Geschichte und Systematik des adverbalen Dativs im Deutschen: Eine funktional-linguistische Analyse des morphologischen Kasus 9783110801446, 9783110162653

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Geschichte und Systematik des adverbalen Dativs im Deutschen: Eine funktional-linguistische Analyse des morphologischen Kasus
 9783110801446, 9783110162653

Table of contents :
Vorwort
Abkürzungen und Symbole
Erster Teil: Theoretische Grundsätze
I. Methodologische Vorüberlegungen
I.1. Einführung: Der “adverbale“ Dativ
I.2. Bisherige Erklärungsversuche
II. Das funktionelle Erklärungsmodell: Zwischen Diakrisis, Opposition und Idiomatizität
II.1. Der morphologische Kasus
II.2. Das funktional-diakritische Prinzip der Kasusunterscheidung
II.3. Das funktional-oppositive Prinzip der Kasusunterscheidung
II.4. Gradualität, Geschichtlichkeit und Sprachgebrauch
II.5. Der Gegenstand der Untersuchung
II.6. Analytische Vorgehensweise und Quellen
Zweiter Teil: Fallanalysen
III. Gruppe A: Der syntagmatische Dativ
III.0. Allgemeine Charakterisierung der Verben der GRUPPE A
III.1. kündigen
III.2. opfern
III.3. telefonieren
III.4. huldigen
III.5. nahen
III.6. wehren
III.7. danken
III.8. glauben
III.9. frönen und fronen
III.10. winken
III.11. pfeifen
III.12. entsagen
III.13. vergeben und verzeihen
III.14. antworten
IV. Gruppe B: Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ
IV.0. Allgemeine Charakterisierung der Verben der GRUPPE B
IV.1. trauen und getrauen, vertrauen, mißtrauen
IV.2. drohen
IV.3. dienen
IV.4. fluchen
IV.5. schmeicheln
IV.6. eignen
IV.7. helfen
IV.8. folgen
IV.9. steuern
IV.10. gleichen
IV.11. ähneln
IV.12. schaden
IV.13. nutzen
IV.14. zürnen
IV.15. entsprechen
IV.16. gehören und gehorchen
IV.17. verfallen
V. Gruppe C: Der paradigmatische Dativ
V.0. Allgemeine Charakterisierung der Verben der GRUPPE C
V.1. schmecken
V.2. grollen
V.3. weichen
V.4. leben
V.5. läuten
V.6. fehlen
V.7. trotzen
V.8. leuchten
V.9. lauschen
V.10. klingeln
V.11. bekommen
V.12. belieben
V.13. genügen
V.14. begegnen
V.15. scheinen und erscheinen
V.16. gefallen
AUSNAHMEN:
V.17. behagen
V.18. erliegen
VI. Lehnwörter mit adverbalem Dativ
VI.0. Allgemeine Charakterisierung
VI.1. imponieren, gratulieren, applaudieren, inhärieren, assistieren, kondolieren, präsidieren, präludieren, korrespondieren usw
VI.2. sekundieren
VII. Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia
VII.0. Allgemeine Charakterisierung
VII.1. hofieren
VII.2. rufen
VII.3. gnaden
VII.4. Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ
Dritter Teil: Schlußbetrachtungen
VIII. Zusammenfassung
VIII. 1. Schematische Übersicht der Verben mit adverbalem Dativ
VIII.2. Geschichtliche und systematische kasusmorphologische Regularitäten der Verben mit adverbalem Dativ
Literaturverzeichnis

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Klaas Willems /Jeroen Van Pottelberge Geschichte und Systematik des adverbalen Dativs im Deutschen

W G DE

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Stefan Sonderegger und Oskar Reichmann

49

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

Klaas Willems/Jeroen Van Pottelberge

Geschichte und Systematik des adverbalen Dativs im Deutschen Eine funktional-linguistische Analyse des morphologischen Kasus

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Willems, Klaas: Geschichte und Systematik des adverbalen Dativs im Deutschen : eine funktional-linguistische Analyse des morphologischen Kasus / Klaas Willems/Jeroen Van Pottelberge. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Studia linguistica Germanica ; 49) ISBN 3-11-016265-2

© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort

Die sprachwissenschaftliche Literatur zum Dativ in der deutschen Gegenwartssprache hat heute bereits einen beachtlichen Umfang. Erstaunlich aber ist, wie spärlich die Beiträge sind, die explizit jenen Dativ zum Gegenstand haben, der bei einer relativ kleinen Gruppe von Verben in zweistelligen Satzbauplänen erscheint, z.B. bei helfen, folgen, drohen, danken, dienen, glauben, ähneln, gehorchen usw. Die meisten Beiträge setzen sich mit dem Dativ bei dreistelligen Verben oder mit dem Satzdativ und dem Problem des sog. "freien Dativs" auseinander1. Obwohl der Muttersprachler hinter der Dativrektion von Verben wie helfen, folgen und danken kaum ein Problem wittern mag, wissen viele Auslandsgermanisten davon ein Lied zu singen, wie schwierig es ist, Schülern und Studenten im Fremdsprachenunterricht beizubringen, daß ein "erstes Objekt" im Deutschen - wie in den klassischen Sprachen und überhaupt den meisten Kasussprachen - offenbar auch im Dativ stehen kann, statt im zu erwartenden Akkusativ, zumindest bei einigen Verben, die meist als "Ausnahmen" auswendig gelernt werden müssen. Schon ein kurzer Vergleich zwischen Die Lehrerin gab dem Kind das Buch und Der Fahrerfolgte dem Bus zeigt, daß der Dativ in den beiden Sätzen einen grundsätzlich anderen Stellenwert hat, obwohl es sich um ein und denselben Kasus handelt. Im ersten Satz ist der Dativ dadurch motiviert, daß dasjenige, was die Lehrerin gibt, im Akkusativ kodiert ist und ein weiteres Objekt - das Kind, das das Buch bekommt - verständlicherweise nicht mehr denselben Kasus aufweist. Letzteres ist im Deutschen tatsächlich nur bei einigen wenigen Verben wie lehren, bitten, fragen usw. der Fall, die aus diesem Grund den eigentlichen Gegensatz zu den im vorliegenden Buch zu analysierenden Verben bilden. Im zweiten Satz gilt jene Motivation für den Dativ nicht: In Der Fahrerfolgte dem Bus gibt es kein Akkusativobjekt, das 1

Unter den neueren Monographien seien hier u.a. Krohn 1980, Wegener 1985, Johansen 1988, Schmid 1988 und Schöfer 1992 genannt.

VI

Vorwort

den Dativ bei folgen erklären könnte, und dennoch wäre, schon rein morphologisch, *Der Fahrer folgte den Bus genau so falsch wie *Die Lehrerin gab das Kind das Buch. Woher dann der Dativ bei folgen und allen anderen Verben "mit einem direkten Objekt im Dativ"? Das ist die Frage, mit der wir uns in der vorliegenden Untersuchung auseinandersetzen. Wie auch immer die Antwort auf diese Frage letztlich aussieht, egal ob sie in erster Linie von der Bedeutung der jeweiligen Verben oder von deren syntaktischen Merkmalen bzw. Valenzeigenschaften ausgeht, klar ist auf jeden Fall, daß die Antwort der Sprachgeschichte Rechnung tragen muß. Denn daß die Dativrektion von helfen, folgen, drohen, danken und allen anderen Verben mit einem (wie wir sagen werden:) "adverbalen Dativ" ein Ergebnis der Sprachgeschichte ist und mithin auch als ein geschichtliches Faktum zu analysieren ist, darüber kann kein Zweifel bestehen. Die Hypothese, auf der unsere Untersuchung beruht, geht sogar noch einen Schritt weiter: Insofern der Ansatz einer Erklärung für den "anomalen" Dativ bei jenen Verben auf der Sprachgeschichte aufbaut, ist es möglich, den morphologischen Kasus sowohl im Hinblick auf die Verbbedeutungen ("semantisch" im engeren Sinn) als auch angesichts der Satzbaupläne, in denen die Dativverben den verbalen Kern bilden ("syntaktisch"), adäquat zu beschreiben und zu erklären. Das ist die Grundannahme der vorliegenden Untersuchung, die im ersten Teil noch weiter erläutert wird und auf deren Grundlage wir bestrebt sein werden, den Dativ in zweistelligen Konstruktionen in der Regel als funktionell begründet zu deuten. Die Ansprüche der Studie sind insofern eher bescheiden, als sie nicht mehr anstrebt als eine gründliche Analyse eines in der einschlägigen Literatur vernachlässigten Gebrauchs des Dativs in der deutschen Sprache der Gegenwart. Weil die spezifische Verwendung des Dativs, die in den folgenden Einzelanalysen zur Debatte steht, immer auch - wie alles Geschichtliche in der Sprache - einen gewissen Grad der Lexikalisierung, der Idiomatizität aufweist (der bald größer, bald kleiner ist), können nur bedingt Extrapolationen zu anderen Verwendungen morphologischer Kasus vorgenommen werden, auch zu anderen Verwendungen des Dativs. Der sog. "freie Dativ" z.B. erheischt einen anderen Ansatz als denjenigen, den wir hier vorschlagen und der sich zwischen den beiden Polen der Funktion auf der syntagmatischen Ebene und derjenigen auf der paradigmatischen Ebene ansiedelt.

Vorwort

VII

Wie ein roter Faden zieht sich durch die vorliegende Untersuchung - das sei hier bereits vorweggenommen - die Erkenntnis, daß es sich als schlichtweg unmöglich herausstellt, alle Probleme im Zusammenhang mit den Kasus der Sprachen auf Fragen der Tiefenkasus zu reduzieren. Die morphologischen oder Oberflächenkasus bilden eine objektive Realität der Sprache, und die Probleme, die sie der Linguistik bereiten, können nur gelöst werden, wenn man sich für einen Erklärungsansatz entscheidet, der ihnen gemäß ist - d.h. für einen Ansatz, der berücksichtigt, was der Form der Sprechakte ablesbar ist. In dieser Hinsicht ist unser Buch zugleich ein Plädoyer für eine erneute Beschäftigung mit den morphologischen Kasus - eine Beschäftigung, die in der neueren Sprachwissenschaft allmählich wiederum zu jener Berechtigung zurückzufinden scheint, auf die sie rein sachlich durchaus Anspruch erheben kann. Zum Schluß möchten wir außer dem Verlag folgenden Personen, die uns beim Zustandekommen des vorliegenden Buches behilflich waren, aufrichtig danken: Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger, Erika Mussche, Gilbert De Smet, Torsten Leuschner, Luc De Grauwe und Walter De Cubber. Gent, im Juni 1998

K. Willems J. Van Pottelberge

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

Abkürzungen und Symbole

XIII

Erster Teil: Theoretische Grundsätze I.

Methodologische Vorüberlegungen

3

1.1. Einführung: Der "adverbale" Dativ

3

1.2. Bisherige Erklärungsversuche 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4. 1.2.5. 1.2.6. 1.2.7. 1.2.8. 1.2.9. 1.2.10. 1.2.11. 1.2.12. 1.2.13. 1.2.14. 1.2.15.

Jacob Grimm Hermann Paul Wilhelm Wilmanns, Otto Behaghel, Oskar Erdmann/Otto Mensing Heinrich Winkler, Wilhelm Havers Inhaltbezogene Linguistik Solomon D. Kaznelson Gerhard Helbig/Joachim Buscha Frans Plank Ingeborg Schröbler/Siegfried Grosse Richard D. Brecht/James S. Levine Jean Fourquet, Galina A. Bajewa Heide Wegener Ingeborg Johansen Rektions- und Bindungstheorie und psycholinguistische Ansätze Kognitive Linguistik

10 10 12 14 18 21 24 25 27 30 31 33 36 41 42 45

χ

Inhaltsverzeichnis

II. Das funktionelle Erklärungsmodell: Zwischen Diakrisis, Opposition und Idiomatizität

49

II.l. Der morphologische Kasus

49

Π.2. Das funktional-diakritische Prinzip der Kasusunterscheidung . 52 11.3. Das funktional-oppositive Prinzip der Kasusunterscheidung . . 6 1 11.4. Gradualität, Geschichtlichkeit und Sprachgebrauch

64

Π.4.Ι. syntagmatisch-paradigmatische Kontinuum . . . . 65 Π.4.2. Das Grade der Idiomatizität 67 Π.4.3. Ebenen der Bedeutung

69

11.5. Der Gegenstand der Untersuchung

70

H.5.1. Reflexive Verben Π.5.2. Defektive Verben und oblique es-Verben Π.5.3. Zusammengesetzte Verben und Verben mit trennbaren Halbpräfixen II.5.4. Verben mit untrennbaren Präfixen II. 6. Analytische Vorgehens weise und Quellen

71 71 74 75 81

Zweiter Teil: Fallanalysen ΙΠ. Gruppe A: Der syntagmatische Dativ

91

Allgemeine Charakterisierung der Verben der GRUPPE A . . 91 ΠΙ.1. kündigen 92 m.2. opfern 102 ΠΙ.3. telefonieren 106 m.4. huldigen 112 III.5. nahen 118 ΙΠ.6. wehren 124 ΙΠ.7. danken 136 III.8. glauben 143 III. 9. frönen und fronen 154 III. 10. winken 162 III. 11. pfeifen 173 ΙΠ.0.

Inhaltsverzeichnis

XI

III. 12. entsagen ΙΠ. 13. vergeben und verzeihen ΙΠ. 14. antworten

179 185 190

IV. Gruppe B: Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ IV.O. IV. 1. IV.2. IV.3. IV.4. IV. 5. IV.6. IV.7. IV.8. IV.9. IV. 10. IV.ll. IV. 12. IV. 13. IV. 14.

Allgemeine Charakterisierung der Verben der trauen und getrauen, vertrauen, mißtrauen drohen dienen fluchen schmeicheln eignen helfen folgen steuern gleichen ähneln schaden nutzen zürnen

195 GRUPPE

Β . 195 200 225 244 260 271 280 286 312 326 333 341 346 351 359

IV. 15. entsprechen IV. 16. gehören und gehorchen IV. 17. verfallen

367 371 388

V. Gruppe C: Der paradigmatische Dativ V.O. V.l. V.2. V.3. V.4. V.5. V.6. V.7. V.8. V.9. V.10.

Allgemeine Charakterisierung der Verben der schmecken grollen weichen leben läuten fehlen trotzen leuchten lauschen klingeln

V.ll. V.12.

bekommen belieben

399 GRUPPE

C .

399

402 409 412 414 422 427 432 443 448 456 459 466

Inhaltsverzeichnis

XII

V.13. V.14.

genügen begegnen

468 481

V.15.

scheinen und erscheinen

490

V.16.

gefallen

506

AUSNAHMEN:

V.17. V.18.

behagen erliegen

VI. Lehnwörter mit adverbalem Dativ VI.O. VI.l.

VI.2.

Allgemeine Charakterisierung imponieren, gratulieren, applaudieren, inhärieren, assistieren, kondolieren, präsidieren, präludieren, korrespondieren usw sekundieren

VII. Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia VII.0. VII. 1. VII.2. VII.3. VII.4.

Allgemeine Charakterisierung hofieren rufen gnaden Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ. . . .

515 519 529 529

529 551 559 559 560 567 580 589

Dritter Teil: Schlußbetrachtungen VIII. Zusammenfassung VIII. 1. Schematische Übersicht der Verben mit adverbalem Dativ VIII.2. Geschichtliche und systematische kasusmorphologische Regularitäten der Verben mit adverbalem Dativ Literaturverzeichnis

635

635 642 653

Abkürzungen und Symbole Die Abkürzungen der häufig verwendeten Wörterbücher und Nachschlagewerke findet man am Schluß des Buches, vor dem eigentlichen Literaturverzeichnis und in alphabetischer Reihenfolge (S. 653). Die anderen Abkürzungen sind: ahd.: althochdeutsch an.: altnordisch dt.: deutsch frz.: französisch frühnhd.: frühneuhochdeutsch frühmhd.: frühmittelhochdeutsch gemeingerm.: gemeingermanisch germ.: germanisch gr.: griechisch idg.: indogermanisch (indoeuropäisch) it.: italienisch lat.: lateinisch mhd.: mittelhochdeutsch nhd.: neuhochdeutsch nl.: niederländisch pl.: plural sg.: singular spätahd.: spätalthochdeutsch spätmhd.: spätmittelhochdeutsch Verwendete Symbole: [ . . . ] , [ . . . [ . . . ] ] usw. markieren die Grenzen der Konnexionskomplexe um einstellige bzw. mehrstellige Verben * = ungrammatisch = zweifelhaft = sehr zweifelhaft ° vor einem Wort oder einer Fügung besagt, daß sie nicht bezeugt, sondern rekonstruiert ist.

Erster Teil: Theoretische Grundsätze

I. Methodologische Vorüberlegungen 1.1. Einführung: Der "adverbale" Dativ Nachdem sich die linguistische Beschäftigung mit den Kasus seit den 70er Jahren vor allem am Fillmoreschen Modell der Tiefenkasus orientiert hat, weist die Kasustheorie in den letzten Jahren erneut ein zunehmendes Interesse an Oberflächenphänomenen auf. Die neue Hinwendung zu den morphologischen Kasus bedeutet freilich ebenfalls, daß man sich wieder mit Fragen beschäftigen muß, die vor der Kasusgrammatik und seit den Anfangen der modernen Sprachwissenschaft in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in der Kasustheorie immer schon eine wichtige Rolle gespielt haben. Im 19. und frühen 20. Jh. lautete die zentrale Frage, ob den verschiedenen Kasus jeweils bestimmte, mehr oder weniger "einheitliche" Bedeutungen auf Systemebene entsprechen oder ob die Kasus nicht vielmehr eine vor allem syntaktische Funktion haben, wobei dann zusätzlich noch danach zu fragen war, ob sich die etwaigen syntaktischen Kasusfunktionen darüber hinaus semantisch definieren lassen. Obwohl die neueren Entwicklungen in der Kasustheorie keineswegs eine völlige Rückkehr zum historisch-vergleichenden Paradigma der kasuellen "Grundbedeutungen" oder zum strukturalistischen Paradigma der "Gesamtbedeutungen" darstellt, machen sich doch unverkennbar Tendenzen bemerkbar, in denen die semantische Perspektive auf die Oberflächenkasus wieder mehr ins Gewicht fallt. Herausragende Bemühungen in dieser Hinsicht stammen gegenwärtig unter anderem aus der kognitiv-linguistischen Richtung.1 Die Rektions- und Bindungstheorie orientiert sich dagegen vornehmlich am von der Kasus-, Valenzund Dependenzgrammatik übernommenen Prinzip der "thematischen (semantischen) Rollen" und legt keine Theorie morphologischer Kasus vor. 2 Schon immer bildete die nichteinheitliche Kasusrektion bei Verben eine besondere Herausforderung für kasussemantische Erklärungsversuche. Außer 1 2

Dazu s. nun ausführlich Willems 1997, 35ff. vgl. Fanselow/Felix 1990, Wegener 1990, Haegeman 21994 und Welke 1994.

4

Methodologische Vorüberlegungen

im Sanskrit, Griechischen, Lateinischen, Russischen sowie in anderen Kasussprachen ist auch im Deutschen das Phänomen bekannt, daß Verben keineswegs nur einen Kasus regieren. Im Vierkasussystem der deutschen Gegenwartssprache regieren Verben alle obliquen Kasus, obwohl der Akkusativ als der Verbalkasus katexochen gilt. Neben dem Prototyp des Akkusativs als Kasus bei transitiven Verben (jmdn. sehen, einen Auftrag erledigen, eine Aufgabe machen, ein Buch lesen usw.) hat sich aber bis in die Gegenwartssprache eine Reihe von sog. "intransitiven" Verben behaupten können, die den Dativ regieren (ihelfen, folgen, drohen, danken, glauben, winken, huldigen usw.) oder den Genitiv regieren (begehren, bedürfen, brauchen, erwähnen, harren, genesen, warten, gedenken, spotten, entraten, entbehren usw.). Die zuletzt genannten Genitiwerben sind heute oft als ausgesprochen archaisch zu werten (des Geldes begehren, der Hilfe bedürfen, keines Beweises brauchen, der Sache nicht erwähnen, der Dinge harren, eines Sohnes genesen, seines Amtes warten), weshalb sie auch allmählich - auch lexikalisch - verdrängt werden, einen Kasuswechsel erfahren oder durch Präpositionalgefüge ersetzt werden (das Geld begehren, keinen Beweis brauchen, auf etwas harren/warten usw.). Auch die Konstruktion mit zwei Objektsakkusativen - "eine historisch erklärbare 'Fehlkonstruktion' der deutschen Sprache"3 - , die nur bei einigen wenigen Verben üblich ist, steht im heutigen Deutsch unter starkem Druck.4 Der Ersatz des "persönlichen" Akkusativobjekts durch ein Dativobjekt - was den klassischen dreistelligen Satzbauplan mit Dativ und Akkusativ ergibt - ist heute keine Seltenheit mehr (z.B.: Mir ist Dankbarkeit gelehrt worden).5 Von einem Rückgang des Dativs bei helfen, folgen, drohen, danken usf. kann dagegen nicht die Rede sein; dieser Dativ ist so fest wie etwa der Akkusativ bei sehen und lesen. In einem Artikel zum Thema "Kasuswandel" schreibt Wolfgang Sucharowski, daß in der Geschichte des Deutschen die Bewegungen im allgemeinen vom Genitiv weg zum Akkusativ erfolgt seien und keine umgekehrten "Wanderungen" stattgefunden hätten, und der Verfasser fügt hinzu, daß etwas Ähnliches auch für den Dativ gelte: "sogar Entwicklungen des Akkusativs zum Dativ wurden im Verlauf der Sprachentwicklung rückgängig gemacht und ende-

3 4

5

Wegener 1991, 73; Glinz 1962, 175 spricht von einer "Willkür" der betreffenden Verben. Frans Plank zufolge handelt es sich im einzelnen um die folgenden Verben: kosten, bitten, fragen, abfragen, abhören, lehren "und eventuell erinnern mit Reflexivum", s. Plank 1987, 39. Duden: Die Grammatik, § 1181; vgl. Bynon 1977/1981, 37 und Wegener 1986, 21.

Einführung: Der "adverbale" Dativ

5

ten erneut bei der Akkusativform".6 So leicht es fällt, dem ersten Teil von Sucharowskis Behauptung zum Genitiv beizupflichten, so skeptisch stimmt doch deren zweiter Teil. Nicht nur gibt es Beispiele dafür, daß Entwicklungen des Akkusativs zum Dativ im weiteren Verlauf der Sprachgeschichte alles andere als rückgängig gemacht wurden. Das ist z.B. der Fall bei der Rektion des Verbs trotzen, das ursprünglich den Akkusativ regierte (s. § V.7.). Darüber hinaus gibt es verschiedene Belege für geschichtlich parallele Rektionsentwicklungen, aus denen der Dativ als Sieger über den Akkusativ hervorgegangen ist (vgl. z.B. die Akkusativ- und Dativrektion bei einem Verb wie helfen bis ins 19. Jh., s. § IV.7.). Aus solchen Beispielen geht hervor, daß der adverbale Dativ in zweistelligen Konstruktionen zwar eine besondere und morphologisch durchaus "markierte" Erscheinung bildet, daß sie sich in der Geschichte der deutschen Sprache aber als ungemein zählebig herausstellt. Aus diesen beiden Gründen ist die Erscheinung freilich auch in hohem Maße erklärungsbedürftig. In der vorliegenden Untersuchung widmen wir uns der Frage, wie sich der genannte Dativ bei einer Reihe von Verben sowohl diachronisch als auch synchronisch erklären läßt und ob ihm bestimmte semantische und syntaktische Motive entsprechen (oder gegebenenfalls Kombinationen solcher Motive). Wir nennen den Dativ, mit dem wir uns im folgenden beschäftigen werden, den "adverbalen Dativ". Die Bezeichnung "adverbaler Dativ" stammt nicht von uns, sondern wir übernehmen sie von anderen Autoren. Wir definieren die Bezeichnung aber in einem spezifischen, engeren Sinn, als gemeinhin geschieht. An und für sich besagt "adverbaler Dativ" nichts mehr oder nichts weniger, als daß der Dativ einem Verb zugeordnet ist. Es war immer üblich, den Dativ, der von einem Verb regiert wird, von Dativen abzuheben, die von anderen Wortarten (bzw. Redeteilen) regiert werden, insbesondere von einer Präposition (von, aus, mit usw.). Daneben gibt es Dative, die einem ganzen Satz zugeordnet sind, was für die klassische Kategorie der "freien Dative" (dativus ethicus und dativus judicantis) gilt. Auf jeden Fall unterscheidet man spätestens seit Jacob Grimms Deutscher Grammatik zwischen der adverbalen Rektion (oder Verbalrektion), der adnominalen Rektion (oder Nominalrektion, wozu außer der Rektion des Substantivs auch diejenige des Adjektivs gehört) und der Rektion bei Präpositionen, Partikeln, Adverben usw.7 Heide Wegener unter6 7

Sucharowski 1994, 49. Grimm, Deutsche Grammatik 1897/1898, IV, 682ff (Originalpag. 588«); vgl. Erdmann/Mensing 1898, 51ff; Wilmanns 1909, 472ff; Paul 1916/1920, III, 215ff; Erben 1954, 63ff; Paul/Moser/Schröbler 1969, 286ff u.a.

6

Methodologische Vorüberlegungen

scheidet beim Dativ im einzelnen zwischen sechs Rektionstypen. Eine Nominalphrase im Dativ kann stehen8: 1. bei Prä- und Postpositionen (aus dem Haus; im Haus; dem Redner zufolge), 2. bei Appositionen (nach Ansicht des Verfassers, dem Ordinarius ßr Philosophie...), 3. bei Adjektiv/Substantiv + Kopula (jmdm. behilflich sein; jmdm. eine Hilfe sein), 4. beim Nomen (umgangssprachlich: meinem Vater sein Haus), 5. beim Satz (dativus ethicus, z.B.: Der fährt dir glatt an den Baum und dativus judicantis, z.B.: Du läufst der Oma zu schnell), 6. beim Verb. Am häufigsten ist der Dativ, wie H. Wegener betont, als Verbkomplement (Typ 6).9 Die Verfasserin schlägt eine Klassifizierung der sog. "Dativverben" vor, je nachdem die Verben eine Nominalphrase im Dativ a. fordern (z.B. schwindeln, grauen, verhelfen zu, ähneln), b. generell zulassen (z.B. schenken, geben, gleichstellen, helfen, gehorchen, folgen), c. unter bestimmten Bedingungen zulassen (z.B. zucken, brennen, [auf der Seele/am Herzen] liegen, vorkommen), d. unter keinen Bedingungen zulassen, sie also ausschließen (z.B. erkennen, betrachten, hassen).10 Aus Wegeners Klassifizierung geht zweierlei hervor. Erstens kann die Gruppe der Dativverben, die den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden, von den übrigen Verben, die ebenfalls einen Dativ regieren, nicht aufgrund des Kriteriums abgegrenzt werden, ob die Verben den Dativ "fordern" oder "zulassen" . Denn die Verben, die in zweistelligen Satzbauplänen einen Dativ regieren können, gehören zu den drei ersten Klassen a., b. und c. Sicher ist nur, daß die Verben, die uns im folgenden speziell interessieren, nicht zur obigen Klasse d. gehören, womit freilich nichts gesagt ist. Zweitens dürfte klar geworden sein, daß die Bezeichnung "adverbaler Dativ" nicht nur sehr allgemein ist, sondern 8 9 10

Wegener 1985, 47ff; vgl. Willems 1997, 203ff. Wegener 1985, 60. Wegener 1985, 61 und 66-69.

Einführung: Der "adverbale" Dativ

7

im Hinblick auf einige Typen von Datiwerben auch irreführend und letztlich ungeeignet ist. Die Tatsache, daß "adverbaler Dativ" sowohl auf die dativische Nominalphrase bei schenken, geben usw. als auch auf diejenige bei helfen, folgen usw. zutreffen soll, ist in dieser Hinsicht bedeutsam. Bedenkt man, daß zweistelligem Ich helfe dir (*Ich helfe dir etwas) nicht *Ich schenke dir, sondern Ich schenke dir etwas zur Seite steht, ist klar, daß es kaum gerechtfertigt sein dürfte, den Dativ bei einem Verb wie schenken als "adverbalen Dativ" zu bezeichnen, was sich allerdings als eine zutreffende Bezeichnung für den Dativ bei einem Verb wie helfen herausstellt. Ingeborg Johansen hat mit Recht daraufhingewiesen, daß die oft "extrem eng verbzentriert(e)"" Tradition in der neueren Syntaxtheorie dafür verantwortlich zu sein scheint, daß die Kasus und dann vor allem der Dativ - einseitig vom Verb abhängig gemacht werden. Der Dativ bei schenken ist sicherlich nicht nur vom Verb abhängig, wie dies bei helfen der Fall ist; vielmehr ist der Dativ bei schenken "Teil einer gekoppelten Verbal-/Nominalphrase"12 und somit nicht als "adverbal", sondern recht eigentlich als "adverbal-adnominal" einzustufen.13 Die Bezeichnung "adverbaler Dativ" verstehen wir im folgenden denn auch im strengen Sinn, nämlich so, daß sie sich ausschließlich auf jenen Typ von Dativ in der deutschen Gegenwartssprache bezieht, der dem Verb zugeordnet ist, ohne daß dabei - zumindest in synchronischer Hinsicht - ein weiterer obliquer Kasus hinzukommen muß. Der adverbale Dativ ist derjenige Dativ, der als der Kasus des ersten und zugleich einzigen Objekts fungieren kann und der deshalb der Dativ ist, welcher der Kasustheorie die "schwerwiegendsten Probleme"14 bereitet. Gemäß unserer Definition kann in dreistelligen Satzbauplänen mit zwei verschiedenen obliquen Kasus (Sie gaben ihm ein Geschenk; Alle trauten es ihm zu; Ich bin mir dessen bewußt) also kein "adverbaler Dativ" stricto sensu vorliegen. Darüber hinaus hört ein "adverbaler Dativ" auf, ein solcher Dativ zu sein, wenn außer dem Dativ eine weitere Nominalphrase in einem anderen Kasus hinzukommt, was z.B. der Fall ist bei der Erweiterung von Sie kündigten meinem Vater zu Sie kündigten meinem Vater die Stelle. Wir ziehen die Bezeichnung "adverbaler Dativ" Bezeichnungen wie "Dativ bei intransitiven Verben", "Dativ als Kasus des direkten Objekts" usw. vor, und zwar auch aus dem Grund, daß wir uns über die etwaige Transitivität oder " Johansen 1988, 61-62. 12 Johansen 1988, 62. 13 vgl. auch Wegener 1989a, 92 und 1991, 75ff. 14 Schöfer 1995, 54.

8

Methodologische Vorüberlegungen

Intransitivität der im folgenden zu behandelnden Verben vorderhand nicht pauschal aussprechen wollen. Soviel ist freilich klar: Transitivität des Verbs bedeutet, daß das Verb ein direktes oder Akkusativobjekt nach sich zieht und ein persönliches Passiv bildet (z.B. Er erledigt die Sache - Die Sache wurde von ihm erledigt). Intransitivität bedeutet allerdings nicht nur, daß das Verb weder ein Akkusativobjekt hat noch ein persönliches Passiv bildet (Typ: Der Baum blüht). Von intransitiven Verben spricht man ebenfalls, wenn es sich um Verben handelt, deren Objekt abweichend von der normalen Akkusativmarkierung im Dativ steht, wie z.B. im Satz Er gratulierte seiner Freundin, und die keine Transformation zu einem persönlichen Passiv gestatten (Seiner Freundin/*Seine Freundin wurde [von ihm] gratuliert). Jedoch scheint es nicht sinnvoll zu sein, das Dativobjekt in Sätzen wie Er schmeichelt seiner Freundin oder Er hilft ihm als ein indirektes Objekt zu bezeichnen, denn dem Kasusunterschied zwischen z.B. Er lobt seine Freundin und Er schmeichelt seiner Freundin, Er unterstützt ihn und Er hilft ihm oder Man entließ ihn und Man kündigte ihm entspricht offenbar kein Unterschied zwischen "direktem" und "indirektem" Objekt. Deshalb ist es auch durchaus verständlich, daß manche Autoren es ablehnen, ein Satzglied im Dativ als indirektes Objekt zu bezeichnen, wenn dem Satzglied kein direktes Objekt zur Seite steht, wie etwa in Er gibt ihr ein Geschenk.15 Das Problem wird aber auch dadurch nicht gelöst, daß man ihm in Er hilft ihm einfach ein "direktes Objekt" im Dativ nennt.16 Man pflegt Verben wie geben, schenken, öffnen usf. in Konstruktionen wie Er gibt ihr ein Geschenk, Sie schenkt ihm eine Uhr, Das Kind öffnete ihm die Tür usw. außer als "dreistellige" oder "dreiwertige" Verben auch als "di- oder bitransitive" Verben oder Doppelobjektverben zu bezeichnen, Dativverben in zweistelligen Konstruktionen wie Er hilft ihr, Er dankt ihr, Sie drohten ihm usf. außer als "zweistellige" oder "zweiwertige" Verben auch als "nichtbi- oder nichtditransitive" Verben.17 Verben wie ekeln, schwindeln usw. (Mir/mich ekelt, Mir/mich schwindelt) heißen "einstellige" oder "einwertige" Verben. Wir sprechen weiterhin sowohl von "ein-" bzw. "mehrwertigen" wie auch von "ein-" bzw. "mehrstelligen" Verben. Für uns ist die sog. "Wertigkeit" eines Verbs ein systematisch-normgemäßes Merkmal des jeweiligen Verbs, das als 15 16

17

s. Wegener 1985, 259f, Abraham 1995b, 352. W. Lockwood stellt dem Dativ "as the case of the indirect object" tatsächlich einfach den Dativ "as the case of the direct object" gegenüber (Lockwood 1968, 22); ganz ähnlich Kaznelson 1974, 63-64 u.a. s. etwa Smith 1993, 557ff und Leys 1995, 48ff.

Einführung: Der "adverbale" Dativ

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solches aber noch nicht festlegt, in einem wievielstelligen Satzbauplan das Verb verwendet wird. So ist es berechtigt, Verben wie helfen, folgen usw., in Übereinstimmung nicht nur mit der Norm der deutschen Sprache, sondern auch mit deren System, als "zweiwertige" Verben zu bezeichnen, während geben, schenken usw. als "dreiwertig" gelten können. Das impliziert aber nicht, daß helfen, folgen usw. de facto auch "zweistellig" verwendet werden müssen; sie können z.B. durchaus auch in "einstelligen" Verwendungen vorkommen, z.B. in Fügungen wie Er hilft (immer) und Alle anderen folgten. Nur für die wenigsten Verben, die einen adverbalen Dativ regieren können, gilt, daß ihre (systemund normgebundene) Wertigkeit immer und notwendigerweise mit der "Stelligkeit" des Verbs im Sprachgebrauch zusammenfällt. Das trifft z.B. zu für grauen (einwertig und einstellig: mir graut), eignen (zweiwertig und zweistellig: Ihm eignet eine gewisse Arroganz) oder verhelfen zu (dreiwertig und dreistellig: Sie verhalf ihm zum Erfolg). Valenztheorie ist für uns denn auch ein sinnvolles methodologisches Hilfsmittel zur Analyse syntaktisch-semantischer Regularitäten (vgl. Teil Π der Untersuchung). Als ein solches Hilfsmittel kann die Valenztheorie jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Entscheidung, ob ein bestimmtes Satzglied obligatorisch (eine Ergänzung) oder fakultativ (eine Angabe) ist, letztlich eine Gratwanderung zwischen systematisch-normgemäßen und pragmatisch-sprachgebrauchsbedingten Faktoren ist. Im vorliegenden Buch gilt unser Hauptaugenmerk in erster Linie der "Zweistelligkeit" der behandelten Verben, und nicht so sehr ihrer "Zweiwertigkeit".18 Ob es im Deutschen sog. "null-" und "vierwertige" Verben gibt, wie manche Linguisten - etwa in bezug auf antworten - behaupten (oder sogar "fünfwertige" Verben), möchten wir hier noch nicht entscheiden.19 Darüber aber, daß es "null-" und "vierstellige" Verwendungen von Verben geben kann, kann kein Zweifel bestehen. Wir halten fest: Unter den Begriff "adverbaler Dativ" fassen wir jenen Dativ, der in zweistelligen Konstruktionen in Verbindung mit einem Verb und

18

Unsere terminologische Unterscheidung zwischen "Stelligkeit" und "Wertigkeit" ist nicht mit Helbigs Unterscheidung zwischen "semantischer Stelligkeit" und "syntaktischer Wertigkeit" zu verwechseln und ist auch völlig unabhängig von dieser zustande gekommen, s. Heibig 1992, 157. "Stelligkeit" definiert Heibig anhand logischer und außersprachlicher Kriterien (vgl. dazu Willems 1997, 85ff). Eine gründliche Kritik von Helbigs neuestem valenztheoretischem Mehrstufenmodell liefert Franz Simmler 1997, 196-201. Wir treten Simmler bei, wenn er schlußfolgert, daß Helbigs Beschreibung "zu einer Vernachlässigung der gar nicht oberflächlichen Oberflächenphänomene" führt (a.a.O., 199, Hervorhebung von uns, K.W./J.V.P.).

19

vgl. Eisenberg 1994, 75-76.

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Methodologische Vorüberlegungen

einer Nominalphrase im Nominativ verwendet wird (also ohne weiteres Objekt im Akkusativ oder im Genitiv). Außerdem wird der adverbale Dativ heute als dem Verb vornehmlich aus idiomatischen Gründen zugeordnet aufgefaßt, und er erweist sich auf den ersten Blick nicht als ein Dativ des indirekten Objekts.

1.2. Bisherige Erklärungsversuche Selbstverständlich hat es nicht an Versuchen gefehlt, den adverbalen Dativ zu erklären, gleichsam einen Grund für den Kasus zu finden, der sich gegen das Fait accompli der idiomatischen Kasuszuweisung behaupten kann. Wir möchten im folgenden einige wichtige Etappen in der Geschichte solcher Erklärungen Revue passieren lassen, und zwar vor allem diejenigen, die bestimmte Ansätze enthalten, die sich auch für unseren Erklärungsversuch als relevant erweisen.

1.2.1. Jacob Grimm Jacob Grimm vertritt in seiner Deutschen Syntax eine Theorie der Kasus, in der die "Grundbedeutungen" anhand von Termini definiert werden, die zwischen lokalistischen und allgemeineren psychologisierenden Charakterisierungen mehr oder weniger die Mitte halten. Während der Akkusativ Grimm zufolge "die einwirkung des im verbo enthaltnen begrifs der thätigkeit auf einen anderen, persönlichen oder sächlichen, gegenständ" bezeichnet20, definiert Grimm den Dativ in erster Linie oppositiv zum Akkusativ (nur am Rande auch im Kontrast zum Genitiv), auch im Hinblick auf syntaktische Transformierbarkeit: Die richtung des acc(usativs) war völlig objectiv, und dieser casus behandelt personen so sehr wie Sachen, daß sie in das beherschte subject eines passiven satzes verwandelt werden können. (...) umgekehrt hat der dat(iv) seinem wesen nach etwas persönliches, und sächliche dative erhalten gleichsam persönliche färbung.21

Dennoch hat Grimm, was die Verteilung der Kasus auf Personen und Sachen betrifft, ein auffallig differenziertes Urteil. Beim Akkusativ merkt Grimm an, alle "gegenstände der abhängigkeit mögen sowol personen als sachen sein, doch mit merklichem übergewicht der letzteren". Eine Behauptung der inhalt20 21

Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 692 (Originalpag. 594). Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 812 (Originalpag. 684).

Bisherige Erklärungsversuche

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bezogenen Linguistik des 20. Jahrhunderts antizipierend fügt Grimm hinzu: "ja es ließe sich annehmen, daß die einwirkung des verbums auf die person sie zur sache mache".22 In einigen Fällen stellt Grimm eine Konkurrenz zwischen Dativ und Akkusativ fest. Dann scheint ihm "der dative ausdruck immer frischer, lebendiger und in der spräche älter" zu sein.23 Der Dativ werde vor allem dann "gern" anstatt des Akkusativs gewählt, "wenn eine person gegenständ des verbums ist".24 Die Kasuskonkurrenz ist für Grimm somit semantisch bedeutsam, und das geht ihm zufolge vor allem aus der älteren Sprache (und dem Gotischen) hervor, weil gerade sie zu dem einen oder dem andern casus greifen darf, je nachdem sie die ruhig erfolgende einwirkung auf ein object, oder das subjectivere Verhältnis bezeichnen will, was hilft mich das? ist objectiver geredet, was hilft mir das? persönlicher, (got.) ni varjith thö barnilöna! heißt: laßt die kinder; ni vaqith imma! positiver: stellt ihm kein hindernis in den weg, dort ein gelindes abwehren, hier ein bestimmtes verhüten.25

Mit letzterer semantischer Deutung des Unterschieds zwischen Akkusativ und Dativ bei Verben streift Grimm bereits einen Punkt, der seiner Erklärung eine weitere, auch syntaktisch relevante Grundlage gewährt. Denn kontrastiert man, wie Grimm, 'Laßt sie!' (Akkusativ) mit 'Stellt ihnen nichts/kein Hindernis in den Weg' (Dativ), dann muß man sich automatisch mit der Frage auseinandersetzen, wie es um die etwaige Zwei- oder Dreistelligkeit des Verbs steht. Grimm schreibt dazu: Neben dem acc(usativ) kann aber nun zugleich ein gen(itiv) oder dat(iv) vom verbo des satzes regiert werden. Grundsatz ist hier: wenn acc(usativ) und gen(itiv) zusammen erscheinen, so ist der acc(usativ) persönlich, der gen(itiv) sächlich; wenn aber acc(usativ) und dat(iv) zusammen stehn, der acc(usativ) sächlich, der dat(iv) persönlich.26

Wiederum differenziert Grimm: "beide structuren können zuweilen tauschen: ich erlasse dich deines wertes, ich erlasse dir dein wort·, mhd. ich bereite dich 22

23 24

25

26

Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 717 (Originalpag. 610); vgl. auch 753 (638): "Der gegenständ des acc(usativs) wird zwar meist eine sache, kann aber auch eine person sein", und Grimm weist auf folgenden Wechsel hin: gib mir ihn/gib mich ihm. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 812 (Originalpag. 684). Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 727 (Originalpag. 620), "der ausdruck erscheint dann persönlicher und lebhafter". Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 727 (Originalpag. 620); Kursivierungen von uns hinzugefügt, K.W./J.V.P. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 745 (Originalpag. 631).

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Methodologische Vorüberlegungen

des guotes, ich bereite dir daz guot".27 Besondere Aufmerksamkeit verdienen denn auch jene Verben, die - um in Übereinstimmung mit der modernen linguistischen Terminologie zu sprechen - in zweistelligen Verwendungen einen Dativ zu sich nehmen (also ohne zusätzliches Akkusativ- oder Genitivobjekt), und tatsächlich ist Grimm bestrebt, für den Dativ bei diesen Verben eine Begründung zu finden, die sich bald als rein semantisch, bald als semantischsyntaktisch erweist. Grimms Ausgangspunkt lautet: "Es sind die Vorstellungen des näherns und entfernens (...), der liebe und des hasses, [der gesellschaft,]28 der hilfe und des schadens u.s.w., die den dativ erfordern".29 Obwohl eine solche Auslegung auf den ersten Blick nicht anders als semantisch begründet ist, erweist sie sich doch dadurch als syntaktisch relevant, daß Grimm in concreto viele Konstruktionen mit adverbalem Dativ anhand eines impliziten Akkusativobjekts deutet. Wir werden später im VII. Abschnitt eine Übersicht über ältere deutsche Verben geben, die ehemals einen Dativ regieren konnten, ohne dabei auf ein weiteres (Akkusativ-)Objekt angewiesen zu sein, und wir werden feststellen, daß in älteren Abschnitten der deutschen Sprache viel mehr Verben über diese Möglichkeit verfügten als freute. Bei den 'verba des geräthe anlegens (der toilette), lager und nahrung gebens,%3 - z.B. mhd. Verben wie jmdm. (das Lager) betten, jmdm. (das Schwert) gürten, jmdm. (das Pferd) satteln usw. - weist Grimm explizit darauf hin, daß man sich am besten einen Akkusativ der Sache "hinzu denkt".31 Damit liefert Grimm eine Grundlage für den sog. "diakritischen" Pol, den wir im folgenden in unserem funktionellen Ansatz für eine Reihe von Verben mit adverbalem Dativ weiter herausarbeiten werden.

1.2.2. Hermann Paul In seiner Deutschen Grammatik nimmt H. Paul den valenztheoretischen Ansatz bereits an verschiedenen Stellen vorweg, obwohl er die Fähigkeit eines Wortes, andere Wörter an sich zu binden, nicht als etwas betrachtet, was nur dem Verb vorbehalten ist. Paul spricht diese Fähigkeit vielmehr allen "Verhältniswörtern" 27 28 29 30 31

a.a.O., Kursivierungen von uns hinzugefügt, K.W./J.V.P. Zusatz der Bearbeiter Gustav Roethe und Edward Schroeder in der neuen Auflage (1898). Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 812 (Originalpag. 684). Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 823 (Originalpag. 693). Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 826 (Originalpag. 693).

Bisherige Erklärungsversuche

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zu, also beispielsweise auch Diener, Lehrer; ansichtig, habhaft usw. Zu den verbalen Verhältniswörtern rechnet Paul sowohl Transitiva wie Intransitiva, und von - wie wir heute sagen würden: prototypisch dreiwertigen - Verben wie geben, gebieten, verbieten behauptet Paul, sie seien "nach zwei Seiten ergänzungsbedürftig".32 Auf die klassische Unterscheidung zwischen "Ergänzungen" und "Angaben" vorgreifend (und damit auch auf unsere Unterscheidung zwischen der "Wertigkeit" eines Verbs und dessen "Stelligkeit") merkt Paul an: Die Verhältniswörter müssen auch nicht immer eine Ergänzung bei sich haben, indem eine solche aus dem Zusammenhange verstanden werden kann. 33

Der Theorie relativ einheitlicher kasueller "Grundbedeutungen" steht Paul skeptisch gegenüber. Ihm zufolge lassen sich solche Bedeutungen nur für die beiden Kasus Lokativ und Instrumental feststellen (vom Lokativ und Instrumental gibt es im frühesten Ahd. bekanntlich noch Reste), nicht aber - zumindest was das Deutsche betrifft - für den Dativ, und noch weniger für den Akkusativ und Genitiv.34 Dementsprechend betont Paul, daß die Wahl eines Kasus, zumal synchronisch betrachtet, nicht nur - und nicht einmal vorrangig durch die eigene Bedeutung des Kasus bestimmt wird, sondern tatsächlich "von dem Worte, mit dem er (der Kasus) verknüpft ist, abhängig" sei.35 Deshalb sei es berechtigt zu sagen, ein Wort - vor allem ein Verb - regiere einen Kasus, die Behauptung aber, daß z.B. im Lateinischen und im Deutschen zwei verschiedene Verhältnisse bezeichnet würden, weil folgen mit dem Dativ, lat. sequi indes mit dem Akkusativ verbunden werde, hält der Autor für unzulässig.36 Es empfiehlt sich nach Paul denn auch, zwei Typen von Kasuszuweisungen voneinander zu unterscheiden, der "durch die Tradition gebundenen Verwendung der Kasus" einerseits steht die "freiere" Wahl der Kasus gegenüber, bei der "die dem Kasus an sich zukommende Funktion reiner zur Geltung kommt".37 Im Abschnitt über die dativische Verbalrektion schreibt Paul, jedenfalls z.T. in Übereinstimmung mit Grimm: Der Dativ hat hauptsächlich seine Stelle bei Verben, die eine doppelte Ergänzung bedürfen neben einem Akk(usativ), seltener auch neben einem Gen(itiv). Doch wird er

32 33 34 35 36 37

Paul 1916ff, III, 215. a.a.O. Paul 1916ff, III, 216. Paul 1916ff, III, 217. a.a.O. a.a.O.

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Methodologische Vorüberlegungen auch als einzige Ergänzung verwendet. Es sind femer vorzugsweise Bezeichnungen für lebende Personen, die in den Dat(iv) treten, doch wiederum nicht ausschließlich.38

Der adverbale Dativ erscheint in Pauls Ausführungen gegenüber dem Dativ in dreistelligen Konstruktionen mithin als markiert, und tatsächlich geht der Autor in der Folge auf die vielen Schwankungen und Übergänge zwischen Akkusativ und Dativ im Laufe der deutschen Sprachgeschichte ein, z.B. bei gelten, helfen und etlichen anderen Verben.39 Wir werden in den folgenden Abschnitten auf die einzelnen Verben noch zurückkommen. Wie Grimm ist aber auch Paul einigermaßen im Gegensatz zu seinen eigenen Prämissen - manchmal bestrebt, Kasusschwankungen semantisch zu motivieren, obwohl er sich meistens darauf beschränkt, solche festzustellen. Bei bestimmten Verben aber, z.B. bei gelten, korrelierte Paul zufolge der Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ ursprünglich mit einem inhaltlichen Unterschied; es gilt dir 'es geht dich an; es bezieht sich auf dich' stehe es gilt dein Leben 'dein Leben steht auf dem Spiele' gegenüber.40 Mehr noch als der relative Ausnahmestatus des adverbalen Dativs geht die vornehmlich syntagmatische Begründung des Dativs in dreistelligen Verwendungen nach Paul daraus hervor, daß der Akkusativ in jmdn. womit verehren unter dem Einfluß von Verben wie schenken durch einen Dativ ersetzt werden konnte: jmdm. etwas verehren.41

1.2.3. Wilhelm Wilmanns, Otto Behaghel, Oskar Erdmann/Otto Mensing Wie H. Paul ist auch W. Wilmanns der Meinung, daß das die deutsche Sprache ab einem bestimmten Zeitpunkt eine Reihe von Kasusverwendungen aufgewiesen habe, die den ursprünglichen Bedeutungen der Kasus nicht mehr entsprochen hätten. Deshalb, sowie aufgrund des Kasussynkretismus und des Unterschieds zwischen jüngeren und älteren Kasusverwendungen, möchte sich Wilmanns über diachronische Grundbedeutungen nicht aussprechen.42 Das heißt nicht, daß er den unterschiedlichen Kasus keine Bedeutungen beimißt, aber diese Bedeutungen definiert der Autor vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Kasus nunmehr in erster Linie "zur Bezeichnung syntaktischer Verhältnisse" 38 39 40 41 42

Paul 1916ff, III, 380. Paul 1916ff, III, 380-390. Paul 1916ff, III, 380. Paul 1916ff, III, 390. Wilmanns 1899ff, III, 454-456 und 472-474.

Bisherige Erklärungsversuche

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dienen.43 Den Nominativ bezeichnet Wilmanns schlicht und einfach als den "Kasus des Subjekts"44, den Akkusativ und Genitiv beide in wesentlichen Verwendungen als "Objektskasus".45 Dem Dativ bescheinigt Wilmanns eine "zwiespältige Natur", weil er sowohl von Verben regiert sein kann als auch dem ganzen "Prädikat" zugeordnet wird.46 Für die Verben, die einen adverbalen Dativ regieren, schlägt Wilmanns eine semantische Klassifizierung vor, die der Grimmschen durchaus ähnelt: Der Autor unterscheidet Inhalte wie 'verbinden', 'begegnen, weichen', 'glauben, trauen', 'Schutz und Recht gewähren, helfen' usw., ohne daß solche Inhalte freilich einen zureichenden Grund für genau die Dativmarkierung erkennen lassen.47 Allerdings weist Wilmanns auf den besonderen Stellenwert der Verben mit adverbalem Dativ hin, indem er schreibt: Die Zahl der Verba, die aus eigener Kraft, ununterstiitzt durch andere Satzglieder, den Dativ regieren, ist zu keiner Zeit sehr gross. 48

Er hebt solche Verben, wie vor ihm bereits H. Paul, in aller Deutlichkeit von Fügungen wie jmdm. nachstellen, jmdm. nahe stehen, jmdm. einen Dienst leisten usw. ab, deren Rektion, wie Wilmanns zu Recht betont, von der Verbindung der Grundverben mit den anderen Lexemen abhängt.49 Auch Otto Behaghel schreibt sich in seiner Deutschen Syntax in die Tradition ein, in der die Datiwerben nach inhaltlichen Kriterien eingeteilt werden. Stärker aber als W. Wilmanns betont Behaghel die Valenz der Verben, was beim notwendigen Dativ in Verbindung mit einem Verb in Behaghels Beschreibung zu drei verschiedenen Typen führt, die ihrerseits zwei Gruppen (A und B) angehören. Einen ersten Typ (Al) bilden diejenigen Verbindungen eines Verbs mit einem Dativ, die nur als eine zweigliedrige Gruppe auftreten; ein zweiter Typ (A2) wird durch diejenigen Datiwerben konstituiert, die sowohl in zweigliedrigen als auch in dreigliedrigen Fügungen auftreten; den dritten Typ (B) schließlich stellen jene Verbindungen eines Verbs mit einem Dativ dar, die immer auch zusammen mit einem Akkusativ erscheinen (und die gemäß unserer Definition somit nicht zur Klasse der Verben mit adverbalem Dativ gehören).50

43 44 45 46 47 48 49 50

Wilmanns 1899ff, III, 456. Wilmanns 1899ff, III, 457. Wilmanns 1899ff, III, 474 und 537 (542, 550-551). a.a.O. s. Wilmanns 1899ff, III, 627-632. Wilmanns 1899ff, III, 626. Wilmanns 1899ff, III, 635 (ausführlich: 635-647). Behaghel 1923ff, I, 610.

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Methodologische Vorüberlegungen

Während Behaghel die Verben des Typs Al, die nur zweistellig - also mit adverbalem Dativ stricto sensu - gebraucht werden, semantisch beschreibt51, trifft ihm zufolge auf die Verben des Typs A2 - im Mhd. u.a. einem Pferd (den Zaum) hengen, Tieren (Netze) stellen usw. - allgemein jene valenzmäßige Reduktion zu, die Grimm prototypisch für die Verben "des Geräte-Anlegens, Lager- und Nahrung-Gebens" annahm. Behaghel schreibt: Gegenüber der tatsächlich vorliegenden zweigliedrigen Gruppe ist die dreigliedrige das Ursprüngliche; die zweigliedrige ist durch Ersparung des neben dem Dat(iv) stehenden Kasus entstanden. 52

Allerdings räumt der Verfasser ein, daß "die unmittelbare Zurückfuhrung auf eine dreigliedrige Gruppe" aufgrund möglicher "Nachbildungen" gelegentlich nicht mehr möglich ist.53 Anders steht es nach Behaghel um Verben, deren Kasusrektion zwischen Dativ und Akkusativ schwankt. Bei einigen Verben markiere der Akkusativ die Sache und der Dativ die Person, z.B. mhd. (dem man/den sal) stüelen, je nachdem, ob man zum Ausdruck bringen will, daß man für eine Person oder in einem Saal Stühle bereitstellt.54 Behaghel ist für die vorliegende Untersuchung aus dem Grund wichtig, daß er nicht nur - in der Nachfolge Grimms, wenn auch viel radikaler - die syntagmatische Begründung des adverbalen Dativs in Erwägung zieht, sondern bei einigen Verben statt für eine syntagmatische vielmehr für eine paradigmatische Erklärung plädiert. Letztere Erklärung trifft Behaghel zufolge auch auf ein so prototypisches Dativverb wie helfen zu, das bis in nhd. Zeit ebenfalls in Verbindung mit dem Akkusativ belegt ist. Nach Behaghel weist der Dativ auf die Bedeutung 'jmdm. zur Seite stehen' hin, der Akkusativ indes (was hilft es mich) auf die Bedeutung 'fördern, vorwärtsbringen'.55 Indem Behaghel somit auf die Möglichkeit paradigmatischer Kasusoppositionen zwischen Dativ und Akkusativ bei einigen Verben aufmerksam macht, rückt seine stark pauschalierende These zum adverbalen Dativ - die besagt, daß Verben, die in zweistelligen Konstruktionen einen Dativ regieren, auf ursprünglichere dreistellige Satzbaupläne zurückgehen und daß deren Akkusativ- oder Genitivobjekt von einem be51 52 53

54 55

Behaghel 1923ff, I, 61 Iff. Behaghel 1923ff, I, 619; sehr ähnlich 693. Behaghel 1923ff, I, 620. Als eine "Nachbildung" führt Behaghel u.a. das folgende Beispiel an, wobei der Dativ sprachhistorisch betrachtet den Aktanten wechselt: ich senfte ('lindere, besänftige') iu schiere (nämlich den muot) > senftet iuwerm muote, Behaghel 1923ff, I, 621. Behaghel 1923ff, I, 692. Behaghel 1923ff, I, 694; dazu s. § IV.7.

Bisherige Erklärungsversuche

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stimmten Zeitpunkt an ausgelassen sei - in ein differenzierteres Licht. Denn es ist klar, daß man einen adverbalen Dativ mit ein wenig Phantasie im Prinzip fast immer anhand eines "ausgelassenen", inhärenten Akkusativobjekts "erklären" kann, vgl.: jmdm. danken < jmdm. Dank sagen; jmdm. folgen < jmdm. Folge leisten; jmdm. helfen < jmdm. Hilfe leisten; jmdm. dienen < jmdm. Dienste leisten; jmdm. gnaden < jmdm. Gnade erteilen usf. So läuft man freilich Gefahr, daß man im Grunde nichts erklärt und daß die These des ausgelassenen Dritten von einer methodologischen Eselsbrücke zu einer Petitio principii avanciert. Die syntagmatische Erklärung kann immer nur dann gültig sein, wenn sie sich anhand sprachgeschichtlicher Daten untermauern läßt. Erweist sich dies als nicht möglich, muß man eine andere Erklärung suchen. Mehr als zwei Jahrzehnte vor Behaghels Syntax hatte Otto Mensing den zweiten Teil der Grundzüge der deutschen Syntax seines inzwischen verstorbenen Lehrers Oskar Erdmann herausgegebenen. Es ist in diesem zweiten Teil, daß die Kasustheorie behandelt wird, und wir erwähnen diese Kasustheorie deshalb, weil Mensings Darlegungen sich erheblich von den bereits referierten unterscheiden. Zweiwertige und dreiwertige Verben werden einfach nebeneinander gestellt, und die Tatsache, daß Verben als "zunächst zukommende Ergänzung ihres Begriffs"56 einen Dativ verlangen, stellt Mensing nur fest.57 Das diachronische Verhältnis zwischen zweistelligen Fügungen mit adverbalem Dativ und entsprechenden dreistelligen Fügungen gehört nicht zum eigentlichen Gegenstand seiner Ausführungen. Der Verfasser meint, daß die übliche Bezeichnung des Dativs als eines "entfernteren" Objekts nicht zutreffend sei, weil der Dativ oft das Prius, das von der Handlung zunächst Betroffene, bezeichne, wie beispielsweise in: Ich danke ihm - Ich danke ihm mein Leben·, das Akkusativobjekt "braucht nicht ausgedrückt zu sein; es kann aus dem Zusammenhange ergänzt werden".58 Um so mehr ist Mensing auf die Einteilung der Dativverben gemäß bestimmten inhaltlichen Kriterien angewiesen, wodurch freilich die Grenzen einer solchen Einteilung besonders deutlich hervortreten. Der Verfasser unterscheidet vor allem zwei Kriterien: Der Dativ bezeichne im lokalistischen Sinne den Ruhe- oder Zielpunkt, ansonsten ein persönliches Objekt.59 Beide Kriterien er54 57

58 59

Erdmann/Mensing 1898, 233. Ähnlich verfuhr bereits Oskar Erdmann selbst im zweiten Teil seiner Untersuchungen über die Syntax der Sprache Otfrids, der größtenteils den Kasus gewidmet ist, s. Erdmann 1876, 192ff. Erdmann/Mensing 1898, 250. a.a.O.

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Methodologische Vorüberlegungen

weisen sich zwar als wenig angemessen, sie tauchen aber auch im 20. Jh. bei verschiedenen anderen Autoren immer wieder auf.

1.2.4. Heinrich Winkler, Wilhelm Havers Eine ausgeprägte Orientierung an der "Grundbedeutung" des Dativs finden wir auch in einigen frühen "Kasussyntaxen" zum Germanischen und Indogermanischen, allerdings nicht immer im lokalistischen Sinn. Von besonderem Interesse für unsere Untersuchung sind die Ausführungen zum Dativ von Heinrich Winkler und Wilhelm Havers. Zum einen sind sie noch ganz der kasustheoretischen Tradition des 19. Jahrhunderts verhaftet, greifen aber zugleich schon auf inhaltbezogene Tendenzen des 20. Jahrhunderts vor. Zum anderen verraten sie eine wachsende Sensibilität für komplexere syntaktische Regularitäten, die einen Ausweg aus den zu engen bedeutungstheoretischen Konzepten verspricht, die bis dahin einem Großteil der Beiträge zur Kasusdebatte zugrunde lagen. In seiner Germanischen Casussyntax aus dem Jahr 1896, einem Buch, das im Grunde nur vom gotischen Dativ handelt, schreibt Heinrich Winkler: Kein casus spielt im haushalt der germanischen sprachen eine ähnliche rolle wie der dativ. 60

Das Besondere des gotischen - sprich: germanischen - Dativs besteht für Winkler aber gerade darin, daß er im Gegensatz zum idg. Dativ "jede örtliche beziehung abgestreift" habe und "als reiner Vertreter der beziehung der beteiligung gelten" könne.61 Bemerkenswert ist, daß in Winklers Argumentation derjenige Dativ, den wir in der vorliegenden Untersuchung als adverbalen Kasus bezeichnen, eine ganz besondere Rolle spielt. Der Verfasser schreibt: Der gotische dativ ist in erster linie, ja fast ausschliesslich, ein verbaler casus, d.h. am reinsten und öftesten besagt er, dass jemandem zum nutzen oder schaden etwas geschieht. Am klarsten aber tritt diese seine Wirksamkeit da hervor, wo das verb ohne alle sonstigen objectbeziehungen sich allein mit demselben verbindet; es ist das gebiet des eigentlichen dativ (sie) des interesses, der im germanischen zweige auffallend stark entwickelt ist, bei begriffen wie wohltun, wehethun, günstig sein, zürnen, drohen.. , 62

60 61 62

Winkler 1896, 1. Winkler 1896, 2. Winkler 1896, 3.

Bisherige Erklärungsversuche

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Winkler betrachtet somit als prototypische Verwendung des Dativs, was zumindest aus syntaktischer Sicht als der eigentliche Problemfall zu gelten hat. Es ist klar, daß dies nur unter der Bedingung möglich ist, daß man erstens dem Kasus als solchem und zweitens der Verbindung des Kasus mit einem Verb eine massive semantische Deutung zuteil werden läßt. Tatsächlich hebt Winkler "die kraft des casus"63 hervor - und im Fall des Dativs heißt das: "träger der idee der beteiligung" zu sein.64 Das bedeutet zugleich, daß der Dativ dem Verfasser im Prinzip als Kasus der beteiligten Person gilt.65 Während er den Akkusativ als den "casus der unmittelbarkeit" betrachtet, bei dem es darum gehe, eine Handlung einfach mit einem Objekt zu verbinden ("das wesen der Verbindung ist nebensache")66, sei der Dativ der "casus der reflexion", das object erscheint nicht in seiner eigenschafit als object, sondern als ergriffenes, seine innere beteiligung ist der hauptgrund für die wähl des casus. 67

Die "reinsten dativverben"68, die den Dativ als "Kasus der Beteiligung" regieren, sind Winkler zufolge Verben wie got. andhausjan 'erhören, gehören', fraujinon 'herrschenüber', galeikan 'gefallen', liban 'leben für jmdn.', liuhtjan 'leuchten', varjan 'wehren' usw.69 Nur am Rande bemerkt der Verfasser, daß auch die "reinen" Dativverben sowohl syntagmatisch wie paradigmatisch eingebunden sein können, und er nennt u.a. got. gabairhtjan mit Dativ 'leuchten', mit Akkusativ 'zeigen', galeikon mit Dativ 'gleichen', mit Akkusativ 'gleichstellen'. In bezug auf die "reinen" Dativverben gilt für Winkler indessen immer: "Die dativrichtung aber erscheint als die ursprüngliche".70 Bei der Behandlung derjenigen Verben, die a) bald den Dativ, bald einen anderen Obliquus (vor allem den Akkusativ, aber auch den Genitiv) regieren können,71 oder b) in der Regel sowohl einen Dativ wie einen Akkusativ regieren,72 versäumt es Winkler nicht, zu vermerken, daß solche Verben a) im Prinzip transitive Verben sind73 oder b) "in die accusativsphäre gehören".74 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74

Winkler 1896, 17. Winkler 1896, 44. s. Winkler 1896, 3, 26ff, 43 u.ö. Winkler 1896, 25. Winkler 1896, 25-26. Winkler 1896, 13. Winkler 1896, 4ff. Winkler 1896, 14. Winkler 1896, 25-41. Winkler 1896, 42-68. Winkler 1896, 25. Winkler 1896, 68.

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Methodologische Vorüberlegungen

Über die Verben mit schwankendem Objektskasus schreibt Winkler, daß die Wahl zwischen Dativ oder Akkusativ bei einigen Verben nichts an der Bedeutung ändere, bei anderen Verben jedoch eine "sinnesschattirung" bewirke: "So bedeutet andhaitan mit dem accusativ einfach etwas bekennen, anerkennen, mit dem dativ = für jemand bekenntnis ablegen"; oder auch anahaitan 'anrufen' (Akkusativ), 'tadeln' (Dativ) usw.75 Auch im Abschnitt über die Doppelobjektverben hebt Winkler hervor, daß diese Verben nicht, wie die Dativverben, "den Charakter der Innerlichkeit", sondern denjenigen "der mehr äusseren handlung" aufweisen.76 Winkler geht sogar so weit, die Kasusrektion sprachrelativistisch zu deuten. Er meint, daß das häufige Vorkommen des "beziehungslosen" Akkusativs als Verbalkasus in der griechischen Sprache charakteristisch sei für "den lebhaften, scharf das rein thatsächliche erfassenden Griechen". 77 Der Dativ aber, der Spitzenkasus im Germanischen,78 weise darauf hin, daß der mehr nach innen gerichtete sinn des Germanen überall den gründen wie den Wirkungen nachspürt und vielfach gerade bei den allerenergischesten ausdrücken der handlung das leidende object in seiner ergriffenheit darstellt. 79

Wilhelm Havers stimmt mit H. Winkler darin überein, daß auch er den Dativ von der "Grundbedeutung" des Kasus angeht. In seinen Untersuchungen zur Kasussyntax der indogermanischen Sprachen aus dem Jahr 1911 untersucht Havers die Konkurrenz zwischen der "possessiven Ausdrucksweise" des Typs Er hat seine Hand bzw. die Hand des Mannes verwundet und der "dativischen Ausdrucksweise" des Typs Er hat ihm die Hand verwundet in einer Fülle von indogermanischen Sprachen.80 Im letzteren Fall spricht Havers vom "Dativus

75 76 77 78 79

80

Winkler 1896, 26-27. Winkler 1896, 68, Hervorhebung im Original. Winkler 1896, 26. s. Winkler 1896, 1. Winkler 1896, 26. Der Autor meint dementsprechend, daß einige geschichtliche Kasuswandel dem Wesen der Kasus nicht entsprechen, z.B.: "obgleich wir selbst sagen ich fürchte mich, müsse wir doch anerkennen, dass ein ich furchte mir = ßr mich den vorzug unzweideutiger klarheit und energischer betonung der beteiligung voraus haben würde", Winkler 1896, 27. Im Hinblick auf das Deutsche stellt Havers fest, daß seit dem Ahd. die Sprache immer eine große Vorliebe für den sympathetischen Dativ aufgewiesen habe, s. Havers 1911, 285ff. Die erste und ausschließliche Verwendung des sympathetischen Dativs habe im Idg. allerdings beim Personalpronomen stattgefunden, was sich auch an der Geschichte des Deutschen ablesen lasse, s. Havers 1911, 323.

Bisherige Erklärungsversuche

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sympatheticus"; im Gegensatz zur possessiven Ausdrucksweise drücke der Dativ die innere Anteilnahme der von dem Verbalbegriff betroffenen Person aus, er ist subjektiver, wärmer und innerlicher als der Genitiv, der einfach objektiv ein Besitzverhältnis konstatiert.81

Demnach ist Havers mit dem Germanisten Theodor Matthias einverstanden, daß man "im Gedränge" einer Frau auf den Rock tritt, während man einen Mann (absichtlich) auf den Fuß tritt, wenn man sich "heimlich" mit ihm verständigen will.82 Damit ist ein Beispiel genannt, das über Leo Weisgerber, Hennig Brinkmann, Heide Wegener, Michael B. Smith u.a. aus der Debatte um das "Wesen" des Dativs, wie wir sehen werden, nicht mehr wegzudenken sein wird. Wie stark der traditionelle Fokus auf die Kasusgrundbedeutung die Argumentation bestimmt, erhellt aus einer Stelle in einem späteren Buch von W. Havers, wo der Autor eine Erklärung für den Übergang der Konstruktion mit doppeltem Akkusativ bei mhd. heln, verheln und verdagen (doch hal er die maget daz) zu einer Konstruktion mit Dativ der Person und Akkusativ der Sache im Nhd. (er verhehlte ihr das) vorschlägt. Zwar akzeptiert Havers einerseits die Wirkung des sehr verbreiteten syntaktischen Musters Verb - Dativ Akkusativ, wie z.B. in er gibt jmdm. etwas. Andererseits glaubt er trotzdem, daß dies nicht "zu einer einseitigen Betonung des Machtsverhältnisses"83 zwischen dem vorherrschenden Muster mit Akkusativ und Dativ und dem seltenen Muster mit doppeltem Akkusativ führen darf, und er hält denn auch den Affekt und den Charakter des Dativs als "Gefühlskasus" dafür verantwortlich, daß die Sprecher schließlich den "subjektiveren" Dativ dem "objektiven" Akkusativ vorgezogen hätten84.

1.2.5. Inhaltbezogene Linguistik Die neuhumboldtianische Sprachinhaltsforschung greift einige Deutungen von Oberflächenkasus wieder auf, die wir schon auf ältere Sprachwissenschaftler zurückführen konnten, geht dabei in der Interpretation jedoch noch einen 81 82 83 84

Havers 1911, 2. a.a.O. Havers 1931, 78. a.a.O.

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Methodologische Vorüberlegungen

Schritt weiter. Die "inhaltbezogene" Linguistik ist aber auch aus dem Grund wichtig, daß ihr Ansatz sich in der Kasusdebatte im Laufe der Jahrzehnte, wenn auch oft unterschwellig, als nachhaltig wirksam erwiesen hat. Leo Weisgerber, Hennig Brinkmann u.a. deuten den Dativ im allgemeinen als den Kasus der "sinngebenden Person", dies im Gegensatz zum Akkusativ als dem Kasus der "Sache",85 wie etwa aus Beispielen wie jmdm. etwas liefern, jmdm. etwas schenken usw. hervorgeht. Die klassische These, gemäß der der Dativ der Kasus der belebten Instanz sei, erfahrt in der Sprachinhaltsforschung somit eine Potenzierung: "Belebtheit" wird in erster Linie als "sinngebender Mensch" gedeutet. In Übereinstimmung mit einer solchen Radikalisierung in Sachen Semantik wird die Unterscheidung zwischen Personen- und Sachkasus nicht so sehr auf ihr allgemeines distributionelles Fundament in der konkreten Sprache hin untersucht. Mehr noch als H. Brinkmann interessiert sich L. Weisgerber, der eigentliche Begründer der Sprachinhaltsforschung, in erster Linie für die begrifflichen, konzeptuellen, ja letztlich sozial-ideologischen Wandlungen, denen die Sprache nolens volens Ausdruck verleiht, wenn jene Unterscheidung in Bedrängnis gerät. Er beruft sich für eine solche Ansicht nicht nur auf konkurrierende Fälle wie jmdm. etwas liefern/jmdn. (mit etwas) beliefern; jmdm. etwas schenken/jmdn. (mit etwas) beschenken86, in denen die unterschiedliche Kasusmarkierung jeweils aufgrund des grundlegenden Unterschieds zwischen zwei- und dreistelligem Satzbauplan zumindest doch noch plausibel erscheint, oder auf nur scheinbar zufällige Kasusvariationen wie die zwischen Akkusativ und Dativ in jmdm. auf die Schulter klopfen/jmdn. auf die Schulter Hopfen.*1 Weisgerber stellt auch genuine adverbale Dative zur Debatte wie z.B. jmdm. telefonieren, im Unterschied zu jmdn. anrufen. Der Behauptung Weisgerbers, daß der Mensch im Dativ "in seiner Entscheidung frei gesehen" werde, im Akkusativ jedoch zum "Gegenstand einer geistigen Machtausübimg" degradiert werde, stimmt heute - jedenfalls in ihrer radikalen, auch ideologisch folgenreichen Fassung - wohl niemand mehr bei88, und dasselbe gilt für Weisgerbers These, daß einem die Belästigung "viel leichter" 85 86

87

88

Brinkmann 1953, 104 u. 111, Weisgerber 1963, 225f, Brinkmann 1971, 435ff. Schon die Bearbeiter der Grimmschen Syntax stellten fest: "Die nhd. Sprache hebt die transitive kraft des verbums gem durch eine Zusammensetzung mit be heraus: bekämpfen, beweinen, beklagen, berauben u.s.w.", Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 692 (vgl. Originalpag. 594). Weisgerber 1963, 266ff.; vgl. Brinkmann 1953, 105: jmdm. ins Gesicht sehen/jmdn. ins Gesicht schlagen usw. vgl. Willems 1997, 169f (mit Literaturhinweisen).

Bisherige Erklärungsversuche

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gemacht werde, wenn man jemandem telefoniere, als wenn man ihn anrufe.89 Das bedeutet jedoch nicht, daß die inhaltbezogene Perspektive auf den adverbalen Dativ jeder Grundlage entbehrt. Das geht z.B. daraus hervor, daß die vor allem von H. Brinkmann vorgebrachte These, hinter der (in einigen Regionen Deutschlands bis heute lebendigen) Kasusunterscheidung zwischen jmdm. rufen und jmdn. rufen verberge sich ein wesentlicher inhaltlicher Unterschied, in der Kasusdiskussion bis Anfang der 80er Jahre wirksam war. Mit Die Mutter ruft dir sei nach Brinkmann gemeint, "daß die Mutter (...) etwas ruft, was dem Kind gilt".90 Das sei anders, "wenn das Kind auf der Straße spielt und andere Kinder ihm sagen: Die Mutter hat dich gerufen. Dann will die Mutter durch ihren Ruf das Kind ins Haus holen".91 Der Alternative zwischen Dativ und Akkusativ entsprechen dem Verfasser zufolge auch zwei verschiedene Fragetypen: Die Mutter rufi dir - Was hast du gerufen ? und Die Mutter hat dich gerufen Warum hast du mich gerufen? Während Brinkmann offensichtlich bemüht ist, der syntagmatischen Kasusverteilung vermittels einer Analyse Rechnung zu tragen, die satzsemantische Unterschiede herausschält (jmdm. rufen > jmdm. etwas rufen vs. jmdn. rufen > jmdn. zu sich rufen, vgl. § VII.2.), fällt auf, daß Weisgerber die Kasusalternative beim Verb rufen - wenn auch unter Bezug auf Brinkmann - sogleich gemäß den massiven Prämissen seiner inhaltbezogenen Theorie interpretiert. Das bedeutet, daß für Weisgerber mit der "Akkusativierung des Menschen" entscheidende sozial-ideologische Momente verknüpft sind. Der Verfasser schreibt: Noch können wir nachfühlen, was die Fügung einem rufen, die bis ins 19. Jahrhundert vorherrschte, unterscheidet von der heute geläufigeren einen rufen·, in dem einen Fall wendet sich der Ruf an den in seiner Entscheidung frei gesehenen Menschen, im anderen Fall wird in dem Anruf bereits der Anspruch auf das Willfahren des Angerufenen gedanklich vorweggenommen. In dem einen Fall erscheint der Mensch im Dativobjekt als die Stelle, von der her das ganze Geschehen seinen Sinn gewinnt, in dem anderen, im Akkusativobjekt, ist der Mensch Schauplatz eines gedanklichen Eingriffs, also Objekt im vollen Sinne. Im Dativ bleibt der Mensch "sinngebende Person" (nach einem treffenden Wort H. Brinkmanns, der auch hinzufügt, daß man im Grunde von einem Dativ"objekt" nicht sprechen sollte), im Akkusativ wird er geistig einer Verfügungsgewalt unterworfen.92

89 90 91 92

Weisgerber 1963, 226. Brinkmann 1971, 407; vgl. Brinkmann 1953, 105. Brinkmann 1971, 407. Weisgerber 1963, 225-226.

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Methodologische Vorüberlegungen

Mehr noch als Brinkmanns Analyse der Kasusalternative zwischen Dativ und Akkusativ ist es die Weisgerbersche Interpretation dieser Kasusalternative, die auf vehementen Widerspruch stoßen sollte.93

1.2.6. Solomon D. Kaznelson Nach Solomon D. Kaznelson, einem der frühesten Kritiker der strukturalistischen Hypothese, daß den Kasus sog. "Gesamtbedeutungen" entsprächen, ist es ein falscher Grundsatz, "daß Form und Inhalt in der Sprache isomorph seien".94 Diesem Einwand schließt sich nach Kaznelson vor allem Gerhard Heibig, ein anderer einflußreicher Kritiker der strukturalistischen "Gesamtbedeutungen", an95, freilich aufgrund der unzulässigen und artifiziellen Voraussetzung, daß die "Bedeutung" (die Heibig im Sinne eines Abbilds außersprachlicher Beziehungen versteht) im Grunde vom Bereich der sprachlichen "Funktionen" ausgenommen werden müsse.96 Gibt man, so Kaznelson, das für den Strukturalismus grundlegende Isomorphic- oder Bilateralitätsprinzip auf, sei es nichts Außergewöhnliches, daß ein Kasus, dessen positioneile Hauptfunktion nicht die Funktion des direkten Objekts sei, u.U. dennoch eben diese Position des direkten Objekts besetzen könne. Kasus sind nach Kaznelson "polyfunktional".97 Die Verwendung eines Kasus in der ihm ursprünglich fremden Struktur "Subjekt - Verb - direktes Objekt", die der Verfasser als universell betrachtet, nennt Kaznelson "versetzt".98 Solche "versetzten" Kasusverwendungen findet der Autor in verschiedenen Sprachen, außer im Russischen und Deutschen beispielsweise auch im Lateinischen.99 Für Kaznelson wäre es ein Irrtum, hinter dem "versetzten" Kasus, der ein direktes Objekt - mit Jerzy Kurylowicz zu sprechen - in "sekundärer" Funktion signalisiert, die Funktion des direkten Objekts verkennen zu wollen. Ein93 94 95 96 97 98 99

vgl. für weitere Einzelheiten Willems 1997, 169. Kaznelson 1974, 93. s. Heibig 1973, 165ff; Heibig 1983, 9-10; vgl. auch Helbig/Buscha 1993, 293. Heibig 1983, 11. Kaznelson 1974, 53. Kaznelson 1974, 62. Einen adveibalen Dativ regieren im Lateinischen u.a. mederi 'heilen, ausheilen', ignocere 'entschuldigen', maledicere 'beschimpfen', persuadere 'überzeugen', parcere 'verschonen'.

Bisherige Erklärungsversuche

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mal werde nicht genau zwischen der Form (dem morphologischen Kasus) und der Funktion (des indirekten Objekts) unterschieden; ein andermal hätten "versetzte" Kasusverwendungen tatsächlich als Ausnahmen zu gelten und würden sie von den Sprachteilnehmern auch als "legalisierte Abweichungen von der herrschenden Norm" aufgefaßt.100 Den adverbalen Dativ zusätzlich noch zu begründen bzw. zu motivieren, gibt es nach Kaznelson mithin weder Anlaß noch Grund. Den klassischen semantischen Deutungsversuchen, in denen der adverbale Dativ bestimmten Verbbedeutungen zugeordnet wird, bleibt Kaznelson denn auch fern. Dem Verfasser zufolge müssen wir die Objekte ihn und ihm in Er unterstützt ihn und Er hilft ihm beide Male als direkte Objekte auffassen. Kaznelson betrachtet die "Einobjektvalenz der Verbbedeutung, die die Doppeldeutigkeit aufhebt", als die Bedingung für die positioneile Versetzung des Kasus.101 Der Akkusativ habe die Funktion des direkten Objekts unabhängig davon, wie viele Leerstellen das Verb für Objekte bereithalte, während die anderen Kasus die Funktion des ("versetzten") direkten Objekts nur bei Verben mit lediglich einem Objekt erfüllen könnten. Obwohl der Verfasser hiermit auf eine wichtige Tendenz hinweist, muß doch eingewandt werden, daß seine Behauptung nicht generell stimmt. Im Lateinischen etwa verlangt das Verb interdicere normalerweise eine Verbindung des Dativs mit dem Ablativ, z.B.: cum (...) inter dictum nobis externis bellis 'da es uns verboten wurde, mit anderen Ländern Krieg zu fuhren'; die ("normale") Verbindung des Dativs (der Person) mit dem Akkusativ (der Sache) gilt als "vereinzelt und unklassisch".102 Auch im Ahd. und Mhd. wechseln bei bestimmten Verben Dativ/Akkusativ-Verbindungen mit Dativ/Genitiv-Verbindungen ab, bei Otfrid z.B. bei glauben (ahd. gilouben): thaz giloubi thu mir neben thes giloube man mir (vgl. § D O . ) , bei Luther noch bei wünschen (Wündsche dir nicht seiner Speise) usw.103

1.2.7. Gerhard Helbig/Joachim Buscha Gerhard Heibig und Joachim Buscha stimmen in ihrer Deutschen Grammatik darin mit S. Kaznelson überein, daß in Fällen wie Der Lehrer hilft dem schwa100 101 102 103

Kaznelson 1974, 64. Kaznelson 1974, 62. s. dazu Pinkster 1990, 44 u. 263-264 [Anm. 6] (dt.: 1988, 66). Franke 1922, 104. Für weitere historische Belege zur Verbindung von Dativ- und Genitivobjekt s. Dal 1966, § 21.

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Methodologische Vorüberlegungen

chen Schüler/Der Lehrer unterstützt den schwachen Schüler; Er gratuliert seinem Mitarbeiter/Er beglückwünscht seinen Mitarbeiter kein semantischer Unterschied zwischen Akkusativ und Dativ erkennbar sei.104 Einen solchen semantischen Unterschied gebe es nur in zwei Fällen, erstens, "wenn mehrere Kasus alternativ in der gleichen Position beim gleichen Verb erscheinen können", z.B.: Der Betrieb kündigt dem Arbeiter/den Arbeiter; Er klopfte seinem Freund/seinen Freund auf die Schulter.105 Die Autoren meinen, der Unterschied entstehe "durch eine verschiedene Nuance in der subjektiven Blickrichtung des Sprechers auf den gleichen Sachverhalt: Im Akkusativ erscheint das Objekt stärker betroffen als im Dativ" . Hieraus geht hervor, daß die Autoren - jedenfalls was diesen Punkt betrifft - trotz ihrer expliziten Prämissen ohne Bedenken an der inhaltbezogenen Erklärung festhalten, die von L. Weisgerber über H. Wegener bis zu den kognitiven Kasustheorien (s. weiter unten) reicht. Zweitens aber gibt es nach G. Heibig und J. Buscha auch einen semantischen Unterschied zwischen Akkusativ und Dativ, "wenn mehrere Kasus nebeneinander in der Umgebung eines Verbs auftreten".106 Damit greifen die Autoren wiederum jenen wichtigen Gedanken auf, dem wir in der vorliegenden Studie genauer nachgehen werden, nämlich daß den morphologischen Kasus bei einigen Verben, die einen adverbalen Dativ regieren, nicht so sehr "unterschiedliche" als vielmehr "unterscheidende" Funktionen im Satzgefüge zukommen, als auch aus den beiden Beispielsätzen G. Helbigs und J. Buschas hervorgeht: Er überreicht dem Freund, das Buch aber: Er gewöhnt dem Patienten das Rauchen ab. Auch weisen die Autoren mit Recht auf die "nur oberflächlich" gleiche Position des Objekts in Er glaubt dem Vater und Er glaubt die Geschichte hin, wie aus Er glaubt dem Vater die Geschichte hervorgehe.107 Es ist auf jeden Fall zu beachten, daß G. Heibig, der seit Jahrzehnten dem Fokus auf die Kasusformen kritisch gegenübersteht,108 Oberflächenkasus in concreto mehr zu-

104

105 106 107 108

Helbig/Buscha 1993, 294; andere Beispiele sind nach Helbig/Buscha jmdm. begegnen/jmdn. treffen, etwas (Dativ) gehorchen/etwas (Akkusativ) befolgen, jmdm. imponieren/jmdn. beeindrucken, jmdm. schaden/jmdn. beschädigen, jmdm. drohen/jmdn. bedrohen usw. Wie wir im Abschnitt 1.2.12. sehen werden, ist jmdn. beschädigen jedoch veraltet (dazu s. ausführlicher § IV. 12.). Helbig/Buscha 1993, 294. a.a.O. a.a.O. vgl. Heibig 1973, 57f., 190 u.ö. sowie Heibig 1992, 138f.

Bisherige Erklärungsversuche

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mutet und auch für bedeutsamer hält, als man seinem Ansatz im Prinzip entnehmen kann.

1.2.8. Frans Plank Wie aus den Darlegungen Behaghels geht auch aus den Ausführungen Helbigs und Buschas hervor, daß die adverbale Kasuszuweisimg auch andere Gründe haben kann als die im engeren Sinn syntaktischen. Daß gewisse paradigmatische Funktionen morphologischer Kasus in der historischen Entwicklung des Kasussystems eine bestimmende Rolle übernehmen können, ist in den indogermanischen Sprachen keine außergewöhnliche Erscheinung, vgl. z.B. lat. providere alicui 'für jemanden sorgen' versusprovidere alicuid 'etwas voraussehen'; timere alicui 'um jemanden bangen' versus timere aliquid/aliquem 'etwas oder jemanden fürchten'. Auch in den altgermanischen Dialekten können mehrere Verben sowohl einen Dativ als auch einen Akkusativ regieren und korreliert der Kasus Wechsel gelegentlich mit verschiedenen Bedeutungsansätzen des Verbs, z.B. ahd. hören + Akkusativ 'hören' und hören + Dativ 'gehorchen' (vgl. § IV. 16.). Frans Plank weist auf eine Reihe altenglischer Verben hin, bei denen der Kasusgebrauch die Verbsemantik modifiziert: hieran + Akkusativ 'etwas oder jmdn. hören' - hieran + Dativ 'jmdm. gehorchen'; arian + Akkusativ 'jmdn. ehren' - arian + Dativ 'für jmdn. sorgen'; efenlaxan + Akkusativ 'jmdn. oder etwas nachahmen' - efenlaxan 4- Dativ 'jmdm. oder etwas ähneln'; wunian + Akkusativ 'bewohnen (völlig besetzen und kontrollieren)' wunian + Dativ 'wohnen, verweilen, sich auflialten'.109 In diesen Fällen ist der Gebrauch von Akkusativ und Dativ nicht rein auf der syntagmatischen Ebene zu erklären und leisten die Kasus mehr als nur die Markierung einer grammatischen Bedeutung, durch die einem Satzglied eine syntaktische Rolle zugewiesen wird. Die paradigmatische Unterscheidung zwischen Akkusativ und Dativ ist aber nicht immer so scharf, wie die Erläuterung der altenglischen Verben nahelegen könnte. Plank stellt im konkreten Gebrauch ab und zu Schwankungen fest, z.B. kommt arian in der Verwendung 'ehren' manchmal mit Dativrektion vor, und auch bei anderen Verben - Plank nenntfylgan 'folgen' und widsacan 'ablehnen' - ist die Rektion lexikalisch offenbar nicht absolut festgelegt, während der Rektionsunterschied auch keine klaren Bedeutungsoppositionen zu be-

109

Plank 1983, 246-248.

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Methodologische Vorüberlegungen

wirken scheint. Deshalb schlägt Plank für die altenglischen Kasus eine doppelte Definition vor. Einerseits übernehmen Kasus, Plank zufolge, eine Unterscheidungsaufgabe. Die "task of distinction"110 der Kasus hält der Autor v.a. dort für entscheidend, wo die lexikalischen Bedeutungen des Verbs und der Ergänzungen allein nicht imstande sind, den Gegenstand der Rede ohne Doppeldeutigkeit darzustellen. Andererseits empfiehlt es sich nach Plank, darüber hinaus jeweils eine Eigenbedeutung der Kasus anzuerkennen. Die kasuellen Eigenbedeutungen definiert er im Sinne von Abstufungen auf einer Achse, d.h. im Sinne von "differences in degree rather than in kind".111 Den einen Pol bezeichnet er als denjenigen der maximalen "opposedness of a configuration", den anderen Pol als denjenigen der minimalen "opposedness of a configuration".112 Merkwürdigerweise aber steht der Akkusativ nach Plank für eine größere "opposedness", der Dativ dagegen für eine geringere "opposedness" in der vom Verb ausgedrückten Konfiguration von Aktanten. Diese Verteilung ist bemerkenswert, weil sie sich nicht mit der traditionellen (und bereits seit den Anfängen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft üblichen) Sicht vereinbaren läßt, daß der Dativ der Kasus der relativ selbständigen Instanz sei, während der Akkusativ diejenige Größe markiere, die unmittelbar von der Tätigkeit des Verbs betroffen sei (im Falle des "inneren Objekts" ["cognate object"] sogar im Verb aufgehe, z.B. einen Kampf kämpfen). Dennoch scheint uns Planks Analyse auf überzeugende Weise die Vorzüge des Prinzips der Gradualität vor Augen zu führen, das seit der Wende der Linguistik zur Prototypentheorie immer öfter in Anschlag gebracht worden ist, gelegentlich freilich auf mangelhafte und kaum begründete Weise. Wir glauben nicht, daß die Grundeinheiten der Sprache, syntaktische Regularitäten sowie die sprachlichen Bedeutungen durch "differences in degree rather than in kind" definiert sind. Im Gegenteil glauben wir, daß "differences in kind" die Bedingungen für bestimmte "differences in degree" bilden. Wir meinen aber, daß es erhellend und vollkommen sachgemäß sein kann, bestimmte Erscheinungsweisen der Sprache vom Standpunkt des Kontinuums zu beschreiben und zu erklären (s. § Π.4.). In unserer Analyse werden wir deshalb bestrebt sein, die Verwendungen von Verben, die gemäß unserer Terminologie einen adverbalen Dativ regieren können, auf einem Kontinuum anzusiedeln, je nachdem der Kasus beim Verb sich eher syntagmatisch oder vielmehr paradigmatisch begründen 1,0 111 1,2

Plank 1983, 250. Plank 1983, 249; vgl. auch Plank 1984, 7. Plank 1983, 250.

Bisherige Erklärungsversuche

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läßt. Ein zweiter Kontinuumsgedanke wird sich auf die unterschiedliche Idiomatizität des Dativs beziehen (s. § II.4.). In einigen anderen Beiträgen, u.a. dem Artikel "Direkte indirekte Objekte, oder: Was uns lehren lehrt" aus dem Jahr 1987, bringt F. Plank ein Problem zur Sprache, das den Fragenkomplex der vorliegenden Arbeit berührt, auch wenn sich der Autor nicht mit dem adverbalen Dativ auseinandersetzt. Er weist daraufhin, daß die paradigmatische Unterscheidung direkter und indirekter/nicht-direkter Objekte ihre syntagmatische Unterscheidung vorauszusetzen (scheint). 113

Diese implikationelle Gesetzmäßigkeit läßt sich Plank zufolge sowohl sprachvergleichend als auch einzelsprachlich rechtfertigen. Erstens gebe es neben Sprachen mit syntagmatisch und paradigmatisch differenzierten Objektarten (wie dem Deutschen) zwar auch Sprachen ohne eine vergleichbare "grammatisierte Objekt-Differenzierung" (z.B. die Bantu-Sprachen) sowie Sprachen mit nur syntagmatisch differenzierten Objektarten (z.B. das Englische), es gebe jedoch keine Sprachen mit nur paradigmatisch differenzierten Objektarten. Zweitens gebe es in einer Sprache wie dem Deutschen Verben (z.B. bezahlen, anziehen, verbinden), deren Objekte nur in einer ditransitiven Konstruktion, nicht aber bei monotransitiver Verwendung morphosyntaktisch unterschieden seien, vgl.: den Ober/die Rechnung bezahlen, aber: dem Ober die Rechnung bezahlen-, den Verletzten/die Wunde verbinden, aber: dem Verletzten die Wunde verbinden-, das Kind/den Mantel anziehen, aber: dem Kind den Mantel anziehen usw. Darüber hinaus behauptet der Verfasser: Das umgekehrte Muster mit paradigmatischer Objekt-Differenzierung bei monotransitiver, aber ohne syntagmatische Objekt-Differenzierung bei ditransitiver Verwendung eines Verbs ist dagegen nicht belegt. 1 1 4

Planks Erkenntnis, daß die "paradigmatische Unterscheidung" im Objektbereich die "syntagmatische Unterscheidung" von Objekten voraussetzt, ist für den Gang der vorliegenden Untersuchung ausschlaggebend. Sie impliziert nämlich, daß wir unter den Verben, die in der deutschen Gegenwartssprache einen adverbalen Dativ regieren können, zunächst diejenigen Verben ausfindig machen und analysieren werden, deren Dativrektion in diachronischer Hinsicht syntagmatisch bedingt ist. Die historischen Analysen derjenigen Verben, die wir der dritten Gruppe der von uns behandelten Verben zuordnen (der GRUPPE 113 114

Plank 1987, 37. Plank 1987, 38.

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Methodologische Vorüberlegungen

C), werden jedoch zeigen, daß Planks Behauptung, paradigmatische ObjektDifferenzierung in zweistelligen Konstruktionen impliziere automatisch syntagmatische Objekt-Differenzierung in dreistelligen Konstruktionen, nicht generell zutrifft. Schon gar nicht trifft es zu, daß solche paradigmatischen Objekt-Differenzierungen bei monotransitiven Verwendungen nicht belegt seien, wenngleich sie recht selten sind (vgl. dazu die geschichtliche Entwicklung der Valenzrahmen von Simplizia wie grollen, leben, trotzen, begegnen usw. in Kapitel V). Wir werden in der vorliegenden Untersuchung bestrebt sein zu zeigen, daß im Hinblick auf den adverbalen Dativ das "paradigmatische" Motiv zwar weniger wichtig ist als das "syntagmatische" Motiv, auf dieses jedoch nicht zurückgeführt werden kann und über einen ganz eigenen Stellenwert verfügt.

1.2.9. Ingeborg Schröbler/Siegfried Grosse In ihrem Abschnitt über die Kasus in der Mittelhochdeutschen Grammatik knüpft Ingeborg Schröbler an die Unterscheidung zwischen syntaktischer und semantischer Kasusfunktion im Sinne von A. W. de Groot, J. Kurylowicz u.a. an.115 Eine Zurückführung aller Sonderbedeutungen der mhd. Kasus auf eine einzige "Grundbedeutung" (Hjelmslev) oder "Gesamtbedeutung" (Jakobson) hält die Verfasserin für undurchführbar. Dennoch meint sie, daß es sinnvoll sei, zu untersuchen, inwiefern die Sonderbedeutungen der Kasus "Varianten einer umfassenderen Bedeutung" bilden, "die einerseits durch den Kontext und anderseits durch den Bedeutungsgehalt des in dem betreffenden Kasus erscheinenden Nomens bedingt sind", und inwiefern sie darüber hinaus "eine gewisse Hierarchie bilden".116 Ein wesentlicher Beitrag Schröblers zur historischen Germanistik besteht darin, daß sie die Kasusfunktionen explizit sowohl mit satzsemantischen wie mit wortsemantischen Kriterien verknüpfen möchte. Wie aus dem Paragraphen über den "adverbalen Dativ" hervorgeht, kann dies aber zu einem Kreisschluß führen. Die Verfasserin geht davon aus, daß im Vergleich zur Beziehung zwischen Objektsakkusativ und Verb "die geringere Innigkeit" für die Verbindung zwischen Dativ und Verb kennzeichnend sei.117 Inwiefern das aber auf Verben 115 116

117

Paul/Moser/Schröbler 1969, 283-284. a.a.O., 285. All dies übernimmt Siegfried Grosse in seiner Neubearbeitung nahezu ohne Änderungen, s. Paul/Wiehl/Grosse 1989, 331ff. Paul/Moser/Schröbler 1969, 296.

Bisherige Erklärungsversuche

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wie mhd. rihten, genäden, vluochen, lieben, leiden, ruofen, hären, antworten, folgen u.a." 8 zutreffen soll, ist unklar, es sei denn, man unterstellt in den jeweiligen Verbbedeutungen bereits im voraus Merkmale, die eine "geringere Innigkeit" zum regierten Kasus legitimieren - was aber seinerseits doch wieder nur an eben dieser Kasusrektion ablesbar sein dürfte. Als "Varianten" einer "umfassenderen" Dativbedeutung, die in der Wortsemantik des eigentlichen Aktanten gründen sollen, können die Dative nach jenen Verben somit schwerlich herhalten. Dies im Unterschied zum satzsemantischen Fokus, der besagt, daß der Dativ bei Verben wie mhd. geben, nemen, bieten, bringen, raten, loben usw. dem Objektsakkusativ "gegenübersteht"119 - womit sich Schröbler in jene Tradition einreiht, die wir über O. Behaghel und W. Wilmanns bis J. Grimm zurückverfolgen konnten.

1.2.10. Richard D. Brecht/James S. Levine Während I. Schröbler davon ausgeht, daß die konkret realisierte Kasusmorphologie in einem Satz einerseits durch den Kontext, andererseits durch die Bedeutung des in dem betreffenden Kasus erscheinenden Nomens bedingt wird, stellen Richard D. Brecht und James S. Levine einen anderen Zusammenhang in den Mittelpunkt. Die Verfasser schreiben: that loben in German takes the accusative case and schmeicheln the dative either is totally ad hoc, or the grammatical meaning of these cases and the lexical meaning of the verbs in question must be interrelated. Whether this question is resolved in the syntactic or interpretive components or whether it is left to the lexicon is merely a consequence of the theoretical framework in which one is operating.120

Für Brecht und Levine bedingt die Forderung, eine adäquate linguistische Theorie habe "erklärend" zu sein, daß man als Linguist immer - auch in der Kasustheorie - bestrebt sein müsse, die Korrelationen von Lexemen mit bestimmten Kasus im Prinzip nicht als zufällig, sondern als systematisch zu betrachten. Im Zitat bringen die Verfasser mehrere Problempunkte zur Sprache, die in der Diskussion der Kasusmorphologie eine Rolle spielen:

118 119 120

a.a.O., 297; vgl. Paul/Wiehl/Grosse 1989, 350-351. Paul/Moser/Schröbler 1969, 297. Brecht/Levine 1986, 28.

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Methodologische Vorüberlegungen

a. die morphologische Kasusmarkierung könnte eine Zufälligkeit sein, auch sprachhistorisch betrachtet; b. die morphologische Kasusmarkierung könnte aber auch systematisch sein, wobei dann im wesentlichen zwischen drei Möglichkeiten zu unterscheiden wäre: - die Oberflächenkasus haben eine "grammatical meaning"; - die Oberflächenkasus werden aufgrund der lexikalischen Bedeutungen der Verben und deren syntaktischer Eigenschaften zugewiesen; - es gibt einen systematischen Zusammenhang zwischen der "grammatical meaning" der Oberflächenkasus und den lexikalischen Bedeutungen und syntaktischen Eigenschaften der Verben, die die Kasus regieren. Rein "ad hoc" kann der adverbale Dativ, auch der Dativ bei schmeicheln, allein schon deshalb nicht sein, weil die adverbale Dativrektion bei jedem einzelnen Verb, auch bei schmeicheln, eine ganze Geschichte hat. Der adverbale Dativ bei den im folgenden zu untersuchenden Verben ist keineswegs fallweise belegt, sondern ist vielmehr in der Norm des heutigen Deutsch verankert, was gewisse Schwankungen, wie wir sehen werden, allerdings nicht ausschließt. Die Frage nach der etwaigen Zufälligkeit des adverbalen Dativs kann somit allenfalls dahingehend lauten, ob es denkbar und möglich ist, daß sich eine ehemals rein zufällige Kasuszuweisung allmählich dermaßen konsolidiert hat, daß sie zur Norm der Sprache geworden ist, auch wenn sich herausstellen sollte, daß dafür keine wirklich triftigen kasusmorphologischen Gründe ausfindig gemacht werden können. In der vorliegenden Untersuchung werden wir darlegen, daß der adverbale Dativ im Deutschen kein zufälliger Kasus in diesem Sinn ist. Brecht und Levine haben recht, wenn sie einseitige Erklärungsversuche für systematische Aspekte der Kasusmorphologie ablehnen. Der Versuch, den adverbalen Dativ ganz und gar von der etwaigen Bedeutung des Kasus her zu erklären, ist genauso zum Scheitern verurteilt wie der Versuch, den adverbalen Dativ ganz auf die "lexikalische Bedeutung" des regierenden Verbs zurückzuführen. Daß beides, die Ebene der "grammatischen Bedeutung" des Dativs und diejenige der lexikalischen Bedeutung der einschlägigen Verben, miteinander verknüpft sind, ist ein Grundsatz, den wir im folgenden von Brecht und Levine übernehmen. Allerdings möchten wir dabei eine möglichst weite syntaktischsemantische Perspektive einnehmen, die es gestattet, den herkömmlichen, von

Bisherige Erklärungsversuche

33

uns als zu eng und zu ausschließlich empfundenen Fokus auf das Verb zu einem weiteren Fokus auf den ganzen Satz zu erweitern.

1.2.11. Jean Fourquet, Galina A. Bajewa Anders als in der verbozentrischen Tradition üblich ist, hält der französische, der Sprachinhaltsforschung nahestehende Germanist Jean Fourquet den Kasus ausnahmslos für eine syntaktische und satzsemantische Kategorie. Fourquets Argumentation ist allerdings streng synchronisch. Der Kasus ist ihm zufolge "keine Eigenschaft der nominalen Einheit, sondern der Konnexion, die diese Einheit mit einem anderen Element eingeht".121 Der Verfasser schlägt ein hierarchisches Konnexionsmodell des deutschen Satzes vor, auf das wir später noch zurückkommen werden (s. § Π.2.). An dieser Stelle interessiert vor allem Fourquets Sicht auf den besonderen Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Im Bereich der adverbalen Kasus unterscheidet Fourquet zwischen satzsemantisch funktionellen Verwendungen des Kasus, wie in Der König gab seine Tochter dem Prinzen zur Frau versus Der König gab seiner Tochter den Prinzen zum Gemahl, und Kasusverwendungen "ohne Funktion". In letzterem Fall ist die Kasuswahl lexikalisch bestimmt: Er trifft mich, aber Er begegnet mir}11 "Im jetzigen Zustand der Sprache", schreibt Fourquet an anderer Stelle im Hinblick auf Kasusunterschiede wie Er sieht mich; Erfolgt mir; Er bedarf meiner, "ist bis auf sehr seltene Fälle der Kasus ein für allemal bestimmt ('servitude grammaticale'), und hat deshalb nur die Funktion, einen Nicht-Nominativ anzugeben. Deshalb leistet die Sprache solchen Verschiebungen wie er ruft mir/er ruft mich, er vergißt mein/er vergißt mich wenig Widerstand."123 Das hindert Fourquet allerdings nicht daran, in früheren Phasen der Sprache kasussemantische Unterschiede anzunehmen.124 Wel121 122

123

124

Fourquet 1970/1977, 79. Fourquet 1970/1977, 80. Funktionslos kann nach Fourquet auch der Nominativ sein, vgl.: ich hungere/mich hungert (a.a.O., 104, Anm. 9). Fourquet 1970/1977, 95-96; vgl. auch 129. In Fourquet/Grunig 1971, 16 heißt es: "Eine Valenztheorie sollte dem Umstand Rechnung tragen, daß im jetzigen Deutsch, synchron betrachtet, oft Kasusunterschiede nur arbiträre Varianten des Signans bei gleichem Mitteilungsinhalt (Signatum) darstellen". So meint der Autor, daß zwischen Akkusativ und Dativ in Objektsfunktion "der Unterschied darin bestanden haben (mag), daß der Dativ ein Zuwenden, kein volles Erfassen und Umgestalten ausdrückte. Diese qualitativen Unterschiede sind noch zum Teil aus der festgewordenen Rektion herauszulesen und mögen noch in unserem Sprachgefühl dem Dativ

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Methodologische Vorüberlegungen

che Motive aber der Tatsache zugrunde liegen, daß solche Unterschiede aus der Sprache verschwunden sind, obwohl doch die Kasuszahl - auch im adverbalen Bereich - dieselbe geblieben ist, darüber erfährt man bei Fourquet nichts. In einem kleinen Beitrag in dem von Franz Simmler herausgegebenen Sammelband Probleme der funktionellen Grammatik unternimmt Galina A. Bajewa in aller Kürze einen der wenigen Versuche, die morphologische Rektion von deutschen Verben anhand diachronischer Erkenntnisse durchsichtig zu machen. Bajewas Beitrag kann als eine willkommene sprachhistorische Ergänzung zu Fourquets konnexionistischer Kasustheorie gelesen werden, auf die sich die Verfasserin auch explizit bezieht. Bajewa hebt insbesondere die Rolle der Verbbedeutungen für die Entwicklungen im Kasusgebrauch hervor, womit sie einen Gedanken aufgreift, dem wir u.a. auch schon bei R. Brecht und J. Levine begegnet sind. Bajewa meint, daß sich "einige semantische Gruppen von Verben" unterscheiden ließen, "die in ihrer Grundbedeutung (sie) den entsprechenden Kasus regieren"125, wodurch gerade Rektionsunterschiede wie die zwischen den Verben treffen und begegnen erklärungsbedürftig werden. Die Erklärung der widersprüchlichen Entwicklungen im Kasusgebrauch liegt nach Bajewa "in der Geschichte der Sprache".126 Nicht so sehr die Veränderungen der Kasusbedeutungen durch Synkretismus u. dgl. sind für die Verfasserin ausschlaggebend, sondern: Das Wichtigste aus diachronischer Sicht besteht in der Entwicklung der Semantik der Verben, die die Veränderungen in der Rektion für die Differenzierung der homonymen Verben notwendig hervorruft.127

Bajewa legt daraufhin anhand von drei Beispielen, nämlich den ahd. Verben folgen, hören und gilouben, dar, wie Verben, die ihr zufolge ursprünglich polysem waren, je nach der Bedeutung unterschiedliche Rektion hatten. Wir werden auf die Ausführungen der Verfasserin bei der Behandlung der einzelnen Verben im Teil II des Buches zurückkommen (s. § IV.8., § IV. 16. und § m.8.). Hier sei soviel vorweggenommen, daß Bajewa die Kasusschwankungen - wie wir im Anschluß an Frans Plank sagen werden - so gut wie ausschließlich "paradigmatisch" begründet: Die Schwankungen entsprechen ihr zufolge "der möglichst präzisen Wiedergabe eines Sememgehalts" des jeweiligen

125 126 127

oder Akkusativ eine gewisse Färbung verleihen", Fourquet 1970/1977, 96. Bajewa 1993, 15. Bajewa 1993, 15. a.a.O.

Bisherige Erklärungsversuche

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Verbs.128 Ahd. hören etwa regierte den Akkusativ in der Bedeutung 'hören', den Dativ in der Bedeutung 'folgen, nachgeben'.129 Ahd. folgen regierte den Dativ in der wörtlichen, direkten Bedeutung 'folgen' (mir folge, im Tatian), den Genitiv - und später dann auch den Akkusativ - in der übertragenen, indirekten Bedeutung (Folge mines rates, bei Notker), was auch die Verbindung beider Rektionen in ein und demselben Satz ermöglichte.130 Weshalb ahd. gilouben bald den Akkusativ, bald den Dativ der Person regierte, kann die Verfasserin vom Standpunkt ihres "paradigmatischen" Ansatzes nicht erklären; jedoch weist sie daraufhin, daß seit Notker neben gilouben das reflexive Verb sih gelouben mit einer sich vom Basisverb stark abhebenden privativen Bedeutung ('sich entziehen, verlassen, verzichten auf usw.') erscheint, wie z.B. im Satz Uuio iz sih keloubet stnes trostes (Notker).131 Es ist das Verdienst Bajewas, daß sie anhand drei konkreter, wenn auch nur sehr kurzer Einzelanalysen zumindest auf einen Typ von systematischen Bedingungen für Kasusschwankungen bei Verben im älteren Deutsch aufmerksam macht. Inwieweit ihre Analysen zwingend sind, wird sich später herausstellen. Hier sei aber schon hervorgehoben, daß die Behauptung, die einzelnen Verben seien systematisch polysem und regierten dementsprechend verschiedene Kasus, keine empirisch fundierte Sichtweise wiedergibt und auch nicht mit den Ergebnissen unserer Analysen übereinstimmt. Die Hypothese, daß die Verben an sich polysem seien, impliziert, daß sie erst disambiguiert werden, wenn sie in der konkreten syntagmatischen Konstruktion einen bestimmten Kasus regieren. Wir werden zeigen, daß bei weitaus den meisten zu untersuchenden Verben mit adverbalem Dativ vielmehr das Umgekehrte gilt: Die Verben besitzen in der Regel eine einzige, allgemeine Systembedeutung, die in den jeweiligen Ko- und Kontexten spezifiziert wird. Die Kasusschwankungen erweisen sich als ein Zeichen solcher Spezifizierungen im Sprachgebrauch und nicht als ein Symptom mehrerer Verbbedeutungen, denen eine einzige Verbform entspricht. Außerdem wird sich herausstellen, daß Bajewas "paradigmatischer" Ansatz aus unserer Sicht nicht nur durch einen "syntagmatischen" Ansatz ergänzt werden muß, sondern daß dem "paradigmatischen" Ansatz sogar ein "syntagmatischer" Ansatz vorausgehen muß. Im Gegensatz zum "paradigmatischen" An128 129 130 131

Bajewa Bajewa Bajewa Bajewa

1993, 1993, 1993, 1993,

16. 15-16. 16-18. 18-19; s. Piper I, 13, 26.

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Methodologische Vorüberlegungen

satz bestimmt der "syntagmatische" Ansatz die Kasusrektion des Verbs nicht im Hinblick auf unterschiedliche aktualisierte Bedeutungen des Verbs in einem gegebenen Satz mit monotransitiver Verwendung des Verbs, sondern im Hinblick auf größere syntagmatische Zusammenhänge in ditransitiven Konstruktionen und auf die morphosyntaktische Unterscheidung verschiedener historisch rekonstruierbarer Satzglieder.

1.2.12. Heide Wegener In ihrer an detaillierten Einzelanalysen nach wie vor unübertroffenen Monographie Der Dativ im heutigen Deutsch (1985) analysiert Heide Wegener den Dativ nicht nur vom syntaktischen Standpunkt, die Verfasserin stellt auch explizit die Frage nach der Bedeutung bzw. den Bedeutungen des Dativs und geht zu diesem Zweck u.a., wenn auch in kritischer Distanz, auf einige Theoreme der Sprachinhaltsforschung ein. Auch sie versucht darzutun, daß es zwar unterschiedliche Dativtypen gebe, daß der Dativ vom semantischen Standpunkt aus jedoch tatsächlich ein homogener Kasus sei, der normalerweise Belebtheit impliziere (was nicht der Fall sei beim Akkusativ) und allgemein sogar als der Kasus der "betroffenen Person" aufgefaßt werden könne. Diese Ansicht hat die Verfasserin auch in vielen späteren Beiträgen wiederholt, wobei ihre jüngsten Publikationen darüber hinaus immer mehr durch die Rektions- und Bindungstheorie beeinflußt sind (s. § 1.2.14.). Wegener schreckt nicht einmal davor zurück, die "Bezeichnung des Betroffenen" als die eigentliche "Grundbedeutung" des Dativs zu bezeichnen.132 Wegeners Ansicht zum Dativ als dem "Kasus des betroffenen Lebewesens" wurde daraufhin von verschiedenen Autoren übernommen. 133 Daß der Dativ prototypisch Personen oder Lebewesen markiere, geht nach H. Wegener z.B. aus dem Unterschied zwischen schaden und beschädigen hervor, denn man kann zwar einen Motor, nicht aber *einen Mann beschädigen, während man sehr wohl einem Mann schaden kann.134 Aber die Disjunktion 132

133 134

Wegener 1989a, 94; vgl. Wegener 1985, 13ff, 166ff, 321ff; 1989b, 56ff; 1989c, 20ff u.ö. Noch vor Wegener trat im englischen Sprachraum insbesondere schon David A. Zubin 1977, 92f für die Ansicht ein, daß die im Dativ erfaßte Größe "more active" und "more potent" sei als die im Akkusativ erfaßte, der das Geschehen gleichsam widerfahre. Damit setzt Zubin, ohne dies explizit zu erwähnen, zweifellos die Weisgerbertradition fort. vgl. Olsen 1997, 308ff. Wegener 1985, 171ff.

Bisherige Erklärungsversuche

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geht nicht ganz auf, da auch die Fügung einem Motor schaden keine Probleme bereitet und hier somit nicht der Akkusativ, sondern der Dativ sich gegenüber der Unterscheidung "belebt/nichtbelebt" als neutral erweist.135 Es nimmt denn auch nicht wunder, daß sich Wegener davor hütet, dem adverbalen Dativ immer explizit solche Merkmale wie Belebtheit und Betroffenheit aufzubürden, auch wenn sie dem semantischen Prinzip als solchem treu bleibt. Den Unterschied in der Kasusrektion zwischen z.B. liefern und beliefern erblickt die Verfasserin nicht zuletzt auch in verschiedenen syntaktischen Möglichkeiten, die ihrerseits wiederum semantische Folgen haben (z.B. der belieferte Kunde/*das belieferte Bier vs. das gelieferte Bier/*der gelieferte Kunde).136 Auf Wegeners Monographie über den Dativ haben wir in der Einführung bereits ausfuhrlicher Bezug genommen (s. § I.I.). Der adverbale Dativ, so wie wir ihn definieren, bildet in ihrem Buch keinen Hauptgegenstand. Um so interessanter ist es, daß die Verfasserin zu Brinkmanns Analyse des angeblichen Unterschieds zwischen jmdn. rufen und jmdm. rufen zwar anmerkt, die Kasusunterscheidung sei nur noch in Süddeutschland erhalten, daß aber auch sie im Beispiel Brinkmanns einen Beweis dafür erblickt, daß die morphologischen Kasus tatsächlich nicht semantisch leer sind und sich darüber hinaus als relativ "homogen" erweisen, sowohl was ihre semantischen als auch was ihre syntaktischen Fähigkeiten betrifft.137 Die Verwurzelung von Wegeners Argumentation in den klassischen (inhaltbezogenen) Analyseansätzen, wie wir sie bei Winkler, Havers, Weisgerber und Brinkmann vorfanden, geht auch daraus hervor, daß die Verfasserin einen Unterschied wie den zwischen Der Hund biß mich ins Bein/Der Hund biß mir ins Bein oder Ich stelle mich die Aufgabe/Ich stelle mir die Aufgabe durchaus vor dem Hintergrund "prototypischer" Kasusbedeutungen des Akkusativs und Dativs zu erklären versucht. Sie verbindet den Kasusunterschied mit Kategorien wie: absichtliches Verhalten (jmdn. ins Gesicht schlagen) versus unabsichtliches Verhalten (jmdm. ins Gesicht schlagen), größere Intensität (jmdn. an der Hand fassen) versus geringere Intensität (jmdm. ins Gesicht schauen) usf.138 Das belegt, daß Wegener - und mit ihr ein beträchtlicher Teil der neueren Linguistik zu den morphologischen Kasus - nicht so sehr den strukturalistischen Ansatz als solchen tadelt, als vielmehr wesenüiche Momente

135

134 137 138

Die diachronische Rekonstruktion in Abschnitt IV. 12. wird darüber hinaus zeigen, daß beschädigen anfanglich auch mit persönlichen Objekten verbunden wurde. Wegener 1985, 175-176. s. Wegener 1985, 181. Wegener 1985, 169-185; dazu vgl. ausführlicher (und kritisch) Willems 1997, 168ff.

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Methodologische Vorüberlegungen

dieses Ansatzes in gewandelter Form beibehält, freilich nicht ohne ihre weltanschauliche Interpretation im Sinne Weisgerbers für unhaltbar zu erklären. Wie gesagt setzt sich Wegener in ihrem Dativ-Buch nicht intensiv mit dem adverbalen Dativ auseinander. Diesem Problembereich widmet sich die Autorin ausführlicher in einigen späteren Beiträgen, immer vom synchronischen Standpunkt.139 In ihrem Aufsatz "Dativ und Fremdsprachenunterricht Deutsch" behauptet die Autorin lapidar, "daß bei vielen Verben die Dativ-N(ominal)P(hrase) erst realisiert werden kann, wenn die Akkusativ-NP bereits realisiert ist, aber praktisch nie umgekehrt. (Ein - veralteter - Gegenbeleg wäre in danken zu sehen)."140 Das "praktisch nie" und das "veraltet" sind sicherlich stark übertrieben. Wir werden in der vorliegenden Untersuchung feststellen können, daß die adverbale Dativrektion weder ein vereinzeltes noch auch ein veraltetes Phänomen in der Grammatik des Deutschen darstellt. Unter den nichtdefektiven Simplizia allein schon finden sich mehr als 30 Verben mit adverbalem Dativ in zweistelligen Konstruktionen, die Anzahl der in der vorliegenden Untersuchung zu analysierenden Verben beläuft sich auf ca. 50, und bezieht man auch die defektiven Verben, die Komposita sowie die Präfix- und Präfixoidverben in die Analyse ein, handelt es sich um Hunderte von Verben. Ferner weist Wegener darauf hin, daß für den Deutschlernenden ein "direktes Objekt" im Dativ unüblich ist (vgl. Kaznelson, § 1.2.6.) und daß ein solches Objekt offenbar auch ihrer postulierten "Grundbedeutung" des Dativs nicht zu entsprechen braucht: Die wenigen 2stelligen Verben mit Dativ schaffen dem Lernenden viel mehr Probleme als die vielen 3stelligen. Es ist für die meisten Deutschlernenden schwer einzusehen, daß das einzige, also direkte Objekt eines Verbs nicht im Akkusativ kodiert ist. (...) Dazu kommt, daß die Semantik dieser Dativ-NPs, da sie nicht im Kontrast zum Akkusativ stehen, viel schwerer zu erkennen ist. Nahezu fatal wird es, wenn es zu diesen Verben quasi synonyme Verben mit anderer Rektion gibt. Das kann intralinguale Verbpaare betreffen wie begegnen - treffen, helfen - unterstützen, imponieren - beeindrucken, oder interlinguale wie frz. aider qn/engl. to help sb/jap. tetsadau - dt. jmdm. helfen.141

Vom didaktischen Standpunkt schlägt Wegener u.a. vor, zweistellige Konstruktionen mit für den Lernenden normaler Abfolge Subjekt vor Objekt "über den

139 140 141

s. insbesondere Wegener 1989a, 91ff; 1991, 79ff; und 1995, 133f. Wegener 1989a, 91 und 97 (Anm. 10). Wegener 1989a, 92.

Bisherige Erklärungsversuche

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Umweg 3stelliger Verben mit fakultativer Akkusativ-NP, also durch Reduktion", zu erarbeiten, vgl.:142 (1) (2) (3) (4)

Peter hat Peter hat Peter hat Peter hat

seiner Mutter (die Tür) aufgemacht seiner Mutter geholfen den Kindern (eine Geschichte) vorgelesen den Kindern geschmeichelt/gefallen/imponiert.

Die Autorin hebt hervor, daß eine solche Sicht eine "auf linguistische Überlegungen gegründete Progression" darstellt, also eine im Prinzip metasprachliche und möglicherweise auch didaktisch nützliche Konstruktion.143 In ihrem Aufsatz "Der Dativ - ein struktureller Kasus?" sowie ihrem Buch Die Nominalflexion des Deutschen - verstanden als Lerngegenstand kommt die Autorin auf die u.a. von Gisbert Fanselow vorgebrachte Hypothese zu sprechen, daß man zweistellige Konstruktionen mit Dativobjekt anhand eines nicht realisierten PseudoObjekts auch linguistisch adäquat "erklären" könnte. Nach Fanselow ist das Vorhandensein eines direkten Objekts "die wesentliche Voraussetzung für eine regelhafte Dativ-Rektion".144 Demnach könnte man den Dativ bei Simplizia wie helfen, danken, leben usw. aufgrund eines "versteckten" direkten Objekts für begründet halten - eine Sichtweise, der wir in der historischen Sprachwissenschaft bereits bei Grimm, Erdmann/Mensing, Behaghel, Paul u.a. begegnet sind: (5) (6) (7) (8) (9)

Ich helfe ihm aufräumen145 Ich helfe ihm beim Ausladen146 Er verhalf ihm zu diesem Posten147 Sie dankten ihm seine Hilfe schlecht148 Er lebt nur seiner Familie (sein Leben).149

Inwieweit solche Sätze die Dativrektion bei den jeweiligen Verben zu begründen vermögen, wird Gegenstand der Einzelanalysen im folgenden Teil unserer Untersuchung sein. Darüber hinaus werden wir uns fragen müssen, was es 142

Wegener 1989a, 91-92. a.a.O. 144 Fanselow 1987, 162. 145 s. Wegener 1991, 79-80. 146 s. Wegener 1995, 133. 147 a.a.O. 148 Wegener 1991, 80. 14 ' Wegener 1991, 84. 143

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Methodologische Vorüberlegungen

bedeutet, daß der Dativ bei zweistelligen Verben mit Dativrektion, wie Wegener im zitierten Passus behauptet, "nicht im Kontrast zum Akkusativ" steht.150 Ein Korollar des Rekurses auf ein in irgendeinem Sinn "verstecktes" direktes Objekt ist, wie Wegener mit Recht betont, daß man das adverbale Dativobjekt nicht länger als ein direktes Objekt bezeichnen kann. Vielmehr handelt es sich dann um ein indirektes Objekt, das zu einem impliziten direkten Objekt in Opposition steht.151 In ihrem Buch über die deutsche Nominalflexion weist die Autorin diese Hypothese schließlich zurück, und zwar aus verschiedenen Gründen: Letztlich ist diese Erklärung aber eine Hilfskonstruktion und allenfalls von diachronem Interesse. Synchron werden Verben wie helfen, danken etc. im allgemeinen zweistellig gebraucht. Ein präpositional eingeleitetes, fakultatives und im allgemeinen nicht realisiertes Pseudo-D(irektes)0(bjekt) dürfte beim Spracherwerb nicht ausreichen. Den Lernern muB es also, solange sie die Kasusmorphologie nicht beachten, wie das DO eines transitiven Verbs erscheinen.152

Außerdem unterscheidet sich, Wegener zufolge, das Objekt von helfen nicht wesentlich vom Objekt von unterstützen, so daß es auch in dieser Hinsicht nicht legitim erscheint, das eine Objekt als "indirekt", das andere hingegen als "direkt" zu bezeichnen (vgl. auch begegnen - treffen).153 Überhaupt ist die Autorin der Meinung, daß es nicht genügend syntaktische, semantische, topologische und morphologische Gründe gibt, im Deutschen ein "indirektes Objekt" anzunehmen. So wie Marga Reis den Subjekt-Begriff gegen den Terminus "Nominativ-NP" eintauschen möchte, schlägt Wegener anstatt des nur teilweise zutreffenden Begriffs "indirektes Objekt" den Terminus "Dativ-NP" vor.154

150

151 132 153 154

H. Wegener stellt am Schluß ihres Beitrags "Der Dativ - ein struktureller Kasus?" "zwei kleine Gruppen" von insgesamt etwa 30 Verben zusammen, wovon sie behauptet, daß sie "lexikalische" Dative zu sich nehmen, außer defektiven Verben wie grauen, schaudern, ekeln usf. u.a. auch angehören, applaudieren, assistieren, auflauern, beipflichten, nachtrauern, vertrauen, widerstehen usf. Die Liste mutet nicht nur zufällig, sondern auch heterogen an, weil sie Simplizia, Präfixverben, Präfixoidverben und Komposita enthält. Wegener 1991, 80 und 84; 1995, 133. Wegener 1995, 133. Wegener 1995, 133-134. Wegener 1986, 21.

Bisherige Erklärungsversuche

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1.2.13. Ingeborg Johansen H. Wegener hält durchaus an der grundsätzlichen These fest, daß der Dativ im großen und ganzen der Kasus des Lebewesens bzw. der Person sei, im Gegensatz zum Akkusativ als dem Kasus der Sache. Wir sahen, daß diese These eine lange Geschichte hat, obwohl Autoren wie Grimm und Paul dazu bereits einen differenzierten Standpunkt einnahmen. I. Johansens Kritik und Zorn entzünden sich denn auch nicht zuletzt an Wegeners These, der Dativ bezeichne prototypisch Lebewesen. Polemisch schreibt sie: "Die Dativproblematik hat Wegener nicht gelöst - im Gegenteil. Ich möchte die Behauptung wagen, daß sie sie vergrößert hat." 155 Die Verfasserin hält Wegeners Buch aus dem Jahr 1985, das sie zum Ausgangspunkt ihrer 1988 publizierten Dissertation über den sog. "freien Dativ" macht, für vollends mißlungen. Das Buch sei dogmatisch überkommenen Meinungen über den Dativ verpflichtet, und es gelinge Wegener nicht, auch nur im Ansatz verständlich zu machen, weshalb so viele Dative keine (betroffene, belebte und "wenig involvierte") Person bezeichnen, warum es sich immer wieder als unmöglich herausstellt, obligatorische Dativ-Nominalphrasen von sog. "freien" Dativen zu unterscheiden, usw.156 Daß mit dem Merkmal der "Belebtheit" in bezug auf die dativischen Nominalphrasen behutsamer umgegangen werden muß als in der klassischen Linguistik der Fall ist, ist sicherlich eine berechtigte Kritik. Die pauschalen Bemerkungen Johansens sind allerdings nicht dazu geeignet, die etwaigen Bedingungen, die der Wahl des Dativs in diesem Punkt zugrunde liegen, besser zu verstehen. Von Wegener behandelte Restriktionen wie *Der Schrank ist der Tür zu breit/*Ich bin dem Mantel groß genug usw.157 werden aus Johansens Darlegungen einfach ausgeklammert. Auch Johansens bedeutendster Schachzug, die semantische Debatte über die Oberflächenkasus durch die Behauptung zu schlichten, daß nicht eigentlich von der Bedeutung der Kasus, sondern nur von deren kontextuell bedingter "Sprachgebrauchsbedeutung" (im Sinne Ludwig Wittgensteins) die Rede sein könne158, kann nur überzeugen, sofern auf diese Weise ein zusätzlicher Teil der Problematik besser geklärt werden kann. Die gesamte Problematik aber, die mit der Frage über die etwaige semantisch-syntaktische Homogenität der morphologischen Kasus zusammenhängt, ist damit mitnichten 155 156 157 158

Johansen Johansen Wegener Johansen

1988, 1988, 1985, 1988,

22. 13ff. 54-55. 30ff, 44-45.

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Methodologische Vorüberlegungen

geklärt. Vor allem die rein sprachlichen Bedingungen der Kasuszuweisungen bleiben größtenteils unerörtert, wenn man den Kasus nur jene sog. "Sprachgebrauchsbedeutung" zuspricht, "die alle Entitäten im Satz berücksichtigt (Verb bzw. Verbkomplex plus sämtliche N[ominal]p[hrasen]) und die darüber hinaus die gesamte soziale Handlungsszene in die Deutung miteinbezieht".159 Johansen klammert zweistellige Konstruktionen mit Verben, die einen adverbalen Dativ regieren, explizit aus ihrer Untersuchung aus und beschränkt sich auf eine Analyse von Dativen bei drei- oder höherstelligen Verben, so daß ihre Untersuchung für uns nicht unmittelbar relevant ist. Bedenkenswert an Johansens Buch bleibt immerhin ihre Skepsis gegenüber der Belebtheitsthese sowie der Versuch, den Dativ nicht nur als eine grammatische Funktion zu betrachten, die jeweils einem Verb zugeordnet ist. Sehr oft sind größere Wortgruppen und syntaktische Gebilde im Spiel, die aus einem Verb und (zumindest) einem Nomen bestehen.160 Obwohl es ungerecht wäre zu behaupten, daß H. Wegener die Rolle von Verbkomplexen in ihrem Buch aus dem Jahr 1985 ganz vernachlässige,161 stimmt es, daß sie darin eng verbzentriert argumentiert. Diesem Mangel hilft die Autorin in späteren Beiträgen aber ab. So betont sie, daß der Dativ nicht nur vom Verb abhängen kann, sondern auch "von der Konnexion aus Verb und einer (oder zwei) primären Ergänzungen".162 Wegener verweist dafür sogar ausdrücklich auf die anschaulichen Strukturdarstellungen des Fourquetschen Konnexionsmodells sowie der X-bar-Theorie.163

I.2.14. Rektions- und Bindungstheorie und psycholinguistische Ansätze Der adverbale Dativ kann als ein Paradebeispiel für die Unterscheidung zwischen "struktureller" und "lexikalischer" Kasuszuweisung gelten, wie sie in der Rektions- und Bindungstheorie vorgenommen wird. Die Theorie läßt auf markante Weise die Sonderstellung des Dativs nach Verben wie helfen, danken, drohen, dienen usw. offensichtlich werden. Es wird davon ausgegangen, daß alle Sprachen "zumindest einen Kasus kennen, den typischerweise ein Verb seinem Komplement zuweist", nämlich den sog. 'Objektiv' oder 'Akkusativ'.164 159 160 161 162 163 164

Johansen 1988, 44. s. Johansen 1988, 44, 62 u.ö. s. Wegener 1985, 131. Wegener 1989a, 92; vgl. auch 1986, 14-15 und 1989c, 28-29. Wegener 1989a, 93 und 1989c, 27f. Fanselow/Felix 1987, II, 71.

Bisherige Erklärungsversuche

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Dieser Kasus ist "der Kasus des Verbkomplements par excellence".165 Eine solche Behauptung steht nun allerdings im Widerspruch zu der Beobachtung, daß in Sprachen mit einem reicheren Kasussystem, wie z.B. dem Deutschen, "Verbkomplemente auch andere Kasus erhalten können; z.B. den Dativ bei helfen oder den Genitiv bei gedenken".166 Hieraus leitet die Rektions- und Bindungstheorie die obengenannte Unterscheidung zwischen "struktureller" und "lexikalischer" Kasuszuweisung ab: "Wenn im Lexikoneintrag nichts Gegenteiliges vermerkt ist, weisen Verben den Objektiv zu", anderenfalls ist die Kasuszuweisung eine Besonderheit des einzelnen Lexems und muß im Lexikoneintrag des jeweiligen Verbs vermerkt werden.167 Der adverbale Dativ erscheint als ein Prototyp für eine lexemspezifische und invariante Rektion, was sich u.a. an der Resistenz des Kasus gegen Kasuswechsel in Passivtransformationen mit sein und werden ablesen läßt (Er hilft mir aber *Ich bin/werde geholfen). Dafür sind allerdings äquivalente Konstruktionen mit kriegen, bekommen und erhalten möglich (vgl.: Er kriegte von vielen geholfen; Man kriegt täglich gedankt; Das Kind bekommt geholfen usw.).168 Weder in synchronischer noch in diachronischer Hinsicht trägt die Feststellung, daß der adverbale Dativ lexikalisch ist, wesentlich zur Erklärung des Phänomens bei. Explanativ wird die Unterscheidung zwischen lexikalischem und strukturellem Kasus erst, wenn man sie mit Motiven verbindet, die nicht syntaktische Regularitäten im allgemeinen, sondern die spezifischen Valenzrahmen jedes einzelnen Verbs betreffen, das einen adverbalen Dativ regieren kann. Wie wir im Abschnitt 1.2.12. sahen, hat z.B. G. Fanselow diesen Versuch beim Verb helfen unternommen. Zusammen mit Ria De Bleser und Claudia Dronsek hat Josef Bayer 1987 einen Artikel veröffentlicht, in dem der Kasusgebrauch von fünf Aphasikern (drei Agrammatikern und zwei Paragrammatikern) untersucht wird. Weil die Ergebnisse der psycholinguistischen Untersuchung nicht unmittelbar mit unserem Gegenstand zu tun haben, können wir hier auf eine Diskussion des Artikels 165

a.a.O. Fanselow/Felix 1987, II, 72. 167 a.a.O. Statt von "lexikalischem" Kasus spricht man in der Rektions- und Bindungstheorie auch von "inhärentem" oder sogar (etwas irreführend) von "obliquem" Kasus, vermutlich, damit keine Verwechslung mit dem Phänomen der "lexikalischen Rektion" (einer Form von "proper government" in der Spurentheorie) entsteht, s. Fanselow/Felix 1987, II, 172ff und Wegener 1991, 70f. Wir behalten einfachheitshalber den Begriff "lexikalischer" Kasus bei. 16 » Eroms 1978, 359ff; Wegener 1991, 75, 90; Olsen 1997, 315 usw. 166

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Methodologische Vorüberlegungen

verzichten. Indirekt aber liefern die Autoren ein paar wichtige Informationen, die für die vorliegende Studie durchaus erwähnenswert sind. Auch Bayer et al. unterscheiden zwischen lexikalischem und strukturellem Kasus, wählen für ihre Untersuchung als lexikalischen Kasuszuweiser jedoch Präpositionen.169 Im Hinblick auf den verbal zugewiesenen Dativ kommt die Untersuchung aber u.a. zu den beiden folgenden Ergebnissen. Erstens stellen die Autoren fest, daß in den Testverfahren alle Aphasiker sich im Prinzip als dazu fähig erweisen, alle drei obliquen Kasus zu produzieren, wenn auch oft in falscher Stellung und/oder in defektiver Form. Am schwächsten repräsentiert aber ist der Dativ, während der Akkusativ vielfach der "Kasus des Versagens" zu sein scheint.170 Ansätze dafür finden sich bereits bei den "normalen" Kontrollpersonen (zumindest bei einer bestimmten Kategorie), denn auch sie schneiden verhältnismäßig schlecht ab, wenn es darum geht, in einen Satz wie (10) Ein alter Gärtner droht ein... jung... Koch den richtigen Kasus einzusetzen. Oft greifen sie dabei auf den Akkusativ zurück, bei nichtkanonischer Form wie in (11) Ein... alt... Gärtner droht ein junger Koch jedoch noch viel häufiger auf den Nominativ.171 Zweitens stellen die Autoren in ihrem Experiment mit Doppelobjektverben einen signifikanten Unterschied zwischen den Agrammatikern und den Paragrammatikern fest.172 Ihr Schluß lautet wie folgt: Während die Paragrammatiker beim Verarbeiten von S(ubjekt)V(erb)0(bjekt)- versus 0(bjekt)V(erb)S(ubjekt)-Sätzen noch schlechter als die Agrammatiker abschneiden, sind ihre Leistungen bei der Bearbeitung von Doppelobjekt-Konstruktionen deutlich besser. 173 Wir haben keine Erklärung für diesen Unterschied.

Agrammatisms wird gemeinhin mit einer Broca-Aphasie in Verbindung gebracht. Die Patienten sprechen mühevoll in einfachen Satzstrukturen, Sprache wird erheblich verlangsamt in kleineren Fragmenten vorgebracht, und Funk169 170

171 172 173

Bayer/De Bleser/Dronsek 1987, 102. Bayer/De Bleser/Dronsek 1987, 96. Es ist bekannt, daß der Dativ im Spracherwerb nach dem Akkusativ erworben wird, s. dazu Clahsen 1984, 14. Bayer/De Bleser/Dronsek 1987, 94-95. Bayer/De Bleser/Dronsek 1987, 99-101. Bayer/De Bleser/Dronsek 1987, 105.

Bisherige Erklärungsversuche

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tionswörter fehlen weitgehend. Paragrammatismus unterscheidet sich durch flüssige Sprachproduktion, in der es aber zu vielen Verdoppelungen und Verschränkungen von Sätzen und Satzteilen kommt.174 Es wäre eigens zu untersuchen, ob der paradigmatisch-syntagmatische Ansatz der vorliegenden Studie erklären kann, daß gerade Paragrammatiker bei der Kasuszuweisung des Dativs und Akkusativs in Sätzen mit ditransitiven Verben durchaus gut abschneiden können. Die Kasuszuweisung ist in solchen Sätzen an erster Stelle syntagmatisch fundiert, und die Sprache der paragrammatischen Patienten weist nicht so sehr "syntagmatische", als vielmehr "paradigmatische" Defizite auf, während gerade die Agrammatiker, die Broca-Aphasiker, eine Sprache produzieren, deren Wortwahl paradigmatisch verhältnismäßig in Ordnung ist und auch (im Gegensatz zu den Wernicke-Aphasikern) kaum semantische Paraphasien aufweist. Insofern kann der psycholinguistische Befund in der Untersuchung von Bayer, De Bleser und Dronsek als ein zusätzliches Argument dafür angesehen werden, daß Sätze mit zwei Obliqui (oder mehr) nicht nur vom paradigmatischen Standpunkt analysiert werden dürfen und daß die Rektionsbesonderheiten bei - möglicherweise ehemals - dreistelligen Verben nicht mit Kasusschwankungen des Obliquus bei nichtditransitiven Verben in einen Topf geworfen werden dürfen.

1.2.15. Kognitive Linguistik Im Paradigma der kognitiven Semantik schließlich haben neuerdings verschiedene Autoren den Versuch unternommen, einige adverbale Dative in der deutschen Sprache zu erklären. An dieser Stelle wollen wir uns darauf beschränken, einige Aspekte der kognitiven Analysen zu nennen, die für unsere weitere Untersuchung von Belang sind.175 Die Weise, wie Michael B. Smith die Akkusativ- und Dativrektion im heutigen Deutsch erklärt, weist mit den oben erwähnten inhaltbezogenen Deutungen gelegentlich große Ähnlichkeiten auf. Der Dativ bei den Verben folgen und helfen beruht nach Smith, der sich dafür auf die kognitive Theorie der "image schemas" (vgl. George Lakoff, Mark Johnson, Ronald Langacker) bezieht, auf einem Verknüpfungsschema. Aufgrund dieses Schemas übernehme die im Dativ 174 175

s. Bayer/De Bleser/Dronsek 1987, 82 sowie Poeck 1981, 98. Für weitere Einzelheiten und eine Diskussion des kognitiven Ansatzes in der neueren Kasustheorie s. Willems 1997, 13-180.

46

Methodologische Vorüberlegungen

genannte Größe eine Experiencer-Rolle, und nicht die Patiens-Rolle, die der im Akkusativ kodierten Größe entspreche.176 Die im Dativ genannten Größen würden in Sätzen wie Der Polizistfolgt dem Dieb; Der Mann hilft mir als aktive Mitspieler aufgeführt, "as actually potent in their own right".177 Auch die Dative in Ich glaube dir; Der Mann gehorcht ihr und Der Mann ähnelt seinem Vater hält Smith dadurch für begründet, daß sie als "extensions from the experiencer prototype" zu deuten seien: Die im Dativ genannten Größen seien "bilaterally involved", d.h. also Entitäten, die eigenständig auftreten und handeln könnten und nicht in ein "asymmetrisches" Verhältnis eingebunden seien, was nach Smith typisch sei für im Akkusativ genannte Größen (Das Kind hat das Glas zerbrochen; Ich habe einen Brief geschrieben usw.).178 Andere Linguisten, die mehr oder weniger durch den Kognitivismus beeinflußt sind, halten den Dativ in Sätzen wie den angeführten zum Teil aus anderen Gründen für erklärbar. Odo Leys schreibt, daß die "Dativmarkierung des indirekten Objekts" in Sie hilft ihrem Mann; Das Buch gehört mir usw. "ausschließlich von dessen thematischer Rolle bedingt" werde, nämlich vom "Konzept der Destination", das Leys als ein Derivat des Konzepts der Direktionalität deutet.179 Unter Rekurs auf Wegener meint Luk Draye dann wieder, daß der Dativ auch in Sätzen wie Du ähnelst deinem Großvater; Mir graut vor dir usw. der Kasus sei, "which marks the animate reference point for a process in which this referent is to some extent involved or felt to be involved."180 An den kognitiv-linguistischen Erklärungsversuchen werden die Grenzen deutlich, vor die sich Deutungen des adverbalen Dativs gestellt sehen, in denen einige linguistisch notwendige Unterscheidungen nicht getroffen werden, ohne die die Kasustheorie offenbar nicht auskommt. Eine erste Kritik trifft auf die kognitiven Erklärungsversuche genauso zu wie auf viele andere, ältere Ansätze: Der Erklärungsversuch beschränkt sich in der Regel auf eine kleine Anzahl Verben, ohne daß dies begründet wird. Tatsächlich gilt für die meisten Erklärungsversuche, auch die nichtkognitivistischen, daß man den Interpretationen

176 177

178

179 180

Smith 1993, 560; vgl. Smith 1992, 406ff. Smith 1993, 560. In Smith 1992, 408 spricht der Verfasser im Anschluß an R. Langacker von einer "initiative capacity" der Dativobjekte "to act on their own in response to activity directed to them by the subjects". Smith 1993, 553ff und 560-562; vgl. auch Smith 1992, 392ff sowie 408, wo der Autor auch den Satz Die Fälschung gleicht dem Original als mit dem prototypischen "image schema" des Dativs - nämlich dem "link schema" - übereinstimmend betrachtet. Leys 1995, 57; ebenso in Leys 1993, 320. Draye 1996, 208.

Bisherige Erklärungsversuche

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meist leicht aufgrund nicht erfaßter Gegenbeispiele widersprechen kann. Dem tragen wir in diesem Buch dadurch Rechnung, daß wir alle Simplizia, die in der deutschen Sprache einen adverbalen Dativ regieren können, sowie einige weitere Präfixverben und entlehnte Verben, in die Analyse einbeziehen. Zweitens laufen die vorgeschlagenen kognitiven Erklärungen Gefahr, daß sie mit zu allgemeinen und nicht nachvollziehbaren Begriffen arbeiten, so daß sie zu keinen zwingenden oder auch nur erhellenden Ergebnissen gelangen. Wie der Unterschied zwischen z.B .Er unterstützt mich und Er hilft mir verständlich gemacht werden könnte, wenn behauptet wird, daß der Dativ auf ein Experiencer-bezogenes Verknüpfungsverhältnis zurückgehe und dies darüber hinaus als ein unterscheidendes Merkmal gegenüber der Patiens-Rolle im Akkusativ zu gelten habe, ist vollkommen unklar. Drittens widerspricht vor allem den kognitiven Analysen der einfache Befund, daß das zu erklärende Objekt im adverbalen Dativ keineswegs ein Lebewesen oder eine Person zu sein braucht, vgl. die Dative bei folgen, gleichen, schaden, trauen, trotzen, weichen usw. Das naheliegende Moment der "Involviertheit" der "betroffenen Person" bei Verben wie helfen, drohen, kündigen, telefonieren, winken, huldigen, schmeicheln, imponieren usw. ist mithin selber noch ein zu klärender Faktor, der in der Kasusdiskussion keineswegs bereits als Erklärung für den adverbalen Dativ gelten kann. Das führt schließlich zum vierten Problem bei solchen Erklärungsversuchen: Können letzten Endes konzeptuelle Kategorien wie "Belebtheit", "Betroffenheit", "Kausalität", "Asymmetrie", "Verknüpfung", "Aktivität", "Passivität" u.dgl. überhaupt kasustheoretische Relevanz erlangen? Es fällt schwer, solche Kategorien für bestimmte grammatische Erscheinungen wie unterschiedliche Kasusmarkierungen verantwortlich zu machen, weil sie zur Referenz und zur Repräsentation außersprachlicher Erscheinungen gehören und somit denjenigen Bereich betreffen, der vom Standpunkt der Sprache erst noch erfaßt werden muß. Dadurch können solche Kategorien nicht als Motive für die Kasusmarkierung gelten, denn das käme einem Hysteron-Proteron gleich: Die Lebewesen, Tatsachen, Gegenstände und Sachverhalte, die durch die sprachliche Tätigkeit erfaßt werden, und die formalen und semantischen Charakteristika der sprachlichen Tätigkeit selber (die Kasusmorphologie sowie die sprachliche Darstellung von kausalen Verhältnissen, Personen usw.) würden miteinander verwechselt. Die kognitiven Erklärungen der etwaigen "Bedeutungen" morphologischer Kasus können aus verschiedenen Gründen als eine radikalisierende Interpretation einiger viel älterer, fundamentaler Hypothesen der modernen Kasustheorie

48

Methodologische Vorüberlegungen

seit etwa 1800 gelten. Das Auffalligste an jener Interpretation ist aber, daß sie diese Hypothesen letzten Endes ad absurdum führt. Bedeutet das nun allgemein, daß eine "semantische Erklärung" des adverbalen Dativs von vornherein als ausgeschlossen zu gelten hat? Eine adäquate Antwort auf diese Frage hängt davon ab, was man unter einer "semantischen Erklärung" versteht. Im Zuge der kognitiven Wende hat sich der Begriff "Semantik" in der modernen Linguistik besonders weit ausgedehnt, weil der Naturalismus der Prototypentheorie jede Unterscheidung zwischen "Sprachwissen" und enzyklopädischem "Weltwissen" ablehnt und alle Formen von innersprachlicher Bedeutung, konzeptuellen Inhalten, Vorstellungen usw. unter den einen Oberbegriff (garbage term) "Semantik" - oder "Bedeutung", "meaning" - zusammenfaßt.181 Das erklärt, weshalb eine semantische Erklärung des adverbalen Dativs unter kognitiv-semantischen Bedingungen problematisch ist, ist doch der verwendete Begriff "Semantik" dermaßen referenztheoretisch vorbelastet, daß innersprachliche Unterschiede wie diejenigen zwischen morphologischen Kasus, die sich sowohl auf die Bedeutung stricto sensu als auch auf syntaktische Besonderheiten beziehen, sich von vornherein dem kognitiv-semantischen Zugriff entziehen. Das scheint außerdem zum Teil der Preis für die eigentümliche Verbindung zu sein, die das kognitive Interesse für Oberflächenkasus mit der nachhaltigen Orientierung an Tiefenkasus und thematischen Rollen eingeht.

181

vgl. dazu die Diskussion in Willems 1997, Kap. 1 sowie Coseriu o.J., 252ff.

II. Das funktionelle Erklärungsmodell: Zwischen Diakrisis, Opposition und Idiomatizität

II. 1.

Der morphologische Kasus

Im folgenden möchten wir für die Erklärung des adverbalen Dativs im heutigen Deutsch ein Modell vorschlagen und vor allem im Hinblick auf Simplizia ausarbeiten. Das Modell baut auf den folgenden linguistischen und metalinguistischen Prämissen auf, die sämtlich das Phänomen des morphologischen Kasus betreffen: 1. Die morphologischen Kasus einer Sprache, so auch des Deutschen, bilden - wie Galina A. Bajewa mit Recht hervorhebt182 - eine geschichtliche Wirklichkeit. Jeder Versuch, das Kasus "system" einer Sprache zu erklären, der die empirisch belegten Daten mit bestimmten apriorischen Thesen über das Phänomen Kasus angeht und sich nicht auf eine Analyse der historischen Entwicklungen im Kasusgebrauch stützt, ist zum Scheitern verurteilt. Solche Versuche verkennen die grundsätzliche Tatsache, daß die Sprache, wie wir sie heute kennen, das Ergebnis einer langen und ununterbrochenen Entwicklung ist, in der der Sprachwandel183 bald "systemändernd", bald "systemerhaltend" wirkt.184 Die Funktionen der vier erhaltenen Oberflächenkasus des Deutschen ahistorisch erklären zu wollen aufgrund gewisser vorgeprägter, scheinbar universell wirksamer Konzepte und Prinzipien (wie dies z.B. für die "kognitiven" Versuche des letzten Jahrzehnts typisch ist), erinnert an den Versuch, die Bedeutung des Kolosseums in Rom von seiner Lage im Verhältnis zur Stazione Termini her verstehen zu wollen.

182 183 184

Bajewa 1993, 15. Coseriu 1958/1974, Kap. I und II; Keller 1994, Teil I, 1. vgl. u.a. Dal 1942/1971, 158ff.

50

Das funktionelle Erkläningsmodell

2. Der adverbale Dativ, der besondere Gegenstand der vorliegenden Studie, ist ein idiomatischer Kasus. Idiomatisch sind im Prinzip auch alle anderen Kasus des Deutschen, nur trifft das auf den Dativ in besonderem Maße zu. Wir wissen, daß der Dativ im Deutschen ein ausgesprochen synkretistischer Kasus ist, in dem die Funktionen des idg. Dativs, Lokativs, Instrumentals und Ablativs zusammengeflossen sind.185 Es leuchtet ein, daß auch der adverbale Dativ, der seit dem frühesten Ahd. vorkommt, davon Spuren trägt. Der Synkretismus hat zur Folge, daß der geschichtlich konkret belegbare Gebrauch des adverbalen Dativs sehr stark in der Sprachnorm verwurzelt ist und daß seine geschichtliche Zähigkeit zum Teil auf einem Mangel an systematischer Transparenz beruht. Indem wir die Idiomatizität des Kasus unterstreichen, wollen wir denn auch die Tatsache hervorheben, daß sich der adverbale Dativ im Deutschen nicht anhand eines einzigen Kriteriums erklären läßt, das im deutschen Sprachsystem funktionell wäre. Nicht nur gibt es verschiedene solche Kriterien sprachsystematischer Art, auf die wir uns in der Analyse des adverbalen Dativs werden beziehen müssen, sie erscheinen zum Teil auch nur aus diachronischer Sicht als motiviert, denn mancher adverbaler Dativ stellt synchronisch kaum etwas anderes als eine verfestigte, "lexikalisierte" Tatsache dar, die davon zeugt, wie eine ehemalige Möglichkeit des Systems der deutschen Sprache zu einer Notwendigkeit geworden ist - erst der Sprachnorm und schließlich des Sprachsystems. Die Systematik und die Motive aber, die hinter der Idiomatizität verborgen liegen, lassen sich oft anhand sprachhistorischer Untersuchungen klären, wodurch sich auch die sprachliche Idiomatizität als ein im Prinzip analysierbares, wenn auch geschichtlich weitgehend verfestigtes Phänomen herausstellt. 3. Mit dem vorigen Punkt 2 hängt aufs engste zusammen, daß morphologische Kasus in mehreren Hinsichten als polyfunktionelle Sprachphänomene aufzufassen sind und daß die rekonstruierende Analyse diesem Umstand Rechnung tragen muß. Die Behauptung, daß Oberflächenkasus mehrere Funktionen haben, bedeutet u.a., daß sie eine formale Rolle auf der Ebene des Satzes spielen können und sich dadurch auf die syntaktische Struktur beziehen und daß sie außer mit lexikalischen auch mit satzsemantischen Bedeutungen zusammenhängen. Die Möglichkeit, alle diese Funktionen un185

s. Hübschmann 1875, 87; Bynon 1977/1981, 55; Braune/Eggers 1987, 180 u.a.; vgl. zum Thema auch Luraghi 1991, 63f. Allerdings wird der reine Dativ auch im Ahd. nicht in der Funktion eines Lokativs oder Instrumentals verwendet; überhaupt werden diese Kasus oft präpositional wiedergegeben.

Der morphologische Kasus

51

ter einen Oberbegriff - etwa denjenigen der "grammatischen Funktion" zusammenzufassen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß je nach Einzelfall eine oder mehrere der genannten Funktionen stärker hervortreten als andere. In Mich ekelt vor ihm z.B. spielt zumindest die formale Markierung des Kasus in der Subjektposition (mich) eine untergeordnete Rolle, da mich beliebig ersetzbar ist durch die Dativform mir, ohne daß dies einen ersichtlichen funktionellen Unterschied zur Folge hätte. Auch Transformationen in Ich ekle mich vor ihm oder Es ekelt mich/mir vor ihm dürften kaum andere als stilistische oder redesituationsbezogene Schattierungen ausdrücken. Der Dativ aber in beispielsweise der ersten Zeile des Gedichts An Anna Blume von Kurt Schwitters - nämlich: "O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich liebe dir!" - ist auf jeden Fall schon rein formal von Belang; ob der Kasus darüber hinaus grammatisch bzw. semantisch bedeutsam ist, muß die (literarische) Analyse ausweisen.186 4. Der Dativ ist ein Kasus unter anderen Kasus. Die deutsche Sprache zählt seit dem Ahd. vier Kasus (im frühen Ahd. sind Reste anderer indogermanischer und germanischer Kasus vorhanden), und es ist ausgeschlossen, daß sich die Funktionen eines einzigen Kasus isoliert und atomistisch, ohne Rücksicht auf die Funktionen der anderen Kasus, beschreiben und erklären lassen. Egal ob man nun ein Strukturalist ist oder ein vehementer Gegner des Strukturalismus: Hält man es für sinnvoll, sich überhaupt mit Kasus zu beschäftigen, dann kann man nicht umhin, zweierlei anzuerkennen. Erstens ist es eine einfache Feststellung, daß es in allen Kasussprachen jeweils eine Kasusmorphologie gibt, wodurch eine Reduktion aller Probleme der Kasusdebatte auf Tiefenkasus, thematische Rollen usw. nicht möglich ist.187 Zweitens ist es eine ebenso einfache Feststellung, daß man es aufgrund der Zahl der morphologischen Kasus und ihrer Verschiedenheit mit einer "Struktur" (bzw. einem "System") zu tun hat. Darüber hinaus handelt es sich um eine Struktur, die notwendigerweise ein genuin sprachliches Fundament haben muß, so daß eine restlose Zurückführung der verschiedenen Funktionen der jeweiligen Kasus auf unterschiedliche, über die Sprache strenggenommen hinausgehende Verwendungsarten (etwa pragmatisch-diskursiver oder logischer Art) nur bedingt möglich ist. Ob die Struktur der Kasus durch (gegebenenfalls sogar

186 W i r w e r d e n sehen, daß lieben im älteren Deutsch tatsächlich lange Zeit auch den Dativ regieren konnte, und zwar in der Bedeutung 'angenehm, wert sein', s. § VII.4. 187 vgl. Comrie 1991, 42ff.

52

Das funktionelle Erklärungsmodell

binäre) Oppositionen oder vielmehr durch graduelle Unterschiede und "Familienähnlichkeiten" ausgezeichnet ist, ist freilich eine Frage, der es eigens nachzugehen gilt. Daß es sich aber um eine Struktur handelt, die jedenfalls nach außen hin delimitiert ist (was funktionelle Verwandtschaften mit anderen Strukturen, z.B. den Präpositionen oder der Wortfolge, selbstverständlich nicht ausschließt), darüber kann kein Zweifel bestehen. Diese vier Prämissen bestimmen das Aussehen der vorliegenden Untersuchung. Diese ist erstens historisch ausgerichtet, auch wenn sie von einer synchronischen Feststellung ihren Ausgang nimmt, nämlich der Taxonomie der heute existenten Verben (insbesondere der Simplizia), die in zweistelligen Verwendungen einen Dativ zu sich nehmen können. Zweitens geht die Untersuchung von der morphologischen Relevanz des Dativs aus, und der Versuch wird unternommen, die Form des Dativs mit tieferliegenden, gegebenenfalls impliziten semantisch-syntaktischen Regularitäten in Verbindung zu bringen. Drittens steht die strukturelle Einbindung des Dativs im Zentrum unserer Analysen, bezieht sich eine solche Einbindung nun auf die paradigmatische Achse des Kasus"systems" oder auf die syntagmatische Achse des Satzgefüges, auf der der Dativ außer mit Verben mit anderen Kasus - vor allem dem Akkusativ, aber auch dem Nominativ und dem Genitiv - verbunden wird. Viertens gilt uns der adverbale Dativ als ein in der Sprachgemeinschaft und dem Sprachgebrauch ihrer Mitglieder verfestigter Oberflächenkasus, dessen zugrunde liegende Motive im Prinzip zwar als verschüttet gelten können, in einer historischen Analyse jedoch beschrieben und erklärt werden können.

II.2.

Das funktional-diakritische Prinzip der Kasusunterscheidung

Im vorliegenden Buch möchten wir anhand einer funktionellen Analyse adverbaler Dative nachweisen, daß semantisch-syntaktische Kasuserklärungen möglich sind, ohne dabei die Oberflächenkasus gegen Tiefenkasus einzutauschen und ohne "linguistische Bedeutung" als "referentiellen Inhalt" (Heibig) oder "Konzept" (kognitive Linguistik) mißzuverstehen. Der "funktional-linguistische" Ansatz, der unserer Untersuchung zugrunde liegt, baut auf zwei Pfeilern auf, die durch den Gedanken der Gradualität miteinander verbunden sind. Der erste Pfeiler ist das funktional-diakritische Prinzip der Kasusunterscheidung,

Das funktional-diakritische Prinzip der Kasusunterscheidung

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das vor allem der syntagmatischen Funktion des Dativs Rechnung trägt, der zweite Pfeiler ist das funktional-oppositive Prinzip der Kasusunterscheidung, das sich an der paradigmatischen Funktion des Dativs orientiert (zur terminologischen Unterscheidung vgl. die Ausführungen F. Planks, §1.2.8.). Den Terminus "diakritisch" übernehmen wir von Gerd Hentschel, auch wenn wir im einzelnen andere Unterscheidungen treffen als Hentschel und außerdem andere Akzente legen (darauf wird in den folgenden Abschnitten zurückzukommen sein).188 Hentschel bezeichnet denjenigen Ansatz in der Kasustheorie als "diakritischen Ansatz", der besagt, daß die Funktion von Kasussystemen oft nicht darin besteht, ein Irl-Verhältnis zwischen Kasusform und syntaktischer oder semantischer Kategorie herzustellen, sondern darin, zwischen verschiedenen syntaktischen oder semantischen Kategorien im Satz zu unterscheiden (vgl. gr. διακριτικός 'unterscheidend'). Als Vertreter dieses Ansatzes nennt Hentschel insbesondere Bernard Comrie, Andre Martinet und Harm Pinkster.189 Wir übernehmen vom diakritischen Ansatz die grundlegende These, daß morphologische Kasus auch eine diakritische Funktion haben, also Satzglieder im syntaktischen Gefüge unterscheiden, und daß diese Funktion eine vollwertige Kasusfunktion darstellt. Wir glauben, daß die diakritische Funktion gerade bei "versetztem" Kasusgebrauch - wofür die Dativmarkierung in zweistelligen Satzbauplänen ein besonders auffalliges Beispiel ist - u.U. deutlich zutage tritt, wenn dies auch bei weitem nicht bei allen Verben mit adverbalem Dativ der Fall ist. Wir fügen sofort hinzu, daß die Relevanz des diakritischen Prinzips ein äußerst kräftiger Beweis dafür ist, daß die Kasustheorie sich unmöglich auf eine Analyse von Tiefenkasus reduzieren läßt, in der die formalen Eigenschaften der die Tiefenkasus anzeigenden (Oberflächen-)Kasus im Grunde keine Rolle spielen. Jedoch stimmen wir nicht mit den Vertretern des "diakritischen Ansatzes" überein, wenn sie ihre Ausrichtung auf diakritische Kasusfunktionen dem Ansatz der kognitiven Linguistik (z.B. Anna Wierzbickas) gegenüberstellen mit dem Argument, letzterer sei "semantisch"190 - und der diakritische Ansatz folglich asemantisch. Auch Harm Pinkster, einer der scharfsinnigsten Befürworter des diakritischen Ansatzes in der Kasustheorie, erblickt zwischen der diskriminierenden Funktion der Kasus und ihrem etwaigen "globalen semantischen 188

189 190

Zum diakritischen Ansatz ("the discriminatory function of cases") s. ferner Comrie 1989, 124-127 und Pinkster 1990, 40-48 (dt.: 1988, 58-72). Hentschel 1993, 97. Hentschel 1993, 97-98.

54

Das funktionelle Erklärungsmodell

Eigenwert" ("general semantic value") letztlich einen Gegensatz.191 Dieser Gegensatz ist jedoch erst recht verständlich, wenn man bedenkt, daß Pinkster die "semantischen Funktionen" auf die "thematischen Rollen" der Fillmoreschen case grammar beschränkt, die auch in Simon Diks functional grammar übernommen werden, die Pinkster seiner lateinischen Syntax zugrunde legt. Hingegen sind wir der Ansicht, daß es zwischen der diakritischen Kasusfunktion und der Kasusbedeutung keinen Gegensatz gibt - und das gilt a fortiori für das Verhältnis zwischen Kasusbedeutung und oppositiver Kasusfunktion (§ Π.3.). Sowohl die Theorie der Tiefenkasus im Geiste Charles J. Filimores als auch die ursprünglich auf Eleanor Roschs Prototypentheorie zurückgehende kognitive Linguistik Langackerscher Prägung unterscheiden sich dadurch von klassischen semantischen Ansätzen, daß sie sich nicht auf sprachliche Bedeutungen, sondern auf konzeptuelle und repräsentationelle Inhalte beziehen. Beide Theorien, am deutlichsten freilich die kognitive Linguistik, können nur unter der genannten monistischen Bedingung als "semantische" Ansätze gelten, daß das Sprachwissen (und die Bedeutung) und das Weltwissen (die Bezeichnung und enzyklopädische Inhalte) nicht voneinander unterschieden werden können oder dürfen. Wir meinen, daß jeglichem "semantischen" Ansatz auf diese Weise der Boden entzogen wird, weshalb wir den "semantischen" Ansatz wesentlich enger fassen. Außerdem werden wir darlegen, daß auch eine Erklärung, die sich am diakritischen Prinzip der Kasusunterscheidung orientiert, tatsächlich auf semantische Unterscheidungen abhebt, freilich solche, deren adäquate linguistische Beschreibung auf einem Begriff der Bedeutung beruht, der der Vielschichtigkeit sprachlicher Bedeutung gerecht wird. Das heißt vor allem: Erforderlich ist ein Begriff der Bedeutung, der die traditionelle Orientierung an der lexikalischen Bedeutung auffächert und eine Beschreibung des viel schwieriger erfaßbaren Bereichs grammatischer Bedeutung ermöglicht. Schwieriger erfaßbar als die lexikalische Bedeutung ist der Bereich der grammatischen Bedeutung in erster Linie deshalb, weil grammatische Bedeutungen sich meist nicht an Lexemen festmachen lassen, die ein griffiges Konzept für die linguistische Analyse abgeben (etwa Akkusativ, Kasus der 'Sache' oder des 'asymmetrisch' eingeführten Gegenstandes; Dativ, Kasus der 'Person' oder des handelnden, 'symmetrisch' eingeführten Mitspielers usw.). Semantische Funktionen wie diejenigen der morphologischen Kasus lassen sich oft nicht konzeptuell oder anhand

191

Pinkster 1990, 48 und 71 (dt.: 1988: 72 und 108).

Das funktional-diakritische Prinzip der Kasusunterscheidung

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solcher repräsentationeilen Inhalte definieren.192 Wie sie tatsächlich definiert werden können, werden die Analysen in Teil II zeigen. Wenn wir mithin betonen, "daß morphologische Kasus auch eine diakritische Funktion haben", tun wir das im Sinne Bernard Comries, der in dieser Materie folgenden besonnenen Standpunkt einnimmt: We are not claiming that the sole function of case marking is discriminatory in this sense, since there is a whole host of instances where the function of a given case can be correlated with semantic parameters. What we are claiming is that there do exist many instances where this functional approach is necessary in order to guarantee a full understanding of the role of case marking.193

Der Grundgedanke des funktional-diakritischen Prinzips (so wie wir es verstehen) im Hinblick auf den adverbalen Dativ ist der, daß dem Dativ bei einer Reihe von Verben - kündigen, opfern, huldigen, glauben, winken, frönen, telefonieren, imponieren, gratulieren u.a. - ein unterscheidendes syntaktisches Motiv grammatisch-semantischer Art zugrunde liegt, das sich unterschwellig als stark genug erweist, damit sich der Dativ im Laufe der Geschichte der deutschen Sprache morphologisch behaupten kann. Das Motiv möchten wir - sowohl im Hinblick auf die syntaktische Zweistelligkeit des Satzgefüges als auch im Hinblick auf die grammatische Bedeutung der Satzglieder - als ein implizit wirksames zweites Objekt beschreiben. In der Regel handelt es sich um ein Akkusativobjekt, vereinzelt aber auch um ein Objekt im Genitiv. Der feste Dativ erweist sich im Verhältnis zu jenem zweiten Objekt als semantisch relevant, sofern er sich von einem impliziten Akkusativ oder Genitiv tatsächlich unterscheidet; mit "Akkusativ" und "Genitiv" meinen wir hier, wie noch erläutert werden soll, eine syntaktisch-semantische Größe nichtreferentieller bzw. nichtkonzeptueller Art. Das diakritische Prinzip kommt freilich nur dann zum Tragen, wenn die historische Analyse die Existenz einer solchen Größe in der Geschichte des Deutschen unter Beweis stellen kann. In seiner typologischen Syntax des Deutschen macht Werner Abraham auf kasuelle "Verteilungsbeschränkungen" wie die folgenden aufmerksam: (12) a. Ich versichere dich/*dir meiner Loyalität b. Ich versichere *dich/dir meine Loyalität.19*

192 193 194

Zum Begriff "grammatische Bedeutung" vgl. Dittmann 1976, 163ff. Comrie 1989, 127. Abraham 1995a, 164; vgl. schon Kolvenbach 1973, 128.

56

Das funktionelle Erklärungsmodell

Wollte man solche Beschränkungen so erklären, daß sie lexikalisch bedingt seien oder gar unterschiedlichen thematischen Rollen entsprächen, stieße man unvermeidlich auf die Schwierigkeit, daß man in der Kasusmorphologie "Anzeichen" von gedanklich tieferen, lebensweltlichen Beweggründen erblicken müßte, die aber der offensichtlichen Freiheit in der möglichen Verknüpfung verschiedener Kasus widersprächen. Denn die Möglichkeit, entweder den Akkusativ mit dem Genitiv - Satz (12)a - oder den Dativ mit dem Akkusativ Satz (12)b - zu verknüpfen, verweist nicht unmittelbar auf verschiedene Weisen, das Thema der Rede zu erfassen und darzustellen. Bei mittlerweile vieldiskutierten Beispielpaaren wie (13) (14) (15) (16)

Ich habe wir/mich in die Hand geschnitten195 Er klopfte ihm/ihn auf die Schulter196 Er hat mir/mich ins Gesicht geschlagen197 Der Lehrer fragt dem Kind/das Kind die Wörter abm

verhält es sich insofern anders, als tatsächlich zwei Kasus, sowohl der Dativ wie der Akkusativ, im Prinzip möglich sind und auch keine kasuellen Verteilungsbeschränkungen vorliegen (ausgeschlossen ist z.B. *jmdn. auf der Schulter klopfen). Im Gegensatz zu den Sätzen (12)a und (12)b, bei denen sich eine funktional-diakritische, syntagmatische Analyse geradezu von selbst anbietet, liegt es nahe, den Kasusunterschied in den Sätzen (13) bis (16) anders zu analysieren. In den Sätzen (12)a und (12)b liegt genaugenommen keine Kasuskonkurrenz vor, weil die unterschiedlichen Kasusmöglichkeiten nicht nur ein kasuell ausgezeichnetes Satzglied betreffen, sondern mehrere Satzglieder. Das ist der Grund, weshalb das Kasusproblem in Sätzen wie (12)a und (12)b zugleich ein satzsemantisches Problem ist199 - eine Dimension, die in den Sätzen (13) bis (16) fehlt. Der Hinweis auf die satzsemantische Problematik in dieser Materie ist besonders wichtig, denn er rückt die Möglichkeit in den Vordergrund, daß der Kasusmorphologie satzinterne Funktionen entsprechen, denen nicht über eine atomisierende Analyse eines jeden Kasus an und für sich beizukommen ist. Genau das ist, wie wir im folgenden zu zeigen beabsichtigen, in der Analyse 195 196 197 198 199

vgl. Wilmanns 1899ff, III, 2, § 308. vgl. Weisgerber 1963, 262ff. vgl. Wegener 1985, 166ff. vgl. Smith 1993, 558. s. Dittmann 1993, 248.

Das funktional-diakritische Prinzip der Kasusunterscheidung

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einer Reihe von Verben mit adverbalem Dativ zu beachten, weil der Fokus auf die Satzsemantik nicht nur synchronisch plausibel ist, sondern auch in diachronischer Hinsicht ein wertvolles Instrument der Beschreibung und Erklärung darstellt. Eine sprachgeschichtliche Analyse des adverbalen Dativs im Deutschen vom funktional-syntagmatischen Standpunkt ist deshalb in besonderem Maße dazu geeignet, die Richtigkeit von Talmy Givons Aussage zu bestätigen: "Today's morphology is yesterday's syntax".200 Für die syntagmatische Komponente unseres analytischen Ansatzes finden wir zusätzliche Evidenz im syntaktischen Konnexionsmodell von Jean Fourquet. Wir haben oben bereits daraufhingewiesen (s. § 1.2.11.), daß sich Fourquets Modell dadurch vorteilhaft von Tesnieres verbozentrischem Valenzmodell abhebt, daß es die Aktanten bzw. die Kasus nicht einseitig allein durch das Verb regiert sieht. An dieser Stelle wollen wir einige Aspekte, die uns in Fourquets Ansatz wertvoll erscheinen, kurz vorstellen und erläutern, wo dieser Ansatz mit den kasustheoretischen Prämissen unserer eigenen Beschreibung und Erklärung des adverbalen Dativs im Deutschen übereinstimmt. Das bedeutet freilich nicht, daß unsere eigenen Analysen als Anwendungen des Fourquetschen Modells angesehen werden können. In einer Reihe von Beiträgen201 hat Fourquet in kritischer Auseinandersetzung vor allem mit Luden Tesnieres Valenzmodell und Noam Chomskys generativer Grammatik eine Syntaxtheorie entwickelt, in der die obliquen Kasus nicht von einem einzelnen Lexem (insbesondere dem Verb als zentralem "regissant" des Satzes), sondern von hierarchischen Komplexen abhängig gemacht werden. Fourquet zufolge hat Tesniere recht, wenn er "das Subjekt als Teil der verbalen Gruppe ansieht".202 Die Chomskysche Trennung einer Nominalphrase (NP) und einer Verbalphrase (VP), wobei unter dem Symbol des Satzes (S) das Subjekt aus dem verbalen Gefüge ausgeschlossen wird, hält Fourquet - wie Tesniere - für falsch.203 Zugleich tritt Fourquet aber auch Tesnieres Ansicht entgegen, daß "jedes einzelne Glied durch einen 'Konnexionsstrich' mit dem Verb zu verbinden" sei bzw. daß "alle Satzglieder direkt mit dem Verb als

200 201

202 203

Givön 1971, 413. vgl. Fourquet 1970/1977, 34ff, 88ff, Fourquet/Grunig 1971, l l f f . sowie Fourquet 1976, 234ff. Fourquet/Grunig 1971, 12. Diese Trennung wird auch in den neueren Ansätzen des generativen Modells beibehalten, vgl. dazu (im Hinblick auf den Dativ) u.a. Wegener 1991, 82; Olsen 1997, 312.

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Das funktionelle Erklärungsmodell

Satzkern verbunden" seien.204 Das Verb ist Fourquet zufolge "nicht notwendig alleinbestimmend, was die Bindungsfähigkeit betrifft".205 In einem Satz wie (17) Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit? regiert das Verb mitnehmen, Fourquet zufolge, nicht etwa drei Teile, nämlich man, das Vaterland und an den Schuhsohlen. Vielmehr gibt es ein hierarchisches Gefalle, durch das ein "unabgeschlossener Teil" wie an den Schuhsohlen mitnehm- der übergeordneten Einheit das Vaterland an den Schuhsohlen mitnehm- untersteht, die selber wiederum ein "unabgeschlossener Teil" im Verhältnis zu man das Vaterland an den Schuhsohlen mitnehm- ist. Erst der letztgenannte Komplex ergibt eine "syntagmatische Struktur", die durch Funktionen wie "Modus" und "Tempus" abgeschlossen werden kann. Anders als in Chomskys Modell beziehen sich solche Kategorien nicht etwa nur auf die Verbalphrase, sondern auf tragfahige Konnexionskomplexe wie (Subjekt -) Verb direktes Objekt. Die Glieder des Satzes gehen nach Fourquet somit genau verfolgbare, hierarchisierte Konnexionen mit ihren jeweiligen "Kernteilen"206 ein. Das Fourquetsche Modell ist dazu geeignet, den hierarchischen Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ, der uns im Laufe der Untersuchung noch öfters beschäftigen wird, auf einfache Weise vor Augen zu führen. Wie das Verb mitnehmen ergibt auch die Verbindung des adverbialen Glieds an den Schuhsohlen mit dem Verb mitnehmen einen Komplex, der transitiv ist, d.h. "ein Akkusativobjekt erwarten läßt".207 Erhält nun dieser Komplex seinerseits "das Objekt das Vaterland, so entsteht ein weiterer Komplex, der nicht mehr transitiv ist".208 Der neue Komplex ist um eine Bindungsfähigkeit ärmer, und auf dieser Stufe ist ein weiteres Akkusativobjekt im Prinzip ausgeschlossen. Im Fall von das Vaterland an den Schuhsohlen mitnehm- beschränkt sich die weitere Bindungsfahigkeit im wesentlichen auf den notwendigen Mitspieler Subjekt (man) und auf fakultative Mitspieler, z.B. eine Umstandsangabe wie immer: man das Vaterland immer an den Schuhsohlen mitnehm-. Fourquets Modell entnehmen wir die Einsicht, daß die Konnexion Subjekt Verb - direktes Objekt eine in Sachen Bindungsfahigkeit eingeschränkte Stufe 204 205

206 207 208

Fourquet/Grunig 1971, 12 und vgl. Fourquet 1970/1977, 103, Anm. 1. Fourquet/Grunig 1971, 13. Übernommen wird diese kritische Sicht auf Valenz- und Dependenzgrammatik u.a. auch von Haudry 1997, 52 und Desportes 1997, 180. Fourquet 1970/1977, 36. Fourquet/Grunig 1971, 14. a.a.O.

Das funktional-diakritische Prinzip der Kasusunterscheidung

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markiert, die man wie folgt wiedergeben kann (fakultative Umstandsangaben bleiben unberücksichtigt): [Subjekt im Nominativ + [Verb + Akkusativobjekt]].

Für eine ganze Reihe von Verben gilt, daß diese Konnexion noch eine weitere Bindungsfähigkeit besitzt, nämlich für die Doppelobjektverben (ditransitive Verben), vgl.: (18) Hans schenkt den Wein ein > Hans schenkt ihm den Wein ein, (19) Karl gibt die Blumen > Karl gibt ihr die Blumen usw. Die Bindungsfahigkeit bezieht sich also auf einen weiteren reinen Objektskasus, den Dativ. Weglaßproben zeigen, daß der Akkusativ im Vergleich zum Dativ der 'hierarchisch höhere' Kasus ist: *Hans schenkt ihm; *Karl gibt ihr. Schematisch ergibt das folgende syntaktische Hierarchie: [[Subjekt im Nominativ + [Verb + Akkusativobjekt]] + Dativobjekt].

Diese schematische Konnexion weicht von derjenigen, die Fourquet selber gibt, allerdings in einem wesentlichen Punkt ab. Obwohl Fourquet entgegen der Ansicht Chomskys meint, daß das Subjekt nicht aus dem verbalen Gefüge ausgeschlossen werden darf, hat die schematische Konnexion eines dreistelligen Satzes wie: (20) Der König versprach dem Sieger die Hälfte seines Reichs bei ihm die folgende Form: [Subjekt im Nominativ + [Dativobjekt + [Akkusativobjekt + Verb]]]. 209

Im Strukturdiagramm bleibt das Subjekt also nach wie vor aus dem obliquen Konnexionsteil ausgeschlossen. Aus dem Grund kann z.B. Heide Wegener das Konnexionsmodell Fourquets auf dieselbe Stufe wie die Abbindreihenfolge der Kategorialgrammatik und die Projektionsfolge der X-bar-Theorie stellen, in denen das Subjekt explizit vom verbalen Gefüge abgetrennt wird.210 Im Gegensatz dazu sprechen wir dem Subjekt einen wesentlich wichtigeren syntaktischen Stellenwert zu. Das entspricht auch unserem Ansatz, dem zufolge ein Verb in dreistelligen Konstruktionen nicht einfach nebeneinander zwei Obliqui regiert (einen verbnächst, den anderen verbferner). Die Dativzuweisung setzt nach un209 210

Fourquet 1970/1977, 36; vgl. auch 61. s. Wegener 1989c, 29-30; vgl. 1989a, 93.

60

Das funktionelle Erklärungsmodell

serem Verständnis kein einzelnes Verb, sondern größere Konnexionskomplexe voraus, zu denen auf jeden Fall auch das Subjekt gehört. Die weitere Untersuchung wird zeigen, daß der hierarchische Unterschied, den das Konnexionsmodell mit integriertem Subjekt vor Augen führt, sich nicht nur synchronisch bei ditransitiven Verben, sondern auch diachronisch bei jenen Verben feststellen läßt, die wir als Verben mit adverbalem Dativ bezeichnen und deren Dativrektion in erster Linie syntagmatisch, d.h. funktional-diakritisch, fundiert ist. Auch bei Verben, deren adverbaler Dativ nur zum Teil oder gar nicht auf ein syntagmatisches Fundament schließen läßt, tritt das hierarchische Gefalle zwischen Akkusativ und Dativ hervor, sei es auf andere Weise. Daß das Subjekt auch in zweistelligen Konstruktionen mit adverbalem Dativ für die Kasuszuweisung entscheidend sein kann, wird aus der diachronischen Analyse eines Verbs wie helfen hervorgehen (s. § IV.7.), bei dem die lange Zeit wirksame Kasusalternation zwischen Dativ und Akkusativ vom Subjekttypus (Lebewesen oder sachlich) abhängt. Ein prototypisches Verb, bei dem die Dativrektion auf einer Valenzerweiterung beruht und wobei der adverbale Dativ zugleich zur üblichen Rektion der transitiven Verwendung des Verbs in Opposition steht, ist schmecken (s. § V.l.). Die beiden Rektionen entsprechen folgenden Konnexionen: [Subjekt im Nominativ + [Verb + Akkusativobjekt]]:

z.B.:

Er schmeckte den Rotwein

[[Subjekt im Nominativ + Verb] + Dativobjekt]:

z.B.: Der Fisch schmeckt mir. Zum Schluß sei darauf hingewiesen, daß Fourquets Konnexionsmodell deutlich macht, daß die u.a. von Akio Ogawa (im Anschluß an Hartmut Czepluch) vorgebrachte These, im Gegensatz zu dem Nominativ, Akkusativ und Genitiv sei der Dativ "kategorienunspezifisch", nicht haltbar ist.211 Ogawa begründet diese These anhand der folgenden drei Syntagmen: (21) dem Vater [das Auto reparieren] (Dativ commodi) (22) dem Vater [sein Auto] (adnominaler possessiver Dativ) (23) mir [der ist vielleicht einer] (Dativ ethicus).212 211 212

Ogawa 1997, 181-182. Ogawa 1997, 182.

Das fuiiktional-oppositive Prinzip der Kasusunterscheidung

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Die marginale Existenz des umgangssprachlichen adnominalen possessiven Dativs213 kann nicht darüber hinwegtäuschen214, daß der Dativ in der Regel das Vorhandensein der Wortkategorie Verb impliziert. Allerdings ist der Dativ nicht an das Verb allein, sondern an die aus dem Verb und einem oder zwei Nomen bestehende Verbalphrase gebunden. Die Verbalphrase hat in der Regel die Form: [Nominativ + [Verb + Akkusativ]].

Die obige Struktur (23) zeigt aber, daß "freie" Dative auch in hierarchisch weniger komplexen Strukturen verwendet werden: [Nominativ + Kopula + Nominativ] Der ist mir vielleicht einer, [Nominativ + Verb + Adverb] Du ißt mir zu viel usw. Daß aber immer komplexe Verbalphrasen betroffen sind und der Dativ mithin nicht "kategorienunspezifisch" ist, steht außer Zweifel.

II.3.

Das funktional-oppositive Prinzip der Kasusunterscheidung

Das funktional-diakritische Motiv für den adverbalen Dativ bildet den eigentlichen Einstieg in unsere Analyse. Aus epistemologischer Sicht ist das Besondere am diakritischen Prinzip, daß es die Suche nach allgemeinen, einheitlichen "Kernbedeutungen" der Kasus vorerst ausklammert. Die Kasusunterscheidung stellt sich, zumindest was den adverbalen Dativ im Deutschen betrifft, auf der syntagmatischen Ebene als ein potentieller Faktor der Erklärung heraus, wodurch die Frage nach den jeweiligen Kasusinhalten in ein größeres explanatives Modell integrierbar ist. Dennoch wäre es irrig zu meinen, das funktional-diakritische Prinzip der Kasusunterscheidung sei der Theorie der kasuellen "Kernbedeutungen" entgegengesetzt.215 Wir werden in der vorliegenden Arbeit be-

213 214

215

vgl. Wegener 1989a, 94. Ogawa 1997, 192 nimmt einen Satz wie Auf dem Otto seinen Vater verlasse ich mich immer ohne jeglichen Hinweis auf Markiertheit auf. In der deutschen Ausgabe von Crystals Cambridge Enzyklopädie der Sprache gilt ein Satz wie meiner Großmutter ihr Sohn ist mein Vater nicht nur als grammatikalisch falsch, sondern darüber hinaus als ein "Versprecher", Crystal 1995, 263. Wir ziehen im folgenden den Begriff "Kernbedeutung" dem Begriff "Grundbedeutung" vor, weil wir uns nicht zu der geschichtlich-etymologischen Entwicklung der Kasus (und ihrem etwaigen Ursprung in postponierten Pronomen), sondern zu deren (syntaktischen) Bedeutungsfunktionen äußern.

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Das funktionelle Erkläningsmodell

strebt sein, zu zeigen, daß die beiden Ansätze sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern einander ergänzen. Der Hauptgedanke der Theorie der kasuellen "Kernbedeutungen" lautet216, daß den verschiedenen Kasus bestimmte semantische Funktionen entsprechen, d.h. daß die Kasusformen (die morphologischen Kasus) mit Kasusbedeutungen korrelieren, so wie in der Sprache eine Form im Prinzip immer genau eine Bedeutung hat, und eine andere Form eine andere Bedeutung (oder mehrere Bedeutungen). Daß dieser Gedanke in der modernen Linguistik dem strukturalistischen Bilateralitätsprinzip F. de Saussures verpflichtet ist, braucht nicht eigens erläutert zu werden. Wir sahen, daß sich die Frage nach den spezifischen Bedeutungen des Akkusativs und Dativs im Hinblick auf die Sätze (12)a und (12)b anders stellt als im Hinblick auf die Sätze (13), (14), (15) und (16). Die Konkurrenz der beiden Kasus in den vier letztgenannten Sätzen - z.B. in einer bekannten Fügung wie jmdmJjmdn. auf die Schulter klopfen - legt eher eine Interpretation nahe, in der der Kasusunterschied auch einem Unterschied im "Worten" der Welt entspricht, als die Kasusverteilung in den beiden Sätzen (12)a und (12)b: Ich versichere dich einer Sache/Ich versichere dir etwas. Finden wir eine solche Differenz auch bei Verben bestätigt, die außer einem adverbalen Dativ noch einen anderen Kasus - insbesondere den Akkusativ - regieren können? Eine Reihe von Verben, die mit einem adverbalen Dativ verwendet werden, bestätigt auf eindrückliche Weise, daß es tatsächlich sinnvoll und wohlbegründet ist, die morphologischen Kasus mit semantischen Funktionen in Zusammenhang zu bringen. Besonders deutliche Belege dafür bilden jene Verben, die im Laufe der Sprachgeschichte die Möglichkeit herausgebildet haben, sowohl ein Akkusativobjekt wie ein Dativobjekt zu sich zu nehmen, und zwar auch getrennt (also nicht in dreistelliger, syntagmatischer Verknüpfung), z.B.: grollen (jmdn. grollen 'jmdn. ärgern'Ijmdm. grollen 'auf jmdn. böse sein'), leben (etwas leben 'etwas erleben'/jmdm./einer Sache leben 'für jmdn./eine Sache leben'); vgl. auch Unterschiede wie diejenigen zwischen Ich schmecke etwas und Es schmeckt mir usw. Einige der Kasusrektionen sind nur noch historisch belegbar und in der deutschen Gegenwartssprache nicht mehr vorhanden. Sie lassen sich nur dann adäquat beschreiben, wenn man annimmt, daß die morphologischen Kasus nicht nur auf der syntagmatischen Ebene funktionell sind, sondern daß sie zusammen auch ein Paradigma bilden, in dem sich die 2,6

vgl. Willems 1997, 81-82, 230ff.

Das funktional-oppositive Prinzip der Kasusunterscheidung

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verschiedenen Kasus aufgrund spezifischer Werte ("valeurs") voneinander unterscheiden. Auf der paradigmatischen Ebene herrschen zwischen den Kasus Oppositionen, und auf dieser Ebene ist die Kasusunterscheidung somit distinktiv oder oppositiv bedingt. Die paradigmatischen Kasusfunktionen gelten, wie alle paradigmatischen Funktionen, in absentia. Das bedeutet jedoch nicht nur, daß die Bedeutungsfunktion eines gegebenen Kasus durch die oppositive Differenz gegenüber einem oder mehreren nicht realisierten Kasus definiert ist. Die paradigmatische Kasusfunktion ist nicht etwas am morphologischen Kasus an und für sich Ablesbares. Vielmehr wird die oppositive Differenz immer nur am lexematischen Bestand im Satzgefüge sichtbar, manifestiert sie sich also in der Verknüpfung mit einem oder mehreren nominalen Konstituenten auf der syntagmatischen Achse. Es wäre falsch, die paradigmatische Opposition des obliquen Kasus in z.B. dem historisch belegten Syntagma Es grollt mich ('Es ärgert mich') in dem Unterschied zwischen den isolierten Pronomen mich und mir zu suchen und dem Syntagma Es grollt mich zu diesem Zweck das Syntagma Es grollt mir ('Es ist mir böse') gegenüberzustellen. Die paradigmatische Opposition zwischen Akkusativ und Dativ ist zwar formal tatsächlich in mich bzw. mir repräsentiert. Aber die eigentliche Funktionalität der paradigmatischen Kasusopposition ist nur in den Kollokationen mit dem Verb grollen, syntagmatisch letztlich also in den gesamten belegten Gefügen Es grollt mich und Es grollt mir realisiert. Nur so wird auch verständlich, daß der Objektsdativ das Subjekt des Syntagmas sogleich als ein Wesen auszeichnet, das zu Groll imstande ist, während der Objektsakkusativ in dieser Materie ein "neutraler" Kasus ist: Ob dasjenige, was einen ärgert, ein Lebewesen oder eine Sache ist, gehört offenbar nicht zu seinem funktionellen Bereich. Das funktional-oppositive Prinzip der Kasusunterscheidung ist, wie unsere Analysen zeigen werden, weiter und komplexer, als das Beispiel mit dem Verb grollen vermuten lassen könnte. Paradigmatisch ebenfalls wichtig ist insbesondere die Tatsache, daß einem Verb wie schaden, das normalerweise den Dativ regiert, im Sprachsystem zwar kein konkurrierendes schaden neben sich hat, das den Akkusativ regiert, dafür aber die Verben schädigen und beschädigen, die beide tatsächlich nicht den Dativ, sondern den Akkusativ regieren. Berücksichtigt man darüber hinaus die distributioneile semantische Gegebenheit, daß die drei Verben untereinander kollokationelle Beschränkungen und Verteilungen aufweisen (vgl. einem Menschen schaden; *einen Menschen beschädigen; *der geschadete Mensch; der geschädigte Mensch usw.), dann leuchtet es ein,

64

Das funktionelle Erklärungsmodell

daß auch solche Fakten zu demjenigen Bereich gehören, der paradigmatisch relevant ist, und aus diesem Grund in einem Versuch, für den adverbalen Dativ im Deutschen eine funktionelle Erklärung zu finden, unbedingt ihren Platz finden müssen.

II.4. Gradualität, Geschichtlichkeit und Sprachgebrauch Der Hinweis darauf, daß Kasus polyfunktionelle Entitäten der Sprache sind, sowie die phänomenologische Notwendigkeit, ein Modell zu konzipieren, mit dem sich die Kasus nicht nur auf der syntagmatischen Ebene des Sprachgebrauchs, sondern auch auf der paradigmatischen Ebene des Sprachsystems analysieren lassen, verweisen unweigerlich auf die Tatsache, daß sich die Geschichte und die Systematik des adverbalen Dativs unmöglich auf ein oder zwei Begriffe festlegen lassen. Verschiedene Motive der Kasuswahl greifen ineinander, und es leuchtet ein, daß bald die eine Funktion die andere überwiegt, bald das Umgekehrte der Fall ist und die Unterscheidung zweier Nomen im Objektbereich auf der syntagmatischen Ebene sich z.B. als wichtiger herausstellt als die paradigmatisch bedingte Verknüpfung einer Kasusform mit einem bestimmten Inhalt, der nicht nur auf eine allgemeine Systembedeutung des Verbs schließen läßt, sondern auch auf die systematische "Kernbedeutung" des Kasus zurückgeht. Um solche Schwankungen und die funktionellen Übergänge, denen sie Ausdruck verleihen, in den Griff zu bekommen, schlagen wir vor, die Verben mit adverbalem Dativ gemäß zwei verschiedenen Dimensionen zu untersuchen, die beide das Prinzip des Kontinuums zum Ausdruck bringen. Die Tatsache, daß wir uns in der vorliegenden Untersuchung am Prinzip des Kontinuums orientieren, bedeutet nicht, daß wir den adverbalen Dativ selbst für ein graduelles Phänomen halten. Die Gradualität trifft ausschließlich auf seine Verwendung zu. Es wäre ein logischer Irrtum, wollte man den adverbalen Dativ selbst für etwas Graduelles halten; vielmehr muß es den adverbalen Dativ als syntaktisch-semantisch deutlich abgegrenztes Phänomen geben, um feststellen zu können, welche Typen der Gradualität in seiner konkreten Verwendung im Sprachgebrauch auftreten.

Gradualität, Geschichtlichkeit und Sprachgebrauch

65

II.4.1. Das syntagmatisch-paradigmatische Kontinuum Die erste graduelle Dimension, gemäß der wir das Vorkommen des adverbalen Dativs präzisieren werden, ist die Basisdimension der gesamten Untersuchimg und bestimmt auch deren Gang. Sie ist diejenige Dimension, die an der einen Seite durch den Pol der Diakrisis auf der syntagmatischen Ebene und an der anderen Seite durch den Pol der Opposition auf der paradigmatischen Ebene begrenzt wird:

diakritischer Pol

oppositiver Pol

Achse der syntagmatischen und paradigmatischen Kasusfunktion

Nimmt man zwischen den beiden Polen, dem diakritischen und dem oppositiven, ein Kontinuum an, dann impliziert das zwangsläufig Übergänge zwischen den beiden Funktionen im Sprachgebrauch. Konkret heißt das, daß der adverbale Dativ sich bei bestimmten Verben in erster Linie aufgrund seiner diakritischen Unterscheidung einem anderen obliquen Kasus gegenüber begründen läßt, daß er bei anderen Verben eher eine distinktive Rolle gegenüber konkurrierenden zweistelligen Konstruktionen desselben oder eines verwandten Verbs kennzeichnet, während der Dativ bei noch anderen Verben sowohl auf der syntagmatischen Ebene begründet ist als auch paradigmatische Oppositionen zu anderen Kasus, und zwar vor allem dem Akkusativ, aufweist. Die letztgenannten Verben sind deshalb in der Mitte des Kontinuums anzusiedeln. Da wir davon ausgehen, daß morphologische Kasus syntaktisch-semantische Sprachphänomene sind - d.h. also sprachliche Funktionen, deren syntaktische Eigenschaften bedeutungstragend sind bzw. deren Bedeutungen die syntaktischen Gebilde prägen wäre es inadäquat, zu unterstellen, daß die Kasusbedeutung im Sinne einer "Kernbedeutung" des morphologischen Kasus in den Hintergrund rückte, je weiter sich das Verb mit adverbalem Dativ links auf dem Kontinuum ansiedelt, während die "Kernbedeutung" des Dativs sich um so deutlicher manifestierte, je weiter rechts das Verb, Richtung paradigmatische Opposition, angesetzt werden muß. Vor dem Hintergrund der Unterschiede, die

66

Das funktionelle Erklärungsmodell

bei der Interpretation der Sätze (12)a und (12)b und der Sätze (13) bis (16) zutage treten, ist dies besonders wichtig: Keine der beiden Funktionen ist der anderen übergeordnet, die syntagmatische Funktion des Dativs trägt genauso zur "Kernbedeutung" des Kasus bei wie die paradigmatische Funktion. Erst beide Funktionen zusammen konstituieren die Bedeutung des Dativs, die alle jene Funktionen ermöglicht. Das freilich wird nur ersichtlich, wenn man die Verwendungen des Kasus nicht aus einem apriorischen System deduziert, sondern vielmehr im faktischen Sprachgebrauch analysiert. Dabei ist es im Prinzip egal, ob dieser Sprachgebrauch nun als konkret gesprochene Sprache oder in der Form von schriftlichen Belegen in die Analyse einbezogen wird. Die historische Ausrichtung des vorliegenden Buches bringt es aber mit sich, daß wir "gezwungen" sind, uns möglichst genau an den überlieferten Sprachdenkmälern zu orientieren (vgl. §11.6.). Wir werden im ganzen drei Gruppen von Verben unterscheiden, je nachdem, ob die Verben der jeweiligen Gruppe a. am stärksten eine syntagmatische Erklärung nahelegen, die die diakritische Funktion des Dativs herausstreicht (GRUPPE A), b. eine Erklärung fordern, in der sowohl die diakritische Kasusverteilung im Satzgefüge als auch die Opposition des Dativs gegenüber einem anderen obliquen Kasus (dem Akkusativ oder Genitiv) eine Rolle spielen (GRUPPE B), oder c. einen ausgesprochen paradigmatischen Grund für den adverbalen Dativ aufweisen, nicht zuletzt deshalb, weil es weder diachronisch noch synchronisch Belege dafür gibt, daß der Dativ irgendeine diakritische Funktion in dreistelligen Satzbauplänen erfüllt hat, und weil der Dativ sich vielmehr oppositiv zu einem anderen obliquen Kasus durchgesetzt hat, u.a. in Opposition zu anderen, gegebenenfalls konkurrierenden zweistelligen Konstruktionen (GRUPPE C). In Übereinstimmung mit dem erläuterten Gradualitätsprinzip gibt es zwischen diesen drei Gruppen von Verben mit einem adverbalen Dativ fließende Übergänge. Dies werden wir dadurch zum Ausdruck bringen, daß die "prototypischen" Verben (d.h. die Simplizia) einer jeden Gruppe immer zuerst analysiert werden. Diejenigen Simplizia, die am wenigsten dem Hauptkriterium der jeweiligen Gruppe entsprechen und bereits zur folgenden Gruppe tendieren, behandeln wir jeweils am Schluß der Gruppe, zusammen mit denjenigen abgeleiteten

Gradualität, Geschichtlichkeit und Sprachgebrauch

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Verben, die wir nicht - aus noch zu präzisierenden Gründen, s. § Π.6. - aus der Untersuchung ausklammern.

II.4.2. Grade der Idiomatizität Die Situierung der Verben bzw. der Verbgruppen auf dem eindimensionalen Kontinuum zwischen dem diakritischen und dem oppositiven Pol ist ein Hauptanliegen der vorliegenden Untersuchung. Um jedes Verb einzeln genau charakterisieren zu können, ist jene erste Dimension jedoch noch nicht hinlänglich präzis. Innerhalb jeder Gruppe (nämlich Α, Β und C) gibt es zwischen den Verben untereinander erhebliche Differenzen, was den jeweiligen Idiomatizitätsgrad der Verwendung des adverbalen Dativs betrifft, und auch diese Differenzen lassen sich am besten auf einem Kontinuum ansiedeln, das die zweite Dimension, diejenige der Idiomatizität, repräsentiert. Wiederum handelt es sich um eine Gradualität des Sprachgebrauchs, die ersichtlich wird, wenn eine möglichst große Anzahl Verben, die einen adverbalen Dativ regieren können, analysiert wird. Der Grad an Idiomatizität läßt sich daran ermessen, ob der adverbale Dativ sich in dem Maße verfestigt hat, daß er der häufigste Objektskasus oder möglicherweise sogar der einzig mögliche Objektskasus eines Verbs ist, oder ob der adverbale Dativ nur ein möglicher Objektskasus ist. Beispielsweise muß der Dativ bei schaden als idiomatischer eingestuft werden als der Dativ bei nutzen (oder nützen), denn während das Objekt bei schaden immer im Dativ steht, kann das Objekt bei nutzen entweder im Dativ oder im Akkusativ stehen, je nachdem was der Sprecher auszudrücken beabsichtigt (Es nutzt mir versus Es nutzt die Kr φ des Windes). Und aus einem ähnlichen Grund hat der Dativ bei huldigen einen höheren Idiomatizitätsgrad als der Dativ bei kündigen, weil huldigen nicht nur obligatorisch auf ein Objekt angewiesen ist, sondern dieses Objekt auch immer im Dativ steht (z.B. Sie huldigten dem König/dem Künstler/falschen Grundsätzen usw.). Das Verb kündigen dagegen wird nicht nur mit adverbalem Dativ verwendet (Seinem Freund war fristlos gekündigt worden), sondern zusätzlich auch in Verbindung mit einem Akkusativobjekt (z.B. Sie kündigten [ihm] sofort den Mietvertrag), nur zusammen mit einem Akkusativ (Er wird morgen den Vertrag kündigen) oder in absoluter Verwendung (Er will morgen kündigen).

Das funktionelle Erklärungsmodell

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Der Idiomatizitätsgrad des adverbalen Dativs muß bei jedem einzelnen Verb festgestellt werden und ist letztlich ein Ergebnis der Sprachgeschichte, insofern der Dativ bei einigen Verben bereits seit dem Ahd. der nahezu ausschließliche Objektskasus ist, während es möglich ist, daß er sich bei anderen Verben erst seit dem 18. oder 19. Jh. als adverbaler Kasus durchgesetzt hat. Dadurch, daß wir die Idiomatizität des adverbalen Dativs einbeziehen, die - wie die Unterschiede auf der syntagmatisch-paradigmatischen Achse - ebenfalls graduelle Abstufungen aufweist, kann das obige Schema solcherart präzisiert werden, daß es der Komplexität des Gegenstandes der vorliegenden Untersuchung besser gerecht wird:

GRUPPE A

GRUPPE Β

GRUPPE C

Achse der Idiomatizität

diakritischer Pol Achse der syntagmatischen und paradigmatischen

oppositiver Pol Kasusfunktion

Der Leser wird bereits bemerkt haben, daß die vorliegende Studie einerseits zwar auf dem Grundgedanken aufbaut, daß der morphologische Kasus eine geschichtliche Realität einer gegebenen Einzelsprache bildet und somit nur aus der Geschichte heraus beschrieben und erklärt werden kann (s. § Π. 1.). Ande-

Gradualität, Geschichtlichkeit und Sprachgebrauch

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rerseits darf der geschichtliche Fokus kein Freibrief für historische Spekulationen und unhaltbare Pseudorekonstruktionen sein. Aus eben diesem Grund haben wir in bezug auf die möglichen Einflüsse des Lateinischen (und Griechischen) auf die Rektion der deutschen Verben mit adverbalem Dativ eine zurückhaltende Position eingenommen. Den zeitgenössischen Dativ bei Verben wie danken und schaden z.B. dadurch erklären zu wollen, daß lat. gratum esse und nocere den Dativ regieren, stößt auf die Schwierigkeit, daß folgen und helfen im heutigen Deutsch den Dativ regieren, während etwa lat. sequi und (ad)iuvare den Akkusativ regieren. Von etwaigen Kasusentlehnungen aus den klassischen Sprachen kann demnach nur in Einzelfällen wirklich die Rede sein, z.B. wenn das deutsche Verb aus morphologischen Gründen eine unmittelbare Verwandtschaft mit dem klassischen Vorbild nahelegt und tatsächlich Kasuskongruenz vorliegt, was z.B. bei imponieren (< imponere), präsidieren (< praesidere), irthärieren (< inhaerere) usw. der Fall ist. Diese Verben werden in einem gesonderten Abschnitt behandelt (s. § VI.l.). Andere Einflüsse wären bei jedem Verb einzeln zu untersuchen, bei helfen z.B. der Zusammenhang zwischen der Akkusativrektion von (ad)iuvare einerseits und der alten Akkusativrektion von helfen in einigen valenzmäßig ausgezeichneten Satzbauplänen (insbesondere mit unpersönlichem Subjekt, s. § IV.7.). Solche Untersuchungen, wie sinnvoll und wünschenswert sie auch immer sein mögen, gehen über den Rahmen des vorliegenden Buches hinaus. Sein Gegenstand ist die Geschichtlichkeit der Verben mit adverbalem Dativ im Deutschen.

II.4.3. Ebenen der Bedeutung Weil unsere Untersuchung zwischen Syntax und Semantik eine enge Beziehung annimmt, ist es erforderlich, eine klare, zugleich aber auch genügend biegsame Terminologie zu verwenden, wenn es darum geht, die lexikalische Bedeutung oder die lexikalischen Bedeutungen der untersuchten Verben in die Analyse einzubeziehen. Im Anschluß an Eugenio Coseriu unterscheiden wir im Hinblick auf die lexematische Bedeutung der untersuchten Verben grundsätzlich zwischen den folgenden semantischen Ebenen: a. die (systematische) Bedeutung eines Lexems, b. die zwar nicht funktionelle, aber doch sprachgeschichtlich sowie in der Sprachgemeinschaft begründete Normbedeutung desselben Lexems,

70

Das funktionelle Erklärungsmodell

c. und schließlich seine Redebedeutung (oder auch die aktuelle Bedeutung des Lexems), die durch pragmatische und referentielle Faktoren wie Kontext und Kotext bestimmt wird und immer spezifischer ist als die eigentliche Bedeutung stricto sensu. Die Redebedeutung eines Wortes kommt durch den Bezug auf das Bezeichnete zustande. Damit bildet sie diejenige semantische Schicht, die wesentlich zum Sinn des gesamten Textes beiträgt, in dem das Lexem verwendet wird. Insofern kann man bei der Bestimmung der Redebedeutung eines Lexems auch untersuchen, welcher dessen Beitrag zum Textsinn ist. Anders als die drei genannten Bedeutungstypen ist aber der Sinn stets eine textlinguistische (letztlich "literarische") Kategorie, die somit nicht an einem einzigen Lexem festgemacht werden kann, sondern Texten oder größeren Redeabschnitten im ganzen eignet.217 Als neutralen Terminus verwenden wir das Wort Inhalt. Auch die erwähnten drei semantischen Ebenen bilden im Prinzip ein Kontinuum. Graduelle Übergänge zwischen ihnen spielen im Bedeutungswandel eine wichtige Rolle. Jedoch bedeuten solche Übergänge selbstverständlich keineswegs, daß man nicht bei jedem historischen Beleg eines Verbs untersuchen soll, welche seine Systembedeutung, seine Normbedeutung und seine Redebedeutung sind. Ganz im Gegenteil, jeder Beleg ist ein Momentbild und dazu geeignet, die Grenzen zwischen den verschiedenen semantischen Ebenen sichtbar zu machen, die über größere Zeitabschnitte hinweg bruchlos ineinander übergehen.

II.5. Der Gegenstand der Untersuchung In unserer Analyse werden wir uns vornehmlich mit den Simplizia befassen, die heute einen adverbalen Dativ regieren können. Wir klammern eine Reihe von Verben aus, nicht nur des Umfangs der Untersuchung wegen, sondern auch weil einige Verbtypen unserem Begriff des "adverbalen Dativs" aus verschiedenen Gründen nicht entsprechen. Bei der Eingrenzung des Gegenstandes der Untersuchung waren wir freilich darauf bedacht, den Objektbereich nicht dermaßen rigoros einzuengen, daß schließlich die Gefahr der Beliebigkeit droht. Die Verben, mit denen wir uns nicht auseinandersetzen werden218, möchten wir zum Schluß dieses ersten Teils denn auch etwas ausführlicher vorführen. 2,7 218

s. Coseriu 31994, 63ff und 137ff. vgl. die Liste der Dativverben bei Jergensen 1964, 48-49.

Der Gegenstand der Untersuchung

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II.5.1. Reflexive Verben Eine erste Gruppe von Verben, die aus der Untersuchung ausscheidet, bilden die reflexiven Verben mit Dativ des Objekts und Akkusativ des Reflexivums, also Verben wie z.B. sich fügen, sich nahem, sich widmen usw. Solche Verben stimmen mit dem dreistelligen Standardsatzbauplan des Deutschen überein, in dem ein Subjekt im Nominativ mit einem Akkusativobjekt, das in dem Fall durch das Reflexivum besetzt wird, sowie einem Dativobjekt verbunden wird, z.B.: (24) Er ßgte sich den Umständen (25) Wir widmen uns dem Dativ. Der Dativ ist bei solchen Verben mithin voll motiviert, sie regieren den Dativ aus demselben Grund, weshalb die klassischen dreistelligen Verben schenken, geben, sagen usw. den Dativ regieren. In der vorliegenden Untersuchung wird die Klasse der reflexiven Verben mit Dativrektion demzufolge nicht gesondert analysiert.

Π.5.2. Defektive Verben und oblique es-Verben Ebensowenig zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung gehören zweitens die sog. "defektiven Verben", die ein unvollständiges Flexionsparadigma aufweisen, defektive Verwendungen von Verben, die nicht systematisch defektiv sind, sowie die gelegentlich "unpersönlich" genannten Verben, sofern sie den Dativ regieren. Zur Kategorie der "defektiven Verben" gehören u.a. gebrechen, gebühren, gelingen, gelten, geraten119, geschehen, geziemen, glücken, konvenieren (veraltend), passen, passieren und reichen. Kennzeichnend für diese Verben sind u.a. die Subjektrestriktionen. In der Verbindung mit einem Dativ können sie normalerweise nicht mit persönlichen Subjekten in der ersten und zweiten Person gebraucht werden, z.B. ist Dazu gebrach ihm/seinen Bemühungen der rechte Schwung220 möglich, nicht aber *Ich gebreche meinen Eltern oder *Du

219

220

im Sinne von 'gelingen', wie z.B. in: Das Essen ist ihr schlecht geraten, vgl. u.a. DUW, 591, Sp. 3. DUW, 567, Sp. 2.

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Das funktionelle Erklärungsmodell

gebrachst nur. Die Verben können allerdings bestimmte adverbiale Verbindungen eingehen wie: Dir geschieht recht; Das reicht mir nicht usw. Mit einer defektiven Verwendung eines an sich nicht systematisch defektiven Verbs haben wir es z.B. in So etwas liegt mir nicht, Schnüffeleien liegen mir auch nicht (d.h.: 'entsprechen meiner Neigung, Art usw. nicht')221, Mir geht es glänzend,222 Der Anzug steht mir212, Der Hut saß ihm schief auf dem Kopf,224 Ihm bleibt keine Hoffnung225 usw. zu tun. Die Dativrektion ist bei den idiomatischen Verwendungen von Verben wie liegen, gehen, stehen, sitzen, bleiben usw., wie sie die Beispielsätze belegen, in der Sprachnorm auf bestimmte Subjekte in der 3. Person und auf es beschränkt.226 In bezug auf die erwähnte dritte Gruppe von Verben - z.B. ahnen, ekeln, grauen, schwanen, mangeln, schwindeln, träumen usw. - muß darauf hingewiesen werden, daß diese sog. "psychologischen Verben"227 mit den "unpersönlichen Verben", die gemeinhin als "Witterungsverben"228 oder "Wetterverben" 229 bezeichnet werden (z.B. Es schneit; Es regnet; Es blitzt; Es donnert usw.), die Eigenschaft gemeinsam haben, «-Konstruktionen bilden zu können. Von diesen letzteren "unpersönlichen" Verben stricto sensu aber, die die eigentlichen "subjektlosen" Sätze bilden,230 heben ahnen, ekeln, grauen usw. sich gerade dadurch ab, daß sie im Hinblick auf - in der Regel auch explizit genannte - Personen gebraucht werden.231 Das geschieht entweder anhand einer Verbindung von es mit einem obliquen Nomen oder Personalpronomen, wie in: (26) Es schwindelte ihm (über dem Abgrund), 221 222 223 224 225 226

227 228 229 230 231

WDG, III, 2375, Sp. 1. WDG, II, 1498, Sp. 1. Wegener 1985, 75. DUW, 1408, Sp. 1. DUW, 266, Sp. 3. Eine besondere Verwendung mit Dativobjekt liegt beim Verb sitzen vor, nämlich im Sinne von 'sich einem Künstler sitzend für ein Porträt zur Verfügung stellen', wie z.B. in: Sie hat dem Künstler gesessen-, s. DUW, 1407, Sp. 2. Wegener 1985, 62, 64. Sommerfeldt/Starke 1992, 52; vgl. Grundzüge einer deutschen Grammatik, 327. Eisenberg 1994, 75. s. Dal 1966, 166ff. Heringer 1967, 26f unterscheidet drei Typen von Impersonalien, solche mit kommutierbarem es (z.B. es läutet > die Glocke läutet; es packt mich > Unruhe packt mich), mit nicht kommutierbarem es (es regnet, es schneit usw.) und mit nicht kommutierbarem es, das bei Inversion jedoch wegfallen kann (es hungert mich/ich hungere > mich hungert[s], es gruselt mir > mir gruseltfs] usw.). Die "obliquen es-Verben" mit Dativrektion gehören zum dritten Typ.

Der Gegenstand der Untersuchung

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anhand der Verbindung eines sonstigen Wortes im Nominativ mit einem obliquen Kasus, z.B.: (27) Der Kopf schwindelte ihm (, als er den Preis hörte), lediglich anhand eines obliquen Nomens oder Personalpronomens in SubjektPosition, vgl.: (28) Dem Mann schwindelte, oder, zumindest bei einigen Verben, anhand einer gewöhnlichen Konstruktion mit dem Subjekt im casus rectus·. (29) Ich ahnte etwas Böses (neben: Mir ahnte etwas Böses oder Es ahnte mir etwas Böses). Die meisten der betreffenden Verben realisieren freilich nicht alle vier Möglichkeiten, sondern weniger, z.B.: Es mangelt ihm an Erfahrung und Ihm mangelt der rechte Ernst; Es gebricht ihr an Geld und Dazu gebricht ihm der rechte Schwung usw.232 Wir nennen solche Verben "oblique es- Verben" und meinen damit eine besondere Kategorie von "unpersönlichen" Verben.233 Unter den "obliquen esVerben" fassen wir sowohl diejenigen Verben, die nur mit einem Subjekt der 3. Person verbunden werden (Es mißlang ihr; Es mangelt ihm an Geld; So etwas wurmt mich usw.), als auch diejenigen Verben, die entweder mit einem absoluten Dativ oder Akkusativ verwendet werden (Mich friert; Mir schwindelt usw.) oder die, als Variante, mit dem semantisch leeren, rein syntaktisch funktionellen es verbunden werden (Es friert mich; Es schwindelt mir). Die Bezeichnung "oblique ei-Verben" soll auf die Verbindung von (fakultativem) es mit obliquem Kasus hinweisen, und zugleich soll die Möglichkeit offenbleiben, daß das jeweilige Verb auch (und sei es nur zusätzlich) mit dem casus rectus verbunden werden kann. Darüber hinaus ist der Obliquus grundsätzlich nichtspezifiziert, da bei mehreren Verben sowohl der Dativ als auch der Akkusativ

232 233

vgl. Helbig/Buscha 1993, 51-53. Die unpersönliche Form Es graut mir darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier keine Subjektlosigkeit vorliegt wie etwa in Es regnet (vgl. *Es regnet mir). Während in Es regnet ohne jeden Zweifel kein Subjekt vorhanden ist, kann man mit einigem Recht behaupten, daß man es in & graut mir oder Mir graut jeweils mit einem "Subjekt im Dativ" zu tun hat, freilich unter der Bedingung, daß das Verhältnis zwischen grammatischem und logischem Subjekt genau abgeklärt ist; dazu vgl. Wegener 1985, 254ff.

74

Das funktionelle Erklärungsmodell

in Frage kommen, vgl.: Es friert mich/Ich friere; Es dünkt mich/Mich dünkt/ Mir dünkt usw. Aufgrund ihrer semantischen und syntaktischen Eigenschaften werden (einige) "oblique ei-Verben" in der generativen Sprachtheorie als "ergative" Verben bezeichnet.234 Wir schließen die genannten "obliquen es- Verben" vor allem aus der GRUPPE C aus, zu der viele der Verben gehören, die bald in einstelligen, bald in zweistelligen Konstruktionen gebraucht werden.

Π.5.3. Zusammengesetzte Verben und Verben mit trennbaren Halbpräfixen Aus der Untersuchung scheiden drittens auch die zweistelligen zusammengesetzten Verben aus, die den Dativ regieren, sowie die Verben, deren erstes Glied ein Halbpräfix (oder sog. Präfixoid) ist. Von den trennbaren (oder unfest zusammengesetzten) Verben mit Halbpräfixen235 unterscheiden wir die eigentlichen Präfixverben stricto sensu, d.h. die untrennbaren (bzw. fest zusammengesetzten) Verben mit genuinen Präfixen (s. § II.5.4.).236 Der Ausschluß der zusammengesetzten Verben, die den Dativ regieren, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Hierzu gehören Verbindungen eines Basisverbs mit einem Substantiv (z.B. standhalten, willfahren), mit einem Adjektiv (z.B. nahestehen, übrigbleiben und frohlocken), mit einem Adverb (z.B. genugtun) sowie mit einer Vielzahl von Partikeln (dazwischenfunken, dazwischenkommen, innewohnen, vorausgehen, voraushaben usw.). Der Dativ kann bei all diesen Verben nicht nur von der verbalen Komponente der Lexeme her erklärt werden, sondern hängt wesentlich mit dem jeweiligen Determinans, also Stand, übrig, genug, voraus, dazwischen usw., zusammen.237 Eine Untersuchung der rektionalen Regularitäten in diesem Bereich gehört in die Domäne der Wortbildungsforschung und kann hier nicht in Angriff genommen werden. Auf das Problem der Rektion von trennbaren Verben wie abhelfen, beikommen, beimessen, entgegensehen, nachkommen, nachstehen, vorstehen, zuspre234

235 234 237

s. Wegener 1991, 98 und 1995, 130ff. Auch andere ergative Verben "lassen nahezu generell einen Dativ zu" (Wegener 1991, 88), mit dem wir uns im vorliegenden Buch allerdings ebenfalls nicht beschäftigen werden, vgl.: Ihm ist das Benzin ausgegangen; Der Frau ist der Krug zerbrochen; Mir ist eine Idee gekommen usw. s. Duden: Die Grammatik, § 781ff. s. Duden: Die Grammatik, § 774ff. vgl. Wegener 1991, 98.

Der Gegenstand der Untersuchung

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chen, zustimmen, zuvorkommen usw. werden wir zwar im Abschnitt VI.l. nochmals kurz zu sprechen kommen müssen, anläßlich der Behandlung einiger repräsentativer Verben, die von lateinischen Mustern abgeleitet sind und den Dativ regieren. Allgemein aber können wir bereits hier festhalten, daß es zwischen dem Kasus von Präiixoidverben und dem Kasus der Präpositionen (oder präpositionalen Adverbien), die als Präfixoide in die komplexen, trennbaren Verben eingehen, deutliche Zusammenhänge gibt. Dies hat schon Hermann Paul in aller Klarheit gesehen: Reichliche Verwendung findet der Dat(iv) neben Zuss.238 mit präpositioneilen Adverbien, durch die er dann bedingt ist.

230

Den Dativ bei beimessen, entgegensehen, nachstehen usw. anders erklären zu wollen, als aus dem Grund, daß bei, entgegen und nach als monorektionale Präpositionen den Dativ regieren, dürfte inadäquat und auch in hohem Maße unplausibel sein. Die Eigentümlichkeiten der Rektion solcher unfesten Präiixoidverben, deren Präfixoid der Rektion der entsprechenden Präposition widerspricht (z.B. nachahmen + Akkusativ) oder deren Präfixoid mit einer birektionalen Präposition homonym ist (z.B. vorstehen, Vorsitzen + Dativ, vorlassen, vorbereiten + Akkusativ), wären eigens zu untersuchen. Eine solche Untersuchung würde den Rahmen der vorliegenden Monographie jedoch sprengen.

II.5.4. Verben mit untrennbaren Präfixen Nicht minder kompliziert ist die Rektion untrennbarer Präfixverben. Hierzu gehören in erster Linie die Verben mit den produktiven Präfixen er-, be-, ver-, zer- und ent-\ als wenig oder nicht mehr produktiv gelten die folgenden Präfixe: miß-, fehl-, re-, de-, in- und ge-.2W Unter den Verben mit den Präfixen zer-, fehl-, re- und de- gibt es keine, die einen adverbalen Dativ in zweistelligen Verwendungen zu sich nehmen, unter den Verben mit ver- und er- nur ganz wenige.

238 239 240

Gemeint sind verbale Zusammensetzungen, K.W./J.V.P. Paul 1916ff, III, 395. Duden: Die Grammatik, § 780.

76

Das funktionelle Erklärungsmodell

Die zweistelligen Präfixverben mit νer-, die in der deutschen Gegenwartssprache den Dativ regieren, sind: verfallen, vergeben, verzeihen, vertrauen und verhelfen zu. Im Grunde gehört verhelfen zu nicht zu dieser Reihe. Das Verb regiert den Dativ strenggenommen nicht in zweistelligen Verwendungen, da die Präpositionalphrase mit zu nicht weggelassen werden kann. Aus diesem Grund betrachtet z.B. Heide Wegener verhelfen auch explizit als ein dreistelliges Verb, bei dem das Präpositionalobjekt die Funktion des direkten Objekts übernimmt.241 Ebenfalls den Dativ regierende Verben wie verübeln und versprechen sind von verfallen, vergeben, verzeihen und vertrauen zu unterscheiden. Auch verübeln wird nicht eigentlich zwei-, sondern dreistellig verwendet, zumindest wenn man annimmt, daß ein Objektsatz mit einem Akkusativobjekt äquivalent ist, vgl.: Ich verüble es dir/Ich verüble dir, daß du gelogen hast. Die eventuelle Zweistelligkeit eines Verbs wie versprechen bezieht sich dann wiederum auf die Weglaßbarkeit des Dativs, nicht aber des Akkusativs: Ich verspreche es dir > Ich verspreche es. Aus diesen Gründen schließen wir nur die vier erstgenannten Verben in unsere Untersuchung ein; auf verhelfen zu werden wir kurz im Abschnitt über helfen eingehen (§ IV.7.). Auch vertrauen behandeln wir im Abschnitt über das Basisverb trauen, das ebenfalls schon den Dativ regiert (§ IV. 1.). Das Verb verfallen erheischt eine gesonderte Analyse (s. § IV. 17.), und dasselbe gilt für vergeben und verzeihen (s. § ΠΙ.13.). Zum Phänomen des Objektsatzes ist noch eine Präzisierung angebracht. Der daß-Satz ist nämlich auch in historischer Hinsicht einem Akkusativobjekt durchaus gleichzustellen. Der Konjunktion daß entspricht etymologisch das Neutrum des Determinativpronomens im Akkusativ (das). Ursprünglich hatte dieses das (die orthographische Unterscheidung zwischen einem Pronomen das und einer Konjunktion daß findet erst im 16. Jh. statt) eine vorausweisende Funktion, etwa ich sage das: er kommt, wobei das den Satz er kommt vorwegnimmt (so z.B. oft im altsächsischen Heliand). Allmählich wurden solche Konstruktionen anders analysiert und faßte man das nicht mehr als Pronomen auf, sondern als ein einleitendes Wort, das einen Gliedsatz mit einem Hauptsatz

241

Wegener 1991, 87.

Der Gegenstand der Untersuchung

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verbindet, also ich sage, das/daß er kommt.1*1 Diese Entwicklung läßt sich auch in anderen Sprachen, z.B. dem Lateinischen und Englischen, beobachten.243 Unter den Verben mit dem Präfix er- gibt es in der Gegenwartssprache nur noch zwei, die einen Dativ regieren, nämlich erliegen und erscheinen. Verben wie erzählen und erteilen gehören nicht hierher, weil sie (wie verübeln und versprechen in der vorigen Gruppe) dreistellig verwendet werden (*Ich erzähle dir; *Man erteilt mir). Verben mit dem Präfix er-, die in älteren Phasen der deutschen Sprachgeschichte Belege für den adverbalen Dativ aufweisen, heute jedoch im Standardbundesdeutschen nicht mehr in der Kombination mit einem adverbalen Dativ verwendet werden, scheiden aus der Diskussion aus.244 Die Verben erliegen und erscheinen werden gesondert analysiert. Die Verben mit dem Präfix miß-, die einen adverbalen Dativ regieren, sind meist Schwesterformen zu Basisverben, die bereits den Dativ regieren, und die miß- Verben können dementsprechend in die Abschnitte über jene Basisverben einbezogen werden. Es handelt sich im einzelnen um sechs Verben, die man in zwei Gruppen gliedern kann, je nachdem, ob das Dativobjekt im strengen Sinn obligatorisch ist oder eine etwas freiere Position bekleidet. Zur ersten Gruppe gehören (in Klammern steht das jeweils entsprechende Basisverb): mißbehagen245 (behagen), mißfallen (gefallen) und mißtrauen (trauen). Die zweite Gruppe bilden die Verben: mißglücken (glückenf*, mißlingen (gelingen)147 und mißraten (raten)14S. Typisch für das Präfix miß- ist offenbar, daß es auf die Rektion 242

243 244

245 246

247

248

vgl. Pfeifer 1993, 204, Sp. 1. Neben den Sätzen, die durch die Inhaltssatzkonjunktion daß eingeleitet werden, gibt es natürlich noch eine ganze Reihe äquivalenter Nebensätze, die ebenfalls als Inhältssätze fungieren. Sie werden im zweiten Teil der Untersuchung gelegentlich eine Rolle spielen, sind für unsere Zwecke im ganzen jedoch weniger wichtig. Als Anschlüsse erscheinen wenn, als, ob, zu + Infinitiv (oder nur Infinitiv, wie bei helfen, s. § IV.7.) usw. Der Nebensatz mit dem finiten Verb in Zweitstellung und Konjunktiv gilt als dem ώζ/3-Inhaltssatz gleichwertig. Zu den verschiedenen Typen von Inhaltssätzen s. Duden: Die Grammatik, § 1292ff und Sitta 1971, 23ff. Bynon 1977/1981, 55. Das ist z.B. der Fall bei erbarmen, das im Ahd. und Mhd. gelegentlich mit einem Dativ statt mit einem Akkusativ gebraucht wurde, vgl.: mir erparmet diu menigi 'mich erbarmt die Menge', DW, III, Sp. 703. Dem Dativ kann man im Österreichischen allerdings bis heute begegnen, s. DUW, 444, Sp. 2: du erbarmst mir. veraltet auch: mißhagen. vgl.: Der Kuchen ist mir leider mißglückt (DUW, 1020, Sp. 3) neben: Der Versuch/Der Plan/Die Flucht ist mißglückt, WDG, IV, 2517, Sp. 2. vgl.: Der Versuch mißlingt ihm immer neben: Der Versuch/Der Plan/Die Flucht/Die Überraschung ist mißlungen, WDG, IV, 2518, Sp. 1-2. vgl.: Der Kuchen ist mir mißraten neben: Die Zeichnung ist mißraten, DUW, 1021, Sp. 2.

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Das funktionelle Erklärungsmodell

des Basisverbs keinerlei Einfluß hat. Auf die beiden Verben mißglücken und mißlingen brauchen wir im folgenden nicht weiter einzugehen, weil wir die defektiven Verben glücken und gelingen bereits aus der Untersuchung ausgeklammert haben (s. § Π.5.2.). Wie raten ist auch mißraten ein dreistelliges Verb und mithin nicht Gegenstand der Untersuchung. Aus unseren Nachforschungen gingen nur zwei Verben mit dem Präfix inhervor, die einen adverbalen Dativ regieren, beide Fremdwörter, nämlich imponieren249 und inhärieren. Auf beide Verben wird im Abschnitt über entlehnte Verben - bzw. die Verben, die nach lateinischen (eventuell auch französischen) Mustern entstanden sind - näher eingegangen (§ VI.l.). Viele Verben mit dem Präfix ge-, die in zweistelligen Satzbauplänen den Dativ regieren, gehören zu den obenerwähnten sog. "defektiven Verben" und scheiden demnach aus der Untersuchung aus; es handelt sich im einzelnen um: gebrechen, gebühren, gelingen, geraten, geschehen und geziemen. Nichtdefektive ge-Verben, die einen adverbalen Dativ zu sich nehmen, sind: gehören, gehorchen, gefallen und genügen. Die Verben gehören und gehorchen behandeln wir in ein und demselben Abschnitt, zusammen mit den älteren Verwendungen von hören und horchen in Verbindung mit einem Dativ (§ IV. 16.); gefallen und genügen werden gesondert analysiert (s. § V.16. und § V.13.). Nicht zu dieser Gruppe gehört das Verb gereichen, weil es, ganz wie verhelfen, obligatorisch eine Präpositionalphrase mit zu fordert. Präfixverben mit be-, die einen adverbalen Dativ regieren, sind: begegnen, behagen, bekommen und belieben. Alle diese Verben bilden den Gegenstand gesonderter Einzelanalysen; das dreistellige Verb bedeuten wird dagegen ausgeklammert. Die für unsere Zwecke wichtigste Gruppe untrennbarer Präfixverben, zu der auch solche Verben gehören, die einen adverbalen Dativ zu sich nehmen, bilden die Verben mit dem Präfix ent-. Auf diese Gruppe ist hier etwas ausführlicher einzugehen. Es lassen sich folgende sieben Typen von ent- Verben unterscheiden: 1. Die meisten ent- Verben regieren den Akkusativ, eventuell ergänzt durch ein Präpositionalobjekt, z.B.: entfachen, entfalten, entfristen, enthalten, entlas-

249

lat.

imponere < in-ponere (Assimilation).

Der Gegenstand der Untersuchung

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sen (aus), entmachten, enträtseln, entrunden, entschädigen (ßr), entsetzen, entstauben, enttäuschen, entvölkern, entweihen, entziffern usw.250 2. Die folgenden Verben, die mit dem Präfix ent- anfangen, sind dreiwertig und verlangen sowohl ein akkusativisches Reflexivpronomen wie ein Genitivobjekt, das bei einigen Verben allerdings fakultativ sein kann: entäußern,

enthalten, entheben„ entledigen, entringenv entschlagen, entsinnen, entwehren (veraltet), entwöhnen 3. Statt mit einem akkusativischen Reflexivum kombinieren einige Verben das (fakultative) Genitivobjekt mit einem nichtreflexiven Akkusativobjekt: ent-

hebet^, entkleiden, entleeren, entsetzen. 4. Die ent- Verben mit lediglich einem Genitivobjekt sind: entbehren und entra-

ten. 5. Eine Gruppe von ungefähr 15 dreiwertigen ent-Verben nehmen ein Dativund ein Akkusativobjekt zu sich. Es sind dies: entbieten, entdecken, entfremden, entführen, entgegnen, entgelten, entlehnen (veraltet), entleihen (veral-

tet), entlocken, entnehmen, entreißen, entringenentrücken, entwenden, entwindenx, entziehen,. Der Dativ ist bei diesen Verben syntaktisch vollkommen durchsichtig und bedarf keiner weiteren Erklärung.252 6. Einige wenige Verben verknüpfen das Dativobjekt mit einem akkusativischen Reflexivum, nämlich: enthüllen, entringen3,253 entwindet% und ent-

ziehet^. 7. Eine erstaunlich große Zahl der ent- Verben schließlich nimmt einen adverbalen Dativ zu sich: entfahren, entfallen, entfliegen, entfliehen,254 entfrem-

den, entgleiten, entgehen, entkeimen, entkommen, entlaufen, entquellen, entrinnen, entrollen, entsagen, entschlüpfen, entschweben (veraltet), entschwin250

Zu diesem ersten Typ gehören auch die beiden Verben empfinden und empfangen. Die Affrikata -pf- geht auf -tf- zurück ( < ahd. "intfindan und "intfähan). 251 Eine tiefergestellte Ziffer hinter dem Lexem signalisiert, daß es sich um eine besondere Verwendung des Verbs handelt, neben der in unserer Übersicht mindestens noch eine andere Verwendung aufgenommen wird. 252 Zu diesem fünften Typ gehört auch empfehlen (< °intfehlen). 253 Daß wir drei verschiedene Verwendungen von entringen zu unterscheiden haben, zeigen folgende Beispiele: Sie entrang sich seiner Umarmung (Typ 2, entringen,), Sie konnten ihm ein wichtiges Dokument entringen (Typ 5, entringen2), Ein Seufier entrang sich ihm (Typ 6, entringen3); vgl. DUW, 437, Sp. 2-3. 254 entfleuchen ist eine scherzhafte Variante für entfliehen.

80

Das funktionelle Erklärungsmodell

den (veraltet), entsinken (veraltet), entsprechen, entsprießen, entspringen, entstammen, entsteigen, entströmen, entStürzen, etawachsen, entweichen und entwischen,255 Wir brauchen uns in der vorliegenden Untersuchung lediglich mit den Verben zu beschäftigen, die einen adverbalen Dativ regieren, also mit den Verben unter 7. Diese Verben lassen sich in zwei Gruppen einteilen: a. Die meisten der Verben zeichnen sich bei genauerer Betrachtung durch das gemeinsame Merkmal aus, daß sie erstens von einem Lexem abgeleitet sind, das bereits ein Verb ist, und daß zweitens das Basisverb ein intransitives Verb ist: fähren, fallen, fliegen, fliehen, keimen usw.256 b. Eine kleine zweite Gruppe stellen diejenigen Verben dar, deren Basiswort ein transitives Verb ist, nämlich: entsagen und entsprechen. Den adverbalen Dativ bei den Verben der Gruppe a. zu erklären, ist ein leichtes. Das Präfix ent-, das seit ahd. Zeit - und bereits damals meist als lautlich abgeschwächtes int- - Verben vorangestellt wurde, geht meist auf die Vollform ant- züruck, die sich als Partikel vor einigen Nomen behauptete (vgl. Antwort, Antlitz), zum Teil auch auf in-257 (mit ausgleichendem, analogischem -t-, wie z.B. auch in entgegen < ahd. in-gagan,m mhd. engegen oder entzwei < ahd. in zuei, mhd. enzwei)259. Die Präfigierung der an und für sich intransitiven Verben zu untrennbaren deverbalen Bildungen änderte am intransitiven Stellenwert der Verben überhaupt nichts, und somit war der Akkusativ valenzmäßig ausgeschlossen (vgl. kontrastiv dazu die vielen transitiven Basisverben in der Gruppe 1). Das Objekt, das gegenüber den Basisverben bei den Präfix255

m

237 258 259

In der Gegenwartssprache nicht mehr vorhanden sind die folgenden älteren ent-Verben, die ehemals ebenfalls, zumindest in bestimmten Verwendungen, einen adverbalen Dativ regieren konnten (zwischen Klammern wird jeweils auf die betreffende Spalte in DW, VIII, Neubearbeitung verwiesen): entatmen (1342), entbrechen (1357, defektives Verb, vgl. gebrechen), entfließen (1380), entgelten (1406, selten mit Dativ im Mhd.), entglimmen (1409, selten mit Dativ im Mhd.), entglitschen (1409), enthelfen (1420), entschießen (1479-1480), entschimmern (1480), entschleichen (1482), entstehen (im Sinne von 'mangeln' oder 'widerstehen', 1509-1510), entwerden (im Sinne von 'entgehen', 1527). Vgl. auch DW, III (Erstausgabe), Sp. 489-675. Das Verb entgegnen bildet eine Ausnahme. Weder in diachronischer noch in synchronischer Hinsicht gibt es ein Basiswort *gegnen, das als Lexem der deutschen Sprache existierte. DW, III, Sp. 488 und DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1339. DW, III, Sp. 526 und DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1386. DW, III, Sp. 672 und DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1552.

Analytische Vorgehensweise und Quellen

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verben zu einer Erweiterung des Valenzrahmens führte und das, lokalistisch gesprochen, die Instanz nennt, woraus die im Subjekt genannte Größe hervorgeht oder wogegen sie sich kraft der im Prädikat ausgedrückten Tätigkeit manifestiert (ein Seujzer entfährt einer Brust, der Gefangene entflieht seinen Wärtern, der Erde entsprießt die Nelke, die Sehnsucht entwächst der Liebe), wurde aus einsichtigen Gründen in einem anderen Kasus als dem des üblichen "direkten Objekts" ausgedrückt: Der Akkusativ würde eine völlig ungeeignete Transitivierung des an sich intransitiven Basisverbs implizieren und das Objekt - wie wir sagen: - in eine "kohärente"2*1 Stelle zum Verb bringen.261 Auf Eigentümlichkeiten wie diese werden wir bei der Analyse der Kasusschwankungen bei verschiedenen Verben noch mehrmals zu sprechen kommen. Somit bleiben nur zwei Verben aus der Gruppe 7 übrig, die im weiteren Verlauf der Arbeit gesondert behandelt werden müssen, weil die entsprechenden Basisverben ein Akkusativobjekt regieren können: entsagen und entsprechen (s. §ni.l2. und§IV.15.).

II.6. Analytische Vorgehensweise und Quellen Bei den Analysen jedes einzelnen Verbs werden wir in der Regel immer chronologisch vorgehen, wenn nötig nach einer kurzen Einführung, in der die semantischen und syntaktischen Verwendungsweisen des jeweiligen Verbs in der deutschen Gegenwartssprache kurz vorgestellt werden. Uns geht es in den Einzelanalysen darum, anhand einer Rekonstruktion der oft außerordentlich komplexen sprachgeschichtlichen Entwicklungen eines oder meherer Verben die Gründe dafür sichtbar zu machen, daß der Dativ bei einigen Verben bis auf den heutigen Tag der Kasus des "ersten" Objekts in zweistelligen Satzbauplänen geblieben ist. Dabei gehen wir immer von - möglichst vielen und differenzierten - Belegen aus, deren Datierung bekannt ist. Wo es uns angebracht erscheint, werden wir den Belegen auch die Namen ihrer Urheber hinzufügen, dies um die diachronische Struktur der Analyse transparenter zu machen und

240 261

s. Willems 1997, 196. Der Frage, welche Motive im einzelnen über welchen Obliquus entschieden haben, brauchen wir hier nicht nachzugehen. Wie aus unserer Liste (ent-Verben 1 bis 7) hervorgeht, sind die Verben mit dem Präfix era- aus kasusmorphologischer Sicht besonders komplex. Uns kommt es hier lediglich darauf an, zu zeigen, weshalb die Verben der Gruppe 7 keinen Akkusativ regieren.

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Das funktionelle Erklärungsmodell

damit über die Einzelabschnitte hinaus Tendenzen und Besonderheiten erkennbar werden. Unter den wichtigsten der in den folgenden Kapiteln häufig zitierten Schriftsteller erwähnen wir vor allem: Otfrid von Weißenburg (ca. 790875), Notker Labeo (ca. 950-1022), Hartmann von Aue (ca. 1170-1210/20), Wolfram von Eschenbach (ca. 1170-1220), Walther von der Vogelweide (ca. 1170-1230), Wirnt von Gravenberc (dichtete um 1200), Gottfried von Straßburg (dichtete um 1205-1220), Martin Luther (1483-1546), Hans Sachs (14941576), Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803), Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Christoph Martin Wieland (1733-1813), Johann Gottfried von Herder (1744-1803), Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) und Friedrich von Schiller (1759-1805). Auf die Wiederholung von Zeitangaben bei diesen Autoren werden wir im weiteren Verlauf der Untersuchung verzichten; dasselbe gilt für das Nibelungenlied (um 1200). Ein besonderes Problem stellt die Textüberlieferung dar, auf der unsere Analyse basiert. Die Geschichtlichkeit der Sprache ist für uns selbstverständlich eng mit der Frage verbunden, was in Sprachdenkmälern und anderen historischen Quellen konkret belegt ist und inwiefern die Überlieferung vom konkreten Sprachgebrauch (genauer: von einem spezifischen konkreten Sprachgebrauch, nämlich in erster Linie dem schriftlichen) ein getreues Bild gibt. Wir waren bestrebt, für die Untersuchung von einer möglichst breiten Basis auszugehen, von der man relativ sicher sein kann, daß sie die deutsche Sprache in ihrer geschichtlichen Entwicklung einigermaßen getreu widerspiegelt, d.h. vornehmlich ohne massive Interferenzen mit anderen Sprachen, insbesondere dem Lateinischen. Zwar ist immer, wie bereits angemerkt wurde, zu berücksichtigen, daß unsere historische Rekonstruktion auf dem per άφηίύοηβτη nur spärlichen Belegmaterial beruht, das uns zur Verfügung steht, so daß die Grundlage unserer Untersuchung auch durch einen Zufallsfaktor bestimmt ist. Die Zufälligkeit der Überlieferung aber und die Tatsache, daß keine statistische Begründung möglich ist, können immer nur Hypothesen, die historisch zu wenig abgesichert sind, in ihre Schranken verweisen. Eine historische Kasusanalyse, wie wir sie mit der vorliegenden Arbeit in Angriff nehmen, ist deshalb noch kein Ding der Unmöglichkeit. Das Belegmaterial, das die Grundlage der Untersuchung bildet, wurde aufgrund verschiedener, sowohl synchronisch wie diachronisch ausgerichteter lexikographischer Werke zusammengetragen. Was das Gegenwartsdeutsch betrifft, wird vorwiegend von drei Lexiken ausgegangen: dem Wörterbuch der deut-

Analytische Vorgehensweise und Quellen

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sehen Gegenwartssprache von R. Klappenbach und W. Steinitz (4. Auflage, 6 Bände, abgekürzt WDG), Duden - Deutsches Universalwörterbuch (3. Auflage, abgekürzt DUW) sowie Duden - Das große Wörterbuch der Deutschen Sprache (2. Auflage, 8 Bände, abgekürzt GWbdS). Fehlen bei einem Beispielsatz spezifische bibliographische Angaben, stammt das Beispiel normalerweise von den Verfassern selbst. Solche Beispielsätze beschränken sich ausnahmslos auf das Neuhochdeutsche und dienen in erster Linie dem Zweck, auf möglichst anschauliche Weise (z.B. anhand von Minimalpaaren) bestimmte semantische Merkmale oder Oppositionen zu verdeutlichen. Im Hinblick auf die ältere Sprache nimmt das Deutsche Wörterbuch (abgekürzt DW), das von den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm begonnen wurde, unter den Quellen eine wichtige Stellung ein. Nicht nur in der Zahl der Belege übertrifft das Werk nach wie vor alles, was bisher erschienen ist, und bildet es eine erstklassige Fundgrube. Dieses einzigartige Werk in der deutschsprachigen Lexikographie ist darüber hinaus das einzige, das aus der ganzen Geschichte eines Verbs Belege anführt. Außerdem wird nirgends in solch einem Umfang und in solch einer Gründlichkeit auf unterschiedliche historische und aktuelle Verwendungsmöglichkeiten der Verben eingegangen wie im Deutschen Wörterbuch. Wo möglich werden auch die bereits erschienenen Bände und Lieferungen der 1965 begonnenen "Neubearbeitung" des Deutschen Wörterbuchs benutzt.262 Dies geschieht jedoch niemals ohne Berücksichtigung der Erstfassung, da diese meist andere Belege enthält (für die Neubearbeitung wurde eine völlig neue Materialbasis geschaffen) und in Sachen Klassifizierung und Erklärung des Materials oft nicht hinter der Neubearbeitung zurücksteht; nicht selten scheint eher das Gegenteil zuzutreffen.263 Wie unentbehrlich das Deutsche Wörterbuch für die vorliegende Untersuchung und deren Hauptthesen auch ist, wie reichlich wir aus diesem ehrwürdigen Wörterbuch auch geschöpft haben - in der Beschreibung der Verben mit adverbalem Dativ sind wir den Einteilungen und Gliederungen dieses Werkes dennoch nicht gefolgt. Das Deutsche Wörterbuch baut die Artikel zu den jeweiligen Lemmata auf der Semantik des Lexems auf, und bei Verben spielen die syntaktischen Charakteristika sowie die Valenz (im weiteren Sinn) eine nur untergeordnete Rolle. Im vorliegenden Buch möchten wir dagegen den engen Zu262

243

Bei Abschluß der vorliegenden Albeit waren nur die neubearbeiteten Stichwörter Α bis Anschlag und D bis Erregung verfügbar. Wenn neben dem Kürzel DW im Verweis die Angabe "Neubearbeitung" fehlt, wird immer auf die Erstfassung des Deutschen Wörterbuchs Bezug genommen.

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Das funktionelle Erklärungsmodell

sammenhang zwischen Verbsemantik, Verbvalenz, Kasussyntax und Kasusmorphologie in den Vordergrund rücken. Auf diese Weise hoffen wir, sowohl für die grammatische Bedeutung des Oberflächenkasus (Dativ) als auch für diejenige des Verbs (adverbaler Dativ) eine adäquate Erklärung geben zu können. Um die Vergleichsbasis nicht einseitig zu gestalten, greifen wir immer auf andere Wörterbücher zurück, wo dies angebracht oder notwendig erscheint. Da das Deutsche Wörterbuch sich vor allem auf die neuhochdeutsche Schriftsprache konzentriert - das Neuhochdeutsche setzt für J. Grimm bekanntlich mit dem Anfang des Buchdrucks um etwa 1450 ein264 genügt bei vielen Verben für eine hinreichende Materialsammlung dieses Wörterbuch allein nicht. Bei der Suche nach mittelhochdeutschen Belegen wird ausgiebig von Matthias Lexers Mittelhochdeutschem Handwörterbuch (abgekürzt MH) sowie vom Mittelhochdeutschen Wörterbuch (abgekürzt BMZ) von G. F. Benecke, W. Müller und F. Zarncke Gebrauch gemacht. Die Klage, daß die Erschließung des mhd. Wortschatzes mittels dieser zwei jeweils nur dreibändigen und bereits mehr als 100 Jahre alten Wörterbücher noch vieles zu wünschen übrig läßt und sich, im Vergleich etwa zum mittelniederländischen Wortschatz im neunbändigen Middelnederlandsch Woordenboek von J. Verdam, E. Verwijs und F. A. Stoett (1882-1929) in einer wenig erfreulichen Lage befindet, ist längst zu einem Leitmotiv in der Forschungsliteratur zum Mittelhochdeutschen geworden. Zusätzlich zu dem in den beiden mhd. Wörterbüchern angebotenen Material stammen viele Belege aus einigen der bekanntesten mittelhochdeutschen Sprachdenkmäler, vor allem aus den Schriften Hartmanns von Aue, Wolframs von Eschenbach, Gottfrieds von Straßburg, Wirnts von Gravenberc sowie aus dem Nibelungenlied, Lohengrin, Kudrun usw.265 Wenn zwischen den Wörterbüchern und den Primärtexten eine Wahl möglich war, wurde in der Regel den letzteren der Vorzug gegeben. Die Primärtexte wurden allerdings nicht systematisch auf Belegmaterial hin analysiert. Nur in einzelnen Fällen sind Glossare und Wortregister von v.a. mhd. Textausgaben zu Rate gezogen worden, um zusätzliche Belege oder anschaulichere Beispielsätze geben zu können. Die Belegstellen aus den lexikographischen Werken wurden in der Regel im Primärtext nachgeschla264

265

Sowohl die Erstfassung (DW, I, XVIII-XIX) als die neue Fassung (DW, I, Neubearbeitung, Vorwort, 3) berücksichtigen diesen sprachgeschichtlich ziemlich willkürlichen Terminus. Auch hierbei leisten MH und BMZ allerdings unschätzbare Dienste, und zwar als partielle und indirekte Glossare zu ansonsten schwer zugänglichen Autoren, wie z.B. Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg u.a.

Analytische Vorgehensweise und Quellen

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gen, um Textausschnitte zu überprüfen oder zu erweitern. Nur wenn das einschlägige Nachschlagewerk einleuchtende Textausschnitte bietet oder die Primärquelle uns nicht zugänglich war (was namentlich für einige der in Lexers Mittelhochdeutschem Handwörterbuch sowie im Mittelhochdeutschen Wörterbuch benutzten alten Textausgaben der Fall ist), wurde direkt aus dem Nachschlagewerk selbst zitiert. Für die neuhochdeutschen Belege gilt generell, daß wir auf weiteres Nachschlagen in Primärtexten verzichtet haben. Die althochdeutschen Belege stammen vorzugsweise aus dem Evangelienbuch des Otfrid von Weißenburg und aus dem Schrifttum des Notker Labeo und seiner Sankt-Gallener Schule (vor allem aus dem Text nach Boethius' De consolationephilosophiae sowie aus den Psalmen). Andere ahd. Texte wurden nur ausnahmsweise, und auch dann noch mit der größten Zurückhaltung, herangezogen. Bekanntlich handelt es sich dabei meist um Übersetzungen, die der lateinischen Vorlage eng verhaftet sind, wodurch sie insbesondere in bezug auf syntaktische und morphologische Merkmale wie Verbrektion und Kasusgebrauch oft überhaupt keine Beweiskraft besitzen. Das gilt z.B. - um nur ein einziges Beispiel zu nennen - für die Altalemannische Benediktinerregel. Gelegentlich handelt es sich um deutsche Originaltexte, die jedoch wegen ihres zu geringen Umfangs zumindest für die Zwecke der vorliegenden Arbeit so gut wie niemals interessante Belege aufweisen, was z.B. auf das Hildebrandslied zutrifft. Zwar sind auch Otfrids Evangelienbuch und Notkers Schriften strenggenommen Übersetzungen, dennoch handelt es sich in beiden Fällen um Quellen ganz anderer Art. Otfrids Werk ist eine im Vergleich zur lateinischen Vorlage relativ eigenständige Paraphrase, während Notker dem Lateinischen nicht nur viel weniger verpflichtet ist, als dies bis dahin noch üblich war, sondern seinen deutschen Text auch als Kommentar zum lateinischen Original angelegt hat (allerdings hat Notker auch für diese Kommentare letztlich lateinisch verfaßte Werke zu Rate gezogen).266 Der Wortschatz unserer beiden Hauptquellen zum Althochdeutschen (Otfrid und Notker) ist ausführlich beschrieben, vollständig erfaßt und dank einiger vorzüglicher Glossare leicht zugänglich. Für Otfrid steht das Glossar, das als zweiter Band der Piperschen Ausgabe beigefügt ist, zur Verfügung; im Hinblick auf die Sprache Notkers wird die Bedeutung sowie eine erste Skizze der Valenz eines Verbs durch das Notker-Glossar von Edward Sehrt (1962) ver266

vgl. dazu die Bände und Beilagen Notker latinus in der Ausgabe der Werke Notkers, die von James C. King und Petrus W. Tax besorgt wurde, sowie Sonderegger 1997, 141ff.

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Das funktionelle Erklärungsmodell

mittelt; sämtliche Belegstellen sind darüber hinaus im Notker-Wortschatz von E. Sehrt und Wolfram Legner (1955) erfaßt. Die beiden Glossare zu Notker gehen von der Textausgabe Paul Pipers aus, die noch aus dem vorigen Jahrhundert stammt (1882-1895). Teils aus praktischen Gründen verwenden auch wir die Ausgabe Pipers an Stelle der moderneren Ausgabe von James C. King und Petrus W. Tax, zumal die Verweisung auf die Ausgabe Pipers (mit Angabe von Bandnummer, Seite und Zeile) bei Notker-Zitaten in der Forschung eine gewisse Tradition erworben hat und die Belege vom Leser so leichter überprüft werden können.267 Außerdem werden wir uns nicht mit Problemen und Fragen zu handschriftlichen Varianten und Einzelheiten beschäftigen, und dies ist ein weiterer Grund, weshalb für die Wiedergabe der einschlägigen Verben in ihrem textuellen und syntaktischen Kotext die Pipersche Ausgabe genügt. Die Ausgabe von King und Tax wurde lediglich im Zweifelsfall herangezogen. Einige andere lexikographische Werke, die sich nur unter bestimmten Umständen als brauchbar erwiesen, ergänzen gelegentlich den auf dem Deutschen Wörterbuch, den mittelhochdeutschen Wörterbüchern von M. Lexer und Benecke-Müller-Zarncke sowie Notker und Otfrid basierenden Grundbestand historischer Belege. Zusätzliche mhd. Belege liefert manchmal das Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache (abgekürzt WMU, zur Zeit von A bis mordaere fertiggestellt). Für das Frühneuhochdeutsche konnte ab und zu das zeitgenössische Wörterbuch von J. Maaler, Die Teütsch spraach (1561), und das Wörterbuch zu Dr. Martin Luthers Deutschen Schriften von Ph. Dietz benutzt werden (nur von Α bis Hals, nicht fortgeführt). Für jüngere Sprachperioden beziehen wir uns vor allem auf Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Deutscher Sprachschatz von K. Stieler (1691), das Vollständige Deutsche Wörter-Buch von Chr. E. Steinbach (1734), J. Chr. Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1793ff), J. E. Campes Wörterbuch der Deutschen Sprache (1807ff), D. Sanders' Wörterbuch der Deutschen Sprache (1876) sowie M. Heynes Deutsches Wörterbuch (1905ff). Das Deutsche Rechtswörterbuch (Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache) von R. Schröder und E. Freiherr von Künßberg (abgekürzt RWB) liefert für Verben, die in der juristischen Sphäre üblich sind, wertvolles zusätzliches Material (von Α bis Kiesbrot). Für Fremdwörter stand das reichlich mit Belegen versehene Deutsche Fremdwörterbuch von H. Schulz und O. Basler (abgekürzt DF) zur Verfügung. Weiter wurden auch das Goethe-Wörter267

Die Überprüfung ist freilich auch in der Ausgabe von King und Tax möglich, da darin am Seitenrand die Seitenzahlen der Piperschen Ausgabe vermerkt sind.

Analytische Vorgehensweise und Quellen

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buch (abgekürzt GWb, zur Zeit bis gehaltvoll fertiggestellt), der ältere, sehr viel knappere, dafür aber vollendete Goethe-Wortschatz von Paul Fischer (1929) sowie das Fremdwörterbuch von J. Kehrein soviel wie möglich berücksichtigt. Nicht systematisch zu Rate gezogene Wörterbücher oder Quellen werden immer eigens genannt. Orthographische Eigentümlichkeiten in den verschiedenen ahd. Quellen, die das Verständnis nicht beeinträchtigen, lassen wir unverändert. Nur wenn ein Wort als Lexem zitiert wird, haben wir Normalisierungen vorgenommen, damit die Orthographie eines einzigen Lexems nicht schwankt und nicht der Eindruck entsteht, es könne sich um zwei oder mehrere unterschiedliche Lexeme handeln. Wie in der Forschung üblich ist, orientiert sich die Normalisierung an dem bekannten "normalalthochdeutschen" Lautstand im Tatian. Im großen ganzen beschränkt sich die Normalisierung auf Einzelheiten im Bereich des Vokalismus, nämlich auf die Einsetzung eines abgeschwächten -i- in Präfixen wie gi-,fir-, int-, für die in den originalen ahd. Quellen z.B. auch die Schreibweisen ga-,far-, ant-lunt- vorkommen, sowie auf den Diphthong -uo- (für germ. -Ö-), der bei Otfrid als -ua- erscheint. Was den Konsonantismus betrifft, entspricht der Stand der hochdeutschen Lautverschiebung in der 7ariamibersetzung nahezu dem Zustand der Gegenwartssprache. Zu allen ahd. und mhd. Textausschnitten geben wir im Prinzip eine Übersetzung ins Neuhochdeutsche. Nur bei einfachen Beispielsätzen oder bei Belegen, die keine interpretatorischen Schwierigkeiten bereiten, haben wir auf eine Übersetzung verzichtet. Die Übersetzungen beanspruchen keine literarische Qualität, sondern beschränken sich auf eine möglichst wörtliche, aber sinngemäße Wiedergabe der Sätze, die das Verständnis der Belege erleichtern soll. Wichtiges Hilfsmittel bei den Übersetzungen der ahd. und mhd. Belege waren das Althochdeutsche Wörterbuch von R. Schützeichel, das Mittelhochdeutsche Handwörterbuch von M. Lexer sowie das Mittelhochdeutsche Wörterbuch von G. F. Benecke, W. Müller und F. Zarncke. Die Übersetzungen der OtfridBelege haben wir darüber hinaus anhand der Übersetzung des gesamten Evangelienbuches durch Johann Kelle (1870) überprüft, die zwar präzis, oft allerdings weniger wörtlich ist, als wir es uns zum Ziel setzen. Die Textausschnitte aus Notkers Werken wurden selbstverständlich nach dem deutschen Text und nicht nach der lateinischen Vorlage übersetzt. Der gelegentlich hinzugefügte lateinische Passus in den Fußnoten dient lediglich der zusätzlichen Verdeutlichung desjenigen, was der ahd. Autor gemeint hat. Der geübte Mediävist und der Experte der historischen Germanistik mögen die Übersetzungen mit Nach-

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Das funktionelle Erklärungsmodell

sieht beurteilen und bedenken, daß sich die Untersuchung auch an Sprachwissenschaftler richtet, die sich in ihrer Arbeit vor allem auf die Gegenwartssprache konzentrieren und mit den alten Sprachperioden des Deutschen womöglich weniger vertraut sind.

Zweiter Teil: Fallanalysen

III. GRUPPE A :

Der syntagmatische Dativ

III.O.

Allgemeine Charakterisierung der Verben der G R U P P E A

Die erste Gruppe Verben, die wir gemäß dem dargelegten syntagmatischparadigmatischen Ansatz analysieren, weist in der Begründung des adverbalen Dativs eine Vorrangstellung der syntagmatischen Komponente auf, die wir als ein diakritisches Motiv erklären. Bei der Deutung des zeitgenössischen adverbalen Dativs in Verbindung mit Verben wie kündigen, opfern, telefonieren, huldigen usw. gehen wir von dreistelligen Valenzrahmen aus. Die Verben der GRUPPE Α weisen im Laufe ihrer Geschichte meistens Belege für zweistellige und dreistellige, nur gelegentlich auch für einstellige Verwendungen auf. Der idiomatische Status des adverbalen Dativs ist je nach Verb unterschiedlich, wie es denn überhaupt individuell bedingt ist, ob bis in die Gegenwartssprache die Möglichkeit zu ein- und mehrstelligen Verwendungen des betreffenden Verbs bewahrt geblieben ist oder nicht, kündigen und opfern z.B. kommen auch heute noch in allen diesen Verwendungen vor, während das syntaktisch dennoch nahe verwandte huldigen sich nur als zweiwertiges Verb durchgesetzt hat. Bei einigen Verben der GRUPPE Α ist der syntagmatische Grund der Dativzuweisung das Ergebnis einer regelrechten Valenzreduktion.1 Bei den meisten Verben jedoch ist der syntaktische und satzsemantische Grund für den Dativ insofern weniger radikal, als die zweistellige Verwendung nicht die einzig mögliche ist. Prototypische Beispiele, an denen sich das funktional-diakritische Prinzip der Kasusunterscheidung besonders anschaulich erläutern läßt, sind Verben wie kündigen, opfern, telefonieren und huldigen, zumal dabei auch die diskutierte Unterscheidung zwischen "Sprachwissen" und "Weltwissen" eine wichtige Rolle spielt. Mit der Analyse dieser Verben wollen wir denn auch anfangen. 1

oder " Valenzminderung

Sucharowski 1994, 47.

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Der syntagmatische Dativ

III.l. kündigen Das nhd. Verb kündigen ist eine Verkürzung von aufkündigen. Aufkündigen ist ursprünglich ein Terminus aus dem Schuldrecht, dessen Geschichte bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht. In seinem Vorkommen wechselt dieses Verb im Frühnhd. mit aufkünden ab, das heute der gehobenen Sprache angehört, jedoch früher eine geläufige Variante war.2 Man konnte einerseits Kapital und Gelder aufkünd(ig)en, d.h. man forderte das geliehene Geld zurück, um das Schuldverhältnis (den Schuldvertrag) zu beenden, z.B.: (1)

nach briefrechten das capitall aufzukünden (1523)3.

Andererseits konnten auch sonstige Vereinbarungen oder Verträge "aufgekündigt", d.h. aufgelöst werden, z.B. der Mietvertrag einer Wohnung: (2) (3)

das haus auffänden (1594)4 ein jeder richter alhir, wan er sein gericht auffändet (16./17. Jh.).5

Erst später wurde das Präfix von aufkündigen ausgelassen und wurde allmählich die Verkürzung kündigen geläufig, die zuerst im Wörterbuch der deutschen Sprache von J. H. Campe verzeichnet ist.6 Dieser morphologische Wechsel war allerdings erst möglich, als das alte präfixlose Verb kündigen in der Bedeutung 'kund tun' (so im Mhd. und Frühnhd.) aus der Sprache verschwunden und u.a. von verkündigen und kundgeben abgelöst worden war. Diese Verben hatten mittlerweile den Inhalt von kündigen 'kundtun' vollständig übernommen. Diese Lage trat etwa am Ende des 18. Jahrhunderts ein. Zwar versuchten einige Dichter im 19. Jh. kündigen in der alten Bedeutung wieder neuzubeleben7, aber letzten Endes setzte sich kündigen im 20. Jh. nur noch in der heutigen Bedeutung durch. Kündigen und dessen ältere Varianten und Vorgänger aufkünden und aufkündigen sind in ihrer ursprünglichen Verwendung dem Satzbauplan nach zweistellig: kündigen forderte ein Subjekt und ein Akkusativobjekt. Es hat aber seit ältester Zeit immer die Möglichkeit gegeben, ein Dativobjekt als 2 3 4 5 6 7

Die verkürzte Form künden ist bis heute im Schweizerdeutschen üblich geblieben. RWB, I, Sp. 887. a.a.O. FWB, II, Sp. 512. Campe 1807ff, II, 1085, Sp. 1. So z.B. Goethe: Ängstlichkeit, Verdacht, Verdrießlichkeit kündigt sich in allen Zügen, zitiert aus Fischer 1929, 391, Sp. 2.

kündigen

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freie Angabe hinzuzufügen, um die Person, mit der der Vertrag geschlossen war, zu bezeichnen, wie z.B. in: (4)

Es stehet in des Grundherren Macht nit, dem Vogtherren eine Erbvogtey aujzukünden (1550).8

Der Gebrauch des Dativobjekts in Satz (4) entspricht einem grundlegenden Satzmuster im Deutschen: Zahlreiche Verben mit obligatorischem Akkusativobjekt können in ihren Satzbauplan zusätzlich noch die Bezeichnung der Instanz aufnehmen, der die Verbalhandlung gilt. Für die Angabe des zweiten Objekts steht im Deutschen nach dem Muster der dreistelligen Verben vom Typ geben (jmd. gibt jmdm. etwas) der Dativ zur Verfügung (regional oder umgangssprachlich ist auch eine Präpositionalkonstruktion mit für möglich), vgl. z.B.: (5) (6)

Sie bauten ihnen ein Haus Hans schenkt ihm den Wein ein (s. § Π.2.).

Ahnliches trifft auf Sätze mit dem Verb kündigen zu. Das ursprünglich fakultative Dativobjekt, wie z.B. in (4) dem Vogtherren, kann seit dem 19. Jh. aber auch als einzige Ergänzung zu aufkänd(ig)en bzw. kündigen gebraucht werden. Neben der herkömmlichen Verwendung mit einem Akkusativ in z.B. (7) und (8) begegnet man demnach Beispielen ohne Akkusativ wie (9) und (10): (7) (8) (9) (10)

Die Bank kündigt morgen alle Hypotheken Max hat mir die Freundschaft gekündigt Man hat meinem Vater gekündigt Die Wirtin hat ihm gekündigt.

Die Sätze (9) und (10) sind Beispiele dafür, daß kündigen statt in dreistelligen wieder in zweistelligen Konstruktionen gebraucht wird. Im Gegensatz zu den früheren zweistelligen Verwendungen regiert das Verb in diesen Sätzen jedoch kein Akkusativobjekt, sondern statt dessen einen adverbalen Dativ. Dies ist das Ergebnis einer diachronischen Entwicklung, deren Etappen man sich - freilich schematisch und vereinfachend - wie folgt vorzustellen hat:

8

FWB, II, Sp. 511.

Der syntagmatische Dativ

94 a. b. C[. c2. c3. c4.

zweiwertiges Verb mit obligatorischem Akkusativobjekt, dreistellige Verwendung mit obligatorischem Akkusativobjekt und fakultativem Dativobjekt, dreistellige Verwendung mit obligatorischem Akkusativobjekt und fakultativem Dativobjekt, dreistellige Verwendung mit obligatorischem Dativobjekt und fakultativem Akkusativobjekt, zweistellige Verwendung mit obligatorischem Dativobjekt, zweistellige Verwendung mit obligatorischem Akkusativobjekt.

Hinzu kam dann später noch: d.

einstelliges Verb (mit fakultativem Akkusativobjekt und fakultativem Dativobjekt).

Beim absoluten Gebrauch von kündigen in Sätzen wie (11) Ich habe (schriftlich) bei der Firma gekündigt9 (12) Er will zum 1. April kündigen10 ist das Verb in der Bedeutung 'seinen Vertrag fiir beendet erklären' idiomatisiert." Zwischen kündigen in (7) und (8) auf der einen Seite und in (9) und (10) auf der anderen Seite gibt es mithin einen wesentlichen syntaktischen Unterschied, weil die Leerstelle des Gegenstandes der Kündigung in (9) und (10) unbesetzt bleibt. Wie hängt ein solcher Unterschied nun mit der Bedeutung des Verbs kündigen zusammen? Kündigen bezeichnet in (9) und (10) nicht mehr die Kündigung oder das Auflösen eines beliebigen Etwas, z.B. einer Hypothek, einer Freundschaft, eines Vertrags usw. Vielmehr findet eine satzsemantische Verengung der allgemeinen Verbsemantik statt, wodurch nur noch die Kündigung eines Vertrags gemeint ist, d.h. eines rechtsgültig geschlossenen Verhältnisses oder einer in der Regel schriftlich festgelegten Vereinbarung. Jedoch halten wir es für unangebracht, wie beispielsweise die Duden-Wörterbücher zwischen den folgenden Bedeutungen zu unterscheiden:

9

DUW, 910, Sp. 2. a.a.O. " vgl. den frühesten von uns gefundenen Beleg in Heyne 1905f, II, Sp. 509: ich habe heute gekündet.

10

kündigen

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'a) eine verträgliche Vereinbarung', 'b) ein Mietverhältnis' und 'c) ein Arbeits- oder Dienstverhältnis' 'für beendet erklären'.12 Solche Unterscheidungen lassen Ko- und Kontext unberücksichtigt und implizieren eine unplausible Bedeutungsaufspaltung einer durchaus homogenen Verbbedeutung. Einen Grund für die Annahme, daß das Verb kündigen polysem sei und bald 'den Mietvertrag als beendet erklären', bald 'entlassen' bedeute, sehen wir nicht. Das heißt im Klartext, daß kündigen etwa im Beispielsatz Meine Wirtin hat mir gekündigt nicht, wie Duden meint, 'das Mietverhältnis für beendet erklären' bedeutet, sondern einfach 'das Verhältnis für beendet erklären'. Erst das Nomen meine Wirtin und die gesamte Redesituation spezifizieren, um welchen Vertrag es sich dabei handelt. Dieselbe - im Hinblick auf welchen Typ von Vertrag "unbestimmte" - Systembedeutung setzen wir auch im Beispielsatz Seinem Vater war gekündigt worden an, in dem kündigen sich nach dem Duden auf das 'Arbeits-, Dienstverhältnis eines Mitarbeiters' bezieht. Solche Paraphrasen berücksichtigen nicht die sprachliche sowie situationell-pragmatische "Umgebung" des Verbs und vermengen die verbale Systembedeutung mit der aktuellen Redebedeutung des Verbs. Daß sich das Verb kündigen in Sätzen wie (9) und (10) auf ein Vertragsverhältnis zwischen Vertragspartnern bezieht - und zwar in der Regel auf ein 'Dienstverhältnis', wozu wir außer dem Arbeitsvertrag auch den Mietvertrag rechnen - steht außer Zweifel.13 Anzunehmen ist, daß sich in der Verwendungsgeschichte von kündigen mit Dativrektion allmählich ein Gebrauch herauskristallisiert hat, der zu einer selbständigen Bedeutungsvariante des Verbs wurde. Um diese Entwicklung richtig beschreiben zu können, ist es jedoch gerade erforderlich, daß die eigentliche Verbsemantik nicht mit Inhalten verwechselt wird, die allenfalls die Satzsemantik betreffen. Die Erscheinung, daß die Verbbedeutung sich "verengt", d.h. also an semantischer Allgemeinheit verliert und inhaltlich spezifischer wird, wenn eine Ergänzung aus dem Satzbauplan gestrichen wird, ist keine Seltenheit. (Die Bedeutungsspezifizierung, der die Bedeutungsverallgemeinerung gegenübersteht, ist auch in anderen sprachlichen Bereichen bekanntlich eine übliche Erscheinung.) Die verbale Bedeutungsspezifizierung haben bereits viele Sprachwissenschaftler an verschiedenen Beispielen veranschaulicht, u.a. 12 13

vgl. DUW, 910, Sp. 2. vgl. WDG, III, 2260, Sp. 1.

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Der syntagmatische Dativ

Hans Jürgen Heringer und Thomas Krisch im Hinblick auf das Verb darben.1* Ursprünglich, z.B. im Mhd., war darben zweiwertig und bedeutete einfach 'entbehren'. Das Subjekt bezeichnete die Instanz, die entbehrt, und dasjenige, was entbehrt wird, erschien als Genitiv- und später auch als Akkusativobjekt. Erst im 16. Jh. erscheint die Verwendung von darben mit lediglich einem Subjekt und setzt sich die semantische Variante 'Nahrung entbehren' unilexikalisch durch. Diese Variante ist seit dem 19. Jh. die einzig gültige. Wo ehemals eine nahezu unbegrenzte Zahl von Substantiven und Substantivgruppen an die Stelle des Genitiv- oder Akkusativobjekts treten konnte, ist seitdem die Bedeutung einer ganz spezifischen Klasse von Substantiven wie Nahrung, Essen, Lebensmittel und noch einiger anderer, größtenteils bedeutungsverwandter Substantive der Bedeutung des Verbs einverleibt worden. Darben ist heute intransitiv und kann unter keiner Bedingung noch ein Akkusativobjekt regieren. Das Beispiel darben zeigt sehr anschaulich das enge Verhältnis zwischen der Bedeutung des Verbs, der Entfaltung oder Einschränkung von Leerstellen und der syntaktisch-semantischen Rolle von "Ergänzungen" (Aktanten) und "Angaben" (Zirkumstanten) im geschichtlichen Prozeß des Sprachwandels.15 Eine ähnliche Valenzreduktion mit Verengung der Verbsemantik ist, wenn auch weniger radikal, ebenfalls bei kündigen eingetreten. Ein erster Unterschied besteht darin, daß - wie gezeigt wurde - erst der Ko- oder Kontext (oder auch die lexematische Bedeutung des Subjekts und/oder des Dativobjekts) darüber entscheiden, ob es im einzelnen der Mietvertrag, der Arbeitsvertrag oder sonst ein Dienstvertrag ist, der im Syntagma jmd. kündigt jmdm. beendet wird; vgl. den letztlich durch das "Weltwissen" bedingten Unterschied zwischen: (13) Meine Hauswirtin hat nur gestern gekündigt (14) Sie kündigten in den kommenden vier Jahren tarnenden Arbeitnehmern. Das Verb kündigen unterscheidet sich ferner dahingehend vom Beispiel darben, daß es nach wie vor als ein-, zwei- oder dreistelliges Verb gebraucht werden kann und die unterschiedliche "Stelligkeit" des Verbs zugleich über den konkreten Beitrag des Verbs zum Textsinn entscheidet. Es gilt zu unterscheiden zwischen: 14 15

Heringer 1968, 453; Krisch 1982, 216f; vgl. auch Heringer 1967, 16. Andere Beispiele, die hier genannt werden können, sind trinken (vgl. Er trinkt gelegentlich Wasser und Er trinkt), spielen usw.

kündigen

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- 'einen nicht präzisierten Vertrag füir beendet erklären' (einstellig); - 'eine spezifische, eigens genannte Vereinbarung (Verhältnis, Vertrag usw.) für beendet erklären' (zweistellig, Akkusativ der Sache) bzw. 'einer ausdrücklich genannten Person einen rechtsgültigen, weiter nicht präzisierten Vertrag für beendet erklären' (zweistellig, Dativ der Person); - 'einer ausdrücklich genannten Person eine eigens genannte Vereinbarung (Verhältnis, Vertrag usw.) für beendet erklären' (dreistellig, Akkusativ der Sache + Dativ der Person). Die bisherige Analyse legt den Schluß nahe, daß der Dativ bei kündigen in Sätzen wie (13) und (14) ein versteinerter Kasus ist, der ehemals syntagmatisch fundiert war. Seine Begründung findet dieser Dativ in der zum Teil älteren, aber im Prinzip immer noch produktiven dreistelligen Verwendung des Verbs, wobei neben einem Subjekt im Nominativ und einem Dativobjekt außerdem ein (fakultatives) Akkusativobjekt ausgedrückt wird, z.B.: (15) Meine Hauswirtin hat mir gestern den Mietvertrag gekündigt (16) Sie kündigten in den kommenden vier Jahren tausenden Arbeitnehmern den Arbeitsvertrag. Selbstverständlich haben die Dativobjekte mir in (13) und (15) und tausenden Arbeitnehmern in (14) und (16) jeweils dieselbe syntaktische Funktion. Wir sagten in der Einführung (§ I.I.), daß der adverbale Dativ - d.h. also der Dativ ohne paralleles Akkusativobjekt - auf den ersten Blick kein Dativ des indirekten Objekts zu sein scheint. Für die Sätze (13) und (14) scheint diese Aussage zunächst ohne weiteres gültig zu sein. Paradox wird sie indes, wenn man außerdem die Sätze (15) und (16) heranzieht, weil darin die Dativobjekte sehr wohl als indirekte Objekte erkennbar sind. Nun wäre es aber höchst unplausibel, dem Dativ in (13) bzw. (14) eine andere grammatisch-syntaktische Bedeutung zuzusprechen als in (15) bzw. (16), nur weil in den beiden letzten Sätzen zusätzlich jeweils ein Akkusativobjekt ausgedrückt ist. Es wäre unverständlich, wollte man die Dativobjekte in (13) und (14) als "direkte Objekte" und diejenigen in (15) und (16) als "indirekte Objekte" bezeichnen. Es gibt im wesentlichen zwei Wege, die aus der Schwierigkeit, welcher nun der syntaktische Status des adverbalen Dativs bei kündigen ist, hinausführen können.

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Der syntagmatische Dativ

Man kann die Behauptung aufstellen, daß in (13) und (14) einfach Ellipsen vorliegen. Gegenstand der Ellipsen wären dann z.B. die "direkten Objekte" den Mietvertrag und den Arbeitsvertrag, die in (15) und (16) ausdrücklich genannt werden. In diesem Fall wären mir und tarnenden Arbeitnehmern in (13) und (14) tatsächlich als "indirekte Objekte" zu betrachten. Gegen eine solche Erklärung läßt sich allerdings einwenden, daß sie dem adverbalen Dativ bei kündigen als Element der lexikalisierten Wertigkeit des Verbs nicht gerecht wird. Das Fehlen eines "Akkusativs der Sache" ist bei kündigen keineswegs eine "kontextuell gebundene" Tilgung eines Satzglieds16, sondern eine systematische Möglichkeit des Verbs, die es z.B. nicht bei klassischen dreiwertigen Verben wie geben, schenken, mitteilen usw. gibt. Solche Verben weisen immer auch ein Satzglied im Akkusativ auf, wenn sie den Dativ regieren (das Umgekehrte gilt nicht), vgl.: (17) Er gibt ihnen etwas (18) Er gibt etwas, aber: (18') *Er gibt ihnen. Wenn es tatsächlich auf einer nur oberflächlichen Analyse beruht, zu sagen, dem adverbalen Dativ bei kündigen liege eine Ellipse zugrunde, dann muß logisch geschlußfolgert werden, daß mir und tausenden Arbeitnehmern in (13) und (14) weder "direkte Objekte" noch "indirekte Objekte" sind. Das impliziert, daß der adverbale Dativ in (13) und (14) das "Objekt" des Verbs kündigen jeweils als ein "Objekt tout court" markiert, und zwar durch einen Kasus, der über den Unterschied zwischen direktem und indirektem Objekt an sich nichts aussagt. Das Besondere am Valenzrahmen von kündigen ist dann aber, daß bei diesem Verb der Dativ den Unterschied zwischen direktem und indirektem Objekt potentiell in sich zu enthalten scheint. Vergleichend kann hier auf jene bekannte Tatsache im lexikalischen Bereich hingewesen werden, daß z.B. in Das Fest dauerte drei Tage das Lexem Tag auch die Bedeutung des Lexems Nacht einschließt ("Neutralisierung"), obwohl distributioneile Testverfahren zeigen, daß die beiden Lexeme in anderen Ko-/Kontexten Antonyme sind.17 Transponiert man diese lexikalische 16 17

Simmler 1997, 199-200. Zur Ellipse als "Textkategorie" vgl. auch Coseriu 31994, 20. s. Coseriu 1970, 46.

kündigen

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Eigentümlichkeit auf den syntaktischen Bereich mit seiner entsprechenden grammatischen Bedeutung, wird sofort verständlich, weshalb bei kündigen nicht der Akkusativ als der prototypische Objektkasus, sondern der Dativ der unmarkierte Kasus ist. Der Dativ setzt in der Regel (d.h. im dreistelligen Satzbauplan) den Akkusativ voraus, während das Umgekehrte nicht gilt (der zweistellige Satzbauplan ist nicht generell zu einem dreistelligen ausbaufähig). Verwirft man die Hypothese, die besagt, daß der adverbale Dativ bei kündigen einfach auf einer Ellipse beruht, und analysiert man den adverbalen Dativ so, daß dem Kasus in zweistelligen Konstruktionen eine spezifische "Unbestimmtheit" eignet, dann muß unsere erste Beobachtung präzisiert werden: Obwohl die Dative mir in (13) und (15) und tausenden Arbeitnehmern in (14) und (16) dieselbe abstrakt-syntaktische Funktion haben, haben sie jeweils eine andere satzsemantische Funktion. Die Verbindung von "Unbestimmtheit" gegenüber der Dativ/AkkusativUnterscheidung einerseits mit dem impliziten Vorhandensein genau dieser Unterscheidung andererseits ist erklärlich, wenn man annimmt, daß in den Sätzen (13) und (14) der Dativ ein diakritischer Kasus ist. Geht man nämlich - die These Kaznelsons für den augenblicklichen Zweck leicht abwandelnd (s. § 1.2.6.) - davon aus, daß auch im Deutschen die syntaktische Grundstruktur Subjekt - Verb - Objekt ist18, dann springt sogleich das unterschiedliche hierarchische Gefälle in z.B.: (19) Man unterstützte ihn und (20) Man kündigte ihm in die Augen. Das Objekt erschließt bei unterstützen eine einzige propositionale Dimension, egal ob eine Person oder eine Sache gemeint ist (Man unterstützte ihn bzw. Man unterstützte den Vertrag). Dementsprechend kann man syntaktisch auch keine Hierarchie zwischen den "Mitspielern" anzeigen: *Er unterstützte ihn den Vertrag (auch *Er unterstützte ihm den Vertrag scheint ausgeschlossen zu sein, es sei denn, man interpretiert den Dativ als Pertinenzdativ). Der Dativ in Man kündigte ihm gestattet dagegen eine Diffe18

Die Abwandlung gegenüber Kaznelson 1974, 62 besteht darin, daß wir das Objekt an dieser Stelle - im Hinblick auf die Diskussion des adverbalen Dativs - noch nicht, wie Kaznelson, als "direktes" Objekt spezifizieren.

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renzierung des Objekts gemäß zwei propositionalen Dimensionen: Man kündigte den Vertrag und Man kündigte ihm (d.h. der Person), so daß auch die diakritische Verbindung der beiden Objekte möglich ist: Man kündigte ihm den Vertrag. Weil der faktisch vorhandene Objektkasus in Sätzen wie (20) morphologisch eindeutig ist, verbietet es sich, im Hinblick auf den adverbalen Dativ bei kündigen von einem "abstrakten" Kasus auszugehen, dessen konkrete Form einigermaßen "frei" wäre. Dagegen stimmt es, daß der adverbale Dativ bei kündigen gelegentlich offenbar durch den Akkusativ ersetzt wird. Es leuchtet ein, daß die diakritische Differenzierung unter Druck zu stehen kommt, wenn das Motiv für eine solche Differenzierung und für ihre entsprechende morphologische Markierung verschwindet. Das scheint nun im gegenwärtigen Deutsch bei einem Verb wie kündigen teilweise auch tatsächlich der Fall zu sein, und das ist ein weiteres Argument gegen die Erklärung, daß die Dativrektion von kündigen einfach auf einer Ellipse beruht. Es besteht nämlich die Tendenz, daß der in einigen Ko-/Kontexten offenbar für funktionslos gehaltene Dativ bei kündigen im spezifischen Sinn von 'entlassen' ('den Arbeitsvertrag für beendet erklären') allmählich aufgegeben wird und durch einen "systemgemäßeren" Akkusativ ersetzt wird19: So heißt es in Österreich und auch immer öfter in der Umgangssprache der Bundesrepublik Man hat meinen Vater gekündigt und dementsprechend im Passiv Mein Vater ist gekündigt worden (statt: Meinem Vater ist gekündigt worden). Das Verb kündigen ist damit in die Eindimensionalität eingetreten, die für Verben wie entlassen, unterstützen usw. kennzeichnend ist. Die Kasusentwicklung des Verbs kündigen ist ein eher ungewöhnliches Beispiel für unsere an Jean Fourquets Konnexionsmodell anknüpfende Beobachtung, daß Akkusativ und Dativ im Prinzip auf andere syntaktische Bindungen zurückgehen (s. § Π.2.). Die Kasusentwicklung des Verbs zeigt erst in jüngerer Zeit - und dann vor allem noch im süddeutschen Sprachraum - , daß der Akkusativ im Deutschen syntaktisch eine hierarchisch höhere Stelle einnimmt als der Dativ. Im Hinblick auf diese Entwicklung, bei der der Dativ durch den syntaktisch "prototypischen" Akkusativ ersetzt wird, kann man einerseits durchaus behaupten, daß Kaznelsons universalisierende syntaktische Struktur Subjekt - Verb - direktes Objekt auch auf die deutsche " Das Verb entlassen regiert bezeichnenderweise den Akkusativ, und das Akkusativobjekt bezieht sich auf die Person, nicht auf die Sache; letztere könnte allenfalls mittels eines Präpositionalgefüges ausgedrückt werden: Man entließ ihn aus seiner Stellung.

kündigen

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Sprache zutrifft. Andererseits belegt gerade der Valenzrahmen von kündigen, daß die durch das "Objekt" eingenommene Leerstelle im Prinzip unspezifiziert sein kann und normgemäß an erster Stelle auch vom hierarchisch niedrigeren Kasus (dem Dativ) besetzt werden kann. Im Fall von kündigen ist dieser Kasus in zweistelligen Konstruktionen eindeutig diakritisch bedingt. Dadurch, daß zweistellige und dreistellige Konstruktionen mit kündigen bis in die Gegenwartssprache auf transparente Weise miteinander abwechseln, ist das Verb ein besonders deutliches Beispiel für die GRUPPE A. Die Tatsache, daß der Dativ bei Verben in zweistelligen Satzbauplänen durch den Akkusativ ersetzt wird, ist in der Geschichte des Deutschen ein Phänomen, dem wir noch öfter begegnen werden (ältere Beispiele werden im Abschnitt VII.4. gesammelt). Der Kasuswechsel geht oft mit einem Wandel der Verbsemantik einher, weist aber vor allem darauf hin, daß auf der syntaktischen Ebene des Satzgefüges der Akkusativ im Vergleich zum Dativ als der "erste" Objektkasus zu gelten hat.

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III.2. opfern Ein zweites Verb, an dem sich die syntagmatische Grundlage der adverbalen Dativverwendung besonders deutlich ablesen läßt, ist das Verb opfern. Dieses Verb kommt in der Sprachgeschichte in drei Valenzrahmen vor, nämlich ein-, zwei- und dreistellig, wobei es in der zweistelligen Verwendung entweder den Akkusativ oder aber den Dativ regieren kann. Die Geschichte des Verbs stellt sich als erstaunlich homogen heraus. Bei Otfrid ist das Verb dreistellig (1) sowie in absoluter Verwendung (2) belegt: (1) (2)

Thaz giflang er thö sär inti opphoröta iz gote thär 'Das (= das Schaf) fing er dann sogleich und brachte es Gott zum Opfer dar', Otfrid20 Zit uuard tho gireisöt, thaz er giangi furi got; opphorön er scolta bi die sino suntä 'Da kam die Zeit, daß er sich vor Gott begeben sollte; er sollte (ihm) opfern für seine Sünden', Otfrid.21

Bereits bei Notker aber finden wir für alle vier Satzbaupläne Belege. Absolutes ahd. opferön liegt vor in: (3)

Aide dära ze demo altare . dar sin corpus uuirt consecratum . opheront alle die umbestänt 'Und dort beim Altar, wo sein Körper geweiht wird, opfern alle, die [um den Altar] herumstehen', Notker.22

Den dreistelligen Satzbauplan illustriert u.a. folgender Satz: (4)

Min herza daz din altare ist . in demo ih dir opferon kuöten uuillen . unde lüttera digi 'Mein Herz, das dein Altar ist, worauf ich dir meinen guten Willen und aufrichtige Bitten opfere', Notker.23

Im nächsten Beleg regiert das Verb ein Akkusativobjekt: (5)

20 21 22 23 24

Nals näh aaron sacerdote des uictime zegangen sint . nube näh dimo sacerdote . der panem et uinum opherota 'Nicht auf die Weise des Priestertums Aarons, dessen Opfer zugrunde gegangen sind, sondern auf die Weise des Priestertums, das Brot und Wein opferte', Notker.24 Piper, Piper, Piper, Piper, Piper,

II, 9, 61. I, 4, 11. II, 306, 4-5. II, 82, 10-11. II, 477, 11-12.

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Zweistellige Dativrektion dagegen finden wir in: (6)

Vuttligo opheron ih dir 'Bereitwillig opfere ich dir', Notker.25

Die absolute Verwendung des Verbs, die auch im Mittelhochdeutschen26 und bis ins Neuhochdeutsche hinein belegt werden kann,27 brauchen wir im folgenden nicht weiter zu berücksichtigen. Entscheidend sind jene Verwendungen des Verbs in der jüngeren Sprachgeschichte, in denen opfern entweder dreistellig mit Dativ und Akkusativ oder zweistellig mit Akkusativ oder Dativ vorkommt. Diese drei Satzbaupläne sind bis heute produktiv geblieben, wobei allerdings zu bemerken ist, daß die Konstruktion mit adverbalem Dativ weniger gebräuchlich ist als die beiden anderen Konstruktionen. Für alle drei Satzbaupläne führen wir im folgenden einige Belege an; dabei fangen wir immer jeweils mit einem mittelhochdeutschen Beispielsatz an. Den dreistelligen Satzbauplan mit Dativ und Akkusativ illustrieren u.a.: (7)

(8) (9)

geopherostu im den lip, sone gescach ni nimen baz 'wenn du ihm das Leben opfern würdest, würde niemandem je etwas Besseres passieren', Pfaffe Konrad (12. Jh.)28 Dieser Arbeit hat er zwölf Jahre seines Lebens geopfert29 Bei den Azteken wurden der Gottheit Menschen geopfert.™

Daneben ist statt des Dativs seit langem auch eine Präpositionalphrase mit für üblich, eine Variante, die bereits bei Luther und später etwa auch zur Zeit der deutschen Klassik (z.B. bei F. Schiller) begegnet;31 vgl.: (10) Es ist gleichgültig, wie viele Wochenstunden er dafür (= für sein Geschäft) opfert.11 Zweistelliges opfern mit Akkusativ liegt vor in folgenden Beispielsätzen:

25 26 27 28 29 30 31 32

Piper, II, 205, 15-16. Z.B.: swer opfern wolt 'wer opfern möchte', MH, II, Sp. 158. vgl. u.a. die Belege in Stieler 1691, Sp. 1393 und DW, VII, Sp. 1305. Das Rolandslied, 7820-7821. WDG, IV, 2706, Sp. 1. GWbdS, V, 2445, Sp. 3. DW, VII, Sp. 1306. GWbdS, V, 2445, Sp. 3.

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(11) Und bracht och mit ir kindelin Zway klainu turteltüblin, Die opferen si wolte, Als si von rechte solte 'Und sie brachte mit ihrem Kindlein auch zwei Turteltauben, die wollte sie opfern, wie sie von Rechts wegen sollte', Wernher der Schweizer (1. Hälfte des 14. Jahhunderts)33 (12) Sogar die eigene Tochter opferte man, damit ich rascher wieder aus dem Dorf käme34 (13) Im Krieg wurden Tausende sinnlos geopfert?5 Wichtig ist, hervorzuheben, daß das Akkusativobjekt ein Reflexivum sein kann, und zwar sowohl in der dreistelligen wie in der zweistelligen Konstruktion, vgl.: (14) ... selbst wenn sich Barnabas gänzlich dem Dienst opfert, Franz Kafka (1883-1924)36 (15) Die Mutter opfert sich fur ihre Kinder27 (16) Ist der König, sind die Menschen es wert, daß Meister Thomas sich opfert? 38 Zum Schluß einige Belege, in denen zweistelliges opfern mit einem adverbalen Dativ verbunden wird: (17) si bat, daz si dem toten opfern näch ir herzen gir müest'; der wirt erlouptez ir 'sie bat [ihn], dem Toten opfern zu dürfen, nach dem Wunsch ihres Herzens; der Wirt erlaubte es ihr' (um 1300)39

33 34 35 36 37 38 39

Das Marienleben, 3495-3498. WDG, IV, 2706, Sp. 2. GWbdS, V, 2445, Sp. 3. a.a.O. a.a.O. WDG, IV, 2706, Sp. 2. Frauentreue, 344-346.

opfern

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(18) vor allem opfre du dem glück, Goethe40 (19) Was kann meine Generation dafür, daß sie einem Götzen opfert? (1956)41 (20) Gott ist, weil Gott in aller Munde ist. Es opfern ihm selbst die noch, die nicht an ihn glauben (1986)42 (21) Jeder Familienvater opferte seinerseits in dem Ahnentempel seiner Sippe den Seelen seiner Ahnend Die Beispielsätze sprechen für sich. Beim transitiven Verb opfern wird der Gegenstand der Opferhandlung im Akkusativ genannt, egal, ob es sich dabei um Lebewesen oder um Sachen (auch im übertragenen Sinn) handelt. Aus den Belegen mit dreistelligem opfern geht hervor, daß der Dativ seit dem Althochdeutschen frei verfügbar ist, um zusätzlich die Instanz zu bezeichnen, der das Opfer gilt; auch in bezug auf diese Instanz spielt der Unterschied zwischen belebt und unbelebt im Prinzip keine Rolle. Insofern ist der Dativ bei opfern eindeutig diakritisch bedingt. Indem darüber hinaus aber auch das Akkusativobjekt ausgespart werden kann - und, es sei wiederholt, auch dies bereits seit ahd. Zeit - , tritt an die Seite des vollständigen dreistelligen Satzbauplans eine paradigmatische Opposition zwischen zwei zweistelligen Satzbauplänen, nämlich etwas/jmdn. opfern einerseits und jmdm./einer Sache opfern andererseits. Eine ähnliche Konstellation in Sachen Valenz und Verwendungsgeschichte konnten wir auch schon bei kündigen (§111.1.) feststellen,44 und wir werden sie ebenfalls, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, bei den Simplizia glauben (§ III.8.) und pfeifen (§ III. 11.) sowie bei den Präfixverben vergeben, verzeihen (s. §111.13.) und antworten (s. § III. 14.) vorfinden. Alleinige Grundlage für den adverbalen Dativ, also ohne komplementäre syntagmatische Begründung in einem dreistelligen Valenzrahmen, ist eine solche paradigmatische Opposition zwischen zweistelligen Valenzrahmen, wie wir sehen werden, bei prototypischen Verben der GRUPPE C, wie z.B. leben (s. § V.4.).

40 41 42 43 44

DW, VII, Sp. 1306. GWbdS, V, 2445, Sp. 3. a.a.O. Brockhaus-Enzyklopädie (1966ff), III, 768, Sp. 1. Anders als bei kündigen erfährt bei opfern der zweistellige Valenzrahmen mit Dativ der Person vom Valenzrahmen mit Akkusativ jedoch keine Konkurrenz.

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III.3. telefonieren Das Verb telefonieren in der Verwendung 'anrufen' hat nicht nur im Deutschen eine nichtakkusativische Rektion. Auch das Französische verwendet bei telephoner ein Präpositionalobjekt mit der Präposition ά oder, im Falle eines Pronominalobjekts, ein "complement d'objet indirect", z.B.: (1) (2)

Je telephone ά mon frire (und nicht *je telephone mon fr ere) Je lui telephone (und nicht *je le telephone).45

Die vergleichbare Rektion bei telefonieren bzw. telephoner, also in zwei nichtverwandten Sprachen, scheint der bereits erwähnten Weisgerberschen These, daß der Dativ sich hier als der Kasus der freien, sinngebenden Person manifestiere (s. § 1.2.5.), zunächst nicht zu widersprechen. Man könnte meinen, daß sowohl Deutsche als Franzosen den Dativ bzw. das inhaltlich damit verwandte Präpositionalobjekt mit ά und das "complement d'objet indirect" als die geeignetsten Formen betrachten, um das persönliche Objekt der von telefonieren/tilephoner ausgedrückten Handlung syntaktisch zu bezeichnen, und zwar entgegen dem üblichen Satzmuster in diesen Sprachen, das besagt, daß in der Konstellation Subjekt - Verb - Objekt das Objekt normalerweise durch den ranghöheren Akkusativ des direkten Objekts markiert wird. Daß viele Linguisten sich in der Geschichte der Kasustheorie dagegen gesträubt haben, das Zusammentreffen der syntaktischen Funktionen in solchen und ähnlichen Fällen einfach dem Zufall zuzuschreiben, haben wir bereits hervorgehoben. Die Verlockung, bei der schlagenden morphosyntaktischen Ähnlichkeit zwischen telefonieren und telephoner nach einer psychologischen Realität hinter den grammatischen Formen zu suchen, ist deshalb groß, weil es gewisse referentielle Motive gibt, die dem Dativ zusätzlich eine Zweckbestimmung im Bereich der Bezeichnung verleihen. Bei einer Analyse der Verwendung des Verbs telefonieren (in älterer Orthographie telephonieren) ist es erhellend, sich zuerst die Verwendung von 43

Bekanntlich erkennt man im Französischen nur noch im Pronominalobjekt in der 3. Person Sg. einen morphologischen Unterschied zwischen einem "complement d'objet direct" (mask.: le, fem. lä) und einem "complement d'objet indirect" (mask, und fem.: lui). In der französischen Sprachwissenschaft nennt man die Form lui besser keinen Dativ, da das Französische sonst seit Jahrhunderten überhaupt keine Kasusbeugung mehr aufweist (s. Jacob 1991, 162-168). Aus einem historischen Blickwinkel ist die Form lui freilich mit dem Dativ identisch.

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telegrafieren (in älterer Orthographie telegraphieren) anzusehen. Leider sind die beiden deutschen Verben historisch-lexikographisch nur wenig untersucht. Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm wird nur das Substantiv Telegraf behandelt (dort noch Telegraph geschrieben), das Deutsche Fremdwörterbuch von Hans Schulz und Otto Basler gibt zwar eine Reihe von Zitaten, aber die meisten Beispiele illustrieren absolute Verwendungen des Verbs, und diese sind für eine Kasusuntersuchung unergiebig. Das Wörterbuch von Sanders (187Iff) enthält für das Stichwort telephonieren keine Beispielsätze, und in demjenigen von Heyne (1905f) kommt es sogar nicht vor. Die französischen Verben telegraphier und telephoner sind in dieser Hinsicht historisch viel genauer beschrieben in Le Grand Robert de la langue frangaise (weiterhin abgekürzt als: Le Robert).46 Deswegen folgt hier zunächst eine Kurzübersicht über die Verwendungsgeschichte der französischen Verben, die auch für ihre deutschen Pendants sehr aufschlußreich ist. In seiner frühesten Verwendung steht telegraphier für 'transmettre par telegraphe' und ist es syntaktisch transitiv, z.B.: telegraphier une depeche, un message, des signaux en morse.''1 In dieser Konstruktion ist weiter noch ein "complement d'objet indirect" möglich, mit dem ausgedrückt wird, für wen das Telegrafierte gemeint ist, etwa: (3) (4)

Je telegraphie un message ά mon ami, oder Je lui telegraphie un message.

Der Satzbauplan von telegraphier war also ursprünglich dreistellig und das Verb selbst zweiwertig. Miteinander verbunden werden ein Subjekt, ein "complement d'objet direct" und fakultativ ein "complement d'objet indirect" (oder auf die deutsche Grammatik übertragen: ein Nominativ, ein Akkusativobjekt und fakultativ ein Dativobjekt). Erst später (Le Robert nennt die Jahreszahl 1872) ist die Verwendung 'envoyer (une nouvelle, un texte) par telegramme' belegt: telegraphier une nouvelle ά un ami.4S In dieser Verwendung ist das Objekt, das telegrafiert wird, bereits teilweise implizit ausgedrückt: Es handelt sich um ein Telegramm. Daraus hat sich allmählich die absolute - und wie bei kündigen semantisch wiederum verengte - Verwendung 'envoyer un telegramme' entwickelt, bei der keine Angabe des Telegrafierten ("complement d'objet direct" oder Akkusativobjekt) mehr möglich 46 47 48

s. Le Robert, IX, 202 bzw. 204. Le Robert, IX, 202. a.a.O.

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Der syntagmatische Dativ

ist, der Adressat jedoch nach wie vor anhand eines Präpositionalobjekts mit ά bzw. eines "complement d'objet indirect" angegeben wird, z.B.: (5)

II faut lui telegraphier.49

Selbstverständlich kamen (und kommen) die Verwendungen (3), (4) sowie (5) im französischen Sprachgebrauch nebeneinander vor. Das "complement d'objet indirect" in (5) ist im Hinblick auf die anderen Verwendungen von telegraphier funktionell durchaus nachvollziehbar, denn es unterscheidet den Adressaten des Telegrafierten vom (zwar nicht immer ausgedrückten) Telegrafierten selbst. Sowohl der Telegraf als auch das Telefon sind im Zusammenhang mit den ersten Schritten auf dem Gebiet der Telekommunikation um die letzte Jahrhundertwende entstanden.50 Das Telefon ist als Konzept und als technische Entwicklung dem Telegrafen sehr verpflichtet, nicht zuletzt weil das Telefonnetz in den Industriestaaten das Netz der Telegrafenleitungen zur Basis hatte. Das älteste Gerät, von dem es Zeugnisse gibt, daß es die menschliche Stimme elektrisch übertragen konnte, wurde erst 1861 vom Deutschen Johann Philipp Reis hergestellt.51 Die Verwandtschaft zwischen Telegraf und Telefon geht auch aus den ältesten Bezeichnungen für das Telefongerät hervor. Die verbesserten Geräte, die nach der experimentell gebliebenen Leistung von Reis entstanden, wurden als telegrafische Technik umschrieben: Der schottische Amerikaner Alexander Graham Bell patentierte am 14. Februar 1876 seine Erfindung, die Stimmgeräusche vermittels elektrischer Stromvariationen übertragen konnte, und bezeichnete sie als "Improvement in telegraphy". Am selben Tag beantragte sein Landsmann Elisha Gray ein Patent für eine ähnliche Erfindung ("Instruments for transmitting and recei49 50

31

a.a.O. Die älteste Erfindung auf diesem Gebiet war der sog. optische Telegraf, der 1791-1792 vom französischen Ingenieur Claude Chappe entwickelt wurde. Dies war im Grunde noch ein sog. Semaphor, d.h. eine Kette von hohen Masten mit beweglichen Armen, die über einen Code von Signalen mit verhälnismäßig großer Geschwindigkeit Nachrichten übermitteln konnte. Doch wurde diese Vorrichtung, die beim Melden von französischen Siegen in den revolutionären Kriegen ihre Nützlichkeit bewies, von Chappe selbst bereits tiUgraphe genannt. Im Deutschen wurde das Lexem Telegraph aus dem Französischen übernommen, und es ist bereits zwei Jahre später zum ersten Mal belegt (DF, V, 118). Der erste elektrische Telegraf, mit Magnetnadeln, wurde ungefähr gleichzeitig in Deutschland und in Großbritannien fertiggestellt (1837 und 1838). Etwas später tauchen die Verben telegraphier (1842, Le Robert, IX, 204) und telegraphieren (1845, DF, V, 120) auf. s. Schwartz 1986, 495.

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ving vocal sounds telegraphically"). Beide Erfindungen werden heute als die ersten Telefongeräte betrachtet. Schließlich hat das Telefon auch gesellschaftlich die Funktion des Telegrafen nach und nach übernommen. Die technische und funktionelle Verwandtschaft zwischen dem Telefon und dem Telegrafen widerspiegelt sich auch in der Wortbildung: Tele-graf, Tele-fon (es handelt sich in beiden Fällen um Bildungen, die auf griechische Lexeme zurückgehen: gr. τήλε 'weit' und γραφειν 'schreiben' bzw. φωνή 'Klang, Stimme'). Das Wort Telefon ist übrigens wesentlich älter als das eigentliche Gerät. Im Deutschen ist bereits aus 1796 ein Beleg bekannt,52 also kurz nach dem Erscheinen des Wortes Telegraf, und auch im Französischen taucht das Wort zum ersten Mal bereits 1809 auf.53 Dies zeigt erneut, daß das Konzept Telefon vom Telegrafen angeregt worden ist. Analog wie telegrafieren eine Ableitung vom Substantiv Telegraf ist, wurde zu Telefon später das Verb telefonieren gebildet. Das französische Verb telephoner ist seit 1885 bekannt, das deutsche telephonieren erscheint zum ersten Mal im 20. Jh.54 Was die Verwendung der Verben telefonieren und telephoner betrifft, ist eine parallele Entwicklung und Chronologie zu den oben beschriebenen Verben telegrafieren und telegraphier festzustellen, und auch diese Entwicklung ist für das Französische im Robert präzis erfaßt. Die älteste Verwendung nach dem frühesten Beleg (1885) ist transitiv und steht für 'communiquer, transmettre par telephone'. Genauso wie man jemandem eine Nachricht "telegrafieren" konnte, konnte man nach dem Ausbau des Telefonnetzes jemandem diese Nachricht auch "telefonieren"55, z.B.: (6)

Telephoner une nouvelle ά un ami.56

Auch telephoner wurde ursprünglich als ein dreistelliges Verb verwendet mit Subjekt, "complement d'objet direct" und "compl6ment d'objet indirect". Erst im 20. Jh. entsteht eine zweistellige Verwendung telephoner ά als 'ver-

52 53 54 53

56

DF, V, 127 (der Telefon). Le Robert, IX, 204. Belege aus den Jahren 1910 und 1902 aus DF, V, 130. Eine ähnliche (Wort-)Bildung im Bereich der Nachrichtenvermittlung, die aufgrund eines anderen Ausdrucks im Falle einer analogen Verbalhandlung zustande kommt, läßt sich auch heute bei jmdn. anfaxen beobachten, das vor allem in der gesprochenen Sprache gebräuchlich ist und nach dem Muster von jmdn. anrufen gebildet ist. Dem Muster jmdm. telefonieren entspräche dagegen jmdm. e-mailen. Le Robert, IX, 205.

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be transitif indirect'; es steht fur: 'se mettre, etre en communication par telephone avec', z.B.: (7)

J'ai oublie de telephoner ά papa d'envoy er un helicoptere au devant de nous (um 1900).57

Und ein Beispiel mit proklitischem Pronominalobjekt: (8)

Mon oncle lui a telephone hier.

In dieser Verwendung ist kein "complement d'objet direct" mehr vorhanden. Der Ausdruck hat als "verengte" Bedeutung das Führen eines Telefongesprächs und im Prinzip nicht mehr das telefonische Übermitteln einer spezifischen Nachricht o.ä. Vor dem Hintergrund der skizzierten Sachgeschichte und der entsprechenden chronologischen Verhältnisse wird klar, daß das "complement d'objet indirect" bei telephoner ursprünglich keineswegs einen psychologischen Grund hatte, in dem Sinn etwa, daß man die angerufene Person als "freies" und freiwillig beteiligtes Wesen bezeichnen möchte. Der Grund ist vielmehr ein grammatisch-diakritischer: Das Verb kann (oder konnte) in derselben Bedeutung, aber in einer anderen Verwendung, auch noch ein "complement d'objet direct" zu sich nehmen. Nur fallen die Verwendungen des Verbs, bei denen tatsächlich noch ein "complement d'objet direct" realisiert wird, gegenüber solchen ohne "objet direct" statistisch kaum ins Gewicht. Das Festhalten am Gebrauch des "complement d'objet indirect" (oder des Präpositionalobjekts mit ä) kann demnach nur historisch und zugleich funktional-linguistisch erklärt werden. Die Entwicklung des deutschen Verbs telefonieren unterscheidet sich kaum von derjenigen des französischen Verbs. Anfangs konnte man jmdm. eine Nachricht telefonieren, wie man jemandem schon länger auch eine Nachricht telegrafieren konnte. Der wichtigste Unterschied ist, daß das deutsche Verb telefonieren sehr früh Verwendungen mit einem Präpositionalobjekt entwickelt hat, die mittlerweile üblicher sind als die Verwendung jmdm. telefonieren, und zwar nicht nur mit jmdm. telefonieren, das mit der ursprünglichen Dativrektion äquivalent ist, sondern auch mit der Präposition nach, die eine neue Bedeutung ergibt: nach England telefonieren, er telefo-

57

a.a.O.

telefonieren

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nierte nach einem Taxi.5* Bei telegrafieren bestehen die dreistelligen (Nominativ, Akkusativ und Dativ) und zweistelligen Verwendungen (Nominativ und Akkusativ, Nominativ und Dativ) nebeneinander: Sie hat (ihr) telegrafiert, daß sie gut angekommen is?9, Sie telegraphierte uns die genaue Ankunftszeit60. Bei telefonieren ist dies, nach den großen Wörterbüchern Duden und Wahrig zu schließen, nicht mehr der Fall. Nur das Deutsche Wörterbuch von Hermann Paul erwähnt beim Stichwort telefonieren noch die Verwendungsmöglichkeit "mit Dativ- (und Akkusativ-)Objekt" sowie das Beispiel jmdm. etwas telefonieren.61 Dies genügt jedoch, um zu beweisen, daß das Dativobjekt in jmdm. telefonieren in der Verwendung 'jmdn. anrufen* auch im Deutschen eine historisch versteinerte Form ist, die in einer ursprünglich dreistelligen Verwendung des Verbs zusammen mit noch einem Akkusativobjekt eine diakritische Rolle erfüllte. Noch heute ist diese diakritische Rolle das - sprachgeschichtlich nach wie vor wirksame - syntaktischsemantische Motiv für den Dativ. Wie bei kündigen dürfen auch bei telefonieren "normalisierende" Ausgleichstendenzen freilich nicht aus den Augen verloren werden. Allerdings geht der Kasuswechsel in diesem Fall mit einem lexikalischen Wechsel einher: jmdm. telefonieren ist heute kein besonders beliebter Ausdruck mehr (es sei denn in der Schweiz), jmdn. anrufen ist viel häufiger.

58 59 60 61

GWbdS, VII, 3367, Sp. 2. DUW, 1523, Sp. 3. WDG, V, 3713, Sp. 2. Paul'1992, 882, Sp. 1.

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III.4. huldigen Der Satzbauplan des Verbs huldigen sieht im modernen Deutsch nur ein obligatorisches Dativobjekt vor. Alle anderen Satzglieder, die u.U. hinzukommen können, gelten nicht als "Aktanten", sondern als "freie Angaben". Der Satzbauplan mit adverbalem Dativ gilt für alle drei Verwendungsweisen, die nach Dudens Deutschem Universalwörterbuch heute üblich sind, nämlich: a. 'sich einem Herrscher durch ein Treuegelöbnis unterwerfen', z.B. dem Landesfürsten huldigen-, b. die gehobene, veraltete Verwendung 'jmdm. durch eine bestimmte Handlung, durch sein Verhalten seine Verehrung zu erkennen geben', z.B. das Publikum huldigte dem Künstler mit langem Beifall·, c. die gehobene, oft leicht ironische Verwendung 'einer Sache mit Überzeugung anhängen, etwas mit (übertriebenem) Eifer vertreten', z.B. einer Anschauung huldigen.62 Huldigen ist eine Ableitung von Huld, das seinerseits etymologisch mit hold zusammenhängt. Die ahd. Wortformen huldi 'Huld, Gunst, Gnade; Freundschaft' und hold 'geneigt, zugetan; gnädig; (ge)treu, ergeben'63 sind in ihrer Bedeutung noch eng miteinander verwandt. Die ältesten vom Substantiv Huld abgeleiteten Verbformen sind ahd. gehulden und hulden, die in einer etymologisierenden Paraphrase als 'hold machen, zugeneigt oder ergeben machen, gnädig machen' aufzufassen sind. Eine solche Handlung der Zuneigung muß in zwei Richtungen gewirkt haben: 'ich neige mich ihm zu, damit er sich mir zuneigt'. So lassen sich die insgesamt vier Verwendungen erklären, die in den ahd. literarischen Quellen begegnen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Otfrid und Notker, bei denen hulden und gehulden jeweils anders verwendet werden. Bei Otfrid begegnet nur einmal hulden, und zwar im Sinne von 'jmdn. für sich gewinnen, jemanden sich zugeneigt machen': (1)

mit zuhtin sier mo huldta 'mit Belehrung gewann er (= Jesus) sie für sich', Otfrid.64

In dieser Verwendung sind ein Akkusativobjekt (sier ist eine Kontraktion von sie/sia und er) und ein (reflexives) Dativobjekt (mo ist eine Verkürzung 62 63 64

DUW, 740, Sp. 2. AW, 171, Sp. 2 bzw. 169, Sp. 1. Piper, II, 7, 3.

huldigen

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von into) deutlich voneinander unterschieden. Die Initiative geht vom Subjekt aus, das das Objekt dazu veranlaßt, sich ihm ergeben zu machen. Bei Notker tritt uns das Verb in der aktuellen Bedeutung 'versöhnen' entgegen. Aus dem Kotext der Belege geht hervor, daß zuvor kein neutrales Verhältnis zwischen den Parteien herrschte, sondern eine gewisse Form von Abwendung. Einmal ist auch die präfixlose Form hulden belegt, jedoch mit einem reflexiven Akkusativ, was im Vergleich zu (1) einen Perspekti ν Wechsel bewirkt: Ich mache mich selbst einer - eventuell nicht ausgedrückten anderen Person "hold", anstatt daß ich mir eine andere Person "hold" mache, vgl.: (2)

Der des uuänet. der negibet nieht Gote mit diu er sih hulde 'Derjenige, der das glaubt, gibt Gott nichts, damit er sich versöhne (mit Gott)', Notker.65

Daneben ist noch zweimal gehulden belegt, das offenbar mit einem nichtreflexiven Akkusativobjekt verbunden wird oder prädikativ in der Form eines Perfektpartizips verwendet wird: (3)

(4)

mit diu gehulta er Got 'damit er Gott versöhnte' (d.h. 'damit er Gott dazu bewog, versöhnend zu sein, bzw. damit er Gott zu Sühne oder Zuneigung brachte'), Notker66 Vnde mit demo sacrifio gehülther . fergib mir mine sunda alle 'und versöhnt mit dem Opfer: vergib mir alle meine Sünden', Notker.67

Wenn auch diese vier Belege im Prinzip eine nur schmale Basis für Schlußfolgerungen bilden, so kann doch festgestellt werden, daß eine zweistellige Verwendung mit lediglich einem Dativobjekt bei hulden/gehulden im Ahd. nicht vorkommt. Darüber hinaus weisen die Belege an erster Stelle auf eine Akkusativrektion hin; ein Dativobjekt ist rein fakultativ. Auf einer abstrakten Bedeutungsebene, die auch der Valenz des Verbs gerecht wird, kann hulden/gehulden demnach umschrieben werden als 'jmdn. (eventuell einer bestimmten Person) zugeneigt machen'. Im Mhd. erscheint neben hulden zum ersten Mal die heutige Form huldigen. Der Bedeutungsansatz 'versöhnen, zugeneigt machen' ist derselbe, vgl.: 65 66 67

Piper, II, 185, 24. Piper, II, 455, 24. Piper, II, 80, 2.

114 (5)

(6)

Der syntagmatische Dativ

want er mit siner geburte unde mit sinem tode uns sinem uater gehuldigt hat 'Weil er (= Jesus) uns mit seiner Geburt und seinem Tod mit seinem Vater versöhnt hat' (13. Jh.)68 daz er mich hat gehvldiget allen den, die mir vmb den totslach veint woren 'daß er mich mit allen denjenigen versöhnt hat, die mir wegen des Totschlages feind waren'.69

Auch reflexive Verwendungen sind möglich, ebenfalls in der Form eines Akkusativobjekts, wie in (2), vgl.: (7)

daz wir tlen unsih ime gehuldigen 'daß wir uns bemühen, uns ihm ( = Gott) geneigt zu machen'.70

Aus den lexikographischen Werken zur mittelhochdeutschen Sprachüberlieferung geht hervor, daß ein Dativobjekt bei (ge)huldigen und hulden in der mittelhochdeutschen Periode allmählich üblich wird. In Lexers Mittelhochdeutschem Wörterbuch und im Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache sind unter den einschlägigen Stichwörtern Belege mit Akkusativobjekt und ohne Dativobjekt spärlich. Dafür aber taucht eine neue syntaktische Verwendung auf, und zwar gerade das hier in Rede stehende huld(ig)en + Dativ - und dies nicht ausnahmsweise, ganz im Gegenteil. Diese Verwendung weist jedoch auf eine ganz spezifische Handlung hin, nämlich 'sich in jemands Huld geben, Treue geloben, huldigen'71, z.B.: (8)

(9)

68

69 70

71 72 73

vnde han jre gehuldet, alse ein man sime herrin ze rechte dun sal 'und (sie) haben ihr gehuldigt, wie ein Mann es für seinen Herrn rechtlich tun soll'72 unser stat (...) diu (...) dem (...) F. burchgrafen von N. (...) huldigen soll 'unsere Stadt, die dem Burgrafen von N. huldigen soll'.73

Predigt "In octava Pasche", in: Fundgruben, hrsg. von Hoffmann von Fallersleben (1830-1837), I, 76, 26-27. WMU, II, 898, Sp. 1. Graff 1834ff, IV, 917; wörtlich: 'daß wir uns bemühen, uns ihm zu huldigen'. Graffs Wörterbuch heißt zwar Althochdeutscher Sprachschatz, der Beleg stammt jedoch aus dem 12. Jahrhundert, und zwar aus einer metrischen Bearbeitung eines Teils des ersten Buches Mose im Wiener codex Denis I, 137 (vgl. Graff 1834ff, I, xl). WMU, II, 898, Sp. 1, s.v. hulden. WMU, II, 898, Sp. 1. RWB, VI, Sp. 42.

huldigen

115

Μ. Lexer erwähnt diese Verwendung nicht, was aber darauf zurückzuführen sein dürfte, daß sich Lexers Korpus vorwiegend auf die klassische mittelhochdeutsche Literatur stützt. Schlägt man hulden aber im Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache und im Deutschen Rechtswörterbuch nach, dann ist ganz klar, daß die Verwendung dieses Verbs mit Dativrektion in den juristisch-amtlichen Bereich gehörte und dort ein üblicher Terminus war. Der älteste Beleg läßt sich aufgrund der genannten Werke auf 1261 datieren74, aber angesichts der Tatsache, daß uns vor 1227 nur eine einzige deutsche Urkunde bekannt ist, entspricht diese Datierung wohl kaum dem tatsächlichen Erscheinen von huld(ig)en in Verbindung mit einem adverbalen Dativ. Die Analyse des Verbs huldigen zeigt dasselbe grammatische Muster, das bereits bei kündigen klar hervortrat: Eine Ergänzung verschwindet aus dem Satzbauplan, und parallel dazu "spezialisiert" sich die Verbsemantik. Die verschwundene Ergänzung muß ein reflexives Akkusativobjekt gewesen sein (vgl. Satz [7]), obwohl sich die Entwicklung anhand der lexikographischen Quellen nicht bis in die letzten Einzelheiten verfolgen läßt.75 Die neue Verwendung ohne Akkusativobjekt hängt gewiß aufs engste mit dem mittelalterlichen Lehnswesen zusammen. Die "Huldigung" als die durch "Anerkennungshandlungen vollzogene Treuebindung von Untertanen an ihren Herrn" ist fränkisch-merowingischer Herkunft und möglicherweise sogar nach römischen Staatsprinzipien modelliert76, und sie entfaltet sich in allerhand Formen im hohen Mittelalter. Die Huldigung geht also nicht auf gemeingermanische Bräuche zurück, und auch die Verwendung von huldigen in Verbindung mit dem adverbalen Dativ ist demnach nicht als altüberkommen anzusehen. Jedenfalls weist nichts darauf hin, daß die Verwendung mit dem adverbalen Dativ älter ist als die mit einem Akkusativobjekt bei Notker, wie sie die Sätze (2) und (3) belegen. Die älteren zweistelligen Verwendungen mit einem Akkusativobjekt verschwinden nach der mhd. Periode aus der Sprache. Der jüngste Beleg im Deutschen Wörterbuch stammt aus dem 16. Jh. (mit reflexivem Akkusativobjekt): 74

73

76

vnde swur miner nichte vnde hulde jre vnde ouch vns, in: Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300, I, 87, Urkunde 54. Eine Belegstelle, wo huld(ig)en + Reflexivpronomen im Akkusativ + Dativobjekt im Sinne einer feudalen Anerkennungshandlung verwendet wird, konnte nicht ausfindig gemacht werden. s. Diestelkamp 1973, 262.

116

Der syntagmatische Dativ

(10) Civitat (...) werde sich huldign und ergeben71 Noch um 1800 finden sich Belege für die Konstruktion huldigen + Dativ der Person und Akkusativ der Sache, wie z.B. die folgenden: (11) ich biete eine belohnung, für das was du mir huldigest, Schiller78 (12) sie huldigte in milder zarter schöne als meisterin in jeder kunst der töne dem glauben ihr begeistert lied, Theodor Körner (1791-1813).79 Jedoch handelt es sich um poetische Neubildungen oder Reinterpretationen, die inhaltlich nicht mehr dem mhd. Gebrauch entsprechen; (11) ist zu lesen als 'was du für mich als Untertan geleistet hast', und (12) ist mehr oder weniger als 'widmen' aufzufassen. Solche Verwendungen gehörten gewiß nicht der damaligen Umgangssprache an, wie denn auch zeitgenössische Wörterbücher wie das Vollständige Deutsche Wörter-Buch von C. E. Steinbach (1734), das Grammatisch-kritische Wörterbuch von J. Ch. Adelung (1793ff) und das Wörterbuch der Deutschen Sprache von J. H. Campe (1807ff) von solchen Verwendungen keine Spur enthalten. Nur das Perfektpartizip gehuldigt im Sinne von 'der gehuldigt hat, sich in die Huld gegeben hat, Treue gelobt hat' gibt es noch längere Zeit als Adjektiv und erinnert damit semantisch an das frühere Vorhandensein eines reflexiven Akkusativobjekts im Satzbauplan, so z.B. noch bei Jean Paul: (13) neben dem gehuldigten lehenherren stand sein justizdepartement, nämlich h. Kolb, der gerichthalter (1793).80

(...)

Der Prozeß, in dem huldigen die Form hulden verdrängt, ist, nach dem Deutschen Wörterbuch zu urteilen, im 17. Jh. als abgeschlossen zu betrachten.81 Die übrigen modernen Verwendungsweisen von huldigen - nämlich 'jmdm. durch eine bestimmte Handlung, durch sein Verhalten seine Verehrung zu erkennen geben' und 'einer Sache mit Überzeugung anhängen,

77 78 79 80 81

DW, IV, 2, Sp. 1891. DW, IV, 2, Sp. 1892. a.a.O. a.a.O. DW, IV, 2, Sp. 1890. Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, daß hulden bei Stieler 1691, Sp. 852 noch als Variante von huldigen aufgeführt wird, während schon Steinbach 1734, I, 790 nur noch huldigen verzeichnet; Adelung 1793ff, II, Sp. 1311 bringt hulden gar mit der Zeit Martin Opitz' (1597-1693) in Verbindung.

huldigen

117

etwas mit (übertriebenem) Eifer vertreten' - sind als von huldigen 'das Treuegelöbnis ablegen' ausgehende metaphorische Entwicklungen zu betrachten, die erst im jüngeren Nhd. entstanden sind. Der adverbale Dativ bei huldigen im heutigen Deutsch ist, so kann man zusammenfassen, diakritisch begründet und das Ergebnis zweier entgegengesetzter syntaktischer Prozesse. Diese kann man anhand des Fourquetschen Konnexionsmodells wie folgt darstellen: Der ursprüngliche Komplex [Nominativ + [huldigen + Akkusativ]]

erfuhr zunächst eine fakultative Erweiterung in der Form eines zusätzlichen Dativobjekts: [[Nominativ + [huldigen + Akkusativ]] + Dativ].

Daraufhin verfestigte sich seinerseits auch der Dativ, und erst nachdem aus dem in Sachen Bindungsfähigkeit "gesättigten" dreistelligen Komplex seinerseits das Akkusativobjekt als obligatorischer "Aktant" ausgeschieden war und das Verb huldigen sich dieser Reduktion in semantischer Sicht angepaßt hatte, erhielt der ehemalig syntagmatisch fundierte Dativ den Stellenwert eines adverbalen Dativs: [Nominativ + [huldigen + Dativ]].

118

Der syntagmatische Dativ

III.5. nahen Verwendungen von nahen mit adverbalem Dativ im Sinne von 'sich einer Sache oder einer Person nähern' sind im Gegenwartsdeutsch ziemlich selten. Sie werden in den beiden jüngsten Auflagen des Duden Universalwörterbuchs sogar bereits nicht mehr erwähnt82, dies allerdings im Gegensatz zu anderen Standardwörterbüchern der deutschen Sprache.83 Auch das Große Wörterbuch der deutschen Sprache verzeichnet noch folgenden Beleg: (1)

Dem Rabbi (...) nahte er nie anders als diensteifrig, Martin Buber (1878-1965).84

Weniger selten, jedoch ebenfalls gehoben und veraltend, ist die reflexive Verwendung sich nahen (2), eventuell mit Dativobjekt (3), für die man heute lieber sich nähern verwendet, vgl.: (2) (3)

Die Truppenverbände nahten sich Die Truppenverbände nahten sich der Stadt.

Auf jeden Fall ist heute nur noch die absolute Verwendung geläufig: (4)

Das Gewitter naht.

Der adverbale Dativ bei nahen hat im Deutschen trotzdem eine lange Tradition. Bereits bei ahd. nahen begegnen die zweistellige Konstruktion mit adverbalem Dativ (5) sowie die reflexive Verwendung ohne Dativ (6) und die reflexive Verwendung mit Dativ (7), und auch die absolute Verwendung ist bereits belegt (8): (5) (6) (7)

82 83

84 85 86 87

ther engil imo nähta 'der Engel nahte ihm', Otfrid85 Nähtun sih zi noti thio höhün geziti 'Es näherten sich die ehrwürdigen (kirchlichen) Festtage', Otfrid86 uuir unsih imo ίο nähen, thaz uuir ni missefähin 'wir müssen ihm immer nahe sein, damit wir uns nicht verirren', Otfrid87

vgl. DUW (1989), 1059, Sp. 2 sowie DUW (1996), 1059, Sp. 3. vgl. WDW (1980), Sp. 2641 sowie WDW (1994), 1124, Sp. 1: jmdm. mit einer Bitte nahen·, s. auch Paul '1992, 600, Sp. 1 und BWDW, IV, 785, Sp. 1: jmdm., einem Ort, einer S(ache) nahen; der Feind nahte der Stadt; der Sommer nahte (sich) schon seinem Ende. GWbdS, V, 2352, Sp. 2; vgl. GWbdS (1978), IV, 1856, Sp. 1. Piper, I, 8, 19. Piper, IV, 8, 1. Piper, III, 7, 10, vgl. Kelle 1870, 182, 19-20.

nahen

(8)

119

Thio ziti sih bibrähtun, thaz östoron thö nähtun 'Die Zeit kam (wörtlich: 'erfüllte sich, vollzog sich'), daß Ostern nahte', Otfrid.88

Außerdem sind im Mhd. und sogar bereits bei Notker auch Präpositionalobjekte - an Stelle eines Dativs der Sache - durchaus üblich, wie in: (9)

linde sih petonde nähen züo demo üngesiunlichen liehte 'und mögen sie sich betend dem unsichtbaren Licht nahen', Notker.89

Auch im Frühnhd. bleibt neben dem adverbalen Dativ die Verbindung von nahen mit einem Präpositionalobjekt gebräuchlich, wie aus einigen Belegen im Deutschen Sprachschatz von Kaspar Stieler hervorgeht: (10) Sich zum Untergange nahen; Die Sache nahet zum Ende.90 Sowohl aus den modernen als auch aus den ahd. Belegen geht hervor, daß der adverbale Dativ bei nahen diakritisch motiviert ist. Was in den absoluten Konstruktionen und in den Konstruktionen mit adverbalem Dativ aus diachronischer Sicht jeweils ausgelassen wurde, ist das akkusativische Reflexivpronomen. Die ursprüngliche Funktion des Reflexivpronomens besteht bei nahen darin, anzugeben, daß das Subjekt sozusagen sich selbst einer Sache näher bringt. Da im Ahd. keine Belege vorhanden sind, in denen das Subjekt eine andere Person oder eine andere Sache näher zu einem Ziel bringt, etwa im Sinne von *Ich nahe den Wagen der Stadt, ist anzunehmen, daß in der Sprachnorm die syntaktischen Konstruktionsmöglichkeiten tatsächlich auf den Gebrauch des Reflexivums beschränkt wurden. Das ist aber sogleich der Grund, weshalb das Reflexivpronomen überflüssig werden konnte, was vor allem dort der Fall war, wo kein zweites Objekt vorhanden war. Umgekehrt sind Verwendungen von reflexivem nähen ohne Dativobjekt oder Präpositionalobjekt im Ahd. ausgesprochen selten: Bei Otfrid (20 Belege des Verbs) und Williram von Ebersberg (2 Belege) kommt eine solche syntaktische Verwendung nicht vor, im Tatian nur zweimal auf insgesamt 9 Belege91 und bei Notker nur einmal auf insgesamt 23 Belege. Bei Notker ist das Reflexivpronomen darüber hinaus als reziprok aufzufassen (also im Sinne von 'sich einander nähern'):

88 89 90 91

Piper, III, 4, 1. Piper, I, 322, 16. Stieler 1691, Sp. 1317. s. Tatian, 124, 2 und 128, 9.

120

Der syntagmatische Dativ

(11) däz chit unser zueio Stirnen sih io nähen 'das heißt, unsere zwei Sterne nähern sich fortwährend einander'. 92 Das Verb nahen ist etymologisch mit dem Adjektiv oder Adverb nahe verwandt, von dem im Ahd. zwei Verben abgeleitet sind: a) ein kausatives -jan-Verb °nähjan 'näher bringen', das in den literarischen Quellen bereits zu nähen abgeschwächt ist und das im Mhd. als nashen erscheint; b) ein intransitives -en-Verb nähen 'näher kommen', das im Mhd. die Form nähen hat. Da auch die -en-Endungen im Ahd. bereits vielfach abgeschwächt sind, sind die beiden Formen schwer unterscheidbar, und es ist fraglich, ob sich die intransitive -en-Form in den literarischen Quellen überhaupt mit Sicherheit nachweisen läßt. Gemäß dem Althochdeutschen Wörterbuch sind -en-Formen bei Notker und bei Williram von Ebersberg belegt.93 Notker verwendet diakritische Längenzeichen für Vokale, aber in der einzigen Stelle, wo die Orthographie nähen (statt nähen) aufweist, ist das Verb reflexiv verwendet, und das gilt auch für die beiden Belege bei Williram. Demzufolge läßt sich kaum behaupten, daß im überlieferten Ahd. ein transitives und ein intransitives Verb unterschieden werden müssen. Das Mhd. unterscheidet nur in beschränktem Maße zwischen transitivem nashen und intransitivem nähen. Beide werden nämlich sowohl intransitiv wie in den Sätzen (12) und (13) - als auch reflexiv - wie in (14) und (15) verwendet, vgl.: (12) nu nadiet ouch Gäwänes not 'jetzt naht auch Gawans Leiden', Wolfram von Eschenbach94 (13) nu näht der kristen ungeval 'jetzt naht das Unglück der Christen', Wolfram von Eschenbach95 (14) durch iwer zuht nu rätt mir wie daz i'uwern hulden naehe mich

92 93

Piper, I, 717, 30. AW, 219, Sp. 1.

94

Parzival, 529,22.

95

Willehalm, 45, 23.

nahen

121

'raten Sie mir mit Ihrer Tugend, wie ich mich Ihrer Geneigtheit nähere', Wolfram von Eschenbach96 (15) du. wilt dich einem vremeden gote durch valsche lüge nahen 'du willst dich durch falsche Lügen einem fremden Gott nähern', Rudolf von Ems (13. Jh.). 97 Es nimmt denn auch nicht wunder, daß beide Verbformen einen adverbalen Dativ zu sich nehmen können: (16) dö si nehetin der stat 'als sie sich der Stadt näherten', Nicolaus von Jeroschin (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts)98 (17) von vorchte die ich hate dem Stade ich ie baz näte 'wegen der Furcht, die ich hatte, näherte ich mich einst besser dem Gestade', Albrecht von Halberstadt (ca. 1180-1251).99 Der einzige Unterschied zu nähen scheint der zu sein, daß nashen - auch im Gegensatz zu ahd. nähen - eine nichtreflexive transitive Verwendung kennt, wie z.B. in: (18) ir kunnet beeren unde sehen, entseben unde draehen: daz solt iueh witzen naehen 'ihr könnt hören und sehen, wahrnehmen und riechen: das sollte euch der Weisheit näher bringen', Wolfram von Eschenbach100 (19) swer sich von got nu kerte, des ende wurde gesmaehet und diu sele der helle genaehet 'wer auch immer sich von Gott abwendet, dessen Ende wird schmählich sein, 96 97 98 99 100

Parzival, 330, 8-9. Barlaam und Josephat, 8202-8204. Deutschordenschronik, 38, 1. Bearbeitung von Ovids Metamorphosen, hrsg. von K. Bartsch (1861), XIV, 65-66. Parzival, 171, 22-24.

122

Der syntagmatische Dativ

und die Seele wird der Hölle näher gebracht', Wolfram von Eschenbach.101 Die nichtreflexive transitive Verwendung bildet zweifellos einen Rest des alten kausativen Charakters von neehen.102 Nach der mhd. Periode ist nähen eine rein phonologische Variante von nahen, bis es im 17. Jh. endgültig verschwindet.103 Dem Typus des adverbalen Dativs, der sich als Rest einer dreistelligen reflexiven Verwendung herausstellt, in der das Reflexivpronomen weggefallen ist, sind wir schon bei huldigen (s. § ΙΠ.4.) begegnet. Auch vom heute üblichen Verb sich nähern, das eine Verbalableitung vom Komparativ des Adjektivs nahe (näher) ist, sind historische Belege ohne Reflexivpronomen und mit adverbalem Dativ vorhanden. Das Verb existierte zwar schon im Mhd. (neeheren), war damals aber selten und stand statistisch weit hinter den Verben nähen und nazhen zurück. Die historischen Verwendungsmöglichkeiten sind denen von nahen sehr ähnlich. Auch nähern konnte, bevor es sich auf die heutige Norm [[Subjekt im Nominativ + [nähern + Reflexivpronomen im Akkusativ]] + fakultativer Dativ]

festlegte, noch in anderen Satzbauplänen gebraucht werden. Transitiver, nichtreflexiver Gebrauch in dreistelligen Konstruktionen mit Akkusativ- und Dativobjekt liegt vor in (20) und (21): (20) nehmt, ihr stunden, nehmt doch flügel, nähert mir das holde licht, Johann Christian Günther (1695-1723)104 (21) gram und alter näherten den marchese dem tode, Schiller;105 ein adverbaler Dativ hingegen findet sich z.B. in (22) und (23): (22) indessen näherten wir dem diebs-thurn (d.h.: 'dem Gefängnis')106

101 102

103 104 105 106

Willehalm, 303, 20-22. Die Norm der Reflexivität wird im älteren Nhd. bisweilen durchbrochen, vgl.: (19') er naht ihn (den schlüssel) der schmalen tür. Gottlieb Konrad Pfeffel (17361809), DW, VII, Sp. 291. s. DW, VII, Sp. 296. DW, VII, Sp. 297. a.a.O. DW, VII, Sp. 298.

nahen

123

(23) ein ziel, das wir nie ergreifen werden, wiewohl wir ihm ewig nähern, Wieland.107 Wir können schließen, daß der adverbale Dativ sich, historisch betrachtet, sowohl bei nahen als auch bei (sich) nähern als syntagmatisch-diakritisch motiviert herausstellt. Beim historischen Wegfall des Reflexivpronomens ging die Reflexivität auf die Verbbedeutung über, wodurch der Beitrag des Verbs zum Sinn des gesamten Satzes spezifischer wurde. Auffällig ist, daß die Verwendungen mit und ohne Reflexivpronomen fast die ganze Sprachgeschichte hindurch nebeneinander vorkommen, ohne daß sich diese Verwendungen lexikalisch aufspalten oder im Satz einen anderen Sinn bewirken. Die Schwankungen im Gebrauch eines Reflexivpronomens weisen keine eindeutige Richtung auf: Bei nähern hat sich die Norm schließlich für die reflexive Konstruktion entschieden, bei huldigen hingegen für die nichtreflexive, während man bei nahen die einstellige Verwendung bevorzugte.

107

a.a.O.

124

Der syntagmatische Dativ

III.6. wehren In der Gegenwartssprache wird wehren meist in einer reflexiven Konstruktion im Sinne von 'sich verteidigen, Widerstand leisten' verwendet, entweder ohne zusätzliche syntaktische Objekte, wie in: (1)

Er konnte sich nicht wehrenm,

oder mit einem Präpositionalobjekt mit gegen, wie in: (2)

Er wehrt sich energisch gegen einen Verdacht/eine Anschuldigung.109

Daneben existiert aber noch die - heute freilich ziemlich gehobene - Verwendung im Sinne von 'einer Sache/jmdm. entgegenwirken, eine Sache/ jmdn. hindern, bekämpfen' mit einem adverbalen Dativ, der Personen, Gegenstände oder auch Abstraktes bezeichnen kann, z.B.: (3) (4)

Sie wehrten dem Übel mit allen Mitteln110 Von diesem Augenblick an, da Jeanne die geliebte Genevieve umfängt und die ihr nicht wehrt.111

Der adverbale Dativ bei wehren, wie er aus den Sätzen (3) und (4) hervorgeht, ist diakritisch motiviert. Bezeugt ist das syntagmatische Motiv in der nach wie vor vorkommenden, allerdings veraltenden Verwendung des Verbs mit sowohl einem Dativ- als auch einem Akkusativobjekt, im Sinne von 'jmdm. etwas verwehren, jmdn. an etwas hindern'112, wie z.B. in: (5)

Man wehrte ihm den Zutritt.113

Heute verwendet man in Sätzen wie (5) statt wehren allerdings oft das entsprechende Präfixverb verwehren, ebenfalls mit Dativrektion: (5') Man verwehrte ihm den Zutritt. Regiert wehren heute den adverbalen Dativ, werden nicht alle vom Satzbauplan im Prinzip vorgesehenen Stellen besetzt. Zwar kann dabei strenggenommen nicht von "Valenzreduktion" die Rede sein. Wir sprechen statt des108 109 110 111 112 113

WDG, VI, 4286, Sp. 2. a.a.O. a.a.O. GWbdS, VIII, 3870, Sp. 2. WDG, VI, 4286, Sp. 2. vgl. GWbdS, VIII, 3870, Sp. 2.

wehren

125

sen von einer aktuellen Vereinfachung der "Stelligkeit" des Verbs, ohne daß Konnexionsbeschränkungen wie etwa bei huldigen vorliegen (s. § III.4.). Das Verb kann dreistellig verwendet werden (was früher noch öfter der Fall war, s. unten), ist in den Sätzen (3) und (4) aber nur zweistellig gebraucht. Weil eine im Prinzip besetzbare Stelle leer bleibt, wird die aktuelle Bedeutung des Verbs im Verhältnis zur dreistelligen Verwendung spezifischer. In welchem Sinn die Instanz, der man wehrt (und die eine Person oder eine Sache sein kann) gehemmt oder gestoppt wird, kann man im Normalfall aus der Redesituation oder allgemeiner aus dem Weltwissen erschließen. Ausgehend von dreistelligen Verwendungen des Verbs wie in Satz (5) kann man zu den Beispielen (3) und (4) unschwer noch ein Akkusativobjekt hinzudenken, das sich - so ließe sich allgemeingültig behaupten - auf die im Dativobjekt genannte Größe bezieht. Man vergleiche die folgenden Beispiele, die man als eine die Satzsemantik nur geringfügig modifizierende Explizierung der Sätze (3) und (4) auffassen kann: (3') (4')

°Sie wehrten dem Übel mit allen Mitteln die Ausbreitung °Von diesem Augenblick an, da Jeanne die geliebte Genevieve umfängt und die ihr die Handlung nicht wehrt.

Selbstverständlich kann man nicht ohne weiteres behaupten, daß Inhalte wie die in (3') und (4') hinzugefügten Akkusativobjekte oder ähnliche nominale Größen in (3) und (4) nur "nicht ausgedrückt" würden, oder daß sie, prozedural gewendet, als "abstrakte" und "implizierte" Inhalte der Verbsemantik von wehren aufzufassen wären. Ein dreistelliger Beispielsatz wie (5) aber weist darauf hin, daß es sprachgeschichtliche Gründe für die These gibt, in den Sätzen (3') und (4') werde als Gegenstand etwaiger Verhinderung explizit zur Sprache gebracht, was analog auch in (3) und (4) konzeptualisiert ist und was darüber hinaus nicht mit einem sog. "inneren Objekt" ("cognate object") zu verwechseln ist. Die folgende diachronische Rekonstruktion wird dieses Bild bestätigen, dabei wird sich aber herausstellen, daß der Valenzrahmen von wehren im Laufe der Geschichte höchst komplex war. Verwendungen mit adverbalem Dativ sind seit dem Ahd. belegt, vgl.: (6)

Uuio ofto neuuereta ih conigaste demo gotho . dänne er anauärtota uueichero manne güot? 'Wie oft habe ich nicht Conigast dem Goten Einhalt getan, als er schwache, gute Leute angriff?', Notker114

" 4 Piper, I, 26, 8.

126

(7)

Der syntagmatische Dativ

"Ginuag ist thär, " quad er zi in, "thiu mugun Urkunden sin thaz uuir in mugun uuerren, in thiu uuir thaz iruuellen " ' "Es gibt dort deren genug", sagte er zu ihnen, "sie können Zeugen sein, daß wir ihnen Widerstand leisten können, wenn wir uns nur dazu entschließen'" Otfi-id.115

Zwischen dem adverbalen Dativ in diesen Verwendungen (conigaste demo gotho und in) - die übrigens die beiden einzigen einschlägigen Beispiele für wehren mit adverbalem Dativ im ahd. literarischen Korpus sind - und den zahlreichen anderen Belegen, die neben dem Dativobjekt immer wenigstens noch ein Akkusativobjekt aufweisen, gibt es einen grundsätzlichen Zusammenhang, der die syntagmatisch bedingte, diakritische Basis des adverbalen Dativs verständlich werden läßt. In den Fügungen mit wehren + Akkusativ bezeichnet der Akkusativ, lokalistisch gesprochen, immer ein "Ziel", das man mittels der Aktion des Wehrens vor Angriffen zu schützen versucht. Geläufig ist die Konstruktion mit einem Reflexivpronomen als Akkusativobjekt, also im Sinne von 'sich verteidigen', z.B.: (8) (9)

Scäf neuuerint sih . uuir neuueren unsih 'Schafe verteidigen sich nicht, (also) wir verteidigen uns (auch) nicht', Notker116 Soso ein man sih seal uuerien ioh hereron sinan nerien 'So wie ein Mann sich verteidigen soll, um seinen Herrn zu retten', Otfrid.117

Wenn zu einer solchen reflexiven Konstruktion ein Dativobjekt hinzukommt, bezeichnet es ausnahmslos dasjenige, wogegen man sich wehrt: (10) Und gerno uuir et si sih tien . diu iro uuidere sint 'Und gern wehrt sie sich gegen diejenigen118, die gegen sie sind', Notker.119 Man kann ebenfalls eine andere Person als sich selbst verteidigen, und auch dann kann dasjenige, was man bekämpft, im Dativ ausgedrückt werden: (11) 'Nist er,' quädun, 'thäre, ther ίό thih so irfäre, gisünten uns thir derien; uuir motten thih in uuerien '"Es gibt dort keinen," sagten sie, "der je an dich kommen wird, 115 116 117 118 1,9

Piper, IV, 14, 16. Piper, II, 165, 23. Piper, IV, 17, 13. wörtlich: 'denen' (statt: 'gegen diejenigen'). Piper, I, 106, 5.

wehren

127

so lange wir gesund sind, um dir zu schaden; wir werden dich gegen sie120 verteidigen..."', Otfrid.121 Vor allem im Kontrast zu solchen Belegen mit dem Satzbauplan [[Subjekt im Nominativ + [Verb + Akkusativ]] + Dativ]

tritt der diakritische Grund für den adverbalen Dativ in (6) und (7) zutage. Zweistellige Verwendungen mit adverbalem Dativ kommen auch im Mhd. vor, wie u.a. Satz (12) zeigt, und nach wie vor sind sie, wie aus entsprechenden dreistelligen Verwendungen mit Akkusativ und Dativ hervorgeht (13), diakritisch motiviert, vgl.: (12) noch wart dem hunger nicht gewert 'noch wurde dem Hunger nicht entgegengewirkt' (d.h.: 'der Hunger wurde noch nicht gestillt'), Albrecht von Halberstadt (ca. 1180-1251)122 (13) do wolden si den gesten weren bürge unde lant 'da wollten sie die Städte und das Land gegen die Fremden verteidigen'.123 Neben diesen Verwendungen ist seit Notker nun aber noch ein zweiter Bedeutungsansatz bezeugt, dem ein anderer Valenzrahmen entspricht, vgl.: (14) Vuanda so predicatores paganis iro idola uueren beginnent 'Denn so fangen die Prediger an, die Heiden von ihren Götzen abzuhalten', Notker'24 (15) singent fone demo . der in iro ünreht uueret 'sie singen von dem ( = Gott), der sie von ihrem Unrecht fernhält', Notker.125 In diesen Beispielsätzen bezeichnet der Akkusativ, im Gegensatz zu (11), die Größe, die abgewehrt oder bekämpft wird, während der Dativ die Person nennt, die gegen das Abgewehrte in Schutz genommen wird, wörtlich also: den Heiden ihre Götzen zu wehren und der ihnen ihr Unrecht wehrtl Das Besondere daran ist, daß das Verhältnis zwischen Akkusativ und Dativ die genaue Umkehrung darstellt von allen bisher behandelten Belegen mit weh-

120 121 122 123 124 125

wörtlich: 'ihnen' (statt: 'gegen sie'). Piper, IV, 13, 53-54. Bearbeitung von Ovids Metamorphosen, hrsg. von K. Bartsch (1861), XX, 230. Das Nibelungenlied, 198, 4. Piper, II, 406, 13. Piper, II, 266, 28.

128

Der syntagmatische Dativ

ren, in denen der Dativ dasjenige nennt, dem die Abwehr gilt, während der Akkusativ die in Schutz genommene Instanz bezeichnet. Der Satzbauplan, in dem das Akkusativ/Dativ-Verhältnis wie in (14) und (15) umgedreht ist, ist nicht auf das Ahd. beschränkt. Vielmehr kommt er in der ganzen Geschichte der deutschen Sprache bis ins 19. Jh. vor. Entweder steht nur ein Akkusativobjekt, wie in (16), (17) und (18): (16) sie wollen morne vrüe hern: mit gots helfe wolle wirz126 wem 'sie wollen morgen früh mit einem Kriegsheer einmarschieren: Mit Gottes Hilfe werden wir es verhindern' (ca. 1290-1300)127 (17) es werden yhe zu letz etlich Romer odder frum bischoff und gelereten bepstlich tyranney mercken und weeren 'Letztendlich werden eines Tages auch verschiedene römisch-katholische Leute oder fromme Bischöfe und Gelehrte die päpstliche Tyrannei bemerken und bekämpfen', Luther128 (18) lasz neid und miszgunst sich verzehren das gute werden sie nicht wehren, Goethe129; oder es kommt noch ein Dativobjekt hinzu, das dann nicht dasjenige ausdrückt, was abgewehrt wird - wie z.B. in den Sätzen (11), (12) oder (13) - , sondern die Person, die man von demjenigen, was man abwehrt, fern- oder abzuhalten versucht, wie in (14) und (15)130: (19) Dö kom ich zuo dem swerte und wert' im sinen zorn 'Dann griff ich nach meinem Schwert und wehrte ihn von seinem Zorn ab'131

126

Das enklitische wirz ist im Mhd. eine übliche Kontraktion der Pronomen wir und ez. Livländische Reimchronik, 4483-4484. 128 DW, XIV, 1', Sp. 237. 129 a.a.O. 130 Das schließt durchaus nicht aus, daß wem/wehren auch im Sinne von 'fernhalten' von etwas nicht Abgewehrtem, nicht Negativem gebraucht werden kann, wie z.B. in: (18') swaz er tet oder lie nieman im daz werte 'was er auch immer machte, niemand konnte ihn davon abhalten', Ulrich von Türheim, Tristan (Mitte des 13. Jahrhunderts), DW, XIV, l 1 , Sp. 245. 131 Nibelungenlied, 1606, 1. 127

wehren

129

(20) den Preuszen das einlauffen (...) zu wehren, bawete der orden eine festung, Caspar Hennenberger (1529-1600)132 (21) Ich kanns meinerfrau nicht wehren, dasz sie geld (...) ausgiebt, Otto Ludwig (1813-1865).133 Manchmal wird die Person im Dativ nicht bloß von etwas 'ferngehalten', sondern sogar vor einer Sache 'geschützt'. Der Inhalt von wehren (mhd. wem) ist dann nicht mehr weit vom Bedeutungsansatz 'verteidigen' entfernt, dem wir in Satz (13) begegnet sind, nur ist die Kasusverteilung umgekehrt. Man vergleiche den Unterschied zwischen (22) und (13): (22) swer dem tören sünde wert der hat im die sele ernert 'jeder, der den Toren von der Sünde fernhält, der hat ihm die Seele gerettet', Freidank (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts)134 (13) do wolden si den gesten weren bürge unde lant 'da wollten sie die Städte und das Land gegen die Fremden verteidigen'. Trotz der redesemantischen Vielfalt weisen alle Beispiele eine auffallende und kasusmorphologisch bedeutsame Gemeinsamkeit auf: Der Dativ bezeichnet in dreistelligen Konstruktionen ausnahmslos ein Lebewesen (eine Person), im Gegensatz zum Akkusativ, der sowohl Sachliches als auch Persönliches bezeichnen kann. Die Umkehrung der Kasusfunktionen ist somit dahingehend eingeschränkt, daß Konstruktionen mit Dativ der Sache und Akkusativ der Person nicht vorkommen. Bei dreistelligen Konstruktionen impliziert ein Akkusativ der Person automatisch auch einen Dativ der Person, wie z.B. aus den Sätzen (11) und (14) hervorgeht. In dem Fall ist eine Umkehrung der Kasusfunktionen tatsächlich möglich, in (14) nennt der Dativ die Person, von der man die im Akkusativ genannte Person abzuhalten versucht, in (11) dagegen die Person, die man von der im Akkusativ genannten Person abhält. Die Behauptung, daß der Dativ im deutschen Kasussystem der "Personenkasus" sei, gilt im Hinblick auf ein Verb wie wehren also nur in bezug auf dreistellige Konstruktionen.

132

133 134

DW, XIV, 1", Sp. 244; vgl. auch Stieler 1691, Sp. 2511: Einem den Muhtwillen ren (lat.: petulantiam alicuius frangere). DW, XIV, 1', Sp. 246. DW, XIV, l 1 , Sp. 244.

weh-

130

Der syntagmatische Dativ

Im Deutschen Wörterbuch wird bei der Behandlung des Stichworts wehren eine historische "Grundbedeutung" des Verbs postuliert, die wie folgt lautet: 'den zugang zu einem gegenständ sperren'. Auf der Grundlage dieser Bedeutung unterscheidet das Wörterbuch zwischen zwei geschichtlichen "Hauptrichtungen", einer mit dem Inhalt 'verteidigen' und einer anderen mit dem Inhalt 'hindern'.135 Diese Unterscheidung ist zwar lexikographisch-technisch berechtigt, trifft historisch aber doch nur zum Teil zu. Falsch wäre es auf jeden Fall, zu behaupten, es handle sich um zwei homonyme Verben, zwischen denen kein systematischer lexikalsemantischer Zusammenhang existiere. Die allgemeine Kernbedeutung lautet in beiden Fällen für die ganze Geschichte etwa 'durch Widerstand weghalten, zurückdrängen'. Diese Kernbedeutung wird in den unterschiedlichen Verwendungen historisch jeweils anders konkretisiert, und gerade eine Beschreibung der Kasusgeschichte des Verbs wehren und der Geschichte seiner komplexen, sich im Laufe der Zeit wandelnden Valenzrahmen wirft darauf ein neues, klärendes Licht. Dabei stellt sich aber heraus, daß die Funktionen der Kasus bei den Verwendungen von wehren nicht so sehr darin bestehen, feste Kasusbedeutungen zu vermitteln oder thematische Rollen bzw. Aktanten und Zirkumstanten zu bezeichnen. Nur die normgemäße Differenz zwischen sachlichen und persönlichen Objekten steht fest; ansonsten dienen die Dativ- und die Akkusativmarkierung nur dazu, auf der syntagmatischen Ebene zwei unterschiedliche - und grundsätzlich zu unterscheidende - Satzglieder morphosyntaktisch voneinander abzuheben. Die eigentliche "semantische Erfüllung" der Funktionen, die die Satzglieder in der jeweiligen Realisierung bekommen, wird dabei weder durch das Verb noch durch die Kasusmarkierung selbst bewirkt. Es sind letztlich pragmatische Faktoren der Redesituation, des jeweiligen Kontextes, die die Kasusverteilung in referentieller Hinsicht motivieren. Wir wollen dies anhand von zwei Beispielen, (23) und (24), zusätzlich verdeutlichen: (23) Clamide: ist er kämpf es basre so daz sinm däfür hat erkant daz er ir lip und ir lant mir mit kämpfe türre wem, so si ein fride von beden hern 'wenn er (= Parzival) zum Zweikampfbereit ist, 135 I3 Der Polizist winkte den Wagen zur Seite (s. §111.10.). Vereinzelt kommen Belege für die diakritische Dativ/Akkusativ-Verteilung vor, wie z.B. im folgenden Beispielsatz, in dem dir ein Pertinenzdativ ist: (48) hüte dich! sie wird gewisz mit streicheln aus dem busen einst das herz dir schmeicheln, Friedrich Rückert (17881866).377 374 375

376 377

a.a.O. a.a.O. Auch Campe 1807ff, IV, 208, Sp. 1 nimmt dieses Beispiel auf ("Doch ist diese Fügung ein wenig hart"), hält den Genitiv - abermals in der Nachfolge Adelungs (1793ff, III, Sp. 1562-1563) - jedoch für typisch oberdeutsch und erklärt ihn, ganz wie Adelung und vollkommen in Übereinstimmung mit der traditionellen Begründung für den adverbalen Genitiv, aufgrund einer Ellipse: ich schmeichle mir ihres Beifalles, mit der Hoffnung ihres Beifalles. Für alle Belege s. DW, IX, Sp. 986. a.a.O.

278

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Den Belegen läßt sich entnehmen, daß die diakritische Motivation für den adverbalen Dativ, die wir zur Grundlage der GRUPPE Α gemacht haben, bei der Dativrektion von schmeicheln geschichtlich zwar möglich und vereinzelt auch belegt ist (Dativ/Genitiv und Dativ/Akkusativ, neben Akkusativ/Genitiv), daß die diakritische Motivation jedoch eine untergeordnete Rolle spielt, z.B. auch im Vergleich zum vorigen Verb fluchen (s. § IV.4.). Statt dessen dürfte der Unterschied zwischen schmeicheln + Dativ und schmeicheln + Akkusativ wesentlich mit der ebenfalls syntagmatisch bedingten Tatsache zusammenhängen, daß die Dativrektion prototypisch für den zweistelligen Satzbauplan war, zu dem eventuell noch Angaben in der Form von Präpositionalphrasen gehören konnten, während die Akkusativrektion prototypisch in jenen Fügungen Verwendung fand, in denen die Präpositionalphrase unmittelbar zum Verb selbst gehörte. Der Unterschied zum diakritischen Motiv des adverbalen Dativs bei den Verben der GRUPPE Α besteht somit darin, daß die syntagmatisch induzierte Kasusverteilung bei schmeicheln zugleich in einer paradigmatischen Kasusopposition zwischen Dativ und Akkusativ gründet. Das wird deutlich, wenn man den Satzbauplan Subjekt - Verb - Dativobjekt Präpositionalphrase in den Sätzen (31), (32), (33), (34) und (35) mit dem Satzbauplan Subjekt - Verb - Akkusativobjekt - Präpositionalphrase in (44), (45), (46) und (47) vergleicht. Während in der ersten Reihe fünfmal von jmdm. schmeicheln die Rede ist, und zwar genauer ums Kinn, mit Blumen, mit der Wahrheit, für etwas und mit einer Vorstellung, wird die im Akkusativ genannte Person in der zweiten Reihe von Sätzen in das Netz, aus dem Zimmer hinaus-, aus einem Arm und beiseitegeschmeichelt. Ein Dativ scheint in den Beispielsätzen (44) bis (47) denn auch so gut wie ausgeschlossen zu sein, die lokale Adverbialbestimmung, die eine bestimmte Richtung angibt, verlangt ein Objekt im Akkusativ. Mit dieser Feststellung läßt sich der Schluß verbinden, daß der Akkusativ bei schmeicheln ehemals eine syntaktisch ausgezeichnete Stellung bekleidete, und es ist bezeichnend, daß sich Fügungen wie aus dem Zimmer hinausschmeicheln oder komplexe Verben wie beiseiteschmeicheln auch nicht tradiert haben. Die besondere ehemalige Funktion des Akkusativs bei schmeicheln geht auch daraus hervor, daß die Verwendungen des Verbs als adjektivischer Redeteil (in der Form eines zweiten Partizips) - wie z.B. in ein geschmeicheltes Bild - und als Satzadjektiv - z.B. in Ich bin geschmeichelt - durchaus gebräuchlich geblieben sind. An solchen Verwendungen von schmeicheln ist ablesbar, daß die Akkusativrektion des Verbs historisch offenbar nachhaltig wirksam gewesen

schmeicheln

279

ist, auch wenn in den genannten zeitgenössischen Beispielen strenggenommen keine Rektion mehr sichtbar ist378; die Formen von schmeicheln scheinen darin eher deverbale Adjektive als gebeugte Formen des Verbs zu sein.379 Daß solche Verwendungen jedoch auf eine Akkusativrektion zurückgehen, ist klar. Erhellend sind in diesem Zusammenhang einige Bemerkungen Joachim Campes. Von Johann Adelung übernimmt Campe die Ansicht, daß persönliche Passivkonstruktionen wie (49) Bin ich nicht geschmeichelt?/Ich bin geschmeichelt/Ich werde geschmeichelt, auch wenn sie häufig sind, aufgrund der Dativrektion des Verbs in aktiven Sätzen "unrichtig" seien.380 Campe tadelt den Akkusativ in dem Satz Goethes (vgl. [47]) Er schmeichelte sie doch bei seit' jedoch nicht, sondern erklärt ihn semantisch, indem er das Verb als 'durch Schmeicheln bewirken' unschreibt und spezifiziert: 'd.h. er brachte sie durch Schmeicheln doch auf die Seite'.381 Legt man dem obigen syntagmatisch-paradigmatischen Urteil über den Unterschied zwischen schmeicheln + Dativ und schmeicheln + Akkusativ darüber hinaus die Satzsemantik der Beispielsätze (31) bis (35) einerseits und der Sätze (44) bis (47) andererseits zugrunde, dann fügt sich der Unterschied durchaus in das Bild der systematischen paradigmatischen Differenz zwischen Akkusativ ("Kohärenz") und Dativ ("Inkohärenz") ein.

378

379 380 381

Mit Recht wird in Hermann Pauls Deutschem Wörterbuch (749, Sp. 2) darauf hingewiesen, daß in Fügungen wie beispielsweise ich flihle mich sehr geschmeichelt das Wort geschmeichelt "jetzt allg(emein) in der festen Formel wie geehrt" verwendet wird. Dies gilt vor allem für die Form des zweiten Partizips, da sie bei Verben mit adverbalem Dativ als Attribut im Prinzip nicht möglich ist (vgl. *die gedankte Person), dies im Unterschied zum ersten Partizip (vgl. die dankende Person). Auch in ein schmeichelndes Parfüm und schmeichelnde Musik ist die idiosynkratische Bedeutungsentwicklung schon weit vorangeschritten, wenn auch gewisse Verbindungen zum heutigen Dativverb schmeicheln nach wie vor bestehen (bzw. α posteriori wiederhergestellt werden können). vgl. noch eine geschmeichelte ( = 'zu günstige') Zahl, WDG, V, 3254, Sp. 2. Campe 1807ff, IV, 208, Sp. 1; vgl. Adelung 1793ff, III, Sp. 1563, Anm. 1. Campe 1807ff, IV, 208, Sp. 2.

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

280

IV.6. eignen Heutzutage wird das Verb eignen vorwiegend reflexiv verwendet, in der Bedeutung 'die erforderlichen, zweckentsprechenden Eigenschaften besitzen',382 und zwar mit dem Reflexivpronomen im Akkusativ und einem Präpositionalobjekt als Ergänzung, die den Zweck ausdrückt, z.B.: (1)

Das Gerät eignet sich für diese Arbeit.

Daneben existiert auch noch die etwas gehobene, nichtreflexive Verwendung 'jmdm., einer Sache als Merkmal, Eigenschaft zugehören',383 die immer einen adverbalen Dativ fordert, z.B.: (2)

Dem Gebäude eignen spätgotische Züge.

Das Deutsche Wörterbuch, das zwei Stichwörter ansetzt, unterscheidet bei eignen zwischen einer Ableitung vom Adjektiv eigen, auf die das heutige Simplexverb eignen zurückgehe, und einer Ableitung vom Substantiv Eigen (heute gehoben oder veraltet für Eigentum), die nur noch in den Präfixbildungen aneignen, zueignen und übereignen überlebt habe.384 Sowohl das Adjektiv wie das Substantiv gehen letzten Endes auf das verschwundene ahd. präteritopräsentische Verb eigan zurück. Die Ableitung vom Adjektiv ist mit derjenigen des Substantivs homonym. Man findet in beiden Fällen in der Geschichte des Verbs sowohl eigenen wie auch die synkopierte Form eignen. Die Unterscheidung zwischen einer deadjektivischen und einer desubstantivischen Ableitung iußt also ausschließlich auf semantischen Überlegungen. Bei der Ableitung des Verbs eignen vom Substantiv Eigen betrifft der Verbinhalt wechselnde Besitzverhältnisse. Er ist am ehesten als 'zu eigen machen, in Besitz geben' zu umschreiben. Die Ableitung vom Substantiv ist wesentlich älter als die vom Adjektiv. Sie findet sich bereits ein einziges Mal im überlieferten ahd. literarischen Korpus, nämlich bei Otfrid: (3)

382 383 384

Yrkenn er thesa lera ioh sehe thärana in uuära, sifon gote queme thir, odo ih sia eigine mir

DUW, 393, Sp. 2. a.a.O. DW, VII, Neubearbeitung, Sp. 440-443. Die Erstfassung der Brüder Grimm setzt für alle Verwendungen ein Stichwort an, versucht sich jedoch offenbar nicht an irgendeiner Genealogie, s. DW, III, Sp. 104-105.

eignen

281

ΈΓ nehme Kenntnis von dieser Lehre und erkenne daran (d.h.: 'sehe daran für wahr'), ob sie einem von Gott kommt oder ob sie von mir stammt', Otfrid.385 Eignen ist hier reflexiv und dreistellig verwendet, also mit dem Inhalt 'sich zueignen, aneignen'. Der Satzbauplan mit Akkusativ- und Dativobjekt kehrt im Mhd. wieder, z.B.: (4)

(5) (6)

(7)

den im der Lütringer dem töde het geigent 'den ihm386 der Lautringer getötet hat' (d.h. wörtlich: 'den ihm der Lautringer dem Tod eigen gemacht hat, dem Tod zugesprochen hat')3®7 daz sich der mensche geeigenet hatte dem tüvele 'daß sich der Mensch dem Teufel zu eigen gegeben hat' (14. Jh.)388 so wil ich dir umb dine vinsternisse min ewig lieht eigenen 'dann will ich dir wegen deiner Finsternis mein ewiges Licht zu eigen geben', Johannes Tauler (ca. 1300-1361)389 eygen dich gode, so is got dyn eygen 'Übereigne dich Gott, so ist Gott dein Besitz', Meister Eckhardt (Anfang 14. Jh.).390

Das Dativobjekt kann auch fortgelassen werden: (8)

die maur von dem hailig creutzer tor biß zu unser lieben frawen tor die wollen sie eignen und sprachen, sie wer ir und nit der burger 'Die Mauer vom Heiligkreuztor bis zum Liebfrautor wollten sie in Besitz nehmen, und sie sagten, sie gehöre ihnen und nicht den Bürgern' (um 1450).391

Aus jenen dreistelligen reflexiven Verwendungen von eignen entwickelt sich im Frühnhd. auch der Bedeutungsansatz 'widmen', der bis in die Goethe-Zeit produktiv bleibt, vgl.: (9)

385

Sich den Künsten eigenen392

Piper, III, 16, 17-18. im ist hier ein ethischer Dativ. 3,7 Lohengrin, 5263; vgl. nahezu identisch im Passiv 5707. 388 Altdeutsche Predigten, hrsg. von A. Schönbach (1886/1964), I, 79, 33. 389 Predigten, hrsg. von F. Vetter (1910), I, 47, 17. 390 Predigten, hrsg. von J. Quint (1958), I, 239, 8. 391 DW, VII, Neubearbeitung, Sp. 440. 392 Stieler 1691, Sp. 25. 386

282

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

(10) Sie spähete (...) sorglich den Wünschen des Mann 's, dem sie sich eignete, nach.™ Die Verbalableitung vom Adjektiv eigen kommt erst seit dem 16. Jh. häufig vor. Anfänglich können zwei Verwendungen des Verbs unterschieden werden, nämlich als 'ziemen' (11) und 'zustehen' (12). Aus letzterer Verwendung entwickelt sich später dann der moderne Gebrauch im Sinne von 'als Eigenschaft zukommen, zugehören' (13); vgl.: (11) so hilde er do eyne taberne, dess doch eyme frummen priester nicht eygente 'so hielt er dort eine Schankwirtschaft, was einem frommen Geistlichen nicht ziemt', Wigand Gerstenberg (1457-1522)394 (12) das itzlich krige, das em eigint vor das syn 'daß jeder bekomme, was ihm vor dem Rat zusteht' (15. Jh.)395 (13) all das fände nicht statt, wenn dem menschen keine freiheit eignete (1976).396 In diesen Beispielen steht die Bedeutung von eignen in dem Sinn dem Adjektiv eigen näher, daß es sich um unveränderliche Eigentumsverhältnisse handelt. Im Deutschen Wörterbuch werden Belege wie (11) auf eigen im Sinne von 'jmdm. oder etwas entsprechen, gemäß oder angemessen' zurückgeführt,397 Belege wie (12), (13) u.ä. hingegen auf den Gebrauch von eigen als 'bezeichnung des possessiven Verhältnisses'.398 Damit ist die Trennung zwischen der deadjektivischen und der desubstantivischen Ableitung freilich nicht unumstößlich bewiesen, denn strenggenommen könnten auch Verwendungen wie (11) und (12) vom Substantiv Eigen abgeleitet sein. Darüber hinaus sind auch keine zwingenden semantischen Gründe dafür vorhanden, den Gebrauch von eignen im Sinne von 'übereignen, aneignen' auf das Substantiv statt auf das Adjektiv zurückzuführen. Allerdings sind die Bedeutungen der beiden Typen von Verwendungen so weit voneinander entfernt, daß wahrscheinlich mit zwei unterschiedlichen Ableitungen gerechnet werden muß (ob vom Substantiv, vom Adjektiv oder sogar von beiden sei dahingestellt), zumal diachronisch in den von uns herangezoge393

GWb, II, Sp. 1415. 3M D W v n Neubearbeitung, 395 a.a.O. 396 DW, VII, Neubearbeitung, 397 DW, VII, Neubearbeitung, see D W v n Neubearbeitung,

Sp. 422. Sp. 443. Sp. 379. Sp. 370.

eignen

283

nen lexikographischen Werken keine überzeugenden Belege ausfindig gemacht werden konnten, die auf einen historischen, graduellen Übergang der einen Verwendung (die im Deutschen Wörterbuch auf Eigen zurückgeführt wird) in die andere (die auf eigen zurückgeführt wird) hinweisen. Neben semantischen Merkmalen trennt auch ein wichtiges syntaktisches Merkmal beide Typen: eignenx 'übereignen, aneignen' hat obligatorisch ein Akkusativobjekt und meist auch noch ein Dativobjekt, während eigner,ij 'ziemen, zustehen' nur einen (obligatorischen) adverbalen Dativ hat.399 Da also eignen2 'ziemen, zustehen' - und später auch 'zugehören' - eine eigenständige Schöpfung ist, steht der adverbale Dativ bei diesem Verb historisch-genetisch nicht in einem diakritischen Verhältnis zu einem Akkusativobjekt, das im Valenzrahmen von eignenx 'übereignen, aneignen' tatsächlich vorhanden ist. Erwartungsgemäß gibt es keine Belege, in denen man das Akkusativobjekt bei eignenl auslassen könnte und wobei, wie etwa im Fall von kündigen, die übrigbleibende syntaktische Konstruktion mit nur einem Dativobjekt einen "verengten", jedoch sinnvollen Inhalt im Sinne von 'ziemen, zustehen' bekäme. Der adverbale Dativ bei eignerij 'ziemen, zustehen' ist ursprünglich also rein paradigmatisch bedingt. Er erklärt sich aus einer oppositiven Unterscheidung vom letztlich homophonen eignem 'übereignen, aneignen', das immer einen Akkusativ fordert und anfangs weit üblicher war. Es ist die adverbale Dativrektion, die die eigenständige Bedeutung von eignem überhaupt erst ermöglicht. Die beiden folgenden Abstraktionen der historischen Belege mögen das verdeutlichen: (14) sie eignet (jmdm.) die Sache 'sie macht (jmdm.) die Sache zum Eigentum' oder 'übereignet (jmdm.) die Sache' (eignen,) (15) sie eignet der Sache 'sie (z.B. die Gewohnheit) paßt zu der Sache' oder 'sie (z.B. die Eigenschaft) gehört zur Sache' (eignen2). Die Opposition zwischen dem dativischen eigner% im Sinne von 'ziemen, zustehen' bzw. 'als Eigenschaft zugehören' und dem akkusativischen eignenx im 399

Das Deutsche Wörterbuch (VII, Neubearbeitung, Sp. 441) rechnet auch folgenden mhd. Beleg (13') dü (= Gott) häst dir selber die sile nMurlich geeignet unde glich geordert, der sowohl ein Akkusativ- wie ein Dativobjekt enthält, zu dem vom Adjektiv abgeleiteten Typ. Zu Unrecht wird er aber inhaltlich mit eigner^ in Zusammenhang gebracht. Es handelt sich hier um eine eigenständige Ableitung (die übrigens selten ist) im Sinne von 'gleich machen an'. Eine adäquate Übersetzung lautet: 'du hast die Seele auf natürliche Weise dir angeglichen und in der gleichen Weise geordnet'.

284

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Sinne von 'übereignen, aneignen' hat es noch bis ins 20. Jh. gegeben. In Das deutsche Wort (1953) z.B. steht eignen noch als transitives Verb mit der Bedeutung 'etwas einem zu eigen geben' verzeichnet. Der adverbale Dativ bei eignen2 geht, obwohl er deutlich paradigmatischen Ursprungs ist, im Laufe der Zeit jedoch Beziehungen diakritischer Natur ein. Syntaktisch entwickelt sich innerhalb des Bedeutungsbereichs 'ziemen, zustehen' beim adverbalen Dativ früh eine Opposition zu einer mediopassiven, unpersönlichen Konstruktion 'sich ziemen', mit einem Reflexivpronomen im Akkusativ, vgl.: (16) alsso wart Elyzabeth [...] uffgeczogin mit allem flisse, alss sich das eygente 'also wurde E. mit allem erdenklichen Fleiß erzogen, ganz wie es sich ziemte', Wigand Gerstenberg.400 Vor allem im 19. Jh. sind - wie auch heute noch - persönliche reflexive Konstruktionen mit einer Präpositionalergänzung mit zu oder für üblich, im Sinne von 'tauglich sein für'; ein frühes Beispiel: (17) indeß hat die mahlerey einen zweig, der ganz für das privatleben sich zu eignen scheint, das portrait (1793).401 Noch im 19. Jh. sind rein transitive Verwendungen mit dem Inhalt 'befähigen zu' "nicht selten"402, vgl.: (18) es ist eigentlich die organisation der frucht, welche diese eignet, die von selten des geburtsorgans [...] ihr allenfalls zufallenden mißhandlungen [...]zu ertragen (1825).403 Die mediopassive Konstruktion, bei der das (akkusativische) Reflexivpronomen rein grammatisch bedingt ist, ist also im Laufe der Geschichte des Verbs mehrfach zu einer rein aktivischen transitiven Konstruktion umgebildet worden. Bei Goethe findet sich sogar eine diakritische Remotivierung des adverbalen Dativs bei eignen 'als Eigenschaft zustehen, zugehören' auf der Grundlage der reflexiven Konstruktion:

400 401 402 403

DW, VII, Neubearbeitung, Sp. 442. a.a.O. a.a.O. a.a.O.

eignen

285

(19) Jene Art des Anschauens gewährt der künstlerische Blick, diese eignet sich dem Naturforscher.m Aus der obigen Analyse geht hervor, daß das Verb eignen in mancher Hinsicht einen Spezialfall darstellt. Die Tatsache, daß wir es zur GRUPPE Β rechnen, verdankt es dem Umstand, daß eignen mit adverbalem Dativ sprachgeschichtlich in einer paradigmatischen Opposition zu einem homonymen Verb steht, das selber an erster Stelle den Akkusativ regiert, jedoch auch in dreistelligen Satzbauplänen mit diakritischer Obliquusverteilung belegt ist. Darüber hinaus entwickelte eignen mit adverbalem Dativ im Laufe der Zeit Strukturen, in denen der ursprünglich rein paradigmatisch fundierte Dativ eine zusätzliche syntagmatische Rolle in dreistelligen Satzbauplänen spielte.

404

GWb, II, 1415, Sp. 1.

286

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

IV.7. helfen Für die These, daß der adverbale Dativ bei helfen sowohl syntagmatische wie paradigmatische Motive aufweist, finden sich bereits bei Jacob Grimm wichtige Ansätze. Dem Deutschen Wörterbuch zufolge geht die "hauptbedeutung" von helfen auf "die allgemeine Vorstellung nützen, dienen" zurück, und diese Bedeutung gliedere sich in zwei Verwendungstypen, je nachdem, ob das Verb mit einem persönlichen oder einem unpersönlichen Subjekt stehe.405 In Verbindung mit einem persönlichen Subjekt hebe helfen "einen bewusten, thätigen beistand, eine Unterstützung hervor", in Verbindung mit einem unpersönlichen Subjekt "nur einen nutzen, eine förderung".406 Wie aus dem Abschnitt 1.2.1. hervorging, zieht Jacob Grimm das Verb helfen in seiner Deutschen Grammatik aber auch als Beispiel heran, um zu zeigen, daß es "keine fahrlässigkeit, sondern glückliche gäbe der älteren spräche" sei, wenn sie den Akkusativ oder den Dativ einsetzen kann, "je nachdem sie die ruhig erfolgende einwirkung auf ein object, oder das subjectivere Verhältnis bezeichnen will, was hilft mich das? ist objectiver geredet, was hilft mir das? persönlicher".407 Weil hier beide Male das Subjekt sachlich ist (das), liegt der Schluß nahe, daß die Unterscheidung zwischen "objektivem" Verhältnis im Akkusativ und "subjektivem" Verhältnis im Dativ nicht mit jener Differenzierung identisch ist, die den Unterschied zwischen "bewußtem, tätigem Beistand" und bloßem "Nutzen" an dem unterschiedlichen Subjekttyp (persönlich oder unpersönlich) festmacht. Es ist Sache der historischen Rekonstruktion herauszufinden, inwiefern die Rektion des Verbs helfen in dem Sinn grammatisch motiviert ist, daß ein persönliches Subjekt einen Dativ, ein unpersönliches Subjekt indessen einen Akkusativ induziert, oder inwiefern der morphologische Kasusunterschied durch im engeren Sinn paradigmatische Differenzen bedingt ist (subjektiv > Dativ vs. objektiv > Akkusativ). Dabei ist von vornherein klar, daß jene beiden Motivationstypen einander im Prinzip nicht ausschließen müssen, sondern sich vielmehr gegenseitig ergänzen können. Wir werden sehen, daß der Unterschied zwischen persönlichem und unpersönlichem Subjekt tatsächlich der Schlüssel 405 406 407

DW, IV, 2, Sp. 950. a.a.O. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 727 (Originalpag. 620); Kursivierungen von uns hinzugefügt, K.W./J.V.P.

helfen

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zum richtigen Verständnis des adverbalen Dativs bei helfen ist. Die Korrelation des Akkusativs mit einer "objektiven" Äußerung und des Dativs mit einer "subjektiven" Äußerung wird sich hingegen als nicht haltbar herausstellen, es sei denn, man verknüpft diesen Unterschied unmittelbar mit jener Korrelation auf der Ebene des Satzgefüges zwischen Subjekttyp und Rektion. In dem Fall erweist sich der Unterschied zwischen "persönlichem, subjektivem Helfen" und "unpersönlichem, objektivem Nützen" freilich als eine abermalige Bestätigung der Beobachtung, daß die Rektion von helfen - und dies bis ins 19. Jh. - wesentlich durch den Subjekttyp bedingt wird, denn es entspricht unserem Weltwissen, daß normalerweise etwas - sei es eine konkrete oder eine abstrakte Sache - einer Person nutzt, während oft gilt, daß jemand einer anderen Person hilft. Beginnen wir mit dem grammatisch einfachsten Satzbauplan. Bereits seit den frühesten Belegen im Ahd. ist der absolute Gebrauch des Verbs helfan nachweisbar, u.a. bei Otfrid und Notker: (1)

ni hilflt gotouuebi thär 'dort hilft (nutzt) kein edler Stoff (kein feines Gewebe)', Otfrid408 Übe du nehilfest. so gemäg er mir 'Wenn du nicht hilfst, dann bekommt er Macht über mich', Notker.409

(2)

Zahlreich sind die absoluten Belege im Ahd. jedoch keineswegs, im Gegenteil. Ob dies ein Zufall der Überlieferung ist oder nicht, ist schwer zu entscheiden, aber aufgrund dieser Tatsache sind Schlußfolgerungen in bezug auf das Verhältnis zwischen persönlichem und unpersönlichem Subjekt oder zwischen subjektivem und objektivem Sinngehalt in einstelligen Konstruktionen auf jeden Fall nicht möglich. Seit dem Mhd. gibt es für den absoluten Gebrauch mehr Belege. Gebräuchlich ist die absolute Verwendungsweise selbstverständlich beim Ausruf, wie in: (3)

"hilfä, künic here!... " '"Hilfe, König, Herr!..."'. 410

Einige andere Beispiele aus mhd. und nhd. Zeit, die den absoluten Verwendungstyp, zugleich aber auch dessen pragmatische Einschränkungen exemplifizieren, sind:

408 409 4,0

Piper, V, 19, 46; Kelle 1870, 437, 91 übersetzt : 'Nicht helfen Edelstoffe dort'. Piper, II, 17, 7-8. Kudrun, 686, 2.

288 (4) (5) (6)

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

mäc hilf et wol, friunt verre baz 'der Verwandte hilft gut, der Freund viel besser', Walther von der Vogelweide411 hier kann kein irdischer lebensmensch mehr helfen, Heinrich Heine (1797-1856)412 hilfis nicht, so schadts nicht, Karl Simrock (1802-1876).413

Aus den Beispielsätzen geht auf jeden Fall hervor, daß helfen sowohl in Verbindung mit persönlichem als auch mit unpersönlichem Subjekt absolut verwendet wird, und das gilt auch heute noch (vgl. Das Mittel hilft und Alle Schüler halfen). Gehen wir jetzt zu den nichtabsoluten Verwendungen über. Ist das Subjekt eine Person, so tritt helfen seit dem Ahd. sehr häufig in zweistelligen Konstruktionen auf, in denen das Verb in der Regel mit einem Dativ verbunden wird. Dieser Dativ bezeichnet bei Otfrid immer eine Person414; wir beschränken uns auf ein einziges Beispiel: (7)

Iä hilfist thu iö mit uuillen thesen liutin allen 'Du hilfst fürwahr immer gern allen diesen Leuten'.415

Der Dativ kann auch ein Reflexivpronomen sein, wie in: (8)

Nu helf er imo selben üfan themo gälgen 'Nun helfe er sich selbst dort oben an dem Kreuz', Otftid.416

Daneben kann helfan ebenfalls den Akkusativ regieren. Dies ist bei Otfrid lediglich in Verbindung mit einem unpersönlichen Subjekt der Fall, und zwar in den beiden folgenden Belegen417: (9)

411 412 413 414 415 416 417

Uvaz hilfit nu then muadon man, ther hiar giheret sö främ, thaz sint imo untar henti ellu uuoroltenti...?

Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 79, 24. a.a.O. DW, IV, 2, Sp. 955. s. Piper, II. Teil, 189, Sp. 1. Piper, III, 10, 21. Piper, IV, 30, 15. vgl. Piper, I. Teil, 459, Anm. zu III, 13, 31 und zu IV, 13, 6.

helfen

289

'Was hilft (nutzt) es nun dem unglücklichen Mann418, der hier so tüchtig herrscht, daß ihm die ganze Welt419 gehört ...?'420 (10) ni hilfit iuihm thiu ila 'euch hilft (nutzt) die Eile nicht'.422 Aus den Belegen bei Otfrid geht mithin in aller Klarheit hervor,daß der Unterschied zwischen Dativ- und Akkusativrektion bei helfen syntagmatisch durch den Subjekttyp bedingt ist und vor dem Hintergrund der Kasusschwankung zwischen Dativ und Akkusativ somit eine paradigmatisch-syntagmatische Grundlage hat. Ob dieser Eigentümlichkeit darüber hinaus auch ein weiterer rein paradigmatischer Unterschied im Bereich der Obliqui entspricht, ist zumindest bei Otfrid viel weniger deutlich. Das Verb kann sowohl in (9) wie in (10) durch 'helfen' oder durch 'nutzen' transkribiert werden, und in den beiden Sätzen ein Verhältnis erblicken zu wollen, das "objektiver" ist als in den Sätzen mit Dativrektion, scheint kaum begründet zu sein, jedenfalls nicht, wenn das etwas anderes besagen soll als die Feststellung, daß in (9) und (10) helfen mit einem sachlichen Subjekt verbunden wird. Dieses Bild ist etwas weniger scharf, wenn wir zusätzlich die erheblich größere Anzahl von Belegen bei Notker heranziehen. In gut 90% der Fälle verwendet Notker das Verb helfen in zweistelligen Verbindungen mit einem persönlichen Subjekt, und es regiert dann ausnahmslos einen Dativ der Person, wie z.B. in so einfachen Beispielen wie: (11) Got hilf mil™ (12) Τέτηο uueisen httfest tu 'Dem Waisen wirst du helfen'424 (13) Vnde httfet in Got 'Und Gott wird ihnen helfen'425; auch in Verbindung mit Pronominaladverbien steht der Dativ, vgl.: (14) Chumet er in freisun . er hilfet imo darüz 'Kommt er in Gefahren, dann wird er ihm daraus helfen'.426 418 419 420 421 422 423 424 425 424

lat.: Quid enim proficit homini bzw. Quid enim prodest homini. wörtlich: 'alle Grenzen der Welt'. Piper, III, 13, 31; lat.: si mundum universum lucretur. iuih (= iuwik) ist der Akkusativ zu ir. Piper, IV, 13, 6. Piper, II, 274, 22; lat.: Deus adiuua me. Piper, II, 30, 9; lat.: Pupillo tu eris adiutor. Piper, II, 134, 26-27; lat.: Et adiuuabit eos dominus. Piper, II, 131, 19-20.

290

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Zu den übrigen 10% der Belege gehören einige wenige zweistellige Konstruktionen, in denen das Subjekt des Satzes jeweils keine Person, sondern eine Sache bezeichnet. Im Gegensatz aber zu Otfrid verwendet Notker auch in diesen Belegen in der Objektstelle meist den Dativ, vgl.: (15) Hirci neuuären acceptabiles . übe in nehülfln diefrehte dero bäum 'Böcke waren nicht erwünscht, falls ihnen die Verdienste der Rinder nicht halfen'427 (16) Min hant hilfet imo . min arm sterchet in 'Meine Hand wird ihm helfen, mein Arm wird ihn stärken'428 (17) An imo libet min sela unde lobet dih . unde dine urtiilda helfent nur sament dien dii gehören suln 'An ihm wird meine Seele leben und (sie) wird dich loben, und deine Urteile werden mir helfen, zusammen mit denjenigen, die (auf sie) hören werden'.429 In Verbindung mit einem nominalen impersönlichen Subjekt erscheint der Akkusativ nur einmal: (18) Tuost dü töten fore uuunder? Vuaz hilfet sie iz? 'Zeigst du den Toten etwa Wunder vor? Was hilft ihnen das?'.430 Allerdings weist der Notkersche Satz (18) deutliche Übereinstimmungen mit dem Otfridschen Satz (9) auf, handelt es sich doch zweimal um einen Fragesatz des Typs: "Was hilft (x) das?". Die Unpersönlichkeit des Subjekts tritt noch deutlicher hervor, wenn man Satz (18) - und auch die zwei Belege bei Otfrid, (9) sowie (10) - mit den Sätzen (15), (16) und (17) vergleicht. Die Dativrektion von helfen in den letzten drei Sätzen geht zwar in formal-grammatischer Hinsicht mit unpersönlichen Subjekten einher, "Verdienste", "meine Hand" und jemands "Urteile" aber sind unmittelbar auf Lebewesen bzw. Personen bezogen, wodurch diese Belege sich - und zwar paradigmatisch - von den Sätzen (9), (10) und (18) unterscheiden, in denen das Subjekt jeweils eine allgemeine

427 424

Piper, II, 250, 3-4. Piper, Π, 371, 3-4; lat.:

Marius enim mea auxiliabitur ei. et brachium meum confortabit

eum. 429 430

Piper, II, 544, 2-4. Piper, II, 363, 17-18; lat.:

Numquidmortuis fades mirabilia?

helfen

291

Tatsache nennt: die Tatsache, daß einer die ganze Welt gewinnt, die Eile sowie die Tatsache, daß Gott Wunder vollbringt.431 Den Akkusativ regiert helfan bei Notker ansonsten nur noch in ganz wenigen Fällen. Außer dem Beispielsatz (18) fällt insbesondere ein Beleg wie der folgende in die Augen: (19) In die judicii loset in got. So hilfet in däz er an imo neferstiiz 'Am Tag des Jüngsten Gerichts wird Gott ihn erlösen. Dann wird ihm die Tatsache helfen (nützlich sein), daß er nie gegen das göttliche Gesetz verstoßen hat'.432 Zu Unrecht wird dieser Beleg im IV. Band des Deutschen Wörterbuchs433 als ein Beispiel dafür angeführt, daß "helfen nach einem persönlichen subjecte selten mit acc(usativ) statt des dativs verbunden (wird)".434 Es handelt sich in (19) eindeutig um ein unpersönliches Subjekt in der Form eines daß-Subjektsatzes (worauf weiter unten noch ausführlicher zurückzukommen sein wird). Der Beleg bestätigt somit auf eindrucksvolle Weise den syntagmatischen Grund für die anfänglich seltenere Akkusativrektion des Verbs helfen. Dasselbe gilt schließlich auch für den Beleg (20), der aufgrund der Verbindung einer wasFrage mit einem ώζβ-Subjektsatz gleichsam eine Synthese von (18) und (19) darstellt und ein besonders deutliches Beispiel für die paradigmatischsyntagmatische Begründung des Akkusativs nach helfen bildet: (20) Vuaz half do . daz ih izföresdgeta in prophetis? 'Was half es da, daß ich es vorhersagte?', Notker.435 Während die im Deutschen Wörterbuch vorgenommene Unterscheidung zwischen persönlichem und unpersönlichem Subjekt sich mithin auch in bezug auf Notker als kasusmorphologisch relevant erweist, scheint Grimms Differenzierung zwischen "subjektivem" und "objektivem" Verhältnis abermals nicht dazu geeignet zu sein, den Unterschied zwischen helfen + Dativ und helfen + Akkusativ genauer zu erfassen, zumindest sofern das Ahd. zur Diskussion

431

432 433 434 435

Tatsächlich ist auch in Satz (18) letztlich von nichts Persönlichem mehr die Rede. Es wird nicht danach gefragt, inwiefern Gott hilft oder gar seine Wunder helfen - die Frage ist, ob es (iz) hilft; die Frage ist also ganz unpersönlich und allgemein. Piper, II, 150, 8-9. Das Erscheinungsjahr ist 1877, der Bearbeiter Moriz Heyne. DW, IV, 2, Sp. 954 (sub 6). Piper, II, 269, 22-23.

292

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

steht. Ob wir dieses Urteil in bezug auf spätere Sprachstufen werden modifizieren müssen, wird erst die weitere Analyse zeigen können. Bevor wir uns der Kasusopposition zwischen Dativ und Akkusativ seit dem Mhd. zuwenden, müssen wir aber erst noch die anderen Satzbaupläne in Augenschein nehmen, die mit dem Verb helfen seit dem Ahd. gebildet werden konnten. Sie sind besonders vielfaltig. Schon bei Otfrid und Notker kommt das Verb helfen noch in anderen als zweistelligen Verbindungen mit Akkusativ- oder Dativobjekt vor. Zu unterscheiden sind insbesondere folgende Konstruktionen: dreistelliges helfen mit Dativ und Genitiv, zweistelliges helfen mit nur einem Genitivobjekt und dreistelliges helfen mit Dativ und Präpositionalphrase (mit zu). Diese Satzbaupläne bleiben teilweise bis ins Mhd., teilweise bis ins Nhd. erhalten, erfahren aber auch bestimmte Wandlungen, sowohl in lexikalischer Hinsicht wie auf dem Gebiet der Kasus. Seit dem Ahd. kann helfen sowohl mit einem Dativ wie mit einem Genitiv verbunden werden, vgl.: (21) däz sie in dero freisön hülfin 'daß sie ihnen gegen die Gefahren helfen', Notker436 (22) nöh sie imo des siges nehülßn! 'auch würden sie ihm nicht zum Sieg verhelfen!', Notker.437 Dem Deutschen Wörterbuch zufolge drückt die dreistellige Konstruktion mit dem Dativ und dem "genitiv der sache" so viel wie 'beistand für etwas leisten, einem zu etwas helfen' aus438, was allerdings auch noch durch 'Beistand gegen etwas leisten' zu ergänzen wäre. Das Dativobjekt bezeichnet den Benefizienten der Hilfe, egal ob das im Genitivobjekt Genannte nun das Ziel der Hilfe ist, wie in Satz (22), oder dasjenige, wogegen die Hilfe gerichtet ist, wie in Satz (21). Das Dativobjekt kann auch fehlen. In diesem Fall haben wir es mit zweistelligen Konstruktionen helfen + Genitiv zu tun, z.B.: (23) Selbo möyses er quit, thai uuib, thaz hiar sulih duit, es man nihein ni helfe, mit steinin sia biuuirfe

436 437 43,1

Piper, I, 150, 13-14. Piper, I, 284, 17. DW, IV, 2, Sp. 953 (sub f).

helfen

293

'Selbst Moses sagt: die Frau, die hier so etwas tut, keiner solle helfen439, man bewerfe sie mit Steinen', Otfrid440 (24) Vnde du herrofäter min uuurche säment mir. hilf mines uuerches . umbe dinen nämen 'Und du, Herr, mein Vater, wirke mit mir, helfe (mir) in meiner Arbeit um deines Namens willen', Notker.441 Der dreistellige Typ mit Dativ und Genitiv bleibt auch im Mhd. gebräuchlich, und Belege weisen aus, daß die Konstruktion sich sogar bis Anfang des 20. Jahrhunderts behauptet, vgl.: (25) "gedenke, bruoder, daz du ie mir hülfe grdzer werdekeit..." '"Bedenke, Bruder, daß du mir zu großem Ansehen verhelfen würdest..."', Wolfram von Eschenbach442 (26) Und helfet mir der reise in Bürgenden lant443 (27) tut (...) yeman dhein tat darumb (...) man sol hintz sinem leibe (...) rihten, swa man in begriffen mag, in und swer im sin hilffet (d.h.: 'ihn und jeden, der ihm (bei der Flucht?) hilft' (1320)444 (28) des siges half in ein wip 'zum Sieg verhalf ihnen eine Frau'445 (29) dass derselbe (...) ime siner klag helfen soll mit dem eyde (d.h.: 'daß derselbe ihm Eidhilfe leisten soll')446 (30) dy seinen dy im des zewgs helffen wellen (d.h.: 'die für ihn zeugen wollen')447 (31) er kere denn umb von seiner lesterlichen lere (...) des helfe im und allen Christus unser herr, Luther448 (32) des helfüch got der herr!, Detlev von Liliencron (1844-1909).449

439

wörtlich: 'dessen (es) helfe keiner'. Piper, III, 17, 15-16; Piper übersetzt mit: 'Niemand soll ihr (der Frau) darin beistehen, man soll sie vielmehr steinigen' (a.a.O.) bzw. 'keiner möge sie davor bewahren, dass u.s.w.', Piper, II. Teil, 189, Sp. 1. Johann Keiles Übersetzung lautet: 'Ihr bringe Hilfe Niemand mehr/Mit Steinen werfe man sie todt', Kelle 1870, 221, 31-32. 441 Piper, II, 472, 24-26; lat.: Et tu domine domine fac mecum propter nomen tuum. 442 Parzival, 323, 16-17. 443 Das Nibelungenlied, 62, 1. 444 RWB, V, Sp. 693. 443 Die jüngere Judith, 1696. 446 RWB, V, Sp. 696. 447 a.a.O. 448 DW, IV, 2, Sp. 954. 449 a.a.O. 440

294

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Nachgerade zu festen Fügungen wurden die beiden Ausdrücke jmdm. Rechtes helfen (oder auch jmdm. Gerichtes helfen) und jmdm. Pfandes helfen. Mit ersterer Fügung wurde auf die Pflicht des Richters Bezug genommen, Beistand zur Erlangung des Rechts zu gewähren450, letztere Kollokation bedeutet '(jmdm.) einen Pfand gewähren'451; vgl.: (33) dem sol der rihter gebieten bi des keisers hulden, daz er im sins rehtes helfe (1235)452 (34) do schal man dem cleger rechtis helfin (1310)453 (35) wirt uff einen man gelt iruordirt (...) vnd wirt im vor das gelt phandis gehulffen (d.h.: 'wird dem Mann zu einem Pfand verholfen')454 (36) erfordert eyn man geltför gericht, vnd hilft ym der achter eynes pfandes (15. Jh.).455 Auffallig ist, daß im mhd. Korpus Belege, in denen helfen zweistellig in Verbindung mit einem Genitiv, jedoch ohne Dativ verwendet wird, sehr spärlich sind (vgl. aber: ain kaiser rechtes helfen schot56 sowie ein paar Belege im Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache457). Der vollständige dreistellige Konstruktionstyp mit Dativ und Genitiv ist im Mhd. und Frühnhd. sehr gut belegt.458 Wichtig ist, daraufhinzuweisen, daß zu keiner Zeit, auch im Mhd. nicht, der Dativ in diesem Konstruktionstyp vom Akkusativ Konkurrenz erfahrt - eine Konkurrenz, die, wie wir sehen werden, in zweistelligen Konstruktionen vor allem seit dem Mhd. viel größer ist. Ferner muß angemerkt werden, daß auch im Mhd. und Frühnhd. die dreistelligen Belege mit Dativ und Genitiv ein massives Übergewicht an persönlichen Subjekten erkennen lassen, also an jenem Subjekttyp, der im Ahd. vorzugsweise mit dem Dativ als Objektskasus verbunden wurde. Demzufolge können wir schließen, daß es tatsächlich in der syntagmatischen Verbindung eines persönlichen Subjekts mit helfen und einem adverbalen Dativ war, daß sich im

450 451 452 453 454 455 456 457 458

a.a.O. und vgl. RWB, V, Sp. 694-695 sowie ΜΗ, I, Sp. 1230. RWB, V, Sp. 696. RWB, V, Sp. 694. a.a.O. RWB, V, Sp. 696. a.a.O. DW, IV, 2, Sp. 954. WMU, I, 822, Sp. 1. vgl. vor allem BMZ, I, Sp. 681, Sp. 1.

helfen

295

Ahd. zusätzlich eine diakritisch fundierte Kasuszuweisung durchsetzte, nämlich: [[persönliches Subjekt + [helfen + Dativ]] + Genitivobjekt].459

Und dieser Satzbauplan behauptet sich nicht nur im Mhd., sondern läßt sich vereinzelt sogar bis in das 20. Jahrhundert belegen. Außer auf die Satzbaupläne mit "reinen" Kasus ist auf die Stellung der Präpositionalphrasen in Verbindung mit helfen einzugehen. Der Inhalt des Helfens, dessen Zweck oder Grund, der weitere Umstand der Hilfe usw. werden seit dem Ahd. oft durch Präpositionalphrasen angegeben. Im Ahd. überwiegt der Gebrauch der Präposition zi oder ze (nhd. zu), und zwar sowohl in zweistelligen Konstruktionen, wie z.B. in: (37) Zi uuihtu iz sid ni httphit, ni st thäz man iz firuuirphit 'Zu nichts ist es (= das Salz) noch nütze, als daß man es wegwirft', Otfrid460, als auch in dreistelligen Konstruktionen. Ein Dativobjekt und eine Präpositionalphrase mit zi werden in dreistelligen Konstruktionen im Ahd. allerdings etwas weniger oft mit helfen als mit dem Präfixverb gehelfen (ahd. gihelfan) verbunden, auch bei Notker, vgl.: (38) "Druhtin, " quad er, "quato, nist niaman thero friunto, thaz mir zi thiu gihelfe, in thaz urnzar mih firuuetfe... " '"Gütiger Herr", sagte er, "es gibt keinen unter den Freunden, der mir hilft, mich in den Teich hinabzulassen..."', Otfrid461 (39) Aber dir selbo (...) ter negehälf iro nieht ein dara ze demo bette 'Aber derselbe (= Labor) half ihr nicht dorthin zu dem Bett', Notker.462 Das Präfixverb ahd. gihelfan, mhd. gehelfen begegnet statt mit einer zw-Phrase aber des öfteren auch in Verbindung mit dem Genitiv, so schon bei Otfrid:

439

440 461

462

Gerade aufgrund der sprachgeschichtlichen Entwicklung setzen wir also die Konnexionsstruktur [[persönliches Subjekt + [helfen + Dativ]] + Genitivobjekt] an, und nicht die " kasussemantisch " näherliegende Struktur [[persönliches Subjekt + [helfen + Genitivobjekt]] + Dativ], Piper, II, 17, 9; lat.: ad nihilum valet ultra, nisi utmittatur foras. wörtlich: '(den ich darum bitten kann,) daß er mir dazu verhelfe, mich in den Teich hinabzulassen', Piper, III, 4, 23-24; lat.: Domine, hominem non habeo, ut (...) mittat me in piscinam. Piper, I, 813, 3-4.

296

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

(40) "Thizhüs," quad er, "ziuueifet ioh scioro ouh thes gihelfet;..." '"Zerstört dieses Haus,' sagte er, "und bemüht euch bald darum;...'", Otfrid463; auch später, im Mhd., kommt der Genitiv noch vor: (41) sines gelden gehelfen (...) oderpfandes davor.464 Auch der Genitiv in der Fügung jmdm. rechtes helfen wird im Mhd. gelegentlich durch eine Präpositionalphrase ersetzt: z.B. jmdm. zem recht helffen465 und zuo sinem rehten helfen,466 Die Form gehelfen ist durch die ganze mhd. Zeit hindurch belegt, und noch in dem IV. Band des Deutschen Wörterbuchs (1897) wird es als zumindest regional gebräuchlich (süddeutsch) eingestuft.467 Im Nhd. werden helfen zu und gehelfen zu durch verhelfen zu abgelöst. In dieser Verwendung wird verhelfen zu allerdings erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gebräuchlich, obwohl die Form verhelfen - die es im Mhd. nicht gibt - als solche vereinzelt bereits bei Luther vorkommt.468 Heute ist die Präpositionalphrase mit zu beim zweistelligen Verb helfen allenfalls auf bestimmte Pronominaladverbien beschränkt, die als Ausweichformen für inhibierte Pronomen zu gelten haben, weil diese Pronomen automatisch zu einer persönlichen Deutung Anlaß geben (z.B. Wozu hilft das?\ vgl. Wem hilft das?). Bei dreistelligem helfen kann zu heute nicht mehr verwendet werden, dann ist obligatorisch das Verb verhelfen erforderlich.469 Vom Gebrauch einer Präpositionalphrase an der Stelle eines Dativobjekts müssen die dreistelligen Verwendungen von helfen abgehoben werden, in denen die Präpositionalphrase tatsächlich eine quasi-aktantielle Stelle neben dem Dativobjekt bekleidet. Das Deutsche weist hier seit dem Mhd. eine Fülle an Auswahlmöglichkeiten auf, und auch heute sind noch verschiedene unter ihnen produktiv: an (z.B. jmdm. an der Abschrift helfen-, heute veraltet), auf (jmdm. auf die Knie helfen), aus (jmdm. aus der Not helfen), bei (jmdm. bei der Arbeit hel463 464 445 446 447

468 449

Piper, II, 11, 33; Kelle 1870, 123, 2: 'helfet nur zusammen frisch'. RWB, V, Sp. 695. a.a.O. ΜΗ, I, Sp. 1230. DW, IV, l 2 , Sp. 2372; das Wörterbuch interpretiert das Verb als "verstärktes helfen, eigentlich 'mithelfen'", wie es auch noch im Nomen der Gehilfe nachlebe. DW, XII, 1, Sp. 561. Gemeint ist natürlich der dreiwertige Satzbauplan im strengen Sinn (wodurch Sätze wie z.B. Ich helfe ihm zu diesem Zweck ausgeschlossen sind).

helfen

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fen), in (jmdm. in das Amt helfen), über (jmdm. über den Zaun helfen), von (jmdm. von seiner Krankheit helfen; heute: abhelfen, s. weiter unten), vor {alter hilft vor thorheit nicht, Georg Tobias Pistorius; 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts), wider/gegen (jmdm. wider/gegen seine Feinde helfen).*10 Außer Präpositionalphrasen können auch bestimmte Adverbien (jmdm. zurecht helfen)*11 zum Verb treten. Mehr diakritische Wirksamkeit ist dann wieder bei jenen Satzbauplänen anzusetzen, in denen anstatt eines morphologischen (nominalen) Akkusativs funktionell mehr oder weniger äquivalente Objektsätze verwendet werden. Vor allem gilt auch in bezug auf den Kasusrahmen bei helfen, daß ein dq/3-Objektsatz einem "direkten Objekt" entsprechen kann - und speziell bei helfen bis in mhd. Zeit somit die Position des Genitivobjekts einnehmen kann. Dementsprechend kann der Dativ in den Konstruktionen mit helfen + Dativ + daß-Objektsatz als diakritisch motiviert gelten, vgl.: (42) im half diu hitze unde der stanc, daz er den lewen des betwanc Daz er al lüte schre 'ihm (= dem Wurm) halfen die Hitze und der Gestank, dergestalt, daß er den Löwen dermaßen bedrängte, daß dieser so laut brüllte', Hartmann von Aue472 (43) Nu helfet mir, irzwene, (...) daz der künc her zuo mir rite 'Nun helft mir, ihr beiden, (...) damit der König hierher zu mir reite', Wolfram von Eschenbach.473 Der Dativ ist im Prinzip fakultativ, wie der folgende Beleg zeigt: (44) der selbe half daz Anfortas wart gesunt und wol genas, Wolfram von Eschenbach.474

470

471 472

473 474

DW, IV, 2, Sp. 952; vgl. BMZ, I, Sp. 681, Sp. 1 für das Mhd. und WDG, III, 1774, Sp. 2 - 1775, Sp. 1 für das Nhd. DW, IV, 2, Sp. 953. Iwein, 3843-3845. In seiner sinngemäßen Übersetzung reduziert Thomas Cramer (Hartmann von Aue, Iwein [1968], 3843-3845 [S. 75]) die wortreiche Stelle wie folgt auf ihre eigentliche Aussage: 'Hitze und Gestank machten,/ daB der Löwe / so laut brüllte'. Parzival, 719, 1-3. Parzival, 796, 3.

298

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Eine Eigentümlichkeit des Verbs helfen ist, daß auch Infinitivsätze, mit oder ohne zu, die Funktion eines Objektsatzes übernehmen können. Im Ahd. ist der zi/-Anschluß die Regel, vgl.: (45) hilf imo zegeuuerenne . also er Göte gesuudr 'hilf ihm, das zu erfüllen, was er Gott geschworen hat', Notker.475 Bereits im Mhd. wird aber der reine, nicht durch zu eingeleitete Objektsinfinitiv zur Norm, und diese Verbindung ist bis heute die übliche geblieben, vgl.: (46) er künde ir helfen liegen unde äne schlakheit triegen 'Er vermochte ihr beim Schwindeln zu helfen und den frommen Betrug durchzuführen', Hartmann von Aue476 (47) darnach wil ich auch reuchern, die luft helfen fegen, Luther477 (48) wie wirst du schwelgen, kuppeln, lügen und morden helfen!, Heinrich Heine (1797-1856).478 In der Gegenwartssprache gilt folgende Regel: Folgt der Infinitiv allein, fehlt zu, wird der Infinitiv um ein Objekt oder ein Adverb ergänzt, kann zu hinzugefügt werden: (49) Er half tragen*19 (50) Er half ihr (,) den Koffer (zu) tragen In den Abschnitten 1.2.12. und 1.2.13. sahen wir, daß im Rahmen neuerer generativer Grammatiktheorien der Versuch unternommen wurde, den adverbalen Dativ bei helfen und verhelfen über den Rekurs auf ein "verstecktes" direktes Objekt zu begründen, das entweder die Form eines Infinitivs oder einer Präpositionalphrase hat, vgl.:4®1 (51) Ich helfe ihm aufräumen (52) Ich helfe ihm beim Ausladen (53) Er verhalf ihm zu diesem Posten. 475 476 477 478 479 4.0 4.1

Piper, II, 563, 13. Iwein, 2183-2184; Übersetzung von Cramer 1968, 2183-2184 (S. 43). DW, IV, 2, Sp. 953. a.a.O. WDG, III, 1774, Sp. 2. a.a.O. s. Fanselow 1987, 162; Wegener 1991, 79-80; Wegener 1995, 133.

helfen

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Für Satz (51) gilt ohne weiteres - und dies sowohl in satzsemantischer und syntaktischer als auch in historischer Hinsicht daß das Dativobjekt ihm darin als diakritisch begründet gelten kann, so daß auch von Sätzen mit helfen und Objektsinfinitiv behauptet werden kann, daß sie im Prinzip dem kanonischen dreistelligen Satzbauplan des Deutschen entsprechen. Der Dativ in (53) ist davon insofern zu unterscheiden, als bei verhelfen die Präpositionalphrase mit zu obligatorisch ist (s. § Π.5.4.). Das gilt nun aber nicht für die Präpositionalphrase in (52), die erstens kein Aktant ist und zweitens in Verbindung mit anderen Verben auch überhaupt nicht einen Dativ veranlaßt, vgl.: (52') Ich sah ihn beim Ausladen. Anders als beim abgeleiteten Verb verhelfen (zu) kann beim Simplex helfen eine Präpositionalphrase somit keinen Grund für die Dativrektion darstellen. Kehren wir nun zurück zur Opposition zwischen Dativ und Akkusativ im Objektbereich. Sehr viel üblicher als im Ahd. sind im Mhd. die Fälle, in denen helfen den Akkusativ regiert.4®2 Überblickt man die Belege, in denen helfen bald den Dativ, bald den Akkusativ regiert, dann wird klar, daß der Unterschied in der Kasusrektion, den wir in bezug auf die ahd. Belege mit der Differenz zwischen persönlichem und unpersönlichem Subjekt korrelieren konnten, in den mhd. Belegen weniger ausgeprägt ist. Im Mittelhochdeutschen Wörterbuch wird helfen + Akkusativ dadurch von helfen + Dativ abgehoben, daß dem Eintrag "mit accus(ativ) der person" zwischen Klammern die Erklärung "nütze, fördere" beigegeben wird, im Unterschied zu "helfen" bei helfen + Dativ. Sogleich das erste Beispiel aber, das die Autoren anfuhren, scheint jener Erklärung des Akkusativs zu widersprechen: Der Beleg (54) got helfe mich™ stammt aus der sog. Sammlung von Minnesingern; unter helfen + Dativ finden wir aber: (55) sö helfmir got, Hartmann von Aue.484 Daß (54) als 'Gott nutze mir/fordere mich', (55) indes als 'Gott stehe mir bei' interpretiert werden müsse, leuchtet nicht ein. Aber auch die Behauptung, daß (54) objektiver sei als (55) und daß das Verhältnis zu Gott, wie es in (55) aus4,2 443 484

vgl. BMZ, I, 681, Sp. 2. BMZ, I, 681, 7. Iwein, 6163; vgl. BMZ, I, 681, 2.

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Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

gedrückt wird, somit persönlicher sei als in (54), kann nicht überzeugen, zumal beide Beispielsätze das "persönliche" got zum Subjekt haben. Gegen die Hypothese, daß der Dativ, also (55), für persönlicher gehalten werden könne als der Akkusativ in (54), spricht auch die Tatsache, daß so helfmir got geradezu eine feste Wendung ist und am besten durch bei Gott! übersetzt werden kann.485 Die Sammlung von Minnesingern von J. J. Bodmer und J. J. Breitinger (1758-1759), aus dem der Beleg mit dem atypischen Akkusativ stammt, ist eine philologisch kaum gesicherte Quelle. Dem Beispielsatz (54) darf demzufolge nicht zuviel Bedeutung beigemessen werden. Sieht man von dieser heuristischen Bemerkung ab, dann ist das Einzige, was mit Sicherheit über die Differenz, wie sie (54) und (55) belegen, gesagt werden kann, daß sie in einigen Fällen offenbar weder in irgendeinem Sinn syntagmatisch noch auch irgendwie paradigmatisch begründet ist. In diesem Fall verhalten sich der Dativ und der Akkusativ in (54) und (55) zueinander als freie Varianten, und das bedeutet, daß womöglich nur stilistische Forderungen (z.B. Reim, Wohllaut u.dgl.) sowie regionale Präferenzen über die Wahl des Kasus entscheiden. Funktional-linguistisch betrachtet erscheinen die grammatischen Funktionen der beiden morphologischen Kasus Dativ und Akkusativ in Fällen wie (54) und (55) zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt als neutralisiert. Die Objektstelle wird einfach durch einen Obliquus markiert, und dabei ist es rein grammatisch im Prinzip egal, ob es sich um den Dativ oder um den Akkusativ handelt. Diese Wahlfreiheit ist freilich nur unter der Voraussetzung denkbar, daß die beiden Kasus in der Vorgeschichte der Rektion von helfen tatsächlich verwendet werden konnten. Letzteres war, wie wir sahen, seit dem Ahd. der Fall, und der Kasusdifferenz entsprach - zumindest tendenziell - auch eine syntagmatische Unterscheidung zwischen persönlichem und unpersönlichem Subjekt - eine Unterscheidung, die offenbar Schwankungen ausgesetzt war. Jene Neutralisierung der Kasusfunktion in Fällen wie (54) und (55) impliziert nun aber nicht pauschal, daß die morphologischen Kasus mit der Zeit zu funktionslosen Zeichen verkümmerten. Dagegen sprechen im Fall von helfen zwei Argumente. Erstens tangieren bestimmte Ausgleicherscheinungen in einigen Konstruktionen - im Fall des zur Debatte stehenden Verbs insbesondere bei zweistelligem helfen - nicht die diakritische Funktion der Oberflächenkasus in mehrstelligen Konstruktionen. Auch im Mhd. tritt der Dativ im dreistelligen Satzbauplan mit einem zusätzlichen Genitivobjekt, wie bereits angemerkt, kaum 445

s. die Übersetzung von Cramer 1968, 6163 (S. 120).

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301

in nennenswerte Konkurrenz mit dem Akkusativ. Die Tatsache, daß auch in diakritischer Hinsicht ein Akkusativ in diesem Satzbauplan im Prinzip möglich wäre, zeigt, daß der kasusmorphologische Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ kein leerer, rein formaler Unterschied ist; er ist letzten Endes funktionell auf der syntagmatischen Ebene motiviert. Zweitens impliziert die Tatsache, daß zwei morphologische Kasus in bestimmten Fällen - wie in (54) und (55) - offenbar ohne weiteres gegeneinander ausgetauscht werden können, noch keineswegs, daß eine Analyse einer größeren Menge von Belegen nicht doch Unterschiede zu Tage fördern könnte, die auf deutliche Schwerpunkte in der Kasusverteilung schließen lassen. Gerade dies aber ist der diachronischen Perspektive vorbehalten, durch die wir in der Lage sind, Regelmäßigkeiten historisch zu begründen. Wir sagten, daß der Unterschied zwischen der Dativ- und Akkusativrektion von helfen im Mhd. "weniger ausgeprägt" sei als im Ahd. Diese Einschätzung beruht auf Beispielsätzen wie (54) und (55). Dennoch gilt allgemein, daß auch im Mhd. die syntagmatisch bedingte Kasusopposition zwischen Dativ und Akkusativ, durch die der Akkusativ in erster Linie aufgrund eines unpersönlichen Subjekts zugewiesen wird, deutlich sichtbar bleibt - auch wenn es mehr Ausnahmen von der Regel gibt als im Ahd. Als besonders erhellend kann in diesem Zusammenhang jener Passus in Hartmanns Iwein gelten, dem auch der Beispielsatz (55) entnommen ist. Sieben Zeilen, nachdem es hieß: sö helfmir got, des vreut ich mich 'bei Gott, darüber wäre ich froh!', taucht noch einmal das Verb helfen auf, diesmal regiert es allerdings den Akkusativ: (56) "wolher, riter, wolher! wand ich iuch des zwäre gewer daz man iuch hie vil gerne siht: ezn hilf et iuch aber niht" '"Nur herbei, Ritter, nur herbei, denn dafür stehe ich Euch ein, daß man Euch hier mit großem Vergnügen sehen wird, und so leicht kommt Ihr nicht wieder heraus'", Hartmann von Aue.486

446

Iwein, 6167-6170; die Übersetzung stammt von Thomas Cramer 1968,6167-6170 (S. 120).

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Im Gegensatz zu Zeile 6163 so helfmir got ist das Subjekt in Zeile 6170 ezn hilf et iuch aber niht unpersönlich, und das Verb regiert den Akkusativ.487 Die Tatsache, daß bei ein und demselben Autor, sogar in ein und derselben Dichtung, die Doppelrektion von helfen auftritt und diese Doppelrektion deutlich mit dem Subjekttyp zusammenhängt, ist bedeutsam. Andere Beispiele bestätigen die historische Verwurzelung der Akkusativrektion von helfen. Die große Anzahl Sätze, in denen das Verb in was-Fragen den Akkusativ regiert, ist besonders charakteristisch.488 Von den 34 Beispielsätzen mit Akkusativrektion, die das Mittelhochdeutsche Wörterbuch verzeichnet, weisen mehr als ein Drittel (nämlich 13 Sätze) die Form [[Subjekt im Nominativ + [helfen + Akkusativobjekt]] + waz\

auf, freilich in der Wortfolge eines Fragesatzes. Davon haben nur zwei Belege ein persönliches Subjekt, nämlich: (57) des hat der tievel sinen spot: "waz hilf et dich nu din got?"4*9 (58) waz helfen dich dan sweder knehte oder man?, Der arme Hartmann (1140-1160).490 Die anderen Beispiele weisen als Subjekt entweder eine Sache bzw. ein Abstraktum oder einen Subjektsatz auf, z.B.: (59) waz hilfet mich diu sumerzit?, König Chuonrat der Junge (13. Jh.)491 (60) swenn er daz siht daz ih ez bin: unde waz hulfez in?, Hartmann von Aue492 (61) waz half mich daz ich golt vant?, Hartmann von Aue493 (62) ay helfelöser Anfortas waz half dich daz ich pi dir was?, Wolfram von Eschenbach494 (63) waz half in daz er künec was?495 Auch die anderen Beispielsätze, die nicht mit dem Fragewort was anfangen, weisen mehrheitlich ein unpersönliches Subjekt auf: ir list ('ihre Verstellung'), 487 448 m 490 491 4W 4,3 494 495

In BMZ, I, 680, 49 wird der Beleg noch mit Dativ aufgenommen: ezn hilfet in niht. Wie gezeigt wurde, finden sich dafür bereits im Ahd. Ansätze, s. die Sätze (18) und (20). Visio Sancti Pauli, 287, 3, 5; vgl. BMZ, I, 681, 30. Rede vom heiligen glouben, 150, 5; vgl. BMZ, I, 681, 31-32. Sol ich nu klagen, II, 2, 1; vgl. BMZ, I, 681, 35-36. Iwein, 4659-4660. Iwein, 4251. Parzival, 330, 29-30. Das Nibelungenlied, 1982, 4.

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zwo marke, guot gebärde, tröst, gewalt noch list, rät, oft auch daz oder Subjektsätze.496 Die unpersönlichen Subjekte legen in allen Beispielen die Deutung 'nutzen' nahe, und 'nutzen' scheint auch für (57) und (58) die geeignetste Übersetzung zu sein, vgl. 'Was nutzt dir nun dein Gott?7'Was nutzt dir dann Knecht oder Mann?'. M. Lexers Bemerkung, daß gerade auch im Mhd. bei unpersönlichem Subjekt helfen im Sinne von 'nutzen, fördern' "gewöhnlich" mit dem Akkusativ, und nicht mit dem Dativ verbunden wird, trifft denn auch ganz und gar zu.497 Die Belege, in denen helfen den Dativ regiert, weisen dagegen in den meisten Fällen ein persönliches Subjekt auf; bei dreistelligem helfen mit Dativ und Genitiv ist dies sogar immer der Fall. Eine der wenigen (zum Teil scheinbaren) Ausnahmen bildet folgender Beleg im Iwein: (64) ouch hilfet im der mänschin: er läze de naht ein tac sin 'Zudem kommt ihm der Mondschein zu Hilfe. Er soll die Nacht Tag sein lassen', Hartmann von Aue498; daß das im Prinzip unpersönliche Subjekt hier sehr stark personifiziert erscheint, unterliegt wohl keinem Zweifel. Die Tendenz, daß die Korrelation zwischen Dativ- und Akkusativrektion auf der einen Seite und persönlichem und unpersönlichem Subjekt auf der anderen Seite499 bei helfen im Laufe der Sprachgeschichte allmählich verwässert, setzt sich im Nhd. fort. Die historische Verwurzelung der Akkusativrektion im syntagmatischen Faktum eines unpersönlichen Subjekts, das selber in einer paradigmatischen Opposition zum persönlichen Subjekttyp steht, kann aber auch im Frühnhd. und Nhd. nach wie vor eruiert werden. Man vergleiche die folgenden Beispielsätze, die für zweistellige Verwendungen von helfen mit unpersönlichem Subjekt und in Verbindung mit einem Akkusativobjekt als besonders typisch gelten können:500 (65) daz macht sie alles nit helfen (66) wiewol sie vieleicht dieser brief auch nicht helfen wird, Luther

4,6 497 498 499 500

BMZ, I, 681, Sp. 2. ΜΗ, I, Sp. 1230. Iwein, 2135-2136; Übersetzung von Thomas Cramer 1968, 2135-2136 (S. 42). vgl. dazu auch WMU, I, 821-822. Alle Belege sind DW, IV, 2, Sp. 956-957 entnommen.

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(67) denn das Augustinus durch der ketzer widerstreiten je gelerter und besser ward, hat die ketzer darurrib nichts geholfen, Luther (68) denn was ist mir damit geholfen? ich werde dadurch nicht frömer, und mache in nur erger. aber das hilft mich, das ich im alles guts gönne, beweise und erzeige, Luther (69) dyn geschrei das hilft dich nit, Sixt Birck (1501-1554) (70) was hilft die söhne mehr als wann der vater blühet, den vater, als wann er der söhne wolfart siehet?, Martin Opitz (15971639) (71) dein entdecken (= das Entdecken deiner Liebe) hilft dich nicht, Johann Christian Günther (1695-1723). Auch der häufige Gebrauch des Akkusativs bei was-Sätzen in Verbindung mit einem unpersönlichen Subjekt ist weiterhin besonders auffallend, vgl.:501 (72) (73) (74) (75) (76) (77) (78)

was hilft dich das?, Luther aber was hilft sie ir wüten und toben?, Luther502 ja was hette es auch in geholfen, wo ers nicht gegleubt hette?, Luther was hülfs den menschen, so er die ganze weit gewänne... ?, Luther was hilft es mich, dasz ich lebe?, Luther was hilft mich mein opfern?, Johann Balth. Schupp (1610-1661) was hülfe doch den leuen seine stärke ...?, Christian Hofmann von Hofmannswaldau (1617-1679) (79) was helfen mich tausend beszre empfindungen, wo ich nur Wallungen löschen darf?, Schiller (80) was hilft mich euer roter mund?, Ludwig Uhland (1787-1862). Von einem "objektiven" Verhältnis, das dem Akkusativ zuzuschreiben wäre und das einen anderen Grund als das unpersönliche Subjekt und die entsprechende Redebedeutung 'Was nutzt mir/ihm/ihnen usw. das?' hätte, kann in dieser Beispielreihe nach wie vor nicht die Rede sein. Somit können wir schließen, daß Grimms Minimalpaar Was hilft mich das? (objektiv) vs. Was hilft mir das? (persönlich)503 nicht nur in bezug auf das Ahd., sondern darüber hinaus auch in bezug auf das Mhd. und Nhd. in hohem Maße irreführend ist, weisen doch 501 502

503

a.a.O. vgl. auch noch folgenden Beleg bei Luther, in dem helfen mit enthelfen verbunden wird: (73') so hilffi sie (den Juden) das gesetz Mosi auch nicht, (...) sondern solch ungehorsam viel mehr sie enthilffi, DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1420. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 727 (Originalpag. 620).

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Fragesätze, die mit was anfangen und - bald im engeren formal-grammatischen, bald im weiteren semantischen Sinn - ein unpersönliches Subjekt haben, durch die ganze Sprachgeschichte hindurch eine außerordentlich starke Tendenz zum Akkusativ auf.504 Daß der Einfluß des Subjekttyps auf die Rektion des Verbs helfen allerdings immer weniger systematisch wird, weisen Belege wie die folgenden aus. Verbindung von einem persönlichen Subjekt und Akkusativ findet sich in: (81) herr, du hilf est beide, menschen und vihe*05 (82) ein geraten man kan viel tausent helfen, Luther506 (83) das gott nicht wolle, das jemandt (...) die sände helfe oder ein gefallen an ihr habe, Philipp Melanchthon (1497-1560)507 (84) der einen armen hilft, der gedenket an sich selbst, Justus Georg Schottel (1612-1676)508 (85) lieber pappe, ich helfe dich, Goethe.509 Dagegen wird umgekehrt ein unpersönliches Subjekt mit einem Dativ verbunden in: (86) eim könige hilft nicht seine grosze macht, Luther510 (87) was hilft es dem mörder also, das corpus delicti weggebracht zu haben?, Lessing.511 Die Tatsache, daß helfen seit dem Mhd. und Frühnhd gezielt oft mit dem Akkusativ verbunden wurde, liegt gewiß persönlichen Passivkonstruktionen zugrunde wie in: (88) wenn ich (...) gerne geholfen sein wollte, Matthias Claudius (17401815).512 304

505 506 507 508 509 510 511 512

Ebenso unbegründet mutet das Urteil J. Chr. Adelungs an, wenn er meint, daß die Akkusativrektion bei helfen entweder auf eine Eigentümlichkeit der Niedersachsen zurückgehe oder als eine Nachahmung des lat. juvare zu verwerfen sei, s. Adelung 1793ff, II, Sp. 1097. DW, IV, 2, Sp. 954. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. DW, IV, 2, Sp. 956. a.a.O. DW, IV, 2, Sp. 954.

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Der Dativ steht dagegen kaum unter Druck in mehrstelligen Konstruktionen mit Objektsätzen wie: (89) ... und inen helfen, das sie nicht ersoffen, Luther513 (90) wer einem todtschleger hilffet hinaus zu kommen, dess straffe soll bei dem rathe stehen (1597)514 (91) so helfuns got, dasz wir beston, D. von Liliencron515 (92) helfe dem alten dasz er fertig wird, Goethe516 (93) ..., dasz sie ihm helfen sollten diese öden gegenden anzubauen, Wieland;517 übrigens gilt weiterhin, daß der Dativ weggelassen oder anderweitig syntagmatisch aufgelöst werden kann, wie z.B. in: (94) ein frouw soll helffen irs mans schulden (...) bezalen (1564).518 Oben wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Satzbauplan persönliches Subjekt - helfen - Genitivobjekt - Dativobjekt vereinzelt bis Anfang des 20. Jahrhunderts belegt werden kann, vgl.: (32) des helfüch got der herr!, D. von Liliencron.519 Dennoch verliert dieser Konstruktionstyp seit dem Friihnhd. allmählich an Bedeutung; seine Verwendung dürfte sich vornehmlich auf formelhafte Redewendungen beschränkt haben. Bemerkenswert ist, daß die deutsche Sprache an Stelle des Satzbauplans mit einem (diakritischen) Genitivobjekt keinen Satzbauplan mit einem (ebenso diakritischen) Akkusativobjekt herausgebildet hat, der demjenigen mit dem Genitiv historisch und in Sachen Produktivität an die Seite gestellt werden könnte. Dem Deutschen Wörterbuch zufolge gibt es seit dem 18. Jh. allerdings einige Belege, die eine Verbindung des Verbs helfen mit einem Dativ und einem Akkusativ aufweisen. Das Objekt im Akkusativ wird im Wörterbuch indes nicht weiter spezifiziert, sondern nur als "ein allgemeines object" beschrieben.520 Die mei513 514 515 516 317 518 519 520

DW, IV, 2, Sp. 950. RWB, V, Sp. 693. DW, IV, 2, Sp. 953. DW, IV, 2, Sp. 950. DW, IV, 2, Sp. 953. RWB, V, Sp. 693. DW, IV, 2, Sp. 954. DW, IV, 2, Sp. 953 (sub e).

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sten Konstruktionen mit einem Objektsakkusativ sind in der Tat wenig spezifisch, insofern dabei meist Lexeme wie es, nichts u. dgl. in der akkusativischen Objektstelle stehen. Außerdem weisen die Belege sowohl persönliche wie unpersönliche Subjekte auf, z.B.: (95) du kannst mir nichts helfen521 (96) das hälfe dem papa nichts522; vgl. auch folgendes Beispiel, in dem das Verb außer mit einem Akkusativ- und Dativobjekt auch noch mit einem Präpositionalobjekt verbunden wird: (97) ein dienstmädchen das ihr gefäsz auf die unterste treppe gesetzt hatte und sich umsah, ob keine kamerädin kommen wollte, ihr es auf den köpf zu helfen, Goethe.523 Zu nennen sind hier vor allem auch Fragesätze des Typs: (98) (99) (100) (101)

was kann ich dir helfen ?524 was hülf es dir?, Gottfried August Bürger (1747-1794)525 was hülf mir geld und ehr?, Matthias Claudius526 Was hilft es dir, wenn sie das Haus verkaufen?521

Der Dativ kann im Prinzip ausgelassen werden, und vor allem bei persönlichen Subjekten treten demgemäß im Nhd. zweistellige Konstruktionen in Verbindung mit (akkusativischen) Formwörtern oder invarianten Lexemen auf. Mit Recht weisen Wörterbücher auf den weitgehend lexikalisierten Charakter solcher hel/en-Fügungen hin; es hilft (alles) nichts etwa wird paraphrasiert durch 'es muß sein'528, 'es gibt keinen anderen Weg'529 usf. Auch die gebräuchliche Fügung Es hilft (bzw. Er hilft) läßt sich am besten als 'es/er bringt Heilung' umschreiben530; vgl. ferner:

521 522 523 524 525 526 527 528 529 530

a.a.O. DW, IV, 2, Sp. 950. DW, IV, 2, Sp. 953. DW, IV, 2, Sp. 953. DW, IV, 2, Sp. 950. a.a.O. vgl. DUW, 684, Sp. 3. WDG, III, 1775, Sp. 1 DUW, 684, Sp. 3. WDG, III, 1775, Sp. 1

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(102) das Bad hilfft nichf31 (103) ein mittel hilft nichts/viel/etwas; dieses mittel hilft auch etwas (1731)532 (104) was hilft dein stechen und dein tanz, L. Uhland533 (105) was hilft es fliehn?, Goethe534 (106) was hülfes, meine beste, ..., M. Claudius535 (107) kann ich es helfen?, Klopstock536 (108) Es hilft (alles) nichts, ich muß jetzt gehen.™ Der Akkusativ der Person steht zuweilen auch bei komplexen Verbalsyntagmen (überhaupt verbindet helfen sich häufig mit anderen Verben), wie im folgenden Beispiel: (109) sie hat ihn sein ziel erreichen helfen, Lessing.538 Gewissermaßen im Gegensatz zu dem Gebrauch von Formwörtern wie es, etwas, nichts usw. in der akkusativischen Objektstelle und zur denkbar allgemeinen Bezeichnung eines bestimmten Inhalts der Hilfe (oft auch im Sinn einer Vorwegnahme einer weiteren Spezifizierung) steht der Satzbauplan [Subjekt + [helfen + Dativ der Sache]],

der einer relativ kurzen Periode des älteren Nhd. vorbehalten war. Einige Beispiele sind: (110) unterdessen steckt doch die wurzel der krankheit im geblüt, und kan ihr (= der Krankheit) durch aruiei geholfen werden, Johann Balth. Schupp539 (111) wie ist der sache zu helfen?5*0 (112) hilf du diesem unfaf41 (113) dem ist leichter geholfen, versetz ich, als wohl ein andrer denken möchte, Goethe.542 331 532 533 534 535 536 537 538

539 540 541 542

Steinbach 1734, I, 774. DW, IV, 2, Sp. 955. a.a.O. a.a.O. DW, IV, 2, Sp. 950. DW, IV, 2, Sp. 955. WDG, III, 1775, Sp. 1. DW, IV, 2, Sp. 954. Viele Belege, in denen helfen in Verbindung mit einem weiteren Verb verwendet wird, finden sich in RWB, V, Sp. 693-694. DW, IV, 2, Sp. 955. Steinbach 1734, I, 774. DW, IV, 2, Sp. 955. a.a.O.

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Im modernen Deutsch wird helfen in solchen Verwendungen durch abhelfen ersetzt - wobei das Dativobjekt normalerweise ein Übel oder dergleichen nennt - ein Wandel, für den es ebenfalls (vgl. verhelfen zu) bereits im Mhd. formale Ansätze gibt.543 Im heutigen Deutsch bezieht sich das Verb helfen außer in einigen isolierten Redewendungen wie (114) Es hilft (alles) nichts, in der Regel auf Personen oder Lebewesen (bzw. eine Gemeinschaft). Das Verb ist dabei auf zweistellige Konstruktionen eingeschränkt und die Objektstelle steht im Dativ, egal ob das Subjekt persönlich ist, wie in: (115) Dieser Arzt hat mir geholfen544 oder unpersönlich ist, wie z.B. in: (116) Der Glaube hat ihm geholfeni45 (117) Das Mittel hat mir sofort/wenig/gut geholfen546 (118) Die Zeit wird dir helfen, den Schmerz/den Verlust usw. zu überwinden.547 Selbstverständlich kann die Person, das Lebewesen oder die Gemeinschaft, denen die Hilfe gilt, unausgedrückt bleiben. Aus der obigen Analyse geht hervor, daß das Deutsche Wörterbuch mit Recht darauf hinweist, daß in solchen Konstruktionen der Akkusativ "in den älteren quellen häufiger als" der Dativ war und darüber hinaus auch "voll berechtigt, insofern als er ziel und resultat des nützens und förderns zur anschauung bringen will".548 Von dieser Kasusverteilung ist im heutigen Deutsch freilich nichts mehr übriggeblieben. 543

Das Verb abhelfen begegnet schon bei Hans Sachs sowie bei Luther, vgl. DW, I, Sp. 56. Dem jüngeren zweistelligen Gebrauch mit einem Dativ, z.B. in Diesem Fehler will ich gern abhelfen, ging die ältere dreistellige Verwendung des Verbs voraus (mit Dativ der Person und Genitiv der Sache), vgl.: (113') helft mir des ab!, H. Sachs (113") helft ihm der marter ab, Luther (113"') das wasser hilft den kindern der fallenden seuche ab, Wolfgang H. Hohberg

544

DUW, 684, Sp. 3. WDG, III, 1775, Sp. 1. a.a.O. DUW, 684, Sp. 3. DW, IV, 2, Sp. 956 (sub 6).

(1612-1688). 545 546 547 548

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Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Fassen wir das Ergebnis unserer Analyse kurz zusammen. Das Verb helfen ist ein würdiger Vertreter der GRUPPE Β. Einerseits fördert die diachronische Analyse eine geschichtlich wirksame diakritische Motivation des Dativs im Satzbauplan mit Dativobjekt und Genitivobjekt zu Tage. Dieser Satzbauplan ist seit ahd. Zeit produktiv und behauptet sich bis in die nhd. Zeit, wenn auch zuletzt vornehmlich in festen Redewendungen. Zwar lassen sich seit dem Nhd. auch Belege für den Satzbauplan mit Dativobjekt und Akkusativobjekt nachweisen, doch erreicht dieser Satzbauplan nicht den Stellenwert und die Wirksamkeit seines älteren Vorgängers mit Genitivobjekt; darüber hinaus ist er im Grunde defektiv. Allerdings ist der dreistellige Satzbauplan mit Akkusativobjekt dafür verantwortlich, daß bis heute helfen in bestimmten verfestigten, gänzlich dativlosen Fügungen verwendet werden kann (z.B. Es hilft alles nichts). Diakritisch begründet erscheint der Dativ im heutigen Deutsch aber vor allem noch in Verbindung mit Objektsinfinitiven (Er half ihr tragen; Er half ihr den Koffer tragen; Er half ihr, den Koffer zu tragen). Solche Fügungen heben sich kasusmorphologisch prägnant vom heute prototypischen Satzbauplan Subjekt - helfen - adverbaler Dativ ab, der freilich noch durch zusätzliche Angaben ergänzt werden kann. Ausgeprägter als die diakritische Differenz zwischen zwei obliquen Kasus im Satz ist jedoch die Korrelation zwischen dem Subjekttyp des Satzes und der Rektion des Verbs helfen. Das geschichtliche Belegmaterial weist aus, daß stärker als eine diakritische Differenz in der Sprachgeschichte des Deutschen eine paradigmatische Opposition zwischen Akkusativ und Dativ zum Tragen gekommen ist. Die Sachlage kompliziert sich bei helfen dadurch, daß die Opposition nicht einfach in der Differenz zwischen Akkusativ und Dativ gesucht werden darf. Vielmehr gibt der Kasusrahmen bei helfen ein besonders auffälliges Beispiel für die in der Einführung hervorgehobene Tatsache ab, daß die paradigmatischen Kasusfunktionen letztlich immer nur syntagmatisch realisiert sind und somit nur an größeren Satzgefügen ablesbar sind (s. § Π.3.). Die paradigmatische Opposition zwischen Dativ und Akkusativ erweist sich bei helfen als eine Opposition zwischen Nominativ/Verb/Dativ einerseits und Nominativ/ Verb/Akkusativ andererseits, also als eine eigentümliche paradigmatisch-syntagmatische Opposition, die den Verben der GRUPPE Α fremd ist. Die Unterscheidung zwischen Akkusativ und Dativ betrifft in zweistelligen Konstruktionen bei helfen niemals nur den Objektbereich, sondern auch das Subjekt. Ist das Subjekt persönlich, korreliert das Verb helfen im Ahd., im Mhd. wie im Nhd. in der Regel mit einem Dativobjekt, das meist die Person

helfen

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oder die Gruppe von Personen nennt, denen die Hilfe gilt; die Belege mit einem persönlichen Subjekt und einem Akkusativobjekt sind erheblich seltener. Handelt es sich dagegen um ein unpersönliches Subjekt, dann wird helfen ausgesprochen oft mit einem Akkusativobjekt verbunden, das wiederum die Person nennt, der geholfen wird oder der etwas nutzt; der Dativ der Person kommt bis ins 19. Jahrhundert weniger oft vor, und Belege mit einem Dativ der Sache können nur in sehr geringer Zahl nachgewiesen werden. Im Laufe der Sprachgeschichte nimmt die Wirksamkeit der genannten Korrelation zwar signifikant ab, sie ist jedoch in allen untersuchten Stadien mehr oder weniger deutlich nachvollziehbar, insbesondere anhand bestimmter prototypischer syntaktischer Konstruktionstypen. Die Analyse fuhrt somit zu dem Schluß, daß die paradigmatische Kasussystematik bis ins 19. Jahrhundert nicht etwa zweistelliges helfen vom Typ Die Arznei hilft ihm und Die Arznei hilft ihn, und ebensowenig zweistelliges helfen vom Typ Die Arznei hilft nichts und Die Arznei hilft ihm einander gegenüberstellt (zumindest in statistisch signifikanter Weise), sondern vielmehr Konstruktionen wie Die Arznei hilft ihn und solche vom Typ Der Arzt hilft ihm. Die Tatsache, daß helfen in der deutschen Gegenwartssprache so gut wie ausschließlich den Dativ regiert - abgesehen von den wenigen idiomatischen Fügungen mit Formwörtern wie Es hilft nichts (, daß...) usw. ist auf normativ-grammatische Einflüsse zurückzufuhren, die die Kasusgeschichte des Verbs helfen bis tief ins 19. Jahrhundert nicht adäquat widerspiegeln.

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Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

IV.8. folgen In der deutschen Gegenwartssprache weist das Verb folgen drei verschiedene Verwendungen auf. Erstens kann es im engeren wie im weiteren Sinn absolut gebraucht werden; hierzu gehören u.a. Beispiele wie: (1) (2)

Die Fortsetzung folgt (in der nächsten Nummer)5*9 Es folgte kein Schuß,

sowie Verwendungen, die rein elliptisch sind, z.B.: (3)

Ich folgte von weitem (dem Festzug); Die ganze Gemeinde folgte (dem Leichenwagen); Weitere Briefe folgen (dem ersten); Der Hund folgt (seinem Herrn) aufs Wort usw.550

Zweitens gibt es daneben zweistellige Verwendungen des Verbs mit Präpositionalphrase, ohne weiteren Aktanten in einem reinen Kasus. Die Präpositionen, die zusammen mit zweistelligem folgen gebraucht werden, sind auf und aus\ sie bezeichnen die beiden entgegengesetzten Richtungen des FolgeVerhältnisses zwischen zwei Entitäten, vgl.: (4) (5)

Auf Karl den Großen folgt Ludwig der FrommeriS1 Aus unserem Charakter folgt unser Verhalten551

Zu den Verwendungen mit der Präposition aus gehört auch der Gebrauch mit entsprechendem Subjektsatz, wie z.B. in: (6)

Aus allem, was du sagst, folgt, daß du dich irrst.552

Etwaige zusätzliche "dativische" Größen sind in diesem Fall abermals auf eine Präpositionalphrase angewiesen, vgl.: (6') Aus allem, was du sagst, folgt für uns, daß du dich irrst. Drittens gilt es, den eigentlich zweistelligen Gebrauch mit adverbalem Dativ zu unterscheiden, egal ob das Objekt persönlich oder unpersönlich ist

549 550 551 552 553

DUW, 524, Sp. 1. vgl. DW, III, Sp. 1877-1878 und DUW, 524, Sp. 1. DUW, 524, Sp. 1. WDG, II, 1338, Sp. 2. DW, III, Sp. 1878.

folgen

313

und ob das Verb wörtlich oder übertragen (also im Sinn von 'gehorchen') gebraucht wird. Dieser Typ von Verwendung ist heute mit Sicherheit der gebräuchlichste, vgl. z.B.: (7) (8) (9) (10)

Sie folgte der Frau Die Schüler folgten dem Lehrer Sie folgten der Spur Die Frauen folgen der Mode.554

Fügungen mit adverbalem Dativ können - anders als in älteren Sprachstufen - heute nicht mehr durch einen Aktanten in einem reinen Kasus ergänzt werden. Dafür ist es aber nach wie vor möglich, das Verb mit Hilfe einer Präpositionalphrase zu einem komplexen Verbalgefüge auszubauen; in der Regel bezieht sich die Präpositionalphrase auf den Raum, der - im konkreten oder im übertragenen Sinn - weiter spezifiziert wird, vgl. z.B.: jmdm. in den Wald/in den Tod/aus dem Haus/auf das Eis usw. folgen. Auch solche Fügungen mit Präpositionalphrasen weisen folgen allerdings als ein zweistelliges Verb aus. Das den Dativ regierende folgen kann die allgemeine Kernbedeutung des Verbs in verschiedenen Typen aktueller Redebedeutungen realisieren, und dies seit dem Ahd. Außer dem konkreten Sinn 'hinter jmdm. /etwas hergehen, nachkommen usw.' sind Redebedeutungen wie 'gehorchen, sich richten nach' (früher eventuell auch 'nachmachen'), 'nachvollziehen', 'entsprechend handeln', 'zustimmen', 'in der Reihe folgen' (heute konkurrierend mit: folgen auf) usw. durch die ganze Geschichte des Verbs hindurch gebräuchlich geblieben. Anders als einige Wörterbücher sind wir der Meinung, daß sich alle diese Redebedeutungen mit einer abstrakten verbalen Kernbedeutung verknüpfen lassen.555 Die absolute Verwendung und diejenige mit adverbalem Dativ können bereits im Ahd. nachgewiesen werden. Verwendungen in Verbindung mit einer Präposition, die über die Stelligkeit des Verbs entscheidet, kommen erst seit dem Nhd. vor. Seit dem Ahd. konnte folgen - mhd. volgen - darüber hinaus aber noch in einem weiteren Konstruktionstyp vorkommen, nämlich in Verbindung mit einem Genitivobjekt - ein Gebrauch, der vereinzelt bis ins Nhd. belegt werden kann, aus der heutigen Gegenwartssprache jedoch verschwunden ist. 554 555

s. DUW, 524, Sp. 1. Für folgen 'gehorchen' setzt WDG, II, 1338, Sp. 2 ein homonymes Verb an.

314

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Außer der Form folgen ist im ahd. literarischen Korpus auch einmal fol gön belegt, und zwar im Ludwigslied.556 Führen wir für die drei ursprünglichen Verwendungstypen von folgen zunächst einige ahd. Belege an; dabei beschränken wir uns zunächst auf Otfrid, bei dem die verhältnismäßig kleine Anzahl von Belegen durchaus ein komplettes Bild ergibt: - absolut: (11) Thär fuarun man manage fora themo kuninge, heri ouh redihafler so fölgata thärqfter 'Es fuhren viele Männer vor dem König, danach folgte auch ein großes Heer', Otfrid557; - zweistellig mit adverbalem Dativ, mit persönlichem Dativobjekt: (12) Petrus folgeta imo tho rümana ioh ferro 'Petrus aber folgte ihm entfernt und von weitem', Otfrid558, und mit unpersönlichem Dativobjekt: (13) "Iä sint," quad er, "binöti zuelif dägo ziti, thio iro stüntä uuerbent ioh themo däge folgent... " '"Es sind doch wohl", sagte er (= Jesus), "naturgemäß zwölf Stunden des Tages, die verfließen559 und dem Tag folgen 560 ..."', Otfrid561; - zweistellig mit Genitivobjekt: (14) fölgemes thes uuäres 'wir würden der Wahrheit folgen', Otfrid.562

556

Ludwigslied, 36: (10') Nu uuillih, thaz mir uolgon Alle godes holdon 'Nun will ich, daß mir alle Jünger Gottes folgen'. R. Schützeichel gibt die Bedeutung von folgön (anders als diejenige von folgen und gefolgert) durch 'Folge leisten' wieder, s. AW, 137, Sp. 2. 357 Piper, IV, 4, 37-38. 358 Piper, IV, 18, 1; lat.: Petrus autem sequebatur eum a longe. 339 wörtlich: 'die ihre Stunden bewegen', mit "Acc(usativ) des innern Obj(ekts)", Piper, II. Teil, 575, Sp. 1. 360 d.h.: 'dem Laufe des Tages', Piper, III, 23, 34, Anm. 361 Piper, III, 23, 33-34. 562 Piper, Η 138.

folgen

315

Schon bei Otfrid findet sich daneben die Präfixform gifolgen, das - wie beim Verhältnis zwischen ahd. helfan und gihelfan, s. § IV.7. - weitgehend dieselbe Bedeutung besitzt wie das Basisverb, zu diesem aber ein Intensivum bildet.563 Der einzige Beleg bei Otfrid weist ebenfalls ein Genitivobjekt auf: (15) Thäz sie thero dato gifölgetun sö späto 'Daß sie dem564 so spät Folge leisteten', Otfrid.565 Aus den Belegen bei Notker aber geht hervor, daß gifolgen nach dem frühen Ahd. keinen Genitiv mehr regiert, sondern nur noch den Dativ, wie z.B. in: (16) Dar ist diufreuui. dero niemer negeuolget ünfreuui 'Dort ist die Freude, der nimmermehr Traurigkeit folgt', Notker566 (17) sie nenwgen mir gefolgert 'sie können mir nicht folgen', Notker.567 Dem Althochdeutschen Wörterbuch zufolge weist das Ahd. außer gifolgen noch die komplexen Verben arfolgen 'verfolgen', üffolgen 'hinauffolgen' und untarfolgen 'fortfahren, nachfolgen' auf.568 Aus den ahd. Belegen geht hervor, daß der Dativ bei ahd. folgen als ein ursprünglicher adverbaler Kasus zu werten ist. Weshalb das Deutsche nicht - wie das Lateinische und Gotische - den Akkusativ, sondern - wie z.B. auch die griechische Sprache - den Dativ als unmittelbaren adverbalen Kasus wählt, ist eine Frage, auf die wir im Rahmen der vorliegenden Untersuchung keine Antwort geben können. Die Belege bei Otfrid legen allerdings den Schluß nahe, daß bereits im Ahd. der adverbale Dativ bei folgen wesentlich paradigmatisch bedingt ist. Während sich die Dativrektion in zweistelligen Konstruktionen in bezug auf den Unterschied zwischen Person (Lebewesen) und Sache (Abstraktum usw.) nämlich als neutral erweist - was, wie wir bereits mehrmals feststellen konnten, mit dem Dativ durchaus im Einklang steht, vgl. glauben, § ΙΠ.8. - , ist die Genitivrektion von folgen bei Otfrid strikt auf unpersönliche Objekte beschränkt: thes uuäres 'der Wahrheit' (14), thero däto 'dieser Taten' (15). Auch das dritte Beispiel bei Otfrid, das

563 564 565 566 567 568

s. DW, IV, l 1 . Sp. 2151. wörtlich: 'dieserTaten', d.h.: 'darüber, darnach, darauf, Piper, II. Teil, 53, Sp. 2. Piper, V, 6, 71. Piper, II, 360, 16-17. Piper, II, 222, 8. AW, 137, Sp. 1; auf die Form arfolgen werden wir am Schluß dieses Abschnitts noch zurückkommen.

316

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

einen Genitiv aufweist, nennt im Genitiv eine Sache (im weiteren Sinn), nämlich möyseses lira 'der Lehre Mosis', vgl.: (18) Fölgen uuir, in uuära, möyseses lera 'Wir folgen führwahr der Lehre Mosis'.569 Die Genitivrektion won folgen bei Notker bestätigt dieses Bild vollauf. In der Regel regiert das Verb den adverbalen Dativ, wie z.B. in: (19) Daz Iro semen ist. daz ist iro generatio . dero folget sälda . daz ist benedictio 'Das ist ihr semen, das ist ihre generatio, ihr folgt die Glückseligkeit, das ist benedictio', Notker.570 Die Belege mit Dativrektion bilden zwar den weitaus größten Teil der folgen-Belege im Notkerschen Korpus, daneben gibt es aber doch auch einige Belege mit einem unpersönlichen Objekt im Genitiv, u.a.: (20) Ter disfölget temo begägenet mercurius . täz chit eloquentia 'Derjenige, der dem (= diesem Rat) folgt, dem wird Mercurius zuteil, das heißt eloquentia\571 Mit Notker wird der Kasusrahmen des Verbs folgen aber wesentlich komplexer, und zwar dadurch, daß die paradigmatische Opposition zwischen der Dativ- und der Genitivrektion auf der syntagmatischen Ebene verstärkt wird. Dieser Erscheinung kommt gemäß unserem funktionellen Modell für eine zusätzliche Begründung des adverbalen Dativs besonderes Gewicht zu, weshalb wir das Verb der GRUPPE Β zuordnen. Neben den zweistelligen Verwendungen mit Dativ- oder Genitivobjekt findet sich bei Notker bereits die erste dreistellige Verwendung, in der das Dativobjekt und das Genitivobjekt miteinander verbunden werden (bei Otfrid ist ein solcher Satzbauplan nicht überliefert). Gleich zu Anfang seiner ersten Psalmübersetzung schreibt Notker:

569

570 571

Piper, III, 20, 133. Darüber, ob lera im Genitiv oder im Dativ steht, ist sich Piper allerdings nicht sicher, vgl. a.a.O., Anm. ("Genitiv"), aber Piper, II. Teil, 255, Sp. 2, "d(ativ) s(ingular)"; vgl. auch ebenda 133, Sp. 2. Piper, II, 481, 16-18. Piper, I, 772, 13-14.

folgen

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(21) So ADAM teta . do er diro chenun rates folgeta uuider Gote 'So tat es Adam, als er entgegen Gott dem Rat seiner Gattin572 folgte' .573 Der Dativ nennt hier die Person, deren Rat Adam folgt, während dieser Rat selbst, der den "Inhalt" der Verbalbedeutung angibt, im Genitiv steht. Abermals ist es der dreistellige Satzbauplan, der den Dativ als Personenkasus ausweist, also aufgrund der diakritischen Obliquusverteilung und nicht aufgrund der Kasuskernbedeutung (vgl. glauben, § ΠΙ.8.). Einige Beispielsätze sind valenzmäßig nicht eindeutig. Einen Satz wie: (22) daz älliu ding Gote lebent. unde sines uuttlen fölgent 'daß alle Sachen von Gott leben und seinem Willen folgen', Notker574 kann man so interpretieren, daß folgen im zweiten Teil des Satzes den Genitiv regiert. Man kann darin jedoch auch eine dreistellige Konstruktion mit Dativ- und Genitivobjekt erblicken (d.h.: unde [Gote] sines uuillen folgent). Im Mhd. behaupten sich sowohl die Dativrektion wie die Genitivrektion von volgen, und zwar nicht nur in zweistelligen Konstruktionen, sondern auch im dreistelligen Konstruktionstyp, der sich in mhd. Zeit durchaus fest einzubürgern scheint. Bei zweistelligem volgen gilt nach wie vor, daß im Dativ Personen - s. Sätze (23), (24) und (25) - oder Sachen - s. Sätze (26), (27) und (28) - stehen können, vgl.: (23) Do gie si zuo dem münster, ir volgete manec wip 'Da ging sie zum Münster, ihr folgten viele Frauen'575 (24) miner ritr im volgeten fünfe dar 'fünf meiner Reiter folgten ihm', Wolfram von Eschenbach576 (25) meister, ich will dir folgen, wo du hin gehest.511 (26) einen stic ich dd gevienc: der truoc mich üz der wilde, und kom an ein gevilde. dem volgte ich eine wile, 572 573 574 575 576 577

wörtlich: 'als er der Gattin des Rates folgte'. Piper, II, 3, 6-7. Piper, II, 452, 15-16. Das Nibelungenlied, 300, 1. Parzival, 618, 28. DW, III, Sp. 1876.

318

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

niht vol eine rrule '(dann) kam ich auf einen Pfad, der half mir aus der Wildnis, und ich gelangte auf ein freies Feld. Dem (Pfad) folgte ich eine Weile, nicht ganz eine Meile', Hartmann von Aue578 (27) und volget einer sträze 'und folgte einer Straße', Hartmann von Aue579 (28) Nun cham in vil gereite der stern, ir geleite, dem si dar gevolget häten 'jetzt erschien ihnen zur Fahrt bereit, der Stern, ihr Begleiter, dem sie dorthin gefolgt waren', Konrad von Fussesbrunnen (Ende des 12. Jahrhunderts).580 Was die Genitivrektion betrifft, weist das Mhd. weiterhin viele zweistellige Belege mit Genitiv auf, z.B.: (29) "des volge ich sprach Liddamus, Wolfram von Eschenbach581 (30) des Voigten al die rätgeben 'dem (= diesem Rat) folgten alle Ratgeber', Wolfram von Eschenbach582 (31) "Des wil ich gerne volgen", sprach der künec do '"Darauf will ich gerne eingehen", sagte der König'.583 Dreistellige Beispiele, die den Satzbauplan [[Subjekt im Nominativ + [folgen + Genitiv]] + Dativ]

realisieren, sind u.a.: (32) wie gerne ich iu des volgen wil daz ich iu triuwe leiste, mir selber doch die meiste! 'Wie gern auch immer ich dem (Wunsch) Folge leisten will,

578 579 580 581 582 383

Iwein, 274-278. Iwein, 3827. Die Kindheit Jesu, 1257-1259. Parzival, 421, 13. Parzival, 426, 9. Oos Nibelungenlied, 275, 1.

folgen

(33)

(34) (35) (36)

319

euch treu zu sein, am meisten möchte ich doch mir selbst treu sein', Hartmann von Aue584 des volge wir dir alle, ich unde die hie mit mir sint 'darin folgen wir dir alle, ich und alle, die hier bei mir sind', Gottfried von Straßburg585 der rede im dö gevolget wart 'ihm (= dem Grafen Adan) wurde beigestimmt', Wirnt von Gravenberc586 Des volget im der gräve Adätt, Wirnt von Gravenberc587 dö wart gevolget Gahmurete einer höfschlichen bete 'daraufhin willigte man Gahmuret in einer höfischen Bitte ein', Wolfram von Eschenbach.588

Demselben dreistelligen Satzbauplan begegnen wir im Mhd. auch beim Verb gevolgen (vgl. oben ahd. gif olgin). Das Verb ist bald zweistellig mit Dativ, wie z.B. in: (37) si mohten im niht gevolgen uf der heide (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts)589, bald zweistellig mit Genitiv (und entsprechendem unpersönlichem Objekt), z.B.: (38) Sin gevolgete niemen 'Niemand verfolgte die Sache weiter'590, bald aber auch dreistellig mit diakritischer Kasusverteilung zwischen Dativ und Genitiv: (39) des enkund' im gevölgen niemen, so michel was sin kraft 'das konnte ihm keiner nachmachen, dermaßen groß war seine Kraft' .591

584

Der arme Heinrich, 828-830. Tristan, 3198-3199. 586 Wigalois, 8134. 587 Wigalois, 8223. 388 Parzival, 45, 29-30. 589 Die Rabenschlacht, 919. 590 Das Nibelungenlied, 870, 1. 591 Das Nibelungenlied, 130, 3. 585

320

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Sicherlich muß der Satzbauplan [[Subjekt im Nominativ + [(ge-)folgen + Genitiv]] + Dativ]

als eine Synthese der seit alters her produktiven Satzbaupläne [Subjekt + [(ge-)folgen + Dativ]] und [Subjekt + [(ge-)folgen + Genitiv]]

betrachtet werden. Damit gibt der Valenzrahmen des Verbs folgen ein besonders charakteristisches Beispiel für diejenige Form der Valenzmodifikation ab, die in zwei parallelen zweistelligen Konstruktionstypen mit jeweils verschiedenen (und in paradigmatischer Opposition zueinander stehenden) obliquen Kasus gründet. Indem diese beiden Typen miteinander verbunden werden, vollzieht sich eine doppelte Verfestigung. Erstens konsolidieren sich die ursprünglichen grammatisch-semantischen Charakteristika der beiden Kasusrahmen, nämlich: a. Satzbauplan [Subjekt + [folgen + Dativ]]: persönliches oder unpersönliches Objekt b. Satzbauplan [Subjekt + |folgen + Genitiv]]: unpersönliches Objekt a. + b. > c. Satzbauplan [[Subjekt + [folgen + Genitiv]] + Dativ]: persönliches Objekt (Dativ), unpersönliches Objekt (Genitiv). Zweitens verfestigt sich der morphologische Dativ zusätzlich im zweistelligen Satzbauplan mit adverbalem Dativ, der weiterhin produktiv bleibt - obwohl der Dativ auf zweistelliger Ebene nicht der hierarchisch primäre Kasus ist. Aus der Kasusgeschichte eines Verbs wie folgen erhellt mithin besonders klar, wie auf der einen Seite eine paradigmatische Opposition (Dativ/Genitiv) syntagmatisch wirksam werden und eine valenzerweiternde Funktion gewinnen kann, während auf der anderen Seite die diakritische Differenz zwischen zwei Obliqui zu einer gegebenen Zeit dazu beiträgt, daß sich die Kasusmorphologie in Satzbauplänen ohne syntagmatische Differenzen idiomatisch verfestigt. Vermutlich liegt der schon im Ahd., vor allem aber im Mhd. belegte Satzbauplan [[Subjekt + [folgen + Genitiv]] + Dativ]

folgen

321

mit diakritischer Obliquusverteilung ebenfalls dem vergleichbaren Satzbauplan [[Subjekt + [folgen + Akkusativ]] + Dativ],

zugrunde, der vereinzelt seit dem Frühnhd., insbesondere dem frühen 16. Jh., belegt ist. In den dreistelligen Konstruktionen mit Dativ- und Akkusativobjekt wird das Verb folgen gemäß der weitgehend idiomatischen Redebedeutung 'gewähren, aushändigen, (über-)geben' usw. verwendet, und zwar im strengen Sinn transitiv: (40) wurden des zufriden, dasz sie im sein bet wolten folgen 'kamen überein, daß sie ihm sein Bett geben wollten' (1. Viertel des 16. Jahrhunderts)592 (41) ihm ward das lösegeld gefolgt 'ihm wurde das Lösegeld übergeben', Daniel Casper von Lohenstein (1635-1683).593 Die Tatsache, daß folgen etwa seit dem 16. Jh. bald zweistellig mit Dativ oder zweistellig mit Genitiv, bald dreistellig mit Dativ und Genitiv oder mit Dativ und Akkusativ gebraucht werden konnte, dürfte verständlich werden lassen, daß die Rektion des Verbs im Frühnhd. mehr Schwankungen aufweist, als bei manchem vergleichbaren Verb der Fall ist. Es erklärt ebenfalls die Tatsache, daß auch zweistellige Verwendungen mit einem Akkusativobjekt bis ins 19. Jh. hinein nicht so selten sind. Das Deutsche Wörterbuch verzeichnet folgende Belege:594 (42) thüren wir doch nicht das wagen, das wir alle werk und wort unsers herrn Christi folgen möchten, Luther (43) Maria wil vielmehr, das wir die exempel ires glaubens und ihrer demuth folgen sollen (44) wofern sie klug sind, werden sie meinen rath folgen, Christian Ludwig Liscov (1701-1760). Das Deutsche Wörterbuch merkt zu diesen drei Beispielen an, daß folgen darin jeweils für 'befolgen' stehe und daß der Akkusativ in allen drei Bele592 593

594

DW, III, Sp. 1878. a.a.O.; vgl. auch die Fügung mit komplexer Verbalgruppe jmdm. eine Sache folgen lassen (im Sinne von 'jmdm. etwas geben, verabfolgen, aushändigen'), s. DW, III, Sp. 1878 (sub 7). Für alle Belege s. DW, III, Sp. 1878.

322

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

gen "tadelhaft" sei: "hier wären die dative allen werken und Worten, den exempeln und meinem rath deutscher"595; "gleich fehlerhaft" sei das den Akkusativ regierende Verb folgen, wenn im Grunde 'verfolgen' gemeint sei, wie z.B. in: (45) Taubmanns vater hatte die freien künste und studia nicht gefolget, sondern einem ehrlichen handwerk sich ergeben (1675).596 Schließlich heißt es: "erträglicher wird das participium gefolgt für begleitet", bzw.: "alles nach fr(anzösisch) suivi de"·, die Beispiele sind die folgenden:597 (46) der bischof trat hervor, gefolgt von allen geistlichen (47) ein römischer hauptmann, von der wache gefolgt (48) ein baldachin wankte herauf, von östreichischen kriegern begleitet, gefolgt von zeitigen autoritäten, Goethe. Jacob Grimms Einschätzung des Akkusativs als "tadelhaft", vor allem in den Sätzen (42) bis (45), etwas weniger in (46), (47) und (48), ist aufschlußreich. Bei den letzten drei Beispielsätzen dürfte Grimms bekannte Abneigung598 gegenüber fremdsprachlichen Einflüssen (vor allem französischen) eine entscheidende Rolle gespielt haben, was jedoch nicht für die vier ersten Sätze zutrifft (von einer - gewiß unwahrscheinlichen - Analogie mit dem Lateinischen scheint der Autor nicht auszugehen). Demnach verwirft Grimm letztendlich den Akkusativ in zweistelligen Konstruktionen mit folgen, ohne zu explizieren, weshalb die Akkusativrektion falsch ist. Daran läßt sich die Bemerkung anknüpfen, daß die heute geradezu prototypische Dativrektion von folgen - ganz wie bei helfen, s. § IV.7. in fine - außer auf historischen Voraussetzungen auch auf stipulativ-normativen Entscheidungen beruht. Die Akkusativrektion in den Sätzen (42) bis (45) kann gewissermaßen als die Fortsetzung der ehemaligen Genitivrektion von folgen gelten. Erstens wissen wir, daß die verbale Genitivrektion im Nhd. allmählich abgebaut worden ist und daß heute nur noch ganz wenige Verben den Genitiv regieren 595 596 597 598

a.a.O. a.a.O. Für alle Beispiele s. weiterhin DW, III, Sp. 1878. Der III. Band des Deutschen Wörterbuchs (e bis forsche) erschien 1862, also ein Jahr vor Jacob Grimms Tod.

folgen

323

(vgl. § I.I.). Auch für folgen gilt, daß der Gebrauch mit einem Objektgenitiv seit dem Frühnhd. rasch rückläufig ist. Dem Deutschen Wörterbuch zufolge hält sich der Kasus lediglich in einigen festen Redewendungen, insbesondere folgt irs und ichfolgs (d.h.: 'seid ihr bzw. ich bin mit dem Urteil einverstanden') beim Rechtsspruch sowie rats folgen.599 Zweitens sahen wir, daß bei folgen + Genitiv das Genitivobjekt seit dem Ahd. und dem Mhd. in der Regel auf die Bezeichnung unpersönlicher Objekte beschränkt war, sowohl in zweistelligen Konstruktionen - s. (14), (15), (18) und (20) sowie (29), (30) und (31) - wie in dreistelligen Konstruktionen - s. (21), eventuell (22) und (32) bis (36). Tatsächlich ist auch den Akkusativobjekten in den Sätzen (42) bis (45) gemeinsam, daß sie jeweils keine belebte Person nennen; es handelt sich um alle werk und wort unsers herrn Christi, um die exempel ires glaubens und ihrer demuth, um meinen rath sowie um die freien künste und studio. Dies weist darauf hin, daß die ehemalige paradigmatische Opposition zwischen Dativ (persönliches Objekt) und Genitiv oder Akkusativ (unpersönliches Objekt) noch lange Zeit wirksam war. Auch legt es den Schluß nahe, daß die "Schwelle" für den Ersatz des "markierten" Dativs in zweistelligen Konstruktionen durch den Akkusativ als den "prototypischen" Objektkasus weniger hoch ist, wenn das Objekt keine belebte Person nennt, auch wenn das Verb gewöhnlich zum adverbalen Dativ tendiert. Die Beispielsätze (46) bis (48) bilden zu diesem Schluß insofern keinen Gegensatz, als wir es darin ausnahmslos mit Passivtransformationen zu tun haben, in denen die Personen, denen gefolgt wird, überhaupt nicht im Akkusativ, sondern im Nominativ erscheinen - dem per definitionem neutralen Kasus der imposition In der deutschen Sprache der Gegenwart ist weder die Akkusativ- noch die Genitivrektion des Verbs noch möglich. Außerdem ist folgen als Verb mit einem adverbalen Dativ in ein Paradigma eingebunden, zu dem heute vor allem noch Präfixverben mit Akkusativrektion gehören, nämlich: verfolgen und befolgen. Das heutige Verb erfolgen ist in der Gegenwartssprache auf den absoluten Gebrauch eingeschränkt. Unter den zusammengesetzten Verben regieren u.a. nachfolgen und (das weniger übliche) ausfolgen den Dativ; anders als ausfolgen kann nachfolgen das Simplex folgen in verschiedenen Verwendungen ersetzen.

5,9 600

DW, III, Sp. 1877; vgl. dazu RWB, III, Sp. 608-609. Willems 1997, 186.

324

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Um das Paradigma der Verben mit dem Basislexem -folgen war es im älteren Deutsch allerdings ganz anders bestellt, zumindest wenn man die heutigen Präfixverben in Augenschein nimmt. Wie gifolgen ist arfolgen bereits im Ahd. belegt. R. Schützeichel gibt seine Bedeutung mit 'verfolgen' an.601 Die Bedeutung 'verfolgen', aber auch 'einholen, erreichen, erlangen', behält das Verb bis ins Frühnhd. bei, und es regiert dann immer den Akkusativ: (49) daz den Hirz weder Hunde noch lüte irvolgen mochten602 (50) daz sie die wilden thier erfolgen In der Regel regiert erfolgen ebenfalls den Akkusativ, wenn es im Sinn von 'nachkommen, erfüllen, ausüben' verwendet wird.604 In diesem Bedeutungsansatz entwickelt sich das Verb seit dem Mhd. zu einem Begriff, der in erster Linie dem Bereich des Rechts angehört605: ein urteil ervolgen 'ein Urteil mit gemeiner volge aussprechen'606, eine klage ervolgen 'sie zu jmds. Gunsten zu Ende führen'607, ein dinc ervolgen 'die rechtliche Zusprechung einer Sache erreichen'608, den üzspruch ervolgen 'dem Urteilsspruch nachkommen'609 usw. Es ist dieser Verwendungstyp, aus dem sich das Nomen mhd. ervolgunge 'Erlangung, Zusprechung einer beklagten Sache, Ausführung des Urteils'610 und schließlich auch - im 17. Jh. - die Rückbildung mhd. ervolge, nhd. Erfolg 'Wirkung, Erreichen eines Zieles' entwickelt haben.611 Nur in einigen wenigen Belegen regiert erfolgen den Dativ, z.B. in: (51) daz gelt sol in erfolgen 'das Geld soll ihnen zuteil werden'.612 Das Verb konnte vom 14. bis zum 16. Jh. außerdem auch reflexiv im Sinne von 'sich erfüllen, sich zutragen; entstehen; stattfinden' usw. verwendet 601 602 003 604 605 606

607 60,1 609 610

611

612

AW, 137, Sp. 1; vgl. DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1723. BMZ, III, 367-368. DW, XII, 1, Sp. 803. s. BMZ, III, 368, 3ff. vgl. RWB, III, Sp. 180-182. BMZ, III, 368, 17-18; ΜΗ, I, Sp. 691; RWB, III, Sp. 181; d.h., daß man das Urteil öffentlich bestätigt und ihm zustimmt. BMZ, III, 368, 19-20; ΜΗ, I, Sp. 691; RWB, III, Sp. 180. BMZ, III, 368, 21-23. ΜΗ, I, Sp. 691. ΜΗ, I, Sp. 691; vgl. BMZ, III, 368, 40-41; RWB, III, Sp. 182-183; DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1727-1728. s. Pfeifer 1993, 363, Sp. 2, Kluge/Seebold 1995, 229, Sp. 1 und DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1721-1722. DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1724-1725; vgl. RWB, III, Sp. 181.

folgen

325

werden.613 Seit dem 16. Jh. verschwindet das Reflexivum und setzt sich der heutige einstellige Gebrauch des Verbs im Sinn von 'sich vollziehen, ablaufen, stattfinden' usw. oder 'als Folge von etwas eintreten' durch.614 Das noch im Mhd. gebräuchliche Verb gefolgen, das denselben Kasusrahmen me folgen aufwies, ist im Nhd. untergegangen und lebt - wie gehelfen in Gehilfe - nur noch in bestimmten Lexemen weiter (Gefolge, Gefolgschaft u.dgl.). Im Gegensatz zu gefolgen ist die Verbform verfolgen, das wie gefolgen ebenfalls ein Intensivum zu folgen ist, erst seit dem Mhd. belegt.615 Schon früh setzte sich bei diesem Verb die Akkusativrektion durch.616 Nur vereinzelt und insbesondere in älteren Belegen regiert das Verb - wie das Simplex folgen - den Dativ, wie z.B. in: (52) was ich (...) gehaiszen und mir zu thun bevolhen wird, dem allen sol und wil ich trewlich on Widerrede vervolgen (15. Jh.).617 Noch seltener wird verfolgen in dreistelligen Konstruktionen verwendet, in denen das Verb - ganz wie folgen und gefolgen im Ahd. und Mhd. - mit Dativ und Genitiv verbunden wird; dafür fanden wir nur einen Beleg: (53) des vervolgt im der meister, Heinrich Steinhöwel (1411/12-1479);618 Satz (53) ist allerdings uneindeutig, weil des darin auch ein Adverb ('deshalb, deswegen') sein kann.619 Daß beim Verb verfolgen heute nur noch der Akkusativ möglich ist, muß vor dem Hintergrund des adverbalen Dativs bei folgen als ein sowohl paradigmatisch wie syntagmatisch bedeutsames Faktum gewertet werden, weist es doch auf funktionelle Verteilungen im "Sprachsystem" sowie auf die geschichtliche Verfestigung semantisch-syntaktischer Regularitäten hin. Erwähnt werden muß schließlich noch das Verb befolgen, das erst seit dem 18. Jh. auftaucht620 und - charakteristisch für die be-Verben - seitdem immer den Akkusativ regiert hat. 613 6,4 615 616

6,7 618 619 620

DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1723 und 1725-1726. DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1725-1726. s. BMZ, III, 368, Sp. 2 und DW, XII, 1, Sp. 347. "transitiv, schon seit früher zeit neben dem intransitivum einhergehend", DW, XII, 1, Sp. 347; vgl. die vielen Belege Sp. 347-350. DW, XII, 1, Sp. 347. BMZ, III, 368, 33. s. ΜΗ, I, Sp. 421. DW, I, Sp. 1267.

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

326

IV.9. steuern Das Verb steuern hat in der Sprache der Gegenwart grundsätzlich zwei Bedeutungsansätze: 1. 'lenken', das syntaktisch ein Subjekt und ein Akkusativobjekt erfordert, wie z.B. in: (1)

Der Kommandant steuerte selber das Schiff-,

2. 'entgegenwirken, Einhalt gebieten', das einen adverbalen Dativ zu sich nimmt: (2)

Wir werden dem Unheil schon steuern.

Bis ins 19. Jh. waren darüber hinaus noch zwei andere Verwendungen möglich, nämlich: 3. 'unterstützen, helfen' (v.a. im Mhd.); dieser Bedeutungsansatz entwickelte sich schließlich zur Bedeutung 'beisteuern, finanzielle Hilfe leisten', mit Dativ- und Akkusativobjekt oder mit adverbalem Dativ, der offenbar ein ehemaliger diakritischer Dativ war, vgl.: (3)

ich bin nicht reich, doch werden eitern mir und freunde willig steuern, Franz Grillparzer (1791-1872)621 doch steuerte er ihm etwas auf den weg und hiesz ihn auch die schuh im stall mitnehmen, Eduard Mörike (1804-1875)622;

(4)

4. 'Steuer(n) bezahlen, Steuerverpflichtungen nachkommen'; dieser Bedeutungsansatz kam ebenfalls entweder mit Dativ- und Akkusativobjekt oder nur mit einem Akkusativobjekt oder schließlich mit einem adverbalen Dativ vor. Auch dieser adverbale Dativ war also ein versteinerter diakritischer Dativ, vgl.: (5) (6)

621 622 623 624

so steuerten (...) die juden jedes andere jähr ein viertel der aussaat (1874)623 die nadel soll mir erwerben, was ich dem kloster steuern musz (Ende des 18. Jahrunderts)624 DW, X, 22, Sp. 2645. DW, X, 22, Sp. 2646. DW, X, 22, Sp. 2649. a.a.O.

steuern

(7)

327

sondern gehören demfürsten, als demjenigen, welchem gesteuert worden ist (1816). 625

Es handelt sich bei den modernen und den historischen Verwendungen626 von steuern (ahd. und mhd. stiureri) um zwei unterschiedliche, homonyme Ableitungen aus einem Substantiv, das ahd. stiura lautete und das in seinem germanisch-indoeuropäischen Ursprung 'Pfahl' bedeutete.627 Inhaltlich hat sich das Substantiv einerseits in 'Stütze' und andererseits in 'Lenkvorrichtung eines Schiffs' aufgespalten. Der Bedeutungsansatz steuern 'lenken' (1.) ist aus stiura 'Lenkvorrichtung' abgeleitet, die Bedeutungsansätze steuern 'unterstützen' (3.) und 'Steuer bezahlen' (4.) sind Bildungen zu stiura 'Stütze'. Der heutige Bedeutungsansatz 'entgegenwirken' (2.) mit adverbalem Dativ ist bereits im Mhd. belegt, mit etwa demselben Inhalt (8). Er kann aber auch durch Konstruktionen mit dem Akkusativ (9) oder mit dem Genitiv (10) zum Ausdruck gebracht werden, wie z.B. in: (8)

do daz Progne gesach, sie stürte ir schiere unde sprach... 'als Progne das sah, beschwichtigte sie sie bald628 und sagte...', Albrecht von Halberstadt (1180-1251)62» (9) swä man sach ir wunden, die wurden an den stunden mit balsem gestiuret 'als man ihre Wunden sah, wurden diese sofort mit Balsam gelindert', Wolfram von Eschenbach630 (10) daz her des unrehtin wol sture 'daß er dem Unrecht gut wehrte', Johannes Rothe (um 1360-1434).631 623 626

627 628 629 630

631

DW, X, 2\ Sp. 2648. Im Oberdeutschen hat es zudem noch eine Verwendung gegeben, wo steuern 'Steuer(n) auferlegen' ausdrückte, also das, wofür nhd. besteuern verwendet wird. s. Pfeifer 1993, 1358-1359. wörtlich: 'sie steuerte ihr bald'. Bearbeitung von Ovids Metamorphosen, hrsg. von K. Bartsch (1861), XVI, 446. Willehalm, 451, 17-19; s. BMZ, II/2, 652, 32-34. Das Beispiel belegt eine Passivtransformation einer ursprünglichen Akkusativrektion. Der Ritter Spiegel, 2342; wörtlich: 'daß er des Unrechts wohl steuerte'.

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

328

Im Deutschen Wörterbuch wird der Bedeutungsansatz 'entgegenwirken' aus steuern 'lenken* abgeleitet, denn '"jemanden in gewünschter richtung lenken' könne zugleich bedeuten 'seinen unerwünschten absichten wehren'".632 Ein zusätzliches Argument bilde die Tatsache, daß auch das Altenglische und das Altfriesische diesen Bedeutungsansatz gekannt hätten, in ihrer Geschichte jedoch niemals die Ansätze 'stützen' oder 'Steuer(n) bezahlen' herausgebildet hätten, so daß ein Zusammenhang mit diesen Ansätzen als sehr unwahrscheinlich einzustufen sei. Auch syntaktisch ist die im Deutschen Wörterbuch vorgeschlagene Genealogie plausibel, denn eine Verwendung wie sie stürte ir schiere läßt sich problemlos als eine Valenzreduktion von steuern (stiuren) im Sinne von 'lenken' betrachten, als eine Verkürzung etwa für nichtbelegtes (8')

c

sie stürte ir schiere die unruowe 'sie steuerte ihr bald die Unruhe'.

Die meisten mhd. Belege in den Wörterbüchern von Grimm, Lexer und auch Benecke-Müller-Zarncke betreffen den Bedeutungsansatz 'unterstützen' (3.), so daß die ursprünglich diakritische Funktion des adverbalen Dativs für das Deutsche nicht leicht nachzuweisen ist. Für das mittelnddt. sturen und das altengl. steöran dagegen, die beide auch in Verwendungen mit adverbalem Dativ vorkommen, ist die ehemalige diakritische Funktion in Konstruktionen mit einem Dativ der Person und einem Genitiv der Sache leicht nachvollziehbar. Vgl. für mittelnddt. sturen 'steuern' u.a.: (11) God sturd den bomen, dat se nicht wassen in den hemmel 'Gott steuert den Bäumen, damit sie nicht in den Himmel wachsen'633 (12) sture dynem munde der schandsprake 'Verhindere, daß dein Mund lästert'634 (13) dat den unvöghen luden van Brunswick ghesturet werde der jamerlyken schicht 'daß die unhöflichen Leute von Braunschweig von diesem kläglichen Vorfall abgehalten werden mögen'.635 Das altengl. steöran regiert oft einen adverbalen Dativ und hat eine ganze Reihe von Inhalten entwickelt, die im Verhältnis zu steöran 'ein Schiff lenken' als übertragene Inhalte zu deuten sind. Hier zwei Beispielsätze, in de632 633 634 635

DW, X, 2 2 , Sp. 2653. MnW, IV, 453, Sp. 2. MnW, IV, 454, Sp. 1. a.a.O.

steuern

329

nen das Verb im Inhalt 'in die richtige Richtung führen, von Übel abhalten' verwendet wird: (14) Gif he dam receledsum styrp, dorne sceal his steor beon mid lufe gemetegod 'wenn er die Unvorsichtigen auf den richtigen Weg bringt, dann wird seiner Führung mit Liebe begegnet'636 (15) Dast he fram synnan gecyrre and dörum mannum unrihtes styre 'daß er sich vom Sündigen abwende und andere Leute vom Unrecht abhalte'.637 Man kann aus guten Gründen annehmen, daß auch das deutsche steuern mit adverbalem Dativ ursprünglich in dreistelligen Satzbauplänen heimisch war. Daß für diese Annahme keine Belege vorhanden sind, muß in erster Linie der beschränkten Überlieferung zugeschrieben werden. Aus sämtlichen ahd. literarischen Quellen sind nur acht Belege von säuren bekannt, fünf in den Werken Notkers, einer im Carmen ad Deum und zwei in den Murbacher Hymnen. Nun bleibt nur noch das Verhältnis zwischen dem adverbalen Dativ bei steuern 'entgegenwirken' und dem akkusativischen Satzbauplan von steuern 'lenken' zu klären. Letzterem kann im modernen Deutsch normalerweise kein Dativ hinzugefügt werden - selbstverständlich abgesehen von immer möglichen Satzdativen wie dem dativus ethicus oder dativus judicantis (z.B.: Steuern Sie mir mal dieses Schifflein; Der hat mir aber das Schiff gesteuert! usw.). Im Ahd. erscheinen im Bedeutungsansatz 'lenken' nur Verwendungen mit einem Akkusativ: (16) scirmanto unser sih lagonte kadhui stiuri dina scalcha dea pluate archauftos 'Unser Schutzherr, sieh, dränge die Verfolger zurück lenke deine Diener, die du durch dein Blut638 freigekauft (erlöst) hast'639, 636

Bosworth/Toller 1898/1964, 917, Sp. 1. a.a.O. 6} * wörtlich: 'dem Blute', wobei der Dativ dem lateinischen Ablativ (sanguine) entspricht. 639 Murbacher Hymnen, XVI, 5; lat.: Defensor noster, aspice, / insidiantes reprime/ guberna tuos famulos/ quos sanguine mercatus es. 637

330

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

oder reflexive Verwendungen mit der Präposition mit: (17) St bechennet. täz ratio unde imaginatio . linde sensus pechennent. sih töh ne stiurende mit iro dehiinero 'Sie anerkennen die ratio und die imaginatio, und auch den sensus anerkennen sie, aber sie lassen sich nicht von einer von diesen leiten (lat.: 'sie machen keinen Gebrauch davon')', Notker.640 Im Mhd. kommen überhaupt keine dreistelligen Verwendungen von säuren 'lenken' oder 'entgegenwirken' vor. Weisen wir noch darauf hin, daß sich im Altengl. bestimmte Ansätze zu einer - wenigstens beschränkten - Systematik verzeichnen lassen. Einerseits gibt es Verwendungen, die buchstäblich das Lenken eines Schiffes bezeichnen und nur den Akkusativ regieren, z.B.: (18) Sum (on) fealone wasg stefnan steörep 'Man steuert den Bug auf düsteren Wogen'.641 Andererseits gibt es Verwendungen, die 'führen, abhalten, strafen, besseren', also ein metaphorisches Lenken bezeichnen. Das Verb kann dann den Genitiv, Akkusativ oder Dativ regieren, oder auch den Genitiv in Verbindung mit dem Dativ. Ein Beispiel mit einem Genitiv (der Sache) ist: (19) Pä styrde he Pass 'Dann verbot er das'642; mit einem Akkusativ (der Person): (20) Söna swä Ρ gehyrde Nonnosus, he styrde hi, Ρ Ρ swä beon ne mihte 'Sobald N. das hörte, verbot er das; so dürfe das nicht sein'643; mit Dativ: (21) Da geornfiilnesse de he mid stioran scolde dasre sowie and dsem lichamon 'Der Fleiß, mit dem er die Seele und den Körper führen sollte'644; 640

641 642 643 644

Piper, I, 337, 30; lat.: Nam cognoscit et universum rationis . etfiguramimaginationis . et sensibile materiale . nec utens raüone . nec imaginatione . nec sensibus. (Auch lat. uti regiert den Ablativ.) Daneben existieren bei Notker noch reflexive Verwendungen des Verbs in Verbindung mit der Präposition an im Sinne von 'sich stützen auf. Bosworth/Toller 1898/1964, 917, Sp. 1. Bosworth/Toller 1898/1964, Supplement Toller, 711. a.a.O., lat.: quod Nonnosusfieriprohibuit. Bosworth/Toller 1898/1964, 917, Sp. 1.

steuern

331

mit Dativ der Person und Genitiv der Sache: (22) Daan sacerde naht ne fremaP daet he rihtwis beö gif he däm unrihtwisan nele hyra unrihtes styran 'Es nutzt dem Geistlichen nichts, daß er rechtschaffen ist, wenn er den Ungerechten ihre Ungerechtigkeit nicht tadelt'.645 Ohne hier in extenso auf das altgermanische Verhältnis zwischen dem syntaktischen Akkusativ und dem syntaktischen Genitiv eingehen zu können, läßt sich festhalten, daß die altengl. Belege eine komplementäre Verteilung von Akkusativ und Genitiv aufweisen: Akkusativ der Sache bei buchstäblichem Gebrauch von steöran, Dativ oder (selten) Akkusativ der Person und Genitiv der Sache bei übertragenem Gebrauch. Auf eine komplementäre Kasusverteilung bei mhd. stiuren lassen die Belege unter dem einschlägigen Stichwort bei M. Lexer und bei Benecke-Müller-Zarncke indes nicht schließen, es sei denn, man ginge davon aus, daß der Genitiv im Prinzip nur bei stiuren im Sinne von 'entgegenwirken' erscheint. Hält man an der traditionellen Auffassung fest, daß der Genitiv im Gegensatz zum Akkusativ ein Teil/Ganzes-Verhältnis ausdrückt, so wäre der Genitiv der geeignete Kasus für Objekte, die nicht absolut und nicht in ihrer Totalität an der Verbalhandlung beteiligt sind bzw. nicht ganz von ihr betroffen sind. Eine mögliche Hypothese für den historischen Zusammenhang zwischen altengl. steöran 'lenken' und steöran 'führen, abhalten von' sowie zwischen steuern 'lenken' und steuern 'entgegenwirken' ist demnach folgende: Wenn man "einer Person" ein Unheil oder eine unerwünschte Aktivität "lenkt", versucht man das Unheil bzw. die unerwünschte Aktivität "wegzulenken". Das nicht Erwünschte wird nur teilweise, nicht als Ganzes, "weggelenkt", d.h. nur in bezug auf die vom Dativ bezeichnete Instanz. Dies könnte dann die Wahl des Genitivs bedingt haben. Der Dativ konnte im Altenglischen, wie wir sahen, sowohl eine belebte Person als auch eine Sache nennen. Das gleiche gilt für das Mhd., vgl.: (23) daz man den ketzern sulle sture 'daß man den Ketzern Einhalt tun solle', Johannes Rothe (um 1360-1434)646

545 644

a.a.O.; lat.: sacerdoti nihilprodest, rum corrigere nolit. Der Ritter Spiegel, 3170.

quod ipse justus sit, si injustos pro iniustitiam eo-

332

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

(24) sö er kumet an den tac, stme libe er nicht stüren mac, kriechende an allen vieren geltchet er den tieren 'So wird er (der Mensch) geboren: Er kann seinen Körper nicht zügeln (kontrollieren), kriechend auf den vier Gliedmaßen gleicht er den Tieren', Albrecht von Halberstadt.647 Sobald sich der adverbale Dativ als eigenständige Verwendung verfestigt hatte, konnten auch unbelebte Gegenstände mittels des Dativs bezeichnet werden. Erst viel später legte sich die nhd. Norm auf Verwendungen fest, in denen der Dativ bei steuern 'wehren' nur noch Unbelebtes bezeichnete. Fassen wir kurz zusammen. In der Geschichte von steuern muß zwischen zwei homonymen Verben unterschieden werden. Einerseits haben wir das im 19. Jh. untergegangene steuern! mit den Verwendungen 'unterstützen' und 'Steuer bezahlen', die historisch miteinander zusammenhängen. Der adverbale Dativ in den Verwendungen dieses Verbs ist diakritischer Herkunft, und steuern, + Dativ gehört strenggenommen denn auch in die GRUPPE A. Andererseits weist auch steuert,ij unabhängig von steuern^ seit dem Mhd. Verwendungen mit einem adverbalen Dativ auf. Der Ursprung dieses adverbalen Dativs ist im Deutschen mangels Belegmaterials nicht genau festzustellen. Vergleiche mit mittelnddt. stüren und altengl. steöran, die in einer sehr ähnlichen Weise verwendet wurden und ebenfalls in Verbindung mit einem adverbalen Dativ begegnen, lassen es plausibel und begründet erscheinen, daß auch der adverbale Dativ bei steuern^ letztlich gegenüber anderen Kasusobjekten syntagmatisch-diakritisch motiviert war. Trotzdem ist steuern2 ein Vertreter der GRUPPE B. Erstens kann das Verb in einem zweistelligen Satzbauplan mit Akkusativrektion seit langem kein weiteres Dativobjekt mehr an sich binden. Zweitens gibt es daneben auch einen zweistelligen Satzbauplan mit adverbalem Dativ, in dem das Verb nicht zusätzlich einen Akkusativ regieren kann. Dativ und Akkusativ bewirken bei Steuern2 jeweils eigene Normbedeutungen: Steuer«2 + Akkusativ heißt "lenken'; steuern^ + Dativ heißt 'entgegenwirken, Einhalt gebieten'.

647

Bearbeitung von Ovids Metamorphosen, hrsg. von K. Bartsch (1861), XXXV, 239-242.

gleichen

333

IV. 10. gleichen Das Verb gleichen kann als eines der prototypischen zweiwertigen Verben der Gegenwartssprache gelten, die obligatorisch einen adverbalen Dativ regieren und heute - anders als im älteren Deutsch - weder in einstelligen noch in dreistelligen Satzbauplänen vorkommen. Interessanterweise stimmt gleichen in diesem Punkt mit dem Verb ähneln überein, das an dieselben syntaktischen Restriktionen gebunden ist (vgl. § IV. 11.). Die Übereinstimmungen zwischen den beiden Verben gehen aber noch weiter, und zwar in etymologischem Sinn. Beide Verben sind nämlich deadjektivische Ableitungen - gleichen ist eine Ableitung von gleich, ähneln eine verhältnismäßig junge Nebenform der Ableitung ähnlichen zu ähnlich - , und beide Male handelt es sich um eine Ableitung von einem Adjektiv, das seinerseits auf dasselbe nominale Grundwort germ. °lika 'Gestalt' zurückgeht. Dennoch ist der Grund für den adverbalen Dativ bei beiden Verben nicht derselbe. Daß das Verb gleichen als eine Ableitung vom Adjektiv gleich zu gelten hat, kann als gesichert gelten.648 Das adjektivische Grundwort gleich - ahd. galih (oder gilih, gelih usw.)649, mhd. gelich oder bereits mit Synkope glich650 - ist ein sog. Bahuvrihi-Kompositum oder Exozentrikum aufgrund von gemeingerm. ga- und lika 'Gestalt, Körper' und bedeutete also 'dieselbe Gestalt habend'.651 Dem Deutschen Wörterbuch zufolge sind schon in mhd. g(e)lichen drei verschiedene Bildungen zusammengeflossen, nämlich: a. transitives ahd. Ithhon (oder °lichön) 'gleich machen, polieren'652, b. transitives ahd. "galichen 'gleichmachen'653, c. und intransitives ahd. lihhen (oder liehen), das ursprünglich - seit dem 8. und 9. Jh. - 'gefallen' bedeutet, später aber, seit dem Frühmhd., auch im Sinne von 'gleich sein, ähnlich sein, gleichen' verwendet wird; in dieser Verwendung wird das intransitive Verb den Bedeutungsansatz 'gefallen' im Mhd. schließlich ganz verdrängen.654 648 649 650 651 652 653 654

DW, IV, 1 \ Sp. 8037. AW, 196, Sp. 2. ΜΗ, I, Sp. 812-813; BMZ, I, 972, Sp. 1. s. DW, IV, I 4 , Sp. 7936; Kluge/Seebold 1995, 326, Sp. 2; Pfeifer 1993, 454, Sp. 2. vgl. DW, IV, 1", Sp. 8043-8045. DW, IV, 1 \ Sp. 8037. DW, IV, 1 \ Sp. 8037 und 8048-8049.

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

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In sein Althochdeutsches Wörterbuch nimmt R. Schützeichel jedoch nur das intransitive Verb ahd. lihhen auf.655 Bei den beiden anderen Verben handelt es sich somit nicht um Belege aus dem klassischen literarischen Korpus. Wie angemerkt wurde, bedeutet ahd. Ithhen ursprünglich 'gefallen, behagen, angenehm sein' (das Antonym heißt misselihheri).656 Als solches ist das Verb u.a. bei Notker und Otfrid belegt. Für uns ist vor allem interessant, daß das Verb im Ahd. sowohl in Verbindung mit Dativ und Genitiv als auch in Verbindung mit einem adverbalen Dativ allein verwendet wird. Belege für den adverbalen Dativ sind u.a. Sätze (1) und (2); im zweiten Beispielsatz ist das Dativobjekt das Reflexivum: (1) (2)

thaz thu gisahis then män, er seal thir liehen filu fr am 'damit du diesen Mann siehst, er wird dir fürwahr gefallen', Otfrid657 "Thiz ist nun sün diurer, in herzen mir ouh liuber in imo liehen ih mir äl, theih inan sülichan gibar... " '"Dies ist mein teurer Sohn, der mir von ganzem Herzen lieb ist, in ihm gefalle ich mir ganz und gar, weil ich ihn als solchen erzeugte..."', Otfrid.658

In der folgenden Stelle bei Notker kommen sowohl die zweistellige Verwendung mit einem adverbalen Dativ wie auch die dreistellige Verwendung mit Dativ und Genitiv vor: (3)

655 656 637 658

659 660 661

Vnde des pin ih dir gelichet in dinero uuarheite659 unde neruöcho uuieo ih menniscon misselichen . mit dien uudrheit nist . ecchert ih dir lichee. Ih liehen dir des, daz ich nesaz in dero manigi dero üppigheite660 'Und diesbezüglich gefiel ich dir in deiner Wahrheit und verachte es, wie ich Menschen mißfalle. Mit den Wahrheiten ist nichts, es sei denn, daß ich dir gefalle. Ich gefalle dir darin, daß ich nicht in der Versammlung der Eitelkeit saß', Notker.661

AW, 197, Sp. 2. AW, 197, Sp. 1 und Sehrt 1962, 121, Sp. 1-2; vgl. das englische Verb to like. Piper, II, 7, 32. Piper, I, 25, 17-18.

lat.: Et complacui in ueritate tua. lat.: Non sedi in concilio uanitatis. Piper, II, 81, 22-23.

gleichen

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Der Genitiv, der sich im Ahd. auf den Inhalt des Gefallens bezieht, wird allmählich seltener und fallt im Mhd. schließlich ganz weg. Ein mhd. Beispiel ohne Genitivobjekt finden wir u.a. im Tristan: (4)

ich enweiz, waz ich da von gesage, daz iu geliche und iu behage 'ich weiß nicht, was ich davon sagen kann, damit es euch gefällt und euch behagt', Gottfried von Straßburg.662

Seit dem Mhd. übernimmt zweiwertiges gleichen mit adverbalem Dativ die Bedeutung 'gleich sein'. Es ist schwer zu sagen, inwiefern die Verwendungen mit gleichen + Dativ mit den transitiven, oft dreistelligen Verwendungen des Verbs im Ahd. verwandt sind. Jedenfalls werden die Verwendungen von geliehen gemäß dem Bedeutungsansatz 'gefallen' im Mhd. immer seltener663, bis die Bedeutung schließlich ganz anderen Verben bzw. verbalen Streckformen vorbehalten ist. Im Mhd. unterscheiden die einschlägigen Wörterbücher im einzelnen die folgenden Verbformen664: a'.

mhd. liehen (entspricht dem ahd. lichön) 'eben, glatt machen, polieren', mit Akkusativ;

b'.

mhd. liehen 'gleich oder ähnlich machen', mit Dativ, sowie mhd. geliehen 'gleich machen, gleich stellen, vergleichen', mit Dativ oder Akkusativ; daneben auch mhd. geliehenen 'vergleichen', mit Dativ und Akkusativ, und mhd. gelichern 'gleich machen, schlichten', nur mit Akkusativ;

c'.

mhd. liehen (entspricht ahd. liehen) und geliehen 'gefallen', mit Dativ, sowie mhd. geliehen reflexiv mit Dativ 'sich beliebt machen';

d'.

mhd. liehen 'gleich, ähnlich sein mit', mit Dativ, sowie mhd. geliehen 'gleich sein, gleichen', ebenfalls mit Dativ.665

Auch das neue gleichen in der modernen Bedeutung wird im Mhd. noch oft in dreistelligen Konstruktionen mit diakritischer Kasusverteilung verwen662 663 664 663

Tristan, 4595-4596. vgl. ΜΗ, I, Sp. 813-814. ΜΗ, I, Sp. 813-814 und Sp. 1897-1898; BMZ, I, 970 und 974-975. Einige der genannten Verbformen können auch einstellig verwendet werden.

336

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

det. Dazu gesellt sich ein Unterschied in der Rektion des Objektskasus in zweistelligen Konstruktionen. Aufgrund der Verbindungen zwischen den verschiedenen Verwendungen des Verbs in dreistelligen und zweistelligen Konstruktionen erweist sich der heutige adverbale Dativ bei gleichen als syntagmatisch-paradigmatisch begründet. Beispielsätze für den dreistelligen Gebrauch finden sich bei Benecke-Müller-Zarncke und im Deutschen Wörterbuch zahlreich belegt. Vor allem die reflexive Verwendung ist sehr gut vertreten, die jeweilige Redebedeutung schwankt leicht je nach Kontext, vgl.: (5)

(6)

(7) (8) (9)

"ichn wil mich mit dem munde niht glichen dem hunde... " "'ich will mich mit dem Munde nicht dem Hund gleichstellen..."', Hartmann von Aue666 der gelichet sich dem tüvele der durch sinen grozzen hohmüt keine rüwe wolde enphahen und gelichet sich Judas deme gotes vorretere 'der macht sich dem Teufel gleich, der wegen seines großen Hochmuts keine Reue haben wollte, der macht sich Judas, dem Verräter Gottes gleich'667 so lerne mich wie ich mich dir solle geliehen 'so lehre mich, wie ich mich dir anpassen soll' (151 δ)668 er gleichte sich diesem oder jenem Helden, Herder669 du stehest nun da! gleichest dich dem Griechen (d.h.: 'du stellst dich mit dem Griechen auf die gleiche Stufe'), Klopstock.670

Nichtreflexives dreistelliges gleichen mit Dativ- und Akkusativrektion begegnet u.a. in folgenden Belegen (auch hier reicht die aktuelle Verbbedeutung von 'vergleichen' über 'sich angleichen', 'übereinstimmen' und 'gleichmachen' bis zu 'dem Wert und Rang nach gleichsetzen'): (10) ich geliche in diesen Sachen 'ich vergleiche ihn damit', Hartmann von Aue671 666 667 668 669 670 671

Iwein, 875-876. Altdeutsche Predigten, hrsg. von Α. E. Schönbach, I, 31, 8-10. DW, IV, 1", Sp. 8039. a.a.O. DW, IV, l 4 , Sp. 8046. Gregorius, 3459; vgl. BMZ, I, 974, 18-19, dort auch die Übersetzung.

gleichen

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(11) er ermet unde liehet, den riehen er gelichet dem armen, swenne er wil 'er ( = Gott) macht reich und arm, wen er wil, den Reichen stellt er auf die gleiche Stufe wie den Armen', Wirnt von Gravenberc672 (12) der herre hat mich geleichet meiner swester 'der Herr hat mich auf die gleiche Stufe gestellt wie meine Schwester' (14. Jh.)673 (13) er gehiez im sin geslaehte ze glichen dem griez und den Sternen 'er ( = Gott) hieß ihn ( = Abraham) sein Geschlecht dem Sand und den Sternen gleichzumachen'674 (14) ob wohl, du groszer Rhein, dir alle flüsse weichen (...), so musz ich dir dennoch disz kleine wasser gleichen (d.h.: 'dich damit gleichsetzen'), Martin Opitz (1597-1639)675 (15) ich gleichet jr ( = der Weisheit) keinen edelstem, denn alles gold ist gegen sie wie geringer sand.676 (16) auge, wem gleich ich dich? (d.h.: 'mit wem vergleich ich dich'), Klopstock.677 An der Stelle des Dativs sind auch Präpositionalphrasen möglich, wie etwa in: (17) und es gleichte schon die waage an dem himmel nächt und tage, Schiller.678 Das Dativobjekt bezeichnet in den Sätzen (5) bis (16) in der Regel die Instanz, mit der etwas oder jemand verglichen oder gleichgesetzt wird bzw. der etwas oder jemand anders angeglichen wird. Das Akkusativobjekt nennt dagegen die Instanz, die mit der im Dativ genannten Größe verglichen wird oder gleichgesetzt wird bzw. die dieser angeglichen wird. Wird indes kein Vergleich zwischen zwei Objekten angestellt, sondern steht das Verhältnis 672 673 674 675 676 677 678

Wigalois, DW, IV, a.a.O. DW, IV, a.a.O. DW, IV, DW, IV,

6473-6475. l 4 , Sp. 8042; lat.: comparavit me deus cum sorore mea. l 4 , Sp. 8046. 1 \ Sp. 8047. 1 \ Sp. 8043.

338

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

zwischen dem im Nominativ genannten Subjekt und der "Ziel"instanz des Vergleichs zur Diskussion, dann regiert gleichen einen adverbalen Dativ, ohne zusätzlichen Akkusativ. Zweistelliges gleichen mit adverbalem Dativ bezeichnet Ähnlichkeit im äußeren wie im inneren Sinn, und das Verb kann auch im Sinne von 'nachahmen', 'entsprechen', 'gleichkommen' usw. verwendet werden,679 vgl. etwa: (18) der heim gelichte dem regenbogn 'der Helm glich dem Regenbogen', Wolfram von Eschenbach680 (19) Nu wil ich disiu kleider tragen (...), "daz ich mac geliehen einer küniginne" 'Nim will ich diese Kleider tragen (...), "damit ich einer Königin gleiche'"681 (20) heil den unbekannten höhern wesen, die wir ahnen! ihnen gleiche der mensch, Goethe682 (21) des menschen seele gleicht dem wasser: vom hirrunel kommt es, zum himmel steigt es, Goethe.683 In zweistelligen Verwendungen konnte das Verb statt mit einem Dativ vereinzelt auch mit einer Präpositionalphrase verbunden werden (z.B. gleichen zu, gleichen von, gleichen mit und gleichen α/i).684 Auch der sog. "Vergleichspunkt"685 kann bis ins Nhd. anhand einer Präpositionalphrase bezeichnet werden (was heute allerdings nicht mehr gebräuchlich ist), wie z.B. in folgendem Zitat:

679 680 681 6,2 683 6.4 6.5

DW, IV, l 4 , Sp. 8048-8055. Willehalm, 429, 18. Kudrun, 1271, 1-3. DW, IV, l 4 , Sp. 8050. DW, IV, l 4 , Sp. 8055. DW, IV, l 4 , Sp. 8052-8053. DW, IV, 1 \ Sp. 8054.

gleichen

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(22) ο, alle tugend gleicht ihr nicht an reiz, Franz Grillparzer (17911872).686 Im Mhd. war an der Stelle der Präpositionalphrase auch ein Genitivobjekt möglich, vgl.: (23) daz ob der tavelrunder im (= Gawan) prises niemen glichen mac 'daß unter den Teilnehmern an der Tafelrunde, ihm an Ruhm keiner gleichen kann', Wolfram von Eschenbach.6®7 Im Gegensatz zu heute schließlich konnte das den adverbalen Dativ regierende gleichen im älteren Deutsch auch absolut verwendet werden. Das Deutsche Wörterbuch verzeichnet einige Belege (bei Goethe und bei Annette von Droste-Hülshoff [1797-1848]), und zwar Fügungen wie: (24) mein porträt gleicht sehr; das bild gleicht nicht.688 Regiert gleichen hingegen nicht den Dativ, sondern den Akkusativ, dann ist nicht von einem Vergleich zwischen dem Subjekt und dem Objekt die Rede, sondern das Subjekt 'macht' das im Objekt Genannte 'gleich'. Hierin liegt die paradigmatische Opposition zwischen gleichen + Dativ und gleichen + Akkusativ. Dem Deutschen Wörterbuch zufolge ist das transitive gleichen seit dem 11. Jh. belegt, und obwohl es als poetische Verwendung bis in die Goethezeit vorkommt, tritt es seit dem 16. und 17. Jh. hinter synonymen Komposita wie gleichmachen, gleichsetzen, gleichstellen sowie dem Präfixverb vergleichen zurück.689 Einige Belege für die transitive Verwendung des Verbs sind: (25) Einen Hof gleichen (lat.: 'aream azqvare')690 (26) erficht allein, zu fusz; doch seine tapferheit ersetzt die zahl und gleichet diesen streit (d.h.: 'macht diesen Streit gleich'), Johann Baptist Alxinger (1755-1797)691

686 687 688

689 690 691

a.a.O. Parzival, 608, 28-29. DW, IV, l 4 , Sp. 8049; daneben kommt auch das erste Partizip vor: (24') er selbst findet es ( = das bild) gleichend (1835), a.a.O. DW, IV. I4, Sp. 8038. Stieler 1691, Sp. 668. DW, IV, l 4 , Sp. 8049.

340

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

(27) muszt all die garstigen Wörter lindern, (...) und gleich das alles so fortan, wie du schon ehmals wohl gethan (d.h.: 'ebne, mildere, sänftige das alles'), Goethe.692 Geschichtlich ist das syntagmatisch-paradigmatische Fundament für den adverbalen Dativ bei gleichen somit gut nachvollziehbar. Das diakritische Verhältnis zwischen Akkusativ und Dativ erhellt aus Fügungen wie Er gleicht sich ihm und Das Glück gleicht ihn den Göttern, die seit dem Mhd. und bis ins 18. Jh. vorkommen. Im modernen Deutsch entspricht dem Verb gleichen in diesen Fügungen vor allem das Präfixverb angleichen: Er gleicht sich ihm an und Das Glück gleicht ihn den Göttern an. Nach wie vor deutlich ist freilich die Beziehung zum heutigen gleichen mit adverbalem Dativ: Gleicht man sich jemandem an, dann ist das Ergebnis, daß man ihm zuletzt gleicht, und gleicht das Glück jemanden den Göttern an, dann ergibt sich daraus, daß man den Göttern gleicht. Die paradigmatische Kasusopposition ihrerseits zeigt sich an - geschichtlich wiederum idealisierten - Kontrastpaaren wie den Streit gleichen, einen Text gleichen usw. (wo das Verb allgemein 'gleichmachen' bedeutet) und dem Streit gleichen, einem Text gleichen usw., wo gleichen für 'vergleichbar sein mit, (stark) ähneln' steht. Tatsächlich hat das zeitgenössische gleichen in der Gegenwartssprache eine sehr präzise und enge Bedeutung, nämlich 'sehr ähnlich, vergleichbar sein'.693 Die transitive Verwendung des Verbs ist im modernen Deutsch restlos durch Komposita übernommen. Akkusativrektion findet man bei (verwandten) Verben wie vergleichen, gleichmachen, gleichsetzen, gleichschalten, eventuell in Verbindung mit einem Dativ, wie bei gleichstellen,694 Den adverbalen Dativ teilt sich das Verb gleichen mit komplexen Verben wie gleichbleiben und einem Adjektiv wie gleichgültig, die allerdings auch heute noch - anders als gleichen - einstellig verwendet werden können. Weil transitives gleichen nach der deutschen Klassik endgültig aus der Sprache verschwand, muß der adverbale Dativ bei gleichen in der Gegenwartssprache freilich als in hohem Maße idiomatisch eingestuft werden.

692 693 m

DW, IV, l 4 , Sp. 8045. DUW, 615, Sp. 3. vgl. auch noch das allmählich veraltende Verb begleichen 'bezahlen'.

ähneln

341

IV. 11. ähneln Wir merkten bei der Analyse des Verbs gleichen im vorigen Abschnitt an, daß gleichen und ähneln in der deutschen Gegenwartssprache nicht nur denselben Valenzrahmen aufweisen, sondern darüber hinaus in etymologischer Hinsicht miteinander verwandt sind. Beide Verben gehen letztlich auf das Etymon germ. °lika 'Gestalt' zurück (s. § IV. 10.). Während gleichen eine Ableitung von gleich ist, ist ähneln eine erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts aufkommende Nebenform zum Verb ähnlichen, das seinerseits vom Adjektiv ähnlich abgeleitet ist.695 Wie bei gleichen ist auch bei ähneln der adverbale Dativ sowohl syntagmatisch wie paradigmatisch motiviert, wenn auch in etwas weniger ausgeprägtem Maße. Die Bildung des Verbs aneltchen 'ähnlich sein, gleichen' fällt in die mhd. Sprachperiode, als Ableitung von anelich. Das mhd. Adjektiv anelich geht auf das ahd. Substantiv analthht (oder analthhi) 'vollständige Gleichheit' zurück, das im klassischen ahd. Korpus allerdings nur bei Otfirid belegt ist, und auch da nur in der festen Verbindung mit der Präposition in.m Übrigens gibt es bei Otfirid zu analthht die Variante alalthhi 'vollständige Gleichheit, Ähnlichkeit', und auch sie ist nur zusammen mit in belegt. Insgesamt gibt es nur drei Belege, vgl.: (1)

(2) (3)

695 696 697 698 699 700 701

Er sie sehent scöno then gotes sün frdno in sunnun änaltche in stnemo riche 'bevor sie (nicht) sehen den Gottessohn in seiner Herrlichkeit, wie die Sonne697 in seinem Reich'698 thar ougta in älalichi imo ellu uuoroltrichi 'dort zeigte er ihm in ähnlicher Weise699 das ganze Reich der Welt'700 Theiz uuäri in älalichi thera stnera licht 'so daß es seinem Körper vollkommen angemessen sei'.701

Pfeifer 1993, 20, Sp. 1. s. AW, 87, Sp. 1. s. Piper, Band I, 308, Anm. zu Zeile 42. Piper, III, 13, 41-42. s. Piper, Band II, 14. Piper, II, 4, 82. Piper, IV, 29, 45; die Übersetzung 'angemessen' übernehmen wir von Johann Kelle 1870, 358, 90.

342

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Das Besondere an dem dritten Beleg ist, daß schon die Fügung in älalichi den Dativ regiert. Auch im Mhd. regiert das Adjektiv anelich ausnahmslos den Dativ, wie z.B. in: (4)

(5)

si ist vil minniclich und doch miner swester nindert anelich 'sie ist sehr liebenswert und reizend, und doch meiner Schwester durchaus nicht ähnlich'702 einen ich erkande, dem sit ir anelich 'einen habe ich gekannt, dem sind Sie ähnlich'.703

Schließlich regiert auch mhd. anelichen den Dativ; einen interessanten Beleg, in dem anelichen sogar mit geliehen kontrastiert wird, fuhren Benecke-Müller-Zarncke an: (6)

man saget daz sin bilde an schceriheit mohte geliehen, an formen wol anlichen unseme herren criste 'Man sagt, daß seine Gestalt derjenigen unseres Herrn Christus an Schönheit gleicht und an Formen ähnelt'.704

Die Dativrektion von mhd. anelichen ist demnach in erster Linie dem Umstand zuzuschreiben, daß bereits das adjektivische Grundwort mhd. anelich (und, weiterführend, ahd. in ana- bzw. in alalihhi) den Dativ regierte. Daß der Kasus ohne weiteres auf das abgeleitete Verb übertragen wurde, hängt sicherlich mit der Tatsache zusammen, daß auch das Adjektiv anelich meist in verbalen Syntagmen verwendet wurde, vor allem vom Typ ähnlich sein. Für Heide Wegener kann die Dativrektion von ähneln darüber hinaus aus der generellen Bedeutung des Dativs erklärt werden. Der Autorin zufolge realisiert sich der Dativ als der Kasus des "betroffenen Lebewesens" in Verbindung mit ähneln im Sinne einer "Korrespondenzrelation".705 Der Zusammenhang zur übergeordneten Rolle des "Betroffenen" sei folgender: wenn, wie Lyons (...) darlegt, tibi est liber bedeutete: 'da ist ein Buch, das dich betrifft', so bedeutete tibi est homo similis zunächst genau entsprechend: 'da ist ein Mann, dessen Aussehen dich betrifft'. Wie das eine dann zum Ausdruck einer Besitzrelation interpretiert wurde, so das andere zum Ausdruck einer Korrespondenzrelation. 706 702 703 704 705 706

Kudrun, 1239, 1-2. Kudrun, 1241, 2. BMZ, I, 972, 1-4. Wegener 1985, 280. Wegener 1985, 281; vgl. 154.

ähneln

343

Wegeners Exkurs macht einerseits zu Recht auf die Tatsache aufmerksam, daß Verben wie ähneln und gleichen (bzw. Verbalphrasen wie ähnlich und gleich sein) aus lexikalischen Gründen keinen Akkusativ regieren können, wenn sie nicht die transitive Bedeutung 'ähnlich bzw. gleich machen', sondern die primäre Bedeutung 'ähnlich bzw. gleich sein' zum Ausdruck bringen. In diesem Fall darf die zweite Instanz nicht im Kasus des "kohärenzstiftenden" Akkusativs markiert werden (vgl. auch die Präpositionalphrase im Nl.: fge-Jlijken op 'gleichen, ähneln'). Andererseits gibt es zwischen der lexikalischen Bedeutung von ähneln und gleichen + Dativ und dem Merkmal "Lebewesen" keinen Zusammenhang, denn Ahnlichkeits- und Identitätsverhältnisse brauchen keine Lebewesen oder Personen zu betreffen. Darüber hinaus wird eine rein konzeptuelle Begründung der Dativrektion von ähneln (wie von gleichen) den geschichtlichen Tatsachen, und zwar vor allem den syntaktisch-semantischen Unterschieden im Valenzrahmen im Laufe der Sprachgeschichte, nicht gerecht. Aufgrund dieser Unterschiede kann ähnlichen bzw. ähneln mit adverbalem Dativ nämlich der GRUPPE Β zugeordnet werden, wobei die paradigmatische Motivation der syntagmatischen vorausgeht. Einige ältere nhd. Belege zeigen, daß die Dativrektion dann und wann mit der Akkusativrektion kontrastiert. Das gilt sowohl für die ältere Form ähnlichen wie auch für die neuere Form ähneln. Mit Dativ steht das Verb für '(jmdm. oder einer Sache) ähnlich sein', wie z.B. in: (7)

indesz die höfische kälte dem merzschnee ähnlicht, der die keime zerfriszt, Jean Paul (1763-1825)707 (8) Caroline, deren handschrift sogar deiner ähnlicht (1817)708 (9) sein großvater (...) dem er (...) in vielen stücken ähnelte (1895)709 (10) Gregors arbeit ähnelte seiner arbeit in der (...) vorangegangenen zeit (1976).710 Daneben gibt es aber Belege wie die folgenden: (11) das geähnlichte land (...) treibet hervor mit beeren den spross des ergrauenden oelbaums, Johann Heinrich Voß (1751-1826)711 707 708 709 710 711

DW, I, Sp. 196. DW, II, Neubearbeitung, Sp. 88. DW, II, Neubearbeitung, Sp. 79. a.a.O. DW, II, Neubearbeitung, Sp. 88.

344

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

(12) Pygmalion staunend Schöpft mit entflammeter Brust, des geähnlichten Leibes Entzückung, J. H. Voß.712 In den Sätzen (11) und (12) stehen ähnlichen und ähneln nicht fur 'ähnlich sein', sondern für 'ähnlich machen'. Entsprechend regiert das Verb den Akkusativ, und nicht den Dativ. Auch in diesem Punkt verhält sich ähnlichen bzw. ähneln also genau wie gleichen, wo der Unterschied zwischen Dativund Akkusativrektion ebenfalls die Bedeutung 'gleich sein' von der Bedeutung 'gleich machen' abhebt. Es nimmt nicht wunder, daß der paradigmatische Unterschied zu einer dreistelligen Konstruktion wie z.B. der folgenden Anlaß geben kann: (13) Ein jeder weltgewandte Mann Zieht sie (= die Narrenkappe) behaglich über Kopf und Ohren; Sie ähnlet ihn verrückten Thoren, Goethe.713 In Satz (13) werden die Dativ- und Akkusativrektion des Verbs miteinander verbunden: 'die Kappe gleicht den Mann den Verrückten an', d.h.: 'sie macht ihn den Verrückten gleich'. Besonders interessant ist, daß Goethe im zitierten Passus zuerst das Verb gleichen verwendet hatte, es dann später aber durch ähneln ersetzte.714 Wir sahen bei gleichen darüber hinaus, daß das Verb außer in klassischen dreistelligen Konstruktionen auch reflexiv verwendet wird. Auch ähnlichen und ähneln werden seit dem Frühnhd. reflexiv verwendet. Auch darin findet das paradigmatische Verhältnis zwischen Dativ und Akkusativ eine syntagmatische Parallele, vgl.: (14) die sich Christo ertlichen vnd sich an das kreucz (...) annageln (d.h.: 'die sich ihm ähnlich machen') (um 1375).715 Ein solcher reflexiver Gebrauch ist von demjenigen sehr viel üblicheren reflexiven Gebrauch abzuheben, in dem sich ähnlichen und sich ähneln wieder im Sinne von '(sich) ähnlich sein' verwendet werden. Diese Verwendung ist

7,2 713 714 715

Campe 1807ff, I, 93, Sp. 2. GWb, I, Sp. 303. s. a.a.O.: Sie gleicht ihn dem verrückten Thoren (Var.). DW, II, Neubearbeitung, Sp. 88.

ähneln

345

bis heute gebräuchlich geblieben (sich ähneln im Sinne von 'einander ähneln'): (15) so ähnlichet sich doch ihr verstand mehr einem thummen (...) thiere, als einem scharffsinnigen (...) menschen, Johann Praetorius (16301680)716 (16) übrigens ähneln sich diese Muser überall (1963).717 Wir können daraus schließen, daß die ursprüngliche, wesentlich lexikalisch bedingte Dativrektion von ähneln - und älterem ähnlichen - historisch betrachtet zunächst ein paradigmatisch motiviertes Komplement in der Unterscheidung zwischen ähneln bzw. ähnlichen + Dativ und ähneln bzw. ähnlichen + Akkusativ (+ Dativ) erhalten hat. Erst in einem weiteren Schritt wirkte sich die paradigmatische Opposition auch syntagmatisch aus. Weil die ursprüngliche Verbindung des Adjektivs mit dem Dativ der Rektion des Verbs zugrunde liegt und die Verbalrektion sich somit im Kategorienwechsel einer bestehenden Norm angeschlossen hat, kann man mit Fug und Recht behaupten, daß die gelegentliche Verbindung mit dem Akkusativ - sei es in dreistelligen oder in zweistelligen Konstruktionen - nichts anderes ist als die Ausnutzung einer systematischen Möglichkeit des vorhandenen Valenzrahmens. Die syntagmatisch-paradigmatische Erklärung für den adverbalen Dativ bei ähneln trifft insofern auf die kasuserhaltende Tendenz des Verbs zu und nicht auf den ursprünglichen Dativ des Adjektivs, das dem Verb ähneln (ähnlichen) zugrunde liegt.

716 717

a.a.O. DW, II, Neubearbeitung, Sp. 79.

346

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

IV. 12. schaden Der adverbale Dativ bei schaden ist nicht auf die Bezeichnung einer Person beschränkt. Neben jmdm. schaden kennt man die Ausdrücke der Gesellschaft schaden, den Augen schaden, einer Sache schaden usw. So war es bereits im Ahd., bezeichnete das Verb doch "ursprünglich jede Verletzung der person oder des eigentums".718 Das Deutsche Wörterbuch geht davon aus, daß schaden in diesem Sinn ursprünglich sogar ein transitives Verb war. Wie im Gotischen ist zweiwertiges schaden im Deutschen jedoch nur in Verbindung mit dem Dativ bezeugt, wobei im Deutschen Wörterbuch sogleich angemerkt wird, daß das Verb in mhd. Zeit "auf die abgeschwächte bedeutung 'schaden, nachtheil verursachen, schädlich sein' beschränkt (wurde), während für die stärkere bedeutung sich ein transitives schädigen herausgebildet hat".719 Die meisten Belege zeigen schaden tatsächlich in zweistelligen Satzbauplänen, wie z.B.: (1)

(2)

In selben uuerde daz ze freison . mit diu sie dien unsculdigen scadon uuolton 'Ihnen selbst werde das zur Gefahr, womit sie den Unschuldigen schaden wollten', Notker720 mit stürme ir niht geschadet was, Wolfram von Eschenbach.721

Oft ist das Subjekt sächlich, wie z.B. in: (3)

aber man spricht, daz diu vergißt dem menschen niht geschaden müg 'aber man sagt, daß das Gift dem Menschen nicht schaden kann', Konrad von Megenberg (ca. 1309-1374).722

Außer der absoluten Verwendung, die übrigens bis heute bewahrt geblieben ist (vgl. Zw viel Wein schadet!), ist vor allem der Gebrauch des Verbs im dreistelligen Satzbauplan Nominativ - Dativ - Akkusativ auffallend. Die Belege zeigen aber, daß dieser Satzbauplan kaum lexikalische Variation aufweist, vgl.: (4)

718 719 720 721 722

wärend sie an der ersten lüg erworgt, sie schüdend mir am rechten nüt!

DW, VIII, Sp. 1981. DW, VIII, Sp. 1982. Piper, II, 129, 27-28. Parzival, 226, 17. Das Buch der Natur, 260, 36.

schaden

347

'während sie an der ersten Lüge erstickt waren, hielten sie mir nicht von der Gerechtigkeit ab', Nikiaus Manuel (14841530)723 und ob die ander impostwr nichts schüde, Paracelsus (1493-1541)724 noch hat es im auch nichts geschaden (1869).725

(5) (6)

Obwohl die Redewendung das schadet jmdm. nichts von der zweistelligen Konstruktion mit einem Adverb das schadet jmdm. nicht Konkurrenz erfährt, hat sich die dreistellige Konstruktion bis heute erhalten.726 Sie belegt insofern die diakritische Kasusverteilung zwischen dem Dativ und Akkusativ im Valenzrahmen des Verbs, als man behaupten kann, daß das Lexem nichts syntaktisch die Stelle des Akkusativobjekts einnimmt, und zwar auch in formaler Hinsicht, wie aus einem Vergleich mit dem adverbalen Dativ in der parallelen Fügung das schadet jmdm. nicht hervorgeht. Der Dativ bezeichnet in das schadet jmdm. nichts die Rolle der betroffenen Person. Wie das Akkusativobjekt in vergleichbaren dreistelligen Konstruktionen (z.B. ich gebe ihm ein Geschenk/etwas/nichts usw.) spezifiziert nichts dagegen den Inhalt der Verbsemantik. Gibt es eine solche diakritische Kasusverteilung bei schaden indes nicht - was zumindest in der Gegenwartssprache die Regel ist - , dann entfallt parallel dazu auch die Unterscheidung zwischen Person und Sache, ein Phänomen, das wir auch bei anderen Verben der GRUPPE Β noch feststellen werden (vgl. das schadet den Jugendlichen/den Verhältnissen/dem Haus usw.). Auch das Interrogativpronomen was in entsprechenden Fragesätzen kann mit schaden verbunden werden. Daß es sich auch hierbei um eine Randerscheinung einer defektiven Verwendung von schaden in dreistelligen Konstruktionen handelt, ist klar, vgl.: (7)

Was schaden ihm alle seine Eskapaden ?

H. Wegener hat darauf hingewiesen, daß das Verb schaden in beschädigen eine Konkurrenzform neben sich hat, die allerdings nicht dieselben di723

724 725 726

DW, VIII, Sp. 1981. Die schweizerische Form nüt entspricht dem Lexem nichts; das Wort nicht wäre im Schweizerdeutschen nid\ schadend ist das starke Präteritum 3. Pers. PI. zu schaden. a.a.O. a.a.O. Der Textsinn dieser Redewendung ist ungefähr 'das macht ihm nichts aus' oder 'das ist ihm recht, das hat er verdient'; vgl. DW, III, Sp. 1983.

348

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

stributionellen Merkmale aufweist, vgl.: einem Mann schaden, einem Motor schaden und einen Motor beschädigen, jedoch nicht *einen Mann beschädigen. 727 Wegeners Analyse geht jedoch nicht ganz auf, weil das den adverbalen Dativ regierende schaden nicht eine, sondern gleich zwei Konkurrenzformen hat, die beide den Akkusativ regieren, nämlich beschädigen und schädigen. Heute wird beschädigen tatsächlich nicht mehr mit Personen oder allgemein mit Lebewesen verbunden. Bis ins 19. Jh. war dies anders, Belege bestätigen, daß beschädigen nicht zuletzt auch im Sinn von 'einem Lebewesen Schaden tun, zufügen' verwendet wurde, vgl.: (8) (9) (10) (11) (12) (13)

wi werdin beschedigit von allen lütin und undir di filze getretin 'alle Leute fügen uns Schaden zu und laufen uns unter die Füße' (14. Jh.)728 Das Wetter hat Häuser Wiehe und Menschen beschädiget729 Jemand am Leibe beschädigen730 und stirbt im (das vieh) oder wird beschedigt731 sie haben meine steige zubrechen, es war inen so leicht mich zu beschedigen732 hab ich die, so mir on ursach feind waren, beschedigt.733

Das Goethe-Wörterbuch verzeichnet 'einem Lebewesen Schaden tun, zufügen', 'jmdn. innerlich, geistig usw. schädigen* u.dgl. sogar als ersten Bedeutungsansatz, 'sachlichen Schaden zufügen' erst an zweiter Stelle,734 vgl.: (14) Tina (...) Wohl hat sie es verdient an allen, die sie beschädigt735 (15) Wer unvollkommene Muster nachahmt, beschädigt sich selbst.™

727

728 729 730 731 732 733 734 735 736

Wegener 1985, 172. Wir haben bereits in den Abschnitten 1.2.7. und 1.2.12. darauf hingewiesen, daß beschädigen mit persönlichem Objekt heute veraltet ist, vgl. WDG, I, 536, Sp. 1. In den Duden-Wörterbüchern wird die Verbindung bereits nicht mehr erwähnt. Heyne 1905f, I, Sp. 371. Stieler 1691, Sp. 1705. Adelung 1793ff, I, Sp. 891 und Campe 1807ff, I, 477, Sp. 1. DW, I, Sp. 1542. a.a.O. a.a.O. GWb, II, Sp. 445-446. GWb, II, Sp. 445. a.a.O.

schaden

349

Aufgrund der Belege im Deutschen Wörterbuch ist allerdings davon auszugehen, daß beschädigen ebensogut mit einem persönlichen wie mit einem unpersönlichen Objekt verbunden werden konnte.737 Inwiefern dies auch auf die seltenere Form beschaden zutrifft, ist mangels ausreichender Belege nicht mehr feststellbar.738 Während eine Verwendung von beschädigen mit einem persönlichen Objekt im heutigen Deutsch kaum oder nicht mehr möglich ist, kann auch in der Gegenwartssprache das ebenfalls abgeleitete Verb schädigen nach wie vor problemlos mit Personen verbunden werden, vgl. etwa: (16) Abgase können Kinder gesundheitlich schädigen,739 Das Verb schädigen scheint ursprünglich auf die Bedeutung 'jemandem Schaden tun' eingeschränkt gewesen zu sein740, und dies bereits im Frühnhd., z.B.: (17) er was zum ersten einfaltig, das er niemans schediget, beschweret oder leidiget 'er (= Hiob) war erstens einfaltig, (darauf bedacht,) daß er niemand schadet, belastet oder beleidigt', Johann Geiler von Keisersberg (2. Hälfte des 15. Jahrhunderts).741 Heute kann sich schädigen sowohl auf Personen wie auf Sachen, den Körper usw. beziehen, obwohl der Bezug auf Personen die Norm zu sein scheint. Gerade das Verb schädigen scheint darüber hinaus in paradigmatischer Hinsicht dazu geeignet zu sein, die systematischen syntaktisch-semantischen Restriktionen, denen schaden + Dativ in der Gegenwartssprache unterliegt, zu beheben, vgl.: einer Person schaden > *die geschadete Person/*die beschädigte Person, wohl aber: die geschädigte Person. Wir können demnach schließen, daß schaden zwar nach wie vor Anzeichen einer syntagmatisch-diakritischen Kasuszuweisung aufweist (wie Das schadet dir nichts bezeugt), in der deutschen Sprache der Gegenwart jedoch an erster Stelle paradigmatisch eingebunden ist:

737 738 739 740 741

DW, I, Sp. 1542. vgl. DW, I, Sp. 1542. vgl. DUW, 1299, Sp. 3. s. DW, VIII, Sp. 1987. a.a.O.; ebenda viele andere Belege.

350

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

schaden + Dativ (neutral in bezug auf die Unterscheidung zwischen belebt/unbelebt) vs. beschädigen + Akkusativ (der Sache) und schädigen + Akkusativ (der Person und der Sache). Das Verb schaden ist ein gutes Beispiel für die weniger prototypischen Verben der GRUPPE B. E S weist aufgrund einer stark reduzierten Möglichkeit, dreistellig verwendet zu werden, einerseits Gemeinsamkeiten mit den Verben der GRUPPE Α auf. Andererseits bildet es ein Paradigma mit den Verben beschädigen und schädigen, die anders als schaden ausnahmslos den Akkusativ regieren. Die lexikalische Differenz und die kasusmorphologische Isomorphic der beiden abgeleiteten Verben tragen beide dazu bei, daß sich der idiomatische adverbale Dativ beim ursprünglichen Simplex schaden konsolidiert.

nutzen

351

IV. 13. nutzen Entscheidend für die Analyse des Verbs nutzen - die Form nützen gilt als phonologische (süddeutsche) Variante der eher norddeutschen Form ohne Umlaut - ist erstens die Feststellung, daß das Verb, wie schaden, in dreistelligen Konstruktionen vorkommen kann, und zweitens die Tatsache, daß das Verb ebenfalls eine präfigierte Konkurrenzform neben sich hat, die sich durch eine eindeutige Kasusrektion auszeichnet, nämlich benutzen (bzw. benützen), von den verwandten Präfixoidverben abnutzen und ausnutzen einmal abgesehen.742 Auch die Verwendungsmöglichkeiten von nutzen sind in dreistelligen Konstruktionen defektiv. Die Ausfüllung der syntaktisch "akkusativischen" Leerstelle ist - jedenfalls auf der Ebene der Sprachnorm - weitestgehend auf die Lexeme nichts und etwas (und allenfalls noch einige andere, inhaltlich verwandte Lexeme) beschränkt, vgl.: (1)

Das nutzt mir nichts

(2)

Das nutzt mir kaum etwas.

Auch Fragesätze mit was sind wiederum möglich: (3)

Was nutzen ihm alle seine Studien?

Zwischen den beiden Verben schaden und nutzen besteht heute aber vor allem in zweierlei Hinsicht ein wesentlicher Unterschied. Der erste Unterschied zwischen schaden und nutzen besteht darin, daß nutzen selbst schon transitiv gebraucht werden kann und dazu nicht, wie schaden, auf Präfixverben angewiesen ist. Diese Tatsache läßt die paradigmatische Kasusverteilung zwischen Dativ- und Akkusativrektion deutlich in den Vordergrund treten, vgl.: (4) (5)

Das Kraftwerk nutzt das Wasser des Rheins Das Kraftwerk nutzt der Stadt.

Auch diesen beiden Beispielsätzen entsprechen die folgenden distributionellen Beschränkungen:

742

Die umgelauteten Formen benützen, abnützen und ausnützen sind weniger gebräuchlich und gelten als stärker regional bedingt.

352

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

(4') Das Kraftwerk benutzt das Wasser des Rheins (5') *Das Kraftwerk benutzt der Stadt. Die den beiden Verwendungen des Verbs in (4) und (5) zugrunde liegende allgemeine Bedeutung von nutzen verknüpft das Subjekt und das Objekt jeweils auf ganz andere Weise. In Satz (4) bezieht sich das Verb in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Prinzip der akkusativischen Verbalrektion743 unmittelbar auf das Objekt, es wird ausgedrückt, daß es das Wasser des Rheins ist, das gebraucht wird und in dem Sinn (für das Kraftwerk) "nützlich" ist. In Satz (5) dagegen schlägt sich die Verbbedeutung in dem Sinn allererst zum Subjekt, als es das Kraftwerk ist, das als "nützlich" dargestellt wird, und zwar für die Stadt, wobei Stadt entsprechend im "inkohärenten" Dativ erscheint.744 In (4) ist etwas dem Kraftwerk nützlich, während in (5) das Kraftwerk selbst nützlich ist. Zweitens sahen wir, daß sich schaden angesichts des Unterschieds zwischen persönlichem und unpersönlichem Objekt neutral verhält, im Gegensatz zu beschädigen, das heute auf unpersönliche Objekte eingeschränkt ist. Ursprünglich galt zwar auch für nutzen, daß es sowohl mit persönlichen wie unpersönlichen Objekten verbunden werden konnte. In Verbindung mit unpersönlichen Objekten ist die aktualisierte Redebedeutung des Verbs nutzen im älteren Deutsch entweder 'als Nahrung (oder Arznei) gebrauchen, genießen' (6) oder einfach 'gebrauchen, anwenden' (7), vgl.: (6) alle diese zucker haben, innerlich genutzet, eine besänftigende kraft, Wolfgang Helmhard von Hohberg (1612-1688)745 (7) sobald die menschen die natur nützten, Immanuel Kant (1724-1804).746 Verbindungen mit persönlichen Objekten liegen dagegen vor in Beispielsätzen wie: (8) (9) 743 744 743 746 747 748

er soll den dichter nicht blosz als erzähler, er soll ihn als dichter nutzen, Lessing747 nutze den, der dich will nutzen, Friedrich Rückert (1788-1866).748

vgl. Willems 1997, 193ff. Willems 1997, 205f. DW, VII, Sp. 1029. DW, VII, Sp. 1030. DW, VII, Sp. 1031. a.a.O.

nutzen

353

Die aktuelle Redebedeutung des Verbs bei persönlichen Objekten reicht von 'aus jmdm. Nutzen ziehen' - hierzu gehören (8) und (9) - über 'förderlich sein' bis '(eine Frau) schänden'.749 In der Gegenwartssprache ist die Verbindung von nutzen mit einem persönlichen Objekt im Prinzip jedoch ausgeschlossen, wodurch sich nutzen von schaden unterscheidet. Zwar führen G. Heibig und W. Schenkel in ihrem Wörterbuch zur Valenz und Distribution deutscher Verben noch Beispiele wie die folgenden an:750 (10) Er nutzt die Polizei als Schutz (11) Er nutzt das Kind als Träger, den Esel als Lasttier, den Raum als Bad (12) Er nutzt die Gruppe als Experimentierobjekt. Beispiele für transitives nutzen mit persönlichem Objekt fanden wir jedoch in keinem einzigen Wörterbuch zur deutschen Gegenwartssprache belegt,751 so daß von einem Satz wie z.B. (11) Er nutzt das Kind als Träger kaum noch behauptet werden kann, er stimme mit der heutigen Sprachnorm überein. Einige Wörterbücher beschränken transitives nutzen sogar explizit auf 'etwas/eine Sache nutzen' (womit auch ein 'Ausnutzen' gemeint sein kann, wenn der Mitspieler als X fehlt), und in (10), (11) und (12) verdient benutzen heute denn auch gewiß den Vorzug. Heibig und Schenkel anerkennen bestimmte Einschränkungen dagegen nur aufgrund syntaktischer Überlegungen. So weisen sie bei der Behandlung von benutzen darauf hin, daß es sowohl bei transitivem nutzen 'benutzen, Nutzen ziehen aus' als auch bei benutzen "kaum zulässig" sei, ein Substantiv im Akkusativ zu verwenden, das entweder ein menschliches Wesen oder einen auf Institutionen bezogenen Kollektivbegriff bezeichnet, "wenn es ohne den 3., fakultativen Mitspieler erscheint (*Er benutzt die Polizei). Das unterscheidet beide Verben von ausnutzen".752 Es ist paradigmatisch bedeutsam, daß gerade das Präfixverb benutzen und dies im Gegensatz zu beschädigen - nach wie vor auf Personen und auf 749 730 751

752

vgl DW, VIII, Sp. 1031-1033. Helbig/Schenkel 1973, 159. s. DUW, 1089, Sp. 3; GWbdS, V, 2413, Sp. 2-3; WDG, IV, 2680, Sp. 2; WDW, 1156, Sp. 1; BWDW, IV, 876. Helbig/Schenkel 1973, 160-161.

354

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Sachen angewandt werden kann, wenn auch unter bestimmten syntaktischen Bedingungen im Falle eines persönlichen Objekts. Benutzen übernimmt damit eine Funktion, die ehemals nutzen selbst realisieren konnte. (Freilich kamen die Belege mit nutzen und persönlichem Objekt, wie es scheint, quantitativ niemals denjenigen mit nutzen und unpersönlichem Objekt gleich.) Die Neutralität des Präfixverbs angesichts des Unterschieds zwischen persönlichem und impersönlichem Objekt geht aus den folgenden Beispielen hervor: (13) Sie wollten das Werkzeug/den Haupteingang/ein Zimmer usw. benutzen (14) Man benutzt mich als Sündenbock/als Alibi usw. (vgl. 17Man nutzt mich als Sündenbock/als Alibi usw.) (15) Für seine Pläne benutzt er alle seine Freunde (vgl. ??Für seine Pläne nutzt er alle seine Freunde). Diachronisch stellt sich der Valenz- und Kasusrahmen von nutzen als ziemlich verwickelt heraus. Die phonologischen Varianten nützen und nutzen, die bereits im Mhd. begegnen und heute regional auf den Norden bzw. den Süden des deutschen Sprachraums verteilt sind, gehen auf verschiedene Ableitungen von einem Substantiv zurück, das ahd. nuzzi 'Nutzen' lautet. Die erste Ableitung nuzzön gehört zu den sog. -on-Verben, die semantisch meist Faktitiva vom Typ salbön 'mit Salbe versehen* sind. Die -δη-Ableitung ist bei Otfrid und Notker mit dem Inhalt 'genießen, Nutzen haben von, Gebrauch machen von' mehrmals belegt, z.B.: (16) Eniu beheftet tero müot . tie sia nuzzönt mit küotlichi . tisiu entheftet sie! 'Jene belastet das Gemüt753, wovon sie mit Herrlichkeit Gebrauch machen, diese befreit sie', Notker.754 Die zweite Ableitung ist vom kausativen -jan-Typ, °nuzzjan. Sie ist zwar in dieser Form kein einziges Mal belegt, muß aber existiert haben, da die mhd. umgelautete Form nützen sie voraussetzt. Einmal verzeichnet Otfrid ginuzzen (< "ginuzzjan) 'Nutzen ziehen', und zwar in einer dreistelligen Verwendung: (17) Ther kneht, ther thaz allaz drüag, er es uuiht ni giuuuag, er imo iz ni ginuzta, furi ändere ouh ni säzta

753 754

wörtlich: 'des Gemüts'. Piper, I, 122, 13.

nutzen

355

'Der Jüngling, der das alles trug (bei sich hatte), er meldete nichts davon, er konnte für sich keinen Nutzen daraus ziehen755, und gab es auch anderen nicht', Otfrid.756 Ob es sich bei ginuzzen um einen mehr oder weniger festen dreistelligen Satzbauplan handelt oder ob imo vielmehr ein zirkumstantieller Satzdativ ist, läßt sich bei nur einem Beleg nicht nachweisen. Im Ahd. kommen, in Übereinstimmung mit den beiden ursprünglichen Funktionen des -jan- und des -όπ-Suffixes bei schwachen Verben, nur transitive Verwendungen von ginuzzen und nuzzon vor. Ein deutlicher inhaltlicher Unterschied ist nicht ersichtlich. Auch im Mhd. kann zwischen den Fortsetzungen der beiden Ableitungen, nützen bzw. nutzen, kaum ein inhaltlicher oder syntaktischer Unterschied festgestellt werden, zumal die Handschriften bei der Angabe des Umlauts bei u sehr ungenau sind.757 Absolute, im strengen Sinn intransitive Verwendungen erscheinen zuerst im Mhd. und sind auch dort, nach den Belegsammlungen von Benecke-Müller-Zarncke758 und M. Lexer759 zu urteilen, noch selten; ein Beispiel: (18) daz sint allez schützen die mohten wol gar nützen 'das sind alles Schützen, die könnten schon alle nützlich sein', Heinrich von Neustadt (Anfang des 14. Jahrhunderts).760 Die Tatsache, daß intransitives nutzen/nützen offenbar aus transitivem nutzen/nützen - bzw. nuzzon/ °nuzzjan - entstanden ist (es sei denn, man setzt für das intransitive mhd. nutzen ein nichtbelegtes ahd. °nuzzen an), ist an und für sich eine ziemlich außergewöhnliche Erscheinung. Außerdem ist der Schritt vom transitiven ahd. nuzzon 'benutzen' zum intransitiven mhd. und nhd. nutzen 'nützlich sein' groß und auf jeden Fall größer als etwa der 755 756

737

758 759 760

wörtlich: 'er konnte es sich nicht nutzen'. Piper, III, 7, 37-38. Es handelt sich hier um eine Erläuterung der Speisung der Fünftausend im Johannesevangelium, also um das Kind mit den fünf Broten und zwei Fischen. Ob es im Frühnhd. Tendenzen gegeben hat, nutzen und nützen jeweils als ein transitives oder intransitives Verb voneinander zu unterscheiden, ist schwer zu beurteilen; vgl. DW, VII, Sp. 1029. s. BMZ, II/l, 402. s. MH, II, Sp. 124-125. DW, VII, Sp. 1031.

356

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Schritt von Er trinkt gelegentlich Wein zu Er trinkt gelegentlich, wo es doch in beiden Fällen das Subjekt ist, das trinkt. Bei Das Kraftwerk nutzt Wasser und Das Kraftwerk nutzt hingegen ist das Verhältnis zwischen dem Subjekt und der Verbalhandlung jeweils, wie wir sahen, grundsätzlich verschieden. Konnten wir oben feststellen, daß es der Unterschied im Objekttyp ist, der zum Teil darüber mit entscheidet, ob man heute nutzen oder benutzen gebraucht (vgl. Er nutzt die Gelegenheit/77Er nutzt seinen Freund als Sündenbock vs. Er benutzt die Gelegenheit/Er benutzt seinen Freund als Sündenbock), so scheint es vom sprachgeschichtlichen Standpunkt aus der Subjekttyp zu sein, der bei der Erweiterung der absoluten Verwendungen von nutzen im Sinn von 'nützlich sein' die Rektion des Verbs bestimmt. Die Belege legen nahe, daß es im Mhd. und Frühnhd. beim Verb nutzen eine syntagmatisch-paradigmatische Opposition zwischen dem Dativ und dem Akkusativ gegeben hat. Bei unpersönlichem Subjekt - "nach sächlichem subjecte"761 - geschieht die Erweiterung der absoluten Verwendung des Verbs nutzen im Sinn von 'nützlich sein' in der Regel anhand des Akkusativs; es liegen Belege bis ins 19. Jh. vor, vgl.: mhd.:762 (19) mich nutzte baz ein gerstenkorn denn du 'mir wäre ein Gerstenkorn nützlicher als du', Ulrich Boner (14. Jh.) (20) die nützet nicht der edel stein 'ihr (eventuell: 'ihnen') nutzt der Edelstein nicht', ders. (21) den nützent niht die vrühte guot 'ihm nutzen die guten Früchte nicht', ders.763;

761 762 763

DW, VII, Sp. 1032. Für alle Belege s. DW, VII, Sp. 1033. In BMZ, II/l, 402, 7-8 ist dieser Beleg mit einem Dativ {dem statt den) aufgenommen. Von der Äsopfabel-Sammlung Edelstein von Ulrich Boner, der dieser Beleg entstammt, sind nicht weniger als 32 (teils unvollständige) Überlieferungen bekannt und gibt es mehrere Textausgaben. Der Kasusunterschied zwischen BMZ und DW beruht vermutlich auf einer handschriftlichen Variation, die wir nicht nachprüfen konnten. Der Beleg in BMZ wäre der einzige mit Dativ, der in die uns zugänglichen mhd. Wörterbücher (Lexer und BMZ) aufgenommen ist.

nutzen

357

nhd. :7M (22) der wirt üch ietz nit nutzen vil, Nikiaus Manuel (1484-1530) (23) so nutzt es weder ander noch mich, N. Manuel (24) das kraut mit essig vermischt nutzet die schlaff süchtigen, Leonhard Thurneysser (1530-1595) (25) dich nutzt auch nichts, dasz du wunden kanst heilen, Paracelsus (14931541)765 (26) jetzt nutzt dich all dein ansehen von früher nichts mehr, Berthold Auerbach (1812-1882) (27) ... soll diese erfahrung die andern ärmern leut schon etwas nützen, Franz Felder (1839-1869). Wie bei helfen (§ IV.7.) fallen auch bei nutzen die vielen Belege mit Akkusativ in was-Fragen auf, die ein unpersönliches Subjekt haben, vgl.:766 (28) waz nützest mich, U. Boner (29) was nutzt dich ob du dich recht heltst und allweg klug und weiszlich stelst?, N. Manuel767 (30) aber waz nutzet mich das klagen?, Johann Fischart (1546/47-1590) (31) was nützte dann dich dein geweihe, Gottlieb Pfeffel (1736-1809) (32) was nützt mich das alles?, Berthold Auerbach. Belege von Verbindungen eines unpersönlichen Subjekts mit dem Dativ sind auch im Frühnhd. noch seltener als entsprechende Verbindungen mit dem Akkusativ. Darüber hinaus lassen sich seitdem auch Verbindungen eines persönlichen Subjekts mit dem Dativ nachweisen - s. (33) bis (36) - , nicht aber Verbindungen eines persönlichen Subjekts mit dem Akkusativ, vgl.:768 (33) dasz man als ein knecht dem armen nechsten nütze, Johann Christian Günther (1695-1723) (34) so willst du nur dem sünder nützen, J. Ch. Günther (35) was nützest du der weit?, Carl Friedrich Drollinger (1688-1742) (36) wer dir als freund nicht nützen kann, kann allemal, als feind, dir schaden, Christian Geliert (1715-1769). 764 765 766 767 768

Alle Belege weiterhin DW, VII, Sp. 1033. hier ist das Subjekt ein daß-Satz. Alle Belege DW, VII, Sp. 1033. der ob-Satz ist ein Subjektsatz. Für alle Belege s. DW, VII, Sp. 1032.

358

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Im jüngeren Nhd. hat sich die Norm sowohl bei belebtem als unbelebtem Subjekt jedoch auf den Dativ festgelegt und ist Es nutzt mich im Sinne von 'Es ist mir von Nutzen' normwidrig. Für die Tendenz zugunsten des Dativs gibt es allerdings schon im 16. und 17. Jh. vereinzelte Ansätze, vgl. z.B.:769 (37) ja, es ist ein zierliche und grosze statt; was nützt sie dir aber?, Hans Wilhelm Kirchhof (1525-1603) (38) was dir meine faust genützt, Andreas Gryphius (1616-1664).770 Die historischen Beispiele, aus denen hervorgeht, daß ehemals ein Akkusativ zur Erweiterung von absolutem nutzen verwendet werden konnte, werfen auf die Kasusmorphologie im allgemeinen und auf das syntagmatisch-paradigmatische Prinzip der Kasusmarkierung bei diesem Verb in der Gegenwartssprache ein klärendes Licht. Seit dem Mhd. ist die ganze Geschichte des Kasusrahmens von nutzen in dem Sinn wesentlich syntagmatisch-paradigmatisch motiviert, daß die Rektion des Verbs - sowohl des Simplexverbs als auch des Präfixverbs benutzen - jeweils durch den Subjekttyp und den Objekttyp bedingt wird, wobei hinzu kommt, daß die Verteilung dieser syntaktischen Typen auf beide Verben kasusmorphologische Relevanz gewinnt. Die ehemalige Opposition zwischen Es nutzt jmdn. und Er nutzt jmdm. ist heute nicht länger wirksam, nutzen 'nützlich sein* ist in dieser Verwendung auf den Dativ angewiesen. Die Objektstelle kann sowohl von einer persönlichen als auch von einer unpersönlichen Größe besetzt werden; darüber hinaus kann das Subjekt persönlich oder unpersönlich sein, vgl.: (39) Seine Sprachkenntnisse nutzen ihm nichts (40) Solche Gedanken nutzen der Allgemeinbildung (41) Mein Nachbar nutzt mir wenig. Wie schaden ist auch nutzen ein Verb, das syntaktisch zwar noch zur GRUPPE Β gehört, jedoch nicht mehr als typisches Verb dieser Gruppe gelten kann. Es weist bereits auffallende Übereinstimmungen mit den Verben der GRUPPE C auf: Das Verb ist nur in defektiver Hinsicht dreistellig, und nutzen + Dativ ('nützlich sein') steht in erster Linie paradigmatisch nutzen + Akkusativ ('benutzen') gegenüber, wobei die Differenz zwischen Person und Sache bestimmten syntaktischen Einschränkungen zugrunde liegt. 769 770

a.a.O. s. ferner auch die Belege in den Wörterbüchern von Steinbach 1734, II, 146, Adelung 1793ff, III, Sp. 546-547 und Campe 1807ff, III, 527-528.

zürnen

359

IV. 14. zürnen In der deutschen Gegenwartssprache zeichnet sich das - mittlerweile recht gehobene - Verb zürnen 'böse sein' durch einen relativ einfachen Kasusrahmen aus. Es kann im Prinzip in drei Konstruktionen verwendet werden: absolut, wie in: (1)

"Sei still!", zürnte der Vater ,771

in zweistelligen Verwendungen mit adverbalem Dativ, z.B.: (2)

Eigentlich müßte ich dir zürnen,772

oder schließlich noch, als Variante zum zweiten Verwendungstyp, in zweistelligen Verwendungen mit Präpositionalobjekt (in der Regel mit): Lange hat sie (mit) ihrem Schicksal gezürnt.773

(3)

Uns interessieren im folgenden vor allem die beiden letztgenannten Verwendungen, zumal die Dativrektion und die Präpositionalphrase bereits seit mehreren Jahrhunderten miteinander konkurrieren. In verschiedenen Perioden des älteren Deutsch war der Kasusrahmen von zürnen erheblich komplizierter. Im Ahd. war die Lage noch einfach. Ahd. zürnen ist bereits bei Otfrid und Notker belegt, und das Verb wird entweder absolut gebraucht (auf diese Verwendung, die im Mhd. und Nhd. ebenfalls reichlich belegt ist, gehen wir im folgenden nicht weiter ein), oder es regiert den Akkusativ. In den ahd. Belegen ist das Objekt im Akkusativ in der Regel eine Sache, vgl.: (4) (5)

771 772 773 774 775

Alle (...) zürntun thia gimacha, sines selbes racha 'Alle waren böse über die Weise, wie er gehandelt hatte', Otfrid774 Iz ist so giuuisso, thoh sie iz äbahötin so, thoh iro muates herti iz emmiztgen zurnti 'So ist es richtig, auch wenn sie es verkannten, auch wenn die Härte ihrer Gesinnung dem immerfort zürnte', Otfrid.775

WDG, VI, 4501, Sp. 1. a.a.O. a.a.O. Piper, IV, 30, 5-6. Piper, III, 5, 16.

360

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Den Objektsakkusativ behält auch das Mhd. bei, wobei es im Prinzip aber keine Rolle mehr spielt, ob man sich über eine Sache oder über eine Person empört. Allerdings scheint der Akkusativ nach wie vor öfter eine Sache zu bezeichnen; vgl. mit persönlichem Objekt: (6)

Swer sinen guoten vriunt behalten wil (...) er neme in besunder hin dan (...) und er zorne in dä vil sere 'Wer seinen Freund (als Freund) behalten will (...), der nehme ihn beseite (...) und zürne ihm dort sehr', Spervogel (12. Jh.);776

mit sachlichem Objekt: (7) (8)

Daz zurnde harte sere der helt von Niderlant 'Darüber war der Held von N. sehr aufgebracht'777 daz zurnde ir bruoder Gernöt,778

Aus den Belegen geht hervor, daß das Verb darüber hinaus sowohl mit persönlichen wie auch mit sachlichen Subjekten verbunden werden konnte: er zürnt ihn, er zürnt es und es zürnt ihn. Seit dem Mhd. ist auch reflexives sich zürnen belegt, wobei das Reflexivum immer im Akkusativ steht.779 Dem sachlichen Objekt im Akkusativ kann ferner ein untergeordneter Objektsatz entsprechen, wie z.B. in: (9)

Die ritter zurnden daz er hielt bi dem knappen der vil tumpheit wielt 'Die Ritter waren darüber erzürnt, daß er (= der Fürst) zu dem Knaben (= Parzival) hielt, der viel Torheit an den Tag legte', Wolfram von Eschenbach.780

Neben der Akkusativrektion sind im Mhd. aber auch noch andere mehrstellige Konstruktionsweisen belegt. Zunächst ist auf die Verbindung von zürnen mit einer Vielzahl von Präpositionen hinzuweisen, vgl. u.a.:

776 777 778 779 780

J-Überlieferung, 2, 1-5. Das Nibelungenlied, 118, 1. Das Nibelungenlied, 1132, 4. s. BMZ, III, 908, 32-37. Parzival, 124, 15-16.

zürnen

361

(10) Welt, dü solt niht umbe daz zürnen, daz ich Idnes man 'Welt, du sollst darüber nicht böse sein, wenn ich dich an meinen Lohn erinnere', Walther von der Vogelweide781 (11) si sadic wip si zürnet wider mich ze sere, Walther von der Vogelweide782 (12) Swie ez schine, daz er etwanne zürne über den sünder, ez enist niht zorn, ez ist minne 'Mag es auch scheinen, daß er über den Sünder zürnt - es ist kein Zorn, es ist Liebe', Meister Eckhart (ca. 12601328)783 (13) vrouwe Enite zürnte vaste an got, Hartmann von Aue784 (14) du zürnest mit mir, Wolfram von Eschenbach785, usw. Sodann sind die zweistelligen Verwendungen mit Genitivrektion im Mhd. zu erwähnen, die Matthias Lexer verzeichnet, wie z.B. in: (15) des zurnde die gotinne, daz er ringe wac ir minne 'darüber erzürnte die Göttin, daß er ihre Liebe wenig schätzte', Albrecht von Halberstadt (ca. 1180-1251).786 Bemerkenswert ist, daß zürnen nicht nur im Ahd., sondern auch im Mhd. keinen Dativ regiert. Dativrektion ist im Mhd. nur dem Präfixverb erzürnen vorbehalten. Anders als mhd. zürnen kann mhd. erzürnen aber sowohl den Akkusativ wie auch den Dativ regieren, vgl. mit dem Akkusativ: (16) der hüete sich daz er rehte erzürne mich 'er hüte sich davor, daß er mich nicht erzürnt',787 (17) Der keiser ze allen orten wart sere von den Worten erzürnet als ein tobic hunt 'Der Kaiser wurde überall von den Worten in großen Zorn versetzt wie ein tobender Hund' (Passivtransformation), Konrad von Würzburg (1220/30-1287) ;788 781 782 783 784 785 786 787 788

Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 60, 13-14. Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 71, 1. Predigten, hrsg. von J. Quint (1976), III, 328, 4. Erec, 5774. Parzival, 299, 25. Bearbeitung von Ovids Metamorphosen, hrsg. von K. Bartsch (1861), XXXIII, 61-62. BMZ, III, 908, 24-25. Pantaleon, 903-905.

362

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

und mit dem Dativ: (18) Daz erzvrnt achille 'Das erregte Zorn bei Achill', Herbort von Fritslar (Ende des 12. Jahrhunderts)789 (19) sö erzvrnte ime daz 'so war er darüber sehr erzürnt', Herbort von Fritslar (Ende des 12. Jahrhunderts).790 Die Belege mit dem Verb erzürnen widersprechen dem Versuch im Mittelhochdeutschen Wörterbuch, zwischen der Akkusativ- und Dativrektion von erzürnen einen semantisch-paradigmatischen Unterschied zu sehen.791 Einen solchen Unterschied gibt es nicht, die Bedeutung ist beide Male 'den Zorn erregen, in Zorn versetzen, zum Zorn reizen'. Unklar bleibt freilich, weshalb gerade die Form erzürnen im Mhd. gelegentlich mit dem Dativ auftritt. Diese Dativrektion muß aber als zeitlich begrenzt gelten und setzte sich auch später nicht durch. Bereits bei Josua Maaler regiert erzürnen nur noch den Akkusativ, auch in der reflexiven Form sich erzürnen.191 Seitdem ist das Verb bis heute durchaus gebräuchlich geblieben, nicht zuletzt auch in absoluten Verwendungen.793 Seit dem Frühnhd. kompliziert sich nun auch der Kasusrahmen von zürnen. Der Akkusativ ist zwar der angestammte Kasus des Verbs, egal ob der Zorn einer Sache oder einer Person gilt. Seit dem 15. Jh. aber gibt es Belege, in denen zürnen den Dativ regiert, z.B.: (20) so zürnte ichßr war dir nit Main, Niclas van Wyle (ca. 1400-1478).794 J. Maaler nimmt die Dativrektion des Verbs allerdings noch nicht auf, dafür aber Beispiele für den absoluten Gebrauch, Beispiele für die Verbindung des Verbs mit dem Präfixoid ab sowie Beispiele mit einem dem Akkusativobjekt äquivalenten Objektsatz, z.B.: (21) Du solt nit zürnen was ich reden wirdt.19s 789 790

791 792 793 794 793

Liet von Traye, 10046. Liet von Traye, 10018. Karl Fromann, der Herausgeber dieses Textes, bemerkt in einer Anmerkung zu dieser Stelle (1837, 295): "eime erzürnen, eine seltenere construction, die sich bei Herb[ort] mehrmals (...) findet, und durch einen ergänzten accusativ (den muot) erklärt wird." BMZ, III, 908, Sp. 2. s. Maaler 1561, 121, Sp. 2. s. GWbdS, II, 982, Sp. 3. DW, XVI, Sp. 674. Maaler 1561, 525, Sp. 2.

zürnen

363

Auch bei Stieler, Steinbach und Adelung ist die Dativrektion noch nicht verzeichnet. Allerdings erwähnen die Autoren auch die Akkusativrektion nicht mehr, sie beschränken sich im wesentlichen auf präpositionale Fügungen, Stieler führt über jmdn. zürnen und worum zürnen auf,796 Steinbach mit jmdm. zürnen und aufjmdn. zürnen™ Adelung nur aufjmdn. zürnen.19* Die Dativrektion taucht in den Wörterbüchern erst bei Campe auf. Nachdem er die Fügungen auf/über jmdn. zürnen und mit jmdm. zürnen erwähnt hat, weist Campe darauf hin, daß '(i)n der edlen Schreibart' das Verb auch den Dativ regiert: "einem zürnen".799 In Sanders' Wörterbuch der deutschen Sprache steht die Dativrektion beim Lemma zürnen dann schon an erster Stelle (nach der absoluten Verwendung des Verbs), vor den Präpositionalfügungen.800 Der Dativ bezeichnet sowohl Personen wie Sachen, vgl.: (22) Er zürnt (...) dem Einspruch, den das Glück ihm tut*01 (23) Du zürnest meinem prahlerischen Munde302 (24) Die Achaier zürnten ihm, heftig empört.803 Aus den Belegen im Deutschen Wörterbuch geht hervor, daß das Dativobjekt von zürnen im Prinzip tatsächlich auch sachlich sein kann,804 und dem Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache entnahmen wir (s. [3]), daß dies auch für die Gegenwartssprache nach wie vor gilt.805 Alle anderen modernen Wörterbücher führen nur Beispiele mit persönlichem Dativobjekt auf. Dem Deutschen Wörterbuch zufolge bleibt der Akkusativ, der den Anlaß des Zorns nennt, bis ins 14. Jh. erhalten.806 Das Wörterbuch grenzt die altertümliche Akkusativrektion im Ahd. und Mhd. scharf vom Gebrauch des Verbs in Verbindung mit dem Akkusativ ab, der im 18. und 19. Jh. u.a. bei Dichtern wie Klopstock, Gotthelf usw. belegt ist. Der Akkusativ kann so-

796 797 7,8 799 800 801 802 803 804 805 806

Stieler 1691, Sp. 2317. Steinbach 1734, II, 1121. Adelung 1793ff, IV, Sp. 1767. Campe 1807ff, V. 914, Sp. 1. Sanders 1876, II2, 1801, Sp. 2. a.a.O. a.a.O. a.a.O. DW, XVI, Sp. 674. WDG, VI, 4501, Sp. 1. DW, XVI, Sp. 675.

364

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

wohl den Inhalt des Zürnens (25, "Akkusativ des Inhalts"807) wie auch den Anlaß des Zürnens (26) nennen, vgl.: (25) nur Philo vermag (...), diese worte zu zürnen, Klopstock808 (26) Sie hätten mein Ausbleiben fast gezürnt (d.h.: 'übel genommen'), Jeremias Gotthelf( 1797-1854).809 Warum der in der deutschen Klassik und Romantik wiederbelebte Akkusativ bei zürnen in keinem "Zusammenhang" mit dem ursprünglichen Kasus des Verbs stehe, erläutert das Deutsche Wörterbuch indes nicht.810 Auch die ebenfalls mediävisierende - Erneuerung der Genitivrektion im 18. und 19. Jh. stellt das Wörterbuch ohne Kommentar fest, vgl.: (27) desz zürnet Apollon, Gottfried August Bürger (1747-1794)811 (28) zürne des jünglings nicht, Ludwig Hölty (1748-1776)812 (29) Du wirst nicht zürnen des Besuchs.813 Die Tatsache, daß alle bisher untersuchten syntagmatischen Verbindungen des Verbs zürnen (+ Akkusativ, -I- Genitiv, + Präposition sowie + Dativ) sowohl ein persönliches wie ein sachliches Objekt zu sich nehmen können, ist für die Begründung des heutigen adverbalen Dativs bei zürnen von großer Bedeutung. Einige seltene Belege weisen eine diakritische Kasusverteilung auf, und aus ihnen geht der syntagmatische Grund der beiden Obliqui unzweideutig hervor, vgl.: - Dativ + Objektsatz: (30) Zürnet mir nicht, daß ich erschlug den groben Wicht!, Ludwig Uhland (1787-1862);814

807 808

809 810

811 812 813 8,4

Paul '1992, 1088, Sp. 2. DW, XVI, Sp. 676; vgl. auch Campe 1807ff, V, 914, Sp. 1 sowie Heyne 1905f, III, Sp. 1455. Sanders 1876, II2, 1801, Sp. 2; vgl. auch Campe 1807ff, V, 914, Sp. 1. Wie das Deutsche Wörterbuch (XVI, Sp. 676) weist auch Paul '1992, 1088, Sp. 2 darauf hin, daß sich in der Schweiz bis heute die Verbindung es zürnen gehalten hat. DW, XVI, Sp. 676. a.a.O. Sanders 1876, II2, 1801, Sp. 2. a.a.O.

zürnen

365

- Dativ + Genitiv: (31) Du zürne mir Deß nicht·*15 - Dativ + Akkusativ: (32) Ich zürne dir es nicht, Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898).816 Auch wenn die verschiedenen zweistelligen Verbindungen keinen kasusmorphologischen Unterschied zwischen Person und Sache erkennen lassen, so erweist sich der Dativ in den entsprechenden dreistelligen Verwendungen doch wieder eindeutig als der Kasus der Person. Diesem Phänomen sind wir auch schon bei anderen Verben begegnet, u.a. bei glauben (§ III.8.) und folgen (§ IV.8.). Nicht zufälligerweise konkurriert der Dativ in den dreistelligen Verwendungen mit Präpositionalphrasen. Sanders nimmt z.B. die Fügung "Jemand Zürnt es an Einem = zürnt, grollt ihm darüber" auf.817 Gleich alte zweistellige Belege mit persönlichem Akkusativobjekt zeigen, daß der Dativ diakritisch bedingt ist: (33) zürnt ihn weiser 'macht ihn durch euren Zorn weiser', Klopstock818 (34) zürne dich aus diesem ton der Zerknirschung, Friedrich M. Klinger (1752-1831).819 Die Beispiele (33) und (34) sind ihrerseits nicht als Wiederbelebungen der ursprünglichen Akkusativrektion von zürnen zu betrachten, sondern belegen einmal mehr Fourquets Konnexionsmodell, gemäß dem eine adverbial spezifizierte Verbalphrase (weiser zürnen; [sich] aus dem Ton zürnen) sich prototypisch mit dem Akkusativ und nicht mit dem Dativ verbindet. Aus der obigen Analyse geht hervor, daß zürnen zwar den Verben der GRUPPE Β zugeordnet werden kann, daß das Verb aber einen schwierigen Fall darstellt und deshalb nur ganz am Schluß dieser Gruppe stehen kann. Einen rein paradigmatischen Grund weist der adverbale Dativ bei zürnen aus dem Grund nicht auf, daß das Verb bis tief in die mhd. Sprachperiode immer den Akkusativ oder eine Präpositionalphrase regierte, ohne daß dabei 8,5 816 817 818 819

a.a.O. DW, XVI, Sp. 676. Sanders 1876, II2, 1801, Sp. 2. DW, XVI, Sp. 673. a.a.O.

366

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

semantische Oppositionen eine Rolle gespielt hätten. Die wenigen dreistelligen Belege lassen dagegen eine klare Kasusverteilung erkennen. Die Frage, weshalb schließlich die Dativrektion als die heute allein mögliche Rektion aus dieser Entwicklung hervorgegangen ist, ist schwer zu beurteilen. Wir möchten dafür vor allem zwei Gründe anfuhren. Erstens ist es unverkennbar, daß sich zürnen in den letzten Jahrhunderten lexikalsemantisch zu einem Verb entwickelt hat, das signifikant häufiger mit einem persönlichen Objekt verbunden wurde als mit einem sachlichen Objekt (daß dies in den modernen Wörterbüchern seinen Niederschlag gefunden hat, haben wir bereits erwähnt). Bedenkt man, daß das Verb seit dem ausgehenden Mhd., und noch bevor die anfanglich gehobene ("edle", wie Campe schreibt) Dativrektion zur neuen Sprachnorm wurde, in der Regel mit Präpositionen verbunden wurde {auf, mit usw.), dann leuchtet es ein, daß die Dativrektion letztlich die Präpositionalfügung und nicht die Akkusativrektion ersetzt. Diese Entwicklung ist, wie wir sahen, darüber hinaus diakritisch begründet, insofern der Dativ zuerst in dreistelligen Konstruktionen auftauchte und darin mit Präpositionalphrasen konkurrierte. Zweitens liegt möglicherweise insofern ein verhältnismäßig junges paradigmatisches Motiv für den adverbalen Dativ bei zürnen vor, als einige Belege aus dem 18. und 19. Jh. - also aus der Zeit, als sich die Dativnorm allmählich einbürgerte - ein deutliches "Objekt des Inhalts" aufweisen und ein solches Objekt notwendigerweise im Akkusativ steht. Daraus ergibt sich die Opposition zwischen diese Worte/heilige Worte zürnen usw.820 und jmdm. zürnen oder (sei es weniger häufig) auch einer Sache zürnen. Wenn man davon ausgeht, daß beide genannten Gründe ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen wirksam waren, wird der Dativ bei zürnen verständlich. Wie dem auch sei, vor dem Hintergrund der geschichtlichen Analyse und der langen Tradition der Akkusativrektion bei zürnen muß der heutige adverbale Dativ bei diesem Verb als in hohem Maße idiomatisch betrachtet werden.

820

s. Campe 1807ff, V, 914, Sp. 1.

entsprechen

367

IV. 15. entsprechen Im Abschnitt ΙΠ.12. analysierten wir das syntagmatische Fundament für den adverbalen Dativ beim Verb entsagen. Wie entsagen von einem transitiven Verb (sagen), ist auch entsprechen vom transitiven sprechen abgeleitet. Das Verb entsagen hatten wir der GRUPPE Α zugeordnet. Im Gegensatz zu entsagen ist der adverbale Dativ bei entsprechen sowohl syntagmatisch wie paradigmatisch bedingt, weshalb das Verb zur GRUPPE Β gehört. Das Verb entsprechen ist seit der mhd. Periode belegt und hat im Mittelalter zwei Bedeutungen, die nicht miteinander verwandt sind. Die erste Bedeutung ist 'antworten', und hier hat das ent-Präfix den Inhalt 'wieder, zurück'. Nachdem also jemand etwas gesprochen hat, "entspricht" (d.h. 'entgegnet') man dieser Person etwas, man spricht etwas zurück, vgl.: (1)

vil lüt diu krä schrigen began, si schrei daz ir der wait entsprach 'sehr laut fing die Krähe an zu schreien, sie schrie, so daß ihr der Wald antwortete'.821

Die zweite historische Bedeutung ist allgemein als 'mittels Sprechen von etwas befreien, wegschaffen' zu umschreiben. Das ent-Präfix beinhaltet in dem Fall das Moment 'weg, los, entfernen'. Hierher gehören Verwendungen wie '(durch Reden) von etwas abbringen', wie sie z.B. folgendes Zitat belegt: (2)

Erec der muotveste bedähte sich vroelich und wol, alsam der unverzagete sol den man niht lihte entsprechen mac 'Der unerschütterliche Erec dachte fröhlich und tief nach, wie es der Unverzagte tun soll, den man nicht leicht von etwas abbringen kann', Hartmann von Aue.822

Dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch zufolge gibt es auch eine reflexive Verwendimg des Verbs; das Wörterbuch gibt dafür folgenden Beleg: (3)

und wie im were vil unbereit wie er da von enspreche sich 'und wie wenig bereitwillig war er, sich davon loszusprechen'.823

821

BMZ, II/2, 529, 38.

822

Erec, 8119-8122.

823

BMZ, II/2, 529, 29-33.

368

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Der Beleg entstammt den Marienlegenden aus dem Alten Passional, in der Ausgabe von H.-G. Richert lautet die Stelle jedoch so: und im were ungereit, wi er da von enpreche sich, also mit dem Verb sich enprechen 'loskommen von, sich befreien von'.824 Etwas jünger ist die Verwendung von entsprechen im Sinne von 'freisprechen' im juristischen Sinn, die im Mhd. nicht belegt ist. Aufgrund der Tatsache, daß dieser zur Urkundensprache gehörende Terminus im Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache fehlt, darf geschlossen werden, daß entsprechen im Mhd. wahrscheinlich weitgehend unbekannt war. In das Deutsche Rechtswörterbuch sind nur einige frühnhd. Beispiele aufgenommen, sowohl mit Genitiv der Sache (4) als auch mit Akkusativ der Person (5): (4) (5)

E. were der schult von ime entsprochin (1435)825 wan diepartheyen die geschwornen entsprechen wollen (1548).826

Ausgehend von der unterschiedlichen Semantik des Verbs kann vermutet werden, daß das mhd. und frühnhd. Verb entsprechen auf zwei gesonderte homonyme - Präfixbildungen zurückgeht, die beide von der an und für sich abstrakten Bedeutung von ent- Gebrauch machen. Hierin liegt eine paradigmatische Kasusopposition begründet, die etwa bei entsagen völlig fehlt: entsprechen 'antworten' nimmt einen adverbalen Dativ zu sich - s. Satz (1) und entsprechen 'mittels Sprechen befreien, wegschaffen' - s. Sätze (2) und (5) - regiert den Akkusativ. Daß der adverbale Dativ aber auch bei entsprechen zugleich diakritische Motive aufweist, ersieht man daraus, daß bei entsprechen im Sinne von 'antworten' ein Inhaltssatz vorhanden sein kann, der anführt, was geantwortet wird, und der die Funktion eines Akkusativobjekts hat. In Satz (6) ist dieser Inhaltssatz auch tatsächlich durch das akkusativische iz vorweggenommen: (6)

824 825 826

du ensprach iz aver Judith du schöne: "nü wizzet daz zewäre, daz daz von minem sinne nine vert daz ich zeüdä hän gereit" 'dann antwortetest du es jedoch, Judith, du Schöne:

Marienlegenden aus dem Alten Passional, hrsg. von H.-G. Richert (1965), XIX, 68-69. RWB, III, Sp. 12. a.a.O.

entsprechen

369

"nun weiß dies fürwahr, daß mir das nicht aus dem Sinn geht, was ich für euch bereit habe"' (1130/1150).827 Das diakritische Motiv der Kasus bei entsprechen 'antworten' illustriert das folgende Beispiel (das Belegmaterial ist ansonsten sehr spärlich): (7)

das du niemanne entsprechest denne daz du woltest daz man dir spreche 'daß du niemandem (etwas anderes) antwortest als das, was du möchtest, das man zu dir sagt', Johannes Tauler (ca. 1300-1361).828

Das Dativobjekt ist hier niemanne, das Akkusativobjekt ist das erste daz, das von der komparativen Konjunktion denne eingeleitet wird. Erst nach der mhd. Periode erscheinen Verwendungen von entsprechen mit dem zeitgenössischen Inhalt 'übereinstimmen mit'. Der metaphorische Übergang von 'antworten' zu 'übereinstimmen' ist in der Sprachgeschichte nicht einmalig, man denke etwa an ähnliche Übertragungen im Französischen (repondre ä) sowie im Niederländischen (beantwoorden aan). Der älteste Beleg für diese Übertragung im Deutschen Wörterbuch stammt aus dem 16. Jh.: (8)

ist nun klosterleben ein stat der volhommenheit, so sollend jm ouch billichen die werck gleich hellen oder entsprechen (1510).829

Im 18. Jh. wird dies der Hauptgebrauch des Verbs830 und verschwindet entsprechen 'antworten' aus der lebendigen Sprache. Aus der neuen Verwendung entwickelt sich ebenfalls die auch heute noch existierende Möglichkeit 'mit gewissen Forderungen übereinstimmen, Forderungen genügen', vgl.: (9)

mit waß fründt-eydtgnosischem gemiieth wyr die angelegenheiten diser unserer (...) eydtgnoßen (...) ansechen, mit der verlangten willfahr gantz willig entsprechen wollen (1691)831 (10) dieses Möbelstück entspricht nicht seinem Zweck,832

827 828 829 830 831 832

DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1504. Die Predigten Taulers, hrsg. von F. Vetter (1910), 70, 7. DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1504. DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1504. DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1505. WDG, II, 1068, Sp. 2.

370

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Der adverbale Dativ von entsprechen 'antworten', der sich als zugleich oppositiv-paradigmatischer und diakritisch-syntagmatischer Herkunft erweist, ist mithin als ein syntaktisches Merkmal des Verbs entsprechen beim Bedeutungswandel zu 'übereinstimmen mit' erhalten geblieben. Er hat auch die Dativrektion bei der vom Verb abgeleiteten Präposition entsprechend veranlaßt.

gehören und gehorchen

371

IV. 16. gehören und gehorchen Die beiden deutschen Verben gehören und gehorchen regieren in einigen Verwendungen einen adverbalen Dativ. Es handelt sich um zwei Präfixverben, die mit dem Verb hören verwandt sind und somit beide auch auf den bekanntlich besonders komplexen sprachlichen Inhalt lat. audire zurückgehen, weshalb sie hier zusammen behandelt werden. Geschichtlich betrachtet müssen auch zwei weitere Verben in die Analyse einbezogen werden, denn bis ins 19. Jh. konnten auch die Simplizia hören und horchen, von denen gehören und gehorchen abgeleitet sind, einen adverbalen Dativ zu sich nehmen (was bei horchen allerdings öfter der Fall war als bei hören). Bei gehören und gehorchen handelt es sich um sog. Verstärkungsbildungen (Intensiva) zu den Simplizia ohne das Präfix ge-. Daß gehören und gehorchen jeweils "verstärkt" für hören und horchen verwendet wurden, impliziert, daß die ursprüngliche einfache Bedeutung der entsprechenden Simplizia auch in den Präfixverben vorerst vorherrschend und auch später noch längere Zeit erkennbar war. Die Verstärkung bezieht sich, wie es im Deutschen Wörterbuch heißt, auf eine "Steigerung des begriffes"833, wie ihn die Simplizia ausdrücken, und die Ableitungen markieren in der Regel also ein "aufmerksames" Hören.834 Es leuchtet schon vom Begriff des Hörens selbst ein, daß die Grenzen zwischen Hören und aufmerksamem Hören fließend sind und daß auch sprachlich der Unterschied zwischen einerseits hören, horchen und andererseits gehören, gehorchen kein rigider ist. Tatsächlich wurden gehören und gehorchen lange Zeit als quasi-synonyme Varianten von hören und horchen gebraucht; im Schweizerdeutschen hat die Form ghören (auch khören oder kören) das Basisverb hören sogar ersetzt.835 Auch der nun folgende diachronische Aufriß wird zeigen, daß es schwierig ist, mit den morphologischen Unterschieden konkrete quasi-aspektuelle Differenzen zu verknüpfen. Der Deutlichkeit wegen werden wir im folgenden auf die Verben gehören (+ hören) und gehorchen (+ horchen) zunächst getrennt näher eingehen. Während gehorchen erst im 13. und 14. Jh. aufkommt836, ist gehören 833 834 835 836 837

DW, IV, l 2 , Sp. 2505. vgl. DW, IV, l 2 , Sp. 2501. vgl. DW, IV, l 2 , Sp. 2505. DW, IV, l 2 , Sp. 2501. AW, 169, Sp. 2; vgl. DW, IV, l 2 , Sp. 2504.

372

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

bereits im Ahd. belegt, und zwar in einer Vielzahl von Formen (von gihören bzw. gahören bis kehörranf31. Wie bereits von Galina A. Bajewa erkannt wurde (s. § 1.2.11.), ist für die Rektion des ahd. Verbs hören entscheidend, ob das Verb im wörtlichen oder im übertragenen Sinn verwendet wird.838 Im ersten Fall regiert das Verb den Akkusativ ('hören, erhören, zuhören usw.'), im zweiten Fall den Dativ. In Verbindung mit dem Dativ steht hören für 'hören auf, gehorchen, sich fügen'. Der Wechsel läßt sich sogar bei ein und demselben Nomen feststellen, vgl. den Akkusativ in: (1)

Thie ih zi thiu gizellu ioh süntar mir iruuellu, thie eigun min ίό minna hörent rruna stimma 'Diejenigen, die ich dazu bestimmte, die ich mir dazu besonders auserwählte, die sind mir in Liebe zugetan und hören auf meine Stimme', Otfrid839;

im Gegensatz zum Dativ in: (2)

So uuer so ist fona uuäre, ther hont nur ίό säre hörit er mit minnu mines selbes stimmu 'Wer so von der Wahrheit ist, der gehorcht mir schnell, gehorcht mit Liebe meiner eigenen Stimme', Otfrid840

- und dies trotz der Tatsache, daß im lateinischen Ausgangstext audire beide Male den Akkusativ regiert. Im Gegensatz zu den Belegen mit Akkusativund Dativrektion sind die Belege, in denen hören in der übertragenen Bedeutung 'gehorchen' den Genitiv regiert, eher selten: (3)

loh stnero uuorto er hörta filu härto 'Er bemühte sich sehr, seinen Worten zu folgen', Otfrid.841

Beim Verb gihören ist die Sachlage im Ahd. genau dieselbe wie beim Simplex, nur daß das Präfixverb in Verbindung mit dem Dativ und in der Bedeutung 'gehorchen' im Ahd. nur selten vorkommt, bei Otfrid sogar nur einmal, vgl.:

838 839

840 841

Bajewa 1993, 15-16. Piper, III, 22, 22; lat.: vocem meam audiunt. Kelle 1870, 249, 44 übersetzt wie folgt: 'Und hören meine Worte an'. Piper, IV, 21, 33-34; lat.: audit vocem meam. Piper, II, 9, 57.

gehören und gehorchen

(4)

373

"Stant üf, " quad έτ, "gihöri mir, ioh nim thin betti mit thir" '"Stehe a u f , sagte er, "gehorche mir (d.h.: 'höre auf was ich dir sage'), und nimm dein Bett mit dir mit', Otfrid.842

Ein Beleg mit Akkusativ ist u.a.: (5)

So sliumo so ih gihörta thia stimmün thina 'Sobald ich deine Stimme hörte', Otfrid.843

Bei Notker (Sankt Gallen!) ist das intensivierende Präfixverb - in der üblichen Rektion mit Akkusativ - ungefähr 4 mal so häufig wie das Simplex.844 Zu beachten ist ferner, daß im ahd. Korpus sowohl das Simplex wie das präfigierte Verb außer in ein- und zweistelligen auch in dreistelligen Verbindungen belegt ist, und zwar hören mit Nominativ, Dativ und Genitiv, gihören mit Nominativ, Akkusativ und Genitiv. Wir beschränken uns auf jeweils ein Beispiel: (6) (7)

thöh er imo es ni horti 'Doch erhörte er ihn in diesem Punkt nicht', Otfrid845 Er gehöret in stnero beto 'Er schenkt ihm in seiner Bitte Gehör' (wörtlich: 'Er erhört ihn seiner Bitte'), Notker.846

Klar ist, daß es im Ahd. von gihören in der modernen Bedeutung 'gehören' noch keine Belege gibt. Die Ursprünge dieser Bedeutung liegen im frühen Mhd. Im Mhd. bleibt das Verb gehaeren im Sinn von 'hören, anhören usw.' üblich. Offenbar verwischt sich aber allmählich die Grenze zwischen den beiden Rektionen, sofern sie mit der semantischen Divergenz zwischen 'hören' (wörtlich) und 'gehorchen' (übertragen) korrelieren. Dasselbe läßt sich auch beim Simplex hoeren feststellen, und sicherlich gibt es für diese Entwicklung bereits im Ahd. Ansätze, zumal zwischen den Sonderbedeutungen 'hören' 'hören auf - 'gehorchen' ein Kontinuum angenommen werden muß. Dafür aber ensteht, und dies abermals sowohl beim Simplex wie beim Präfixverb, 842 843

844 845 846

Piper, III, 4, 27. Piper, I, 6, 11; Kelle 1870, 21, 21-22 übersetzt: 'Im Augenblick, als ich vernahm, was deine holde Stimme sprach'. Vgl. sehr ähnlich auch bei Notker: unde er gehöret mina stimma, Piper, II, 209, 16-17, gehöret die stimma, Piper, II, 219, 3 usw. s. Sehrt/Legner 1955, 269. Piper, II, 5, 19. Piper, II, 62, 9; lat.: Exaudiet illum.

374

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

allmählich eine neue semantische Opposition, der zunächst jedoch genausowenig eine strikte Kasusopposition entspricht: hoeren und gehaeren bilden den Anlaß zu zwei Synonymen mit der Bedeutung 'gehören, (als Eigentum) zukommen, erforderlich sein'. Zunächst zum wörtlichen Gebrauch. Die Verwendung im Sinne von 'hören' findet sich, den mittelhochdeutschen Wörterbüchern nach zu urteilen, bei gehaeren sowohl in Verbindung mit dem Akkusativ wie in Verbindung mit dem Dativ. Das Simplex hoeren kann in dieser Bedeutung außer dem Akkusativ und Dativ darüber hinaus den Genitiv regieren, der dann immer eine Sache nennt.847 Nach wie vor kann die Präfixform als eine Variante gelten, die sich aspektuell nur geringfügig (im Sinne einer Intensivierung oder Perfektivierung) vom Simplex unterscheidet. Einige Beispiele mögen die Kasusvielfalt veranschaulichen (die Beispiele mit dem Simplex stehen jeweils vor denjenigen mit dem Präfixverb): a) einstellig: (8)

si seic unmehtic nider, sin horte noch ensprach 'sie sank zu Boden, weder hörte noch sagte sie etwas', Walther von der Vogel weide848 (9) so si wider uf gesach und weder gehörte noch ensprach 'Als sie wieder zu sich kam, aber weder hören noch sprechen konnte', Hartmann von Aue849 (10) groz wunder ist, daz iemen dä gehoeret 'es ist ein großes Wunder, daß jemand dort (überhaupt noch) hört', Walther von der Vogelweide.850 b) zweistellig: - mit Akkusativ: (11) do horte si ein horn 'da hörte sie ein Horn', Hartmann von Aue851 (12) weit ir ein vremde masre hoeren, daz wil ich iu sagen 'Wollt ihr eine merkwürdige Geschichte

847 848 849 850 851

BMZ, I, 711-713 und ΜΗ, I, Sp. 792 und Sp. 1339-1340. Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 37, 21. Iwein, 1327-1328. Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 20, 9. Iwein, 5796.

gehören und gehorchen

375

hören, dann will ich sie euch erzählen', Hartmann von Aue852 (13) Do si gehörte diu masre, dö was ir grimme leit 'Als sie die Nachricht hörte, war sie sehr betrübt'853 (14) (Iwein) gehörte ouch den vogelsanc '(Iwein) hörte auch den Vogelgesang', Hartmann von Aue854 - mit Dativ: (15) clagen si ouch zu male, daz stet an deme richtere, wilcheme her er hören wolle 'klagen sie auch alle zusammen, es steht dem Richter zu (, darüber zu entscheiden), welchen Herrn er hören möchte', Eike von Repgow (ca. 1180-1233)855 (16) er bat si ime hören 'er bat sie, ihn anzuhören'856 (17) hoere mir 'höre mir zu'857 (18) die rehten pfaffen warne, daz si niht gehaeren den unrehten, die daz rtche wasnent stoeren 'Warne die gerechten Geistlichen, damit sie nicht auf die ungerechten hören, die das Reich zerstören wollen', Walther von der Vogelweide858 - mit Genitiv (nur hoeren): (19) daz ich der schände sumelicher hoere 'daß ich mir die Schandtaten einiger Leute anhöre'.859 Daneben konnten sowohl hoeren wie gehaeren auch 'aufhören' bezeichnen, und dies sowohl in absoluter wie - zumindest was das Simplex betrifft - in zweistelliger Verwendung mit Genitivrektion, vgl.: (20) der herzöge hiez do hören 'der Herzog befahl aufzuhören' (um 1190)860 (21) swigk, losz uns gehörenm

852 853 854 855 856

857 158 859 860 861

Iwein, 4528-4529. Das Nibelungenlied, 1274. Iwein, 991. DW, IV, 2, Sp. 1811. Die Wiener Genesis, diplomatischer Abdruck der Handschrift W in der Ausgabe von K. Smits (1972), Bl. 75a, 18. BMZ, I, 711, 37-38, dort auch die Übersetzung. Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 10, 22-23. BMZ, I, 711, 39-40. Sanct Servatius, 2474. vgl. DW, IV, l 2 , Sp. 2506.

376

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

(22) wil si des niht hören 'Will sie das nicht unterlassen'.862 Dieser Verbinhalt, der nach wie vor im Schweizerdeutschen weiterlebt, braucht uns hier weiter nicht zu kümmern. Dreistellige Verwendungen von hoeren oder gehceren in der wörtlichen Bedeutung sind im Mhd., anders als im Ahd., nicht belegt. Das gilt auch für die neue Variante mit der übertragenen Bedeutung 'gehören, (als Eigentum) zukommen, erforderlich sein', auch 'ziemen, zustehen', die, wie gesagt, sowohl in der Form des Simplex wie des Präfixverbs begegnet. Die übertragene Bedeutung umfaßt ein weites Feld: das Verhältnis zwischen verschiedenen Personen oder Mitgliedern, z.B. ein Verhältnis "der angehörigkeit, der sippe, heimat"863, aber auch der Freundschaft, Ehe usw., zwischen dem Herrn und dem Diener, zwischen Fürst und Untertan864, zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft865, im juristischen Sinne des Gerichts oder eines Eigentumsverhältnisses866 usw. Der allgemeine Typus ist hier 'Etwas/Eine Person gehört jemandem', und dieser Typus kann sich im einzelnen im Sinne von 'Jemand ist der Untertan von jemandem' bis hin zu 'Diese Personen sind meine Angehörigen' realisieren. Es ist paradigmatisch bedeutsam, daß die homonymen Zwillingsverben hoeren oder gehaeren in der Bedeutung 'gehören, zukommen usw.' im Mhd. noch nicht in Verbindung mit einem reinen Kasus, sondern nur zusammen mit (einer Vielzahl von) Präpositionen vorkommen. Für das Simplex sind das die Präpositionen: an, in, nach, üf, wider und ze (.zuof67, für das Präfixverb üf, für und ze (zwo).868 In mittelhochdeutscher Zeit entstehen auch die weiteren Ableitungen mit "Adverbialpräpositionen", die mit hoeren und gehceren zunächst eine nur lockere Verbindung eingehen und sowohl den Akkusativ wie den Dativ regieren können, vgl.: (23) der apfel haeret dich niht an 'Der Apfel gehört dir nicht'869

862 863 864 865 846 867 868 869

BMZ, I, 713, 3. DW, IV, l 2 , Sp. 2507. DW, IV, l 2 , Sp. 2509-2510. DW, IV, l 2 , Sp. 2511; vgl. IV, 2, Sp. 1811. DW, IV, l 2 , Sp. 2512-2517; vgl. IV, 2, Sp. 1810-1811. BMZ, I, 712. BMZ, I, 713, Sp. 2. BMZ, I, 712, 35-36.

gehören und gehorchen

(24) daz gehcert ainen weisen fürsten an 'Das geziemt einem weisen Fürsten'870 (25) daz kint und alle di iz ane gehörten 'Das Kind und alle seine Angehörigen'871 (26) daz gehaeret an dem bäbeste 'Das kommt dem Papst zu' .872 In der Folgezeit wird vor allem das Präfixverb gehören in der übertragenen Bedeutung immer öfter mit Präpositionen und Präfixoiden verbunden und verstärkt, vor allem mit an und zu. Daneben kommt das Verb auch in Verbindung mit den Partikeln hin und her vor873; während zugehören generell den Dativ regiert, hält sich bei angehören bis ins 15. Jh. der Akkusativ.874 Den Übergang von ahd. (gi)hören 'hören' über ahd. (gi)hören 'folgen' zu mhd. (ge)hceren 'zukommen, geziemen' bis zur heutigen Bedeutung von gehören erklärt das Etymologische Wörterbuch des Deutschen wie folgt: "Noch in mhd. Zeit gilt die Bedeutung vom Simplex hören, nämlich 'akustisch wahrnehmen, vernehmen', auch 'zuhören, gehorchen', woraus sich im 14. Jh. der Sinn der Zugehörigkeit (zu einer Familie und dgl.) und des Besitzes und Eigentums entwickelt. Aus dem rechtlichen Anspruch auf Besitz erklärt sich die Bedeutung 'zukommen, gebühren, geziemen'".875 Es ist klar geworden, daß die beiden Bedeutungen von (ge)hören im Mhd. mehr dem Unterschied in der Rektion als dem morphologischen Unterschied zwischen Simplex und Präfixverb entsprachen. Die doppelte Rektion ist damit als wesentlich paradigmatisch begründet erkennbar, zumal die diakritische Motivation des Dativs, wie sie aus den Beispielsätzen (6) und (7) hervorgegangen ist, auf die ahd. Periode beschränkt ist und darüber hinaus einer anderen übertragenen Bedeutung von hören bzw. gihören galt als derjenigen, die sich seit dem Mhd. durchsetzte. Seit dem Frühmhd. aber gewinnt der morphologische Unterschied zwischen Simplex und Präfixverb für die Kasusgeschichte von gehören an Bedeutung. Wie eine vereinzelte Wiederbelebung der ahd. Kasusopposition mutet der adverbale Dativ bei hören im folgenden Beispiel von Lessing an: 870

871 872 873 874 875

BMZ, I, 713, 27-29, dort auch die Übersetzung. Vgl. die moderne reflexive Form: Das gehört sich nicht. BMZ, I, 713, 26-27. BMZ, I, 713, 31-32, dort auch die Übersetzung. Eine Fülle an Belegen findet man in DW, IV, l 2 , Sp. 2510-2524. Für Belege und sonstiges s. DW, IV, l 2 , Sp. 2507; vgl. auch Sp. 2510. Pfeifer 1993, 413, Sp. 1.

378

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

(27) noch hat er ( = der pudel) keinen bissen brod aus meiner hand bekommen; und doch bin ich der einzige, dem er hört, und der ihn anrühren darf, Lessing876; hier wird das Verb im Sinne von 'folgen, gehorchen' verwendet. Ansonsten ist es die Form gehören, die die Dativrektion an sich bindet, während das Simplex hören sich wiederum auf die wörtliche Bedeutung hin spezifiziert und weiterhin den Akkusativ regiert. Selten kommt das Simplex auch in Verbindung mit dem Genitiv vor, der sich im Zuge des allgemeinen Abbaus des Genitivs im deutschen Kasussystems indes nicht behaupten kann, vgl.: (28) wenn ihn (den mann) jäher rrmth empört, er nicht mehr des freundes hört, Friedrich Leopold zu Stolberg (17501819).877 Im Falle des Präfixverbs kompliziert die Sachlage sich hingegen dadurch, daß neben der Dativrektion, die sich schließlich als die einzig mögliche Rektion in der Gegenwartssprache durchsetzt, gerade die Genitivrektion sich besonders lange hält. Die Verbindung mit dem Genitiv war seit dem Frühnhd. durchaus üblich und ist bis ins 19. Jh. belegt, obwohl nach Grimm der Genitiv bei gehören in den Schulen "mit besonderem eifer bekämpft" wurde.878 Ein besonderer semantischer Unterschied, von dem man behaupten könnte, daß er mit dem Kasusunterschied korrelierte, scheint nicht vorzuliegen. Sowohl der Dativ wie der Genitiv bezeichnen ein Eigentumsverhältnis im weiteren Sinn oder ein Gebühren, Zukommen, Zustehen, Geziemen u. dgl. Einige Beispiele mit dem Dativ: (29) iedoch gebeert daz (dies mittel anzuwenden) den ärtzen, wan ain mensch (laie) möht sich leicht vergreifen, Konrad von Megenberg (14. Jh.)879 (30) dem esel gehört sein futter, geisei und last, also dem kriecht sein brot, strafe und erbeit, Luther880

876 877 878

879 880

DW, IV, 2, Sp. 1811. DW, IV, 2, Sp. 1810. DW, IV, l 2 , Sp. 2508; ob gehören + Genitiv durch Einwirkung von sein + Genitiv entstanden sei, sei fraglich, der Genitiv sei hier durchaus "echt und recht", DW, IV, l 2 , Sp. 2509. DW, IV, l 2 , Sp. 2524. a.a.O.

gehören und gehorchen

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(31) mir zweifelt auch, ob dich zu fragen wir gehöre, Andreas Tscheming (1611-1659).881 Dabei sind auch unpersönliche Konstruktionen möglich, wie z.B.: (32) es gehöret dir nicht allein zu essen, sondern den elenden, und die in noth sein, zu hülf zu kommen, Adam Olearius (1599-1671)882 (33) es hätte euch gehöret uns entgegen zu kommen .883 Äquivalente Beispiele mit dem Genitiv sind: (34) ein mädel (...) ich bin es der jäger, und du gehörst mein, Ernst Meier (1813-1866)884 (35) ... und dasz wer dich kennt, wer dein gehört hat, keiner anderen auch nicht auf eine zeitlang angehören kann, Goethe885 (36) nun hab ich mein sach auf nichts gestellt, und mein gehört die ganze weit, Goethe886 (37) die bemerkung gehört mein, und ich lasse sie mir von keinem nehmen, Friedrich M. Klinger (1752-1831)887 (38) doch fürchte darum nicht, nach dem zu greifen, was dein gehört, Schiller.888 Wie gesagt verschwindet die Genitivrektion von gehören schließlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, was teils normativen Gründen, teils auch dem allgemeinen Rückgang der verbalen Genitivrektion im modernen Deutsch zuzuschreiben ist. Wichtig ist, daß sich dadurch die sich seit dem Mhd. anbahnende paradigmatische Grundlage für den adverbalen Dativ bei gehören - im Gegensatz zur Akkusativrektion bei hören (ältere Variante: gehören) - verfestigt. Das Verb horchen - ahd. hörehhan oder hörechen - ist erstmals im 11. Jh. in Willirams deutscher Paraphrase des Hohenliedes belegt, und zwar gleich zweimal.889 Die beiden Belege bei Williram bilden die einzigen im 881 882 883 884 885 88i 887 888 889

a.a.O. a.a.O. DW, IV, l 2 , Sp. 2525. DW, IV, l 2 , Sp. 2508. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. AW, 169.

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Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

gesamten ahd. Korpus.890 Im Deutschen Wörterbuch wird das Verb als eine Iterativbildung zum Simplex ahd. hörran bzw. hören gedeutet.891 Bei Williram regiert es - in der wörtlichen Bedeutung 'auf etwas hören'892 bzw. 'aufmerksam zuhören'893 - ausnahmslos den Genitiv, einen Kasus, dem wir vom Ahd. bis ins Nhd. - s. die Sätze (3), (19) und (28) - in zweistelliger Konstruktion auch in Verbindung mit dem Basisverb hören 'hören' begegnet sind. Die beiden Belege bei Williram lauten wie folgt: (39) dinefriunt hörechent des 'deine Freunde hören (dem) aufmerksam zu', Williram von Ebersberg (11. Jh.)894 (40) Dine friunta hörechent gerno diner stimmo 'deine Freunde hören gern aufmerksam deiner Stimme zu', Williram von Ebersberg (11. Jh.)895 Im klassischen mhd. Korpus gibt es von der Genitivrektion nur noch vereinzelt Spuren896, das Verb regiert statt dessen normalerweise den Dativ, oder es wird mit einer Präpositionalphrase verbunden, insbesondere mit auf (mhd. uf). Aber auch der Akkusativ kommt vor, der freilich nur spärlich belegt ist, wie z.B. in: (41) di heilige drivaldikeit horchet waz du sprechin wollist 'Die heilige Dreifaltigkeit hört auf dasjenige, was du sagen möchtest'.897 Was den Dativ betrifft, scheint es belanglos gewesen zu sein, ob eine belebte Person oder eine Sache (bzw. ein Abstraktum) gemeint ist, vgl.: (42) der heilige engel Cherubin der lazet uns dar in unde offenet uns di porten, wolle wir Cristo horken 'der heilige Engel Cherubin, der läßt uns hinein und öffnet uns die Pforten, wenn wir auf Christus hören', Der arme Hartmann (ca. 1140-1160)898 (43) ober so wolde als er von rehte solde, getruwen unde horken den gewaren gotis worten 890 891 892 893 894 895 896 897 898

Graff 1834ff, IV, Sp. 1008. DW, IV, 2, Sp. 1802. AW, 169. Pfeifer 1993, 555, Sp. 1. Paraphrase des Hohen Liedes, 148, 1-2; lat.: auscultant. Paraphrase des Hohen Liedes, 148, 9; lat.: audire. s. ΜΗ, I, Sp. 1338. BMZ, I, 714, 20-21. Rede vom heiligen glouben, 55, 6-7.

gehören und gehorchen

381

'wenn er, wie es sich geziemt, den wahren Worten Gottes vertrauen würde und auf sie horchen würde, Der arme Hartmann (ca. 1140-1160) 8 " Der adverbale Dativ bei horchen war bis in die Goethezeit gebräuchlich, wie einige Beispiele verdeutlichen mögen: (44) ... die ahnung, deren leiser stimme du oft in deinem inneren horchtest, Wieland900 (45) unser freund (...) horchte gern den belehrenden Worten seines wirthes, Goethe901 (46) ich horche deinen Worten, Goethe902 (47) horchet ihr der glocke nicht, Goethe.903 Daß der Dativ sich bei horchen als nichts weniger denn als ein "Kasus der Person" herausstellt, dürfte also auch aus sprachgeschichtlicher Sicht außer Frage stehen. Die Neutralität des Dativobjekts bei horchen gegenüber der Unterscheidung zwischen belebt und unbelebt stellen einige Belege aus dem Schaffen Friedrich Klopstocks besonders klar unter Beweis. Bei Klopstock kann eine Person einer anderen Person (48), eine Person einer Sache (49) oder sogar etwas Unbelebtes einer Person (48) und (50) "horchen", vgl.: (48) es horchen ihm die bemerkungen deiner freunde, ihm horcht entzückt die feinere Schäferin904 (49) was horchest du unter dem weitverbreiteten flügel der nacht dem fernen strebenden wiederhalle des bardengesangs 7905 (50) ach, dann wall ich am grabe, dem ich so nah war, und weinen meinen jammer, mir horcht die schauernde todesstille,906 Die Rektion von horchen wies bis tief in die nhd. Zeit Schwankungen auf. Adelung und Campe verzeichnen durcheinander Belege mit Akkusativ und

899 900 901 902 903 904 903 906

Rede vom heiligen glauben, 51, 2-3. DW, IV, 2, Sp. 1802. a.a.O. DW, IV, 2, Sp. 1803. a.a.O. DW, IV, 2, Sp. 1802. a.a.O. a.a.O.

382

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Dativ, nur Adelung weist daneben noch auf die vereinzelte Genitivrektion "in der höhern Schreibart" hin; vgl.:907 (51) Er horchet dann ihr Lied; Die Nachtigall schwieg und horchte die zärtlichen Accente; Horcht den Zauberton! (52) Das Raubtier noch im Grimme / Ließ das ergriffne Lamm und horchete der Stimme; Der Nachhall horchet den Liedern. Auch Sanders fuhrt die Dativ- und Akkusativrektion noch nebeneinander an, neben der gebräuchlichen absoluten Verwendung des Verbs (z.B. Alles war still, hörte, horchte) und der Verwendung in Verbindung mit Präpositionalphrasen (auf jmdn./etwas horchen, nach etwas horchen und an jmdm. horchenJ.908 Erst Heyne merkt explizit an, daß die Akkusativrektion des Verbs nur "in gehobener Spr(ache)" vorkomme, horchen jedoch "gewöhnlicher mit Dat(iv)" stehe.909 Ein berühmtes und oft zitiertes Beispiel für die Akkusativrektion ist folgender Passus aus Goethes Iphigenie aufTauris: (53) es horcht der verbannte in nächtlichen höhlen der alte die lieder.910 In der Gegenwartssprache regiert horchen keinen reinen Kasus mehr. Heynes Wörterbuch (1905f) ist das letzte, das die Dativrektion verzeichnet; in Trübners Deutschem Wörterbuch (1939ff) wird die Dativrektion bereits nicht mehr erwähnt, und dasselbe gilt für die modernen Wörterbücher zur Gegenwartssprache.911 Das Verb wird heute entweder absolut oder in Verbindung mit einem Objektsatz verwendet und bedeutet dann 'mit großer Anstrengung versuchen, etwas (heimlich) zu hören', wie in: (54) Er klopfte an, horchte (, ob sich Schritte näherten)912; 907 908 909 910

911

912

Für alle Beispiele s. Adelung 1796ff, II, Sp. 1282; Campe 1807ff, II, 784, Sp. 1-2. Sanders 1876,1, 787, Sp. 1-2. Heyne 1905f, I, Sp. 196. DW, IV, 2, Sp. 1803; dazu vermerkt das Deutsche Wörterbuch·. "horchen mit accusativ, durch horchen vernehmen, aufnehmen, nur in freierer poetischer spräche". vgl. Trübner 1939ff, III, 476, Sp. 1-2. Weil Heynes Deutsches Wörterbuch ein ausgeprägt historisches Wörterbuch ist, ist es schwer, genau festzustellen, ab wann horchen + Dativ als veraltet zu gelten hat. Als veraltet wird jmdm. horchen 'jmds. Rat, Befehl befolgen' übrigens auch noch in Pauls Deutschem Wörterbuch ('1992, 418, Sp. 1) aufgenommen. DUW, 735, Sp. 2.

gehören und gehorchen

383

oder aber horchen wird in Verbindung mit einer Präpositionalphrase gebraucht, die ihrerseits verschiedenes nennen kann, und zwar vornehmlich den eigentlichen Gegenstand des Horchens bzw. Hinhörens, egal ob dieser von einer Person oder von einer Sache herrührt, wie in: (55) Er horchte auf die Schläge der Uhr (56) Er horchte auf ihre Atemzüge, oder das "Ziel" des Horchens bzw. Hinhörens, wie in: (57) Sie horchte in ihr Inneres (hinein). Eine damit verwandte, jedoch noch etwas andere aktuelle Bedeutung wird in Sätzen wie (58) Sie horchten nicht auf ihn (59) Er horchte nicht auf das Orakel (60) Er horchte nicht auf seinen Rat913 realisiert; sie ist am besten als 'hören und befolgen* oder 'hören und sich danach richten' zu paraphrasieren. Wie aus der letzten Verwendung hervorgeht, kann die aktuelle Bedeutung von horchen im einzelnen Fall über diejenige des 'aufmerksamen Hinhörens' hinausgehen. Das vermerkt z.B. das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache explizit, wenn es schreibt, daß "landsch(afitlich) umg(angssprachlich)" die Fügung auf jmdn. horchen im Sinn von 'jmdm. gehorchen, tun, was jmd. sagt' verwendet werden könne, wie z.B. in: (61) Horche nicht auf ihn, erlügt!91* Auch für diese spezifischere, abgeleitete Verwendungsweise gibt es viele sprachgeschichtliche Belege. Bemerkenswert dabei ist, daß bis in die Zeit der deutschen Klassik horchen die Bedeutung 'gehorchen' nicht übernimmt, wenn das Verb den Akkusativ regiert. Dafür läßt sich außer dem Goethe-Zitat (53) auch noch folgender Beleg anführen: (62) ... winkt selbst meiner freunde gerne gehorchten, geliebten fusz weg, Klopstock915 913 914 915

vgl. a.a.O. WDG, III, 1896, Sp. 2. DW, IV, 2, Sp. 1803.

384

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Paradigmatisch bedeutsam ist, daß spezifischere, idiomatisierte aktuelle Bedeutungen wie 'beaufsichtigen' und 'gehorchen' in der Regel der Verbindung mit einer Präpositionalphrase oder der ehemaligen Dativrektion vorbehalten sind. Das Deutsche Wörterbuch gibt Beispiele wie die folgenden: (63) doch seit ir all in irer (= der ratsherrn zu Nürnberg) ungnad (...) und miist auf sie horchen916 (64) wan Herodes vorchte Jöhannem (...) und ime horchinde tet her vile 'weil Herodes Johannes fürchtete (...) und er gehorchte ihm sehr' (15. Jh.)917 (65) horcht den befehlen, folget sogleich, Goethe.918 Neben der Verwendung von horchen im Sinne von 'gehorchen' bietet sich seit dem 13. und 14. Jh. im mitteldeutschen Sprachraum die Präfixform gehorchen als konkurrierendes Verb an, das - wie gehören zu hören - als eine Intensivbildung gedeutet werden kann.919 Es hängt zu einem Teil also gewiß mit sprachgeographischen Gründen zusammen, daß im deutschen Sprachraum die Bedeutung 'gehorchen' nicht nur an das Lexem gehorchen gebunden war, sondern u.a. auch von horchen Konkurrenz erhielt. Zu einem anderen Teil aber ist ebenfalls entscheidend, daß bis ins 16./17. Jh. in manchen Verwendungen von gehorchen die ursprüngliche Bedeutung des Basisverbs horchen nach wie vor anklingt, wie z.B. in: (66) ich sprach, ich miiste ihm etwas anzeigen (...). er gehorcht mir gleich920 (67) dieser (= mit dem ich über glaubenssachen disputirte) hat keinen glauben (...) und will mir nicht gehorchen, Adam Olearius (ca. 15991671).921 Die Wörterbücher des 16. und 17. Jahrhunderts nehmen gehorchen aber nur im Sinne von 'gehorsam sein' auf.922 Wie bei hören und gehören prägte die morphologische Differenz zwischen Simplex und Präfixverb auch im Falle von horchen und gehorchen die 916 917 918 919 920 921 922

a.a.O. a.a.O. a.a.O. DW, IV, l 2 , Sp. 2501. a.a.O. a.a.O. s. Maaler 1561, 164, Sp. 4 und Stieler 1691, Sp. 860.

gehören und gehorchen

385

divergierende Entwicklung der beiden Verbformen seit dem Frühnhd. Sie führte dazu, daß bei gehorchen der Bedeutungsansatz 'auf jmdn. hören' sich zu 'gehorchen' und 'gehorsam sein' verengen konnte und daß diesem semantischen Prozeß generell auch ein kasueller Unterschied entsprach. In dieser Verwendung konnte (und kann) das Verb gehorchen einstellig und zweistellig gebraucht werden. Beim zweistelligen Gebrauch hat sich der Dativ rasch zum alleinigen Kasus verfestigt. Wie beim ehemaligen horchen ist das Dativobjekt gegenüber der Unterscheidung zwischen belebt und unbelebt im Prinzip neutral, vgl.: (68) die weil du (Adam) hast gehorchet der stimme deines weibes und gessen von dem bawm923 (69) geh, gehorche meinen winken, nutze deine jungen tage..., Goethe924 (70) ein volk, das ich nicht kandte, dienet mir (= David) ... und gehorchen mir mit gehorsamen ohren925 (71) gehorche deinem dienste, nicht dem herrn, Goethe.926 Der Dativ bekam zeitweilig indirekt Konkurrenz von persönlichen Passivkonstruktionen, die freilich als solche den Dativ noch nicht durch einen Akkusativ ersetzen, sondern dazu erst einen graduellen Ansatz bilden, vgl.: (72) wie gott verehrt und gehorcht sein wolle, Immanuel Kant (17241804)927 (73) gehorcht zu sein wie er (= Wallenstein) konnte kein feldherr in mittlem und neuern Zeiten sich rühmen, Schiller928 (74) (der mächtige) will (...) gehorcht sein, Goethe.929 Solche Konstruktionen haben den Stellenwert des Dativs bei gehorchen jedoch zu keiner Zeit tangieren können. Heute sind sie ausgeschlossen. Der paradigmatische Grund des adverbalen Dativs bei gehorchen ist in der Gegenwartssprache um so augenfälliger, als der adverbale Dativ beim Verb horchen heute bereits nicht mehr als veraltet gelten kann, sondern 923 924 925 926 927 928 929

DW, IV, l 2 , Sp. 2502. a.a.O. a.a.O. DW, IV, l 2 , Sp. 2503. a.a.O. a.a.O. a.a.O.

386

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

schon als normwidrig einzustufen ist (überhaupt existiert heute die Verbindung des Verbs mit einem Objektkasus nicht mehr). Hinsichtlich des Kasus ist das Verb damit sowohl von horchen wie von hören deutlich verschieden. Einstellige Verwendungen der beiden Simplizia, in denen die Verben stark zur Bedeutung 'gehorchen' neigen, wie in: (75) Wer nicht hören will, musz fühlen930 (76) Horch nicht, er lügt! tangieren die paradigmatische Unterscheidung nicht. Fassen wir zusammen. Es dürfte klar geworden sein, daß sowohl der adverbale Dativ bei gehören wie derjenige bei gehorchen geschichtlich in erster Linie aus der paradigmatischen Opposition heraus erklärt werden muß, die die Verben mit den Simplizia hören und horchen eingehen. Bei hören hat sich das Akkusativobjekt seit dem Ahd. und Mhd. verfestigt. Die ursprüngliche Konvergenz zwischen hören und dem Intensivum gehören hat sich im Laufe der Sprachgeschichte zugunsten lexikalsemantischer Divergenz aufgelöst, und diese Divergenz hängt aufs engste mit dem Kasus zusammen: Wo sich das Simplex auf den Kasus des direkten Objekts festlegte und die ursprüngliche Bedeutung behielt, idiomatisierte sich der Dativ allmählich zum einzig möglichen Kasus des Objekts bei gehören, was einem semantischen Wandel von 'aufmerksam hören' über 'auf jmdn. oder etwas hören' zu 'zu jmdn. oder einer Sache gehören' entsprach. Die kasusmorphologische Idiosynkrasie des Präfixverbs gehören gegenüber hören belegt auch die lange Zeit gültige Genitivrektion bei gehören, wie sie die Beispielsätze (34) bis (38) veranschaulichen. Im zweistelligen Satzbauplan kann der Genitiv als ein noch stärker markierter Obliquus gelten als der Dativ, und insofern weist er zugleich auf die semantische Sonderentwicklung von gehören gegenüber hören hin. Daß der Genitiv schließlich dem Dativ unterlag, ist, wie im Deutschen Wörterbuch schon angedeutet wird, sicherlich nicht nur einer natürlich-sprachlichen Entwicklung (dem Abbau der verbalen Genitivrektion) zuzuschreiben, sondern geht zum Teil auch auf stipulative Richtlinien und Verfügungen zurück, die der Sprache und dem Sprachwandel im Prinzip fremd sind. Bei horchen konsolidiert sich der adverbale Dativ auf analoge Weise wie bei gehören, allerdings mit dem großen Unterschied, daß das Basisverb im 930

DW, IV, 2, Sp. 1811.

gehören und gehorchen

387

heutigen Deutsch insofern nicht mehr in einer paradigmatischen Kasusopposition zu gehorchen steht, als es keinen reinen Kasus mehr regiert. Aus der Analyse geht unzweideutig hervor, daß gehören und gehorchen zu den Schlußlichtern der Verben der GRUPPE Β gehören. Die Begründung für deren adverbalen Dativ ist im wesentlichen paradigmatisch, und obwohl diakritische Aspekte in der gesamten Geschichte des Verbs hören - des Grundworts sämtlicher zur Diskussion stehenden Lexeme - nicht fehlen, haben sie in der Konsolidierung des Dativs eine nur untergeordnete Rolle gespielt, zumal sie auf das Ahd. beschränkt sind.

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

388

IV. 17. verfallen Im Abschnitt ΠΙ.13. haben wir nachgewiesen, daß der adverbale Dativ bei den Präfixverben vergeben und verzeihen ein syntagmatischer Dativ ist. Anders steht es um die Motivation des adverbalen Dativs beim letzten zu behandelnden Verb mit dem Präfix ver-, nämlich verfallen. In der Gegenwartssprache klaffen die Bedeutung der absoluten Verwendungen von verfallen und die Bedeutung der Verwendungen mit adverbalem Dativ ziemlich weit auseinander. Absolutes verfallen bedeutet 'in Verfall sein, geraten' (1), während verfallen + Dativ für 'in jmds. Besitz kommen, von jmdm./etwas abhängig werden' steht, wie z.B. in den Sätzen (2), (3) und (4): (1) (2) (3) (4)

Die grauen Vororte verfallen seit verschiedenen Jahrzehnten Der junge Mann verfiel den Ausgeburten seines Wahns Sie war ganz ihrem Liebhaber verfallen Das Haus am Bodensee verfällt den Nachfahren.

Der adverbale Dativ ist kein Satzglied, das einfach elidiert oder hinzugefügt werden kann, ohne daß sich die Verbsemantik tiefgreifend ändern würde, und er gilt somit nicht mehr als fakultativ. Daß ausschließlich die Verbrektion den semantischen Unterschied bewirkt, geht aus folgenden Minimalpaaren hervor: (2) (2') (3) (3')

Der junge Der junge Das Haus Das Haus

Mann verfiel den Ausgeburten seines Wahns Mann verfiel am Bodensee verfällt den Nachfahren am Bodensee verfällt]

der Wegfall des Dativs ändert den Inhalt notwendigerweise von 'in jmds. Besitz kommen, von jmdm./etwas abhängig werden' zu 'in Verfall sein, geraten'. Der adverbale Dativ gehört somit zum Satzbauplan des zweiwertigen Verbs verfallen. Im umgekehrten Fall, der eintritt, wenn ein Satz mit absolutem verfallen durch ein fakultatives Dativobjekt erweitert wird, entsteht kein entscheidender semantischer Unterschied zum absoluten Gebrauch. Der Dativ erweist sich in dem Fall in der Regel als fakultativer Pertinenzdativ, vgl.: (5) Die schönen Bürgerhäuser verfallen jedes Jahr etwas mehr (5') Ihnen verfallen die schönen Bürgerhäuser jedes Jahr etwas mehr.

verfallen

389

In den literarischen Quellen des Ahd. ist kein Verb firfallan belegt931. Erst seit der mhd. Periode verfügen wir über reichliche Belege. Aus ihnen geht hervor, daß mhd. vervallen meist absolut verwendet wurde. Einerseits sind Verwendungen vorhanden, in denen das Präfix ver- noch eine Verstärkung der Verbsemantik von vollen bewirkt und der Inhalt 'wirklich fallen, zu tief fallen' oder auch 'an einen falschen Ort fallen' noch stark etymologisch ist, wie z.B. in: (6)

Des antwurte im Gregörius vil sere weinende sus: "ouwe, lieber herre, ich bin vervallen verre äne alle mine schulde. " 'Deswegen antwortete ihm Gregörius stark weinend in dieser Weise: "weh, lieber Herr, ich bin tief gefallen ohne jegliches Zutun meinerseits"', Hartmann von Aue.932

Andererseits finden wir bereits übertragene Verwendungen mit dem Inhalt 'zugrunde gehen, verderben', wie in: (7)

dö man mit grözer schände die juden alsus vervallen sach 'als man schandvoll die Juden auf diese Weise untergehen sah' (Ende des 13. Jahrhunderts).933

Obwohl das Mittelhochdeutsche Wörterbuch nur einige wenige Beispiele enthält934, konnte mhd. vervallen offenbar auch transitiv, im Sinne von 'durch fallen kaputt, unbrauchbar machen' verwendet werden. Diese transitive Verwendung ist auch später noch belegt, heute aber nicht mehr möglich: (8)

931

932 933 934

Gäwein und sin geselle Die riten ein geyeile Eins gebirges, daz was wilde, Das Althochdeutsche Wörterbuch nimmt firfallan nicht auf. Graff 1834ff, III, 461 jedoch weist auf einige Glossen hin und gibt sogar einen Beispielsatz (der vermutlich vom Verfasser selbst konstruiert ist). Gregörius, 1777-1781. BMZ, III, 220, 17. s. BMZ, III, 220.

390

(9)

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

Dä mender weges bilde An was noch enschein Wan vil mänic grdzer stein den wec het vervallen 'Gäwein und sein Geselle, die kamen in ein tiefes Tal eines Gebirges, das wüst war, wo keine Art von Weg vorhanden war oder sich sichtbar machte, denn mancher großer Stein versperrte den Weg (war auf den Weg gefallen)', Heinrich von dem Türlin (um 1230)935 hab acht, dasz du nit selbst aus dem sattel reitest, dasz du nit das maul verfallest (d.h.: 'daß du dir nicht durch Fallen das Maul bzw. den Mund beschädigst')·936

In der transitiven Konstruktion weist das Verb oft die Form eines Zustandspassivs auf (d.h. eines prädikativ verwendeten zweiten Partizips), vgl.: (10) Die strassen sind verfallen Von eys vnd auch von schnee 'Die Straßen sind versperrt durch Eis und auch durch Schnee', Clara Hätzlerin (ca. 1430-1476).937 Auch Dativobjekte, die eine Person bezeichnen, kommen vor. Aber in diesen Fällen handelt es sich wieder um einen Pertinenz- oder Zugehörigkeitsdativ, der ganz anderer Natur ist als der adverbale Dativ bei nhd. verfallen in Sätzen wie (2) und (3); vgl.: (11) Und ist daz der mage über get, sö gerastet der überfluz etewenne gein dem houbete, daz dem menschen etewenne diu dren vervallent, daz er ungehoerende wirt 'Und ist es so, daß der Magen überläuft, dann kommt der Überfluß938 irgendwann bis an den Kopf, so daß dem Men-

935 936 937 938

Diu Cröne, 98. DW, XII, 1, Sp. 300; das Zitat ist nicht genau datierbar, sprachlich aber älteres Nhd. Liederbuch, I, 99, 29-32. d.h.: dasjenige, was 'überläuft'.

verfallen

391

sehen irgendwann das Gehör vergeht,939 so daß er taub wird', Berthold von Regensburg (um 1275).940 Die Grundlage des adverbalen Dativs bei verfallen ist eine andere. Die Wurzeln der Dativrektion in zweistelligen Konstruktionen, wie sie u.a. in den Sätzen (2), (3) und (4) zutage tritt, finden sich in der alten juristischen Verwendung 'einem anderen zufallen, daher in fremde gewalt kommen, aus dem bisherigen zustande, besitze in einen andern, in die gewalt eines andern übergehen'941. In dieser Verwendung begegnet verfallen meist in der Form eines zweiten Partizips als Zustandspassiv. Der anscheinend älteste Beleg stammt dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm zufolge aus dem 14. Jh.: (12) wenne ein gotzhusman sinen Herren verratet an lib oder an sinen eren (...) des lib und gut ist dem gotzhus vervallen und nit dem ammann 'wenn ein Höriger eines Klosters auf das Leben oder die Ehre seines Herrn einen Anschlag macht, (...) dann fallen seine Person und seine Güter dem Kloster und nicht dem Gerichtsdiener zu' (14. Jh.)942 (13) welcher mensch diese wort verendert, von des hause sol man einen balcken nemen und auffrichten, und jn dran hengen und sein haus sol dem gericht verfallen sein, Luther943 (14) als guter dem obern verfallen, Johann L. Frisch (1666-1743).944 Einerseits ist der adverbale Dativ in diesen Beispielsätzen paradigmatisch motiviert. Dies ist erkennbar, wenn man die vorigen drei Beispielsätze mit Belegen vergleicht, in denen verfallen zwar ebenfalls zweistellig (und meist auch in der Form eines zweiten Partizips) verwendet wird, jedoch nicht mit einem Dativ, sondern mit einem Akkusativ oder einem Genitiv verbunden wird, vgl.: (15) darnach fragt man, wes ainer schuldig und verfallen wäre, der ain urbargut entlidet 'danach fragt man, was einer schuldig ist, der ein zinstragendes Gut auflöst'945 939 940 941 942 943 944 945

wörtlich: 'die Ohren vergehen'. Die Predigten, hrsg. von F. Pfeiffer (1862), I, 433, 11-14. DW, XII, 1, Sp. 298. DW, XII, 1, Sp. 299. a.a.O. a.a.O. a.a.O.

392

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

(16) Darumb wer sie verfallen das Recht gewest 'Deswegen wäre sie das Anrecht schuldig gewesen' (1498)946 (17) sie sollen Habe, Geld und Land verfallen seyn, Martin Opitz (15971639).947 Die Sätze (12) bis (17) illustrieren auf anschauliche Weise den Unterschied zwischen einer Dativ- und einer Akkusativrektion. Wird verfallen mit einem Dativ verbunden, impliziert dies, daß das Subjekt selbst der im Dativ genannten als Eigentum zufallt. Wird verfallen hingegen mit einem Akkusativ verbunden, geht das Subjekt keineswegs in eine andere Gewalt über, vielmehr wird ausgesagt, daß das Subjekt einer anderen Person oder Instanz die im Akkusativ oder Genitiv genannte Größe schuldig ist. Andererseits können beide Rektionen auch miteinander kombiniert werden. In derselben frühnhd. Periode kommen nämlich auch dreistellige Verwendungen von verfallen als zweites Partizip vor, in Verbindung mit Dativ und Akkusativ oder Dativ und Genitiv. In solchen Konstruktionen ist der Dativ syntagmatisch motiviert: (18) hette auch ein herre mit deheine sime manne icht zu schaffen oder ob er im icht verfallen were, wollen wir daz er sich mit mie948 riechte minnecliche oder rechtecliche 'Wenn ein Herr mit irgendeinem seiner Männer etwas zu tun hat oder wenn er ihm etwas schuldig ist, wollen wir, daß er sich mit ihm friedlich und gerecht aussöhnt' (1340)949 (19) wer den andern anspricht umb ein e (...), so ist er vervallen den burgern zehen pfund 'wer jemanden in bezug auf ein Gesetz anklagt, der ist den Bürgern zehn Pfund schuldig' (1501)950 (20) der solle dem andern das ross mit samt dem schmucke verfallen sein, Hans von Schweinichen (1552-1616).951 Der Dativ bezeichnet die Instanz, der etwas anheimgefallen ist, der Akkusativ oder Genitiv hingegen dasjenige, was einer fremden Gewalt zuteil wird. Später tauchen zweistellige Konstruktionen von verfallen auf, die ge-

946 947 948 949 950 951

Das Stadtbuch von Karpfen, 22, 12. Adelung 1793ff, IV, Sp. 1028. höchstwahrscheinlich eine Verschreibung für ime. DW, XII, 1, Sp. 299. a.a.O. a.a.O.

verfallen

393

nealogisch als eine Valenzreduktion dieser dreistelligen Konstruktionsweise zu betrachten sind, z.B.: (21) sy, so bistu nur mit einem guten trinkgelt verfallen, Hans Wilhelm Kirchhof (1525-1603)952 (22) dasz er bei der ersten besitzerin des hauses versetzt worden und ihr für aufgelaufene Zinsen verfallen sei, Moritz August von Thümmel (17381817).953 Auch in den Sätzen (21) und (22) begegnen wir einem adverbalen Dativ. Dieser darf mit dem adverbalen Dativ in den Sätzen (12) bis (14) jedoch nicht in einen Topf geworfen werden. In (21) und (22) fallt das Subjekt nicht der durch den Dativ bezeichneten Instanz anheim, sondern das Subjekt ist der im Dativ genannten Instanz etwas schuldig, in der Regel etwas, das zwar bekannt ist, jedoch nicht ausgedrückt wird. Die Umschreibung der Redebedeutung ist hier also nicht 'jmdm. als Eigentum zufallen', sondern 'bei jmdm. Schulden haben'. Obwohl verfallen, wie wir festgestellt haben, sehr oft in der Form eines zweiten Partizips verwendet wird, sind durchaus auch aktive, dreistellige Verwendungen bekannt, z.B.: (23) sy wolten nit sagen, was er verbrochen habe, wan ob ainer gar vil gütz hette, das ertaile man doch dem künig nit oder er verfalle im des nit, sonder er verfalle im den leip 'sie wollten nicht sagen, welches Verbrechen er verübt hat, denn wenn einer viele Güter hätte, würde man sie nicht dem König übergeben oder wäre er sie ihm nicht schuldig, sondern er wäre ihm den Leib schuldig (d.h.: 'er würde zum Leibeigenen')' (15. Jh.)954 (24) dem schuldherren um schuld den lyb verfallen: jm für leibeigen zugesprochen werden (d.h.: 'dem Gläubiger wegen einer Schuld zum Leibeigenen werden').955 Auch die aktiven Verwendungen können zweistellig sein, ohne Dativobjekt, z.B.:

952

954 955

a.a.O. a.a.O. DW, XII, 1, Sp. 300. Μ aaler 1561, 418, Sp. 1.

394

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

(25) denn ein jglicher hat gerne in seinem haus friede und wer jm denselben nemen wil, der hat den hals verfallen 'denn jeder hat gern Ruhe in seinem Haus, und wer ihm diese Ruhe nehmen will, ist seinen Hals schuldig (d.h.: 'verdient die Todesstrafe')', Luther®56 (26) so woll ich leib und leben verfallen, wenn nicht in vier und zwantzig stundt den herrn ich mach frisch und gesundt 'ich will Leib und Leben schuldig sein, wenn ich nicht innerhalb von 24 Stunden den Herrn frisch und gesund mache', Jakob Ayrer der Ältere (15441605).957 Daß verfallen sowohl in dreistelligen als auch in zweistelligen Konstruktionen mit adverbalem Dativ (vgl. Satz [11] bis [13]) aufgrund stilistischer Präferenzen vorwiegend die Form eines Zustandspassivs aufweist und daß das zweite Partizip in einigen Fällen nahezu den Charakter eines prädikativen Adjektivs hat, trübt einigermaßen den Zusammenhang mit den aktiven Verwendungen. Das Deutsche Wörterbuch läßt sich von dieser stilistischen Gewohnheit sogar etwas verblenden und behandelt beide Verwendungen getrennt.958 Die oben erwähnte Umschreibung von verfallen und verfallen sein im Deutschen Wörterbuch ist denn auch nicht ganz korrekt. Eine semantische Umschreibung des Verbs, die für alle Verwendungen zutrifft, wäre ganz einfach 'übergeben'; weitere Unterschiede sind der Diathese zuzuschreiben. Nach der frühnhd. Periode sind keine aktiven Verwendungen von verfallen im juristischen Sinn mehr zu belegen und ist nur noch das Zustandspassiv belegt (vgl. z.B. das Grammatisch-kritische Wörterbuch von Chr. Adelung, das nur Zustandspassive verzeichnet)959. Es ist mithin zumindest fraglich, ob das Verb damals in der Verwendung 'übergeben' noch ein vollständiges Konjugationsparadigma aufwies und ob es nicht vielmehr defektiv oder sogar zu einem Adjektiv geworden war. Erst später hat sich aus verfallen 'übergeben' (oder passivisch: 'in eine fremde Gewalt übergeben') mittels einer Übertragung die moderne Verwen-

956 957 958 959

DW, XII, 1, Sp. 300. a.a.O. s. DW, XII, 1, Sp. 298 und 300. Adelung 1793ff., IV, Sp. 1028-1029.

verfallen

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dung 'von etwas abhängig werden, in die Macht von etwas kommen' entwickelt. Im Zuge dieser Übertragung hat sich das vollständige Konjugationsparadigma sozusagen regeneriert, wobei man vom Zustandspassiv (oder dem prädikativ verwendeten zweiten Partizip) ausging. Aufgrund einer "falschen Analyse" wurde verfallen als ein rein intransitives Verb aufgefaßt, das nicht über die Möglichkeit verfugt, ein Akkusativobjekt zu sich zu nehmen, und das Perfektformen mit dem Hilfsverb sein bildet. Dieser Zustand tritt etwa am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts ein; er kündigt sich u.a. bei Friedrich Schiller an, bei dem das Verb noch als 'Besitz werden' aufzufassen ist, vgl.: (27) die schöne locke, dieses seidne haar, verfallen schon den finstern todesmächten, gebraucht, den Sklaven ewig zu umflechten, Schiller.960 Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts sind die ersten Beispiele des heutigen Verbs verfallen im Sinne von 'von etwas abhängig werden, in die Macht von etwas kommen' zu verzeichnen, meist noch in der Form eines Zustandspassivs, z.B.: (28) ganz Preuszen war allmählich diesem geiszel verfallen (1854)961 (29) Das Verderbnis, dem die Kartoffel verfallen zu sein scheint, Hermann Burmeister (1807-1892).962 Die Konstruktionsweise mit einem Präpositionalobjekt, die sich bei verfallen entwickelt hat - es handelt sich um Präpositionalobjekte mit in und mit auf -, ist nicht als ein Ersatz für Konstruktionen mit einem Dativobjekt zu betrachten. In einer Fügung wie: (30) auf ein einfaches Mittel verfallen963 bezeichnet verfallen 'unerwartet auf etwas kommen', und die Fügung hat auch eine andere Herkunft als die Konstruktion mit adverbalem Dativ. Satz (30) schließt nämlich beim alten Kern 'wirklich fallen, zu tief fallen' und 'an einen falschen Ort fallen' an, wie er noch im Mhd. üblich war (vgl. Satz [5]). Bei seinem Erscheinen im 18. Jh. war verfallen auf noch ausgespro960

DW, XII, 1, Sp. 299.

961

Heyne 1905f, III, 1190, Sp. 2. Sanders 1876,1, 403, Sp. 2.

962

963

WDG, VI, 4042, Sp. 2.

396

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

chen negativ konnotiert: Dasjenige, worauf man verfiel, wurde als falsch oder unerwünscht eingestuft, vgl.: (31) er verfällt aufs böse** (32) wie konnten sie darauf verfallen, dasz die gelindigkeit der aldermänner (...) die so vielpöbels als sie wollen landes verweisen können, allein schuld daran wäre, dasz (•••), Klopstock;965 am Anfang des 19. Jahrhunderts wandelt sich das Unerwünschte zum Unerwarteten: (33) indem ich als mensch auf den allertollsten gedanken verfalle, Ludwig Tieck (1773-1853).966 Gemäß dem Deutschen Wörterbuch erscheint seit dem 17. Jh. bei verfallen das Präpositionalobjekt mit in, z.B.: (34) in straf verfallen 'mulctamfacere'967 (35) er verfiel in Wahnsinn, Christian Weise (1642-1708)968 (36) Er verfiel in seine gewohnheitsmäßige Unentschlossenheit. Auch hier handelt es sich nicht um einen Ersatz des Dativs, und zwar aus zwei Gründen nicht. Erstens ist die Konstruktion mit dem Präpositionalobjekt mit in älter als die Übertragung von jmdm. verfallen sein 'jmdm. als Eigentum zufallen' zu 'in die Macht von etwas kommen', die erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts voll entwickelt ist. Von einem Ersatz des Dativs durch die Präpositionalphrase kann diachronisch also nicht die Rede sein. Die Konstruktionsweise mit in kann historisch ebensowenig auf verfallen + Dativ 'in eine fremde Gewalt kommen' zurückgehen, außerdem stammt sie nicht aus der juristischen Sphäre. Ansatzpunkt ist wieder der alte Kern 'wirklich fallen, zu tief fallen' und 'an einen falschen Ort fallen'.969 Vorläufer dieser Konstruktionsweise finden sich unter reflexiven (transitiven) Verwendungen wie:

964 965 966 967 968 969

Steinbach 1734,1, 376. DW, XII, 1, Sp. 298. a.a.O. Stieler 1691, Sp. 424. DW, XII, 1, Sp. 298. vgl. DW, XII, 1, Sp. 297 und 298.

verfallen

397

(37) sich in sünde vervallen (14. Jh.)970 (38) eine grosze schlänge verfiel sich in eine hole, Philipp Melanchthon (1497-1560).971 Im Gegensatz zu verfallen auf ist die negative Konnotation bei verfallen in bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. Die unterschiedliche Herkunft von verfallen + Dativ und verfallen + Präpositionalobjekt mit in ist zweitens auch daran erkennbar, daß beide heute nicht ohne weiteres austauschbar sind. Zwar sind beide Normbedeutungen miteinander verwandt,972 aber in Konstruktionen mit einem Präpositionalobjekt handelt es sich um einen vorübergehenden, oft auch plötzlichen Zustand (vgl. Satz [39]), während verfallen + Dativ in der Regel für ein dauerhaftes Verfallensein steht, für einen Zustand der Gebundenheit und Abhängigkeit (s. Satz [40]): (39) ein wahn, in den man leicht verfällt, wenn man einem Meister zusieht, dem alles bequem von der hand geht, Goethe973 (40) Er verfiel dem Wahnsinn. Der Gebrauch eines Dativobjekts oder eines Präpositionalobjekts bewirkt auch bei anderen Verben ähnliche Nuancierungen. Wenn es historisch aber um einen Ersatz des Dativs durch ein Präpositionalobjekt geht, tritt meist das umgekehrte Verhältnis ein. Die Konstruktion mit einem Präpositionalobjekt intensiviert in der Regel die Verbsemantik, was z.B. bei ich glaube dir vs. ich glaube an dich der Fall ist. Das Präpositionalobjekt kann auch dazu dienen, das Objekt im Vergleich zum Dativ stärker hervorzuheben, z.B.: ich sage es dir vs. ich sage es zu dir. Bei verfallen ist es indes die Verbindung mit dem adverbalen Dativ, die die intensivierende ist. Überblicken wir die Lage für verfallen historisch, dann muß zunächst bemerkt werden, daß verfallen mit adverbalem Dativ heute nur zusammen mit dem absolut verwendeten verfallen ein Paradigma bildet. Der Ursprung der heutigen Verwendung mit adverbalem Dativ liegt im Frühnhd., und das Verb erweist sich dann als ein charakteristisches Verb der GRUPPE B . Verfallen mit adverbalem Dativ 'jmdm./einer Sache als Eigentum zufallen' bil-

970 971 972 m

MH, III, Sp. 284. DW, XII, 1, Sp. 300. vgl. WDG, VI, 4042. DW, XII, 1, Sp. 298.

398

Der syntagmatisch-paradigmatische Dativ

dete anfangs einerseits eine paradigmatische Opposition zu verfallen mit Akkusativ oder Genitiv 'übergeben müssen', andererseits konnten Dativ und Akkusativ/Genitiv syntagmatisch zu einer einzigen syntaktischen Konstruktion verbunden werden. Transitives verfallen im Sinne von 'durch Fallen kaputt machen', das historisch belegt ist (vgl. Satz [7] und [8]), ist bereits früh, spätestens seit dem Aufkommen der juristischen Verwendung von verfallen (s. Sätze [12], [13] und [14]), als ein Homonym einzustufen; es stand - obwohl letztlich ein gemeinsamer Ursprung vorliegt - in keiner paradigmatischen Opposition zu verfallen + adverbalem Dativ. Erst um 1800 entsteht durch Übertragung aus verfallen 'als Eigentum zufallen' das moderne verfallen + Dativ 'in die Macht von etwas kommen'. Die Konstruktionen mit einem Präpositionalobjekt {auf und in) sind nicht einfach Varianten der zweistelligen Konstruktion mit adverbalem Dativ, sondern sie gaben im Laufe der Sprachentwicklung zu eigenen Normbedeutungen Anlaß, die sich im Paradigma des Verbs verfestigt haben.

V. Gruppe C: Der paradigmatische Dativ

V.O. Allgemeine Charakterisierung der Verben der G R U P P E C In den beiden vorigen Kapiteln haben wir zwei Typen des adverbalen Dativs analysiert. Den ersten Typ (GRUPPE A) haben wir als das Ergebnis einer syntaktischen Vereinfachung eines ursprünglich dreistelligen Valenzrahmens zu einem zweistelligen Valenzrahmen ohne Akkusativ- oder Genitivobjekt beschrieben. Der zweite Typ (GRUPPE B) ist der Dativ bei Verben, die in erster Linie absolut (einstellig) oder zweistellig gebraucht werden, vereinzelt aber auch in dreistelligen Konstruktionen vorkommen und deren potentielle Mehrstelligkeit darauf hinweist, daß der Objektskasus bei diesen Verben im Laufe der Sprachgeschichte Wandlungen unterlag, die bald auf syntagmatische, bald auf paradigmatische Motive schließen lassen; diese Motive, so stellte sich heraus, können sich darüber hinaus gegenseitig beeinflussen. Bereits bei der Analyse der Verben der GRUPPE Β war es notwendig, das Phänomen des rein paradigmatisch bedingten adverbalen Dativs zu streifen (s. § IV.0.). Besonders deutlich tritt der paradigmatische Dativ bei jenen Verben zu Tage, bei dem der Dativ auf einer Valenzerweiterung einer ursprünglich einstelligen Verwendung eines Verbs beruht. Die profilierte Erscheinung, bei der der einstellige Gebrauch eines Verbs dem zweistelligen Gebrauch desselben Verbs mit adverbalem Dativobjekt gegenübersteht, ist in der Sprache jedoch etwas Seltenes. In ihr begegnet man sehr viel häufiger schwächeren Formen paradigmatischer Kasusbegründung, vor allem solchen, in denen der Dativ als der Kasus eines Aktanten in einem spezifischen Bedeutungsansatz des Verbs einem anderen Obliquus (dem Akkusativ oder Genitiv) gegenübersteht, der als Objektkasus in einem anderen Bedeutungsansatz des Verbs fungiert. Beispiele dafür sind die adverbalen Dative bei Verben wie schmecken und grollen, deren Dativrektion nicht nur auf einer Valenzerweiterung beruht, sondern tatsächlich zugleich zu einer Akku-

400

Der paradigmatische Dativ

sativrektion in Opposition steht, wenn auch in unterschiedlichem Maß (s. § V . l . und § V.2.). Im folgenden interessiert uns speziell jene Form von paradigmatischer Kasusopposition zwischen Dativ und Akkusativ bzw. Genitiv, bei der ein Verb sowohl einstellig wie auch zweistellig verwendet werden kann und bei der syntagmatische Motive keine (oder so gut wie keine) Rolle spielen. In der Gesamtheit der Sprachgeschichte tritt das Verb in zweistelligen Satzbauplänen bald in Verbindung mit einem Dativobjekt, bald in Verbindung mit einem Akkusativobjekt, in der älteren Sprache indes häufig auch in Verbindung mit einem Genitivobjekt, hervor. Das Phänomen der Kasusopposition in der Objektstelle und der entsprechende Typ von paradigmatischem adverbalem Dativ stellen sich im Bereich der verbalen Valenz in allen Entwicklungsstufen des Deutschen als durchaus produktiv heraus. Typisch für die Verben der GRUPPE C ist, daß sie, anders als die Verben der GRUPPE Α und B, nicht in dreistelligen Satzbauplänen belegt sind. Wir haben bereits auf einige Gründe hingewiesen, weshalb der Dativ als der Kasus der sog. "Inkohärenz" bezeichnet werden kann (dies u.a. auch im Kontrast zum Akkusativ als dem Kasus der "Kohärenz", d.h. des engen Verhältnisses zwischen Subjekt, Verb und Objekt).1 Der Dativ ist bereits im Indogermanischen syntaktisch ein verhältnismäßig frei verwendbarer Kasus, der eine ziemlich lockere Beziehung zwischen der Verbalhandlung und einer Instanz oder Person herstellt, meist ohne den Inhalt der eigentlichen Verbalhandlung zu modifizieren. Die freiere Verwendung des Dativs erreicht ihren Höhepunkt im sog. ethischen Dativ (dativus ethicus), der in nahezu allen Sätzen grammatisch möglich ist. Die gemeinte größere Freiheit des Dativobjekts tritt aber auch oft beim Pertinenzdativ, beim dativus commodi oder incommodi sowie beim dativus judicantis zutage. Die Tatsache, daß die Freiheit zumindest des rein syntaktisch zugewiesenen Dativs (im Gegensatz zum präpositionalen Dativ) im heutigen Deutsch vor allem im Kontrast zum Akkusativobjekt gilt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß bis ins 18. und 19. Jh. der Akkusativ als Verbalkasus auch vom Genitiv erhebliche Konkurrenz erfuhr. Vom diachronischen Standpunkt ist entscheidend, daß beide Kasus - als Verbalkasus - seltener als das Dativ-

'

In Willems 1997, Kap. 6 wird die Ansicht verteidigt, daß der sog. "inkohärente" Stellenwert der dativischen Größe bis in die deutsche Gegenwartssprache auf die paradigmatisch-syntagmatisch fundierte Kembedeutung des Dativs zurückgeführt werden kann.

Allgemeine Charakterisierung

401

Objekt im strengen Sinn "fakultativ" sind.2 Im Hinblick auf die deutsche Gegenwartssprache werden wir das vor allem am Kontrast zwischen Dativ und Akkusativ nachweisen, aber im Prinzip gilt das für den Genitiv nicht minder als für den Akkusativ. Entscheidend ist: Dort, wo sowohl eine transitive wie eine intransitive Verwendung möglich ist, verändert sich der Inhalt oder die Perspektive der Verbalhandlung grundsätzlich, wenn das Akkusativobjekt oder Genitivobjekt einfach ausgelassen wird, vgl.: Ich trinke Wein und Ich trinke des Weines (veraltet)3 vs. Ich trinke. Inwiefern das im Hinblick auf den Dativ nicht gilt, ist nun zu zeigen.

2

3

Der hier gemeinte Unterschied ist kein prinzipieller, sondern ein frequenzmäßiger. Normalerweise aber setzt die Möglichkeit, ein Akkusativobjekt oder ein Genitivobjekt auszulassen, mehr und auch stärker situationeil bedingte Präsuppositionen (in bezug auf den Redezusammenhang, das Weltwissen usw.) voraus, als beim Dativobjekt der Fall ist. vgl. Sütterlin 1918, § 377f.

Der paradigmatische Dativ

402 V . l . schmecken

Ein ursprünglich fakultativer Dativ kann in bestimmten Verwendungen allmählich zu einem festen Glied des Satzbauplans eines Verbs werden und so seinen freien Charakter mehr oder weniger verlieren. Die Verselbständigung des erweiterten Satzbauplans ist ein gradueller Vorgang, da ein syntaktisch freier Dativ den ursprünglichen Verbinhalt im Grunde nicht modifiziert. Ein prototypisches Beispiel, an dem sich dies besonders deutlich nachvollziehen läßt, ist das Verb schmecken, auf das wir in diesem Abschnitt etwas tiefer eingehen wollen. Im Ahd. ist smecchen ein transitives Verb mit der Bedeutung 'schmecken, kosten', aber auch 'erkennen' oder 'verstehen'.4 Das Verb regiert den Akkusativ, wobei das Objekt des Verbs sowohl eine Sache (1) wie eine Person sein kann (2)5, vgl.: (1)

(2)

Übe aber uuir föne dien fldelibus die die medullam expresserant ieuuiht suözzeren dinges kesmecchet eigen 'Wenn wir aber von den fidelibus, die die medullam expresserant irgendein süßeres Ding6 geschmeckt haben', Notker7 Sin uuort ist er . uuanda er getuöt in menniscon chunt. also er oüh sin sapientia (kesmecheda) ist. uuanda er in sie getudt sapere (smechen)8 'Er ist sein Wort, denn er tut es den Menschen kund, wie er auch seine sapientia (sein 'Geschmack') ist, weil er dafür sorgt, daß sie ihn sapere ('schmecken', d.h.: 'verstehen')', 9 Notker.10

Bei Otfrid fehlen Belege mit smecchen und erscheint nur die präfigierte Form gismeken. Das Verb regiert aber ausnahmslos den Genitiv und bedeutet 'kosten (von)' oder 'genießen'11, z.B.:

4

5 6 7 8

9 10 11

AW, 262, Sp. 2; vgl. Sehrt 1962, 191, Sp. 1. Das entsprechende Nomen lautet smag, bei Notker allerdings gesmagmo 'Geschmack', s. AW, 262, Sp. 2 und Sehrt 1962, 74, Sp. 2. vgl. Sehrt 1962, 191, 1. wörtlich: 'irgend etwas süßeren Dinges'. Piper, II, 544, 30 - 545, 2. Die nichtkursiven Lexeme zwischen runden Klammern sind interlineare Übersetzungen des Notker-Glossators. wörtlich: 'weil er ihn sie tut sapere ('schmecken'). Piper, II, 15-17. s. AW, 262, Sp. 2.

schmecken

(3)

403

thaz uuir ni uuerden einon thero goumöno ädeilon Thes uuäzeres gesmeken ioh uuir then sens intheken 'damit wir nicht die einzigen sind, die der Speise unteilhaftig bleiben und (nur) vom Wasser kosten, und (damit) wir auch den Sinn entdecken', Otfrid.12

Dativrektion kommt im klassischen ahd. Korpus mithin noch nicht vor. Anders steht es um das Verb smecken im Mhd. Die Unterscheidung zwischen den beiden Bedeutungsansätzen, die bis heute bewahrt geblieben sind, tritt erst im älteren Ahd. bzw. frühen Mhd. hervor. Das Etymologische Wörterbuch des Deutschen hebt das transitive (gi-)smecken ( < vom kausativen "gismakjan) von einem etwas jüngeren intransitiven Verb (gi-)smacken ab, das 'Geschmack, Geruch von sich geben, schmecken, riechen' bedeutet.13 Die beiden Bedeutungsansätze sind demnach in die eine Form mhd. smecken zusammengefallen. Das transitive smecken behält im Mhd. die Akkusativ- und Genitivrektion bei; letztere hat partitiven Charakter. Das Verb bezieht sich sowohl auf den Geruchssinn (4) wie auch auf den Geschmackssin (5), kann darüber hinaus aber auch allgemein für 'durch die Sinne wahrnehmen' stehen (6), vgl.: (4)

(5) (6)

ez smecket, so manz iender reget, alsam ez allez baisame si 'es duftet, wenn man es auch nur ein bißchen berührt, als ob es Balsam wäre', Walther von der Vogelweide14 den siechen dunchet wie er win smeche in dem halse 'Dem Kranken war, als schmecke er Wein in der Mundhöhle'15 die geir smeckent daz äs über mer, reht als der adlar tuot 'Die Geier nehmen das Aas über dem Meer wahr, genau wie der Adler', Konrad von Megenberg (ca. 1309-1374).16

Das ahd. gismeken, dem wir bei Otfrid begegnet sind und das bei ihm den Genitiv regierte, lebt weiter in Verbindungen wie:

12 13 14 15 16

Piper, II, 9, 4-5. Pfeifer 1993, 1221, Sp. 1; (gi-)smacken fehlt im Althochdeutschen Wörterbuch. Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 54, 13-14. BMZ, II/2, 418, 31-32. Das Buch der Natur, 229, 8-9.

404 (7)

Der paradigmatische Dativ

daz diu sele tngebildet wirt in die ersten lüterkeit (...), da si gotes gesmecket 'daß die Seele in die erste Lauterkeit hineingebildet wird, wo sie Gott wahrnimmt', Meister Eckhart.17

Hinzu kommt die Möglichkeit, das Verb smecken mit einer Präpositionalphrase zu verbinden, z.B.: (8)

als ir smecket nu dar an 'wenn ihr nun daran riecht'.18

Das intransitive smecken dagegen wird ursprünglich absolut verwendet und kann eventuell durch eine präzisierende Präpositionalphrase ergänzt werden, vgl.: (9)

do der stean wart abe gehoben, so vil suozer er smacte 'als der (Grab-)Stein abgehoben wurde, brachte er (der Körper des hl. Servatius) einen lieblichen Geruch hervor' (um 1190)19 (10) der kern smeckt niendert sam der ander pfeffer 'der Kern des Pfeffers schmeckt durchaus nicht wie der Rest der Frucht', Konrad von Megenberg (ca. 1309-1374)20 (11) einfleuma, daz smechet näch ezzich.21 Es ist dieses intransitive smecken, das im Satzbauplan durch ein weiteres Dativobjekt ergänzt werden kann. Dieses Objekt nennt das Lebewesen, das das im Subjekt Genannte schmeckt, riecht oder anderweitig mit den Sinnen wahrnimmt, vgl.: (12) Sant Augustinus gedahte von dirre spise, do gruwelte im und ensmeckete im niht 'Sankt Augustin dachte über diese Speise nach, da graute ihm und sie schmeckte ihm nicht', Meister Eckhart22 (13) sidt das im smeckt des schmeres rouch 'seitdem er den Geruch des Fettes gewahr wurde', Sebastian Brant (1458-1521)23

17 18 19 20 21 22 23

Predigten, hrsg. von J. Quint, I, 56, 1-2. BMZ, II/2, 418, 21-22. Sanct Servatius, 2218-2219. Das Buch der Natur, 373, 35. BMZ, II/2, 418, 37-38. Predigten, hrsg. von J. Quint, I, 331, 3-4. Das Narrenschiff, 52, 23.

schmecken

405

(14) du smeckest mir baz denn alle die prunnen,24 Die Beispiele (12), (13) und (14) zeigen, daß der adverbale Dativ bei smecken ursprünglich gleichsam eine Art Umstandsangabe ist; smecken + Dativ der Person 'jmdm. eine (meist) angenehme Empfindung im Mund geben' ist eine Erweiterung von smecken in absoluter Verwendung (das, wenn keine nähere Bestimmung hinzukommt, in der Regel 'einen angenehmen Geschmack von sich geben' - also 'gut schmecken' - bedeutet). Die Erweiterung verändert die Verbsemantik, so wie sie im absolut verwendeten Verb hervortritt, nicht;25 vgl. die beiden Sätze: (15) Der Fisch schmeckt (16) Der Fisch schmeckt mir. Damit hebt sich die Erweiterung des Satzbauplans durch den Dativ deutlich vom transitiven Gebrauch des Verbs in Verbindung mit einem Akkusativobjekt ab, z.B.: (17) Man schmeckt nur Salz/Pfeffer/Knoblauch 'Man nimmt - mit dem Geschmackssinn - nur Salz usw. wahr'26 (18) Er schmeckte den Rotwein kennerisch mit der Zunge 'Er kostete den Wein kennerisch mit der Zunge'.27 In den Sätzen (17) und (18) erscheint die Handlungsperspektive im Vergleich zur absoluten Verwendung in (15) umgedreht. In Satz (15) wird ausgesagt, daß das Essen (der Fisch), das im Satz als das Subjekt erscheint, einen Geschmack hat. In Satz (18) ist es aber nicht das Subjekt, sondern das Akkusativobjekt, das einen Geschmack hat, und dieser Geschmack wird vom Subjekt, einem Lebewesen, wahrgenommen, gekostet oder geprüft. Entsprechend kann das Objekt, das im Akkusativ steht, auch unausgedrückt bleiben: (18')

Er schmeckte mit der Zunge.™

Ambiguitäten sind im Prinzip formal bedingt, vgl.: Es schmeckte 'Das Essen schmeckte' vs. 'Das Kind schmeckte (das Obst)'.

24 25 24 27 28

BMZ, II/2, 418, 40-41. vgl. Wegener 1985, 151-154. WDG, V, 3253, Sp. 2. vgl. a.a.O. DUW, 1336, Sp. 1.

406

Der paradigmatische Dativ

Aufgrund des Unterschieds, der zwischen (15), (16) und (17), (18) festgestellt werden kann, zwei homonyme Verben mit einer einzigen homophonen Form anzusetzen, wäre jedoch irrig. Die Ebene der lexikalischen Semantik kann auch in diesem Fall genau von der Ebene der syntaktischen Semantik unterschieden werden. Wir sahen, daß Differenzen auf einer der beiden Ebenen nicht automatisch Differenzen auf der anderen Ebene implizieren, und so besagt die Tatsache, daß eine einzige Verbform verschiedene Valenzrahmen aufweisen kann, auch nicht, daß der einen sprachlichen Form verschiedene Wörter (d.h. also Lexeme als Form/Bedeutungsgebilde) entsprechen. Der - allgemeine und syntaktisch imbestimmte - Bedeutungskern des Verbs schmecken, der den beiden unterschiedenen Verwendungen zugrunde liegt, kann nicht konkreter umschrieben werden als: 'es betrifft den Geschmack'. Dieser lexikalische Kern wird in den absoluten Verwendungen mit nur einem nominativischen Subjekt als 'einen Geschmack haben' realisiert, einen Geschmack, der im absoluten Gebrauch des Verbs im Normalfall (d.h. also aufgrund der "prototypischen" Sprechsituation) gut ist, jedoch näher spezifiziert werden kann (positiv oder negativ), wenn Kound/oder Kontext dies verlangen, z.B.: es schmeckt ausgezeichnet/widerlich usw. Man kann das Verb darüber hinaus in Verbindung mit einem Dativobjekt verwenden, und dieses nennt dann das Lebewesen, das den Geschmack empfindet. Das Dativobjekt ändert die Verbalperspektive mithin nicht, diese fußt darauf, daß der Geschmack dem Subjekt innewohnt. Im Gegensatz dazu bewirkt eine zweistellige Realisierung mit einem Akkusativobjekt eine vollständige Umwandlung in der Verbalperspektive: Das Subjekt geht dem Geschmack nach, der dem Akkusativobjekt innewohnt. Die Tatsache, daß ein Akkusativ die Perspektive der Verbalhandlung bestimmt, ist auch bei Verben zu beobachten, die normalerweise kein Dativobjekt zu sich nehmen, vgl. folgende Kontrastpaare: (19) (19') (20) (20') (21) (21') (22) (22')

Die Fahnen schwingen im Wind Ich schwinge die Fahnen Der Braten bräunt im Ofen Ich bräune den Braten Der Wagen rollt über den Weg Ich rolle das Faß in den Keller Das Fleisch röstet in der Pfanne Ich röste das Fleisch in der Pfanne

schmecken

(23) (23') (24) (24') (25) (25')

407

Der Sportler stürzt aus dem Fenster Der Sportler stürzt seinen Freund aus dem Fenster Das Bier gärt im Faß Der Brauer gärt das Bier Der alte Soldat riecht Der alte Soldat riecht die warme Suppe usw.

Im ersten Satz der obigen Beispielpaare bezieht sich die Verbal "handlung" jeweils dergestalt auf das Subjekt, daß in ihm der durch das Verb ausgedrückte Vorgang oder Zustand im Subjekt entweder stattfindet (gären) oder an ihm hervortritt (riechen) bzw. sich an ihm zeigt (bräunen, rösten), oder sich durch das im Subjekt Genannte selbst realisiert (rollen) usw. Das Gemeinsame an allen diesen subjektbezogenen Verwendungen erhellt am deutlichsten aus einem Vergleich mit dem zweiten Satz der jeweiligen Beispielpaare, in denen die Perspektive gerade umgekehrt ist und die Verbalhandlung auf das Akkusativobjekt verlagert ist.29 Die Entwicklung auf dem Gebiet der Kasusoppositionen, die mit der allgemeinen Systematik der Kasuskernbedeutungen zusammenhängt, kreuzt sich mit allgemeinen Tendenzen auf der Ebene der Sprachnorm sowie auf der Ebene des Sach- und Weltwissens. Zu letzterem gehört in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache, daß es in der Regel ein Lebewesen (ein Mensch oder ein Tier) ist, das etwas anderes schmeckt (kostet, prüft), was sich in dem Verhältnis zwischen persönlichem Subjekt und sachlichem Objekt in den transitiven Konstruktionen niederschlägt: [Subjekt+ Utewtsen + [schmecken + Objekt im Akkusativ. UbewcsHJ].

Ganz anders die intransitive Konstruktion, die entsprechend anhand eines zusätzlichen Dativobjekts ausgebaut werden kann: 29

Im großen ganzen sind solche Oppositionen bei ein und demselben Verb erwartungsgemäß nicht besonders zahlreich. Darüber hinaus wird im Deutschen ein Perspektivwechsel meist morphologisch oder syntaktisch signalisiert: Bei starken Verben existiert oft ein verwandtes schwaches Verb (das auf ein altes -jan-Verb zurückgeht), z.B. sinken/senken, verschwinden/verschwenden, schwanken/schwenken·, ansonsten ist nur eine syntaktische Konstruktion mit lassen produktiv, fliegen/etwas fliegen lassen, spielen/etwas spielen lassen. Verbpräfixe haben zwar eine transitivierende Funktion, sie bewirken aber meist, daß die Verbalhandlung trotz der Transitivierung eben nicht zum Objekt wechselt, vgl. beispielsweise: schauen/anschauen, herrschen/beherrschen, niesen/beniesen, gießen/vergießen usw.

408 [[Subjekt im Nominativ.

Der paradigmatische Dativ + schmecken] + Dativobjekt].

Einem ähnlichen syntagmatisch-paradigmatischen Kontrast sind wir schon bei einigen Verben der GRUPPE Β begegnet, vor allem bei helfen, dort allerdings lediglich historisch und auch im umgekehrten Sinn (sachliches Subjekt > Akkusativrektion; persönliches Subjekt > Dativrektion, s. § IV.7.). Anders als beim Kasusrahmen von helfen ist das genannte syntagmatisch-paradigmatische Motiv bei einem Verb wie schmecken auch heute noch produktiv.

grollen

409

V.2. grollen Auch das Verb grollen kann heute sowohl absolut wie in Verbindung mit einem Dativ der Person gebraucht werden; daneben ist auch die Verbindung mit einer Präpositionalphrase {grollen mit) möglich. Im Mhd. kommt es in der Form grüllen vor und kann es ein Präpositionalobjekt mit üf regieren, das die Person nennt, der man böse ist.30 Von diesem Präpositionalobjekt ist im späteren Deutsch keine Spur mehr erhalten, und das Verb wird nur noch absolut verwendet. Grollen ist onomatopoetischer Herkunft. Es bezeichnete ursprünglich nicht nur die Verstimmung, sondern auch die damit einhergehenden murrenden Töne. So erklären sich die Verwendungen, wobei auch Tiere oder sogar etwas Unbelebtes grollen·. (1) (2)

dönet im (dem unsettigen frasz) der magen, grollet ihm der bauch, Caspar Huber (1500-1553)31 das dumpfe grollen eines gorillas, Alfred Brehm (1829-1884).32

Heute bezeichnet grollen bei unbelebtem Subjekt ein dumpfes Dröhnen oder Rollen, vor allem in bezug auf den Donner oder ähnliches. Das adverbale Dativobjekt bei grollen erscheint dagegen in der Verwendung 'verstimmt, böse sein', und dies erst ziemlich spät. Der älteste Beleg mit einem Dativobjekt, den das Deutsche Wörterbuch verzeichnet, ist Schillers Werken entnommen (wo der Dativ morphologisch jedoch nicht sichtbar ist); andere Beispiele weisen aber auch formal eindeutig einen Dativ auf, z.B.: (3) (4)

gemahn' ihn nicht an dich, du weiszt, er grollt uns, Schiller33 das militär, das ihm (dem könig) unversöhnlich grollt, Karl Aug. Varnhagen von Ense (1785-1858).34

Auch hier ändert das zusätzliche Dativobjekt die Verbalperspektive nicht, denn nach wie vor grollt das Subjekt. 30 31

32 33 34

ΜΗ, I, Sp. 1100. DW, IV, l 6 , Sp. 437. Der Dativ ist hier zweimal ein Zugehörigkeits- oder Pertinenzdativ. a.a.O. DW, IV, l 6 , Sp. 439. a.a.O.

410

Der paradigmatische Dativ

Die allgemeine, abstrakte Verbbedeutung von grollen, die sich am Moment der Verstimmung bzw. des Zorns orientiert, wird im Satz jedoch ganz anders organisiert, wenn ein Akkusativobjekt hinzukommt, und auch diese Möglichkeit ist bei grollen historisch realisiert, vgl.: (5)

Diese Behandlung grollte ihn?5

Es schadet nicht, daß Adelung dazu notiert, diese Verwendung komme nur in der dritten Person vor, und auch das nur "im gemeinen Leben einiger Gegenden", d.h. also regional bedingt. Keiner wird daran zweifeln, daß die Wahl eines Akkusativobjekts beim Verb grollen durchaus zum Sprachsystem des Deutschen gehört, nur hat die Realisierung in der Sprachnorm keinen festen Platz erworben, weder früher noch heute. Das Entscheidende aber ist, daß der Verbinhalt sich dabei zwar nicht wandelt, sondern in einer ganz anderen Perspektive realisiert wird, wie auch im Deutschen Wörterbuch festgestellt wird, vgl.: (6)

Das grollt mich 'Das ärgert mich'.36

Steht in der zweistelligen Realisierung das Objekt nicht im Dativ, sondern im Akkusativ, dann ist es nicht länger das Subjekt, das grollt, wie in Ich grolle bzw. Ich grolle dem Bruder. Vielmehr ist es das Objekt, das grollt, und zwar in einem kausativen Sinn: Die Verbalperspektive kehrt sich um das Subjekt verursacht den Zorn beim Objekt. Wir treffen also auch bei grollen auf das paradigmatisch wirksame Verhältnis zwischen den beiden Obliqui, dem wir bereits bei schmecken begegnet sind, allerdings mit dem einzigen Unterschied, daß der transitive Gebrauch von grollen und die entsprechende Akkusativrektion in der Gegenwartssprache nicht mehr zur Sprachnorm gehören. Ein Blick auf die Geschichte des Verbs grollen und seiner systematischen, wenn auch nicht durchweg realisierten und in die Norm der deutschen Sprache aufgenommenen Möglichkeiten zeigt die paradigmatische Begründung des adverbalen Dativs deutlich auf. Statt sich auf implizite Objektinhalte auf der syntagmatischen Ebene zu beziehen (die möglicherweise in früheren Sprachstufen einmal expliziert waren), wie dies bei den Verben der vorigen Gruppen, vor allem aber der GRUPPE A, nachgewiesen werden konnte,

35 36

Adelung 1793ff, II, Sp. 809. DW, IV, l 6 , Sp. 440.

grollen

411

einer allgemeinen Verbbedeutung über die Wahl, welchen Kasus ein Objekt annehmen wird. In der Gegenwartssprache hat sich diese Bedeutung auf den intransitiven Inhalt 'verstimmt sein' hin spezialisiert und ist die entsprechende transitive Möglichkeit 'verstimmen' ausgeschieden. Gerade weil diese transitive Bedeutung nicht den Dativ, sondern den Akkusativ als den "prototypischen" kompatiblen Kasus ausweist, der Inhalt des Verbs dann aber auf die im Akkusativobjekt genannte Größe "übergeht", erweist sich der Dativ als der geeignete Kasus, die Verbbedeutung perspektivisch dem Subjekt zuzuordnen. Dies ist eine Entwicklung, die durch die alternative Wendung mit einem Präpositionalobjekt, z.B. Ich grolle mit dem Bruder statt Ich grolle dem Bruder, noch zusätzlich hervortritt.

412

Der paradigmatische Dativ

V . 3 . weichen Ein anderes anschauliches Beispiel für den Wechsel der Verbalperspektive bei Dativ- oder Akkusativobjekt ist das starke Verb weichen?1 Im modernen Deutsch sind zwei Verwendungsmöglichkeiten vorhanden, nämlich eine ohne Dativobjekt 'sich entfernen, weggehen' und eine mit Dativobjekt 'jmdm. Platz machen'. Im Ahd. überwiegt bei wichan 'weichen' die absolute Verwendung, das Verb ist nur in Glossen und bei Notker38 belegt, z.B. in: (1)

Übe diu corpora so stärh sint. täz siu uuichen nemugen 'Weil die corpora dermaßen stark sind, daß sie nicht weichen können'.39

Möglicherweise ist die absolute Verwendung die ursprüngliche, wie z.B. im Altengl., wo wican absolut ist (im Got. scheint es das Verb nicht zu geben). Sicher ist dies jedoch nicht, das altn. vikja z.B. wird oft, wie im modernen Deutsch, mit einem Dativobjekt verwendet. Allerdings notiert das Deutsche Wörterbuch, daß wichen/weichen mit dem Dativobjekt "seit beginn des 13. jh. häufig (ist)"40, woraus wir also schließen dürfen, daß dies zuvor offenbar nicht die Regel war. Der älteste, ursprüngliche Bedeutungsansatz ist 'nachgebend platz machen'41. Schon im Deutschen Wörterbuch wird der Versuch unternommen, die Verwendung mit der Dativrektion aus absoluten Verwendungen zu erklären wie: (2) (3)

ynn solchen feilen [...] sol das recht weichen und an seine stat die billichkeit regiern, Luther42 wenn einer ein bett hat gefunden, so musz der strohsack weichen, Christoph Lehmann (1570-1638).43

Über eine "zusammenziehung", so lesen wir, erreiche man im Falle der beiden Beispielsätze (2) und (3) schließlich "die syntaktisch höhere Form": 37

38 39 40 41 42 43

Daneben existiert das homonyme schwache Verb weichen 'weich machen', das zwar transitiv ist, jedoch einen völlig anderen Ursprung hat und hier unberücksichtigt bleibt. Bei Notker finden sich insgesamt neun Belege, darunter zwei mit einem Dativobjekt. Piper, II, 404, 7. DW, XVI, l 1 , Sp. 492. DW, XVI, 1 \ Sp. 486. DW, XVI, l 1 , Sp. 492. a.a.O.

weichen

413

(3') das recht soll der billigkeit weichen, der strohsack musz dem bett weichen.** Diese Argumentation stellt - zu Recht - die Tatsache in den Mittelpunkt, daß dasjenige, was in (2) und (3) noch in zwei Sätzen ausgedrückt wird, zu einer einzigen syntaktischen Einheit ohne Nebensätze zusammengefügt werden kann: Dasjenige, wovor gewichen wird, wird nicht mehr einzeln in einem zweiten Satz ausgedrückt, sondern unmittelbar vom Verb weichen syntaktisch abhängig gemacht. Dadurch erhalten Billigkeit und Bett eine Rolle im unmittelbaren syntaktischen Gefüge um das Verb weichen. Was in der Analyse des Deutschen Wörterbuchs jedoch grundsätzlich fehlt, ist eine Erklärung dafür, warum die neue syntaktische Einheit mit einem Dativ und nicht mit einem Akkusativ gebildet wird. Wiederum dürfte in der paradigmatischen Opposition zwischen dem Dativ und dem Akkusativ der Schlüssel zur Erklärung dieses Sachverhalts liegen. Nimmt man nämlich eine allgemeine Bedeutung im Sinne von 'Platz machen' als den abstrakten Bedeutungskern von weichen an, dann leuchtet es ein, daß sich in hypothetischen Fügungen wie *Das Recht weicht die Billigkeit und *Der Strohsack weicht das Bett die 'Bewegung' vom Subjekt zum Objekt verlagern würde. Aufgrund der prototypischen transitiven Kasusmorphologie würden Deutungen naheliegen, gemäß denen das Recht die Billigkeit veranlaßt, Platz zu machen, oder der Strohsack der Anlaß ist, daß das Bett weggeschafft wird o.dgl. Damit wäre genau das Gegenteil gesagt von Das Recht soll der Billigkeit weichen und Der Strohsack muß dem Bett weichen. Der Dativ bietet also die - paradigmatisch-oppositionell fundierte - Möglichkeit, ein neues Objekt an die Verbalhandlung zu koppeln, ohne die Perspektive des Verbinhalts zu wandeln, dies im Gegensatz zum Akkusativ.

44

a.a.O.

Der paradigmatische Dativ

414 V . 4 . leben

In einer zugegebenermaßen ziemlich peripheren Verwendungsweise regiert das Verb leben auch heute noch einen adverbalen Dativ, nämlich wenn es im Sinne von 'sich einer Sache oder einer Person widmen, hingeben' gebraucht wird, wie z.B. in:45 (1) (2)

Er lebt nur seiner Musik/seinem Beruf/seiner Gesundheit/seinem Geschäft/seiner Kunst/dem Augenblick Sie lebte ganz ihrer Familie.

Die Fügung leben + Dativ ist gehoben und kann immer durch die völlig synonyme und gebräuchlichere Fügung leben flir ersetzt werden. Eine sprachgeschichtliche Rekonstruktion des sich im Laufe der Zeit ändernden Kasusrahmens von leben läßt einen klaren paradigmatischen Grund für den adverbalen Dativ sichtbar werden. Das paradigmatische Muster bei leben ist aber vor allem dadurch gekennzeichnet, daß der Dativrektion nicht nur eine Akkusativrektion, sondern lange Zeit auch eine Genitivrektion gegenüberstand. Während leben auch heute noch problemlos transitiv in Verbindung mit einem Akkusativobjekt gebraucht werden kann, ist die Genitivrektion erst im Laufe des 18. Jahrhunderts untergegangen - dann aber konnte sie bereits eine tausendjährige Geschichte vorweisen. Bei Otfrid ist leben nur als intransitives Verb ohne Kasusrektion überliefert. Dagegen aber gibt es einen Beleg mit dem Präfixverb gileben im Sinne von 'erleben', in dem das Verb einen "Acc(usativ) des Inh(alts)"46 regiert: (3)

Thaz uuir briste sungun in unsera zungün ioh uuir ouh thaz gilebetun, in frenkisgon nan lobötun 'Daß wir Christus besangen in unserer Sprache und wir auch das erlebten, daß wir ihn auf fränkisch priesen', Otfrid.47

Bei Notker findet man leben - außer selbstverständlich in den weitaus üblichsten absoluten Konstruktionen - sowohl in Verbindung mit einem Dativ wie mit einem Genitiv belegt. Beide Rektionen lassen sich seitdem bis ins Nhd. verfolgen. 45 46 47

Die Beispiele stammen aus WDG, III, 2323, Sp. 1 und DUW, 935, Sp. 1. Piper, II. Teil, 252, Sp. 2. Piper, I, 1, 125-126.

leben

415

Nicht leicht ist es, genau anzugeben, worin sich beide Rektionen semantisch voneinander unterscheiden. Ein früher ahd. Beispielsatz mit Dativrektion ist u.a.: (4)

Aber diu min sela lebet into 'Aber meine Seele lebt ihm', Notker.4®

Daneben kommen bei Notker, semantisch kaum abweichend, auch Präpositionalphrasen vor, wie z.B. in: (5)

An imo lebet min sela unde lobet dih 'Für ihn lebt meine Seele und lobt dich'.49

Den Genitiv regiert das Verb leben dagegen im folgenden Beleg: (6)

άη des fehes pilde . daz heuues lebet 'gemäß dem Vorbild des Viehes, das von Heu lebt', Notker.50

Dieselbe Genitivrektion findet sich auch schon bei Williram: (7)

Nesehent daz niet άηα, uuilihes leides ih lebe 'Seht das nicht an (d.h.: 'Nehmt keine Rücksicht darauf), welches Leiden ich erlebe', Williram von Ebersberg (11. Jh.).51

Dem Deutschen Wörterbuch zufolge haben wir es hier mit einem "genitiv der art" zu tun.52 Vag bleibt allerdings, was unter dieser Bezeichnung genau verstanden werden muß. Noch schwieriger wird die Deutung, wenn man versucht, die Bedeutung von leben + Dativ genauer zu charakterisieren. In seinem Notker-Glossar umschreibt Edward Sehrt die Fügung leben + Genitiv als 'von etwas leben', merkt aber an, daß leben gegebenenfalls auch mit dem Dativ verbunden werden kann; eine andere Bedeutung setzt der Verfasser jedoch nicht an.53 Der Beispielsatz (4) scheint Sehrts semantischer Paraphrase von leben + Genitiv oder Dativ jedoch zu widersprechen: Wie in den modernen Verwendungen mit adverbalem Dativ dürfte leben darin eher für 'leben für' statt für 'leben von' stehen.

48 49 50 51 52 53

Piper, II, 72, 15; lat.: Et anima mea ipsi uiuet. Piper, II, 544, 2-3; lat.: Viuet anima mea et laudabit te. Piper, II, 454, 5-6; lat.: in similitudinem uituli comedentis fenum. Paraphrase des Hohen Liedes, 10, 3-4. DW, VI, Sp. 402. Sehrt 1962, 115, Sp. 2.

416

Der paradigmatische Dativ

Noch erstaunlicher ist, daß die Dativrektion von ahd. leben weder im Althochdeutschen Wörterbuch noch im Deutschen Wörterbuch verzeichnet wird. Beide Wörterbücher führen nur die Genitivrektion des Verbs im Ahd. an,54 und die Dativrektion belegt das Deutsche Wörterbuch erst mit einem mhd. Beispiel.55 Komplizierter ist der Dativ bei leben im folgenden ahd. Beispiel: (8)

Aber mir lebet truhten fäter miner (...) unde dännan uuerde irhöhet Got minero heili. An mir uuerde er irhöhet 'Aber mir lebt der Herr, mein Vater (...) und deshalb werde der Gott meines Heils verherrlicht. Durch mich (und in mir) werde er verherrlicht', Notker.56

Ob der Dativ mir im ersten Teil des Belegs wirklich als durch das Verb leben regiert aufzufassen ist oder ob er eher als ein freier Satzdativ (etwa ein ethischer Dativ) zu werten ist, ist schwer zu beurteilen. Einen freien Satzdativ legt nicht nur die syntaktische Stelle im Satz, sondern auch die lateinische Vorlage (Viuit dominus) nahe. Vom satzsemantischen Standpunkt aber ist die Deutung im Sinne eines adverbalen Dativs insofern legitim, als Jesus Christus tatsächlich von Gott her das "Leben" erhält und der heilbringende Gott auch in, durch und mit Christus gepriesen wird. Insofern unterscheidet sich der Beleg (8) nur geringfügig von Beleg (4), wenn auch in (4) die Seele, in (8) dagegen der Herr Subjekt des Satzes ist. Jedenfalls läßt der Notker-Beleg (4) über die ahd. Dativrektion von leben keinen Zweifel bestehen. Der adverbale Dativ bei leben läßt sich übrigens auch im Altenglischen belegen, wie aus dem folgenden Vers 99 des Beowulf hervorgeht: (9)

Swä da drihtguman dredmun lifdon 'So lebten die Gefolgsleute den Freuden'.57

Daß die Genitiv- und Dativrektion mit einer semantischen Differenz korrelieren, geht auch aus der weiteren Geschichte der beiden Rektionen im Mhd. und Nhd. hervor. Das Deutsche Wörterbuch mißt leben + Dativ (z.B. in einer Person, einer Sache leben) die Bedeutung 'die thätigkeit seines lebens 54 55 56

57

AW, 192, Sp. 1; DW, VI, Sp. 402. DW, VI, Sp. 405. Piper, II, 56, 7-9; lat.: Viuit dominus et benedictus deus meus . et exaltetur deus salutis mee. Bosworth/Toller 1898/1964, 636, Sp. 1.

leben

417

auf sie beziehen' bei, oder auch, wie in einem gebot, einer Weisung leben 'dem Gebot bzw. der Weisung folgen'. Dagegen behält leben + Genitiv die Bedeutung 'leben von' bei. Zwei mhd. Belege mit dem Genitiv sind: (10) do sprach der wirf und Anfortas, daz Feirtflz nasme war, wes al daz volc lebte gar 'Da sagten der Wirt und Anfortas, Feirefiz möge beachten, wovon das ganze Volk lebe', Wolfram von Eschenbach58 (11) wazzers lebet der hasrinc 'von Wasser lebt der Hering', Reinbot von Durne (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts);59 und mit dem Dativ: (12) er giht ez si des hüses site, ist er eliche gehit, daz er danne viir die zit siil weder riten noch geben: er giht er siil dem huse leben 'Er sagt, es sei die Sitte des Hauses, daß, wenn er eine Ehe eingegangen ist, er dann für die Zeit weder ritterlich tätig sein noch geben dürfe: Er sagt, er müsse dem Haus leben', Hartmann von Aue60 (13) wie ein wip der weite leben sol 'wie eine Frau der Welt leben soll' (d.h.: 'sich der Welt widmen, sich in ihrem Leben zur Welt verhalten soll'), Walther von der Vogelweide.61 Seit dem Frühnhd. wird der Kasusrahmen von leben dadurch komplexer, daß die bis dahin eindeutige Genitivrektion nicht mehr nur für den Bedeutungsansatz 'leben von' steht. Das Deutsche Wörterbuch weist darauf hin, daß die Genitivrektion seit Luther auch den Bedeutungsansatz 'leben nach' realisiert; vgl. nebeneinander: 38 59 60

61

Parzival, 813, 24-26. Der heilige Georg, 3902. Iwein, 2808-2812. Thomas Cramer übersetzt die Stelle wie folgt: 'Er sagt, er müsse seiner Häuslichkeit leben' (2812, S. 55). Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 86, 16.

418

Der paradigmatische Dativ

(14) Leben wir / so leben wir dem Herrn, Luther (Rom. 14, 8), aber daneben die Genitivrektion in: (15) ob etliche weren, die mich zu geringe dafür hielten, das sie meines raths solten leben (d.h.: 'daß sie sich nach meinem Rat richten sollten'), Luther.62 Ferner erwähnt das Deutsche Wörterbuch Fügungen wie eines dinges leben ('sich nach ihm richten') und sein selbs leben ('nach eigener bestimmung leben'). Es verzeichnet sogar einen seltenen Beleg, in dem eine Person im Genitiv erscheint, nämlich: (16) auch bin ich dir (Jesus) ganz eingesenket und leb und sterbe dein, Paulus Gerhardt (1607-1676).63 Daß in Satz (16) leben + Genitiv 'leben für' bezeichnet, ist ganz klar. Wie gesagt, wird diese Bedeutung jedoch auch im Nhd. weiterhin in der Regel durch leben + Präposition (für) oder durch leben + Dativ wiedergegeben. Für letzteren Typ lassen sich u.a. folgende Beispiele anführen:64 (17) wer seinem willen lebt, lebt ohne zweifei wol, Friedrich von Logau (1604-1655) (18) ich lebte dir, und unsern freunden, Klopstock (19) komm, eilen wir der freiheit wieder zu, wo wir (...) derfantasie, uns selbst und unsrer liebe leben, Wieland. Daneben bleibt auch die Verbindung des Verbs mit dem Genitiv, im Sinne von 'leben von', durchaus produktiv, und zwar bis ins 18. Jh. hinein, wie aus folgenden Beispielsätzen hervorgeht:65 (20) da fraget der keiser die tochter, wes sie gelebt hette?, Luther (21) si will der arm, dir gern zufusz sich werfend, deiner gnaden leben, Georg Weckherlin (1584-1653) (22) dankbarkeit (...) die ein wohlthäter immer von demjenigen zu erwarten sich berechtigt hält, der seiner gnade leben musz, Wieland.

62 63 64 65

DW, VI, Sp. 405. a.a.O. Für alle Beispiele s. DW, VI, Sp. 405. Alle Beispiele stammen aus DW, VI, Sp. 402.

leben

419

Noch im 19. Jh. sind einige feste Wendungen mit leben und adverbalem Genitiv durchaus gebräuchlich. Wie schon Steinbach66 verzeichnet auch das Deutsche Wörterbuch noch ich lebe der hoffnung, ich lebe des Zutrauens (dasz dies nicht geschehe u.ähnl.), was "stärker" sei als ich bin der hoffnung usw.67 Bereits im 16. Jh. setzt allerdings die Tendenz ein, den Genitiv durch Präpositionalphrasen zu ersetzen. Der Beitrag der Präposition besteht vor allem darin, daß sie das "Mittel"-Verhältnis expliziert, das im adverbalen Genitiv eher unbestimmt bleibt, vgl.: (23) Auß raub und diebstal läben68 (24) der himmel und die erd ist dein, und alles lebt von deinen gaben, Friedrich von Hagedorn (17081754)69 (25) er kann jetzt mit seiner besoldung ganz gut leben.10 Seit dem 18. Jh. tritt dann auch die Akkusativrektion vermehrt auf. Die Akkusativrektion ersetzt allerdings nicht die Genitivrektion, der bestimmte tradierte Bedeutungsansätze entsprechen (vor allem 'leben von' und 'leben nach', s. oben). Das Akkusativobjekt präzisiert normalerweise den Inhalt des Verbs im Sinne der "Kohärenz" und ist oft stereotyp (Tag, Alter usw.); auch Fügungen mit innerem Objekt (Leben) kommen vor, vgl.: (26) (das) ist es allein, was uns hindert das leben der geister zu leben, Wieland71 (27) du hast heute einen bösen tag gelebt, Friedrich M. Klinger (17521831)72 (28) er lebe gewisz ein ruhiges alter, Goethe.73 In den Abschnitten I.2.12ff sahen wir, daß die in der Rektions- und Bindungstheorie vertretene Unterscheidung zwischen sog. "lexikalischem" und "strukturellem" Kasus dazu Anlaß gegeben hat, in bestimmten atypischen, 66 67 68 69 70 71 72 73

Steinbach 1734,1, 1004. DW, VI, Sp. 402. Maaler 1561, 160, Sp. 1. DW, VI, Sp. 403. a.a.O. a.a.O. DW, VI, Sp. 404. a.a.O.

420

Der paradigmatische Dativ

denn zweistelligen Konstruktionen mit adverbalem Dativ ein "verstecktes" Akkusativobjekt zu postulieren. Unter diesem Gesichtspunkt wäre z.B. auch der Dativ bei leben nicht als inhärent, sondern als strukturell anzusehen: (29) Er lebt nur seiner Familie (sein Leben).74 Wäre ein hypothetischer Satz wie (29) eine adäquate Wiedergabe der (geschichtlichen) Wirklichkeit, dann würde er mit der Behauptung von Frans Plank übereinstimmen, daß paradigmatische Objekt-Differenzierung bei monotransitiver Verwendung des Verbs immer syntagmatische Objekt-Differenzierung bei ditransitiver Verwendung des Verbs voraussetzt (s. § 1.2.8.). Jedoch erweist sich Satz (29) vor dem Hintergrund unserer diachronischen Analyse des Valenzrahmens von leben als unbegründet, da wir zu keiner Zeit in der Sprachentwicklung des Verbs auf dreistellige Satzbaupläne gestoßen sind. Historisch valabel ist dagegen die Auflösung von (29) in zwei verschiedene syntaktische Strukturen: (29') (29'')

Er lebt nur sein Leben Er lebt nur seiner Familie.

Somit stellt (29) letztlich nichts anderes als eine (rein "synchronische") syntagmatische Projektion einer ("diachronisch" ohne weiteres nachvollziehbaren) paradigmatischen Unterscheidung dar. Noch weniger plausibel wird (29), wenn man sich fragt, welche Akkusativobjekte bei leben überhaupt möglich sind - und damit steht unweigerlich auch der synchronische Sinn von Satz (29) zur Debatte. Wir sahen, daß die akkusativische Leerstelle weitgehend auf stereotype Nomen wie Tag, Alter usw. sowie auf das innere Objekt Leben beschränkt ist. Außer dem inneren Objekt sein Leben scheint jedes andere Akkusativobjekt in Sätzen wie (29), die ein (abstraktes) "persönliches" Dativobjekt aufweisen, so gut wie ausgeschlossen zu sein. Diese Restriktion entfällt bei einigen sachlichen Dativobjekten (vgl. [1]), wie z.B. Musik, Beruf, Gesundheit, Kunst usw. Alle Versuche, zweistellige Konstruktionen mit adverbalem Dativ anhand von Akkusativobjekten syntagmatisch durchsichtig zu machen, stoßen aber auf die Schwierigkeit, daß die so entstandenen dreistelligen Fügungen mit der eigentlichen Bedeutung von leben + Dativ nichts mehr zu tun haben, obwohl sie syntaktisch womöglich noch gerade akzeptabel sind. Lebt man z.B. seiner Familie oder der Musik, dann 74

Wegener 1991, 84.

leben

421

besagt dies nicht, daß man "sein Leben" oder irgendeinen "Zeitabschnitt" für die Familie oder die Musik hingibt, sondern man widmet sich vielmehr ganz der Familie bzw. der Musik, d.h. man beschäftigt sich intensiv damit. Es ist gerade der Kasusunterschied in zweistelligen Konstruktionen, der den Unterschied zwischen 'leben' (Akkusativ) und 'leben für' bewirkt, und es erscheint semantisch denn auch als verfehlt, genau diesen Bedeutungsunterschied im Hinblick auf die Dativrektion syntagmatisch aufzulösen. Das ist auch der Grund, weshalb es zumindest irreführend ist, wie Wegener zu behaupten, daß der Dativ bei zweistelligen Verben mit adverbalem Dativ, die geschichtlich keine Dreistelligkeit mit regulärer Obliquusverteilung aufweisen, "nicht im Kontrast zum Akkusativ" steht.75 Der Kontrast ist syntagmatisch nicht sichtbar, dafür aber paradigmatisch nicht weniger bedeutsam. Wir können schließen, daß es keine Gründe gibt, das Verb leben einer anderen Gruppe als der GRUPPE C zuzuordnen. Die paradigmatische Kasusverteilung erscheint bei diesem Verb geschichtlich relativ konstant, abgesehen von einer eher zeitweiligen Vermischung der semantischen Differenz zwischen Genitiv- und Dativrektion im 16. und 17. Jh. Diese Episode scheint mit der klaren paradigmatischen Opposition des adverbalen Dativs im Verhältnis zur Akkusativrektion in den letzten Jahrhunderten endgültig überwunden. Die Relevanz einer solchen Opposition ist über jeden Zweifel erhaben, wie zum Schluß noch aus folgendem Kontrast hervorgehen mag: (30) Mstislaw Rostropowitsch in der Tonhalle. Man merkt, hier lebt einer die Musik, hört sie innerlich und ist emotional von ihr bewegt ('erleben, durchleben')76 (31) Rostropowitsch ist ein Künstler, der ganz der Musik lebt ('leben für, sich widmen, sich hingeben'). Die paradigmatische Opposition wird durch die transitiven Präfixverben erleben und verleben zusätzlich konsolidiert.77

75 76

77

Wegener 1989a, 92. Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, 17. Juli 1997, 39, Sp. 4; vgl. auch: (30') Oscar Wilde - Zeitgenosse und Liebhaber. Sie zeigen (...) einen völlig verfallenen Liebhaber, der seine Amour fou mit dem sechzehn Jahre jüngeren Bosie bis zuletzt lebt, Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, 31. Oktober 1997, 35, Sp. 4. vgl. DUW, 452, Sp. 3 und 1652, Sp. 3.

422

Der paradigmatische Dativ

V . 5 . läuten Auch läuten gehört zu jener Gruppe von Verben, die in der Gegenwartssprache bald den Akkusativ, bald den Dativ regieren können. Letztere Rektion kommt allerdings nur vereinzelt vor, häufiger ist der entsprechende Präpositionalanschluß mit nach. Trübners Deutsches Wörterbuch, das Deutsche Wörterbuch von Paul sowie das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache nehmen die adverbale Dativrektion nicht auf.78 Die meisten anderen Wörterbücher aber geben einen oder zwei Beispielsätze, aus denen hervorgeht, daß man statt der Fügung nach jmdm. läuten 'jmdn. durch Läuten, ein Klingelzeichen usw. herbeirufen' auch die reine Dativrektion des Verbs belegt finden kann. Demnach kommen nebeneinander vor:79 (1) (2)

Sie läutete nach dem Kellner Soll ich der Nachtschwester läuten ?

Die Wörterbücher der Duden-Redaktion präzisieren darüber hinaus, daß der reine Kasus in (2) als "gehoben" zu gelten hat. Eine solche Bewertung fehlt in den anderen Wörterbüchern. Der Valenzrahmen mit dem adverbalen Dativ ist bei läuten sicherlich als eine periphere Erscheinung einzustufen, und zwar nicht nur in synchronischer, sondern auch in diachronischer Hinsicht. Nicht nur ist der adverbale Dativ seltener als die Verbindung mit der Präposition nach, sondern läuten wird auch häufiger in zweistelligen Satzbauplänen mit Akkusativobjekt oder einfach einstellig verwendet. In zweistelligen Konstruktionen kann das Subjekt sachlich oder persönlich sein, und nach diesem Unterschied richtet sich auch das Objekt. Bei sachlichem Subjekt nennt das Objekt entweder den Inhalt bzw. den Zweck des Läutens (3) oder es fehlt ganz (4), vgl.: (3) (4)

Die Glocken läuten Sturni80 Die Glocken/Das Telefon/Der Wecker läutet.81

Bei persönlichem Subjekt kann das Objekt den Gegenstand, mit dem geläutet wird (sehr oft die Glocke), nennen (5); daneben kann das Objekt aber auch 78

Trübner 1939ff, IV, 400-401; Paul '1992, 514-515; WDG, III, 2320, Sp. 1. s. GWbdS, IV, 2077, Sp. 1; DUW, 933, Sp. 3; BWDB, IV, 421, Sp. 1. 80 WDG, III, 2320, Sp. 1. " DUW, 933, Sp. 3. 79

läuten

423

den Inhalt bzw. den Zweck des Läutens (6) bezeichnen, und schließlich kann es ebenfalls fehlen (7): (5) (6) (7)

Der Küster läutet die Glocken82 In P. hatte man Sturm geläutet Wenn da Siegesglocken läuten sollten Werdet ihr die Verlustlisten austragen, Bertolt Brecht (1898-1956).84

Der Valenzrahmen von läuten fallt dadurch auf, daß das Verb in bestimmten Fällen offenbar an die Stelle von lauten getreten ist, zu dem es ursprünglich ein Kausativum bildete. In Trübners Deutschem Wörterbuch wird darauf hingewiesen, daß das ursprüngliche Kausativum läuten 'laut werden, ertönen lassen' (mhd. liuten), anders als das ältere lauten 'einen Laut von sich geben' (ahd. und mhd. täten)*5, "von Haus aus transitiv"86 war, wie z.B. in: (8)

Ir sit wol wert, daz wir die gloggen gen iu liuten, Walther von der Vogelweide.87

Erst später wurde das Objekt - in der Regel Glocke?' - "als selbstverständlich weggelassen", und wieder später wurde Glocke in präpositionalen Fügungen gelegentlich sogar wieder eingeführt (mit Glocken läuten). Schließlich konnte Glocke selbst Subjekt werden.89 Darauf, daß das Objekt Glocke bereits früh "unterdrückt" werden konnte, machen auch andere Wörterbücher aufmerksam.90 Der anscheinend älteste Beleg, in dem läuten den adverbalen Dativ regiert, stammt aus der mittelalterlichen Hystoria Judith: (9)

82 83 84 85 86 87 88

89 90 91

Do luitin simo zisamini mid trumbin joch mid cymbilin 'Da läuteten sie ihm alle zusammen mit Trommeln und mit Zimbeln'.91

WDG, III, 2320, Sp. 1. a.a.O. a.a.O. s. AW, 204, Sp. 1 und ΜΗ, I, Sp. 1943 und 1995. Trübner 1939ff, IV, 400, Sp. 2. Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 28, 14. s. Heyne 1905f, II, Sp. 579, der schreibt, läuten sei "gewöhnlich, in neuerer Spr(ache) stets, auf das tönen lassen der Glocken eingeschränkt". a.a.O. s. Lexer, I, Sp. 1943 und DW, VI, Sp. 375; vgl. BMZ, I, 1058. Ältere Judith, 3 , 1 .

424

Der paradigmatische Dativ

In Satz (9) steht liuten + Dativ jedoch noch nicht für das heutige 'durch Läuten herbeirufen'. Aus dem Text, der über den König Nabuchodonosor berichtet, geht hervor, daß man dem König zu Ehren musiziert. Ansonsten lassen sich keine mhd. Belege mit liuten und adverbalem Dativ ausfindig machen. Darüber hinaus scheint die bis heute belegbare Verwendung von läuten mit adverbalem Dativ 'durch Läuten herbeirufen' erst im 18. Jh. aufzukommen. Die Dativrektion des Verbs fehlt allerdings nicht nur in den Wörterbüchern von Maaler (1561), Stieler (1691) und Steinbach (1734), sondern auch Adelung (1793ff) und Campe (1807ff) erwähnen sie noch nicht. Seit dem frühen Mhd. wird das Verb läuten mit Präpositionalphrasen verbunden, die das Ziel des Läutens bezeichnen, z.B.: (10) Man lüte dä zem miinster nach gewoneheit92 (11) Man hat zum erstenmal in die FriihMrche geleutet,93 Solche Präpositionalphrasen, die nicht die Person oder das Lebewesen nennen, denen das Läuten gilt, erfahren von der reinen Dativrektion keinerlei Konkurrenz. In die Zeit der Aufklärung und der deutschen Klassik fallen dann die ersten Belege, in denen solche Fügungen durch ein weiteres Dativobjekt ergänzt werden, das ausnahmslos Personen oder Lebewesen nennt, vgl.: (12) wenn man dem würdigsten Staatsbürger gewöhnlich nur einmal zu grabe läutet, Goethe94 (13) nichts hör ich als die fürchterliche glocke, die uns zur trennung läutet, Schiller95 (14) Die Glocken, mit denen man ihnen zu Grabe läutet.96 Auffallend an den Belegen (12), (13) und (14) ist, daß die Bezeichnung der Instanz (der Person bzw. des Lebewesens), für die geläutet wird, darin anscheinend besonders stark an den Dativ gebunden ist, auch wenn Adverbialphrasen eine solche Rektion gemäß dem Konnexionsprinzip im Grunde nicht

92 93 94 95 96

Das Nibelungenlied, 1115, 1. Stieler 1691, Sp. 1094. DW, VI, Sp. 375. a.a.O.; vgl. auch Sanders 1897, II1, 61, Sp. 2. Sanders 1897, II1, 61, Sp. 2.

läuten

425

nahelegen. Vereinzelt kommt anstatt des Dativs auch der Akkusativ vor, wie z.B. im folgenden Beleg: (15) Als läutete die Abendglocke die Welt zur Ruhe, Jean Paul (17631825).97 Etwa gleichzeitig kommt der Dativ auch rein adverbal im zweistelligen Satzbauplan vor (jmd. läutet jmdm.), im Sinne von 'jmdm. mit der Glocke ein Zeichen geben'.98 Sanders gibt folgende Belege: (16) Wie eine dumpfe Glocke, die einst dem abgeschiednen Freund geläutet99 (17) Dein letztes Stündchen läutet dir.100 Zur möglichen Redebedeutung 'für jmdn. läuten' tritt dann noch die aktuelle Verbbedeutung 'nach jmdm. läuten' hinzu, die sich bei läuten + Dativ zur allgemeinen Normbedeutung durchsetzt, wie z.B. in: (18) Ich läutete (klingelte) dem Auf wärter101 (19) Man läutet mir - die königin verlangt mich, Schiller.102 Der adverbale Dativ ist bei läuten eindeutig paradigmatisch motiviert. Dies ist bei läuten sowohl diachronisch als auch synchronisch noch viel deutlicher nachvollziehbar als etwa bei klingeln (s. § V.10.), das mit läuten vor allem in semantischer Hinsicht viele Ähnlichkeiten aufweist. Läuten regiert in zweistelligen Konstruktionen den Akkusativ - s. die Beispielsätze (3), (5) und (6) - , wenn der Gegenstand des Läutens oder sein Zweck bezeichnet wird: die Glocken (Akkusativ) läuten bzw. Feuer, Sturm, die frühe Mette läuten usw.103 Das Verb regiert dagegen den Dativ, wenn die Instanz (die Person, das Lebewesen) bezeichnet wird, für die oder nach der geläutet wird. Damit ist auch läuten ein besonders deutliches Beispiel der Verben der

97 98 99 100 101 102

103

a.a.O. s. DW, VI, Sp. 375. Sanders 1897, II1, 61, Sp. 2. a.a.O. a.a.O. a.a.O.; vgl. auch folgende übertragene Verwendung: (19') Das linke Ohr hat mir geläutet, Jeremias Gotthelf (1797-1854). Dazu bemerkt Heyne 1905f, II, Sp. 579: "wenn es klingt, als Zeichen daß man von einem spricht, aufgefaßt". Sanders 1897, II1, 61, Sp. 2.

426

Der paradigmatische Dativ

zumal der Dativ aufgrund der Tatsache, daß die paradigmatische Opposition zwischen Dativ und Akkusativ im Prinzip bis heute bewahrt geblieben ist, einen relativ niedrigen Idiomatizitätsgrad aufweist. Zum Schluß sei noch ausdrücklich darauf hingewiesen, daß läuten im Schweizerdeutschen auch in der präfigierten Form anläuten die Dativrektion beibehält: GRUPPE C ,

(20) dann läutet diepolizei mir an.m

104

DW, II, Neubearbeitung, Sp. 1140; vgl. auch WDG, I, 154, Sp. 2.

fehlen

427

V.6. fehlen Fehlen gehört nicht zum deutschen Erbwortschatz. Das Verb geht auf altfrz. falir 'verfehlen, sich irren' zurück (im modernen Französisch faillir), und im Mittelhochdeutschen hat es die Form vaden.10s In der Geschichte des Verbs sind im großen ganzen zwei Nonnbedeutungen zu unterscheiden. Die erste und anscheinend älteste ist als 'fehlschlagen* oder spezifischer 'sich irren; verfehlen, nicht treffen; mißlingen' zu umschreiben, und sie kommt bis heute vor. Syntaktisch wird fehlen in dieser Normbedeutung entweder absolut verwendet oder in Verbindung mit einem Genitivobjekt oder Dativobjekt. Das Subjekt bezeichnet die Instanz, deren Streben fehlschlägt, wie z.B. in: (1)

(2) (3)

(4)

wiltu die minne malen, so bedarftu keiner strale. di minne kann niht välen noch trugeliche treffen zekeinem male 'wenn du die Liebe ergreifen (d.h.: 'mit einem Zeichen versehen') willst, brauchst du keinen Pfeil. Die Liebe kann sich niemals irren oder nur scheinbar treffen', Albrecht (von Scharfenberg?) (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts)106 der böge Jonathan hat nie gefeilet und das schwert Saul ist nie lere widerkomen, Luther107 vor dem der feinde macht und anschlag stets gefehlt, der mehr triumph als jähr, als tag, als stunden zehlt, Andreas Gryphius (1616-1664)108 dasz man erst selbst etwas leisten, ja dasz man fehlen müsse, um seine eignen fähigkeiten und die der andern kennen zu lernen, Goethe.109

Das fakultative Genitivobjekt bezeichnet das Ziel, das man nicht "getroffen", das man verfehlt hat: (5)

105 106 107 108 109

ouch wart ir nicht gefeit von manchim gutin schutzin 'auch wurde sie nicht verfehlt

s. Kluge/Seebold 1995, 256, Sp. 1. Jüngerer Titurel, 4023-4024. DW, III, Sp. 1423. a.a.O. a.a.O.

428

(6) (7)

Der paradigmatische Dativ

von manchem guten Schützen', Nikolaus von Jeroschin (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts)110 darumb so haben wir des rechten weges gefeilet, Luther111 mit diesem zweiten pfeil durchschosz ich - euch, wenn ich mein liebes kind getroffen hätte, und euer wahrlich hätt ich nicht gefehlt, Schiller.112

Das ebenfalls fakultative Dativobjekt bezeichnet immer ein Besitz- oder Urheberverhältnis: (8)

aber den könig zu fahen hett inen gefehlet, Leonhardt Fronsperger (1520-1575)113 (9) sihe, seine hoffnung wird jm feilen, Luther (Hiob 40, 28)114 (10) heldin, euren tapfren sinnen fehle nimmer kein beginnen, Friedrich von Logau (1604-1655)115 (11) Es wär ein Spuk, wenn mir's mit diesem Türken fehlte, Friedrich Rückert (1788-1866).116 Obwohl das Genitivobjekt und das Dativobjekt bei fehlen je andere Größen bezeichnen und die beiden Kasus also keine Varianten zueinander bilden, werden sie nicht in einer einzigen Konstruktion miteinander kombiniert. Dafür ist ein syntaktischer Grund nachweisbar. Die Konstruktionen mit Genitivobjekt und Dativobjekt unterscheiden sich hinsichtlich ihres Subjekts. Das Subjekt in einer Konstruktion mit einem Dativobjekt ist immer eine dritte Person (Einzahl oder Mehrzahl, eventuell auch unpersönlich), niemals eine lebendige oder als lebendig gedachte Instanz. Das Subjekt einer Konstruktion mit einem Genitivobjekt ist hingegen nahezu immer eine lebendige oder als lebendig gedachte Instanz. Nur im Hinblick auf die absoluten Konstruktionen ist die Unterscheidung zwischen persönlichem und sachlichem Subjekt irrelevant. Die Konstruktionsweise mit einem Dativobjekt und die mit einem Genitivobjekt heben eine eigene Perspektive hervor. Die beiden Kasusobjekte ver110 111 112 113 114 115 116

DW, III, Sp. 1424. a.a.O. a.a.O. DW, III, Sp. 1423. heute Hiob, 41, 1: Siehe, jede Hoffnung wird ihm zuschanden. DW, III, Sp. 1424. Sanders 1876,1, 424, Sp. 1.

fehlen

429

engen die allgemeine Verbbedeutung 'fehlschlagen' jeweils auf spezifische Weise: In Konstruktionen mit Genitiv ist fehlen als '(ein Ziel) verfehlen', in Konstruktionen mit Dativ als '(jmdm.) mißlingen' zu umschreiben, vgl.: (7)

mit diesem zweiten pfeil durchschosz ich - euch, wenn ich mein liebes kind getroffen hätte, und euer wahrlich hätt ich nicht gefehlt, Schiller (11) Es war ein Spuk, wenn mir's mit diesem Türken fehlte, Friedrich Rückert. Weil den beiden Rektionen des Verbs seit der mhd. Periode unterschiedliche Redebedeutungen entsprechen, ist bereits seit diesem Zeitpunkt eine paradigmatische Kasusopposition vorhanden. Fehlen + Dativ 'mißlingen' hat sich weiter zu 'fehlschlagen und dadurch mangeln, nicht vorhanden sein' und dann zu 'mangeln, nicht vorhanden sein' entwickelt, was bald eine eigenständige Normbedeutung neben fehlen 'fehlschlagen' bildete. Diese Normbedeutung ist nach der spätmhd. Periode immer öfter zu belegen, auch unpersönlich und mit einem Präpositionalobjekt mit an: (12) ez vade miner kunst werltlich ere, Heinrich der Teichner (2. Hälfte des 14. Jahrhunderts)117 (13) die fürt er in der veinde zeit, hoft das im groszer Ion nit feit, Johannes Schwarzenberg (14631528)118 (14) vergebens grüszt man ihn, es fehlt ihm an der zeit, den hut herabzuziehen, Johannes Leonhardt Rost (1688-1727)119 (15) gestehe mir nun was dich quälet was du zu viel hast, was dir fehlet, Goethe.120 Seit dem Frühneuhochdeutschen der Luther-Zeit kommt fehlen 'mangeln, nicht vorhanden sein' auch ohne Dativ vor, anfangs oft noch unpersönlich und mit einem Präpositionalobjekt mit an: (16) es feilet am glauben, Luther™ 117 118

119 120 121

BMZ, III, 215, 3. D W , III, Sp. 1426.

a.a.O. a.a.O. D W , III, Sp. 1425.

430

Der paradigmatische Dativ

(17) ich tnusz zwar auch schaun ob was feit, und wie all sach sei daust bestellt, Paul Rebhun (1505-1546)122 (18) das wasser fehlet, wo irre rosse trinken, Ewald von Kleist (17151795).123 Die Opposition zwischen fehlen + Dativ 'mangeln, nicht vorhanden sein' und fehlen + Genitiv 'verfehlen, verpassen' ist seit der frühnhd. Periode besonders ausgeprägt vorhanden. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts existiert zwischen diesen beiden Polen zwar noch fehlen + Dativ im Sinne von 'mißlingen', dies aber trübt jene paradigmatische Opposition nicht. Heute ist die Normbedeutung 'mangeln, nicht vorhanden sein' die wichtigste Verwendungsweise des Verbs, und seit dem späten 19. Jh. kommt fehlen -I- Dativ oder absolutes fehlen nur noch in diesem Sinne vor (und nicht mehr im Sinne von 'mißlingen', wie z.B. in den Sätzen [8] bis [11]). Das Deutsche Wörterbuch führt Belege wie (19) das ich der gnaden feilen miiste, Luther124 aus referenz-semantischen Gründen zusammen mit fehlen + Dativ 'fehlen, mangeln' auf. Bei Luther ist aber die zugrundeliegende Normbedeutung von fehlen 4- Genitiv eindeutig 'errare, irren, nicht treffen, verfehlen'.125 Eine Umschreibung für (19), die der Normbedeutung von fehlen + Genitiv besser gerecht wird, wäre denn auch: 'das ich die Gnade verfehlen müßte'. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts erscheint statt des Genitivs bei fehlen 'verfehlen' zunehmend der Akkusativ, der den Genitiv schließlich vollständig ablöst: (20) ein unterschied, der so grosz ist, dasz die geringste aufmerksamkeit ihn nicht fehlen würde, Immanuel Kant (1724-1804)126 (21) doch will ich rathen, ziele gut, dasz du den apfel treffest auf den ersten schusz, denn, fehlst du ihn, so ist dein köpf verloren, Schiller.127 Heute ist die paradigmatische Kasusopposition immer noch sichtbar: Regiert das Verb den Dativ, steht fehlen für 'mangeln, nicht vorhanden sein' 122 123 124 125

126 127

a.a.O. a.a.O. DW, III, Sp. 1427. Dietz 1870/1973, I, 646, Sp. 2; vgl. z.B. 2 Tim. 2,18: welche der Warheit gefeilet haben·, heute: welche von der Wahrheit abgeirrt sind. DW, III, Sp. 1425. a.a.O.

fehlen

431

(22), in der heute veralteten Verwendung mit einem Akkusativobjekt heißt fehlen 'verfehlen' (23): (22) Mir fehlen die Worte128 (23) Der Schlag hat ihn gefehlt.™ In absoluter Verwendung kann fehlen beide Normbedeutungen zum Ausdruck bringen, das heißt sowohl 'mangeln, nicht vorhanden sein' (24)130 als auch 'fehlschlagen, verfehlen', das sich in absoluten Verwendungen mittlerweile aber auf 'sündigen, ungerecht handeln' (25) verengt hat: (24) Die Worte fehlen (25) Sie hat aus Leichtsinn gefehlt.™ Zusammenfassend ist festzuhalten, daß fehlen seit seinem Erscheinen im Mhd. mit zwei verschiedenen, fakultativen Kasusobjekten verwendet wird: dem Genitiv und dem Dativ. Die beiden Kasus stellen keine willkürliche morphologische Schwankung dar, sondern ihre Verwendung ist von Anfang an paradigmatisch motiviert. Auch wenn die zugrundeliegende Bedeutung ursprünglich dieselbe ist ('fehlschlagen'), steht fehlen mit dem Genitiv für 'verfehlen', mit dem Dativ für 'mißlingen'. Der Unterschied verschärft sich dadurch, daß fehlen -I- Dativ eine eigenständige Normbedeutung 'mangeln, nicht vorhanden sein' entwickelt, die von fehlen 'verfehlen' zu trennen ist und die seit dem Frühnhd. auch in absoluter Verwendung begegnet. Seit dem 18. Jh. wird der Genitiv bei fehlen 'verfehlen' durch den Akkusativ ersetzt. Obzwar letztere Konstruktionsweise mittlerweile veraltet ist, ist die paradigmatische Opposition auch heute noch sichtbar.

128 129 130

131

WDG, II, 1239, Sp. 1. WDG, II, 1239, Sp. 2. Nach GWbdS, II, 1053, Sp. 2 muß man bei absolutem fehlen noch eine dritte Möglichkeit unterscheiden, nämlich 'fehlschlagen, fehlgehen' (vgl. das historische Beispiel [4]). Das Wörterbuch gibt aber nur ältere Beispiele von Schriftstellern aus dem 19. Jh. WDG, II, 1239, Sp. 2.

432

Der paradigmatische Dativ

V . 7 . trotzen Wenn man sich heute vornimmt, den adverbalen Dativ bei trotzen zu untersuchen, muß man sich darüber im klaren sein, daß das Verb im Laufe der Sprachentwicklung nicht nur etliche morphologische Varianten, sondern darüber hinaus eine ziemlich komplizierte semantische Geschichte gekannt hat. In der historischen Entwicklung erscheinen drei Formen (von denen eventuell noch Ableitungen gebildet wurden), nämlich trotzen, trutzen und trotzen.132 Diese drei Formen lassen ursprünglich eine sprachgeographische Verteilung erkennen, die auch in der späteren Sprachgeschichte noch längere Zeit nachwirkt; trutzen ist eher süddeutsch, trotzen eher nord- und mitteldeutsch, während trotzen ebenfalls im süddeutschen Gebiet heimisch ist. Die Form trutzen ist bis heute im Deutschen bewahrt geblieben, und zwar als synonyme Variante zu trotzen-, jedoch gilt trutzen als veraltet oder gewählt.133 Trotzen (oder auch trätzen und vereinzelt trätzeln) gilt als typisch süddeutsch, ist zwar ebenfalls eine Nebenform von trotzen, hat sich seit mhd. Zeit semantisch aber nach und nach von trotzen und trutzen entfernt, deren Bedeutungsentwicklung parallel verlief. Das Verb trotzen bedeutet heute 'necken'134 oder auch 'ärgern'135, und ist vor allem mundartlich. Im Gegensatz zu trotzen und trutzen regiert trotzen heute jedoch nicht den Dativ, sondern den Akkusativ. Im Deutschen Wörterbuch werden beim Verb trotzen insgesamt vier Bedeutungsansätze unterschieden. Im Ahd. ist das Verb frozen nur beim Notker-Glossator überliefert, allerdings in der Bedeutung 'abstoßen' bzw. 'abwendig machen'.136 Diese Bedeutung ist historisch offenbar nicht produktiv bzw. im weiteren Verlauf des Ahd. und frühen Mhd. abgewandelt worden.137 Den Beleg führten wir bereits in der Analyse des Verbs glauben an (s. § III.8.):

132 133 134 135 136 137

DW, XI, 1 \ Sp. 1116. DUW, 1567, Sp. 2; GWbdS, VII, 3463, Sp. 3; BWDW, VI, 311, Sp. 1. DUW, 1552, Sp. 2; GWbdS, VII, 3432, Sp. 1. BWDW, VI, 277, Sp. 2. AW, 287, Sp. 1; Sehrt 1962, 34, Sp. 1. Inwiefern es möglich ist, zwischen 'abwendig machen' und den seit dem Mhd. belegten Hauptbedeutungen 'herausfordern' und 'Widerstand leisten' sprachhistorische Verbindungen zu sehen, wollen wir hier nicht entscheiden.

trotzen

(1)

433

irwiegeda trozta mih aba sundigen sih keloubinten dinero eo 'Ekel stieß mich ab von den Gottlosen (Sündern), die dein Gesetz verlassen'.138

Von einem der insgesamt vier im Deutschen Wörterbuch verzeichneten Bedeutungsansätze können wir in der weiteren Analyse absehen. Der vierte Bedeutungsansatz braucht uns hier nicht weiter zu kümmern, weil es sich um die seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts belegte Verwendung von trotzen im Sinne (und zugleich unter dem Einfluß) von 'strotzen* handelt.139 Auch der dritte Bedeutungsansatz ist für die Kasusgeschichte des Verbs nicht unmittelbar von Belang. Gemeint ist trotzen als sog. "Verb der Gesinnung"140, das meist alleinstehend oder in Verbindung mit einer Präpositionalphrase verwendet wird. Der Bedeutungsansatz als Verb der Gesinnung reicht in den konkreten Realisierungen von 'mutig, tapfer sein' über 'vertrauen (auf)', 'stolz sein (auf)', 'prahlen' bis hin zu 'rechnen mit/auf und 'pochen a u f . In diesem Bedeutungsansatz ist trotzen vor allem im Mhd., insbesondere bei Luther, häufig. Absolut wird das Verb z.B. verwendet in: (2)

(3)

(4)

wir aber wissen, trotzen und sind fr eidig, dasz er ist auferstanden 'wir aber wissen, sind zuversichtlich und freuen uns darüber, daß er auferstanden ist', Luther141 das sehen wir auch im bapst, wie er sich brüstet, trotzt und aufblest in seinen bullen 'das sehen wir auch im Papst, wie er sich brüstet, prahlt und sich aufbläst in seinen Bullen', Luther142 ach Sünder trotze nicht, dasz du getauffet bis 'ach Sünder, sei nicht hochmütig, weil du getauft bist', Angelus Silesius (1624-1677).143

Wird das Verb nicht alleinstehend verwendet, ist die weitaus üblichste Präpositionalverbindung trotzen auf. Weniger oft belegt, jedoch auch möglich sind: trotzen über, trotzen wider, trotzen gegen, trotzen mit und trotzen zu. Die letztgenannten Präpositionalverbindungen (ihre Bedeutung läßt sich etwa durch 'auf etwas/jmdn. vertrauen im Kampf gegen' umschreiben) begegnen 138

139 140 141 142 143

Piper, II, 98, 20-21 und vgl. DW, XI, l 2 , Sp. 1116; lat.: Taedium detinuit me a peccatoribus relinquerüibus legem tuam. DW, XI, l 2 , Sp. 1135. DW, XI, l 2 , Sp. 1131. a.a.O. DW, XI, l 2 , Sp. 1132. a.a.O.

434

Der paradigmatische Dativ

in Verwendungen, die in lexikalsemantischer Hinsicht gelegentlich Übereinstimmungen aufweisen mit dem zweiten Bedeutungsansatz 'Widerstand leisten' (s. unten). Einige charakteristische Beispiele für die Verbindung von trotzen mit einer Präpositionalphrase bei Luther sind (zwischen Klammern die jeweilige Redebedeutung des Verbs): (5) (6) (7) (8)

(9)

in Widerwärtigkeit sei getrost und trotze auf dein amt ('vertraue auf) 144 auf gott trotzen und trawenHS das man könne trotzen gegen alle weit und sich für niemand furchten dürjfe ('vertrauensvoll sein im Kampf gegen die Welt')146 wer das thut, der mag wol mit dem 91. psalm triumphieren und trotzen wider alle teuffei ('vertrauensvoll und siegesgewiß sein gegen alle Teufel')147 ebenso trotzten die juden auch über Christum ('erhoben sich, triumphierten über').148

Präpositionalverbindungen mit auf sind bis ins frühe 19. Jh. gebräuchlich geblieben, vgl.: (10) meine blätter sind in ihren bänden, und ich trutze drauf, sie werden keine bosheit drinne finden, die sie nicht drinne suchen ('vertraue darauf, rechne damit, bin zuversichtlich'), Goethe149 (11) trotzt nicht, jetzt nicht auf euer recht ('pocht nicht darauf), Schiller150 (12) die Verfasser trotzen sehr auf ihren eifer für die religion ('tun damit groß'), Goethe.151 Vom Standpunkt unserer kasustheoretischen Darlegungen verdienen vor allem die zwei verbleibenden Bedeutungsansätze unsere Aufmerksamkeit, nämlich diejenigen, die bereits im Mhd. belegt sind und am engsten mit dem modernen Gebrauch von trotzen + adverbalem Dativ verbunden sind. Schon

144 143 144 147 14i 149 150 151

DW, XI, a.a.O. DW, XI, a.a.O. DW, XI, DW, XI, a.a.O. DW, XI,

l 2 , Sp. 1133. l 2 , Sp. 1131. l 2 , Sp. 1133. l 2 , Sp. 1134. l 2 , Sp. 1135.

trotzen

435

Μ. Lexer unterscheidet die beiden folgenden Bedeutungen: a) 'trotz bieten, trotzen' und b) 'reizen, necken, zum besten haben'.152 Dem Deutschen Wörterbuch zufolge153 entspricht die ursprüngliche Bedeutung des Verbs dem lat. lacessere, das 'reizen, herausfordern, necken, beunruhigen', ja sogar 'angreifen, anfallen' bedeutet.154 Die Bedeutung 'reizen, herausfordern usw.' entspricht im Mhd. noch sämtlichen Formen trotzen/trutzen/tratzen, und dies bis ins 16. Jh. Danach geht sie allein auf die Form trotzen über, wo sie sich als 'necken' bzw. 'ärgern' hält. Seit dem 17. Jh. geben die beiden anderen Formen, trotzen und trutzen, die Bedeutung 'reizen, herausfordern usw.' auf, und damit auch jede transitive Verwendung.155 Die mhd. Belege weisen das Verb trotzen (samt den morphologischen Varianten) im Bedeutungsansatz 'reizen, herausfordern usw.', und auch in den darauf beruhenden, potenzierten Inhalten (u.a. 'kränken, verspotten, drohen, nötigen, zwingen' usw.), als ein Verb aus, das in der Regel den Akkusativ regiert. Die Belege reichen vom Mhd. bis ins 18. Jh. Hiernach eine Auswahl, die auch im Hinblick auf die jeweils realisierten aktuellen Bedeutungen (die naturgemäß viel spezifischer sind als die allgemeine Kernbedeutung des Verbs) repräsentativ ist: (13) denfrömbden gotten gieszend si trankopfer, dasz si mich tratzind 'den fremden Göttern bringen sie Getränke zum Opfer, um mich herauszufordern'156 (14) fing ich an Polyphemum mit spotworten zu trotzen und zu schmehen 'fing ich an, P. mit spöttischen Worten zu verspotten und zu schmähen' (1537)157 (15) (Senacherib) trutzet das volck mit hochmut 'S. tyrannisiert das Volk mit Hochmut', Hans Sachs (1494-1576)158 (16) und ist mit sechs hundert glannen (...) fir die Stadt Erffurt geritten und sie getrotzet 'und ist mit 600 Lanzenreitern (...) vor die Stadt Erfurt

152 153 154 155 154 157 158

ΜΗ, II, Sp. 1498, s.v. trotzen, tretzen (gelegentlich auch trutzen). DW, XI, l 2 , Sp. 1117. Menge/Güthling 1963,1, 420, Sp. 2. DW, XI, l 2 , Sp. 1117. DW, XI, l 2 , Sp. 1121; lat.: ad iracundiam provocent. DW, XI, l 2 , Sp. 1120. DW, XI, l 2 , Sp. 1123.

436

(17)

(18)

(19)

(20) (21)

Der paradigmatische Dativ

geritten und hat sie herausgefordert (d.h.: 'hat ihr den Kampf angeboten')', Cyriacus Spangenberg (1528-1604)159 hier ist die sichre stelle, die kein Philister (...) trutzt 'hier ist die sichere Stelle, die kein Philister (...) angreift', Johann Christian Hallmann (16401704)160 dasz die weiber (...) ihren leib und brüst entblöszen und die manner damit trätzen und ergeren 'daß die Weiber (...) ihren Körper und ihre Brüste entblößen und damit die Männer reizen und ärgern' (1605)161 jeder, der ein ämtlein hat. pocht und trotzt die gantze Stadt 'jeder, der ein Ämtlein innehat, kränkt und verletzt die ganze Stadt', Wenzel Scherffer von Scherffenstein (1603-1674)162 du bist nur reich und trotzest mich vergebens 'du bist nur reich und verhöhnst mich vergebens', Friedrich Hagedorn (1708-1754)163 ich trotze sie und alle menschen, so ferne man mir etwas nachteiliges an meinem namen und ehre sagt 'ich fordere sie und alle Menschen zum Kampf heraus, wenn man mich verleumdet' (1761).164

In diesem Bedeutungsansatz kommt trotzen auch in absoluter Verwendung vor, vgl.: (22) so wurdet ihr faust und schwerd trotzen und drewen lassen 'so würdet ihr Faust und Schwert herausfordernd und bedrohlich sein lassen', Luther165 (23) und mache: dasz er nicht mehr trotz- und schaden kan 'und mache, daß er nicht mehr drohen und schaden kann', Daniel Caspar von Lohenstein (1635-1683)166

139

161 162 163 164 165 166

DW, XI, DW, XI, DW, XI, DW, XI, DW, XI, DW, XI, DW, XI, a.a.O.

l2, l2, l2, l2, l2, l2, l2,

Sp. Sp. Sp. Sp. Sp. Sp. Sp.

1118. 1119. 1120. 1121. 1120. 1118-1119. 1122.

trotzen

437

(24) was gibts soviel ζ 'schmatzen und ζ 'spödeln und trotzen ? 'was gibt es soviel zu schmatzen, und zu spötteln und zu hänseln' (1880).167 In einer kleinen Zahl von Belegen, die im Deutschen Wörterbuch ebenfalls dem ursprünglichen Bedeutungsansatz 'reizen, herausfordern, verspotten, drohen usw.' zugerechnet wird, regiert trotzen den Dativ anstatt des Akkusativs. Es handelt sich dabei um schätzungsweise fünf bis zehn Prozent der Belege. Auffallig ist u.a. die Dativrektion bei Ottokar von Steiermark (ca. 1260-1320). Sicherlich spielt die starke Präsenz des Dativs im süddeutschen Sprachraum dabei eine Rolle. Die drei folgenden Belege stammen alle aus der Reimchronik des Ottokar: (25) bürge und stet er so wol besazte, daz iml6S da niemen trotzte 'die Dörfer und die Städte besetzte er dermaßen geschickt, daß ihn dort niemand herausforderte'169 (26) den hern er damit trazte, daz er die burc besatzte überal mit gesten 'die Herren forderte er dadurch heraus, daß er die ganze Burg besetzte mit Kriegern'170 (27) meister Walther der kluoc wold inm damit trotzen daz er machte katzen 'der kluge Meister Walther wollte sie bedrängen, indem er Belagerungsmaschinen anfertigte'.172 167 168 165 170 171 172

a.a.O. Variante: in. DW, XI, l 2 , Sp. 1118. DW, XI, l 2 , Sp. 1119. gemeint ist lat.: iis. DW, XI, l 2 , Sp. 1123.

438

Der paradigmatische Dativ

Ein anderes Beispiel mit dem Dativ stammt von Luther, der bei trotzen in der Regel allerdings den Akkusativ verwendet, wenn das Verb im ersten Bedeutungsansatz 'reizen, herausfordern usw.' intendiert wird; das Beispiel mit dem Dativ aber ist: (28) (die papisten) trotzen mir, warumb ich so zag sei und nit gen Rom kumme 'fordern mich damit heraus, warum ich so zaghaft sei und nicht gegen Rom aufkomme'.173 Aus diesem Beispiel geht bereits hervor, daß der Kasus den Leser (und den Linguisten) vor ein interpretatorisches Problem stellt. Es ist nicht sicher, ob trotzen in Beispiel (28) lediglich ein 'Herausfordern' bezeichnet. Der ganze Satz legt nahe, daß der Gedanke, dem Luther Ausdruck verleiht, insgesamt dem Geist der Opposition verpflichtet ist: Die Papisten entgegnen Luther (und verübeln es ihm zugleich), daß er nichts gegen Rom unternimmt. Damit scheint das Verb sich in (28) durchaus dem Bedeutungsansatz 'Widerstand leisten', lat. resistere, opponere, zu nähern, in dem trotzen - wie wir sogleich sehen werden - tatsächlich den Dativ regiert. Ahnliches läßt sich auch, sei es in weniger ausgesprochenem Maße, angesichts der OttokarBeispiele vermerken. Das Verb trotzen (bei Ottokar ausnahmslos trotzen, was, wie gesagt, typisch ist für das Oberdeutsche) impliziert über die Herausforderung (25), die Kränkung (26) und die Bedrängnis (27) hinaus immer auch das Moment des Widerstands.174 173 174

DW, XI, l 2 , Sp. 1118. Zwei weitere Beispiele aus Ottokars Reimchronik, die im Deutschen Wörterbuch dem zweiten Bedeutungsansatz lat. 'resistere' zugeordnet werden, zeigen, daß die ausschließliche Zuordnung der drei bereits zitierten Belege zum ersten Bedeutungsansatz nicht eindeutig und deshalb auch nicht zwingend sein kann: (28') durch im. geniez wolden si die bur giere (...) haben beschazi. des wart in getrazt 'durch ihre Genußsucht wollten sie die Bürger besteuern; das wurde ihnen verwehrt', DW, XI, l 2 , Sp. 1124 (28") do si sich gen dem herzogen des vordem jares satzten und uf ir trost trazten Albrehten, dem fursten riche 'als sie sich dem Herzog des Vorjahres widersetzten

trotzen

439

Auch für den zweiten Bedeutungsansatz gibt es im Mhd. bereits Belege. Die frühesten Belege weisen in diesem Bedeutungsansatz meistens die Form trotzen auf, neben trutzen.115 In anderen Redekategorien kamen anscheinend mehr stammverwandte Formen vor, wie troz, trozlich u.dgl.176 Das Deutsche Wörterbuch stellt fest, daß im Mhd. das Verb trotzen seine ursprüngliche Bedeutung allmählich aufgibt: Der zweite Bedeutungsansatz 'Widerstand leisten' (bzw. 'zum Widerstand bereit sein') verdrängt den ersten Bedeutungsansatz 'reizen, herausfordern, kränken usf.'. Dieser Sprachwandel setzt sich im 17. Jh. durch177 und kann im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts als abgeschlossen gelten.178 Während bei Luther, Opitz u.a. der Kasus noch schwankt (den tod trotzen; aller weit trotzen)119, ist bei Klopstock, Lessing, Schiller, Goethe, Herder, Novalis, Klinger u.a. der Dativ bei trotzen 'Widerstand leisten', von einigen Ausnahmen abgesehen180, bereits zur Norm geworden.181 Den Kasuswechsel zum Dativ, der mit der Hauptbedeutung 'widerstehen' einhergeht, belegen u.a. folgende Beispiele: (29) er haut und sticht um sich herum und trutzt dem ganzen höllenheer, Wieland182 (30) tapfer (...) trotzen sie den (...) anstürmen dieses feindes, Karl Ritter (1779-1859)183 (31) eine gemeinschaft, in der wir doch so stark sind, dasz wir einer weit in waffen trotzen könnten, Otto von Bismarck (1815-1898)184

und aufgrund ihrer Hilfe Albrecht, dem reichen Fürsten, den Gehorsam verweigerten', DW, XI, l 2 , Sp.

1128. 175 176 177 178 179 180

181 182 183 184

MH, II, Sp. 1498; vgl. auch BMZ, III, 85, 25. MH, II, Sp. 1533; BMZ, III, 118, 27. DW, XI, l 2 , Sp. 1117. DW, XI, l 2 , Sp. 1124. DW, XI, l 2 , Sp. 1125. vgl. etwa: er (...) trutzt sogar des schicksals ewge mächte, Goethe, DW, XI, l 2 , Sp. 1127. s. DW, XI, l 2 , Sp. 1126-1130. DW, XI, l 2 , Sp. 1124. a.a.O. a.a.O.

440

Der paradigmatische Dativ

(32) dem Steuermann trozen die steigenden wogen, Schiller185 (33) bollwerk und mauer trutzen dem wellenwurf schon ein jahrtausend ja, Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898).186 Das Verb trotzen 'Widerstand leisten' setzt sich daneben auch in einer Vielzahl verwandter aktueller Redebedeutungen durch, in denen das Hauptmerkmal des Widerstandes bald stärker, bald schwächer zum Ausdruck kommt. Auch in diesen Verwendungen setzt sich seit dem 18. Jh. der Dativ als Objektskasus durch, vgl.:187 (34) leidstu, dasz Solime dir trotzet ins gesicht? (d.h.: 'entgegentritt, die Stirn bietet'), Hofmann von Hoffmannswaldau (1617-1679)188 (35) du wolltest die herzöge verewigen, wir wollen keine herzöge mehr!, und so trutzte er mir spöttisch (d.h.: 'entgegnete mir trotzig'), Goethe.189 Üblich ist auch die absolute Verwendung des Verbs, vornehmlich im Sinne von 'gekränkt sein und (daher) schmollen'190 oder im Sinne von 'gereizt antworten, jmdm. böse sein'191. All diese Verwendungen sind bis heute erhalten geblieben.192 Daneben wird das Verb auch oft mit Präpositionen verbunden, vor allem zusammen mit mit und gegen, beides im Sinne von 'schmollen, nicht(s) miteinander reden, den Groll fühlen lassen'.193 Am stärksten reduziert ist das adversative Moment im heute veraltenden trotzen auf (+ Akkusativ), das 'auf etwas pochen' bedeutet.194 Noch älter ist schließlich die Verwendung von trotzen im Sinne von 'wetteifern, es jmdm. gleichtun wollen'; deshalb weisen viele Belege noch den ursprünglichen Akkusativ auf.195

185 186 187

188 189 190 191

192 193 194 195

a.a.O. a.a.O.; vgl. femer die Belege in GWbdS, VII, 3459, Sp. 3. Gelegentlich kommt außer der Akkusativ- auch die Genitivrektion vor, s. DW, XI, l 2 , Sp. 1126. DW, XI, l 2 , Sp. 1127. a.a.O. s. DW, XI, l 2 , Sp. 1128, z.B.: ich lass euch, wenn ihr trutzt, im stich, Goethe. s. DW, XI, l 2 , Sp. 1129, z.B.: "ich habs verloren und er hats gefunden", trotzte (er) noch einmal, Wilhelm Schäfer (1868-1952). s. GWbdS, VII, 3459, Sp. 3. s. DW, XI, l 2 , Sp. 1129. s. GWbdS, VII, 3459, Sp. 3. s. DW, XI, l 2 , Sp. 1130.

trotzen

441

Die paradigmatische Opposition, die sich in der historischen Analyse bei einem Vergleich zwischen trotzen + Akkusativ und trotzen + Dativ herausschält, belegen schließlich auch zwei andere, heute außer in einigen Mundarten nicht mehr existente Verben, die auf trotzen zurückgehen, nämlich tratzen (bzw. dratzen) und tretzen (bzw. dretzen). Das Verb tretzen bedeutete 'quälen, necken, spotten, reizen' und regiert(e) in der Regel den Akkusativ: (36) darmit thüt er die fiirsten dretzen 'damit neckt er die Fürsten' (1504)196 (37) thut mich mit tömvorten dretzen 'neckt mich mit Lautmalereien', Hans Sachs (1494-1576)197 (38) hier soll uns die langeweile nicht triezen 'hier soll uns die Langeweile nicht quälen', Johann F. Heynatz (1744-1809).198 Das Verb trotzen jedoch bildete seinerseits zwei Bedeutungsansätze heraus. In der Verwendung 'sich heftig widersetzen', die im Mhd. eher selten ist, wurde es entweder absolut, als einstelliges Verb, oder in Verbindung mit einem adverbalen Dativ gebraucht, vgl.: (39) den alten der iu also trazt 'den Alten, der sich euch auf diese Weise widersetzt', Der Stricker (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts)199 (40) üf die tür ich ez (das gefasz) do sazt, da mit ich in allen trazt 'auf die Tür setzte ich dann das Gefäß, damit leistete ich ihnen allen Widerstand'200 (41) die mit gewalt mir trotzten 'die mir mit Gewalt widerstanden'.201 In der zweiten Verwendung 'herausfordern, reizen usw.' forderte das Verb dagegen den Akkusativ: (42) doch sol sich ein jeder allweg züchtig beweisen und nieman überal trazen noch belaidigen 'doch soll sich jeder immer anständig verhalten und überall niemand herausfordern noch beleidigen'202 196 m 198 199 200 201 202

DW, II, Sp. 1406. a.a.O. a.a.O. DW, II, Sp. 1342. a.a.O. und vgl. MH, II, Sp. 1498. DW, II, Sp. 1342. a.a.O.

442

Der paradigmatische Dativ

(43) die Märker mit plotz man fatzt, die Pommern mit dem Schlorg (?) man drazt 'die Märker plagt (reizt) man mit dem Bauernmesser, die Pommern reizt (plagt) man mit dem Pantoffel (?)', Hans Sachs.203 Die Parallelentwicklung der Kasusgeschichte und der Bedeutungsgeschichte des Verbs trotzen zeigt besonders klar die paradigmatische Opposition zwischen dem Verb in der Bedeutung 'jmdn. reizen' und mit dem entsprechenden Akkusativ einerseits und trotzen in der Bedeutung 'jmdm. widerstehen* in Verbindung mit dem Dativ andererseits. Die Kasusverteilung entspricht darüber hinaus durchaus den systematischen "Kernbedeutungen" der Kasus, denn es leuchtet ein, daß die Person, die man reizt, herausfordert usw., im "Skopus" des Verbs erfaßt ist (und damit eine "kohärente" Stelle angesichts der Verbalhandlung einnimmt), während die Person, der man Widerstand leistet, als eine vom Subjekt und Prädikat getrennte ("inkohärent" gesetzte Größe) vorgestellt wird.204

203 204

a.a.O. Zum Vergleich s. auch den ursprünglichen Dativ beim heute veralteten Verb widern: Die Sache widert mir (d.h.: 'Die Sache widert mich an'), s. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 833 (Originalpag. 698).

leuchten

443

V.8. leuchten Leuchten war ursprünglich ein absolut verwendetes Verb. Im älteren Ahd. dem Althochdeutschen Wörterbuch zufolge ist das Verb bei Otfrid, im Tatian, im Wessobrunner Schöpfungsgebet sowie in den Murbacher Hymnen belegt205 - kommt bei leohten/liuhten niemals ein Kasusobjekt vor, vgl.: (1)

Ni liuhte lioht iiier, man iüih lobön thes thiu mer 'Wenn ihr nicht hell leuchtet (d.h.: 'keine Aufmerksamkeit auf euch lenkt'), wird man euch desto mehr loben', Otfrid.206

Im Spätahd. kommt leohten in der Hoheliedparaphrase von Williram von Ebersberg sowie bei Notker vor. Nur Notker ergänzt das Verb aber gelegentlich durch ein Dativobjekt, wie z.B. in: (2)

So sie uaren begonden . so deneta er daz uuolchen über sie tages . fore dero hizzo. Vnde nahtes fiür . daz iz in liehti 'Als sie anfingen zu reisen, breitete er tagsüber die Wolke über sie aus, gegen die Hitze. Und nachts das Feuer, damit es ihnen leuchtete', Notker.207

Auch im Mhd. ist ein adverbaler Dativ durchaus üblich - s. die Sätze (3) und (4) - , aber keineswegs notwendig oder auch nur vorherrschend neben der absoluten Verwendung, wie sie die Sätze (5) und (6) belegen: (3)

(4)

205 206 207

208 209

diu maenin joch der sunne, di liuhten uns mit wunnen 'der Mond und auch die Sonne, die leuchten uns mit Wonne' (Mitte des 12. Jahrhunderts)208 uon einer frowen uz irkorn di muter ist unde maget di mir ze mitter naht taget und in vinsternisse luhtet 'von einer auserkorenen Frau, die Mutter und Magd ist, die mir mitten in der Nacht zu Tag wird und in der Finsternis leuchtet' (um 1200)209 AW, 199, Sp. 2. Piper, II, 17, 21. Piper, II, 449, 17; lat.: Expandit nubem in protectionem per noctem. Die Wahrheit, 10, 9. Pilatus, 70-73.

eorum. Et ignem ut luceret eis

444 (5)

(6)

Der paradigmatische Dativ

Do kos diu maget edele ein teil des morgens schin, und gin des wazzers brehene, als ez solte sin sach si liuhten helme und vil der liehten Schilde. diu burc was besezzen; von gewesen lühte al daz gevilde 'Dann nahm die edle Magd einen Teil der Morgendämmerung wahr, und beim Schimmer des Wassers, sowie es sein mußte, sah sie Helme leuchten und viele strahlende Schilde. Die Burg war eingeschlossen; von Waffen glänzte die ganze Gegend'210 zerfossiure oben inne dä wären kleiniu vensterlin durch daz lieht gehouwen in, diu lähten dä und hie. 'Im oberen Teil der Grotte (= der Minnegrotte) waren kleine Fenster wegen des Lichtes ausgehauen (d.h.: 'um das Licht hineinzulassen'), die hier und dort leuchteten', Gottfried von Straßburg.211

Der adverbale Dativ in den Sätzen (2), (3) und (4) ist paradigmatisch bedingt: Die Bezeichnung des Objekts mittels eines Dativs verhindert, daß das Objekt in eine "kohärente" Stellung zum Verb tritt. Dasjenige, was leuchtet, d.h. 'Licht und Helligkeit abgibt', ist nach wie vor das Subjekt, und das (Dativ-)Objekt spielt in dieser Verbalhandlung eine nur "periphere" Rolle. Vgl. auch noch folgende Beispiele mit adverbalem Dativ: (7) (8)

Uuända dero selo liehtet naturale ingenium 'denn der Seele leuchtet naturale ingenium\ Notker212 die sonne sol nicht mehr des tages dir scheinen, und der glänz des monden sol dir nicht leuchten, Luther.213

Die Tatsache, daß mit dem Dativ der Handlungsgehalt des Verbs nach wie vor auf das Subjekt "beschränkt" wird, ist im Mhd. kaum sichtbar, weil es nur einen Kontrast zu einer ziemlich seltenen reflexiven Verwendung mit einem akkusativischen Reflexivpronomen gibt, wobei außerdem die Bedeutung des Verbs 'weniger dicht werden' von dem bisher behandelten leuchten 210 211 212 213

Kudrun, 1356. Tristan, 16728-16731. Piper, I, 698, 27. DW, VI, Sp. 831.

leuchten

445

ziemlich abweicht, z.B im folgenden Beispiel mit der Redebedeutung 'eine Lichtung bilden im Wald': (9)

ouch begunde liuhten sich der wait, wan daz ein rone was gevalt üf einem plän, zuo dem er sleich 'auch fing der Wald an, sich zu lichten, obwohl dort nur ein gefällter Baumstamm lag auf einem freien Platz, zu dem er schlich', Wolfram von Eschenbach.214

Der paradigmatische Unterschied tritt dann aber unverkennbar im Kontrast zu einigen älteren nhd. Beispielen mit Akkusativobjekt zutage. Zwar gibt immer noch die im Subjekt genannte Entität Licht oder Helligkeit ab, aber das Akkusativobjekt bezeichnet das Ergebnis bzw. den spezifischen Inhalt dieses Vorgangs und ist somit unmittelbar an der Verbalhandlung beteiligt im Sinne der "Kohärenz", vgl.: (10) bunte blumen in dem garten leuchten von der morgensonne, aber leuchten keine wonne, liebchen darf ich nicht erwarten, Goethe215 (11) ihre breiten gewölbe in weiten bogen leuchten gleich beim eintritt erhabenheit in die seele, Johann Jakob Heinse (1746-1803)216 (12) Vor dem Throne, der sonst die hellste sichtbare Schönheit Leuchtete, Klopstock.217 Der paradigmatische Kontrast beruht nicht auf Zufall oder regional bzw. zeitlich unterschiedlichen Sprachnormen. Auch bei ein und demselben Autor kommen bei leuchten Dativ und Akkusativ mit funktionalem Unterschied vor, vgl. z.B.: (13) So blühet wenigstens des Himmels reinste Jugend, Ihr Antlitz leuchtet Lieb', und ihre Brust flammt Tugend, Christian Felix Weiße (1726-1804)218 214

Parzival, 282, 9-11. DW, VI, Sp. 832. 216 DW, VI, Sp. 832. 217 Campe 1807ff, III, 109, Sp. 1. 2 " a.a.O. 215

446

Der paradigmatische Dativ

(14) Den Blöden leuchtet sein Verstand, C. F. Weiße.219 Im Kontrast zum Goethe-Beispiel (Satz [10]), können wir auch noch folgenden Beleg mit zusätzlichem Präpositionalobjekt anführen: (15) ein blondes, schönes Kind, das dem Herrn Vetter vor seiner Abreise mag in die Augen geleuchtet haben, Goethe.220 In der Gegenwartssprache ist bei leuchten nur noch ein adverbaler Dativ möglich, und zwar in Redebedeutungen wie den folgenden: (16) Kannst du mir bitte einmal leuchten?121 (17) Sie leuchteten ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht (18) Reinhard machte die Tür auf und leuchtete ihr, Theodor Storm (18171888).222 Wie man sieht, weisen die modernen Verwendungen eine klare geschichtliche Verbindung mit den frühesten Belegen im Ahd. und Mhd. auf. Der paradigmatische Kontrast zur ehemaligen Akkusativrektion ist heute allerdings nicht mehr sichtbar, weil die Verwendung etwas leuchten aus der Norm der deutschen Sprache ausgeschieden ist.223 Erwähnt werden müssen schließlich noch das zusammengesetzte Verb einleuchten {etwas leuchtet jmdm. ein) sowie das allmählich veraltende Kompositum heimleuchten, das ebenfalls einen adverbalen Dativ regiert, sowohl in der eigentlichen Bedeutung (jmdm. heimleuchten 'jmdn. mit einer Lampe nach Hause begleiten') als auch in der übertragenen Bedeutung (jmdm. heimleuchten im Sinne von 'jmdm. eine Abfuhr erteilen').224 Die Dativrektion von heimleuchten ist übrigens eine interessante Ausnahme vom Fourquetschen Konnexionsprinzip, gemäß dem die adverbial spezifizierte Verbalphrase im Prinzip über eine transitive Bindungsfähigkeit verfügt. Der Dativ erweist sich allerdings als nicht ursprünglich, und noch im Deutschen Wörterbuch regiert heim leuchten ausnahmslos den Akkusativ, vgl.: 219 220 221 222 223

224

a.a.O. Beleg aus Fischer 1929, 409, Sp. 1. DUW, 949, Sp. 2. WDG, III, 2359, Sp. 2. In seiner Syntax macht Grimm 1897/1898, IV, 819 (Originalpag. 689) außer auf leuchten noch auf das mhd. Verb wisen aufmerksam, das in der Bedeutung '(jmdm.) den Weg weisen' ebenfalls einen adverbalen Dativ regiert haben soll, z.B.: Wiste blinden (lat.: coecis). In MH, III, Sp. 941f und BMZ, III, 758f fanden wir dies nicht bestätigt. vgl. DUW, 681, Sp. 2.

leuchten

447

(19) der rhodische Kolossus, der nach den Zeugnissen der alten mit einer latente die schiffe heimleuchtete, Jean Paul (1763-1825).225 Die Dativrektion von heimleuchten ist unter dem Einfluß des Simplex leuchten zur Norm geworden. Dasselbe gilt für den Dativ bei her-, hin- und hineinleuchten,226 Der Rektionsunterschied zwischen Akkusativ und Dativ erscheint im Kontrast zu den transitiven Präfixverben wie erleuchten und beleuchten sowie dem ebenfalls transitiven Partikelverb ausleuchten paradigmatisch zusätzlich motiviert.

225 226

DW, IV, 2, Sp. 861. vgl. Campe 1807ff, II, 652, Sp. 1 und Sanders 1876, II1, 119, Sp. 2.

448

Der paradigmatische Dativ

V . 9 . lauschen Die Frage, wie das moderne Verb lauschen zu seinem adverbalen Dativ kam, ist nicht leicht zu beantworten. Klar scheint zu sein, daß kein syntagmatisches Motiv darin eine bedeutende Rolle gespielt hat, so daß es naheliegt, den tieferen Grund für die Rektion im paradigmatischen Bereich zu suchen. Dafür spricht auch eine Reihe von Argumenten, auf die wir weiter unten ausführlicher eingehen werden. Zunächst aber gilt es, die komplizierte Etymologie sowie die Kasusgeschichte des Verbs kurz nachzuzeichnen und auch die Kasusgeschichte eines anderen Verbs - nämlich ahd. (h)losen, mhd. und nhd. losen - in die Diskussion einzubeziehen, obwohl letzteres Verb sprachgeschichtlich mit lauschen nicht verwandt ist. Man geht gemeinhin davon aus, daß lauschen etymologisch verwandt ist mit dem bereits im klassischen ahd. Korpus nachweisbaren Verb loscen (oder losken bzw. losgeri), das 'verborgen sein, liegen' bedeutet.227 Ahd. loscen ist in einer Reihe von Verwendungen belegt, v.a. in Verbindung mit einem Adverb (das in der Regel den Ort nennt, wo etwas versteckt ist), in absoluter Verwendung und in Verbindung mit einem Reflexivum im Dativ. Vor allem die beiden letzten Verwendungen sind für uns interessant. Absolut gebraucht wird das Verb im einzigen Beleg bei Otfrid: (1)

thiu gouma losget thäre, soflsg in themo uuäge 'Die Nahrung ist dort verborgen, wie der Fisch es ist im Wasser' . m

Ebenfalls absolut ist das Verb im folgenden Notker-Zitat: (2)

Vuer uueiz ouh uuaz in came loskee? 'Wer weiß auch, was im Körper (im Fleisch) verborgen ist?';229

das Reflexivum im Dativ taucht dagegen auf in folgendem Satz: (3)

227 228 229 230

Tu erleitest io dinen lib in räuuön . säliglicho dir loskenter . sämoso in einero uesti 'Du verbringst dein Leben immer in Ruhe, glückselig dich versteckend, wie in einer Feste', Notker.230

AW, 201, Sp. 2; Pfeifer 1993, 774, Sp. 1. Piper, III, 7, 34. Piper, II, 367, 11-12. Piper, I, 87, 22-23.

lauschen

449

Die Verwendung mit reflexivem Dativ geht daraufhin unter. Die mhd. Belege von loschen 'versteckt, verborgen sein' (eventuell auch loschen oder luschen) weisen meist eine absolute Verwendung des Verbs auf; oft gehört zum Satzbauplan eine Umstandsangabe in der Form einer Präpositionalphrase, z.B.: (4)

si löschet in dem winter und ist verporgen, aber in dem lenzen kämt si her für 'sie (der Salamander) ist im Winter versteckt und verborgen, aber im Frühling taucht sie wieder a u f , Konrad von Megenberg (ca. 1309-1374).231

Aus solchen Verwendungen entwickelt sich lauschen im Nhd. zu einem Verb, das vor allem in der Bedeutung 'im hinterhalte liegen, feindlich auf jemand lauern' Verwendung findet, und dies entweder in Verbindung mit einer Präpositionalphrase (5) oder in absolutem Gebrauch (6): (5) (6)

ich halte, dasz viel böser buben und lawrer hie sein, die auf uns lauschen, Luther232 verrath und argwöhn lauscht in allen ecken, Schiller.233

Aus den Belegen in Adelungs Wörterbuch sowie im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm geht aber hervor, daß die Bedeutung des Verbs nicht festlag und daß der negative Nebensinn des feindlichen bzw. hinterhältigen Verborgenseins auch durchaus fehlen konnte. Das erklärt Verwendungen des Verbs in aktuellen Redebedeutungen wie 'zögernd warten', 'verweilen' (wann ich entzückt in deinen Armen lausche; im Bette lauschen), '(aus einem Versteck) hervorsehen' (junge, hübsche Angesichter/lauschen aus Kapuz und Linnen, Heinrich Heine [1797-1856]), 'schleichen' (einherlauschen) usw.234, ja sogar 'schlummern'.235 Die Kernbedeutung aller dieser Verwendungen ist offenbar nach wie vor der ältere Bedeutungsansatz 'verborgen sein'. In der Gegenwartssprache gibt es von diesem Bedeutungsansatz nur noch vereinzelte Reste, wie z.B. im Lexem unbelauscht 'insgeheim' oder in bestimmten Verwendungen von belauschen im Sinne von 'heimlich beobachten', z.B. in: 231 232 233 234 235

Buch der Natur, 277, 30-31. DW, VI, Sp. 354. a.a.O. s. Adelung 1793ff, II, Sp. 1944 und DW, VI, Sp. 354-355 für Belege. Trübner 1939ff, IV, 398, Sp. 1.

450 (7)

Der paradigmatische Dativ

Sie belauschen die Tierwelt mit der Kamera.226

Das Simplex lauschen ist im modernen Deutsch ganz und gar auf den Aspekt des Horchens bzw. Zuhörens hin idiomatisiert. Der Beginn dieser Sprachentwicklung fällt anscheinend in die Zeit um 1700. Anfänglich war die Verknüpfung mit dem negativen Nebensinn noch deutlich vorhanden, denn lauschen stand ursprünglich nicht einfach für 'zuhören', sondern für '(böswillig) abhören', so z.B. in Fügungen wie lauschen was einer redet oder lauschen an der thür (Anfang des 18. Jahrhunderts).237 Das Verb gehörte aber bald zum gehobenen Lexikon der Dichter und verlor wieder - wie schon lauschen im Sinne von 'feindlich auf jmdn. lauern' - die pejorative Konnotation. Heute wird lauschen in absoluten Konstruktionen, zusammen mit einer Präpositionalphrase oder in Verbindung mit einem adverbalen Dativ verwendet. Bevor wir auf die modernen Verwendungsweisen und ihr Fundament in der neueren Sprachgeschichte eingehen, gilt es, noch auf einen anderen geschichtlichen Strang hinzuweisen, der in der Entwicklung des Kasusrahmens von lauschen ebenfalls eine Rolle gespielt haben könnte. Im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen wird lauschen in der modernen Bedeutung 'horchen, zuhören' mit dem etymologisch nicht verwandten Verb losen in Verbindung gebracht, das auch heute noch im Süddeutschen, Österreichischen und Schweizerdeutschen das übliche Verb für 'hören' ist.238 Das Verb losen (auch lusen) ist als Lexem besonders alt. Das Althochdeutsche Wörterbuch unterscheidet zwei Formen, nämlich das übliche ahd. losen oder hlosen, das in verschiedenen ahd. Sprachdenkmälern belegt ist, und das nur bei Otfrid belegte ahd. loson. Letztere Form regiert den Genitiv: (8)

Er losöta iro uuorto 'Er hörte auf ihre Worte', Otfrid.239

Auch losen ist bei Otfrid nur zweistellig und in Verbindung mit dem Genitiv belegt:

236

237 238 239

s. WDG, I, 506, Sp. 2. Das auch heute noch gebräuchliche Lexem lauschig 'halb versteckt und gemütlich gelegen' (DUW, 933, Sp. 1) bzw. 'einsam und still, traulich' (WDG, III, 2318, Sp. 1) führen Trübner 1939ff, IV, 398, Sp. 1 und DUW, 933, Sp. 1 auf lauschicht 'gern horchend' zurück. DW, VI, Sp. 355. Pfeifer 1993, 774, Sp. 1. Piper, I, 22, 35.

lauschen

451

(9)

Sin friunt (...) loset sines uuörtes 'Sein Freund (...) hört auf sein Wort'240 (10) losetun mit giuuürti thero sinero äntuuurti '(sie) hörten mit Vergnügen auf seine Antworten'.241 Bei Notker erscheint die Rektion des Verbs in der Regel danach differenziert, ob das Hören sich auf eine Person bezieht oder nicht. Das persönliche Objekt steht normalerweise im Dativ, wie die Sätze (11) und (12) belegen, das sachliche Objekt dagegen im Genitiv (genitivus rei), wie aus Satz (13) hervorgeht: (11) Tir selber der himel löset 'Dir selber hört der Himmel zu'242 (12) Lösest du mir . so bin ih din Got. Nelosest du mir . dann bin ih Got. nals aber (nicht aber) din Goi243 (13) dö du suigendo gnöto losetöst minero uuorto 'als du schweigend und gespannt auf meine Worte hörtest'.244 Der Kasusunterschied ist aber nicht absolut, wie der Dativ däro stinuno im folgenden Satz Notkers beweist: (14) unde losent dero stimmo sines lobes 'und hört auf die Stimme seines Lobes!'.245 Aus Satz (14) geht abermals hervor, daß der Dativ bereits seit dem Ahd. nicht pauschal als der Personenkasus gelten kann, auch wenn es sich dabei um die Stimme einer Person handelt; mindestens ebensowichtig für die Rektion des Verbs dürfte aber die syntagmatische Verbindung von stimma (bzw. stimna) mit dem adnominalen sines lobes sein, das selber im Genitiv steht. Noch bemerkenswerter als der Dativ in Satz (14) ist der Dativ in folgendem Beleg: (15) Uuända ouh prouerbium ist. ubi amor . ibi oculus . pe diu lose dir . uuio iz kefuor 'Denn es ist auch ein proverbium: ubi amor . ibi oculus; höre dir (selbst) deshalb zu, wie es geschah!', Notker.246 240 241 242 243 244 245 244

Piper, Piper, Piper, Piper, Piper, Piper, Piper,

II, 13, 11. I, 22, 38. I, 833, 22. II, 190-191, 27-1. I, 126, 23-24. II, 248, 8; lat.: et obaudite uoci laudis eius. I, 225, 1-2.

452

Der paradigmatische Dativ

In diesem Satz erscheint losen als ein reflexives Verb, bei dem das Reflexivum darüber hinaus im Dativ steht. Nicht nur bezieht sich dir auf eine Person, außerdem gehört zum Gefüge ein Nebensatz, der sich auf das Objekt des Hörens bezieht. Der abhängige Satz uuw iz kefuor kann somit als ein Inhaltssatz gedeutet werden, der einem Akkusativobjekt äquivalent ist, so daß man die Behauptung aufstellen kann, daß dem Dativ auch ein syntagmatisches (diakritisches) Kasusmotiv zugrunde liegt. Die Rektionsschwankungen bleiben auch in späteren Phasen der Sprachgeschichte bestehen. Im Mhd. kann das Verb losen sogar alle drei Obliqui regieren. Zu beachten sind dabei wiederum die semantischen Restriktionen: Während sowohl die Genitivrektion (16) als auch die Akkusativrektion (17) nur in Verbindung mit sachlichen Objekten belegt ist, kann das Dativobjekt sachlich sein (18) oder auch eine Person bezeichnen (19): (16) weit ir der rehten maere losen 'Wenn Sie der wahren Wiedergabe des Geschehens zuhören wollen', Wolfram von Eschenbach247 (17) hie mugt ir groz wunder losen 'Hier könnt ihr ein großes Wunder hören' , Wolfram von Eschenbach248 (18) und (si) loseten (...) dem süezen vogelsange 'und sie hörten dem süßen Vogelgesang zu', Gottfried von Straßburg249 (19) Her Dietrich sprach: nu lose mir (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts).250 Zweistellige Konstruktionen wie in Satz (19) werden gelegentlich weiter spezifiziert, z.B. anhand einer Präpositionalphrase, vgl.: (20) wer aim an sein haus lost, den sol man straffen 'wer einem an seinem Haus abhört, den soll man strafen'.251 Im Übergang zum Nhd. geht die Genitivrektion von losen verloren. Belege aus dem 16. Jh. weisen - außer der seit dem Ahd. immer produktiven absoluten Verwendung des Verbs - vor allem Dativrektion auf (nach wie vor ist es dabei egal, ob eine Sache oder eine Person gemeint ist), seltener auch Akkusativrektion, wie in:

247 248 249 250 251

Parzival, 363, 27. Parzival, 58, 14. Tristan, 17159-17160. Eckenlied, 131, 1. ΜΗ, I, Sp. 1958.

lauschen

453

(21) der abt (...) sagt zu seim vettern losz ein wort, Jörg Wickram (15051562).252 Dem Deutschen Wörterbuch zufolge steht jmdm. losen für 'zuhören, aufmerksamkeit schenken, gewöhnlich mit dem beisinne des folgens', vgl.: (22) Adam, diewyl du gloset hast der stimm dins wybs 'Adam, weil du auf die Stimme deiner Frau gehorcht hast', Jacob Ruff (1500-1558).253 Der folgende Beispielsatz müßte im Prinzip eine diakritische Kasusverteilung zwischen Dativ und Akkusativ belegen, erweist sich aber als ein äußerst seltsamer Beleg für einen doppelten Dativ: (23) dieweil man euch ewerem blawen dunst loset und glaubet 'weil man euch zuhört, wenn ihr den Leuten etwas vorgaukelt, und euch glaubt', Paracelsus (1493-1541).254 Inwiefern (23) ein Lapsus calami zugrunde liegt oder ob das Fehlen der kasusmorphologischen Diakrisis letztlich auf der Neutralität des Dativs gegenüber dem Unterschied zwischen Personen und Sachen beruht, wollen wir nicht entscheiden. Im Nhd. setzen sich neben der Dativrektion zwei weitere Konstruktionsweisen durch, nämlich die Präpositionalfügung auf jmdn./etwas losen (24) sowie die Verbindung von losen mit einem abhängigen Inhaltssatz, wie in (25) und (26): (24) sein lieb (...) tet auf den jeger losen, Ludwig Uhland (1787-1862) ;255 der abhängige Satz kann auf mehrere Weisen eingeleitet werden (was, wie usw.): (25) darurrib predigt man dir, das du losest, was man sag (1517)256 (26) los guter gsell, wie es mir gangen ist (1546).257 252 253 254 235 256 257

DW, VI, Sp. 1189. DW, VI, Sp. 1188. a.a.O. DW, VI, Sp. 1189. a.a.O. a.a.O.

454

Der paradigmatische Dativ

Regional, d.h. vor allem im süddeutschen Sprachgebiet, sind die meisten dieser Verwendungen bis heute erhalten geblieben. Aus der geschichtlichen Analyse geht hervor, daß einige Belege mit dem Verb losen sowohl in syntaktischer als auch in lexikalsemantischer Hinsicht große Übereinstimmungen mit Verwendungen des Verbs lauschen aufweisen. Das gilt vor allem für die Verbindungen des Verbs mit Präpositionalphrasen oder mit dem Dativ in zweistelligen Satzbauplänen, sowie in Verbindung mit abhängigen Inhaltssätzen, die mit wie, ob, was usw. anfangen, vgl.: (20) an sein haus lost (20') lauschen an der thür258 (24) auf den jeger losen (24') lauschte ich oft von des vaters Uppen auf die thaten der edlen Griechen, Friedrich M. Klinger (1752-1831)259 (24") Sie lauscht auf die Atemzüge des schlafenden Kindes260 (18) (si) loseten (...) dem süezen vogelsange (18') Er lauschte dem Gesang261 (26) los (...), wie es mir gangen ist (26') sie lauscht, wie ferne das kriegshorn gellt, Ferdinand Freiligrath (1810-1876).262 Inwieweit losen den Kasus- und Valenzrahmen des Verbs lauschen sprachgeschichtlich direkt beeinflußt hat, und zwar sowohl syntaktisch wie semantisch, wollen wir hier nicht entscheiden. Für die Annahme eines solchen Einflusses spricht allerdings zweierlei. Sowohl die Verbindung mit einem abhängigen Satz als auch die Verbindung mit einem adverbalen Dativ sind bei lauschen - im Sinne von '(aus einem Versteck, heimlich) horchen, zuhören' - , wie wir sahen, erst jüngeren Datums, dies im Gegensatz zu losen. Hinzu kommt eine Parallele zwischen den beiden Verben, die bei der Begründung des adverbalen Dativs bei lauschen ebenfalls berücksichtigt werden muß. So wie die Geschichte von losen das Verb vereinzelt in Verbindung mit einem Akkusativobjekt zeigt, so verzeichnet das Deutsche Wör238 239 260 261 262

DW, VI, Sp. 355. DW, VI, Sp. 355; dort auch viele andere Belege von lauschen auf. WDG, III, Sp. 2318. a.a.O. DW, VI, Sp. 356.

lauschen

455

terbuch auch zwei Belege aus dem Schaffen Friedrich M. Klingers, in denen lauschen den Akkusativ regiert, z.B.: (27) ich lauschte sie, als sie nach der chaise gehn wollte, und redete sie an.263 In der Gegenwartssprache kann lauschen als reinen Kasus nur den Dativ regieren: (28) Er lauschte dem Rieseln des Baches.26* Nun ist eine Akkusativrektion, bei lauschen wie bei losen, zwar die Ausnahme, man kann aber nicht behaupten, daß sie der Semantik der beiden Verben widerspräche. Die Belege mit den Nebensätzen (losen, was/wie/ob usw. bzw. lauschen, was/wie/ob usw.) zeigen, daß sich bei beiden Verben im Prinzip sowohl präzisieren läßt, was man hört, wie auch dasjenige, worauf man hört. Letzteres gibt bei losen sogar Anlaß zur Deutung im Sinne von 'folgen, gehorchen', s. Satz (22). Es liegt demnach nahe, zwischen der Dativrektion der beiden Verben und ihrer Verbindung mit Präpositionalphrasen auf der einen Seite und der Verbindung der Verben mit abhängigen Inhaltssätzen auf der anderen Seite von einer im Prinzip möglichen paradigmatischen Opposition auszugehen. Die Tatsache, daß lauschen heute - und dies seit der Zeit der deutschen Klassik - den Dativ, und nicht den Akkusativ regiert (im Gegensatz zu den ebenfalls ziemlich seltenen transitiven belauschen und erlauschen)265, wäre somit als das Ergebnis eines kasusmorphologischen Ausgleichs zugunsten des Dativs zu werten. Die Tatsache, daß lauschen ein ausgesprochen dichterisches Wort ist, dürfte dabei sicherlich eine Rolle gespielt haben. Darüber hinaus aber scheint es schwierig zu sein, die Grenze zu bestimmen, wo man aufhört, 'etwas zu hören', und anfangt, 'auf etwas zu hören'. Insofern scheint für den adverbalen Dativ nicht nur die Interferenz mit dem Kasusrahmen von losen verantwortlich zu sein, sondern auch der im wörtlichen Sinn grenzenlose Übergang zwischen zwei Arten der Bezeichnung, denen im Prinzip eine kasusmorphologische Opposition entsprechen kann.

263 264 265

DW, VI, Sp. 356. WDG, III, Sp. 2318. s. DUW, 231, Sp. 3 und 452, Sp. 3.

456

Der paradigmatische Dativ

V . 1 0 . klingeln In einer eher marginalen Verwendung von klingeln wird das Verb mit einem Dativobjekt verbunden, wie z.B. in: (1)

Er klingelte dem Kellner/der Sekretärin usw.

Marginal ist der adverbale Dativ bei klingeln aus verschiedenen Gründen. Erstens kann er immer durch eine Präpositionalphrase mit nach ersetzt werden, was im heutigen Deutsch auch meist geschieht: (1') Er klingelte nach dem Kellner/der Sekretärin usw.266 Zweitens kommt klingeln auch in einer Reihe von anderen Konstruktionen vor, ohne Dativobjekt. Zu unterscheiden ist die absolute Verwendung, wie z.B. in: (2)

Das Telefon/der Wecker klingelt,

auch in unpersönlicher Variante: (3)

Es klingelt.™

Hiermit verwandt ist die Verwendung in der Bedeutungsvariante 'metallisch klingend klopfen', beispielsweise in: der Motor klingelt/die Ringe klingeln/ die Geldstücke klingeln im Beutel usw. Absolut wird das Verb jedoch auch bei persönlichem Subjekt verwendet, wobei also eine spezifizierende Redebedeutung oder aktuelle Bedeutung vorliegt, wie z.B. in: (4)

Der Radfahrer klingelte ununterbrochen (d.h.: 'betätigte die Klingel ununterbrochen').268

Schließlich wird das Verb auch noch mit persönlichem Objektsakkusativ verwendet, wie z.B. in: (5)

Wir haben ihn nachts aus dem Bett geklingelt.

Bei diesem letzten Gebrauch ist freilich nicht nur das Akkusativobjekt, son206 267 268

DUW, 847. a.a.O. a.a.O. Satz (4) ist übrigens dahingehend unbestimmt, daß das Syntagma als solches nicht aussagt, welche Klingel (die Klingel am Fahrrad, an der Tür oder eine andere Klingel) betätigt wird.

klingeln

457

dem auch die Präpositionalphrase obligatorisch; vgl.: *Wir haben nachts aus dem Bett geklingelt bzw. *Wir haben ihn (nachts) geklingelt. Aus einem Vergleich zwischen (5) Wir haben ihn nachts aus dem Bett geklingelt und (1) Er klingelte dem Kellner geht hervor, daß der Unterschied zwischen Akkusativ und Dativ in bezug auf Personen in der Objektstelle durch das Vorhandensein oder Fehlen einer Präpositionalphrase bedingt ist. In Übereinstimmung mit Fourquets Konnexionsmodell bedeutet dies, daß die Konnexion aus dem Bett klingeln über eine transitive Bindungsfahigkeit verfugt, die beim adverbial noch nicht spezifizierten Verb klingeln fehlt. Ahnliches stellten wir bereits bei den beiden Verben winken (§ III. 10.) und pfeifen (§ III. 11.) fest. Konstruktionen mit einem Objektsakkusativ der Sache kommen in der Gegenwartssprache nicht mehr vor. Solche Konstruktionen sind historisch zwar belegt, jedoch waren sie offenbar niemals gebräuchlich. Im Deutschen Wörterbuch wird folgendes Beispiel gegeben ("causativ, gleich 'klingeln machen'"): (6)

wie vast der haf am klingel hellt 'wie stark der topf beim probieren klingt' (1539).269

Die Autoren verweisen für die transitive Verwendung auf analoge Beispiele mit klingen, erklingein, klengeln, ausklingeln usw., vgl.: (7)

das schlägt an die metallne krone, die es erbaulich weiter klingt, Schiller270 (8) bis du (...) mit ihm vollen reinen einklang klingst (1798)271 (9) rückt dichter in der heiigen runde, und klingt den letzten jubelklang (1815)272 (10) wie die Samojederinnen ein glöckchen tragen, damit die eitern jeden schritt und aufenthalt derselben wissen, so klingeln die Deutschen ihre märsehe den feinden aus273 (11) hat die schlüssel mit gelechter erschüttelt und erklingelt, Leonhard Thurneysser (1530-1595/96).274 269

270 271 272 273 274

DW, V, Sp. 1178. DW v

DW, DW, DW, DW,

Sp

n81

V, Sp. 1182. V, Sp. 1185. I, Sp. 894. III, Sp. 877.

458

Der paradigmatische Dativ

Bei den folgenden Beispielen merken die Autoren an, daß das reine Intransitivum klingen "aus sich selbst, mit umgehung der zu geböte stehenden transitiven) form, in ein trans(itivum) und selbst causativum übergetreten ist": (12) wie klenke ich nu die daene, sit ich verlorn hän die hant?21s (13) stunde flirn altar, fieng an zu singen und seine schellen auch zu klingen, Johann Fischart (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts)276 (14) sie schwebte vorüber, da klang si den stahl, Herder.277 Heutzutage wird auch klingen nicht mehr als Transitivum mit einem Gegenstand als Akkusativobjekt verwendet. Daß dies aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Fall war und auch klingeln im Prinzip transitiv verwendet werden konnte, zeigt, daß es durchaus als begründet erscheint, zwischen klingeln (bzw. klingen) + Akkusativ und klingeln (bzw. klingen) + Dativ zu unterscheiden, auch wenn der adverbale Dativ sich bei klingeln aus synchronischer Sicht als das Ergebnis einer Valenzerweiterung präsentiert. Wie bei den bisher behandelten Verben der GRUPPE C haben wir es bei klingeln + Dativ mit einer Perspektivierung der Verbalhandlung zu tun, die mit dem Verhältnis zwischen Lebewesen und Gegenständen übereinstimmt (vgl. § V.l.), wie z.B. in: (15) spielet dem herrn mit paucken, und klinget jm mit cimbeln, Luther.278 Die Akkusativrektion ist demgemäß insofern inhibiert, als nicht 'jmd. macht etwas klingeln', sondern 'klingeln für' intendiert ist. In der deutschen Gegenwartssprache hat klingeln + Dativ sich auf die Bedeutung 'jmd. klingelt nach jemandem, damit diese Person etwas tut' festgelegt. Sätze wie (10) so klingeln die Deutschen ihre märsche den feinden aus belegen, daß jene semantische Unterscheidung zumindest bei den Präfixoidverben sogar syntagmatische - und damit diakritische - Relevanz gewinnen konnte.

273 276 277 278

Das Nibelungenlied, 1964, 4. DW, V, Sp. 1185. a.a.O. DW, X, 1, Sp. 2371.

bekommen

459

V . l l . bekommen Das zweiwertige Verb bekommen wird heute meist im Sinne von 'erhalten, empfangen' verwendet, und das Verb regiert dann einen obligatorischen Akkusativ, z.B.: (1)

Ich habe im Vorjahr endlich die erforderlichen Bücher bekommen.

In einer paradigmatischen Opposition dazu steht die Verwendung mit adverbalem Dativobjekt im Sinne von 'jmdm. Nutzen oder Schaden bringen': (2)

Der Ausflug nach Italien ist mir schlecht bekommen.

Ohne weitere Spezifizierung versteht man unter bekommen in der Regel 'gut bekommen', vgl.: (3)

Das Essen ist mir bekommen}19

Nicht nur der Akkusativ im transitiven Satzbauplan ist obligatorisch, sondern auch der adverbale Dativ im intransitiven Satzbauplan; absolute Verwendungen von bekommen sind heute ausgeschlossen, vgl.: (3') *Das Essen ist bekommen. Das Subjekt von bekommen + Dativ muß zwar nicht notwendigerweise in der 3. Person stehen, aber ein Subjekt der 1. und der 2. Person ist doch unüblich und markiert, vgl.: (4)

7

Du bist mir (gut/schlecht) bekommen.

Das Verb bekommen ist ein gutes Beispiel für diejenigen abgeleiteten Verben mit adverbalem Dativ, die wir der GRUPPE C zuordnen. Paradigmatische Unterschiede in der Kasusrektion dieses Verbs sind bereits sehr alt. Ursprünglich, im Ahd. und im Mhd., ist eine Alternation zwischen intransitiven Verwendungen und Verwendungen mit adverbalem Dativ und adverbalem Genitiv vorhanden. Die intransitive, einstellige Verwendung (die heute erloschen ist) steht dem Simplex kommen nahe und kann in ihrem etymologischen Kern am besten als 'hervortreten, kommen, eintreten' umschrieben werden. Diese Bedeutung tritt bei Otfrid und auch noch in den mhd. einstelligen Verwendungen ausgeprägt zutage, z.B.: 279

DUW, 230, Sp. 3.

460 (5) (6)

Der paradigmatische Dativ

Riaf er thö filu främ, so nöna zit thö biquäm 'Da rief er sehr laut, als die neunte Stunde eintrat', Otfrid280 dar umbe bin ich her bekamen 'deswegen bin ich hierher gekommen'.281

Das Ortsadverbial wird mittels eines Präpositionalobjekts ausgedrückt: (7)

do bequamen sie in der bridiger Ms ze Wimpen alle mit ain ander 'da kamen sie alle zusammen im Dominikanerkloster zu Wimpen an'.282

Aus dem etymologischen Kern können die Verwendungen mit Kasusobjekten erklärt werden. Das Subjekt kann in dem Sinne 'kommen' oder 'hervortreten', daß es mit jemandem eine Begegnung hat, und diese zweite Instanz wird syntaktisch mittels eines Dativobjekts ausgedrückt, vgl.: (8)

(9)

Do bechäm iro ouh iro suiger maia . athlantis tohterön scönista 'Dort begegnete ihr auch ihre Schwiegermutter Maia, die schönste unter Atlantis' Töchtern', Notker283 do im der engel schar bekam und er die liebten krone sach, Jösephät, der guote, sprach f...) 'als die Schar von Engeln ihm begegnete und er die leichte Krone sah, sagte der gute Josephat: (...)', Rudolf von Ems (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts).284

Wenn das Subjekt bei ahd. biqueman oder mhd. bekamen zugunsten einer anderen Instanz 'hervortritt' und so deren Besitz wird (das heißt also: ihr zuteil wird), wird die zweite Instanz ebenfalls mit einem Dativ bezeichnet, vgl.: (10) iu biquimit, ih sagen ίύ thäz, thaz dndaraz allaz 'Ihnen wird, das sage ich euch, alles andere zuteil', Otfrid285 (11) do sprach der künc: "nu sage an 280 M1 282 283 284 285

Piper, IV, 33, 15. Das Nibelungenlied, 107, 4. WMU, I, 176, Sp. 1. Piper, I, 830, 15; lat.: Tunc etiam superuenit candidior Barlaam und Josephat, 15706-1508. Piper, II, 22, 30.

athlantidum.

bekommen

461

wannen ez dir bekasm!" 'Dann sagte der König: "los, sag, wann du es (= das Kind) bekommen hast"', Johann von Würzburg (1314).286 Diese beiden Verwendungsweisen des Verbs verschwinden nach der mhd. Periode. Mittlerweile aber hat sich aus dem Inhalt 'begegnen' der Inhalt 'widerfahren' (12), 'gedeihen' (13) und auch 'wohl/schlecht bekommen' (14) entwickelt: (12) Swem dtζ von ie kein leit bekan (sie), der weiz wol, wie ich gebunden bin 'Wem auch immer dadurch irgendein Leid widerfuhr, der weiß genau, wie wenig Spielraum ich habe', Reinmar der Alte (ca. 1150-1210)287 (13) disiu sumerzit diu müez in baz bekamen 'diese Sommerzeit, die möge ihnen besser bekommen', Walther von der Vogelweide288 (14) Do sprach der wilde Hagene: "es ist iu wol bekamen" 'Dann sagte der wilde Hagen: "Es ist euch wohl bekommen'".289 Diese Verwendungen bilden die Grundlage für die moderne Verwendung 'jmdm. Nutzen oder Schaden bringen', wie sie die Sätze (2), (3) und (4) illustrieren. Im Gegensatz zu heute war der adverbale Dativ früher noch kein fester Teil des Satzbauplans: (15) dankßr wohlthat ist ein same der nicht überall bekäme, Friedrich von Logau (1604-1655)290 (16) Die Pflanzen sind sehr gut bekommen291 (17) Die im Herbst gesetzten Bäume sind alle gut bekommen.291 Die Verwendungen mit einem adverbalen Genitiv sind geschichtlich anders zu verstehen. Wenn das Subjekt bei biqueman/bekomen zu einem Besitz gelangt, indem es - etymologisierend umschrieben - in einer solchen Weise 286 287 288

289 2,0 291 292

Wilhelm von Österreich, 1276-1277. Ich weite äfguoter liute sage, 3, 5-6. Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 73, 25.

Kudrun, 315, 1. DW, I, Sp. 1425. Adelung 1793ff, I, Sp. 835. Campe 1807ff, I, 445, Sp. 1.

462

Der paradigmatische Dativ

'hervortritt', daß es nach etwas emporreicht, dann wird dieser erworbene Besitz im Genitiv ausgedrückt, wie z.B. in folgenden Beispielsätzen: (18) Ladotun äuuer tho then man, ther thes gisiunes biquam 'Sie (= die Pharisäer) riefen dann abermals den Mann, der die Sehkraft erlangt hatte', Otfrid293 (19) daz die keiserin lang nie macht bechomen eines chindes 'so daß die Kaiserin lange kein Kind bekommen konnte'294 (20) so sol der lantfogt vnd die burger also schafen, das sie ir gutes bekamen 'dann werden der Landvogt und die Bürger dafür sorgen, daß sie ihr Gut bekommen'.295 Eine Genitivrektion bei biqueman 'gelangen zu, erhalten' ist bei Notker nur einmal belegt: (21) To stüont tiu müoter uif. unde bat iouem iöh tie ändere . daz (•. •) st iro uuidemen so bechäme 'Dann stand die Mutter auf und bat Jupiter und die anderen, daß sie ihre Brautgabe auf diese Weise bekäme', Notker.296 Da uuidemo 'Brautgabe' ein schwaches Substantiv ist, ist der genitivische Kasus morphologisch nicht sichtbar und könnte es sich in (21) strenggenommen auch um einen Akkusativ297 oder sogar um einen Dativ handeln. Ein Genitiv ist beim Verbinhalt 'bekommen' und im Hinblick auf die Genitivrektion bei Otfrid in Satz (18) sowie die Genitivrektion im Mhd. (s. die Sätze [19] und [20]) jedoch viel plausibler. Außerdem haben die Belege von biqueman mit einem morphologisch undoppeldeutigen Akkusativ einen völlig anderen Inhalt, nämlich 'ergreifen, beeindrucken', vgl.: (22) Nebechümet tih nieht selbiv des chärchäres eigeslichi? 'Ergreift dich selbst die Schrecklichkeit des Kerkers nicht?', Notker298

293 294 295 296 297

298

Piper, III, 20, 105. BMZ, I, 905, 4. WMU, I, 176, Sp. 1. Piper, I, 845, 23. In diesem Sinn entscheiden sich Sehrt/Legner 1955, 603, Sp. 1 und Sehrt 1962, 109, Sp. 1. Piper, I, 23, 23; lat.: Nihilne mouet te . ipsa fades loci?

bekommen

463

(23) Τάζ ih tir liudön . bechümet tih täz ieht? 'Daß ich für dich Gedichte vortrage, beeindruckt dich das ein wenig?', Notker.299 Einen Akkusativ in Satz (21) anzunehmen heißt somit, die sonst klare paradigmatische Kasusverteilung im Ahd. nicht zu berücksichtigen: - biqueman + Genitiv: 'gelangen zu, bekommen', - biqueman + Dativ: 'zuteil werden; begegnen', - biqueman + Akkusativ: 'beeindrucken'. Das Deutsche Wörterbuch300 sieht sich mit dem Gebrauch von bechumen + Akkusativ 'ergreifen' bei Notker (in den Sätzen [22] und [23]) vor ein Rätsel gestellt. Semantisch kann tatsächlich kein unmittelbarer Zusammenhang mit den übrigen Verwendungen festgestellt werden, und weder vor noch nach Notkers Schriften begegnet diese Verwendung.301 Ein Rätsel braucht dies aber nicht zu sein; es ist bloß zu schließen, daß die Akkusativrektion offenbar keine lange Tradition hatte. Auch im Mhd. findet man eine vergleichbar strenge paradigmatische Kasusverteilung vor, wenn auch zwischen nur zwei Kasus: - bekamen + Dativ: 'zuteil werden; begegnen; gedeihen', - bekomen + Genitiv: 'gelangen zu, bekommen'. Mhd. bekomen + Dativ 'zuteil werden' und bekomen + Genitiv 'gelangen zu, bekommen' sind nur scheinbar synonym, vgl.:

299 300 301

Piper, I, 23, 6. DW, I, Sp. 1427. Das einzige Beispiel für mhd. bekomen mit einem Akkusativ, das bei Benecke-MüllerZarncke (I, 904, 7) auftaucht, ist an dem Stade bekam, er in ('an jmd. kommen, ihn einholen') bei Gottfried von Straßburg. Von Akkusativrektion kann in diesem Beleg jedoch nicht die Rede sein. Aus dem vollständigen Kotext geht hervor, daß keineswegs ein Akkusativ vorliegt, vgl.: (23') Tristan begunde in nähen und an dem Stade bekam er in: "ir Herren", sprach er, "keret hin " 'Tristan kam ihm immer näher, und am Ufer holte er sie ein: "Ihr Herren", sagteer, "fahrt los"', Tristan und Isolde, 7116-7118. Im Gegensatz zu der Annahme in Benecke-Müller-Zarncke ist das Pronomen in in diesem Beleg kein Akkusativ der 3. Person Einzahl (nhd. ihn), sondern der Dativ der 3. Person Mehrzahl (nhd. ihnen). Diese Verwendung von bekomen reiht sich ohne weiteres in die übliche Konstruktionsweise von bekomen + Dativ ein.

464

Der paradigmatische Dativ

(11) do sprach der künc: "nu sage an wannen ez dir bekaem!" 'Dann sagte der König: "los, sag, wann du es (= das Kind) bekommen hast'" (1314) (20) so sol der lantfogt vnd die burger also schüfen, das sie ir gutes bekomen 'dann werden der Landvogt und die Bürger dafür sorgen, daß sie ihr Gut bekommen'. Zwar muß mhd. bekamen in den beiden Fällen ad sensum mit nhd. bekommen übersetzt werden, aber dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Subjekt in (11) die Größe ist, die jmdm. zuteil wird, während das Subjekt in (20) gerade die Instanz ist, der etwas zuteil wird oder die etwas bekommt. Eine Abstraktion dieser mhd. Belege zu einem künstlichen Minimalpaar läßt das paradigmatische Verhältnis anschaulich werden: (24) °daz künicrtche bekamt eines guoten vürsten (25) °daz künicrtche bekamt einem guoten vürsten. In (24) und (25) entscheidet jeweils der Kasus darüber, wem was zuteil wird. Die paradigmatische Opposition bleibt bis ins Frühnhd. erhalten. Allerdings wird die Genitivrektion bei bekommen zugunsten der Akkusativrektion aufgegeben, ein Vorgang, der Teil einer allgemeinen Tendenz zum Abbau des adverbalen Genitivs ist, die seit dem Ende der mhd. Periode wirksam ist. Die Belege im Deutschen Wörterbuch erlauben zwar keine präzise Datierung, aber der Ersatz des Genitivs scheint zu Luthers Zeit nahezu abgeschlossen zu sein. Weder Sanders, der seine Belegsammlung mit Luthers Zeit anfängt,302 noch das Wörterbuch zu Dr. Martin Luthers deutschen Schriften von Dietz303 erwähnen Beispiele mit einem Genitivobjekt. Bei Luther sind die intransitiven Verwendungen selten, aber trotzdem lassen sich aus seinem Schrifttum einige Belege heranziehen, die die paradigmatische Opposition illustrieren: (26) das bekompt nu sonderlich der heiligen mutter der kirchen, die ist eine rechte hausmutter und die braut Christj304

302 303 304

Sanders 1876, I, 976-977. Dietz 1870/1973, I, 249, Sp. 1-2. DW, I, Sp. 1426.

bekommen

465

(27) du bekämest das königreich .305 In der frühnhd. Periode entwickelt sich die Verwendung mit adverbalem Dativ immer mehr in Richtung von 'gedeihen', 'jmdm. Nutzen oder Schaden bringen', und nach dem 16. Jh. kommt bekommen 'zuteil werden; begegnen' nicht mehr vor. Dadurch haben sich die Akkusativ- und die Dativrektion weitgehend auseinander entwickelt, so daß man daran zweifeln kann, ob der Zusammenhang zwischen bekommen + Akkusativ und bekommen + Dativ für den heutigen Sprecher noch sichtbar ist. Deshalb sind wir der Meinung, daß wir heute de facto mit zwei homonymen Verben zu tun haben und daß der gemeinsame Kern nur diachronisch-etymologisch deutlich nachweisbar ist.

305

Dietz 1870/1973,1, 249, Sp. 2.

466

Der paradigmatische Dativ

V . 1 2 . belieben Das Verb belieben kann heute fast nur transitiv mit zu + Infinitiv (1) oder zweistellig und unpersönlich mit oder ohne es/was/das usw. verwendet werden, und in letzterem Fall ist ein Dativ obligatorisch, vgl. (2) und (3): (1) (2) (3)

Sie belieben zu scherzen! Ihr könnt tun, was euch beliebt306 Er nahm so viel davon, wie es ihm beliebte.™

Eine zweistellige Verwendung wie in Satz (3) mit einem anderen Subjekt als es/was/das usw. ist heute auf jeden Fall veraltet, vgl. noch folgenden Beleg im Deutschen Wörterbuch: (4)

Diese Sache beliebt mir nun einmal.308

Ein Subjekt in der ersten oder zweiten Person ist undenkbar (*Ich beliebe dir offenbar nicht). Das Verb ist heute somit sowohl satzbauplanmäßig wie auch in seiner Konjugation ein defektives Verb. Bis in die Goethe-Zeit war dies allerdings anders. Das Verb konnte tatsächlich mit einem persönlichen Subjekt und einem Akkusativobjekt verwendet werden, und es bedeutete dann 'lieben' oder 'billigen', vgl.: (5) (6) (7)

wie mancher mensch ist doch von dir betrübt der dich beliebt, Georg Neumark (1621-1681)309 der dein gesichte ansahe und beliebete (1675)310 bis im Jahre 1795 die Gebrüder von Humboldt (...) einen längeren Aufenthalt in Jena beliebten, Goethe.311

Diese Verwendungen bildeten eine paradigmatische Opposition zu zeitgenössischen Verwendungen von belieben mit Dativ, vgl.: (8) (9) 306 307 308

309 3,0 311 312 313

ein weib, dem lob so sehr beliebt, Friedrich von Logau (1604-1655)312 Was ihm alsdann an meiner Vorstellungsart beliebt, Goethe.313

DUW, 232, Sp. 3. WDG, I, 510, Sp. 1. DW, I, Sp. 1448. WDG, BWDW und die Wörterbücher der Dudenredaktion geben kein einziges vergleichbares Beispiel. DW, I, Sp. 1447. a.a.O. GWb, II, Sp. 349. DW, I, Sp. 1448. GWb, II, Sp. 349.

belieben

467

Die moderne Verwendung von belieben mit zu + Infinitiv, wie sie in Satz (1) belegt, ist aus zweistelligen transitiven Verwendungen wie (5), (6) oder (7) hervorgegangen. Die Verbindung von belieben mit adverbalem Dativ in der Gegenwartssprache führt dagegen die Dativrektion in Sätzen wie (8) und (9) weiter. Wie bekommen ist belieben somit ein abgeleitetes Verb, das problemlos der GRUPPE C zugeordnet werden kann.

Der paradigmatische Dativ

468 V.13. genügen

Das Verb genügen wird im modernen Deutsch entweder absolut verwendet, wie z.B. in: Zwei Meter Stoff genügen nicht,314

(1)

oder es wird in zweistelligen Konstruktionen verwendet, in denen das Verb dann einen adverbalen Dativ regiert, z.B.: (2)

Immer schwerer fiel es ihm, seinen Repräsentationspflichten am Hofe und in der Stadt zu genügen, Lion Feuchtwanger (1884-1958).315

In einem Satz wie (1) kann man die aktuelle Bedeutung des Verbs als 'genug sein' oder 'ausreichen' paraphrasieren, während sie in einem Satz wie (2) spezifischer ist und als 'erfüllen' oder '(einer Sache) gerecht werden' bzw. '(einer Forderung) entsprechen' umschrieben werden kann. Als Verb begegnet ahd. ginuagen (bzw. genuogerif16 bereits im ältesten Ahd., und auch dann schon in der dem modernen Verb sehr verwandten Bedeutung 'genügen, befriedigen'.317 Bei Otfrid gibt es nur einen einzigen Beleg, und zwar den folgenden: (3)

thaz minna sie ginüage, ioh käritäs gißage 'daß die Liebe sie zufriedenstelle und Caritas sie aneinander kette (vereine)'.318

Wie man sieht, regiert das Verb im einzigen Otfridschen Beleg den Akkusativ. Es ist somit transitiv und darüber hinaus ist es persönlich gebraucht. Ganz anders zeigt sich der Valenz- und Kasusrahmen von ginuagen ein gutes Jahrhundert später bei Notker, bei dem es insgesamt acht Belege gibt. In den meisten Belegen wird das Verb einstellig verwendet, und zwar unpersönlich in Verbindung mit dem Genitiv. Der Genitiv hat dabei einen stark partitiven Charakter, vgl.: (4)

314 315 316 317 318

ih uutte des fersuigen . däz tero nature lüzzel gnüoget . ünde dero frechi nioner äna gnüoge neist 'Ich will darüber schweigen, daß von

DUW, 589, Sp. 3. WDG, II, 1537, Sp. 1. AW, 227, Sp. 2. a.a.O. Piper, V, 12, 67-68, dort auch die Übersetzung. Das Deutsche Wörterbuch schlägt folgende Übersetzung vor: 'dasz die liebe ihnen genügen und freude geben und sie eng verbinden könne (Caritas die christliche liebe)', DW, IV, l 2 , Sp. 3507.

genügen

469

der natura wenig genügt und daß von der Habgier nirgends und niemals genug ist'319 Vbe des negenuoget . so nezzo ih min bette! 'Wenn das nicht genügt, dann benässe ich mein Bett!'320 Mines uuillen negenuoget därazuö . daz ih kange 'Mein Wille genügt nicht dazu, daß ich gehe'.321

(5) (6)

Daneben kommt bei Notker auch die syntagmatische Verbindung eines Genitive mit einem Dativ vor, allerdings nicht - wie bei den bisher untersuchten Verben üblich war - in dreistelligen, sondern in zweistelligen, nach wie vor unpersönlichen Konstruktionen, vgl.: (7)

uuisest tu mih ze ällero frägön meistün . tero niomer äntuuurtes negnüoget 'du forderst mich zur höchsten aller Fragen auf, der niemals eine Antwort genug ist' (d.h.: 'auf die man niemals eine befriedigende Antwort geben kann').322

Schließlich begegnet das Verb bei Notker auch noch in persönlichen absoluten Konstruktionen mit einem ze + Infinitiv-Anschluß, wie z.B. in: (8)

Officio lingue negenuogent zesagenne . uuaz ih freuui Mbo inne 'Die officio linguae genügen nicht, um die Freude auszudrücken, die in mir ist'.323

Im Mhd. gibt es sowohl für die unpersönliche wie für die persönliche Konstruktion Belege. Eine persönliche (wiederum absolute) Konstruktion liegt z.B. vor in: (9)

ein got und dri person drttich in der volleist genuogen 'ein Gott und drei Personen dreifach in der Vollendung genügen'324 (10) ein gewegin bröt gnüge an dem tage 'ein abgewogenes Brot am Tag soll genügen'.325

3,9 320 321 322

323 324 323

Piper, I, 144, 10-11; lat.: Taceo quod nature . quod auaritie nihil satis est. Piper, II, 15, 23-24; lat.: Lauabo per singulas nodes ledum meum. Piper, II, 509, 19-20. Piper, I, 272, 8-10; lat.: uocas me inquit ad rem omnium . quesitu maximam . cui vix exhausti quicquam satis sit. Piper, II, 637, 10-11. BMZ, II/l, 361, 12-13. DW, IV, l 2 , Sp. 3509.

470

Der paradigmatische Dativ

Persönliches genüegen kann weiter spezifiziert werden, und zwar auf verschiedene Weisen: - durch eine zu/ze + Infinitiv-Konstruktion, z.B.: (11) die lidere, die diu nature zu sprechene hät gezimret, si engenäegent niet die inrest süzicheit gare üz ze dragene 'Die Glieder, die die Natur gemacht hat, damit sie sprechen können, genügen nicht, die innerste Süße (dieses höchsten mystischen Schauens) zum Ausdruck zu bringen';326 - durch eine weitere Präpositionalphrase mit zu/ze, z.B.: (12) wir geloubin, zü der tegelfchen libnar gnüge zwei gesotene mus 'wir glauben, daß für den täglichen Unterhalt zwei warme Mahlzeiten genügen';327 - durch ein Dativobjekt, z.B.: (13) swelich munich (...) zü dem clöstre kumit (...) ob ime gnugit diu gewonheit des clöstris (...) der werde inphangin 'egal welcher fremde Mönch zu dem Kloster kommt (...), wenn ihm die Gewohnheit des Klosters genügt (...), dann wird er empfangen';328 - oder durch ein Akkusativobjekt, z.B.: (14) vnd daz ander ervolt ich im, also daz ez in wol genvegt 'und ich erfüllte ihm die andere Bitte, so daß es ihm wohl genügt'.329 Daß die vier Formen zusätzlicher Spezifizierung syntaktisch und semantisch eng miteinander verwandt sind, ist deutlich: die zu/ze + Infinitiv-Konstruktion, die zw/ze-Präpositionalphrase, das Dativobjekt sowie das Akkusativobjekt nennen die Handlung oder die Instanz, für die das im Subjekt Genannte genügt. Sie nennen also nicht - wie bei den weiter unten zu behandelnden unpersönlichen Fügungen der Fall ist, die mit einer Präpositionalphrase (mit an) oder mit einem Satzglied im Genitiv verbunden werden können - die Instanz oder die Sache, an der es genügt. 326 327 328 329

a.a.O. a.a.O. a.a.O. WMU, I, 650, Sp. 2.

genügen

471

Daneben konnte mhd. genüegen aber auch noch reflexiv verwendet werden, und zwar mit Genitivobjekt und akkusativischem Reflexivum. Wie beim unpersönlichen genüegen nennt der Genitiv in dem Fall nicht eine Zweckinstanz, er präzisiert nicht das Wozu, sondern das Wie der Verbalhandlung, vgl.: (15) wie sich daz gevuogete, daz sich einz des andern genuogete 'wie sich das fügte, daß sich eines durch das andere seine Wünsche erfüllte', Ulrich von Türheim (13. Jh.).330 Weitaus gebräuchlicher als das persönliche genüegen ist im Mhd. jedoch der unpersönliche Gebrauch des Verbs. Dabei zeugt das Mhd. von einer großen syntaktischen Vielfalt. Während in Satz (7) der Genitiv mit einem Dativ verbunden ist, wird das Verb im Mhd. sowohl mit dem Dativ wie mit dem Akkusativ verbunden, wobei es sich in beiden Fällen um Personenkasus handelt. Der Akkusativ ist beim unpersönlichen Verb aber viel üblicher. Im einzelnen unterscheidet das Mittelhochdeutsche Wörterbuch bei unpersönlichem genüegen die folgenden sechs Satzbaupläne:331 a. Verb - Akkusativ - Genitiv b. Verb - Akkusativ - Präpositionalphrase an c. Verb - Akkusativ, ohne weiteres Objekt332 d. Verb - Dativ - Genitiv e. Verb - Dativ - Präpositionalphrase an f. Verb - Dativ, ohne weiteres Objekt. Am häufigsten belegt ist der Satzbauplan a., mit Akkusativ und Genitiv. Die folgenden drie Beispielsätze stammen alle aus dem Iwein von Hartmann von Aue: (16) mich gnüeget rehter maze 'ich bin zufrieden mit dem rechten Maß', Hartmann von Aue333 330 331 332 333

Tristan, 1197-1198. BMZ, II/l, 360-361. Die Existenz des Satzbauplans c. ist nicht gesichert, s. BMZ, II/l, 360, 36-40. Iwein, 4792; Cramer 1968, 4792 (S. 94) übersetzt die Stelle mit: 'Das übliche Maß ist mir genug'; BMZ, II/2, 360, 48 schlägt vor: 'mich verlanget nicht(,) was zu viel ist'.

472

Der paradigmatische Dativ

(17) ir müezent ane mich disen strit läzen beide, durch daz ich iu bescheide daz iuch des wol gnüeget und ez ouch mir wol vüeget 'Ihr beide müßt mir diesen Streit (d.h.: 'die Entscheidung dieses Streites') überlassen, so daß ich eine Entscheidung treffe, die euch beide zufriedenstellt und die auch mir zukommt', Hartmann von Aue334 (18) er hat mirz allez wol geseit, wie im iuwer hövescheit dise ere hat geviieget, der in durch reht genäeget 'Er hat mir alles genau erzählt, wie ihm Eure Gewandtheit (Höfischheit) diese Ehre verschafft hat, die ihn mit Recht zufrieden macht', Hartmann von Aue;335 vgl. auch noch: (19) der eren mich genüeget, die du mir, herre, hast gegeben 'mir genügt die Ehre336, die du mir, Herr, erwiesen hast', Wirnt von Gravenberc337 (20) du hast mich des wol innen bräht, möhtestü, dü hülfest mir. des genüeget mich wol von dir 'du hast mir das deutlich gezeigt, könntest du, würdest du mir helfen. das freut mich sehr von dir', Hartmann von Aue.338 334

335

336 337 338

Iwein, 7648-7652; in BMZ, II/2, 360, 3-5 lautet die Übersetzung: 'ihr könnt euch keinen besseren Schiedsrichter wünschen, und mir kommt es zu, dies amt zu übernehmen'. Iwein, 2743-2746, Übersetzung von Cramer 1968, 2743-2746 (S. 54); BMZ, II/2, 360, 51 hat statt in in der Zeile 2746 im und übersetzt sie wie folgt: 'die ihm mit recht zur grossen freude gereicht'; vgl. auch DW, IV, l 2 , Sp. 3507. wörtlich: 'mir genügen die Ehren'. Wigalois, 8958-8959. Der arme Heinrich, 934-936; vgl. DW, IV, l 2 , Sp. 3509.

genügen

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Satzbauplan d., mit Genitiv und Dativ (statt Akkusativ), ist seltener, kommt aber ebenfalls vor, z.B. im folgenden Beispielsatz: (21) waer im wol an gelungen, dannoch hiets im niht genuogt 'auch wenn es ihm gelungen wäre, hätte es ihm dennoch nicht genügt'.339 Im Iwein finden wir auch einige Belege für den Satzbauplan b., in dem die Präpositionalphrase mit an die Position des älteren Genitivs einnimmt und genüegen mit dem Akkusativ verbunden wird, z.B.: (22) ietweders mäht, wol dem andern was kunt, daz st beide dä zestunt an ein ander genuocte 'eines jeden Kampfvermögen hatte der andere genau kennengelernt (war dem anderen gut bekannt), so daß beide in diesem Augenblick voneinander genug hatten', Hartmann von Aue.340 Ein Beleg für den parallelen Satzbauplan e., mit Dativ statt mit Akkusativ, wäre: (23) Die tier, das vihe, den genügt an spise, an tränke, an kleidern, an betten, als es Got gemachet hat 'Die Tiere, das Vieh, denen genügt es an Speise, an Trinken, an Kleidern, an Betten, so wie es Gott geschaffen hat', Johannes Tauler (ca. 1300-1361).341 Schließlich ist seit dem Mittelalter auch der einstellige Verwendungstyp des Verbs belegt, in dem es den Dativ regiert (Satzbauplan f.), vgl.: (24) der wärheit habe ich also vil geseit, daz dir wol solde genügen 'von der Wahrheit habe ich soviel gesagt, daß dir das wohl zufriedenstellen342 sollte'343

339 340

341 342 343

BMZ, II/l, 360, 42-43. Iwein, 7350-7353, Übersetzung von Cramer 1968, 7350-7353 (S. 143); die Übersetzung in BMZ, II/2, 360, 31-32 lautet: 'so dass jeder mit dem andern vollkommen zufrieden war'. Die Predigten, hrsg. von F. Vetter (1910), 198, 15-16. wörtlich: 'daß dir wohl genügen'. BMZ, II/l, 360, 50-51.

474

Der paradigmatische Dativ

(25) Danne ist diu demüeticheit allererst genuoc volkomen als got den menschen demiietiget mit dem menschen selber und dä aleine genüege den menschen und ouch der tugent und niht e 'Erst dann ist die Demut vollkommen genug, wenn Gott den Menschen mit dem Menschen selber demütigt, und allein dann ist den Menschen und auch der Tugend Genüge getan und nicht eher', Meister Eckhart (ca. 1260-1328)344 (26) daz namen die geste gar vor gut, in genügte, gut was ir gemach 'das nahmen die Gäste gar gerne an, sie waren zufrieden345, ihr Zimmer war gut' .346 Auf jeden Fall muß also I. Dal widersprochen werden, wenn sie behauptet, mhd. genüegen regiere nur noch den Akkusativ.347 Die Autoren des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs behaupten, daß man es bei den unpersönlichen Verwendungen von genüegen in Verbindung mit dem Genitiv - also bei den Sätzen (16), (17), (18), (19), (20) und (21) - mit einem "genitiv des objects" zu tun habe.348 Daß in der Regel eine unpersönliche Konstruktion vorliegt, ist im Prinzip klar. Nicht nur zeigen Sätze wie (19) der eren mich geniieget und (22) si beide (...) an ein ander genuocte, daß es zwischen dem Satzteil im Genitiv und dem Verb nicht die Kongruenz gibt, die für eine Subjektrelation erforderlich ist. Die Beispielsätze (24), (25) und (26) mit einstelliger Obliquusrektion weisen darüber hinaus auf die enge Verbindung von genügen zu den sog. "obliquen «-Verben" - grauen, schwindeln, ahnen usw. - hin (s. § Π.5.2.). Dennoch ist es aus mehreren Gründen problematisch, den Genitiv bei genüegen, egal ob in Verbindung mit dem Akkusativ oder in Verbindung mit dem Dativ, pauschal als ein "Objekt" zu bezeichnen. Erstens ist klar, daß in den Konstruktionen mit Genitiv - Verb - Akkusativ/Dativ der Akkusativ oder Dativ tatsächlich jeweils ein Satzglied in der Objektstelle bezeichnet. Unklar aber ist, was bei der Semantik des Verbs genügen unter einem weiteren "Objekt" - im Genitiv - verstanden werden könnte. Zu berücksichtigen ist zweitens, daß das Verb seit ahd. Zeit immer sowohl persönlich wie unpersönlich verwendet wurde; dabei handelte es sich stets um ein und dasselbe Verb, also nicht etwa um zwei syntaktisch diver344 345 344 347 348

Traktate, hrsg. von J. Quint (1963), 292, 6. wörtlich: 'ihnen genügte'. BMZ, II/l, 360-361. Dal 1966, 37. BMZ, II/l, 360, 47 und 41-42.

genügen

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gierende Homonyme. Viele Belege lassen sich sowohl als unpersönliche Konstruktionen wie auch als Sätze mit einem partitiven Genitiv als Subjekt deuten. Letztere Interpretation liegt beispielsweise für die Sätze (6) Mines uuillen negenuöget därazuö, (7) ntomer äntuuürtes negnüoget (der Frage) und (16) mich gnüeget rehter mäze näher als die Deutung, gemäß der es sich dabei um subjektlose Sätze handelt: Tatsächlich ist davon die Rede, daß der Wille nicht ausreicht, daß die Antwort nie vollständig genug sein kann und daß es reicht, den Teil zu bekommen, der dem angebrachten Maß entspricht. Demnach scheint die Geschichte des Verbs genügen vom Ahd. bis zum Mhd. eine valenzmäßige Unbestimmtheit aufzuweisen, die seine kasusmorphologische Komplexität überhaupt erst verständlich werden läßt. Auch die weitere Entwicklung im Nhd. legt diesen Schluß nahe. Die Verbindimg von Genitiv und Akkusativ ist gemäß unserer hierarchischen Sicht auf die Kasus und die Satzkonnexionen im Deutschen damit begründbar, daß der Akkusativ in den Sätzen (16), (17), (18), (19) und (20) erstens tatsächlich ein Kasus ist, der hierarchisch problemlos verfügbar ist, und zweitens mit der "kohärenten" Bedeutungsbeziehung zwischen Verb und Objekt kompatibel ist ('befriedigen, zufriedenstellen, freuen usw.'). Für den Dativ in den Sätzen (21), (24), (25) und (26) scheint es weder einen kasusmäßigen noch einen verbsemantischen Grund zu geben. Tatsächlich ist es der Unterschied zwischen zwei Typen von Bedeutung, der dafür sorgt, daß seit dem späteren Mhd. der adverbale Dativ sich bei genügen verfestigt: Im Bedeutungsansatz 'befriedigen, zufriedenstellen usw.' regiert das Verb in der Regel den Akkusativ, im Bedeutungsansatz 'genug sein, genug tun, Genüge leisten usw.' jedoch zunehmend den Dativ. Einen Teil des transitiven Gebrauchs von mhd. genüegen im Sinne von 'befriedigen' übernimmt im Nhd., seit dem 17. Jh., dann das Präfixverb vergnügen.3*9 Im Übergang vom Mhd. zum Nhd. verschwindet der ehemals stark überwiegende unpersönliche Gebrauch von genüegen und macht Platz für die verschiedenen Satzbaupläne, in denen das Verb persönlich gebraucht wird und die zum Teil bis auf den heutigen Tag bewahrt geblieben sind. Auch dies scheint dafür zu sprechen, daß nicht alle mhd. ein- und zweistelligen Konstruktionen mit dem Genitiv ohne weiteres als "subjektlose" Sätze eingestuft werden können. Typisch für das Nhd. ist, daß genügen oft zusätzlich mit dem Verb lassen verbunden wird. 349

Pfeifer 1993, 1503, Sp. 1.

476

Der paradigmatische Dativ

Die Akkusativrektion, die neben der Genitivrektion die meist belegte Rektion von genügen war, hält sich bis ins 18. Jh. Sie wird seit Luthers Zeit freilich immer weniger üblich. Der Akkusativrektion entspricht die Redebedeutung 'zufriedenstellen, befriedigen', vgl.: (27) gott kans fügen, das einen mag genügen 'Gott ist in der Lage, zu bestimmen, was einen Menschen befriedigen kann', Georg Henisch (1549-1618)350 (28) ich lasse mich daran genügen, dasz ich ein wenig weisz (d.h.: 'ich bin damit zufrieden'), Luther.351 Bei der - nur noch im Frühnhd. vorhandenen - Verbindung des Akkusativobjekts mit einem zusätzlichen Genitiv kann von keiner unpersönlichen Konstruktion mehr die Rede sein, vgl. das folgende Beispiel mit lassen: (29) du ( = weit) lässest dich der bitterkeit des todes (...) nicht genügen?52 Die Akkusativrektion liegt ferner auch der passivischen Fügung genügt sein 'befriedigt sein' im Mhd. zugrunde, z.B.: (30) und sind daran nicht gnüget, das sie mit frechen werten on alle scheu ir gift ausgieszen, Luther353 (31) bis gnüget an dem das du hast?54 Zuletzt aber kann der Akkusativ nur noch beim reflexiven Gebrauch des Verbs belegt werden, wobei sich genügen 'sich begnügen' bedeutet. Oft gesellt sich dabei zum Akkusativobjekt ein weiteres Präpositionalobjekt, vgl.: (32) wer gnügt sich doch wohl mit seinem zustande (18. Jh.)355 (33) genüge dich an dem gesichte, das dir die träger des thrones gaben, Herder.356

350 351 332 353 354 355 356

DW, IV, l 2 , Sp. 3507. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. DW, IV, l 2 , Sp. 3508 weist daraufhin, daß das Präfixverb begnügen eine spätere Nebenform zu genügen und benügen sei; dem widerspricht aber die große Anzahl von Belegen mit begenüegen im Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache, 154-155.

genügen

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Die Beispielsätze (32) und (33) sind als die nhd. Nachfolger jener persönlichen reflexiven Verwendungen von mhd. genüegen erkennbar, bei denen das Verb sowohl ein Reflexivum im Akkusativ als auch ein weiteres Objekt im Genitiv regierte, wie z.B. in Satz (15). Aus den obigen Beispielsätzen (27) bis (33) geht hervor, daß die Verbindung des Verbs mit dem Akkusativ seit dem späteren Mhd. in erster Linie im Bedeutungsansatz 'befriedigen, Freude bereiten, begnügen usw.' belegt werden kann. Das ist kasusmorphologisch vor allem in paradigmatischer Hinsicht bedeutsam, weil die Verbindung von begnügen mit dem Dativ seit dem Frühnhd. für den Bedeutungsansatz 'genug sein' typisch ist. Seit dem Frühnhd. setzt sich tatsächlich die Dativrektion des Verbs durch. Ein weiteres Satzglied im Genitiv wird rasch immer weniger gebräuchlich.357 Statt dessen aber kommen entweder Präpositionalphrasen oder untergeordnete Sätze vor, oder das Verb wird einfach einstellig mit Dativobjekt gebraucht. Den Satzbauplan mit der Präposition an fanden wir schon im Mhd. belegt (s. Satz [22] und [23]); hinzu gesellt sich im Nhd. die Möglichkeit, auch die Präposition mit zu verwenden, vgl.: (34) Ich laße mir an Salz und Brot genügeniss (35) die sitte dieser weit, (...) ihr gnügt am inneren werth, Friedrich Wilhelm Gotter (1746-1797)359 (36) ihm gnügt schon so mit wenigem genug, mit meinem herzen, Lessing360 (37) damit genügte mir, vater!, Schiller361 (38) wem nicht an wenig genügt, den macht kein reichthum satt, Wieland.362 Als zweistellig kann genügen gelten, wenn dem Dativ ein Nebensatz gegenübersteht (der im Prinzip durch es vorweggenommen werden könnte), vgl.: (39) Mir genüget / wie es Gottföget\;363

357 358 359 340 361 362 363

DW. IV, l 2 , Sp. 3508, sub 2c. Stieler 1691, Sp. 678. DW, IV, l 2 , Sp. 3508. a.a.O. a.a.O. Heyne 1905f, I, Sp. 1107. Stieler 1691, Sp. 678.

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Der paradigmatische Dativ

bei einigen Nebensatztypen liegt eine Interpretation als Umstandsangabe freilich mehr auf der Hand, weshalb man es in solchen Fällen strenggenommen mit einstelligen Verwendungen des Verbs zu tun hat, z.B. : (40) dir genüge, wenn die fähren (...) deine sanften lieder hören, August von Platen (1796-1835).364 Im Gegensatz zu sich genügen in den Sätzen (32) und (33), in denen das Reflexivum im Akkusativ steht und das Verb für 'sich begnügen' steht, bezeichnet das reflexive Verb in den folgenden Sätzen die Redebedeutung 'sich selbst genug sein'; das Reflexivum steht entsprechend im Dativ: (41) gefaltet kann die knospe sich genügen, so lange sie des winters frost umgibt, Goethe365 (42) wann wird wieder eine zeit kommen, wo wir (neueren) uns um die eigene achse drehen und uns in eigener gegenwart genügen?, Gottfried Keller (1819-1890).366 Der paradigmatische Kasus- und Bedeutungsunterschied zwischen sich genügen in den Sätzen (32) und (33) einerseits und in den Sätzen (41) und (42) andererseits geht außerdem daraus hervor, daß das Verb in den beiden letzten Sätzen außer dem Dativobjekt kein weiteres Objekt mehr regiert. Dagegen bindet die Redebedeutung 'sich begnügen' in den beiden Sätzen mit akkusativischem Reflexivum tatsächlich ein weiteres Objekt an sich, das den Inhalt der Verbalhandlung präzisiert, im Mhd. ein Genitivobjekt, im Nhd. ein Präpositionalobjekt. Außer der Verbindung von genügen 'genug sein' mit einem Dativobjekt im zweistelligen Satzbauplan (z.B.: Das genügt mir) verfestigt sich im Nhd. auch der Satzbauplan, in dem das persönliche Dativobjekt durch eine zusätzliche Präpositionalphrase mit zu ergänzt wird.367 Auch letzterer Satzbauplan (Typ: Tu diesem Zweck genügt uns das) kommt bis heute, sei es etwas seltener, vor. Der adverbale Dativ, der für die Gegenwartssprache typisch ist, geht in erster Linie aus den persönlichen Verwendungen von genügen hervor, denen der Bedeutungsansatz 'genug sein, genug tun, Genüge leisten usw.' zugrunde liegt. Kasusmorphologisch gibt es zwischen dem wörtlichen 364 365 346 367

DW, IV, l 2 , Sp. 3508. DW, IV, l 2 , Sp. 3509. a.a.O. s. Sanders 1876,1, 606, Sp. 2.

genügen

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und dem übertragenen Gebrauch des Verbs oder zwischen persönlichem oder sachlichem Subjekt keinen Unterschied, vgl: (43) Eine Tasse genügt mir (44) Die Sekretärin genügt den Anforderungen. Nicht nur erweist sich die Opposition zwischen genügen 'befriedigen, zufriedenstellen usw.' und genügen 'genug sein, genug tun, Genüge leisten usw.' aus diachronischer Sicht als paradigmatisch relevant. Darüber hinaus ist genügen mit adverbalem Dativ im Frühnhd. in ein weiteres Verbalparadigma eingebunden, zu dem vor allem auch das Verb genugtun bzw. das Verbalsyntagma genug tun gehören, die immer den Dativ regiert haben und heute zwar veraltet sind, im 16. und 17. Jh. zumindest regional aber üblich waren.368 Mhd. genügen im Sinne von 'befriedigen' geht im Nhd. jedoch unter, und der Bedeutungsansatz wird teilweise vom Präfixverb vergnügen übernommen,369 das weiterhin den Akkusativ regiert, auch als reflexives Verb.370 Vergnügen fand darüber hinaus auch als dreistelliges Verb Verwendung.371 Anders steht es um das Präfixverb begnügen, das im 17. Jh. aufkam,372 meist zwar transitiv gebraucht wurde, daneben aber lange Zeit auch noch in unpersönlicher Verwendung vorkam und dann den Dativ regierte; in dieser letztgenannten Verwendung wurde das Verb später durch genügen + Dativ abgelöst, vgl.: (45) Laß dir mit einem wenigen begnügen373 (46) sein schlechtester bescheid darauf soll mir begnügen. Lessing.374 Heute kommt vergnügen vor allem als Adjektiv {vergnügt) oder als reflexives Verb vor, kaum noch als transitives Verb,375 während begnügen nur noch reflexiv verwendet wird.376 368 369 370 371

372 373 374 375 376

s. Maaler 1561, 189, Sp. 1. DW, XII1, Sp. 463. vgl. Stieler 1691, Sp. 678, Steinbach 1734,1, Sp. 613 u.a. Adelung, Sanders, u.a. verzeichnen dreistellige Verwendungen des Typs Du mußt mir den Wert vergnügen 'ersetzen' u.dgl., s. Adelung 1793ff, IV, Sp. 1049; Sanders 1876, I, 606, Sp. 3; Heyne 1905f, III, Sp. 1200; DW, XII1, Sp. 465. vgl. DW, I, Sp. 1302. Stieler 1691, Sp. 678. DW, I, Sp. 1302. vgl. DUW, 1644, Sp. 3: Ihre Betroffenheit schien ihn zu vergnügen. vgl. DUW, 221, Sp. 3: Ich begnügte mich damit, ihm deutlich zu sagen, was ich dachte.

480

Der paradigmatische Dativ

Wie bereits bei helfen festgestellt wurde (s. § IV.7.), verbindet sich mit dem paradigmatischen insofern auch ein syntagmatischer (wenn auch kein diakritischer) Unterschied, als die Rektion des "kohärenten" Akkusativobjekts eine sprachgeschichtlich lange Zeit wirksame Ausrichtung auf den Genitiv als zweiten Kasus im Satzgefüge implizierte (Typ: des genügt mich). Die Rektion des "inkohärenten" Dativobjekts dagegen verbindet sich mit dem Nominativ des Subjekts. Es ist diese Kombination, die sich, neben dem absoluten Gebrauch von genügen, schließlich als der normgemäße Satzbauplan des Deutschen idiomatisiert.

begegnen

481

V.14. begegnen In der deutschen Gegenwartssprache wird das Verb begegnen in zwei Satzbauplänen verwendet, entweder einstellig oder zweistellig in Verbindung mit einem adverbalen Dativ. Während sich die Bedeutung in der absoluten Verwendung einfach mit 'vorkommen' umschreiben läßt - s. Satz (1) - , kann man im zweistelligen Satzbauplan zwei Typen aktueller Redebedeutungen unterscheiden, '(an)treffen' und 'widerfahren' auf der einen Seite - s. Sätze (2) und (3) - , 'reagieren auf, entgegenwirken, parieren usw.' auf der anderen Seite, wie in Satz (4):377 (1) (2) (3) (4)

Diese Theorie begegnet auch in anderen Werken des Autors Ich bin ihm erst kürzlich begegnet So etwas ist mir noch nie begegnet Dem muß mit unnachsichtiger Strenge begegnet werden.

Daß alle Redebedeutungen durchaus miteinander verwandt sind und als pragmatische Spezialisierungen einer einzigen allgemeinen Systembedeutung aufgefaßt werden können, brauchen wir hier nicht ausführlich darzutun. Das Verb begegnen gehört zu jener Gruppe von Lexemen, die auf die Präposition gegen (ahd. gagen) und davon abgeleitete Wörter zurückgehen. Das Verb ist um das Jahr 1000 zum ersten Mal belegt,378 wobei zu beachten ist, daß ahd. begagenen erst bei Notker vorkommt und in Otfrids Wortschatz mithin noch fehlt. Verschiedene Wörterbücher gehen davon aus, daß ahd. begagenen tatsächlich eine Präfixform zum älteren Verb gaganen ist und nicht direkt von der Präposition gagen abgeleitet ist. Dafür spricht die Tatsache, daß das Simplex gaganen zwar bei Otfrid, jedoch nicht bei Notker vorkommt und daß begagenen sich bei Notker sowohl distributionell wie auch in Sachen Rektion völlig parallel zum älteren Simplex verhält.379 Schon die Form gaganen regiert bei Otfrid ausnahmslos den Dativ und bedeutet ebenfalls bereits 'entgegengehen, entgegenkommen, (ein)treffen, widerfahren usw.', vgl.: 377 378 379

Für alle Beispiele s. DUW, 220, Sp. 2. s. Pfeifer 1993, 111, Sp. 1. AW, 145, Sp. 2. Nur die Ableitung ingaganen (nhd. entgegnen) kommt bei beiden Autoren vor, ein Verb, das in der Gegenwartssprache bekanntlich ebenfalls den Dativ regiert (und auch dies bereits seit dem Ahd.), jedoch nur in dreistelligen Konstruktionen (s. § II.5.4.).

482 (5) (6)

(7)

Der paradigmatische Dativ

gägantun imo bilde thie holdun scdlka sine 'seine treuen Diener kamen ihm frohgemut entgegen'380 IJnsu uuerk, zi uuäre, thiu gäganent uns hiare 'In Wahrheit begegnen uns hier unsere Werke' (d.h.: 'sie treten uns in ihren - negativen Folgen entgegen')381 Irhögt er thö ginöto thero selbün zito, thaz imo iz hiar al gäganta, thaz druhtin imo sägeta 'Da erinnerte er (= Petrus) sich sorgfältig an eben jene Zeiten, als ihm da alles widerfuhr, was ihm der Herr vorhergesagt hatte'.382

Die neue Präfixform begagenen übernimmt von gaganen Bedeutung und Rektion. Auffallend ist indes, daß Notker das Verb meist im neutralen Bedeutungsansatz 'begegnen, widerfahren, geschehen, zuteil werden' verwendet und weniger oft im Sinne von 'entgegengesetzt sein'; vgl. folgende Belege: (8)

Ter des folget timo begägenet mercurius . täz chit eloquentia 'Derjenige, der dem (= diesem Rat) folgt, dem wird Mercurius zuteil, das heißt eloquentia'1" (9) Des sie spulgent. daz begägenet in 'Dasjenige, dem sie sich widmen, das widerfährt ihnen'384 (10) Vnde üffen israhelen chumet frido . daz chit räuua begägenent imo 'Und Friede kommt über Israel, daß heißt: Ruhe werde385 ihm zuteil'.386 Im folgenden Beleg, in dem begagenen als erstes Partizip gebraucht wird, ist das Verb im Sinne von 'als Gegenteil gegenüberstehen' realisiert387: (11) Töh tiu üzuuert pegägenenten bilde änauuirden . diu ougen . ünde diu ören . mit tien uuir gesehen . unde gehören 'Doch die von außen

380 381

3,2 383 384 385 386 387

Piper, III, 2, 26. Piper IV, 31, 9, dort auch die Übersetzung; Kelle 1870, 362, 17-18 übersetzt die Stelle wie folgt: 'In Wahrheit, wir empfangen nur/Gerechten Lohn für unser Thun'. Piper, IV, 18, 37-38. Piper, I, 772, 13-14. Piper, II, 290, 16-17. im ahd. Original stehen Subjekt und Verb in der Mehrzahl. Piper, II, 555, 18-19; lat.: Et pax super israel. s. Sehrt 1962, 63-64.

begegnen

483

entgegentretenden Gebilde388 wirken ein auf die Augen und die Ohren, mit denen wir sehen und hören' .389 Auch im Mhd. und Friihnhd. steht die Dativrektion von begegnen (mhd. begegenen oder begagenen, gelegentlich kontrahiert zu begeinen)390 zu keiner Zeit unter Druck, vgl.: (12) der keiser in begegenet uf dem mer da er streit mit in in den schiffen 'Der Kaiser begegnete ihnen auf dem Meer, als er mit ihnen kämpfte in den Schiffen'391 (13) do begeint im ein bote weinede vn klangede gote 'da begegnet ihm ein Bote, der Gott weinend und klagend anrief, Herbort von Fritslar (Ende des 12. Jahrhunderts)392 (14) wisse, dasz dir gott begegnet hat, Johann Agricola (1494-1566).393 Weitaus am häufigsten wird das Verb somit, seit dem Ahd., mit einem Dativobjekt verbunden. Die absolute Verwendung ohne einen Dativ kündigt sich in Sätzen wie (11) an. Zwei frühnhd. Belege verzeichnet das Deutsche Wörterbuch·. (15) es gehet ab ohn misgeburt, wo sie begegnet, nie, Friedrich von Logau (1604-1655)394 (16) Mutius (...) ist nicht stolz, was nur begegnet, zu beherzen zu beküssen, Fr. von Logau.395 Vor allem zur Zeit der deutschen Klassik scheint die absolute Verwendung des Verbs im Sinne von 'geschehen, sich zutragen, sich ereignen' üblich ge388 389

390 391 392 393 394 395

s. Sehrt 1962, 64, Sp. 1. Piper, I, 342, 18-20; lat.: Quamius afficiant instrumenta sensuum . forinsecus qualitatis. ΜΗ, I, Sp. 144. Lohengrin, 7407-7409. Liet von Troye, 1511-1512. DW, I, Sp. 1283. a.a.O. a.a.O.

obiecte

484

Der paradigmatische Dativ

worden zu sein.396 Der semantische Wandel des einstellig gebrauchten begegnen entspricht somit einer allmählich sich vollziehenden Verblassung und verlief von 'hervortreten von etwas Gegenteiligem/Entgegengesetztem' über 'hervortreten' zu 'sich zutragen' und 'vorkommen'. Auch diese Verwendung aus dem 18. Jh. konnte einen adverbalen Dativ zu sich nehmen und stand in dem Fall für 'etwas passiert jmdm.', wie z.B. in: (17) damit er bei so vielfachen Unfällen, die auch ihm begegneten, des gränzenlosen Jammers gedenke?*1 Grimm weist ferner insbesondere darauf hin, daß die Wahl der Objekte in den zweistelligen Konstruktionen im Prinzip frei war, nicht nur jmd. begegnet jmdm. und jmd. begegnet einer Sache sind möglich, sondern auch (was heute sonderlich anmutet) etwas begegnet jmdm., wie z.B. in: (18) und wolte fast jeglichen bäum, der uns begegnete, ausreiszen (d.h.: 'jeden Baum, auf den wir stießen'), Adam Olearius (1599-1671).398 Erst seit dem 18. Jh. (vor allem der zweiten Hälfte) scheint es gelegentlich zu Kasusschwankungen zu kommen. Das Goethe-Wörterbuch bemerkt, daß auch Goethe begegnen bei einigen Gelegenheiten mit einem Akkusativ verbindet statt mit einem Dativ; das Wörterbuch führt aber kein Beispiel an.399 Diese gibt es dafür zahlreich im Goethe-Wortschatz von Paul Fischer, der darüber hinaus anmerkt, daß außer bei Goethe auch bei Lessing, Schiller und Heinrich von Kleist begegnen nicht selten den Akkusativ regiert.400 Fischer führt u.a. folgende Beispiele bei Goethe an:401 (19) Grüßen Sie Lavatern, Schlossern und wen Sie Gutes begegnen (20) Gleich vor dem Tore begegneten wir Östreicher, die ins Lager zogen (21) wenn man auch nicht weiß, was man unterwegs antreffen, unterwegs begegnen werde (22) Wo bist du das Gewissen so geschwind begegnet? (23) Ich habe sehr schöne Wesen begegnet. 396 397 398 399 400 401

s. DW, I, Sp. 1284. Goethes Werke, Sophienausgabe, I. Abteilung, 42,1, 93. DW, I, Sp. 1284. GWb, II, Sp. 208. Fischer 1929, 89, Sp. 1. s. Fischer 1929, 88, Sp. 2. Bemerkenswert ist, daß Goethe das zweite Partizip bei der transitiven Verwendung des Verbs nicht nur mit haben, sondern auch mit sein bildet.

begegnen

485

Anders als das Goethe-Wörterbuch und der Verfasser des Goethe-Wortschatzes unternimmt Jacob Grimm den Versuch, die Kasusschwankungen bei begegnen im Hinblick auf die Verbsemantik zu differenzieren. Grimm nennt den Akkusativ der Person bei begegnen im Sinne von 'leibliches begegnen* "wol tadelhaft" und meint, daß "der eindruck des ftanz. rencontrer" ihn veranlaßt haben könnte.402 Das Wörterbuch führt folgende zwei Beispiele an: (21) wenn man auch nicht weisz, was man unterwegs antreffen, unterwegs begegnen werde, Goethe (24) ich werde die herrn grüszen, wenn ich sie begegne, Theodor Gottlob Hippel (1741-1796)403. Nichts weist darauf hin, daß begegnen in diesen Belegen mit Akkusativrektion eine andere (aktuelle) Bedeutung hätte als in den Belegen mit dem üblichen, angestammten Dativ. Außerdem dürfte der pronominale Akkusativ in (21) einfach unter dem Einfluß des transitiven Verbs antreffen verwendet sein (eine Ellipse des Dativobjekts), zumal das Pronomen was keine Dativform hat. Auch syntaktisch unterscheiden sich die beiden Rektionen nicht, wenn auch in Satz (21) kein Akkusativ der Person, sondern ein Akkusativ der Sache vorliegt (vgl. das Goethe-Beispiel [22]). Mehr Verständnis für den Akkusativ scheint Grimm aber zu haben, wenn das Verb "abstract" verwendet wird.404 Zwar betont er auch hier die Norm mit der Dativrektion (jmdm. wol oder übel, mild oder hart, anständig oder unanständig begegnen usw.), er weist aber darauf hin, daß in der aktuellen Bedeutung 'behandeln* zuweilen auch der Akkusativ erscheint, wie z.B. in: (25) darüber ward er von seinem bittersten feinde übel begegnet**5 (26) indem er ihn mit gründlicher Widerlegung nicht begegnen kunte406

402 403

404 405 406

DW, I, Sp. 1283. Das Deutsche Wörterbuch führt noch ein drittes Beispiel an, nämlich: (24') ein gärtner hatte den prinzen dort begegnet. Es handelt sich um einen Passus aus Schillers Don Karlos, den auch Heyne, 1905ff., I, Sp. 314 zitiert, allerdings mit einem Dativ: ein gärtner hatte dem prinzen dort begegnet. In allen von uns zu Rate gezogenen Don Kartos-Ausgaben (auch der kritischen) regiert begegnen in diesem Passus ausnahmslos den Dativ. DW, I, Sp. 1284. a.a.O. a.a.O.

486

Der paradigmatische Dativ

(27) doch wenn die luft nachher sie widriger begegnete, Barthold Heinrich Brockes (1680-1747)407 (28) unter den klagen und vorwürfen, die er denjenigen machte, welche ihn mit so vieler grausamkeit begegneten, Lessing408 (29) Jeder Besitzer erhielt alsdann ein Instrument, wodurch ihm seine Gerechtsameförmlich zugesagt und alle künftigen Irrungen begegnet würden.™ Bei der Redebedeutung 'Widerstand leisten' scheint es solche Kasusschwankungen nicht gegeben zu haben.410 Gerade auch die Goethe-Beispiele (19) bis (23) bestätigen das, scheint doch die Akkusativrektion bei Goethe auf den Bedeutungsansatz 'antreffen' beschränkt zu sein. Im großen ganzen muß man zwar feststellen, daß es niemals eine Zeit gegeben hat, in der die Akkusativrektion systematisch mit der Dativrektion konkurriert hat. Die Schwankung zwischen Dativ und Akkusativ scheint auf das 18. und das beginnende 19. Jh. beschränkt zu sein, und inwiefern dabei tatsächlich fremder Einfluß vorliegt, wie J. Grimm vermutet, ist schwer zu beurteilen. Daß die zeitweilige Kasusschwankung aber zumindest tendenziell auf ein paradigmatisches Fundament hinweist, ist unleugbar. Die obigen Belege weisen auf einen Ansatz zu einer paradigmatischen Opposition zwischen begegnen + Akkusativ ('behandeln') und begegnen + Dativ ('Widerstand leisten') hin. Es kann als bedeutsam gelten, daß begegnen in der adversativen Redebedeutung 'reagieren, Widerstand leisten usw.' anscheinend nie den Akkusativ regiert hat, sondern daß die Akkusativrektion auf die "neutraleren" Bedeutungsansätze 'antreffen', 'behandeln' u.dgl. beschränkt blieb, die im Vergleich zu jenem adversativen Bedeutungsansatz tatsächlich ein entschieden "kohärenteres" Verhältnis zwischen Subjekt/Verb und Objekt zum Ausdruck bringen; vgl. noch: (30) Haben Sie ein Schauspiel reizender Unschuld, einfachen natürlichen Glücks begegnet P411 Nicht in den Wörterbüchern verzeichnet ist schließlich die reflexive Verwendung von begegnen, wobei sich zum akkusativischen Reflexivpronomen 407 408 409 410 411

a.a.O. a.a.O. Goethes Werke, Sophienausgabe, I. Abteilung, 53, 265. vgl. die Belege im Deutschen Wörterbuch, I, Sp. 1284. Goethes Werke, Sophienausgabe, I. Abteilung, 38, 86.

begegnen

487

ein Präpositionalobjekt mit mit hinzugesellt, das die Person nennt, der man begegnet. Diese Verwendung hat zwar keine lange oder tief verwurzelte Tradition, kann vereinzelt aber doch bei einigen großen Autoren belegt werden: (31) als er (...) überhaupt aus der Wirklichkeit nicht soweit hinausgeschritten war, daß er sich nicht mit wirklichen Personen, die etwas Romantisches in ihrem Charakter und Lebensweise hatten, recht gut begegnen konnte, Goethe412 (32) In der Bosheit begegnet sich der Übermütige mit dem Schwächlinge. Aber sie mißverstehen einander, Friedrich Nietzsche (1844-1900).413 In diesen Belegen wird nichts anderes als 'jmdm. begegnen' ausgesagt. Die Konstruktionsweise sich mit jmdm. begegnen ist wahrscheinlich aus den reflexiven Verwendungen vom Typ sie begegneten sich (auf der Straße) hervorgegangen (also sie begegnete sich mit ihm statt sie begegneten sich). Die Tatsache aber, daß sich - etwa seit 1800 - keine Kasusdifferenzierung bei begegnen vollzogen hat, weist auf eine unzureichende paradigmatische Motivation hin, die eine Kasusaufteilung hätte konsolidieren können, sowie auch auf eine normgemäße Verfestigung des adverbalen Dativs. Das ist um so bemerkenswerter, als es sich hierbei um ein Verb mit dem Präfix be- handelt, von dem u.a. schon die Bearbeiter der Grimmschen Syntax, wie wir sahen, behaupteten, daß es im Nhd. "die transitive kraft des verbums" hervorhebe (vgl. beschädigen, berauben usw.).414 Das Verb begegnen, das im Ahd. (begagenen) als ein Präfixverb zu gagenen entstanden ist, zeigt indessen, daß die Präfigierung anhand von be- nicht immer eine Akkusativierung des Verbs impliziert.415 Die Frage, ob die ursprüngliche Dativrektion des Verbs einfach auf die Rektion der ahd. Präposition (bzw. des Adverbs) gagen zurückgeführt werden kann, ist nicht mit Sicherheit zu beantworten. Tatsache ist, daß ahd. gagen bereits im Ahd. je nach Funktion alle drei obliquen Kasus regieren konnte.416 Dem Deutschen Wörterbuch zufolge ist aber der Dativ der "natürliche casus" des Lexems, der sich darüber hinaus "gegen den eindrin412 413 414 415 416

Goethes Werke, Sophienausgabe, I. Abteilung, 40, 374. Also sprach Zarathustra, 50. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 692 (vgl. Originalpag. 594). vgl. auch behagen, bekommen und belieben in dieser Arbeit. AW, 145, Sp. 1.

488

Der paradigmatische Dativ

genden acc(usativ) so lange behauptet, dasz er sich unter umständen noch im 18. jahrh(undert) und länger bei den besten Schriftstellern findet".417 Auf jeden Fall ist klar, daß der adverbale Dativ bei begegnen, der auf eine besonders lange Tradition zurückblicken kann, sowohl lexikalsemantisch, syntaktisch wie auch kasusmorphologisch schwer zu begründen ist und daß er demzufolge als hochgradig idiomatisch zu gelten hat. Nur die wenigen Anzeichen zu einer paradigmatischen Begründung des Kasus im Laufe der nhd. Sprachgeschichte erlauben die Zuordnung des Verbs zu GRUPPE C, in der begegnen allerdings das Schlußlicht darstellt.

417

DW, IV, l 2 , Sp. 2205.

scheinen, erscheinen, gefallen

489

In der GRUPPE C nimmt eine kleine Gruppe Verben schließlich noch eine besondere Stelle ein. Aber auch wenn diese Verben strenggenommen nur zum Teil zu dieser Gruppe gehören, glauben wir doch, daß es das einzig Richtige ist, sie ebenfalls in diesem Kapitel V zu analysieren. Als entscheidendes Kriterium für die Zugehörigkeit zur GRUPPE C gilt die historisch belegbare paradigmatische Opposition zwischen Dativ und Akkusativ, die zugleich einem Unterschied in der aktualisierten Bedeutung des jeweiligen Verbs entspricht. Die Verben scheinen und erscheinen sowie gefallen (und mißfallen) erfüllen jenes Kriterium insofern nicht, als der gebräuchlichen Verbindung dieser Verben mit adverbalen Dativobjekten keine ebenbürtige Tradition paradigmatisch motivierter Akkusativrektion zur Seite steht. Was somit bei den bisher behandelten Verben der GRUPPE C aus der historischen Rekonstruktion explizit hervorging (vgl. prototypische Fälle wie er schmeckt den Wein vs. der Wein schmeckt mir, sie lebt die Musik vs. sie lebt der Musit, sie bekamen gutes Essen vs. das Essen bekam ihnen nicht usw.), ist bei den Verben scheinen, erscheinen und gefallen nicht nachvollziehbar.418 Es verbietet sich auf jeden Fall, in Analogie zu den anderen Verben der GRUPPE C eine "mögliche" Akkusativrektion bei scheinen, erscheinen und gefallen zu postulieren, und man kommt nicht umhin, die feste Dativrektion dieser Verben anders zu begründen. Wie wir darlegen werden, ist dies prinzipiell möglich in Übereinstimmung mit unserer bisherigen Argumentation sowie mit der syntaktisch-semantisch fundierten Bestimmung des Dativs als Kasus der "Inkohärenz" und des Akkusativs als Kasus der "Kohärenz". Unserer Analyse zufolge regieren scheinen, erscheinen und gefallen in zweistelligen Konstruktionen notwendigerweise den Dativ; einen Akkusativ können sie gewissermaßen nicht regieren, zumindest wenn man die Kasusmorphologie von der sprachgeschichtlichen Entwicklung her begreift, die diese Verben gemäß den nun folgenden diachronischen Analysen jeweils aufweisen.

418

Vereinzelte Kasusschwankungen, z.B. der Akkusativ bei gefallen, können, wie wir sehen werden, nicht im Sinne eines paradigmatischen Gegensatzes gedeutet werden.

490

Der paradigmatische Dativ

V.15. scheinen und erscheinen scheinen Semantisch sind die Verwendungen von scheinen in zwei Gruppen zu gliedern. Der Bedeutungskern der ersten Gruppe kann als der auch in etymologischer Hinsicht ursprüngliche gelten und ist als 'Licht ausstrahlen' zu umschreiben (vgl. Satz [1]). In dieser Bedeutung kann das Verb zwar in Konnexionen mit einem (freien) Pertinenzdativ verwendet werden, wie z.B. Satz (2) zeigt, jedoch nicht zusammen mit einem adverbalen Dativ gemäß unserer Definition, vgl.: (1) (2)

Die Sonne hat schon seit Tagen nicht mehr geschienen419 Das grelle Scheinwerferlicht schien ihr direkt in die Augen,420

Eine zweite Gruppe bilden die Verwendungen des Verbs gemäß dem sekundären, übertragenen Bedeutungsansatz 'einen Eindruck hervorrufen'. In dieser Bedeutung kommt das Verb sowohl absolut (3) als auch in Verbindung mit adverbalem Dativ (4) vor, vgl.: (3) (4)

Die Zeit schien stillzustehen421 Seine Erklärung scheint mir plausibel *22

Das Verb kann zusammen mit dem Dativ auch unpersönlich verwendet werden und verbindet sich dann mit einem durch daß eingeleiteten Objektsatz: (5)

Mir scheint, daß er tagsüber nicht so viel ausrichtet.

Innerhalb der zweiten Gruppe ('einen Eindruck hervorrufen') ist nur die unpersönliche Verwendung mit einem Objektsatz defektiv423, dafür ist aber der Anschluß mit zu + Infinitiv nicht defektiv, und auch im Satztyp (4) sind die zweite oder die erste Person als Subjekt möglich, vgl.: (6) (7) (8) 419 420 421 422 423

424

Du scheinst mir tagsüber nicht viel auszurichten Ich scheine dir wohl nicht klug genug für die Aufgabe Du scheinst mir zu jung und unerfahren für diese Aufgabe.424

GWbdS, VI, 2905, Sp. 2. GWbdS, VI, 2905, Sp. 3. a.a.O. a.a.O. vgl. Es scheint mir, daß du tagsüber nicht soviel ausrichtest, daß du tagsüber nicht soviel ausrichtest. vgl. WDG, IV, 3188, Sp. 2.

aber: *Du scheinst mir,

scheinen und erscheinen

491

Die erste Gruppe von Verwendungen ('Licht ausstrahlen') geht auf den aus dem Germanischen ererbten Kern zurück, wie er auch in got. skeinan, altengl. stänan, altnord. sldna 'leuchten' usw. zutage tritt. Im Ahd. kommt der Inhalt 'einen Eindruck hervorrufen' noch nicht vor,425 obwohl bereits im 9. Jh. vereinzelt der erste - und offenbar nur im kontinentalen Westgermanisch vollzogene - metaphorische Schritt begegnet von germ./ahd. sktnan 'glänzen' zu sMnan 'glänzen, so daß es sichtbar wird' (also 'sichtbar werden, erscheinen'). Hier kann zum Vergleich auf die Übersetzung von lat. clarere hingewiesen werden in clariscentibus culpis 'den offenbar werdenden Fehlern', was in der Benediktinerregel durch skinentem sunteom wiedergegeben wird.426 Im Spätahd. des 10. Jahrhunderts, bei Notker und Williram von Ebersberg, ist sttnan 'sichtbar werden, sich zeigen, deutlich sein' bereits sehr üblich. Das Verb entfaltet viele textsemantische Möglichkeiten und aktualisierende Nuancierungen, vgl.: (9)

Din einuältige sfanet in ällen dtnen uuerchon, uuänta dü /eichenes unte glihnisses nietne ruochest 'Deine Lauterkeit wird in allen deinen Werken sichtbar, denn du kümmerst dich nicht um Arglist und Täuschung' , Williram von Ebersberg427 (10) so sint zuei corpora uuortin üzer einemo . unde üzer einero sträzo zuö . die dänne skinent άη dien brüchin 'so sind zwei Körper aus einem geworden, und aus einer Straße zwei, die dann an der Bruchstelle sichtbar sind (d.h.: 'erscheinen')', Notker428 (11) Unde dber äne däz peginnent sfdnen zuei niuuiu superficies, tiu man beuöre nesäh . tö iz ein corpus uuäs 'Und ohne das werden zwei neue Oberflächen sichtbar (d.h.: 'fangen an, zu erscheinen'), die man zuvor nicht sah, als es (noch) ein (einziger) Körper war', Notker429 (12) Nehein ding neheizet tiirh sih michel. iz sihet ίο ze einemo dndermo. Τάζ skinet . uuända man den berg chit luzzelin . ein hirsechorn micheliz 'Kein Gegenstand ist aus sich selbst groß, es sei denn im Ver-

425 426 427 428 429

vgl. AW, 257, Sp. 1. Die althochdeutsche Benediktinerregel, hrsg. von U. Daab (1959), 137. Paraphrase des Hohen Liedes, 22, 4. Piper, I, 403, 21-23. Piper, I, 404, 1-2.

492

Der paradigmatische Dativ

hältnis zu einem anderen. Das ist klar (d.h.: 'das leuchtet ein'), denn man nennt den Berg klein, ein Hirschhorn groß', Notker.430 Sehr selten taucht im Ahd. bei skinan ein Dativ auf, dies jedoch ausschließlich in Kontexten, in denen beim Verbinhalt nicht nur von 'sichtbar werden', sondern auch wörtlich, s. (13) und (14), oder übertragen (15) von 'Licht ausstrahlen' die Rede ist, vgl.: (13) Östar filu ferro sö seein uns ouh ther sterro 'Weit weg im Osten erglänzte uns auch der Stern', Otfrid431 (14) Under diro gimmon grüoni. sJanen demo mere feseligiu lieht. uuända die lenzesca Sünna getüot feselen diu meretier. linde diu süozi des inneren blicches . erskein dien rinnenten uuäzzeren . uuända ouh tiu nüzze uuerdent in lenzen 'Unter der neuen Lebenskraft der Edelsteine wurden im Meer fruchtbare Lichter sichtbar, denn die Frühlingssonne macht die Meerestiere fruchtbar; und die Anmut des inneren Schimmerns wurde in den strömenden Wassern sichtbar, denn auch sie werden im Frühling nützlich', Notker432 (15) An dien iu sMnet tiu rätlichi irofäter . ioh iro άηβη geuuizzes . sö uilo iz in demo ältere sMnen mäg 'Daran leuchtet euch das Muster der Begabung ihres Vaters und ihres Ahnen, so stark es in dem Lebensalter leuchten kann', Notker.433 Zwar wäre in Satz (13) auch die Deutung 'erscheinen' möglich, und wir sahen, daß sich Johann Kelle dafür entschieden hat. Jedoch drückt das Verb in allen übrigen 19 Belegen bei Otfrid immer an erster Stelle 'Licht ausstrahlen' aus, und tatsächlich strahlen auch Sterne Licht aus. Eine Deutung des Verbs im Satz (13), die 'erscheinen' lediglich im Sinne von 'sichtbar werden' gelten lassen würde, ohne auch das Moment 'Licht ausstrahlen' zu bezeichnen, wäre denn auch nicht korrekt, weshalb wir uns für 'erglänzen' entscheiden. Darüber hinaus ist es für die richtige Deutung (und Übersetzung) von skinan in Satz (13) wichtig, daß man den Anfang des 17. Kapitels 430

431

432 433

Piper, I, 412, 25-28; lat.: Nihil enim per se ipsum magnum dicitur . sed ed aliquid refertur. Neun mons quidem paruus dicitur . milium uero magnum. Piper, I, 17, 23; lat.: vidimus stellam ejus. Kelle 1870, 47, 46 übersetzt: 'ist uns der Stern erschienen'. Piper, I, 751, 26; lat.: Inter quarum uirorem foeta mari lumina. s. resplendebant. Piper, I, 80, 12-14; lat.; Quorum iam (...) in quibus iam elucet specimen uel paterni uel auiti ingenii. ut in id etatis pueris.

scheinen und erscheinen

493

des ersten Teils von Otfrids Evangelienbuch auch textlinguistisch richtig erfaßt. Der Text referiert nämlich die Geburt Jesu sowie das Vornehmen der drei Könige, dem Stern zu folgen und den Gottessohn anzubeten, und dabei kann tatsächlich in erster Linie von einem Scheinen des Sterns die Rede sein. Außerdem muß darauf hingewiesen werden, daß Otfrid an dieser Stelle nicht das (bei ihm ebenfalls belegte) Verb irscinen + Dativ verwendet. Der Dativ ist in den Sätzen (13), (14) und (15) auf jeden Fall anderer Natur als der Dativ in den Sätzen (4) bis (8). Bei der Verbbedeutung 'Licht ausstrahlen' bezeichnet das Dativobjekt die Person oder Instanz, der das Licht zugute kommt. In Satz (15) ist sldnan freilich metaphorisch gebraucht (tiu rätlichi, 'das Muster', strahlt nicht wortwörtlich Licht aus, sondern ist nur ein leuchtendes Beispiel), jedoch gewiß nicht abstrakt im Sinne von 'einen Eindruck hervorrufen', wie scheinen in den Sätzen (4) bis (8). In diesen letztgenannten Beispielen bezeichnet der Dativ keine Instanz, der etwas zugute kommt, und bei der Verbbedeutung 'einen Eindruck hervorrufen' handelt es sich auch nicht um ein konkretes Scheinen; der Dativ nennt vielmehr die Instanz, bei der ein bzw. der Eindruck hervorgerufen wird. Wenn wir im Mhd. einmal von den Fällen mit Zugehörigkeitsdativ absehen, wie sie z.B. in den beiden folgenden Beispielsätzen belegt werden können: (16) also ist auch der mensch Men, (...) wem diu haut und sein flaisch etswie vil trucken sint und dem die ädern scheinent an der stirn und diu stirn niht gerunzelt ist und dar zuo rauch etswie vil 'es ist so auch derjenige Mensch kühn, dem die Haut und das Fleisch ziemlich trokken sind und dem die Adern an der Stirn hervortreten und die Stirn nicht gerunzelt ist und hinzu ziemlich rauh', Konrad von Megenberg (1309-1374)434 (17) swä ir der Itp blozer schein, da 'rsach si der herre Iwein 'wo immer ihr Körper nackt sichtbar wurde (durch die zerrissene Kleidung), da sah sie Herr Iwein', Hartmann von Aue,435

434 435

Buch der Natur, 49, 19-25. Iwein, 1331-1332.

494

Der paradigmatische Dativ

dann kommt in der mhd. Periode zu schinen 'klar, sichtbar sein' nur in festen, aber syntaktisch defektiven Konstruktionen vom Typ (ez) schinet mir/dir ('mir/dir ist klar; ich sehe, sehe ein/du siehst, siehst ein') ein Dativ vor.436 Solche Konstruktionen sind deswegen defektiv, weil ein Dativ nicht in einer Konstruktion mit dem Verb in der 1. oder 2. Person verwendet werden kann und an die Stelle der 3. Person nur Pronomen (daz, ez) auftreten (die ihrerseits einen daß-S&tz vorwegnehmen können): (18) dö quam ih flthende heim; vil harte mir daz schein, daz du da nierne were; des ist min herze swere mit unfroweden geladen. 'dann kam ich fliehend heim; mir wurde völlig klar (es stellte sich mir heraus), daß du nicht da warst; deswegen ist mein Herz traurig mit Unfreude beladen', Pfaffe Lamprecht (12. Jh.)437 (19) einem sinen meistere daz wol schein: den sttz er ze tale ubir einen stein, daz ime sin hals in zwei brach wander ime eine lugene zu sprah 'einem seiner Lehrer war das (die Tatsache, daß er keine Lügen ertragen konnte) schon klar (d.h.: 'er mußte es erfahren'): den stieß er von einem Felsen ins Tal, so daß ihm der Hals entzweibrach, denn er (jener Lehrer) sagte ihm eine Lüge', Pfaffe Lamprecht.438 Ein Dativ ist bei schinen 'klar, sichtbar werden, erscheinen' andererseits keineswegs obligatorisch (20), und das Verb kann im Sinne von 'sichtbar werden' durchaus auch persönlich verwendet werden (21): (20) daz schein an Helmbrehte wol 'das war bei Helmbrecht deutlich sichtbar', Wernher der Gartenaere (ca. 1240-1300)439

436 437 438 439

s. DW, VIII, Sp. 2448 und BMZ, II/2, 142, 10. Alexanderlied, 3606-3610. Alexanderlied, 262-265. Helmbrecht, 1686.

scheinen und erscheinen

495

(21) min her Iwein, der zaller vorderste schein 'mein Herr Iwein, der als allererster erschien', Hartmann von Aue.440 Nichtpronominale Subjekte bei scheinen + Dativ können erst ab dem 18. Jh. belegt werden, z.B.: (22) Die Freundschaft scheint mir in der Tat besser, Christian F. Geliert (1715-1769).441 Für den Dativ bei mhd. schtnen gilt: Wenn etwas nicht mehr einfach schinet, nicht mehr einfach 'klar oder sichtbar ist (eventuell wird)', sondern 'jmdm. klar oder sichtbar ist', dann wird nicht nur eine persönliche Instanz in die Beschreibung der Sachlage einbezogen, sondern es schwingt leicht auch ein persönliches 'glauben, daß etwas so oder so ist' mit. Eine ähnliche Differenzierung läßt sich beim modernen Verb sein nachvollziehen, das in einer Konstruktion als Kopula mit Prädikativ ohne Dativobjekt einen Sachverhalt als objektive Tatsache darstellt, während eine Konstruktion mit einem Dativobjekt eher eine subjektive Beurteilung vermittelt, vgl.: (23) (23') (24) (24')

Dafür ist er nicht klug genug Dafür ist er mir nicht klug genug Er ist sympathisch Dir ist er sympathisch.

Selbstverständlich können auch (23) und (24) jeweils als subjektive Beurteilungen ausgesprochen werden, aber im zweiten Satz wird anhand des Dativobjekts auch sprachlich angegeben, daß es eine persönliche, subjektive Einschätzung betrifft. Darüber hinaus wird zum Ausdruck gebracht, um wessen Einschätzung oder Urteil es sich handelt. Der sich im Laufe der Zeit verfestigende Kasusrahmen von scheinen muß etwa im selben Sinn erklärt werden. Bei Notker - vgl. die Sätze (10), (11) und (12) - vermittelt schinen noch einen Sachverhalt als objektive Tatsache, und es fehlt ein Dativobjekt. Auch für die mhd. Beispielsätze (18) und (19) gilt auf jeden Fall, daß den mittels des Dativs bezeichneten Personen das, was schinet, als Tatsache offenbart wird. Anders ist es bereits um den Dativ 440 441

Iwein, 3709-3710. Adelung 1793ff, III, Sp. 1402.

496

Der paradigmatische Dativ

in Beispiel (25) bestellt, in dem mir schinet einen Eindruck bezeichnet, ein persönliches Meinen, und nicht mehr eine Offenbarung oder eine entsprechende Überzeugung442: (25) min geselle was her Gäwein, als nur in mime troume schein 'mein Geselle war Herr Gawein, wie mir in meinem Traum schien (wie ich in meinem Traum dachte)', Hartmann von Aue.443 Der Gebrauch des Dativs in defektiven Wendungen (nur in der 3. Person) im Mhd. ist ungefähr gleichzeitig mit dem Erscheinen der ersten Beispiele, in denen schinen im Sinne von 'nicht sein, sondern nur scheinbar sein' verwendet wird, jedoch ohne Dativ: (26) maneger schinet vor den fremden guot, unde hat doch valschen muot 'mancher scheint vor Fremden gut, und hat doch (in Wirklichkeit) eine schlechte Gesinnung', Walther von der Vogelweide444 (27) Manie mensche schinet geben und gibet doch in der wärheit niht, Meister Eckhart (ca. 1260-1328).445 Ob zwischen der Konstruktion ez schinet mir 'ich meine', wie in Satz (25), und dem Entstehen des Inhalts 'nicht sein, sondern nur scheinbar sein' ein kausaler Zusammenhang vorliegt, ist nicht sicher. Die Beschreibung unter dem Lemma scheinen im Deutschen Wörterbuch legt aber eine Entwicklung zu 'nur scheinbar sein* über Verwendungen wie 'aussehen' und 'nur aussehen, aber nicht wirklich so sein' nahe.446 Die Redebedeutung des Verbs 'nur scheinbar sein' ist im Mhd. schwach ausgeprägt und begegnet selten, und sie ist erst "besonders in der neuern spräche ausgebildet".447 Maaler erwähnt sie noch nicht und beschränkt sich 442

443

444 445 446 447

So urteilt auch Thomas Cramer 1968, 3534 (S. 69) in seiner Übersetzung von Hartmanns Iwein: als mir in minem troume schein 'wie mich in meinem Traum dünkte'. Iwein, 3533-3534; auch DW, VIII, Sp. 2448 sieht in diesem Hartmannschen Beleg die Bezeichnung 'mir scheint'. Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 103, 10-11. Die Predigten, hrsg. von J. Quint (1958), II, 430, 3. DW, VIII, Sp. 2448-2449. DW, VIII, Sp. 2449.

scheinen und erscheinen

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lediglich auf den alten Kern 'Licht ausstrahlen'448, obwohl bereits sein Zeitgenosse Luther Konstruktionen mit scheinen in diesem Sinne verwendet, vgl.: (28) es scheinet wol ein geringer gottesdienst sein, Luther.449 Je mehr die Verwendung 'nur scheinbar sein' sich verbreitet, desto mehr verschwindet die Verwendung 'sichtbar werden', wie sie in den Sätzen (9) bis (12) (ahd.) sowie (16) und (17) (mhd.) belegt ist. Adelung qualifiziert sie bereits als veraltet,450 und im 19. Jh. erlischt sie ganz. Für schtnen + Akkusativ gibt es im Ahd. und Mhd. keine Belege. Das hängt damit zusammen, daß sowohl im Ahd. als auch im Mhd. ein verwandtes kausatives Verb scheinen mit dem Inhalt 'schtnen machen, sichtbar werden lassen; fälschen'451 vorhanden war, wie z.B. in: (29) er kerte sö gar stnen muot an got, daz er niht anders tet, wan daz er sprach sin gebet, vil gröze riuwe er scheinde 'Er lenkte sein Gemüt auf Gott, was er nur tat, wenn er betete. Er zeigte eine sehr große Ruhe', Rudolf von Ems (13. Jh.).452 Dieses Nebeneinander eines transitiven kausativen Verbs und eines intransitiven Verbs ist Teil einer größeren Systematik, wozu z.B. auch die mhd. Verbpaare trinken - trenken, sinken - senken, rinnen 'rinnen' - rennen ursprünglich 'rinnen machen' gehören.453 Das kausative Verb scheinen ist im Laufe des 15. Jahrhunderts aus dem Deutschen verschwunden.454 Viel später erscheint vereinzelt eine syntagmatische Remotivierung des Dativs, wohl

448

449 450 451 452 453

454

Maaler 1561, 350, Sp. 2-3; dasselbe gilt für das Frühneuhochdeutsche Glossar von A. Götze, das aber schon 'in die Augen springen, sichtbar werden' erwähnt, s. Götze 1956, 186, Sp. 1. DW, VIII, Sp. 2449. Adelung 1793ff, III, Sp. 1402. MH, II, Sp. 687. Barlaam und Josephat, 14195-14199. Diese Systematik geht auf die Möglichkeit zurück, im Germ, mittels des -yarc-Suffixes kausative Verben zu bilden, u.a. zu intransitiven starken Verben. DW, VIII, Sp. 2443.

498

Der paradigmatische Dativ

mehr aufgrund dichterischen Umgangs mit den Möglichkeiten des Sprachsystems als aufgrund der damaligen sprachlichen Norm, vgl.: (30) du edler sonnenschein, schein mir den weg zu ihr, Ludwig Uhland (1787-1862).455 In der ganzen Geschichte der Verwendungen von scheinen im Sinne von 'einen Eindruck hervorrufen' ist der Dativ syntaktisch frei, und er bewirkt mithin keinen Unterschied in der Verbsemantik, vgl. die folgenden drei Paare: (25) nun geselle was her Gäwein, als mir in mime troume schein 'mein Geselle war Herr Gawein, wie mir in meinem Traum schien (wie ich in meinem Traum dachte)', Hartmann von Aue (31) doch er wider in schine ein berc, dö eht im der wer zeran, do muoste er vor im dan sinen siegen entwichen. Obwohl er ihm gegenüber wie ein Berg war, als ihm jedoch die Waffe entfiel, mußte er dann vor ihm und seinen Schlägen weichen', Hartmann von Aue;456 (32) einen Augenblick zu verschieben schien ihm ein gantzes Jahr seine Liebesgesinnungen zu verliehren, Hoffmann von Hofmannswaldau (16171679)457 (33) das je älter ein Scribent ist / je näher er den Poeten zu kommen scheinet, Martin Opitz (1597-1639);458 (34) ihr (der maske) groszer, trotzender hut, der ihm eine krone schien, Jean Paul (1763-1825)459

455 456 457 458 459

DW, VIII, Sp. 2444. Erec, 9237-9240. Steinbach 1734, II, 416; lat. quodlibet momentum annus ipsi Von der deutschen Poeterey, 4, 12. DW, VIII, Sp. 2449.

videbatur.

scheinen und erscheinen

499

(35) betrachte das kalte, aber keck und schneidend geschliffne auge, dessen winkel eine offne blechscheere oder aufgestellte falle scheinen, Jean Paul.460 Der Unterschied ist jeweils, daß die Sätze ohne Dativobjekt der Verbsemantik eine allgemeinere Gültigkeit verleihen, während der zusätzliche Dativ die Beziehung zu einer Person expliziert, ähnlich wie bei sein ohne oder mit Dativ in den Sätzen (23), (23') und (24), (24'). In grammatischer Hinsicht, also was die Syntax und die Verbsemantik betrifft, ist der Dativ neutral. Konstitutiv ist das Prädikativ, ohne welches die Verbsemantik sich grundlegend ändert und das Verb im Prinzip automatisch die Bedeutung 'Licht ausstrahlen' hat; aus diesem Grund ist z.B. ein Satz wie (36) Die Maschine scheint entweder als 'Die Maschine gibt Licht ab' zu deuten oder als ungrammatisch einzustufen. Im Nhd. hat sich allmählich die Norm durchgesetzt, in solchen Fällen den Bedeutungsansatz 'einen Eindruck hervorrufen* durch einen zusätzlichen zu -I- iein-Anschluß zu disambiguieren, so daß auch der syntaktische Unterschied zwischen scheinen 'einen Eindruck hervorrufen' und scheinen 'Licht ausstrahlen' größer wird, vgl.: (36')

Die Maschine scheint (mir) praktisch zu sein.461

Der zu + i«n-Anschluß kommt im Mhd. nicht vor und erscheint zunächst im Frühnhd. ohne zu, vgl. z.B. den Beispielsatz (28) von Luther. Im 17. Jh. findet der Übergang statt, vgl.: (37) ein trojanisch pferd, scheinet unser friede seyn, Friedrich von Logau (1604-1655)462 (38) ich wil gar nicht darauf sehen, was ich für der weit zu seyn scheine, Samuel Butschky (1612-1678).463

440 441

462 463

a.a.O. Allerdings ist scheinen ohne den zu + jem-Anschluß und auch ohne adverbalen Dativ durchaus grammatisch, vgl.: (36") Neben den Wolkenkratzern schien die Kathedrale geradezu winzig, GWbdS, VI, 2905, Sp. 3. DW, VIII, Sp. 2450. a.a.O.

500

Der paradigmatische Dativ

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß scheinen 'einen Eindruck hervorrufen' mit adverbalem Dativ ein Fall von verhältnismäßig junger Valenzerweiterung ist. Die Konstruktionsweise ohne Dativ ist nachweislich älter als diejenige mit Dativ (vgl. Sätze [9] bis [12]). Semantisch und kasussyntaktisch ist scheinen 'einen Eindruck hervorrufen' ( + Dativ) aus der Verwendung 'sichtbar werden' hervorgegangen, die einen Dativ anfänglich nur in Verbindung mit unpersönlichen Subjekten zu sich nehmen konnte (vgl. Sätze [18] und [19]) und erst ziemlich spät, seit dem 18. Jh., weitere Subjekte (s. Satz [22]).

erscheinen Im Gegensatz zu scheinen kann das abgeleitete Verb erscheinen in zwei verschiedenen Verwendungen zusammen mit einem adverbalen Dativ auftreten, wie z.B. in:464 (39) Seine Aussage erschien mir nicht ganz glaubhaft ('einen Eindruck hervorrufen') (40) Ihr Großvater erschien ihr gestern abend ('sichtbar werden, z.B. in einem Traum, einer Vision usw.'). In der Verwendung 'einen Eindruck hervorrufen' ändert sich die Verbsemantik von erscheinen wiederum nicht, wenn der Dativ ausgelassen wird, vgl.: (39')

Seine Aussage erschien nicht ganz glaubhaft.

Die Verwendung 'sichtbar werden in einem Traum, einer Vision' scheint gemäß der Norm des Deutschen hingegen den adverbalen Dativ zu fordern,465 ansonsten ist die Verbsemantik einfach 'sichtbar werden, zum Vorschein kommen', vgl.: (40')

Ihr Großvater erschien gestern abend.

Der älteste Gebrauch mit adverbalem Dativ ist 'sichtbar werden, sich zeigen' , dies im Anschluß an den konkreten, ursprünglichen Bedeutungsansatz 464 445

WDG, II, 1135-1136. vgl. WDG, II, 1135-1136, sub 2.

scheinen und erscheinen

501

von scheinen. Im Gegensatz zu heute weist irscinan + Dativ im Ahd. jedoch nicht notwendigerweise auf ein Sichtbarwerden in einer Vision hin, vgl.: (41) Ni uuas er thaz lioht, ih sagen thir ein, thaz thär then liutin irseein 'Er war nicht das Licht - das beteuere ich dir - , das den Leuten sichtbar wurde (d.h.: 'das die Leute sehen, spüren konnten')', Otfrid466 (42) Diniu miracula irschinen allerο uuerlte 'Deine Wunder werden für die ganze Welt strahlen (strahlend sichtbar werden)', Notker467 (43) imo irseein Gotes engel der in balta 'ihm erschien (in einer Vision) ein Engel, der ihm Mut machte', Notker.468 Ahd. irscinan in der Verwendimg 'sichtbar werden in einem Traum' kann nicht ohne Dativobjekt belegt werden. Das trifft auch heute noch zu; der adverbale Dativ ist offenbar seit der ältesten Überlieferung ein unentbehrlicher Teil der Valenz dieser semantischen Verwendung. Ob irscinan eine Vision oder ein für jeden überprüfbares Erscheinen beinhaltet, ist im Gegensatz zu heute im Ahd. syntaktisch nur partiell markiert, denn das Vorhandensein eines adverbalen Dativs kann auf eine Vision hinweisen (43), braucht das aber nicht zu tun, vgl. die Sätze (41) und (42). Die Deutung hängt letztlich jeweils vom weiteren Kontext und dem ganzen Sinn des Textes ab, über sie entscheidet weder das Verb noch auch der Dativ allein. Ohne Dativ ist irscinan 'sichtbar werden, sich zeigen': (44) Do irschinen die urspringa dero uudzzero 'Dann erschienen die Quellen der Wasser', Notker.469 Das mhd. erschinen bietet dasselbe Bild wie ahd. irscinan. Drei Bedeutungsansätze lassen sich unterscheiden: a) 'sichtbar werden', mit adverbalem Dativ: (45) nu erschint im, reine vrowe guot, als ouch diu sunne dem mänen tuot 'zeigen Sie sich ihm, reine gute Dame,

466

467 468 469

Piper, Licht, Piper, Piper, Piper,

II, 2, 11. Auch hier übersetzt Kelle 1870, 84, 21-22 mittels erscheinen: das dem Volk erschienen ist'. II, 310, 19; lat.: Illuxerunt coruscationes tue orbi terre. II, 386, 3; lat.: Apparvit ei angelus domini confortans evm. II, 50, 12; lat.: Et apparuerunt fontes aquarum.

'das

502

Der paradigmatische Dativ

wie auch die Sonne sich dem Mond zeigt', Ulrich von Lichtenstein (ca. 1200-1274/77);470 b) 'sichtbar werden in einer Vision usw.', mit adverbalem Dativ: (46) do erschein santime nüchel menigin engile 'dann erschien ihm zugleich eine große Menge Engel':471 c) 'sichtbar werden (nicht in einer Vision usw.)', ohne Dativobjekt: (47) daz si werliche dö stuonden, dö der tag erschein 'daß sie gut aufgerüstet dort standen, als der Tag anfing', Wolfram von Eschenbach.472 Bei der dargestellten Sachlage in der ältesten Sprachperiode, in der Verwendungen mit und ohne Dativ nebeneinander vorkommen, ist es schwierig nachzuweisen, daß die Verwendungen ohne Dativ denen mit Dativ chronologisch vorausgehen. Es muß darauf hingewiesen werden, daß die verbale Präfigierung mit er- in nahezu allen Fällen entweder transitive Verben oder absolute Verben ohne Kasusobjekt ergibt. Bei irscinan ist das Prinzip allerdings bereits früh durchbrochen. Daß keine Akkusativrektion vorkommt, ist durch die Systematik im verbalen Lexikon bedingt, die im Ahd. und Mhd. neben einem intransitiven irscinan bzw. erschtnen auch ein kausatives irscheinen bzw. erscheinen vorsieht (wie auch schinen neben dem Verb scheinen existierte, s. oben [29]), z.B.: (48) du ubir diu heri beide got sin urteil so irsceinte, daz die Troieri sum intrunnin, die Criechin ni getorstin heim vindin 'Sein Urteil über die beiden Heere offenbarte Gott damals so, daß einige der Trojaner entkamen und die Griechen nicht wagten heimzukehren' (um 1100).473

470 471 472 473

Frauendienst, 54, 4-5. Predigt Sermo in natiuitate domini, 62. Parzival, 377. 8-9. Annolied, 22, 7-10, Übersetzung vom Hrsg. E. Neilmann in der Textausgabe (1975).

scheinen und erscheinen

503

Spätere Belege des starken (also ursprünglich intransitiven) Verbs erscheinen mit Akkusativ sind auf jeden Fall eine große Seltenheit. Ob Daniel Sanders recht hat, wenn er im folgenden Passus bei Luther ein transitives erscheinen 'erleuchten' erblickt, ist fraglich: (49) Der Herr, der uns also erscheinet und leuchtet (...). Der uns erschienen und erleuchtet hat, Luther.474 Am plausibelsten erklärt man den Passus gewiß so, daß uns im ersten Satz ein Dativ ist, der von den beiden Verben erscheinen und leuchten regiert wird. Im zweiten Satz hat es den Anschein, daß Luther das Hilfsverb ist bei erscheinen ausgelassen hat; das Hilfsverb hat gehört allerdings nur zu erleuchten, und uns ist im zweiten Satz die - morphologisch neutrale - Form für den Dativ und den Akkusativ des Pronomens.475 Bis ins 16. Jh. kommt schwaches und transitives erscheinen allerdings in reflexiven Konstruktionen vor, auch dann aber bedeutet das Verb 'sich zeigen', vgl.: (50) als sich dann erscheinet, das sie (die alten scribenten) nichts in solchen Schäden gezeichnet haben, Paracelsus (1493-1541).476 Allmählich blieb erscheinen -I- Dativ dem Bedeutungsansatz 'sichtbar werden in einer Vision' vorbehalten. Die Tendenz dazu erkennt bereits Adelung,477 und heute kann erscheinen in der neutralen Bedeutung 'sichtbar werden' kaum noch mit einem Dativ kombiniert werden. Erscheinen + Dativ 'sichtbar werden in einer Vision' hat sich syntaktisch nur langsam verselbständigt, und der adverbale Dativ ist in dieser Verwendung zwar nicht in chronologischer, dafür aber in verbsemantischer Hinsicht als eine Valenzerweiterung zu betrachten. Im Ahd. und im Mhd. kann der Dativ noch in beiden Verwendungen gebraucht werden, vgl. den semantischen Unterschied zwischen (41) und (43) (ahd.) sowie (45) und (46) (mhd.). Während bei scheinen die ersten Beispiele der Verwendung 'einen Eindruck hervorrufen' bereits im Mhd. zu belegen sind (s. die Sätze [26] und 474 473

476 477

Sanders 1876, II2, 905, Sp. 1. Sanders weist darüber hinaus, allerdings ohne explizite Zitate, auf einige andere Belege mit transitivem erscheinen im Sinne von 'zeigen' hin. Dabei handelt es sich um Texte von Huldrych Zwingli und Aegidius Tschudi aus dem 16. Jh., die uns leider nicht zugänglich waren, vgl. Sanders 1876, II2, 905, Sp. 1. DW, III, Sp. 957. Adelung 1793ff, I, Sp. 1933.

504

Der paradigmatische Dativ

[27]), ist sie bei erscheinen erst im jüngeren Nhd. entstanden. In Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch sowie in Campes Wörterbuch der deutschen Sprache fehlt diese Bedeutung noch vollständig. Erst Sanders verzeichnet einschlägige Beispielsätze, wobei übrigens auffallt, daß in den älteren Beispielen erscheinen häufig im Perfekt gebraucht wird, vgl.: (51) Sie hat mir größer geschienen (...), sie ist mir auch bedeutender erschienen, Wilhelm von Humboldt (1767-1835)478 (52) Was bisher als einfach erschienen war, Goethe479 (53) Gewässer, das mir (...) als stattlicher Fluß erschienen war, Hermann Burmeister (1807-1892)«° (54) die Wohnung (...) erschien weder elegant noch kostbar; es sah eben aus, als wenn man anständig zur Miete wohne, Goethe.481 Konstruktionen mit und ohne Dativ waren offenbar von Anfang an ohne Unterschied in der Verbsemantik möglich, wie Sanders selbst zeigt, indem er den Dativ in seinen eigenen Beispielsätzen zwischen Klammern setzt, z.B.: (55) Er erscheint (mir) tapfer; Das erscheint (mir) merkwürdig.4*2 Inzwischen hat sich die Sprachnorm zwar dahingehend geändert, daß erscheinen + Prädikativ oft einen Dativ neben sich hat, oder einen zu + seinAnschluß oder auch beides. Aber auch absolute Fügungen sind nach wie vor prinzipiell möglich, vgl.: (56) Damals erschien er noch jung und tapfer. Wie für erscheinen + Dativ 'sichtbar werden in einer Vision' gilt auch für erscheinen 'einen Eindruck hervorrufen', daß nicht im chronologischen Sinn von einer Valenzerweiterung die Rede sein kann. Die Konstruktion mit Dativ ist nachweisbar gleich alt wie die Konstruktion ohne Dativ. Diese ist gegenüber derjenigen mit Dativ jedoch primär und grundlegend in syntaktischer und semantischer Hinsicht. Der Dativ hat im Satzbauplan von erscheinen 'einen Eindruck hervorrufen' keine obligatorische Stelle, und eine sol478 479 480 481 482

Sanders 1876, II2, 904, Sp. 3. a.a.O. a.a.O. GWb, III, Sp. 391. Sanders 1876, II2, 904, Sp. 3.

scheinen und erscheinen

505

che hat der Dativ darin auch nie gehabt, dies im Gegensatz zum Prädikativ, das für die Verbsemantik in diesen Verwendungen konstitutiv ist.483 Insofern die Konstruktion mit Dativ sekundär und fakultativ ist, ist es berechtigt, den Dativ bei erscheinen als das Ergebnis einer Valenzerweiterung zu bezeichnen - und damit als ein gutes Beispiel für die Verben der GRUPPE C.

483

Vereinzelt belegt (und mittlerweile auch verschwunden) ist die Möglichkeit, das Prädikativ mit der Präposition fir zu bilden, wie z.B. in: (56') Etwas, das ihm (...) Jür gleichgültig erschien, Karl Gutzkow (1811-1878), s. Sanders 1876, II2, 904, Sp. 3.

506

Der paradigmatische Dativ

V.16. gefallen In der deutschen Gegenwartssprache wird das Verb gefallen meist mit dem adverbalen Dativ verbunden, auch in übertragenen Verwendungen wie Satz (2): (1) (2)

Das Mädchen hat ihm (gut) gefallen484 Du gefällst mir heute gar nicht 'Du machst auf mich den Eindruck, als wärest du krank'.485

Im Prinzip ist das Verb aber nicht an den Dativ gebunden, wie aus den beiden folgenden Sätzen hervorgeht: (3) (4)

Der Film hat allgemein gefallen486 Sie war ein hübsches Mädchen und wußte zu gefallen,487

Obligatorisch ist der Dativ hingegen in zwei dreistelligen Satzbauplänen, in denen das Verb reflexiv verwendet wird, nämlich wenn das Verb außer mit einem dativischen Reflexivum mit einer Präpositionalphrase verbunden wird, die mit in anfangt: (5)

Du gefällst dir in der Rolle des Gastgebers 'Du kehrst gern deine Rolle als Gastgeber heraus',488

oder wenn gefallen mit einem dativischen Reflexivum und dem Verb lassen verbunden wird, z.B.: (6)

Ich lasse mir das nicht länger gefallenZ489

Das Verb gifallan {gifallen) ist bereits im frühesten Ahd. belegt, und zwar als intensivierende Ableitung zu fallan (oder fallen) 'fallen, stürzen'. Wie das Simplex kommt es bereits im Ahd. auch in der übertragenen Bedeutung 'zufallen, zuteil werden' vor.490 Darüber hinaus aber bilden sich beim Präfixverb weitere Bedeutungsansätze heraus, die somit der morpho484 485 486 487 488 489 490

DUW, 570, Sp. 2. WDG, II, 1478, Sp. 2. DUW, 570, Sp. 2. WDG, II, 1478, Sp. 2. vgl. a.a.O. a.a.O. AW, 128, Sp. 2.

gefallen

507

logischen Ableitung selbst zuzuschreiben sind. R. Schützeichel verzeichnet für den absoluten Gebrauch 'geschehen; zukommen; angemessen, möglich, zuträglich sein'. Beim zweistelligen Gebrauch 'zutreffen (auf) und passen (zu, auf)' verzeichnet der Verfasser Dativrektion, weist aber außerdem darauf hin, daß das Verb auch die Präposition in + Akkusativ regieren konnte und dann die Redebedeutung 'in jemandes Hände fallen' annimmt.491 Bei Otfrid gibt es für gifallan nur einen einzigen, dazu nicht gesicherten Beleg, dafür aber drei Belege mit dem intransitiven Präfixverb bifallan. Bei Notker finden wir für alle syntaktischen Verbindungen, die im Althochdeutschen Wörterbuch aufgelistet sind, Belege. Absolut und in der quasi noch ursprünglichen Bedeutung 'herabsinken' tritt gifallan z.B. auf in: (7)

Uuända mäg iz misselicho geuällen . so neduuinget iz nehein not. zu demo einen 'Denn kann es auf viele Weisen geschehen, dann ist es nichts Notgedrungenes (wörtlich: 'dann zwingt es keine Notwendigkeit') zu dem Einen'.492

Eine Bedeutung, aus der ebenfalls noch in aller Klarheit der Kerninhalt 'fallen' hervorgeht, liegt auch dann vor, wenn gifallan sich mit der Präposition in verbindet, die selber den Akkusativ regiert, z.B.: (8)

Ünde äba dero einualtun gägenuuerti . gefället si in dia unentlichun mänegfalti fergängenes zites . ioh chümftiges 'Und von der einfachen Gegenwart sinkt sie (diese Beschaffenheit) herab in die unendliche Mannigfaltigkeit vergangener und zukünftiger Zeiten'.493

Meist regiert das Verb jedoch einen Dativ, und zwar in zweistelligen Satzbauplänen, wobei das Subjekt nicht unbedingt ein Nomen sein muß, sondern auch ein Subjektsatz sein kann, wie z.B. in: (9)

IJnde imo gefället täz er heize comedens . uuända tempus frizet äl däztir ist 'Und es paßt zu ihm, daß er (Saturnus) comedens494 heißt, denn tempus frißt alles, was ist'.495

491

a.a.O. Piper, I, 528, 5-7; lat.: Nam si ex casu . non ex necessitate. 493 Piper, I, 351, 1214; lat.: Et a simplicitatepresentie . decrescit in infinitam fiituri. ac preteriti. 4SM d.h.: 'der Gefährte, der Komet'. 495 Piper, I, 746, 18-19. 492

quantitatem

508

Der paradigmatische Dativ

Es können erhebliche Schwankungen der aktuellen Bedeutung des Verbs festgestellt werden, häufig aber kann man die Redebedeutung 'zuteil werden, zufallen' belegen, wie im folgenden Satz: (10) In zorften teilen sint mir geuallen diu lantmezseil, wörtlich: 'In herrlichen Teilen sind mir die Meßschnüre (die Seile zum Ausmessen des Landes) zuteil geworden', dem Sinn nach: 'Herrliche Landstriche sind mir durch die Meßschnur zuteil geworden'.496 Die obige Übersetzung ad sensum stammt von Edward Sehrt, der sie durch die Bemerkung "ein schönes Los ist mir zugefallen" ergänzt.497 Damit schließt sich Sehrt der traditionellen Etymologie von gefallen an, derzufolge die moderne Bedeutung des Verbs 'zusagend, anziehend, angenehm, hübsch sein' "von (durch den Fall der Würfel oder das Los) 'zufallen, zuteil werden' und daher 'angenehm sein' herzuleiten" ist.498 Daß das Los fallt, wird bei Notker auch explizit erwähnt, u.a. im folgenden Satz, in dem die Form geuallen freilich das zweite Partizip des Simplex fallen, und nicht eine Form des Verbs gifallan ist: (11) Übe er iz neuueiz . uuio säliglih löz mag imo uuäsen geuallen...? 'Wenn er es nicht weiß, welch glückliches Los mag ihm da zuteil geworden sein...?', Notker.499 Der ursprüngliche Bedeutungskern 'fallen' bleibt bis in mhd. Zeit wirksam, wenn auch mhd. gevallen allmählich immer öfter übertragen gebraucht wird. Die Grenzen zwischen der konkreten, ursprünglichen Bedeutung, übertragenen Bedeutungen, die noch deutlich auf jener primären Verbsemantik basieren, und eigenständigen Bedeutungsansätzen, bei denen der übertragene Gebrauch des Verbs sich vom ursprünglichen Inhalt 'fallen' gelöst hat, sind selbstverständlich fließend.500 Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch unterscheidet bei mhd. gevallen insgesamt vier Bedeutungsansätze: a) 'fallen',

496 497 498 499 300

Piper, II, 41, 27; lat.: Funes ceciderunt mihi inpreclaris. Sehrt 1962, 220, Sp. 2. Pfeifer 1993, 409, Sp. 1; so auch schon DW, IV, l 1 , Sp. 2103-2104 und 2108. Piper, I, 85, 16-17: lat.: Si nescit quenam beata sors esse potest...? Dem Deutschen Wörterbuch zufolge erschwert eine Geschichtsschreibung des Verbs gefallen vor allem die Tatsache, daß sich die "ursprünglichen" und die übertragenen sowie neuen Vorstellungen, die sich mit dem Verb verbinden, "zur qual des lexikographen", kreuzen und mischen, DW, IV, l 1 , Sp. 2105.

gefallen

509

b) 'zufallen, zuteil werden', c) 'angemessen sein, passen' und d) 'gefallen'.501 Der Bedeutungsansatz 'fallen' kommt vor allem in absoluten oder verwandten Konstruktionen vor, wobei gevallen oft durch weitere Präpositionalphrasen spezifiziert wird. Ganz konkretes Fallen ist z.B. noch gemeint im folgenden Beispiel: (12) nu si den apfel lie dä gevallen.502 Die wörtliche Bedeutung findet sich im Mhd. sogar in Verbindung mit einem akkusativischen Reflexivum, vgl.: (13) Duo sih Adam geviel, duo was naht und vinster 'Als Adam zu Falle kam, war es Nacht und dunkel'.503 Das Deutsche Wörterbuch weist noch auf frühnhd. Belege hin, in denen gevallen "sinnlichstesfallen" bezeichnet, z.B.: (14) es gevielen in demselben herbst vor Michael 12 reifen (= Nachtfröste).504 Noch stark an die konkrete Kernbedeutung lehnt auch der Gebrauch des Verbs im Sinne von 'auf die Welt bringen' an. Auch diese Verwendungsweise ist im Frühnhd. belegt, vgl.: (15) in diser insel gefallen die elephant in groszer menge, gröszer dann sunst niendert, Sebastian Franck (1499-1542)505 (16) von schönen eitern gevallen schöne kinder, Johannes Colerus (15661639).506 Übertragenes Fallen, nämlich auf die Zeit bzw. einen Zeitpunkt bezogen, liegt auch der folgenden Verwendung des Verbs im Mhd. zugrunde: (17) des tages, sente Peters abent geviel do virsah er sich, ez were sin ziel 'dann, als es der Abend des heiligen Petrus war, 501 502 503 504 505 506

BMZ, III, 219-220. BMZ, III, 219, 45-46. Ezzolied, 10, 1. DW, IV, 1', Sp. 2103. a.a.O. a.a.O.

510

Der paradigmatische Dativ

vermutete er, daß sein Ende gekommen war', Albertus von Augsburg (2. Hälfte des 12. Jahrhunderts).507 Als Übertragungen des Inhalts 'fallen' werten Benecke-Müller-Zarncke schließlich auch noch die Bedeutungen '(zu-)neigen', 'beistimmen' u.dgl. Dabei handelt es sich in der Regel um zweistellige Satzbaupläne mit genuinen Präpositionalobjekten, vgl.: (18) hie von geviel min herze an in 'deswegen neigte sich mein Herz zu ihm', Gottfried von Straßburg508 (19) an die rede er dö geviel 'der Rede stimmte er dann bei'509 (20) si gevtlen üf den sin 'sie kamen auf den Gedanken'.510 Als Belege für eine eigenständige Bedeutungsentwicklung betrachtet das Mittelhochdeutsche Wörterbuch die Sätze, in denen geyallen im Sinne von 'zufallen, zuteil werden' verwendet wird. Der Beispielsatz (10) hat gezeigt, daß dieser Bedeutungsansatz schon im Ahd. (bei Notker) vorgefunden werden kann. Im Mhd. wird das Verb in diesem Bedeutungsansatz oft entweder in Verbindung mit Substantiven wie heil, unheil, gewin, ungewin, pris, sige usw. gebraucht511 oder in Kontexten, in denen von Erbschaften, Urteilen (vgl. ein Urteil fällen), Worten, von einem Recht, einem Fest oder Tag usw. die Rede ist.512 Die Konstruktionen sind zweistellig und weisen generell den adverbalen Dativ auf, dem wir schon in den ahd. Belegen begegnet sind, vgl.: (21) sit mir geviel daz unheil 'Da mir einmal das ungückliche Los zugefallen ist', Hartmann von Aue513 (22) ez kumt vil lihte daz im sol dirre pris gevallen 'es tritt vielleicht der Fall ein, daß ihm dieser Preis zuteil wird', Wirnt von Gravenberc514

507 508 509 510 511 512 513 514

Das Leben des heiligen Ulrich, 1460-1461. Tristan, 1036. BMZ, III, 219, 15-16; dort auch die Übersetzung. BMZ, III, 219, 20-21; dort auch die Übersetzung. s. auch DW, IV, 1', Sp. 2104. DW, IV, l 1 , Sp. 2106-2108. Iwein, 7631; Übersetzung von Cramer 1968, 7631 (S. 149). Wigalois, 1893-1894.

gefallen

511

(23) ja gevellet dir nü min lant und michel ere 'ja, dir wird jetzt mein Land und viel Ehre zuteil', Hartmann von Aue515 (24) so gefeit dem man daz ligend guot 'so fällt dem Mann das Grundstück zu'516 (25) daz reht (...) daz was im gevallen, daz er undern megeden allen eine küssen solde, swelhe er wolde 'das Recht, das er zugesprochen erhielt, (bestand darin,) daß er unter allen jungen Frauen diejenige küssen konnte, die er wollte', Hartmann von Aue.517 Statt eines Dativobjekts ist auch eine entsprechende Präpositionalphrase möglich: (26) dö der verschiet, dö geviel daz lant an in und sines bruoder hant 'Als dieser (= der König) starb, da wurde dieses Land ihm und seinem Bruder zuteil (d.h.: 'das Land fiel an sie')', Gottfried von Straßburg.518 Wir sahen, daß es auch für die übertragene Bedeutung 'angemessen sein, passen' bereits bei Notker Beispiele gibt (vgl. Satz [9]). Die mhd. Beispiele aber weisen statt eines Dativs mehrheitlich einen Präpositionalanschluß mit zuo auf, z.B.: (27) daz under disen kunigen allen neheiner ziu519 mach gevallen 'daß unter all diesen Königen sich keiner mit euch vergleichen läßt', Pfaffe Lamprecht (12. Jh.).520

515 516 517 518 519 520

Gregorius, 235-236. BMZ, III, 219, 36-37. Erec, 1107-1108. Tristan, 5889-5890. ziu = zuo iu. Alexander, 85, 7; die Übersetzung stammt aus BMZ, III, 219, 40-42.

512

Der paradigmatische Dativ

Neuartig ist im Mhd. der Bedeutungsansatz 'angenehm sein' (also unser heutiges 'gefallen'), der im Nhd. schließlich zum vorherrschenden Verwendungstyp wird. Auch in dieser, heute nur noch entfernt als übertragen interpretierbaren Verwendung behält das Verb den angestammten Dativ bei. Von der semantischen Entwicklung zur Bedeutung 'angenehm sein' hin leuchtet es ein, daß lange Zeit (Belege reichen vom Mhd. bis ins 19. Jh.) die Fügung wol gefallen die übliche Wendung war, vgl.:521 (28) vrou Laudine und her Iwein die buten in ir hüse dem künige Artuse selch ere diu in allen, wol muose gevallen 'Frau Laudine und Herr Iwein, boten in ihrer Burg dem König Artus solch eine ehrenvolle Aufnahme, die ihnen allen gefallen mußte', Hartmann von Aue522 (29) Ez zimet dem man ze lobene wol, des er iedoch bedürfen sol, und laze ez ime gevallen wol, die wtte ez ime gevallen sol 'Es ziemt dem Menschen, dasjenige zu loben was er doch braucht, und solange an demjenigen Gefallen zu finden, daß es ihm gefallen kann', Gottfried von Straßburg523 (30) "... gevelt iu der rät, so heizet ez so verrihten. " Der rät geviel in allen wol "'... gefallt euch der Rat, verordnet dann, danach zu handeln. Der Rat gefiel ihnen allen'524 (31) wie süsze und wol im dasselb gefalle, Luther525

521 522 523 524 525

Alle Beispiele DW, IV, l 1 , Sp. 2109. Iwein, 2759-2762; vgl. Cramer 1968, 2759-2762 (S. 54). Tristan, 13-16. Lohengrin, 1210-1211. DW, IV, l 1 , Sp. 2109.

gefallen

513

(32) ich hab den Schweden mit äugen gesehn, er thut mir wol gefallen, Dietrich W. Soltau (1745-1827).526 Entsprechend war die antonymische Wendung übel gefallen,521 seit dem Mhd. dann auch mißfallen (mhd. missevallen).528 Die im Nhd. wieder aufkommende Fügung sich (Dativ) in etwas gefallen (vgl. Satz [5]) führt das Deutsche Wörterbuch auf den Schriftsteller Christoph Martin Wieland zurück, der sie nach dem frz. se plaire ά 'etwas gern tun, haben usw.' gebildet haben soll.529 Das Wörterbuch macht aber auch auf Belege aufmerksam, in denen das Verb nicht den gewöhnlichen Dativ, sondern einen Akkusativ regiert, u.a.: (33) mich hat allzeit der spruch gefallen: jeder für sich, gott für uns allen, Gabriel Rollenhagen (1583-ca. 1619)530 (34) sie musz doch meine einrichtung gefallen, jungfer, Johann Martin Miller (1750-1814).531 Dem Deutschen Wörterbuch zufolge kann die norddeutsche Vermischung von Dativ und Akkusativ solche Belege nicht erklären, "gefallen scheint da vielmehr etwas anders gedacht zu sein, nebst vergessen des ursprünglichen begriffes 'zufallen'". 532 Welche semantische Differenzierung genau für den Kasuswechsel verantwortlich gemacht werden könnte, bleibt indes unklar, zumal die etymologische Verbindung zum ursprünglichen Intensivum 'stark fallen' auch dann nicht ohne weiteres im Bewußtsein der Sprachteilnehmer angenommen werden kann, wenn gefallen 'angenehm sein' den Dativ regiert, und zwar sicherlich auch schon im 18. und 19. Jh. nicht mehr. Uns scheint die Akkusativrektion in Sätzen wie (33) und (34) weder an der Verbsemantik noch auch am gesamten Satzinhalt etwas zu ändern, so daß es plausibler erscheint, den Akkusativ darin aufgrund seines hierarchisch höheren Stellenwertes zu erklären: Es handelt sich um einen zweistelligen Satzbau-

526 527 528 529 530 531 532

a.a.O. a.a.O. ΜΗ, I, Sp. 2172. DW, IV, 1 \ Sp. 2113, sub 7b. DW, IV, 1 \ Sp. 2115. a.a.O. a.a.O.

514

Der paradigmatische Dativ

plan, der auch bei semantisch vergleichbaren Lexemen wie freuen, erfreuen, beglücken, vergnügen, verstimmen, verärgern usw. den Akkusativ regiert. Die obigen Analysen von scheinen, erscheinen und gefallen fördern eine Reihe von Gemeinsamkeiten dieser Verben zutage. Der adverbale Dativ ist bei ihnen erstens ein reiner Personenkasus533. Zweitens gibt es eine enge Verbindung zwischen Dativrektion und Verbsemantik: Auch wenn es vereinzelt frühe Belege für eine Verbindung des Dativs mit den Verben in ihrer ursprünglichen "konkreten" Bedeutung ('Licht ausstrahlen', 'anfangen, Licht auszustrahlen', '[stark] fallen') gibt, so fällt doch auf, daß der Dativ sich bei diesen Verben in erster Linie im übertragenen Bedeutungsansatz zum Objektskasus verfestigt: 'einen Eindruck hervorrufen' und 'angenehm sein'. Gerade der Übergang von der wörtlichen zur übertragenen Bedeutung läßt deutlich werden, weshalb der Akkusativ als Kasus der "Kohärenz" nicht in Frage kommt: Etwas strahlt nicht eine Person, und etwas anderes fällt nicht eine Person, vielmehr strahlt etwas fiir eine Person, wie etwas anderes für eine Person (günstig oder ungünstig) fällt. Diese Konstellation bleibt auch in der übertragenen Verwendung von scheinen, erscheinen und gefallen bewahrt - wird genaugenommen dann erst recht konsolidiert. Der Übergang von der wörtlichen zur übertragenen Bedeutung zeigt damit die zumindest sprachhistorisch vollkommen plausible Notwendigkeit auf, daß die drei Verben den Dativ als Kasus der "inkohärent" dargestellten Instanz zu sich nehmen, die bei diesen drei Verben darüber hinaus persönlich ist.

533

Man beachte, daß auch Beispiele wie Das erschien der ganzen Versammlung so oder Das gefiel dem ganzen Land dazu kein Gegenbeispiel bilden, insofern es sich dabei jeweils um ein totum pro parte handelt.

behagen

515

AUSNAHMEN

Zwei Verben, die einen adverbalen Dativ regieren, entziehen sich einer Erklärung gemäß unserem funktional-linguistischen Standpunkt, nämlich behagen und erliegen. Beide Verben haben nie einen anderen Obliquus als den Dativ regiert, behagen seit dem Ahd. und erliegen seit dem 18. Jh. Das Motiv für den Dativ beim ersten Verb ist unklar, und das gilt auch für seine Etymologie. Der Grund für die Dativrektion bei erliegen ist dann wieder eine Interferenz mit dem Verb unterliegen, das - als Präfixoidverb - den Dativ regiert. V . 1 7 . behagen Im Gegensatz zu etwa begegnen, das heute sowohl absolut wie zweistellig mit adverbalem Dativ verwendet wird (s. § V.14.), regiert das Verb behagen in der deutschen Gegenwartssprache ausschließlich einen adverbalen Dativ. Es ist heute so gut wie zweiwertig. Kein einziges der maßgeblichen Wörterbücher nennt ein Beispiel ohne Dativobjekt, obwohl eine absolute Verwendung wenigstens bei Goethe noch belegt ist, obwohl auch hier nur selten, vgl.: (1)

Ein wackerer Mann verdient ein begütertes Mädchen, Und es behaget so wohl, wenn mit dem gewünschten Weibchen, Auch in Körben und Kasten die nützliche Gabe hereinkommt.534

Auch in der Geschichte des Verbs sind zweistellige Verwendungen die Norm und einstellige Verwendungen zweifellos eher eine Seltenheit. Ein mhd. Beleg für zweistelliges behagen mit Dativrektion ist z.B.: (2)

sone ist er im doch niht gehaz, unde behaget im baz 'dann ist er ihm doch nicht verhaßt und behagt ihm besser', Hartmann von Aue.535

Das Deutsche Wörterbuch536 und auch die beiden großen mittelhochdeutschen Wörterbücher von Lexer und Benecke-Müller-Zarncke verzeichnen 534

535 536

GWB, II, Sp. 248. Iwein, 7365-7366. DW, I, Sp. 1318.

516

Der paradigmatische Dativ

kein einziges Beispiel, in dem das Verb absolut verwendet wird. Dennoch gibt es einige Belege mit einstelligem behagen, in denen der absolute Gebrauch des Verbs möglicherweise auch reimtechnische Gründe hat, vgl.: (3)

(4)

di durch siner liebe willen di sussigkeit ires fleisches gestillen, si werden irfrauwet, also man saget; wanne disse togund wol behaget 'diejenigen, die wegen der Willenskraft seiner (= Christus) Liebe das Vergnügnen ihres Fleisches stillen, die werden erfreut, wie man sagt; denn diese Tugend bereitet viel Behagen537', Johannes Rothe (13601434)538 Nun sind hin weg vil jare. Wer mir bestet Wo ir ursprung behaget, Wie ieder mit seim namen her Sey kamen her mit dingen! 'Jetzt sind viele Jahre vorbei. Wer sagt mir mit Sicherheit, wo ihre (= der Lieder) Urheberschaft Behagen bereitet539, wie es jeder mit seinem Namen tut, der mit seinen Liedern hervortritt', Hans Folz (ca. 1435/1440-1513).540

Alt ist auch die reflexive Verwendung, in der dasjenige, was Behagen bereitet, anhand eines aktantiellen Präpositionalobjekts angeschlossen wird: (5)

537 538 339 540 541

hic est filius meus! min sun, an dem ich mir wol behagete, den man hoeren sol 'Dies ist mein Sohn! mein Sohn, der mir behagt, dem man zuhören soll', Rudolf von Ems (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts).541

wörtlich: 'behagt sehr'. Das Lob der Keuschheit, 1447-1451. wörtlich: 'behagt'. Meisterlieder, 91, 146-150. Barlaam und Josephat, 2734-2736.

behagen

517

Der Dativ ist in den zweistelligen (s. [3] und [4]) sowie dreistelligen Verwendungen (s. [5]) relativ stabil. Nur im Mhd. begegnen einige Fälle mit einem Akkusativ der Person statt eines Dativs, z.B.: (6) (7)

(8)

diz ist der sun der mich behaget 'dies ist der Sohn, der mir behagt'542 So weide ich stetlich prayn Vor Gote, in wol behayn! 'Dann würde ich beständig prangen vor Gott, ihm wohl behagen' (um 1331)543 Brüder, din manliche craft Schüff mich dik unverzagtt. Fröden michftirbas nütt behagtt 'Bruder, deine männliche Kraft machte mich oft zuversichtlich. Freude behagt mir nicht mehr' (1270-1300).544

Beispielsatz (8), ein schweizerischer Beleg, widerspricht der Behauptung, daß die Kasusschwankung zwischen Dativ und Akkusativ bei behagen auf den mitteldeutschen Raum beschränkt gewesen sei.545 Hingegen regiert die Präfixbildung mit miß- (mhd. missehagen, missebehagen), die vom Mhd. bis ins 17. Jh. begegnet, immer den Dativ.546 Die Herkunft des Verbs ist umstritten. Im Ahd. kommt es nicht vor.547 Nur im Altsächsischen ist eine Form bihagon mit vergleichbarem Inhalt belegt, vgl.:

542 543 544 545 54β 547

ΜΗ, I, Sp. 150. Die poetische Bearbeitung des Buches Daniel, 4774-4775. Der Göttweiger Trojanerkrieg, hrsg. von A. Koppitz (1926), 19184-19186. ΜΗ, I, Sp. 150. vgl. DW, VI, Sp. 2295; ΜΗ, I, Sp. 2164-2165; BMZ, I, 608. Die gegenteilige Behauptung beruht auf einem hartnäckigen Mißverständnis, das auf Graff 1834ff, IV, 761 zurückgeht, der zwei inexistente Belege für ein Perfektpartizip gihagan bietet. Der Fehler hat über das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm (DW, I, Sp. 1318), das Graff außerdem mit einem falschen Verweis zitiert, seinen Weg in andere historische und etymologische Wörterbücher gefunden, darunter Pfeifer 1993, 112, Sp. 2 und Kluge/Seebold 1996, 92, Sp. 1; bei Paul '1992, 104, Sp. 2 taucht sogar die mysteriöse Form bihagan auf. Ein Blick in neuere lexikographische Werke zum Ahd. wie das Althochdeutsche Wörterbuch von Splett 1993, I, 337-338 und von Köbler (1994) sowie in das Glossenwörterbuch von Starck/Wells (1972ff) lehrt uns, daß weder von gihagan noch von bihagan auch nur eine Spur nachweisbar ist. Grundlage für die Annahme der Scheinform ist somit eine falsche Analyse seitens E. Graff, die nicht überprüft und über Generationen von Wörterbüchern tradiert wurde.

518 (9)

Der paradigmatische Dativ

endi imu thiu uurd bihagod 'und der Boden gefiel ihm (dem Korn)'.548

Dem Deutschen Wörterbuch zufolge ist behagen im hochdeutschen Raum nicht ursprünglich; die Behauptung, auch Luther habe das Verb nicht gekannt549, ist allerdings falsch.550 Einige vermuten eine niederdeutsche Herkunft des Verbs.551 Ob behagen im späten Mittelalter aus dem Hochdeutschen verschwunden sei und erst im 17. oder 18. Jh. wieder aus dem Norddeutschen ins Hochdeutsche gedrungen sei, wie Pfeifer behauptet, sei dahingestellt. Die genannten Belege bei Luther lassen eine solche Hypothese allerdings eher unwahrscheinlich erscheinen. Auch ist das Verb im Hochdeutschen bereits im frühen 17. Jh. bei Martin Opitz belegt: (10) so weiß ich doch nicht wie sein Aites mir sonderlich behaget (1624).552 Jedenfalls regiert auch das mittelniederdeutsche behagen den Dativ553, wie dies auch für mittelniederländisch behaghen der Fall ist.554 Die mittelniederländischen Daten legen für den adverbalen Dativ bei behaghen jedenfalls eine diakritisch-syntagmatische Motivation gegenüber einem Genitivobjekt nahe, das die Instanz nennt, womit behagt wird, vgl. unten einige Belege mit adverbalem Dativ (11), mit einem adverbalen Genitiv (12) sowie mit Genitiv und Dativ, (13) und (14): (11) Na etene die coninc vragede Lancelote, hoe hem behagede van den vate, dat die joncfrouwe brochte 'nach dem Essen fragte jener König Lancelot, wie ihm der Inhalt des Fasses,555 das die Jungfrau gebracht hatte, gefiel'556 (12) Die vrowen, die ten torren lagen, begonste des strijts qaulijc behagen 'Die Frauen, die sich im Burgturm befanden, fingen an, mit Zank übel zu behagen'557 548 549 550 551

552 553 554 555 556 557

Der Heliand, hrsg. von O. Behaghel, bearbeitet von B. Taeger (1984), 2477. DW, I, Sp. 1318. s. Dietz 1870/1973, I, 234, Sp. 1 (drei Belege). Für einige unsichere und nicht einhellige Etymologien, die kein klärendes Licht auf die Geschichte der Kasusrektion zu werfen vermögen, sei auf Pfeifer 1993, 112, Sp. 2, Kluge/Seebold 1995, 91-92 und De Vries 1971, 39, Sp. 1 verwiesen. Buch von der Deutschen Poeterey, 31,8. MnW, I, 190, Sp. 1. Verwijs/Verdam/Stoett 1885-1941,1, Sp. 727-728. wörtlich: 'vom Inhalt des Fasses*. Verwijs/Verdam/Stoett 1885-1941,1, Sp. 728. a.a.O.

erliegen

519

(13) Die ridders die daer binnen laghen, die hem oec stridens bat behaghen souden, alsi dat scouwen 'Die Ritter, die da drinnen lagen, die ihm auch mit dem Kämpfen mehr Behagen bereiten würden,558 als wenn sie danach gucken'559 (14) hoe wel icx560 mi behaghen mach 'wie sehr ich mir damit behagen kann'.561 Paradigmatisch motiviert sind dagegen die transitiven Verwendungen mit Akkusativ, wobei die Redebedeutung 'fördern, zu Hilfe kommen' ist: (15) Om de nature van wiven om te behagen haer hitte met, so heeft een purgatie geset 'Wegen der Veranlagung von Frauen, auch ihre Begierde zu fördern, gibt es eine Menstruation'.562 Diese mittelniederländischen Daten können die Stabilität der Dativrektion im Hochdeutschen über Jahrhunderte hinweg allerdings nicht erklären, auch wenn einwandfrei feststünde, daß behagen aus dem Norddeutschen oder sogar dem Mittelniederländischen entlehnt ist. Syntagmatische Motivationen oder auch nur ein syntagmatischer Ausbau der Kasussyntax mit einem Akkusativ· oder Genitivobjekt sind im Hochdeutschen jedenfalls nicht belegt. Auch ein paradigmatisch begründeter Kasusgebrauch ist mangels Belegen mit einem Akkusativ, der einen semantischen Unterschied zur Dativrektion markiert, nicht nachweisbar. Auf behagen trifft mithin in noch stärkerem Maß zu, was für begegnen gilt: Der adverbale Dativ ist, aus unserer Sicht, in hohem Maße idiomatisch.

V.18. erliegen Wir haben im zweiten Abschnitt des ersten Teils unserer Untersuchung festgestellt, daß das Verbpräfix ent- zusammen mit intransitiven Simplizia ziemlich systematisch Verben bildet, die einen adverbalen Dativ regieren (s. § II.5.4.). Unter den Präfixverben mit dem Präfix er- erscheinen dagegen 558 559 560

561 562

wörtlich: 'ihm des Kämpfens behagen würden'. Verwijs/Verdam/Stoett 1885-1941, I, Sp. 727. Die Form icx ist eine Kontraktion des Personalpronomens der 1. Person Sg. (ic) und des Determinativpronomens im Genitiv Neutrum (des, es). Verwijs/Verdam/Stoett 1885-1941, Sp. 727. Verwijs/Verdam/Stoett 1885-1941, I, Sp. 728.

520

Der paradigmatische Dativ

kaum Verben mit einem adverbalen Dativ. Abgesehen vom unpersönlichen (und deswegen aus der Untersuchung ausgeschiedenen) Verb ergehen + Dativ im Sinne von 'widerfahren' können nur erscheinen 'vorkommen' und erliegen 'unterliegen, zum Opfer fallen, besiegt werden' einen adverbalen Dativ regieren. Alle übrigen Verben mit dem Präfix er- regieren meist einen Akkusativ (eventuell in der Form eines Reflexivpronomens), z.B. erbeuten, erdenken, errichten, erwägen,563 oder können ansonsten nur absolut, ohne jegliches Kasusobjekt, verwendet werden, z.B. erbleichen, erfolgen, erschaudern, ertönen. Die Vorsilbe er- ist ebenso wie ent- präpositionaler Herkunft; er- ist mit der ahd. Präposition ir (auch ur, ar oder er) 'aus, von, außerhalb' verwandt.564 Das Präfix bedeutet etymologisch 'aus, heraus, hervor', auch 'empor'. Aus diesem Kern entwickelten sich zwei grundsätzliche Bedeutungsansätze, die für den Gebrauch und die Produktivität des Verbpräfixes er- konstitutiv sind. Der erste Bedeutungsansatz betrifft den Übergang 'in einen (anderen) Zustand'. In dieser Bedeutung ist er-, als inchoatives Verbpräfix, außerordentlich produktiv geworden, vgl. erröten 'rot werden', ergrauen 'grau werden', ergrimmen 'grimm(ig) werden', ergrünen 'grün werden' usw.565 Häufig sind diese Verben deadjektivische Ableitungen (vgl. jedoch deverbal und inchoativ erklingen und ersterben) und werden sie absolut verwendet (vgl. jedoch erbosen, das zwar deadjektivisch ist, aber trotzdem transitiv gebraucht werden kann). Der zweite Bedeutungsansatz von er- ist terminativer Natur und betrifft ein 'Erreichen'. Hier handelt es sich meist um deverbale Bildungen. Der Ansatz 'erreichen' ist vor allem in Verben wie erstreben, erzielen, erpressen, erringen sehr ausgeprägt. Erliegen und erscheinen, die nicht nur absolut, sondern auch in Verbindung mit einem adverbalen Dativ verwendet werden können, fallen als einzige aus dem allgemeinen kasussyntaktischen Muster der Präfixverben mit er- heraus. Erliegen wird heute vorwiegend mit einem adverbalen Dativ verwendet, wie in den Sätzen (1) und (2), obwohl auch absolute Verwendungen möglich sind, wie in Satz (3):

563

564 565

Selbstverständlich kann oft noch ein zirkumstantielles Dativobjekt hinzukommen, z.B.: Ich konnte mir bei den Plünderungen eine Pistole erbeuten. AW, 176, Sp. 1. vgl. Pfeifer 1993, 292, Sp. 2.

erliegen

(1) (2) (3)

521

Ich neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen, Max Frisch (1911-1991)566 Nach andauernden Beschüssen erlag die eingekesselte Stadt den Angreifern. Der Widerstand drohte zu erliegen}61

Die Geschichte von erliegen fangt im Spätahd. bei Notker (ahd. irligen) mit 14 ausnahmslos absoluten Belegen an. Etymologisch liegt dem fr-Präfix bei irligen der erste Bedeutungsansatz 'emporreichend in einen anderen Zustand' zugrunde und ist das Verb als 'anfangen zu liegen' aufzufassen, ahd. bereits übertragen als 'schwach werden, untergehen, sterben', z.B.: (4)

Sie durhscrodeton daz unreht. scrod scrodende irlägen sie 'Sie untersuchten das Unrecht, und eifrig suchend vergingen sie', Notker.568

Diese Verwendungsweise finden wir nicht nur im Mhd. mit demselben Inhalt wieder, sondern sie existiert auch heute noch, wobei freilich zu vermerken ist, daß erliegen früher oft 'schwach werden, zusammenbrechen' beinhaltete, wie in Satz (6), während heute meist 'unterliegen, besiegt werden' gemeint ist. Daneben kann erliegen auch im Sinne von 'umkommen, sterben' gebraucht werden; auch dafür gibt es allerdings schon frühe Belege, vgl. Satz (5): (5)

Cristus an dem crüce erlac vnde vns erwarb den beiac 'Christus starb am Kreuz und erwarb für uns die Beute' (Ende des 13. Jahrhunderts)569 (6) daz er nut zu kräng in dem liden und dem eilende werde und nüt erlige, also er von Gotte gelossen ist und ungetröstet ist und in grosser bitterkeit ist 'daß er im Leiden und im Elend nicht zu krank werde und nicht zusammenbreche, wenn er von Gott losgelöst ist und ungetröstet ist und in großer Bitterkeit ist', Johannes Tauler (ca. 1300-1361)570

566 567 568

569 570

WDG, II, 1121, Sp. 2. a.a.O. Piper, II, 240, 1-2; lat.: Perscrutati sunt iniquitates . defecerunt scrutantes scrutationes. DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1962. Die Predigten, hrsg. von F. Vetter (1910), 83, 32.

522 (7)

Der paradigmatische Dativ

Das Sterbezimmer, wo unsre Theuersten erlagen, Jean Paul (17631825).571

Zwar sind bereits im Mhd. und auch später Belege mit einem Dativ vorhanden, aber es handelt sich in diesen Fällen immer um einen freien Pertinenzdativ, der ganz anderer Natur ist als der adverbale Dativ in (1) und (2), vgl.: (8) (9)

nu sint uns leider üf den wegen liute unde ros erlegen 'jetzt sind uns unterwegs Leute und Pferde verendet'572 im kämpf mit diesem paradoxenheer erlieget ihm die kraft der Überlegung, Friedrich Wilhelm Gotter (17461797).573

Davon unterschieden und semantisch mehr dem Simplex verwandt ist die Verwendung im Sinne von 'liegen' (ausnahmslos absolut), in der das er-Präfix eine Verstärkung der Verbsemantik bewirkt. In Österreich lebt diese Möglichkeit in der Verwendung 'hinterlegt sein' bis heute weiter; vgl.: (10) Kurneväl leit eine die not: daz he nicht irlag töd, daz was ein michel wundir 'Kurneväl litt allein die Schmerzen: daß er nicht tod niederlag, das war ein großes Wunder', Eilhart von Oberge (2. Hälfte des 12. Jahrhunderts)574 (11) das in den eckern, so man spathe grebet, da sich der acker nach dem graben ein weile erlegen hat, die röte (pflanze, färberröte) nicht so gut wechset 'daß auf dem Acker, wenn man ihn spät umpflügt, und wenn der Acker nach dem Pflügen eine Weile brachgelegen hat, die Röte nicht so gut wächst' (1590)575 (12) Beim Pförtner erliegt eine Nachricht für Sie.516

571 572 573 574 575 576

Campe 1807ff, I, 989, Sp. 2. MH, Nachträge, Sp. 158-159. DW, III, Sp. 905. DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1962. DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1963. DUW, 453, Sp. 2.

erliegen

523

Dem Mittelhochdeutschen Handwörterbuch zufolge sind im Mhd. transitive Konstruktionen möglich,577 die das Deutsche Wörterbuch jedoch weder in der Erstfassung578 noch in der Neubearbeitung579 erwähnt: (13) ob ez diu muoter die wile iht erdrücke oder erlige so sie ez säugen wil über naht oder in der naht 'wenn die Mutter es (das Kind) inzwischen nicht zerdrückt oder totliegt, wenn sie es nachts säugen will', Berthold von Regensburg (ca. 1210-1272)580 (14) daz leit erligen 'das Leid unterdrücken' (Ende des 13. Jahrhunderts).581 In diesen Beispielen erliegt nicht das Subjekt selber, sondern das Subjekt sorgt dafür, daß das Objekt erliegt, d.h. 'stirbt, getötet wird* in (12) oder 'vergeht, verschwindet' in (13). In diesen Belegen handelt es sich um einen uneigentlichen Gebrauch von erligen an Stellen, wo erlegen, das Kausativum zu erli(e)gen, sicherlich richtiger gewesen wäre, vgl.: (15) ir hat doch alle wol vernomen daz in nieman mac erlegen weder mit Stiche oder mit siegen, mit schuzzen noch mit würfen. 'ihr habt doch alle schon erfahren, daß ihn niemand erschlagen kann, weder mit einem Stich noch mit Schlägen, weder mit Schüssen noch mit Würfen', Der Stricker (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts)582 (16) wenn der nord das schiff erleget vnd es gantz zu gründe schlüget 'wenn der Nordwind das Schiff auf die Seite legt und es ganz kaputtschlägt' (1640).583

577 578 579 580 581

582 383

ΜΗ, I, Sp. 652. DW, III, Sp. 905. DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1961-1963. Predigten, hrsg. von F. Pfeiffer (1862/1965), 32, 9. ΜΗ, I, Sp. 652. Der Beleg stammt aus einem Passional; die von M. Lexer verwendete Textausgabe von K. A. Hahn war uns nicht zugänglich, so daß für diesen Beleg auf einen längeren Textausschnitt verzichtet werden muß. Daniel von dem Blühenden Tal, 828-831. DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1942.

524

Der paradigmatische Dativ

Weil es sich eben um eine Verwechslung mit erlegen handelt, sollten (12) und (13) von der Untersuchung ausgeschlossen werden und nicht als Belege für eine vermeintliche paradigmatische Opposition zu Verwendungen mit einem adverbalen Dativ herangezogen werden. Ein Dativobjekt, das dasjenige bezeichnet, woran man untergeht (die Sache, der man erliegt), ist in den von uns zu Rate gezogenen lexikographischen Werken nicht vor der Mitte des 18. Jahrhunderts zu belegen. Einige frühe Belege sind: (17) er erlag der entzückung, Klopstock (Beleg aus dem Jahr 1748)584 (18) er hat der feinde mehr, und oft erliegt der stärkste gleich dem schwächsten, Lessing.585 Weder Maaler, der recht ausführlich auf erligen eingeht,586 noch Stieler,587 noch Steinbach588 erwähnen Beispiele oder Konstruktionsmöglichkeiten mit einem Dativ. Älter scheint die Konstruktionsweise zu sein, in der dasjenige, dem man erliegt, mit einem Präpositionalobjekt ausgedrückt wird. J. Maaler führt Beispiele mit an und in an, z.B.:589 (19) An der arbeit Erligen 'Arbeit nit mögen erleyden, Labori succumbere' (20) Im unfal Erligen 'Sich lassen widerwertige ding überwinden, Malis cedere'. Ein Präpositionalobjekt mit derselben Präposition an kann allerdings nicht nur dasjenige ausdrücken, dem man erliegt (die Ursache des Erliegens), sondern auch eine Umstandsangabe, die die Aktivität bezeichnet, bei der man erliegt oder aufgibt (ohne daß diese Aktivität das Erliegen verursacht), vgl. etwa: (21) An der arbeit oder am werck nit Erligen 'Non cessare in opere & studio'.590 Präpositionalobjekte mit an werden auch später noch verwendet, aber die Präposition unter wird immer geläufiger: 584 585 586 587 588 589 5,0

DW, III, Sp. 905. a.a.O. Maaler 1561, 115, Sp. 1. Stieler 1691, Sp. 1119. Steinbach 1734,1, 1025. Maaler 1561, 115, Sp. 1. a.a.O.

erliegen

525

(22) Ein Vermögen, welches Demjenigen, woran die Einbildungskraft erliegt, überlegen ist, Schiller591 (23) unter dem Schmertze erliegen 'succumbere dolori'·, er erliegt unter dem Unglücke 'succumbit & cedit fortuna? (1734)592 (24) die beyspiele von menschen, welche unter ihren leidenschaften erligen, werden fälschlich für so vil beweisthümer von der unmacht der Vernunft an sich selbst ausgegeben (1764)593 (25) Stärke mich, Gott! Meine Seele erliegt unter der seinigen, Goethe.594 Nach Adelung ist neben unter zwar nach wie vor die Präposition in möglich: (26) in den Widerwärtigkeiten, in dem Unglück erliegen·,595 bemerkenswert aber ist, daß Adelung die Konstruktion mit einem Dativobjekt noch nicht erwähnt, im Gegensatz zu Campe, der darüber hinaus noch die Konstruktionen mit unter anerkennt, solche mit in jedoch als 'uneigentlich' betrachtet.596 Sanders verzeichnet nur Fügungen mit unter und solche mit dem adverbalen Dativ; nur unter seinen historischen Belegen erscheinen noch andere Präpositionen.597 Der adverbale Dativ und das Präpositionalobjekt mit unter sind noch in unserem Jahrhundert (1924) im Handwörterbuch der deutschen Sprache aufgenommen.598 Der Ersatz des Präpositionalobjekts (mit an, in oder unter) im Satzbauplan des Verbs erliegen durch ein Kasusobjekt - nämlich den reinen Dativ läuft der allgemeinen Tendenz vom Mhd. zum Frühnhd. und Nhd., bei der besonders das Genitivobjekt, aber auch das Dativobjekt oft durch Präpositionalobjekte ersetzt werden, entgegen. Zwar regieren die Präpositionen an, in und unter bei erliegen stets einen Dativ. Die Behauptung, die Präposition sei einfach 'weggefallen', wäre allerdings in hohem Maße unplausibel, gibt es doch zu viele Verben, die mit einem Präpositionalobjekt mit fester präpositionaler Kasusrektion verbunden werden, ohne daß dabei die Präposition unter Druck stünde (z.B. zerbrechen unter, beruhen auf, zweifeln an usf.).

591 592 593 594 595 596 597 598

Sanders 1876, II1, 137, Sp. 3. Steinbach 1734,1, 1025. DW, VIII, Neubearbeitung, Sp. 1962. Goethes Werke, Sophienausgabe, I. Abteilung, 13, I, 356. Adelung 1793ff, I, Sp. 1917. Campe 1807ff, I, 989, Sp. 2. Sanders 1876, II1, 137, Sp. 3. Sanders-Wülfing 1924, 188, Sp. 1.

526

Der paradigmatische Dativ

Es gibt verschiedene Indizien dafür, daß der adverbale Dativ bei erliegen nicht ursprünglich ist und daß der Kasus das Ergebnis einer syntaktischen Interferenz mit unterliegen + Dativ ist. Erstens ist unterliegen, seit der frühnhd. Zeit und bis auf den heutigen Tag, semantisch eng verwandt mit erliegen599. Unterliegen konnte bereits im Mhd. einen Dativ regieren, und man könnte sich fragen, weshalb der Dativ nicht früher in die Rektion von erliegen eingedrungen ist. Die Antwort lautet, daß unterliegen im Mhd. meist noch eine Bedeutung hatte, die mit derjenigen des Verbs erliegen kaum verwandt war, nämlich 'unterwerfen'600, vgl.: (27) der guote und der gewasre der vreute sich ze gote, daz si sinem geböte also verre under lac 'der Gute und der Zuverlässige, der freute sich gegenüber Gott, daß sie (seine Mutter) seinem Gebot so sehr unterworfen war', Hartmann von Aue.601 Erst später, im Frühnhd und Nhd., erscheint unterliegen in Verwendungen, die inhaltlich mit erliegen unter oder erliegen + Dativ vergleichbar sind, etwa: (28) aber unterligen dem feinde, arm und zu schänden werden, ist ein schendlich ding, Luther602 (29) die klügsten köpfe, und ich glaube zugleich die tugendhaftesten herzen unterliegen den ruhestörern und intriganten, Georg Forster (15141568)603

595

600

601 602 603

In der Umschreibung der Bedeutung von erliegen kommt bei allen großen deutschen Wörterbüchern das Verb unterliegen (u.a.) vor (vgl. GWbdS, II, 961, Sp. 2; BWDW, II, 568, Sp. 1; WDG, II, 1121, Sp. 2 usw.), was die semantische Verwandtschaft der beiden Verben illustriert. Präfixoidverben mit Dativ, in denen das Präfixoid zugleich eine in der Gegenwartssprache gebräuchliche Präposition ist, sind von der Untersuchung ausgeschlossen, s. § II.5.3. Gregorius, 3862-3865. DW, XI, 3, Sp. 1672. DW, XI, 3, Sp. 1675.

erliegen

527

(30) dem entzücken unterliegen, Johann Joachim Bode (1730-1793J604 (31) der angst unterliegen, Klopstock.605 Man vergleiche letzteren Beleg mit: (17) er erlag der entzückung, Klopstock. Zweitens ist unter die bevorzugte Präposition bei erliegen, und gerade unter- ist auch das Verbpräfixoid bei unterliegen, das ursprünglich, und bis ins 18. Jh., trennbar war, vgl.: (32) es ist ein vater mit zwei söhnen, in gefahr, zwei gefährlichen thieren unterzuliegen, Lessing606 (33) Schon zweimal in meinem Leben habe ich gefürchtet, ihnen unterzuliegen; darum trage ich dieses Gewehr, Goethe.607 Erst im 19. Jh. wird die Trennbarkeit von unterliegen aufgegeben. Inzwischen waren Schwankungen zwischen Präpositionalobjekten einerseits und einem dativischen Kasusobjekt andererseits bei erliegen bereits eine Tatsache, wie aus den Sätzen (17), (18), (19) und (20) hervorgeht. Erliegen unter und trennbares unterliegen waren einander zu dieser Zeit im Gebrauch in einem Satz phänotypisch sehr ähnlich geworden. Erliegen + Präpositionalobjekt mit unter konnte erst 1734 (bei Steinbach) belegt werden, Maaler verzeichnet 1571 nur in und an. Damit schließen die Daten chronologisch nahezu nahtlos aneinander an: Trennbares unterliegen, das ursprünglich etwa 'unterwerfen' bedeutete (s. Satz [27]), nähert sich zunächst semantisch erliegen an (bereits im 16. Jh., vgl. Satz [28]). Für erliegen existiert mittlerweile die Möglichkeit, nicht nur absolut, sondern auch in Verbindung mit einem Präpositionalobjekt mit in oder an verwendet zu werden (wie aus den Belegen bei Maaler hervorgeht). Erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erscheint bei erliegen die Präposition unter (s. Satz [23]), ein wenig später treten analog zu unterliegen auch die ersten Dativobjekte bei erliegen auf (s. Satz [17] und [18]), wo ursprünglich nur Präpositionalobjekte möglich waren. Erst nach dem Vorhandensein der Interferenz zwischen den beiden Verben im 19. Jh. kommt

604 605 606 607

a.a.O. a.a.O. DW, XI, 3, Sp. 1672. Goethes Werke, Sophienausgabe, I. Abteilung, 17, 158.

528

Der paradigmatische Dativ

unterliegen nur noch untrennbar vor. Die Dativrektion von erliegen hat sich seitdem immer mehr mehr verfestigt, und in der Gegenwartssprache bildet sie neben dem absoluten Gebrauch von erliegen die einzige weitere Valenzmöglichkeit des Verbs. Aufgrund der Interferenz mit dem Verb unterliegen und dessen Rektion müssen wir erliegen + Dativ unter den von uns behandelten Verben als eine Ausnahme einstufen.

VI. Lehnwörter mit adverbalem Dativ

VI.O. Allgemeine Charakterisierung In diesem Kapitel behandeln wir jene Verben mit einem adverbalen Dativ, die zwar mehrheitlich zum festen Bestand der deutschen Sprache gehören (oder ehemals gehört haben), sämtlich aber leicht als fremden Ursprungs erkennbar sind. Die Begründung für den adverbalen Dativ hängt wesentlich mit diesem fremden Ursprung zusammen. In der Regel handelt es sich um Entlehnungen aus dem Lateinischen (dem klassischen Lateinischen oder der lingua franca des Mittelalters) oder aus dem Französischen (und also nur indirekt um Entlehnungen aus dem Lateinischen).1

VI.l. imponieren, gratulieren, applaudieren, kondolieren, inhärieren, assistieren, präsidieren, präludieren, korrespondieren usw. imponieren Genauso wie telefonieren + Dativ das synonyme Lexem anrufen + Akkusativ neben sich hat (vgl. § III.3.), bildet auch imponieren + Dativ eine Kasusopposition zu dem synonymen beeindrucken + Akkusativ. Eine Erklärung im Sinne Weisgerbers, der zufolge der jeweilige Kasusgebrauch nicht nur eine unterschiedliche Semantik, sondern darüber hinaus einen Unterschied in den zwischenmenschlichen Beziehungen verrät, scheint in bezug 1

Das Verb telefonieren, das es vor dem 19. Jh. noch nicht gab, schließen wir selbstverständlich aus dieser Gruppe aus (s. § III.3.). Das aus griechischen Lexemen gebildete Verb ist ein Internationalismus, der darüber hinaus auf eine technische Erneuerung zurückzuführen ist, und die Dativrektion beruht dementsprechend nicht nur auf sprachlichen, sondern in erster Linie auf sachlichen Faktoren.

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Lehnwörter mit adverbalem Dativ

auf das Paar imponieren/beeindrucken noch weniger plausibel zu sein als in bezug auf telefonieren/anrufen. Aus einer kurzen historischen Analyse geht hervor, daß der adverbale Dativ bei imponieren vielmehr funktional-diakritisch begründet werden kann, wenn man die Entlehnungsbedingungen berücksichtigt. Formal geht imponieren auf das lat. Verb imponere 'in oder auf etwas legen, stellen, hineinlegen; aufsetzen, auflegen, auferlegen (u.a.)' zurück.2 Was die Bedeutung und die Verwendung betrifft, liegt der Entlehnung jedoch nicht das lat. imponere, sondern das frz. Verb imposer zugrunde. Imposer ist seinerseits eine Französisierung des lat. imponere,3 Imposer ist 1302 zum ersten Mal belegt und entspricht nur noch teilweise dem Inhalt des lat. Vorbilds; das frz. Verb bedeutet 'eine Bürde tragen machen, auferlegen'. 4 Im 17. Jh. hat sich eine genuin frz. Verwendung dazugesellt: imposer le respect, wörtlich 'Respekt auferlegen' (also: 'einflößen').5 Davon abgeleitet taucht im 18. Jh. das Adjektiv (Präsenspartizip) imposant auf. Es ist in erster Linie dieses Adjektiv, das im Deutschen im Laufe des 18. Jahrhunderts entlehnt wird, zunächst in der relatinisierten Form imponi(e)rend, das 1749 zuerst belegt ist.6 Solche Relatinisierungen französischer Entlehnungen sind im Deutschen keine Seltenheit; Schulz nennt weiter annektieren, indisponiert, Effekt, die alle aus dem Frz. stammen, der Form nach aber dem Lateinischen angeglichen sind. Später im 18. Jh. erscheint auch die frz. Form imposant? Allerdings fehlt imponieren noch lange Zeit in den großen lexikographischen Werken wie den Wörterbüchern von Adelung (1796ff), Campe (1807ff), Grimm (1877, Bd. IV, 2), Heyne (1905f) und Trübner (1939ff). Daraus kann man aber nicht schließen, daß das Verb kaum verbreitet war. Die deutschen lexikographischen Arbeiten sind bekanntlich lange einer sprachpflegerischen Tradition verhaftet geblieben, die Fremdwörtern gegenüber sehr zurückhaltend war. In seinem Wörterbuch zur Erklärung und Ver2 3

4 5 6 7

s. Menge/Güthling 1963,1, 364, Sp. 1. Frz. poser geht materiell auf vulgärlat. pausare zurück, das ursprünglich 'aufhören' bedeutete, aber den Inhalt vonponere übernommen hat (vgl. Bloch/von Wartburg 1960, '494), vermutlich unter dem Einfluß der Perfektformen (posui) und Supinumformen (positum). Ponere lebt im Frz. in der Formpondre '(Eier) legen' weiter. 'faire porter une charge', Bloch/von Wartburg 1960, 328. a.a.O. DF, I, 285. Der älteste Beleg im Deutschen Fremdwörterbuch von Schulz und Basler stammt aus dem Jahr 1788.

imponieren, gratulieren, applaudieren usw.

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deutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke aus dem Jahr 1813, dem Ergänzungsband zu seinem Wörterbuch der Deutschen Sprache, nimmt Campe imponiren denn auch auf,8 und er gibt ausführliche Vorschläge, wie das Verb durch ein deutsches Wort ersetzt werden kann. Trotzdem gilt generell, daß imponieren der Sprache der Gebildeten angehörte und anfanglich wohl eher ein Dasein am Rande der Normalsprache geführt hat. Das Wörterbuch von Sanders ist das erste allgemeine Wörterbuch, das imponieren unter seine Stichwörter aufnimmt.9 Schulz und Basler führen zwei Beispiele mit dem Infinitiv oder Präsenspartizip auf, indes keine, in denen imponieren finit verwendet wird.10 Solche Beispiele kommen erst im Kehreinschen Fremdwörterbuch vor, das u.a. die beiden folgenden GoetheZitate mit der charakteristischen Dativrektion verzeichnet: (1) (2)

Konnte man dem Publicum nicht imponiren, so suchte man es zu überraschen, oder durch Demuth zu gewinnen11 Ein ideales Ganze imponirt den Menschen (aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794-1805).12

Daneben finden wir aber auch ein Beispiel mit einem Akkusativ: (3)

Die tropische Natur imponirt sein ungewohntes Auge durch ihre Eigenschaften (1855).13

Zu diesem Akkusativ bemerkt Kehrein, daß ein Dativ "gebräuchlicher" sei, und auch Sanders, der genau dasselbe Beispiel gibt, bezeichnet die akkusativische, "transitive" Verwendung als "selten".14 Tatsächlich hat Goethe bei der finiten Verwendung die Valenz des Verbs etymologisch richtig interpretiert. Imponierend, ebenso wie imposant im Deutschen und im Französischen, stellt syntaktisch eine Valenzreduktion von imposant (le respect) ά quelqu'un dar. Auch hier begegnen wir wieder jener Bedeutungsverengung des Verbs, die wir geschichtlich schon öfters verzeichnen konnten: Die Bedeutung des Verbs in seiner vollen syntakti8 9 10 11 12 13 14

Campe 1807ff, VI, 366, Sp. 2. Sanders 1876,1, 816, Sp. 2. DF, 1,285. Kehrein 1876/1969, 260, Sp. 2. a.a.O. a.a.O. Sanders 1876,1, 816, Sp. 2.

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Lehnwörter mit adverbalem Dativ

sehen Entfaltung imposer quelque chose ά quelqu'un ('jmdm. etwas auferlegen')15 spezialisiert sich im Präsenspartizip zur Bedeutung 'jmdm. Respekt auferlegend, jmdm. imponierend'. Das Verb imponieren stimmt mithin grundsätzlich mit den Verben der GRUPPE Α überein. Dies bezeugt auch folgender zeitgenössischer Beleg, in dem imponieren reflexiv und zugleich dreistellig verwendet wird, auch wenn es sich hierbei durchaus um einen speziellen Gebrauch handeln dürfte: (4)

eine Reflexion, die sich nicht selbst als die absolute Macht der Subjektivität einem Anderen bloß imponiert.16

Allgemein gilt, daß das deutsche imponierend die Valenzreduktion unmittelbar vom frz. imposant (relatinisiert oder nicht) übernommen hat. Eine Belegstelle von imponieren mit als Akkusativobjekt einem Substantiv bzw. einer Nominalgruppe im Sinne von 'Respekt', 'Eindruck', 'Ehrfurcht' oder dergleichen konnten wir nicht ausfindig machen. Der Dativ bei imponieren mutet gelehrt sowie etymologisierend an, was auch aufgrund der Stilebene das Verb gehörte zur oftmals französisch-lateinisch orientierten Bildungssprache - nicht wundernimmt. Die (seltene) Akkusativrektion, wie z.B. in Satz (3), weist mit dem dreistelligen frz. imposer (oder lat. imponere) keinen Zusammenhang auf.17 Der Satz illustriert (ebenso wie kündigen + Akkusativ im Sinne von 'entlassen', s. § III.l.), daß eine Dativrektion bei imponieren, die sich in keinerlei Weise auf den syntagmatischen Bereich bezieht, unwahrscheinlich ist. Freilich bedeutet das nicht, daß nicht auch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben können. Beispielsweise ist es bezeichnend, daß es sich beim Objekt von imponieren in der Regel um eine belebte Person handelt, was freilich in erster Linie ein Korollar der lexikalischen Bedeutung dieses Verbs ist.

15 16 17

So übrigens auch im Lat.: imponere alicui aliquid. Habermas 1988, 46. Heute verzeichnen maßgebliche Wörterbücher wie Dudens Großes Wörterbuch der deutschen Sprache und Das Große Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache von Klappenbach und Steinitz nur die Dativrektion, ohne Schwankungen im Kasusgebrauch zu erwähnen.

imponieren, gratulieren, applaudieren usw.

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gratulieren Die Übernahme einer fremdsprachlichen Rektion im Deutschen beschränkt sich nicht auf imponieren. Es gibt noch verschiedene andere Fremdwörter, die den Dativ regieren, u.a. gratulieren. Zu den Valenzmöglichkeiten von gratulieren gehört eine absolute Verwendung, z.B.: (5)

Ich gratuliere!,

eine Verbindung mit einem Dativ der Person, z.B.: (6)

Er möchte ihnen gratulieren,

und/oder mit einem Präpositionalobjekt, das den Anlaß des Gratulierens ausdrückt, z.B.: (6') Ich gratuliere (dir) zum Geburtstag. Gratulieren ist im 16. Jh. aus dem Lateinischen übernommen,18 wo gratulari über folgende Valenzmöglichkeiten verfügte:19 gratulor alicui 'ich gratuliere jmdm.', gratulor (alicui) de aliqua re/aliquid 'ich gratuliere jmdm. zu etwas'; seltener auch in absoluter Verwendung (gratulor) sowie in Verwendungen wie gratulor in/pro aliqua re 'ich gratuliere zu etwas'. 20 Innerhalb des lateinischen Valenzrahmens ist der Dativ gegenüber den anderen Objekten (Akkusativ, Ablativ, Präpositionalobjekt) deutlich funktional-diakritisch motiviert. Der deutsche adverbale Dativ bei gratulieren ist dagegen als syntaktische Lehnform des lateinischen Dativs zu erklären, wie er in gratulor alicui verwendet wird. Bei der Übernahme ins Deutsche waren semantische Motive sicherlich nicht wichtiger als die Wirkung des lateinischen Vorbilds. Erstens existiert neben gratulieren + Dativ das synonyme beglückwünschen + Akkusativ, ohne Bedeutungsunterschied. Zweitens kommen vom 17. bis ins 19. Jh. bei gratulieren vereinzelt Schwankungen vor, wobei auch der Akkusativ verwendet wird.21 Außerdem verzeichnet das

18 19 20

21

DF, 1,253. vgl. Lewis/Short 1969, 827, Sp. 1. vgl. ferner gratulor aliqua re 'ich gratuliere zu etwas', gratulor alicui rei 'ich gratuliere jmdm. zu etwas', gratulor + Objektsatz 'ich gratuliere, daß...'. Vollständigkeitshalber sei noch erwähnt, daß daneben auch eine reflexive Verwendung sibi gratulari 'sich herzlich freuen' existierte. s. DW, IV, l 5 , Sp. 2069.

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Lehnwörter mit adverbalem Dativ

Deutsche Wörterbuch noch einige bemerkenswerte mundartliche Belege mit der syntaktischen Verwendung jmdm. etwas gratulieren 'jemandem etwas schenken', die eine syntaktische Remotivierung des adverbalen Dativs im Sinne der diakritischen Kasuszuweisung darstellen, z.B.: (7) (8)

er hat mir ein buch gratuliert (1872)22 er hot mir ein blumenstrausz gradeliert (1922).23

Solche dreistelligen Konstruktionen entsprechen dem üblichen deutschen Satztyp mit Dativ- und Akkusativobjekt. Darüber hinaus ist die Übernahme von morphologischen Elementen, parallel zur Entlehnung eines Fremdworts, keine außergewöhnliche Erscheinung, zumal in der Bildungssprache nicht. Dafür lassen sich Beispiele aus verschiedenen Bereichen anführen, u.a. der Pluralbildung, der Orthographie und der Kasusmorphologie.24 Das Verb gratulari weist als Entlehnung aus dem Lateinischen im 16. Jh. auf eine ursprüngliche Zugehörigkeit zur humanistischen und altertumsorientierten Bildungssprache hin. Damit unterscheidet sich eine solche Entlehnung u.a. von der Übernahme lateinischer Wörter aus dem technisch-handwerklichen Bereich im West- oder Gemeingermanischen der ersten Jahrhunderte n. Chr., bei der keine spezifische soziolinguistische Gruppe als Vermittler nachweisbar ist, oder auch von den Entlehnungen aus der karolingischen Zeit. Letztere Entlehnungen, deren Vermittler zwar die Geistlichen waren, im Rahmen der Mission aber meist doch volkstümlich waren, betrafen vor allem die neue christliche Religion und Weltanschauung, Sie unterscheiden sich von der Gelehrtensprache vom 16. bis zum 19. Jh. dahingehend, daß 22 23 24

DW, IV, l 5 , Sp. 2070. a.a.O. Was die Kasusmorphologie betrifft, sei daran erinnert, daß man bis ins späte 19. Jh. recht oft die fremdsprachliche Kasusflexion beibehielt, vgl. u.a. folgende Belege: als auff dem einigen und ewigen geistlicher Centro aller jeglichen mit ihm concentrirten Religionen und Hertzen (1684), DF, VI, 353; daraus man wohl definitiones und terminos aber keinen wahren Begriff von den Eigenschaften der Laster kriegt (1706), DF, V, 166; Vom Universo oder der ganzen Oberfläche der Erdkugel überhaupt (1783), DF, VI, 53; als wie der Grundbesitzer großer Kändereyen und Güter, ein willkührliches Recht auf die Person, oder das Eigenthum der auf seinem Territorio ansäßigen Bewohner hat (1823), DF, V, 178; daß ein Substantivum ... mit dem Verbo verbunden wird, Theodor Rumpel 1866, 15; manche von Nominibus abgeleitete Verba, Wilmanns 1899ff., II, § 9 6 , Aran. 2. Die Gewohnheit, bei entlehnten (lateinischen) Substantiven nach der fremdsprachlichen Kasusflexion zu deklinieren, verschwindet allmählich erst im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

imponieren, gratulieren, applaudieren usw.

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darin bei entsprechenden Entlehnungen morphosyntaktische Übernahmen, wie z.B. die fremdsprachliche Kasusflexion, sehr viel üblicher waren. Das läßt verständlich werden, weshalb die lateinische Kasusrektion von gratulari als der entscheidende Faktor in der Wahl des adverbalen Dativs (anstelle eines anderen Kasus oder eines Präpositionalobjekts) bei gratulieren zu werten ist.

applaudieren Auch für applaudieren gilt, daß im 17. Jh. nicht nur das lat. Verb applaudere, sondern auch dessen Rektion übernommen wurde. Applaudere verfügt im Lateinischen über zwei Valenzmöglichkeiten: applaudere alicui aliquid 'etwas an etwas schlagen' und archaisch auch applaudere alicui 'jmdm. applaudieren'. Der adverbale Dativ in der letzten Verwendung ist im Verhältnis zur ersten diakritisch bedingt (wörtlich: 'jmdm. etwas applaudieren'). Semantisch stimmt applaudieren jedoch nicht so sehr mit applaudere überein, das bei den Autoren der goldenen Latinität nicht belegt ist, sondern mit dem stilistisch schöneren plaudere, das ursprünglich 'klatschend schlagen' (z.B. plaudere choreas pedibus 'den Reigen stampfen') bedeutete, klassisch aber nur im Sinne von plaudere alicui 'jmdm. Beifall klatschen' oder plaudere alicui rei 'jmdm. wegen einer Sache Beifall klatschen' verwendet wurde.25 Die Übernahme der lat. Rektion erfolgte übrigens auch im Französischen, wo die Rektion applaudir ά quelqu'un heißt. In der deutschen Gegenwartssprache konkurriert die Dativrektion bei applaudieren allerdings mit der Akkusativrektion. Demnach kommen nebeneinander vor: (9) Sie applaudierten begeistert dem Solisten ('Beifall klatschen')26 (10) Die Vereinigten Staaten begrüssen und applaudieren diese bedeutenden Gesten (der Schweiz) ('mit Beifall bedenken').27

25 26 27

vgl. Menge/Güthling 1963,1, 574, Sp. 1. vgl. DUW, 133, Sp. 2. Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, 9. Mai 1997, 27, Sp. 3.

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Lehnwörter mit adverbalem Dativ

kondolieren Das fremdsprachliche Kasusmuster dürfte auch bei kondolieren + Dativ ausschlaggebend gewesen sein. Formal geht das Verb auf lat. condolere zurück, das sich in seiner allgemeinen Bedeutung etwa mit 'to feel severe pain, to suffer greatly' umschreiben läßt.28 Inhaltlich hat das deutsche Verb jedoch nicht alle Verwendungen des lateinischen Verbs übernommen, vgl. z.B.: (11) Nunc mihi de vento ntiserae condoluit caput 'Jetzt schmerzt mir vom Wind des Elends der Kopf. 29 In dieser Verwendung ist condolere eine Verstärkung oder sogar nur eine Variante von dolere und kommt es nicht besonders oft vor. Condolere gehört nach dem Wörterbuch von Charlton Lewis und Charles Short v.a. dem Kirchenlatein an, in dem es einen eigenen christlichen Inhalt 'to suffer with another, to feel another's pain' entwickelt hat, mit Dativ der Person, vgl.: (12) qui non condolent proximis suis, sed potius eos irrident 'die nicht an den Schmerzen ihrer Nächsten teilnehmen, sondern sie (= die Nächsten) vielmehr verhöhnen', Augustinus30 (13) qui condolere possit his qui ignorant et errant, Hieronymus (Vulgata, Hebr. 5, 2) 'der mit denen mitfühlen kann, die unwissend sind und irren' (Lutherbibel)31 (14) condoleo fratribus nostris 'ich fühle mit unseren Brüdern mit', Cyprianus.32 Die christliche Prägung geht, wie man so oft bei der christlichen Latinität feststellen kann, auf das Griechische zurück. Der bereits existierenden Bildung condolere wurde dabei eine neue Bedeutung verliehen, die man dem griechischen Verb συναλγειν 'share in suffering' entnahm.33 Das griechische Kasusmuster, das eine absolute Verwendung oder einen Dativ der Per-

28 29 30 31 32 33

Lewis/Short 1969, 409, Sp. 2. Klotz 1963, I, 1029. Lewis/Short 1969, 409, Sp. 2.. a.a.O. Chirat 1954, 193, Sp. 1. Lidell/Scott 1968, 1694.

imponieren, gratulieren, applaudieren usw.

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son vorsieht,34 kann auf die Rektion des lat. Verbs Einfluß genommen haben, aber auch innerhalb der lateinischen Kasussyntax kann der Dativ bei condolere systemgemäß gedeutet werden: Zusammengesetzte Verben mit con-, bei denen das Präfix inhaltlich noch eng mit der etymologisch entsprechenden Präposition cum übereinstimmt, regieren entweder ein Präpositionalobjekt mit cum + Ablativ oder einen Dativ, v.a. in übertragener Verwendung.35 Obwohl die christliche Verwendung von condolere dem deutschen Verb kondolieren + Dativ sowohl syntaktisch als auch semantisch als Modell gedient hat, muß noch auf eine Zwischenstufe hingewiesen werden, denn während das lateinische Verb allgemein 'zusammen leiden, den Schmerz einer anderen Person teilen' ausdrückt, ist das deutsche Verb kondolieren seit seiner Übernahme im 17. Jh. fast immer auf 'sein Beileid aussprechen' beschränkt.36 Die Bedeutungsspezifizierung kann eine eigene deutsche Entwicklung sein, möglicherweise ist sie aber nach dem Vorbild des mit condolere verwandten - mittlerweile verschwundenen - frz. Verbs (se) condouloir entstanden, das als Verbstamm eine Geschichte hat, die bis ins 13. Jh. zurückreicht.37 Der Gebrauch dieses Verbs geht kaum noch vom christlichen Inhalt 'am Leiden eines anderen teilnehmen' aus, sondern gehört dem Bereich der Umgangs- und Höflichkeitsformen an. Vor allem die folgende Verwendung könnte das deutsche Verb beeinflußt haben: (15) 'souffrir avec, prendre part ä la douleur de quelqu'un' II a donne ά l'äme une inclination et appetit d'aimer le corps (...) et de se resentir et condouloir de ses accidens 'Er hat der Seele die Neigung und die Lust gegeben, den Körper zu lieben (...) und über seine Unfälle ein Nachgefühl zu empfinden und an der Trauer darüber teilzunehmen', Michel de Montaigne (1533-1592).38

34

35

36 37 38

Außer diesen Rektionsmöglichkeiten kann σ υ ν α λ γ ε ι ν auch einen Dativ der Sache regieren, wobei sich der Inhalt des Verbs freilich zu 'sympathize, show sympathy at or in' (Lidell/Scott 1968, 1694) ändert. vgl. consonere alicui/consonere cum aliquo 'mit jmdm./etwas übereinstimmen, harmonisieren', congruere alicui/congruere cum aliquo 'mit jmdm./etwas übereinstimmen, etwas entsprechen', congrediri alicui/congrediri cum aliquo 'mit jmdm./etw. zusammenstoßen, mit jmdm./etw. kämpfen' usw. s. DF, I, 373. Bloch/von Wartburg 1960, 147. Huguet 1925ff, II, 422.

Lehnwörter mit adverbalem Dativ

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Genau zu analysieren, welche Aspekte und Faktoren als Beitrag des Französischen, des Lateinischen oder des Deutschen zu betrachten sind, ist letztlich freilich nicht möglich. Doch steht außer Zweifel, daß das lateinische Verb condolere für die formalen und syntaktischen Eigenschaften von kondolieren eine Schlüsselstellung einnimmt, und nicht se condouloir, wie Wolfgang Pfeifer meint.39 Das lateinische Vorbild schließt nicht aus, daß es in der Rektion gelegentlich Schwankungen gegeben hat. Ein Beleg mit dem Akkusativ der Person findet sich im Deutschen Fremdwörterbuch'. (16) Eckharth condolirt die Obristin (1705).40 Daß sich der Dativ dennoch behauptet hat, ebenso wie bei gratulieren, könnte dadurch zusätzlich bewirkt sein, daß kondolieren und gratulieren sich inhaltlich spiegelbildlich zueinander verhalten, wie bereits aus dem folgenden frühen Beleg hervorgeht: (17) man gratuliret ihnen bey Freuden oder condoliret in Leides-Fällen (1697). 41

Beide Verben drücken die Anteilnahme an einer (negativen bzw. positiven) Gemütslage aus und sind im menschlichen Umgang fest verankert. Abgesehen von der Tatsache, daß nur gratulieren, nicht aber kondolieren absolut verwendet wird, können die beiden Verben syntaktisch die gleichen Leerstellen erschließen, nämlich Subjekt, Dativ der Person und Präpositionalobjekt mit zu, das den Anlaß des Kondolierens bzw. des Gratulierens zum Ausdruck bringt. Die sowohl inhaltliche als auch syntaktische Verwandtschaft dürfte die Dativrektion der beiden Verben gegenseitig konsolidiert haben.

inhärieren Auch das (heute allerdings eher seltene) Verb inhärieren 'anhaften, innewohnen', das zur philosophischen Fachsprache gehört, regiert den Dativ, wie z.B. in:

39 40 41

Pfeifer 1993, 703, Sp. 1. DF, 1,373. a.a.O.

imponieren, gratulieren, applaudieren usw.

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(18) Etwas der Individualität Inhärierendes, Joseph von Görres (17761848).42 Diese Dativrektion bei inhärieren ist zweifellos dem Lateinischen entlehnt. Lat. inhaerere kann verschiedene Kasus regieren, v.a. in der konkreten Verwendung 'to stick in, to stick, hang, cleave to, to adhere to, inhere in'. 43 Aber in der übertragenen Verwendung 'to adhere to, to cling to, to engage deeply or closely in', also gerade derjenigen Verwendungsweise, die das deutsche Verb dem Lateinischen entnommen hat, ist der Dativ weitaus am üblichsten, vgl.: (19) virtutes semper voluptatibus inhaerent 'den Lüsten inhärieren immer Tugenden', Cicero.44 Der lateinische adverbale Dativ bei inhärieren entspricht insofern der lateinischen Kasussyntax, als Verben mit dem Präfix in- im Lateinischen öfters den Dativ regieren.

assistieren Im Gegensatz zu inhärieren ist assistieren ein Wort der Umgangssprache geworden. Es wurde bereits im 17. Jh. aus dem Lateinischen entlehnt.45 Der adverbale Dativ wird oft realisiert, ist aber syntaktisch nicht unerläßlich, vgl.: (20) Schwestern und mehrere Ärzte assistierten bei der Operation*6 (21) Der Famulus assistierte seinem Professor,47 Lat. assistere verfügt über mehrere Konstruktionsweisen und aktuelle Bedeutungen, aber die Verwendungen, die mit 'unterstützen, beistehen' zu umschreiben sind und dem Inhalt des deutschen assistieren am nächsten kommen, sind immer entweder absolut oder zweistellig mit adverbalem Da-

42 43 44 43 46 47

Kehrein 1876/1969, 270, Sp. 1. Lewis/Short 1969, 953, Sp. 1. a.a.O. s. DF, I, 55. WDG, I, 224, Sp. 1. a.a.O.

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Lehnwörter mit adverbalem Dativ

tiv. Erneut entspricht die Kasussyntax des deutschen Verbs derjenigen des Lateinischen: - 'to stand by as a supporter or advocate': (22) uelut numen adesse et assistere 'wie der Befehl, anwesend zu sein und zu helfen', Plinius48 (23) amicis assistere 'Freunden helfen', Tacitus;49 - 'to stand by as an overseer, superviser': (24) nemo obseruator, nemo castigator assistet 'kein Beobachter, kein Sittenrichter sieht helfend zu', Plinius50 (25) exercitationibus nostris (...) Graeculus magister assistit 'Magister Graeculus assistierte bei unseren Übungen'51, Plinius.52 Auch der adverbale Dativ bei assistere ist somit in Übereinstimmung mit der lateinischen Kasussyntax. Auch hier gilt die Beobachtung, daß Verben mit dem Präfix ad- (assistere ist eine Assimilation von adsistere), wie diejenigen mit in-, öfters den Dativ regieren.

präsidieren Der Hinweis auf die Rolle der ursprünglichen lateinischen Präposition liegt auch bei präsidieren, das im Deutschen ebenfalls einen adverbalen Dativ regiert, auf der Hand. Trotzdem kommen Schwankungen vor, vor allem in der Schweiz regiert präsidieren den Akkusativ, vgl.: (26) Er präsidierte einer Verhandlung/einem Meeting/dem Parlament (27) Erstmals in der Geschichte des schweizerischen Bundesstaates präsidiert eine Frau den Ständerat,54

48 49

50 51 52 53 54

Lewis/Short 1969, 189, Sp. 3. a.a.O. a a 0

wörtlich: 'assistierte unseren Übungen'. a.a.O. WDG, IV, 2850, Sp. 2. GWbdS, VI, 2610, Sp. 1.

imponieren, gratulieren, applaudieren usw.

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Das Verb wird im Deutschen Fremdwörterbuch von Schulz und Basler nicht beschrieben. Im Deutschen Wörterbuch wird dann wieder behauptet, präsidieren sei im 16. Jh. aus dem Französischen (presider) entlehnt worden.55 Jedoch spricht nichts gegen eine direkte Übernahme von lat. praesidere. Auch frz. presider war seinerseits selbstredend eine Entlehnung aus dem Lateinischen (Erstbeleg 1388).56 In allen drei Sprachen hat das Verb eine vergleichbare Kasusrektion, und bei allen drei gibt es auch Schwankungen. Lat. praesidere hat zwei grundlegende Bedeutungsansätze, einerseits 'to guard, watch, protect, defend', andererseits 'to preside over, to have the care or management of, to superintend, direct, command'.57 Das Verb regiert hauptsächlich einen Dativ, aber auch im klassischen Latein begegnen Verwendungen mit Akkusativ, ohne offensichtlichen inhaltlichen Unterschied; was den zweiten Bedeutungsansatz betrifft, vgl.: (28) ego hic tibipraesidebo 'ich werde dich hier schützen', Plautus58 (29) civium manus litora oceani praesidebat 'die Hände der Bürger schützen die Ufer des Ozeans', Tacitus.59 Das frz. presider hat nur den zweiten Bedeutungsansatz übernommen und wird sowohl "transitiv" als auch "intransitiv" mit einem "complement d'objet indirect" verwendet, vgl.: (30) Dieu preside ά la mort des roi de la terre 'Gott kontrolliert den Tod der Könige der Erde'60 (31) Mars preside ά la guerre 'Mars ist der Gott des Krieges'61 (32) presider au conseil 'dem Rat Vorsitzen'62; in letzterer Verwendung ist die Konstruktion mit einem "complement d'objet indirect" heute veraltet, obwohl sie im 16. und 17. Jh. die einzig mögliche war. Statt dessen wird heute die transitive Konstruktion verwendet (Erstbeleg 1671), wie z.B.: 55 56 57 58 59 60 61 62

DW, VII, Sp. 273. Bloch/von Wartburg I960, 502, Sp. 1. Lewis/Short 1969, 1429, Sp. 2. a.a.O. a.a.O. Le Robert, VII, 738, Sp. 1. a.a.O. a.a.O.

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(33) Presider une assemblee, un conseil 'einer Versammlung, einem Rat Vorsitzen' .63 Im Deutschen wird präsidieren normalerweise mit einem Dativobjekt verbunden, außer in der Schweiz, wo das Verb - wie wir sahen - den Akkusativ regiert.64 Die Schwankungen im Französischen und im Deutschen weisen darauf hin, daß die "intransitive" Konstruktion bei präsider und die Dativrektion bei präsidieren dem jeweiligen Valenzsystem dieser Sprachen offenbar nicht voll entsprechen. Eine Übernahme des lateinischen Musters ist denn auch wahrscheinlich. Im Lateinischen selbst kann die Dativrektion bei praesidere wieder gemäß der Kasussyntax dieser Sprache erklärt werden, denn viele lateinische Verben mit dem Präfix prae- ( < Präposition prae + Ablativ) regieren einen Dativ, insbesondere wenn das Präfix eine räumlichkonkrete Bedeutung hat65 und inhaltlich noch der Präposition prae nahesteht, vgl. praecellere alicui 'sich vor jmdm. auszeichnen', praeficere alicui 'leiten', praeesse alicui 'vorstehen', praevertere alicui 'jmdm. vorangehen' usw. Bei praesidere ist der ursprüngliche präpositionale Inhalt des Präfixes allerdings etwas verblaßt, wie dies in noch stärkerem Maß z.B. bei praegravere aliquid/aliquem 'jmdn./etwas sehr belasten, beschweren', praeparere aliquid 'etwas vorbereiten' u.a. der Fall ist, und die alle ein Akkusativobjekt regieren. Ob beim deutschen präsidieren die semantische Verblaßtheit des Präfixes und die Kasusschwankungen miteinander zusammenhängen, bleibe dahingestellt.

präludieren Was wir über präsidieren sagten, gilt mutatis mutandis auch für präludieren. Das Verb ist eine Entlehnung aus dem Lateinischen und ist etwa seit dem 16. Jh. im Deutschen belegt. Es ist eine Ableitung vom schon länger entlehnten Substantiv Präludium. Ohne Zweifel sind sowohl das klassische lat. praeludere als auch das deutsche präludieren in erster Linie intransitive, absolut verwendete Verben. In den Wörterbüchern zum Gegenwartsdeutsch wird präludieren nur in dieser Weise beschrieben, mit der Bedeutung 'eine 63 64 65

a.a.O. DUW, 1176, Sp. 1. Zum sog. " Lokalismus " in der Kasusdiskussion s. Willems 1997, 107ff u. 191ff.

imponieren, gratulieren, applaudieren usw.

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Einleitung spielen' oder 'improvisieren, mit dem Instrument üben vor dem Anfang einer Musikausfiihrung', vgl.: (34) Prosniczerpräludierte (...), und der Choral setzte ein.66 Trotzdem wird präludieren, wie schon lat. praeludere, gelegentlich mit Dativ verwendet, beide im übertragenen Sinne 'vorangehen und ankündigen': (35) Man hatte mir von dem Abbate Monti präludiert, von seinem Aristodem, einer Tragödie, die nächstens gegeben werden sollte, Goethe67 (36) Den zweihundertfünfzig Bildern, Graphiken und (wenigen) Plastiken, präludiert in der großen Halle des 'Grassi' ein (eigens angefertigtes) l:5-Modell von Erich Mendelssohns Potsdamer 'Einstein-Turm'j68 vgl.: (37) Nero Pompeiano praeludit 'Nero kündigt (die Katastrophe von) Pompeji an', Plinius.69 In beiden Sprachen kann das Verb auch transitiv verwendet werden, nämlich im Sinne von 'als Einleitung machen, spielen': (38) pugnampraeludere 'to prepare one's self for fighting'70 (39) Die Musikanten präludieren ebenfalls allerlei Zerr-Melodien, Heinrich Heine (1797-1856).7' Die Beispielsätze zeigen zunächst eine bemerkenswerte paradigmatische Verwendung der Kasus: Mit einem Akkusativ wird ausgedrückt, daß das vom Akkusativobjekt Bezeichnete in einem wörtlichen oder übertragenen Sinn auch gespielt wird; das Akkusativobjekt spezifiziert damit die durch das Verb ausgedrückte Handlung. Mit einem Dativobjekt wird hingegen nicht das Gespielte (oder, bei übertragener Verwendung, das Geübte oder Ausge-

66 67 68 69 70 71

GWbdS, VI, 2606, Sp. 2. Goethes Werke, Sophienausgabe, I. Abteilung, 30, 223. Frankfurter Rundschau, 9. September 1997, S. 8, Sp. 3. Lewis/Short 1969, 1422, Sp. 2. a.a.O.; wörtlich: 'den Kampf als Vorspiel spielen'. "Die Göttin Diana", in: Heines Werke, hrsg. von Oskar Walzel (1911-1915), X, 126. In diesem Satz ist der morphologische Kasus zwar nicht sichtbar, aber aus dem Kontext geht hervor, daß die Musikanten den "Zerr-Melodien" nicht vorangehen, sondern diese "Zerr-Melodien" als "Präludium" einer anderen Begebenheit spielen. Dies ist durchaus mit dem lateinischen Zitat vergleichbar, in dem der Kampf als "Vorspiel" geübt wird.

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führte) bezeichnet, sondern es wird ausgedrückt, welcher Sache oder eventuell welcher Person die Handlung des Präludierens vorangeht. Im Lateinischen ist daneben aber noch eine vierte Verwendung mit Akkusativ· und Dativobjekt möglich, in der der Dativ also diakritisch motiviert ist, vgl.: (40) aliquid operibus suis praeludere 'etwas seinen Arbeiten vorangehen lassen'.72 Demnach ist das Verb präludieren der GRUPPE Β zuzurechnen. Inwieweit die deutsche Verwendung von präludieren mit Dativ oder Akkusativ vom Lateinischen angeregt wurde, ist schwer zu sagen; sie läßt sich auf jeden Fall auch aus dem deutschen System der Kasusverwendung erklären. Im Hinblick auf die Verwendung mit dem Dativ kann außerdem auf frz. preluder hingewiesen werden, das in der Verwendung 'se produire dans l'attente d'autre chose, constituer le debut, les preliminaires de quelque chose'73 die Präposition ä fordert, um auszudrücken, welcher Sache präludiert wird: (41) II s'interrompit. Un temps interminable preluda ά ce qui allait suivre 'Er unterbrach sich selbst. Eine endlose Zeit präludierte dem, was folgen sollte'.74

korrespondieren Zu den entlehnten Verben, die in zweistelligen Konstruktionen einen adverbalen Dativ regieren können, gehört schließlich auch noch korrespondieren. Zwar begegnet das Verb in der Gegenwartssprache (wie überhaupt seit seiner Entlehnung im 16. Jh.)75 am häufigsten in Verbindung mit der Präposition mit, und zwar in zwei unterschiedlichen Bedeutungsansätzen, vgl.: (42) Er korrespondiert seit vielen Jahren mit einem sowjetischen Wissenschaftler (über dieses Thema) (d.h.: 'steht mit ihm im Briefwechsel')76

72 73 74 75 76

Lewis/Short 1969, 1422, Sp. 2. Le Robert, VII, 711, Sp. 2. a.a.O. s. Pfeifer 1993, 720, Sp. 1; vgl. DF, I, 398. WDG, III, 2204, Sp. 1.

imponieren, gratulieren, applaudieren usw.

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(43) Die Plastik im Vordergrund korrespondiert mit der Architektur des Hintergrundes (d.h.: 'stimmt mit ihr überein, entspricht ihr [harmonisch]')·77 Im zweiten Bedeutungsansatz 'übereinstimmen mit, entsprechen' wird das Verb statt mit einer Präpositionalphrase gelegentlich jedoch auch in Verbindung mit dem Dativ gebraucht, wie z.B. in: (44) Diese Idee und das ihr korrespondirende sinnliche Merkmal78 (45) Dem Trend zum Aussteigen korrespondiert eine Staatsverdrossenheit79 (46) Dieser Tendenz korrespondiert die weitgehende politische Ohnmacht des Individuums.80 Noch deutlicher als in Verbindung mit der Präpositionalphrase entspricht korrespondieren + Dativ dem frz. "verbe transitif ä objet indirect" corresponds ά, auf das auch das deutsche Verb zurückgeht, das seit dem Ende des 16. Jahrhunderts belegt ist.81 Das französische Verb correspondre ά ist seit dem 14. Jh. belegt und entspricht lat. correspondere, einem Verb, das es im klassischen Latein nicht gab, sondern eine Bildung des lateinischen Mittelalters ist ( < co- [= cum] + respondere).82 Dieses mittellateinische Verb wurde im Sinne von 'entsprechen' meist zweistellig und mit adverbalem Dativ verwendet, vgl.: (47) inerat ei (abbati) animus corpori correspondens 'ihm (dem Abt) wohnt eine dem Körper entsprechende Seele inne'83 (48) quia unitas correspondet modo, qui respicit deum ut causam efficientem, (...) et bonitas correspondet ordini 'denn die Einheit entspricht der Art und Weise, in der man Gott als zureichenden Grund betrachtet, (...) und die Güte entspricht der Ordnung'.84 Das Präpositionalobjekt mit ά bei frz. correspondre ist der Rektion mit adverbalem Dativ im Mittellateinischen nachgebildet. 77 78 79 80 81 82

83 84

a.a.O. Kehrein 1876/1969, 365, Sp. 1. DUW, 886, Sp. 2. GWbdS, IV, 1970, Sp. 1. DF, I, 398. s. Le Robert, II, 949, Sp. 1; vgl. im Frz. z.B. a chaque qualite correspond un defaut 'jeder guten Eigenschaft entspricht ein Fehler', a.a.O. Latham 1975ff, I, 501, 1. Fuchs et al. 1977ff, II, 1155, Sp. 2.

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Lehnwörter mit adverbalem Dativ

Anders als die Verbindung mit mit, die eine eigene deutsche Entwicklung darstellt, ist die Dativrektion bei korrespondieren dem französischen (und letztendlich dem lateinischen) Muster entnommen. Außerdem kommt sie im ersten Bedeutungsansatz 'mit jmdm. im Briefwechsel stehen' nicht vor (vgl. auch Korrespondenz und Korrespondent).85 Noch Adelung nimmt correspondiren nur im Sinne von 'Briefe wechseln'86 auf, und erst Campe weist auf Verwendungen des Verbs "in uneigentlichem Sinne" hin.87 Ob die allgemeine Dativfreundlichkeit im Deutschen dafür sorgen wird, daß die Dativrektion von korrespondieren auch in Zukunft weiterhin eine Konkurrenzform zur analytischen Präpositionalphrase mit mit bleiben wird, läßt sich nicht voraussehen Die Liste der in diesem Abschnitt VI.l. analysierten Lehnwörter ist nicht exhaustiv. Sie dürfte aber auf jeden Fall diejenigen Verben auf -ieren umfassen, die auch heute noch am häufigsten gebraucht werden. Zu den übrigen Verben, die nur selten in Verbindung mit adverbalem Dativ gebraucht werden (meist wird das Verb mit einer entsprechenden Präpositionphrase verbunden), gehören u.a.: - adhärieren: (49) .. .die magische Valenz, die aller Dichtung adhäriert (1964)88 - akzedieren: (50) Sie akzedierten ihm/seiner Meinung?9 - kongruieren: (51) Daß keine Idee der Erfahrung völlig congruire, Goethe90 - opponieren: (52) Dieser More wird ihm immer opponieren, Karl Zuchardt (1887-1968)91 (53) Wer opponiert wem f1

83

86 87 88 89 90 91 92

Vereinzelt kann Korrespondenz auch heute noch 'Übereinstimmung' bedeuten, was gemäß DUW, 886, Sp. 2 allerdings veraltend ist. Adelung 1793ff, I, Sp. 1352. Campe 1808ff, VI, 231, Sp. 2. GWbdS, I, 116, Sp. 1. s. BWDW, I, 153, Sp. 1. Kehrein 1876, 349, Sp. 2. WDG, IV, 2707, Sp. 1. Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, 31. Dezember 1997, 33, Sp. 1-2.

imponieren, gratulieren, applaudieren usw.

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- respondieren: (54) ...aber dem Vorlesepriester respondierte auch er mit kräftiger Stimme, Thomas Mann (1875-1955)93 - sukzedieren: (55) Man sukzedierte ihr in ihrem Amt.94 Defektiv sind konvenieren (jmdm. konveniert etwas) und passieren (jmdm. passiert etwas). Aus der obigen Diskussion können wir folgenden Schluß ziehen. Im Lateinischen gibt es zwischen den Präfixen ad-, con-, in-, inter-, sub-, ante-, ob- und prae- bei zusammengesetzten Verben, die auffallig oft den Dativ regieren, und der jeweiligen Kasusrektion der entsprechenden Präpositionen einen unverkennbaren Zusammenhang. Wir sahen aber (vgl. oben die Verben mit dem Präfix prae-), daß die Beziehung zwischen Präpositionalrektion und der Rektion des präfigierten Verbs uneinheitlich ist. Bedeutend ist, daß die mit Ablativpräpositionen präfigierten Verben den Dativ und nicht den Ablativ regieren.95 In einigen Fällen hat sich die Rektion der Präposition geändert, so z.B. bei ad, inter, ante, ob, die im historischen Latein den Akkusativ regieren; in und sub sind in der lateinischen Sprache Wechselpräpositionen. Die Beschreibungen der zusammengesetzten Verben in traditionellen Standardwerken über die lateinische Grammatik sind übrigens oft zirkulär. Sie stellen in bezug auf die Kasusrektion dieser zusammengesetzten Verben fest, daß die enge Verbindung eines Verbs mit einer Präposition die Verbbedeutung modifiziere. Das ist zwar unleugbar, die Bemerkung jedoch, daß dadurch ein analogischer Anschluß an andere Verben mit adverbalem Dativ erfolge96 oder daß die neue Bedeutung ein Objekt im Dativ verlange,97 versucht die Erscheinung mit dem zu begründen, was zu erklären ist. Auch in der deutschen Kasussyntax gibt es bei den Partikelverben einen deutlichen Zusammenhang zwischen den Verbzusätzen und der Kasusrektion. Die mit (eventuell ehemaligen) Dativpräpositionen zusammengesetzten Partikelverben regieren oder regierten den Dativ, die mit Akkusativpräpositionen zusammengesetzten Verben indes den Akkusativ und die mit Wech93 94 95 96 97

GWbdS, VI, 2767, Sp. 1. s. BWDW, VI, 140, Sp. 1. Dazu vgl. nun auch Serbat 1993, 183ff. s. Leumann/Hofmann/Szantyr 1963/1965, II, 87. s. Kühner/Stegmann 1966, II, 325-326.

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Lehnwörter mit adverbalem Dativ

selpräpositionen zusammengesetzten Verben schließlich je nach Umstand den Dativ oder Akkusativ.98 Die ursprüngliche Systematik in der "Vererbung" der präpositionalen Rektion ist heute ziemlich in Unordnung geraten, so daß es unter den Partikelverben oft zu eher zufallig anmutenden, stark idiomatischen Rektionen gekommen ist, vgl. u.a. zuhören, zuneigen oder nachstehen, nachsetzen, nachgehen, nachhängen, bei denen die Beziehung des Präfixes zur Präposition zu bzw. nach noch durchsichtig ist und die alle den Dativ regieren, während bei zurichten, zuschütten, zudecken, nachahmen, nachschlagen, nachholen usf. diese Beziehung nur noch historisch existiert und ein Akkusativobjekt hinzukommt. Die Kasusrektion der modernen deutschen Partikelverben (oder der unfest zusammengesetzten Verben) ist bisher noch nicht eingehend erforscht worden. Den Dativ regierende Partikelverben werden in beschreibenden Grammatiken oft den Simplizia mit adverbalem Dativ (vom Typ danken, helfen usw.) gleichgesetzt und mit dem "semantischen" Hinweis auf "Zuwendung" zu einer "lebenden Person" begründet, was aufgrund der grundsätzlich verschiedenen Strukturen von z.B. helfen und beiwohnen völlig unzulänglich ist." Der Umschreibung folgt meist eine fragmentarische und ziemlich willkürliche Auflistung von Verben, ohne daß eingehender auf einen möglichen Zusammenhang zwischen den verschiedenen zusammengesetzten Verben mit ein und demselben Präfix(oid) eingegangen wird. Einige Grammatiken beschränken sich sogar auf die nichtssagende Bemerkung, daß Partikelverben öfters den Dativ regieren.100 Andere Grammatiken unterscheiden zwar die dativischen Partikelverben von den übrigen Verben mit adverbalem Dativ und weisen auf mögliche systematische Zusammenhänge hin, unternehmen jedoch keinen Versuch, diese genauer zu erfassen. In der Duden-Grammatik z.B. wird bloß festgestellt, daß einige Verbzusätze die Rektion des Grundverbs ändern: vor- "hat zum Teil eine Veränderung der Kasusrektion zur Folge", beim Verbzusatz nach- folge die vom Verb ausgedrückte Tätigkeit oder Bewegung "einem sich fortbewegenden, meist im Dativ genannten Ziel", und wenn mit zu- "eine Dativierung des Grundverbs verbunden ist", gebe es "die Hinwendung zu jemandem" an; zusammengesetzte Verben mit

" 99 100

Für eine faßliche Darstellung s. Dal 1966, 7-8 und 38-43. Eine Beschreibung mit zahlreichen Beispielen findet sich u.a. bei Paul 1916-20, III, 395-408. vgl. Eisenberg 1994, 302, Jung/Starke 1982, 82 u.a. vgl. Jude/Schönhaar 1975/1980, 98.

imponieren, gratulieren, applaudieren usw.

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entgegen- schließlich "fordern eine Dativergänzung".101 Auf den möglichen Zusammenhang mit Verbzusätzen, die bei intransitiven Verben wie wohnen, treten, kommen, lauern usw. eine Dativrektion herbeiführen (z.B. einer Sache beiwohnen, jmdm. beitreten, einer Sache zuvorkommen, jmdm. auflauern) wird nicht eigens eingegangen. Eine genaue Abgrenzung derjenigen Verben, bei denen unverkennbar eine Kasusvererbung des Verbzusatzes vorliegt, von den Verben, die zwar denselben Zusatz, jedoch keinen Dativ (mehr) regieren, steht z.Z. noch aus. Aus diachronischer Sicht kann zumindest bereits soviel mit Sicherheit gesagt werden, daß die unfest zusammengesetzten Verben in der Regel aus einem Simplexverb mit einem Präpositionalobjekt entstanden sind. Transitive Verben, die eine Dativpräposition als Verbzusatz bekommen, behalten normalerweise ihre akkusativische Rektion bei, deswegen z.B. eine Sache nachprüfen (prüfen ist transitiv). Bei intransitiven Verben veranlaßt die als Präfix verwendete Dativpräposition dagegen oft eine Dativrektion, z.B. einer Sache nachgehen, einer Versammlung beiwohnen, jmdm. beikommen/beistehen usw. (gehen, wohnen, kommen, stehen sind intransitiv). Das Muster ist jedoch nicht allgemeingültig (vgl. die Opposition zwischen dem transitiven eine Sache/jmdn. hören und der Zusammensetzung einer Sache/jmdm. zuhören). Bei einigen Zusatzverben hat dann wieder ein Kasus wandel stattgefunden. So regierte nachahmen (zuerst belegt im Jahre 1540) ursprünglich entweder einen Dativ der Person oder einen Dativ der Sache, das Verb erscheint aber sehr früh auch schon mit einem Akkusativ der Sache; bereits bei Luther werden beide nebeneinander verwendet, vgl.: (56) denn weil dis werck (...) ein köstlich werk ist, ometen sie im nach, Luther102 (57) also ohmen nach die kätzer gottes wort, Luther.103 Ab dem 18. Jh. wird vermehrt auch der Akkusativ der Person verwendet und verschwindet die Dativrektion ganz.104 Anzunehmen ist, daß die Entwicklungen bei vielen Verben vielfach idiosynkratisch sind, aber dennoch fallt z.B. ins Auge, daß die Vererbung der Präpositionalrektion bei zu- und nach- besonders lebendig ist, jedoch bei 101 102 103 104

Duden, Die Grammatik, § 795ff. DW, VII, Sp. 18. DW, VII, Sp. 19. a.a.O.

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Lehnwörter mit adverbalem Dativ

mit- (abgesehen von mitspielen in jmdm. übel mitspielen und Verben wie mitbringen, mitteilen usw., die valenzmäßig dem allgemeinen Muster des dreistelligen Satzbauplans entsprechen) völlig verschwunden ist. Die Bedeutung der Verbzusätze ist bisher, und zwar insbesondere vor dem Hintergrund der noch existierenden Präpositionen, zu Unrecht außer acht gelassen. Darüber hinaus hat der Verbzusatz zu- in z.B. einem zusehen eine andere Geschichte ( < Präposition) als der Verbzusatz zu- in beispielsweise eine Grube zuschütten ( < Adverb). Kommentare zur Rektion der unterschiedlichen Kategorien unfest zusammengesetzter Verben wie "viele regieren noch den Dativ", "häufig ist der Dativ noch bei..." oder "nur erhalten sind..." belegen, daß solche Kategorien nach wie vor ein weites Feld sind.

sekundieren

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VI.2. sekundieren Morphologisch ist auch an dem Verb sekundieren deutlich ablesbar, daß es sich um eine Entlehnung aus dem Lateinischen105 oder, mehr noch, aus dem Französischen handelt.106 Das Verb bildet unter den bisher analysierten Verben lateinischer bzw. französischer Herkunft (imponieren, gratulieren, inhärieren, assistieren usw.; s. § VI.l.) aber insofern eine Ausnahme, als es die ursprüngliche Akkusativrektion im Laufe der Sprachgeschichte nicht oder zumindest doch nur teilweise beibehielt. Der früheste Beleg des Verbs im Deutschen fallt in die 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, womit sich das Verb im Vergleich zum Substantiv Sekundant deutlich als jünger zu erkennen gibt. Sekundieren wird sowohl in einstelligen wie in mehrstelligen Konstruktionen verwendet. Die allgemeine Systembedeutung von sekundieren kann mit dem Wort 'unterstützen' umschrieben werden, und das ist eine Bedeutung, von der tatsächlich behauptet werden kann, daß sie allen heute noch gebräuchlichen Verwendungen des Verbs zugrunde liegt. Einer ersten zeitgenössischen Verwendung im allgemeinen Sinn von 'unterstützen' oder spezifischer 'mit Worten unterstützen' (d.h. also 'beipflichten') begegnen wir z.B. in: (1) (2) (3) (4) (5)

105 106

107 108 109 110

Schwahl beeilte sich zu sekundieren: "Ganz Ihrer Meinung "107 "Höchste Zeit!", sekundierte siem Sie fing an, mir bei meinen Darbietungen zu sekundieren109 Ja, ja, mein lieber! sekundirte im gleichen Jammerton Hauptmann W. dem Sergeanten (1914)110 Sie sekundieren dem Faschismus, wie jede Bourgeoisie, offen oder heimlich, Max Frisch (1911-1991).111

DF, IV, 110. s. DW, X, 1, Sp. 410: "lehnwort aus lat. secundare oder vielleicht richtiger franz. seconder". Im Französischen ist seconder in der Bedeutung 'suivre, venir aprfes (quelque chose)' seit dem 13./14. Jh. belegt; die Bedeutung 'aider (quelqu'un) en tant que second, ou comme un second' ist seit der Mitte des 16. Jahrhunderts belegt; s. Le Robert, VIII, 660, Sp. 1. WDG, V, 3384, Sp. 1. DUW, 1386, Sp. 2. a.a.O. DF, IV, 111. GWbdS, VI, 3069, Sp. 1.

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Lehnwörter mit adverbalem Dativ

Als 'beistehen', 'betreuen, beraten' in der besonderen Redebedeutung 'Sekundant sein, bei einem Duell, eventuell auch bei einem Sportspiel' realisiert sich das Verb zweitens in: (6)

Er sekundierte seinem Freund bei dem Duell.112

In einem Satz wie (6) entspricht dem Verb auch semantisch das Nomen Sekundant, womit ein Betreuer bzw. Berater, vor allem bei Duellen, Mensuren (z.B. in schlagenden Verbindungen), Boxkämpfen, Schachturnieren usw., gemeint ist. Drittens wird das Verb im Sinn von 'die zweite Stimme singen oder spielen' oder allgemeiner 'musikalisch, durch Gesang usw. begleiten' verwendet, wie z.B. in: (7) (8)

Er sekundierte dem Pianisten auf der Flöte113 Ein zweiter Sopran sekundierte (dem Lied).114

Wie aus den obigen modernen Beispielsätzen hervorgeht, regiert sekundieren in der Gegenwartssprache normalerweise den Dativ. Den meisten Wörterbüchern zufolge"5 steht das Objekt sogar immer im Dativ. Nur das Große Wörterbuch der deutschen Sprache in der Ausgabe von 1994116 und das Duden Universalwörterbuch111 sind diesbezüglich anderer Meinung: In der Verwendung 'unterstützen' komme auch der Akkusativ vor, ohne semantischen Unterschied im Vergleich zum Dativ. Keines der beiden Werke führt allerdings einen Beispielsatz bzw. eine Belegstelle an. Im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache weisen dann wieder Beispielsätze im Passiv auf die Möglichkeit hin, daß das Verb syntaktisch freier verwendet werden kann als nur mit einem Dativobjekt, vgl.: (9)

In den Betrieben verfolgten die Unternehmer, sekundiert von den rechten Gewerkschaften, wütend jede oppositionelle StimmeUi (10) (Er verübte) die tollsten Dinge, sekundiert von seinem Bruder...119 112 113 114 115

116 117 118 119

WDG, V, 3384, Sp. 1. vgl. DUW, 1386, Sp. 2. a.a.O. WDW, 1429, Sp. 1; BWDW, V, 725, Sp. 1; WDG, V, 3384, Sp. 1 und auch GWbdS in der Ausgabe von 1976 (V, 2373, Sp. 1). GWbdS, VI, 3069, Sp. 1. DUW in der Auflage von 1983 (1146, Sp. 2) und 1996 (1386, Sp. 2). WDG, V, 3384, Sp. 1. a.a.O.

sekundieren

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Die Kasusschwankungen bei sekundieren, wie sie namentlich die Lexika der Duden-Redaktion belegen, sind nicht nur für die Gegenwartssprache typisch. Das Verb regiert bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bald den Akkusativ, bald den Dativ. Um dafür eine Erklärung zu finden, ist es angebracht, die Rektion mit der jeweiligen Redebedeutung des Verbs (bzw. bereits seiner Normbedeutung) in Verbindung zu bringen. Dies erlaubt zugleich eine Einordnung des Verbs gemäß den von uns unterschiedenen drei Gruppen. Wie gesagt hat das Französische bei der Übernahme des Verbs ins Deutsche vermutlich eine Rolle als Vermittler gespielt. Nicht nur kommt anfangs die französisch beeinflußte Form secondieren vor120, auch inhaltlich ist sekundieren mehr mit seconder 'beistehen, helfen, unterstützen'121 als mit lat. secundare 'beglücken, begünstigen (von Göttern oder dem Wind)'122 verwandt, vgl.: (11) comme il n'est seconde que par une servante (...) et que nous sommes vingt clients, il s'empresse 'da nur ein Dienstmädchen ihm behilflich ist und wir Kunden zu zwanzig sind, rackert er sich ab', Andre Gide (1869-1951)123 (12) aura secundat iter 'der Wind begünstigt die (See-)Reise'.12,t Der adverbale Dativ beim deutschen sekundieren kann nicht auf ein fremdsprachliches Muster zurückgeführt werden. Das lat. Verb ist transitiv und regiert dementsprechend den Akkusativ, und auch im Französischen gibt es keinen Anlaß für eine Dativrektion im Deutschen. Das Objekt kann übrigens sowohl im Lateinischen als auch im Französischen elidiert werden.125 Auch im Deutschen war im 17. und 18. Jh. der Akkusativ der normale Kasus bei sekundieren. Erst im 19. Jh. taucht der Dativ auf, und er wird erst allmählich üblich. In den von uns zu Rate gezogenen Arbeiten konnte kein Beispiel für die Dativrektion vor der Mitte des 19. Jahrhunderts ausfindig

120 121

122 123 124 125

vgl. DF, IV, 110. Diese Verwendung ist im Französischen seit dem 16. Jh. belegt; älter (und mittlerweile verschwunden) ist seconder (eventuell segonder) 'folgen (aus)', s. Le Robert, VIII, 660, Sp. 1. Lewis/Short 1969, 1720, Sp. 2. Le Robert, VIII, 660, Sp. 2. Lewis/Short 1969, 1654, Sp. 3. vgl. Lewis/Short 1969, 1720, Sp. 2 und Littre 1958, VI, 2024.

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Lehnwörter mit adverbalem Dativ

gemacht werden. Stieler nimmt nur das Substantiv Sekundant auf,126 Substantiv und Verb fehlen bei Adelung und Heyne. Campe führt das Verb nur im Ergänzungsband auf, jedoch ohne Spezifizierungen zum Kasus.127 Sanders scheint bereits den Akkusativ zu bevorzugen: "Einen (oder Einem)"128, Kehrein fuhrt nur Beispiele mit einem Akkusativobjekt an129, während im einschlägigen Band des Deutschen Wörterbuchs (1905) bereits nur noch der Dativ als Norm gilt.130 Als einigermaßen gesichert kann mithin gelten, daß sekundieren in Übereinstimmung mit der oder den Entlehnungssprachen ursprünglich den Akkusativ regierte. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Akkusativ jedoch allmählich durch den Dativ ersetzt. Ob der Dativ in der Sprache der Gegenwart, wie einige Wörterbücher nahelegen, im Akkusativ wiederum eine stärkere Konkurrenzform erhält, wollen wir hier nicht entscheiden. Auf jeden Fall ist klar, daß die Kasusschwankungen in der Kasusgeschichte des Verbs seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gründen (und wahrscheinlich in noch früheren Zeitabschnitten, was sich mangels einschlägiger Belege jedoch nicht mehr eruieren läßt). Wir ordnen sekundieren den Verben der GRUPPE C zu. Es ist nämlich auffallend, daß der Kasusverteilung durchaus eine paradigmatisch relevante semantische Unterscheidung zu entsprechen scheint. Die Autoren des Deutschen Fremdwörterbuchs unterscheiden drei Verwendungen.131 Die erste Verwendung, nämlich 'jmdn. (die zweite Stimme spielend oder singend) begleiten' , die sich bis heute bewahrt hat und der wir schon in den Sätzen (7) und (8) begegnet sind, ist bereits um 1570 belegt (anscheinend der älteste Beleg des Verbs): (13) Secundirn Die ander Vesper von einem Fest singen (1571; Wörterbucheintrag).132

126 127

128 129 130 131 132

Stieler 1691, Sp. 2131. Campe 1807ff, VI, 551, Sp. 1: "secundiren, helfen, unterstützen, Beistand leisten. Den Wärtel oder Kampfwärtel machen. S. Secundant. (Zus.) Auch die zweite Geige spielen, und die zweite Stimme singen. Ich meine, auch den Ausdruck unterstützen dafür gehört zu haben." Sanders 1876, II1, 2, 1073, Sp. 2. Kehrein 1876/1969, 653, Sp. 2. DW, X, 1, Sp. 410. DF, IV, 110-112. DF, IV, 111, Sp. 1.

sekundieren

555

Die anderen Belege sind: (14) Singt doch eins! Backenburger sekundirt so hübsch, Goethe133 (15) sekundiren (im Gesang begleiten) (1824)134 (16) Und das Mütterchen trocknete mit der weißen Schürze die Thränen und secundirte in bebendem Diskant dem köstlichen Lied (um 1880)135 (17) Nachher sang Behrend auf allgemeines Verlangen das schöne Lied "Du meine Seele, Du mein Herz" (•••) wobei Fräulein Eva und Grete ihm sekundierten (1895)136 (18) Paul Luther, gleichfalls wie Margherita Perras von der Staatsoper, sekundierte virtuos auf der Flöte (1934)137 (19) Kleiber sekundierte mit plastischem Umriß. Er hatte den Abend mit der d-moll-Sinfonie von Cesar Franck begonnen (1935).138 Die Belege zeigen das Verb entweder einstellig (absolut) oder zweistellig in Verbindung mit dem adverbalen Dativ. Das Dativobjekt kann sowohl eine Person als auch eine Sache (etwas Unbelebtes, z.B. ein Lied, wie in Satz [16]) bezeichnen, aber die Beispiele, in denen eine Person gemeint ist, überwiegen. Der früheste Beleg mit einem Dativ stammt erst aus der Zeit um 1880 Satz (16) - , während das Verb in der "musikalischen" Verwendung bereits seit dem Ende des 16. Jahrhunderts belegt ist. Daß sekundieren ursprünglich auch in diesem Bedeutungsansatz den Akkusativ regierte, zeigt der folgende Beleg bei Goethe: (20) Herr Brizzi hat vortrefflich gesungen und gespielt, und die unsrigen haben ihn recht glücklich secundiert, Goethe.139 Als zweite Verwendungsart des Verbs setzt das Deutsche Fremdwörterbuch das allgemeine 'jmdn. unterstützen, ergänzen, begünstigen, schützen, retten; jmdm. beistehen, helfen' an, und es interpretiert die allgemeine Verwendung offenbar als von jener spezifischeren abgeleitet, auch in zeitlicher

133 134 135 136 137 138 139

a.a.O. und vgl. Kehrein 1876/1969, 653, Sp. 2. DF, IV, 111, Sp. 1. a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. Goethes Werke, Sophienausgabe, IV. Abteilung, 21, 426.

556

Lehnwörter mit adverbalem Dativ

Hinsicht; vgl.: "dann auch in der allgemeinen Bed(eutung)".140 Es folgen als Exemplifizierung der zweiten, allgemeinen Verwendung insgesamt 19 Belege, der älteste stammt aus dem Jahr 1613. Sofort fällt auf, daß die große Mehrheit der Belege kein Dativ-, sondern ein Akkusativobjekt hat: in 2 Belegen wird das Verb absolut verwendet, 3 Belege haben den Dativ, 9 Belege weisen den Akkusativ auf, 2 Belege zeigen ein persönliches Passiv und in 3 weiteren Belegen ist der Kasus nicht sichtbar. Die drei Belege mit Dativ stammen aus der Zeit um 1900, vgl.:141 (21) Das Schicksal war so freundlich, mir in dieser höchst kritischen Lage zu secundiren (1891) (22) Ja, ja, mein lieber! sekundirte im gleichen Jammerton Hauptmann W. dem Sergeanten (1914) (23) Seine stattliche, noch immer hübsche Frau (...) sekundierte ihm in ausgeprägt ostpreussischem Dialekt (1915). Die Sätze (22) und (23) stimmen im wesentlichen mit dem auch heute noch vorkommenden Gebrauch 'beipflichten' ('mit Worten unterstützen') überein - s. Sätze (1) bis (5) - , Satz (21) weist stark auf das Moment 'beistehen' bzw. 'retten' hin. Die Beispiele mit Akkusativobjekt sind: (24) wo die Reutterey so sich schon (...) hinder die Statt begeben den Obristen widerumb begegnet und ihn secundirt hatten (1621) (25) damit man den Schwächeren und Nothleydenden Theil desto geschwinder secundiren könne (1670) (26) denn es ist nicht Genug, dass man eine Sache anfange, sondern man muss sie auch secundiren (1684) (27) und ihnen diese Provintzen genommen werden, ehe sie im Stand wären, solche zu secundiren (1706) (28) bitten den allmächtigen Gott, dass er diese Waffen ferner hin mit glücklichen Successen und seinem Segen secundiren (...) wolle (1718) (29) viele Örter, welche ihren Handel mit Nachdruck secundiren (1741) (30) Weil er schon versichert seyn konte, dass man ihn nicht stecken lassen, sondern gewiss secundiren würde (1752)

140 141

DF, IV, 110. Die Beispielsätze (20) bis (32) sind alle DF, IV, 111 entnommen.

sekundieren

557

(31) das Vorurtheil (...) secundirte mich auch in meinem Vorhaben, Goethe (1784) (32) Dass die Handwerker ihn nicht völlig sekundirten, sieht man am Einzelnen (1860). Die Beispiele mit Akkusativ weisen mehrheitlich tatsächlich auf eine allgemeine Redebedeutung hin, in der 'unterstützen' gelegentlich sogar noch stark an lat. sequi erinnert; vgl. etwa die Sätze (27), (31) und (32). Die allgemeine Redebedeutung tritt dadurch noch stärker in den Vordergrund, daß sich der Akkusativ, anders als der Dativ in den Sätzen (21), (22) und (23), im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen 'belebt' und 'unbelebt' als neutral erweist, was zumindest für sekundieren 'beipflichten' und 'beistehen' nicht der Fall ist. Bei der zweiten Verwendung kommt jmdn. sekundieren, wie in den Sätzen (24), (28), (30), (31) und (32), neben eine Sache sekundieren - in (25), (26), (27) und (29) - vor. Für die dritte Verwendung schließlich ('als Sekundant tätig sein', im weitesten Sinn) gibt das Deutsche Fremdwörterbuch nur einen Beleg, aus dem der Kasus hervorgeht, nämlich: (33) Er wird sich nun nicht schlagen, Madame, so wie ich ihn nicht Sekundiren werde (1858).142 Ob sekundieren im Sinne von 'als Sekundant tätig sein' ursprünglich den Akkusativ oder den Dativ regierte (oder sogar beide Kasus von Anfang an möglich waren), ist unklar. Der Akkusativ scheint etwas älter zu sein (wir sahen, daß er auch als der angestammte Kasus des Verbs zu gelten hat), er wird aber auch bei sekundieren 'als Sekundant tätig sein' seit dem Ende des 19. Jahrhunderts allmählich durch den Dativ ersetzt. Alle modernen Wörterbücher verzeichnen in dieser Verwendung auf jeden Fall nur noch den Dativ.143 Der Kasuswandel bei sekundieren 'als Sekundant tätig sein' vom Akkusativ zum Dativ bestätigt damit eine generelle paradigmatisch motivierte Kasusverteilung. Der (heute anscheinend seltenere) Akkusativ hat sich über142 143

DF, IV, 111-112. DUW, 1386, Sp. 2; WDG, V, 3384, Sp. 1; BWDW, V, 725, Sp. 2; WDW, 1429, Sp. 1. In GWbdS, VI, 3069, Sp. 1-2 wird die Dativrektion des Verbs im Sinne von 'Sekundant sein bei einem Duell' vom allgemeineren Sinn 'persönlich betreuen, beraten', besonders bei 'Boxen und Schach' abgehoben: von wem wird der Titelverteidiger sekundiert?

558

Lehnwörter mit adverbalem Dativ

wiegend dann als eine Variante des Dativs behaupten können, wenn die Systembedeutung 'unterstützen' ganz allgemein intendiert und realisiert wird, während der Dativ - und zwar auch in der Gegenwartssprache - überwiegt, wenn von musikalischer Begleitung oder von (persönlicher) Betreuung, vornehmlich als Sekundant, die Rede ist. Einen Übergang zwischen den Termini des paradigmatischen Unterschieds zeigen sowohl die Sätze (9) und (10) als auch die beiden folgenden Beispiele: (34) Sie wurde bei der Arbeit immer von mir sekundiert (35) Die dichten Augenbrauen wurden sekundiert von Haarbüscheln in Ohr und Nase.144 In den vier Beispielen (9), (10), (34) und (35) fällt freilich auf, daß der Dativ nicht direkt durch den Akkusativ ersetzt ist, sondern vielmehr ein "kasusloser" Gebrauch des Lexems sekundiert vorliegt, das bald quasi-adjektivisch - wie in (9) und (10) - , bald als zweites Partizip in Passivsätzen verwendet wird, wie in (34) und (35). Dies dürfte vorläufig noch als eine wesentliche syntaktische Einschränkung im Vergleich zur Akkusativrektion des Verbs sekundieren im heutigen Deutsch zu deuten sein. Die Tatsache, daß der geschichtlich nachvollziehbare paradigmatische Unterschied zwischen sekundieren + Dativ und sekundieren + Akkusativ weniger ausgeprägt ausfallt als die paradigmatischen Differenzen, die bei den meisten anderen Verben der GRUPPE C festgestellt werden konnten (zum Teil sicherlich, weil der Kasuswandel vom Akkusativ zum Dativ bei sekundieren relativ jung ist), beeinträchtigt in keinerlei Weise das Prinzip der paradigmatisch motivierten Kasusverteilung als solcher. Vielmehr muß sie als ein Beweis dafür angesehen werden, daß man deutlich zwischen der unterschiedlichen konkreten Gestaltung des Kasusparadigmas im Zusammenhang mit jeweils verschiedenen Verben einerseits und der kasusparadigmatischen Differenz zwischen Akkusativ (bzw. Genitiv) und Dativ andererseits unterscheiden muß: Jene Gestaltung ist ein graduelles Phänomen, sofern verschiedene Verben (und deren linguistische Analyse) im Spiele sind, diese Differenz aber ist nie graduell, sondern immer klar delimitiert und eben oppositiv begründet (s. § Π.4.).

144

vgl. DUW, 1386, Sp. 2.

VII. Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

VII.O. Allgemeine Charakterisierung Deutsche Verben, die ehemals einen adverbalen Dativ regierten, in der heutigen Hochsprache jedoch nicht mehr in dieser Kombination verwendet werden, gehören strenggenommen nicht mehr zum Gegenstand unserer Untersuchung. Dennoch ist es interessant, anhand einiger solcher Verben der Frage nachzugehen, ob es unter Umständen ein gemeinsames Motiv für die ehemalige Dativrektion gegeben hat und welche die Gründe waren, die den Untergang des adverbalen Dativs beeinflußt oder gar bewerkstelligt haben. Wir wollen in diesem Kapitel VII darlegen, daß ein solches Motiv bei einer Reihe von Verben tatsächlich bestanden hat und daß auch die Gründe für das Verschwinden des Dativs sehr oft übereinstimmend sind. Die Diskussion gliedern wir in vier Abschnitte. In den ersten drei Abschnitten (§ VII. 1., § VII.2. und § VII.3.) gehen wir etwas ausführlicher auf die einzelnen Verben hofieren, rufen und gnaden ein, die zumindest laut einigen zeitgenössischen Quellen zur deutschen Sprache auch heute vereinzelt noch den Dativ regieren können, z.T. regional bedingt. Im vierten Abschnitt (§ VII.4.) wenden wir uns dann Verben des Typs betten, gürten, satteln, binden usw. zu, die - wie eine noch zu präzisierende Liste von Verben - vor allem im Mhd. und Frühnhd. mit einem adverbalen Dativ verbunden werden konnten. Während diese Verben im älteren Deutsch sowohl mit Dativ- als auch mit Akkusativrektion - einige sogar vorwiegend mit Dativrektion - belegt sind, regieren sie in der deutschen Gegenwartssprache nur noch den Akkusativ, oder die Verben sind einfach verschwunden. Der Kasuswandel vom Dativ zum Akkusativ möchten wir durch die allmähliche syntaktische Defiinktionalisierung des Dativs begründen, die mit einem lexikalsemantischen Wandel einhergeht.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

VII. 1. hofieren Die meisten zeitgenössischen Wörterbücher der deutschen Gegenwartssprache nehmen hofieren als ein Verb auf, das den Akkusativ regiert: einen Gast, Künstler hofieren; der am meisten hofierte Tourist Europasjmdn. hofieren1·, seinen Abteilungsleiter, die Chefin hofieren3; einen berühmten Künstler, angesehenen Politiker, Gast hofieren.4 Klappenbach und Steinitz geben auch zwei Beispiele aus der Literatur: (1) (2)

Dieser Kaiser mit der Seele eines Parvenu hofierte unentwegt die reichen Leute, Heinrich Mann (1871-1950)5 denn das Unglück ist eine eitle Frau und will hofiert sein, Kurt Tucholsky (1890-1935).6

Nur im Deutschen Wörterbuch von Hermann Paul (9. Auflage) wird noch behauptet, daß hofieren in der Bedeutung 'sich unterwürfig, schmeichlerisch gegen jmdn. benehmen' den Dativ regiere7, was angesichts der beiden zitierten Belege von Heinrich Mann und Kurt Tucholsky heute allerdings nicht mehr zutreffen dürfte. Den anderen Wörterbüchern hat Pauls Deutsches Wörterbuch jedoch voraus, daß darin die veraltete Dativrektion bei hofieren zumindest noch erwähnt wird, eine Rektion, die im Mhd. und bis tief ins Neuhochdeutsche hinein nahezu die ausschließlich belegte ist.8 Den Belegen nach zu urteilen ist das Verb hofieren in mhd. Zeit im Laufe des 13. Jahrhunderts entstanden.9 Das ursprüngliche hofieren (bzw. mhd. hovieren) war eine einfache denominale Verbalableitung zu Hof, ungefähr mit der Bedeutung 'in festlicher Geselligkeit sich erfreuen, aufwarten, musizieren, einherstolzieren'.10 Belege bei Peter Suchenwirt (ca. 13201395), Berthold von Holle (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts), Hans von Bühel (ca. 1360-1429/44), Oswald von Wolkenstein (ca. 1377-1445) u.a. zeigen, daß hofieren auf jeden Fall häufig in absoluter Verwendung vorkam, und 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

GWbdS, IV, 1623, Sp. 2. WDW, 804, Sp. 2. BWDW, III, Sp. 630, Sp. 1. WDG, III, 1881, Sp. 2. a.a.O. a.a.O. Paul '1992, 415, Sp. 2, mit dem Zusatz: "wie den Hof machen-, veralt.". s. DW, IV, 2, Sp. 1681-1684. DW, IV, 2, Sp. 1681; Kluge/Seebold 1995, 379, Sp. 2. Pfeifer 1993, 549, Sp. 2.

hofieren

561

wahrscheinlich ist dies auch der ursprünglichste Gebrauch des Verbs. Der absolute Gebrauch ist freilich auch in Verbindung mit Präpositionalphrasen belegt; vgl. u.a. folgende Belege: (3)

(4) (5)

Das er denn mit gewaltes crafft Nach sinem willen regniere Vnd uppentlichen hofiere 'Daß er denn mit der Kraft der Gewalt nach seinem Willen regiere und öffentlich hofiere', Hans von Bühel (ca. 1360-1429/44)11 singen, tanzen und hofieren, Peter Suchenwirt (ca. 1320-1395)12 do kan die sei hofieren mit fröiden on alles we 'da kann die Seele mit Freuden und ohne Schmerzen hofieren'.13

In einigen absoluten Verwendungen bringt hofieren schon nicht mehr nur 'sich in festlicher Geselligkeit erfreuen', sondern (eventuell zusätzlich) das Merkmal 'dienen, aufwarten' zum Ausdruck, wie z.B. in: (6)

die alle vor dem essen und der tafeln musten sten und hofieren (ca. 1465-1467).14

Neben dem absoluten Gebrauch scheint sich das Verb schon bald mit valenzerweiterndem Objekt durchgesetzt zu haben.15 Generell gilt, daß der zusätzliche Aktant im Dativ steht und eine Person nennt, der man durch bestimmte Tätigkeiten, durch Unterhaltung usw. dient oder der man 'den Hof macht', vgl.: (7) Vff alles, das da lebet, (...) Das sol alles hofiern Der hochgelobten prautt 'Auf alles, was da lebt (...) das soll alles im Dienste stehen für die hochgelobte Braut (= Maria)' (14./15. Jh.)16 11 12 13 14 15

16

Diocletianus Leben, 1072-1074. BMZ, I, 700, 50. BMZ, I, 701, 3-4. BMZ, I, 701, 15-17. In absoluter Verwendung wurde hofieren jahrhundertelang auch als Euphemismus für lat. cacare verwendet (Belege von G. von Keisersberg bis Goethe), s. DW, IV, 2, Sp. 1684; vgl. BMZ, I, 701, 22, ΜΗ, I, Sp. 1371 und Stieler 1691, Sp. 846. Liederbuch der Clara Hätzlerin, I, 125, 193.

562 (8)

Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

Des muos der arm man erwarten: er muos dem juristen hoffieren und zarten 'Darauf muß der arme Mann gefaßt sein: Er soll freundlich sein zum Juristen und ihm schmeicheln' (1. Hälfte des 15. Jahrhunderts)17.

Es sind Verwendungen, in denen hofieren für 'dienen', 'den Hof machen' usw. steht, aus denen sich schließlich der Bedeutungsansatz entwickelt, der zur allein vorherrschenden Bedeutung im modernen Deutsch wurde und eine Art Schmeicheln bezeichnet, nämlich: 'sich (mit dem Ziel, etwas Bestimmtes zu erreichen) mit besonderer (unterwürfiger) Höflichkeit und Dienstbarkeit um jemands Gunst bemühen'.18 Anders als sein Vorgänger Walther Mitzka bringt Elmar Seebold die Bedeutung von hofieren 'sich gesellig (wie am Hof) verhalten, den Hof machen' mit dem französischen faire la cour in Verbindung.19 Ob es dazu hinreichende Gründe gibt, ist fraglich. Für die Kasusmorphologie scheint der Hinweis auf das Französische allerdings erhellend zu sein, denn im Französischen heißt es nicht *faire quelqu'un la cour, sondern - wie bei bereits analysierten Verben wie telephoner, imposer usw. - faire la cour ά quelqu'un. Entsprechend scheint jmdm. hofieren auf jmdm. den Hof machen hinzuweisen.20 Eine Entlehnung aus dem Französischen liegt jedoch nicht vor. In seinem Französischen Etymologischen Wörterbuch unterscheidet Walther von Wartburg neben der Redensart faire la cour ά quelqu'un 'chercher ä gagner les graces de quelqu'un par des assiduites' noch zwei weitere Redensarten, nämlich faire sa cour 'se presenter ä la cour du souverain pour lui temoigner son respect' und (jüngeren Datums) faire la cour de quelqu 'un 'lui rendre de bons offices aupres de quelqu'un'.21 Diese Redensarten sind aber, wie auch andere Nachschlagewerke bestätigen, erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts belegt, faire la cour ά unefemme 'lui manifester son admi17 18 19

20

21

Des Teufels Netz, 3751-3752. GWbdS, IV, 1623, Sp. 2; idem DUW, 728, Sp. 3. Kluge/Seebold 1995, 379, Sp. 2 (s. auch die frühere Bearbeitung durch E. Seebold, 22. Auflage, 1989, 313, Sp. 2). Übrigens konnte auch das Verb buhlen im Sinne von 'hofieren, den Hof machen', einigen Belegen zufolge, den Dativ regieren: nachdem aber etliche herren dem fräulein buhleten, Hans von Schweinichen (1552-1616), s. DW, II, Sp. 502. von Wartburg 1922ff, II, 1, 850, Sp. 2, s.v. lat. cohors, Verwendung Nummer 2: '(Fürsten-)Hof; die beiden anderen Verwendungen sind 'Hof eines Hauses' und 'Gerichtshof .

hofieren

563

ration, se montrer assidu, attentif, courtois, galant aupres d'elle en vue de lui plaire' sogar erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts (1651).22 Zwar scheint die deutsche Wendung jmdm. den Hof machen erst in das spätere 18. Jh. zu fallen23, alle Textbedeutungen aber, die jene französischen Verwendungen zum Ausdruck bringen, sind im Deutschen im Gebrauch des Simplex hofieren bereits seit dem 13. Jh. belegt, so daß von einem Einfluß des Französischen auf das Deutsche, sowohl in lexikalsemantischer als auch in kasusmorphologischer Hinsicht, schließlich nicht die Rede sein kann.24 Im Deutschen Wörterbuch wird folgende Genealogie der Verwendungen von jmdm. hofieren vorgeschlagen: 'allgemein einem dienste leisten, wie sie bei einem hof (...) verlangt werden'25, eine Bedeutung, die in 'sich einem höflich, zuvorkommend, dienstbereit zeigen, einem schmeicheln' übergeht26. In dieser Verwendung konkurriert hofieren übrigens lange Zeit mit zwei anderen Verben, nämlich höfein und höfelieren, die anscheinend sowohl den Dativ als auch (weniger oft belegt) den Akkusativ regieren konnten.27 Sodann: 'um eine frau sich bemühen, um sie werben, ihr den hof machen' und, daran anschließend, der Frau zuliebe Künste vorweisen, singen, Ständchen bringen usw.28 So konnte hofieren, nach wie vor den Dativ regierend, im Sinne von 'musik machen, musicieren' verwendet werden, mit oder ohne Dativobjekt, wie z.B. in:

22 23 24

25 26 27

2!

Le Robert, II, 1002, Sp. 1. s. DW, IV, 2, Sp. 1658. Auch von frz. courtiser kann kein bestimmender Einfluß herrühren. Das Verb ist dem it. corteggiare nachgebildet und erscheint um 1550 im Französischen, s. Le Robert, II, 1022, Sp. 2. Beim Wort courtois merkt W. von Wartburg an, seine Bedeutung habe sich "zuerst an dem ideal des höfischen ritters des 12. jhs. gebildet. Der einfluss der frz. literatur und des bildungsideals hat das wort auch in andere sprachen getragen", u.a. in das Deutsche, mhd. kurtois, s. von Wartburg 1922ff, II, 1, 852, Sp. 2 (Anm. 7). Das mhd. Adjektiv hövisch/hövesch 'höfisch' ist eine Lehnbildung nach frz. Vorbild. DW, IV, 2, Sp. 1681. DW, IV, 2, Sp. 1682. vgl. DW, IV, 2, Sp. 1663: sie wurde von vielen wegen ihrer Schönheit gehöfelt; wenn die junker den bettlem im dorfhöfelen... Die Formen höfein und höfelieren wurden vermutlich etwa bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebraucht, zumindest in der Schriftsprache. Beide Verben konnten im Sinne von 'in gesellschaft sein' (auch 'nach hofart sich betragen') und 'jmdm. den hof machen' verwendet werden, s. DW, a.a.O. DW, IV, 2, Sp. 1682.

Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

564 (9)

man mus dem teufel das creuz ins angesicht schlahen, und nicht viel pfeifen noch hofiren, Luther29

(10) mit einer hellen stimm geziert, den leuten sie (die nachtigall) des nachts hofiert (1548)30 (11) darzu kunt si harpfen und geigen und ander seitenspil... auf dem mer hub sie an zhofieren, Ludwig Uhland (1787-1862).31 Der Gebrauch von hofieren im Sinne von 'Musik machen' (deverbale Ableitung: Hofier ei22), abwechselnd in einstelligen Konstruktionen, zweistelligen Konstruktionen und solchen mit Präpositionalphrase, ist besonders klar in den sog. Nürnberger Polizeiordnungen des 15. Jahrhunderts belegt, vgl.: (12)

Was man den gesellen und hofierern, die von der praut oder irer lautmerung wegen oder inn annder weyse hofieren, geben mac (Überschrift)33

(13) .. .gesellen, die ye zu zeyten von ainicher prawt und lawtmerung wegen nachts mit den stattpfeyffern iren freunden hojfieren34 (14) pfeyffern, hegein und pusawnern, die inn auf dieselben zeyt zu dem tanntz hofieren und dienen?5 Die Akkusativrektion bei hofieren ist vor dem 20. Jh. nur ganz selten belegt. Einer der frühesten Belege ist wahrscheinlich folgender: (15) also hoffiert Ulenspiegel die brut mitt dem iungen hengst, mit schonen springen (1519).36 29 30 31 32

33

34 33 36

DW, IV, 2, Sp. 1683. a.a.O. a.a.O. oder mhd. hovierer, vgl. ΜΗ, I, 1371, Sp. 1; BMZ, I, 701, Sp. 1; DW, IV, 2, Sp. 1685. Nürnberger Polizeiordmngen aus dem XIII. bis XV. Jahrhundert, hrsg. von J. Baader (1861), 75. a.a.O. Nürnberger Polizeiordmngen, 90. Beleg aus Till Eulenspiegel, nach der Ausgabe von J. Lappenberg (1854), die eine Vorlage aus dem Jahr 1519 abdruckt. Die Ausgabe von H. Knust nach der Vorlage aus dem Jahr 1515 hat in diesem Passus einen Dativ: also hoffiert Ulenspiegel der brut mitt dem iungen hengst, mit schonen springen, s. Till Eulenspiegel (1884), 106. Die Übersetzung von Helmut Wiemken, die die Ausgabe von 1515 benutzt, behält den Dativ bei: "da hofierte Ulenspiegel der Braut auf dem jungen Hengst mit schönen Sprüngen", Die Volksbücher von Till Ulenspiegel, Hans Ciawert und den Schildbürgern (1962), 115.

hofieren

565

Regional ist dem Bayerischen Wörterbuch von Johannes Andreas Schmeller zufolge auch eine Akkusativrektion üblich, hier aber im Sinne von 'traktieren', d.h. 'freihalten', z.B.: (16) einen mit Brandwein, Bier sc. hofleren}1 In Sätzen wie (16) markiert der Akkusativ gegenüber den Verwendungen mit Dativ einen systematischen paradigmatischen Unterschied in der Redebedeutung. Die transitive, auf das Bairische beschränkte Verwendung 'freihalten' hat sich vermutlich über den Schmellerschen Beleg im Deutschen Wörterbuch bis tief ins 20. Jh. in Wörterbüchern erhalten.38 Abgesehen von Beleg (15), für den eine Variante mit Dativ existiert, und (16), der eine andere (regionale) aktuelle Bedeutung belegt als die Dativrektion, fanden wir für hofleren -I- Akkusativ 'den Hof machen' nur im 20. Jh. Beispiele, u.a.: (17) Irine machte es Spaß, von zwei 'erwachsenen Jungens' und einem Auto hofiert zu werden (1930).39 Noch in der 10. Auflage von R. Pekruns Deutschem Wort (1966) sowie in der 7. Auflage des Sprach-Brockhaus (1967) wird hofieren ohne weiteres als ein intransitives Verb mit adverbalem Dativ bezeichnet.40 Erst die 8. Auflage des Sprach-Brockhaus aus 1972 erklärt hofieren zu einem transitiven Verb, wie schon die erste Auflage des Großen Deutschen Wörterbuchs von Gerhard Wahrig 1967 es gemacht hatte.41 Der Wechsel vom Dativ zum Akkusativ ist freilich nicht so abrupt vor sich gegangen, wie es die Daten der Wörterbücher nahelegen könnten. Daß sich der Akkusativ im gegenwärtigen Deutsch als alleiniger Kasus durchgesetzt hat, zeigt, daß der ursprüngliche Dativ allmählich als vollkommen funktionslos empfunden wurde. Das sowieso eher selten gebrauchte Verb hofieren fügt sich damit nicht nur in die Reihe der -ieren-Verben ein, die außer den im Abschnitt VI.l. analysierten Fremdwörtern so gut wie alle tatsächlich den Akkusativ regieren. Der Kasuswechsel bei hofieren vom Dativ zum Akkusativ, der heute als abgeschlossen gelten kann, belegt darüber

37 38

39 40 41

Schmeller 1827ff, I, Sp. 1061. vgl. DW, IV, 2, Sp. 1684; Sanders 1876, I, 774, Sp. 3; Sanders/Wülfing 1924, 325, Sp. 2; Pekrun 1966, 376, 2. Trübner 1939ff, III, 462, Sp. 2. Pekrun 1966, 323, Sp. 2; Der Sprach-Brockhaus 1967, 294, Sp. 2. s. Der Sprach-Brockhaus 1972, 298, Sp. 1 sowie WDW (1967), Sp. 1808.

566

Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

hinaus einmal mehr die systematische Hierarchie, die zwischen den morphologischen Kasus besteht. In dieser Hierarchie steht der Akkusativ höher als der Dativ, weil der Akkusativ der Kasus ist, der mit der klassischen Verbindung von Subjekt (Nominativ) und Prädikat (Verb) enger verbunden ist als der Dativ. Solange hofieren in verschiedenen Redebedeutungen verwendet wurde, konnte sich der Dativ offensichtlich behaupten. Die historische Rekonstruktion zeigt, wie sich vor allem der absolute Gebrauch und der zweistellige Gebrauch (in beiden Fällen eventuell mit zusätzlicher Präpositionalphrase) abwechseln konnten. Es war z.B. relevant, die Person, der das Hofieren gilt, kasusmorphologisch auszuzeichnen, solange das Verb hofieren auch im Sinne von 'Musik machen' verwendet wurde. In diesem Fall unterscheidet sich der Inhalt des Hofierens von der Person, für die musiziert wird - auch wenn sich das, wie wir sahen, in der Kasusgeschichte des Verbs hofieren in keiner dreistelligen Verwendung niedergeschlagen hat. Darüber hinaus ist die paradigmatische Opposition zwischen hofieren + Akkusativ 'freihalten* und hofieren + Dativ 'den Hof machen; dienen, aufwarten; musizieren', die Schmeller in seinem Bayerischen Wörterbuch erwähnt, auf das Bairische beschränkt geblieben.42 Parallel aber zur Einschränkung jener Vielfalt an kontextuellen Verwendungsmöglichkeiten auf nur eine einzige semantische Verwendung, nämlich 'sich durch Höflichkeit und Dienstbarkeit um jemands Gunst bemühen', wurde die Rolle des Dativs, und damit auch die funktionelle Eigenbedeutung des Kasus in syntaktischer Hinsicht, anscheinend überflüssig, und der Dativ konnte durch den hierarchisch höheren Akkusativ ersetzt werden. Damit vollzog sich nicht nur die Defunktionalisierung des adverbalen Dativs, sondern auch die Eingliederung des Valenzund Kasusrahmens von hofieren in die syntaktische Normalität und Systematik. Dieser Prozeß ist zugleich ein weiterer Beweis dafür, daß der deutsche Sprachgebraucher den adverbalen Dativ im modernen Deutsch oft eben nicht für funktionslos hält - und sei dies auch nur ein Beweis ex negative.

42

Schmeller 1827ff, I, 1061.

rufen

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VII.2. rufen Das Verb rufen ist insbesondere in der strukturalistischen und nachstrukturalistischen Debatte über die Oberflächenkasus ein beliebtes und entsprechend oft zitiertes Beispiel geworden (vgl. § 1.2.5.). H. Brinkmann vertrat die These, daß zwischen jmdn. rufen und jmdm. rufen ein deutlicher semantischer Unterschied bestehe. Regiert rufen den Dativ, sei gemeint, daß jemand einer anderen Person etwas zurufe, während bei Akkusativrektion im Objekt höchstens etwas dem Prädikat Externes genannt werde. Somit steht nach Brinkmann ich rufe dir (etwas zu) etwa ich rufe dich (zu mir) gegenüber.43 Wie wir sahen, pflichtet nicht nur L. Weisgerber, sondern auch H. Wegener der Brinkmannschen Analyse bei.44 Daß Weisgerbers ideologisch-soziale Interpretation der Kasusalternative bei rufen auf einem Irrtum beruht, brauchen wir hier nicht ausführlich darzutun. Gemäß unserem funktionellen Ansatz verdient statt dessen vor allem Brinkmanns Argumentation unsere Aufmerksamkeit. Diese scheint nämlich zum Teil unsere funktional-diakritische Erklärung des adverbalen Dativs vorwegzunehmen, insofern jmdm. rufen womöglich auf ein implizites (Akkusati v-)Objekt verweist: jmdm. etwas (zu-)rufen. Entscheidend ist nun aber die Frage, ob es für diese Deutung auch historische Evidenz gibt, aus der hervorgeht, daß der Dativ die Verbalhandlung, das Rufen, auf eine andere Weise spezifiziert als der Akkusativ. Erst dann läßt sich beurteilen, ob H. Brinkmann - und mit ihm H. Wegener - in der Analyse einen wirklich bestehenden Sachverhalt wiedergibt oder ob nur eine linguistisch gar nicht zwingende Erklärung vorliegt, die mehr dem strukturalistischen Bilateralitätsprinzip "eine Form - ein Inhalt" verpflichtet ist als der konkreten (geschichtlichen) sprachlichen Wirklichkeit. Daß rufen in der älteren Sprache nicht den Akkusativ, sondern den Dativ regierte, kann als gesichert gelten.45 Die Fügung mit dem Akkusativ ist im Ahd. nicht belegt. Meist wird ruofan46 absolut verwendet, wie z.B. in: (1)

43 44 45 44 47

Riaf er thö ubarlüt, thäz iz hörta ther Hut 'Da rief er sehr laut, damit das Volk es hörte', Otfrid47

Brinkmann 1971, 407; vgl. schon Brinkmann 1953, 105. Wegener 1985, 181. s. Paul 1916ff, III, 388 und Dal 1966, 6. s. AW, 242, Sp. 1. Piper, III, 16, 61.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

(2) Ih muöhta mih ruöfendo 'Ich mühte mich laut schreiend ab', Notker.48 In mehrstelligen Konstruktionen wird das Verb oft in Verbindung mit einer Präposition gebraucht (vor allem mit zi, aber auch after und an kommen vor): (3) (4)

Thö bigan er uuüafen, zi drühtine ruafert 'Da begann er zu weinen und den Herrn anzurufen', Otfrid49 Üzzer derο tiefe dero sundon rucfta ih ze dir truhten 'Aus der Tiefe der Sünden rief ich dich an, ο Herr', Notker.50

Regiert das Verb hingegen einen reinen Kasus, dann ist dies im Ahd. der Dativ, vgl.: (5)

thaz ίr in then suorgön rüafet thesen bergon, bittet sie, thaz sägen ih, sie fällen ubar iuih 'daß ihr in der Besorgnis zu den Bergen ruft (bzw. 'sie anruft'51), sie bittet, das sage ich, daß sie über euch fallen', Otfrid.52

Im Mhd. ist neben dem starken Verb ruofen auch das schwache rüefen belegt, und beide Formen werden durcheinander verwendet, ohne daß zwischen beiden ein nachweisbarer Unterschied in der Bedeutung oder auch nur im Gebrauch besteht.53 Im klassischen Mhd. ist bei ruofen/rüefen eine ausgeprägte paradigmatische Systematik vorhanden, die dem Unterschied zwischen a) der intransitiven Verwendung mit Dativ der Person bzw. des Lebewesens im allgemeinen und b) der transitiven Verwendung mit Akkusativ der Sache entspricht. Beide Verwendungen realisieren eigene Redebedeutungen, vgl.: a) intransitiv 'zurufen'; aus dem Kontext geht hervor, daß oft 'zu sich rufen' gemeint ist: (6) hie mite begunde er überlüt den hunden ruofen: "zä, zä, zä!" vil schiere wären s'alle dä und stuonde ob ir spise 48 49 50 51 52 53

Piper, II, 263, 26-27; lat.: Laboraui clamans. Piper, IV, 18, 39. Piper, II, 561, 4-5; lat.: Deprofundis clamavi ad te domine. s. Kelle 1870, 351, 86. Piper, IV, 26, 43; lat.: tunc incipient dicere montibus: Cadite super nos. In der Regel sind die schwachen Formen bekanntlich transitive (kausative) Verben, vgl. fallen!fallen, trinken/tränken, sinken/senken usw.

rufen

(7) (8)

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'danach fing er an, sehr laut die Hunde zu sich zu rufen: "za, za, za!" bald waren alle da und hingen über ihrem Essen', Gottfried von Straßburg54 und dö er hiez Lazarum üfstän, dö ruoft er im unde sprach55 (...) unz er ir rief anderstunt. J A

J Α

,

Λ

Α.

do kerte si sa unde antwurt im dä. si sprach "wer ruofet mir? wer?" er sprach "vrouwe, keret her. " '(...) bis er sie zum zweiten Mal rief. Dann kehrte sie sich schnell um. Sie sagte: "wer ruft mich? wer?" Er sagte: "gnädige Frau, komm zurück'", Hartmann von Aue;56 b) transitiv 'ausrufen' (einen Schrei u.ä.): (9) daz er uon dem roffe, den sante Iohannes, der gotes toffxre, in der woste rofle, scribet 'daß er von dem Ruf, den der heilige Johannes, der Täufer Gottes, in der Wüste rief, schreibt'57 (10) Nu hiez man ruofen in den sal eine stille über al 'Jetzt hieß man in den Saal rufen, daß es überall still sein soll', Gottfried von Straßburg58 (11) da begunde man den fride pan rüeffen 'dann fing man an, das Friedgebot (das Zeichen, daß das Turnier zu Ende ist) auszurufen' (ca. 1250-1260).59 Die paradigmatische Verteilung ist in den mhd. Wörterbüchern auch als solche kodifiziert.60 Anders als in den Beispielsätzen mit Dativrektion, in denen das Dativobjekt das "Ziel" des Rufens bezeichnet, präzisiert das Akkusativobjekt in den Sätzen (9) bis (11) den Inhalt des Rufens selbst, die Ob54 55 56 57 58 59 60

Tristan, 3012-3015. BMZ, II/l, 804, 51-52. Iwein, 3614-3618. Speculum Ecclesiae, 118, 17-18. Tristan, 11225-11226. Biterolf undDietleib, 9372-9373. vgl. ΜΗ, II, 547; BMZ, II/l, 804; Lexer 34 1974, 173, Sp. 3.

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jekte nennen nicht die Instanzen, denen das Rufen gilt. In (9) haben wir es sogar mit einem inneren Objekt zu tun (einen Ruf rufen), das im Deutschen mit dem Dativ unvereinbar ist. Ferner kommen auch doß-Inhaltssätze vor, die die Rolle des Akkusativs erfüllen, vgl.: (12) Hagene ruofle lüte, daz in des niht verdröz 'Hagen rief laut, daß ihn das nicht verdroß'.61 Obwohl eine klare syntagmatische Konstruktion mit einem Dativ und einem morphologischen Akkusativ nicht zu belegen war, kommen bei Verwendungen mit dem Dativ der Person bisweilen Inhaltssätze oder pronominale Objekte vor, die funktional die Rolle eines Akkusativobjekts erfüllen, z.B.: (13) alle zungen suln ze gote schrien wäfen und rüefen im, wie lange er welle släfen, Walther von der Vogel weide62 (14) nu was daz vil unbewant swaz man ime dä gerief 'nun war alles vergeblich, was man ihm zurief, Hartmann von Aue.63 Ein Akkusativ der Person war im klassischen Mhd. ausgeschlossen. Auch Verwendungen mit einem Richtungsadverbial bekommen einen Dativ, wie die folgenden Beispiele belegen: (15) dem kinde rief er dar, Hartmann von Aue64 (16) und machete si schcene mit schcenem seitgedoene, daz iegeltcher dar zuo lief, dirre jenem dar näher rief. 'und er machte sie (= die Musik) schön mit schönem Saitenklang, so daß jeder dorthin eilte und andere herbeirief, Gottfried von Straßburg.65

61 62 63 64 65

Kudrun, 109, 1. Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 33, 25-26. Iwein, 3246-3247. Erec, 316. Tristan, 3568-3572.

rufen

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In der syntaktischen Umgebung ruofen + Richtungsadverbial wird der Dativ im Spätmhd. jedoch allmählich aufgegeben, vgl.: (17) des rüfle konig Wenceslaw di burger von der Zittaw besundern und sprach czu yn 'deshalb rief König W. die Bürger von der Z. beiseite und sprach ihnen zu'66 (18) ez ist diu zit kumen, daz ir gerüefet sit zuo den die da besitzent die kröne der gerehtikeit 'die Zeit ist gekommen, daß ihr gerufen seid zu denjenigen, die da die Krone der Gerechtigkeit besitzen'67 (19) ein wort daz ander rüeft har für 'ein Wort ruft das andere hervor', Ulrich Boner (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts)68 (20) Nu zu dem ersten mole, also der mensche mit sante Janse geruffet wurt von der werlte 'Nun zum ersten Mal, daß der Mensch mit dem heiligen Johannes aus der Welt gerufen wurde', Johannes Tauler (ca. 13001361).69 Die paradigmatische Kasusopposition ist im Mhd. mithin nicht dahingehend zu spezifizieren, daß ein unpersönliches Objekt einen Akkusativ, ein persönliches Objekt hingegen einen Dativ erfordert. Vielmehr bestimmt der Unterschied zwischen "kohärentem" und "inkohärentem" Objekt das Kasusparadigma, egal ob das Objekt persönlich ist oder nicht. Dementsprechend ist es ein Korollar der lexikalischen Bedeutung des Verbs rufen, daß es in der Regel einen Dativ der Person oder einen Akkusativ der Sache an sich bindet, Dativ und Akkusativ sind darum aber nicht an persönliches und unpersönliches Objekt gebunden. Für den Übergang vom Dativ zum Akkusativ bei ruofen mit Richtungsadverbial bietet sich folgende Erklärung an. Im klassischen Mhd. ist dasjenige, was man (aus-)ruft, im Akkusativ ausgedrückt, die Person hingegen, der man etwas zuruft, steht im Dativ. Die Funktionen sind komplementär und können im Prinzip eine syntagmatische Verbindung eingehen, wie z.B. aus den Sätzen (13) und (14) hervorgeht. Wenn nun mit einem Richtungsadverbial de facto das (Aus-)Gerufene oder dessen (beabsichtigte) Wirkung bezeichnet wird, entsteht eine neue verbale Einheit, die nicht mehr einfach ruofen lautet, sondern besundern ruofen, zuo einem ruofen, har für ruofen, 66 67 68 69

BMZ, II/l, 804, 21-23. BMZ, II/l, 804, 24-26. DW,IV, 2, Sp. 1199. Die Predigten, hrsg. von F. Vetter (1910), 70, 3-4.

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von der Werlte ruofen u.dgl. Diese Verbalphrasen haben, mit Fourquet zu sprechen, eine "transitive Bindungsfahigkeit" (s. § Π.2.), und entsprechend weisen die Fügungen den (Akkusativ-)Objekten aus satzsemantischen Gründen eine "kohärente" Stellung im Satz zu. Dasselbe gilt auch für die Belege (9) bis (11), mit sachlichem Objekt: etwas in der wuoste ruofen, etwas in den sal ruofen und den fride pan rüeffen. Die syntaktisch bedingte Verteilung, wobei die traditionelle Dativrektion dem Akkusativ weichen muß, wenn bei rufen ein Richtungsadverbial hinzukommt, ähnelt der Kasusverteilung in vergleichbaren Verwendungen von winken (§ III. 10.), pfeifen (§ m. 11.) und klingeln (§ V. 10.). Die geschilderte Systematik ist auch später noch erkennbar, vgl.: - rufen mit Richtungsadverbial und Akkusativ: (21) so sende gen Joppen vnd las her ruffen einen Simon mit dem zunamen Petrus, Luther, Apg. 10, 32 (22) Denn ewer vnd ewer Kinder ist diese Verheissung vnd aller die ferne sind welche Gott vnser HERR erzu ruffen wird, Luther, Apg. 2, 39 (23) so der vorstehende hund zeichen gibt, wird er zurückgerufen (1681)70 (24) einen vor gericht ruffen, Johann Leonhard Frisch (1666-1743)71 (25) einen vom thurme herrunter rufen71 (26) rufet hier den wanderer, Ludwig Heinrich Hölty (1748-1776).73 - rufen ohne Richtungsadverbial und mit Dativ: (27) rieff er der maget und sprach zu ihr, Erasmus Alberus (16. Jh.)74 (28) gott bleibt gott! wann jhm gefället, ruffet er dem würgeschwerdt, Friedrich von Logau (1604-1655)75 (29) Sie klingelte und rief ihrem Mädchen, Karl Gutzkow (1811-1878).76 Außerdem kommen Verwendungen mit einem Objektsatz vor, der die Rolle eines Akkusativobjekts erfüllt (er drückt aus, was gerufen wird); in dem Sinn kommen nach wie vor syntagmatisch motivierte Dative vor, z.B.: 70 71 72 73 74 75 76

DW, XVI, Sp. 699. DW, VIII, Sp. 1405. Steinbach 1734, II, 307; lat.: de turri aliquem DW, VIII, Sp. 1405. DW, VIII, Sp. 1403. DW, VIII, Sp. 1404. Sanders 1876, II1, 803, Sp. 2.

devocare.

rufen

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(30) hab demnach dem blinden geruffen, stehe still, da ligt etwas, Johann Balthasar Schupp (1610-1661)77 (31) einem ruffen, daß er umkehren solf8 (32) ruf dem pastor - dasz er mir das abendmahl reiche, Schiller79 (33) ruft der mutter, sie soll blutwurzel bringen und pflaster, Goethe80 (34) auf einmal ruft er einem knaben im vorgemach: man hole mir Kombaben, Wieland.81 Im Gegensatz zu pfeifen und winken ist beim Verb rufen der Akkusativ in der Verbindung mit einem Richtungsadverbial in der fnihnhd. Periode allerdings nicht stabil. Überhaupt herrscht in der frühnhd. und der nhd. Periode viel Unsicherheit in bezug auf die Rektion von rufen. Auf der Grundlage des Deutschen Wörterbuchs (s.v. rufen) können wir feststellen, daß seit dem 16. Jh. öfters Schwankungen vorkommen, bei denen rufen auch ohne Richtungsadverbial ein Akkusativobjekt zu sich nimmt, wie in: (35) Ja ich rieff dich bey deinem namen, Luther.82 Solche Fälle werden seit dem 18. Jh. besonders häufig, vgl. etwa: (36) soll ich sie rufen? oder soll ich meine hätte fest vor ihr verschlieszen?, Klopstock.83 Weniger häufig - aber nicht wirklich selten - sind im 16. und 17. Jh. dann wieder Konstruktionen mit einem Dativ bei rufen in Verbindung mit einem Richtungsadverbial; solche Konstruktionen sind später nicht mehr zu belegen, z.B.: (37) da lieffhervür die stättisch mausz und rieff der feldtmausz auch herzu, Erasmus Alberus (16. Jh.)84 (38) ... der die herbe zeit erkann, die ihm zu der arbeit rujft, Andreas Gryphius (1616-1664).85 77 78 79 80 81 82 83 84 85

DW, VIII, Sp. 1403. Steinbach 1734, II, 306. DW, VIII, Sp. 1403. a.a.O. DW, VIII, Sp. 1404. DW, VIII, Sp. 1405. a.a.O. DW, VIII, Sp. 1403. a.a.O.

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Bemerkenswert ist, daß bei ein und demselben Autor Schwankungen vorkommen, so bei Andreas Gryphius, vgl. z.B. Satz (38) mit (39), in dem die Rektion allerdings dem Fourquetschen Konnexionsprinzip entspricht: (39) die heiigen ruffen dir. sie ruffen dich auffsfest, das kannst du nicht begehen, A. Gryphius.86 Geradezu wetterwendisch in der Rektion von rufen ist dagegen die Bibelübersetzung Luthers, in der sowohl in Konstruktionen mit als auch in Konstruktionen ohne Richtungsadverbial bald der Akkusativ bald der Dativ vorkommt, vgl.: (35) Ja ich rieff dich bey deinem namen, vnd nennet dich da du mich noch nicht kandtest (Jes. 45, 4) (40) rüffet der Speisemeister dem Breutgam (Jh. 2, 9) (41) wenn ich gelegene zeit hab, wil ich dir her lassen ruffen (Apg. 24, 25) (42) vnd er rieff zu sich alle Schüldener seines Herrn (Lk. 16, 5). Die auffallend freie Rektion tritt in der Übersetzung einiger Stellen der synoptischen Evangelien besonders klar zutage: (43) Jch bin kamen die Sünder zur busse zu ruffen, vnd nicht die Fromen (Mt. 9, 13) (44) Jch bin kamen zu ruffen den Sündern zur busze, vnd nicht den Gerechten (Mk. 2, 17). Aus solchen Beispielen können wir schlußfolgern, daß Luther die Akkusativund Dativrektion von rufen offenbar als völlig bedeutungslose Varianten auffaßte. Es ist möglich oder sogar wahrscheinlich, daß die Luthersche Bibelübersetzung aufgrund ihres großen sprachlichen Einflusses zur Kasusunsicherheit bei rufen im Nhd. beigetragen hat. Bei Luther, also bereits im 16. Jh., erscheint rufen auf jeden Fall ohne jede Kasussystematik. Freilich wäre es voreilig, zu behaupten, daß Luthers Übersetzung der einzige Grund der Schwankungen ist. Warum es in der Lutherbibel bei rufen bereits so früh an Systematik fehlt, während eine ähnliche Systematik z.B. bei winken und pfeifen (mit nur vereinzelten Abweichungen in der Geschichte) bis auf den heutigen Tag bewahrt geblieben ist, ist schwer zu sagen. 86

DW, VIII, Sp. 1404.

rufen

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Der Vormarsch der Akkusativrektion im Laufe der Zeit läßt sich auch aus den zeitgenössischen Wörterbüchern rekonstruieren. Während Josua Maaler in Die Teütsch spraach (1561) nur Belege mit Dativ verzeichnet, wie: (45) einem mit seinem nammen rueffen 'jmdn. bei seinem Namen rufen'87, verzeichnen Quellen seit dem 17. Jh. immer öfter beide Kasusalternativen. Kaspar Stieler (1691) z.B. unterscheidet: (46) Einen rufen; Einen mit Nahmen rufen; Sollstu nicht kommen / wenn ich dich rufe; Du kommest / als wärestu gerufen; Zeter rufen88 (47) Wer rufet mir; Es hat mir niemand gerufen; Das Glück rufet dir}9 Schreibt Maaler noch einem mit seinem nammen rueffen, Stieler indes schon Einen mit Nahmen rufen, da verzeichnet Steinbach (1734) noch beide Rektionen als möglich: "einen vel einem mit dem Nahmen rujfen"·, der Verfasser scheint aber den Akkusativ zu bevorzugen (später im Artikel zum Verb ruffen erscheint noch einmal einen mit dem Nahmen ruffen).90 Auch die anderen Beispiele bei Steinbach weisen, bis auf zwei, den Akkusativ auf, vgl.: (48) einen mehr als ein Mahl ruffen; mache dich fertig, daß wenn ich dich ruffe, du bald da bist; einen zu Hilfe ruffen; es hat mich niemand gerufft; die Botsleute aus dem Schiffe ruffen usw.91 Zugleich wird immer öfter der Versuch unternommen, die Kasusalternative zu begründen. Bei jmdm. rufen soll der Nachdruck z.B. auf dem 'nomine appellare, inclamare', also dem lauten Anrufen liegen, während mit jmdn. rufen eher das 'arcessere', also das Herbeirufen gemeint sein.92 Hieraus geht hervor, daß Brinkmanns erwähnte Erklärung eine ganze Vorgeschichte hat und man seit Jahrhunderten bestrebt ist, in der Kasusalternative semantische Gründe am Werk zu sehen. Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm steht solchen Deutungen skeptisch gegenüber, und über jene semantische 87 88 89 90 91 92

Maaler 1561, 336, Sp. 2; vgl. DW, VIII, Sp. 1403. Stieler 1691, Sp. 1627-1628. a.a.O. Steinbach 1734, II, 306. a.a.O. vgl. z.B. Stieler 1691, Sp. 1627-1628 sowie auch noch Weigand 1909-1910, II, Sp. 619: "Im Älternhd. steht rufen überwiegend mit Dat(iv) der Person, dagegen mit Akkusativ) der Person mehr im Sinne von 'her-, herbeirufen'; heute gilt der Dat(iv) nur als Ausdruck der gehobnen Rede".

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Unterscheidung schreiben die Autoren93, "als allgemeine regel läszt sich diese Unterscheidung durchaus nicht aufstellen".94 Dem Wörterbuch zufolge bezeichnete rufen ursprünglich den lauten Klang der (menschlichen oder tierischen) Stimme. Es ist diese Bedeutung, die das Wörterbuch dem Verb auch in der ursprünglichen Verbindung mit dem Dativ beimißt. Wenn aber "durch das rufen die aufmerksamkeit jemandes erregt, ein zeichen gegeben wird, jemand erscheinen, zu dem rufenden kommen soll", dann liege eine "Verengerung" des ursprünglichen Begriffs vor, und der Dativ mache Platz für den Akkusativ.95 Daher, so wird hinzugefügt, wird rufen auch von Instrumenten gesagt, "deren schall zum zeichen, zur aufforderung, anfeuerung bestimmt ist", sowie übertragen gebraucht, wie etwa in: die Pflicht ruft mich, etwas ins Gedächtnis rufen,96 Die intuitive Auffassung im Deutschen Wörterbuch trifft insofern zu, als der Begriff rufen bei seiner Realisierung im Satz tatsächlich verengt wird, wenn ein Richtungsadverbial hinzukommt. Eine solche "Verengung" kommt ohne Richtungsadverbial nicht vor, oder sie ist in diesem Fall grammatisch zumindest nicht nachweisbar. Die "Verengung des Begriffs" gehört dann ausschließlich zur Ebene der Bezeichnung. Deshalb ist es auch fehlerhaft, bei rufen mit Akkusativ und ohne Richtungsadverbial ebenfalls eine "Verengung" anzunehmen, als wäre im Akkusativ implizit ein Richtungsadverbial mit ausgedrückt. Das Beispiel die Pflicht ruft mich läßt sich mühelos mit einem Gegenbeispiel aus dem Deutschen Wörterbuch selbst widerlegen, in dem rufen auch von einem Instrument gesagt wird, "deren schall zum zeichen, zur aufforderung, anfeuerung bestimmt ist", aber in diesem Fall regiert das Verb den Dativ: (49) einst ruft auch dir die posaune, Klopstock.97 Das Deutsche Wörterbuch wirft Lexikographen wie Stieler, Frisch und Weigand zwar vor, daß sie den Kasusunterschied bei rufen nur semantisch darstellen, verfährt in der eigenen Beschreibung und Erklärung jedoch kaum anders.98 Einige Wörterbücher versuchen den Kasusunterschied dagegen ex93

94 95 96 97 98

Der Band VIII des Deutschen Wörterbuchs wurde im Jahre 1893 unter der Leitung von Moriz Heyne fertiggestellt. DW, VIII, Sp. 1403. DW, VIII, Sp. 1399. a.a.O. DW, VIII, Sp. 1404. DW, VIII, Sp. 1403.

rufen

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plizit syntaktisch zu erklären. Daniel Sanders z.B. bemerkt, daß der Gebrauch "mit Dativ und Ortsbestimmung" "selten" sei,99 und auch in Hermann Pauls Deutschem Wörterbuch heißt es, daß "auch schon früher der Akk(usativ), nie der Dat(iv) üblich" war, wenn der "Ort, wohin, oder der Zweck, zu dem gerufen wird", angegeben wird.100 Wir können schließen, daß Brinkmann in seiner Analyse zwar mit Recht eine gewisse Systematik in der Kasusrektion von rufen erahnt, daß er sie jedoch weder syntaktisch noch auch in sprachgeschichtlicher Hinsicht richtig zu erfassen vermag. In der Gegenwartssprache ist dreistelliges *jmdn. etwas rufen nicht möglich (statt dessen: jmdm. etwas fzu-Jrufen), wie auch zweistelliges *jmdm. bei seinem Namen rufen nicht möglich ist (statt dessen: jmdn. bei seinem Namen rufen). Brinkmanns Analyse ist somit im Ansatz syntaktisch sinnvoll, aber sie verfällt in eine unzulässige semantische Verallgemeinerung. Wenn Brinkmann behauptet, die Eltern rufen dich bedeute, daß sie das Kind ins Haus holen möchten101, dann hat er nur insofern recht, als die Konstruktion von rufen mit Richtungsadverbial (z.B. zu sich, ins Haus usw. rufen) seit dem Spätmhd. tatsächlich den Akkusativ bevorzugt. Seine Extrapolation aber, die auch im Deutschen Wörterbuch gemacht wird und die besagt, daß auch rufen ohne Richtungsadverbial, aber mit Akkusativ, einfach wegen des Akkusativs ebenfalls auf eine Art Kommen abziele, ist unbegründet. Daß mit rufen + Akkusativ häufig eine Art Kommen ausgedrückt wird, ist erstens ein Korollar der Tatsache, daß der Verbindung von rufen mit einem Akkusativ der Person kein weiterer Akkusativ des Inhalts hinzugefügt werden kann, der dasjenige nennt, was gerufen wird. Zweitens ist es eine Tatsache der Bezeichnung (und nicht der Bedeutung), daß man nicht zwecklos den Namen einer Person ruft, sondern daß mit dem Ausrufen des Namens ein Sinn, eine Absicht verbunden ist. Auch Brinkmanns These, die Mutter ruft dir stehe für 'deine Mutter ruft dir etwas zu',102 macht eine ähnliche unzulässige Extrapolation. Zwar kommen Verwendungen mit einem Inhaltssatz vor, wo tatsächlich jemandem etwas zugerufen wird, wie z.B.: (33) rufl der mutter, sie soll blutwurzel bringen undpflaster, Goethe;103 99 100 101 102

103

Sanders 1876, II1, 803, Sp. 2. Paul '1992, 703, Sp. 1. Brinkmann 1971, 407; vgl. schon Brinkmann 1953, 105. Brinkmann 1971, 407.

DW, VIII, Sp. 1403.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

in zahlreichen Belegen drückt rufen mit Dativ jedoch aus, daß man mit dem Rufen ein Kommen bewirken möchte (was ein Inhalt ist, den Brinkmann gerade rufen mit Akkusativ vorbehalten möchte), und ganz entschieden nicht, daß irgend etwas einfach zugerufen wird, vgl.: (50) die Verklärung ihres (der seele) verflogenen staubes, wenn ihm das nahe gericht ruft, Klopstock104 (51) mein könig und mein herr! du riefst mir, hier bin ich, Klopstock.105 Aus der Beschreibung von rufen im Deutschen Wörterbuch geht hervor, daß zur Zeit seiner Abfassung Dativ- und Akkusativrektion beide noch möglich - und gebräuchlich - waren. Heute gilt dies zumindest für die Hochsprache nicht mehr. Die Geschichte der Kasusrektion läßt sich wie folgt zusammenfassen: Ahd.: absolutes rufen (eventuell + Inhaltssatz) vs. rufen -I- Dativ/Präpositionalphrase: paradigmatische Opposition (Valenzerweiterung); klassisches Mhd.: absolutes rufen (eventuell + Inhaltssatz) und rufen + Dativ/Präpositionalphrase und rufen + Dativ + Richtungsadverbial (der Dativ ist hier zunächst der tradierte Kasus bei rufen) vs. rufen + Akkusativ 'ausrufen': paradigmatische Opposition, eventuell mit einem Dativ der Person (syntagmatisches Motiv); Spätmhd.: absolutes rufen (eventuell 4- Inhaltssatz) und rufen + Dativ/Präpositionalphrase vs. rufen + Akkusativ 'ausrufen': paradigmatische Opposition, eventuell mit einem Dativ der Person (syntagmatisches Motiv); rufen + Akkusativ -I- Richtungsadverbial: paradigmatische Opposition, "kohärenter" Akkusativ; Nhd.: im Prinzip dasselbe Muster wie im Spätmhd., nur dehnt sich der Gebrauch des Akkusativs allmählich aus, bis der Dativ heute aus der Hoch104 105

DW, VIII, Sp. 1404. a.a.O.

rufen

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spräche so gut wie verschwunden ist. Die Kasusunsicherheit fangt bei Luther an und führt zur Lexikalisierung des hierarchisch "höheren" Akkusativs. Unsere Analyse hat gezeigt, daß die Rektion von rufen rein synchronisch nicht adäquat erklärt werden kann. Auf dieses Verb trifft denn auch in besonderem Maße zu, daß syntaktische und semantische Motive verbaler Kasusmorphologie letzten Endes nur anhand einer diachronischen Rekonstruktion verständlich gemacht werden können.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

VII.3. gnaden Im modernen Deutsch ist gnaden fast nur noch in der religiösen Wunschformel Gnade nur Gott üblich. Das Verb ist ansonsten dermaßen selten geworden, daß man sich mit Recht fragen kann, ob es nicht ebenso wie die unpersönlichen Verben mit es und Dativ als syntaktisch-paradigmatisch defektiv zu betrachten ist (vgl. § Π.5.2.). Ein Satz wie Ich habe meinem Bruder gegnadet ist heute veraltet;106 ihm könnte heute höchstens noch Ich bin meinem Bruder gnädig gewesen entsprechen. Die religiöse Bedeutung von gnaden und auch des Substantivs Gnade weist eine sehr lange Tradition auf, sie ist aber keine genuin deutsche Bedeutung. Seit der frühesten schriftlichen Überlieferung hat gnaden (ahd. ginäden oder ginädön) eine Lehnbedeutung von lat. miserere (oder dem Deponens misereri) übernommen, wie auch Gnade (ahd. ginäda) zu einer Entsprechung von lat. misericordia und gratia umgebildet wurde107; in der ganzen Verwendungsgeschichte des Verbs herrschen Verwendungen mit adverbalem Dativ vor (s. unten), so auch im Ahd.: (1) Thö druhtin thaz gimeinta, er thesa uuorolt heilta, then mennisgon in nöti ouh thö ginädoti 'Als der Herr beabsichtigt hatte, daß er diese Welt heilen würde und auch den Menschen in Not gnädig sein würde (d.h.: 'sich ihrer erbarmen würde')', Otfrid.108 In den maßgeblichen etymologischen Wörterbüchern109 sowie in den historisch ausgerichteten Wörterbüchern110 wird angenommen, daß die ursprüngliche, vorchristliche Bedeutung von Gnade im Sinne von 'Sich-Hinlegen, Ruhen' aufzufassen ist und das abgeleitete Verb dementsprechend 'sich zur Ruhe legen, sich neigen' bedeutet. Für diese ursprüngliche Bedeutung können allerdings nur mhd. oder noch jüngere Belege herangezogen werden, für das Substantiv etwa: 106

107

108 109 1,0

DUW, 620, Sp. 3 schließt eine andere Verwendung als den Imperativ 2. Pers. Sg. förmlich aus. Für miserere und misericordia wurden noch andere Wörter geprägt, wie z.B. Barmherzigkeit (ahd. armherzi und Varianten)/iidi erbarmen (ahd. irbarmen und Varianten), Milde (ahd. milti)\ vgl. für eine ausführliche Beschreibung von Gnade und dessen Wortfeld (dem "Caritas-Bezirk") das Buch Gnade. Der althochdeutsche Wortschatz im Bereich der Gnade, Gunst und Liebe von Paul Wahmann (1937). Piper, IV, 2, 1-2. Kluge/Seebold 1995, 329-330 und Pfeifer 1993, 460, Sp. 1-2. DW, IV, l 5 , Sp. 508; Paul '1992, 363, Sp. 1-2; Trübner 1939ff, III, 211-212.

gnaden

(2)

581

ir muoter sprach "waz ob ich des niht wil daz ir mit ir (der Tochter) iht rünet? (...) lät si mit genäden; zechet anderthalben hin " 'Ihre Mutter sagte: "was (würden Sie tun), wenn ich nicht will, daß Sie sich heimlich mit ihr unterhalten? Lassen Sie sie in Ruhe; ziehen Sie sonstwohin (d.h.: 'gehen Sie weg')"', Neidhart von Reuenthal (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts);111

einige Belege weisen eine verbonominale Konstruktion auf, die als solche eine feste Wendung für 'die Sonne geht unter' ist, z.B.: (3) (4)

umb sovil dann die sonne nach rmttemtag widerumb zu gnaden weicht (1564-1566)112 item welcher seinen zins bei sonnenschein nicht gibt, ehe die sonne zu gnade geht (16. Jh.);113

die idiomatische Bedeutung ist im folgenden Beleg rein verbal wiedergegegeben: (5)

der uns täglich die sonn, die zu nacht genadt und von uns weicht, gibt er morgens wider: den sommer, der uns im herbst genadt, gibt er im glentzen wider, Paracelsus (1493-1541).114

Ein zusätzliches Indiz für die ursprüngliche germanische Bedeutung ist an. nadir (Pluralform von näÖ 'Gnade'), das nur 'Friede, Ruhe; Ruhe des Schlafs', nicht aber 'Gnade' bedeutet und in Wendungen vorkommt, die der deutschen Wendung zu Gnaden gehen ähnlich sind, vgl.: (6) var pä ordit myrkt af nott; gengu menn nu til näda ok sväfu af um nottina 'Durch das Hermedersinken der Nacht war es dunkel geworden; die Männer legten sich hin115 und legten nachts die Speere ab'.116 Von dem Inhalt 'sich legen, ruhen' her wäre dann eine übertragene Verwendung im Sinne von 'sich (jmdm.) (freundlich) zuneigen' anzusetzen. Das Deutsche Wörterbuch betrachtet es als "glaubhafter", daß diese Übertragung 111 112 113 114 115 116

DW, IV, l 5 , Sp. 509. DW, IV, I s , Sp. 511. a.a.O. DW, IV, l 5 , Sp. 560. wörtlich: 'gingen zu Gnaden'. Fritzner 1883/1954, II, 779, Sp. 1.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

bereits in vorchristlicher Zeit stattgefunden habe.117 Weil der Stamm des Substantivs Gnade nicht mit heidnischem Inhalt vorbelastet war, hat er sich im Deutschen so erfolgreich und vielfaltig als christlich-religiöser Begriff durchsetzen können.118 Wenn die Verwendung des Verbs im obigen Paracelsus-Zitat tatsächlich die Fortsetzung der ursprünglichen Bedeutung und auch der ursprünglichen Syntax darstellt, dann heißt das, daß gnaden 'sich (zur Ruhe) legen, ruhen' am Anfang absolut war und nur fakultativ einen Dativ zu sich nahm, eben wie im Paracelsus-Zitat, in dem es sich wohl um einen dativus ethicus handelt. Im ahd. Korpus erscheinen lediglich religiöse Inhalte und ist eine absolute Verwendung nur zweimal bei Notker und einmal bei Otfrid belegt. Die absoluten Verwendungen sind allerdings eher als eine Ellipse des sonst üblichen Dativobjekts zu deuten denn als irgendein Rest einer ehemaligen absoluten Konstruktionsweise, vgl.: (7)

Kenädig herro . unde rehter . unde Got unser genadet 'Der gnadenvolle und gerechte Herr und unser Gott ist gnädig', Notker.119

Stützt man sich auf die Belege im Mittelhochdeutschen Handwörterbuch und dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch, sind im Mhd. keine absoluten Verwendungen vorhanden, jedenfalls wurden sie bisher nicht belegt. Auch später erscheint gnaden nur sehr vereinzelt absolut, wie z.B. in: (8) fursten vnd herm gibt er grosse ehre vnd herrligkeit (...) setzet sie auff sammat küssen, lesset jnen knie beugen vnd gnaden, Luther.120 Was den Satzbauplan von gnaden betrifft, ist beim erschlossenen Ursprung und beim entsprechenden absoluten Gebrauch anzunehmen, daß im Sog der inhaltlichen Übertragung von 'sich (zur Ruhe) legen' über 'sich (freundlich) zuneigen' bis 'gnädig sein' der Dativ allmählich zu einem festen Teil des Satzbauplans wurde - und das heißt: zu einem adverbalen Dativ. Diese Erweiterung des Satzbauplans war ein Vorgang, der vermutlich bereits zu Anfang der ahd. Schriftüberlieferung abgeschlossen war.

117 118 119

120

DW, IV, l 5 , Sp. 508; vgl. auch Sp. 563. vgl. Wahmann 1937, 171. Piper, II, 490, 25; lat: Misericors dominus et iustus . et deus noster miseretur. In der Notkerschen Übersetzung handelt es sich bei unser um ein unflektiertes Possessivpronomen, s. Sehrt/Legner 1955, 548, Sp. 2. Dietz, II, 143.

gnaden

583

Ob die skizzierte Valenzerweiterung von gnaden über einen allmählich sich verfestigenden, ursprünglich fakultativen Dativ der entscheidende Faktor in der Entstehung des adverbalen Dativs bei diesem Verb gewesen ist, ist nicht nur mangels Belegen aus dem präliterarischen Deutsch unsicher. Hinzu kommt ein ernstzunehmender semantischer Einwand, auf den wir auch im folgenden Abschnitt noch zurückkommen werden. Jacob Grimm zufolge gehört gnaden nämlich zu jener Gruppe von Verben mit adverbalem Dativ, die sich semantisch dadurch auszeichnen, daß sie ein 'Helfen' zum Ausdruck bringen. Grimm zählt dazu außer ahd. ginädön die Verben ahd. miltan, milten 'Mitleid haben mit', ahd. uridon (fridori), geuriddn (gefridön) 'beschützen', mhd. schönen 'nachgeben', ahd. scirman, mhd. schirmen '(jmdm.) Schutz gewähren' usw.121 Wie noch näher ausgeführt werden soll (s. § VII.4.), läßt sich die Kasusrektion dieser Verben in der Regel analog zu Verben wie ahd. gurtan '(jmdm.) gürten', mhd. satelen '(jmdm.) satteln', mhd. betten '(jmdm.) das Bett machen' usw. erklären, die Grimm als "verba des geräthe anlegens (der toilette), lager und nahrung gebens" beschreibt122 und deren adverbaler Dativ so zu begründen sei, daß man sich einen "ausgelassenen acc(usativ) der sache hinzu denkt".123 Obwohl unmittelbar einleuchtet, daß die Erklärung anhand eines impliziten Objekts des Inhalts - dem Pferd (den Sattel) gürten, dem Ritter (das Schwert) gürten usw. - zu einem allzu leicht handhabbaren, an und für sich jedoch nichts begründenden Hilfsmittel werden kann, scheint die Deutung von jmdm. gnaden im Sinne von 'jmdm. eine Gunst/verzeihende Güte/Nachsicht usw. gnaden' doch durchaus plausibel zu sein. Daß freilich gnaden bis heute seinen alten dativischen Kasus beibehalten hat, während jene Verben (schonen, schirmen, gürten, satteln, betten usw.) mittlerweile alle den Akkusativ regieren oder als Lexeme verschwunden sind, dürfte vor allem dem formelhaften, versteinerten Gebrauch des Verbs in einigen wenigen festen Fügungen zuzuschreiben sein; diese Tendenz setzte übrigens schon in frühnhd. Zeit ein. Es soll nicht übersehen werden, daß gnaden in der ganzen Geschichte der deutschen Sprache gelegentlichen Kasusschwankungen ausgesetzt war. Bei Otfrid erscheint statt des Dativs vereinzelt ein adverbaler Genitiv, und einmal auch eine Verstärkung des Objekts mit der Präposition bi, vgl.: 121 122 123

Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 816ff (Originalpag. 687ff). Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 823 (Originalpag. 693). Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 826 (Originalpag. 693).

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

(9) got ginädoti sin 'Gott wäre ihm gnädig gewesen', Otfrid124 (10) Nu iz άΙΙαζ druhtin, thin ist ginädo bi unsih, so thu bist 'Jetzt, wo alles von dir ist, Herr, sei uns gnädig, wie du bist (d.h.: 'wie es in deiner Natur liegt')', Otfrid.125 Die Ersetzung eines Kasusobjekts durch ein Präpositionalobjekt zur Verstärkung der Beziehung zwischen Verb und Objekt (und nicht um die Beziehung zu spezifizieren, wie normalerweise der Fall ist), kommt in der ahd. Zeit, wie wir sahen, auch bei anderen Verben vor, etwa bei gilouben (s. §111.8.) und getrüen (s. § IV. 1.). Die Genitivrektion könnte auf das Lateinische zurückgehen, wo miserere oder misereri den Genitiv regiert, v.a. in der klassischen Periode (in der nachklassischen und christlichen Literatur erscheint häufig der Dativ).126 Hieronymus verwendet beide durcheinander, sogar in einem einzigen Satz, vgl.: (11) quomodo miseretur pater filiorum, misertus Dominus timentibus se 'wie ein Vater (seinen) Söhnen gnädig ist, so ist der Herr (auch) den ihn Fürchtenden gnädig', Hieronymus.127 Der Einfluß der Genitivrektion rührt v.a. vom berühmten und vielfach zitierten Anfang des Psalms 50 (heute 51) der Vulgata her, der die archetypische Verwendung von miserere bzw. gnaden darstellt: (12) Miserere mei Deus secundam magnam misericordiam tuam, Hieronymus (Ps. 50, 3). Von Notker wird das Verb in der Verbindung mit einem Dativ übersetzt: (13) Gnade mir Got, after dinen michelen gnädon, Notker.128 Diese zentrale Formel hat auch den Gebrauch von gnaden in Verbindung mit einem Objekt (im Dativ oder sehr vereinzelt im Genitiv) gefördert (absolute Verwendungen sind selten, vgl. oben [7] und [8]). Die normale Verwendung ist denn auch im Mhd. gnaden + Dativ 'sich einer Person erbarmen', z.B.:

124 125 126 127 128

Piper, II, 6, 46. Piper, V, 24, 15. s. Blaise/Chi rat 1954, 534, Sp. 2. a.a.O. Piper, II, 194, 10.

gnaden

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(14) hern Albers tohter des Drvhsastzen von Velsperch, so im got genad.129 Obwohl gnaden sowohl in lexikalsemantischer als auch in syntaktischer Hinsicht gegenüber dem vorchristlichen Ahd. und Germ, eine tiefe Umgestaltung erfuhr, erscheinen im Mhd. auch Verwendungen, die den streng religiösen Inhalt wieder verlassen. So können auch Menschen einander gnaden im Sinne von 'verzeihen', vgl.: (15) (Kriemhild zu Giselher) "Ine mäc iu niht genäden: ungenäde ich hän mir hat von Tronege Hagene so gröziu leit getan " '"Ich kann dir nicht gnaden ('verzeihen'): man ist mir (auch) ungnädig gewesen, Hagen von Tronege hat mir so großes Leiden zugefugt'". 130 Gnaden wird in der mhd. Literatur auch vielfach für 'Dank sagen' verwendet, wie in den beiden folgenden Beispielen: (16) mit manegem vuozvalle gnadeten si ime sere unde buten im al die ere der er von in geruochte 'mit vielen Fußfällen dankten sie ihm sehr und erwiesen ihm alle Ehre, die er von ihnen verlangte', Hartmann von Aue131 (17) got er gnäddte daz er in so sciere erhörte 'Gott dankte er dafür, daß er ihn so schnell erhörte' (ca. 1060-1080).132 Bei diesen semantisch neuartigen Verwendungen im Mhd. erscheinen auch neue syntaktische Konstruktionsweisen, die eine syntagmatische Remotivierung des Dativs darstellen, indem ein Genitiv den Anlaß des Danksagens ausdrückt und der Dativ eine neue, diakritische Funktion übernimmt, vgl.: (18) Do genädete ir der herre des willen harte verre

129 130 131 132

WMU, I, 644, Sp. 1. Das Nibelungenlied, 2103, 1-2. Iwein, 5439-5443. Die Wiener Genesis, 978.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

'Da dankte ihr der Herr dafür sehr', Hartmann von Aue133 (19) sus nam er urloup in den tot und gnädit der künniginne triuwen unde rmnne die si im bescheinde 'Auf diese Weise ging er in den Tod und dankte der Königin für die Treue und Liebe, die sie ihm erwiesen hatte', Wirnt von Gravenberc.134 Solche Verwendungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Verb gnaden (im Gegensatz zum Substantiv Gnade und dem Adjektiv gnädig) nach der mhd. Periode immer weniger üblich wird. Der jüngste Beleg für gnaden 'danksagen' im Deutschen Wörterbuch stammt aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.135 Bedeutend ist weiter, daß einige Wörterbücher zwar das Substantiv und zahlreiche andere Ableitungen vom Stamm gnad- behandeln, das Verb gnaden selber jedoch nicht aufnehmen.136 Sogar in der religiösen Verwendung erfahrt gnaden schon früh Konkurrenz von sich erbarmen + Genitiv. Diese Verdrängung läßt sich u.a. an den Übersetzungen des Ps. 50, 3 beobachten. Im Millstätter Psalter (Ende des 12. Jahrhunderts) wird noch genaden verwendet: (20) Genade mir got nach grozer genade din.137 Bereits im Windberger Psalter aber (ebenfalls Ende des 12. Jahrhunderts) sowie im Trierer Psalter (um 1200) erscheint sih erbarmen: (21) Gnade. Erbarme dih min got nah micheler gnade. barmhercem (22) irbarme die min, got, nach der grozen irbarmeherzede diner.139

133 134 135 136 137 138 139

Der arme Heinrich, 927-928. Wigalois, 3173-3176. DW, IV, l 5 , Sp. 564. s. Maaler 1561, 188, Sp. 2-3 und Steinbach 1734,1, 611-612. Millstätter Psalter, hrsg. von N. Tömqvist (1934), 81. Windberger Psalter, hrsg. von K. Kirchert (1979), 94. Deutsche Interlinearversionen der Psalmen aus einem Windberger Handschrift zu München und einer Handschrift zu Trier, hrsg. von E. Graff (1839), 229.

gnaden

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Im 14. Jh. verwendet man ebenfalls erbarmen, auch wenn man misericordia nach wie vor mit gnade übersetzt, vgl.: (23) Herre got, erbarme dich min noch diner grosen gnade (Dresdener Psalter)™ (24) Here, irbarme dich ouer mi nach diner groten gote (Hamburger Psalter).™ Dasselbe gilt für die Psalmübersetzung der Mentelbibel: (25) Ο Got, erbarm dich mein: nach deiner micheln erbermd.H2 Erst Luther greift wieder auf den Stamm gnad- zurück, aber diesmal in der Form eines Adjektivs in einer Konstruktion mit einer Kopula: (26) Gott sey mir gnedig nach deiner Güte (Lutherbibel). Schließlich muß noch darauf hingewiesen werden, daß die Kasusrektion bei gnaden auch im Frühnhd. und im Nhd. der Klassikzeit schwankt. Weil im Prinzip nur noch ein Objekt bezeichnet werden mußte, ist es verständlich, daß das Verb dann und wann auch den hierarchisch nächstliegenden Akkusativ regieren konnte, wie z.B. in: (27) so kumpstu nun ins hymelrych, das gott, der herr, hatt gnadet dich, Thomas Murner (1475-1537)143 (28) bisz hieher dachtest dus zu sparen? mamsell, gott genade dich!, Schiller.144 Das allmähliche Verschwinden von gnaden aus den Bibelübersetzungen und das Fehlen des Verbs in den Wörterbüchern sind eindeutige Indizien dafür, daß das Verb gnaden eine zunehmend marginale Stellung einnimmt und durch sich erbarmen und gnädig sein verdrängt wird. Zwar erscheint gnaden noch im Wörterbuch von Adelung145, aber dieser betrachtet es als 'völlig veraltet' und weist bereits darauf hin, daß das Verb nur noch in Redearten vom Typ Gnade mir Gott vorkommt. Auch für Campe gilt das 140 141 142 143 144 145

Zwei Psalter aus dem 14. Jahrhundert, hrsg. von H. Eggers (1962), 114. a.a.O. Mentelbibel, hrsg. von W. Kurrelmeyer (1910), VII, 315. DW, IV, l 5 , Sp. 561. a.a.O. Adelung 1793ff, II, Sp. 738.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

Verb als veraltet.14* Die auch heute feststellbare Versteinerung des Verbs gnaden in einigen wenigen Formeln ist also spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine Tatsache. Das Verb läßt sich aufgrund der Tatsache, daß der Dativ in einer Valenzerweiterung gründet und der so entstandene Satzbauplan [[Subjekt + Verb] + Dativobjekt]

gelegentlich dreistellige Konstruktionen wie (18) und (19) veranlaßt hat, den Verben der GRUPPE Β zuordnen. Weil das Verb aber nicht mehr produktiv ist, müssen die wenigen festen Verbverwendungen und die Kasusrektion als in hohem Maß idiomatisch betrachtet werden, nicht zuletzt aufgrund der normbedingten, beschränkten syntaktischen Konstruktionsmöglichkeiten.

146

vgl. Campe 1807ff, II, 413, Sp. 1.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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VII.4. Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ Zum Schluß unserer Analysen geben wir in alphabetischer Folge eine Übersicht über deutsche Simplizia, die zwar nicht mehr in der Gegenwartssprache, dafür aber in früheren Zeitabschnitten der deutschen Sprachgeschichte einen adverbalen Dativ regieren konnten. Die Übersicht basiert auf eigenen Materialsammlungen sowie auf den einschlägigen Beobachtungen von Jacob Grimm in seiner Deutschen Grammatik.1*1 Für eine nicht unbeträchtliche Zahl von Verben, die J. Grimm zufolge ehemals mit einem adverbalen Dativ verwendet wurden, konnten wir jedoch keinen gesicherten Beleg ausfindig machen. Solche Verben werden in unserer Übersicht denn auch nicht aufgeführt. Absolute Vollständigkeit beansprucht die Übersicht nicht. Sie belegt aber, daß das Phänomen des adverbalen Dativs - und nicht zuletzt des diakritisch motivierten adverbalen Dativs - im älteren Deutsch (insbesondere im Mhd., aber auch im Ahd. und Frühnhd.) weiter verbreitet war als in der Gegenwartssprache. Wir beschränken die Übersicht weiterhin auf Simplizia. Präfixverben, die mit ver-, ge- usw. anfangen, zusammengesetzte Verben wie mhd. tagedingen, teidingen '(jmdn.) vor Gericht laden', widersagen 'widersprechen' usw. sowie reflexive Verben mhd./frühnhd. sich vürhten 'sich fürchten', mhd./frühnhd. sich irren usw. werden ausgeklammert. Außerdem sind die aufgeführten Simplizia keine Impersonalia (dazu gehören Verwendungen von Verben wie sein, werden usw., auch dies in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Eingrenzung unseres Untersuchungsbereichs (s. § II.5.). Bei den zwischen einzelnen Anführungszeichen gesetzten Inhaltsangaben nach dem jeweiligen Verb handelt es sich in der Regel immer um die jeweilige Redebedeutung des Verbs in der Verbindung mit einem adverbalen Dativ, d.h. um eine Interpretation der aktualisierten Verbbedeutung als Teil des umfassenderen Sinns eines bestimmten Textes, und nicht um die allgemeine Kernbedeutung des Verbs; nur vereinzelt handelt es sich um eine Normbedeutung des Verbs.

147

s. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 812-845 (Originalpag. 683-706). Fürs Althochdeutsche (die Sprache Otfrids) s. auch Erdmann 1876, 192ff.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

Die einzelnen Verben sind: - mhd. barnen '(für ein Tier) eine Krippe machen': (1) ez was gebarnet fur den stein dem esel unt dem rinde 'für den Esel und das Rind war vor dem Stein eine Krippe aufgestellt', Konrad von Fussesbrunnen (Ende des 12., Anfang des 13. Jahrhunderts)148 - mhd. bichten, frühnhd./nhd. beichten 'bei jmdm. zu beichten gehen': (2) wo sitzt dann nun der pfaffe, dem einer da bichten müsz? 'wo sitzt denn der Priester, bei dem man zu beichten gehen muß?' (14. Jh.)149 (3) die beichteten zu Collen einem Priester, Johannes Geiler von Keisersberg (1445-1510)150 (4) Lorenzo .. hat gewiß schon oft, Wenn du ihm kindlich beichtetest, gelächelt, Goethe151 - mhd./firühnhd. beiten 'Frist geben, Zeit gönnen': (5) so sol man in ηύΐ vahen vmb die gtilt. Wan sol ime baiton vnz daz er es haben mag 'dann muß man ihn nicht gefangennehmen wegen des Zinses; vielmehr muß man ihm Frist geben, bis er es haben kann (d.h.: 'bis er genügend Geld hat, um den Zins zu bezahlen')'152 (6) du hast mir auch nicht beiten wollen, Martin Montanus (1530-?)153 - mhd. benken 'eine Sitzgelegenheit aufstellen': (7) Dem heren Dietrichen, dar benketer vlizeliche. Mit aldime stole. 'er schuf Herrn Dietrich mit Fleiß eine Sitzgelegenheit mit einem alten Stuhl' (zwischen 1152 und 1180)154 - mhd. bezzern 'jmdm. Wiedergutmachung, Buße leisten': (8) so sol er vns vnd dem klager ßr den sun pezzern 'dann muß er uns und dem Ankläger für die Sünden Wiedergutmachung leisten'155 148 149 150 151 152 153 134 155

Die Kindheit Jesu, 1102-1103. DW, IV, l 1 , Sp. 1685. DW, I, Sp. 1360. GWb, II, 286. WMU, I, 171, Sp. 2. DW, I, Sp. 1405. König Rother, 1595-1597. WMU, I, 246.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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- mhd./fxühnhd./nhd. betten 'jmdm. das Bett machen' (9) den vil lieben gesten betten si dar under 'den lieben Gästen bereiteten sie darunter (unter den drei Buchen) ein Bett', Hartmann von Aue156 (10) bett im unter die stiegen 'bereite ihm unter den Treppen das Bett', Hans Sachs157 (11) Wem die Liebe bettet, ruhet gut, Adelbert von Chamisso (17811838)158 - mhd. binden 'binden': (12) als do der brütegome kan, des wart ein michel striten, wie si der briute bunden, des zerwürfen si sich gar 'als der Bräutigam kam, entstand ein großer Streit darüber, wie sie der Braut das Kopftuch aufbinden würden, darüber zankten sie gar', Ulrich von Singenberg (1. Drittel des 13. Jahrhunderts)159 - ahd. borgen/mhd. borgen 'auf jmdn. Rücksicht nehmen, um jmdn. Sorge tragen; jmdn. schonen'; während der mhd. Periode entwickelt sich die Redebedeutung 'leihen', im Neuhochdeutschen ist die ältere Redebedeutung 'auf jmdn. Rücksicht nehmen' verschwunden: (13) Harto sägeta er imo thäz, thaz er mo borgeti thiu baz 'Laut sagte er ihm das, damit er sich um so mehr hüten würde', Otfrid160 (14) ir warnet lihte ir tuont mir weh, und went mir lihte borgen 'ihr wähnt vielleicht, daß ihr mir weh tut, und ihr wollt mich vielleicht schonen'161 (15) Wenn du deinem Nehesten jrgend eine schuld borgest / so soltu nicht in sein haus gehen / vnd jm ein Pfand nemen / Sondern du solt haussen stehen ['draußen stehen'] / vnd er dem du borgest / sol sein pfand zu dir er aus bringen, Luther (5. Mose 24, 10-11)

156 157 158 159 160 161

Erec, 7091-7092; vgl. auch 7102-7103: dem wirte betten si unter die wehsten da bi. DW, I, Sp. 1733. Sanders 1876, I, 122, Sp. 3. Der guote win wirt selten guot, II, 3-4. Piper, II, 6, 5. BMZ, I, 163, 4-6.

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-

-

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

(16) Man gehe von demjenigen, der seinem Freunde aufs Wort borgt, biß zu dem der sich nur durch's Pfand ... für versichert hält und man wird sehen, daß (...), Goethe162 mhd. brechen 'jmdm. gegenüber das Gesetz brechen': (17) das der selbe schuldig si deme riche vunfhundert marg silbers vnd deme cleger, deme er gebrochen hatm frühnhd. brechen 'fehlen': (18) es bricht mir nichts, H. Sachs164 mhd. büezen 'jmdm. Buße leisten': (19) alse diche, so der meiger klagt vmbe dez hofes zinse, alse diche sol man im büszen 'immer, wenn der Gutsverwalter über den Zins des Hofes klagt, muß man ihm Buße leisten'165 frühnhd. buhlen 'buhlen, um jmdn. werben, mit jmdm. eine Liebschaft

haben; jmdm. den Hof machen': (20) da ich doch meinem itzigen weibe bis ins fünfte jähr buhlete, Hans von Schweinichen (1552-1616)166 - mhd. dagen 'jmdm. ruhig zuhören': (21) ir muget mir deste gerner dagen: ichn wil iu keine lüge sagen 'ihr könnt mir desto lieber zuhören: ich will euch keine Lüge erzählen', Hartmann von Aue167 - ahd. darön 'schaden': (22) Thia zessa drät ih untar fuaz, si furdir därön nur ni muaz 'Diese Woge trat ich unter den Fuß, sie darf mir weiter nicht schaden', Otfrid168 - mhd. eilenden 'jmdm. fremd sein; quälen': (23) Si twuogn und strichen schiere von im sin amesiere mit blanken henden. jane dorft in niht eilenden der da was witze ein weise 162 163 164 165 166

GWb, II, 836. WMU, I, 285. DW, II, Sp. 346 WMU, I, 307. DW, II, Sp. 502

167

Iwein, 257-258.

168

Piper, V, 14, 17

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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'Sie wuschen und pflegten seine Verletzungen mit glänzend schönen Händen. Ja, derjenige, der dort entblößt war, brauchte ihnen nicht fremd zu sein', Wolfram von Eschenbach169 - mhd. ernten 'lieb werden': (24) Sö er iz denne hine heim brähte mislicher muose er gedähte, vile wole er iz phefferöte, sitiem vater er da mite enstöte 'Als er [Esau] es [das Wild] dann mit nach Hause brachte, dachte er verschiedene Gerichte aus, er würzte es sehr fein, und er erwarb sich damit die Gunst seines Vaters'170 - mhd./frühnhd. erben 'vererbt werden; jmdm. etwas vererben': es ist fragwürdig, ob es hier jemals einen adverbalen Dativ gab. Grimms Deutsche Grammatik bietet keine gesicherten Belege.171 Lexers Mittelhochdeutsches Wörterbuch verzeichnet einen falsch zitierten Beleg172. Der einzige Beleg, den wir ausfindig machen konnten, entstammt dem Deutschen Wörterbuch: (25) also ist ein viehische Vernunft im menschen auch und erbt vom viehe

dem menschen, Paracelsus (1493-1541);173 - frühnhd. essen 'essen für': (26) Welcher isset / der isset dem Herrn / denn er dancket Gott / Welcher nicht isset / der isset dem Herrn nicht / vnd dancket Gott, Luther (Rom. 14, 6)174 (27) mein tisch der darf mich nicht um Übersatz verklagen, der gurgel ess ich nicht, ich esse nur dem magen, Friedrich von Logau (1604-1655);175

169 170 171 172

173 174

175

Parzival, 167, 5-9. Die Wiener Genesis, 1079-1080. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 831 (Originalpag. 697) in der stat ze Colmar sol ein ieglich frowe irem elichen man erben 'in Colmar soll jede Frau ihren Besitz dem Ehemann vererben' (ΜΗ, I, Sp. 612). Dieselbe Stelle ist im WMU, I, 493, Sp. 1 erweitert und richtig zitiert, mit Akkusativ der Person: jn der stat ze Colmere sol ein ieglich frowe irn elichen man erben vnd der man sin eliche husfrowe. DW, III, Sp. 717. lat.: Et qui manducat, Domino manducat: gratias enim agit Deo. Et qui non manducat, Domino non manducat, et gratias agit Deo. DW, III, Sp. 1166.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

ein Beispiel für eine dreistellige Konstruktion bietet Luther: (28) Denn welcher vnwirdig isset vnd trincket / der isset vnd tnncket im selber das Gerichte (1. Kor. 11, 29);176 in (28) liegt jedoch nicht so sehr eine dreistellige Entsprechung zu (26) oder (27) vor, sondern vielmehr eine Konstruktion mit einem Pertinenzdativ: 'indem er trinkt, führt er sein eigenes Urteil herbei' (vgl. die Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1984: Denn wer so ißt und trinkt, daß er den Leib des Herrn nicht achtet, der ißt und trinkt sich selber zum Gericht) - mhd. verren, virren 'jmdm. fern sein, entziehen, entfernen, abwenden': (29) sol mir din minne verren, so muoz mir minne werren 'soll mir deine Liebe entzogen bleiben, dann muß mir (alle) Liebe verwehrt bleiben', Wolfram von Eschenbach;177 als dreistelliges Verb tritt verren u.a. auf in: (30) manger dienet wan zu plicke. den selben siht man dicke sten und dringen uf die herren: der kan sich der zuhte verren 'mancher dient, solange er gesehen wird. So jemanden sieht man oft stehen und seine Herren angreifen: diesem kann der Anstand abhanden kommen', Konrad von Haslau (13. Jh.)178 - mhd. vlehen, flehen (auch vlegen, vlen), frühnhd. flehen 'schmeichelnd, demütig bitten, anflehen': (31) swer dem tören vlehen muoz, dem wirt selten sorgen buoz 'wer den Toren um Hilfe bitten muß, dessen Sorgen werden selten abgeholfen', Freidank (vor 1233)179 (32) vnd (sie) bekeren sich vnd flehen dir / im Lande jres Gefengnis, Luther (1. Kön. 8, 47) 176 177 178 179

lat.: Qui enim manducat, et bibit indigne, iudicium sibi manducat. Panival, 76, 29-30. Der Jüngling, 191-194. Bescheidenheit, 83, 3-4.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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(33) so flehte er allen Achaiern, Atreus söhnen am meisten, den beiden völkergebietern, Gottfried August Bürger (1747-1794)180 - ahd. uridön (fridon), geuridön igefridön) 'beschützen': (34) unde diu ärende sinero zeicheno unde sinero uuundero diu er tuön uuolta in egypto sinemo liüte zegefridonne 'und die Kunde seiner Zeichen und seiner Wunder, die er in Ägypten vollbringen wollte, um sein Volk zu beschützen', Notker181 - ahd. frouuön, frouwen 'erfreuen, froh machen; froh sein': (35) Ih frauudn driihtine; alle däga mine freuu ih mih in muate gote heilante 'Ich frohlocke dem Herrn; so lange ich lebe erfreue ich mich im Herzen an Gott, dem Heiland', Otfrid182 - mhd. vrumen, frühnhd./nhd. frommen 'nützen': (36) Maria doch daz beste erkös, ir teil ir nimmer wirt genommen: ir ein muoz der andern frommen 'Maria wählte jedoch das Beste, ihr Teil wird ihr nie genommen werden: ihr mußt einander helfen (wörtlich: 'eine von euch muß der anderen nützlich sein')', Ebernand von Erfurt (um 1200)183 (37) eur grosz Vernunft, witz und verstand, damit ihr frommt dem könig und land, Georg Mauritius (15391610);184 heute ist frommen 'nutzen, helfen' veraltet, und das Verb kann nur noch unpersönlich verwendet werden. Schon bei Goethe wird es nur noch unpersönlich verwendet, wie z.B. in: (38) Wenn meine Farbenlehre gedruckt ist, so wird er manches lesen, was ihm frommt, Goethe185 180 181 182 183 184 183

DW, III, Sp. 1750. Piper, II, 447, 26-28. Piper, I, 7, 5-6. Heinrich und Kunegunde, 4690-4692. DW, IV, l 1 , Sp. 246. GWb, III, Sp. 972. Verwendungen mit persönlichem Subjekt sind im 19. Jh. selten: (38') ich aber gehe freudger ans geschäft, da ich, dem kaiser dienend, euch zugleich und eurem söhne frommen darf, Ludwig Uhland (1787-1862), DW, IV, l 1 , Sp. 247.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

- mhd. vMO/ern/frühnhd. futtern 'füttern': (39) Duo si unter wegen chomen unt den rossen weiten fuoteren als einer üftet den sach unte gesah daz sin scatz da lach, den anderen er sagete daz er sinen scatz habete 'als sie unterwegs waren und die Pferde füttern (d.h.: 'ihnen Futter geben') wollten, und einer einen Sack öffnete und sah, daß sein Schatz darin steckte, sagte er den anderen, daß er seinen Schatz gefunden hatte' (12. Jh.)186 (40) ich halfir den kuen in der scheuern futtern (15. Jh.)187 - ahd. gelbdn 'zu jmdm. lügenhaft reden, jmdn. betrügen': (41) Ni uuäne, theih thir gilbo, thia tünichün span si selbo 'Glaube nicht, daß ich dich belüge, das Kleid machte sie selber', Otfrid188 - mhd. gelten 'Zahlung leisten': (42) swelich edelman vnsern purgern gelten sol, der sol daz reht dulden vor vnserr stat sachwalt 'jeder Edelmann, der unseren Bürgern eine Zahlung leisten muß, untersteht der Gerichtsbarkeit des Rechts Verteidigers unserer Stadt'189 - mhd. Verb gunnen, gännen 'gönnen': (43) nie muoter gunde ir Mnde baz denne im der wirt des bröt er az 'keine Mutter konnte gegen ihr Kind mehr guten Willen hegen als gegen ihn (= Gawan) der Wirt, dessen Brot er aß', Wolfram von Eschenbach190 - mhd. grasen '(einem Tier) Gras schneiden': (44) Sy graszt ainem kalb vnd tett das pest 'Sie schneidet einem Kalb Gras ab und macht das gut' (14. Jh.)191

186 187 1,8 189 190 1,1

Die Wiener Genesis, 2201-2203. DW, IV, 1', Sp. 1088. Piper, IV, 29, 27. WMU, I, 626. Parzival, 552, 3-4; vgl. BMZ, I, 32, 12-15; dort auch die Übersetzung. Das Liederbuch der Clara Hätzlerin, 2, 72, 20.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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- mhd. gürten, gurten 'gürten': (45) er gurt dem orse und nam den schilt 'er band den Sattel auf das Pferd und nahm den Schild', Wolfram von Eschenbach1®2 - ahd. haren/mhd. hären 'rufen, schreien, zurufen': (46) So er thaz suert thenita, ther engil imo häreta 'Als er das Schwert zückte, rief der Engel ihm zu', Otfrid193 (47) do ruft sie einer magede, div was uil ungesagede: si müse ir hären ofte, mere dennez getohte 'dann rief sie (Anna) eine Dienstmagd, die sehr schweigsam war: sie mußte sie oft rufen, mehr als man denken würde', Priester Wernher (1172)194 - ahd. härmen 'schaden, Leid zufügen': (48) betöt furi thie harmenton iu 'betet für diejenigen, die euch Leid zufügen"95 - ahd./mhd./frünhd. hengen 'die Zügel lockern' (ebenfalls im übertragenen Sinn): (49) loh imo gerno hengen älliu ding 'alle Dinge gehorchten ihm gern', Notker196 (50) Ich will mein land pesetzen Und mit liebe von in letzen, Und wil mein Mnt pringen, Ob mir sein Got will hengen. 'Ich will mein Land einnehmen und mich liebevoll von ihnen (den Fürsten Printzel und Palmer) verabschieden und will mein Kind wegbringen, wenn sein Gott es mir erlaubt', Heinrich von Neustadt (um 1300)197 192

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196 197

Parzival, 603, 19. Im Ahd. stand das Reflexivum bei sich gürten im Dativ, s. AW, 156, Sp. 2. Piper, II, 9, 51. Maria, Hs. D, 679-682. Tatian 32, 2; lat.: et orate pro persequentibus et calumniantibus vor. Dies ist der einzige Beleg im gesamten literarischen ahd. Korpus. Piper, I, 219, 7; lat.: Volentia cunctaparere. Apollonias von Tyrlant, 13702-13705.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

(51) du hast aber deinem zorn soviel gehengt, und lässt dein räch gehen über gut und bös (1533);198 dreistelligem hengen im Sinne von 'zugeben, geschehen lassen, gestatten' begegnen wir z.B. in: (52) her künic, des solte iu hengen weder ritter noch der kneht 'Herr König, das darf weder ein Ritter noch ein Knecht Ihnen passieren lassen' (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts)199 mhd. herschen, hersen 'beherrschen, bewältigen': (53) wie wil der ein herre sin dem dä herscht met unde win 'wie will derjenige ein Herr (Gebieter) sein, den Met und Wein beherrschen', Thomasin von Zerclaere (ca. 1185-1238)200 frühnhd./nhd. heucheln: (54) sondern wil euch zu dienst wider ein papist werden und dem papst getrost heucheln, Luther201 (55) die schäfer weihen ihm gesänge er heuchelt ihrer Zärtlichkeit, Johann Peter Uz (1720-1796)202 frühnhd./nhd. jauchzen 'jauchzen': (56) Jauchzet dem Gott Jacob, Luther (Ps. 81, 2) (57) er ist der angebetene, ihm jauchzt das volk, Schiller203 mhd. jehen 'den Sieg zugestehen' oder 'nennen': (58) e daz iu miieste jehen Gunther min herre, da müesez herte sin 'Ehe Gunther Ihnen den Sieg zugesteht204, müßte es schlimm verlaufen';205 das Verb wurde damals auch dreistellig verwendet: (59) ein acker reben, der da lit in der gewande, dem man giht ze vierbovmen 'ein Acker mit Ranken, der am Gewann liegt, den man "ze vierboumen" nennt'206 DW, IV, 2, Sp. 452; vgl. auch: siner manheit wart gehenget 'man gab seiner Männlichkeit nach' (ΜΗ, I. Sp. 1248). Wolfdietrich, 192, 4. Der Wälsche Gast, 4289-4290. DW, IV, 2, Sp. 1280. a.a.O. DW, IV, 2, Sp. 2270. wörtlich: 'Ihnen zugesteht'. Das Nibelungenlied, 424, 2-3. WMU, II, 961.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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- ahd. queman!mhd. kamen 'erscheinen; zuteil werden' (vgl. § V . l l . bekommen): (60) ΐύ quimit sälida thiu mer 'euch wird um so mehr Seligkeit zuteil werden', Otfirid207 (61) wird' ich des bewiset, ich sol im schädeliche kamen 'erhalte ich dafür Beweise, dann soll ich ihm verderblich werden'208 - mhd./nhd. klagen 'bei jmdm. eine Klage vorbringen; jmdm. seine Not klagen': (62) daz des bischolfs leute suln chlagen dem hertzogen vnd des hertzogen leute dem bischolf 'die Leute des Bischofs müssen ihre Klagen beim Herzog vorbringen, und die Leute des Herzogs müssen sie beim Bischof vorbringen'209 (63) laszt seinen sarg eröffnet, tretet her, klagt jedem bürger, der gelebt wie er, Goethe;210 der Zusammenhang zwischen zweistelligem klagen mit adverbalem Dativ und dreistelligen Verwendungen mit Akkusativ und Dativ ist offenkundig, vgl.: (64) daz ich ez gote klagen wil, daz ich ie ze der werlde kam 'daß ich bei Gott darüber klagen möchte, daß ich zur Welt gekommen bin', Hartmann von Aue211 - mhd. kleiden 'kleiden': (65) Do wart der magit gayte Gegin der hochgecite Gecleidit so nie magit baz An irn brutestuol gesaz 'da wurden der Jungfrau Gayte bei der Hochzeit derart die Kleider angelegt, daß niemals eine Jungfrau schöner auf ihrem Brautstuhl saß' (um 1210?);212 im Nhd. kommt kleiden mit adverbalem Dativ nur im Sinne von 'kleiden, passen' vor: 207

Piper, II, 16, 34. Das Nibelungenlied, 1033, 3-4. 209 WMU, II, 1010, Sp. 1. 210 DW, V, Sp. 920. 2 " Gregorius, 2560. 212 Athis und Prophilias, C*, 5-8.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

(66) wie ihnen Ihre gestickte Nachtmützen kleiden werden, Johann Joachim Bode (1730-1793)213 - mhd. Myen/friihnhd. kosen 'sprechen, plaudern': (67) zuo dem schrtber sie do saz, Sie begunde im liepltch kosen, der schrtber begunde ir lösen 'sie saß neben dem Schreiber,

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sie fing an, in lieblichen Worten mit ihm zu sprechen, der Schreiber fing an, ihr zuzuhören', Johannes von Freiberg214 (68) denn sich über sie, wie man mir kost, der pfaff gar heftig hat erbost (17. Jh.)215 nhd. kosen 'liebkosen': (69) wol koset dir verlockend der Schmeichler schnöder mund, Ludwig Gotthard Kosegarten (1758-1818);216 kosen ist in dieser Verwendung eine Verkürzung von liebkosen, das ebenfalls mit adverbalem Dativ verwendet wurde: (70) er flatterte einer nach der andern in die arme, und liebkosete ihnen so schön, Wieland217 mhd. krouwen 'kratzen': (71) Er krauwet dem eber gar senffteklich Der eber der rürte nit sich 'er kratzte dem Eber sanft den Rücken, der Eber rührte sich nicht', Hans von Bühel (1410)218 mhd./frühnhd. lausen 'lausen, jmdm. die Läuse wegnehmen': (72) wo die krae dem schweine lauste 'wo die Krähe das Schwein lauste', Friedrich von Logau (1604-1655)219 frühnhd. künzen, künzeln 'schmeicheln; hätscheln, liebkosen', eigentlich 'jmdm. den künzen, künzel, das Unterkinn, streicheln'220: Paul 1916ff, III, 384. Das Rädlein, 332-334. DW, V, Sp. 1844. DW, V, Sp. 1845. DW, VI, Sp. 966. Diocletianus Leben, 1527-1528. DW, VI, Sp. 358; vgl. auch dreistellig in jmdm. den Kopf lausen sowie in sprichwörtlichen Redensarten wie jmdm. den Beutel, die Tasche lausen 'jmdm. das Geld daraus stehlen', DW, VI, Sp. 359. ΜΗ, I, Sp. 1785-1786.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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(73) sie hatte schon beim David gelernet, wie sie sich bei einem mann zuschrmegen und demselben känzlen solte, Johann Jacob von Grimmelshausen (1620-1676)221 - ahd. lägön, mhd. lägen 'auflauern, nachstellen', mhd. auch 'überwachen': (74) Lägont imo . unde gefähent in 'sie lauern ihm auf und nehmen ihn gefangen', Notker222 (75) Zern ersten begonde er vragen den pristern sere lagen ob sie mit rehter lere stünden zu des livtes kere 'zunächst fing er an zu fragen und die Priester zu überwachen [und fragte sie], ob sie sich mit richtiger Lehre für die Bekehrung der Menschen einsetzten', Albert von Augsburg (Anfang des 13. Jahrhunderts)223 -

ahd. leiden, mhd. leiden '(jmdm.) leid, zuwider, unangenehm, verhaßt sein oder werden/machen': (76) Liident imo in brüsti thio ererün gelüsti 'in seinem Herzen sind ihm die früheren Vergnügen verhaßt', Otfrid224 (77) Der hofze Wiene sprach ze mir "Walter, ich solte lieben dir, nu leide ich dir, daz müeze got erbarmen 'Der Hof zu Wien sagte zu mir: "Walther, ich sollte dir lieb sein, nun bin ich dir zuwider, möge Gott damit Erbarmen haben'", Walther von der Vogelweide;225 ein Beispiel für eine entsprechende dreistellige Konstruktion ist: (78) sie hänt mich an dir betrogen, die dich durch ir valschen nit mir hänt geleidet zaller zit 'Diejenigen haben mich, was dich betrifft, betrogen,

221 222 223 224 225

DW, V , Sp. 2754. Piper, II, 278, 13. Das Leben des Heiügen Ulrich, 740-743. Piper, V, 23, 143. Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 24, 33-35.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

die dich durch gemeine Eifersucht bei mir immer verhaßt gemacht haben', Rudolf von Ems (um 11251203)226 mhd. leisten 'Einlager leisten': (79) theithe sie des nith, daz sie ime leiste zu Gemunden oder zu Karlstat 'wenn sie das nicht täte, müßte sie ihm zu Gemunden oder Karlstadt Einlager leisten'227 ahd. liban, mhd. Itben 'schonen': (80) noh themo einigen ni leip, ίό sö päulus giscreip 'und er sparte den einzigen (Sohn) nicht, wie Paulus es geschrieben hat', Otfrid228 (81) alte unde iunge er wäre gesunt oder siech, man nelaib ime nieht 'Ob er nun alt oder jung, gesund oder krank sei, man schonte ihn nicht' (um 1120-1130)229 ahd. lihhen, gilihhin, galihhin 'gefallen, angenehm sein, Gefallen haben' (mhd. geliehen 'passen mit' und geliehen 'gefallen') (s. § IV. 10.): (82) thaz thu gisähis then man, er seal thir liehen filu fram 'damit du diesen Mann siehst, er wird dir fürwahr gefallen', Otfrid230 ahd. Huben und giliuben 'angenehm, gnädig werden/sein/machen', mhd./ frühnhd. lieben 'angenehm, beliebt machen; lieb, wert, gewogen sein; lieben': (83) Er auur themo liubit, ther sinan uuillon üabit 'Er aber ist demjenigen gewogen, der nach seinem Willen handelt', Otfrid231 (84) alrest liebet ir der man 'nun erst wurde ihr der Mann lieb', Hartmann von Aue232 (85) ir liept mir ob allen, die weibs nammen gewunnen 'Sie lieben mich mehr als alle,

Barlaam undJosephat, 716-718. WMU, II, 1120. Piper, II, 9, 78; lat.: etiam proprio filio suo non pepercit. Die altdeutsche Exodus, 1032-1034. Piper, II, 7, 32. Piper, III, 20, 153. Iwein 2674.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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die Frau genannt werden' (16. Jh.);233 Beispiele für syntaktisch komplexere, mehrstellige Konstruktionen, aus denen die diakritische Kasusmotivation deutlich hervorgeht, sind u.a.: (86) Mit so getäneme nide get er uns mite alle wile, daz er uns ie die sunde Hübet unze uns begrifet der tot 'Mit einer solchen Mißgunst folgt er uns dauernd, damit er uns die Sünde angenehm macht, bis der Tod uns überfällt'234 (87) nü liebe imz, trütgeselle 'lege ihm das ans Herz, liebe Freundin', Hartmann von Aue235 - ahd. liugan, liogan, liegen usw. '(jmdm.) eine Unwahrheit sagen, lügen', mhd./frühnhd. liegen, liugen, lügen 'lügen, belügen, betrügen (im allgemeinen)': (88) Truhtenes flenda lügen imo 'Die Feinde des Herrn belügten ihn', Notker236 (89) Der uil heilige man harte trüren began, daz er ime hete gelogen, unde uierstunt betrogen 'Der sehr heilige Mann fing an zu bereuen, daß er ihn belogen und ihn viermal betrogen hatte'237 (90) Petrus aber sprach / Anania / Warumb hat der Satan dein Hertz erfüllet / das du dem heiligen Geist lügest?, Luther (Apost. 5, 3) (91) reiszt mich bei diesem grauen haar zur schmach, zum martertod, wenn ich dem volke lüge, Friedrich Wilhelm Gotter (1746-1797)238 - mhd./frühnhd. locken 'durch Lockspeise oder Lockrufe anlocken': (92) Unde dar umbe suit ir dem hohen edeln adelar von dem höhen himelriche ofte gewonlichen locken mit dem pater noster 'Und deshalb mußt ihr den hohen Adler aus dem hohen Himmel oft gewohnheits233 234 235 236 237 238

DW, VI, Sp. 932. Die Wiener Genesis, 450-451. Iwein 2146, Übersetzung von Cramer 1968, 2146 (S. 42). Piper, II, 338, 17; lat.: Inimici domini mentiti sunt ei. Die altdeutsche Exodus, 1621-1624. DW, VI, Sp. 1275.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

gemäß mit dem Paternoster locken', Berthold von Regensburg (um 1275)239 (93) so man jm (dem kranken habicht) locken und ätzen will, flügt er seinem herren nit schnäl zu hand (16. Jh.)240 ahd. lönön, mhd. Ionen, fnihnhd./nhd. lohnen '(jmdn.) belohnen für, (jmdm.) etwas lohnen, vergelten': (94) Ünde chlägetöst tu dih . tir ünrehto uuesen gelönöt 'Und beklagtest du dich darüber, daß du ungerecht belohnt worden bist', Notker241 (95) do enpfienc er mich also schöne als ime got iemer lone 'da empfing er mich auf so schöne Weise, daß ihn Gott dafür immer belohnen möge' Hartmann von Aue242 (96) und der freudentaumel seiner gäste lohnte dem erhabnen wirth, Schiller;243 der diakritische Charakter geht aus dem Kontrast zu dreistelligen Verwendungen hervor, vgl.: (97) dasz die unsterblichen dir diese wohlthat lohnen! Friedrich Wilhelm Gotter (171746-1797)244 mhd. louben 'glauben': (98) Hute, den ze loubenne ist 'Leute, denen man glauben kann'245 mhd. losen 'zuhören, hören' (vgl. § V.9.): (99) weit ir der rehten maere losen 'wollt ihr der wahren Erzählung zuhören', Wolfram von Eschenbach246 frühnhd. lüppen/luppen 'Arzneikunst treiben', oft spezifischer, im Sinne von 'einen chirurgischen Eingriff vornehmen' (100) oder scherzhaft 'eine Flasche oder einen Becher leeren' (101): (100) ob disen vöglen villicht geluppet wäre 'ob bei diesen Vögeln vielleicht die Zunge gelöst ist' (d.h.: 'das Zungenband durchgeschnitten ist')247 Predigten, I, 468, 7-9. DW, VI, Sp. 1106. Piper, I, 43, 6-8; lat.: Conquestusque non pensari equa mentis. Iwein, 295-296. DW, VI, Sp. 1139. a.a.O. WMU, II, 1157; vgl. Köbler 1994, 221, Sp. 2. Parzival, 363, 27; das Verb ist bekanntlich nach wie vor gebräuchlich im Schweizerdeutschen, anstatt (zu-)hören. DW, VI, Sp. 1312.

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(101) dem becher wöl wir desz basz luppen 'diesen Becher wollen wir deshalb um so begeisterter leeren', Hans Sachs248 mhd. menen 'vorwärts treiben und führen (besonders Zug- oder Reittiere)': (102) lieber sun, nü men dä mir, oder hab den pfluoc, sö men ich dir, und büwe wir die huobe 'lieber Sohn, nun treibe mir das Gespann vorwärts, oder nimm den Pflug, dann treibe ich dir das Gespann vorwärts, und laß uns das Stück Land bebauen', Wernher der Gartenaere (zwischen 1240 und 1300)249 ahd. merren 'stören, schaden' (103) thaz (...) uns uuidaruuert ni merrit 'damit (...) der Gegner uns nicht schadet', Otfrid250 ahd. muntön, mundön '(be)schützen' (auch gimuntön): (104) Thoh si iz sero fille, nist ni si afur uuölle, suntar si imo munto, theiz iäman thoh ni uuünto Obwohl sie es (das Kind) streng bestraft, will sie aber nicht, daß jemand es verletzt, sondern sie beschützt es', Otfrid251 ahd. nigan, mhd. nigen, nhd. neigen 'sich (dankend) neigen, verneigen vor': (105) ioh suahtmfon then liutin, thaz nigin sie in bi nöti 'und sie verlangen von den Leuten, daß sie sich ihnen deswegen verneigen'252, Otfrid253 (106) sö danke der genäden gote und nie vil tiefe stme geböte 'danke deshalb Gottes Gnade und verneige dich sehr tief vor seinem Gebot', Konrad von Würzburg254

DW, VI, Sp. 1313. Helmbrecht, 247-249. Piper, L 72-73. Piper, III, 1, 33-34. wörtlich: 'daß sie ihnen verneigen'. Piper, IV, 6, 40. Silvester, 1253-54.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

(107) die zu uns hernieder steigend mit uns wandelt unsre pfade, unsrem grusze freundlich neigend, Goethe255 -

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mhd. pepeln 'füttern' (?):

(108) du pepelst mir reht sam dinem kinde 'du fütterst mich fürwahr, als ob ich dein Kind wäre!'256 mhd./nhd. predigen 'für jmdn. eine Predigt halten': (109) er furt in in daz haus der heiligen Christenheit und berucht in, er predigt im selb 'er brachte ihn in das Haus der heiligen Christenheit und pflegte ihn und hielt selber eine Predigt für ihn' (13. Jh.)257 (110) aber heiszt das nicht tauben ohren predigen? Adolf Freiherr von Knigge (1752-1796)258 ahd. rätan, mhd. raten, nhd. raten 'raten, anraten; beraten, überdenken usw.' kann im Sinne von 'beraten' einen adverbalen Dativ regieren, wie z.B. in: (111) riat göt imo ofto in notin 'Gott beriet ihn oft, als er in Not war', Otfrid259 (112) Solte ich den pfaffen räten an den triuwen min, so spraxhe ir hant den armen zuo: "se, daz ist din " 'Wenn ich die Geistlichkeit ehrlich beraten müßte, so soll ihre Hand zu den Armen sagen: "sieh, das ist für euch"', Walther von der Vogelweide260 (113) denk, ich rathe dir als ein vater, Schiller;261

DW, VII, Sp. 569. BMZ, II, 1, 463, 46-47; hier auch noch ein zweiter Beleg. Beide stammen aus der Gedichtsammlung von Seifried Helbling (ca. 1283-1299), von dem uns jedoch keine Ausgabe zugänglich war, weder die Ausgabe von Th. von Karajan in der Zeitschrift für deutsches Altertum 4 (1844), 1-284, noch diejenige von J. Seemüller, Halle/S. 1886 (Neudruck Hildesheim 1987). Altdeutsche Predigten, hrsg. von Anton Schönbach (1886-1891), II, 155, 22-23 DW, VII, Sp. 1235. Piper, L 23. Ausgabe Lachmann/Cormeau (1996), 10, 25-26. DW, VIII, Sp. 177. Heute kommt raten nur sehr selten mit adverbalem Dativ vor. Der Gebrauch mit adverbalem Dativ ist normalerweise der Bedingung unterworfen, daß zusätzlich ein Adverb wie gut, richtig o.ä. verwendet wird, weshalb wir raten nicht im Hauptteil der Arbeit behandelt haben. Daneben gibt es noch die feste Wendung wem nicht zu raten ist, dem ist (auch) nicht zu helfen.

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üblich waren immer auch dreistellige Verwendungen mit Akkusativ oder Genitiv und Dativ: (114) er chot: "nü uart hine dräte, daz ist mir geraten" 'er sagte: "fahrt jetzt bald hin, daß ist mir geraten worden'"262 (115) ich rechne darauf, dasz sie ihr mädchen mitbringen, und rathe es ihnen recht sehr, Lessing263 ahd. redindn 'reden (mit)': (116) Bigän thö druhtin redinön then selben zuelif theganon 'Da fing der Herr an zu reden mit seinen zwölf Jüngern', Otfrid264 frühnhd. reuchern/räuchern 'ein Rauchopfer bringen': (117) darumb das sie mich verlassen und andern göttern gereuchert haben, Luther265 mhd. rünen, frühnhd. raunen 'heimlich zuflüstern': (118) er (der Miele brunne) rünete suoze den gelieben ze gruoze 'Sie (die kühle Quelle) flüsterte den (beiden) Geliebten einen Gruß zu',266 Gottfried von Straßburg267 (119) do raunete Xantus seinem weib und sprach, Heinrich Steinhöwel (1412-1482/83)268 im Mhd. gibt es anscheinend eine verwirrende Vielzahl von homonymen Verben rihten, darunter auch eine große Zahl, die einen adverbalen Dativ regiert. Dieser Dativ läßt sich allerdings, wie die Verfasser des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs richtig sehen, aus der Kernbedeutung eines einzigen übergeordneten Verbs rihten mit diakritischer Kasusverteilung erklären.269 In Frage kommen im einzelnen folgende Verwendungen: Die altdeutsche Exodus, 2083-84. DW, VIII, Sp. 178. Piper, IV, 10, 1. DW, VIII, Sp. 247. wörtlich: 'als Begrüßung flüsterte sie den Geliebten zu'. Tristan, 17383-17384. DW, VIII, Sp. 296. "(I)n welchem sinne und in welcher grammatischen Verbindung auch rihten gebraucht wird, immer liegt der begriff 'in rihte bringen, in rihte halten' zu gründe, sei nun eine örtliche richtung gemeint, oder eine herrichtung, oder eine Schlichtung entweder durch richterlichen spruch oder durch freundliche Übereinkunft, oder sonst berichtigung (lei-

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

- rihten 'jmdm. zu seinem Recht verhelfen': (120) .. herre got, durch dine kraft nu rihte mir!" sprach diu maget Herr Gott, verhilf mir nun durch deine Kraft zu meinem Recht", sagte die junge Frau', Wirnt von Gravenberc270 - rihten 'sühnen, wiedergutmachen, Genugtuung gewähren': (121) so rihte gote mit muote, mit Itbe und mit guote 'so mag sie Gott Genugtuung gewähren mit frommer Gesinnung, mit Leib und mit Besitz', Hartmann von Aue271 - rihten 'Fanggarn aufrichten, aufstellen': (122) do vant ich niht mere niewan einer sprinten da, der begunde ich rehten sa. do ich ir do gerihte (...) 'dann fand ich dort nichts mehr als ein Sperberweibchen, ich fing an, ihr ein Fanggarn aufzustellen. Als ich ihr das Fanggarn aufstellte (...)' (13. Jh.?);272 daß hier das Akkusativobjekt ausgelassen ist, geht hervor aus entsprechenden dreistelligen Konstruktionen wie: (123) in der zeit treibt in der vogler mit dem schilt rücklingen in ain netz, daz er im geriht hät 'inzwischen treibt ihn [den Fasan] der Vogelfanger mit dem Schirm rückwärts in ein Netz, das er ihm aufgestellt hat', Konrad von Megenberg (ca. 1309-1374)273

270 271 272

273

stung von genugtuung etc.); (...) nur die bedeutung von rihten = gerichtlich beweisen, d.i. meist eidlich bekräftigen, tritt aus diesem kreise, wie es scheint, heraus und knüpft vielleicht direct an die bedeutung von reht = gerichtliches beweismittel(,) d.i. meist eid(,) an", BMZ, II/l, 630, 27-47. Wigalois, 2599-2600. Gregorius, 621-622. Die Sprinze, 16-19, in: J. und W. Grimm, Altdeutsche Wälder, 3, S. 192-195 (1816). Die Verserzählung stammt aus dem Codex Vindobonensis 2705, Nr. 242 (Österreichische Nationalbibliothek Wien, vgl. Menhardt 1960, 197) und wurde von Grimm irrtümlicherweise dem Stricker zugeschrieben. Eine andere Zuschreibung oder eine neuere Ausgabe sind uns nicht bekannt. Das Buch der Natur, 198, 11-13.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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- rihten '(jmdm.) Speisen, ein Gericht auftragen' (?): (124) einem richten 'einem Speisen aus der Küche auftragen';274 in dreistelligen Konstruktionen konnte rihten auch im Sinne von 'berichten, darlegen, erklären', 'vor Gericht dartun', usw. verwendet werden, vgl.: (125) iu wil der künic rihten daz er sin niht hat erslagen 'Ihnen will der König vor Gericht dartun, daß er ihn nicht erschlagen hat'275 mhd. ringen 'erleichtern, abschwächen, verringern': (126) "lätz harnasch von iu bringen und iweren liden ringen " '"laß den Harnisch von Ihnen wegnehmen und (laß jemand) Ihre Leiden lindern', Wolfram von Eschenbach276 das Verb regiert normalerweise einen Akkusativ der Sache, eventuell zusammen mit einem Dativ der Person, z.B.: (127) man sol dem sündaere ringen sine swasre mit senfler buoze, daz im diu riuwe suoze 'Man muß dem Sünder seine Last erleichtern mit milder Buße, damit ihm die Reue sanft wird', Hartmann von Aue277 mhd. risen 'jmdm. zufallen': (128) welt, we dir, we! schatzer, lebende re, rise dir golt alsam der sne, du woltest dur din gitekeit, stüend es an diner wal, noch me. 'Welt, weh dir, weh! Geldsammler, lebendiger Leichnam, MH, II, Sp. 434; dies ist der einzige Beleg in den Mittelhochdeutschen Wörterbüchern von Benecke-Müller-Zarncke und Lexer, und er ist den Chroniken der fränkischen Städte entnommen, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaft zu Leipzig, Nürnberg: 1862-1864, Bd. 2, 351, 15. Der Band war uns nicht zugänglich. Das Nibelungenlied, 1110, 3. Parzival, 164, 3-4. Gregorius, 3809-3812.

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278

Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

auch wenn das Gold dir wie Schnee zufiele, du würdest wegen deiner Habgier - wenn du es wählen könntest noch mehr begehren', Der Marner (13. Jh.)278 ahd./mhd. rümen, frühnhd. räumen '(den Platz) räumen': (129) Vuanda do Christus irstuönt . do uuurden sie flühtig . unde dö rümdon sie fidelibus 'denn als Christus auferstand, ergriffen sie die Flucht und wichen den Treugebliebenen', Notker279 (130) "Owe, lieben lawt, owe! Lat mich hin zu, weicht beseit! (...) Lat mich hin zu, get her ab!" Si rawmten ir. '"Ach, liebe Leute, ach! Laßt mich bei ihm, aus dem Weg! (...) Laßt mich bei ihm, geht weg!" Sie machten ihr Platz.' (Ende des 13. Jahrhunderts)280 (131) nu er selbs der Zwietracht geräumet, Luther;281 meist wird das Verb indes in dreistelligen Konstruktionen verwendet, z.B.: (132) Rüther sande bodendrate. nach lipolde in eine kemenate. aiser uor den kuninc quam gegangen. Do war er wol unt fangen. Der maregraue romt ime den stuol 'Rother schickte den Boten schnell zu Leopold in die Wohnstube. Als er vor dem König erschien, wurde er gut empfangen: Der Markgraf räumte ihm seinen Stuhl' (zwischen 1152 und 1180)282

XV, Maria bliiendez mandelris, 54-59.

279

Piper, II, 439, 15.

280

Das Väterbuch, 39800-39807.

281

DW, VIII, Sp. 287. König Rother, 100-104.

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Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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mhd. satelen, satlen, sateln 'für jmdn. (das Pferd) satteln': (133) dö hiez er im algerihte sateln 'da befahl er, dem Pferd für ihn sogleich den Sattel aufzulegen' (Anfang des 13. Jahrhunderts)283 (134) ..., daz er uns satele schiere 'daß er uns sofort die Pferde sattle', Gottfried von Straßburg;284 diese Belege sind mit dreistelligen Verwendungen zu kontrastieren wie: (135) man sal im sateln din pfert, dar üfsal er rtten (Anfang des 14. Jahrhunderts)285 mhd. schallen (auch geschalten) 'lobsingen, durch Lobgesang preisen; singen über': (136) ein herze, da nie valscher rät üz kam: daz ist von Mekelenburc her Heinrich, dem ich schalle 'ein Herz, aus dem nie falsche Überlegungen kamen: das ist Herr Heinrich von Mecklenburg, den ich durch Lobgesang preise', Heinrich von Meißen (ca. 1290-1318)286 (137) den bcesen herren zitewize kan er schallen die dienstes ungelönet länt 'über die bösen Herren kann er singen, um sie zu tadeln (d.h.: 'um ihnen Vorwürfe zu machen'), [über die Herren,] die Dienste nicht belohnen', Reinmar von Zweter (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts)287 mhd./frühnhd./nhd. schenken 'bewirten': (138) Man hiez den gesten schenken unt schuof in ir gemach 'Man gab den Befehl, die Gäste zu bewirten und machte es ihnen bequem'288 (139) schenk' ich meinem herrn zu danke, nun, so küszt er mir die stirne, Goethe;289 Eraclius, 1618-1619. Den Bearbeitern der Deutschen Grammatik Jacob Grimms ist in diesem Zusammenhang ein interessanter Fehler unterlaufen. Sie zitieren die Textstelle im Eraclius wie folgt: "dö hiez er im (dem orse) satelen" (Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 823). Das zwischen runde Klammern gesetzte dem orse soll das Satzglied sein, das man sich hinzuzudenken hat. Aus eben diesem Grund kann es freilich nicht ein Dativobjekt sein. Darüber hinaus ist in der Quelle von den drei besten loufaeren (Eraclius, 1611 u. 1615) die Rede, d.h. also von den drei besten Rennpferden; der Kaiser Focas befiehlt, diese flir ihn zu satteln. Tristan, 9323. Hester, 1427-28. Sprüche, 132, 18-19. Gedichte im Minnenton, 281, 11-12. Das Nibelungenlied, 408, 1. DW

v m

Sp

2549.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

daneben existierten dreistellige Verwendungen:

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(140) do hiez man balde scenken den gesten guoten win 'dann gab man den Befehl, den Gästen schnell guten Wein auszuschenken'290 mhd. Schern '(den Bart) rasieren': (141) mir muoz ein ander meister Schern dann ir 'ein anderer Meister als Sie muß mich rasieren' Konrad von Würzburg (ca. 1220/301287)291 ahd. scirmen, mhd. schirmen '(jmdn.) schützen, (jmdm.) Schutz gewähren': (142) Oha es iaman bigan, thdz er uuidar imo uuan scirmta imo ίό gilicho druhtin lieblich 'Wenn einer anfing, ihn zu besiegen, schützte der gute Herr ihn allemal', Otfrid292 (143) der stal schirmtte dem ulaische diu heilige minne dem gaiste. 'der Stahl schützte das Fleisch (d.h.: 'den Körper') die heilige Liebe (d.h. 'die Liebe zu Gott') den Geist', Pfaffe Konrad (12. Jh.);293 andere mhd. Belege weisen auf die ursprüngliche Möglichkeit hin, das Verb in dreistelligen Konstruktionen zu verwenden, z.B.: (144) kalt und vil reine ist der selbe brunne: in rüeret regen noch sunne, nochn trüebent in die winde, des schirmet im ein linde 'kalt und sehr rein ist die genannte Quelle: weder Regen noch Sonne können das Wasser in Bewegung setzen,294

Das Nibelungenlied, 1668, 3. Heinrich von Kempten ("Otte mit dem barte"), 370-371. Piper, L 51-52. Das Rolandslied, 4863-4864; vgl. folgenden Beleg mit reflexivem sich schirmen: (143') do begond' im schermen der herliche gast 'dann begann der mächtige Gast, Deckung zu suchen', Das Nibelungenlied, 490, 3; vgl. Dal 1966, 6. wörtlich: 'rühren'.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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und auch die Winde können sie nicht trüben. Davor schützt sie ein Lindenbaum', Hartmann von Aue295 mhd. schönen 'folgen, nachgeben': (145) Lewe noch einhurne scöne stneme zorne: swenner dichfememe sine grimme er hine lege. 'Weder der Löwe noch das Einhorn wird seinem Zorn nachgeben: wenn er dich sieht, bändigt er seine Wut'296 frühnhd. segenen 'segnen': (146) Naboth hat Gott vnd dem Könige gesegenet, Luther (1. Kön. 21, 13) mhd. senften 'jmdm. Linderung verschaffen': (147) doch suit ir stnen kumber klagen: ob ir im senftet, daz ist guot 'doch sollt ihr seinen Kummer beklagen: wenn ihr ihm Linderung verschafft, dann ist das gut', Wolfram von Eschenbach297 mhd. sichern 'geloben, versprechen, sich jmdm. unterwerfen': (148) e ir mich so bestüendent me, zwäre ich sichert iu e 'lieber, als daß Sie mich angreifen, würde ich mich Ihnen unterwerfen', Hartmann von Aue298 mhd./nhd. singen 'für jmdn. ein Lied (zum Preise) singen' (149) din güetlich geläz mich twanc daz ich dir beide singe al kurz oder wiltu lanc 'Dein freundliches Gesicht zwang mich dazu, für dich in zweierlei Weise zu singen: kurz, oder wenn du willst, lang', Wolfram von Eschenbach,299 (150) säng' ich, mai, nicht dir zu ehren, nicht zu ehren, liebe, dir, Gottfried August Bürger (1747-1794);300 gebräuchlicher war freilich immer dreistelliges singen, wie z.B. in:

Iwein, 568-572. Die Wiener Genesis, 218-219. Parzival, 642, 22-23. Iwein, 7585-7586. Ursprinc bluomen, IV, 5-6. DW, X, 1, Sp. 1079.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

(151) er videlte süeze doene und sanc ir siniu liet 'er fiedelte liebliche Melodien und sang ihr seine Lieder'301 mhd. sniuzen '(sich) die Nase putzen': (152) Zv hant warn si gar vferjloschen Vnd begunden die rede le[n]ken Vnd daz haubt nider sencken alz in gesneuczet were 'Sofort waren sie erloschen (d.h.: 'schwiegen sie') und fingen an, darauf zu achten, was sie sagten, und den Kopf zu senken, als ob ihre Nase geputzt wurde', Ruprecht von Würzburg (Anfang des 14. Jahrhunderts)302 mhd. spiln, frühnhd. spielen 'vorspielen, musizieren, unterhalten': (153) da mite hän ich dir wol gespilt 'damit habe ich dich gut unterhalten', Gottfried von Straßburg303 (154) spielet dem herrn mit paucken, und klinget jm mit cimbeln, Luther304 mhd. staten, gestaten 'jmdm. standhalten; es mit jmdm. aufnehmen' mit einem Dativ der Person hat in lexikographischen Werken eine gewisse Tradition, die jedoch auf nicht gesicherten Belegen beruht305

Das Nibelungenlied, 1705, 3. Von zwein koufinannen, 508-511. Tristan, 3734. DW, X, 1, Sp. 2371. Ein Beleg wäre im Rolandslied des Pfaffen Konrad vorhanden: thie statent wol den Franken 'sie halten den Franken wohl stand' (MH, II, Sp. 1147), im Deutschen Wörterbuch zitiert als thie stadent wol den Franzen (DW, Χ, 21, Sp. 1020). Die Form Stadent (im Mittelhochdeutschen Wörterbuch normalisiert als statent wiedergegeben) ist eine Emendation von Karl Bartsch auf der Grundlage der Handschrift Α des Rolandslieds (vgl. Carl Wesles Ausgabe vom Rolandslied des Pfaffen Konrad S. 283, Variantenapparat). In Wesles Ausgabe, die auf der Grundlage mehrerer Handschriften erstellt wurde, lautet die Stelle: di gestreitint wol den Francken (Zeile 8106). Auf einem Irrtum beruht auch der zweite vermeintliche (niederdeutsche) Beleg im Deutschen Wörterbuch: unse here ok den Ungern stadede (DW, X, 2', Sp. 1020), der der Gandersheimer Chronik des Priesters Eberhard entnommen ist. Die Ausgabe von Ludwig Wolff enthält für diese Stelle nicht das Verb Staden, sondern schaden• unse here ok den Ungern schadede (Zeile 1441).

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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mhd./frühnhd./nhd. sterben 'sterben': (155) Stirbet man dirre weit, man enstirbet gote niht 'Stirbt man dieser Welt, so stirbt man (deshalb) nicht (auch) für Gott', Meister Eckhart306 (156) Leben wir / so leben wir dem Herrn / Sterben wir / so sterben wir dem Herrn, Luther (Rom. 14, 8)307 (157) man würde einen marmor auf seine (Rollers) gebeine sezen, wenn er nicht mir gestorben wäre, Schiller308

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mhd./frühnhd./nhd. sterben 'entsagen': (158) Die bredie usser sancte Johans ewangelio (...) leret drier hande lute in weler wise sü irme eiginen willen sterben söllent, dadurch in ewig leben möge gevolgen 'die Predigt aus dem Johannesevangelium (...) lehrt drei Sorten von Menschen, auf welche Weise sie ihrem eigenen Willen entsagen müssen, damit sie das ewige Leben finden', Johannes Tauler309 (159) ein solch mensch mus allen dingen gestorben sein, Luther310 (160) meine (erblindenden) äugen leben der freude, ob sie schon dem lichte sterben, Friedrich Maximilian Klinger (1752-1831)311

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mhd. stein 'jmdn. bestehlen': (161) unde triugest du in, sö triuget er dich her wider; oder du stilst im, so stilt er dir her wider 'und wenn du ihn betrügst, dann betrügt er dich auch; oder du bestiehlst ihn, dann bestiehlt er dich auch', Berthold von Regensburg (um 1275)312

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mhd./frühnhd. strelen 'streicheln, kämmen': (162) also thut die mutter dem kind, so sie ihm streit, Johann Geiler von Keisersberg (1445-1510)313

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mhd./frühnhd. streuen, ströuwen, streuwen 'Streu (zum Lager) geben': (163) waz hers ze beder sit da lac, die von dem strite töuten!

306 307

308 309 310 311 312 313

Predigten, hrsg. von Josef Quint (1971), II, 365, 2; S. 704 auch die Übersetzung. lat.: Sive enim vivimus, Domino vivimus: sive morimur, Domino morimur, vgl. dagegen die Präpositionalphrase in: Vnd er ist darumb ßr sie alle gestorben (lat.: et pro omnibus mortuus est Christus), 2. Kor. 5, 15. DW, X, 2\ Sp. 2420. Predigten, 65, 1-5. DW, X, 22, Sp. 2425. a.a.O. Predigten, I, 18, 7-8. DW, X , 3, Sp. 805.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

wie si den orsen ströuten mit gezimiertem man! 'was da auf beiden Seiten an Soldaten lag, die durch den Streit im Todeskampf lagen! Wie sie den Pferden mit ritterlich geschmückten Männern Streu gaben (wörtlich: 'wie sie den Pferden mit manchem ritterlich geschmückten Mann streuten')', Wolfram von Eschenbach314 (164) dem vieh, den pferden streuen, Matthias Kramer (1640-1729/ 32)315 mhd. striten, gestriten 'es mit einem aufnehmen (zum Streit, Kampf)': (165) er zoch si hin sunder danc, wan si mohte im nicht gestriten 'er riß sie ohne Rücksicht mit, denn sie konnte es nicht mit ihm aufnehmen (d.h.: 'sie war ihm nicht gewachsen')', Hartmann von Aue316 mhd. stuolen, stüelen 'Sitze bereiten, eventuell: (jmdm.) den Thron errichten' : (166) ich han auch zwor dem hertzen din In mir gar schon gestület 'ich habe deinem Herzen in mir schon einen Sitz bereitet' (2. Viertel des 14. Jahrhunderts)317 ahd. sundon, mhd./frühnhd. Sünden, nhd. sündigen 'gegen jmdn. sündigen, eine Sünde begehen': (167) Heile mine sela . uuanda ih dir gesundot häbo 'Heile meine Seele, denn ich habe gegen dich gesündigt', Notker318 (168) Die fünften sünder, die ouch der siben volke sint die dem almehtigen got sündent 'Die fünfte Gruppe von Sündern, die auch Teil der sieben Typen sind, die gegen den allmächtigen Gott sündigen', Berthold von Regensburg (um 1275)319

Willehalm, 393, 6-9. Auch dieses Verb ist, mit der Dativrektion, regional bewahrt geblieben, z.B. im Schweizerdeutschen. DW, X, 3, Sp. 1487. Erec, 6427-6428. Die Minneburg, 1458-59. Piper, II, 151, 4; lat.: Sana animam meam quoniampeccaui tibi. Predigten, I, 191, 32-33.

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(169) dan ihm (gott) allein sundet man, Johann Eberlin von Günzburg (1470-1533)320 (170) wir haben zwar unserem gott gesündiget, aber nicht der weit, Lessing321 mhd. swasren, swären 'schmerzen; schmerzlich, beschwerlich sein oder werden': (171) dar zuo gevie der selbe slac einen sö griulichen smac, daz im daz leben sweerete 'Außerdem verbreitete die Wunde einen so scheußlichen Geruch, daß das Leben ihm schmerzhaft war', Gottfried von Straßburg322 mhd. swtgen, frühnhd./nhd. schweigen '(etwas) unerwidert lassen, (etwas/jmdm.) schweigend zuhören, verstummen; schweigen zu': (172) sit diu von Hagenouwe, ir aller leitefrouwe, der werlde alsus geswigen ist 'seit die von Hagenau, die Anführerin von ihnen allen, für die Welt verstummt ist', Gottfried von Straßburg323 (173) Müssen die Leute deinem grossen schwetzen schweigen / das du spottest / vnd niemand dich bescheme, Luther (Hiob 11,3) (174) meine schwester der ich so lange geschwiegen habe als dir, Goethe324 ahd. ter(r)en, terian, mhd. tern 'schaden, Schaden, Leid zufügen': (175) "Niförihti thir, biscof! ih ni terru thir drof" '"Fürchte dich nicht, Ο Priester, ich füge dir kein Leid zu!'", Otfrid325 (176) herre, höre uns hie nidene über dizze unsüber here, deiz deme chunige niene tere noch deme sineme Hute

DW, X, 4, Sp. 1141. DW, X, 4, Sp. 1184. Tristan, 7279-7281. Tristan, 4777-4779; für die Übersetzung s. ΜΗ, II, Sp. 1372. DW, IX, Sp. 2427. Piper, I, 4, 27.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

'Herr, erhöre uns hier unten, was dieses unreine Heer betrifft, damit es weder dem König Leid zufügt noch diesem seinem Volk'326 mhd. twahen, frühnhd. zwagen 'waschen, baden': (177) ich hiez im twahen unde schern 'Ich befahl, ihn zu waschen und zu rasieren', Rudolf von Ems (um 1220-30)327 (178) man spricht, sie zwahennt dir mit drübem wasser on all laugen 'man sagt, daß sie (die Heiden) einen mit trübem Wasser waschen, ohne jede Waschlauge', Heinrich von Sachsenheim (1366-1458)328 (179) wer viel ins bad kompt, dem wird offt gezwagen, Christoph Lehmann (1570-1638);329 vgl. die folgenden Belege für den entsprechenden dreistelligen Satzbauplan: (180) do ist die stat, do unser herre seinen jiingern die flisz zwug, Hans Schiltberger (um 1380 - nach 1427)330 ahd. thwingan 'jmdm. gewachsen sein, jmdn. oder etwas beherrschen', 'jmdm. Gewalt antun': (181) Tinin fiiunden ist si noh dntläzig • toh si dir duinge 'Deinen Freunden ist sie (= Fortuna) noch nachgiebig, obwohl sie dich bedrängt', Notker331 mhd. wachen 'wach bleiben, erwachen; wecken': (182) ir genäde mir muoz wachen 'ihre Gnade muß mich wecken', Rudolf von Rotenburg;332 ein späterer Bedeutungsansatz desselben Verbs wachen, der bis ins Nhd. vor allem im süddeutschen Sprachraum mit Dativrektion begegnet, ist 'Wache bei einem Kranken/Toten usw. halten', wie in: Die altdeutsche Exodus, 1426-1429. Der guote Gerhart, 4160. Obwohl mhd. heizen manchmal auch den Dativ regiert, verwendet dieser Text bei heizen konsequent den Akkusativ der Person (vgl. so si baldest mohten, hiez ich si bereiten daz, 4154-4155), so daß mit gutem Grund angenommen werden kann, daß die Verben twahen und schern den Dativ im regieren. Die Unminne, 202-203. DW, XVI, Sp. 930. a.a.O. Piper, I, 80, 27. Leiche und Ueder, IX, 3.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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(183) er kam in eine schwere und grosse kranckeit, also dasz man im stetigs wachen müszt, Jörg Wickram (ca. 1505-1562)333 (184) auff dem tisch stunden zwey liechter brennend bey hellem tag, als ob man den todten (= Plural) wachen solte, Hans Michael Moscherosch (1601-1669)334 (185) wenn es aber darum zu thun war, einer armen frau etwas zu bringen oder ihr zu wachen, so war Anneliese immer parat, Jeremias Gotthelf (1797-1854)335 frühnhd. warnen 'warnen' (selten): (186) sie werden ihre trotzigkeit bereuen; ich warne ihnen (18. Jh.)336 beim Verb warten sind historisch mehrere Verwendungen zu unterscheiden, die sich zwar aus einem einzigen Bedeutungsansatz entwickelt haben, aber trotzdem über eigene Normbedeutungen verfügen: - ahd. warten, mhd. warten 'achten auf, beobachten, Ausschau halten nach': (187) Then büachon maht thär uudrten 'du kannst dem in der Schrift nachgehen337', Otfrid338 (188) dä loseten si dem duzze und warteten dem fluzze 'da hörten sie auf das Geräusch und beobachteten den Fluß', Gottfried von Straßburg339 - mhd./fnihnhd. warten 'warten auf: (189) er sprach zuo der vrouwen: "die Sifrides man iu wartent bi den rossen" 'er sagte zu der Frau: "Siegfrieds Leute warten auf Sie bei den Pferden"'340 (190) Johannes sagte (...) er wolle ihm warten, Jeremias Gotthelf (1797-1854)341

DW, XIII, Sp. 43. a.a.O. a.a.O. DW, XIII, Sp. 2085. wörtlich: "achte in bezug darauf auf die Bücher'. Piper, V, 11, 3. Tristan, 17167-17168. Das Nibelungenlied, 1084, 2-3. DW, XIII, Sp. 2155.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

- frühnhd. warten 'pflegen, versorgen' (191) wie den Schweinen gewartet wird, Wolfgang Helmhard von Hoberg (1612-1688)342 - mhd./frühnhd. warten "untergeben sein, folgen, dienen': (192) .... dem ( = sinem sune) soll man warten / gelicher wise reht als im 'ihm (seinem Sohn) soll man gleichermaßen gerecht dienen wie ihm (selber)'343

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(193) und sollend einem burgermeister wartend sin und der statt panner, Ägidius Tschudi (1505-1572)344 ahd. wäzan 'schelten, schimpfen, fluchen': (194) tu uuäre iro ouh to sitig zeuuäzenne mit komelichen uuorten 'du pflegtest damals auch (warst gewohnt), sie mit fürchterlichen Worten anzugehen', Notker345 ahd. uuegan 'bedrücken, schmerzen, Schaden zufügen': (195) Fone diu chäd si . nesol dänne uutsemo man däz nieht uuigen 'Dazu sagte sie: "Das braucht einen weisen Mann nicht zu bedrücken'", Notker346

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mhd. wegen '(jmdm.) einen/den Weg bereiten'347: (196) dane mohte dehein zunge ze reht wol beduten, wie sie weget den livten an unsers herren fuzzen

342

DW, XIII, Sp. 2140; es kam aber auch (und zwar häufiger) der Genitiv vor, und bereits seit der frühnhd. Zeit werden sowohl die Dativ- als auch die Genitivrektion vom Akkusativ verdrängt, vgl. DW, XIII, Sp. 2137-2142. Lohengrin, 3767-3768; s. MH, III, Sp. 698 und BMZ, III, 530-531; vgl. daneben auch das mhd. Präfixverb geworfen 'ausschauen nach, um es zu beobachten, zu empfangen, um zu dienen usw.', z.B. in: der werlt er wol gewarten kan 'der Welt kann er wohl dienen', BMZ, III, 531, 37-38. DW, XIII, Sp. 2145. Piper, I, 52, 9; lat.: solebas enim presentem quoque bUmdientemque incessere uirilibus uerbis. Piper, I, 296, 19; lat.: Quare inquit ita uir sapiens molesteferre rwn debet. Nach dem Mittelhochdeutschen Handwörterbuch von M. Lexer sind zwei homonyme mhd. Verben wegen vorhanden: wegen 'gewogen sein, helfen, sich verwenden für, beistehen' und wegen 'einen wec bereiten' (MH, III, Sp. 727). Sollte dieser Unterschied überhaupt existieren, trifft er zumindest für mhd. wegen + Dativ der Person nicht zu, wie aus den beiden Belegen (196) und (197) hervorgeht, die keinen Bedeutungsunterschied aufweisen. Das Mittelhochdeutsche Handwörterbuch ordnet die Belege jedoch (aufgrund eines beschränkteren Textausschnittes) der ersten bzw. der zweiten Definition zu.

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346 347

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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'keine Zunge kann genau erklären, wie sie Leuten einen Weg zu den Füßen unseres Herrn bereitet', Priester Wernher (dichtete um 1172)34e (197) ir reinen hörere guot, ir suit mir ze gote wegen, daz er mir teile sinen segen 'ihr reinen, guten Hörer, ihr sollt mir den Weg zu Gott bereiten, damit er mir seinen Segen erteilt', Ebernand von Erfurt (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts)349 - ahd. uuerran, mhd. werren, wirren 'im Weg stehen, hemmen, schaden; (jmdm.) Schaden zufügen; verwirren, bedrücken; kümmern': (198) Ih mag uuöla chäd si irräten . uuäz tir uuirret '"ich kann schon raten," sagte sie, "was dich bedrückt'", Notker350 (199) ...sagemir, waz meinest du, waz wirret dir? 'sage mir, was meinst du, was ist es, was dich durcheinander bringt?', Gottfried von Straßburg351 - ahd. widiren, widoren, mhd./frühnhd. widern 'widerstreben': (200) ther uuidoröt, in alauuär, themo keisore sär 'der widerstrebt fürwahr sehr dem Kaiser ', Otfrid352 (201) ursach (...) einem richter zu widern und aufzuheben (16. Jh.)353 - frühnhd./rihd. widern 'ekeln, anwidern': (202) so dein bruder etwas sundiget, das dir wyddert, Luther354 (203) ich kann nicht sagen, wie der ort mir widert, Schiller355

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Maria, Hs. D, 5072-5075. Heinrich und Kunegunde, 53. Piper, I, 314, 20; lat. lam enim coniecto quibus perturbare. Tristan, 12486. Piper, IV, 24, 10; lat.: Omnis qui se regem facit contradicit caesarl·, vgl. Kelle 1870, 345, 19-20. DW, XIV, l 2 , Sp. 1124. DW, XIV, l 2 , Sp. 1125. a.a.O.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

mhd. wilden 'wild sein/werden; fremd sein/werden': (204) nun beste minneclich gewin den hat mir Terrameres kraft umbelegen mit sölher riterschaft, daz mir der kus nü wildet 'meinen schönsten Liebesgewinn hat mir Terrameres Kraft mit einem so großen Ritterheer eingekesselt, daß mir der Kuß [für Alyz] nun fremd ist', Wolfram von Eschenbach356 ahd. willdn 'jmdm. willfahren, nach jemandes Willen handeln'357 (auch gewillön 'Genugtuung verschaffen, nach jmds. Willen handeln'): (205) uuanda sie echert imo uuülont. nals in selben 'weil sie ihm mehr zu Willen sind als sich selbst', Notker358 ahd. zartön, mhd./frühnhd. zarten und zartein 'liebkosen, schmeicheln, freundlich sein gegen, (jmdm.) Wohlwollen zeigen': (206) unz si dir gediene ums . linde dir zartöta 'bis sie deine Dienerin war und dir schmeichelte'359 (207) Swie sere wir nu dem libe zarten, Doch werde wir gelich den schemebarten 'wie sehr wir den Körper auch hegen, wir werden letztendlich doch wie die Masken', Hugo von Trimberg360 (208) laszt üch wie den wiben zertlen, Thomas Murner (1475-1537)361 mhd. ziln, frühnhd. zielen 'zu sich, an einen Ort bestellen, einladen; jmdm. Ort und Zeit (das Ziel) bestimmen': (209) Ain Unckfraw aller tugent, Die warb in irer iugent Willehalm, 156, 24-27. AW, 324, Sp. 1. Piper, II, 59, 22-23; lat.: dei, cuius voluntatem praeponit suae, s. Sehrt 1962, 293, Sp. 1; vgl. das komplexe gewillön in: th nezuiueloti nieht chad ih . mibe lh timo sölti geuuillön . dir iz lite 'Ich würde nicht daran zweifeln, sagte ich, daß ich demjenigen Genugtuung verschaffen würde, der jetzt leiden würde' (lat.: Nec ambigo inquam quin perpesso satisfecerem), Notker (Piper, I, 264, 10-12). Piper, I, 52, 11; lat.: solebas enim presentem quoque blandientemque incessere uirilibus uerbis. Der Renner, 23189-90. DW, XV, Sp. 298.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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Vrrib ainen knaben Junck, Dem hett sy haim gezilt 'Eine tugendvolle Jungfrau bewarb sich während ihrer Jugend um einen jungen Knaben, den sie [zu ihr] ins Haus bestellte' (14. Jh.)362 (210) dem hab ich zilt in den thiergarten, Hans Sachs (1494-1576).363 Wie gesagt erheben wir mit der obigen Übersicht keinen Anspruch auf absolute Vollständigkeit. Außerdem soll hervorgehoben werden, daß die Übersicht insofern auch einigermaßen heterogen is, als manches Verb den Belegen zufolge nur ausnahmsweise oder nur kurze Zeit mit einem adverbalen Dativ verbunden wurde (z.B. warnen), während andere Verben regelmäßig den Dativ regierten, und zwar über Jahrhunderte hinweg (dazu gehört z.B. das heute defektive Verb frommen). Darüber hinaus liegt dem Satzbauplan mit adverbalem Dativ nicht immer dieselbe syntaktische Motivation zugrunde. Bei vielen Verben ist der Zusammenhang mit einem dreistelligen Satzbauplan und somit auch die ursprünglich diakritische Funktion des Dativs deutlich (z.B. bei einem Verb wie lohnen), in anderen Fällen ist eine solche Motivation kaum plausibel (z.B. bei locken). Zu den Verben mit adverbalem Dativ werden in der Literatur auch noch ahd. goumen '(üppig) essen, schlemmen' und wihan 'weihen, heiligen, segnen' gerechnet.364 Dem Althochdeutschen Wörterbuch zufolge ist das Verb goumen nur bei Otfrid, Notker und im Tatian belegt; bei den beiden ersten Autoren jedoch begegnet es nur in absoluter Verwendung, so daß nur ein Beleg im Tatian übrigbleibt, die Hypothese der Dativrektion von goumen zu unterstützen. Darin hat das Verb nicht die Bedeutung 'achten auf, das Augenmerk richten a u f , sondern 'speisen, ein Festmahl halten': (211) thaz ih nunen friuton goumti, wörtlich: 'daß ich meinen Freunden üppig essen würde'.365

362 363 364

365

Das Liederbuch der Clara Hätzlerin, 1, 125, 1-4. DW, XV, Sp. 1088. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 825 (Originalpag. 693) und vgl. AW, 153, Sp. 2 "m(it) Dat(iv)", bzw. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 814 (Originalpag. 686) und vgl. AW, 323, Sp. 1 "m(it) Dat(iv), Akk(usativ)". Tatian, 9 7 , 7 .

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

Das diakritische Motiv, das sich bei den anderen Verben meist deutlich ausfindig machen ließ, fehlt in diesem Beleg ganz, und überhaupt scheint der adverbale Dativ schwer deutbar zu sein. Wir sind der Meinung, daß hier nur scheinbar ein adverbaler Dativ vorliegt. Das Zitat ist die Übersetzung von lat. cum amicis meis epularer. Berücksichtigt man, daß der Tatian sich in der Regel durch eine sehr wörtliche Übersetzung der lateinischen Vorlage auszeichnet, dann gilt das auch in dieser Belegstelle, wenn man sie durch mit ergänzt. Wir konjizieren Satz (211) denn auch, wie wir glauben aus gutem Grund, wie folgt: (211') thaz ih mit minen friuton goumti 'daß ich mit meinen Freunden üppig essen würde'. Da außerdem das Längezeichen Λ in der Handschrift nicht geschrieben steht, ist es wahrscheinlich, daß dem Übersetzer (γ) ein Antizipationsfehler unterlaufen ist und die Präposition mit irrtümlicherweise ausgelassen wurde, und zwar aufgrund der Tatsache, daß sie denselben Anlaut wie das nächstfolgende Pronomen minen aufweist. Nicht zu den ahd. Verben, die einen adverbalen Dativ regieren konnten, zählen wir auch ahd. wihan (mhd. wihen) 'weihen, heiligen, segnen'. Der Dativ kommt bei diesem Verb nur in Übersetzungen vor, die sklavisch der lateinischen Vorlage verhaftet sind (z.B. Tatian, Murbacher Hymnen, die altalemannische Benediktinerregel usw.) und mit wihen + Dativ Wort für Wort den lat. Satzbauplan benedicere alicui übersetzen. Bei Notker und Otfrid, die bekanntlich eine viel größere Selbständigkeit an den Tag legen, kommt nur die Akkusativrektion vor, die wir denn auch für die einzig richtige Rektion von wihan halten, z.B.: (212) Thö uuihta siu ther älto 'Da weihte sie der Alte', Otfrid.366 Was die Verben der Übersicht betrifft, sahen wir bereits im vorigen Abschnitt VII.3., daß Grimm die These aufgestellt hat, der adverbale Dativ erkläre sich meist, "wenn man den ausgelassenen acc(usativ) der sache hinzu denkt";367 das gelte für Verben wie betten, gürten, satteln u.a. Für diese Verben schlug Grimm mithin eine syntaktisch-semantische Erklärung vor,

366 367

Piper, I, 15, 25; lat.: Et benedixit Ulis symeon. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 826 (Originalpag. 693).

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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die unserem funktional-diakritischen Ansatz für die Begründung des adverbalen Dativs bei den Verben der GRUPPE Α entspricht. Es muß ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß die diakritische Erklärung nicht auf deutsche Verben beschränkt ist und implizit schon in älteren Quellen vorgefunden werden kann, wenn auch nicht wirklich in einem explanativen kasustheoretischen Zusammenhang. So ist es z.B. eine Tradition in lateinischen Schulgrammatiken, den adverbalen Dativ bei nubere alicui 'sich mit jmdm. vermählen (als Frau mit einem Mann)' aus der ursprünglichen Bedeutung des Verbs 'verbergen, verhüllen' (verwandt mit obnubere) und aus der älteren Verbindung dieses Verbs mit sowohl einem Dativ- als auch einem Akkusativobjekt herzuleiten: nubere alicui caput 'jmdm. den Kopf verhüllen' oder nubere alicui se ipsum 'sich selbst (vor) jmdm. verhüllen'. Die Entwicklung zu nubere alicui 'sich mit jmdm. vermählen' rührt demnach von der Sitte her, bei der die Frau sich vor ihrem Bräutigam verhüllte. Diese Erklärung geht auf Lucius Aelius Stilo (2./1. Jh. v. Chr.), den Lehrer Varros und Ciceros, zurück, wurde mehrmals aufgegriffen, aber auch kritisiert (u.a. von P. Kretschmer), bis sie schließlich bestätigt wurde, u.a. von Jacob Wackernagel.368 Kehren wir nun zur Grimmschen These zurück, die auf der Ergänzung des Satzbauplans anhand eines ausgelassenen Akkusativobjekts beruht. Obwohl sie bestimmt nicht für alle Verben, die ehemals einen adverbalen Dativ regierten, plausibel ist, werden wir auf ein Verb - nämlich betten exemplarisch etwas ausführlicher eingehen. In der deutschen Gegenwartssprache wird betten als ein transitives Verb verwendet, in der Regel in Verbindung mit einem Präpositionalobjekt, z.B.: (213) Dann (...) bettete er meinen Kopf auf seinen zusammengepackten Mantel, Heinrich Boll (1917-1985)369 (214) Sie bettete das Kind sanft auf das Sofa (selten: auf dem Sofa)}10 Diese transitive Verwendung des Verbs ist jedoch jüngeren Datums und geht erst auf das Frühnhd. zurück. Grimm nennt das Verb betten "ein schönes, gefüges wort",371 das ursprünglich allerdings nicht '(behutsam) hinlegen' bedeutete, sondern dem lat. lectum sternere entsprach und somit ganz konkret 368 369 370 371

s. Wackemagel 1926, 1293f. WDG, I, 578, Sp. 1. a.a.O.; vgl. DUW, 250, Sp. 2. DW, I, Sp. 1733.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

'das Bett machen' zum Inhalt hatte. Entsprechend regierte das Verb einen satzsemantisch diakritisch motivierten adverbalen Dativ: (215) Kudrun ir gesinde fragen dö began, ob ir gebettet weere; si wolte släfen gän 'Kudrun fing dann an, ihr Gesinde zu fragen, ob ihr das Bett gemacht war, sie wollte Schlafengehen'372 (216) man bette dem helden sän: daz wart mit vltze getan 'man machte dem Helden alsbald das Bett: das tat man mit großem Fleiß', Wolfram von Eschenbach373 (217) dö bette man in, den gesellen allen drin 'dann bereitete man ihnen, den drei Gesellen, das Bett', Hartmann von Aue.374 Die Konnexion des Verbs mit dem adverbalen Dativ konnte zusätzlich noch eine Präpositionalphrase an sich binden. Das ist auch der Satzbauplan, der dem heutigen Typ betten + Akkusativobjekt + Präpositionalobjekt zugrunde liegt, wobei aber der Akkusativ auf die Abschwächung von 'jmdm. das Bett machen' zu 'jmdn. hinlegen' hinweist; vgl. noch mit dem Dativ im Mhd. und Frühnhd.: (218) den vil lieben gesten betten si dar under 'den lieben Gästen bereiteten sie darunter (= unter den drei Buchen) ein Bett', Hartmann von Aue375 (219) bett im unter die stiegen 'bereite ihm unter den Treppen das Bett', Hans Sachs.376 Die Dativrektion bleibt in zweistelligen Konstruktionen auch im Nhd. noch lange Zeit bewahrt, vgl.:

372

373 374 375 376

Kudrun, 1324, 1-2.

Parzival, 35, 7-8. Iwein, 6571-6572. Erec, 7091-7092; vgl. auch 7102-7103: dem wirte betten si unter die nashsten da bt. DW, I, Sp. 1733.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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(220) Wie ihm einer bettet / so liegt er377 (221) ward ihm sanft / gebettet unter den hufen seiner rosse?, Schiller378 (222) die wölfin trug sie in ihre nahe hole, bettete ihnen, leckte und säugte sie. Barthold Georg Niebuhr (1776-1831)379 (223) Wem die Liebe bettet, ruhet gut, Adelbert von Chamisso (17811838).380 Bei Goethe gibt es von der Dativrektion dagegen keine Spur mehr. Das Verb verwendet Goethe sehr oft reflexiv. Dem Goethe-Wörterbuch zufolge regiert betten sowohl im Bedeutungsansatz 'sich, jmdm. ein Lager bereiten' als auch im Bedeutungsansatz 'sich, jmdn. niederlegen; etwas einbetten, versenken usw.' den Akkusativ.381 Dagegen ist allerdings einzuwenden, daß die Beispiele mit Akkusativrektion sämtlich den zweiten Bedeutungsansatz exemplifizieren, u.a.:382 (224) Auf dem GickeUiahn (...) hab ich mich gebettet (225) Wenn du dich nur nicht zu weit im Norden gebettet hättest (metaphorisch für 'niedergelassen hättest') (226) Vernimmst ein Lied so froh und wahr, Den Geist darin zu betten. Die Beispiele aber, in denen der erste Bedeutungsansatz gemeint sein könnte, sind wieder reflexiv und morphologisch nicht eindeutig, vgl.: (227) Wohl dem der sich leidlich bettet (228) Da haben wir uns schön gebettet! Der einzige Beleg im Goethe-Wörterbuch, in dem explizit 'jmdm. ein Bett bereiten* gemeint ist, weist interessanterweise eine Präpositionalphrase auf: (229) Du steygst bey uns ab, für zwey Personen ist gebettet. Es gibt somit keinen Grund, daran zu zweifeln, daß der Kasuswechsel geschichtlich mit einem Bedeutungswandel des Verbs einhergeht, auch wenn es einleuchtet, daß man eine Periode annehmen muß, in der die Kasuszu377 378 379 380 381 382

Stieler 1691, Sp. 136. DW, I, Sp. 1734. a.a.O. Sanders 1876,1, 122, Sp. 3. GWb, II, Sp. 571. Alle Beispiele weiterhin a.a.O.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

Weisung schwankte. Die Entwicklung im Nhd. läßt sich anhand der lexikographischen Werke gut nachvollziehen. Adelung unterscheidet die Dativrektion in: (230) Stehe auf und bette dir selber von der Kombination Dativ-Akkusativ-Präpositionalphrase in: (231) Dein Tibur bettet dir die Wollust auf dem Klee, Johann Christian Günther (1695-1723).383 Bei dem folgenden Beispielsatz sind nach Adelung jedoch beide Kasus zulässig: (232) Bettete ich mir (mich) in die Hölle.™ Campe spricht zwar nur noch vom "transitiven" Verb betten, unterscheidet aber bereits deutlich zwischen a) 'das Bett machen' in: (233) Die Magd hat noch nicht gebettet sowie (234) Stehe auf und bette dir selber und b) 'auf oder in ein Bett bringen, lagern', wie in: (235) Einen weich betten, ihm ein weiches Bett geben (236) auch so nicht bettet die Mutter Dich auf Leichengewand, Johann Heinrich Voß (1751-1826).385 Wir können den angeführten Wörterbüchern entnehmen, daß der Dativ allmählich aus dem Satzbauplan mit einer zusätzlichen Präpositionalphrase verschwindet und darin durch den Akkusativ ersetzt wird. Zur gleichen Zeit kommt der Dativ auch in zweistelligen Konstruktionen unter Druck zu stehen. Der Bedeutungswandel des Verbs von '(jmdm.) das Bett machen' zu 'auf/in ein Bett legen' verleiht dem Kasus Wechsel vom Dativ zum Akkusativ demnach ein zusätzliches paradigmatisches Fundament. Die genannten Schwankungen in der Kasuszuweisung streicht vor allem Sanders heraus. Auch Sanders unterscheidet zwischen Dativrektion ('das 383 384 383

Adelung 1793ff, I, Sp. 952. a.a.O. Campe 1807ff, I, 509, Sp. 1-2.

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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Bett, die Betten machen', 'Einem [sich] ein Lager bereiten') und Akkusativrektion ('Einen [sich] ins Bett, in ein Lager legen'), weist jedoch darauf hin, daß dieser Unterschied in der Bedeutung in einzelnen Fällen "nicht erheblich" ist.386 Der Verfasser kontrastiert: (237) Den Gefangenen (Plural) bettet man nicht auf Rosen, Johann Peter Hebel (1760-1826)387 (238) Könnt' ich mich auf Rosen betten?™ Solche Beispiele belegen aus heutiger Sicht besonders deutlich diejenige Phase im Prozeß des Sprachwandels, die durch eine noch nicht verfestigte Systematik gekennzeichnet ist. In anderen Fällen, so merkt Sanders an, ist der Kasusunterschied bereits bedeutungstragend. Dies belegt der Verfasser aber in erster Linie dadurch, daß er zweistelliges betten mit adverbalem Dativ mit einem Beispiel kontrastiert, in dem das Verb in einer dreistelligen Konstruktion gebraucht wird, vgl.: (239) "Ist der Mutter Bett bereitet? "... Auch gebettet ist der Mutter389 (240) Sie hatte dem Kranken ein neues Lager gebettet?90 Auch Heyne verzeichnet zu Anfang unseres Jahrhunderts noch beide Rektionen des Verbs.391 Und während betten in Trübners Deutschem Wörterbuch nur am Rande erwähnt wird (das Wörterbuch liefert nur ein Beispiel für "bildlichen" Gebrauch und Akkusativrektion: Er ist nicht auf Rosen gebettet)?91 weisen die Bearbeiter von Pauls Deutschem Wörterbuch darauf hin, daß sich der Dativ bei betten bis ins 18. Jh. gehalten, schon Goethe aber sich ausschließlich für den Akkusativ entschieden habe.393 Bis heute ist die ursprüngliche Bedeutung des Verbs betten 'das Bett machen' in bestimmten Regionen des deutschen Sprachgebiets übrigens bewahrt geblieben, so z.B. im Schweizerdeutschen, wo der Dativ allerdings mit einer Präpositionalphrase (für jmdn. betten - wie bei Goethe) konkurriert. 386 387 388 389 390

391 392 393

Sanders 1876,1, 122, Sp. 3 und 123, Sp. 1. Sanders 1876, I, 123, Sp. 1. a.a.O. a.a.O. a.a.O. Sanders 1876, I, 122, Sp. 3 weist auch explizit auf Konstruktionen mit innerem Objekt hin: Ein Bett, Lager sc. betten (vgl. einen Gang gehen; einen Kampf, eine Schlacht kämpfen usw.). Heyne 1905f, I, Sp. 408. Trübner 1939ff, I, 314, Sp. 2. Paul '1992, 123, Sp. 2.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

Jacob Grimm motiviert den ehemaligen Dativ bei betten zusätzlich, indem er darauf hinweist, daß es sich um einen Dativ der Person handelt; "wie alle verba des kleid und geräth anlegens"394 verlange auch betten einen Dativ zur Bezeichnung der Person, für den das Bett gemacht werde. Grimm verweist auf den bereits im ersten Teil unserer Untersuchung herangezogenen einschlägigen Abschnitt in seiner Deutschen Grammatik, in dem der Dativ bei "verba des geräthe anlegens (der toilette), lager und nahrung gebens haben"395 begründet wird (s. § 1.2.1.)· Zu dieser Kategorie von Verben, die alle mit einem adverbalen Dativ gebraucht werden konnten, gehören nach Grimm - und den Bearbeitern der Deutschen Grammatik Gustav Roethe und Edward Schroeder, die Grimms Liste erweitert haben396 - außer dem bereits besprochenen betten u.a. noch folgende Verben:397 barnen, benken, binden, vuoteren, grasen, gürten, hengen, kleiden, krouwen, menen, pepeln, satteln, Schern, sniuzen, soumen, strelen, streuen, stuolen, twahen. Entsprechend der These, man müsse sich ein Akkusativobjekt hinzudenken, deutet Grimm jmdm./einem Tier gürten als 'dem manne daz swert gürten' und 'dem orse den satel gürten', jmdm. binden als 'der briute das houbet binden', dem Tier hengen als 'dem orse den zügel hengen' usw; eventuell konnte das implizite Akkusativobjekt nach Grimm durch es (ez) ausgedrückt werden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Grimms pragmatische Argumentation: für dergleichen verba, welche lauter tägliche Verrichtungen ausdrücken, war die weglassung des sächlichen subst(antivs) oder ein bloßes ez an dessen stelle unmitigt

telbar verständlich.

Bei Verben wie betten und füttern präzisiert der Autor:

394 395 396

397

398

DW, I, Sp. 1733. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 823 (Originalpag. 693). s. Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 823-826 (Originalpag. 693-694) und vgl. MH sowie BMZ, unter dem jeweiligen Lemma. Ahnliche Listen finden sich bei Wilmanns 1899ff, III, 627ff und Behaghel I923ff, I, 61 Iff und 692ff sowie bei Franke 1922, 121ff, der eine Liste von Dativverben bei Luther bietet (allerdings vor allem Präfixund Präfixoidverben). Die Verben, die bei Grimm zwar aufgelistet sind, für die wir aber keine überzeugenden Belege gefunden haben, bleiben unerwähnt (z.B. baden und waschen)·, wir beschränken uns weiterhin auf die Simplizia. Grimm, Deutsche Grammatik, TV, 826 (Originalpag. 694).

Übersicht der älteren Simplizia mit adverbalem Dativ

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Nicht so ungezwungen macht die ellipse sich bei betten und fuotem, oder sagte man: einem daz lager betten, daz höuwe fuotern? hier liegt in den verbis schon das volle object: bett machen, flitter geben. 399

Bei der Mehrzahl der Verben unserer eigenen Übersicht aber (Verben, die sich vom Typ betten, gürten, satteln usw. erheblich unterscheiden) ist nach Grimm der Grund für den Dativ wieder ein semantischer: Es sind die Vorstellungen des näherns und entfernens (...), der liebe und des hasses, (der gesellschaft) der hilfe und des schadens u.s.w., die den dativ erfordern.400

Auch bei diesen Verben gilt jedoch durchweg, daß der adverbale Dativ der Person auf ein "implizites", nicht ausgedrücktes Akkusativobjekt zu verweisen scheint, das den spezifischen Inhalt der Verbalhandlung angibt. Manche Verben, z.B. lieben, leiden, singen u.a., sind daneben in Satzbauplänen überliefert, in denen neben dem Dativobjekt auch das Akkusativobjekt explizit ist. Zum Schluß ist noch zu bemerken, daß nahezu alle aufgelisteten Verben auch in Verbindung mit dem Akkusativ vorkommen, und einige Verben sind erheblich häufiger mit Akkusativrektion belegt als mit Dativrektion. Außerdem ist es die Akkusativrektion, die sich bei den erwähnten Verben geschichtlich ausnahmslos durchgesetzt hat (wenn das Verb überhaupt noch existiert). Das ist das Ergebnis einer sprachgeschichtlichen Entwicklung, die mindestens drei Gründe hat. Erstens beruht sie auf der Tatsache, daß - wie Solomon D. Kaznelson bereits betont - die Verbindung Subjekt (Nominativ) - Verb - Akkusativobjekt auch im Deutschen als die "prototypische" syntaktische Struktur anzusehen ist. Dies hängt zweitens mit der Tatsache zusammen, daß die "Kernbedeutung" des Akkusativs in der "kohärenten" Eingliederung des durch ihn morphologisch bezeichneten Objekts in die Verbalhandlung besteht.401 Drittens ging mit dem Kasuswechsel vom adverbalen Dativ zum "normalen" "adverbalen" Akkusativ in der Regel ein Bedeutungswandel des Verbs einher, nicht selten im Sinne einer Verallgemeinerung (vgl.jmdm. betten 'jmdm. das Bett machen' - jmdn. betten 'jmdn. hin399

400 401

a.a.O. Wie bereits im ersten Teil der Studie angemerkt, ist nicht klar, was genau als "ausgelassenes" Akkusativobjekt zu betrachten ist, bei jmdm. gürten beispielsweise 'das Schwert', wie Grimm vorschlägt, oder 'den Körper (mhd. Up)', wie Behaghel 1923ff, I, 619 meint (s. § I.2.3.). Grimm, Deutsche Grammatik, IV, 812 (Originalpag. 684). s. Willems 1997, 196-199.

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Ehemals mit adverbalem Dativ verbundene Simplizia

legen'). Das Verb konnte daneben selbstverständlich auch einfach verloren gehen (was beispielsweise auf Verben wie twahen, zwahen; stuolen, stüelen; barnen; benken usw. zutrifft), oder es wurde morphologisch abgewandelt und einem produktiven Verbparadigma eingegliedert (und damit "durchsichtig" gemacht), wie z.B. jmdm. lügen - jmdn. belügen.

Dritter Teil: Schlußbetrachtungen

VIII. Zusammenfassung Wir sind am Schluß unserer Analysen angelangt. In diesem letzten Teil der Untersuchung wollen wir die Verben in Übereinstimmung mit den beiden graduellen Kriterien, die wir in den Abschnitten Π.4.Ι. und Π.4.2. diskutiert haben, nun noch schematisch einordnen (§ VIII. 1.), und im letzten Abschnitt (§ Vm.2.) ziehen wir aus unserem Versuch, die Verben mit adverbalem Dativ systematisch zu erfassen, noch eine Reihe allgemeiner Schlüsse zum Themenbereich des Dativs und der Kasusmorphologie überhaupt.

VIII. 1. Schematische Übersicht der Verben mit adverbalem Dativ In § II.4. haben wir die Gründe dafür erläutert, weshalb es angebracht erschien, die Analysen der einzelnen Verbverwendungen an zwei Kontinua zu orientieren. Gemäß dem ersten Kontinuum gilt es, die syntagmatisch-paradigmatische Grundlage des adverbalen Dativs zu erfassen, das zweite Kontinuum bezieht sich auf den Idiomatizitätsgrad des Kasus. Die Kombination beider Kontinua ergab ein zweidimensionales Schema (s. § Π.4.2.), das dazu geeignet ist, die analysierten Verben topologisch so zu erfassen, daß sowohl die im engeren Sinn syntaktischen Motive als auch die semantischen Besonderheiten der analysierten Valenz- und Kasusrahmen ersichtlich werden. Die Idiomatizität des adverbalen Dativs als ein graduelles Phänomen zu verstehen bedeutet nicht nur, daß die Idiomatizität der Rektion verbspezifisch ist und deshalb nur annähernd allgemein charakterisiert werden kann. Es impliziert auch, daß der Grad der Idiomatizität des Kasus je nach Interpretation anders eingeschätzt werden kann. Da es sich im genannten Schema um einen synchronischen Parameter handelt, muß man damit rechnen, daß man je nach persönlicher Sprachintuition den adverbalen Dativ bald als weniger, bald als stärker motiviert betrachten kann. Solche Schwankungen in der Beurteilung hängen davon ab, ob man bestimmte Gründe des adverbalen

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Zusammenfassung

Kasus so deutet, daß sie die Rektion eines Verbs in einem gewissen Maß "durchsichtig" machen oder nicht. Wer heute beispielsweise die veraltete Fügung jmdm. etwas telefonieren noch für möglich und angemessen hält, wird den adverbalen Dativ in jmdm. telefonieren als weniger idiomatisch einstufen als jemand, der die dreistellige Verwendung des Verbs nicht länger als normgemäß betrachtet (was sicherlich für die meisten Sprachteilnehmer zutreffen dürfte). Für ein Verb wie opfern gilt womöglich eher das Umgekehrte, weil der dreistellige Satzbauplan gebräuchlicher zu sein scheint als die Verbindung des Verbs mit einem adverbalen Dativ. Der zweite Teil der Untersuchung hat gezeigt, daß sich die beiden Kontinua - die syntagmatisch-paradigmatische Achse und die Achse der Idiomatizität des Kasus - nicht zu entsprechen brauchen. Ein ausgeprägt syntagmatisch motivierter adverbaler Kasus impliziert aus synchronischer Sicht nicht notwendigerweise einen niedrigen Idiomatizitätsgrad des Kasus, und ein rein paradigmatisch begründeter adverbaler Dativ braucht heute genausowenig in hohem Maße idiomatisch zu sein. Solche Korrelationen können sich in einzelnen Fällen zwar durchaus als zutreffend herausstellen.1 Ein besonders markantes Beispiel für den ersten Fall ist das Verb kündigen, mit dem unsere Analyse der Verben der GRUPPE Α einsetzt. Dieses Verb zeichnet sich dadurch aus, daß es heute sowohl ein-, zwei- als auch dreistellig verwendet werden kann, wobei alle diese Verwendungen einen klaren systematischen Zusammenhang erkennen lassen, vgl.: (1) (2) (3)

Er will zum 1. April kündigen Die Bank kündigt morgen alle Hypotheken Max hat mir die Freundschaft gekündigt.

Aus dem semantischen und syntaktischen Zusammenhang der Sätze (1), (2) und (3) erhellt, daß der adverbale Dativ in einem Satz wie: (4)

Meine Hauswirtin hat mir gestern gekündigt

Wir beschränken die folgende Übersicht auf die Verben, die auch heute noch in Verbindung mit adverbalem Dativ vorkommen, also auf die standarddeutschen Verben, die wir den drei GRUPPEN Α, Β und C zugeordnet haben. Die Lehnwörter und die älteren Simplizia, die ehemals Dativrektion aufwiesen, klammem wir aus, um den verwendeten Begriff der "Idiomatizität", der sich schließlich an der Sprachnorm der Gegenwartssprache orientiert, nicht zu trüben.

Schematische Übersicht der Verben mit adverbalem Dativ

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einen sehr niedrigen Idiomatizitätsgrad aufweist: Das Dativobjekt ist vollkommen durchsichtig, was u.a. daran ablesbar ist, daß ein Akkusativobjekt ohne weiteres hinzugefügt werden kann, vgl.: (5)

Meine Hauswirtin hat mir gestern den Mietvertrag gekündigt,

während das Dativobjekt selbst auch weggelassen werden kann, sogar zusammen mit dem Akkusativobjekt, vgl.: (6)

Meine Hauswirtin hat (den Mietvertrag) gekündigt.

Daß der Idiomatizitätsgrad bei einem so "prototypischen" Verb wie kündigen jedoch nicht gleich null ist, beweist die Tatsache, daß das Verb in einem Satz wie (4) regional bedingt bereits den Akkusativ der Person regieren kann. Der adverbale Dativ bei einem Verb wie glauben, das ebenfalls der GRUPPE Α angehört und geschichtlich klare Belege für den dreistelligen Satzbauplan mit diakritischer Obliquusverteilung aufweist, ist bereits idiomatischer als der Dativ bei kündigen in einem Satz wie (4). Die deutliche syntaktische Zuweisung des Dativs und Akkusativs in: (7)

Ich glaube dir kein Wort

bleibt in zweistelligen Konstruktionen nur teilweise erhalten, kommen doch neben Konstruktionen wie: (8)

Ich glaube dir

(9)

Ich glaube kein Wort

auch bestimmte sachliche Dativobjekte vor, z.B.: (10) Wie kannst du dem Gerede der Leute glauben ? Die Sätze (9) und (10) zeigen, daß der Kasusrahmen von glauben wechseln kann, allerdings nur, wenn in zweistelligen Konstruktionen ein sachliches Objekt bezeichnet wird, denn persönliches Akkusativobjekt und ein doppeltes Dativobjekt sind gleichermaßen ausgeschlossen, vgl.: (8') *Ich glaube dich (10') *Wie kannst du den Leuten dem Gerede glauben?

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Zusammenfassung

Somit wäre der Idiomatizitätsgrad des adverbalen Dativs bei glauben niedriger einzustufen, als er es im heutigen Deutsch tatsächlich ist, gäbe es keine Kasusschwankung bei sachlichem Objekt. Die Idiomatizität nimmt in der GRUPPE Α bei einem Verb wie nahen weiter zu. Aus synchronischer Sicht ist ein dreistelliger Satzbauplan bei diesem Verb eher peripher, außerdem ist er auf die reflexive Verwendung des Verbs beschränkt: (11) Die Truppenverbände nahten sich der Stadt. Eine vergleichbare Idiomatizität weist der adverbale Dativ bei pfeifen auf, insofern das Verb nur noch in einigen idiomatischen Redewendungen mit diakritischer Kasusverteilung verwendet wird (z.B.: jmdm. etwas pfeifen; jmdm. ein Lied pfeifen). Bereits eine relativ hohe Idiomatizität weist das Verb winken auf, weil die Dreistelligkeit auf zu + Infinitivkonstruktionen beschränkt ist wie in: (12) Ich winkte ihm, sofort zu kommen. Noch höher ist die Idiomatizität des adverbalen Dativs unter den Verben der GRUPPE Α schließlich bei telefonieren, zumal nur noch ein Wörterbuch das dreistellige jmdm. etwas telefonieren als (veraltete) Möglichkeit der deutschen Gegenwartssprache auffuhrt. Vergleichbare Idiomatizitätsschwankungen hat der adverbale Dativ bei den Verben der beiden anderen Gruppen. In der GRUPPE Β weist der adverbale Dativ z.B. bei nutzen einen sehr niedrigen Grad auf, nicht so sehr aufgrund des sowieso defektiven syntagmatischen Motivs (vgl.: Es nutzt mir nichts), sondern weil die Dativrektion sich paradigmatisch besonders deutlich von der Akkusativrektion abhebt, vgl.: (13) Das Kraftwerk nutzt das Wasser des Rheins (14) Das Kraftwerk nutzt der Stadt. Aus dem Kontrast zwischen (13) und (14) geht hervor, daß der Dativ in (14) vollkommen funktionell ist, im Gegensatz etwa zur Dativrektion beim Antonym von nutzen, nämlich schaden, dessen Valenzrahmen keinen vergleichbaren paradigmatischen Kontrast aufweist; entsprechend idiomatisch ist der adverbale Dativ bei schaden aus heutiger Sicht. In der GRUPPE Β weisen lediglich nutzen und verfallen sowie schaden und helfen einen relativ niedrigen Idiomatizitätsgrad auf. Die syntagmatische Obliquusverteilung ist in dreistelligen Verwendungen bei den meisten Verben entweder defektiv - das Verb

Schematische Übersicht der Verben mit adverbalem Dativ

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helfen kann allerdings noch mit einer "akkusativischen" {zu +) Infinitivkonstruktion verbunden werden, z.B. Er half ihr tragen - oder veraltet (vgl. dienen, gleichen, ähneln usw.), während die paradigmatische Kasusopposition in der Gegenwartssprache entweder nicht mehr funktionell ist (vgl. etwa gehören, gehorchen) oder - was viel öfter der Fall ist - auf morphologisch differente Formen verteilt ist (z.B. schaden - [bejschädigen, drohen - bedrohen, dienen - bedienen, fluchen - verfluchen usw.). Letztere Bemerkung zum Stellenwert der paradigmatischen Opposition trifft indes vor allem auf die Verben der GRUPPE C ZU, mit einigen Ausnahmen, nämlich schmecken und leben einerseits sowie scheinen, erscheinen und gefallen andererseits. Bei den beiden erstgenannten Verben gibt es zwar keinen syntagmatischen Grund für den adverbalen Dativ, die paradigmatische Opposition zwischen Dativ und Akkusativ aber ist bis heute auf markante Weise vorhanden, vgl.: (15) (16) (17) (18)

Der Fisch schmeckt mir Er schmeckte den Rotwein kennerisch mit der Zunge Rostropowitsch lebt die Musik Der Künstler lebt ganz der Musik.

Aus solchen Beispielpaaren geht hervor, daß der adverbale Dativ bei schmecken und leben einen niedrigen Idiomatizitätsgrad aufweist, was freilich immer relativ zu konkurrierenden Ausdrucksweisen aufgefaßt werden muß (vgl.: Er kostete den Rotwein; Er lebt ganz für die Musik usw.). Bei den Verben scheinen, erscheinen und gefallen ist die Dativrektion dann wieder aus dem Grund voll motiviert, daß der Dativ in den (zweistelligen) Verwendungen dieser Verben der einzig mögliche Oberflächenkasus ist, der der lexikalischen Bedeutung des Verbs entspricht. Die Dativrektion von Verben wie scheinen, erscheinen und gefallen zeigt, daß die Idiomatizität des adverbalen Dativs vom syntagmatisch-paradigmatischen Motiv nahezu völlig unabhängig sein kann. Dasselbe gilt für verfallen, ein Verb, das allerdings zur GRUPPE Β gehört. Bei den übrigen Verben der GRUPPE C ist der Idiomatizitätsgrad des Dativs deshalb hoch, weil die paradigmatische Opposition nur noch historisch belegbar ist. Unter den in der vorliegenden Untersuchung analysierten Verben weist der adverbale Dativ bei behagen und erliegen den höchsten Grad an Idiomatizität auf, beim ersten Verb aufgrund der Tatsache, daß sich der Dativ als

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Zusammenfassung

historisch zählebig, aber dennoch unmotiviert erweist, beim zweiten Verb, weil sich die Dativrektion als nicht ursprünglich herausstellt. Das Schema auf Seite 641 verzeichnet alle behandelten Verben je nach Gruppe. Der Ort weiter oben oder weiter unten im Diagramm entspricht dem höheren oder niedrigeren Idiomatizitätsgrad des Verbs, der Ort mehr nach links oder mehr nach rechts (auch innerhalb der drei Spalten, die den drei unterschiedenen Gruppen entsprechen) stimmt mit der unterschiedlich profilierten syntagmatischen oder paradigmatischen Begründimg des adverbalen Dativs überein. Die Lehnwörter, die wir in Abschnitt VI analysiert haben, nehmen wir nicht in das Diagramm auf, die Verben hofieren, rufen und gnaden, die heute nur ausnahmsweise den adverbalen Dativ regieren, stehen zwischen runden Klammern (die Lehnwörter bleiben in dieser Übersicht weiterhin unberücksichtigt). Das Schema könnte den Eindruck erwecken, daß die drei unterschiedenen Gruppen kaum etwas miteinander zu tun hätten und daß demzufolge der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sich als recht heterogen herausstellt. Dies wäre jedoch ein falscher Schluß. Nicht nur vereinigen die Verben der GRUPPE Β Merkmale der Verben der beiden anderen Gruppen. Auch jene Verben der GRUPPE A, die außer in dreistelligen Verwendungen mit Dativ und Akkusativ oder in zweistelligen Verwendungen mit adverbalem Dativ auch heute noch in zweistelligen Verwendungen mit Akkusativ vorkommen (kündigen, opfern, glauben, pfeifen, vergeben, verzeihen und antworten) stimmen valenzmäßig in einem entscheidenden Punkt mit Verben der GRUPPE C überein (vgl. Sie opferten den Göttern/Sie opferten ihre Gesundheit und Sie leben der Musik/Sie leben die Musik).

Schematische Ubersicht der Verben mit adverbalem Dativ

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