germanischen Rasse gestehe ich noch eine große Zukunft zu – nicht, daß ich die Deutschen, wie die Juden sich selber, für das auserwählte Volk Gottes und zur Weltherrschaft berufen hielte, aber als das geistig und seelisch bewegteste und im Kern gerechteste Volk der Welt sehe ich die Deutschen an und glaube, daß ihre Sendung auf Erden die höchste ist, die man sich denken kann, die, die Welt immer zu verjüngen. Vielleicht stellt uns das Schicksal sehr bald vor eine große Aufgabe, vielleicht kracht der russische Koloß, revolutionszersetzt, einmal wirklich zusammen, und uns fällt die Aufgabe zu, Krieger und Kolonisten, wie schon einmal im Mittelalter, nach Osten zu senden, das ungeheure Land bis zum Stillen Ozean mit Militärkolonien zu durchsetzen, damit ein Widerstand gegen die andringende gelbe Gefahr möglich ist. Dazu ist es dringend nötig, daß wir unser Rassenbewußtsein und unsere Rasse selber stärken, damit nicht, wie schon einmal, der Mongole bis ins Herz Europas dringe und im Bunde mit den schlechtrassigen Elementen unter uns nicht nur unsere jetzige Kultur vernichte, sondern auch noch die höhere, die wir wie alle edlen Rassen ersehnen, für ewige Zeiten unmöglich mache.“ 200  Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich

31 Arminius. Plakat zur 1900-Jahrfeier der Schlacht im Teutoburger Wald (1909) Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich  201

Ja, manche dieser Rassentheoretiker schlugen bereits damals recht konkrete Maßnahmen vor, wie sich im Rahmen derartiger Bemühungen eine verstärkte Aufnordung des deutschen Volkes in Gang setzen ließe. Man denke an Autoren wie Arthur Bonus, Georg Hauerstein, Philipp Stauff, Wilhelm Schwaner oder Ludwig Wilser, welche sich zwischen 1900 und 1914 in ihren Schriften nicht nur für einen wehrbereiten „Hermannsgeist“, sondern zugleich für die Wiederseßhaftmachung alt­ arischer Familien, die Einführung von Eheattesten, das Verbot von Mischehen sowie die Verleihung von Prämien für nordische Ehen einsetzten. Nichtarische Menschen sollten in dem von ihnen anvisierten „Germanischen Weltreich deutscher Nation“ aus rassenpolitischen Gründen kinderlos bleiben und ihre erotischen Bedürfnisse lediglich in offiziell zugelassenen Bordellen befriedigen, was Joseph Ludwig Reimer in seinem Buch Ein pangermanisches Deutschland (1905) höchst sarkastisch als eine „schmerzlose“, ja „lustvolle Ausrottung“ bezeichnete, während er die blonden und blauäugigen Germanen unter den Deutschen so emphatisch wie möglich zu einer fleißigen Fortpflanzungstätigkeit ermunterte. Nicht minder rassistische Ansichten dieser Art finden sich in den Schriften Willibald Hentschels, dem Gründer des MittgartBunds zur Erneuerung der germanischen Rasse, der in seiner Varuna. Eine Welt- und Geschichtssicht vom Standpunkt des Ariers (1901) die Anlage ländlicher Zuchtkolonien propagierte, deren Mitglieder sich verpflichten würden, in landwirtschaftlicher Autarkie zu leben, nur selbstgewirkte Kleider zu tragen, die altgermanischen Feste zu feiern und sich ansonsten ausschließlich der Aufzucht rassenstarker Nachkommen zu widmen. Hentschel versprach sich von solchen eugenischen Pflanzstätten, in denen jeweils hundert „Ario-Heroiker“ mit tausend „Nordinnen“ zusammengeführt werden sollten, einen jährlichen Überschuß von 100 000 Edelariern, aus denen sich im Laufe der Zeit eine „neue völkische Oberschicht“ bilden werde. Daß man im Laufe des 19. Jahrhunderts von der „seelischen Höhenlinie“ des deutschen Volkes abgewichen sei, führte er, wie viele rassenpolitische Eugeniker dieser Jahre, vor allem auf die verhängnisvolle „Demokratisierung“ der modernen Gesellschaft zurück, in der jeder Schneiderseele das gleiche Recht auf Fortpflanzung zustehe wie einem göttlich erwählten Heros. Als eins der wichtigsten Vorbilder in dieser Hinsicht wurde dabei von den Vertretern der Fortschrittlichen Reaktion oft eine arisierte Parzival202  Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich

Gestalt beschworen, welche die Vorsehung mit charismatischen Kräften ausgestattet habe, um das deutsche Volk aus den Niederungen des Materialismus wieder zu den lichten Höhen einer Walhalla- oder GralsburgExistenz emporzuführen. Wer in diesen Kreisen den Namen „Parzival“ aussprach, meinte damit nicht nur Wolframs Parzival, sondern auch Dürers Ritter, der sich weder vor Tod noch Teufel fürchte, den Kämpfer Martin Luther, der das arische Religionsempfinden von Juda und Rom befreit habe, sowie den Wagnerschen Parsifal, wie überhaupt jeden begnadeten Starken von oben, der dem führerlosen deutschen Volk wieder ein weltanschauliches Telos geben würde, für das es sich „zu leben und zu sterben lohne“. So verband etwa Hans von Wolzogen, der deutsch-völkisch gesinnte Herausgeber der Bayreuther Blätter, die zukünftige Germanisierung der Religion stets mit der Wagnerschen Parsifal-Idee. Heinrich Driesmann stellte 1913 im Werdandi-Jahrbuch den germanischen „Eugeneten“ Christus unmittelbar neben „Siegfried den Sonnenhelden“ und „Parzival den Gralssucher“. Andere dieser germanophilen Rassentheoretiker sahen in den Hütern des Grals nicht mehr irgendwelche christlichen Ordensritter, sondern die Edelsten aller nordischen Männer und setzten das Blut Christi einfach mit dem arischen Blut gleich. Derartige Umdeutungsversuche führten schließlich zu der These, daß der arische Gral erst dann wieder zu leuchten beginne, wenn die nordische Rasse – unter Führung eines ins Idealische erhobenen Parzival – ihre ursprüngliche „Reinheit“ zurückerlangt habe. Dementsprechend träumte Ernst Wachler schon 1901 in seinem Büchlein Über die Zukunft des deutschen Glaubens von dem Zeitpunkt, an dem sich die „angestammte Kraft“ des deutschen Volkes in gralshafter Verklärung „über den ganzen Erdball ergießen werde“. Noch emphatischer gebärdete sich Jörg Lanz von Liebenfels in dieser Hinsicht, der kurz nach der Jahrhundertwende einen Bund ariosophisch gesinnter Mannesrechtler gründete, den er als „Templeisen-Orden“ bezeichnete, wobei er sich sowohl auf christliche als auch auf nordische Religionsvorstellungen stützte. Um diesem Bund ein sichtbares Zentrum zu geben, erwarb er 1908 die Burg Werfenstein an der Donau und hißte dort im Bewußtsein seiner Sendung die erste Hakenkreuzfahne, worunter er eine symbolische Manifestation des nordischen „Götterelektrons“ verstand. Von seinen Anhängern wurde er wie ein zweiter Christus verehrt, der sich mit den letzten Arioheroikern zum Endkampf um die Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich  203

32 Fritz Erler: Aus germanischer Vorzeit (1913)

Weltherrschaft vorbereite. Durch diese rassistische Überspanntheit blieb von dem christlichen Heilsschema, das Lanz als ehemaligem Mönch ursprünglich vorgeschwebt hatte, nur wenig erhalten. Vor allem das Jüngste Gericht nahm in seinen Augen zusehends die Vision eines wahnwitzigen Blutbades an, das in der unbarmherzigen Liquidierung aller dunklen „Wanen, Tschandalas und Rassenpanscher“ durch die blonden „AraritaGermanen“ unter den Deutschen gipfeln sollte. Aufgrund derartiger Anschauungen zögerte er nicht, in seine Theozoologie (1906) sogar ein rassisch betontes Vaterunser einzufügen, das wie ein militärischer Appell an alle „asischen Heldlinge“ wirkt: „Vater unser, der du leibhaftig wohnst im Fleische, im Blute, im Gehirn, im Samen der besseren, edleren Menschen. Geheiligt werde dein Name, das ist dein Same. Dein Reich komme. Laß endlich die Gottmenschen über die Affenmenschen siegen.“ Und darauf ließ er, wie auch andere seiner ideologischen Gesinnungsgenossen, eine grotesk-überspannte Apotheose des arisch-deutschen Imperialismus folgen: „Wir wollen unser Schwert geschliffen und unsere Kriegsleier gestimmt halten, wenn’s losgeht zur Wiedereroberung der 204  Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich

Welt. Was warten wir noch? Überall ist Menschenmangel, während wir auf kleiner deutscher Erde verhungern vor Menschenüberfluß. Der Erdball war und ist Germaniens Kolonie! Jedem wackeren deutschen Soldaten ein Bauernhof, jedem Offizier ein Rittergut! Ich möchte sehen, ob wir da nicht alles niederwerfen würden. Unter dem Jubel der befreiten Gottmenschen werden wir den ganzen Erdball erobern. Bisher haben nur die Romanen und Slawen gegen uns geschürt. Nun aber beginnen auch wir zu schüren, bis die Funken aus den Schloten deutscher Schlachtschiffe stieben und die Feuerstrahlen aus deutschen Geschützen zucken. Noch einmal über die Alpen, noch einmal nach Ost und West auf uralten Väter-Kriegspfaden und Ordnung gemacht unter der zänkischen Udumubande. ‚Komme Frauja, Liebesgott, Jesus!‘ Zieh uns voraus als sieghafter Affenbezwinger und erlöse uns von den Sodomsschratten, denn dein ist das Weltreich und die Kraft und die Herrlichkeit. Amen.“ Während in den Bereichen „Idealismus statt Materialismus“, „Kultur statt Zivilisation“ und „Religio statt Liberatio“ der mittelständische Durchsetzungsdrang noch zum Teil ins Geistaristokratische oder Geistutopische tendierte, brach also in den Bereichen „Volk statt Masse“ und „Rasse statt Völkerchaos“ selbst im Umkreis der Fortschrittlichen Reaktion häufig der gleiche ungezügelte Haß auf die von der Sozialdemokratie erfaßten Arbeitermassen sowie der gleiche Drang ins Imperialistische durch, der auch die sozialdarwinistisch-alldeutsch motivierten Gruppen der Völkischen Opposition motiviert hatte. Auf dem Sektor des Volkhaften und Rassistischen gingen deshalb diese beiden Richtungen in den Jahren zwischen 1900 und 1914 immer stärker ineinander über, wodurch sie schließlich in vielen, wenn auch nicht allen ihrer Schriften eine ideologische Einheitsfront bildeten, die trotz mancher hochtönenden Religions- und Kulturkonzepte nicht über ihren zutiefst präfaschistischen Charakter hinwegtäuschen sollte.

Völkische Opposition und Fortschrittliche Reaktion im Zweiten Kaiserreich  205

Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918

I Welch ein Chauvinismus durch alle diese wilhelminischen sowie völkisch-alldeutschen Manifeste, Traktate und Romane in den Jahren nach 1900 in Gang gesetzt wurde, der immer breitere Schichten der deutschen Bevölkerung erfaßte, zeigte sich vor allem in den letzten zwei Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs, als es aufgrund der wachsenden ökonomischen Stärke des wilhelminischen Reichs zu wahren Orgien imperialistisch angeheizter Gefühlsentladungen kam. 1913 waren es sowohl die Feiern zum Regierungsantritt Wilhelm II., der sich am 15. Juni dieses Jahres zum 25. Mal jährte, als auch die am 18. Oktober in größtem Maßstab aufgezogenen Zentenarfeiern der Völkerschlacht von Leipzig, welche zu derartigen deutschnationalen Überheblichkeitserklärungen führten. Anläßlich dieser beiden Jubiläen bezeichnete beispielsweise Johannes Kaempf, der Präsident des Deutschen Reichstags, den wilhelminischen Staat als die „größte militärische Macht der Erde“, die es wie in den Befreiungskriegen von 1813/15 gegen jeden Übergriff möglicher Feinde zu verteidigen gelte. Im Sinne dieser Einstellung stimmte daher schon am 9. Februar 1913 – im Vorfeld der beginnenden Feierlichkeiten – eine Festversammlung der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität das Arndtsche Vaterlandslied von 1812 an, das mit der Zeile „Der Gott der Eisen wachsen ließ“ beginnt und dann in die Strophe mündet: „Wir wollen heute Mann für Mann / Mit Blut das Eisen röten, / Mit Henkersblut, Franzosenblut – / O süßer Tag der Rache! / Das klinget allen Deutschen gut, / Das ist die große Sache.“ Und danach sang der akademische Chor noch obendrein Theodor Körners Gebet vor der Schlacht und Lützows wilde Jagd. Kurze Zeit später erklärte Wilhelm II. in einer der vielen von ihm in diesem Jahr gehaltenen Reden: „Glücklich, wer damals König und Vaterland sein Gut darbringen konnte. Die Erinnerung an solche Treue und Hingabe heute nach 100 Jahren wieder wachzurufen, empfinde ich als heilige Pflicht. Nicht siegen oder sterben, sondern siegen schlechthin ist die Losung in 206  Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918

diesem heiligen Kampfe. Gott hat unsere Waffen gesegnet.“ Und die Mehrheit der Deutschen ließ sich durch derartige Lieder und Reden zu einem Reichspatriotismus hinreißen, der immer stärker militante Züge annahm und selbst vor irgendwelchen Annexionsforderungen nicht zurückschreckte.

33 Völkerschlachtdenkmal in Leipzig von Bruno Schmitz (1913). Innenhalle mit Monumentalfiguren von Franz Metzner

Wohl die größte nationale Begeisterungswelle ging von der Einweihung des Leipziger Völkerschlachtdenkmals am 18. Oktober 1913 aus, die in Anwesenheit des Kaisers, vieler Bundesfürsten sowie mehrerer zehntausend Zuschauer stattfand. Unterstützt wurde diese Stimmungsaufwallung durch die sogenannten Eilbotenläufe der deutschen Turner, die dem deutschen Kaiser an diesem Tag die Grüße „seines Volks“ in Form von Eichenzweigen überbrachten. Und zwar stammten diese Turner aus allen Teilen Deutschlands, wobei sie die jeweiligen Etappen ihrer neun Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918   207

Streckenläufe so planten, daß sie dabei am Grab Bismarcks, der Geburtsund Todesstätte Jahns, dem Arndt-Denkmal auf Rügen, den Befreiungshallen bei Tauroggen und Kehlheim, den Schlachtfeldern von Waterloo und Gravelotte, dem Hermanns- und Niederwalddenkmal sowie dem Kyffhäuser-Monument vorbeikamen. Von den 1,1 Millionen Mitgliedern der deutschen Turnerschaft beteiligten sich etwa 40 000 aktive Läufer an diesen Läufen, wobei die schwäbischen Turner ihre Streckenabschnitte meist mit der nationalbetonten Losung „Staufen und Hohenzollern, Schiller und Graf Zeppelin“ begannen. Doch auch das 12. deutsche Turnerfest, das im Juli 1913 in Leipzig stattfand und an dem 72 000 offizielle Festteilnehmer sowie rund 200 000 Zuschauer teilnahmen, erregte eine beachtliche Aufmerksamkeit. Ein Augenzeuge erklärte später, daß am Schluß alle „Deutschland, Deutschland über alles“ gesungen hätten und sich jeder wie ein „Civis Germanus“ gefühlt habe. Selbstverständlich fehlte es dabei nicht an Lobreden auf den „großen Turnvater Jahn“, der die „deutschen Turner“, wie es hieß, „zu deutschen Kriegern erzogen habe“. Noch deutlicher wurde der TreitschkeSchüler Dietrich Schäfer, der in einer seiner Festreden im Hinblick auf den anwesenden Kaiser erklärte: „Sollte Gott wollen, daß Eure Majestät an der Spitze des deutschen Heeres ins Feld ziehen müßte, um Deutschlands Rechte und Deutschlands Ehre zu wahren, so würde auch die akademische Jugend von heute mit Körner beten: Zum Leben, zum Sterben segne mich! Vater, ich preise Dich!“ Aber nicht nur Schäfer, der zugleich Vorstandsmitglied des Alldeutschen Verbands sowie Mitbegründer des Flottenvereins und des Deutschen Wehrvereins war, auch mehrere bekannte wilhelminische Professoren traten in ihren Festreden dieses Jahrs, als ob es angeblich nur um eine verstärkte Verteidigungsbereitschaft des wilhelminischen Reichs gehe, für eine massive Aufrüstung des deutschen Heeres ein, um so – da Kaiser Wilhelm II. in nationaler Überheblichkeit den Rückversicherungsvertrag mit Rußland nicht erneuert hatte – gegen die Gefahr eines möglichen Zweifrontenkriegs gewappnet zu sein. Selbst ein bedeutender Historiker wie Friedrich Meinecke erklärte in seiner Freiburger Festrede des gleichen Jahrs: „Die eigentlichen Schlachtfelder unserer Zeit liegen noch vor uns, nicht hinter uns.“ Wir sind „bereit“, fuhr er fort, zur „entschlossenen Wahrung“ aller nationalen Errungenschaften, ja wenn es sein muß, zu „heißestem, blutigem Kampfe“. 208  Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918

Besonders die bürgerlichen Jugendlichen und Studenten ließen sich von dieser vaterländischen Propagandawelle mitreißen, ohne zu durchschauen, daß sie sich dadurch zu willfährigen Werkzeugen der imperialistisch eingestellten Führungsschichten des wilhelminischen Reichs erniedrigten. Dafür spricht, daß ein Mitglied der Tübinger Burschenschaft Germania im Herbst 1913 bei einer Feier vor dem dortigen Bismarck-Denkmal in pseudoidealistischer Verblendung beteuerte: „Heute wie vor 100 Jahren sind die Zeiten ernst, und ständig steht vor uns das Gespenst eines Weltkrieges.“ Doch wenn es dazu kommen werde, rief er aus, gäbe es „sicher keinen Studenten“, der nicht bereit wäre, „unter unseres Kaisers Führung mit Blut und Leben für das Vaterland einzutreten“. Wie bei vielen dieser Versammlungen sangen darauf alle Anwesenden das Arndtsche Lied Der Gott der Eisen wachsen ließ und schlossen sich dann einem mit patriotischem Pomp aufgezogenen Fackelzug durch die Stadt an. Selbst das bekannte Treffen auf dem Hohen Meißner, zu dem im Oktober 1913 die Führer der Freideutschen Jugend aufgerufen hatten und an dem vor allem viele Wandervögel sowie zur Lebensreform neigende Gruppen teilnahmen, war nicht frei von solchen nationalistischen, wenn nicht gar chauvinistischen Tendenzen. Während zwischen 1815 und 1817 bei solchen Zusammenkünften die Sprecher der bürgerlich-studentischen Jugend eher von einer Abschüttelung der Fremdherrschaft, also einem „Freiheitskrieg“ gesprochen hatten, trat in diesem Jahr bei solchen Bekenntnissen zum Deutschtum fast ausschließlich das Militante in den Vordergrund. Im Hinblick auf das deutsche Volk war jetzt nicht nur innerhalb dieser Gruppen, sondern auch in anderen national gestimmten Schichten der wilhelminischen Bevölkerung meist von einer „Schicksals- und Opfergemeinschaft“ die Rede, wie es 1913 in einer Weiheschrift des deutschen Patriotenbundes hieß, in der sich jeder – zum Wohle des Ganzen – blindlings einem höheren Willen unterzuordnen habe. Es gab zwar in diesem Umkreis auch einige unzufriedene Äußerungen über den politischen Dilettantismus des Kaisers, was jedoch letztlich überwog, war eine bedingungslose Zustimmung zur Größe und Stärke des wilhelminischen Reichs, mit der sich viele einerseits gegen die „vaterlandslosen Gesellen“ in der SPD wandten sowie andererseits eine aggressive Wendung nach außen befürworteten, um so dem deutschen Reich endlich das von vielen ersehnte Großmachtansehen zu verleihen. Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918   209

34 Wilhelm Coblenz: Fotopostkarte mit einem Porträt und einem Ausspruch Kaiser Wilhelm II. (1914)

210  Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918

Es war daher für die Reichsregierung im Jahr 1913 ein Leichtes, im Reichstag einen Wehrbeitrag von 1 050 Millionen Mark durchzusetzen, der alle Jahresausgaben auf diesem Gebiet seit 1871 bei weitem übertraf. Außerdem wurde die Präsenzstärke des Heeres von 544 000 auf 661 000 Mann erhöht, um so für jeden eintretenden „Notfall“, wie es beschönigend hieß, bis auf die Zähne gerüstet zu sein und sich damit dem „rühmlichen Vorbild unserer Väter“ würdig zu erweisen. Ernst Bassermann, der Vorsitzende der Nationalliberalen Partei im Reichstag, erklärte dementsprechend 1913 mit dem nötigen Aplomb: „Wir erkennen in dieser Wehrvorlage die Verwirklichung des Scharnhorstschen Gedankens ‚Das Volk in Waffen‘“, als ob es bereits gelte, abermals gegen den „Erzfeind“ Frankreich in den Krieg zu ziehen. Und der Propagandaeffekt all dieser Maßnahmen, ob nun der Feiern zum 25. Regierungsjubiläums Wilhelm II. oder zur 100. Wiederkehr der Völkerschlacht von Leipzig sowie der Verstärkung der deutschen Armee, hatte durchaus die von der Reichsregierung gewünschte Wirkung. Immer breitere Schichten der deutschen Bevölkerung, die schon während der sogenannten Hottentottenwahlen von 1907 in eine imperialistische Stimmung versetzt worden waren, stellten sich seitdem bedingungslos hinter „ihren Kaiser“ und seinen im Jahr 1911 von ihm zum „Großadmiral“ ernannten Staatssekretär des Marineamtes Alfred von Tirpitz, der umgehend an den Ausbau einer Kriegsflotte ging, die fast die gleiche Stärke wie die britische Kriegsflotte haben sollte. Die Parole „Die Armee ist die Schule der Nation“ wurde daher – außer vom linken Flügel der Sozialdemokraten – kaum noch in Frage gestellt, sondern eher gutgeheißen, was dazu führte, daß selbst im familiären Alltagsleben immer mehr Kinder Kriegsspielsachen erhielten, kleine Jungen Marineuniformen trugen und das Absingen militant klingender Lieder zur Selbstverständlichkeit wurde.

II Als darum in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 der Krieg tatsächlich begann, kam es zu deutschnationalen Gefühlsentladungen, die selbst jene von 1813, 1848 und 1871 noch überboten. Fast alle Deutschen sahen in diesem Ereignis ein geradezu erwartetes, wenn nicht gar erwünschtes Signal zu einem Aufbruch ins Heldische oder sie zumindest Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918   211

35 Die ersten Kriegsfreiwilligen werden am 2. August 1914 in Berlin begeistert verabschiedet

zu einem nationalen Tataktivismus Anfeuernde. Nicht nur die reichspatriotisch gesinnten Kreise innerhalb der monarchisch eingestellten Adelskaste, der nationalliberalen Bourgeoisie und der Völkischen Opposition, sondern auch viele Wissenschaftler und Künstler sowie große Teile des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse, ja selbst die Parteispitze der SPD, die sofort im Reichstag für die Bewilligung der Kriegskredite stimmte, ließen sich von dem in der wilhelminischen Presse hochgejubelten „Augustwunder“ einfach mitreißen. Nur so läßt sich erklären, daß auf den Straßen von Berlin Zehntausende den Choral Nun danket alle Gott anstimmten, als Kaiser Wilhelm II. seine Parole „Ich kenne keine Parteien mehr, kenne nur noch Deutsche“ ausgab. Vom Strom eines „einheitlichen Volksbewußtseins“ ergriffen, wie es in der systemkonformen Presse hieß, hatten die meisten das Gefühl, daß dieser so gläubig, so idealistisch begonnene Krieg notwendig zu einer Beseitigung all jener ichsüchtigen, liberalistischen und materialistischen Ideen der von der Französischen Revolution von 1789 in die Welt gesetzten „Irrlehren“ und damit zu einem Sieg von Wertvorstellungen wie 212  Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918

Gemeinschaftlichkeit, Opferbereitschaft und Kulturbewußtsein führen müsse. Diese Aufwallung deutschnationaler Gefühle bewirkte in den Jahren 1914 und 1915 auf intellektueller Ebene zwangsläufig eine Hochflut geistutopischer Schriften, in denen dieser Krieg als ein Aufbruch ins Idealgesinnte hingestellt wurde, wobei man sich weitgehend an den von den Vertretern der Fortschrittlichen Reaktion seit den späten neunziger Jahren entwickelten Gegensatzpaaren „Idealismus statt Materialismus“, „Kultur statt Zivilisation“, „Religio statt Liberatio“ und „Volk statt Masse“ orientierte. Aus der Fülle an Publikationen, in denen das deutsche Reich zu diesem Zeitpunkt als der entscheidende Präzeptor einer geistigen und seelischen Höherführung aller Völker herausgestrichen wurde, sei in diesem Zusammenhang lediglich auf Bücher wie Die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes (1914) von Rudolf Eucken, Deutschlands europäische Sendung (1914) von Friedrich Lienhard, Die Mobilmachung der Seelen (1915) von Ernst Schulze, Der deutsche Mensch (1915) von Leopold Ziegler, Deutschland als Welterzieher (1915) von Joseph August Lux, Deutscher Weltberuf (1915) von Paul Natorp, Händler und Helden (1915) von Werner Sombart und Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg (1915) von Max Scheler hingewiesen. Fast alle dieser Professoren und Publizisten riefen in ihnen mit unmißverständlichen Worten zu einem „Kreuzzug des Geistes“ gegen die „materialistischen Zivilisationen des Westens“, also gegen Frankreich und England, auf, in denen sich eine depravierende „Veräußerlichung“ alles Wertvollen ins Liberalistische und Kommerzialisierte verbreitet habe. In diesen beiden Ländern, hieß es in derartigen Büchern und Traktaten geradezu unentwegt, bestimmten schon seit Jahrzehnten nur noch die „Krämer und Händler“ das politische und gesellschaftliche Leben, während sich in Deutschland – trotz mancher Einbrüche der gleichen materialistischen Tendenzen, die sich im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung ergeben hätten – stets ein Sinn für Höheres, das heißt für Heldentum und Kulturwille erhalten habe, der dieser Nation die Legitimierung gebe, als „Verwalter der geistigen Güter der Menschheit“ allen anderen Völkern mit dem geistmissionarischen Anspruch einer „seelischen Höherführung“ ins Antimaterialistische entgegenzutreten. „Das Herz zu werden in der Völker Mitten“, war daher für viele dieser idealistisch verblendeten Autoren das „wichtigste Kriegsziel“. SchließDer Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918   213

36 Friedrich August von Kaulbach: Germania (1914). Berlin, Deutsches Historisches Museum

214  Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918

lich habe sich niemand „um die kulturellen Hauptfragen so erhitzt“, erklärte Willy Hellpach, wie die geistige Elite der Deutschen. „Was bei uns geschieht“, behauptete er dementsprechend, wird daher „weithin entscheidend sein für das europäische Schicksal“. Ja, Joseph August Lux schrieb sogar noch emphatischer: „Nichts steht dem Deutschen so schön, nichts macht ihn so unüberwindlich, als dieser Idealismus, der ihn zum Machthaber der Gesittung bestimmt, zum Führer unter den Völkern, zum Kulturerzieher.“ Der künftige Sieg Deutschlands in diesem Krieg wurde daher in vielen dieser von geistutopischen Vorstellungen nur so strotzenden Schriften meist mit dem Sieg der deutschen Kultur sowohl über die westliche als auch über die östliche Unkultur gleichgesetzt. Nur bei einem Sieg Deutschlands, liest man in ihnen immer wieder, werde es nicht zu einem allgemeinen Untergang der Kultur, sondern zu einem bisher noch ungeahnten Aufstieg der Menschheit zu immer neuen „Höhen“ kommen. Im Sinne solcher Anschauungen erklärte selbst der preußische General Helmuth von Moltke jr., der sich 1913 als Chef des Generalstabs vehement für die von Wilhelm II. angeordnete Heeresverstärkung eingesetzt hatte, kurz nach Kriegsausbruch vor der Deutschen Gesellschaft von 1914: „Die romanischen Völker haben den Höhepunkt ihrer Entwicklung schon überschritten, sie können keine befruchtenden Elemente mehr in die Weltentwicklung hineintragen. Die slawischen Völker, in erster Linie Rußland, sind noch zu weit in der Kultur zurück, um die Führung der Menschheit übernehmen zu können. Unter der Herrschaft der Knute würde Europa in den Zustand der geistigen Barbarei zurückgeführt werden. England verfolgt nur materielle Ziele. Eine günstige Weiterentwicklung der Menschheit ist nur durch Deutschland möglich. Deshalb wird auch Deutschland in diesem Kriege nicht unterliegen. Es ist das einzige Volk, das zur Zeit die Führung der Menschheit zu höheren Zielen übernehmen kann.“ Es ist auffällig, in wie vielen Verlautbarungen solcher Art dabei der positive Hauptakzent auf das Wort „Volk“ gelegt wurde, um so den immer noch scharf voneinander getrennten Klassen innerhalb der deutschen Bevölkerung das Gefühl einer nationalen Solidargemeinschaft einzuflößen. Überall war plötzlich von „Volksgeist“, „Volkstum“, „Volkheit“, „Volksgemeinschaft“, „Volksstaat“ oder „Volksheer“ die Rede, als ob es sich bei dem eben begonnenen Krieg um ein unvermeidliches RinDer Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918   215

gen verschieden gearteter Völker handele. Selbst ein relativ kritisch eingestellter Sozialdemokrat wie Hugo Haase sprach daher 1914 im Hinblick auf die deutsche Bevölkerung nicht mehr wie bisher von Klassen, sondern von jenen „Millionen Volksgenossen“, die nur allzu willig bereit seien, in diesen Krieg zu ziehen. Auch Friedrich Naumann und Hugo Preuss, die beide Mitglieder der 1910 gegründeten Fortschrittlichen Volkspartei waren, erklärten 1915, daß sich Deutschland durch diesen Krieg endlich aus einem „Klassen- bzw. Gebildetenstaat“ in einen „Volksstaat“ verwandelt habe. Nicht minder volksbetont gab sich sogar die jüdische Zeitschrift Im deutschen Reich, die am 1. August 1914 alle jungen Männer unter den deutschen Juden aufrief, sich umgehend zum freiwilligen Wehrdienst zu melden und „Schulter an Schulter“ mit ihren christlichen Volksgenossen für Kaiser und Reich ins Feld zu ziehen. Ja, selbst in einigen zionistischen Blättern, welche sich bisher von allen deutschnationalen Tendenzen scharf abgesetzt hatten, finden sich zum gleichen Zeitpunkt ähnliche Aufrufe. Aufgrund dieser chauvinistischen Hochstimmung stieg die Mehrheit der deutschen Soldaten Anfang August 1914 strahlenden Gesichts sowie mit Blumensträußen an den Helmen in die für sie bereitgestellten Güterwagen, die sie an die Westfront bringen sollten und an deren Außenwände sie Sprüche wie „Ausflug nach Paris“, „Auf Wiedersehen auf dem Boulevard“ oder „Auf in den Kampf, mir juckt die Säbelspitze“ kritzelten. Und sie sangen dabei Lieder wie Heil Dir im Siegerkranz oder Es braust ein Ruf wie Donnerhall, als ob es sich, wie 1870/71, abermals um einen schnell zu einem glorreich zu Ende bringenden Blitzkrieg handeln würde, aus dem Deutschland erneut als unüberwindlicher Sieger hervorgehen würde. Kein Wunder daher, daß im Oktober 1914 Tausende von Freiwilligen bei Langemarck mit dem Lied Deutschland, Deutschland über alles auf den Lippen in opferwilliger Todesbereitschaft bedenkenlos in das englische Maschinengewehrfeuer hineinstürmten. Ja, auch an anderen Frontabschnitten gab es ähnliche Szenen, die in der wilhelminischen Heimatpresse – trotz der gewaltigen Menschenopfer, welche damit verbunden waren – als vorbildliche Notwendigkeiten bejubelt wurden, in denen der uralte Germanengeist wieder auferstanden sei. „Wir sind nun einmal ein militärisches Volk“, behauptete Ernst Troeltsch im Dezember 1914 in seiner Rede Das Wesen der Deutschen, in der er seine Landsleute als ein Volk charakterisierte, das noch immer 216  Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918

seinen „alten germanischen Charakter“ habe, den kein westliches, vom neumodischen Kapitalismus korrumpiertes „Krämerwesen“ brechen könne. Fast gleichlautend ließ sich zum gleichen Zeitpunkt der Reichstagspräsident Johannes Kaempf zu den Sätzen hinreißen: „So zieht das Volk in Waffen im Bewußtsein seiner Stärke hinein in den heiligen Kampf. Aus den Augen unserer Brüder und Söhne blitzt der alte deutsche Kampfesmut.“ Und auch Alfred Weber erklärte im gleichen Sinne: „Jeder Deutsche ein Krieger – anders gibt es für uns keine Zukunft.“ Sogar viele jener Literaten, die bisher in die „machtgeschützte Innerlichkeit“ eines unpolitischen Ästhetentums ausgewichen waren, stimmten dem zu. So schrieb etwa Thomas Mann, der im Spätherbst 1914 kaum schlafen konnte, weil ihm ständig Tränen über die „deutschen Siege“ in die Augen traten: „Krieg! Es war eine Reinigung, Befreiung. Was wir empfanden, war eine ungeheure Hoffnung. Es war der gewaltige und schwärmerische Zusammenschluß der Nation in der Bereitschaft zu tiefster Prüfung.“ Selbst als in den Jahren 1916 bis 1918 auf die ersten Siege der deutschen Truppen eine Phase mörderischer Stellungskämpfe folgte, hielt eine Reihe dieser Autoren weiterhin an ihrer geistidealistischen Deutung des Krieges fest. Und zwar stellten sie dabei das allgemeine Massensterben als ein „Stahlbad“, einen „Gotteskampf “, eine „Auferstehung“, ja als ein kaum zu fassendes „Mysterium“ hin, in dem sich – durch ein „Dahinschmelzen der kleinen Egoitäten“ und ein damit verbundenes „Erwachen zu einem endlich geeinten Volk“ – eine Wandlung Deutschlands aus einem bloßen Zweckverband in ein „Sacrum imperium“ vollzogen habe.

III In all solchen Äußerungen kam letztlich ein blinder Hochmut, ja eine geistaristokratische Hybris zum Durchbruch, die weniger idealistisch als ideologisch verblasen wirkt. Schließlich war den wenigen Kritikern dieser Gesinnung, wie etwa den Autoren der pazifistisch eingestellten Weißen Blätter oder den Spartakisten innerhalb der SPD, schon damals klar, daß dieser Krieg kein Kreuzzug des deutschen Geistes gegen den materialistischen Ungeist des „Westens“, sondern ein imperialistischer Raubkrieg Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918   217

war, den die wilhelminischen Führungsschichten im Herbst 1914 höchst bewußt vom Zaun gebrochen hatten, um dem deutschen Reich endlich die von ihnen erhoffte Machtposition in Europa, wenn nicht gar in der Welt zu verschaffen. Von ausschlaggebender Bedeutung war hierbei die Tatsache, daß Deutschland im Jahr 1913 in der Weltrangliste der führenden Industrienationen den 2. Platz eingenommen hatte, was sowohl die Meinungsträgerschichten innerhalb der Industrieverbände als auch die wilhelminischen Regierungskreise, die sich seit den späten neunziger Jahren immer näher gekommen waren, in dem Gefühl bestärkte, daß es jetzt an der Zeit sei, dieser ökonomischen und militärischen Stärke auch einen weltpolitischen Ausdruck zu verleihen. Schon kurz nach Kriegsbeginn entwarfen darum diese Kreise, die in den von kulturmissionarischen Vorstellungen verblendeten Geistaristokraten der Fortschrittlichen Reaktion lediglich „nützliche Idioten“ erblickten, höchst anspruchsvolle Annexionspläne, wobei sie nicht nur auf dem europäischen Kontinent, sondern auch in Übersee eine Reihe von Gebieten ins Auge faßten, die nach einem Sieg der sogenannten Mittelmächte, also Deutschlands, der K. und K. Monarchie und des Osmanischen Reichs, Teile eines erweiterten deutschen Imperiums werden sollten. Dafür spricht nicht nur das vom Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg abgesegnete Septemberprogramm von 1914, sondern vor allem jene Denkschrift, welche Heinrich Claß, der Vorsitzende des Alldeutschen Verbands, ebenfalls im September 1914 publizieren ließ, die weit über die von Bethmann Hollweg geforderten „kleinen Grenzerweiterungen“ hinausging und sogar mehrere nord- und osteuropäische sowie überseeische Gebiete in ihre Reichserweiterungspläne einbezog. In ihr hieß es unter anderem, daß „Mitteleuropa“ nach dem siegreichen Ende des Krieges „ein großes einheitliches Wirtschaftsgebiet“ werden müsse, was als „gebieterische Forderung geradezu in der Luft“ liege. „Diesem Kern“, schrieb Claß, „werden sich dann mit gesetzmäßiger Gewißheit sicher auch die Niederlande und die Schweiz, die drei skandinavischen Staaten und Finnland, Italien, Rumänien und Bulgarien anschließen.“ Und so werde schließlich „ein gewaltiges Wirtschaftsgebiet entstehen, das schlechthin jedem anderen gegenüber seine wirtschaftspolitische Unabhängigkeit wird wahren und durchsetzen können“. Ja, in seiner Flugschrift Zum deutschen Kriegsziel von 1917 stimmte Claß noch aggressivere Töne an und setzte sich für eine Politik 218  Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918

37 Bruno Paul: Aufruf zum Erwerb der 7. Kriegsanleihe mit einem Porträt Paul von Hindenburgs (1917)

Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918   219

der „Landnahme und völkischen Feldbereinigung“ in Richtung Osteu­ ropa ein, um so endlich – unter Vorwegnahme der späteren der „Volk ohne Raum“-Parolen – den ständig größer werdenden „Landhunger des deutschen Volkes“ befriedigen zu können. Selbst im Jahr 1918, als sich immer noch kein Endsieg abzeichnete, hielten sowohl die Reichsregierung als auch die Alldeutschen und Nationalliberalen hartnäckig an solchen Annexionsvorstellungen fest und wandten sich entschieden gegen einen möglichen Verständigungsfrieden, ja setzten schließlich bei Kaiser Wilhelm II. durch, daß der ihnen zu „gemäßigt“ erscheinende Reichskanzler Bethmann Hollweg zurücktreten mußte, worauf die Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff die Zügel der Kriegsführung an sich riß. Sogar in diesem Zeitraum war deshalb innerhalb der wilhelminischen Führungsschichten mit chauvinistischer Emphase weiterhin unablässig von längst fälligen „Grenzveränderungen im Osten und Westen“ die Rede, um Deutschland endlich jene politische und wirtschaftliche Stärke zu geben, um neben England, Rußland und den Vereinigten Staaten als vierte Weltmacht auftreten zu können. Während die preußischen Großagrarier dabei ihre Blicke vor allem auf Polen, das Baltikum und die Ukraine richteten und nach dem am 3. März 1918 unterzeichneten Friedensvertrag von Brest-Litowsk auch die Krim und das Dongebiet in ihre Annexionspläne einbezogen, faßten die westdeutschen Großindustriellen vor allem die französisch-belgischen Kohleund Erzlager sowie eine Reihe neuer Kolonien in Übersee ins Auge, um so jenes „Imperium germaniae“ Realität werden zu lassen, das bereits vielen Vertretern der Völkischen Opposition um 1900 als Idealvorstellung vorgeschwebt hatte. Allerdings wurden solche Pläne in den Jahren zwischen 1914 und 1918 noch weitgehend „vertraulich“ behandelt, das heißt nicht in den Vordergrund massenmanipulatorischer Propagandamanöver gerückt. Dem „Volk“ gegenüber bot man ganz andere Parolen auf, um es – trotz vieler Entbehrungen – in seiner Kriegswilligkeit zu bestärken. Zu Anfang des Krieges waren es erst einmal, wie gesagt, die idealistisch klingenden Phrasen der Geistaristokraten gewesen, die in der wilhelminischen Presse als Hauptschlagworte der ideologischen bzw. psychologischen Kriegsführung verwandt wurden. Als solche Parolen – angesichts der mörderischen Stellungskämpfe vor Verdun – allmählich an Glaub220  Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918

würdigkeit verloren, traten an ihre Stelle zusehends jene preußischen „Durchhalte“-Maximen, die schon Friedrich II., der sogenannte „Große“, in seinen Kriegen höchst wirkungsvoll eingesetzt hatte. Allerdings erwiesen sich selbst derartige Taktiken auf die Dauer nicht so effektiv, wie die Heeresführung erwartet hatte. Daher schlossen sich schließlich die militantesten Vertreter der kriegsnationalistischen Kreise im Herbst 1917 zu einer Hauptvermittlungsstelle Vaterländischer Verbände zusammen, aus der die am 2. September gegründete Deutsche Vaterlandspartei unter dem konservativen Politiker Wolfgang Kapp, dem Vorsitzenden der Deutschen Kolonialgesellschaft Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg und dem Großadmiral Alfred von Tirpitz hervorging, welche sich vor allem der finanziellen Unterstützung der adligen Großagrarier, der Alldeutschen, des Generalstabs sowie der nationalliberal eingestellten Industriellen erfreute und aufgrund ihrer regen Propagandatätigkeit schnell zu einer Partei anwuchs, die es auf 1,25 Millionen Mitglieder brachte. In scharfer Frontstellung gegen die allmählich einsetzenden Ermüdungserscheinungen und regional aufflackernden Streikbewegungen vertrat diese Partei, wie auch die schon 1914 gegründete Deutschvölkische Partei, bis Kriegsende das Konzept eines unnachgiebigen Siegfriedens, das heißt lehnte alle Friedensbemühungen ab und verlangte nach wie vor die Annexion des französischen Erzbeckens von Longwy-Briey sowie eine Reihe erheblicher Grenzerweiterungen im Osten Deutschlands. Daß diese Partei bis zum Kriegsende, als sie bereits – militärisch gesehen – auf verlorenem Posten stand, dennoch eine massive Unterstützung auf Seiten des Adels sowie des mittleren und gehobenen Bürgertums fand, läßt bereits ahnen, wie stark selbst in diesem Zeitraum noch all jene rechtskonservativen bis reaktionären Kräfte waren, die sich nach der Novemberrevolution von 1918 keineswegs mit der anschließend gegründeten Weimarer Republik anfreunden konnten.

Der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918   221

Die Weimarer Republik

I Eine der fatalsten Folgen des Ersten Weltkriegs war der sich betont „völkisch“ gebende Nationalismus oder gar Chauvinismus, der sich in vielen europäischen Ländern nach 1918 auszubreiten begann. Allerdings gilt es hierbei zwischen zwei verschiedenen Formen dieses Phänomens, einem gerechtfertigten und einem ungerechtfertigten Nationalismus, zu unterscheiden. Gerechtfertigt war dieser Nationalismus lediglich in neugegründeten Staaten wie Polen, Litauen, Lettland, Estland, Ungarn, der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Albanien und Bulgarien, die vorher Teilgebiete des russischen Zarenreichs, der K. und K. Donaumonarchie, des Zweiten Deutschen Kaiserreichs sowie des Osmanischen Großimperiums waren. Nachdem diesen Völkern oder Volksgruppen jahrzehntelang, zum Teil sogar jahrhundertelang von den Regierungen dieser vier Reiche jede nationale Selbständigkeit verwehrt worden war, entstanden hier Staaten, in denen der Stolz auf die endlich errungene Eigenstaatlichkeit so groß war, daß sie sich – außer der Tschechoslowakei – im Laufe der zwanziger Jahre zusehends in staatliche Gebilde verwandelten, in denen bewußt „völkisch“ auftretende Diktatoren die Herrschaft an sich rissen, was von weiten Schichten der Bevölkerung dieser Staaten, die lange genug unter dem Joch fremdvölkischer Regierungen gelitten hatten, durchaus geduldet, ja in vielen Fällen sogar begrüßt wurde. In den vier Verliererstaaten, die sich keineswegs als die Alleinschuldigen an diesem Krieg fühlten, aber von den Siegermächten der westlichen Entente so behandelt wurden, hatten dagegen nach dem November 1918 erst einmal die antivölkischen Gruppen die Oberhand. Da in diesen Staaten jahrelang die nationalistische Kriegstrommel gerührt worden war, ja nachdem die Führungsschichten dieser Staaten der ihnen nur allzu willig folgenden Bevölkerung mit maßlos übersteigerten Parolen einen glorreichen Siegfrieden versprochen hatten, dauerte es hier etwas länger, bis die Sprecher völkisch orientierter Gruppen wieder größere Bevölkerungsschichten für sich gewinnen konnten. Am schnellsten setz222  Die Weimarer Republik

ten sich die antinationalistischen Kräfte im Zarenreich durch, wo es den mit weltrevolutionären Maximen auftretenden Bolschewiki unter Lenin schon im Oktober 1917 gelang, die Macht an sich zu reißen. Allerdings trat selbst hier ab 1924 eine schleichende Nationalisierung der sozialistischen Errungenschaften ein, die später in der von Stalin ausgegebenen Parole eines „Aufbaus des Kommunismus in einem Lande“ kulminierte. In der Türkei führte dieser innerstaatliche Vereinheitlichungsprozess – nach der Unterdrückung der Armenier und Kurden – bereits im Oktober 1923 zum Sieg eines nationalen Diktators in der Gestalt jenes Gazi Mustafa Kemal Pascha, der sich ab 1934 Kemal Atatürk nannte. In Österreich kam es dagegen – nach vielen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen der Christlichsozialen Partei, den sozialistischen Schutzbündlern, den Großdeutschen sowie den nationalistisch eingestellten Frontkämpfer- und Heimwehrverbänden – erst Anfang der dreißiger Jahre, genauer gesagt im Jahr 1932, zu einer halbfaschistischen Diktatur unter Engelbert Dollfuß, der sich nach seiner Machtergreifung vornehmlich auf den Christlich-Sozialen Landbund und den Heimatblock stützte. Am längsten dauerte diese Wendung ins „Völkische“ innerhalb der vier Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs in Deutschland, wo die nazifaschistische Diktatur unter Adolf Hitler erst 1933 begann. Als im November 1918 im wilhelminischen Reich die Novemberrevolution um sich griff, war diese Entwicklung noch keineswegs vorherzusehen. Im Gegenteil, zu Anfang bewirkte diese Revolte erst einmal einen dramatischen Ruck nach „links“, den in dieser Vehemenz kaum jemand vorhergesehen hatte. Es war zwar im Deutschen Reichstag schon 1916 zu ersten nationaldemokratischen Verfassungsänderungen gekommen, ja die Mehrheit der dortigen Abgeordneten hatte sich am 26. Oktober 1918 in letzter Minute zum Konzept einer parlamentarischen Demokratie durchgerungen, worauf sich zwei Tage später sogar Wilhelm II. gezwungen sah, der „neuen Ordnung, welche die grundlegenden Rechte von der Person des Kaisers auf das Volk“ übertrug, seinen Segen zu geben, aber auf die unmittelbare Kriegsführung hatte das keinen Einfluß gehabt. Obwohl also in Deutschland zu diesem Zeitpunkt die hochadligen Vertreter des alten Regimes im Heer und in der Regierung noch immer über die letztlich entscheidende Befehlsgewalt verfügten und sich selbst ein Vertreter der Fortschrittlichen Volkspartei wie Die Weimarer Republik   223

Friedrich Naumann für eine „Regierung der nationalen Verteidigung“ aussprach, ja sich sogar Teile der SPD-Führung nach wie vor auf den „Geist der ersten Augusttage“ des Jahres 1914 beriefen, war danach kein Halten mehr. Als es daher Anfang November 1918 zum Kieler Matrosenaufstand kam, schlossen sich nicht nur viele der kriegsmüden Soldaten, sondern auch größere Gruppen rebellischer Arbeiter an der Heimatfront – nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution – in spontanen Aktionen zu Arbeiter- und Soldatenräten zusammen, worauf der Kaiser abdankte und sich der Reichstag in seiner alten Zusammensetzung auflöste. Die vorläufige Macht übernahm anschließend ein Rat der Volksbeauftragten, der aus je drei Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) sowie drei Mitgliedern der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) bestand, die jeweils höchst verschiedene Vorstellungen im Hinblick auf die zu gründende Republik hatten. Die Folge davon war, daß sich Philipp Scheidemann am 9. November im Sinne der SPD für die Gründung einer Deutschen Demokratischen Republik einsetzte, während der im Mai 1916 als Kriegsgegner verurteilte Karl Liebknecht, der kurz zuvor aus der Haft entlassen worden war, als Vertreter der USPD am gleichen Tag vom Balkon des Berliner Schlosses die Freie Sozialistische Republik ausrief. Damit war zwar die jahrhundertealte Fürsten- und Adelsherrschaft in Deutschland erstmals durch eine Republik abgelöst worden, die auf dem Konzept der Volkssouveränität beruhen sollte, aber die Frage, welche Form diese Republik annehmen würde, war durch solche Aktionen noch längst nicht entschieden. Die einzigen sozialen Verbesserungen, welche der Rat der Volksbeauftragten unter dem Vorsitz des SPD-Parteiführers Friedrich Ebert in seinem am 12. November publizierten Aufruf an das deutsche Volk den auf eine Gesamtumwälzung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse drängenden Arbeiter- und Soldatenräten versprach, waren die Einführung des Acht-Stunden-Tags, das Wahlrecht für Frauen, eine allgemeine Krankenversicherung und eine finanzielle Unterstützung der Erwerbslosen, während die Frage, wie die zukünftige Verfassung aussehen sollte, in diesem Aufruf noch ausgeklammert blieb. Kurz darauf entschied der Berliner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte, daß sich am 19. Januar 1919 alle Deutschen an Wahlen für eine Verfassungsgebende Nationalversammlung beteiligen 224  Die Weimarer Republik

sollten. Und diese fanden – trotz der bürgerkriegsähnlichen Kämpfe zwischen den diese Wahlen boykottierenden Spartakisten und der von der SPD aufgebotenen Reichswehr – dann auch statt. Da sie zu einem Wahlsieg der SPD, der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und des Zentrums über die links- bzw. rechtsgerichteten Parteien führten und auch der Spartakus-Aufstand in Berlin blutig niedergeschlagen wurde, trat erst einmal eine vorläufige Beruhigung der innenpolitischen Verhältnisse ein, zumal sich auch die am 7. April in München ausgerufene Bayerische Räterepublik nicht gegen die übermächtige Gewalt der von der Reichsregierung unterstützten Reichswehr- und Freikorpsverbände durchsetzen konnte. Damit hatte Ebert, der am 11. Februar 1919 von der Weimarer Nationalversammlung zum Reichspräsidenten gewählt worden war, sein vorläufiges Ziel erreicht. Anstelle der Kaiserherrschaft war in Weimar – mit Hilfe der Reichswehr und der extrem nationalistisch eingestellten Freikorpsgruppen – jene Deutsche Demokratische Republik gegründet worden, durch die Ebert die Gefahr einer „Bolschewisierung“ Deutschlands verhindert hatte und von der er sich eine fortschreitende „Stabilisierung“ der politischen und sozioökonomischen Verhältnisse versprach. Aber unter welchen Opfern auf Seiten der Linken hatte sich das vollzogen! Spartakisten wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg waren in Berlin von rechtsradikalen Fanatikern ermordet worden und in München hatten Rätesozialisten wie Kurt Eisner, Gustav Landauer und andere USPD-Mitglieder ihr Leben lassen müssen, von vielen anderen sogenannten Fememorden ganz zu schweigen. Und auch die Aktivitäten der mit den linken Aufständen sympathisierenden Expressionisten und Dadaisten, die sich zu revolutionär gesinnten „Arbeitsräten“ zusammengeschlossen hatten, erwiesen sich als illusionär. Viele ihrer Hauptvertreter traten zwar als scharfe Kritiker der chauvinistischen Tendenzen des wilhelminischen Reiches und seiner gesellschaftlichen Rangvorstellungen auf, aber ihre ideologischen Zielsetzungen waren meist so geistutopistisch oder religiös-überspannt, daß sie das von ihnen anvisierte Arbeiterpublikum, welches sie mit Manifesten, Gedichten, Theaterstücken, Gemälden und Graphiken zu einer ins Menschheitliche ausufernden Gesamtumwälzung der bestehenden Verhältnisse aufrufen wollten, auf eklatante Weise verfehlten.

Die Weimarer Republik   225

Doch auch die Rechten, die im Gegensatz zu den Linken weiterhin am Gedankengut des Wilhelminismus, der Fortschrittlichen Reaktion bzw. der Völkischen Opposition der Vorkriegszeit festzuhalten versuchten, konnten Anfang 1919 nicht sofort weitreichende Erfolge für sich verbuchen. Zugegeben, es waren nach Kriegsschluß unter der Leitung einiger stellenlos gewordener Offiziere die besagten nationalistischen Freikorps entstanden, die sich an der Niederschlagung des Spartakus-Aufstands sowie der Bayerischen Räterepublik beteiligten und damit die von der SPD beabsichtigte „Ruhe und Ordnung“ wieder hergestellt hatten. Ihre Einsätze gegen die Polen in Oberschlesien und die Rote Armee im Baltikum verliefen dagegen weitgehend folgenlos, worauf sie sich größtenteils wieder auflösten. Ebenso erfolglos blieb im März 1920 der nationale Putsch des ehemaligen Mitbegründers der Deutschen Vaterlandspartei Wolfgang Kapp sowie des Befehlshabers des Reichswehrgruppenkommandos I in Berlin Walther von Lüttwitz, der schon nach wenigen Tagen an dem von den Gewerkschaften, den Unabhängigen Sozialdemokraten und der Deutschen Demokratischen Partei ausgerufenen Generalstreik der gesamten Arbeiterschaft scheiterte. Das gleiche gilt für den Aufstand der Schwarzen Reichswehr in Küstrin. Noch kläglicher verlief am 9. November 1923 der von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) unter Adolf Hitler veranstaltete Marsch auf die Münchner Feldherrnhalle, an dem sich unter anderem Erich Ludendorff und Ernst Röhm beteiligten und der in Anlehnung an Benito Mussolinis Marsch auf Rom zu einem Marsch auf Berlin führen sollte, um die dort amtierende Regierung abzusetzen. Er brach bereits nach wenigen Stunden zusammen, worauf Hitler eine mehrjährige Gefängnisstrafe erhielt und die NSDAP vorübergehend verboten wurde. Etwas mehr Erfolg im rechten Lager hatte zu Anfang der Weimarer Republik lediglich die im November 1918 von Politikern der ehema­ ligen Freikonservativen Partei, der Deutschvölkischen Partei und des Alldeutschen Verbands gegründete Deutschnationale Volkspartei (DNVP). In ihr engagierten sich vornehmlich die ehemals führenden Schichten des kaiserlichen Deutschlands, das heißt der Adel, das gehobene Bürgertum und mehrere Großindustrielle. Sie trat mit allen ihr zur Verfügung stehenden massenmedialen und finanziellen Mitteln, die beträchtlich waren, für die Wiederherstellung der Monarchie und die „von den Linken in den Schmutz getretene deutsche Ehre“ ein. Aller226  Die Weimarer Republik

dings erreichte sie bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Weimarer Nationalversammlung nur 10,3 Prozent der Stimmen, worauf sie – voller Frustrierung – ihren reaktionär-nationalistischen Kurs unter ihrem Vorsitzenden Oskar Hergt sogar noch verschärfte und sich dabei vor allem der von Paul von Hindenburg am 18. November 1918 vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß in die Welt gesetzten Dolchstoßlegende bediente, um so die „Sozis und Juden“ als schmähliche Vaterlandsverräter anprangern zu können. Das wirkte sich zwar in den folgenden Wahlen positiv für sie aus, verhalf ihr aber nicht, die Mehrheit der Wähler zu einem Haß gegen den „demokratischen Ungeist“ der Weimarer Republik aufzuputschen. Letztlich blieb sie bis weit in die zwanziger Jahre hinein eine politische „Unmutspartei“, die in ihrer Ideologie voller Frustrierung zwischen monarchistischen, alldeutschen und völkischen Vorstellungen hin- und herschwankte.

II Das gleiche gilt für all jene mit den verschiedenen rechtsreaktionären Parteien und Freikorpsverbänden sympathisierenden Romane, Traktate und Utopien, die in den Jahren zwischen 1919 und 1923 der als „unannehmbar“ hingestellten Schmach des von der SPD unterzeichneten Friedensvertrags von Versailles Ausdruck zu geben suchten und ihren Lesern die Möglichkeit einer Wiederherstellung des Wilhelminischen Kaiserreichs oder gar die Heraufkunft irgendeines Dritten Reichs vorspiegelten. In Werken dieser Art erscheint Deutschland meist als ein zwar gedemütigtes, aber letztlich unbesiegbares Land, das alles daran setzt, seinen alten „Platz an der Sonne“ zurückzuerobern. So geht es etwa in dem Roman 1934. Deutschlands Auferstehung (1921) von Ferdinand Eugen Solf um den kaisertreuen Major Fritz von Seelow, der sich im November 1918 schmollend auf sein Gut in Pommern zurückzieht und unter der „Schmach von Versailles“ leidet. In diesem Roman hat Frankreich ganz Deutschland besetzt und knechtet es nach allen Regeln der Kunst. Um das fremde Joch endlich abzuschütteln, baut ein genialer deutscher Ingenieur mit Hilfe der Schwerindustrie einen „Strahlenapparat“, mit dem man „alle fremden Explosivstoffe zur Entzündung“ bringen kann. Diesen Apparat stellt er einem Geheimklub Die Weimarer Republik   227

ehemaliger Frontoffiziere unter Erich Ludendorffs Leitung zur Verfügung, der daraufhin im März 1934 einen Staatsstreich unternimmt, die Franzosen aus Deutschland vertreibt und „nach der kaiserlosen, schrecklichen Zeit“ der Weimarer Republik wieder die Monarchie einführt. Nicht minder wilhelminisch wirkt ein astrologisches Machwerk wie Die Zukunft der Welt. Völkerschicksale in den Jahren 1925 bis 2000 (1925) von Max Bauer. Während die Planeten am 18. Januar 1871 bei der Kaiserproklamation im Spiegelsaal zu Versailles geradezu „glänzend“ gestanden hätten, lesen wir hier, habe sich die Ausrufung der Weimarer Republik am 9. November 1918 von vornherein unter einem ungünstigen Stern vollzogen. Bauer gab daher diesem Staat überhaupt keine Chance. Ein „Wiedererstarken Deutschlands“ sah er erst für die Jahre 1931 bis 1933 voraus, worauf es 1933/34 zu „Gebietsrückerstattungen“ und 1941/42 zu einer „monarchistischen Diktatur“ kommen werde. Auf einer ähnlichen Linie liegt der Roman Der Erlöser-Kaiser. Erzählung aus Deutschlands Zukunft und von seiner Wiedergeburt (1923) von Adolf Reinecke. Sein Autor war seit 1896 Herausgeber der Zeitschrift Heimdall, die sich auf einer rassistisch-alldeutschen Linie bewegte und einen wichtigen Sammelpunkt der Völkischen Opposition gegen die „zaghafte“ Politik der Hohenzollern gebildet hatte. Auch er setzte seine Hoffnung auf einen wahrhaft „volksverbundenen Kaiser“ bzw. „kaiserlichen Führer“, der Deutschland zu noch ungeahnten Höhen emporführen werde. Als diesen „Erlöser-Kaiser“ stellte er einen imaginären Fürsten Friedrich hin, dem der deutsche Reichstag Mitte der zwanziger Jahre mit Zweidrittelmehrheit die Kaiserkrone anträgt. Um jenes großgermanische Stammesreich zu errichten, das schon den Alldeutschen um 1900 als die höchste Erfüllung ihrer Wünsche vorgeschwebt hatte, läßt Friedrich erst die Polen ausrotten und dann an der Weichsel und Warthe Aufzuchtkolonien der nordischen Rasse gründen. Darauf besiegt er mit den wiedererstarkten deutschen Truppen sowohl die Engländer als auch die Franzosen und macht so Deutschland zu einer Großmacht, neben der alle anderen europäischen Mächte ins Bedeutungslose herabsinken. Den Abschluß des Ganzen bildet eine symbolträchtige Kaiserkrönung im Dom zu Aachen, den dieser von allen Deutschen geliebte „Kaiser Blondbart“ – unter dem Jubel der Abgesandten der verschiedenen deutschen Stämme – in eine Kirche des „arischen Heilands“ umfunktioniert. 228  Die Weimarer Republik

38 Heinrich Hoffmann: Die Angeklagten des Hitler-Prozesses (1923). Neben Hitler Erich Ludendorff und Ernst Röhm

Es gab allerdings zu diesem Zeitpunkt auch schon Völkische, die auf solche Erhöhungen ins Monarchistische verzichteten und ihre Zukunftshoffnungen eher auf den nationalen Gesamtwillen des deutschen Volkes setzten. Dafür spricht in der Anfangszeit der Weimarer Republik ein Roman wie Unsere Stunde kommt (1923) von Kurt Anker, wo zwar wiederum ein wilhelminischer Offizier im Vordergrund steht, der gegen die „rote Flut der Novemberverbrecher“ und die „rassisch-entarteten Franzosen“ eine völkische Sammlungsbewegung ins Leben ruft, dabei jedoch nicht die Monarchie, sondern einen „Sozialismus auf nationaler Grundlage“ als die Regierungsform der Zukunft hinstellt. In diesem Zusammenhang wird sogar schon Adolf Hitler und seine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei erwähnt, jedoch diese Partei nur als eine unter anderen charakterisiert, die später in einer deutsch-sozialen Großbewegung aufgehen müsse. Eine ähnliche Orientierung liegt dem Roman Kommen wird der Tag! Die Geschichte der nächsten deutschen Befreiung (1921) von Roderich Müller-Guttenbronn zugrunde, der sich als Autor Dietrich Arndt nannte. Wie viele derartige Sozialfaschisten knüpfte auch Müller-Guttenbronn an den obligaten Franzosenhaß an, der 1913 anläßlich der Jahrhundertfeier der Völkerschlacht von Leipzig und dann Die Weimarer Republik   229

zwischen 1914 und 1918 in ganz Deutschland wahre Orgien gefeiert hatte. In diesem Roman werden nicht nur die Rheinlande und das Ruhrgebiet, sondern – wie in napoleonischer Zeit – alle deutschen Länder von französischen Truppen besetzt. Und wie damals unter Schill und Lützow bilden sich auch jetzt wieder völkische Freischaren, deren wichtigster der Bund Freiheit unter dem weizenblonden Wilhelm Weigand ist. Angesichts dieser Situation schwören selbst die Sozialdemokraten ihrem bisherigen Internationalismus ab und bekennen sich lauthals zur „deutschen Idee“. Doch auch die breiten Volksmassen, die besonders über die „geilen, geschlechtskranken Negerregimenter“ der französischen Besatzungsarmee empört sind, welche alle deutschen Frauen und Mädchen vergewaltigen wollen, werden von diesem antifranzösischen Haß ergriffen. Es gelingt daher dem Bund Freiheit, die Franzosen in einem wohlkoordinierten Coup zu überwältigen und den „Schandvertrag zu Versailles“ zu annullieren. Deutschland erhält am Schluß des Ganzen alle seine 1918 verlorenen Gebiete einschließlich seiner früheren Kolonien zurück, vereinigt sich mit Deutsch-Österreich und wird von einer rechtsextremistischen Partei regiert, die bereits viele Züge der späteren NSDAP trägt. Außer dem mit antisemitischen Ausfällen aufgemüpften Kolportageroman Die Sünde wider das Blut (1918) von Artur Dinter erzielte jedoch keiner dieser Romane den erwünschten Erfolg. Ähnlich obskur blieben all jene völkisch orientierten oder deutschnationalen Manifeste und Traktate, die im gleichen Zeitraum erschienen. So wurden etwa die Erklärungen der am 5. Januar 1919 in München gegründeten Deutschen Arbeiterpartei, die sich am völkisch-antisemitischen Gedankengut der 1918 entstandenen Thule-Gesellschaft orientierte, von den führenden Medien der Weimarer Republik anfangs kaum wahrgenommen oder als spezifisch bayrische Sondererscheinungen eingeschätzt. Das gleiche gilt für die aus dieser Partei 1920 hervorgegangene NSDAP unter der Führung Adolf Hitlers. Auch sie wurde in weiten Teilen Deutschlands damals noch eher belächelt als ernst genommen. Sie strebte zwar im Gegensatz zur Deutschnationalen Volkspartei keine Wiederherstellung des Kaiserreichs an, vertrat aber sonst wie diese – trotz einiger sozialrevolutionärer Forderungen – in ihrem Franzosen- und Judenhaß, ihren revanchistischen Zielsetzungen, ihrem Bestehen auf der Rückerwerbung der verlorengegangenen Kolonien und ihrer Sehnsucht nach einer 230  Die Weimarer Republik

39 Wahlplakat der Deutschnationalen Volkspartei (1924)

Die Weimarer Republik   231

Großmachtstellung des Deutschen Reiches unter einem „Starken von oben“ relativ ähnliche Ziele. In scharfer Ablehnung des parlamentarischen Systems der Weimarer Republik verzichtete sie sogar bis 1923, sich an den jeweils anstehenden Wahlen zu beteiligen und blieb auch danach mit 12 bis 14 Mandaten bis 1929 im Reichstag, der noch keine Fünf-Prozent-Hürde kannte, eine der vielen rechtsgerichteten Splitterparteien. Selbst ihr von Gottfried Feder entworfenes Programm zur „Brechung der Zinsknechtschaft“ der großen Konzerne und Banken, mit dem sie vor allem die Arbeiterschichten anzusprechen versuchte, hatte nicht die erhoffte Breitenwirkung. Mehr Aufsehen erregten dagegen – nach der blutigen Niederschlagung der von linksorientierten Juden angeführten Münchner Roten Räterepublik – ihre antisemitischen Ausfälle von Seiten Dietrich Eckarts, Alfred Rosenbergs und Julius Streichers, die weit über das hinausgingen, was sich bereits in den Schriften gründerzeitlicher Chauvinisten wie Hermann Alwardt, Paul de Lagarde, Wilhelm Marr oder Heinrich von Treitschke findet. Hierbei stützten sie sich zum Teil auf die erstmals 1920 in deutscher Sprache erschienenen fiktiven Protokolle der Weisen von Zion, in denen die zaristische Geheimpolizei den Juden bereits um 1905 eine internationale Verschwörung gegen alle nationalbetonten Tendenzen untergeschoben hatte. Außerdem schloß sich die frühe NSDAP in ihrem Antisemitismus relativ eng an viele ältere Rassefanatiker wie Arthur de Gobineau, Houston Stewart Chamberlain, Helena Petrowna Blavatsky, Guido von List, Jörg Lanz von Liebenfels sowie die Sprecher des Germanenordens und der Deutschvölkischen Partei an, ja versuchte, diese in ihrem Judenhaß und Arierkult sogar noch zu überbieten. Auf pseudowissenschaftlicher Ebene leistete ihr dabei der Literaturwissenschaftler Hans F. K. Günther die erwünschte Schützenhilfe. Günther begann seine Laufbahn 1920 mit dem an Nietzsche angelehnten Traktat Ritter, Tod und Teufel, in dem er der großstädtischen Massengesellschaft der kurz zuvor gegründeten Weimarer Republik das völkische Leitbild des „Heldischen“ entgegenstellte. Zwei Jahre später brachte er seine Rassenkunde des deutschen Volkes heraus, worin er die nordischen Menschen als die einzigen Vertreter einer „adelsfähigen Rasse“ charakterisierte, während er die ostische Rasse als Verkörperung des modernen Massenmenschentums abqualifizierte, dem jeder Sinn für das Erhabene und Heroische abgehe. Ähnliche Thesen vertrat Ludwig Ferdinand 232  Die Weimarer Republik

Clauß 1923 in seinem Buch Die nordische Seele, in welchem er die arischen Menschen ebenfalls als „herrentümlich“ herausstrich, während er die ostischen Menschen als rassisch minderwertig und daher nur zum Dienen tauglich hinstellte. Vor allem Günther folgerte im Rahmen dieser Sehweise, daß man in Deutschland – um der Erhaltung des Heldischen willen – in Zukunft einen größeren Nachdruck auf die „Mehrung der Erblich-Tüchtigsten“, sprich: der nordischen Menschen sowie eine „Hemmung der Fortpflanzung der Erblich-Minderwertigen“, sprich: aller anderen Rassen legen müsse. Solche eugenischen Thesen fanden zwar schon in diesen Jahren innerhalb der völkisch oder nazifaschistisch gesinnten Kreise eine gewisse Resonanz, konnten aber ihre ideologische Breitenwirkung erst nach der am 30. Januar 1933 erfolgten Machtübergabe an die NSDAP unter Hitler entfalten. Ein Autor wie Arthur Moeller van den Bruck erzielte dagegen mit seinen deutschnational betonten Schriften bereits zu Anfang der Weimarer Republik ein wesentlich größeres Aufsehen. Er hatte sich 1915 in seinem Buch Der preußische Stil erst einmal zur Ahnenfolge der Hohenzollerndynastie und der mit ihr sympathisierenden Kunst bekannt, ging jedoch gegen Kriegsende zu den sogenannten Jungkonservativen über, die wie die frühe NSDAP – wenn auch auf intellektuell höherem Niveau – ihre nationalistischen Ideen mit sozialistischen Vorstellungen zu verbinden suchten. Diese Blickrichtung äußerte sich schon in Moeller van den Brucks Buch Das Recht der jungen Völker (1918) und erlebte dann ihre folgenreichste Ausprägung in seinem 1923 erschienenen Hauptwerk Das Dritte Reich, dessen Einfluß sich bis hin zu Otto Strasser, Joseph Goebbels und Carl Schmitt, ja sogar bis zu den Nationalbolschewisten der späten zwanziger Jahre verfolgen läßt. Um seinen Ideen zur politischen Durchsetzung zu verhelfen, gründete Moeller van den Bruck mit anderen rechtsstehenden Nationalisten kurz nach 1920 die Organisation Der Ring und dann den Juni-Klub, mit denen er eine Allianz der „Jungen“ gegen die liberalistisch-zivilisatorischen Mächte des „altgewordenen“ Westens anstrebte, um damit Deutschland – im Unterschied zum kläglich ausgefallenen kleindeutschen Bismarck-Reich – zu befähigen, eine europäische Hegemonialmacht, kurz: ein „Großdeutschland“ zu werden. Dementsprechend trat Moeller van den Bruck nicht nur für eine „Nationalisierung“ des Sozialismus, sondern auch für einen militanten Imperialismus ein. Um das zu erreichen, propagierte er Die Weimarer Republik   233

das Konzept einer nationalen Sammlungsbewegung, um so den in alle Winde tendierenden Sonderinteressen der vielen Rechtsparteien der Weimarer Republik eine gemeinsame Marschroute vorzuschreiben. Im Gefolge solcher Forderungen nahm daher der Juni-Klub sowohl Beziehungen zur Armee, zur Deutschnationalen Volkspartei, zur NSDAP und zur Deutschen Volkspartei als auch zur Jugendbewegung und zu jenem Deutschen Schutzbund auf, der gegen Mitte der zwanziger Jahre zeitweilig bis zu 70 völkisch eingestellte Verbände unter einen Hut zu bringen versuchte. Auf einen etwas vereinfachten Nenner gebracht, war Moeller van den Brucks ideologisches Telos letztlich eine „Konservative Revolution“, um so die „ziellos“ gewordenen breiten Massen unter der Führung starker Männer wieder auf den rechten nationalen Kurs einzustimmen. Und zwar ließ er sich dabei, wie so viele völkisch Gesinnte vor ihm, vom Leitbild der Germanen, als den jüngsten und wichtigsten Vertretern der arischen Rasse, verführen, den kriegerischen Einsatzwillen als die höchste nationale Tugend hinzustellen, ja berief sich im Rahmen solcher Zielvorstellungen wiederum auf Hermann den Cherusker, der den Deutschen als Erster den Weg zu einem nationalen Durchsetzungswillen gewiesen habe.

III So viel zu den deutschnationalen Bestrebungen innerhalb der verschiedenen monarchistisch-alldeutsch, nationalistisch-revanchistisch sowie völkisch-nazifaschistisch eingestellten Parteien, Bünde oder Einzelautoren der Jahre zwischen 1919 und 1923. Daß sie sich auch nach dieser Zeitspanne – trotz vielfältiger Wahlkampagnen, Manifeste und Romane – nicht durchzusetzen vermochten, hatte nicht nur ideologische, sondern auch ökonomische und soziale Gründe. Während es im Laufe des Jahres 1923 noch einmal zu letzten Auflehnungen der Rechten und der Linken kam, ob nun im Oktober von Seiten der KPD in Hamburg, Sachsen und Thüringen oder Anfang November von Seiten der NSDAP in München, die am Widerstand der Polizei oder republiktreuer Truppen scheiterten, setzte nämlich durch die am 15. November durch den Reichswährungskommissar Hjalmar Schacht durchgeführte Neuordnung des Finanzsystems eine „relative Stabilisierung“ der wirtschaftlichen Situation und 234  Die Weimarer Republik

damit ein Ende der noch kurz zuvor grassierenden Hyperinflation ein. Ein Jahr später gewährte die US-Regierung im Rahmen des Dawes-Plans der deutschen Regierung einen Kredit von 800 Millionen Reichsmark, um damit die Weimarer Republik vor der Gefahr einer schleichenden „Bolschewisierung“ zu bewahren. All das führte zu einer rapiden Modernisierung der industriellen Produktion, so daß Deutschland, wie schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg, im Jahr 1929 – hinter den Vereinigten Staaten – erneut den zweiten Platz in der Weltrangliste der führenden Industrienationen einnehmen konnte. Die Folgen dieser Entwicklung wirkten sich auf allen Gebieten aus. Im Hinblick auf die Parteiensituation kam es anschließend im Reichstag zu relativ starken, weitgehend ökonomisch orientierten Rechts-der-Mitte-Koalitionen, wodurch sowohl die links- als auch die rechtsradikalen Parteien zunehmend an Einfluß verloren. Zugleich setzte in der deutschen Wirtschaft nach 1924 im Gefolge des Fordismus und Taylorismus eine Produktionssteigerung ein, die nicht nur zu einer Stärkung der Industriellenschichten, sondern durch die Einführung neuer Verwaltungssysteme und Marketingstrategien im sogenannten Tertiärbereich auch zu einer erheblichen Vermehrung der von Siegfried Kracauer 1929 so eindringlich beschriebenen Angestelltenklasse führte, die weniger parteiinteressiert war und sich in ihrer Freizeit eher jenen „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ hingab, die ihnen die sich ständig vergrößernde Massenmedienindustrie der Weimarer Republik bot. Demzufolge stellte sich in der zweiten Phase der Weimarer Republik, das heißt in den Jahren zwischen 1924 und 1929, ein Zustand ein, in dem für auf revolutionären Umsturz bedachte Ideologien kein großer Spielraum mehr blieb. Parlamentarisch gesehen, führte das, wie gesagt, zur Dominanz von Koalitionen jener gemäßigt rechtsbürgerlichen Parteien, an denen sich die SPD entweder beteiligte oder die sie als stiller Teilhaber unterstützte. Was sich in diesen Jahren für die Sozialdemokraten auszahlte, war ihre bisherige scharfe Frontstellung gegen alle linken Aufstandsversuche, was dieser Partei auf bürgerlicher Seite als „Rettung Deutschlands“ vor irgendwelchen kommunistischen Experimenten hoch angerechnet wurde. Und die SPD tat auch alles, um dieses Image so lange wie möglich aufrechtzuerhalten und gab sich nach wie vor betont vaterlands­ verbunden. Obendrein erinnerten sich die konservativ eingestellten Parteien sehr wohl, daß Friedrich Ebert – unter dem Beifall der Die Weimarer Republik   235

Deutschnationalen – schon 1922 das bereits im Ersten Weltkrieg ins Chauvinistische umgefälschte Lied Deutschland, Deutschland über alles zur Nationalhymne erklärt hatte und dann 1924 dafür eingetreten war, für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs in Bad Berka ein monumentales Ehrenmal zu errichten. Ja, kurze Zeit später duldete die SPD sogar, daß sowohl die Handelsflotte als auch die Kriegsschiffe neben der schwarz-rot-goldenen Fahne der Weimarer Republik weiterhin ihre wilhelminischen schwarz-weiß-roten Fahnen aufziehen durften. Aus diesen und vielen anderen Gründen wurde Ebert von Teilen der bürgerlichen Bevölkerung – die sich wegen der ihnen zugutekommenden sozialen und wirtschaftlichen Zustände zusehends von ihren älteren Affekten gegen die Sozialdemokratie distanzierten und sich als „Vernunftrepublikaner“, wie sie es nannten, auf den „Boden der Tatsachen“ stellten – in steigendem Maß als Reichspräsident durchaus toleriert, wenn nicht gar geschätzt worden. Selbst ein Autor wie Thomas Mann, der 1918 in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen noch wilhelminisch-konservative Standpunkte vertreten hatte, ließ sich im Zuge dieser Entwicklung herab, bereits 1922 in seiner Rede Von deutscher Republik ein Bekenntnis zur Weimarer Republik abzulegen und verfaßte sogar im Februar 1925, kurz nach dem Tod Friedrich Eberts, der das deutsche Bürgertum vor einer möglichen Bolschewisierung ihres Landes bewahrt habe, eine diesen „großen Toten“ ehrende Eulogie. Das bewirkte jedoch nicht, daß im Zuge dieser Entwicklung die ideologischen Gegner der Weimarer Republik völlig an Einfluß verloren. Schon die Tatsache, daß im April 1925 Paul von Hindenburg, der gealterte Feldmarschall des Ersten Weltkriegs, mit knapper Mehrheit zum neuen Reichspräsidenten gewählt wurde, bewies, wie stark die antidemokratische Stimmung in diesem Staat weiterhin war. Allerdings paßte sich selbst Hindenburg – trotz seiner monarchistischen Grundhaltung – den Gegebenheiten der realexistierenden Republik an. Das gleiche taten die meisten rechtsstehenden Parteien, die im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs nach 1923/24 ihre rückwärtsgerichteten Anschauungen zusehends aufgaben. Das gilt vor allem für die Deutsche Volkspartei (DVP) unter Gustav Stresemann, der vor 1918 als Angehöriger des Alldeutschen Verbands und Freund Erich Ludendorffs noch für einen Siegfrieden mit weitgehenden Annexionsforderungen eingetreten war, sich jedoch zwischen 1923 und 1926 als Reichskanzler und dann 236  Die Weimarer Republik

40 Sie tragen die Buchstaben der Firma – aber wer trägt den Geist? Karikatur von Th. Th. Heine im Simplicissismus vom 21. März 1927

als Außenminister immer stärker für eine von den Rechtsradikalen abgelehnte Verständigung mit den ehemaligen Siegermächten und zugleich für den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund einsetzte, was von dem in Februar 1919 gegründeten Reichsverband der deutschen Industrie aus wirtschaftlichen Gründen ausdrücklich gutgeheißen wurde. Dagegen hielt die Deutschnationale Volkspartei weiterhin an ihren chauvinistischen Vorstellungen fest, was dazu führte, daß sie in den Jahren nach 1924 erhebliche Stimmenverluste hinnehmen mußte. Noch schlechter schnitt die nach ihrem Verbot im Jahr 1923 von Adolf Hitler am 29. Februar 1925 neugegründete NSDAP bei den Wahlen in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre ab. Sie blieb eine kaum beachtete Splitterpartei und selbst die zeitweilige Unterstützung Erich Ludendorffs verhalf ihr nicht zu dem erhofften Prestigegewinn. Sogar Hitlers manifestartige Die Weimarer Republik   237

Schrift Mein Kampf, die in den Jahren 1925 und 1927 in zwei Teilen herauskam, erregte anfangs nicht das Aufsehen, das ihr nach dem ersten großen Wahlsieg der NSDAP im September 1930 beschieden war. Ebenso erfolglos blieben jene allmählich immer seltener werdenden Romane und Manifeste, die sich zwischen 1924 und 1929 weiterhin zu deutschnationalen, völkischen oder präfaschistischen Vorstellungen bekannten. Ihre Autoren waren über die Fortdauer, ja Stabilisierung der „jüdisch-bolschewistisch-amerikanisierten“ Novemberrepublik, wie sie es nannten, viel zu erbittert, um mit neuem Elan utopische Gegenmodelle zum herrschenden „System“ zu entwerfen. Was daher in diesen Kreisen geschrieben wurde, waren eher völkische Dystopien, welche sich voller Zorn gegen die fortschreitende „Entvolkung“ bzw. „Entdeutschung“ der Weimarer Republik wandten und sowohl die profranzösische Außenpolitik Stresemanns als auch die massenmediale „Überfremdung“ durch die USA als eine entwürdigende Depravierung der besten Traditionen deutschen Wesens hinstellten. Viele dieser Werke mündeten daher in provozierende Untergangsvisionen oder wichen ins Flucht­ utopische aus, indem sie den letzten „deutschbewußten“ Menschen empfahlen, lieber auszuwandern und sich jenseits der deutschen Grenzen in rassebewußten Kolonien zusammenzuschließen, als sich weiterhin den korrumpierenden Einflüssen der allgemeinen „Amerikanisierung, Verniggerung und Verjudung“ auszusetzen. Wohl das instruktivste Beispiel einer solchen Dystopie ist der Roman Deutschland ohne Deutsche (1929) von Hans Heyck, dessen Handlung im Jahr 2050 spielt. Im Gefolge des Internationalismus der Weimarer Republik ist hier aus dem deutschen Reich ein Land übelster „Rassenvermischung“ geworden, das sich von einem „halbschwarzen Despoten“ regieren läßt, der jeden Tag eine weiße Jungfrau schändet. Auf allen Gebieten herrscht in diesem Staat ein Amerikanismus, Kommerzialismus und Erotizismus, das heißt eine als „widerlich“ hingestellte Dominanz des Jüdisch-Orientalischen und Vulgär-Afrikanischen, welche immer schlimmere Formen anzunehmen beginnt. Die meisten Menschen innerhalb dieses bastardisierten Völkerchaos haben daher für ehemals deutschbetonte Werte wie „Heimat“, „Nation“ oder „Opferbereitschaft“ nur noch ein dreckiges Grinsen übrig. Angesichts dieser Situation entschließen sich die Letzten, die noch „wahrhaft deutsch“ empfinden, nach Norrland in Nordskandinavien auszuwandern, um dort eine von aller 238  Die Weimarer Republik

Welt abgeschlossene Kolonie zu gründen, die sich der Aufzucht einer neuen Herrenrasse widmet. Während also Heyck gegen Schluß dennoch an einer eugenisch verblendeten Hoffnung auf die Wiedererstarkung neuer deutscher Rassenkräfte festhielt, überwog bei anderen Romanen dieser Art meist die dystopische Komponente. So versinkt etwa in dem Roman Revolution 1933 (1930) von Martin Bochow Deutschland gegen Ende der zwanziger Jahre im totalen Chaos, da Frankreich weiterhin unerbittlich auf horrenden Reparationszahlungen besteht und die Vereinigten Staaten einen deutschen Konzern nach dem anderen aufkaufen und dann stillegen. Und die „dummen“ Deutschen lassen alles über sich ergehen, weil sie nicht mehr „völkisch“ empfinden, sondern sich in blinder Parteiwut untereinander befehden. Das von den wenigen „Edelgesinnten“ ersehnte Deutschland, wieder „wurzelnd im Heimatboden“ und „bewußt seines unvergänglichen Schicksals“, kommt daher nicht zustande. Als Sieger setzt sich am Schluß Wall Street, das heißt die „raubende Geldinternationale“, durch, wodurch die Möglichkeit einer nationalen Wiedergeburt für Jahrzehnte hinaus vereitelt wird. Ebenso düster klingt der Roman Die Wallfahrt nach Paris. Eine patriotische Phantasie von Josef Magnus Wehner aus, der bereits um 1930 geschrieben wurde, aber erst 1933 erscheinen konnte. Sein Pro­tagonist ist ein Freikorpsführer, der in Oberschlesien den Kampf gegen die „Polacken“ verliert und danach frustriert zusehen muß, wie die „feige, unentschiedene Reichsregierung“ den Siegermächten gegenüber eine ehrlose Erfüllungspolitik treibt, die in einer Stresemannschen Wallfahrt nach Paris gipfelt. Statt die Franzosen aufzufordern, mit ihnen gemeinsame Sache gegen den „mongolischen Bolschewismus im Osten“ zu machen, heißt es hier, seien die heutigen Deutschen dümmlich genug, sowohl nach Westen als auch nach Osten zu dienern, statt eine eigene nationalbewußte Außenpolitik zu treiben. Immer wieder hätten sich in den verschiedenen Regierungskoalitionen die „Schmieger und Dämpfer“ durchgesetzt, wodurch aus Deutschland ein „führerloses Reich“ geworden sei, in dem nicht die Edlen, sondern die im Nietzscheschen Sinne „Vielzuvielen“ oder „Allermeisten“ den Ton angäben. Als mögliche neue Werte werden deshalb gegen Ende dieses Romans ein nationaler Frontgemeinschaftsgeist, ein bäuerlicher Siedlerinstinkt und eine christgermanische Religion beschworen. Wohin jedoch sein Held auch blickt, überall nimmt er vorerst nur Korruption, aber keine „Auferstehung“ wahr. Die Weimarer Republik   239

IV Eine völlig neue politische und soziale Situation trat in der Weimarer Republik erst nach der im Oktober 1929 durch den New Yorker Bankkrach verursachten Weltwirtschaftskrise ein. Geradezu über Nacht erwies sich plötzlich die bis dahin von den sogenannten Meinungsträgerschichten gern als „endgültig“ hingestellte Stabilisierung des wirtschaftlichen Gefüges als eine schnell vergangene Schimäre. Überall traten mit einem Mal Produktionsstockungen ein, was zu einem erheblichen Rückgang des staatlichen Steuereinkommens führte. Ja, nicht nur das. Allenthalben verloren Arbeiter und Angestellte ihre bisher als sicher ausgegebenen Arbeitsplätze, wodurch ein Arbeitslosenheer entstand, das schnell in die Millionen ging. Nach den relativ beruhigten Verhältnissen zwischen 1924 und 1929 setzte damit in der späten Weimarer Republik eine neue politische und sozioökonomische Turbulenzphase ein, die sowohl den linken als auch den rechten Splitterparteien zugute kam. Aufgrund dieser Veränderungen wurden nach 1929/30 nicht nur die KPD, sondern auch die NSDAP von den anderen Parteien zusehends als ernstzunehmende Akteure auf der politischen Bühne eingeschätzt, die man entweder bekämpfen müsse oder mit denen man sich liieren solle. Am schwierigsten hatte es in dieser Situation die KPD, die von allen anderen Parteien, einschließlich der SPD, als eindeutiger Feind angesehen wurde. Trotz beträchtlicher Stimmengewinne in den Jahren zwischen 1930 und 1932 galt sie wegen ihrer systemfeindlichen Programme in den Augen der herrschenden Regierungsparteien nicht als koalitionsfähig. Demzufolge entschied sich die KPD für einen revolutionären Alleingang. Um die Arbeitslosen von ihren Zielsetzungen zu überzeugen, stellte die KPD in ihren Publikationen, wie etwa dem Buch Staat ohne Arbeitslose (1931) von Alfred Kurella und Ernst Glaeser, den von ihr umworbenen Wählerschichten die Sowjetunion als ein Land hin, in dem kein Werktätiger „stempeln“ müsse, sondern stets einen festen Arbeitsplatz habe. Andererseits verschloß sie sich, und zwar nicht nur auf ihrem nationalbolschewistischen Flügel, sondern auch in der Parteispitze, keineswegs von vornherein gegen deutschbetonte Tendenzen. Dafür spricht vor allem ihr im Sommer 1930 aufgestelltes Programm zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes, in 240  Die Weimarer Republik

dem sie sich – wie auch Stalin in seinem Kampf gegen irgendwelche trotzkistischen Tendenzen – gegen einen verfrühten Internationalismus wandte. Dennoch gelang es ihr nicht, jene Teile der Arbeiterschaft an sich zu binden, die nach wie vor den von den Gewerkschaften und der SPD ausgegebenen Wahlparolen folgten. Trotzalledem wurde die KPD nach 1930 von der Mehrheit der bürgerlichen Bevölkerung innerhalb der Weimarer Republik, wie schon in den Jahren zwischen 1919 und 1923, erneut als eine steigende Bedrohung empfunden. Das führte dazu, daß diese Schichten in den Parteien der Weimarer Koalition, das heißt dem Zentrum, der Deutschen Volkspartei, der Deutschnationalen Volkspartei, der Deutschen Demokratischen Partei und der Sozialdemokratischen Partei, keine tatkräftigen Widersacher der KPD mehr sahen und daher mehrheitlich zu den Nationalsozialisten überliefen, die ihnen durch ihr militantes Auftreten als eine wesentlich effektivere Sturmtruppe gegen die Gefahr einer Bolschewisierung und damit Entdeutschung der Weimarer Republik erschienen. Ihren ersten großen Wahlsieg erzielte die NSDAP im September 1930, als dieser Partei so viele Wähler ihre Stimme gaben, daß die Zahl ihrer Mandate im Deutschen Reichstag von 12 auf 107 emporschnellte. Ja, in den folgenden zwei Jahren konnte die NSDAP die Anzahl ihrer Mandate sogar noch verdoppeln. Wenn auch Hitler im März 1932 die Wahl zum Reichspräsidenten gegen Hindenburg verlor, stellte „seine“ Partei im Reichstag weiterhin die stärkste Fraktion. Und zwar gelang das den Nazifaschisten nicht nur durch finanzielle Unterstützungen von Seiten der Schwerindustrie sowie der politischen Zusammenarbeit mit der Deutschnationalen Volkspartei und dem Wehrverband Stahlhelm, mit denen sie sich im Oktober 1931 zur sogenannten Harzburger Front verbündeten, sondern auch durch ihre betont nationalistische Rhetorik, indem sie die Schuld an der ökonomischen Misere weitgehend den als „undeutsch“ angeprangerten Juden in die Schuhe schoben und so die Klassenfrage in eine Rassenfrage umfälschten. Da sie sich in dieser Hinsicht oft höchst primitiv klingender Verallgemeinerungen bedienten, erreichten sie zwar, große Teile der sogenannten breiten Massen für sich zu gewinnen, zogen aber vor 1933 nicht so viele Intellektuelle und Künstler an wie die auf theoretischer Ebene wesentlich anspruchsvoller argumentierende KPD, zu der sich unter anderem eine Reihe höchst bedeutsamer deutsch-jüdischer TheoDie Weimarer Republik   241

41 John Heartfield: Buchumschlag für Deutschland, Deutschland über alles (1929) von Kurt Tucholsky

242  Die Weimarer Republik

retiker, wie Walter Benjamin, Ernst Bloch und Georg Lukács, bekannten, die in dieser Partei die letzte Bastion gegen die immer stärker anbrandende „braune Flut“ erblickten. Ja, selbst einige Linksliberale, ob nun Kurt Tucholsky in seinem mit John Heartfield konzipierten Buch Deutschland, Deutschland über alles (1929) sowie Heinrich Mann in seinem Bekenntnis zum Übernationalen (1932), zögerten in der späten Weimarer Republik keineswegs, die „wahren Deutschen“ weniger in den „nationalen Verbänden“ als in den „Kommunisten, Jungen Sozialisten, Pazifisten und Freiheitsliebenden aller Grade“ zu sehen. Während sich also die propagandistisch bearbeiteten Wählermassen nach 1930 zusehends der NSDAP zuwandten, blieb die Zahl der Intellektuellen und Künstler, die in diese Partei eintraten oder zumindest mit ihr sympathisierten, vergleichsweise klein. Es gab zwar weiterhin genug „Deutschgläubige“ innerhalb der bildungsbürgerlichen Schichten, die jedoch – angesichts der kruden Verlautbarungen der NSDAP – nach wie vor auf einer gewissen Reservatio mentalis bestanden, um sich nicht auf theoretischer Ebene als nationalistische Schreihälse bloßzustellen. Viele von ihnen befürworteten zwar die seit 1928 durch Hugo von Hofmannsthal in Umlauf gekommene Parole einer „Konservativen Revolution“, zogen aber daraus keineswegs irgendwelche parteiorientierten Konsequenzen. Eine Reihe dieser Autoren gab sich lieber der illusorischen Hoffnung hin, daß es möglich sei, Deutschland wieder in eine angesehene Kulturnation zurückzuverwandeln, obwohl manche von ihnen dabei keineswegs verzichteten, auch betont nationalistische Vorstellungen ins Spiel zu bringen. So schrieb etwa ein bekannter Romanist wie Ernst Robert Curtius 1932 in seinem Buch Deutscher Geist in Gefahr, daß es an der Zeit wäre, wie im August 1914 alle „Parteiinteressen dem heiligen Gebot eines nationalen Zusammenschlusses unterzuordnen“ und sich hierbei der Hilfe der klassischen Kulturtraditionen zu bedienen, um so ein politisches Chaos zu vermeiden. Ebenso geistbetont waren jene Parolen, die Stefan George als Mentor eines „Geheimen Deutschland“ 1928 in seinem Lyrikband Das neue Reich von sich gab, der noch 1933 in seiner Absage an die NS-Herrschaft erklärte, daß er seine „geistige Mitwirkung an der Ahnherrschaft der neuen nationalen Bewegung“ keineswegs verleugne und nur mit ihrer realpolitischen Ausprägung nicht übereinstimme. Und so wie er lehnten auch andere nationalbetonte Geistaristokraten dieser Jahre zwar das KleinbürgerlichDie Weimarer Republik   243

Mediokre und Marktschreierische der nationalfaschistischen Füh­rungs­ spitze sowie ihre auf den Straßen randalierenden SA-Gruppen entschieden ab, identifizierten sich jedoch immer stärker mit irgendwelchen militärischen oder völkischen Erneuerungskonzepten, von denen sie sich eine Wiedererweckung des nationalen Geistes in Deutschland versprachen. Ernst und Friedrich Georg Jünger beriefen sich dabei in ihrer manifestartigen Schrift Der Aufmarsch des Nationalismus (1928) – unter Ablehnung jeglicher Parteigebundenheit – auf den militanten Geist der älteren Freikorpsbewegung, ja erklärten, daß die angestrebte völkische Gesundung nur aus einer „kriegerischen“ Gesinnung hervor­ gehen könne, und zogen dafür sowohl Friedrich Nietzsche als auch Oswald Spengler als Kronzeugen dementsprechender Anschauungen heran, während Max Hildebert Boehm in seinem Buch Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Gesellschaftswissenschaften (1932) eher Stefan George und Arthur Moeller van den Bruck als die wichtigsten Leitfiguren auf dem Weg zu einer neuen Reichsvorstellung beschwor. Selbst manche der sich für einen Sieg der Nazifaschisten einsetzenden Autoren waren anfangs nicht frei von derartigen geistaristokratischen Anwandlungen, und zwar selbst dann, wenn sie sich dabei auf militaristische oder völkische Vorstellungen beriefen. Nachdem in ihren Schriften – angesichts der „relativen Stabilisierung“ der sozioökonomischen Verhältnisse der Weimarer Republik in den Jahren nach 1924 – eher dystopische Elemente im Vordergrund gestanden hatten, setzte in diesem Bereich um 1929/30 eine deutliche Wendung ins Hoffnungsvollere ein, die immer stärker auf die möglichst umgehende Errichtung eines Dritten Reichs Deutscher Nation drängte. Während in Joseph Goebbels’ 1928 erschienenen, aber bereits Jahre vorher geschriebenen Roman Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern noch vorwiegend eine niedergedrückte Stimmung überwogen hatte, das heißt die Weimarer Republik als ein Staat charakterisiert wurde, in dem jeder Funke eines deutschnationalen Verantwortungsbewußtseins erloschen sei und es daher „keinen Aufbau, keinen Anbruch, keinen Vorwärtsmarsch“ mehr gebe, wo also eher das Apokalyptische als das Utopische vorherrsche, gingen andere mit der NS-Ideologie sympathisierende Autoren zu diesem Zeitpunkt immer stärker dazu über, Wunschbilder einer „völkischen Gesundung“ und der darauffolgenden Errichtung eines Dritten 244  Die Weimarer Republik

Reichs auszumalen. So überflügelt etwa in dem Roman Die sieben Töchter des Herrn von Malow (1931) von Heinrich Mantel eine nationale Sammlungsbewegung, die zwischen Patriotismus und Sozialismus keinen Unterschied mehr macht, alle anderen Parteien der Weimarer Republik und bekennt sich am Schluß zu den auch von der NSDAP ausgegebenen „Blut und Boden“-Parolen. Ähnliche Vorgänge spielen sich in dem 1931 geschriebenen, aber erst 1933 publizierten Roman Die Erde in Flammen. Ein Zukunftsroman aus den Jahren 1937/38 von Franz Hermann ab, in dem eine Reihe freischärlerischer Selbsthelfergruppen über die „feigen Regierungsdeutschen“ triumphieren, wodurch es zu der langersehnten deutschen Wiedergeburt, das heißt zur Abschaffung der bisherigen Klassengegensätze und zu bündisch-nationalsozialistischen Siedlungsprojekten, kommt. Ja, in einigen dieser prä- oder protofaschistischen Bücher wurde bereits vor 1933 ein neuer „Führer“ als der einzig mögliche Retter aus dem Sumpf des Parteiengerangels der Weimarer Republik anvisiert. Ein gutes Beispiel dafür ist der Roman Katastrophe 1942. Nieder mit Versailles (1932) von Karl Ludwig Kossak-Raytenau, der wie viele dieser Werke mit einer dystopischen Schilderung der Verhältnisse innerhalb der Weimarer Republik beginnt. Für die ständig größer werdenden Arbeitslosenheere, die Fabrikstillegungen, die erdrückenden Reparationsforderungen Frankreichs sowie die „frechen“ Übergriffe der Polen an der Ostgrenze Deutschlands wird hier eine jüdische Weltverschwörung verantwortlich gemacht, die sich eine Vernichtung aller germanisch höhergearteten Menschen in der Welt zum Ziel gesetzt habe. Im Zustand dieser tiefsten „Erniedrigung“ erwächst jedoch Deutschland in seinem Außenminister Wessel plötzlich ein neuer „Führer“, der vom Reichspräsidenten mit geradezu unbegrenzten Vollmachten ausgestattet wird. Um also die Deutschen nicht „für immer in Finsternis und Unfreiheit“ leiden zu lassen, verbündet sich dieser neue „Reichsführer“, wie er sich nennt, erst einmal mit jenen nationalistisch eingestellten Generälen, welche in Rußland die Bolschewisten zum Teufel gejagt haben, und besiegt dann in einem Blitzkrieg von wenigen Wochen die sich immer übler aufspielenden Franzosen. Und die daraufhin entstehende „Deutsche Arbeiterpartei“ macht bei all dem begeistert mit, ja findet sogar sein Streikverbot richtig und hat auch nichts dagegen, daß Wessel alle kommunistischen Kommissare und Agitatoren einfach „erschießen“ läßt. Die Weimarer Republik   245

Fast den gleichen Handlungsverlauf hat der Roman Nie wieder Krieg. Einblick in Deutschlands Zukunft (1931) von Junius Alter. Auch hier stattet der Reichspräsident den von allen Rechtsparteien hochgeschätzten Grafen Tölz als Reichskanzler mit unbegrenzten Vollmachten aus, statt die schmähliche „Erfüllungspolitik“ der SPD zu Gunsten der ehemaligen Siegermächte fortzusetzen. Darauf bildet dieser Mann ein Kabinett aus bewährten Deutschnationalen und löst mit Hilfe ehemaliger Freikorpsführer den von den Linken dominierten preußischen Landtag auf. Und das Bürgertum macht diesen „Rechtsruck“ sofort mit. Etwas schwerer fällt es Tölz hingegen, auch die Arbeiter von seiner Politik zu überzeugen. Hierbei kommen ihm vor allem die Nazifaschisten zu Hilfe, die mit ihren pseudosozialistischen Parolen große Teile des Proletariats für sich gewinnen können. Und so kommt es schließlich zwischen den Deutschnationalen und der NSDAP – wie im Rahmen der Harzburger Front – zu einem feierlichen „Gelöbnis der Waffenbrüderschaft“. Anschließend jagen die Deutschen die Franzosen wie Hasen vor sich her und werden dadurch wieder zu einem „selbständig handelnden Subjekt der Geschichte“. Nachdem Tölz alle im Vertrag zu Versailles verlorenen Gebiete zurückerobert hat, bleibt nur noch die Frage offen, welche politische Form „sein“ neues Reich erhalten soll. Aber eins deutet sich schon an, nämlich daß die Begriffe „national“ und „sozial“ einmal die „tragenden Grundpfeiler“ dieses neuen Reichs sein werden. Der gleiche deutschnationale Führerkult liegt dem Zukunftsroman Krieg 1960 (1931) von Karl Bartz zugrunde. In ihm wirft sich der Führer einer „Nationalen Union“ zum alleinbestimmenden Diktator auf, dem es – nach schweren kriegerischen Auseinandersetzungen – nicht nur gelingt, alle im Friedensvertrag zu Versailles abgetretenen Gebiete zurückzuerobern, sondern der zugleich ein solches Charisma hat, daß ihn selbst jene Arbeiter, die bisher linksorientiert waren, als ihren „nationalen Diktator“ akzeptieren. Andere Romane dieser Art waren in dieser Hinsicht sogar noch eindeutiger. So heißt es etwa gegen Ende des 1932 verfaßten Romanpamphlets Der deutsche Diktator von Josef FischerHartinger: „Fort mit all den kleinen Gruppen, die sich ‚auch national‘ betätigen wollen. Der wahre Patriotismus besteht nicht aus Hurrageschrei, sondern in der Liebe zu den Artgenossen und in der Nibelungentreue zu dem einmal erkannten Führer. Das Morgenrot der Freiheit und der Erlösung wird anbrechen, wenn aus Millionen Männerherzen die zu 246  Die Weimarer Republik

allem entschlossene Bereitschaft hervordonnert und durch alle deutschen Gaue wiederhallt: ‚Heil Hitler‘.“ In der Zeit nach ihrem ersten großen Wahlerfolg im Jahr 1930 versuchte daher die Führungsspitze der NSDAP geradezu alles, diesen neu aufbrechenden Nationalismus in ihre Bahnen zu lenken. Und zwar untermauerte sie ihre extrem chauvinistischen Propagandaparolen sowohl mit sozialrevolutionären, bäuerlich-archaischen, rassistisch-antisemitischen als auch deutsch-kulturbewußten Vorstellungen, um möglichst breite, wenn nicht alle Schichten der deutschen Bevölkerung anzusprechen und so bei den nächsten Wahlen die absolute Mehrheit im deutschen Reichstag zu erringen. Daß es dabei zu vielen eklatanten Widersprüchen kam, war bei der Vielzahl ihrer Versprechungen kaum zu vermeiden, wurde aber von ihren Hauptsprechern immer wieder mit rhetorischen Verallgemeinerungen oder ins Irrationale ausweichenden Phraseologien überblendet, indem sie als innenpolitische Zielvorstellung vor allem das Ideal einer von ihr angestrebten „Volksgemeinschaft“ beschworen, in der es keine sich befehdenden, auf bestimmten Klasseninteressen beruhenden Parteien, sondern nur noch solidarisch verbundene „Volksgenossen“ geben würde. Am schwersten hatte es die NSDAP, die sogenannten breiten Massen der Arbeiterschaft von ihren Anschauungen zu überzeugen. Obwohl sich diese Partei „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ nannte, konnte sie unter jenen Arbeitern, die bis dahin entweder für die SPD oder die KPD gestimmt hatten, anfangs nicht so viele Anhänger gewinnen, wie sie gehofft hatte. Selbst ihre Versuche, sich auf ihrem von Otto Strasser angeführten linken Flügel ebenso „sozialrevolutionär“ zu geben wie die Kommunisten und den durch die Weltwirtschaftskrise erwerbslos Gewordenen einen „nationalen Sozialismus“ zu versprechen, wurden von vielen klassenbewußten Arbeitern als wahltaktische Manöver der die NSDAP finanzierenden Industrieverbände durchschaut. Wesentlich mehr Erfolg hatten dagegen die Nazifaschisten bei der notleidenden Bauernbevölkerung, die in Norddeutschland bereits seit 1928 im Rahmen der schleswig-holsteinischen Landvolkbewegung mit Unterstützung nationalistisch eingestellter Freikorpsmitglieder gegen die Finanzpolitik der verschiedenen Weimarer Koalitionsregierungen Sturm gelaufen war. Diesen Bevölkerungsschichten versprachen sie unter Aufbietung einer nordischen Blut- und Bodenmystik einen Die Weimarer Republik   247

„bewußten Abbau der Großstädte“ und eine bereits von Julius Langbehn befürwortete „Verbauerung“ Deutschlands, um so den „Erbsassen“ unter den deutschen Dorfbewohnern das Gefühl zu geben, in dem von den Hitleristen angestrebten Dritten Reich eine besonders geachtete Rolle spielen zu können. Zeugnisse dafür sind sowohl Bücher wie Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse (1929) und Neuadel aus Blut und Boden (1930) von Walter Darré als auch Die deutsche Siedlung im I., II. und III. Reich (1932) von Edmund Schmid, deren Autoren eine Stärkung der „nationalen Substanz“ des deutschen Volkes, und zwar mittels einer weitgehenden „Großstadtlockerung“, durch den Gedanken des Erbbauerntums sowie der Anlage „kleiner Ackerstädte“ propagierten und zugleich die „erdverbundenen Arier reinen Blutes“ aufriefen, sich der völkisch gesinnten Artamanenbewegung unter den bäuerlichen Siedlern anzuschließen und im „Umpflügen der deutschen Scholle“ zu einer national-sozialen Haltung zurückzufinden. Die rassistische Komponente innerhalb dieser präfaschistischen Anschauungen wurde – im Gefolge von Adolf Hitlers Mein Kampf – vor allem in den vielfältigen Schriften Alfred Rosenbergs betont, dessen Manifest Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelischgeistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit (1930) viele bildungsbürgerliche Mitglieder und Sympathisanten der NSDAP als eine der Hauptschriften dieser Partei empfanden. Als das entscheidende Kernelement alles „höheren Lebens“ wird in diesem Buch – in deutlicher Anlehnung an Houston Stewart Chamberlain – das nordische Blut hingestellt, das sich im Kampf gegen Juda, Rom und Moskau siegreich durchsetzen müsse, um so die Menschheit vor einem endgültigen Versinken in einem Rassen- und Unkulturchaos zu bewahren. Der dritte Teil dieses Buches trägt daher folgerichtig den Untertitel Das kommende Reich. Den Führer zu diesem Reich sah Rosenberg in einem germanischen Lykurg, der das Rassisch-Reine von dem Rassisch-Unreinen trennen würde. Erst wenn das geschehe, schrieb er, könne aus der vielfach aufgespaltenen deutschen Bevölkerung wieder eine echte „Volksgemeinschaft“ werden, die sich nicht mehr an christlichen, individualistischen oder humanistischuniversalen Vorstellungen orientiere, sondern nur noch ihre eigenen nationalen Ziele ins Auge fasse. Wegen seiner bildungsüberladenen Darstellungsweise wurde allerdings dieses Buch, so zentral es für die nazifaschistische Ideologie war, nie wirklich populär. Und auch der von 248  Die Weimarer Republik

Rosenberg im Jahr 1928 gegründete Kampfbund für deutsche Kultur blieb wegen seiner höchst anspruchsvollen Ausrichtung, die keinerlei Rücksicht auf die kulturellen Präferenzen der unteren Bevölkerungsschichten nahm, zwangsläufig ein Randphänomen. So disparat alle diese Bemühungen der NSDAP nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise auch waren, sie verfehlten – aufgrund der politischen und sozioökonomischen Krisenstimmung während dieser Jahre – keineswegs ihr Ziel. Mochte auch diese Partei in ihren programmatischen Verlautbarungen noch so wild hin- und herschwanken, indem sie sich mit ihren jeweils andersgearteten Parolen höchst geschickt an die verschiedenen Bevölkerungsschichten wandte, gewann sie zwischen 1930 und 1932 immer mehr Anhänger. Nicht nur die notleidenden Bauern sowie die durch die Wirtschaftskrise deklassierten Kleinbürger, auch Teile der mit ihren sozialrevolutionären Parolen sympathisierenden Arbeiterschaft stimmten schließlich für sie und schlossen sich in ideologischer Verblendung den mit antikapitalistischen Forderungen auftretenden SA-Gruppen an. Ja, sogar die Mehrheit der bildungsbürgerlichen Schichten, die lange Zeit in den Anhängern dieser Partei lediglich kulturlos randalierende Rowdies gesehen hatte, ließ sich nicht nur durch die antikommunistische Propaganda der NSDAP, sondern zugleich durch ihre traditionsbewußten Kulturprogramme umstimmen, die Hitleristen zu wählen. Noch vehementer unterstützten viele Vertreter der wirtschaftlichen Führungskräfte, die weiterhin eine durch die KPD angestrebte „Bolschewisierung“ Deutschlands befürchteten, diese Partei, in deren sozialrevolutionären Slogans sie zu Recht lediglich wahltaktische Manöver sahen, welche die NSDAP nie in die Praxis umsetzen werde. Angesichts der kurzlebigen Koalitionsregierungen der Jahre zwischen 1930 und 1932 bedrängten daher schließlich die Großagrarier und Großindustriellen den Reichspräsidenten Hindenburg, Hitler zum Kanzler eines „Kabinetts der nationalen Konzentration“ zu ernennen, das aus Vertretern, das Zentrums, der Deutschnationalen Volkspartei und der NSDAP bestehen sollte. Und Hitler, dem dabei als Vizekanzler Franz von Papen und als Wirtschaftsminister Alfred Hugenberg beigeordnet wurden, stimmte dem als geschickt taktierender Realpolitiker auch zu. Während die steinreichen Konservativen im Vertrauen auf ihre wirtschaftlichen Überlegenheit annahmen, daß dies nur eine vorübergeDie Weimarer Republik   249

hende Notlösung sei, nach der sie wiederum die Macht ergreifen würden, war Hitler bereits zu diesem Zeitpunkt fest entschlossen, seine Ernennung zum Kanzler als Sprungbrett zu einer nazifaschistischen Einparteiendiktatur zu benutzen. Und das gelang ihm bereits im Frühjahr und Frühsommer 1933 in einem geradezu bestürzenden Tempo, wodurch aus der Weimarer Republik das von ihm seit Anfang an anvisierte Dritte Reich Deutscher Nation entstand, in dem allerdings all jene, die sich auf dem sozialrevolutionären Flügel der NSDAP vor 1933 der Illusion hingegeben hatten, daß dadurch eine wahrhaftige „Volksgemeinschaft“ entstehen würde, schmählich enttäuscht wurden.

250  Die Weimarer Republik

Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten

I Wie wir wissen, war die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) ideologisch keineswegs so gleichgeschaltet, wie ihre Hauptvertreter gern behaupteten. Sie verwandte zwar aus propagandistischen Gründen gern die Formel „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“, sah sich aber immer wieder zu internen Säuberungsmaßnahmen gezwungen, um trotz gravierender Kursänderungen dennoch politisch glaubhaft zu bleiben. In ihren Anfängen betrafen diese Konflikte meist die Frage, mit welchen Mitteln der Kampf gegen das parlamentarische System der Weimarer Republik zu führen sei: mit illegalen oder legalen, das heißt mit Putschversuchen oder durch eine mit wahltaktischen Manövern erreichte Mehrheit im Reichstag. Doch nicht nur die Frage einer möglichen Machtgewinnung löste innerhalb der frühen NSDAP immer wieder neue Konflikte aus, auch in ihrer Einstellung zu kapitalistischen oder sozialistischen Zukunftsvorstellungen kam es stets aufs Neue zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem linken, eher sozialrevolutionärproletarisch eingestellten Flügel dieser Partei und den rechten, eher bürgerlich-traditionell orientierten Gruppen. Hitler selber, der in seinen Anfängen durchaus putschistisch eingestellt war, wie sein mit Erich Ludendorff und Ernst Röhm unternommener Marsch auf die Münchner Feldherrnhalle am 9. November 1923 beweist, nahm im Laufe der zwanziger Jahre von derartigen Versuchen allmählich Abstand und versprach sich einen Erfolg „seiner“ Partei zusehends von wohlkoordinierten propagandistischen Aktionen. Anstatt sich lediglich mit aufrührerisch klingenden Parolen an die unzufriedenen „breiten Massen“ zu wenden, bemühte er sich seit seinem ersten Wahlerfolg im September 1930, auch die Hauptvertreter der realen Macht innerhalb der Industrieverbände, der Reichswehr und der Kirchen für sich zu gewinnen. Dafür sprechen unter anderem folgende Fakten. Der erste Eklat dieser Art erfolgte, als Otto Strasser 1930 Hitler Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten   251

42 Mobiles Transparent mit Wahlpropaganda der NSDAP vor den Reichstagswahlen im November 1932

eine kapitalismusfreundliche Haltung vorwarf und unter dem Motto „Die Sozialisten verlassen die Partei“ eine Kampfgemeinschaft revolutionärer Nationalsozialisten, genannt die Schwarze Front, gründete. Zu ähnlichen Auseinandersetzungen innerhalb der NSDAP kam es im April 1931, als der stellvertretende SA-Führer Walther Stenner sich wegen der arbeiterfeindlichen Notverordnungen des Reichskanzlers Heinrich Brüning für einen sofortigen Staatsstreich gegen das herrschende System aussprach, worauf Hitler ihn und die mit ihm Sympathisierenden unverzüglich aus der Partei entfernte. Im Gegensatz zu solchen Tendenzen in den unteren Rängen seiner Partei wie auch auf Seiten der sogenannten Nationalbolschewisten bemühte sich Hitler seit 1930/31 eher darum, ein besseres Verhältnis zu den kapitalkräftigen Rhein-Ruhr-Industriellen zu gewinnen, von denen ihn Fritz Thyssen schon seit 1923 mit Wahlhilfespenden unterstützt hatte. Ja, er hielt sogar im Januar 1932 in Düsseldorf eine Rede vor den wichtigsten Vertretern dieser „Union der festen Hand“, wie diese Kreise damals genannt wurden, in der er vor allem die kommunismusfeindliche Haltung der NSDAP herausstrich, um so die dortigen Industriemagnaten für seine angebliche Arbeiterpartei zu gewinnen. 252  Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten

Die gleiche Taktik schlug Hitler gegenüber der Reichswehr ein. So verhielt er sich im Hinblick auf irgendwelche jungen nationalrevolutionären Offiziere, die durchaus bereit waren, einen Putsch für ihn zu wagen, eher ablehnend. Als daher eine derartige Gruppe um Hans Ludin und Richard Scheringer im Herbst 1930 in Ulm einen Aufstand für die NSDAP unternahm, der von anderen Reichswehreinheiten sofort niedergeschlagen wurde, legte Hitler im Oktober des gleichen Jahres vor dem Reichsgericht in Leipzig beim sogenannten Ulmer Reichswehrprozeß den bekannten „Legalitätseid“ ab, nämlich nie zu versuchen, mit revolutionären Mitteln an die Macht kommen zu wollen, sondern das „deutsche Volk“ lediglich mit parlamentarischen Mitteln für seine Partei zu gewinnen. Dieser Eid enttäuschte zwar die jungen Heißsporne unter den Reichswehroffizieren zutiefst, verlieh aber Hitler in den Augen der bürgerlichen Mittelschichten das Ansehen eines pragmatischen, ja geradezu traditionsverpflichteten Parteiführers, der in Fortführung der Politik eines Bismarck und Hindenburg eher an „Ruhe und Ordnung“ als an revolutionären Umsturzbemühungen interessiert sei. Um dieses Ansehen noch zu verstärken, traf sich Hitler im Januar 1931 sogar mit dem Freiherrn Kurt von Hammerstein, dem Chef der deutschen Heeresleitung, um sich mit ihm über die Möglichkeiten einer Verständigung mit der Reichswehrführung auszusprechen, der er – bei einer möglichen Machtübernahme – eine weitgehende Unterstützung seiner Partei versprach. Noch enger wurden die Beziehungen zwischen Hitler und den führenden Schichten in Industrie und Reichswehr, als es im Oktober 1931 zu dem von Alfred Hugenberg, einem der führenden Industriemanager, Medienmagnaten und zugleich Vorsitzenden der Deutschnationalen Volkspartei, arrangierten Treffen der Hauptvertreter der NSDAP, der Deutschnationalen Volkspartei, des Stahlhelms und der Vereinigten Vaterländischen Vereine in Bad Harzburg kam, wo sich die dort Versammelten zur sogenannten Harzburger Front zusammenschlossen, um – im Gegensatz zu den als „antivölkisch“ hingestellten Brüningschen Notverordnungen – einer betont nationalgesinnten Koalition zur Macht zu verhelfen. Es waren daher diese Kreise, in denen vor allem Fritz Thyssen und Alfred Hugenberg führende Positionen einnahmen, die Hindenburg gegen Ende des Jahres 1932 immer stärker bedrängten, in der sich ständig verschlimmernden ökonomischen Krisensituation und der Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten   253

erfolglosen Regierungsbildungen im Reichstag endlich Hitler im Rahmen eines Kabinetts der „Nationalen Konzentration“ die Macht zu übergeben. Und dazu entschloß sich Hindenburg am 30. Januar 1933 schließlich, bestand jedoch darauf, daß der „kleine Gefreite“ Hitler, von dem er – als ehemaliger Reichsfeldmarschall – bis dahin wenig gehalten hatte, bei seiner Regierungsbildung den ultrakonservativen, ständestaatlich eingestellten Zentrumspolitiker Franz von Papen als seinen Vizekanzler sowie Alfred Hugenberg von der DNVP als seinen Wirtschaftsminister akzeptieren mußte. Demzufolge wirkte die Machtübergabe an Hitler, den Vorsitzenden der stärksten Fraktion im Reichstag, durchaus legal. Allerdings fühlte sich dieser – im Gegensatz zu den von ihm lediglich als „nützliche Idioten“ behandelten Verbündeten innerhalb des Zentrums und der DNVP – von Anfang an keineswegs an die bisherigen parlamentarischen Spielregeln gebunden und unternahm nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933, für den er die Kommunisten verantwortlich machte, geradezu alles, um sämtliche anderen Parteien auszuschalten. Und das gelang ihm schon durch das am 23. März im Reichstag verabschiedete Ermächtigungsgesetz, was im darauffolgenden Juni und Juli zur Selbstauflösung aller bisherigen Parteien – außer der NSDAP – führte und Hitlers Einparteiendiktatur begründete. Damit waren die parlamentarischen Auseinandersetzungen erst einmal beendet und ein Drittes Reich Deutscher Nation geschaffen, in dem an die Stelle des bisherigen Parteienhaders eine wahrhafte „Volksgemeinschaft“ treten sollte. Doch was verstanden Hitler und seine Anhänger zu diesem Zeitpunkt eigentlich unter dem von ihnen ständig beschworenen „Volk“? War nicht dieser Begriff eine nichtssagende Phrase, die etwas heraufbeschwor, was in der gesellschaftlichen Realität überhaupt nicht existierte? Genau besehen, hatte es so etwas wie ein „deutsches Volk“ auch vorher nie gegeben. Seitdem von „den Deutschen“ schlechthin gesprochen wurde, war dieses Volk nie eine homogene Masse, sondern stets eine höchst komplexe Ständegesellschaft gewesen. Erst der Prozeß der Verstädterung und der Industrialisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte durch die immer differenziertere Arbeitsteilung zu einer gewissen Verwischung der Standesunterschiede geführt. Aber letztlich war selbst die Weimarer Republik – trotz mancher demokratisierenden Bemühungen – nach wie vor ein Klassenstaat geblieben, in dem adlige, großbürgerliche, mittelständische, klein254  Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten

bürgerliche und proletarische Bevölkerungsschichten mit deutlich unterschiedenen parteipolitischen und kulturellen Präferenzen relativ getrennt nebeneinander gelebt hatten. Wie ließ sich daher ein solcher Staat im Jahr 1933 plötzlich in eine einheitliche „Nation“ oder gar „Volksgemeinschaft“ umwandeln, wie es die Nazifaschisten ständig proklamierten?

43 Hans von Norden: Propagandapostkarte (1933)

Um nicht hinter ihre politischen Versprechen zurückzufallen, taten die Führer der NSDAP schon im Frühjahr 1933 geradezu alles, um sich als eine Gruppe noch nie dagewesener „Volksbeglücker“ hinzustellen. Sie verschafften den Arbeitslosen durch den forcierten Autobahnbau und die Modernisierung der Rüstungsindustrie neue Arbeitsmöglichkeiten, sie boten den Arbeitern im Rahmen ihrer Kraft durch Freude-Organisation wesentlich verbesserte Urlaubsbedingungen, sie förderten die Unterhaltungsindustrie, um die sogenannten breiten Massen „bei guter Laune“ zu halten, sie boten den anspruchsvollen Bildungsbürgern ein hochklassisches Kulturprogramm, sie umbuhlten die bäuerliche Bevölkerung mit Blut und Boden-Theorien, sie blendeten die Technikfanatiker mit neuen Flugzeugen und Rennautos, sie schlossen ein wohlwollendes Konkordat mit dem Vatikan, sie versorgten die Sozialbedürftigen im Rahmen der NSV und des Winterhilfswerks mit dem Nötigsten, sie Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten   255

44 Ansprache Hitlers im Sportpalast im Hinblick auf die Wahl am 3. März 1933

erlaubten den jüdischen Bildungsbürgern, ihre eigenen Kulturorganisationen aufzubauen, ja sie taten geradezu alles, um vor dem „deutschen Volk“ – angesichts ihrer vielen Wahlversprechen – nicht als wortbrüchige Opportunisten dazustehen. Und das hatte seine Wirkung. Wie läßt sich sonst der nach wie vor beschämende Erfolg Adolf Hitlers und seiner Anhänger verstehen, der ihnen das Gefühl gab, die überwältigende Mehrheit des „deutschen Volkes“ hinter sich zu haben? War dieses Regime nicht von Anfang an ein barbarisches, das auf einen Zweiten Weltkrieg hindrängte und eine Liquidierung aller sogenannten Untermenschen ins Auge faßte? Warum rebellierten eigentlich – prozentual gesehen – so wenige Deutsche dagegen? Alle Achtung vor vereinzelten Widerstandskämpfern, wie den Mitgliedern der Roten Kapelle, der Gruppe um Herbert Baum, den Geschwistern Hans und Sophie Scholl sowie den Männern des 20. Juli 1944, die von der SS oder der Gestapo gnadenlos eingekerkert oder hingerichtet wurden! Aber wie läßt sich erklären, daß ihnen so wenige folgten? Warum kam es nicht schon Mitte der dreißiger Jahre zu einer breiten Aufstandsbewegung? Daß so viele Deutsche das Dritte Reich – vor allem in seinen Anfängen – nicht als etwas Besonderes, Andersartiges, sondern als etwas gera256  Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten

dezu Normales, wenn nicht gar Erwünschtes empfanden, hatte sicher folgende Ursachen. Von grundlegender Wichtigkeit war dafür erst einmal, daß es den Nazifaschisten binnen weniger Jahre gelang, ihr Drittes Reich durch wirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen aus einem krisengeschüttelten Staat mit Millionen Arbeitslosen in ein Land zu verwandeln, in dem wieder eine ökonomische Hochkonjunktur herrschte, die zu einer Vollbeschäftigung und einem allmählich steigenden Wohlstand für alle führte. Doch das war es nicht allein. Als ebenso wichtig erwies sich, daß es die Führer dieser Partei ausgezeichnet verstanden, zwischen politischen Nahzielen und politischen Fernzielen zu unterscheiden. Was sie den ihnen folgenden breiten Massen in den Anfangsjahren ihrer Herrschaft erst einmal boten, war all das, was diese „Massen“ tatsächlich wollten, nämlich nicht nur bessere Verdienstmöglichkeiten, sondern auch eine Fülle unterschiedlicher Freizeitvergnügungen in Form heiter stimmender Unterhaltungsmusik und hanebüchener Filmkomödien. Besonders Joseph Goebbels als Propagandaminister sah sehr darauf, daß in den Rundfunkprogrammen und abendfüllenden Filmen meist das Unterhaltsame, Ablenkende, Eskapistische überwog, um den von ihm immer wieder apostrophierten „breiten Massen“ das Gefühl zu geben, daß sich im Übergang von der Weimarer Republik zum Dritten Reich kulturell nichts grundsätzlich geändert habe und sich jeder „Volksgenosse“ – nach getaner Arbeit – weiterhin den erwünschten „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ hingeben könne. Da sich jedoch die Nazifaschisten durchaus bewußt waren, daß sie es im Hinblick auf „die Deutschen“ keineswegs mit einer homogenen, sondern mit einer in mehrere Klassen gespaltenen Bevölkerung zu tun hatten, mußten sie sich innenpolitisch auf zwei verschiedene, wenn auch auf das Gleiche hinauslaufende Strategien einstellen. Und das waren folgende. Zum einen versuchten sie unter dem Motto „Jedem das Seine“, den verschiedenen Bevölkerungsschichten das sie am ehesten Ansprechende – also den Arbeitern die KdF-Vergnügungen, den Bildungsbürgern die hohe Kultur, den Bauern die Erbhofvorstellungen und den Modernefanatikern die neusten technologischen Errungenschaften – zu bieten. Zum anderen zogen sie als einheitsstiftenden Faktor ständig das Konzept der Volksgemeinschaft heran, um damit den Willen zu einer größeren Solidarität zu beschwören, der jedoch zumeist in der höchst problematischen Maxime „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ kulmiDas rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten   257

nierte. Denn was war in diesen Zusammenhängen das immer wieder herausgestrichene „Volk“, wenn diesem Konzept lediglich das Gebot einer willigen Gefolgschaft zugrunde gelegt wurde? Schließlich waren selbst all die schönen Parolen, wie etwa „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, die in einem solidarischen Sinne fast sozialistisch klangen, letztlich totalitär und nicht demokratisch gemeint. Derartige Folgerungen wurden jedoch von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung nach 1933 noch kaum gezogen. Die meisten hatten erst einmal das Gefühl, daß nach dem „unerträglichen Hick-Hack zwischen den einzelnen Parteien“ während der Weimarer Republik mit dem Anbruch des Dritten Reichs eine Epoche nationaler Solidarität angebrochen sei. Schließlich boten ihnen die neuen Führer nicht nur bessere Lebensbedingungen, sondern versprachen der deutschen Bevölkerung zugleich ein neues Nationalbewußtsein, das durch den „schmählichen“ Friedensvertrag von Versailles und die sich daraus ergebenden Gebietsverluste arg beschädigt worden sei. Ja, viele Deutsche stellten sich diesen Prozeß eher friedlich, das heißt durch Volksabstimmungen, als gewaltsam vor. Und sie fühlten sich darin bestätigt, als sich 1934/35 bei den Wahlen im Freistaat Danzig sowie in dem von Frankreich verwalteten Saarland die überwältigende Mehrheit der dort lebenden Deutschen für einen möglichst unverzüglichen „Anschluß“ an Hitlers Reich aussprach, da sie über den frühen Erfolgen der NSDAP weitgehend vergaßen, welche mörderischen Fernziele diese Partei im Auge hatte. Schließlich ließen sich Hitler und seine Anhänger nur selten dazu bewegen, etwas von den brutalen Konsequenzen ihrer Kriegs- und Vernichtungsziele verlauten zu lassen. Fast alle Sprecher dieser Partei hielten sich in ihren offiziellen Äußerungen meist an die hergebrachten Nationalvorstellungen, das heißt sprachen davon, daß es ihnen ausschließlich um das Wohl des deutschen Volkes gehe, dem sie wieder – nach der infamen Dolchstoßtaktik der Sozis, der Schmach von Versailles und der katastrophalen Wirtschaftspolitik der späten Weimarer Republik – den ihm zustehenden „Platz an der Sonne“ verschaffen wollten. Und eine solche Politik wurde von den meisten Deutschen durchaus begrüßt. Wer hätte sich damals gegen die Idee einer nationalen Volkswohlfahrt auflehnen sollen? Derartige Vorstellungen erweisen sich immer als beliebt und werden von vielen Regierungen zur Rechtfertigung ihrer innenpolitischen Maßnahmen – selbst wenn diese vor258  Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten

nehmlich den Oberklassen oder gewissen Funktionärsschichten zugute kommen – ins Feld geführt.

II Allerdings gilt es dabei auch einige gravierende Unterschiede zu beachten. Genau besehen, ging es nämlich den Nazifaschisten letztlich gar nicht um die Wohlfahrt der Deutschen als „Nation“, so sehr sie diese beiden Begriffe ständig im Munde führten, sondern um die Stärkung der „arischen Rasse“. Schließlich beruhte ihre Ideologie nicht nur auf einer realpolitisch höchst effektiven Massenmanipulation, die von kalt berechnenden Taktikern in die innenpolitische Praxis umgesetzt wurde, sondern zugleich auf den wahnhaften Vorstellungen einiger Rassenfanatiker, die davon überzeugt waren, daß nur die Reste der heute noch existierenden arischen Rasse wegen ihrer kriegerischen und kulturschaffenden Veranlagung dazu befähigt seien, die Weltbevölkerung durch möglichst drakonische Maßnahmen vor einer totalen Bastardisierung und damit Erniedrigung ins Untermenschliche zu bewahren. Als erste Maßnahme dieser Art verabschiedete die NSDAP schon am 14. Juli 1933 das Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“, auf das am 15. September 1935 die berüchtigten „Nürnberger Gesetze“ gegen die „jüdischen Parasiten am deutschen Volkskörper“ folgten. Parallel dazu lief eine Kampagne zur Stärkung der nordischen Rasse, die sich auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens auswirkte und nicht nur zur Verleihung von Mutterkreuzen für besonders gebärtüchtige nordische Frauen, sondern auch zur Einrichtung von „Entbindungsheimen für uneheliche Mütter guten Blutes“ und schließlich zur Gründung jener „Lebensborn“-Anstalten führte, von denen sich vor allem die SS eine Neuzüchtung arischer Menschen versprach. Die nazifaschistische Schriftenfülle auf diesem Gebiet ist kaum zu überblicken und kann hier nur angedeutet werden. Den Auftakt dazu bildete unter anderem das Buch Deutschland das Bildungsland der neuen Menschheit (1933) von Ernst Bergmann. In ihm geht es fast ausschließlich unter rassenhygienischer Perspektive um die Trias „Abriegelung, Ausmerze und Auslese“. Bergmanns Haß richtete sich dabei – in direkter oder indirekter Anlehnung an die Rassentheoretiker der Völkischen Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten   259

45 Schautafel für den rassenkundlichen Unterricht an deutschen Schulen (1936)

260  Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten

Opposition vor 1914 – vor allem gegen die Juden sowie jene Menschen, die er die „großstädtischen Untermenschen“ nannte. Deutschland werde nur dann eine Zukunft haben, erklärte er, wenn es sich dieser artfremden Elemente entledige und sich zu „Eugenik“ oder noch besser „Aristogenik“ im Sinne Friedrich Nietzsches entschlösse. Um die herrschende „Kakogenik“, das heißt „Schlechtestenauslese“, ein für allemal unmöglich zu machen und einen „heiligen Frühling der Nation“ herbeizuführen, schlug er darum eine konsequente Sterilisation aller „Erbminderwertigen“ vor, um dadurch den reinrassigen Ariern zu ermöglichen, eine durchgreifende Menschheitserneuerung in die Wege zu leiten. Als ein weiteres Beispiel derartiger Forderungen sei auf den Sammelband Rassenhygiene im völkischen Staat (1934) verwiesen. Unter Berufung auf Hitler und Alfred Ploetz, den Altvater der Münchner Rassenhygiene, stellte in ihm Walter Schultze Deutschland als eins der wenigen Länder hin, in denen der Versuch einer arischen Neuzüchtung noch die Chance der Realisierbarkeit habe. Auch er gebrauchte dabei für die Liquidierung der „Erbschädlichen“ den Begriff „Ausmerze“ und für die Unterstützung der „Erbtüchtigen“ den Begriff „Auslese“. Zu den „Erbuntüchtigen“ rechnete er etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung, das durch „Eheverbote“ an der Fortpflanzung verhindert werden sollte. Die „Erbtüchtigen“ müßten dagegen im neuen Reich, wie er erklärte, zu einer wesentlich „stärkeren Fortpflanzung“ angeregt werden, um diesen Ausfall wieder auszugleichen, wobei Schultze eine „rassenhygienische Siedlungspolitik gen Osten“ als besonders empfehlenswert hinstellte. Von den führenden Nazifaschisten unterstützten vor allem Fanatiker wie Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg solche rassenhygienischen Wahnvorstellungen, während sich ein realpolitscher Taktiker wie Joseph Goebbels in seinen Tagebüchern eher darüber lustig machte. Hitler selber, um endlich die in dieser Hinsicht entscheidende Figur ins Auge zu fassen, war dagegen weder ein eindimensionaler Fanatiker noch ein eindimensionaler Taktiker, sondern beides zugleich. Und das macht seinen Fall und damit die Gesamtideologie des Nazifaschismus so widersprüchlich. Einerseits war er ein kaltblütiger Realpolitiker, der seine Partei und später große Teile der deutschen Bevölkerung höchst geschickt zu manipulieren verstand, das heißt auf seinen Führungsanspruch einschwor, andererseits war er ein in rassistischen Wahnvorstellungen Befangener, dem bei seinen kühl kalkulierenden Erwägungen Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten   261

seine ins Globale ausschweifenden Phantasien oft hemmend im Wege standen. Hitlers realpolitisches Geschick äußerte sich vor allem in seiner Durchsetzung bestimmter Nahziele, das heißt auf administrativem, parteipolitischem, wirtschaftsstrategischem und massenmedialem Gebiet. In diesen Bereichen fällte er zum Teil höchst effektive Urteile, wobei er sich stets bewußt „national“ oder auch „volksnah“ gab, während er alle überspannten Ausflüge ins Utopisch-Sektiererische weitgehend vermied. Was ihm besonders mißfiel, war der übertriebene Kult der alten Germanen, für den viele der älteren Alldeutschen und Ariosophen einzutreten versuchten. So duldete er zwar anfangs eine Weile die Thingspielbewegung, die Vorliebe für nordische Runen, die Edda-Schwärmerei, die Verehrung des arischen Jesus und den Siegfried-Kult, drängte jedoch solche Phänomene nach 1934/35 allmählich in den Hintergrund. Im Einsatz für solche Vorstellungen sah er als Realpolitiker noch immer die germanophilen „Rauschebärte“ der wilhelminischen Ära am Werke, die nicht begriffen hätten, daß es angesichts der technologischen Fortschritte kein Zurück zu einer romantisch verklärten germanischen Bronzezeit mehr gebe. Sein Reich sollte ein vorwärtsgerichtetes, technologisch-wehrhaftes, das heißt ein „modernes“ Reich sein, das alle anderen Staaten Europas nicht nur auf dem Sektor des Ideologischen, sondern auch an industrieller Kapazität übertrumpfen würde. Was Hitler demnach auf massenmedialem Sektor vor allem unterstützte, waren als spezifisch „zeitgemäß“ geltende Phänomene wie Sportveranstaltungen, Autorennen, Massenaufzüge sowie die Produkte der Unterhaltungsindustrie und die Erweiterung der Touristik. Zugleich achtete er sorgfältig darauf, daß dabei nicht das Antihuman-Brutalisierende, sondern das Unterhaltsame im Vordergrund stand, um nicht gegen das von ihm und seiner Partei immer wieder beschworene „gesunde Volksempfinden“ zu verstoßen. So viel zu den realpolitischen Taktiken, mit deren Durchführung Hitler vor allem seinen Propagandaminister Joseph Goebbels und Robert Ley, den Leiter der Deutschen Arbeitsfront und der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude, beauftragte. In all diesen Machinationen unterschied sich Hitler kaum von anderen sich in Europa als „volksverbunden“ ausgebenden Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Was ihn jedoch von den meisten dieser Alleinherrscher – ob nun Josif Stalin, Józef Klemens 262  Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten

Piłsudski, Benito Mussolini oder Francesco Franco – unterschied, war die Tatsache, daß seinem Machtstreben nicht nur nationalbezogene, sondern zugleich rassistisch-imperialistische Zielsetzungen zugrunde lagen. Er sprach zwar immer wieder vom Wohl der deutschen „Volksgemeinschaft“, das ihm am Herzen liege. Aber unter dem Deckmantel solcher hochtönenden Schlagwörter verbargen sich von Anfang an ideologische Fernziele, die weit über einen nationalbetonten Deutschheitskult hinausgingen. Doch auf diese Ziele kam er in der Öffentlichkeit höchst selten zu sprechen, um seine Anhänger und schon gar nicht die „breiten Massen“ des deutschen Volks mit seinen rassistischen Wahnvorstellungen, das heißt dem Kult der arischen Wehrbereitschaft und den damit verbundenen Welteroberungsabsichten, zu schockieren. Schließlich wollte auch er, wie bereits viele der älteren Ariosophen und Germanenschwärmer des Zweiten Kaiserreichs, alle „fremdrassigen“ Elemente im deutschen Volkskörper so radikal wie nur möglich ausmerzen, um Deutschland in ein reinrassiges Arierland zu verwandeln. In diesem Punkte hielt er sich Zeit seines Lebens – trotz seiner realpolitischen „Moderne“-Konzepte – weitgehend an das, was bereits Paul de Lagarde in seinen Deutschen Schriften (1878–1881), Julius Langbehn in seinem manifestartigen Traktat Rembrandt als Erzieher (1891), Houston Stewart Chamberlain in seinen Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899), Jörg Lanz von Liebenfels in seiner Zeitschrift Ostara. Bücherei der Blonden und Mannesrechtler (ab 1905), Willibald Hentschel in seinem Buch Varuna. Eine Welt- und Geschichtssicht vom Standpunkt des Ariers (1901), Hanns Hörbiger in seiner ins Phantastische ausschweifenden Glazialkosmogonie (1910) oder ähnlichen Autoren als zukunftsweisend erschienen war. Genau genommen, hatte schon in all diesen Schriften weniger das Nationale als das Nordische, das Bäuerliche oder das Kriegerische, wenn nicht gar eine Mischung aus allen drei dieser Komponenten, im Vordergrund gestanden. Wie wir wissen, kannte Hitler seit seinen frühen Wiener Jahren einen Großteil dieser Publikationen, obwohl er sich in seinen Reden – im Gegenteil zu anderen nazifaschistischen Rassekundlern dieser Jahre – nur selten darauf bezog. Und das hatte zweierlei Gründe: erstens versuchte er, sich selber als einen genialen, das heißt von anderen Autoren oder Politikern unbeeinflußten Denker hinzustellen, und zweitens wollte er, wie gesagt, seine imperialistischen und rassistischen Fernziele Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten   263

keineswegs sofort publik machen, um nicht sein Image als wohltätiger Volksführer oder gar Volksbeglücker in Frage zu stellen. Seine Fernziele offenbarte er daher fast ausschließlich engsten Vertrauten, wie etwa Hermann Rauschning oder jenen Offizieren, die gegen Ende des Krieges in der Wolfsschanze zu seiner Tischrunde gehörten. In seinen Unterhaltungen mit Rauschning, dem faschistischen Senatspräsidenten des Freistaats Danzig, betonte er in dieser Hinsicht vor allem die ihm offenbar besonders am Herzen liegende Gralsvorstellung, die er einerseits Richard Wagner, andererseits jenem Jörg Lanz von Liebenfels verdankte, der bereits 1908 auf Burg Werfenstein an der Donau eine Hakenkreuzfahne gehißt hatte, um diese Burg in eine Gralsburg der ariosophisch gesinnten „Blonden und Mannesrechtler“ umzuwandeln. Während es jedoch Wagner in seinem Parsifal (1882) eher um eine halb katharische, halb buddhistische Umdeutung des christlichen Abendmahls ins Vegetarische gegangen war, stellte Hitler in seinen Privatgesprächen den Gralsmythos gern als einen spezifisch nordischen Mythos hin. Das Blut, das im Gralskelch aufbewahrt werde, war für ihn nicht das Blut Christi, sondern das nordische Blut. Er bezeichnete deshalb in diesem Zusammenhang die SS als eine „Bruderschaft der Tempelritter um den Gral des reinen Blutes“, der erst dann wieder aufleuchten werde, wenn das arische Blut von allen fremdrassigen Bestandteilen gereinigt sei. Nur wenn das gelänge, erklärte er, werde Deutschland fähig sein, die Weltherrschaft anzutreten. Sich selbst charakterisierte dabei Hitler im Hinblick auf solche Vorstellungen als den „leidenden Amfortas“, der noch immer an der verhängnisvollen Blutsvermischung der Vergangenheit leide. So gesehen, gehört also auch Hitler, selbst wenn er nur selten darauf zu sprechen kam, durchaus in die Traditionslinie jener wilhelminischen Arierschwärmer, die aus den alten Atlantis- und Thulemythen sowie aus vegetarisch-katharischen Traditionen das Konzept der „Homini vegeti“ oder „Perfecti“ abzuleiten versuchten. Dieser gralshafte Elitismus, nämlich die Überzeugung, einem besonderen Männerbund, einem Ritterstand, einer nordischen Herrenrasse anzugehören, erzeugte in Hitler und einigen seiner engsten Anhänger ein aristokratisches Erwähltheitsbewußtsein, das im Laufe der Jahre immer beklemmender wurde. Denn je erhabener sich diese Kreise dünkten, desto verachtungsvoller schauten sie auf jene angeblich ressentimentgeladenen schwarzen, jüdischen, mongolisch-asiatischen und bastardisiert-westeuropäischen Völker 264  Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten

herab, deren einziges Trachten – ihrer Meinung nach – darin bestehe, die arischen Edelmenschen schrittweise auszurotten, um sich endlich ohne Scham ihren „niederen Trieben“ hingeben zu können. Und aus derart überspannten Vorstellungen leiteten die NS-Führungsschichten geradezu zwangsläufig den Herrschaftsanspruch der arischen Rasse über die gesamte Weltbevölkerung ab, die ohne die führende Hand der „Arioheroiker“, wie sie behaupteten, auf alle Ewigkeit in einem trüben Rassen- und Unkulturchaos versinken würde. In diesem Zusammenhang muß nicht nur Hitlers Antisemitismus sowie sein Euthanasieprogramm, sondern auch sein Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 verstanden werden, der zwar propagandistisch als ein Kampf gegen den jüdischen Weltbolschewismus hingestellt wurde, aber in seinen mehr oder minder geheim gehaltenen Fernzielen als rassischer Vernichtungskrieg geplant war. Nicht nur die dort lebenden Juden, sondern auch die Mehrheit der slawischen „Untermenschen“ sollte in diesem Krieg liquidiert werden. Diese „lächerlichen hundert Millionen Slawen“, erklärte Hitler 1942 in einem seiner Tischgespräche, werden wir wie die „nordamerikanischen Indianer“ behandeln, das heißt entweder umbringen oder in unwirtliche Gebiete abschieben. Erst dann werde endlich jener Raum frei, wie er hoffte, auf dem man „etwa hundert Millionen germanischer Menschen“ aus allen nordeuropäischen Ländern ansiedeln könne. Nur wenn das gelingen sollte und jede arische Familie mindestens vier Kinder zeugen würde, behauptete er großmäulig, werde die nordische Rasse endlich fähig sein, mit der ihr angeborenen Kampfbereitschaft eine neue Weltordnung anzustreben. Und an dieser Idee hielt Hitler bis zum Kriegsende fest. Selbst als sich nach der Schlacht um Stalingrad im Winter 1942 auf 1943 die Chancen auf einen Endsieg der deutschen Wehrmacht zusehends verschlechterten, ließ Hitler nicht von seinem „arischen“ Geschichtsverständnis ab. Daß es den deutschen Truppen nicht gelungen sei, die slawischen „Untermenschen“ in einem Blitzkrieg von wenigen Monaten zu besiegen, führte er jetzt auf jene arischen Blutsanteile in der russischen Bevölkerung zurück, welche im 9. Jahrhundert durch die nordischen Waräger unter Rurik, den Gründer des ersten russischen Reichs, in dieses Land eingeflossen seien. Wie wären die russischen Soldaten sonst fähig gewesen, behauptete er, sich so heldenhaft zu verteidigen, wenn sie nicht diesen Blutsanteil gehabt hätten. Und auch das deutsche „Versagen“ führte Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten   265

46 Propagandaplakat der NSDAP (1942)

266  Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten

Hitler auf die gleichen rassischen Gründe zurück. In Deutschland gebe es eben nur zweieinhalb Millionen reinrassige Arier. Und das sei letztendlich nicht genug, um ganz Europa, wenn nicht gar die ganze Welt zu erobern. Doch selbst dann, wenn Deutschland diesen Krieg verlieren würde, hätte das Ariertum noch immer die Chance, die Weltherrschaft zu erringen. Schließlich lebten in den USA rund 25 Millionen Menschen arischer Herkunft, erklärte er gegen Ende des Krieges, die dann jene Aufgabe übernehmen müßten, an der Deutschland aufgrund seines Mangels an arischem Blut gescheitert sei. So gesehen, war Hitler kein wirklicher Nationalist, dem es primär um die Wohlfahrt und die Größe Deutschlands ging. Fast alle, die an ihn „glaubten“, hielten ihn zwar dafür, da er seine Fernziele, nämlich das Großdeutsche Reich in ein waffenstarrendes Großarisches Weltreich zu erweitern, so geschickt zu verbergen verstand. Und so nahmen 80 Millionen Deutsche – von wenigen Ausnahmen abgesehen – selbst im Zweiten Weltkrieg bis zur letzten Minute die größten Entbehrungen und Opfer auf sich, weil sie weiterhin annahmen, daß sich ihr „Führer“ nur um ihr Heil bekümmere. Daß dies eine der beklagenswertesten Illusionen der deutschen Geschichte war, ging vielen unter ihnen erst nach dem verlorenen Krieg auf, als sich plötzlich die hochtönende NS-Ideologie als ein auf Herrschaft und Mord hinzielendes Lügengespinst zu erkennen gab, das zwar auch zu realpolitischen Maßnahmen griff, aber letztlich ins Wahnhafte tendierte.

Das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten   267

Deutschbetonte Engagementsformen im Exil

I Im Jahr 1933 kam es zu einer Emigrantenwelle, deren Ausmaß selbst in der deutschen Geschichte, in der es viele solcher Vertreibungen gegeben hat, ohne Beispiel ist. Während es im Zeitalter der Französischen Revolution, der Karlsbader Beschlüsse, der Nachmärz-Ära und der Jahre der Bismarckschen Antisozialistengesetze eher Einzelne oder lokal begrenzte Gruppen waren, die sich der drohenden Verhaftung durch eine Flucht ins Ausland zu entziehen suchten, waren nach der Machtübergabe an die Nazifaschisten plötzlich Zehntausende, ja schließlich Hunderttausende von Menschen aus politischen oder rassischen Gründen in Gefahr, ständigen Repressionen ausgesetzt zu sein oder in Gefängnissen und Konzentrationslagern eingekerkert, wenn nicht gar umgebracht zu werden. Am meisten hatten die Kommunisten und Juden angesichts derartiger Maßnahmen zu befürchten. Aber auch viele Sozialdemokraten, Mitglieder der Bekennenden Kirche, linksliberale Intellektuelle, sogenannte Asphaltliteraten sowie als „modernistisch“ oder „kulturbolschewistisch“ geltende Maler und Komponisten fühlten sich plötzlich bedroht und sahen sich nach möglichen Zufluchtsstätten außerhalb Deutschlands um. Da der am 30. Januar 1933 vollzogene Machtwechsel so drastisch und für viele so unvorhergesehen erfolgte, kam es anfangs unter den verstörten, terrorisierten und ideologisch in viele Lager gespaltenen Flüchtlingen kaum zu irgendwelchen „humanistischen“ oder „antifaschistischen“ Zusammenschlüssen. Was in den ersten Wochen und Monaten des Exils vorherrschte, war weitgehend ein Zustand der Vereinsamung und Zersplitterung, da weder die „Linksengagierten“ noch die „Unpolitischen“ einen solchen Gang der Ereignisse vorhergesehen hatten. Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar sowie der durch ihn ausgelösten Verfolgung und Pogromstimmung stand für die meisten Exilanten erst einmal das nackte Überleben und nicht irgendeine gemeinsame Aktion im Vordergrund. Außer einigen, die in blindem Zweckoptimismus hoff268  Deutschbetonte Engagementsformen im Exil

ten, daß die NS-Herrschaft höchstens sechs Monate dauern würde, da ein derart „hochkultiviertes“ Volk wie die Deutschen einen „Hofbräuhaus-Rowdy“ wie Hitler bald auslachen würde, sah die Mehrheit der anderen Vertriebenen recht trübe in die Zukunft. Und ihre allgemeine Gefühlslage wurde noch gedrückter, als sie aus Prager, Pariser oder Schweizer Zeitungen erfuhren, wie schnell sich in Deutschland der Wandel zu einer Einparteiendiktatur vollzogen habe und wie groß der Jubel breiter Schichten der deutschen Bevölkerung sowohl über die Verringerung der Arbeitslosigkeit als auch über den Prozeß der „völkischen Gesundung“ sei. Im Rückblick auf diese Zeit schrieb daher Wolf Frank 1935 in seinem Führer durch die deutschen Emigration erbittert: „Emigrant und Emigrant, das war von Anfang an nicht dasselbe. Die Geschäftsleute wollten nichts von den Politikern wissen, die Sozialdemokraten nichts von den Kommunisten, die mit Beziehungen Versehenen nichts von den Hilflos-Fremden und die Reichen schon gar nichts von ihren armen Schicksalsgenossen.“ Ja, noch in dem 1940 erschienenen Roman Exil von Lion Feuchtwanger hieß es kurz und bündig: „Die deutsche Emigration war zerklüfteter als jede andere.“ Vor allem unter den bürgerlich anspruchsvolleren Künstlern, die sich schon in der massenmedial orientierten Weimarer Republik als Individuell-Randständige empfunden hatten, verbreitete sich deshalb im Exil weitgehend das Gefühl einer nur schwer zu überwindenden Entfremdung. Viele von ihnen sahen sich in Länder verschlagen, deren Sprache sie nicht verstanden und in denen zum Teil völlig andere Kulturvorstellungen den Ton angaben als jene, die sie in der spätwilhelmischen Ära oder der Weimarer Republik gewohnt waren. Und obendrein: welches Land wollte sie inmitten der immer noch weiterwirkenden Weltwirtschaftskrise schon aufnehmen? Schließlich handelte es sich bei den meisten Exilanten um Juden. Und die waren damals selbst in den westlichen Demokratien, in denen es ebenfalls einen latenten Antisemitismus gab, nicht gern gesehen. Manche, wie etwa Alfred Polgar, beteuerten daher immer wieder, daß ihnen die „Heimat“ zusehends zur Fremde, aber die „Fremde“ nicht zu einer neuen Heimat werde. Mußte nicht daher die Mehrheit jener Bildungsbürger unter ihnen, die noch in einer traditionsreichen Nationalkultur ohne nennenswerte Einflüsse der erst 50 bis 60 Jahre später einsetzenden Globalisierung großgeworden war, von vornherein verzagen? Ja und nein. Schließlich gab es unter ihnen neben den Deutschbetonte Engagementsformen im Exil  269

Mutlosgewordenen auch Hoffnungsvolle, neben den von Selbstmordvorstellungen Geplagten auch aufrechte Kämpfernaturen, neben denen, die sich dem Zionismus zuwandten und in Deutschland nur noch das Land Hitlers und nicht mehr das Land Goethes sahen, auch geflüchtete Juden, die sich als die „besseren Deutschen“ empfanden und weiterhin an den älteren Idealen der deutschen Kultur und Bildung festzuhalten versuchten. Was dagegen zu Anfang bei vielen bildungsbürgerlichen Exilanten fehlte, die sich – trotz aller Widrigkeiten – zwischen 1933 und 1935 den in Prag, Paris und London allmählich entstehenden deutschsprachigen Exilvereinigungen anschlossen, waren irgendwelche trotzig herausgestellten Nationalgefühle. Viele unter ihnen empfanden sich zwar ebenfalls als die „besseren Deutschen“, aber nicht in einem patriotischen Sinne. Solche Gefühle hatte ihnen der Schock über den triumphalen Erfolg der Nazifaschisten erst einmal ausgetrieben. Bei ihnen finden sich zwar häufig elegische Beteuerungen, durch ihre Flucht ins Ausland ihren Wohnsitz, ihre Verdienstmöglichkeiten, ihr gesellschaftliches Ansehen sowie ihren bisherigen Freundeskreis verloren zu haben, aber kaum Klagen darüber, daß sie jetzt kein „Vaterland“ mehr hätten. Wenn sie, wie auch manche ihrer nichtjüdischen Leidensgenossen, überhaupt noch das Adjektiv „deutsch“ gebrauchten, dann weniger in einem politischen als in einem kulturellen Sinne, um sich damit zu den humanistisch-liberalen Tendenzen der Zeit vor dem NS-Regime zu bekennen. Daher nannten sie ihren einzigen größeren antifaschistischen Kongreß „Zur Verteidigung der Kultur“, welchen sie 1935 in Paris abhielten und bei dem sie mit Unterstützung Heinrich Manns sowie der französischen Front populaire hofften, alle aus Deutschland vertriebenen Künstler – gleichviel welcher ideologischen Couleur – für eine möglichst breite, das heißt überparteiliche Bewegung gegen den Nazifaschismus zu gewinnen. Worauf sich die meisten der dort Versammelten einigen konnten, war demzufolge lediglich das illusionäre Konzept, in den früheren Deutschen vornehmlich eine Kulturnation zu sehen, während sie irgendwelchen aktivistischen Parolen, die auch die politischen und sozialen Aspekte ihrer Ablehnung des Nazifaschismus betroffen hätten, wie sie etwa Bertolt Brecht auf dieser Tagung formulierte, größtenteils aus dem Wege gingen.

270  Deutschbetonte Engagementsformen im Exil

II Soviel zu den humanistisch-kulturell orientierten Gruppen oder Einzelgängern unter den Exilanten. Politische und damit auch nationalbezogene Aspekte wurden dagegen fast ausschließlich von den linksorientierten Vereinigungen unter den Exilanten auf die Tagesordnung gesetzt. Ihre Hauptunterstützung erhielten sie dabei von Moskau, während sie in fast allen westlichen Demokratien, die weitgehend antikommunistisch eingestellt waren und daher dem ebenfalls antikommunistisch auftretenden Dritten Reich gegenüber eine abwiegelnde Appeasementpolitik betrieben, eher an den Rand gedrückt wurden. Allerdings dominierten anfangs selbst in den von der Sowjetunion unterstützten antifaschistischen Bemühungen eher die kulturellen als die politischen Aspekte. Dafür sprechen unter anderem die in Moskau von deutschen Exilanten herausgegebenen Exilzeitschriften Internationale Literatur und Das Wort, in denen vornehmlich literarische und kulturpolitische Themen, wie etwa die dort von Georg Lukács und Alfred Kurella angestoßene Expressionismusdebatte, im Vordergrund standen. Daß es hierbei im Zuge der sowjetischen Nationalitätenpolitik, die bereits seit dem Ende der zwanziger Jahre der von Leo Trotzky unterstützten Idee einer proletarischen Weltrevolution abgeschworen hatte, auch zu spezifisch deutschnationalen Tendenzen kam, welche vor allem von Johannes R. Becher befürwortet wurden, lag also durchaus auf der von Stalin verfolgten Parteilinie. Ja, diese Tendenz ins Nationalbetonte nahm in den Moskauer Exilkreisen, nachdem die UdSSR im Herbst 1939 mit dem Dritten Reich aus taktischen Gründen einen Nichtangriffspakt abgeschlossen hatte, sogar noch zu. Erst nach dem Überfall der Nazifaschisten auf die Sowjetunion im Juni 1941 kam es in dieser Hinsicht zu einem durchgreifenden Kurswechsel. Danach gab es in den Moskauer Exilkreisen kaum noch irgendwelche ausschließlich Phänomenen der Kultur gewidmete Debatten, sondern nur noch politische Bemühungen, wie sich der Vormarsch der deutschen Truppen mit Hilfe der Roten Armee aufhalten lasse, um so nicht nur die Sowjetunion, sondern ganz Europa vor einem Sieg des NS-Regimes bewahren zu können. Und da sich Ende 1941 auch die USA entschlossen, diesen „Endkampf “ militärisch zu unterstützen, ergab sich schließlich die Chance, dem mörderischen Vordringen der Nazifaschisten ein Ende zu bereiten. Deutschbetonte Engagementsformen im Exil  271

Den Auftakt dazu bildete die im Winter 1942 auf 1943 erfolgte Niederlage der deutschen Truppen im Kampf um Stalingrad, welche sich als der entscheidende Wendepunkt in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs erwies. Danach verbreitete sich unter den in der UdSSR befindlichen Exilanten die Hoffnung, sich endlich auf ihre Weise an der Niederringung des Dritten Reichs beteiligen zu können. Stalin förderte diese Bemühungen, indem er am 12. und 13. Juli 1943 in Krasnogorsk bei Moskau das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) gründen ließ, dem eine Reihe kommunistischer Exilfunktionäre und -intellektuelle sowie gefangengenommener Wehrmachtsoffiziere und -soldaten angehörten. Zum Präsidenten des NKFD wurde der Exilschriftsteller Erich Weinert ernannt, der dafür sorgte, daß dieses Komitee die Wochenzeitung Freies Deutschland herausgab, die bereits ab 19. Juli erscheinen konnte. Das von Rudolf Hermstadt und Alfred Kurella entworfene Manifest an die Wehrmacht und das deutsche Volk, welches das gleiche Komitee in Auftrag gegeben hatte, setzte sich vor allem für eine Zerschlagung des NS-Regimes, einen sofortigen Friedensschluß sowie die Bildung einer Regierung der nationalen Einheitsfront ein. Parallel dazu forderten Erich Weinert, Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht über den von Anton Ackermann geleiteten Radiosender Freies Deutschland – ohne irgendwelche Klassenkampfparolen, aber unter starker Betonung der nationalen Komponente – die deutsche Bevölkerung zum Staatsstreich gegen Hitler auf. Außerdem versuchten die gleichen Gruppen, die deutschen Soldaten durch Abwurfflugblätter zur Einstellung der Kämpfe und zum Überlaufen auf die sowjetische Seite zu bewegen. Um dabei an das Nationalbewußtsein der deutschen Soldaten zu appellieren, wurden die dementsprechenden Flugblätter stets mit den Farben Schwarz-Weiß-Rot und nicht mit den Farben Schwarz-Rot-Gold umrahmt. Ähnliche Versuche unternahm der am 11. und 12. September 1943 im Lager Lunjowo gegründeten Bund deutscher Offiziere (BDO), dem vor allem der General Walther von Seydlitz-Kurzbach und der Generalfeldmarschall Friedrich Paulus vorstanden, der jedoch schon kurze Zeit später institutionell und personell im NKFD aufging. Obwohl sich Stalin von derartigen Aktivitäten einen durchschlagenden Erfolg erhoffte und sogar bereit war, den Deutschen im Fall einer Kapitulation die Reichsgrenzen von 1937 zu garantieren, blieb die Wirkung all dieser Bemühungen relativ gering. Da die deutschen Truppen 272  Deutschbetonte Engagementsformen im Exil

47 Johannes R. Becher im Kriegsgefangenenlager in Lunjowo mit dem Präsidenten des Nationalkomitees Freies Deutschland Erich Weinert sowie dem Vize­ präsidenten dieses Komitees und zugleich Präsidenten des Bundes deutscher Offiziere Walther von Seydlitz-Kurzbach im September 1943

noch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs erbittert weiterkämpften und auch innerhalb Deutschlands kein größere Bevölkerungsschichten ergreifender Widerstand erfolgte, verlor Stalin allmählich das Interesse an dieser Organisation und löste sie im November 1945, nachdem er sich mit Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill auf den Konferenzen in Casablanca, Teheran und Jalta bereits vorher über die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen geeinigt hatte, endgültig auf.

III Doch bevor es dazu kam, schlossen sich gegen Kriegsende auch in mehreren westlichen Ländern einige linksgerichtete Exilanten zu Organisationen mit ähnlichen Zielvorstellungen zusammen, denen sie meist in Anlehnung an das NKFD die Bezeichnung Freies Deutschland gaben. In Frankreich wurden die Vertreter solcher Gruppen 1944 vor allem im Rahmen der dortigen Résistance aktiv. In Griechenland unterstützten Deutschbetonte Engagementsformen im Exil  273

sie die kommunistische Widerstandsbewegung ELAS. In Mexiko engagierten sie sich in der bereits 1942 gegründeten Bewegung Freies Deutschland, in der sich unter anderem Alexander Abusch, Paul Merker, Ludwig Renn, Anna Seghers und Bodo Uhse im Kampf gegen den Nazifaschisten einsetzten. Wesentlich schwieriger war es dagegen für die deutschen Kommunisten in den Vereinigten Staaten, wohin seit 1939/40 die meisten Exilanten geflüchtet waren, an ein kämpferisches Nationalbewußtsein der dorthin Verschlagenen zu appellieren. Vor allem die Mehrheit der Juden unter den aus Deutschland Vertriebenen teilte nach den ersten Schreckensmeldungen über die nazifaschistischen Vernichtungslager durchaus Roosevelts, wenn nicht gar Bernard Baruchs oder Henry Morgenthaus pauschale Verdammung aller im Dritten Reich Verbliebenen und war keineswegs gesinnt, nach dem Ende des Krieges wieder nach Deutschland zurückzukehren, um sich dort am Aufbau eines „anderen, besseren Deutschlands“ zu beteiligen. Für die deutschen Kommunisten in den USA war es daher zwischen 1941 und 1945 äußerst schwierig – zumal es in dieser Zeitspanne, im Gegensatz zur Endphase des Ersten Weltkriegs, keineswegs zu der von ihnen erhofften Auflehnung der aus dem Proletariat stammenden deutschen Soldaten kam – weiterhin an der These festzuhalten, daß sich nach einem Sieg der Alliierten die Mehrheit der Deutschen sicher unverzüglich für die Sache des Friedens, der Demokratie, ja vielleicht sogar des Sozialismus gewinnen ließe. Dennoch hielten viele von ihnen mit zweckoptimistischer Emphase nach wie vor an dem oft zitierten Ausspruch Stalins aus dem Jahr 1942 fest: „Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk, die deutsche Nation aber bleibt bestehen“, um sich damit gegen jene von Lord Robert Gilbert Vansittart und Henry Morgenthau in Umlauf gebrachte Kollektivschuldthese zur Wehr zu setzen, die auf der kruden völkerpsychologischen Verallgemeinerung beruhte, daß alle Deutschen eine angeborene Aggressivität besäßen, durch die sie sich leicht zu mörderischen Aktionen verleiten ließen. Doch mit den von Stalin vertretenen Vorstellungen konnten sich die deutschen Kommunisten in den USA innerhalb der verschiedenen Exilantenorganisationen nicht durchsetzen. Erstens wurden sie von den Agenten des Federal Bureau of Investigation (FBI) ständig überwacht und dadurch zum Teil eingeschüchtert, zweitens machten sich in ihren Reihen, wie auch bei den Vertretern ähnlich gesinnter Anschauungen, 274  Deutschbetonte Engagementsformen im Exil

die eine „positive“ Haltung gegenüber dem deutschen Volk einnahmen, auch gewisse deutschnationale Tendenzen bemerkbar, welche vor allem unter den jüdischen Exilanten auf Widerstand stießen. Aus diesem Grund brach das Bündnis zwischen den ideologisch höchst verschiedenen Vertriebenengruppen, welche sich unter der Leitung des progressionsbetonten Theologen Paul Tillich im Council for a Democratic Germany zusammengefunden hatten und für die Bildung einer deutschen Exilregierung eintraten, schon nach kurzer Zeit wieder auseinander. Die bürgerlichen Humanisten verwahrten sich gegen die Beteiligung der Kommunisten an solchen Bestrebungen, während manchen aus Deutschland stammenden Juden dieses Council zu „pangermanisch“ erschien. Nicht viel anders erging es dem Nationalkomitee Freies Deutschland, das im Herbst 1943 auch in den USA aktiv zu werden versuchte. Auch an ihm beteiligten sich anfangs Politiker, Künstler und Wissenschaftler verschiedenster ideologischer Herkunft. Wie im Council for a Democratic Germany kam es daher selbst hier schnell zu gravierenden Meinungsverschiedenheiten. So fand zwar am 1. August 1943 in Los Angeles ein Treffen mehrerer Sympathisanten dieses Komitees statt, an dem unter anderem Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Heinrich Mann, Thomas Mann, Ludwig Marcuse, Hans Reichenbach und Berthold Viertel teilnahmen, die sich nach längeren Debatten in einer programmatischen Erklärung darauf einigten, im Gegensatz zu den Vertretern der Kollektivschuldthese, so scharf wie möglich „zwischen dem Hitlerregime und den mit ihm verbundenen Schichten einerseits und dem deutschen Volk andererseits“ zu unterscheiden und zugleich die Deutschen aufzurufen, „seine Bedrücker zu bedingungsloser Kapitulation zu zwingen und eine starke Demokratie in Deutschland zu erkämpfen“. Doch Thomas Mann zog bereits am nächsten Tag seine Unterschrift wieder zurück, da ihm eine solche Erklärung zu „patriotisch“ erschien und man mit ihr der US-amerikanischen Regierung, wie er behauptete, „in den Rücken fallen“ würde. Wie Roosevelt und Morgen­ thau hielt es Thomas Mann zu diesem Zeitpunkt für durchaus angemessen, wenn die „Alliierten Deutschland zehn oder zwanzig Jahre züchtigen“ würden. Ja, er fühlte sich in dieser Hinsicht mehr als bestätigt, als er im Oktober 1943 bei einem Gespräch in Washington erfuhr, daß die dortige Regierung die vorschnellen „Reconstruction“-Pläne des NKFD Deutschbetonte Engagementsformen im Exil  275

keineswegs begünstige und daher eine deutsche Exilregierung, als deren Präsidenten manche Exilanten Heinrich Mann vorgesehen hatten, nicht anerkennen würde. Thomas Mann, der in seinen Reden an deutsche Hörer, die er während des Krieges über den BBC-Sender ausstrahlen ließ und in denen er die Deutschen mehrfach aufgefordert hatte, sich endlich zu einem Widerstand gegen das NS-Regime aufzuraffen, war zwar über die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen ebenso erbittert wie viele Vertreter des NKFD, zog aber daraus nicht die gleichen Konsequenzen wie die meisten deutschen Linksliberalen oder Kommunisten. Während diese ihre Hoffnungen auf ein „anderes, besseres Deutchland“ weiterhin auf eine Wiederbelebung des demokratischen und sozialistischen Erbes der deutschen Aufklärung und der ihr verpflichteten späteren Arbeiterbewegung setzten, wurde Mann zusehends von Selbstzweifeln geplagt, ob er sich als selbsternannter Repräsentant der bürgerlichen Klasse nicht ebenfalls am Aufkommen des Nazifaschismus in Deutschland mitschuldig gemacht habe. Dafür spricht vor allem jene Rede, die er – als der weitaus bekannteste und einflußreichste unter den in den Vereinigten Staaten lebenden deutschen Exilanten – unter dem Titel Deutschland und die Deutschen unter Anwesenheit führender US-amerikanischer Politiker und Journalisten am 20. Mai 1945 im Auditorium der Library of Congress in Washington hielt. In ihr konfrontierte er, der wenige Monate zuvor US-Bürger geworden war, sein neues US-amerikanisches Weltbürgertum mit jenem grübelnd-tiefsinnigen, tragisch-umwitterten, musikalisch-verinnerlichten und zugleich teuflisch-grobianischen deutschen Geist, der immer wieder auf irrationale Abwege geraten sei, was ihn zu gleicher Zeit auch als Zentralthema bei der Niederschrift seines Romans Doktor Faustus beschäftigte. Allerdings ließ er sich dabei keineswegs ausschließlich vom Gedanken einer Kollektivschuld seiner ehemaligen Landsleute leiten. In diesem Punkt folgte er dem von Roosevelt bis zu dessen Tod am 12. April 1945 gebilligten Kurs einer zwar harten Bestrafung, aber nicht völligen Dezimierung Deutschlands, wie sie vor allem Morgenthau vorgeschlagen hatte. Was manche US-Amerikaner bei diesem Vortrag verwunderte, war vor allem Manns These, daß man nicht einfach zwischen einem „guten“ und einem „bösen“ Deutschland unterscheiden könne, sondern daß das eine untrennbar mit dem anderen verbunden sei, ja – noch zugespitzter gesagt – „daß das böse zugleich 276  Deutschbetonte Engagementsformen im Exil

das gute sei, das gute auf Irrwegen und im Untergang“. Mit dieser These wollte sich Thomas Mann, nun da der Krieg zu Ende war, sowohl von einer vorschnellen Aufwertung als auch von einer ebenso vorschnellen Pauschalverdammung alles Deutschen distanzieren. Schließlich seien Hitler und seine Mannen sowie die mit ihnen sympathisierenden deutschen Bildungsbürger keine kulturlosen Gangster gewesen, erklärte er, sondern hätten selbst Genies wie Richard Wagner und Friedrich Nietzsche ihren Tribut gezollt, denen sich auch er verbunden fühle, wie Mann bereits 1939 in seinem Essay Bruder Hitler zugegeben hatte. Während Thomas Mann noch wenige Jahre zuvor in seiner Rede vor dem American Rescue Committee (1941) und dem Essay Schicksal und Aufgabe (1943) deutlich betont hatte, daß der Nazifaschismus eine besonders aggressive Form der Kapitalherrschaft sei, die in Hitler einen idealen „Bändiger der Arbeiter“ und damit ein „Bollwerk gegen alles, was man Bolschewismus nannte“, gesehen habe und der darum selbst von den Interessensvertretern des Großkapitals in den westlichen Demokratien gefördert worden sei, setzte er also in seiner Rede Deutschland und die Deutschen in Form einer Klage und zugleich Anklage den Nazifaschismus fast ausschließlich mit gewissen kulturellen „Wesenszügen“ des Deutschtums in Beziehung, die es trotz ihres zeitweiligen Mißbrauchs nach wie vor zu respektieren gelte. Im Widerspruch zu seinen „Züchtigungs“-Vorstellungen, mit denen er sich 1943 von den Forderungen des Nationalkomitees Freies Deutschland abgewandt hatte, ging er damit einer konkreten Analyse jener politischen, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen, welche in Deutschland dem Nazifaschismus zum Sieg verholfen hatten und womit er seine kapitalismusfreundlichen Zuhörer in Washington lediglich verstört hätte, peinlichst aus dem Wege. Stattdessen schwenkte er auf jene ins Geistige abgehobene Interpretation des Nazifaschismus ein, die dieses Phänomen vor allem mit ideologiegeschichtlichen Kriterien zu interpretieren versuchte. Wie viele ehemalige Bildungsbürger stellte er in dieser Rede die Deutschen vornehmlich als eine „Kulturnation“ hin, statt sie auch als „Reichsnation“, „Kriegsnation“ oder „Wirtschaftsnation“ zu charakterisieren. Daß eine derartige Sehweise nicht unproblematisch war, bedrückte ihn zwar zeitweilig und erzeugte jenes „Leiden an Deutschland“, von dem Thomas Mann nach 1945 so gern sprach, verhinderte aber letztlich eine „Vergangenheitsbewältigung“, die sich auch mit den realgeschichtlichen Deutschbetonte Engagementsformen im Exil  277

Ursachen des nazifaschistischen Systems auseinandergesetzt hätte und nicht im Bereich kultureller oder gar dämonologisch eingetrübter Sehweisen geblieben wäre. Und damit verloren die „humanistisch“ orientierten Exilanten, wie man damals sagte, ihren einflußreichsten Sprecher, der trotz seiner nationalkonservativen Gesinnung nicht gewillt war, in der Folgezeit in sein früheres Heimatland zurückzukehren und sich am Aufbau eines „anderen, besseren Deutschlands“ zu beteiligen. Doch selbst den Linken unter den Exilanten in den USA und in Mexiko, wie Bertolt Brecht, Hanns Eisler und Anna Seghers, war es anfangs nicht ganz klar, welche Rolle ihnen bei einer solchen Aufgabe zufallen würde, weshalb sie sich erst einmal nach Zürich, Wien oder Paris begaben, bevor sie sich – nach einigem Zögern – für die Sowjetische Besatzungszone entschieden.

278  Deutschbetonte Engagementsformen im Exil

Die unmittelbare Nachkriegszeit

I Als das Dritte Reich am 8. Mai 1945 endgültig kapitulierte, erwiesen sich all jene hoffnungsträchtigen Pläne, welche die Moskauer Exilgruppe, aber auch viele linksgerichtete deutsche Exilpolitiker und -Schriftsteller im westlichen Ausland, im Hinblick auf die Errichtung eines „anderen, besseren Deutschland“ entworfen hatten, als illusorisch. Schließlich waren sich, wie gesagt, die alliierten Siegermächte schon längst vorher einig geworden, Deutschland nach dem Krieg in vier Besatzungszonen aufzuteilen und diese ihren jeweiligen Militärbehörden zu unterstellen, um so zu verhindern, daß es in diesem Land zum Durchbruch eines neuen, den Weltfrieden bedrohenden Nationalismus kommen würde. Von einem „anderen, besseren Deutschland“, einem „deutschen Reich“ oder einer „deutschen Nation“ war daher zu diesem Zeitpunkt in ihren Regierungskreisen keine Rede mehr. Selbst Stalin – enttäuscht darüber, daß es im Dritten Reich sogar von Seiten der Arbeiterklasse zu keinem effektiven Widerstand gegen das NS-Regime gekommen war – hatte inzwischen seine Pläne für eine gesamtdeutsche Regelung der innenpolitischen Verhältnisse innerhalb des von den Nazifaschisten hinterlassenen Restterritoriums aufgegeben und der Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen zugestimmt, welche durch das am 2. August 1945 beschlossene Potsdamer Abkommen endgültig besiegelt wurde. Und auch Winston Churchill und Harry S. Truman waren wegen der horrenden Verbrechen der Nazifaschisten und ihrer Verbündeten, die insgesamt 55 Millionen Menschen das Leben gekostet hatten, keineswegs gesinnt, den Deutschen – selbst nach einer durchgreifenden Entmilitarisierung, Entnazifizierung und Dekartellisierung – sofort wieder die Chance einer staatlichen Neubildung zu geben. Die Sowjetunion beschränkte sich in der Folgezeit weitgehend darauf, in ihrer Besatzungszone zwar die Bildung vier neuer Parteien, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), der Christlich-demokratischen Die unmittelbare Nachkriegszeit   279

Union (CDU) und der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD), zu gestatten, drängte aber darauf, daß sich die SPD und die KPD am 22. April 1946 zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zusammenschlossen, um so in ihrer Zone einen linksorientierten Kurs durchzusetzen. Auch die Engländer und die US-Amerikaner erlaubten in ihren Besatzungszonen die Bildung der gleichen oder ähnlicher Parteien, nahmen aber keinen direkten Einfluß auf deren Parteiprogramme, sondern bevorzugten – im Rahmen ihrer Democratic Reeducation-Programme – eher umerzieherische Maßnahmen. Vor allem die Vereinigten Staaten waren anfangs noch relativ unentschieden, welche Politik sie in ihrer Besatzungszone einschlagen sollten. Schließlich gab es in den USA bereits seit 1941 etwa drei Einstellungen Deutschland gegenüber: erstens einen „harten“ Kurs, der vor allem vom Gesichtspunkt der Bestrafung ausging, das heißt die Deutschen wegen ihrer offenbar nicht zu zügelnden Aggressivität so stark entmachten wollte, daß sie nie wieder die Fähigkeit zur Entfesselung eines neuen Weltkriegs haben würden, zweitens einen „mittleren“ Kurs, der zwar auch harte Maßnahmen zur Bestrafung Deutschlands für richtig hielt, aber dieses Land nach einem längeren Prozeß der Umerziehung wieder in den Kreis der friedliebenden Nationen aufzunehmen gedachte, und drittens einen „weichen“ Kurs, der auf einer sofortigen politischen und wirtschaftlichen Stärkung der drei Westzonen bestand, um dieses Territorium so schnell wie möglich in ein „Bollwerk gegen den Kommunismus“ zu verwandeln. Bei den Vertretern des „harten“ Kurses handelte es sich um eine höchst gemischte Gruppe zu Recht verbitterter Juden, alten Deutschenhassern aus der Zeit des Ersten Weltkriegs sowie jenem Industriellenkonsortium, das Deutschland ein für allemal als Konkurrenten auf dem Weltmarkt ausschalten wollte. Aufgrund dieser Zusammensetzung waren die Vorschläge, welche diese Richtung machte, notwendig recht verschieden. Sie reichten von Forderungen zur Aufteilung Deutschlands in mehrere Staaten, der Demontage sämtlicher Industrieanlagen bis zur Aussiedlung, wenn nicht gar Sterilisierung aller Deutschen, um so den Namen „deutsch“ für alle Zeiten aus den Blättern der Geschichte zu tilgen. Und wie im Ersten Weltkrieg stand die Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung, wie sich aus einschlägigen Meinungsbefragungen ersehen läßt, anfangs durchaus hinter diesem Kurs. Am unerbittlichsten 280  Die unmittelbare Nachkriegszeit

wurden solche Programme von Bernard Baruch und Henry Morgen­ thau, zwei der engsten Vertrauten Franklin D. Roosevelts, vertreten. So entwarf etwa Morgenthau schon 1943 ein Program to Prevent Germany from Starting a World War III, in dem er eine Aufteilung Deutschlands, einen Abbau der deutschen Schwerindustrie, eine Umsiedlung großer Teile der deutschen Arbeiterschaft, eine Internationalisierung des Ruhrgebiets sowie eine von Frankreich, Polen und der Sowjetunion überwachte scharfe Kontrolle des „verbäuerlichten“ Restdeutschlands eintrat. Dieses Konzept wurde allgemein als das „Carthaginian Peace Settlement“ bezeichnet – und viele US-Politiker fanden, daß Deutschland nach zwei von ihm angezettelten Weltkriegen nichts anderes verdient habe. Noch Anfang 1945 galt dieser „harte“ Kurs als der „liberale“ und wurde neben Roosevelt, Baruch und Morgenthau auch von anderen Politikern der demokratischen Partei wie Henry A. Wallace und Sumner Welles unterstützt. Allerdings gab es im gleichen Zeitraum selbst in Roosevelts Kabinett schon einige Vertreter des „mittleren“ Kurses, die sich zwar ebenfalls für eine harte Bestrafung aller nazifaschistisch infizierten Deutschen aussprachen, aber sowohl der Idee der Aufteilung Deutschlands in mehreren Staaten als auch der Befürwortung des totalen Abbaus der deutschen Schwerindustrie scharf entgegentraten. Zu ihren Hauptsprechern gehörten John J. McCloy, Cordell Hull sowie James P. Warburg, welche die Deutschen als nicht minder „aggressiv“ einschätzten, ihnen jedoch nach dem Kriege – fairerweise – eine letzte Chance geben wollten. Auf Wunsch dieser Gruppe entließ Roosevelt den Hardliner Sumner Welles und ersetzte ihn durch Edward R. Stettinius, der als Chairman des PostWar-Program Committee im August 1944 eine Erklärung ausarbeitete, die sich gegen die Aufteilung Deutschlands aussprach, nur eine begrenzte Kontrolle der deutschen Industrie befürwortete und nach einer kurzen Periode von Reparationsleistungen eine spätere Wiedereingliederung Deutschlands in die Weltwirtschaft vorsah. Die dritte Richtung, welche eine „weiche“ Deutschland-Politik vertrat, wurde anfänglich vor allem von den Wortführern der republikanischen Opposition befürwortet. Diese Kreise, die ideologisch noch immer Herbert Hoover nahestanden, hatten sich sowohl gegen die diplomatische Anerkennung der UdSSR, die New Deal-Politik Roosevelts, die Kriegspartnerschaft mit der Sowjetunion im Kampf gegen Die unmittelbare Nachkriegszeit   281

Nazi-Deutschland als auch gegen alle anderen „Übel“ der von ihnen als linksliberal empfundenen „Red Decade“ gesperrt. Ja, auf ihrem rechten Flügel waren immer wieder Stimmen laut geworden, sich aus den europäischen „Wirren“ entweder isolationistisch herauszuhalten oder sich eventuell sogar mit den Nazifaschisten gegen die Sowjetunion zu verbünden. In der New Deal-Periode und dem Zweiten Weltkrieg sahen sie daher nur ein „demokratisches“ Zwischenspiel, auf das nach dem Sieg über das Hitler-Regime wieder die Rückkehr zur politischen Normalität, daß heißt einer scharfen Frontstellung gegen die Sowjetunion, folgen müsse. Zu den Hauptvertretern dieses Kurses gehörten neben einigen Wall Street-Größen vor allem John Foster Dulles, General George S. Patton und ein republikanischer Senator wie Arthur H. Vandenberg, welche Roosevelts Hoffnung, daß es – auf der „festen Basis der alliierten Einigkeit zwischen den USA und der UdSSR“ – durch die Gründung der Vereinten Nationen zu einem von allen Großmächten garantierten Weltfrieden kommen würde, als idealistisches Gewäsch abtaten. Nach dem Tode Roosevelts am 12. April 1945 und dem Ende der Feindseligkeiten bekamen diese Kreise allmählich Oberwasser und entfesselten – mit aktiver Unterstützung des Medienzars Henry Luce – eine immer intensiver werdende Pressekampagne gegen die Sowjetunion und den in ihr herrschenden „Totalitarismus“, die im November 1946 zum Sieg der Republikaner bei den Kongreßwahlen beitrug. Daher schwenkte schließlich auch der im April 1945 an die Stelle Roosevelts getretene demokratische Präsident Harry S. Truman Anfang 1947 auf diesen Kurs ein. Das gleiche taten die meisten Mitglieder seines Kabinetts wie Dean G. Acheson, George C. Marshall und James F. Byrnes. Im Gefolge dieser ideologischen Umorientierung konnte es nicht ausbleiben, daß sich das Bild der Deutschen, welches 1944/45 in den USamerikanischen Medien noch einen eindeutig negativen Charakter hatte, ja zum Teil ins Dämonische, wenn nicht gar Teuflische tendierte, in der Folgezeit allmählich aufhellte. Während Roosevelt bis zu seinem Tode in den Deutschen noch durchgehend „Nazis“ gesehen hatte, wurde jetzt in den USA immer stärker zwischen den NS-Verbrechern einerseits und dem deutschen Volk andererseits unterschieden, um so die Mehrheit der Deutschen in den drei westlichen Besatzungszonen für eine aktive Politik gegen den „Osten“ zu gewinnen. Die bösen Deutschen wandelten sich dementsprechend in den konservativen Medien der Ver282  Die unmittelbare Nachkriegszeit

einigten Staaten zusehends in die guten Deutschen, während sich das Bild der Sowjets in der Folgezeit immer stärker eindüsterte und schließlich aus den von „Uncle Joe“ angeführten guten Russen, unseren bisherigen „Waffenbrüdern“, wie es noch 1945 hieß, die bösen Russen wurden. Was jetzt den Ton angab, war nicht mehr die Ideologie des Antifaschismus, sondern die des Antikommunismus. Und das führte dazu, daß man in den Westdeutschen mit einem Mal mögliche, wenn nicht gar willkommene Bundesgenossen sah, die es nicht zu unterdrücken, sondern – im Gegenteil – zu unterstützen gelte. Das sattsam bekannte Ergebnis dieser Entwicklung war jener Kalte Krieg, der vor allem bei vielen USamerikanischen Industriellen und Militärs eine rückhaltslose Unterstützung fand. Ein gutes Beispiel dafür ist das Pamphlet American Policy Towards Germany von 1947, in dem sich schon zu diesem Zeitpunkt 89 Prozent der führenden Geschäftsleute der Vereinigten Staaten für eine „rasche Entwicklung der westdeutschen Industrie“ einsetzten, da ihnen bei der Wahl zwischen Scylla und Charybdis die deutsche Konkurrenz auf dem Weltmarkt – im Vergleich zu einer weiteren Ausbreitung des Kommunismus – schließlich doch als das kleinere Übel erschien. Noch offener bekannte sich der Undersecretary of the Army William H. Draper zu dieser Deutschland-Politik, die George Shaw Wheeler in folgenden Hauptpunkten zusammenfaßte: „1. Die Restaurierung des Monopolkapitalismus, 2. die Einrichtung einer antisowjetischen Militärbasis, und 3. die Schaffung eines Konfliktherdes für den Kalten Krieg.“

II Im Zuge dieser Entwicklung, die bereits ab Anfang 1947 eindeutig auf eine propagandistisch aufgebauschte Konfrontation zwischen den beiden Supermächten dieser Jahre, den USA und der UdSSR, hinsteuerte, wurde die Entscheidung, ob aus Deutschland jemals wieder ein einheitlicher Nationalstaat werden würde, erst einmal vertagt. Was jetzt im Vordergrund stand, war sowohl für die Vereinigten Staaten als auch die Sowjetunion nicht mehr die Frage, wie ein zukünftiges antifaschistisches Deutschland auszusehen habe, sondern wie sich in den westlichen Besatzungszonen eine antikommunistische und in der sowjetischen Besatzungszone eine antikapitalistische Ideologie durchsetzen lasse. Und das Die unmittelbare Nachkriegszeit   283

war zu Anfang keineswegs leicht. Schließlich sah sich die Mehrheit der Deutschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit – nach der „dunklen Last“ des Nationalsozialismus, dem mörderischen Kriegsgeschehen, der Zerstörung vieler Städte, den in die Millionen gehenden Vertreibungen aus Osteuropa sowie der im Sommer 1945 einsetzenden Hungersnot – erst einmal mit rein existentiellen Sorgen, ob nun neuen Wohnungsmöglichkeiten oder Berufschancen, konfrontiert. Obendrein fühlte sie sich – außer bei den auf lokaler Ebene stattfindenden Wahlen – politisch weitgehend entmündigt. Die meisten Deutschen waren daher anfangs an der Frage, ob sie noch eine „Nation“ oder gar ein „Volk“ seien, wenig oder gar nicht interessiert. In den westlichen Besatzungszonen waren es lediglich einige bildungsbürgerliche Exilheimkehrer, aus Gefängnissen oder Konzentrationslagern befreite Antifaschisten sowie eine Reihe führender Vertreter der Inneren Emigration, die sich im Sommer 1945 der Illusion hingaben, daß aus Deutschland – nach all den verheerenden Katastrophen der vergangenen Jahre – wenn schon nicht ein neuer Staat, so doch wenigstens wieder ein „Volksverband“, ja vielleicht sogar eine „Kulturnation“ werden könne. So schlug etwa der altbekannte Historiker Friedrich Meinecke im Herbst 1945 vor, in jeder deutschen Stadt eine „Gemeinschaft gleichgerichteter Kulturfreunde“ zu gründen, die sich unter der Bezeichnung „Goethegemeinden“ jeden Sonntagnachmittag in den stehengebliebenen Kirchen zu Feierstunden versammeln sollten, um sich auf das „heilige Erbe“ der deutschen Klassik, also das „Deutscheste vom Deutschen“, zu besinnen. Nicht minder emphatisch empfahl zum gleichen Zeitpunkt Theodor Heuss „den Deutschen“, den 28. August, das heißt Goethes Geburtstag, zum wichtigsten deutschen Nationalfeiertag zu erklären. Derartige Bemühungen wären sicher im Cliquenhaften steckengeblieben, wenn ihnen nicht der bereits im Juni 1945 in Berlin ins Leben gerufene Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands einen organisatorischen Rahmen dazu geboten hätte. Bereits im Spätsommer des gleichen Jahres gründete dieser Bund den Aufbau-Verlag und schuf sich mit dem Wochenblatt Sonntag und der Zeitschrift Aufbau zwei wichtige Publikationsorgane. Zu seinem ersten Präsidenten wurde der aus Moskau zurückgekehrte Schriftsteller Johannes R. Becher gewählt, dem der Romancier Bernhard Kellermann, der Maler Karl Hofer und der Altphilologe Johannes Stroux als Vizepräsidenten zur 284  Die unmittelbare Nachkriegszeit

48 Johannes R. Bechers Eröffnungsansprache auf der ersten Bundestagung des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands am 20. Mai 1947

Die unmittelbare Nachkriegszeit   285

Seite traten. Die Ehrenpräsidentschaft übertrug man dem greisen Gerhart Hauptmann. Weitere führende Positionen nahmen der Theaterkritiker Herbert Jhering, der Physiker Robert Havemann, der SPD-Politiker Gustav Dahrendorf, die Bildhauerin Renée Sintenis, der Schauspieler Paul Wegener, der Philosoph Ernst Niekisch, die CDUPolitiker Ferdinand Friedensburg und Ernst Lemmer, der Romanist Viktor Klemperer, der Regisseur Wolfgang Langhoff, der KPD-Politiker Anton Ackermann, der Pädagoge Eduard Spranger, die Maler Otto Nagel, Max Pechstein und Georg Tappert, der Musikwissenschaftler Paul Höffer sowie die Autoren und Autorinnen Willi Bredel, Ricarda Huch, Ludwig Renn, Anna Seghers und Günther Weisenborn ein. Aufgrund dieser eindrucksvollen Phalanx bedeutender Politiker, Wissenschaftler und Kulturschaffender schlossen sich diesem Bund schon im ersten Jahr seines Bestehens 45 000 Mitglieder an, die sich in 394 Ortsgruppen organisierten. Bis zum Jahr 1948 stieg die Zahl der regulären Mitglieder sogar auf 120 000 an. Das antifaschistische Grundsatzprogramm des Kulturbundes, auf das man sich schon bei der Gründungsversammlung einigte, folgte in vielem der 1935 im Exil auf dem Pariser Kongreß „Zur Verteidigung der Kultur“ entworfenen überparteilichen Sammlungsstrategie und bestand aus sieben Hauptpunkten: „1. Vernichtung der Nazi-Ideologie auf allen Lebens- und Wissensgebieten. Kampf gegen die geistigen Urheber der Naziverbrechen und der Kriegsverbrechen. Kampf gegen alle reaktionären, militaristischen Auffassungen. Säuberung und Reinhaltung des öffentlichen Lebens. Zusammenarbeit mit allen demokratisch eingestellten weltanschaulichen, religiösen und kirchlichen Bewegungen und Gruppen. 2. Bildung einer nationalen Einheitsfront der deutschen Geistesarbeiter. Schaffung einer unverbrüchlichen Einheit der Intelligenz mit dem Volk. Neugeburt des deutschen Geistes im Zeichen einer demokratischen Weltanschauung. 3. Überprüfung der geschichtlichen Gesamtentwicklung unseres Volkes und damit in Zusammenhang Sichtung der positiven und negativen Kräfte, wie sie auf allen Gebieten unseres geistigen Lebens wirksam waren. 4. Wiederentdeckung und Förderung der freiheitlichen humanistischen, wahrhaft nationalen Tradition unseres Volkes. 5. Einbeziehung der geistigen Errungenschaften anderer Völker in den kulturellen Neuaufbau Deutschlands. Anbahnung einer Verständigung mit den Kulturträgern anderer Völker. Wiedergewin286  Die unmittelbare Nachkriegszeit

nung des Vertrauens und der Achtung der Welt. 6. Verbreitung der Wahrheit. Wiedergewinnung objektiver Maße und Werte. 7. Kampf um die moralische Gesundung unseres Volkes, insbesondere Einflußnahme auf die geistige Betreuung der deutschen Jugenderziehung und der studentischen Jugend. Tatkräftige Förderung des Nachwuchses und Anerkennung hervorragender Leistungen durch Stiftungen und Preise.“ Ein solches Programm wirkte zwar sehr engagiert, aber auch recht allgemein. Doch eine derartige Doppelstrategie war in der unmittelbaren Nachkriegszeit sicher nötig, um die Mehrheit der noch immer in religiösen, nationalkonservativen oder nazifaschistischen Anschauungen befangenen Künstler nicht sofort vor den Kopf zu stoßen. Ein durch und durch radikales, ja revolutionäres Programm hätte sicher überhaupt keine Wirkung gehabt. In Anbetracht dieser Tatsache trat der Kulturbund zwar „ohne Scheuklappen, aber doch mit Entschiedenheit, sachlich, aber nicht neutral“ auf, wie es in einer Werbung für die Zeitschrift Aufbau hieß. In anderen Manifesten des Kulturbundes wurde mit gleicher Akzentsetzung betont, daß er im Gegensatz zum Nazifaschismus niemandem bestimmte Ideologien „aufzuzwingen“ versuche, sondern lediglich bemüht sei, in allen Menschen „den wahren Geist der Menschlichkeit wachzurufen und zu fördern“. Nur in einem Punkt machte dieser Bund keinen Kompromiß, und zwar in der Forderung, daß es in Zukunft in allen Kunstformen um die großen nationalen und gesellschaftlichen Belange gehen müsse. Aus diesem Grund verwarf er sowohl jede „elitäre“ Absonderung der Kunst von der breiten Masse der Bevölkerung, wie er auch jede oberflächliche „Zerstreuung und Unterhaltung“ in der Kunst strikt ablehnte. Seine Hauptaktivitäten entfaltete der mit großen Erwartungen gegründete Kulturbund in der Viermächtestadt Berlin und der sowjetischen Besatzungszone, während er in den drei Westzonen von den jeweiligen Militärbehörden nur auf Ortsebene zugelassen wurde und sich zudem andere Bezeichnungen zulegen mußte. So nannte sich die Kulturbund-Gruppe in München Kulturliga, in Frankfurt Freie deutsche Kulturgesellschaft. Besonders aktiv waren anfangs die bildenden Künstler, während die Sektionen Musik, Theater, Wissenschaft, Dichtung, Rundfunk, Film und Presse erst im Laufe der Zeit immer rühriger wurden. So veranstaltete die Sektion Bildende Kunst schon relativ früh Ausstellungen von im Dritten Reich verfemten Künstlern wie Ernst Barlach, Die unmittelbare Nachkriegszeit   287

Käthe Kollwitz, Max Liebermann und Heinrich Zille. Die gleiche Sektion arrangierte bereits im Sommer 1946 in Dresden die Erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung. Von den 2 400 eingeschickten Arbeiten aus der sowjetischen, US-amerikanischen und französischen Besatzungszone wählte die gesamtdeutsche Jury über 500 Exponate aus. Ob nun die sogenannten Entarteten, die Künstler der Inneren Emigration, die Exilkünstler oder die ASSO-Künstler der proletarisch-revolutionären Richtung der späten Weimarer Republik: alle wurden von einem überparteilichen Auswahlgremium als gleichberechtigte Vertreter einer im weitesten Sinne antifaschistischen Kunst anerkannt. „Noch ist unsere Zeit verworren“, schrieb der im Dritten Reich eingekerkerte Hans Grundig anläßlich dieser Ausstellung in der Zeitschrift Prisma, „und bedarf der Aktivität aller fortschrittlichen Künstler, realistisch oder abstrakt.“ Daher waren auf dieser umfassenden Querschnittschau neben Bildern von Realisten wie Otto Dix, George Grosz und Hans Grundig auch Werke von ehemaligen Expressionisten wie Max Beckmann, Lyonel Feininger, Erich Heckel, Paul Klee, Oskar Kokoschka und Oskar Schlemmer sowie von Abstrakten wie Willi Baumeister und Fritz Winter zu sehen. Und wie erwartet, wurde diese Ausstellung wegen des allgemeinen „Kulturhungers“ der nachfaschistischen Ära von über 75 000 Menschen besucht. Auf literarischer Ebene begann der Kulturbund seine Aktivitäten im November 1945 mit einem Ruf an die deutschen Emigranten, doch möglichst bald nach Deutschland zurückzukehren und sich in den Dienst des kulturellen Aufbaus zu stellen. Da diesem Ruf eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Autoren Folge leistete, bemühte sich der Kulturbund auch auf diesem Gebiet, vor allem die jahrelang getrennten Vertreter der inneren und der äußeren Emigration wieder miteinander bekannt zu machen, ja vielleicht sogar zu einer antifaschistischen Einheitsfront zu vereinigen. Dieser Aufgabe diente unter anderem der Erste Deutsche Schriftstellerkongreß, der vom Kulturbund im Oktober 1947 nach Berlin einberufen wurde. Die wichtigsten Reden hielten bei dieser Gelegenheit Axel Eggebrecht, Rudolf Hagelstange, Ricarda Huch, Elisabeth Langgässer und Günther Weisenborn als Vertreter der Inneren Emigration bzw. des antifaschistischen Widerstands auf der einen sowie Ale­ xander Abusch, Johannes R. Becher, Stephan Hermlin, Alfred Kantorowicz, Hans Mayer und Friedrich Wolf als Vertreter des Exils auf der 288  Die unmittelbare Nachkriegszeit

anderen Seite. Trotz der Entschiedenheit beider Lager, im Sinne der Widerstandskämpfer gegen das Dritte Reich weiterhin an der politischen und kulturellen Einheit Deutschlands festzuhalten und sich jeder Spaltungstendenz so energisch wie möglich entgegenzustellen, kam es auf diesem Kongreß nicht zu jener Einhelligkeit, wie sie noch unter der Jury der Ersten Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung in Dresden ein Jahr zuvor geherrscht hatte, da im Herbst 1947 bereits der Kalte Krieg seine Schatten über das Ganze zu werfen begann. Ja, die auf diesem Kongreß stattfindenden Provokationen gegen den „östlichen Totalitarismus“ – ausgelöst durch den US-amerikanischen Journalisten Melvin L. Lasky – führten schon wenige Wochen später dazu, daß der Kulturbund wegen seiner ideologischen „Linkslastigkeit“ in den drei Westsektoren Berlins von den dortigen Militärbehörden verboten wurde. Ähnlichen Behinderungen sahen sich die meisten Kulturbund-Gruppen nach diesem Zeitpunkt in den drei Westzonen ausgesetzt. Wirklich effektiv war hier der Kulturbund nach diesem Zeitpunkt nur noch eine Zeitlang im Ruhrgebiet, wo er auch Kontakte mit verschiedenen Gewerkschaften aufnahm, um so eine Einheitsfront von Intellektuellen und Arbeitern zu befördern. Doch solchen Versuchen wurde von Seiten der westlichen Besatzungsmächte sowie des westdeutschen Industrieverbands ab Frühjahr 1948 ein immer größerer Widerstand entgegengesetzt, was schließlich zum Scheitern derartiger Bestrebungen führte. Überhaupt hatten danach alle antifaschistischen Volksfrontstrategien, denen noch das anspruchsvolle Konzept einer „Hohen Kunst für jedermann“ zugrunde lag, in den Westzonen keine Chance mehr. Schließlich wurde hier als ideologischer Hauptgegner nicht mehr der Nazifaschismus, sondern immer eindeutiger der Kommunismus hingestellt. Und damit gerieten sämtliche linksorientierten wie auch humanistisch-idealistischen Neuordnungsvorstellungen, selbst dann, wenn sie nur kulturelle Ziele verfolgten, in Gefahr, von den meisten Vertretern der im Westen aktiv werdenden Parteien sowie den Managern der dort erneut auflebenden „Kulturindustrie“, der es vornehmlich um die Wiedereinführung profiteinträglicher Unterhaltungsprodukte ging, einfach von der Tagesordnung abgesetzt zu werden.

Die unmittelbare Nachkriegszeit   289

III Während die Sowjetunion und die SED selbst nach 1946/47 trotz des immer heißer werdenden Kalten Kriegs weiterhin an einer „gesamtdeutschen“ Linie festzuhalten versuchten und im Hinblick auf die Deutschen nach wie vor von einer „Nation“, wenn nicht gar von einem einheitlichen „Volk“ sprachen, versuchten die Westmächte, besonders die USA, ihre Besatzungszonen nach diesem Zeitpunkt mit allen Mitteln der psychologischen Kriegsführung sowie ökonomischer Beihilfen im Rahmen des Marshall-Plans immer stärker in ein separates „Bollwerk gegen den Kommunismus“ zu verwandeln. Erste Schritte dazu waren die Gründung der Bizone und dann der Trizone, um so in den von ihnen besetzten Teilen Deutschlands – zur Stärkung der sogenannten Freien Welt – einen wirtschaftlichen Zusammenschluß und damit eine mögliche Staatsgründung vorzubereiten. Und dagegen hatte die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung, der Begriffe wie „Nation“ oder „Volk“ im Zuge der sich immer deutlicher abzeichnenden Westintegrierung zusehends fremder wurden, nur wenig einzuwenden, da sie sich von derartigen Maßnahmen – nach den einkaufsarmen Hungerjahren der unmittelbaren Nachkriegszeit – einen möglichst schnellen Anstieg des allgemeinen Lebensstandards versprach. Die einzige Partei, die hierdurch im Westteil Deutschlands, neben der KPD, in ideologische Schwierigkeiten geriet, war die immer noch halbwegs linksorientierte SPD. Obwohl sie weiterhin an ihrer Grundsatzerklärung „In Deutschland wird die Demokratie sozialistisch sein, oder sie wird gar nicht sein“ festzuhalten versuchte, wurde sie nämlich durch diese Entwicklung gezwungen, für kurze Zeit einen Zweifrontenkrieg gegen die KPD/SED auf der einen Seite und die auf die Wiedereinführung der freien Marktwirtschaft drängenden bürgerlichen Parteien auf der anderen zu führen. Das beweist unter anderem jene Rede ihres Vorsitzenden Kurt Schumacher auf dem zweiten SPD-Parteitag in Nürnberg, in der er sich im Juni 1947 – bei allen Ausfällen gegen die Kommunisten – höchst ungehalten über die von den USA und der CDU geförderte Rekapitalisierung in den drei Westzonen äußerte. Doch schon im Spätherbst des gleichen Jahres schwächte die SPD – angesichts des immer brenzlicher werdenden Kalten Kriegs – ihren Kampf gegen die ökonomischen Restaurationstendenzen zusehends ab. 290  Die unmittelbare Nachkriegszeit

49 Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher bei einer Pressekonferenz in Berlin (1948). Neben ihm Franz Neumann und Ernst Reuter

Selbst der bis dahin recht nationalbetonte Schumacher sprach jetzt plötzlich davon, daß man die „schlummernden wirtschaftlichen Kapazitäten in ganz Europa zu neuem Leben“ erwecken müsse, wenn man sich gegen jene Gefahr wappnen wolle, die in Form des „bolschewistischen Totalitarismus“ nicht nur Deutschland, sondern den ganzen europäischen Kontinent bedrohe. Dementsprechend trat zwar die SPD weiterhin für gewisse Sozialreformen ein, verzichtete jedoch mehrheitlich auf ihre bisherigen klassenkämpferischen Parolen und stellte auch ihren Kampf gegen die fortschreitende „Amerikanisierung“ Westdeutschlands ein, um der antisowjetischen Politik des Westens nicht in den Rücken zu fallen. Mit anderen Worten: sie raufte sich lieber mit der CDU/ CSU als mit der KPD/SED zu einer gemeinsamen Politik zusammen und knüpfte somit auch in diesem Punkt an ihre ideologische Haltung in der Weimarer Republik an. Die unmittelbare Nachkriegszeit   291

Durch das allmähliche Einschwenken der mitgliederstarken SPD auf den allgemeinen Westkurs war es für die USA, England und Frankreich in der Folgezeit ein Leichtes, der Sowjetunion auch auf deutschem Boden mit einer verschärften Konfrontationspolitik entgegenzutreten. Dazu gehörte, daß die Westmächte die bis 1947 recht strikt durchgeführten Entnazifizierungs- und Entkartellisierungsmaßnahmen zusehends lockerten, ja zum Teil sogar rückgängig machten. Außerdem favorisierten sie in der Folgezeit immer eindeutiger jene bürgerlichen Parteien, zu denen damals neben der CDU/CSU vor allem die Freien Demokraten und das Zentrum gehörten, die weder sozialistisch noch gesamtdeutsch eingestellt waren, das heißt keine durchgreifende Neuordnung Deutschlands anstrebten, sondern sich mit einer Restauration des Status quo der Zeit vor 1933 begnügen wollten. Die vor Beginn des Kalten Kriegs in den westlichen Besatzungszonen verabschiedeten Sozialisierungsgesetze – wie etwa der Artikel 41 der Hessischen Verfassung, für den 72 Prozent der dortigen Bevölkerung im Jahr 1946 mit „Ja“ gestimmt hatten – wurden deshalb von General Lucius D. Clay schon kurze Zeit später einfach annulliert. Selbst die Befürwortung eines „Dritten Wegs“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus, wie sie unter anderem die von den Schriftstellern Hans Werner Richter und Alfred Andersch herausgegebene Münchner Zeitschrift Der Ruf vertrat, galt in den Augen der US-Besatzungsbehörden von nun an als ein links­ orientiertes Störmanöver, weshalb sie dieses Blatt schon im Sommer 1947 kurzerhand verboten. Derselbe Paradigmawechsel vollzog sich zum gleichen Zeitpunkt in den drei westlichen Besatzungszonen auf dem Sektor der ökonomischen Entwicklung. Während die CDU/CSU bis dahin einen „christlichen Sozialismus“ und die SPD einen „demokratischen Sozialismus“ gefordert hatten, die beide auf planwirtschaftlichen Vorstellungen beruhten, trat bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 1947 – in deutlicher Frontstellung gegen den Osten – bei allen nichtkommunistischen Parteien Westdeutschlands das Konzept der freien oder sozialen Marktwirtschaft in den Vordergrund. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der am 29. Mai 1947 gegründete Wirtschaftsrat, dessen Vorsitz anfangs der SPD-Sozialist Viktor Agartz innehatte, diesen jedoch – im Zuge der sich rasch verschiebenden politischen Kräfteverhältnisse – schon nach wenigen Wochen an den CDU-Marktwirtschaftler Ludwig Erhard abgeben 292  Die unmittelbare Nachkriegszeit

mußte, der als einer der führenden Exponenten der Westintegrierung galt. Als daher im Dezember 1947 die Londoner Außenministerkonferenz der vier Siegermächte zur Deutschlandfrage an der Unnachgiebigkeit beider Seiten scheiterte, entschlossen sich die Vereinigten Staaten, England und Frankreich, in Zukunft in ihren Zonen nur noch jene Kräfte zu unterstützen, die sich für die Gründung eines separaten Weststaates auf deutschem Boden einsetzen würden. Aus diesem Grunde stellten die US-Amerikaner der westdeutschen Industrie bereits im April 1948 die ersten Kredite aus den Marshall-Plan-Mitteln zur Verfügung. Anschließend beschlossen die Westalliierten Anfang Juni, in ihren Zonen ein föderatives Regierungssystem aufzubauen. Zu diesem Zweck führten sie am 20. Juni in den Westzonen und in Westberlin eine allgemeine Währungsreform im Verhältnis von zehn Reichsmark zu einer Deutschen Mark durch. Damit wurden ihre drei Zonen endgültig zu einer wirtschaftlichen Einheit verschmolzen und zugleich von der „Ostzone“ abgeriegelt. Außerdem schlugen die drei Westmächte am 1. Juli den westdeutschen Länderregierungen die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung vor. Darauf traten am 15. August die von den Länderparlamenten gewählten Mitglieder des sogenannten Parlamentarischen Rats unter dem Vorsitz Konrad Adenauers (CDU) in Bonn zur ersten Beratung einer vorläufigen Verfassung für einen aus den drei Westzonen zu bildenden Staat zusammen. Durch diese Maßnahmen kam es diesseits der Elbe zu einer fortschreitenden Westintegrierung und einer von oben geförderten Stärkung aller privatwirtschaftlichen Impulse, welche die bisherigen Neuordnungsvorstellungen weitgehend in den Hintergrund drängten. Die allein maßgebliche Leitidee auf diesem Gebiet wurde jetzt die „Soziale Marktwirtschaft“. Mit diesem Konzept gab man zwar immer noch vor, dem Kapitalismus durch ein möglichst ausbalanciertes Verhältnis von Freiheit und Gleichheit einen auf die Gesamtgesellschaft bezogenen Charakter zu verleihen, fiel aber durch die Begnadigung der Großindustriellen, die Aufhebung der Demontagepläne, die Rückgabe der großen Werke an ihre bisherigen Eigentümer sowie eine schnelle Rekartellisierung – trotz aller schönen Worte wie „Eigentum verpflichtet zu gesellschaftlicher Verantwortlichkeit“ – zusehends in die ältere Profitorientierung zurück. Als wichtigster Initiator dieser Politik galt allgemein Die unmittelbare Nachkriegszeit   293

Ludwig Erhard, welcher wie Adenauer sowohl den „östlichen“ Sozialismus als auch jene Ordo-Konzepte ablehnte, die den bürgerlichen Freiheitsbegriff mit christlich-konservativen Ständestaatsvorstellungen zu verbinden suchten. Als kluger Taktiker kleidete Erhard sein neoliberales Wirtschaftskonzept gern in die Vorstellung eines „Wohlstands für Alle“ ein, was die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung nicht als Wiedereinführung des Kapitalismus, sondern als Aufhebung der nazifaschistischen und postfaschistischen Zwangswirtschaft und damit als die Rückkehr zu einer durch nichts eingeschränkten Kauffreiheit empfand. Dieser kaum zu überschätzende psychologische Effekt bildete eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Errichtung eines separaten Weststaats, der auf dem Prinzip der politischen, sozialen und vor allem ökonomischen Liberalität im Sinne westlicher Vorstellungen beruhen sollte, wodurch die nationale Komponente, die auch gesamtdeutsche Perspektiven beinhaltet hätte, immer stärker in den Hintergrund trat. Die weitere Entwicklung in den drei Westzonen verlief darum ohne große Überraschungen. Durch die Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Gefolge der Währungsreform und der anlaufenden Marshall-Plan-Gelder entstand in der westdeutschen Öffentlichkeit ein politisches Klima, in dem die offizielle Spaltung Deutschlands als unumgänglich hingenommen wurde. Die Voraussetzung dazu bildete das am 8. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat in Bonn verabschiedete Grundgesetz der zukünftigen „Bundesrepublik Deutschland“, wie dieser Staat auf Vorschlag des Freidemokraten Theodor Heuss heißen sollte, um so – im Gegensatz zu weiter rechtsstehenden Kreisen – irgendwelche nationalgefärbten Reichsvorstellungen zu vermeiden. Am 15. Juni distanzierte sich daraufhin die CDU in ihren Düsseldorfer Leitsätzen auch öffentlich von den Sozialisierungsvorschlägen ihres Ahlener Programms von 1947 und bekannte sich zu kapitalistischen Produktionsverhältnissen im Rahmen einer Sozialen Marktwirtschaft. Die Wahlen zum Ersten Deutschen Bundestag, bei welchen die CDU/CSU 31 Prozent, die SPD 29,2 Prozent, die FDP 11,9 Prozent und die KPD 5,7 Prozent der Stimmen erhielt, fanden am 15. August des gleichen Jahres statt. Am 14. September wurde darauf Adenauer im Bundestag mit einer Stimme Mehrheit zum ersten Bundeskanzler ernannt, der anschließend ein Kabinett aus einer bürgerlichen Koalition von CDU/CSU, FDP und Deutscher Partei (DP) bildete, in dem 294  Die unmittelbare Nachkriegszeit

Erhard, der „Vater der Sozialen Marktwirtschaft“, das Wirtschaftsministerium übernahm. Mit dieser Kabinettsbildung wurde die Wahl zwischen planwirtschaftlicher Neuordnung oder ökonomischer Freizügigkeit endgültig zugunsten der Einführung marktwirtschaftlicher Verhältnisse entschieden. Daran konnten auch vereinzelte Proteste der SPD, die zu diesem Zeitpunkt noch einmal forderte, daß der „politischen Demokratisierung“ eine „Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum“ folgen müsse, nichts mehr ändern. Und im Gefolge dieser Entwicklung wurde der Gedanke der nationalen Einheit von Adenauer, der als Katholik befürchtete, daß bei einer Wiedervereinigung die protestantischen Ostdeutschen die SPD wählen würden, zusehends in den Hintergrund gedrängt. Ja, Adenauer setzte sogar durch, daß Westberlin kein Bundesland mit vollem Stimmrecht wurde, um so die „Gefahr eines sozialdemokratischen Übergewichts in Westdeutschland“ zu verhindern.

IV Im Gegensatz zu England, Frankreich und den Vereinigten Staaten, die nach dem Beginn des Kalten Kriegs im Jahr 1947 immer stärker darauf drangen, in ihren drei Besatzungszonen eine konsequente „Westbindung“ durchzusetzen, versuchte die Sowjetunion bis 1948/49 eine Spaltung Deutschlands in zwei voneinander unabhängige Territorien so lange wie möglich zu verhindern. Im Rückblick auf die zwei Weltkriege, in denen erst der Westteil des Zarenreichs und dann der Westteil der Sowjetunion durch deutsche Invasionsarmeen schlimmste Verheerungen erlitten hatten, war der UdSSR eher daran gelegen, im Sinne der Entmilitarisierungsbestimmungen des Potsdamer Abkommens das deutsche Restreich in einen neutralen Pufferstaat zwischen den Westmächten und sich selbst zu verwandeln, um so die Gefahr eines Dritten Weltkriegs zu verhindern. Sie unterstützte daher in den unmittelbaren Nachkriegsjahren mit Hilfe der kommunistischen Parteien Westeuropas in ihrer Außenpolitik vor allem eine großangelegte Friedenskampagne, deren plakatives Symbol die von dem KPF-Mitglied Pablo Picasso entworfene Friedenstaube war. Um sich dabei nicht dem Verdacht auszusetzen, bei diesen Kampagnen lediglich sozialistische Zielsetzungen im Die unmittelbare Nachkriegszeit   295

Auge zu haben, die man im Westen als geschickt verschleierten Imperialismus auslegen könnte, befürwortete die UdSSR dementsprechend in den Jahren 1945/46 vornehmlich pazifistisch-demokratische Ideale, von denen sie sich zu diesem Zeitpunkt noch am ehesten eine effektive Breitenwirkung versprach, während sie mit ihren politischen, sozialen und sozioökonomischen Umwälzungsvorstellungen weitgehend hinterm Berge hielt. Das gilt in besonderem Maße für ihre Politik in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in der die Nazifaschisten 1933 die Kommunistische Partei total zerschlagen hatten und denen es danach gelungen war, selbst große Teile der vorher linksgerichteten Arbeiterschaft für ihre Ziele zu gewinnen. Hier war also die Chance, das Proletariat, geschweige denn die sich der NSDAP angeschlossenen bürgerlichen Schichten, für irgendwelche von Moskau ausgehenden Sozialisierungsprogramme zu gewinnen, äußerst gering. Die Sowjetunion schlug deshalb in ihrer Besatzungszone zu Anfang erst einmal einen klassenübergreifenden, ja fast demokratisch ausgerichteten Kurs ein, um die dort lebende Bevölkerung, die man im Dritten Reich zwölf Jahre lang mit antikommunistischen Parolen traktiert hatte, nicht sofort mit proletarisch-revolutionären Parolen gegen sich aufzubringen. Demzufolge befürwortete sie schon am 10. Juni 1945 in ihrer Besatzungszone nicht nur die Neugründung der KPD, sondern ließ auch die Gründung der SPD sowie sogenannter bürgerlicher Parteien, das heißt der Christlichdemokratischen Union (CDU) und der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD), zu, sondern unterstützte – aus Respekt vor der ehemaligen „Kulturnation Deutschland“ – zugleich die Aktivitäten des sich überparteilich verstehenden Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Den gleichen Kurs verfolgte sie anfangs in sozioökonomischer Hinsicht. Dafür spricht, daß sich das Zentralkomitee der KPD am 11. Juni 1945 in seinem Gründungsaufruf – fast gleichlautend mit der ostdeutschen SPD, CDU und LDPD – ausdrücklich für die „Aufrichtung eines antifaschistischen Regimes mit Befürwortung freien Handels und privater Unternehmerinitiative“ aussprach, um sich in erster Linie als demokratische und nicht als kommunistische Partei auszugeben. Wenn in der Sowjetischen Besatzungszone anfänglich überhaupt von Sozialisierungsmaßnahmen die Rede war, dann eher im Sinne der im Potsdamer 296  Die unmittelbare Nachkriegszeit

50 Wahlplakat der SED von 1946. Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl vor den Köpfen von Karl Liebknecht und August Bebel

Die unmittelbare Nachkriegszeit   297

Abkommen von den drei Siegermächten festgelegten Entkartellisierungsmaßnahmen oder – um an das weiterhin bestehende Nationalbewußtsein der dort lebenden Bevölkerung zu appellieren – im Hinblick auf einen „Deutschen Weg zum Sozialismus“, wie sich der aus dem Moskauer Exil zurückgekehrte KPD-Funktionär Anton Ackermann ausdrückte. Doch nicht nur er, das gesamte Zentralkomitee der KPD erklärte zu diesem Zeitpunkt noch mit liberal klingender Intention: „Wir sind der Auffassung, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland. Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die entscheidenden Interessen des deutschen Volks in der gegenwärtigen Lage für Deutschland einen anderen Weg vorschreiben, und zwar den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk.“ Da das proletarische Klassenbewußtsein in der NS-Zeit verschüttet worden sei, hieß es weiter, wäre es „falsch und äußerst schlecht“, sofort „den Kampf um die unmittelbare Errichtung des Sozialismus führen zu wollen“. Eine Änderung in dieser Hinsicht trat erst im Winter 1945/46 ein, als die KPD – im Gefühl ihrer numerischen Unterlegenheit – immer stärker darauf drängte, sich mit der wesentlich beliebteren SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu vereinigen, um sich so in allen innenpolitischen Entscheidungen ein größeres Mitbestimmungsrecht zu verschaffen. Um der SPD, die sich gegen irgendwelche „revolutionären“ Umwälzungsprogramme sperrte, auf halbem Wege entgegenzukommen, wurde bei den darauffolgenden Vereinigungsgesprächen ausdrücklich zwischen einem „Programm-Minimum, das die Vollendung der demokratischen Erneuerung anstrebt“ und einem späteren „Programm-Maximum, das die Verwirklichung des Sozialismus betrifft“, unterschieden. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung erfolgte dann am 22. April 1946 die Gründung der SED, wobei ihre Sprecher vor allem betonten, daß diese neue Partei einen „demokratischen Weg zum Sozialismus“ einschlagen und nur dann zu „revolutionären Mitteln greifen“ würde, „wenn die kapitalistische Klasse den Boden der Demokratie“ verlassen sollte. Und diese parteipolitische Linie wurde anfangs durchaus beibehalten, zumal sich der bisherige SPD-Vorsitzende Otto Grotewohl, der die Führungsrolle in der neugegründeten 298  Die unmittelbare Nachkriegszeit

Partei übernahm, gegen allzu „radikale“ Maßnahmen aussprach. Erst zwei Jahre später, nämlich am 29./30. Juni 1948, entschied der Vorstand dieser Partei, nicht dem titoistischen Kurs Jugoslawiens zu folgen und somit einem westlichen „Sozialdemokratismus“ anheimzufallen, sondern die SED in eine „Partei des neuen Typus“ umzuwandeln, das heißt eine „klare und eindeutige Stellungnahme für die Sowjetunion“ zum Hauptgrundsatz aller zukünftigen Entscheidungen zu machen, worauf sich Anton Ackermann im September des gleichen Jahres gezwungen sah, den „Deutschen Weg zum Sozialismus“ prinzipiell zu widerrufen. Das bedeutete allerdings nicht, daß damit die SED ihren bisherigen gesamtdeutschen Kurs, wenn nicht gar ihren nationalen Stellvertretungsanspruch grundsätzlich aufgegeben hätte. Im Gegenteil. Trotz ihrer durch den Kalten Krieg bedingten Sowjet-Bindung sowie der von Adenauer und der hinter ihm stehenden US-Regierung ausgehenden Spaltungsabsicht, versuchte die SED weiterhin im Sinne der Stalinschen Nationalitätenpolitik an Konzepten wie dem „deutschen Volk“ sowie der „deutschen Nation“ festzuhalten und ihren Machtbereich – in klarer Frontstellung gegen die marktwirtschaftliche Rekapitalisierung und Amerikanisierung der westlichen Besatzungszonen – als Teilgebiet, wenn nicht gar als Vorbild eines „anderen, besseren Deutschland“ hinzustellen. Auf der Grundlage dieser Konzeption ergriff die SED zwischen 1947 und 1949 dreimal die Initiative, eine gesamtdeutsche Volkskongreßbewegung ins Leben zu rufen, die jedoch in den drei Westzonen, in denen sich die Tendenz zur Westbindung zusehends verstärkte, kaum beachtet wurde. Und auch die kulturpolitischen Aktivitäten der SED, wie etwa die Verleihung der ersten Nationalpreise im Herbst 1949, mit denen sie sowohl west- als auch ostdeutsche Antifaschisten auszeichnete, sowie die Aufrufe des Kulturbunds, weiterhin an der staatlichen Einheit Deutschlands als des „kostbarsten Guts unserer Nation“ festzuhalten, wurden diesseits des „Eisernen Vorhangs“ entweder bewußt verschwiegen oder als Propagandamanöver eines „totalitären“ Regimes diffamiert. Etwas mehr Aufsehen erregte im Westen lediglich, daß Thomas Mann seine Goethe-Rede Ende August 1949 nicht nur in Frankfurt, sondern – auf Einladung Johannes R. Bechers – auch in Weimar hielt, um sich damit zur nationalen Kultureinheit Deutschlands zu bekennen. Doch für derartige Verständigungsbemühungen war es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät. Schließlich hatten kurz zuvor schon die Wahlen zum Die unmittelbare Nachkriegszeit   299

51 Vom Volkskongreß im Mai 1948 aufgestelltes Transparent am Dreisektoreneck auf dem Potsdamer Platz in Berlin

300  Die unmittelbare Nachkriegszeit

ersten westdeutschen Bundestag stattgefunden, deren Ergebnis die am 7. September erfolgte Konstituierung des westdeutschen Parlaments unter der Kanzlerschaft Konrad Adenauers war. Im Gegenzug dazu wurde am 7. Oktober von der sowjetzonalen Volkskammer in Ostberlin Otto Grotewohl zum ersten Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ernannt und damit die Spaltung Deutschlands in zwei sich unter dem Einfluß der hinter ihnen stehenden Großmächte feindlich gegenüberstehenden Staaten endgültig besiegelt. Die Hoffnung, daß die USA und die UdSSR den Deutschen im Rahmen einer ungeteilten Nation erlauben würden, einen eigenen Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus einzuschlagen, erwies sich dadurch als eine der vielen Illusionen in der Geschichte dieses durch eigene oder fremde Schuld immer wieder irregeleiteten Volks.

Die unmittelbare Nachkriegszeit   301

Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein

I Nach der Konstituierung des westdeutschen Bundestags am 7. September 1949 erfolgte, wie gesagt, die offizielle Gründung der DDR am 7. Oktober des gleichen Jahres. Die Führungsrollen übernahmen dabei als Staatspräsident Wilhelm Pieck, als Ministerpräsident Otto Grotewohl und als Erster Sekretär der SED und zugleich stellvertretender Ministerpräsident Walter Ulbricht. Dieser Gründung lag die Entschließung der bereits im Mai 1949 ins Leben gerufenen Nationalen Front des demokratischen Deutschlands und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zugrunde, von nun an im Osten Deutschlands mit vereinten Kräften daran zu gehen, den Prozeß des „Hinüberwachsens aus der demokratischen in die sozialistische Neuordnung“ so weit zu forcieren, daß aus diesem Staat im Hinblick auf ein „anderes, besseres Deutschland“ ein weit in die Zukunft hineinleuchtendes Vorbild für eine wiedervereinigte deutsche Nation werden könne. Demzufolge wurden die verschiedenen Massenorganisationen sowie die drei bereits existierenden Parteien, das heißt die SED, die CDU und die LDPD, zu denen später noch die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) und die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) hinzukamen, unter der Führung der SED in einem Blocksystem zusammengefaßt, dessen Zielsetzung vor allem darin bestand, die bereits vorher begonnene Verstaatlichung der Industrieproduktion sowie die Kollektivierung der Landwirtschaft so rasch wie möglich zu Ende zu führen. Was dadurch entstand, war eine nach sowjetischem Vorbild gelenkte staatliche Planwirtschaft, mit der eine Stabilisierung der sozioökonomischen Verhältnisse und damit eine innerstaatliche Konsolidierung erreicht werden sollte. Wichtige Auslöser spielten dabei sowohl das Scheitern der deutschlandpolitischen Initiativen auf den Außenministerkonferenzen der Jahre 1950 und 1951 als auch die westdeutsche Ablehnung jener Sowjetnote vom 10. März 1952, in der Stalin eine paritätische Lösung 302  Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein

der Deutschlandfrage vorgeschlagen hatte. Aufgrund dieser beiden Rückschläge wurde die Hoffnung einer auf einem Friedensvertrag gegründeten Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten von der SED zwar vorübergehend, wenn auch nicht endgültig vertagt. Anschließend konzentrierte sich die DDR erst einmal auf ihre eigenen ökonomischen Aufbauprogramme. Allerdings führte die in diesem Zusammenhang verordnete Normenerhöhung in der Industrieproduktion, mit der die SED-Führung die durch den Rohstoffmangel und die langanhaltenden Demontagen entstandenen „objektiven Schwierigkeiten“ zu überwinden versuchte, zu einer Verminderung der Konsumgütererzeugung und einer daraus erfolgenden Unzufriedenheit unter der ostdeutschen Bevölkerung, die ihren ersten Höhepunkt in den Ereignissen des 17. Juni 1953 erreichte, als es in mehreren DDR-Städten zu Arbeiteraufständen und Arbeitsniederlegungen kam. Obwohl danach wieder eine gewisse Beruhigung der innenpolitischen Verhältnisse eintrat, blieb die Situation in der DDR weiterhin höchst angespannt. Immer wieder traten Produktionshemmungen auf, weshalb sich der Lebensstandard der Bevölkerung nicht in dem Maße verbesserte wie in der benachbarten BRD, wo es durch massive finanzielle Hilfen im Rahmen des Marshall-Plans zu jener Produktionssteigerung kam, die in der westlichen Presse als ein Triumph der Free Market Economy, wenn nicht gar als ein ans Märchenhafte grenzendes „Wirtschaftswunder“ ausgegeben wurde. Die Folge davon war, daß immer mehr Menschen aus der DDR in die BRD abwanderten. Die meisten taten das nicht nur wegen der dort – im Gegensatz zu dem als „totalitäres Terrorregime“ verteufelten DDR-Staat – verkündeten „Freiheit“, sondern vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, was unter den in der DDR Zurückgebliebenen wegen des kaum ansteigenden Lebensstandards das Gefühl erzeugte, zwar weiterhin Deutsche, aber Deutsche zweiter, wenn nicht gar dritter Klasse zu sein. Fragen wir uns erst einmal, zu welchen Maßnahmen bzw. Parolen die SED griff, um sich in einer solchen Situation überhaupt als staatstragende Kraft behaupten zu können. Wie gelang es ihr, trotz all dieser Schwierigkeiten dennoch an der Macht zu bleiben und ihrer Bevölkerung weiterhin einzureden, daß die DDR das „andere, bessere Deutschland“, ja die entscheidende Voraussetzung für eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands im Zeichen eines demokratischen Sozialismus Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein   303

52 Plakat zum 2. Nationalkongreß (1954)

304  Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein

sei? Eine wichtige Rolle spielte dabei die Entscheidung, trotz aller Sozialisierungsmaßnahmen nicht den Eindruck einer repressiven, ja gewaltbetonten „Diktatur des Proletariats“ zu erwecken. Schon der Entschluß des SED-Politbüros, ihr Land nicht wie andere Ostblockstaaten Sozialistische Volksrepublik Polen oder Sozialistische Volksrepublik Ungarn, sondern Deutsche Demokratische Republik zu nennen, spricht für diese Einstellung. Da diesem Staat weder eine Widerstandshaltung gegen den Nazifaschismus noch eine sozialistische Revolution vorangegangen war, sondern ihre Führung es weitgehend mit einer postfaschistischen, postpreußischen und protestantisch-lutherischen Bevölkerung zu tun hatte, die zwar die „Obrigkeit“ respektierte, aber keineswegs kommunistisch gesinnt war, sprach die SED zwar gern von ihrer Republik als einem „Staat der Arbeiter und Bauern“, gab sich jedoch gleichzeitig die größte Mühe, unter der Parole einer „innigen Verbindung der Intelligenz mit der werktätigen Bevölkerung“ auch die bildungsbürgerlichen Schichten für ihre Vorstellung eines Neuen Deutschland zu gewinnen, wie sie ihre offizielle Parteizeitung nannte. Da jedoch die Schicht der „Führenden“, das heißt all jener, die aus dem antifaschistischen Exil bzw. den innerdeutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern zurückgekommen waren, nur aus kleinen Gruppen bestand, folgte ihnen die überwältigende Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung, die nicht über solche Erfahrungen verfügte und 12 Jahre lang weitgehend den Parolen der Nazifaschisten gefolgt war, höchst widerwillig. Schließlich wollten diese Menschen nach den „schrecklichen“ Jahren der Kriegs- und Nachkriegszeit endlich mehr Freiheit und bessere Lebensbedingungen haben, statt erneut unter einem „totalitären“ Regime zu leben, in dem ihnen zuviel vorgeschrieben wurde und wo außerdem all jene „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ einer oberflächlichen Unterhaltungsindustrie wegfielen, die ihnen der Film- und Schlagerbetrieb des Dritten Reichs geboten hatte. Und so mußte Walter Ulbricht fast wie ein „shakespearscher König über ein Volk von Feinden regieren“, wie es der DDR-Dramatiker Heiner Müller später auf zugespitzte Weise formulierte. Um also die sogenannten breiten Massen der Werktätigen sowie die bürgerliche Intelligenz dennoch, ja trotzalledem für sich zu gewinnen, entfaltete die SED eine parteipolitische Propaganda, von der sie hoffte, die ostdeutsche Bevölkerung – so gut sie es vermochte – von ihren in eine bessere Zukunft weisenden Zielsetzungen zu überzeugen. Und Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein   305

dazu gehörte anfangs vor allem die deutschbetonte Komponente ihrer ideologischen Bemühungen. Die Begriffe „Volk“ und „Nation“ tauchten deshalb in ihren Proklamationen der frühen fünfziger Jahr fast in jedem zweiten oder dritten Satz auf. Immer wieder war die Rede davon, daß es in Zukunft nicht nur darum gehen solle, im Ostteil Deutschlands den Prozeß der Sozialisierung und Kollektivierung fortzuführen, sondern daß dies zugleich eine Aufgabe sei, die später einmal einem wiedervereinigten Deutschland zugute kommen werde. Es war daher unter anderem auch der nationale Aspekt vieler Regierungserklärungen, der – trotz aller Unzufriedenheit und Abwanderung – zu einer zeitweiligen Stabilisierung der innenpolitischen Verhältnisse in der DDR beitrug. Allerdings reichte er keineswegs aus, um jene durch den Konsummangel bewirkte Republikfluchtwelle einzudämmen, die gegen Ende der fünfziger Jahre wieder so stark zunahm, daß sich die SED-Führungsspitze, um überhaupt an der Macht zu bleiben, schließlich gezwungen sah, ihren Staat im Herbst 1961 durch Mauern und Wachttürme gegen das „Wirtschaftswunderland“ BRD abzuriegeln.

II Neben den parteipolitischen Parolen spielte bei dieser Überzeugungs­ arbeit von Seiten der SED auch der kulturelle Aspekt derartiger Nationalvorstellungen eine wichtige Rolle. So wie sich die deutsche Arbeiterbewegung von Anfang an – neben ihren politischen Ambitionen – zugleich als eine Bildungs- und Kulturbewegung im Sinne Franz Mehrings verstanden hatte, wurde dementsprechend von Seiten der SED und des mit ihr liierten Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands immer wieder betont, daß es in der DDR auch darum gehe, die gesamte Bevölkerung davon zu überzeugen, nach der klassenbedingten Spaltung in eine hohe und eine niedere Kultur jetzt endlich den Weg zu der „einen, großen, gebildeten Nation“ einzuschlagen, wie es Johannes R. Becher, der erste Kulturminister der DDR, formulierte. Aus diesem Grund wurde von fast allen Funktionären der SED sowohl den älteren als auch den zeitgenössischen Werken der Hochkultur ein besonders großes Interesse entgegengebracht. Nicht nur Becher, auch Otto Grotewohl, Wilhelm Pieck und Walter 306  Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein

Ulbricht wandten daher einen Großteil ihrer Zeit darauf, an den jeweiligen Theater- und Operninszenierungen, Buchmessen, Gemäldeausstellungen und Symphoniekonzerten teilzunehmen und sich anschließend kritisch oder wohlwollend darüber zu äußern, ob sich die dort aufgeführten, gespielten oder ausgestellten Werke für den Aufbau einer neuen deutschen Nationalkultur als nützlich oder unbrauchbar erweisen würden. Ihnen ging es nicht um individuelle Sonderleistungen, sondern um Kunstwerke, mit denen man die ostdeutsche Bevölkerung vom „fortschrittlichen Geist des Sozialismus“, bei dem weniger das „Ich“ als das „Wir“ im Vordergrund stehen würde, überzeugen wollte. Was den jeweiligen Parteiführern deshalb in der Kunst ihres eigenen Staates vorschwebte, waren vor allem an klassischen Vorbildern orientierte Darstellungen „positiver Helden“ oder sozialistischer Kollektive, an denen sich der Rest der Bevölkerung im Hinblick auf einen „friedlichen Aufbau des Sozialismus“ ein Vorbild nehmen könne. In Anlehnung an die von Lenin eingeführte und von Stalin übernommene Nationalitätenpolitik wurde dabei stets die nationale Komponente derartiger „Kulturleistungen“ betont. Alle Werke der Kunst sollten in Zukunft „sozialistisch im Inhalt und national in der Form“ sein, wie es bereits 1934 auf dem Moskauer Allunionskongreß der kommunistischen Schriftsteller verkündet worden war. Demzufolge spielte gerade in den Anfängen der DDR die Betonung des „Kulturellen Erbes“ im Rahmen der nationalen Tradition eine zentrale Rolle. Nicht nur Johannes R. Becher erklärte immer wieder emphatisch „Vorwärts zu Goethe“, auch andere führende SED-Genossen betonten in den Jahren 1950/51 anläßlich bestimmter Gedenktage im Neuen Deutschland oder in Zeitschriften wie Einheit und Aufbau stets aufs Neue, wie eng gerade die größten deutschen Künstler, ob nun Albrecht Dürer, Hans Holbein, Johann Sebastian Bach, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Caspar David Friedrich oder Ludwig van Beethoven, mit den deutschbewußten „Volkskräften“ verbunden gewesen seien, um so die nationale Bedeutsamkeit dieser „Kulturgrößen“ herauszustreichen. „Unsere Nation, ihre Kultur und ihre Kunst“, schrieb dementsprechend ein Kulturfunktionär wie Wilhelm Girnus mit der nötigen Emphase, ist entstanden „im Kampf gegen die mittelalterlich-feudale Zersplitterung. In diesem Kampf um die Bildung der Nation erfüllte die Kunst eine notwendige, eine progressive geschichtliche Aufgabe. Die aus diesem Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein   307

Kampf herausgeborenen Werke tragen daher den progressiven Stempel der Nationwerdung unseres Volkes. Man kann sie nicht aus unserem nationalen Dasein, aus unserem nationalen Bewußtsein herausreißen, ohne den Bestand der Nation selbst in Frage zu stellen.“ Selbst nach der Spaltung Deutschlands im Spätherbst 1949 wurde daher in den frühen fünfziger Jahren von allen führenden Parteimitglie-

53 Titelblatt einer vom Büro des Nationalrats der Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik herausgegebenen Broschüre (1952)

308  Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein

dern der SED immer wieder die progressive und sogleich gesamtdeutsche Ausrichtung der in ihrem Staat anvisierten Kulturpolitik betont. So erklärte etwa Otto Grotewohl am 22. März 1950 in einer Rede vor der DDR-Volkskammer: „Es geht um die Existenz der deutschen Kultur, die nicht geteilt werden darf. Unser Ziel ist die Pflege und Weiterentwicklung einer wahren, edlen Kultur der Nation. Zu dieser Kultur gehören für uns auch die Menschen im Westen unserer Heimat.“ Nur so, betonte er im Folgenden, können „wir uns gegen jenen amerikanischen Kosmopolitismus“ zur Wehr setzen, dessen Ziel es sei, „die nationalen Widerstandskräfte der europäischen Völker zu brechen, um sie für die Welteroberungspläne amerikanischer Imperialisten einsetzen zu können“. Fast die gleichen Verlautbarungen finden sich im Text jener Rede, die Walter Ulbricht auf dem III. Parteitag der SED im Jahr 1950 hielt, in der ebenfalls die Begriffe „Volk“ und „Nation“ eine zentrale Rolle spielten und wo er die Forderung aufstellte, „eine fortschrittliche deutsche Kultur für unser ganzes deutsches Vaterland zu entwickeln“. Nicht minder entschieden äußerte sich in dieser Hinsicht Alexander Abusch, der sich zum gleichen Zeitpunkt nachdrücklich gegen jene „kosmopolitische Ideologie der Heimatlosigkeit und Wurzellosigkeit“ wandte, mit der die Vereinigten Staaten im Zuge ihrer „wirtschaftlichen, politischen und geistigen Marshallisierung eine Aufhebung der nationalen Souveränität“ der von ihnen abhängigen Staaten anstrebten. Statt also wie in den westeuropäischen Ländern sowohl einen „volksfremden“ Modernismus als auch eine zum „Kitsch“ tendierende Massenunkultur zu befördern, wurde deshalb in der DDR in allen „Kulturbemühungen“, wie es in den fünfziger Jahren gern hieß, in Anlehnung an Dürers Holzschnitte, Bachs Oratorien, Goethes Faust oder Beethovens Neunte Symphonie stets „unser deutscher Nationalcharakter“ betont. Was die DDR-Kulturverantwortlichen demzufolge in diesem Zusammenhang besonders scharf verwarfen, waren neben den inhaltslosen Ausflüchten im Bereich der formalistischen Malerei des American Abstract Expressionism und der unharmonischen Schönbergschen Zwölfton­ musik vor allem jene „pornographischen Magazine, Kriminal- und Kolportageromane, Verbrecherfilme sowie Schlagerkompositionen innerhalb der amerikanisierten Boogie-Woogie-Musik“, deren Ziel lediglich darin bestehe, „das nationale Kulturerbe der Völker zu zerstören“, wie Ernst Hermann Meyer, der Vorsitzende des DDR-KomponistenverDer gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein   309

bands, erklärte. Unter Bezugnahme auf derartige Forderungen setzte sich daher Johannes R. Becher im Mai 1951 in seiner Rede auf dem Ersten Gesamtdeutschen Kulturkongreß in Leipzig, wie schon im Herbst 1947 auf dem vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands einberufenen Ersten Deutschen Schriftstellerkongreß, nochmals mit folgender Maxime für eine ideologische Solidarität aller deutschen „Kunstschaffenden“ ein: „Der Wille zur Einheit unserer Kultur ist der Vorbote der wissenschaftlichen und politischen Wiedervereinigung Deutschlands.“

III Daß solche Hoffnungen einen illusionären Charakter hatten, sahen – angesichts der von Konrad Adenauer forcierten Remilitarisierung der BRD und ihrer Eingliederung in die NATO – schon gegen Mitte der fünfziger Jahre selbst die bisher lautstärksten Vertreter der gesamtdeutschen Linie innerhalb der SED-Führung ein. Von den politisch und kulturell betonten Tendenzen im Hinblick auf eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands war daher nach diesem Zeitpunkt in der DDR immer weniger die Rede. Zugleich wurde die Orientierung an den großen Meisterwerken des deutschen „Kulturellen Erbes“ etwas abgeschwächt, wenn auch nicht völlig aufgegeben. Und auch die ständigen Berufungen auf Konzepte wie „Volk“ und „Nation“ nahmen allmählich ab. Was dagegen Walter Ulbricht in den zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zusehends betonte, war die Tendenz ins Sozialistische, um dem immer noch gefährdeten ostdeutschen Regime eine sich vom Westen absetzende eigenstaatliche Identität zu geben. Auf kulturellem Sektor äußerte sich das vor allem auf der von ihm und mehreren DDR-Schriftstellern im Jahr 1958 einberufenen Konferenz ins Chemiekombinat der Arbeiterstadt Bitterfeld, die unter dem Motto „Greif zur Feder, Kumpel!“ stand und zwischen den klassischen und proletarischen literarischen Ausdrucksformen vermitteln sollte. Dementsprechend forderten auf dieser Tagung einige Parteisprecher die Arbeiter und Arbeiterinnen nicht nur auf, autobiographische Texte oder Brigadetagebücher zu schreiben, sondern sich auch an die Abfassung eines proletarischen Wilhelm Meister oder gar eines proletarischen Faust heranzuwagen. Erst 310  Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein

wenn es gelänge, das sozialistische Bewußtsein mit dem „wahrhaft humanistischen“ Geist der Goethe-Zeit zu erfüllen, würde man in der DDR, wie Ulbricht erklärte, im Sinne der antizipierenden Vision des alten Faust endlich als „freies Volk auf freiem Grund“ stehen können. Doch mit Kulturprogrammen allein, mochten sie nun eine humanistisch-progressive oder proletarisch-aktivierende Note haben, war die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung – trotz unermüdlicher Bemühungen führender Politiker bzw. junger Autoren und Autorinnen wie Hermann Kant, Heiner Müller und Christa Wolf – für einen verstärkten Einsatz beim Aufbau des Sozialismus nicht zu gewinnen. Dem standen zuviele Hindernisse entgegen. Schließlich entwickelte sich die DDRGesellschaft nicht in einem vom Rest der Welt abgeschlossenen Vakuum, sondern in ständiger Konkurrenz mit jenem anderen Deutschland, wo es, wie gesagt, im Laufe der fünfziger Jahre zu einem enormen wirtschaftlichen Aufschwung kam, der diesen Staat mit der verlockenden Aura eines von Konsumgütern nur so strotzenden Einkaufsparadieses umgab. Und das mußte viele DDR-Bürger und Bürgerinnen, deren Warenhäuser und HO-Läden noch immer nur mit dem Nötigsten ausgestattet waren, notwendig blenden. Ebenso wichtige Verführungsfaktoren bildeten die immer stärker für die „Sowjetzone“ oder die „sogenannte DDR“ hergestellten bundesrepublikanischen Rundfunk- und Fernsehprogramme, die im Zuge jener psychologischen Kriegsführung, welcher sich vor allem der westberliner RIAS bediente, den DDRBewohnern und -Bewohnerinnen ein höchst anziehendes Bild von den sozioökonomischen Verhältnissen im Westen vorzuspiegeln versuchten. Statt auf diese Bevölkerungsschichten lediglich mit kulturpolitischen Parolen einwirken zu wollen oder sich auf abstrakt wirkende Freiheitsversprechungen zu beschränken, hatten sich die dortigen Führungsschichten inzwischen entschieden, den Osten lieber mit dem Bild der „vollen Schaufenster“ ökonomisch in die Knie zu zwingen. Und das erwies sich als wesentlich effektiver. Infolgedessen hörte – trotz eines auch in der DDR allmählich ansteigenden Wohlstands – die Republikflucht in den Westen nicht auf, ja nahm in den späten fünfziger Jahren, als die wirtschaftliche Konjunktur im Westen Deutschlands ihren Höhepunkt erreichte, sogar noch zu. Als diese Fluchtwelle im Frühjahr und Sommer 1961 geradezu drastische Ausmaße annahm, entschied sich Ulbricht, wie gesagt, Ostberlin gegenDer gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein   311

über dem Westteil dieser Stadt durch einen Mauerbau abzuriegeln, der am 13. August des gleichen Jahrs begonnen wurde. Bei den weiterhin gegen eine gewaltsame Durchsetzung des Sozialismus eingestellten Schichten in der DDR, die lieber die Einführung einer kapitalistischen Marktwirtschaft gesehen hätten, führte das zwangsläufig zu verstärkten Affekten gegen die SED-Führungsspitze, bewirkte aber – realpolitisch gesehen – eine allmähliche Konsolidierung der DDR als eines in sich gefestigten sozioökonomischen Gebildes. Mit dem Bau der Berliner Mauer war ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der DDR erreicht. Die Regierung schränkte zwar damit die Abwanderungs- und Reisemöglichkeiten ihrer Staatsbürger und -bürgerinnen erheblich ein, schuf aber mit diesem Akt zugleich Verhältnisse, innerhalb derer sich der „Aufbau des Sozialismus“ wesentlich ungestörter verwirklichen ließ, als dies in den Jahren der nicht nachlassenden Republikflucht möglich war. Es gab deshalb nach dem von der Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung abgelehnten Mauerbau auch Stimmen in der DDR, die darin etwas Positives sahen, nämlich eine Chance, diesen Staat endlich in eine hoffnungsträchtige Übergangsgesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus verwandeln zu können und damit einen, wenn auch nicht wirtschaftlichen, so doch sozialen und kulturellen Sieg über den rein „kommerziell orientierten Westen“ zu erringen. Und im Zuge dieser Veränderungen wandelte sich auch das Image Walter Ulbrichts in den Augen vieler DDR-Bewohner und -Bewohnerinnen. Anstatt in ihm weiterhin lediglich einen unverbesserlichen Starrkopf zu sehen, akzeptierten ihn große Teile der Bevölkerung allmählich als ein nicht mehr wegzudenkendes Staatsoberhaupt. Wohl der wichtigste Faktor innerhalb dieses Bewußtseinswandels waren jene produktionssteigernden Maßnahmen, die er 1963 im Sinne seines „Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung“ (NÖSPL) einleitete, welche dazu führten, daß die DDR gegen Ende der sechziger Jahre über den höchsten Lebensstandard innerhalb aller Ostblockländer verfügte. Aufgrund dieses Erfolgs bezeichnete Ulbricht, ohne noch einmal auf seine früheren Wiedervereinigungsvorschläge zurückzu­ kommen, schließlich die DDR 1966 nicht mehr als eine „Übergangs­ gesellschaft“, sondern als eine vollentwickelte „sozialistische Menschengemeinschaft“, ja als „Faust dritter Teil“, in welcher der goethezeitliche Humanismus endlich seine staatspolitische Erfüllung erlebt habe. Damit 312  Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein

wurde zwar der Traum, das „andere, bessere Deutschland“ zu sein, nicht völlig aufgegeben, aber die Tendenz ins „Gesamtdeutsche“ weitgehend abgeschwächt. Während in den frühen fünfziger Jahren in der DDR Begriffe wie „Volk“ und „Nation“ noch eine maßgebliche Rolle gespielt hatten, war jetzt in offiziellen Erklärungen – mit einem unverhohlenen Stolz auf die wirtschaftlichen Erfolge und zugleich die Fülle eigenständiger Kulturleistungen – meist nur von „unserer DDR“ die Rede. Das Nationalbewußtsein, das sich daraus entwickelte, unterschied sich daher grundsätzlich von den noch bis 1955 propagierten Hoffnungen auf ein „einig Vaterland“, wie es in der 1949 von Johannes R. Becher verfaßten Nationalhymne der DDR hieß, von der bei offiziellen Anlässen zwar weiterhin die von Hanns Eisler komponierte Melodie gespielt wurde, während man den Text lieber wegließ.

IV Der nächste bedeutsame Wendepunkt in der nationalstaatlichen und kulturellen Entwicklung der DDR erfolgte, als am 3. Mai 1971 – wohl auf Druck der Sowjetunion – Walter Ulbricht als Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED zurücktreten mußte und dieses Amt von Erich Honecker übernommen wurde. Nach diesem Regierungswechsel war in der SED-Führungsspitze von irgendwelchen gesamtdeutschen Tendenzen oder gar dem Anspruch, das „andere, bessere Deutschland“ zu sein, kaum noch die Rede. Und zwar hing das zum Teil damit zusammen, daß in der westdeutschen Bundesrepublik seit dem Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt, der im Jahr 1969 erfolgt war, ein grundlegender Wandel in der außenpolitischen Einstellung der DDR gegenüber eingetreten war. Brandt hob nämlich nicht nur die bisher von der CDU-Regierung streng gehandhabte HallsteinDoktrin auf, die es keinem westlichen Staat erlaubte, diplomatische Beziehungen zur DDR aufzunehmen, sondern bemühte sich zugleich in den Jahren zwischen 1971 und 1974, sowohl die westdeutschen Beziehungen zur DDR als auch zu anderen Ostblockländern zu „normalisieren“. Dieser Politik schlossen sich sowohl die Vereinigten Staaten als auch England und Frankreich an, indem sie offizielle diplomatische Beziehungen zur DDR aufnahmen, ja sogar durchsetzten, daß dieses Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein   313

54 Elke Bruhn-Hoffmann: Willy Brandt bei einem Besuch Erich Honeckers in Ostberlin am 19. September 1970

von ihnen als souveräner Staat angesehene Land neben der Bundesrepublik Deutschland als vollgültiges Mitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen wurde. Und damit schien das bisher im Zeichen des Kalten Kriegs stehende gespannte Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander erst einmal vorbei zu sein. Angesichts der Neuregelung der politischen Verhältnisse, die weitgehend auf Brandts „konstruktive Ostpolitik“ zurückging und zu „normalen gutnachbarlichen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten“ führen sollte, wie es in dem am 314  Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein

21. Dezember 1972 beschlossenen Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR hieß, wurde die Frage einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands sowie der sich daraus ergebenden Gefahr eines neuen deutschen Nationalismus plötzlich mehr oder minder belanglos. Die mit diesen Veränderungen einhergehenden ideologischen Reorientierungen machten es für Erich Honecker zweifellos leichter, von vornherein etwas „liberaler“ aufzutreten als sein Vorgänger Walter Ulbricht, der noch über ein Land regieren mußte, das im Westen als ein zu bekämpfender „Unstaat“ oder „Unrechtsstaat“ galt. An Honecker knüpften sich daher in den bis dahin unzufriedenen Bevölkerungsschichten der DDR zu Anfang große Hoffnungen, und zwar nicht nur in politischer, sondern auch in kultureller Hinsicht, zumal er bereits kurz nach seinem Amtsantritt erklärte, daß es von jetzt an in jener DDR-Kunst, die von sozialistischen Positionen ausgehe, „keine Tabus mehr geben“ dürfe. Demzufolge wurden plötzlich in der DDR-Kunst zusehends bisher weitgehend tabuierte Themen wie Republikflucht, außereheliche Sexualbeziehungen, Westfernsehen oder jugendliche Rockmusik aufgegriffen. Statt vornehmlich vom „Ich zum Wir“ zu streben und im Rahmen der Industriebrigaden der Volkseigenen Betriebe, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, der Jungen Pioniere sowie anderer parteilicher Organisationen lediglich einen sozialistischen Gemeinschaftsgeist zu propagieren, war jetzt allerorten auch von der Wiederentdeckung des „Ich im Überbau der Gesellschaft“ die Rede. Das belegen Begriffe wie „Differenzierung“, „Selbstverwirklichung“, „individuelle Handschrift“ oder „künstlerische Eigenart“, die in den kulturtheoretischen Schriften der frühen und mittleren siebziger Jahre immer häufiger auftauchten. Im Gegensatz zu jenen Tendenzen, welche wie bisher im Sinne der Parole „Alle für alle“ vornehmlich die soziale Verantwortlichkeit des Einzelnen für das „Ganze“ in den Vordergrund gerückt hatten, führte das zu einem steigenden Interesse am Lebensgeschichtlich-Persönlichen, ja höchst Privaten, was in weiten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens innerhalb der DDR zwangsläufig zu einer merklichen Abschwächung aller größeren, jetzt als „schematisch“ bezeichneten politischen und sozioökonomischen Normvorstellungen führte. In besonders eklatanter Form äußerte sich das in dem sich wandelnden Verhältnis zum bisher häufig verkulteten „Klassischen Kulturerbe“ der deutschen Nation. Während in der Ulbricht-Ära in dieser Hinsicht Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein   315

weitgehend die sogenannte Vollstrecker-These geherrscht hatte, das heißt die Forderung, den DDR-Sozialismus so eng wie möglich an den humanistisch-progressiven Geist der Goethe-Zeit anzuschließen, ja ihm sogar in der künstlerischen Formgebung nachzueifern, wurden jetzt derartige Ansprüche zusehends zurückgeschraubt. Allerdings durfte diese „Enttabuierung“, wie der Fall Wolf Biermann im Jahr 1976 beweist, keine gegen die Parteihierarchie gerichteten rebellischen Formen annehmen. In dieser Hinsicht erwies sich die SED weiterhin unnachgiebig. Jugendlicher Übermut – in Form der Neuen Leiden des jungen W. (1972) von Ulrich Plenzdorf – wurde zwar geduldet, aber keine Kritik am „demokratischen Zentralismus“ der SED, die in irgendwelchen Abweichungen von der jeweiligen Parteilinie nach wie vor zu bekämpfende Abirrungen ins Anarchistische sah. Was Honecker stattdessen befürwortete, war ein „realexistierender Sozialismus“, der sich erst einmal mit dem bisher Errungenen zufrieden geben solle, statt in utopischer Überspanntheit ständig neue Forderungen an den Staat zu stellen und damit lediglich die Unzufriedenheit innerhalb der sogenannten breiten Massen der Bevölkerung anzuschüren. Um 1980, als die Erinnerung an den Biermann-Skandal allmählich verblaßte, sah demnach die Kulturszene und die damit verbundene nationale Identitätsbestimmung in der DDR folgendermaßen aus. Einerseits wurde der ältere Hochkulturbetrieb, der vor allem die klassischen Werke der Vergangenheit favorisierte, weiterhin mit großzügigen staatlichen Unterstützungen gefördert. Da sich jedoch für diese Werke nach wie vor vornehmlich die gebildeten Schichten der Hochschulabsolventen und höheren Angestellten interessierten, sah die DDR-Regierung seit der Mitte der siebziger Jahre ein, daß sie aus pragmatischen Gründen auch die verschiedenen Branchen der Popmusik sowie die Unterhaltungsprogramme innerhalb der Film-, Funk- und Fernsehproduktion stärker fördern müsse, um den Massen der „werktätigen“ Bevölkerung sogar das zu bieten, womit sie sich sonst im Rahmen der Westmedien bedient hätten. Dementsprechend wurde der alte Bechersche Traum von der „Erstürmung und Inbesitznahme der Höhen der Kultur“ bzw. der „Weg zu der einen, großen, gebildeten Nation“ schrittweise aufgegeben. So wie die anspruchsvolle Formel, das „andere, bessere Deutschland“ zu sein, das heißt der westlichen Bundesrepublik wenigstens durch seine hochkulturelle Praxis in vieler Hinsicht überlegen zu 316  Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein

sein, um 1980 in der DDR kaum noch verwendet wurde, setzte zu diesem Zeitpunkt innerhalb der Führungsgremien der SED auch im Hinblick auf einige ihrer ideologischen Ambitionen eine zunehmende Beschränkung auf wesentlich geringere Erwartungen ein. Demzufolge wurde beispielsweise in der ostdeutschen Verfassung der Satz, daß sich dieser Staat der Verantwortung bewußt sei, „der ganzen deutschen Nation den Weg in die Zukunft des Friedens und des Sozialismus zu weisen“, bereits Mitte der siebziger Jahre einfach ersatzlos gestrichen. Was Honecker jetzt propagierte, war weitgehend das unter den vorgegebenen Bedingungen Machbare, wofür die SED-Parteiführung, wie gesagt, den Begriff des „realexistierenden Sozialismus“ einführte. Und das wurde von weiten Schichten der Bevölkerung, die nicht mehr ständig mit allmählich immer unglaubwürdiger werdenden Hochkulturkonzepten bombardiert werden wollten und sich nach harter Arbeit des Abends oder an Wochenenden nach einer leichten Unterhaltung sehnten, zu Anfang auch durchaus begrüßt. Die gleichen Veränderungen traten im Gefolge dieser Entwicklung in der DDR auch in innenpolitischer Hinsicht ein. Statt weiterhin an irgendwelchen gesamtdeutschen Ansprüchen festzuhalten, hielt es die SED-Führung nach diesem Zeitpunkt eher für geboten, an die ideologischen und kulturellen Traditionen innerhalb der einzelnen Teilgebiete ihrer Republik anzuknüpfen, um nicht durch die inzwischen allgemein respektierte Spaltung Deutschlands in zwei souveräne Staaten in eine als überholt empfundene gesamtdeutsche Ideologie zurückzufallen. Während in den politischen und kulturellen Diskursen der DDR anfänglich eher Konzepte wie „Volk“ und „Nation“ im Vordergrund gestanden hatten, wurden bei solchen Fragestellungen jetzt meist regionale bzw. lokalpatriotische Vorstellungen beschworen und wieder von Preußen, Sachsen, Thüringen und Mecklenburg gesprochen. Und das führte dazu, daß in der DDR sogar bisher rein negativ gesehene Potentaten wie, Friedrich II. von Preußen und Otto von Bismarck eine gewisse Renaissance erlebten. Ja, die SED zögerte nicht einmal, das berühmte Rauchsche Reiterdenkmal Friedrichs des Großen, wie dieser König jetzt wieder offiziellerweise hieß, an seiner ehemaligen Stelle in Berlin Unter den Linden aufzustellen, was von weiten Kreisen der ostdeutschen Bevölkerung – angesichts der in weite Ferne gerückten Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung – nicht ungern gesehen wurde. Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein   317

Allerdings sollte sich selbst diese als pragmatisch aufgefaßte politische und kulturelle Neuorientierung als illusorisch erweisen. Schließlich beförderte die SED-Führung mit ihrer Beschränkung auf lokalpatriotische Aspekte sowie ihrer Ankurbelung einer gefälligen Unterhaltungsindustrie lediglich das, wogegen ihre Vorgänger im Zentralkomitee der SED lange Zeit erbittert angekämpft hatten, nämlich einen Verzicht auf ihren bisherigen Anspruch, das „andere, bessere Deutschland“ zu sein. Dazu trug neben der fortschreitenden Angleichung an den Massenmedienbetrieb des Westens, auch die Einrichtung von Intershop- und Exquisitläden bei, in denen man mit dem nötigen „Westgeld“ als qualitätsvoller geltende Importartikel aus den USA und der BRD erstehen konnte. Und die SED tat das, weil sie annahm, daß die Westmächte durch die Zweistaatenregelung der frühen siebziger Jahre und dem damit verbundenen Konzept einer gleichberechtigten Koexistenz nicht mehr an einer Wiedervereinigung der BRD und der DDR interessiert seien. Doch darin sollten sich Honecker und das Politbüro der SED gründlich täuschen. Schließlich bemühten sich in den achtziger Jahren die Vereinigten Staaten unter Ronald Reagan sowie der hinter ihm stehende Military-Industrial Complex im Zuge eines neu angeheizten Kalten Kriegs immer stärker, die UdSSR und ihre „Satellitenstaaten“ durch eine gewaltig angekurbelte Hochrüstung in die Knie zu zwingen. Als sich daraufhin – im Gegenzug zu derartigen Bemühungen – die ersten ökonomischen Krisensymptome innerhalb des Ostblocks abzeichneten und sich demzufolge auch die wirtschaftliche Lage in der DDR zu verschlechtern begann, drängte deshalb die Mehrheit der inzwischen ideologisch und kulturell weitgehend „verwestlichten“ ostdeutschen Bevölkerung im Herbst 1989 in wochenlangen Demonstrationen immer stärker auf einen möglichst baldigen Anschluß an die damalige Bundesrepublik. Es gab zwar zu diesem Zeitpunkt weiterhin einige DDR-Politiker und -Künstler, die sich, wie Volker Braun, Christoph Hein, Stefan Heym, Hans Modrow und Christa Wolf, den anschwellenden Protesten sowie der einsetzenden Fluchtbewegung in den Westen mit Parolen wie „Dableiben!“ entgegenzustemmen versuchten, da sie immer noch hofften, den realexistierenden Sozialismus Honeckerscher Prägung in einen „demokratischen Sozialismus“ umwandeln zu können. Aber dafür war es im November 1989, als Tausende von Ostberlinern und Ostberline318  Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein

rinnen die quer durch ihre Stadt verlaufende Mauer durchbrachen, um endlich die westliche KaDeWe-Welt in Augenschein zu nehmen, bereits zu spät.

55 Ost- und Westberliner versammeln sich am 10. November 1989 am Brandenburger Tor in Berlin

Der gescheiterte Versuch der DDR, „das andere, bessere Deutschland“ zu sein   319

Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschaftsund Staatsbürgernation

I Daß sich die westdeutsche Bundesrepublik schon in ihren Anfängen einer erheblich breiteren Zustimmung als die DDR erfreute, hängt weitgehend mit ihrer wesentlich günstigeren wirtschaftlichen Ausgangslage zusammen. Im Gegensatz zum Ostteil Deutschlands gab es hier nach 1949 keine weiteren Demontagen, keinen Rohstoffmangel, keine Abwanderung und keine Dekartellisierung. Das Ergebnis waren „volle Schaufenster“ und demzufolge ein erleichtertes Aufatmen all jener Menschen, die nach Kriegsende erst einmal eine längere Hunger- und Entbehrungsperiode befürchtet hatten. Seit der Währungsreform vom Juni 1948 konnte man plötzlich in diesen Breiten wieder vieles, ja fast alles kaufen, wonach sich die meisten Menschen schon seit Jahren gesehnt hatten. Alle Sozialisierungskonzepte, die selbst in den frühen Proklamationen der CDU noch als antifaschistisch und damit als gerechtfertigt galten, wurden jetzt mit einem Blick auf die immer noch „notdürftig“ lebende Bevölkerung in der sogenannten „DDR“ von den meisten Westdeutschen, die sich von der Einführung der freien oder sozialen Marktwirtschaft die Heraufkunft eines uneingeschränkten Einkaufsparadieses versprachen, zusehends abgelehnt. Als wichtigster Wegbereiter dieser Entwicklung galt der CDU-Politiker Ludwig Erhard, der bereits durch seine Tätigkeit als Vorsitzender des Bizonenwirtschaftsrats ein gewisses Ansehen gewonnen hatte und am 20. September 1949 Wirtschaftsminister im ersten Kabinett Adenauers wurde. Erhard war schon 1947/48 gegen die Beibehaltung der planwirtschaftlichen Maßnahmen der ersten Nachkriegsjahre oder gar die Überführung sogenannter Schlüsselindustrien in Gemeineigentum eingetreten. Stattdessen hatte er zur Steigerung der industriellen Produktion die relativ freie Entfaltung kapitalistischer Privatinitiativen empfohlen. Da der von ihm gutgeheißene Wirtschaftskurs in den Jahren 1948/49 mit dem Anlaufen des Marshall-Plans verbunden wurde und damit breiten 320  Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation

56 Plakatwerbung für den Marshall-Plan (1950)

Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation   321

Schichten der bundesrepublikanischen Bevölkerung – nach zehnjähriger, durch den Krieg sowie die Nachkriegszeit bedingter Plan- und Zwangswirtschaft – wie ein Durchbruch zu demokratischer Freiheit erschien, erwiesen sich die Erhardschen Wirtschaftskonzepte als äußerst erfolgreich und verschafften den auf eine Stärkung der kapitalistischen Marktwirtschaft drängenden Kräften innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Führungsschicht Westdeutschlands eine höchst erfolgsversprechende Ausgangsposition. Adenauer und Erhard ließen deshalb in der Gründungsphase der Bundesrepublik sowie in den ersten Jahren ihres Bestehens nicht davon ab, diesen Kurs mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu stützen und zu fördern. Aus diesem Grund wurde schon 1950 nicht nur der bisherige Preisstopp aufgehoben, sondern auch eine sogenannte Kleine Steuerreform verabschiedet, die allen Bundesbürgern und Bürgerinnen mit hohem Einkommen großzügige Abschreibevergünstigungen und Steuerermäßigungen zugestand, um so die für den wirtschaftlichen Aufschwung nötigen Investitionsanreize zu schaffen. Weitere Erleichterungen für die Industrie bewirkte die Bundesregierung im Rahmen jenes Petersberger Abkommen, das sie im Winter 1949/50 mit der Hohen Kommission der westlichen Besatzungsmächte abschloß, durch das es zur endgültigen Einstellung der Demontagen, zur Rückgabe der Montanindustriewerke an ihre früheren Besitzer, zur Wiederaufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zu anderen westlichen Ländern, zur Aufhebung der Produktionsbeschränkungen in bestimmten Industriezweigen sowie zur Lockerung der bisherigen Dekartellisierungsvorschriften kam. Demzufolge läßt sich schon im Jahr 1950 nicht nur eine Rückverflechtung der Eisen- und Stahlindustrien, sondern auch eine Neuverflechtung der regionalen Banken innerhalb großer überregionaler Banksysteme, wie der Deutschen Bank, der Dresdner Bank und der Commerzbank, beobachten. Doch diese Rück- und Neuverflechtungen allein hätten sicher nicht genügt, die industrielle Produktion wieder auf Hochtouren zu bringen. Weitere Voraussetzungen dazu bildeten die durch die anhaltende Arbeitslosigkeit niedrig gehaltenen Löhne, der ständige Zustrom hochqualifizierter Arbeitskräfte aus dem Osten, die durch den gewaltigen Nachholbedarf der Bevölkerung geradezu idealen Absatzbedingungen sowie die 1950 durch den Koreakrieg ausgelöste Exportkonjunktur. All das führte zu einer stürmischen Akkumulation und zugleich Investi322  Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation

57 Vorbereitung der Ausstellung „Rationalisierung“ in Düsseldorf im Juli 1953

tion, so daß die industrielle Produktion der Bundesrepublik im Jahr 1950 auf manchen Gebieten um fast 40 Prozent anstieg. Wie zu erwarten, nahmen die SPD-Führung und der im Oktober 1949 gegründete westdeutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die weiterhin auf planwirtschaftliche Maßnahmen zum Schutze der Arbeiterschaft, einen gerechten Lastenausgleich und eine Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum bestanden, diese Entwicklung nicht widerspruchslos hin. So erklärte etwa ihr Vorsitzender, der aus einem Konzentrationslager zurückgekehrte Kurt Schumacher, Anfang Januar 1951: „Der Sieg der Regierungsparteien ist kein Sieg der Parteien gewesen, sondern der Sieg einer Klasse zur Verteidigung des Eigentums auf Kosten der Allgemeinheit.“ Durch ihn, fuhr Schumacher fort, seien mit Adenauer und Erhard die „Machthaber einer Klasse“ ans Ruder gekommen, welche den von ihnen „besiegten armen Leuten“ anschließend einige „soziale Wohlfahrten“ nachgeschmissen hätten. Ein solches System „soziale Marktwirtschaft“ und nicht einfach „freie Marktwirtschaft“ zu nennen, hielt er für einen aufgelegten Schwindel. Schließlich seien die CDU/CSU und die FDP keine „Mittelparteien“, wie sie gern Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation   323

von sich behaupteten, sondern unverhohlene „Rechtsparteien“. Die neue sozioökonomische Gesellschaftsverfassung lasse sich darum – trotz aller ideologischen „Täuschungsmanöver“ – nur als eine „vierfache Verbindung“ von „Kapitalismus, Kartellen, Klerikalismus und Konservativismus“ charakterisieren. Doch Erhard ließ sich durch solche Parolen nicht beirren. Er hatte das untrügliche Gefühl, daß sich die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung im Zuge des Kalten Kriegs und im Hinblick auf die steigenden Produktionsziffern schließlich doch für seine kapitalistisch konzipierte „Wohlstandspolitik“ und nicht für irgendwelche „sozialistischen Experimente“ entscheiden würde. Daher setzte er der fortschreitenden Monopolisierung, die auf vielen Gebieten entschieden weiter ging als in den Jahrzehnten zuvor, keinerlei Hemmnisse entgegen. Auch gegen jene Entwicklung, daß in vielen Konzernen die führenden Positionen wieder von den gleichen Industriellen oder Managern übernommen wurden, die den Aufstieg Hitlers aktiv unterstützt hatten und dafür von den Alliierten nach 1945 erst einmal als Kriegsverbrecher oder zumindest als Mitläufer eingestuft worden waren, schritt er nicht ein. Diese Schichten taten selbstverständlich alles, die antifaschistisch gemeinten Neuordnungskonzepte der unmittelbaren Nachkriegszeit, sofern sie überhaupt noch weiterwirkten, als östliche Störmanöver zu diffamieren und dafür die Wiederherstellung freiwirtschaftlicher Geschäftspraktiken als eine Rückkehr zur Normalität zu bezeichnen. Daß solche Thesen höchst breitenwirksam waren, hängt vor allem damit zusammen, weil sich Erhards Wirtschaftspolitik als eine Erfolgsstory ersten Ranges erwies und somit ein gesellschaftliches und ideologisches Stimmungsklima schuf, in dem alle oppositionellen Stimmen, die sich weiterhin gegen eine Rekapitalisierung Westdeutschlands aussprachen, im Laufe der Jahre immer unglaubwürdiger wirkten, wodurch Adenauer und Erhard schließlich in weiten Schichten der westdeutschen Bevölkerung als wahre „Segensbringer“ galten. Diese beiden Politiker wurden deshalb in den fünfziger Jahren nicht müde, den Aufstieg Westdeutschlands zu einer führenden Wirtschaftsnation als ihr Werk oder zumindest als das Werk ihrer Partei herauszustreichen. Als besonders erfolgsversprechend stellte die CDU/CSU 1951 den Beitritt der Bundesrepublik zum Europarat und zur westeuropäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der sogenannten Montan324  Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation

union hin, durch welche die BRD – im Sinne des voraufgegangenen Schuman-Plans und der späteren Absprachen im Rahmen der westeuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) – politisch und ökonomisch eine immer engere Allianz mit Frankreich, Italien und den Beneluxländern einging. Als daher 1952 der Marshall-Plan auslief, verfügte die Bundesrepublik bereits über eine so beachtliche Wirtschaftskapazität, daß sie eine einflußreiche Exportmacht zu werden begann. In diesen Jahren stieg die westdeutsche Industrieproduktion fast jedes Jahr über 10 Prozent an. Insgesamt vergrößerte sich dadurch das Industrievolumen der BRD in den Jahren zwischen 1950 und 1960 um 164 Prozent – eine Ziffer, welche die ökonomische Zuwachsrate aller anderen westlichen Industrienationen in diesem Zeitraum weit übertraf. Hieraus ergab sich im Laufe der Jahre eine derart günstige Handelsbilanz, daß die Bundesrepublik innerhalb der im Rahmen der 1957/58 in Kraft tretenden EWG bereits als das ökonomisch stärkste Land auftreten konnte. Um diesen wirtschaftwunderlichen Aufschwung als einen gerechten und freiheitlichen Weg zu einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ oder einem „ökonomisch erstarkten Nationalstaat“ hinzustellen, wie es in der systemkonformen Presse dieser Jahre häufig hieß, dazu bedurfte es allerdings mehr als der ständigen Hinweise auf die steigenden Produktionsziffern. Deshalb trat in der frühen BRD den ökonomischen Siegesmeldungen von Anfang an eine ebenso politische wie kulturideologische Propaganda des einmal eingeschlagenen Weges zur Seite, mit der die CDU/CSU den von ihr verfochtenen Kurs zu rechtfertigen suchte.

II So zögerte etwa Adenauer schon Anfang der fünfziger Jahre keineswegs, von „seiner“ Republik als dem einzig legitimen deutschen Staat zu sprechen und die weiterhin planwirtschaftlich eingestellte westdeutsche Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), die sich dem widersetzten, 1956 durch das Karlsruher Oberste Bundesgericht einfach verbieten zu lassen. Ja, er hatte bereits vorher verfügt, daß sowohl Angehörige dieser Partei als auch führende Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ), des Vereins der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und des Demokratischen Frauenbunds (DF) keine höheren Ämter im öffentliDie ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation   325

chen Dienst mehr bekleiden durften. Derartige Maßnahmen wurden von breiten Schichten der bundesrepublikanischen Bevölkerung, die bereits unterm Nazifaschismus gegen den Kommunismus indoktriniert worden waren, ohne merklichen Widerspruch hingenommen. Lediglich Adenauers forcierte Remilitarisierungsmaßnahmen im Rahmen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und dann der NATO stießen anfänglich – nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs – unter der gleichen Bevölkerung auf erhebliche Widerstände, die vor allem von der SPD, den Gewerkschaften, nahmhaften Politikern wie Gustav Heinemann, Vertretern der protestantischen Kirche wie Helmut Gollwitzer und Martin Niemöller sowie führenden Atomwissenschaftlern unterstützt wurden. Doch selbst in diesem Punkt konnte sich der zusehends autokratisch regierende Adenauer durchsetzen, da er aufgrund des ständig steigenden Wohlstands nur allzu genau wußte, daß in der Politik letztlich nicht die ideologische Orientierung, sondern stets der ökonomische Erfolgsfaktor den entscheidenden Ausschlag gibt. Demzufolge errangen er und seine Partei bei den Bundestagswahlen im Jahr 1957 sogar die absolute Mehrheit, was sie darin bestärkte, die „Westbindung“ der Bundesrepublik noch weiter zu forcieren und eine „Politik der Stärke“ gegenüber dem Osten zu befürworten. Doch auch in vielen anderen Fragen erwies sich Adenauer als ein „Kanzler der einsamen Entscheidungen“, der keine Volksabstimmungen zuließ und sich oft genug über demokratische Verhaltensformen hinwegsetzte. Wie eigenmächtig er dabei manchmal vorging, beweist schon in den frühen fünfziger Jahren seine Haltung bei der Wahl einer Nationalhymne für die eben entstandene westdeutsche Bundesrepublik. Obwohl der Bundestag den Antrag einiger rechtsgerichteter Abgeordneter, das durch die Nazifaschisten aus dem Nationalliberalen ins Chauvinistische korumpierte Deutschlandlied zur Nationalhymne zu erklären, mehrheitlich ablehnte und sich auch Bundespräsident Theodor Heuss, dem laut Verfassung eigentlich das Entscheidungsrecht in solchen Fragen zustand, gegen dieses Lied aussprach, ergriff Adenauer bereits am 18. April 1950 bei einer Kundgebung im Westberliner Titaniapalast einfach die Initiative und forderte alle Anwesenden am Schluß seiner Rede auf, die dritte Strophe dieses Lieds, die mit der Zeile „Einigkeit und Recht und Freiheit“ beginnt, zu singen, um so dem nationalen Alleinvertretungsanspruch der BRD auch auf dieser Ebene eine ideologische 326  Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation

Untermauerung zu geben. Die meisten SPD-Mitglieder verließen daraufhin den Saal, während sich die drei Westberliner Stadtkommandanten verwundert ansahen. Allerdings gab sich Theodor Heuss nach diesem Handstreich nicht sofort geschlagen und drang weiterhin auf einen Traditionsbruch. So ließ er am Sylvesterabend 1950 nach seiner offiziellen Rundfunkansprache probeweise als neue Nationalhymne das Lied Land des Glaubens, deutsches Land! Land der Väter und der Erben nach einem von Hermann Reutter vortonten Text von Rudolf Alexander Schröder anstimmen. Doch der von Heuss erhoffte Widerhall unter den westdeutschen Bürgern und Bürgerinnen war gering. Das gleiche gilt für die Versuche, das Lied Ich hab’ mich ergeben oder die Schillersche Hymne an die Freude als neue Nationalhymnen einzubürgern. Im Vertrauen auf Adenauers nationalkonservative Haltung ließen daher die Rechten in diesem Punkt nicht locker. Dafür spricht unter anderem die Broschüre Um das Deutschlandlied, die 1951 erschien und in der sich einige Vertreter der „völkisch“ gesinnten älteren Garde, wie Edwin Erich Dwinger, Wilhelm Furtwängler, Hans Grimm, Erwin Guido Kolbenheyer und Will Vesper, für die Beibehaltung des Deutschlandlieds einsetzten. Doch Heuss blieb weiterhin standhaft. Erst als ihm Adenauer in einem Brief geradezu die Pistole auf die Brust setzte, gab Heuss letztendlich nach und ließ am 6. Mai 1952 zu, die dritte Strophe dieses Lieds zur westdeutschen Nationalhymne zu erklären, beteuerte allerdings in einem Brief an Adenauer noch einmal ausdrücklich, daß es ihm in diesem Punkt eigentlich um „einen tiefen Einschnitt in unserer Volks- und Staatengeschichte“ gegangen sei, er jedoch den „Traditionalismus und sein Beharrungsbedürfnis unterschätzt“ habe. Wie Recht Adenauer in seiner Einschätzung des Deutschlandlieds als der einzig möglichen westdeutschen Nationalhymne haben sollte, zeigte sich erstmals 1954 nach dem legendären Sieg der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft in Bern, als die deutschen Zuschauer einfach spontan „Deutschland, Deutschland über alles“ sangen. Ebenso hartnäckig verhielt sich Adenauer in allen anderen Fragen, in denen es um Entscheidungen zugunsten eines Alleinvertretungsanspruchs der BRD gegenüber der von ihm weiterhin scharf abgelehnten „Sowjetzone“ ging, die kein vollgültiger Staat, sondern lediglich ein Anhängsel der Sowjetunion sei. In Anlehnung an jene Vertreter der USamerikanischen Außenpolitik, die im Hinblick auf die Länder des OstDie ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation   327

58 Von den Vereinigten Landsmannschaften Mitteldeutschlands herausgegebene Postkarte gegen die Teilung Deutschlands (um 1960)

blocks nicht mehr von Containment, sondern von Rollback oder gar Liberation sprachen, vertrat auch er im Laufe der fünfziger Jahre zusehends eine „Politik der Stärke“, die manchmal fast an ältere Kreuzzugsparolen erinnerte. Unterstützt wurde er dabei unter anderem von seinem Außenminister Heinrich von Brentano, der 1955 – anläßlich der Tausendjahrfeier des Siegs Ottos I. über die Ungarn auf dem Lechfeld und zugleich der Zurückdrängung der Slawen bis zur Oder – eine Rede hielt, in der es nicht an latenten Anklängen an einen gleichgearteten, mit „abendländischem“ Pathos erfüllten Ausdehungsgeist fehlte. Und das im gleichen Jahr, als zugleich auf Drängen Adenauers die Remilitarisierung der Bundesrepublik begann und ein alter Nationalkonservativer wie Hans-Joachim Schoeps in den Kasernen der Bundeswehr eine revisionistisch gestimmte Rede unter dem Titel Preußens Gloria hielt, in der er erklärte, daß er erst dann wieder glücklich sein könne, wenn über Breslau, Danzig und Königsberg die deutsche Fahne wehen würde. Ja, am 7. Januar 1956 erschien im Reichsruf, einer Wochenzeitung für das nationale Deutschland, die von der Deutschen Reichspartei (DR) her328  Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation

ausgegeben wurde, folgende Ergänzungsstrophe zum Deutschlandlied: „Über Länder, Grenzen, Zonen / hallt ein Ruf, ein Wille nur, / überall wo Deutsche wohnen, / zu den Sternen hallt der Schwur: / Niemals werden wir uns beugen, / nie Gewalt für Recht anseh’n, / Deutschland, Deutschland über alles / und das Reich wird neu ersteh’n.“ Doch letztlich waren es weniger solche Parolen, welche die Mehrheit der westdeutschen Bürger und Bürgerinnen hören wollten, als die sich ständig überbietenden Erfolgsmeldungen auf ökonomischem Gebiet. Was scherten sie die Lippenbekenntnisse zur Stärkung des deutschen Nationalbewußtseins oder irgendwelche im Bereich des Ideologischen ausgefochtene Kreuzzugsvorstellungen gegen den „Osten“, solange es keine Arbeitslosen mehr gab und der materielle Wohlstand von Jahr zu Jahr zunahm? Selbst die Splitterparteien im rechten politischen Spektrum, wie die Deutsche Reichspartei und der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), die in der Notstandssituation zu Beginn der fünfziger Jahre noch eine gewisse Rolle gespielt hatten, verloren daher immer mehr Stimmen bei den jeweils anstehenden Wahlen. „Warum noch rechts wählen, solange Adenauer und die CDU/CSU am Ruder sind?“, fragten sich viele Westdeutsche. „Und warum noch links, das heißt die auf Veränderung drängende SPD, wählen?“, erklärten die gleichen Bevölkerungsschichten und verhalfen somit, wie gesagt, Adenauers Regierungspartei bei den 1957 stattfindenden Wahlen zu ihrer nie wieder eingeholten absoluten Mehrheit im Bundestag. Und diese Reaktion bewegte schließlich selbst die CDU/CSU gegen Ende der fünfziger Jahre, sich lieber auf ihre greifbaren ökonomischen Erfolge als auf einen abstrakt bleibenden nationalen Alleinvertretungsanspruch zu berufen. Vor allem die Industriemanager und die auf sie hörenden Volkswirtschaftler, Soziologen, Historiker und Popularphilosophen behaupteten dementsprechend in diesen Jahren immer wieder, daß die westdeutsche, an der US-amerikanischen Consumer Society orientierte Wirtschaftswunder- oder Wohlstandsgesellschaft nur Vorteile und keinerlei Nachteile habe. Sie sahen deshalb in jeder Form von Kritik, ob nun von rechts oder links, an den in der BRD erreichten Zuständen nur noch eine republikfeindliche Haltung. Welchen Optimismus manche dabei hegten, geht beispielsweise aus dem Aufsatz Konsum und Kultur (1955) des damals hochgeschätzten Soziologen Arnold Gehlen hervor, dem ein Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation   329

Vertrauen auf die Richtigkeit des eingeschlagenen Kurses zugrunde lag, das auf die These hinauslief: „Die Mittelausstattung der Bevölkerung ist im Durchschnitt so hoch wie zu keiner anderen Zeit der deutschen Geschichte. Wirtschaftlicher Wohlstand ist erstrebt und erreicht worden, es liegt kein Grund vor, ein Nachlassen der langfristigen Steigerung zu befürchten.“ Im gleichen Sinne schrieb Ludwig Erhard 1957 in seinem Buch Wohlstand für Alle, daß in der von ihm initiierten Wohlstandsgesellschaft das bislang „für unumstößlich gehaltene Gesetz von dem konjunkturzyklischen Ablauf des Geschehens“ endgültig obsolet geworden sei. Als den Hauptantriebsfaktor, diesen Kurs erfolgreich beizubehalten, bezeichnete er deshalb die durch einen leistungsbetonten Wettbewerb angekurbelte industrielle Produktivität. Überhaupt fand er es richtiger, „alle einer Volkswirtschaftschaft zur Verfügung stehenden Energien auf die Mehrung des Ertrags auszurichten“, statt „sich in Kämpfen um die Distribution des Ertrages zu zermürben“. Die wirkliche „Demokratisierung“ der westdeutschen Gesellschaft habe sich, betonte er, im Rahmen jener Marktwirtschaft vollzogen, durch die der „Kunde“ – aufgrund einer unumschränkten „Konsumfreiheit“ – endlich wieder „König“ geworden sei. Und die Wähler hätten diese „Absage an ältere Klassenkampfparolen anläßlich der beiden letzten Bundestagswahlen“, wie Erhard selbstgefällig behauptete, ja auch in „überzeugender Weise honoriert“. Daher sei es sinnlos, sich im Rahmen der von ihm geschaffenen Wirtschaftsnation, weiterhin an irgendwelche „veralteten“ Ideologien anzuklammern. Das solle man lieber den totalitären und damit in ökonomischer Hinsicht zwangsläufig ineffektiven Regimen im Osten überlassen. Die Bundesrepublik, erklärte er, brauche keine sogenannte staatstragende Weltanschauung. In ihr sollten lediglich dem „persönlichen Bereicherungsdrang des Einzelnen so wenige Schranken wie nur möglich entgegengesetzt werden“. Alle ins Positive drängenden Energien, folgerte er abschließend, würden sich daraus von selbst ergeben.

III Nachdem Adenauer in den fünfziger Jahren – trotz laustarker Proteste der SPD und der Gewerkschaften gegen die Remilitarisierung der BRD – fast alle seine außen- und innenpolitischen Entscheidungen mit eiser330  Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation

59 Wahlplakat der CDU mit dem Köpfen Konrad Adenauers und Ludwig Erhards (1961)

ner Energie durchsetzen konnte, wurden seine letzten drei Amtsjahre zwischen 1960 und 1963 von mehreren Mißerfolgen überschattet, durch die er das Wohlwollen der ihm bisher vertrauenden Wählergruppen allmählich verlor. Vor allem sein Versuch, ein seiner Regierung unterstelltes Deutschland-Fernsehen einzurichten, sowie sein unrechtmäßiges Verhalten in der gegen das Grundgesetz verstoßenden SpiegelAffäre im Oktober 1962 wurden von vielen Bundesbürgern und Bundesbürgerinnen als „undemokratisch“ empfunden. Außerdem stellten sich bei ihm, der inzwischen über 80 Jahre alt geworden war, zunehmend Alterserscheinungen ein, welche vor allem die jüngeren Wähler abstießen. Und auch seine Bemühungen, den ihm persönlich unsympathischen Protestanten Ludwig Erhard zusehends an den Rand zu drängen und damit von einer späteren Kanzlerkandidatur auszuschließen, fanden bei großen Teilen der immer noch wirtschaftswunderlich gestimmten westdeutschen Bevölkerung kein Verständnis mehr. Als daher 1961 die SPD den wesentlich jüngeren Westberliner Bürgermeister Willy Brandt als ihren Kanzlerkandidaten aufstellte, gewann zwar Adenauer noch einmal die Wahl, konnte aber nicht mehr die absolute Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation   331

Mehrheit im Bundestag erringen, sondern mußte mit der von ihm ungeliebten FDP weiterregieren und zugleich die Versicherung abgeben, daß er bereits vor der nächsten Wahl zurücktreten werde. Ja, am 15. Oktober 1963 sah er sich auf Druck der wirtschaftsorientierten Gruppen seiner eigenen Partei gezwungen, Erhard als neuen Bundeskanzler anzuerkennen. Damit übernahm zwar der weitaus populärste Politiker der BRD das Kanzleramt, verlor aber in den folgenden Jahren, als sich in der BRD die ökonomische Hochkonjunktur zusehends abschwächte, viel von seinem bisherigen Ansehen. Schließlich erwartete die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung – in naivem Vertrauen auf eine sich unaufhörlich steigernde industrielle Produktion – von ihm eine nichtendenwollende Erweiterung ihres Wohlstands. Als es daher ab 1966 – entgegen der von Erhard bis dahin immer wieder betonten Krisenfestigkeit der westdeutschen Industrie – zu ersten ökonomischen Engpässen kam, büßte Erhard das Wohlwollen, das man ihm bisher als dem „Mister Wirtschaftswunder“ entgegengebracht hatte, schnell ein. Vor allem seine „Maßhalte“-Parolen, von denen er sich eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation versprach, stießen in weiten Kreisen der lediglich an ihr materielles Wohlergehen denkenden Bevölkerung auf Widerstand. Und so trat Erhard am 30. November 1966 schließlich als Kanzler zurück und mußte zusehen, wie es angesichts der wirtschaftlichen Krisensituation zu einer Großen Koalition kam, bei der Kurt Georg Kiesinger von der CDU das Kanzleramt übernahm und der Sozialdemokrat Willy Brandt Vizekanzler wurde. Allerdings war es nicht allein die völlig unvorhergesehene ökonomische Rezession, die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zu einem politischen Stimmungsumschwung in der BRD beitrug, sondern auch das steigende Ansehen der SPD, die zwar in den Bundestagswahlen der Jahre 1961 und 1965 nicht die erhoffte Mehrheit erzielte, aber einen Großteil der westdeutschen Intellektuellen und E-Kultur-Vertreter, die sich bisher – aus Abneigung gegen den propagandistisch überzogenen Antikommunismus – als sogenannte konformistische Nonkonformisten weitgehend aus der Politik herausgehalten hatten, durch ihr „liberales“ Auftreten für sich gewinnen konnte. Statt weiterhin in einem „CDUStaat“ unter einem autoritären Kanzler zu leben, wollten diese Schichten endlich „mehr Demokratie wagen“, wie es in Anlehnung an Willy 332  Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation

Brandt in dem von Martin Walser 1961 herausgegebenen Sammelband Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? sowie dem von Hans Werner Richter 1965 zusammengestellten Band Plädoyer für eine neue Regierung oder Keine Alternative hieß, in welchem sich Schriftsteller und Publizisten wie Carl Amery, Hans Magnus Enzensberger, Siegfried Lenz, Peter Rühmkorf, Gerhard Szczesny, Klaus Wagenbach und andere für einen möglichst raschen Regierungswechsel zu Gunsten der SPD einsetzten. Während Erhard sowie die mit ihm liierten Industrieverbände im Hinblick auf die Bundesrepublik lediglich von einer „Wirtschaftsnation“ gesprochen hatten, faßten diese Autoren – unter Berufung auf Bücher wie Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) von Jürgen Habermas, Die deutsche Bildungskatastrophe (1964) von Georg Picht sowie die Schriften von Alexander und Margarete Mitscherlich – eine demokratisch orientierte „Staatsbürgernation“ ins Auge, in der nicht nur die wirtschaftliche Freizügigkeit, sondern auch die Idee der sozialen Gleichberechtigung aller Bürger und Bürgerinnen stärker beachtet werden sollte. Im Sinne dieser Haltung traten sie für einen konsequenten Abbau sämtlicher bisherigen Herrschaftsformen, eine kritische Öffentlichkeit in der Presse und den Massenmedien, eine durchgreifende Erweiterung der Bildungschancen, eine immer wieder verdrängte „Vergangenheitsbewältigung“, eine Ausschaltung aller älteren Nazifaschisten aus den öffentlichen Ämtern sowie eine Zurückdrängung der aus dem Kalten Krieg hervorgegangenen Kreuzzugsideologie gegen den „Osten“ ein. Solche Forderungen – bei der gleichzeitig einsetzenden ökonomischen Krisenstimmung – zu erheben, mußte notwendig zu einer bis dahin nicht vorhersehbaren Polarisierung der politischen Anschauungen in der BRD führen. Während die CDU/CSU und die SPD lange Zeit als die beiden großen „Volksparteien“ gegolten hatten, kam es jetzt zu einer Parteienaufsplitterung, welche manche der älteren westdeutschen Bürger und Bürgerinnen fast an die Zustände der späten Weimarer Republik erinnerte. Im rechten Spektrum der neuentstehenden Parteien machte dabei vor allem die am 28. November 1964 in Hannover gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) von sich reden, deren Führungskräfte bis dahin der Deutschen Reichspartei (DRP), der Deutschen Partei (DP) und der Vaterländischen Union (VU) angehört hatten. Mit deutlichen Anklängen an ältere nazifaschistische IdeologieDie ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation   333

60 Demonstration der NPD in Frankfurt am Main am 17. Juni 1978

vorstellungen vertrat diese Partei einen betont völkischen Nationalismus, das heißt plädierte für einen autoritären Staat, der auf dem „Willen der Volksgemeinschaft“ und nicht auf angeblich undeutschen Vorstellungen, wie einem subjektivistisch-überspitzten Liberalismus, einem uneingeschränkten Asylvorrecht für Ausländer sowie einer Nichtbeachtung der traditionellen deutschen Kultur, beruhen sollte. Und in der durch die ökonomische Rezession hervorgerufenen Krisenstimmung hatten solche Parolen durchaus ihre Wirkung. So gelang es etwa der von Adolf von Thadden angeführten NPD im Jahr 1966 bei der Hessenwahl 7,9 und der Bayernwahl 7,4 Prozent, 1967 bei der Wahl in Rheinland-Pfalz 6,9 und 1968 bei der Wahl in Baden-Württemberg 9,8 Prozent der Stimmen zu erhalten und somit in die dortigen Landtage einzuziehen. Auch bei den im Jahr 1969 erfolgenden Wahlen zum Bundestag erhielt sie immerhin 4,3 Prozent, verfehlte jedoch die vorgeschriebene Fünf-ProzentHürde. In den folgenden Jahren ging allerdings ihr Stimmenanteil wieder drastisch zurück, da sich – aufgrund der sich verbessernden Wirtschaftslage – mit irgendwelchen nationalistischen Parolen keine breiteren Wählermassen mehr mobilisieren ließen. Ja, selbst die in ihrem Sinne 334  Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation

herausgegebene National-Zeitung erwies sich trotz ihrer reißerischen Schlagzeilen als ein kaum beachtetes Randphänomen. Ebenso erfolglos blieben die zu diesem Zeitpunkt im linken Spektrum entstehenden Parteien, wie die 1968 gegründete Deutsche Kommunistische Partei (DKP), die Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) sowie die maoistisch ausgerichtete Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), welche zwar – aufgrund der im Gefolge der rebellischen Achtundsechziger Bewegung nach links abgewanderten Studenten – auf lokaler Ebene um 1970 einige Erfolge erzielen konnten, aber bei den anstehenden Wahlen nie genug Stimmen erhielten, um in die verschiedenen Landtage oder gar den Bundestag einziehen zu können. Im Gegensatz zur NPD unterstützten diese Parteien kaum irgendwelche nationalpolitischen Zielsetzungen, sondern vertraten eher einen ins Internationale tendierenden Sozialismus oder setzten sich für soziale Veränderungen zugunsten der „im kapitalistischen Wirtschaftssystem ausgebeuteten breiten Massen“ ein. Mit derartigen Forderungen stießen sie jedoch bei den westdeutschen Arbeitern und Arbeiterinnen, von denen sich die meisten im Zuge der wirtschaftlichen Hochkonjunktur der fünfziger und frühen sechziger Jahre mehrheitlich in relativ wohlverdienende Kleinbürger verwandelt hatten, trotz erheblicher publizistischer und kultureller Bemühungen weitgehend auf Unverständnis.

IV In der Deutschlandfrage und allen mit ihr verbundenen Problemen ergab sich nach 20 Jahren CDU/CSU-Herrschaft erst am 21. November 1969 mit der Wahl Willy Brandts zum neuen Bundeskanzler in der BRD eine völlig neue Situation. Anstatt den Ostteil Deutschlands weiterhin als einen „Unstaat“ zu diffamieren, trat Brandt bereits im ersten Jahr seiner Amtszeit für die Aufnahme staatsrechtlich geregelter Beziehungen zwischen den „beiden deutschen Staaten“ ein, wie es jetzt erstmals in Bonn auf hochoffizieller Ebene hieß. Zugleich erklärte er sich zu dementsprechenden Gesprächen mit Erich Honecker sowie Willy Stoph, dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, in Erfurt und Kassel bereit, die zu umgehenden Verkehrs- und Besuchserleichterungen zwischen der BRD und der DDR führten. Ja, ein Jahr später gab Brandt Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation   335

sogar den bis dahin stets aufrechterhaltenen staatsrechtlichen Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik auf und ließ zugleich die Frage einer späteren Wiedervereinigung Deutschlands bewußt offen, um keine neuen nationalistischen Gefühle aufkommen zu lassen. Und die Regierungen in den USA, England und Frankreich stimmten dieser Haltung aus dem gleichen Grund durchaus zu und begrüßten es, daß Brandt zwar noch keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zur DDR aufnahm, sich aber für den Austausch „Ständiger Vertretungen“ zwischen den zwei Deutschländern einsetzte. Um diese Haltung noch zu bekräftigen, traten die ehemaligen Siegermächte am 18. September 1973 dafür ein, sowohl der BRD als auch der DDR eine gleichberechtigte Mitgliedschaft in der UNO zu gewähren. Diese vertraglich festgelegte Zweistaatenregelung wurde nicht nur von der Sowjetunion und den meisten westlichen Staaten, sondern auch von vielen west- und ostdeutschen Bürgern und Bürgerinnen durchaus begrüßt. Damit war die Frage einer gesamtdeutschen Nation, mochten darüber auch einige rechtsradikale Splittergruppen und revanchistisch eingestellte Heimatvertriebenenverbände noch so empört sein, erst einmal vom Tisch. Von nun an bestanden kaum noch Menschen in der BRD auf der bis dahin immer wieder erhobenen Forderung nach „freien Wahlen“, einer Aufrechterhaltung der Hallstein-Doktrin sowie dem besagten Alleinvertretungsanspruch ihres Staates, sondern fanden sich mit dem von Willy Brandt und Erich Honecker festgelegten Status quo ab. Schließlich gäbe es ja, behaupteten viele, auch andere deutschsprachige Länder, wie Österreich, Liechtenstein, die Nordschweiz und Luxemburg, wo überhaupt keine deutschnationalen Gefühle herrschten. Warum sollte es darum nicht auch eine Bundesrepublik Deutschland und eine Deutsche Demokratische Republik geben? Und würde man den hohen Lebensstandard in der BRD nicht gefährden, wenn man sich mit der wesentlich ärmeren DDR zusammenschließen würde, fragten sich andere, eher materialistisch eingestellte Bundesbürger und -bürgerinnen? Irgendwelche Wiedervereinigungserwartungen traten daher in der SPD-Ära unter Willy Brandt sowie unter Helmut Schmidt, der 1974 das Kanzleramt übernahm, immer stärker in den Hintergrund. Auf die Frage „Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an ‚Deutschland‘ denken?“, kreuzten demzufolge 1976 in einer der üblichen Meinungsumfra336  Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation

gen 93 Prozent der Westdeutschen das Stichwort „Industrie“ an, während 40,5 Prozent erklärten, daß eine mögliche „Wiedervereinigung“ der beiden deutschen Teilstaaten für sie keine Bedeutung mehr habe. Ja, bei einer 1978 in der BRD durchgeführten demoskopischen Erhebung bezeichneten 52 Prozent der Befragten im Alter von 14 bis 29 Jahren die DDR schlichtweg als „Ausland“. Erst nach dem Wahlsieg der CDU/CSU und der Übernahme des Kanzleramts durch Helmut Kohl im Jahr 1982 setzte in dieser Hinsicht in der Bundesrepublik wieder eine Änderung ein. Plötzlich war in Bonn auf Seiten der Regierungsparteien erneut vom „Unstaat DDR“ die Rede, wurde gegen die Berliner Mauer polemisiert, wieder vom „Eisernen Vorhang“ gesprochen, die Grenzlinie zwischen der BRD und der DDR als ein „Todesstreifen“ hingestellt sowie ähnliche Diffamierungskonzepte aus der Rumpelkammer des Kalten Kriegs hervorgeholt. Und im Zuge dieser psychologischen Kriegsführung kam es in Westdeutschland zu einem erneuten Anschwellen nationalistischer Gefühle und Stimmungen. Dennoch blieb dort die NPD auch in den achtziger Jahren eine relativ einflußlose Splitterpartei. Das gleiche gilt für die von Gerhard Frey in diesem Zeitraum ins Leben gerufene Deutsche Volksunion (DVU), die von Franz Xaver Schönhuber gegründete Partei Die Republikaner (REP) sowie die Deutsche Liga für Volk und Heimat (DLVH), welche bei den jeweiligen Wahlen selten mehr als ein bis zwei Prozent erhielten, da vielen westdeutschen Wählern und Wählerinnen die von Helmut Kohl angeführte CDU nationalkonservativ genug erschien. Und auch die sogenannten Jungen Rechten, die sich zum gleichen Zeitpunkt in Blättern wie Wir selbst, Aufbruch, Criticon und Mut im Hinblick auf die nationalistische Vergangenheit Deutschlands zu einem „revisionistischen“ Kurs bekannten und sich dabei auf Ernst Jünger, Armin Mohler und Carl Schmitt beriefen, blieben im Hinblick auf ihre Öffentlichkeitswirkung weitgehend randständig. Nicht einmal der in den achtziger Jahren stattfindende „Historikerstreit“, bei dem einige nationalkonservative Wissenschaftler den linkskritischen Interpretationen der jüngsten deutschen Geschichte entgegenzutreten versuchten, drang kaum über den Bereich des Akademischen hinaus. Die Hauptrolle bei der Wiederbelebung des nur vorübergehend ausgesetzten Kalten Kriegs fiel deshalb in diesem Zeitraum Helmut Kohl zu. Im Vertrauen auf die Unterstützung der Vereinigten Staaten unter Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation   337

Ronald Reagan und dessen Hochrüstungskampagne gegen die Sowjet­ union sowie in Übereinstimmung mit der bereits 1979 einsetzenden ideologischen Wühlarbeit des polnischen Papstes Johannes Paul II. bemühte er sich nachdrücklich, wieder an den staatsrechtlichen Alleinvertretungsanspruch Adenauers anzuknüpfen, und begann erneut, von unseren „armen Brüdern und Schwestern im Osten“ zu sprechen, die noch immer die politischen und wirtschaftlichen Segnungen des Westens entbehren müßten. Als es daher im Zuge jener der Sowjetunion durch die USA aufgezwungenen Hochrüstung und den damit verbundenen Engpässen in der Konsumgüterproduktion vieler Ostblockländer kam, gaben im Hinblick auf die beiden deutschen Teilstaaten sowohl die USA als auch die BRD ihre bis dahin vertretene Zweistaatenlehre wieder auf und drängten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln auf einen möglichst baldigen Anschluß der DDR an die Bundesrepublik. Und dieser Augenblick trat am 9. November 1989 ein, als viele Ostdeutsche in einer nicht mehr aufzuhaltenden Protestdemonstration die Berliner Mauer durchbrachen, um auch an der „Konsumwelt des kapitalistischen Westens“ teilzuhaben. Wenn Ludwig Erhard noch gelebt hätte, hätte er das sicher als einen Sieg seiner Strategie der „vollen Schaufenster“ bezeichnet, an der selbst jede noch so wohlgemeinte „Ideologie“ scheitern würde.

338  Die ehemalige Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation

Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

I Trotz der geradezu überschäumenden Begeisterungswelle, welche der Berliner Mauerdurchbruch am 9. November 1989 unter großen Teilen der ost- und westdeutschen Bevölkerung auslöste, vollzog sich die erhoffte Wiedervereinigung der beiden Deutschländer nicht so schnell, wie viele Menschen erwartet hatten. Dazu waren die politischen und sozioökonomischen Strukturen diesseits und jenseits der Elbe einfach zu verschieden. Und obendrein hatten auch die ehemaligen Siegermächte, die sich nie zu einem Friedensvertrag mit der BRD und der DDR entschließen konnten und nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden Staaten starke Truppenkontingente hinterlassen hatten, in dieser Angelegenheit ein gewichtiges Wort mitzureden. Ihre Haltung war anfangs recht unterschiedlich. Während die USA unter ihrem Präsidenten George H. W. Bush sofort für die Bildung eines einheitlichen deutschen Nationalstaats im Rahmen des NATO-Bündnisses eintrat, befürchteten die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens unter François Mitterand und Margaret Thatcher, daß dies zu einem Wiedererstarken des deutschen Nationalismus und damit zu einer Störung des europäischen Gleichgewichts führen könne. Doch beide lenkten in diesem Punkt bereits im Februar 1990 ein, so daß anschließend die sogenannten Zwei-plus-VierVerhandlungen der vier Siegermächte mit der westdeutschen Regierung unter Helmut Kohl und der ostdeutschen Regierung unter Hans Modrow beginnen konnten. Die Führungsspitze der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow verhielt sich dagegen in dieser Frage anfangs wesentlich zögerlicher und verlangte – vor allem in militärischer Hinsicht – eine Reihe von Sicherheitsvorkehrungen. Sie bestand vor allem darauf, daß der neuzubildende deutsche Staat kein Mitglied der NATO sein dürfe, sondern in eine entmilitarisierte Zone verwandelt werden müsse. Dem widersetzten sich jedoch die Westmächte solange, bis Gorbatschow schließlich in diesem Punkte nachgab. Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   339

Unterdessen wurde auch in West- und Ostdeutschland weiterverhandelt, um eine mögliche Wiedervereinigung vorzubereiten. Der Kurs der Kohl-Regierung war von Anfang an klar. Sie bestand auf einer möglichst raschen Integration der DDR in den westdeutschen Staatsverband, und zwar sowohl in politischer und militärischer als auch in sozioökonomischer Hinsicht. In Ostberlin sperrten sich dagegen die neugebildeten Reformkreise innerhalb der früheren Blockparteien, die zum großen Teil aus der ostdeutschen Friedensbewegung kamen und deren zentrales Verhandlungsforum der sogenannte Runde Tisch war, gegen den NATOAnschluß und unterstützten anfangs im Sinne Gorbatschows die Vorstellung eines entmilitarisierten Status für das wiederzuvereinigende Deutschland. Da jedoch Gorbatschow schon Anfang 1990 in seinem eigenen Land in immer größere Schwierigkeiten geriet, wurde seine Position in all diesen Verhandlungen zusehends schwächer und er gab schließlich im Juli 1990 fast alle seine Forderungen im Hinblick auf eine deutsche Wiedervereinigung auf, ja stimmte sogar zu einem Rückzug seiner Truppen aus der DDR zu und erhielt dafür am 10. September zur Stärkung seiner Position innerhalb der UdSSR die stattliche Summe von 5 Milliarden DM-Mark überwiesen. Und damit waren die Weichen für einen von den früheren Siegermächten gebilligten Einigungsvertrag endgültig gestellt. Was sich inzwischen in der DDR ereignet hatte, war Folgendes. Nach dem Mauerfall drängten die Reformkreise am 28. November 1989 in einem Appell „Für unser Land“ erst einmal darauf, die DDR als eine eigenständige sozialistische Alternative zur westdeutschen Bundesrepublik zu erhalten, in der weiterhin linke Leitideen, wie „unentgeltliche Bildung“, „Grenzen für den Erwerb von Eigentum“ sowie „Teilhaberechte im Bereich Arbeit, Wirtschaft und Umwelt“, vorherrschen sollten. Und dieser Appell wurde sogar von 1,5 Millionen DDR-Bürgern und -Bürgerinnen unterzeichnet. Doch schon im folgenden Februar schlug das politische Stimmungsbarometer zu Gunsten jener Bevölkerungsschichten um, die durchaus bereit waren, auf die staatliche Souveränität der DDR zu verzichten. Daraufhin entschied der Runde Tisch unter dem Motto „Deutschland einig Vaterland“, am 18. März 1990 Wahlen zu einer neuen Volkskammer abzuhalten und die Entscheidung „Eigenständigkeit oder Anschluß“ der Mehrheit der Bevölkerung zu überlassen. Da sich diese Mehrheit wegen der sich ständig verschlech340  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

ternden wirtschaftlichen Situation in der DDR eine Zukunftshoffnung nur von einem möglichst schnellen Anschluß an die BRD und einer damit verbundenen Währungsumstellung versprach, um nicht wie andere ehemalige Ostblockländer in den Zustand einer niederdrückenden Armut zurückzufallen, führten diese Wahlen zu einem überwältigenden Sieg der von Kohl propagandistisch unterstützten CDU, der in Leipzig mit dem Jubelruf „Helmut! Helmut!“ empfangen wurde und der dortigen Bevölkerung versprach, Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen, die fünf neu zu gründenden Länder, durch die Segnungen der „sozialen Marktwirtschaft“, das heißt einen „freizügigen Handel“ und eine andersartige „Eigentums- und Wettbewerbsordnung“, binnen weniger Jahre in Gebiete „blühender Landschaften“ zu verwandeln. Darauf erhielt die CDU bei dieser Wahl 163 Mandate, die SPD 88 und die aus der SED hervorgegangene Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) 66 Mandate, während für die Reformer, die sich jetzt Bündnis 90 nannten, nur 12 Mandate abfielen. Ja, für irgendwelche linksradikalen Parteien, wie den Bund sozialistischer Arbeiter, die Kommunistische Partei Deutschlands, das Aktionsbündnis Vereinigte Linke sowie die Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands, stimmte fast niemand. Damit war klar, welche Wendung die in Aussicht genommene Wiedervereinigung einschlagen würde. Zum neuen Ministerpräsidenten wurde in der weiterhin bestehenden DDR am 12. April 1990 der CDUVorsitzende Lothar de Maizière gewählt, der zwischen April und Juli die ins Auge gefaßte Währungs- und Sozialunion der DDR mit der BRD vorantrieb. Allerdings führte das anfänglich zu erheblichen Spannungen. Vor allem die von einer umgehend eingerichteten Treuhandanstalt übernommenen bisherigen volkseigenen Industrieanlagen, in denen 40 Prozent aller DDR-Bewohner beschäftigt waren, gerieten durch Stillegungen oder Privatisierungsmaßnahmen sowie die sich verändernden Produktions- und Absatzbedingungen zusehends in Schwierigkeiten, zumal in diesen Monaten Tag für Tag fast 2 000 DDR-Bürger und -Bürgerinnen in den Westen abwanderten und die Übrigbleibenden von nun an lieber West- als Ostwaren kaufen wollten. Insgesamt wurden im Laufe der folgenden Wochen und Monate über 30 Prozent der ehemaligen Fabriken stillgelegt, was eine schnell anwachsende Arbeitslosigkeit bewirkte, welche vor allem viele der arbeitsfähigen Frauen betraf, von Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   341

61 Wahlplakat der CDU zur Volkskammerwahl am 18. März 1990. Mit einem Bild von Lothar de Maizière

342  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

denen bisher über 80 Prozent eine gesicherte Anstellung hatten und die sich plötzlich „ausgesperrt“ fühlten. Auch die für den 1. Juli 1990 geplante Währungsumstellung, die nicht wie Thilo Sarrazin, der Leiter des westdeutschen Referats für nationale Währungsfragen, vorgeschlagen hatte im Verhältnis von 1 zu 1, sondern im Verhältnis von 1 zu 2 durchgeführt wurde, erzeugte viel Unmut unter der ostdeutschen Bevölkerung. Daher kam es in vielen Städten der noch immer existierenden DDR im April 1990 unter dem Motto „Eins zu eins, oder wir werden niemals eins“ zu einer Reihe von Demonstrationsumzügen, die zum Teil recht vehement verliefen. Doch all das konnte den Wiedervereinigungsprozeß, dem nicht nur die vier Siegermächte, sondern auch der westdeutsche Bundestag und die ostdeutsche Volkskammer zugestimmt hatten, nicht mehr aufhalten. Demzufolge fand am 31. August 1990 die einvernehmliche Unterzeichnung des „Vertrags über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ statt, durch den aus den beiden deutschen Teilstaaten – nach vierzigjähriger Trennung – wieder ein von allen ausländischen Mächten anerkannter souveräner Nationalstaat wurde, in dem die gleichen Rechte, die gleiche Währung und die gleichen Marktgesetze herrschten. Ihren endgültigen Abschluß fanden diese Veränderungen dann am 3. Oktober 1990, der daraufhin von der gesamtdeutschen Regierung unter Helmut Kohl zum „Tag der deutschen Einheit“ erklärt wurde.

62 Titelseite der Berliner Ausgabe der Zeitung Bild vom 4. Oktober 1990 Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   343

II Dieser Tag löste noch einmal eine allgemeine Begeisterungswelle in allen Teilen Deutschlands aus, die jedoch relativ kurzlebig war. Schließlich kam es in den „Neuen Bundesländern“, wie das Gebiet der ehemaligen DDR jetzt hieß, nicht zu jenem erhofften schnellen wirtschaftlichen Aufschwung, den Helmut Kohl den Ostdeutschen versprochen hatte. Gut, das Prinzip „Freiheit“ galt nun auch in den Neuen Bundesländern, aber die mit dieser Freiheit verbundenen konkurrenzbetonten marktwirtschaftlichen Verhältnisse wurden keineswegs von allen ehemaligen DDRlern begrüßt. Viele von ihnen fühlten sich aufgrund der wirtschaftlichen Unterlegenheit und der grassierenden Arbeitslosigkeit in dem neuen „Nationalstaat Deutschland“ weiterhin als Bürger und Bürgerinnen zweiter Klasse. Sie hatten zwar ihren alten Trabant inzwischen gegen einen westdeutschen Gebrauchtwagen eingetauscht, aber das naiv erhoffte Wirtschaftswunder stellte sich keineswegs sofort ein. „Wir wollten Sozialismus und KaDeWe“, sagten viele, „und was haben wir bekommen: Kapitalismus und Aldi.“ Deshalb wanderten in den folgenden 10 Jahren, als die Arbeitslosenzahl in den Neuen Bundesländern auf 20 Prozent anstieg, fast zwei Millionen Ostdeutsche in den Westen ab, da sie sich dort wesentlich bessere Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten versprachen. Ebenso viel Unmut erzeugte der sogenannte Abwicklungsprozeß an vielen Universitäten und Akademien, durch den große Teile der ostdeutschen Intelligenz plötzlich verbitterte Arbeitslose oder Frührentner wurden. Und auch viele der führenden DDR-Schriftsteller nahmen kein Blatt vor den Mund, wenn sie sich über die neuen Verhältnisse äußerten. So schrieb etwa Volker Braun in seinem Gedicht Mein Eigentum: „Dem Winter folgt der Sommer der Begierde, / Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst. // Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. / Wann sag ich wieder mein und meine alle.“ Ja, in einem anderen Gedicht hieß es bei ihm sogar noch lapidarer: „Es ist gekommen, das nicht Nennenswerte. / Der Sozialismus geht, und Jonny Walker kommt.“ Ebenso provokant verhielt sich Heiner Müller 1990 bei seiner Hamlet-Inszenierung am Ostberliner Deutschen Theater, wo er in der Schlußszene nicht den norwegischen König Fortinbras, sondern die Deutsche Bank in das verfaulende dänische Reich einziehen ließ. Kurz darauf erklärte er mit dem ihm eigenen 344  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

Sarkasmus: „Jetzt hat der Kapitalismus nur noch einen Gegner, nämlich sich selbst.“ Doch auch im Westen ließ der Jubel über die Wiedervereinigung schnell nach. Vor allem der von Helmut Kohl im März 1993 beschlossene finanzielle Solidarpakt, welcher den zu sanierenden ostdeutschen Industrieanlagen zugute kommen sollte und im Westen zu erhöhten Steuerabgaben führte, stieß unter den bundesrepublikanischen Wohlstandsbürgern und -bürgerinnen keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Es wurde zwar in Regierungskreisen weiterhin von den „bemitleidenswerten Menschen im Osten“ gesprochen, doch das erzeugte keineswegs eine nationale Verbrüderungsstimmung. Schließlich war den meisten Westlern, Wessis oder Besserwessis, wie sie im Osten hießen, der eigene Lebensstandard doch wichtiger als irgendwelche Abgaben an jene Menschen, die 40 Jahre den Parolen eines kommunistischen Regimes gefolgt waren. Wie fast immer erwies sich selbst in dieser Situation der wirtschaftliche Faktor wesentlich meinungsbestimmender als der politische. Schön und gut, hieß es bei vielen Westdeutschen in den folgenden Jahren, wir sind jetzt wieder eine geeinte Nation. Aber dafür finanzielle Opfer zu bringen, erschien ihnen wie eine unnötige Zumutung. Demzufolge nahmen – trotz vieler mediengesteuerter Zustimmungserklärungen – die Unmutsäußerungen über die inzwischen erfolgte Wiedervereinigung im Westen keineswegs ab. Selbst die im Juni 1991 getroffene Entscheidung des Bundestags, die deutsche Hauptstadt von Bonn nach Berlin zu verlegen, mit der die Kohl-Regierung an ältere Traditionen anzuknüpfen versuchte und zugleich den „gedemütigten“ Ostdeutschen entgegenkommen wollte, wurde im Westen nicht unbedingt begrüßt. Doch zu effektiven Demonstrationen dagegen kam es nicht. Was innerhalb der westdeutschen SPD auf Widerstand stieß, war lediglich das forcierte Tempo, mit der die Integration der DDR in die neue Bundesrepublik erfolgt war. Manche Vertreter ihrer Führungsgremien, vor allem der von dieser Partei im Jahr 1990 als Kanzlerkandidat nominierte Oskar Lafontaine, hatten sich die Wiedervereinigung eher auf einer gleichberechtigten föderalistischen Basis und nicht als einen einseitigen „Anschluß“ vorgestellt und bezogen daher jetzt Front gegen die von der Kohl-Regierung beschlossenen Maßnahmen. Aber selbst solche Proteste blieben weitgehend wirkungslos. Auch in dieser Hinsicht Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   345

erwiesen sich die systemkonformen Massenmedien, die weitgehend den Kohl-Kurs unterstützten, als wesentlich einflußreicher. Das gleiche gilt für jene Einsprüche gegen die allzu rasch und ungerecht vollzogene Wiedervereinigung, die von einer Reihe westdeutscher Autoren erhoben wurden. So bezeichnete etwa Günter Grass den politischen Zusammenschluß aller Deutschen zu einer einheitlichen Staatsnation weder als notwendig noch als wünschenswert. Ja, er warf der BRDRegierung nach dem 9. November 1989 sogar vor, mit Hilfe „marktwirtschaftlicher Folterinstrumente“ die mühsam „erstrittene Eigenständigkeit der DDR“ beseitigen zu wollen und nannte den Vereinigungsprozeß ein „nationales Unglück“, einen „platten Prozeß der Markterweiterung“ bzw. einen „schamlosen Ausverkauf der Konkursmasse DDR“, durch den abermals die Gefahr einer politischen „Machtballung in der Mitte Europas“ heraufziehe. Grass zögerte daher nicht, sich einen „notorischen Feind der deutschen Einheit“ oder gar einen „vaterlandslosen Gesellen“ zu nennen, der die Furcht der Nachbarstaaten vor einem „deutschen Einheitsstaat“ durchaus verstehen könne. Demzufolge schloß er sich im Dezember 1989, wie Jürgen Habermas, Walter Jens und Christoph Hein, jenem Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder an, das im Hinblick auf die erstrebte Wiedervereinigung einen gerechten moralischen und wirtschaftlichen Lastenausgleich sowie ein politisches Konföderationsmodell befürwortete. Einen literarischen Ausdruck gab Grass dieser Haltung daraufhin 1992 in seinem von Enttäuschung zeugenden Sonettenzyklus Novemberland, in dem sich Zeilen wie die folgenden finden: „Geschieden sind wie Mann und Frau / nach kurzer Ehe Land und Leute. / Karg war die Ernte, reich die Beute. / Ach, Treuhand hat uns abgeschöpft“, und dann 1995 in seinem an Theodor Fontane geschulten Gesellschaftsroman Ein weites Feld, worin er sich nochmals gegen die mißglückte Wiedervereinigung aussprach und den Begriff „Nation“ als „bloße Schimäre“ bezeichnete, was ihm, dem bisher Vielgerühmten, in fast allen systemkonformen Gazetten üble Verrisse einbrachte. Nicht minder kritisch äußerten sich die gleichen Blätter über das schon 1991 erschienene Buch Der Turm zu Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik des zuvor ebenfalls hochgelobten Hans Mayer, in welchem er sich dagegen verwahrte, die Verhältnisse in Ostdeutschland nur von ihrem Ende her zu sehen, statt sich auch an die 346  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

hoffnungsvollen Anfänge der DDR als eines wahrhaft antifaschistischen Staats zu erinnern, und der dabei sogar ein Plädoyer für die kulturpolitischen Bemühungen Johannes R. Bechers einfügte. Die weiterhin linksliberal eingestellten Kreise in Westdeutschland stimmten Grass und Mayer zwar zu, doch letztlich blieben derartige Äußerungen im Medienrummel der dortigen Marktwirtschaftsgesellschaft notwendig randständig. Unterstützt wurde diese Tendenz gegen eine weiterhin kritisch argumentierende Literatur durch einen am 2. Oktober 1990 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheinenden Artikel Frank Schirrmachers unter dem Titel Abschied von der Literatur der Bundesrepublik, der auf die Forderung hinauslief, daß sich sowohl die west- als auch die ostdeutschen Schriftsteller von nun an wieder aufs Ästhetische bzw. Eigenpersönliche beschränken sollten, statt sich weiterhin mit anmaßlicher Pose als „Statthalter der Nation“ aufzuspielen. Dem widersprachen zwar, wie gesagt, einige Autoren, die jedoch den allgemeinen Trend nicht mehr aufhalten konnten, in der neuentstandenen Bundesrepublik einen Staat zu sehen, in dessen Literatur nicht mehr die von einem düsteren Kollektivismus überschattete Vergangenheit des Nazifaschismus oder des DDR-Kommunismus, sondern vornehmlich apolitisch erlebte Erfahrungen im Vordergrund stehen sollten. Wie erwartet, schloß sich die Mehrheit der Leser- und Leserinnen, geschwei­ge denn der nichtlesenden Käuferschichten, solchen ins Egozentrierte zielenden Tendenzen geradezu willenlos an. Ein Außenseiter wie Hans Magnus Enzensberger schrieb daraufhin Anfang 1991 voller Erbitterung über die damit verbundene Wende zu einem subjektbezogenen Materialismus: „Es ist den Deutschen nicht um den geistigen Raum der Nation zu tun, sondern um Arbeit, Wohnung, Rente, Lohn, Umsatz, Steuern, Konsum, Schmutz, Luft und Müll.“ Und auch Jürgen Habermas erklärte kurz danach fast mit den gleichen Worten, daß unter den Bürgern der BRD überhaupt kein „nationales Selbstverständnis“ mehr herrsche, sondern jeder nur noch darauf bedacht sei, was bei den „politischen Prozessen für den Einzelnen an Cash, an Gebrauchswerten herausspringe“.

Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   347

III Im Zuge dieser offiziösen Trendwende, die sicher auch ohne den durch Frank Schirrmacher, Botho Strauss und Ulrich Greiner ausgelösten „Literaturstreit“ stattgefunden hätte, traten gegen Mitte der neunziger Jahre die nationalen Belange in der allgemeinen Meinungsbildung der neuen Bundesrepublik zusehends in den Hintergrund. Überhaupt wurden nach diesem Zeitpunkt gesellschaftsrelevante Themen im kulturellen und publizistischen Bereich immer stärker von einem marktgerechten Unterhaltungstrend an den Rand gedrängt, gegen den nicht nur von „links“, sondern auch von „rechts“ kommende Reaktionen relativ machtlos waren. Zugegeben, die konservativ eingestellten Gruppen und Grüppchen ließen auch in den neunziger Jahren nicht nach, sich in der Öffentlichkeit bemerkbar zu machen, wobei ihre ins Nationale gerichteten Tendenzen zum Teil recht verschiedene Formen annahmen. Während sich die Wertekommissionen der CDU/CSU dabei vornehmlich für eine deutsch-christliche „Leitkultur“ einsetzten, bevorzugten die Intellektuellen der „Neuen Rechten“ – im Ankampf gegen einen politischen Liberalismus nach US-amerikanischem Vorbild – eher organizistische Gemeinschaftsideologien, die vor allem von nationalbewußten Gesichtspunkten à la Ernst Jünger, Carl Schmitt oder Arthur Moeller van den Bruck ausgingen. So schrieb etwa Ernst Nolte 1993 in einem von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht herausgegebenen Bekenntnisband unter dem Titel Die selbstbewußte Nation, daß „der Liberalismus, sofern er sich zum Liberismus fortentwickelt oder von diesem abgelöst wird“, die bestehenden Nationen zwangsläufig unterminieren, ja „töten“ würde und daher Deutschland wohlberaten sei, sich wieder auf seine angestammten Wertvorstellungen zu besinnen. Doch selbst solche Stimmen, mochten sie auch noch so apokalyptisch klingen, gingen schon nach kurzer Zeit in einer von allen provokanten zeitpolitischen Problemen ablenkenden Funk-, Film- und Fernsehbetriebsamkeit unter. Etwas mehr Aufmerksamkeit erregten lediglich die Aktivitäten der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) und der Deutschen Volksunion (DVU), die im Zuge ihrer 1991 einsetzenden Radikalisierung keineswegs auf gewisse nazifaschistisch klingende Parolen verzichteten, wofür Günter Deckert, der Vorsitzende der NPD, im Jahr 1995 wegen Volksverhetzung zu einer mehrjährigen 348  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

63 Franz Xaver Schönhuber vor einem Wahlplakat der NPD (1990)

Haftstrafe verurteilt wurde. Eine ähnliche Haltung nahmen nach der Wende die sogenannten Republikaner unter Franz Xaver Schönhuber ein, der gegen Ende der neunziger Jahre von der DVU mehrfach als Wahlkandidat aufgestellt wurde und nicht nur mit Horst Mahler das Buch Schluß mit dem deutschen Selbsthaß (2001) veröffentlichte, sondern auch für Blätter wie das von Gerhard Frey herausgegebene DVUOrgan National-Zeitung sowie die Zeitschrift Nation und Europa rechtsextremistische Artikel verfaßte. Doch trotz all dieser Bemühungen blieben derartige Parteien, wie auch die Freiheitliche Arbeiterpartei (FAP) oder die Deutsche Alternative (DA), bei den anstehenden Wahlen stets unter der vorgeschriebenen Fünf-Prozent-Hürde. Die meisten dieser nationalistisch eingestellten Gruppierungen gingen dabei in ihren Proklamationen von der Vorstellung aus, daß man von einem deutschen „Volk“ erst dann wieder sprechen könne, wenn es sich als ethnische Einheit verstehe und jedwede fremdvölkische „Überfremdung“ radikal ablehne. Deshalb traten sie – unterstützt von neonazistischen Kameradschaften sowie den Rockbands Landser und Störkraft – ohne die geringsten Skrupel in aller Offenheit für eine prinzipielle „Ausländerfeindlichkeit“ ein. Im Sinne solcher Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   349

Parolen bekannte sich Holger Apfel, der Vorsitzende der NPD in Sachsen, 1998 in seiner Eröffnungsrede zum Ersten Tag des nationalen Widerstands zu einer grundsätzlichen Ablehnung des herrschenden „Systems“ in der BRD und rief die Mitglieder dieser Partei auf, im Gefolge eines gesteigerten nationalen Selbstbewußtseins alle einseitigen „Sühnebekenntnisse“ im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg abzulehnen. Stattdessen solle man lieber, wie er erklärte, der „deutschen Opfer der alliierten Bombenangriffe auf Dresden“ gedenken, die „Macht des Zentralrats der Juden brechen“ und dafür eintreten, daß Schlesien, OstPommern, Ost-Brandenburg und Ostpreußen wieder Teile eines neu zu schaffenden deutschen Reichs würden. Ihre schärfste Ausprägung erlebten derartigen Forderungen, als es im Jahr 2000 fast zu einem Verbot der NPD gekommen wäre, gegen das sich diese Partei in vielen deutschen Städten mit propagandistisch aufgezogenen Umzügen zur Wehr zu setzten suchte. Skinhead-Gruppen wie die Kameradschaft Germania in Berlin, die Weiße Offensive in Halle, der Nationale Widerstand in Magdeburg und der Kreisverband der NPD in Göttingen appellierten dabei mit teils gerechtfertigten, teils ungerechtfertigten Werbesprüchen wie „Volksgemeinschaft statt EU-

64 Demonstration von NPD-Anhängern am 1. Mai in Berlin-Hellersdorf (2000)

350  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

Diktatur“, „One World stoppen“, „Arbeit zuerst für Deutsche“, „Nicht Kapitalismus! Nicht Kommunismus! Für deutschen Sozialismus!“, „National aus sozialer Verantwortung“, „Arbeit für Millionen statt Profit für Millionäre“ und „Stoppt den amerikanischen Imperialismus“, die jedoch wegen ihrer nazistischen Verbrämung mit schwarz-weiß-roten Fahnen, Hakenkreuzen und Berufungen auf die unbefleckte „Ehre“ der NS-Wehrmacht von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung abgelehnt wurden. Erfolge erzielte die NPD mit solchen Parolen lediglich bei unbelehrbaren Altnazis sowie Teilen der durch die grassierende Arbeitslosigkeit in Not geratenen Jugendlichen, denen die Führer dieser Partei das Leitbild einer nationalen Verbrüderung vorgaukelten, die in einer „unsozialen Marktwirtschaft“, wo jeder gegen jeden stehe, nicht möglich sei. Noch den meisten Anklang fand die NPD mit derartigen Anschauungen in einigen wirtschaftlich schlechter gestellten Regionen Ostdeutschlands, wo sie sogar vorübergehend in die dortigen Länderparlamente einziehen konnte. So entschieden sich in Sachsen im Jahr 2004 9,2 Prozent und im Jahr 2006 in Mecklenburg-Vorpommern 7,3 Prozent der Wähler für sie, wobei hauptsächlich achtzehn- bis vierundzwanzigjährige Erstwähler für sie stimmten. Dagegen votierten bei der Bundestagswahl im Jahr 2009 nur 1,5 Prozent und im März 2011 bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt nur 4,6 Prozent der Wähler für diese Partei. Genauer betrachtet, war also dieser Rechtsextremismus mit seinen nationalistischen Maximen bloß auf lokaler Ebene erfolgreich und auch dort nur in einigen ökonomisch benachteiligten Gebieten, wo sich die arbeitslosen Jugendlichen von den sogenannten „Volksparteien“, das heißt der CDU und der SPD, im Stich gelassen fühlten. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung distanzierte sich dagegen im Laufe der neunziger Jahre immer deutlicher von solchen Konzepten. Überhaupt hatte ein übertriebener Nationalismus in der Folgezeit keinen besonders hohen Kurswert mehr. Vor allem jene Jugendlichen, die nicht von der weiterhin anhaltenden Arbeitslosigkeit bedroht waren, empfanden sich seit Mitte der neunziger Jahre – im Zuge der sich verstärkenden Globalisierung – eher als Europäer denn als Deutsche. Nationalgefühle flackerten deshalb meist nur dann auf, wenn es um die Weltmeisterschaft im Fußball oder im Kampf um die Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen ging. Lediglich bei solchen Anlässen wurden plötzlich schwarzrot-goldene Fähnchen geschwenkt oder die dritte Strophe des DeutschNationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   351

landlieds gesungen. Ansonsten traten Begriffe wie „Volk“ oder „Nation“ – außer am 3. Oktober, dem offiziellen „Tag der deutschen Einheit“ – immer stärker in den Hintergrund. Auf der gleichen Linie lag die Tendenz, daß in anspruchsvolleren publizistischen Verlautbarungen jetzt in dieser Hinsicht eher der von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas in Anlehnung an die USA geprägte Begriff „Verfassungspatriotismus“ gebraucht wurde, statt von einer „deutschen Nation“ oder einem „einig Vaterland“ zu sprechen. Auch Rückbezüge auf Begriffe wie „deutsche Kulturnation“ oder „deutsche Leitkultur“ nahmen gegen Ende der neunziger Jahre wieder merklich ab. Wenn überhaupt noch der Begriff „Nation“ auftauchte, dann meist in Form einer auf dem Grundgesetz beruhenden „Staatsbürgernation“ oder „Zivilgesellschaft“, in der es – im Sinne positiv verstandener Political Correctness-Vorstellungen – keine ethnischen, rassischen oder sexistischen Vorurteile mehr geben dürfe. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler nannte das den endgültigen Abschied von der Vorstellung eines „deutschen Sonderwegs“ sowie einer inzwischen im Zuge der gesamteuropäischen Integration obsolet gewordenen Idee eines sich durch besonders hervorstechende Merkmale auszeichnenden Nationalstaats.

IV Aber selbst derartige Konzepte, so wohlgemeint sie waren, fanden innerhalb der deutschen Bevölkerung der Nachwendezeit keinen rechten Anklang mehr. Ihr wurde zwar in vielen Massenmedien unentwegt eingeredet, sich endlich wieder als „Deutsche“ und nicht mehr als BDRler oder DDRler zu fühlen, aber damit verbanden die meisten weder etwas politisch noch kulturell Verbindliches. Das gleiche gilt für das nichtendenwollende Identitätsgerede, das in den neunziger Jahren im Bereich akademischer Theoriebildungen aufkam. Schließlich konnten sich die meisten Bundesbürger und Bundesbürgerinnen unter einer „deutschen Identität“ nichts wirklich Konkretes vorstellen. Auch solche Fragen traten daher schnell wieder in den Hintergrund. Was die Mehrheit der deutschen Bevölkerung in der Folgezeit wesentlich vordringlicher beschäftigte, waren ganz andere Dinge: ihr berufliches Fortkommen sowie die ihnen von der Techno- und Freizeitindustrie angebotenen Ver352  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

gnügungen, ob nun Filme, Fernsehsendungen, Popmusik, touristische Erlebnisse, exotische Kochrezepte, Wellness-Kuren, billige Telefonanschlüsse, digitale Kameras, Internet-Surfing, Videospiele und dergleichen mehr. Da jedoch für viele der sie bisher befriedigende Beruf – im Rahmen der auf gesteigerte Mobilität und Automation gegründeten Marktgesellschaft – mehr und mehr zu einem entfremdeten Job degenerierte, nahm zugleich der sinnstiftende Charakter derartiger Freizeitbeschäftigungen immer stärker ab, zumal spezifisch wertbetonte Probleme oder Fragestellungen innerhalb der sich globalisierenden Medienangebote ohnehin nur noch eine untergeordnete Rolle spielten. Auf von demoskopischen Instituten gestellte Fragen wie „Was leistet die Berliner Republik mehr als die Produktion von Konsumgütern?“, „Sind Sie ein freier Bürger in einem freiheitlichen Staat?“ oder „Was bedeutet Ihnen die Nation, zu der Sie gehören?“, reagierte daher die Mehrheit recht hilflos. Und doch enthielten ihre ausweichenden Antworten meist nur die halbe Wahrheit. Viele Deutsche konnten zwar bei solchen Meinungsumfragen nicht definieren, was sie als spezifisch „deutsch“ bezeichnen würden oder zu welchen politischen, sozialen oder kulturellen Wertvorstellungen sie sich als Bürger und Bürgerinnen der Berliner Republik bekennen sollten, lehnten aber vieles „Undeutsche“, so sehr sie es in anderen Ländern, wie Italien, Frankreich, Spanien oder den USA, zu schätzen wußten, im eigenen Lande ab. Und zwar galt und gilt das vor allem im Hinblick auf die vielen Türken, die seit den sechziger Jahren – in der Wirtschaftswunderzeit – als billige Arbeitskräfte in die ehemalige Bundesrepublik gelockt wurden und die inzwischen durch Zuzügler und reichlichen Kindersegen auf fast drei Millionen angewachsen sind. Während sich italienische Restaurantbesitzer weiterhin einer großen Beliebtheit erfreuen, empfindet die Mehrheit der Bundesrepublikaner den muslimischen Türken bis heute noch immer ein Gefühl der Fremdheit gegenüber. Daß sie eine andere Religion haben, an ihren hergebrachten Sitten und Gebräuchen festhalten sowie sich häufig in kolonieartigen Wohnvierteln abschließen, wird dieser Völkergruppe, die sich offenbar mehrheitlich nicht integrieren will, von vielen Deutschen – trotz aller vordergründigen Toleranz – weiterhin verübelt. Und das äußerte sich nicht nur in der lange diskutierten „Kopftuch“-Frage, sondern auch über die Türken im allgemeinen, die sich endlich, wie oft Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   353

erklärt wurde, den in Deutschland herrschenden Gepflogenheiten anpassen und vor allem besser deutsch sprechen sollten. Obwohl sich also viele Bundesbürger und -bürgerinnen gar nicht mehr primär als „Deutsche“ fühlen, verhalten sie sich in dieser Hinsicht so, als seien sie Bürger eines Nationalstaats, der eine klare „Identität“ hat und auf den man stolz sein kann. Kein Wunder daher, daß es schon seit den siebziger Jahren in der westdeutschen Bundesrepublik zu vereinzelten Gewalttaten gegen muslimische oder auch farbige Ausländer kam, die in der wirtschaftlichen Notsituation der Nachwendezeit, als in der DDR viele Jugendliche ihre Jobs verloren, auch auf ostdeutsche Städte wie Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen übergriffen. Doch es waren nicht nur vereinzelte Gewalttaten in Form von Brandanschlägen oder Raubmorden, in denen sich diese Mißstimmung gegenüber den Türken äußerte. Dazu kam auch das ängstliche Gefühl, daß die Kinderlosigkeit vieler Deutscher, auf die beispielsweise der Spiegel schon in seiner Ausgabe vom 24. März 1975 unter dem Titel Mehr Sex – weniger Babys. Sterben die Deutschen aus? hingewiesen hatte, sowie der reichliche Kindersegen der Muslime zu einer schleichenden „Vertürkung“ Deutschlands führen würde. Schließlich hatten im Jahr 1950 in der Türkei nur 20 Millionen und in der ehemaligen BRD 65 Millionen Menschen gelebt, während im Jahr 2000 die Zahl der Türken in ihrem eigenen Land bereits auf 63 Millionen Menschen angewachsen war und die sogenannte einheimische Bevölkerung der Berliner Republik allmählich abzunehmen begann. Und das mußte bei den deutschen Unterschichten, von denen viele in die Hartz IVKlasse abgesunken waren und sich ebenfalls wie die Türken um billige Arbeitsplätze bemühten, zwangsläufig zu erbitterten Konkurrenzgefühlen führen. Nur so ist der sensationelle Erfolg des Buchs Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen von Thilo Sarrazin zu verstehen, das – nach verschiedenen Vorabdrucken im Spiegel und in BILD – im Herbst 2010 binnen kurzer Zeit in 10 Auflagen erschien und über eine Million Leser und Leserinnen erreichte. Dieses Buch, in dem es fast ausschließlich um die Enttabuierung der „Türkenfrage“ ging, löste eine Ausländerdebatte aus, die es in dieser Breite und Öffentlichkeit bis dahin kaum gegeben hatte. Indem es eine radikale Beschränkung der Zuzugsmöglichkeiten muslimischer Migranten forderte, fand es bei den Rech354  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

ten eine lebhafte Zustimmung, während es den Liberalen als „politically incorrect“ und den Linken als „faschistoid“ erschien. Es beruhte weitgehend auf der These, daß der Geburtenreichtum der türkischen Einwanderer gegenüber dem Geburtenschwund der Deutschen dazu führen könne, daß sich Deutschland im Laufe der kommenden Jahrzehnte allmählich in eine türkische Kolonie verwandeln würde. Sarrazin schlug deshalb mit einer fast an eugenische Maßnahmen der NS-Vergangenheit erinnernden Nachdrücklichkeit vor, die Kinderzahl der klugen Deutschen, das heißt der Akademikerinnen im gebärfähigen Alter, durch staatliche Prämien von je 50 000 Euro pro Kind erheblich zu steigern, um so zu einer Optimierung des deutschen „Humankapitals“ beizutragen und zugleich ein sinkendes Intelligenzniveau zu verhindern. Wie fast alle anderen Kritiker der mangelnden Integrationsfähigkeit der nach Deutschland eingewanderten Ausländer wandte sich Sarrazin dabei vor allem gegen den muslimischen Anteil dieser Bevölkerungsgruppe, der von Jahr zu Jahr immer größer werde. Was er dieser Gruppe in aller Entschiedenheit vorwarf, war ihr hartnäckiges Festhalten an der heimatlichen Sprache, ihre „unterdurchschnittliche Beteiligung am Arbeitsmarkt“, ihre mangelnden „Erfolge im Bildungswesen“, ihre überproportionale „Quote an Transferleistungsempfängern“ sowie ihre „überdurchschnittliche Beteiligung an Gewaltkriminalität“. Um dem entgegenzusteuern, berief sich Sarrazin in einer zwar sachlich unterkühlten und mit zahlreichen Statistiken untermauerten, aber letztlich doch beschwörenden Weise ständig auf „Wir“-Begriffe wie „deutsches Volk“ oder „deutsche Nation“, um auf die Dringlichkeit der von ihm aufgestellten Forderungen hinzuweisen. All das klang auf Anhieb geradezu „völkisch“ gesinnt. Doch wer sind eigentlich diese von ihm als „deutsch“ hingestellten „Wir“? Was verbindet sie? Worin bestehen ihre Werte, außer daß sie „einheimische Deutsche“ sind? Darauf gibt dieses Buch keine schlüssige Antwort. Statt die Deutschen – trotz aller früheren Abirrungen ins Chauvinistische und Nazifaschistische – als eine Bildungs- oder Kulturnation hinzustellen, die stolz darauf sein könnte, wie viele ihrer bedeutsamen Werke der Literatur, Musik, Malerei, Architektur, Philosophie, Historiographik sowie ihrer natur- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse weithin anerkannte Bestandteile der Weltkultur geworden sind, wird in diesem Buch immer nur höchst allgemein von „den Deutschen“ schlechthin gesproNationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   355

chen, als ob es sich von selbst verstehe, daß damit ein besonders hochqualifiziertes Volk gemeint sei. Nur an einer Stelle kommt Sarrazin einmal kurz auf das „deutsche Kulturerbe“ zu sprechen, nämlich wo er bedauernd feststellt, daß die deutschen Dome und Kirchen wegen der ständig steigenden Anzahl von Muslimen gegen Ende des 21. Jahrhunderts höchstwahrscheinlich in Moscheen umgewandelt würden, wie das die Türken bereits vor 600 Jahren mit der Hagia Sophia in Istanbul gemacht hätten. Genauer besehen, bleibt dadurch Sarrazins Argumentationslogik letztlich tautologisch. Die Deutschen sind besser als die Türken, weil sie eben die Deutschen sind: mehr hat er seinen Lesern und Leserinnen nicht zu bieten. Und damit bleiben die drei Hauptbegriffe, die er bereits im Titel seines Buchs verwendet, nämlich „Deutschland“, „Wir“, und „unser Land“, ohne irgendwelche werterfüllten Konturen. Warum sollen die von ihm angesprochenen Deutschen eigentlich so stolz auf ihr „Land“ sein, wenn damit keinerlei positiv besetzte Vorstellungen politischer, sozioökonomischer oder kultureller Art verbunden sind? Ohne derartige Werte wäre nämlich Deutschland lediglich ein weitgehend entnationalisierter Staat, in welchem die durch den ökonomischen Neoliberalismus ausgelöste Finanzmarktkrise zu sozialen Abstiegsängsten und unsicheren Rentenerwartungen geführt hat und so ein Zustand entstanden ist, in dem man in althergebrachter Weise wieder einmal nach Sündenböcken sucht.

V Doch selbst mit einer kritischen Einstellung zu der sich „verschärfenden Migrantensituation“ à la Sarrazin war „den Deutschen“ kein neues Nationalgefühl einzuflößen. Den Meinungsumfragen zufolge ist daher die Berliner Republik – im Gegensatz zu jenen Bevölkerungsschichten, die in Frankreich auf die Front nationale, in Österreich auf die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), in Belgien auf den Vlaams Blok, in Italien auf die Alleanza Nationale und in Dänemark auf die Volkspartei schwören – auch heute noch eins der am wenigsten patriotisch eingestellten Länder der Welt. Nach der in den sechziger Jahren einsetzenden Vergangenheitsbewältigung herrscht in diesem Land seit langem ein ins Postna356  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

tionalistische ausgedünnter Verfassungspatriotismus, der auf jegliche „vaterländischen“ Vorstellungen weitgehend verzichtet hat. Deshalb lösen sich selbst ernstgemeinte Debatten um eine mögliche deutsche „Leitkultur“ immer wieder in inhaltslose Schimären auf. Wenn sich heute überhaupt noch ein Stolz auf etwas spezifisch „Deutsches“ entzündet, dann lediglich an drei Phänomenen: am Stolz auf die „gewaltlose Revolution“ vom 9. November 1989, die zur deutschen Wiedervereinigung geführt hat, am Stolz auf die Siege der deutschen Fußballer bei den Europa- oder Weltmeisterschaften sowie am Stolz, in der Rangliste der wirtschaftlichen Exportländer der Welt inzwischen – nach China – den zweiten Platz eingenommen zu haben. Kein Zweifel, der Stolz auf die Wiedervereinigung wird jedes Jahr am 3. Oktober, dem „Tag der deutschen Einheit“, auf offizieller Ebene so selbstbewußt wie nur möglich herausgestellt. So betonte etwa Bundespräsident Christian Wulff am 3. Oktober 2010 in seiner Rede anläßlich des 20. Jahrestags der Deutschen Einheit vor allem den Mut der Ostdeutschen, mit dem sie sich ohne Gewalt ihre Freiheit erkämpft hätten, wodurch aus zwei deutschen Staaten endlich ein „einig Vaterland“ geworden sei. Allerdings sah sich auch er – angesichts der durch das Sarrazin-Buch ausgelösten Debatte – im Hinblick auf die nationale Identitätsbestimmung genötigt, auf die immer akuter werdende Ausländerfrage einzugehen. Ohne direkt auf Sarrazin Bezug zu nehmen, trat er dabei in Ablehnung jeglicher „Ausländerfeindlichkeit“ für die „Kraft zum Konsensus“ in „unserem Land“ ein, dessen Menschen schon im Jahr 1989 mit der Parole „Wir sind ein Volk“ und dem „Segen Gottes“ bewiesen hätten, daß Deutschland noch eine starke Zukunft vor sich habe. Und darauf erklärte er: „Lassen Sie uns zusammen stolz sein auf das Erreichte. Aber wir sind nicht fertig, ein Staat, ein Volk ist nie fertig. Es geht darum, die Freiheit zu bewahren, die Einheit immer wieder zu suchen und zu schaffen. Es geht darum, dieses Land zu einem Zuhause zu machen – für alle. Dieses Land ist unser aller Land, ob aus Ost oder West, Nord oder Süd und egal welcher Herkunft.“ Damit hatte sich Wulff zwar trotz nicht zu überhörender konservativer Anklänge zu einer liberalen Konsensuspolitik in der Ausländerfrage bekannt und als Voraussetzung der Integration in „unser Land“ lediglich die Erlernung der deutschen Sprache gefordert, war aber dem Definitionsproblem, worin denn das „Deutschsein“ – außer der alle verbindenNationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   357

den Sprache – eigentlich bestehe, wiederum aus dem Wege gegangen. Denn wer sind eigentlich „die Deutschen“, die er dabei ins Auge faßte: die Millionen einheimsenden Manager in den Chefetagen der großen Banken und Konzerne oder die arbeitslosen Hartz IV-Empfänger, die Christen oder die Muslime, die sogenannten Alteingesessenen oder die 15 Prozent mit einem Migrationshintergrund, die ehemaligen DDRler oder die ehemaligen BRDler, die Mitglieder der NPD oder diejenigen, die in manchen Neuen Bundesländern zu 25 Prozent erst für die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) stimmten und jetzt die Partei der Linken wählen, jene Menschen, die sich noch immer Gefühlen der Ostalgie hingeben oder die in der ehemaligen DDR lediglich einen stasigelenkten Unrechtsstaat erblicken, die rechtsextremistischen Superpatrioten oder die 32 Prozent der Bevölkerung, die im Jahr 2010 bei Meinungsumfragen bekannten, daß sie keinen „inneren Bezug“ zur Berliner Republik hätten, die schwarz-rot-goldene Fähnchen schwenkenden Fußballfans oder jene, die in den Spielen der 1. Bundesliga lediglich ein Milliardengeschäft oder eine massenmedial gesteuerte Volksverblödung sehen? Zugegeben, dieses Nebeneinander läßt sich im Sinne propagandistisch mißbrauchter Demokratiekonzepte auch als „pluralistisch“ verstehen, weist aber zugleich auf die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Ungleichheit der einzelnen Bevölkerungsschichten hin, die keineswegs den immer wieder herausgestellten Eindruck des „Demokratischen“ erweckt. Denn was wäre wahrhaft demokratisch? Doch wohl nur ein Staat, in dem ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den Werten „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ herrschen würde. Rein oberflächlich gesehen, ist an Freiheit in der Berliner Republik kein Mangel. Aber was nützt vielen Menschen die vielbeschworene Freiheit, wenn in einem solchen Land keine durch eine soziale Absicherung bewirkte Chancengleichheit besteht? Doch selbst das wäre noch nicht genug. Es muß in einer derartigen Gesellschaft, die nicht politisch und sozioökonomisch von oben her überformt ist, auch ein gewisser Gemeinsinn herrschen. Und das setzt als ideologische Zielvorstellung ein Solidaritätsgefühl voraus, das von allen Bewohnern anerkannt wird. Davon ist jedoch – trotz einiger offizieller Bekenntnisse zu „nationaler Identität“ oder „innerer Einheit“ – nicht viel zu spüren. Was stattdessen vorherrscht, ist weitgehend ein „Hang zur Unverträglichkeit, zur Ellen358  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

bogenmentalität“, kurz: zu einer „Ego-Gesellschaft“, wie 1997 selbst der damalige CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble in seinem Beitrag zu dem von Gerd Langguth herausgegebenen Band Die Intellektuellen und die deutsche Frage zugeben mußte.

VI Wenn also weiterhin große Worte über „unser Land“ oder „unsere Nation“ in den Mund genommen werden, sollte man sich hüten, darunter etwas von vornherein Positives zu sehen. Um derartigen Begriffen einen gerechtfertigten guten Klang zu geben, müßten solche Begriffe in Zukunft viel stärker mit solidaritätsstiftenden Wertvorstellungen aufgeladen werden. Sich dabei allein auf die nationale Begeisterungswelle vom 9. November 1989 zu berufen, reicht bei weitem nicht aus. Das beweisen nicht nur die jeweils am „Tag der deutschen Einheit“ gehaltenen Feiertagsreden, die sich meist nur um die geradezu gebetsmühlenhaft wiederholte Formel „Einheit in Freiheit“ drehen. Ebenso inhaltslos wirkt der vom Bundestag mit dem ersten Preis ausgezeichnete Entwurf zu einem Nationalen Freiheits- und Einheitsdenkmal der Choreographin

65 Sasha Waltz und Johannes Milla: Entwurf für ein Nationales Freiheits- und Einheitsdenkmal (2011). © ddp images/dapd Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   359

Sasha Waltz und des Szenographen Johannes Milla, das mit den Inschriften „Wir sind das Volk“ sowie „Wir sind ein Volk“ an die als Hauptereignis der jüngsten deutschen Geschichte hingestellte friedliche Revolution in der DDR und die darauffolgende Wiedervereinigung erinnern soll. Es besteht lediglich aus einer abstrakten, ins Monumentale übersteigerten Waagschale und nennt sich in ebenso unkonkreter Form „Bürger in Bewegung“. Im Sinne dieser Namensgebung ist es auf weiten Flächen begehbar und soll offenbar die neudeutsche Spaßgesellschaft, wie einige Kritiker meinten, lediglich dazu auffordern, es wie eine sinnentleerte Glücksschaukel zu besteigen. Wenn etwas auf den Mangel an positiven politischen Inhalten innerhalb der bestehenden Gesellschaft der Berliner Republik hinweist, dann dieses Denkmal. Statt im Hinblick auf eine demokratisch gemeinte Vergesellschaftungsethik zu einer allumfassenden Kooperation aufzufordern, dient es lediglich einem touristischen Eventhedonismus. Doch welche Werte sind sonst im Rahmen „unserer“ hochindustrialisierten Gesellschaft übriggeblieben, die sich zwar vieler negativer Begleiterscheinungen des älteren Nationalismus entledigt hat, aber an deren Stelle keine anderen Solidaritätsvorstellungen getreten sind, sondern die sich lediglich den umsatzsteigernden Verhaltensformen des sich globalisierenden Finanzmarktkapitalismus anzupassen versucht? Und da Deutschland, wie gesagt, schon seit Jahren das Exportland Nr. 2 in der Welt ist, hat sich der von den herrschenden Meinungsträgerschichten gesteuerte Nationalstolz vor allem in dieser Richtung entwickelt. Das belegt unter anderem jenes Spiegel-Specialheft Made in Germany. Wie die deutsche Wirtschaft durch die Globalisierung gewinnt, das im Jahr 2008 erschien und auf dessen Titelblatt ein strahlendes, blondes Model mit schwarz-rot-goldener Schärpe zu sehen ist, die wie eine ins Marktwirtschaftliche überführte Germania aussieht, welche auf ihrem Bauchladen all jene Güter anbietet, deren Besitz sie den Kaufwilligen in aller Welt als geradezu unumgänglich hinzustellen versucht. In diesem Heft wird Deutschland so nachdrücklich wie nur möglich als ein „Technologieführer“ ersten Ranges hingestellt, der durch seinen „Erfindergeist“ auf manchen, wenn nicht gar vielen Gebieten kaum noch nennenswerte Konkurrenten habe. So sei etwa „unser Land“ im Bereich der „erneuerbaren Energien“, erklärte Joschka Fischer in einem vorangestellten SpiegelGespräch, allen anderen Ländern mehrere „Nasen“ voraus und werde 360  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

66 Jean-Pierre Kunkel: Titelblatt für das Spiegel-Specialheft „Made in Germany. Wie die deutsche Wirtschaft durch die Globalisierung gewinnt“ (2008)

Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   361

darum auf diesem Sektor sicher „ein Jahrhundertgeschäft“ machen. Wegen der sich daraus ergebenden positiven Handelsbilanz, heißt es weiter, könne selbst eine mögliche Finanzkrise diesem Land nicht viel anhaben. Im Gegenteil, wie kaum ein anderes Land habe Deutschland als „Branchenprimus“ innerhalb der immer stärker werdenden marktwirtschaftlichen Globalisierung in mehrfacher Hinsicht erheblich profitiert. Mit seinen Kraftwagen, Maschinen, chemischen Erzeugnissen, Kühlschränken, medizintechnischen Apparaten, Hauhaltsgeräten, Modeartikeln, Gesichtspflegemitteln und unzähligen anderen Produkten verdienten Firmen wie Volkswagen, BMW, Mercedes, Siemens, Thyssenkrupp, Bosch, Miele, Braun, Nivea, SAP Software und Hugo Boss nicht nur in vielen Ländern der Europäischen Union, sondern auch in Asien, Nordamerika, den GUS-Staaten, im Nahen Osten sowie in Lateinamerika unzählige Milliarden Euros. Nach derartigen Erfolgsbilanzen wird zwar auch auf einige Schattenseiten dieser Entwicklung hingewiesen, welche durch die industrielle Automation und die damit verbundene drastische Zunahme der Teilzeitbeschäftigten sowie Hartz IV-Empfänger entstanden sind. Aber im Großen und Ganzen herrscht in diesem Heft, wie auch in vielen anderen dieser Art, ein forcierter Zukunftsoptimismus, bei dem die „Größe“ einer Nation fast ausschließlich mit ihrer globalen Wettbewerbsfähigkeit gleichgesetzt wird. Und so droht selbst das lange Zeit in Deutschland als vorbildlich hingestellte, wenn auch inzwischen etwas ausgedünnte Konzept einer demokratisch verstandenen „Staatsbürgernation“ immer stärker illusorisch zu werden. Was sich hier, wie in vielen hochindustrialisierten Ländern inzwischen durchgesetzt hat, ist das Konzept einer „Wirtschaftsnation“, die sich im Rahmen einer globalisierten Finanzmarktwirtschaft nur noch durch ihre industriell hergestellten Produkte auszuzeichnen versucht. Linkskritische Autoren haben das als eine Market Driven Society ohne wirkliche politische, soziale und kulturelle Werte charakterisiert, in der es nur noch um die Gewinnchancen innerhalb einer industriellen Produktionssteigerung geht. Andere, sich eher zynisch gebende Publizisten berufen sich im Hinblick auf die momentan herrschenden Zustände lieber mit abwiegelnder Tendenz auf das Diktum Theodor W. Adornos, daß es eben „im Falschen nichts Richtiges gebe“. Doch mit einem derart unverbindlichen Pessimismus entzieht man sich im Hinblick auf ein besseres politisches Repräsentationssystem, einen sozialen 362  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

Lastenausgleich sowie eine immer dringlicher werdende ökologische Nachhaltigkeit lediglich jeder gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Gut, im Falschen kann es nichts Richtiges geben. Das bedeutet aber nicht, daß es vielleicht jenseits des als falsch Erkannten dennoch etwas Richtiges geben könne. Dazu gehörte allerdings ein Staatsbewußtsein, das nicht zu Gunsten der großen Konzerne und deren globalen Marktinteressen auf alle älteren Nationalkonzepte verzichtet, sondern sich bemühen würde, ein derartiges Bewußtsein – jenseits aller Entartungen ins Nationalistische – mit einem wahrhaft demokratischen Geist anzufüllen, der neben der individuellen Selbstrealisierung auch jene Zielvorstellungen nicht vergißt, die früher einmal neben dem Ideal der Freiheit mit Begriffen wie Gleichheit und Verbrüderung verbunden waren. Erst dann könnte aus der weiterhin uneingelösten Utopie einer wahrhaften Demokratie vielleicht doch noch eines Tages eine konkrete Realität werden, die nicht – wie so oft zuvor – auf propagandistisch übertünchten Illusionen beruhte.

VII Derartige Überlegungen werden bei all jenen, die sich eine verstärkte Demokratisierung vor allem von einem Verzicht auf die bisherigen Nationalvorstellungen, ja eine Einschränkung staatlicher Befugnisse zu Gunsten größerer Individualrechte versprechen, sicher auf Kritik, wenn nicht gar Ablehnung stoßen. Schließlich herrscht heute in allen hochindustrialisierten Ländern ein neoliberaler Finanzkapitalismus, der sich trotz vieler Krisensymptome immer stärker von allen älteren Nationalvorstellungen distanziert und weiterhin auf die Vorteile transnationaler Grenzaufhebungen hofft. Im Falle Deutschlands verbindet sich diese Erwartung zugleich mit dem Wunsch, im Rahmen der Europäischen Union, die von Jahr zu Jahr immer größer wird, zur führenden Wirtschaftsmacht aufzusteigen. In Anlehnung an den American Dream der „unbegrenzten Möglichkeiten“ hat sich auch dieses Land zu einer Market Driven Society entwickelt, in der zwar eine egoistische Erfolgs- und Profitgesellschaft als demokratische Staatbürgernation ausgegeben wird, wo jedoch weder das Demokratische, noch das Staatsbürgerliche, noch das Nationale im Vordergrund steht. Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   363

Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind nur allzu offensichtlich. Wie in allen Ländern dieser Art herrscht momentan in Deutschland eine auf schnellen Verbrauch und damit rapide Gewinnsteigerung bedachte Überproduktion, die durch eine hektisch angekurbelte Reklame zu immer neuen Konsumorgien führen soll. Das wird zwar in den systemkonformen Medien als „Wachstum“ hingestellt, bewirkt aber letztlich eine jedes naturgegebene Wachstum gefährdende Übertechnisierung mit allen sich daraus ergebenden Gefahren. Und dazu gehören vornehmlich der Raubbau sämtlicher naturgegebenen Rohstoffe, der risikoreiche Einsatz der Kernenergie, der Verlust an Wildtieren und Wildpflanzen, die Vernichtung der Hälfte aller unverbrauchten Lebensmittel, der nicht nachlassende Ausstoß von Kohlendioxid, die damit verbundene Klimaerwärmung und vieles andere mehr – also all dem, was Petra K. Kelly in den kämpferischen Anfangsjahren der Partei der Grünen einmal – im Gegensatz zu den unermüdlich wiederholten Wachstumsparolen der neoliberalen Medien – die „Verkrebsung der Welt“ genannt hat. Parallel dazu hat eine zunehmende Verarmung all jener Bevölkerungsschichten eingesetzt, die mit dieser Entwicklung wegen mangelnder Bildungschancen und zunehmender Automation der wichtigsten Industriezweige nicht Schritt halten können, wodurch ein Zustand höchster ökologischer Gefährdung und sogleich sozialer Ungleichheit entstanden ist, auf den man nicht länger das schöne Wort „Demokratie“ anwenden sollte. Was wird dieser Entwicklung von ihren Kritikern eigentlich entgegengesetzt? Noch am positivsten klingen auf Anhieb jene Konzepte, die von den jeweiligen Regierungen strukturverändernde Bekenntnisse in Richtung auf ein kommendes „Weltbürgertum“ oder wenigstens einen engeren „transnationalen Zusammenschluß“ jener Staaten verlangen, die zur sogenannten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gehören. An prominenter Stelle hat sich im Sommer 2011 Jürgen Habermas in seinem Büchlein Zur Verteidigung Europas zu solchen Fragestellungen geäußert, in dem er die Forderung aufstellte, endlich auf jede „nationalstaatliche Borniertheit“ zu verzichten und stattdessen für eine „globale Verfassungsordnung“ einzutreten, um so die Voraussetzung für eine liberal gesinnte „Weltbürgergesellschaft“ zu schaffen. Schon die damit verbundene Berufung auf die kosmopolitische Vorstellungswelt Immanuel Kants macht deutlich, daß es sich dabei – angesichts der inzwischen ein364  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

getretenen Technisierungsprozesse, der maßlosen Bevölkerungsvermehrung und der gewaltsam fortschreitenden Naturzerstörung – um eine Anleihe an längst obsolet gewordene Ideologiekonzepte handelt, die sich nicht ohne weiteres aus einem Weltzustand auf einen anderen übertragen lassen. Im Gefolge der Aufklärung des 18. Jahrhunderts weiterhin rein staatstheoretisch zu argumentieren, ohne zugleich jene tiefeingreifenden technologischen, demographischen, wirtschaftlichen und ökologischen Veränderungen ins Auge zu fassen, die inzwischen eingetreten sind, bringt uns heute nicht weiter. Nicht einmal im Hinblick auf die Europäische Union, geschweige denn die sogenannte Weltgesellschaft wäre es daher sinnvoll, ausschließlich an ein „über die nationalen Grenzen hinausgehendes Bewußtsein“ oder gar „Schicksal“ zu appellieren. Schließlich leben wir heute in einer finanzkapitalistischen Gesellschaftsordnung, in welcher die Verflechtung der internationalen Börsen, Banken und Großkonzerne ein bisher unvorstellbares Ausmaß angenommen hat und die sich perfiderweise ebenfalls als die Grundlage einer sich allmählich herausbildenden „demo­kratischen Weltgesellschaft“ auszugeben bemüht. Zu versuchen, sich gegen diese neoliberale Machtzusammenballung mit irgendwelchen altliberalen Weltbürgervorstellungen aufzulehnen, wäre deshalb von vornherein müßig. Schließlich ist der heutige Finanzkapitalismus das notwenige, wenn auch ins Ökonomistische und Technizistische pervertierte Produkt jener ins Eigensüchtige umgeschlagenen Freiheitsvorstellung, die seit dem Ende der auf Égalité und Fraternité drängenden Jakobinerherrschaft im Jahr 1794 in sämtlichen sich danach entwickelnden Industriestaaten einen geradezu triumphalen Siegeszug antreten konnte, an dem selbst alle noch so wohlgemeinten sozialistischen Gegenreaktionen scheiterten. In Deutschland, um wieder auf unseren Hauptargumentationsstrang zurückzukommen, führte diese Entwicklung, wie bereits dargestellt, zur prussifizierten Wirtschaftsnation des Zweiten Kaiserreichs, zu den ökonomischen Modernisierungsschüben in der mittleren Phase der Weimarer Republik und dann zum sogenannten Wirtschaftswunder der frühen BRD, auf die seit 1990 jene Berliner Republik folgte, die sich zwar bei offiziellen Anlässen als eine demokratisch organisierte Staatsbürgernation oder Zivilgesellschaft ausgibt, aber damit keinerlei ideologische Wertvorstellungen – außer einem höchst verschwommenen FreiheitsbeNationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   365

griff – verbindet. Wenn deshalb von „unserem Land“ gesprochen wird, ist gegenwärtig in Deutschland von irgendwelchen Identitätsbestimmungen – ob nun christlicher, ethnischer, rassistischer, nationalistischer, politischer, geschichtsbewußter, klassenbezogener oder kultureller Art – kaum noch die Rede. Geblieben ist bei derartigen Definitionsbemühungen meist nur das Kriterium der Staatsbürgerschaft. Heute ist man in erster Linie ein Deutscher, wenn man einen deutschen Paß besitzt. Im Hinblick auf den Verzicht christlicher, ethnischer, rassistischer oder nationalistischer Leitvorstellungen ist das auch gut so. Aber selbst im Hinblick auf politische, geschichtsbewußte, klassenbezogene, kulturelle oder auch neuerdings ökologische Gesichtspunkte? Wird nicht damit die Staatsangehörigkeit zu einem rein formalen Akt? Kann man denn überhaupt noch von einer positiv verstandenen Staatsbürgernation sprechen, falls damit keinerlei überindividuelle Wertvorstellungen mehr verbunden werden? Bedeutet das nicht letztendlich, in einem rein konsumorientierten Staat wie Deutschland das egoistische Wohlbefinden all jener Menschen, die einen deutschen Paß aufweisen können, zum alleinigen Wert zu erheben? Und erweist sich damit nicht die Staatsbürgerschaft lediglich als eine Art Defensivmechanismus gegen all jene Menschen, die aus wirtschaftlich schlechter gestellten Staaten in dieses „unser Land“ einzuwandern versuchen, um auch an seinen „materialistischen Segnungen“ teilzuhaben? Zweifellos sollte sich jeder Staat gegen eine zunehmende Übervölkerung und alle sich daraus ergebenden Konsequenzen wehren. Aber aufgrund welcher Kriterien? Nur wegen der materiellen Aspekte, um damit den Wohlstand seiner eigenen Bürger und Bürgerinnen nicht zu gefährden? Um als „Staatsbürgernation“ oder gar als pluralistisch eingestellte „Demokratie“ wirklich ernst genommen zu werden, reichen derartige Ein- oder Ausgrenzungskriterien keineswegs aus. So gesehen, wäre „unser Land“, wie es immer wieder heißt, lediglich eine privategoistisch eingestellte und damit total entideologisierte Gesellschaft. Um also nicht noch weiter in den Sog einer finanzkapitalistischen Globalisierung hineingerissen zu werden, in der nur noch ein selbstsüchtiges Konsum­ interesse und eine auf den niedrigsten Nenner heruntergeschraubte Unterhaltungsbetriebsamkeit herrschen würde, wäre es endlich an der Zeit, wieder an überindividuelle Werte politischer, sozialer, kultureller und ökologischer Art zu appellieren, das heißt von den bestehenden 366  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

Parteien solidaritätsbetonte oder gar kommunitaristische Wertvorstellungen einzufordern, die über ihre meist nur taktisch gemeinten Wahlversprechen hinausgehen. Ich weiß, das verlangt eine „bekennerische“ Haltung, die heute aufgrund mangelnder Alternativvorstellungen meist belächelt wird. Doch andere Möglichkeiten stehen den Kritikern der „großen Unordnung“, wie Bertolt Brecht bereits die marktwirtschaftliche Gesellschaftsform der Weimarer Republik genannt hat, kaum zur Verfügung. Um also nicht noch weiter in den Strudel der von allen ernsthaften Problemen ablenkenden Konsum- und Spaßgesellschaft zu geraten, mit dem die finanziell Bessergestellten ihr unsoziales und zugleich naturzerstörerisches System, dem fast ausschließlich das Prinzip einer profitsteigernden Wegschmeißproduktion zugrunde liegt, zu rechtfertigen suchen, sollten Kritiker dieser Entwicklung im Rahmen der ihnen gegebenen Möglichkeiten darauf dringen, das immer wieder beschworene, aber meist abstrakt bleibende Leitbild einer angeblich bereits verwirklichten „Staatsbürgernation“ mit konkreten, in die gesellschaftliche Praxis eingreifenden Vorstellungen anzureichern. Und dazu gehörten, um nur einige aufzuzählen: eine Konsumverminderung, ein reduzierter Energieverbrauch, eine höhere Besteuerung kinderreicher Familien, eine staatlich geförderte und mit solidaritätsstiftenden Idealen erfüllte Hochkultur, eine nachhaltige Forst- und Landwirtschaft, eine Ausweitung der Naturschutzgebiete, eine Einschränkung des Massentourismus, eine Drosselung der Autoproduktion und ein endgültiger Verzicht auf Kernenergie. Da all dies Forderungen sind, die sich auf globaler Ebene vorerst nicht durchsetzen lassen, kommt man dabei nicht ohne gewisse Nationalvorstellungen aus. Man sehe also das alleinige Heil nicht nur in internationalen Vereinbarungen dieser Art, die meist nach kurzer Zeit wieder aufgehoben werden, und auch nicht nur in einer finanziellen Stabilisierung der sogenannten Euro-Zone, durch die sich „unser Land“ aufgrund seiner bevölkerungsmäßigen und ökonomischen Überlegenheit lediglich in einen selbstsüchtigen Industriestaat innerhalb eines „deutschgeprägten Europas“ verwandeln würde. Ein solcher Trend könnte, wie im Spätherbst 2011 in Griechenland und Italien, auch in Deutschland dazu führen, daß schließlich die Bankherren die Ministerposten übernähmen. Was wir also – um einer nachhaltigen und lebenswerten Zukunft willen Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990   367

– brauchten, wäre demnach weniger ein ökonomischer und privater Egoismus im Rahmen eines weltweiten High Tech- und Finanzkapitalismus als eine politische Rückbesinnung auf das in kleineren Maßstab Machbare, was gegenwärtig nur innerhalb nationaler Grenzen möglich ist. Das wäre zwar bei weitem nicht genug, könnte aber für die gesamte Euro-Zone einen vorbildlichen Charakter haben. Nur so bekäme der lange Zeit verpönte Nationalismus, statt ihn in korrumpierter Form irgendwelchen irregeleiteten neofaschistischen Gruppierungen zu überlassen, wieder einen wahrhaft demokratischen Sinn. Sollte es nicht dazu kommen und sich dieses Konzept als eine weitere Illusion herausstellen, würden uns kommende Generationen sicher dafür verantwortlich machen, nichts gegen den selbstzerstörerischen Kurs der heutigen Wirtschaftsentwicklung und all ihrer sozioökonomischen und ökologischen Folgeerscheinungen getan zu haben.

368  Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990

Auswahlbibliographie

Für die Computerisierung meines Manuskripts, das im Laufe mehrerer Bearbeitungsvorgänge immer stärker den Charakter des Lehrbuchhaften annahm, bin ich Adam Woodis und Kristopher Imbrigotta zu großem Dank verpflichtet. Bei der Bildbeschaffung halfen mir Michael Niedermeier und Christina Stehr. Gewidmet sei das Ganze den Hörern und Hörerinnen meiner Vorlesung zum gleichen Thema im Wintersemester 2011/12 an der Humboldt-Universität zu Berlin. In der folgenden Bibliographie werden wegen der geradezu unüberschaubaren Fülle an Schriften zu den in diesem Buch behandelten Themen nur jene Bücher angeführt, die mir bei der Abfassung meines Manuskripts besonders nützlich waren oder mich zum Widerspruch herausforderten. Allgemeines Peter Alter: Nationalismus, Frankfurt a. M. 1985. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt a. M. 1988. Celia Applegate: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990. Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein (Hrsg.): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg 1990. Helmut Berding (Hrsg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1994. Isaiah Berlin: Der Nationalismus, Frankfurt a. M. 1990. Peter Lerche (Hrsg.): Die deutsche Neurose. Über die beschränkte Identität der Deutschen, Frankfurt a. M. 1980. Dieter K. Buse und Jürgen C. Doerr (Hrsg.): German Nationalism. A Bibliographic Approach, New York 1985. Karl W. Deutsch: Nationenbildung – Nationalstaat – Integration, Düsseldorf 1972. Henning Eichberg: Nationale Identität, München 1978. Gesa von Essen und Horst Turk (Hrsg.): Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität, Göttingen 2000. Auswahlbibliographie  369

Bernd Estel und Tilman Mayer (Hrsg.): Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994. Alois Friedel: Deutsche Staatssymbolik. Herkunft und Bedeutung der politischen Symbolik in Deutschland, Frankfurt a. M. 1968. Fritz Gschnitzer, Reinhart Koselleck, Bernd Schönemann und Karl Ferdinand Werner: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1997. Eric Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a. M. 1991. Michael Jeismann und Henning Ritter (Hrsg.): Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993. Karl Rudolf Korte: Nation und Nationalstaat. Bausteine einer europäischen Identität, Melle 1993. Christian von Krockow: Nationalismus als deutsches Problem, München 1970. Ekkehard Kuhn: Einigkeit und Recht und Freiheit. Die nationalen Symbole der Deutschen, Berlin 1991. Gerd Langguth (Hrsg.): Die Intellektuellen und die nationale Frage, Frankfurt a. M. 1997. Eugen Lemberg: Nationalismus, 2 Bde., Heidelberg 1964. Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, München 1962. Wolfgang Mommsen: Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage, München 1990. Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009. Theodor Schieder: Nationalismus und Nationalstaat, Göttingen 1991. Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994. Dolf Sternberger: Verfassungspatriotismus, Frankfurt a. M. 1990. Werner Weidenfeld (Hrsg.): Die Identität der Deutschen, München 1983. Werner Weidenfeld (Hrsg.): Eine Nation – doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993. Reinhard Wittram: Nationalismus und Säkularisation. Beitrage zur Geschichte und Problematik des Nationalgeistes, Lüneburg 1949.

Historisch-Übergreifendes Celia Applegate und Pamela Potter (Hrsg.): Music and German National Identity, Chicago 2002. Karl Otmar von Aretin: Das alte Reich 1648–1806, 4 Bde., Stuttgart 1993–2000.

370  Auswahlbibliographie

Friedrich Arnold (Hrsg.): Anschläge. Politische Plakate in Deutschland 1900– 1970, Frankfurt a. M. 1972. Karl Dietrich Bracher (Hrsg.): Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität?, München 1982. Peter Brandt und Herbert Ammon (Hrsg.): Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, Reinbeck 1981. Otto Brunner u.a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1992. Otto Büsch und James J. Sheehan (Hrsg.): Die Rolle der Nation in der deutschen Geschichte und Gegenwart, Berlin 1985. Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 2008. Werner Conze: Die deutsche Nation. Ergebnis der Geschichte, Göttingen 1963. Gordon A. Craig: Deutsche Geschichte 1866–1945, München 1980. Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, München 1995. Otto Dann (Hrsg.): Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978. Andreas Dörner: Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen am Beispiel des Hermannsmythos, Reinbek 1996. Jörg Echternkamp und Sven Oliver Müller (Hrsg.): Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg and Krisen, 1760–1960, München 2002. Bernd Faulenbach: Die Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980. Bernd Fischer: Das Eigene und das Eigentliche. Klopstock, Herder, Fichte, Kleist. Episoden aus der Konstruktionsgeschichte nationaler Intentionalitäten, Berlin 1995. Albert Funk: Kleine Geschichte des Föderalismus. Vom Fürstenbund zur Bundesrepublik, Paderborn 2010. Bernhard Giesen (Hrsg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1991. Axel Gotthard: Das Alte Reich 1495–1806, Darmstadt 2003. Walter Grab und Uwe Friesel (Hrsg.): Noch ist Deutschland nicht verloren. Eine historisch-politische Analyse unterdrückter Lyrik von der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung, München 1970. Helga Grebig: Der „deutsche Sonderweg“ in Europa 1806–1945. Eine Kritik, Stuttgart 1986. Wolfgang Hardtwig: Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500– 1914. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1994.

Auswahlbibliographie  371

Peter Claus Hartmann: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation in der Neuzeit 1486–1806, Stuttgart 2005. Klaus Herbers und Helmut Neuhaus: Das Heilige Römische Reich – Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte 843–1806, Köln 2005. Jost Hermand und James Steakley (Hrsg.): Heimat, Nation, Fatherland. The German Sense of Belonging, New York 1996. Walter Hinderer (Hrsg.): Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, Stuttgart 1978. Harold James: Deutsche Identität 1770–1990, Frankfurt a. M. 1991. Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Frankfurt a. M 1992. Otto W. Johnston: Der deutsche Nationalmythos. Ursprung eines politischen Programms, Stuttgart 1990. Klaus Kösters: Mythos Arminius. Die Varusschlacht und ihre Folgen, Münster 2009. Helmut Lamprecht (Hrsg): Deutschland Deutschland. Politische Gedichte vom Vormärz bis zur Gegenwart, Bremen 1969. Peter Longerich (Hrsg.): „Was ist des Deutschen Vaterland?“. Dokumente zur Frage der deutschen Einheit 1800–1990, München 1990. Hans Mommsen: Zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Demokratie, Diktatur, Widerstand, München 2010. George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegung in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1976. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959. Christoph Prignitz: Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750 bis 1850, Wiesbaden 1981. Fritz Schellack: Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945, Frankfurt a. M. 1990. Helmut Scheuer (Hrsg.): Dichter und ihre Nation, Frankfurt a. M. 1993. Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999. Hagen Schulze: Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 1985. Carl Christoph Schweitzer (Hrsg.): Die deutsche Nation. Aussagen von Bismarck bis Honecker, Gütersloh 1979. Klaus von See: Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1970. 372  Auswahlbibliographie

Klaus von See: Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994. Barbara Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 2009. Joachim Streisand: Deutsche Geschichte von 1789–1815, Berlin 1977. Nicholas Vazsonyi (Hrsg.): Searching for Common Ground. Diskurse zur deutschen Identität 1750–1871, Köln 2000. Hans-Ulrich Wehler: Das deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1988. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 4 Bde., München 1987– 2008. Rainer Wiegels und Winfried Woesler (Hrsg.): Arminius und die Varusschlacht. Geschichte – Mythos – Literatur, Paderborn 1999. Bernhard Willms: Die deutsche Nation, Köln-Lövenich 1982. Johannes Willms: Nationalismus ohne Nation. Deutsche Geschichte 1789–1914, Düsseldorf 1983. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen I. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München, 2001. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933–1990, München 2001. Wolfgang Wippermann: Preußen. Kleine Geschichte eines großen Mythos, Freiburg 2011.

Mittelalter und Frühzeit Helmut Beumann und Werner Schröder (Hrsg.): Nationes. Historische und philologische Untersuchungen zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter, Sigmaringen 1975. Otto Dann (Hrsg.): Nationalismus in vorindustrieller Zeit, München 1986. Otto Dann und John Dinwiddy (Hrsg.): Nationalism in the Age of the French Revolution, London 1988. Hellmut Diwald: Heinrich I. Die Gründung des deutschen Reiches, Bergisch Gladbach 1987. Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, Frankfurt a. M. 1996. Klaus Garber (Hrsg.): Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, Tübingen 1989. Hans Kohn: Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur französischen Revolution, Frankfurt a. M. 1962.

Auswahlbibliographie  373

Ludwig Krapf: Germanenmythos und Reichsideologie. Frühhumanistische Rezeptionsweisen der taciteischen „Germania“, Tübingen 1979. Ulrich Paul: Studien zur Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, Berlin 1936. Friedrich Prinz: Grundlagen und Anfänge Deutschlands bis 1036, München 1985. Stefan Weinfurter: Das Reich im Mittelalter, München 2008. Reinhard Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln 1961. W. Daniel Wilson: Goethes Weimar und die Französische Revolution. Dokumente der Krisenjahre, Köln 2004.

19. Jahrhundert Wolfgang Beutin, Wilfried Hoppe und Franklin Kopitzsch (Hrsg.): Die deutsche Revolution von 1848/49 und Norddeutschland, Frankfurt a. M. 1999. Kirsten Belgum: Popularizing the Nation. Audience, Representation, and the Production of Identity in „Die Gartenlaube“ 1853–1900, Lincoln 1998. Helmut Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit, Köln 1968. Roger Chickering: We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League 1868–1914, Boston 1984. Dieter Düding u. a. (Hrsg.): Öffentliche Festkultur, Reinbek 1988. Dieter Düding: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung, München 1984. Ernst Engelberg: Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1986. Cornelia Foerster: Der Preß- und Vaterlandsverein von 1832/33. Sozialstruktur und Organisationsformen der bürgerlichen Bewegung in der Zeit des Hambacher Festes, Trier 1982. Walter Gruber (Hrsg.): Das Hambacher Fest 1932–1957, Neustadt 1957. Rainer Kipper: Der Germanenmythos im deutschen Kaiserreich, Göttingen 2002. Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2001. Gert Mattenklott und Klaus Scherpe (Hrsg.): Demokratisch-revolutionäre Literatur in Deutschland. Vormärz, Kronberg 1974. Wolfgang Mommsen: 1848 – Die ungewollte Revolution, Frankfurt a. M. 2000. Wolfgang Mommsen: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1990. 374  Auswahlbibliographie

Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1918, 3 Bde., München 1983. Christian Petzet: Die Blütezeit der deutschen politischen Lyrik von 1840 bis 1850. Ein Beitrag zur deutschen Literatur- und Nationalgeschichte, München 1903. Wolfgang Plat: Deutsche Träume oder Der Schrecken der Freiheit. Aufbruch ins 19. Jahrhundert, Düsseldorf 1981. Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996. Wilhelm Ribhegge: Das Parlament als Nation. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1998. Helmut Rumpler (Hrsg.): Deutscher Bund und deutsche Frage 1815–1866, Wien 1990. Theodor Schieder: Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Göttingen 1992. Theodor Schieder und E. Deuerlein (Hrsg.): Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, Stuttgart 1970. Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Freiburg 1955. Willi Schröder: Burschenturner im Kampf um Einheit und Freiheit, Berlin 1967. Günter Steiger: Urburschenschaft und Wartburgfest, Leipzig 1967. Peter Stein, Florian Vaßen und Detlef Kopp (Hrsg.): 1848 und der deutsche Vormärz, Bielefeld 1998. Wolfram Siemann: Die deutsche Revolution 1848/49, Frankfurt a. M. 1985. Dirk Stegmann: Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschland, Köln 1970. Charlotte Tacke: Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995. Veit Valentin: Das Hambacher Nationalfest, Berlin 1932. Brian E. Vick: Defining Germany. The 1848 Frankfurt Parliamentarians and National Identity, Cambridge 2002. Hans-Ulrich Wehler: Sozialdemokratie und Nationalstaat. Nationalitätenfragen in Deutschland 1840–1914, Göttingen 1971. Paul Wentzke: Geschichte der deutschen Burschenschaft, Heidelberg 1919. Hans-Georg Werner: Geschichte des politischen Gedichts in Deutschland von 1815 bis 1840, Berlin 1972. Günter Wohlstein: Das „Großdeutschland“ der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977. Hasko Zimmer: Auf dem Alter des Vaterlandes. Religion und Patriotismus in der deutschen Kriegslyrik des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1971.

Auswahlbibliographie  375

Weimarer Republik Jürgen C. Hess: „Das ganze Deutschland soll es sein“. Demokratischer Nationalismus in der Weimarer Republik am Beispiel der DDP, Stuttgart 1978. Mario Rainer Lepsius: Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1966. Stefan Neuhaus, Rolf Selbmann und Thorsten Unger (Hrsg.): Engagierte Literatur zwischen den Weltkriegen, Würzburg 2002. Arthur Rosenberg: Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1961. Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1968.

Nationalsozialismus Kurt Bauer: Nationalsozialismus, Köln 2008. Stefan Breuer: Nationalismus und Faschismus, Darmstadt 2005. Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek 1994. Allan A. Lund: Germanenideologie im Nationalsozialismus. Zur Rezeption der „Germania“ des Tacitus im „Dritten Reich“, Heidelberg 1995. Hans-Jürgen Lutzhöft: Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920–1940, Stuttgart 1971. Paul Roland: The Nazis and the Occult. Dark Forces Unleashed by the Third Reich, New York 2009.

Nachkriegszeit Wolfgang Benz u. a. (Hrsg.): Einheit der Nation. Diskussionen und Konzeptionen zur Deutschlandpolitik der großen Parteien seit 1945, Stuttgart 1978. Hugo Borger, Ekkehard Mai und Stefan Waetzoldt (Hrsg.): 45 und die Folgen. Kunstgeschichte eines Wiederbeginns, Köln 1991. Bernd Engelmann: Das Reich zerfiel, die Reichen blieben, Hamburg 1972. Josef Foschepoth (Hrsg.): Kalter Krieg und deutsche Frage. Deutschland im Widerstreit der Mächte 1945–1952, Göttingen 1985. Jutta Held: Kunst und Kunstpolitik in Deutschland 1945–49, Berlin 1981. Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Ende des Dritten Reichs – Ende des Zweiten Weltkriegs, München 1995.

376  Auswahlbibliographie

BRD/DDR Françoise Berthélemy und Lutz Winkler (Hrsg.): Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas. Schriftsteller aus beiden deutschen Staaten über ihr nationales Selbstverständnis, Frankfurt a. M. 1990. Peter Brandt und Herbert Ammon (Hrsg.): Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, Reinbeck 1981. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1997. Mary Fulbrook: The Two Germanies 1945–1990, Basingstoke 1992. Jörg Gabbe: Parteien und Nation. Zur Rolle der Nationalbewegung für die politischen Grundorientierungen der Parteien in der Anfangsphase der Bundesrepublik, Meisenheim 1976. Manfred Hättig: Nationalbewußtsein und Staatsbewußtsein in der pluralistischen Gesellschaft, Mainz 1966. Konrad H. Jarausch: After Hitler. Recivilizing Germans 1945–1995, Oxford 2006. Hans-Gerd Jaschke, Birgit Rätsch und Yury Winterberg: Nach Hitler. Radikale Rechte rüsten auf, München 2001. Charles S. Maier: Dissolution. The Crisis of Communism and the End of East Germany, Princeton 1997. Hans Mayer: Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt a. M. 1991. Helge Pross: Was ist deutsch? Wertorientierungen in der Bundesrepublik, Reinbeck 1982. Gebhard Schweigler: Nationalbewußtsein in der BRD und der DDR, Düsseldorf 1973. Rüdiger Thomas: Modell DDR. Die kalkulierte Emanzipation, München 1972.

Berliner Republik Richard Alba, Peter Schmidt und Martina Wasmer: Germans or Foreigners? Attitudes toward Ethnic Minorities in Post-Reunification Germany, New York 2003. Stephen Brockmann: Literature and German Reunification, Cambridge 1999. Frank Brunssen: Das neue Selbstverständnis der Berliner Republik, Würzburg 2005. Jürgen W. Falter u. a. (Hrsg.): Sind wir ein Volk? Ost- und Westdeutschland im Vergleich, München 2006.

Auswahlbibliographie  377

Deniz Göktürk, David Gramling, Anton Kaes und Andreas Langenohl (Hrsg.): Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration, Konstanz 2011. Dieter Gosewinkel: Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsbürgerschaft, Göttingen 2001. Jonathan Grix and Paul Cooke (Hrsg.): East German Distinctiveness in a Unified Germany, Birmingham 2002. Jürgen Habermas: Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt a. M. 1995. Jürgen Habermas: Zur Verfassung Europas, Berlin 2011. Konrad Jarausch: The Rush to German Unity, New York 1995. Carola Jüllig und Jan Werquet (Hrsg.): 18. März, 1. Juli, 3. Oktober 1990. Der Weg zur Einheit, Berlin 2010. Andreas Klärner und Michael Kohlstruck: Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, Bonn 2006. Christian von Krockow: Die Deutschen vor ihrer Zukunft?, Reinbeck 1995. Klaus Larres (Hrsg.): Germany since Unification, Basingstoke 2001. Cynthia Miller-Idriss: Blood and Culture: Youth, Right-Wing Extremism, and National Belonging in Contemporary Germany, Durham 2009. Jan-Werner Müller: Another Country. German Intellectuals, Unification and National Identity, New Haven 2000. Martin Sabrow (Hrsg.): Abschied von der Nation? Deutsche Geschichte und europäische Zukunft, Leipzig 2003. Wolfgang Schäuble: Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991. Jens Schneider: Deutsch sein. Das Eigene, das Fremde und die Vergangenheit im Selbstbild des vereinten Deutschlands, Frankfurt a. M. 2001. Marc Silberman (Hrsg.): The German Wall. Fallout in Europe, New York 2011. Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, München 1999. Bernd Wagner: Rechtsextremismus und kulturelle Subversion in den neuen Ländern, Berlin 1998. Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989, Stuttgart 1995. Volker Weiß: Deutschlands Neue Rechte. Angriffe der Eliten – Von Spengler bis Sarrazin, Paderborn 2011. Ruth Wittlinger: German National Identity in the Twenty-First Century, Basingstoke 2010.

378  Auswahlbibliographie

Namenregister Abusch, Alexander 274, 288, 309 Acheson, Dean G. 282 Ackermann, Anton 272, 286, 298, 299 Adenauer, Konrad 293, 294, 295, 299, 301, 310, 320, 322, 323, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 331, 338 Adorno, Theodor W. 47, 362 Agartz, Viktor 292 Ahlwardt, Hermann 180 Alarich 165, 174 Albrecht, Heinrich Christoph 64 Alexander der Große 165 Alexander I. von Rußland 96 Alexander von Roes 20 Alter, Junius 246 Althamer, Andreas 24 Althusius, Johannes 36 Amery, Carl 333 Ancillon, Johann Peter Friedrich 104 Andersch, Alfred 292 Anker, Kurt 229 Annius von Viterbo 24 Anzengruber, Ludwig 177 Apfel, Holger 350 Arndt, Ernst Moritz 83, 84, 85, 94, 95, 100, 101, 102, 103, 108, 123, 126, 127, 141, 208 Arneth, Alfred von 141 Arnim, Achim von 88, 90, 123 Ascher, Saul 104 Assmann von Abschatz, Hans 34 Atatürk, Kemal 223 Auerswald, Hans von 143 Augustenburg, Christian Friedrich von 69 Aventinus, Johannes 24

Ayrenhoff, Cornelius Hermann von 59 Bach, Johann Sebastian 307, 309 Bandel, Ernst von 166, 172, 173 Barlach, Ernst 287 Bartz, Karl 246 Baruch, Bernard 274, 281 Bassermann, Ernst 211 Bassermann, Friedrich Daniel 136, 141, 150 Bauer, Karl 199 Bauer, Max 228 Baumeister, Willi 288 Baum, Herbert 256 Bebel, August 176, 297 Bebel, Heinrich 24 Becher, Johannes R. 271, 273, 284, 285, 288, 299, 306, 307, 310, 313, 347 Becker, Johann Philipp 120 Becker, Nikolaus 123, 127, 129 Beckmann, Max 288 Beethoven, Ludwig van 78, 115, 116, 307, 309 Benjamin, Walter 243 Bergmann, Ernst 259 Bernhardi, Friedrich von 190 Bernstein, Eduard 180 Besselstedt, Karl 88 Bethmann Hollweg, Theobald von 218, 220 Biermann, Wolf 316 Bismarck, Otto von 12, 13, 151, 155, 156, 157, 158, 159, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 168, 169, 170, 171, 172, 175, 176, 177, 178, 179, 183, Namenregister  379

184, 185, 186, 190, 192, 208, 209, 233, 253, 317 Blavatsky, Helena Petrowna 232 Bloch, Ernst 243 Blücher von Wahlstatt, Gebhard Leberecht 91, 97 Blum, Robert 140 Bochow, Martin 239 Böckel, Otto 181 Bock, J. C. 98 Böcklin, Arnold 166 Bodmer, Johann Jakob 59 Boehm, Max Hildebert 244 Bonus, Arthur 202 Borgia, Cesare 165 Börne, Ludwig 111, 121 Boyen, Hermann von 82, 85 Brandt, Willy 313, 314, 331, 332, 333, 335, 336 Braun, Volker 318, 344 Brecht, Bertolt 270, 275, 278, 367 Bredel, Willi 286 Brentano, Clemens 88, 90, 123 Brentano, Heinrich von 328 Brüggemann, Karl Heinrich 120 Brühl, Karl von 116 Bruhn-Hoffmann, Elke 314 Brüning, Heinrich 252 Buchholtz, Andreas Heinrich 34 Büchner, Georg 121, 128 Bürger, Gottfried August 68 Burte, Hermann 196 Busch, Wilhelm 177 Bush, George H. W. 339 Buß, Joseph von 151 Byrnes, James F. 282 Byron, George Gordon Noel 110 Campe, Joachim Heinrich 66 Campe, Julius 127 Camphausen, Ludolf 150 380  Namenregister

Camphausen, Otto 150 Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 69, 111 Cäsar, Julius 22 Castelli, Ignaz Franz 79 Castlereagh, Robert Stewart 96 Celtis, Konrad 24 Chamberlain, Houston Stewart 199, 200, 232, 248, 263 Chochlaeus, Johannes 24 Churchill, Winston 273, 279 Claß, Heinrich 186, 192, 194, 218 Clausewitz, Karl von 91 Clauß, Ludwig Ferdinand 233 Clay, Lucius D. 292 Coblenz, Wilhelm 210 Collin, Joseph von 79, 90 Cramer, Karl Friedrich 64, 66, 71 Curtius, Ernst Robert 243 Czepko, Daniel von 30 Dähling, Heinrich Anton 93 Dahlmann, Friedrich Christoph 126, 141, 150 Dahn, Felix 172, 174 Dahrendorf, Gustav 286 Dawes, Charles 235 Deckert, Günter 348 Diabelli, Anton 115 Diederichs, Eugen 195 Diederich von dem Werder 30 Dinter, Artur 230 Dix, Otto 288 Dohm, Christian Wilhelm von 67 Dollfuß, Engelbert 223 Dorsch, Anton Joseph 64 Draper, William H. 283 Driesmann, Heinrich 203 Droysen, Johann Gustav 141, 151 Dühring, Eugen 180 Dulles, John Foster 282

Duncker, Johann Friedrich Leopold 115, 116 Dürer, Albrecht 131, 203, 307, 309 Dwinger, Edwin Erich 327 Ebert, Friedrich 224, 225, 235, 236 Eckart, Dietrich 232 Eggebrecht, Axel 288 Eisler, Hanns 278, 313 Eisner, Kurt 225 Engels, Friedrich 144 Enzensberger, Hans Magnus 333, 347 Erhard, Ludwig 8, 292, 294, 295, 320, 322, 323, 324, 330, 331, 332, 333, 338 Erler, Fritz 204 Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha 153, 158 Eucken, Rudolf 213 Feder, Gottfried 232 Feininger, Lyonel 288 Feuchtwanger, Lion 269, 275 Feuerbach, Anselm 166 Fichte, Johann Gottlieb 83, 85, 86, 100, 371 Fischer-Hartinger, Josef 246 Fischer, Joschka 360 Fleming, Paul 30 Follen, Adolf Ludwig 109 Follen, Karl 106, 107, 109 Fontane, Theodor 149, 346 Förster, Bernhard 180 Förster, Friedrich 94 Forster, Georg 71, 73 Franco, Francesco 263 Frank, Bruno 275 Frank, Wolf 269 Franz II., Römisch-deutscher Kaiser 63, 75 Franz I. von Österreich 75, 80, 97 Franzos, Karl Emil 181

Freiligrath, Ferdinand 126, 127, 130, 138, 146 Frey, Gerhard 337, 349 Freytag, Gustav 153, 154, 158 Friedensburg, Ferdinand 286 Friedrich, Caspar David 90, 113, 114, 307 Friedrich I. von Hohenstaufen 19, 168 Friedrich II. von Hohenstaufen 20 Friedrich II. von Preußen 44, 54, 221, 317 Friedrich Wilhelm I. von Preußen 32 Friedrich Wilhelm II. von Preußen 74 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 82, 83, 91, 104, 105, 108, 116 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen 123, 128, 134, 142, 154 Friesen, Friedrich 85 Fritsch, Theodor 180 Fröbel, Julius 140, 145 Furtwängler, Wilhelm 327 Gagern, Heinrich von 136, 143, 150 Gehlen, Arnold 329 Geibel, Emanuel 149, 150, 165 Gentz, Friedrich 80 George, Stefan 197, 198, 243, 244 Gerlach, Ernst Ludwig von 151, 157 Gerlach, Leopold von 91 Girnus, Wilhelm 307 Glaeser, Ernst 240 Glaßbrenner, Adolf 146 Gluck, Christoph Willibald 44 Gneisenau, August Wilhelm Neidhardt von 82, 85, 91, 108 Gobineau, Arthur de 198, 232 Goebbels, Joseph 233, 244, 257, 261, 262 Goethe, Johann Wolfgang 69, 70, 71, 72, 111, 112, 113, 131, 174, 270, 284, 299, 307, 309, 311, 316 Namenregister  381

Gollwitzer, Helmut 326 Gorbatschow, Michail 339, 340 Görres, Joseph 88, 94, 95, 106, 107 Gottschall, Rudolf 138 Gottsched, Johann Christoph 39, 40, 51, 55 Grass, Günter 346, 347 Greiner, Ulrich 348 Griesebach, Eduard 177 Grillparzer, Franz 156 Grimm, Hans 327 Grimm, Jacob 88, 109, 126, 141 Grimm, Wilhelm 88 Grolmann, Karl Wilhelm von 82, 85 Grosz, George 288 Grotewohl, Otto 297, 298, 301, 302, 309 Gruber, Franz Xaver 115 Grün, Anastasius 138 Grundig, Hans 288 Gryphius, Andreas 29 Gundolf, Friedrich 197 Günther, Hans F. K. 232, 233 Gutenberg, Johannes 131 Gutzkow, Karl 121, 149 Habermas, Jürgen 333, 346, 347, 352, 364 Hagelstange, Rudolf 288 Hagen, Friedrich Heinrich von der 88, 110 Haller, Karl Ludwig von 104 Hallstein, Walter 313, 336 Hamann, Johann Georg 55 Hamerling, Robert 166 Hammerstein, Kurt von 253 Hardenberg, Friedrich Leopold von 76, 80 Hardenberg, Karl August von 81, 82, 85, 87, 92, 94, 96, 104, 108 Hardorff, Gerdt 45 382  Namenregister

Harring, Harro Paul 106 Hartmann, Moritz 145, 149 Hasse, Ernst 186 Hauerstein, Georg 202 Haupt, Moritz 126, 146 Hauptmann, Gerhart 286 Haushofer, Max 190, 191, 194 Havemann, Robert 286 Heartfield, John 243 Hebenstreit von Streitenfeld, Franz 63 Heckel, Erich 288 Hecker, Friedrich 136, 145 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 68 Hehn, Victor 169 Hein, Christoph 318, 346 Heine, Heinrich 121, 125, 143, 147 Heine , Th. Th. 237 Heine, Wilhelm Joseph 129 Heinemann, Gustav 326 Heinrich I. 326 Heinrich I. von Sachsen 18 Hellpach, Willy 215 Henrici, Ernst 180 Hentschel, Willibald 202, 263 Herder, Johann Gottfried 55, 56, 59, 70, 83, 85, 86, 113, 371 Hergt, Oskar 227 Hermann der Cherusker 42, 43, 47, 59, 86, 88, 95, 130, 171, 172, 234 Hermann, Franz 245 Hermlin, Stephan 288 Hermstadt, Rudolf 272 Hertzberg, Ewald Friedrich von 60 Herwegh, Georg 126, 127, 128, 130, 140, 145 Heuss, Theodor 284, 294, 326, 327 Heyck, Hans 238, 239 Heym, Stefan 318 Heyse, Paul 149, 177 Hillebrand, Joseph 146

Himmler, Heinrich 261 Hindenburg, Paul von 219, 220, 227, 236, 241, 249, 253, 254 Hippel, Theodor Gottlieb von 67 Hitler, Adolf 12, 15, 223, 226, 229, 230, 233, 237, 241, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 254, 256, 258, 261, 262, 263, 264, 265, 267, 269, 270, 272, 274, 277, 282, 324, 377 Hofer, Andreas 80, 90, 95 Hofer, Karl 284 Höffer, Paul 286 Hoffmann, Heinrich 226 Hoffmann, Karl Heinrich 95, 106 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 109, 126, 127, 128, 130, 140, 163, 189 Hofmann, Andreas 73 Hofmannsthal, Hugo von 243 Hölderlin, Friedrich 68 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 46 Holzbauer, Ignaz 45 Honecker, Erich 313, 314, 315, 316, 317, 318, 335, 336, 372 Hoover, Herbert 281 Hörbiger, Hanns 263 Horneffer, Ernst 197 Hübner, Carl Wilhelm 129 Huch, Ricarda 286, 288 Hugenberg, Alfred 249, 253, 254 Hull, Cordell 281 Hummel, Johann Nepomuk 115 Hutten, Ulrich von 24, 25, 26, 47 Immermann, Karl 104 Ingres, Jean-Auguste-Dominique 77 Irenicus, Franciscus 24 Jahn, Friedrich Ludwig 83, 84, 85, 86, 94, 95, 100, 101, 102, 103, 106, 108, 123, 208 Jensen, Wilhelm 165

Jens, Walter 346 Jérôme Bonaparte 75 Jhering, Herbert 286 Johannes Paul II. 338 Johann XII. 18 Jordanus von Osnabrück 20 Jordan, Wilhelm 165, 174 Joseph II., Römisch-deutscher Kaiser 63 Jügel, Friedrich 93 Jünger, Ernst 244, 337, 348 Jünger, Friedrich Georg 244 Kaempf, Johannes 206, 217 Kamptz, Karl Albert von 104, 105, 106 Kant, Hermann 311 Kant, Immanuel 66, 104, 364 Kantorowicz, Alfred 288 Kapp, Wolfgang 221, 226 Karl der Große 18, 20, 34, 36, 75 Karl von Habsburg 79, 80 Kaulbach, Friedrich August von 214 Keil, Ernst 149 Kelly, Petra K. 364 Kiesinger, Kurt Georg 332 Kinkel, Johann Gottfried 138, 145 Kirchhoff, Johann Jakob 135 Kirdorf, Emil 186 Klee, Paul 288 Klein, Anton 45 Klein, Friedrich Emil 178 Kleist, Heinrich von 88, 89, 90, 91, 111, 172 Kleist-Retzow, Hans Hugo von 151 Klemperer, Viktor 286 Klopstock, Friedrich Gottlieb 42, 43, 44, 46, 48, 52, 54, 57, 68, 86, 89, 101, 111, 130, 371 Kohl, Helmut 337, 339, 340, 341, 343, 344, 345, 346 Namenregister  383

Kokoschka, Oskar 288 Kolbe, Carl Wilhelm 52 Kolbenheyer, Erwin Guido 327 Kollwitz, Käthe 288 Koner, Max Johann Bernhart 187 Körner, Theodor 94, 102, 103, 116, 206, 208 Kossak-Raytenau, Karl Ludwig 245 Kotzebue, August von 104, 107 Kracauer, Siegfried 235 Kretschmann, Karl Friedrich 59 Kreutzer, Konradin 115 Kugler, Franz 149 Kullmann, Eduard 177 Kunkel, Jean-Pierre 361 Kurella, Alfred 240, 271, 272 Lachmann, Karl 109, 110 Lafontaine, Oskar 345 Lagarde, Paul de 163, 179, 180, 191, 195, 232, 263 Landauer, Gustav 225 Langbehn, Julius 195, 197, 200, 248, 263 Lange, Friedrich 180, 186 Langgässer, Elisabeth 288 Langguth, Gerd 359, 370 Langhoff, Wolfgang 286 Lanz von Liebenfels, Jörg 203, 232, 263, 264 Lasky, Melvin L. 289 Laube, Heinrich 121 Lavater, Johann Kaspar 42 Leibniz, Gottfried Wilhelm 39, 55 Lemmer, Ernst 286 Lenin 223, 307 Lenz, Siegfried 333 Leo III. 18 Leopold I. von Deutschland 34 Leopold II. von Deutschland 63

384  Namenregister

Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen 159 Lessing, Gotthold Ephraim 52, 54 Lessing, Karl Friedrich 129 Leuthold, Heinrich 166, 177 Leutze, Emanuel 142 Ley, Robert 262 Lichnowsky, Felix von 141, 143 Liebenau, Hans Christoph von 32 Liebermann, Max 288 Liebermann von Sonnenberg, Max 180 Liebknecht, Karl 224, 225, 297 Liebknecht, Wilhelm 176 Lienhard, Friedrich 196, 213 Lingg, Hermann 165, 174 Lippe-Biesterfeld-Weißenfeld, Leopold zur 157 List, Friedrich 108, 123 List, Guido von 199, 232 Loen, Johann Michael 51 Lohenstein, Daniel Casper von 34, 36 Lortzing, Albert 138 Löwen, Johann Friedrich 51, 52 Luce, Henry 282 Ludendorff, Erich 220, 226, 228, 236, 237, 251 Luden, Heinrich 95 Lüdery, H. 173 Ludin, Hans 253 Ludwig I. von Bayern 129, 135 Ludwig II. von Bayern 159 Ludwig, Otto 149 Ludwig von Anhalt-Köthen 29 Ludwig XIV. von Frankreich 31, 32, 34, 107 Ludwig XVI. von Frankreich 73 Lukács, Georg 243, 271 Luther, Martin 24, 25, 26, 29, 102, 103, 149, 203

Lüttwitz, Walther von 226 Lützow, Ludwig Adolf von 92, 94, 100, 103, 115, 230 Luxemburg, Rosa 225 Lux, Joseph August 213, 215 Mahler, Horst 349 Maizière, Lothar de 341, 342 Mann, Heinrich 169, 243, 270, 275, 276 Mann, Thomas 169, 217, 236, 275, 276, 277, 299 Mantel, Heinrich 245 Manteuffel, Otto Theodor von 151, 154 Marcuse, Ludwig 275 Marie-Luise von Habsburg 80 Marr, Wilhelm 180, 232 Marshall, George C. 282 Marx, Karl 124, 144, 146 Maßmann, Hans Ferdinand 103, 104 Mathy, Karl 141, 150 Maximilian I. von Bayern 105 Maximilian II. von Bayern 135, 150 Maximilian I., Römisch-deutscher Kaiser 21, 24 Mayer, Hans 288, 346, 347 Mayr, Martin 22 McCloy, John J. 281 Mehring, Franz 306 Meil, Johann Wilhelm 49 Meinecke, Friedrich 208, 284 Melanchthon, Philipp 24 Menzel, Adolph 149, 154 Menzel, Wolfgang 108, 109 Merian, Kaspar 31 Merker, Paul 274 Metternich-Winneburg, Klemens Wenzel von 11, 80, 81, 92, 96, 97, 99, 104, 105, 106, 107, 111, 116, 120, 127, 135, 151

Metzner, Franz 207 Mevissen, Gustav von 141 Meyer, Conrad Ferdinand 166, 177 Meyer, Ernst Hermann 309 Milla, Johannes 359, 360 Miller, Johann Martin 46 Mitscherlich, Alexander 333 Mitscherlich, Margarete 333 Mitterand, François 339 Modrow, Hans 318, 339 Moeller van den Bruck, Arthur 195, 197, 233, 234, 244, 348 Mohler, Armin 337 Mohl, Robert von 141 Moltke, Helmuth von 156 Moltke jr., Helmuth von 215 Mommsen, Theodor 155 Mone, Franz Joseph 88, 110 Montesquieu, Charles-Louis de 57, 59 Montez, Lola 135 Morgenthau, Henry 274, 275, 276, 281 Morlacchi, Francesco 116 Moscherosch, Michael 33 Moser, Friedrich Carl von 42, 56 Möser, Justus 59 Müller, Adam 80, 106 Müller-Guttenbronn, Roderich 229 Müller, Heiner 305, 311, 344 Müller, Karl Johann Heinrich 105 Mundt, Theodor 121 Münster, Sebastian 24 Mussolini, Benito 226, 263 Nagel, Otto 286 Napoleon Bonaparte 11, 73, 74, 75, 76, 78, 79, 80, 81, 83, 84, 88, 89, 91, 92, 93, 96, 99, 101, 104, 109, 111, 116, 134, 165, 175 Napoleon III. von Frankreich 159, 165, 175 Namenregister  385

Natorp, Paul 213 Naukler, Johannes 24 Naumann, Friedrich 216, 224 Neumann, Franz 291 Niekisch, Ernst 286 Niemöller, Martin 326 Nietzsche, Friedrich 163, 164, 174, 188, 191, 196, 232, 244, 261, 277 Nolte, Ernst 348 Norden, Hans von 255 Opitz, Martin 29, 33, 34 Otto I., Römisch-deutscher Kaiser 18 Otto II., Römisch-deutscher Kaiser 18 Otto III., Römisch-deutscher Kaiser 18 Palm, Johann Philipp 79 Pantaleon, Heinrich 24 Papen, Franz von 249, 254 Paterculus, Velleius 23 Patton, George S. 282 Paul, Bruno 219 Paul II. 22 Paulus, Friedrich 272 Pechstein, Max 286 Peters, Carl 186 Petersohn, Dietrich 32 Pfau, Ludwig 138, 145, 146 Pfeffel, Gottlieb Konrad 68 Picasso, Pablo 295 Picht, Georg 333 Pieck, Wilhelm 272, 297, 302, 306 Piłsudski, Józef Klemens 263 Plenzdorf, Ulrich 316 Ploetz, Alfred 188, 261 Polgar, Alfred 269 Preuss, Hugo 216 Prutz, Robert 125, 149 Pufendorf, Samuel von 36 Pyra, Immanuel Jakob 42 Raabe, Wilhelm 149 386  Namenregister

Radl, Anton 113 Radowitz, Joseph Maria von 91, 141 Radziwill, Anton von 91 Ranke, Leopold von 110, 124 Rauch, Christian Daniel 129 Rauschning, Hermann 264 Reagan, Ronald 318, 338 Rebmann, Georg Friedrich 66 Redwitz, Oskar von 165, 177 Reichardt, Johann Friedrich 66, 90 Reichenbach, Hans 275 Reichensperger, Peter Franz 151 Reimer, Georg Andreas 85, 91 Reimer, Joseph Ludwig 202 Reinecke, Adolf 228 Renn, Ludwig 274, 286 Rethel, Alfred 148 Reuter, Ernst 291 Reutter, Hermann 327 Rhenanus, Beatus 24 Richter, Eugen 176, 190 Richter, Hans Werner 292, 333 Richter, Jean Paul 76 Riemann, Heinrich Arminius 103, 105 Riesser, Gabriel 141 Rist, Johann 29 Robespierre, Maximilien 64, 76 Rödiger, Ludwig 103 Röhm, Ernst 226, 251 Rollet, Hermann 138 Roon, Albrecht von 155 Roosevelt, Franklin D. 273, 275, 276, 281, 282 Rosegger, Hanns Ludwig 191 Rosenberg, Alfred 232, 248, 249, 261 Rothkirch, Leonhard von 79 Rotteck, Karl Wenzeslaus von 128 Rousseau, Jean-Jacques 86 Ruge, Arnold 124

Rühmkorf, Peter 333 Sachs, Hans 158 Saint-Just, Antoine 64 Sand, Karl Ludwig 103, 107 Sandrart, Johann Jacob von 35 Sarrazin, Thilo 343, 354, 355, 356, 357, 378 Schacht, Hjalmar 234 Schacht, Ulrich 348 Schack, Adolf Friedrich von 165, 177 Schadow, Wilhelm von 129 Schäfer, Dietrich 208 Schallmayer, Wilhelm 188 Scharnhorst, Gerhard Johann von 82, 85, 92, 103 Schäuble, Wolfgang 359, 378 Scheidemann, Philipp 224 Scheler, Max 213 Schelling, Friedrich Wilhelm 68 Scheringer, Richard 253 Scherr, Johannes 167, 175 Schildener, Karl 88 Schiller, Friedrich 69, 70, 71, 72, 119, 131, 208, 307 Schill, Ferdinand von 90, 103, 230 Schilling, Johannes 166, 167 Schinkel, Karl Friedrich 112, 113 Schirrmacher, Frank 347, 348 Schlegel, August Wilhelm 87, 109 Schlegel, Friedrich 80 Schlegel, Johann Elias 51, 57 Schleiermacher, Friedrich Daniel 83, 84, 85 Schlemmer, Oskar 288 Schlözer, August Ludwig von 67 Schmalz, Theodor Anton Heinrich 104 Schmeller, Johann Andreas 110 Schmid, Edmund 248 Schmidt, Helmut 336

Schmidt, Julian 153, 154 Schmitt, Carl 233, 337, 348 Schmitz, Bruno 207 Schneckenburger, Max 123 Schoeps, Hans-Joachim 328 Scholl, Hans 256 Scholl, Sophie 256 Schönaich, Christoph Otto von 59 Schönhuber, Franz Xaver 337, 349 Schopenhauer, Arthur 147 Schottelius, Justus Georg 33 Schröder, Rudolf Alexander 327 Schubart, Christian Friedrich Daniel 59 Schubert, Franz 115 Schultze, Walter 261 Schulze, Ernst 213 Schumacher, Kurt 290, 291, 323 Schumann, Robert 129, 138 Schuman, Robert 325 Schwaner, Wilhelm 202 Schwanthaler, Ludwig 129 Schwarzenberg, Felix zu 140 Schwilk, Heimo 348 Seckendorff, Veit Ludwig von 35 Seghers, Anna 274, 278, 286 Seume, Johann Gottfried 66, 127 Seydlitz-Kurzbach, Walther von 272, 273 Siebenpfeiffer, Philipp Jakob 118, 119, 120, 127 Siemens, Werner 155 Simon, Heinrich 140, 145, 146 Simon, Ludwig 145, 146 Simson, Martin Eduard von 150 Sintenis, Renée 286 Snell, Wilhelm 95 Solf, Ferdinand Eugen 227 Sombart, Werner 213 Spener, Philipp Jakob 41 Namenregister  387

Spengler, Oswald 197, 244 Spielhagen, Friedrich 149 Spohr, Ludwig 116 Spontini, Gaspare Luigi Pacifico 116 Spranger, Eduard 286 Stadion, Johann Philipp von 79, 80 Staegemann, Friedrich August von 91, 94 Stahl, Friedrich Julius 151 Stalin, Josif 223, 241, 262, 271, 272, 273, 274, 279, 302, 307 Statz, Vincenz 122 Stauff, Philipp 202 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum 81, 82, 84, 85, 88, 89, 91, 92, 94, 97 Stein zum Altenstein, Karl vom 105 Stenner, Walther 252 Stettinius, Edward R. 281 Stöcker, Adolf 180 Stolberg, Friedrich Leopold zu 46 Stoph, Willy 335 Storm, Theodor 149 Strasser, Otto 233, 247, 251 Strauss, Botho 348 Streicher, Julius 232 Stresemann, Gustav 236, 238 Stroux, Johannes 284 Struve, Gustav von 136, 145 Szczesny, Gerhard 333 Tacitus, Publius Cornelius 21, 22, 23, 24, 25, 57, 59, 79, 88 Talleyrand, Charles-Maurice de 92, 96 Tell, Wilhelm 47 Teut, Heinrich 47, 192 Thadden, Adolf von 334 Thatcher, Margaret 339 Theoderich der Große 174 Thoma, Hans 166 Thyssen, Fritz 252, 253 388  Namenregister

Tille, Alexander 188, 189 Tillich, Paul 275 Tirpitz, Alfred von 211, 221 Treitschke, Heinrich von 163, 180, 232 Troeltsch, Ernst 216 Trotzky, Leo 271 Truman, Harry S. 279, 282 Tucholsky, Kurt 243 Uhland, Ludwig 126, 141 Uhse, Bodo 274 Ulbricht, Walter 272, 302, 305, 307, 309, 310, 311, 312, 313, 315 Vandenberg, Arthur H. 282 Vansittart, Robert Gilbert 274 Varnhagen von Ense, Karl August 83 Veit, Philipp 137 Venedey, Jakob 120, 140 Vesper, Will 327 Viertel, Berthold 275 Vincke, Georg von 141, 151 Virchow, Rudolf 155 Vischer, Friedrich Theodor 141, 145, 149 Vogt, Carl 140, 146 Voltaire 37 Voß, Johann Heinrich 46, 68 Voß, Luise von 87 Wachler, Ernst 193, 203 Wachler, Ludwig 109 Wagenbach, Klaus 333 Wagner, Richard 147, 158, 171, 264, 277 Wallace, Henry A. 281 Wallach, Arthur von 189 Walser, Martin 333 Walther von der Vogelweide 20 Waltz, Sasha 359, 360 Warburg, James P. 281 Weber, Alfred 217

Weber, Carl Maria von 116, 117 Weckherlin, Georg Rudolf 30 Wedekind, Georg 73 Wegener, Paul 286 Wehler, Hans-Ulrich 352 Wehner, Josef Magnus 239 Weidig, Friedrich Ludwig 121 Weinert, Erich 272, 273 Weisenborn, Günther 286, 288 Weishaupt, Adam 63 Weitsch, Pascha 52 Welcker, Karl Theodor 128 Welles, Sumner 281 Wellington, Arthur Wellesley 97 Werner, Anton von 160 Wheeler, George Shaw 283 Wieland, Christoph Martin 46, 51, 67 Wienbarg, Ludolf 121 Wilbrandt, Adolf von 165 Wilbrandt, Christian 146 Wildenbruch, Ernst von 165 Wilhelm I. von Preußen 154, 155, 159, 161, 162, 168, 169, 172, 173, 177, 179

Wilhelm II. von Deutschland 174, 180, 186, 187, 188, 192, 206, 208, 210, 211, 212, 215, 220, 223 Wilser, Ludwig 202 Wimpfeling, Jakob 24, 25 Windthorst, Ludwig 176 Winter, Fritz 288 Wirth, Johann Georg August 119, 120 Wittekind 47 Wolf, Christa 311, 318 Wolf, Friedrich 288 Wolff, Julius 165 Wolters, Friedrich 197 Wolzogen, Hans von 203 Wrangel, Friedrich Heinrich von 156 Wulff, Christian 357 York von Wartenburg, Ludwig 91 Zelter, Carl Friedrich 112 Zesen, Philipp von 32 Zeune, August 109, 110 Ziegler, Leopold 213 Zille, Heinrich 288 Zimmermann, Johann Georg 56 Zimmermann, Ludwig Christian 88 Zimmermann, Robert 138 Zimmermann, Wilhelm 125

Namenregister  389

Bildnachweise Berlin, Alte Nationalgalerie 16 Berlin, Archiv für Kunst und Geschichte 1 Berlin, Associated Press 54 Berlin, Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz 5, 13, 19, 29, 34, 35, 38, 39, 42, 44, 51, 60 Berlin, Deutsches Historisches Museum 3, 17, 23, 36, 37, 45, 46, 50, 52, 58, 61 Berlin, Lipperheidsche Kostümbibliothek 2 Berlin, Ullstein Bilderdienst 27, 47, 48, 49, 63, 64 ddp images 65 Dessau, Anhaltinische Gemäldegalerie 7 Düsseldorf, Foto Stoettner 33 Friedrichsruh, Bismarck-Museum 24, 28 Hamburg, Spiegel-Archiv 66 Köln, Wallraff-Richartz-Museum 18 Madison, Archiv des Verfassers 4, 6, 8, 14, 15, 20, 22, 25, 26, 30, 31, 32, 40, 41, 43, 53, 55, 56, 57, 59, 62, 6 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum 9, 11, 21 Paris, Musée d’Armée 10 Schwerin, Staatliche Museen 12

Falls im Hinblick auf die in diesem Buch abgebildeten Kunstwerke und Fotografien irgendwelche Rechtsinhaber oder Rechtsnachfolger übersehen wurden oder nicht ausfindig gemacht werden konnten, bitte ich diese, sich beim Verlag zu melden und ihre Ansprüche geltend zu machen.

390  Bildnachweise

Jost Hermand

Kultur in finsteren Zeiten naZifascHismus, innere emigr ation, exil

In fast allen politischen Debatten der Zeit zwischen 1933 und 1945 hat der Begriff Kultur eine zentrale Rolle gespielt. Während es dabei in der Inneren Emigration und im Exil fast ausschließlich um hochkulturelle Vorstellungen ging, sind die Nationalsozialisten auf diesem Sektor stets von strategischen Gesichtspunkten ausgegangen. Sie boten jeder Bevölkerungsschicht – trotz aller vorgeblichen Volksgemeinschaftskonzepte – das ihnen Gemäße: der Bildungsbourgeoisie die Werke der klassischen Tradition und den sogenannten breiten Massen eine sie von den mörderischen Fernzielen der NSDAP ablenkende Unterhaltungskultur, deren wichtigstes Ziel es war, sie bei guter Laune zu halten. Jost Hermand zeigt in seinem neuen Buch, daß dieses Kalkül maßgeblich zu jener Erfolgsgeschichte des Nazifaschismus beigetragen hat, die für die Nachgeborenen bis heute ein bestürzendes Phänomen ist. Ihre Gegner in der Inneren Emigration und im Exil – ohne Zugang zu den auf Breitenwirkung zielenden Massenmedien und daher im Bereich der randständigen höheren Künste bleibend – blieben dagegen relativ wirkungslos und konnten erst im Zuge der sogenannten Vergangenheitsbewältigung nach dem Dritten Reich die nötige Anerkennung finden und damit eine Wirkung entfalten. 2010. 337 S. Mit 53 S/w-Abb. Gb. Mit SU. iSbN 978-3-412-20604-8

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien

JOST HERMAND

POLITISCHE DENKBILDER VON CASPAR DAVID FRIEDRICH BIS NEO RAUCH

Jost Hermand stellt politisch intendierte Werke vor, die in der Zeit von 1806 bis heute entstanden sind, und bindet sie in den politisch-historischen Kontext ein. Themen sind zudem die Entstehungszeit des Bildes sowie Herkunft und Bedeutung des Künstlers. Behandelt werden Werke von: Friedrich, Schnorr von Carolsfeld, Menzel, Böcklin, Schmidt-Rottluff, Barlach, Kollwitz, Heartfield, Picasso, Nagel, Prechtl, Mattheuer, Kiefer und Rauch. 2011. 294 S. 29 FARB. U. S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-412-20703-8

„Hermands Beispiele dienen als anschauliche Hintergrundfolie für einen Querschnitt durch den Nationalismus und seine Rezeption als zentrales Thema der jüngeren deutschen Geschichte. Die Verflechtung des Historischen mit dem Mythischen bzw. die Ausdifferenzierung nationaldemokratischer und faschistischer Strömungen bis in die jüngere Geschichte der Bundesrepublik fungieren dabei […] als tragende und von Hermand engagiert und kenntnisreich vorgetragene Gesichtspunkte.“ Sehepunkte

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar